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Title: Ein Volk in Waffen
Author: Hedin, Sven Anders
Language: German
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  | Anmerkungen zur Transkription                                    |
  |                                                                  |
  | Gesperrter Text ist als _gesperrt_ dargestellt, Antiqua-Schrift  |
  | als ~Antiqua~.                                                   |
  | Eine Liste der Änderungen befindet sich am Ende des Buchs.       |
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[Illustration: Das Innere der Kathedrale von Mecheln am 15. Oktober
1914.]

                              Sven Hedin



                               Ein Volk
                               in Waffen

                        Den deutschen Soldaten
                               gewidmet.

                            [Illustration]

                    Leipzig: F. A. Brockhaus. 1915.


  Dieses den tapferen deutschen Soldaten und ihren Angehörigen
  gewidmete Büchlein ist ein Auszug aus dem gleichnamigen Werk Sven
  Hedins, das im März 1915 erscheinen wird. Diese große Ausgabe
  umfaßt etwa 500 Seiten mit ungefähr 250 Abbildungen und kostet
  geheftet 6, gebunden 10 M.

                                                        F. A Brockhaus.


  Copyright 1915 by F. A. Brockhaus, Leipzig.



Inhalt.


                                                   Seite

  Was ich will. Ein Vorwort                            5

  1. Wo ist das Große Hauptquartier?                   7

  2. Kriegsbilder auf der Fahrt                       10

  3. Ein Franzose im Lazarett zu Ems                  15

  4. Feldpostbriefe                                   18

  5. Verwundete und Gefangene                         20

  6. Im Hauptquartier                                 25

  7. Der Kaiser                                       27

  8. Zur fünften Armee                                33

  9. Beim Kronprinzen                                 37

  10. Hinter der Feuerlinie                           40

  11. Im Schrapnellfeuer                              43

  12. Madame Desserrey                                46

  13. Morgengrauen                                    49

  14. Die »Brummer« bei Eclisfontaine                 51

  15. Verhör französischer Gefangener                 54

  16. Sturm auf Varennes                              57

  17. Das Feldlazarett in der Kirche von Romagne      61

  18. Der letzte Abend beim Kronprinzen               65

  19. Longwy                                          67

  20. Ein Brief an den Kaiser                         71

  21. Die Eisenbahn im Kriege                         72

  22. Sedan -- 1870!                                  80

  23. Bei der vierten Armee                           83

  24. »Barbarische« Justiz                            90

  25. Der Krieg in der Luft                           91

  26. Deutsches Sanitätswesen im Felde                98

  27. Leben an der Front                             102

  28. Die Feld-Telephonstation                       105

  29. Am Scherenfernrohr                             108

  30. Feldgottesdienst                               110

  31. Nach Belgien                                   115

  32. Die 42-~cm~-Mörser vor Namur                   119

  33. »Vandalismus«                                  122

  34. Generalgouverneur Exzellenz von der Goltz      124

  35. Antwerpen einen Tag nach seinem Fall           128

  36. Gäste des Generalgouverneurs                   137

  37. An der Schelde                                 139

  38. Löwen                                          142

  39. Die weiße und die schwarze Marie               143

  40. Über Gent und Brügge nach Ostende              145

  41. Das Bombardement von Ostende                   149

  42. Mein erster Abend in Bapaume                   157

  43. An der Front bei Lille                         161

  44. Die B(apaumer) Z(eitung) am Mittag             167

  45. Im Schützengraben                              169

  46. Allerseelen                                    174

  47. »Lieb Vaterland, magst ruhig sein!«            179

  48. Kronprinz Rupprecht von Bayern                 180

  49. Tommy Atkins in Gefangenschaft                 183

  50. Die englische Lüge                             185

  51. Heimwärts                                      189



Was ich will. Ein Vorwort.


... Kein Schwede in verantwortlicher Stellung durfte eine Ahnung
haben von meiner Reise an die deutsche Front. Unser Land gehört ja zu
den neutralen Staaten, und auf seine Regierung durfte auch nicht der
Schatten eines Verdachts fallen, daß ich in irgendeiner Art geheimer
Mission reiste. Nein, der Anlaß war ganz einfach. Ich sagte mir: In
der Entfernung von einigen Tagereisen wird der gewaltigste Krieg
der Weltgeschichte ausgefochten. Dieser Krieg muß von grundlegender
Bedeutung werden für die politische Entwicklung der nächsten fünfzig,
hundert, vielleicht noch mehr Jahre. Seine Folgen müssen unbedingt
das weitere Dasein der gegenwärtigen Generation bestimmen. Der Krieg
von 1870/71 wurde der Beginn eines neuen Zeitalters in Deutschlands
Entwicklung. Dasselbe wird in noch viel höherem Maße, im Guten oder
Bösen, vom Krieg 1914 gelten! Alle politischen Probleme der nächsten
Zukunft müssen ohne Zweifel ihre Wurzeln in diesem großen deutschen
Krieg haben. Gehen beide kämpfenden Machtgruppen mit stark verringerten
Kräften aus dem Streit hervor, so ist er in seinen erlöschenden
Funken der Keim zu einem neuen, vielleicht noch mehr verheerenden
Weltbrand. Siegt aber Deutschland auf der ganzen Linie, so wird die
Weltkarte durchgreifende Änderungen erfahren, und Deutschland läßt
dann in seiner blühenden Machtfülle keinen neuen Krieg mehr zu. Siegt
Rußland, so ist das Schicksal Schwedens und Norwegens besiegelt! Wie
der Krieg auch endet, müssen große und denkwürdige Ereignisse aus ihm
hervorgehen. Wie lehrreich muß es also sein, ihn am Herde der die
Zukunft umstürzenden Ereignisse, in den zerstörten Gegenden selbst zu
studieren, wo die deutschen Soldaten das Schicksal ihres Landes und der
ganzen germanischen Welt auf den Spitzen ihrer Bajonette tragen! Denn
nur wer mit eigenen Augen gesehen, wie die Deutschen kämpfen, kann ganz
verstehen, was für Deutschland in diesem Krieg auf dem Spiele steht.
Meine Fahrt an die Front war also in erster Linie eine politische
Studienreise.

Aber auch andere Absichten und Gedanken ließen mich Sehnsucht nach
der Front empfinden. Ich wollte den _Krieg_ als solchen sehen und
kennen lernen, um auch für andere die Schatten- und die Lichtseiten
des Krieges beschreiben zu können. Die Schattenseiten sind Haß,
Vernichtung, verbrannte Häuser, vergeudete Ernten, Verwundete, Krüppel,
Gräber, Trauer und Sorge. Aber auch Lichtseiten hat ein Krieg,
der von einem einigen Volk ausgefochten wird, das leben und seine
Selbständigkeit bewahren will. Das sind die Einigkeit, Opferwilligkeit
und Siegesgewißheit der Deutschen. Und schließlich wollte ich
mit eigenen Augen sehen, wie weit Zivilisation, Christentum und
Friedensbestrebungen im Jahre 1914 nach Christi Geburt gediehen waren!

Im ersten Abschnitt des Krieges hatte die englische Presse die
Deutschen barbarischer Grausamkeit gegen ihre Gefangenen und gegen
verwundete Feinde beschuldigt. Keinen Augenblick hatte ich daran
geglaubt, aber _um der Germanen willen wollte ich die Verleumdung
ausrotten und die Wahrheit zur Kenntnis der Allgemeinheit bringen_.
Kann man nichts anderes von einem Volk verlangen, das auf der Höhe der
Kultur stehen will, so doch mindestens das eine: daß es seinem Gegner
nicht Verbrechen vorwirft, die er nie begangen hat. Deutsche Proteste
gegen die Beschuldigungen der feindlichen Zeitungen nützten natürlich
nichts. Vielleicht glaubt man _mir, wenn ich vor Gott beteuere, daß ich
keine Zeile niederschreibe, die nicht Wahrheit ist, und nichts anderes
schildere, als was ich mit eigenen Augen gesehen habe_....



1. Wo ist das Große Hauptquartier?


Mit diesen Gedanken trug ich mich Anfang September; sie waren in mir
selbst entstanden, ohne den Schatten eines Impulses von schwedischer
oder deutscher Seite. Als ich meinen Beschluß gefaßt hatte, wandte ich
mich an den deutschen Gesandten in Stockholm, Exzellenz von Reichenau,
der mit größter Freundlichkeit meinen Wunsch an die betreffende Stelle
in Deutschland weitergab. Nach acht Tagen erhielt ich die Antwort,
mein Besuch an der Front werde willkommen sein. Schon am folgenden
Tag, am 11. September, trat ich meine Reise ins Ungewisse an, und am
12. September ließ ich mich im Auswärtigen Amt in Berlin, Wilhelmstraße
Nr. 76, melden.

Der Unterstaatssekretär Herr von Zimmermann, der den Minister des
Äußeren in Berlin vertritt, solange Exzellenz von Jagow sich im Großen
Hauptquartier aufhält, nimmt mich mit offenen Armen auf und teilt mir
mit, das einzige, was er wisse, sei, daß ich mich nur geradeswegs zu
Exzellenz von Moltke ins Große Hauptquartier zu begeben habe.

»Aber wo ist das Große Hauptquartier?« frage ich.

»Das ist Geheimnis«, antwortet Herr von Zimmermann lächelnd.

»Aber wie soll ich dann hinkommen?«

»Der Chef des Generalstabs, General von Moltke, hat Befehl gegeben,
daß ein Automobil zu Ihrer Verfügung stehen soll. Sie können jederzeit
aufbrechen. Als Begleiter erhalten Sie einen Offizier und einen
Soldaten; Sie können in einer Tour Tag und Nacht fahren, aber auch
selbst Weg und Reisezeit wählen. Mit einem Wort: Sie haben volle
Freiheit.«

»Und dann?«

»Ihr weiteres Geschick hören Sie von Exzellenz von Moltke. Das einzige,
woran Sie jetzt zu denken haben, ist, ihn aufzusuchen.«

»Und wo finde ich das Auto?«

»Darüber gibt Ihnen dieses Papier Bescheid.«

Herr von Zimmermann überreichte mir ein vom Großen Generalstab
unterzeichnetes Blatt etwa folgenden Inhalts: »Der Inhaber dieses
Zeugnisses ist berechtigt, sich des Relais des Kaiserlichen
Freiwilligen Automobilkorps bis ins Große Hauptquartier zu bedienen.
Was irgendwie seine Reise erleichtern kann, soll zu seiner Verfügung
stehen.«

Das Freiwillige Automobilkorps hatte in der Friedrichstraße Nr. 243
sein Bureau; sein Chef war ~Dr.~ Arnoldi. Ich fand ihn in einem großen
mit Offizieren und Ordonnanzen gefüllten Arbeitszimmer, dessen Tische
mit Karten, Papieren und Telegrammen bedeckt waren, und wurde auch hier
mit der größten Liebenswürdigkeit empfangen. Zunächst bekam ich eine
Karte der großen Relaisstraße zu sehen. Und dann kam die Frage an mich:
»Wollen Sie unabhängig von allen Bestimmungen oder wollen Sie Relais
fahren, d. h. 700 Kilometer in 16 Stunden, 44 Kilometer die Stunde, in
einer Tour?«

Ich dachte einen Augenblick nach und wählte dann: »unabhängig«. Denn
wenn ich 16 Stunden reiste, hätte ich den letzten und sicherlich
interessantesten Teil der Fahrt in dunkler Nacht zurücklegen müssen;
ich war aber gekommen, um soviel wie möglich zu sehen. Die Wegstrecke
von Berlin bis zum Hauptquartier mußte ein beständiges Crescendo sein:
immer weiter vom Frieden fort -- immer näher den Kampflinien. Ich
glaubte in meiner Unschuld, die Landstraßen in Westdeutschland müßten
von Soldaten und Fuhrwerken überschwemmt sein. Keine Spur davon! Es
dauerte lange, bis man des Gedränges wegen langsam fahren mußte; und
innerhalb Deutschlands geschehen ja alle Transporte per Bahn.

»Wer wird mein Chauffeur?«

»Ein Offizier, begleitet von einem Soldaten. Beide leisten ihre
Dienstpflicht im Freiwilligen Automobilkorps.«

»Wer bestimmt den Offizier?«

»Ich; und ich denke eben an den Rittmeister von Krum aus Württemberg.«

~Dr.~ Arnoldi drückt auf einen Knopf und fragt die eintretende
Ordonnanz, ob Rittmeister von Krum in der Nähe ist. »Ja.« -- »Bitten
Sie ihn hierher zu kommen.« Und herein tritt in feldgrauer Uniform ein
Offizier von vorteilhaftestem Aussehen und gewinnendem Wesen.

Rittmeister von Krum war aus dem aktiven Militärdienst ausgeschieden,
aber bei Kriegsausbruch wieder unter die Fahnen getreten, und nach
geltenden Mobilisierungsbestimmungen hatte er sein Automobil der
Krone zur Verfügung gestellt. Er führt es selbst; der Soldat, der uns
begleiten soll, ist in Friedenszeiten sein Chauffeur.

Am folgenden Tag war ich mit meinem Rittmeister unterwegs und
equipierte mich feldmäßig von Kopf bis zu Fuß, von der Automobilmütze
bis zu den Schnürstiefeln und Beinbinden, mit einem passend warmen
Sportanzug, mit Pelzweste und Pelzrock, Regenmantel, warmem
Filzhalstuch und einer Automobilbrille -- die ich nie benutzt habe.

Der 15. September war der Tag des Aufbruchs. Rittmeister von Krum
lenkte seinen Wagen selbst und mit bewundernswerter Sicherheit. Neben
ihm saß der Chauffeur, ein Unteroffizier aus Württemberg namens
Deffner, ich selbst auf dem Rücksitz des Autos. Auf dem Boden des
Wagens lag mein Gepäck, zwei Taschen nur so groß, daß ich sie im
Notfall selbst hätte tragen können. --



2. Kriegsbilder auf der Fahrt.


Felder und Wälder, Höfe und Städte fliegen vorüber, und der
Geschwindigkeitsmesser zeigt auf 70 Kilometer.

Wannsee -- Potsdam. Nichts deutet an, daß Deutschland eben seinen
größten Krieg erlebt. Gewaltige Ladungen duftenden Heus werden von den
Wiesen hereingefahren. Es gibt also noch Pferde in Deutschland, die
anderes ziehen als Kanonen und Munition. Die Flügel der Windmühlen
drehen sich knarrend und mahlen das Korn, das in Brot für Millionen von
Soldaten und ihre Familien daheim verwandelt werden soll.

Wittenberg. Auf der Straße zieht ein Trupp Freiwilliger. Sie sehen
fröhlich in die Welt hinaus, marschieren können sie mit taktfesten
Schritten, und sie singen ein munteres, belebendes Soldatenlied. An
der nächsten Straßenecke ein neuer Trupp, der vom oder zum Übungsplatz
marschiert, junge, kräftige Männer von soldatischer Haltung; man sieht,
wie sie sich darnach sehnen, ins Feld zu ziehen. Sie singen nicht, sie
pfeifen eine gemütliche Melodie, die ganz lustig zwischen den alten
wittenbergischen Häusern erklingt. Es sind Germanen. Sie sind nicht
geboren, um von slawischen oder lateinischen Völkern besiegt zu werden.
Ihre Väter sind von Tacitus besungen worden und haben im Teutoburger
Wald gesiegt. Nun sind sie würdige Nachkommen der alten Germanen, die
sich unter den deutschen Adlern zum Kampf für die Freiheit zwischen
Rhein und Weichsel und jenseits der großen Stromtäler versammeln. Es
ist gefährlich, Adler zu reizen; noch können sie ihre Horste verlassen
und ihre Schwingen erheben! Jetzt hat Deutschlands Schicksalsstunde
geschlagen, jetzt gilt es den Platz und die Zukunft der Germanen auf
der Erde! Hört das Echo ihrer stahlfesten Schritte in Wittenbergs
Straßen! So hallt es ähnlich in allen deutschen Städten, wo die
Freiwilligen zu den Fahnen strömen! Es ist eine Völkerwanderung, deren
gleichen die Welt noch nicht gesehen hat!

In Bitterfeld treffen wir ein, als gerade der Wochenmarkt in höchstem
Flor steht: Vor den Verkaufsständen malerisches Leben, farbenreich,
altertümlich und friedlich -- kein Mensch kann hier ahnen, daß
Deutschland im Krieg steht, und doch denken alle, auch die, die die
kleinen Geschäfte des Tags besorgen, nur einen einzigen Gedanken, den
Krieg. Auf der Straße vor der Stadt sehen wir Frauen, die in ihre
Dörfer zurückwandern oder fahren, nachdem sie auf dem Markt ihre Ein-
und Verkäufe gemacht haben. Bei den Braunkohlengruben vor Bitterfeld
sind die Körbe der Luftbahnen in voller Fahrt und führen die Kohle in
die Fabriken, wo Briketts daraus verfertigt werden.

Bei jeder Brücke, die wir passieren, über oder unter einem Bahngleis,
stehen immer ein oder ein paar ältere Landsturmleute; sie tragen
dunkelblaue Uniformen, abends und in der Nacht graue Mäntel. Sie stehen
mit verschränkten Armen, das Gewehr wagerecht unter den linken Arm
geklemmt, und gehen langsam und treu am Kopf der Brücke oder unter
ihrer Wölbung, bis sie von Kameraden abgelöst werden. So oft das Auto
mit seinem flatternden Kriegswimpel dahergefahren kommt, nehmen sie
Stellung, Gewehr bei Fuß. Mindestens ein Armeekorps ist durch solchen
Wachtdienst in der Heimat gebunden.

Auf der Hauptstraße in Halle ist reges Leben, denn hier ist die große
Straße nach Merseburg und weiterhin nach dem westlichen Kampfplatz.
Während wir uns in der Stadt aufhielten, sausten noch verschiedene
Militärautomobile vorüber. Auch hier hängen in den Fenstern der
Buchhandlungen große Kriegskarten, und davor stehen Gruppen von
Schuljungen, die laut und wichtig von dem sprechen, was die kleinen
Fähnchen andeuten -- vom Krieg.

Wir zünden den Scheinwerfer des Automobils an und fahren aus Halle
heraus, südlich an Merseburg vorüber auf der Straße nach Naumburg,
immer im Saaletal. Der scharfe Lichtschein erhellt die Landstraße
ein gutes Stück voraus. Die Schnelligkeit ist auf 40 Kilometer in
der Stunde herabgesetzt. Die Laubbäume der Alleen werden von den
Lampen von untenher beleuchtet; es sieht aus, als führe man durch
einen unendlichen grünen Tunnel. In der Ferne, zu beiden Seiten
der Straße, werden helle Perlenschnüre von glänzenden Lichtern
sichtbar: die Fenster in Dörfern und Höfen, wo Väter und Mütter,
Geschwister, Jungfrauen und Kinder bei der Abendlampe sitzen und zum
zwanzigsten Male die Feldpostbriefe und -karten lesen, die Soldaten
von der Front in Frankreich oder in Belgien nach Hause geschickt
haben. Ihre Anzahl geht in viele Millionen. Was steht wohl in diesen
oft schwer leserlichen Briefen? Ich habe einige von ihnen gelesen.
Da erzählt der Soldat den Seinen, wie es im Quartier geht, wie das
Essen nach den Strapazen des Felddienstes schmeckt, wie ihm zumute
ist, wenn die Granaten in seiner Nähe krepieren und die Kameraden
neben ihm fallen. Da steht auch, daß der Feind verloren ist und im
Handumdrehen zurückgeworfen werden wird, wenn der General die Stunde
für gekommen hält, um Sturm zu kommandieren. Da wird mit gutmütiger
Achtung von den Franzosen als tapferen, ehrlichen Soldaten gesprochen
und von den Engländern mit glühendem Haß. Und schließlich sagt oft
genug der Soldat, es könne keine Rede davon sein, daß er in die
Heimat zurückkehrt, ehe er verwundet und, was Gott verhüten wolle,
kampfunfähig geworden und ehe der Sieg über die Feinde des Deutschen
Reiches erfochten ist. Denn das wissen die Soldaten vom Veteran bis
zum jüngsten Rekruten, daß Deutschland wohl bis an die Zähne gerüstet
war in Erwartung des Krieges, daß aber der Kaiser und die Staatsmänner
Deutschlands alles, was in ihrer Macht stand, taten, um ein Unglück
abzuwehren, das die ganze Erde treffen und unerhörte Ströme von Blut
und Tränen kosten mußte, ein namenloses Elend in verödeten Häusern und
verwüsteten Dörfern, unzählige Nächte des Wartens und der Unruhe und
lange Jahre trostloser Sorge und Trauer.

Der Wirt im Hotel »Zum mutigen Ritter« in Kösen leistet uns bei einer
Tasse Tee Gesellschaft und berichtet, daß alle seine Badegäste auf
einmal verschwanden, als der Krieg ausbrach; der ganze Hotelbetrieb
stehe still. »Aber was tut das,« fügt er hinzu -- »wenn wir nur
siegen!«

_16. September_. Wenn man sich im Goethehaus zu Weimar in diese Welt
großer, teurer Erinnerungen hineinversenkt hat und plötzlich wieder
auf die Straße hinaustretend eine Schar Landsturmleute sieht, die
nach dem Schießplatz marschiert, dann muß man sich die Augen reiben
und sich zusammennehmen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Und
dieses Volk, das einen Goethe hervorbrachte und jetzt mit glänzender
Tapferkeit an einem halben Dutzend Fronten kämpft, ist von einer ganzen
Presse, von einer ganzen Nation ein Volk von Barbaren genannt worden! --

Erfurt–Gotha. Links von uns steigen die dunklen, regenschweren,
neblichten Höhen des Thüringer Waldes empor. Aber unser Weg führt durch
behagliche Dörfer mit freundlichen Fachwerkhäusern; schreiende Gänse
und gackernde Hühner tun ihr möglichstes, um von uns überfahren zu
werden oder wenigstens unsere Fahrt aufzuhalten. Schnell ist Eisenach
erreicht und hinter uns. Die Straße biegt nun scharf nach Südwesten
ab, und in schön abgerundeten Windungen erklimmen wir die Höhen des
Thüringer Waldes. Tiefer, dunkler, kühler Schatten; es duftet von
feuchtem Erdboden und saftigen Nadeln; ab und zu erinnert die prächtige
Gegend lebhaft an die Straße von Rawalpindi bis Kaschmir.

Marksuhl–Hünfeld in Hessen. An einem Tisch im Speisesaal des Gasthofs
sitzt eine Krankenschwester, das Zeichen des Roten Kreuzes am Arm, und
unterhält sich mit zwei Herren, offenbar Ärzten, denn sie sprechen
von der Pflege verwundeter Soldaten. Eine Schar Jäger tritt ein, ihre
Taschen voll Rebhühner und Hasen. Sie tragen grüne und braune Anzüge
und kecke, federgeschmückte Filzhüte, auf der Schulter die Gewehre. Sie
sprechen eifrig vom Krieg, diesem Krieg, der alle beschäftigt und alle
waffentüchtigen Verwandten nach Westen oder Osten ruft.

Gelnhausen–Hanau. Unter uns fließen die trüben Wassermassen des Mains.
Es regnet stark. Die Straßen sind aufgeweicht, aber doch immer gleich
gut. Man merkt, daß man sich einer großen Stadt nähert, der Verkehr
auf der Straße nimmt zu. Die Menschen wohnen dichter beieinander, und
die Telegraphendrähte sammeln sich zu mächtigen Bündeln. Diese stummen
Drähte, die doch immer sprechen und mehr wissen als wir -- vielleicht
durcheilt sie in diesem Augenblick die große Neuigkeit, auf die ganz
Deutschland wartet? Wir hofften, sie in Kösen anzutreffen, vielleicht
erwartet sie uns in Frankfurt?

17. September. Frankfurt. Der Tag brach in freundlicher Schönheit
an, trotzdem schwere Wolken am Himmel segelten. Wir mußten erst zu
einer Tankstelle, um Benzin aufzufüllen, und dann zum Immobilen
Kraftwagendepot, wo immer _alles_ vorhanden sein muß, was zur Reparatur
der Kriegsautomobile erforderlich sein kann. Hier holten wir fünf
Reservereifen, die rechts und hinten am Auto festgemacht wurden. Von
Bezahlen ist natürlich keine Rede; die Autos gehen ja für Rechnung der
Krone.

Endlich geht es weiter, und wir fahren durch Frankfurts lange Straßen
und seine westlichen Vorstädte, die fast ganz aus Arbeiterwohnungen
bestehen. Man denkt vielleicht, diese Arbeiter sympathisierten nicht
mit dem Krieg, den Deutschland für seine Zukunft führt? Weit gefehlt!
Sozialdemokratische Arbeiter haben ihren Jungen, die auf den Höfen
richtige Schlachten liefern und sich Kluck und Hindenburg nennen,
kleine Helme und Holzschwerter geschenkt. -- Wiesbaden–Eiserne Hand.
In Langenschwalbach stechen die feinen Hotels grell ab von den ernsten
Fahnen des Roten Kreuzes und den verwundeten Soldaten, die schon auf
dem Wege der Besserung sind und auf Balkons und in den Gärten sitzen,
um Luft zu schöpfen. Dann windet sich die Straße jäh zu Höhen empor,
wo die Luft klarer ist und gedämpfte Aussichten auf lachende Täler und
waldbekleidete Hügel sich öffnen.

Nassau an der Lahn. Bezaubernd schön ist dieses Land, herrlich
seine Straßen, majestätisch seine Wälder in ihrer dunkeln, stummen
Einsamkeit. Auf dem Gipfel eines Hügels thront eine alte Festung. Das
Volk ist freundlich und grüßt und winkt, wohin wir kommen, und ein
junges Mädchen wirft eine rote Rose in unser Auto -- nicht für uns,
vermute ich, sondern als Gruß an ihren Verlobten, der draußen im Felde
steht.

Die Lahn entlang -- Ems. Wir lassen das Auto in einer Nebenstraße
halten und bleiben auf dem Fußsteig entblößten Hauptes stehen, um
einen Leichenzug passieren zu sehen. Der Tote ist ein Major, der
seinen Wunden erlegen ist. Die Musikkapelle spielt einen langsamen
Trauermarsch; zwei Fahnen wehen vor dem schwarzen sarkophagähnlichen
Sarg, und diesem folgen die Mitglieder des Emser Kriegervereins, die
Kampfgenossen, alle in Zylinder, langem Rock und schwarzer Halsbinde;
den Schluß bildet eine Schar verwundeter Soldaten, Rekonvaleszenten,
die im Kursaal einquartiert sind. Langsam bewegt sich der feierliche
Zug nach dem Bahnhof, denn die Leiche des Majors soll in seine Heimat
befördert werden. Nach einiger Zeit kam die Musikkapelle mit den
Rekonvaleszenten zurück, aber diesmal spielte sie eine fröhliche,
belebte Melodie. Das sei so Sitte bei Militärbegräbnissen, hörte
ich; erst die Trauer und die Ehrung des Toten, dann die Rückkehr der
Lebenden zum Leben und seinen täglichen Freuden.



3. Ein Franzose im Lazarett zu Ems.


Im Kurhaus mit seinen vielen prächtigen Zimmern werden achtzig
Verwundete gepflegt, und man erwartete mehr. Viele der
Schwerverwundeten lagen in ihren Betten; wer sich bewegen konnte,
saß auf den Altanen, genoß die frische Luft und sehnte sich, das
versicherte man mir überall, an die Front zurück.

Auch ein junger französischer Leutnant hatte, schwer verwundet, im
Kurhaus Unterkunft gefunden. Mit welcher schändlichen Grausamkeit
sollten nach den Meldungen der englischen Presse die Deutschen ihre
französischen Gefangenen behandeln! Ich konnte daher dem Wunsche
nicht widerstehen, mich zu erkundigen, was der Franzose selbst
darüber zu sagen hatte. An seinem Zimmer war nichts auszusetzen, es
lag unmittelbar gegenüber einem der sechs kleinen Räume, in denen
König Wilhelm ~I.~ 1867-1887 Jahr für Jahr einige Zeit zubrachte. Der
Verwundete wurde von einem deutschen Arzt gepflegt, der die besten
Hoffnungen für seine Wiederherstellung hatte, und von zwei barmherzigen
Schwestern, von denen die eine französisch sprach. Auf meine Frage, ob
er mit der Pflege, die ihm in Deutschland zuteil wurde, zufrieden sei,
antwortete der Leutnant aus überzeugtem Herzen heraus mit Ja!

Er lag in einem großen Bett, und sein Gesicht war kaum weniger bleich
als die reinen weißen Bettlaken, aber er sah gut aus mit seinem
kurzgeschorenen Haar, der edlen Nase, dem schwachen Schnurrbart über
den feingeschnittenen Lippen, und seine schwarzen französischen Augen
erzählten von Lebenslust und scharfem Verstand. Er berichtete, er
sei im Juni von Guinea heimgekehrt und habe gerade vor der Hochzeit
gestanden, als der Krieg ausbrach und ihn von der Braut und den Eltern
wegriß. In dem Gefecht bei Rossignol in Belgien traf ihn die Kugel. Es
war ein entsetzlicher Tag. Er kämpfte im Feuer der Granaten, Maschinen-
und Handgewehre. Die Kugel drang ihm durch Knie und Unterschenkel. Er
fiel und blieb die ganze Nacht auf dem Schlachtfeld liegen. Am nächsten
Tag las ihn die deutsche Ambulanz auf, und er wurde etappenweise bis
Ems befördert. Ende August war Kaiser Wilhelm in Ems gewesen, und
als er erfuhr, daß ein verwundeter Franzose da sei, hatte er ihn
besucht. Der Leutnant erzählte, der Kaiser habe sich in ausgezeichnetem
Französisch nach seiner Verwundung und seinem Befinden erkundigt. Ich
sagte ihm, ich würde wahrscheinlich binnen kurzem den Kaiser treffen
und dann Seiner Majestät mitteilen, welchen Eindruck der hohe Besuch
auf den Verwundeten gemacht habe. Als ich mich später des freiwillig
übernommenen Auftrags entledigte, zeigte sich, daß der Kaiser sich
sehr wohl des französischen Leutnants erinnerte und sich über seine
voraussichtliche Genesung freute.

[Illustration: Feldküche.]

[Illustration: Feldbarbier.]

Schließlich fragte ich den Kranken, ob ich ihm einen Dienst erweisen
könnte, soweit das von den deutschen Behörden erlaubt sei. Er schien
auf diese Frage gewartet zu haben. Tag und Nacht hatte er über dem
einzigen Gedanken gebrütet: wie können meine Eltern und meine Braut
erfahren, daß ich lebe und es mir gut geht? ich bin ja in Feindesland
und habe keine Postgelegenheit! Ich bat ihn um seine Adresse, und er
schrieb in mein Tagebuch: ~Monsieur Verrier-Cachet, Horticulteur, 52
Rue du Quinconce, Angers, Marne et Loire~. Bald darauf saß ich an einem
Schreibtisch, berichtete auf offener Postkarte und in deutscher Sprache
das Schicksal des Leutnants Verrier und schickte die Karte an meine
Familie in Stockholm, die durch Vermittlung des französischen Gesandten
die Nachricht an obenstehende Adresse befördern sollte. Und daß die
Nachricht ans Ziel kam und große Freude bereitete, das weiß ich; denn
ich habe später aus Verriers Elternhaus die herzlichsten Grüße erhalten.

[Illustration: Kleines Biwak.]

[Illustration: Feldpostbriefe.]

Oft bin ich seither schweren und zögernden Schritts durch Feld-
und Kriegslazarette gewandert, besonders durch die Säle, in denen
verwundete Franzosen, Engländer und Belgier lagen und die langsam
verrinnenden Stunden zählten. Wie leicht hätte ich, der ich
meine Freiheit und gesunde Glieder hatte, Postkarten in die Welt
hinausschicken und sehnsüchtig Harrende von ihrer Unruhe erlösen
können! Nichts ist so peinigend und schwer zu tragen wie die
Ungewißheit über das Schicksal derer, die man liebt. Wenn in der
Verlustliste der Name eines Sohnes, Bruders oder Ehemanns unter den
Vermißten steht, ist das Leid für die Daheimgebliebenen größer, als
wenn er gefallen wäre. Zwar besteht noch die Hoffnung, daß er am Leben
sei, aber sie wird von unheimlichen Vorstellungen verdrängt: man sieht
ihn verwundet, verblutend, einsam und verlassen in Nacht, Kälte und
Durst. Oft habe ich mir Vorwürfe gemacht, daß ich solche Postkarten
nicht schrieb. Aber ich tröstete mich damit, daß ich einmal kein
Recht dazu hatte, mich in die Bestimmungen hineinzumischen, die die
deutschen Militärbehörden über die Verbindung Verwundeter mit ihrer
Heimat getroffen hatten, und dann waren ihrer auch allzu viele. Immer
sah ich schon am Abend des Tages ein, daß das Wirken als barmherziger
Bruder eine hoffnungslose Aufgabe gewesen wäre. Übrigens wurde vom
Beginn des Oktober an allen Gefangenen, also auch den Verwundeten,
der Briefwechsel mit ihrer Heimat gestattet, nachdem die französische
Regierung den Grundsatz der Gegenseitigkeit anerkannt hatte. --

Wir betrachteten noch den Denkstein, der an die bedeutungsvolle, feste
Antwort erinnert, die König Wilhelm am 13. Juli 1870, 9 Uhr 10 Minuten
vormittags dem französischen Minister Benedetti gab, jene Antwort,
die der Anlaß zum Französisch-Deutschen Kriege wurde. Und nun nach 44
Jahren standen wir wieder am selben Fleck! Nun war der Revanchegedanke
zum Ausbruch reif geworden -- soweit nicht andere böse Mächte
Frankreichs Sehnsucht nach Rache für Elsaß-Lothringen benutzt haben,
um selber daraus Vorteil zu ziehen und den Aufschwung aufzuhalten,
den Deutschland inzwischen genommen hat. Denn ich habe genaue Kenner
versichern hören, daß der Revanchegedanke in weiten Kreisen des
französischen Volkes mit den Jahren im Abnehmen begriffen war. Eine
nahe Zukunft wird entscheiden, wen die Verantwortung dafür trifft.



4. Feldpostbriefe.


Der Rhein in seiner gewaltigen Pracht. Wir kreuzen ihn auf einer
langen Pontonbrücke, auf der die Wachtposten zahlreicher als sonst
stehen, und sind in Koblenz. Da, wo die Mosel in den Rhein mündet,
steht ein Reiterdenkmal des alten Kaisers Wilhelm; der Sockel trägt die
denkwürdigen Worte: »_Nimmer wird das Reich zerstöret, wenn ihr einig
seid und treu._« Heute bewahrheitet sich dieses Wort vor Deutschland
und der ganzen Welt.

Die Straße führt uns auf das rechte Ufer der Mosel, wo eine Steinbrücke
in schönem Bogen von Ufer zu Ufer führt und ein paar Moseldampfer unter
der Roten Kreuz-Flagge verankert liegen. Ein Gewirr von engen Gassen,
wimmelnd von Straßenbahnen, Droschken, Karren und Volk und vor allen
Dingen von deutschen Soldaten. Die Landschaft liegt unbeschreiblich
schön an diesen ewigen Flußwindungen; eine Stadt nach der andern
lugt hinter den Vorgebirgen hervor, und graue Häuser mit ihren
schwarzen Schieferdächern und schöne Kirchen lösen sich von dem grünen
Hintergrund.

Schließlich erreichen wir Treis, wo eine lustige Fähre, wie ich sie von
den sibirischen Flüssen kenne, uns auf das linke Ufer hinüberführt.
Dort setzten wir unsere schnelle Fahrt fort. Wir kamen an mehreren
Militärzügen vorüber und begegneten auch einem Lazarettzug, dessen
beide erste Wagen verwundete Franzosen beherbergten, die übrigen
deutsche. Den Franzosen ging es weder besser noch schlechter als
den Deutschen. Alle lagen auf Stroh. Die Schiebetüren in diesen zum
Lazarett eingerichteten Güterwagen standen offen, um den Kranken
frische Luft zu verschaffen.

In der Stadt Eller rasten wir einige Zeit in einem Wirtshaus, dessen
Wirt, Herr Meinze, uns mit allem unterhält, was er vom Krieg weiß.
Sein Töchterchen springt davon und bringt einen Brief, der eben vom
Sohn der Familie angelangt ist, einem zweiundzwanzigjährigen Potsdamer
Garde-Ulanen. Der Briefschreiber beklagt sich, daß er einen Monat
lang kein Wort von zu Hause gehört habe. Er sei in einem Gefecht
gewesen, in dem ein französischer Flieger eine Bombe auf eine Batterie
herabwarf, drei Mann tötete und zwanzig verwundete. Über seine
englischen Gegner spricht er mit großer Verachtung. Er vergißt, daß,
man mag über die englische Leitung sagen was man will, die Soldaten
doch tüchtig sind, große persönliche Tapferkeit zeigen und sich mit
Löwenmut und Todesverachtung schlagen. Seinen Brief beginnt er mit
den Worten: »Liebe Eltern und Schwester«, und am Schluß gibt er der
Hoffnung Ausdruck, daß Deutschland bald mit seinen Feinden fertig
werden möge. Der bezeichnende Zug all dieser Feldpostbriefe ist die
unbefangene Beurteilung der Lage und der blinde Glaube der Soldaten
an die unüberwindliche Macht des Heeres und den schließlichen Sieg.
Wenn ich falle, das bedeutet nichts -- ob ich bei dem Triumphzug der
heimkehrenden Krieger durch das Brandenburger Tor dabei bin oder
nicht, was tut's? -- aber Deutschland soll siegen, wenn nicht früher,
doch sobald die Frühlingsblumen aus meinem Grab hervorwachsen!



5. Verwundete und Gefangene.


Der nächste Weg nach Trier. -- »Nach Wittlich?« fragt Rittmeister von
Krum in einem Dorf, als er des Wegs nicht sicher ist. -- »Nach Paris!«
antworten ein paar muntere Mädchen, die uns die Richtung zeigen. Als
wir endlich vor dem »Trierischen Hof« in Trier haltmachten, war es
bereits dunkel. Wir waren durchnäßt und wollten uns nur trocknen, um
dann die Reise nach Luxemburg fortzusetzen. Da aber der unbarmherzige
Regen mehr zu- als abnahm und in Luxemburg kein Zimmer zu bekommen war,
beschlossen wir, zu bleiben, wo wir waren. Im Restaurant wimmelte es
von Offizieren, und auf den Straßen gingen die Soldaten in ihren grauen
Mänteln. »Wo ist das Große Hauptquartier?« fragten wir bald hier, bald
da. Keiner wußte es. Einige meinten, es sei in Luxemburg, andere, es
sei nach Belgien verlegt. Nun, dachten wir, wir werden schon allmählich
hinkommen.

Im »Trierischen Hof« waren wirklich noch ein paar Zimmer frei, in
denen wir es uns bequem machten. Mein prächtiger Freund Krum erzählte
mir, daß in Kriegszeiten alle Offiziere das Recht haben, sich
einzuquartieren, wo sie wollen. Ein Zimmer mit Frühstück soll kostenlos
zu ihrer Verfügung stehen; Mittagessen und sonstige Beköstigung müssen
sie bezahlen. Der Offizier hat nur eine gedruckte Quittung auszufüllen,
die er dem Wirt beim Aufbruch statt klingender Münze übergibt. Gegen
diese Quittung bekommt der Wirt von der betreffenden Militärbehörde
sein Geld, doch nicht die gleiche Summe wie in Friedenszeiten, denn
die Taxe wird niedriger angesetzt als unter normalen Verhältnissen.
Dasselbe gilt von Pferden, Wagen und allem, was im Krieg gebraucht
wird; es wird von besonderen Kommissionen abgeschätzt und mit
Quittungen bezahlt. In Trier war kein Auto aufzutreiben, nicht einmal
eine Droschke, da alle Pferde fort waren. Als daher unser Wirt ein
Telegramm erhielt, sein leicht verwundeter Sohn sei gegen 3 Uhr nachts
zu erwarten, konnte er kein Fahrzeug auftreiben, um ihn abzuholen.
Unser Automobil durften wir ihm nicht leihen; schließlich fand er das
Auto eines Arztes und traf seinen Sohn bei ganz gutem Humor.

In besserem Gang waren die Straßenbahnen, und einer solchen bedienten
wir uns, als wir am Abend die Horn-Kaserne aufsuchten, in der sonst das
Infanterieregiment Nr. 29 von Horn liegt. Jetzt war das ganze Regiment
im Feld und die Kaserne ein Lazarett. Sie kann tausend Soldaten
aufnehmen, aber nur fünfhundert Verwundete, denn diese brauchen mehr
Raum und Platz für Ärzte und Krankenwärter; außerdem werden mehrere
Zimmer als Operationssäle, Baderäume usw. in Anspruch genommen. Bei
unserem Besuch waren nur 220 Plätze belegt; 150 von ihnen hatten
Franzosen inne. Sechs Ärzte und ein Oberarzt, dazu eine ganze Schar von
Rote-Kreuz-Schwestern pflegten die Verwundeten.

Mit einigen jungen Ärzten schritten wir durch einen langen Korridor und
besahen zunächst einige Operationssäle, die beim Ausbruch des Krieges
in aller Eile hergerichtet und dann, soweit möglich, ganz modern
ausgerüstet worden waren. Die Operationstische standen in der Mitte der
Zimmer, die Wasserleitungen, Becken, Apparate, eine Masse chirurgischer
Instrumente, alles in bester Ordnung. Wände und Boden dieser Säle
waren mit Ölfarbe gestrichen. Es wurden hier im Durchschnitt fünfzehn
Operationen am Tage vorgenommen. Ähnlich waren mehrere andere Kasernen
in Trier in Krankenhäuser umgewandelt worden.

Dann betraten wir einen großen Saal mit deutschen Verwundeten. Alle
waren vergnügt und munter, befanden sich vortrefflich und konnten sich
keine sorgsamere Pflege denken, als sie in diesem Lazarett erhielten.
Nur wurde ihnen die Zeit allzu lang; sie mußten immer an ihre Kameraden
in den Schützengräben denken, sehnten sich in den Krieg zurück und
hofften, bald wieder auf die Beine zu kommen, d. h. diejenigen, die
wußten, daß sie nicht Krüppel fürs Leben waren!

In einem andern Saal wurden französische Soldaten gepflegt. Auch hier
unterhielten wir uns mit einigen Patienten. Sie waren alle höflich
und mitteilsam, ließen aber den fröhlichen Lebensmut der Deutschen
vermissen, was ja auch kein Wunder war, da sie sich in Feindesland
befanden und von aller Verbindung mit der Heimat abgeschnitten waren.
Einer von ihnen war bei Rossignol verwundet worden, wie Leutnant
Verrier, den er aber nicht kannte. Er hatte einen Schuß durch die linke
Hand und durch das linke Bein, das der Arzt hatte amputieren müssen.
Bei seiner Verwundung hatte er die Kraft und die Geistesgegenwart
gehabt, bis zu einem Graben zu kriechen, wo er vor Wind und Wetter und
Feuer geschützt war; einige Fetzen aus seinem Mantel hatte er um seine
Wunden gewickelt. Tags darauf fanden ihn deutsche Sanitätssoldaten,
legten ihm den ersten ordentlichen Verband an und trugen ihn ins
nächste Feldlazarett, von wo er vor kurzem mit der Eisenbahn ins
Trierer Kriegslazarett transportiert worden war.

Der andere Soldat hatte zwei Nächte auf dem Feld gelegen und
unsagbar an Durst gelitten. Einige Male hatten Deutsche, die an ihm
vorüberkamen, ihm Wasser und Schokolade gegeben. Schließlich hatte man
Gelegenheit gefunden, ihn in das Verwundetenlager zu bringen. Wie sein
Kamerad sprach er seine Dankbarkeit aus über die Behandlung, die ihm
in Trier zuteil wurde, und aus mehreren Betten in der Nachbarschaft
erscholl Zustimmung. Die beiden deutschen Ärzte, die uns begleiteten,
erzählten, die französischen Verwundeten wollten gewöhnlich das
Lazarett nicht verlassen, da sie wie einfache Gefangene behandelt
werden, sobald sie wieder auf die Beine gekommen sind. Diese Auffassung
ist ganz natürlich und wird sicher von allen Verwundeten geteilt,
welcher Nation sie auch angehören mögen, denn es ist behaglicher, in
seinem warmen Bett zu liegen und auf alle Weise gepflegt zu werden, als
in einer Baracke zu wohnen oder in einem Gefangenenlager inmitten von
Senegalnegern, Marokkanern und Indern!

Schließlich kamen wir in ein Zimmer, in dem drei französische Offiziere
lagen. Einer von ihnen, der einen Lungenschuß hatte, schlief gut und
ließ sich durch unsere Unterhaltung nicht stören. Der andere hatte
einen gefährlicheren Lungenschuß, wurde immer von einem bösen Husten
geplagt, der ihm bei jedem Anfall den Kopf vor- und rückwärts warf.
Sein Zustand wurde für kritisch angesehen; auch wenn man die Adresse
seiner Angehörigen gewußt hätte, wäre es keine Freude gewesen, sie von
seinem Befinden zu unterrichten. Der dritte, ein großer, wohlbeleibter
Kapitän, hatte mehrere Jahre im südlichsten Marokko Dienste getan und
war an Kämpfe mit den Tuaregs in der Sahara gewöhnt. Aber dieser Krieg
war doch etwas ganz anderes. »~Terrible!~« Von seiner afrikanischen
Garnison her war er in diesen furchtbaren Krieg gerufen worden.
In einem Gefecht in Belgien hatte eine Kugel ihm den rechten Fuß
zerschmettert, während eine andere ihm ein paar Finger abriß. Er meinte
sich zu erinnern, daß ihm bereits auf dem Schlachtfeld seine Wunden
von deutschen Sanitätssoldaten oder Ärzten sorgsam verbunden worden
seien; dann war in einem Feldlazarett sein Verband erneuert worden.
Als verhältnismäßig Leichtverwundeten hatte man ihn nach Luxemburg
gebracht und jetzt nach Trier. Wahrscheinlich wußte er, daß er, sobald
er geheilt war, mit all den Vorteilen seines Ranges in Gefangenschaft
gehalten und außerdem die Hälfte des Soldes bekommen würde, den er in
seiner Heimat bezog. Nun lag er da, der Kapitän mit den freundlichen
Augen, der Adlernase und dem Vollbart, und versicherte jovial und
gutmütig, daß er über absolut nichts zu klagen habe, nur über das
Geschick, das ihm versage, noch weiter für sein Land zu kämpfen. Aber
er trug sein hartes Schicksal als Philosoph und als Mann. Ein Lächeln
umschwebte seine Lippen, und er war dankbar für die Hilfe, die er
empfing, und für das Interesse, das ihm die unbekannten Gäste erwiesen.

Die jungen Ärzte, die uns führten, berichteten, daß die deutschen
Soldaten sich immer und ohne Ausnahme an die Front zurücksehnten,
soweit ihr Zustand solche Gedanken nicht einfach unmöglich machte. Bei
den Franzosen sei die Stimmung eine andere: »Alles -- nur nicht zurück
an die Front!« Auch das ist aus psychologischen Gründen ganz natürlich.
Nichts drückt den Soldaten so nieder und demoralisiert ihn so, wie
eben die Gefangenschaft. Er spielt die Rolle des Schwächeren, er lebt
ausschließlich von der Gnade anderer, seine Kraft ist erschöpft,
seine Initiative gelähmt und seine Kampflust vergebens. Da sagt er,
um persönliche Vorteile zu gewinnen und aus einer an und für sich
widrigen Situation das Beste herauszuschlagen, manches, was er jenseits
der Feuerlinie niemals gesagt hätte. Deshalb würde man jedem Heere
unrecht tun, wenn man seinen Kampfwert nach den Aussagen der Gefangenen
beurteilen wollte.

Hierin findet man vielleicht auch die Erklärung für das Faktum, daß in
dem Trierer Lazarett, wenigstens in der Horn-Kaserne, die Sterblichkeit
unter den Franzosen viel größer war als unter den Deutschen. Die Wunden
der Deutschen heilen leichter und schneller als die der Franzosen, und
das psychologische Moment ist dabei von unverkennbarer Wirkung. Der
deutsche Soldat kann Zeitungen lesen und mit seinen Angehörigen Briefe
wechseln. Der französische Soldat ist ganz und gar von der äußeren Welt
abgeschnitten, ein Nachteil, von dem bis Ende September auch die in
Frankreich gefangenen Deutschen betroffen wurden. (Vergl. oben S. 18.)
Und ein Gefangener, der nichts von dem Gang des Kampfes erfährt, leidet
doppelt unter dem Eindruck, besiegt zu sein. Diese trostlosen Gedanken
wirken auf seinen Zustand zurück und vermindern seine Widerstandskraft,
er wird Fatalist und vermag nicht gegen den Tod anzukämpfen. Er gibt
alles verloren und hofft nicht einmal auf Wiederherstellung und
Heimkehr.



6. Im Hauptquartier.


Als wir am Morgen des 18. September Trier verließen, waren wir über
die geographische Lage des Hauptquartiers genau so wenig unterrichtet
wie in Berlin. Wieder fuhren wir über die Mosel und warfen einen
Blick hinauf auf die Höhen, wo am 4. August Franzosen in Zivil den
Luftschiffern, die die deutsche Mobilisierung erkunden wollten,
Lichtsignale gegeben hatten. Bei der Flugstation machten wir halt und
betrachteten die »Tauben« in ihrem »Taubenschlag« von Zelttuch.

Dann nehmen wir Abschied von der Mosel. Links haben wir bereits die
Straßen nach Metz und Saarbrücken hinter uns, und nicht weit nach
Süden liegt die Grenze Lothringens. Hinter Wasserbillig kreuzen wir
den kleinen Fluß Sauer und sind damit im Großherzogtum Luxemburg. An
einem Eisenbahngleis hält uns ein unendlich langer, leerer Zug auf; er
fährt nach Deutschland, um Soldaten zu holen. Das Volk in Luxemburg
mustert uns mit gleichgültigen Blicken. Es ist vorbei mit dem Grüßen
und freundlichen Winken. Hier grüßt niemand, und niemand verrät seine
Gedanken -- freundliche Gedanken können es gerade nicht sein.

Schließlich schlängelt sich unser Weg in ein schönes Tal hinab. Auf
dessen Grund liegt ein Teil der kleinen und lieblichen Stadt Luxemburg.

Nunmehr aber beginnen wir zu suchen, denn ohne Zweifel ist hier das
Hauptquartier. Wachtposten mit geschultertem Gewehr stehen an den
Eingängen zu allen Hotels, überall werden Soldaten sichtbar, Offiziere
eilen in Automobilen vorüber. Auf einem Markt sind große Zelte für
Pferde aufgeschlagen, und vor ihnen stehen pfeiferauchende Wachtposten.
Und auf einem andern Markt stehen ganze Reihen von Kraftwagen, beladen
mit Benzin und Öl in zylindrischen Gefäßen.

Bei unsern Nachforschungen müssen wir die militärische Ordnung
beobachten und fahren daher auf das Haus zu, wo der Generalstab sich
einquartiert hat, und das unter gewöhnlichen Verhältnissen eine Schule
ist. Krum geht hinauf und kommt bald mit dem Bescheid zurück, daß
wir uns bei Oberstleutnant von Hahnke zu melden haben. Der schickt
uns zum Generalstabschef Exzellenz von Moltke, der eben mit seiner
liebenswürdigen schwedischen Gemahlin am Mittagstisch im »Kölnischen
Hof« sitzt. Frau von Moltke steht im Dienste des Roten Kreuzes und war
in dieser Eigenschaft zu kurzem Besuche in Luxemburg eingetroffen.
An ihrem Tische fühlte ich mich fast wie daheim, ich war ja so oft
in ihrem gastfreien Hause in Berlin gewesen. Ruhig, als wäre er im
Manöver, zündete sich der General seine Zigarre an und unterrichtete
sich genau über meine Pläne und Wünsche. Ich möchte die Front sehen,
erklärte ich ihm, soweit mir das überhaupt erlaubt werden könne, und
ich hätte die Absicht, zu schildern, was ich mit eigenen Augen vom
Krieg sehen würde. Wenn möglich, wollte ich einen Eindruck von einer
modernen Schlacht gewinnen; auch hoffte ich Gelegenheit zu finden, die
okkupierten Teile von Belgien zu besuchen.

Der General dachte eine Weile nach. Die Erlaubnis zum Besuch der Front
hatte ich bereits erhalten; es blieb also nur noch zu bestimmen, wo ich
am besten meine Studien beginnen konnte. Die Armee des Kronprinzen war
die nächste und in ein paar Stunden zu erreichen. Der General erklärte
sich also bereit, alles für meine Reise ordnen zu lassen; binnen kurzem
sollte ich über das Programm näheres hören. »Sicher sind Sie natürlich
nicht innerhalb des Operationsgebietes, es ist nicht weit bis dahin,
wenn Sie genau aufpassen, hören Sie den Kanonendonner von Verdun.«

Im Lauf des Tages wurde mir ein vom Generalstabschef unterzeichneter
»Ausweis« zugestellt. Er enthielt die Erlaubnis, dem Gang der
Ereignisse bei den verschiedenen Truppenteilen des Heeres beizuwohnen,
ferner die Bitte an alle Kommandobehörden, mir das weiteste
Entgegenkommen zu bezeigen und mich mit Rat und Tat zu unterstützen.
Dieses Papier war ein »Sesam öffne dich«; es gab mir fast unbeschränkte
Bewegungsfreiheit.

Das Große Hauptquartier ist das Herz der Armee, oder richtiger
sein Gehirn; hier werden alle Pläne entworfen, von hier gehen
alle Befehle aus. Ähnlich verhält es sich auch in Frankreich,
Rußland und Österreich. Deshalb ist das Große Hauptquartier ein
unerhört verwickelter Apparat mit einer im voraus bis ins einzelne
festgestellten Organisation. Wenn sich so ein Apparat in einer kleinen
Stadt wie Luxemburg niederläßt, werden alle Hotels, Schulen, Kasernen,
alle öffentlichen Gebäude und viele Privathäuser für die Einquartierung
in Anspruch genommen. Das Land, das Gegenstand der Invasion ist,
kann nichts tun, als sich in sein Schicksal finden. Aber nichts wird
ohne weiteres genommen, alles wird nach dem Krieg ersetzt. In einem
Hotel war das Kriegsministerium einquartiert, in einer Schule der
Generalstab, in einem Privathaus das Bureau des Automobilkorps usw.
General Moltke wohnte im »Kölnischen Hof«, der Reichskanzler und der
Minister des Äußeren in einem äußerst eleganten Privathaus, die meisten
Herren vom Stab und vom Gefolge des Kaisers im Hotel Staar, wo auch mir
ein Zimmer zur Verfügung stand.

Wenn ich mich aus leichtbegreiflichen Gründen nicht weiter beim
Großen Hauptquartier aufhalten kann, so muß ich doch etwas über Einen
Mann sagen, den ich dort traf, und den ich für eine der größten
und merkwürdigsten Gestalten der Geschichte, den mächtigsten und
imposantesten Herrscher unserer Zeit, und außerdem für einen der
genialsten und interessantesten Menschen halte.



7. Der Kaiser.


Als Wilhelm ~II.~ im Juni 1913 sein fünfundzwanzigjähriges
Regierungsjubiläum als Deutscher Kaiser feierte, schrieb ich in einer
deutschen Zeitung u. a. folgende Worte über ihn, die zum großen Teil
bereits in Erfüllung gegangen sind: »Durch seine starke und mächtige
Persönlichkeit drückt Wilhelm ~II.~ dem Zeitalter, dem er angehört,
sein Gepräge auf. Bisher geschah dies im Zeichen des Friedens. Was die
Zukunft im Schoße trägt, weiß niemand, aber so viel wissen wir, daß
keine fremde Macht Deutschlands Ehre und Sicherheit zu nahe treten
darf. Und wenn unfreundliche Götter einmal blutige Runen an seinen
Himmel schreiben, dann wird der Kaiser tätig und impulsiv wie in den
Tagen des Friedens seine Legionen ins Feuer führen, und die goldenen
Adler seines Helms werden ihnen den Weg zu neuen Siegen zeigen.«

Es wird wohl auch für alle Zeiten in der Geschichte als
unerschütterliches Faktum bestehen bleiben, daß Kaiser Wilhelm im
Lauf eines Vierteljahrhunderts sein möglichstes tat, um die Unwetter
des Krieges von Deutschlands Grenzen fernzuhalten. Mehr als einmal
hat der Ausbruch eines Krieges an einem Haar gehangen, und alle sind
darin einig, daß des Kaisers persönliches Eingreifen eine Katastrophe
abgewendet hat. Noch vor nicht langer Zeit war der Weltkrieg näher als
die Mitwelt ahnte -- auch damals gab die Friedensliebe des Kaisers
den Ausschlag. Viele tadelten ihn deswegen und nannten seine Haltung
unentschlossen und nachgiebig. Aber auch hier wird das Urteil der
Geschichte zu seinen Gunsten ausfallen. Währenddessen rüstete sich
Deutschland für die blutigen Ereignisse, an deren bevorstehendem
Ausbruch kein klar sehender Mensch zweifeln konnte. Auf die Dauer war
der Kampf für die Erhaltung des Friedens hoffnungslos. Das sah niemand
deutlicher als der Kaiser selbst, und deshalb hat er während seiner
ganzen Regierungszeit daran gearbeitet, die Streitkraft des Reiches zu
Wasser und zu Land zu stärken. In dieser Stunde schwimmt die Flotte
wie ein gigantisches Monument auf dem Meere, ein Monument der klugen
und klaren Voraussicht ihres Urhebers. Denn der Kaiser selbst ist es,
der im Verein mit seinem unübertrefflichen Großadmiral Tirpitz die
schwimmenden Festungen geschaffen hat, ohne welche Deutschlands Lage
verzweifelt gewesen wäre, als England mit seiner Kriegserklärung kam.

Gleich bei meiner Ankunft in Luxemburg hatte ich die Ehre, für den
nächsten Tag 1 Uhr bei Kaiser Wilhelm zu Mittag eingeladen zu werden.
Die meisten Gäste wohnten im Hotel Staar, und die Automobile sollten
von dort rechtzeitig abgehen. Ich fuhr mit dem Generaladjutanten
Exzellenz von Gontard. Der Kaiser wohnte im Haus des Deutschen
Gesandten und hatte seine Privaträume eine Treppe hoch. Im Erdgeschoß
war die Kanzlei, wo gewaltige Karten über die Kriegsschauplätze auf
Staffeleien aufgestellt waren; daneben war der Speisesaal, ein ganz
kleiner Raum.

In der Kanzlei versammelten sich die Gäste, alle in einfacher Uniform
ohne allen Zierat. Ich selbst war in Alltagskleidung. Unter dem Gefolge
des Kaisers fand ich ein paar alte Bekannte, den Generaladjutanten von
Plessen und Admiral von Müller, der aus Smaaland stammt und so gut
Schwedisch spricht wie Deutsch. Im übrigen bemerkte ich die Exzellenzen
und Adjutanten von Treutler, Frhr. von Marschall, von Mutius,
Generalarzt ~Dr.~ von Ilberg, den Fürsten Pleß und von Arnim. Wir waren
also zehn Mann.

Punkt 1 Uhr wird die Tür des Vestibüls geöffnet, und Kaiser Wilhelm
tritt mit festen, ruhigen Schritten herein. Aller Augen richten sich
auf die mittelgroße, kraftvoll gebaute Gestalt. Es wird vollkommene
Stille, man fühlt: eine große Persönlichkeit ist ins Zimmer getreten.
Der ganze, sonst so anspruchslose Raum hat eine unerhörte Bedeutung
erhalten. Hier ist die Achse, um die sich die Weltereignisse drehen.
Hier ist das Beratungszimmer, von dem aus der Krieg geleitet wird.
»Deutschland soll zermalmt werden«, sagen seine Feinde. »Magst ruhig
sein«, sagt das deutsche Heer zu seinem Vaterland. Und hier steht in
unserer Mitte sein oberster Kriegsherr, ein Bild der Mannhaftigkeit,
Entschlossenheit und offenen Ehrlichkeit. Ihn umkreisen die Gedanken
der ganzen Welt; er ist Gegenstand der Liebe, blinden Vertrauens, der
Bewunderung, aber auch der Furcht, des Hasses und der Verleumdung. Ihn,
der den Frieden liebt, umrast der größte Krieg der Geschichte, und um
seinen Namen tobt der Kampf. Ein Mann, der in einem stammverwandten
Reiche einen so unsinnigen Haß und so schändliche Schmähungen hat
erwecken können, muß in Wahrheit ein sehr bedeutender Mann sein, denn
sonst würden ihn seine Verleumder in Frieden lassen und die Schalen
ihres Zornes über einen andern ausleeren, der mehr zu fürchten ist.
Aber alles, was Verleumdung, Feigheit und Weiberklatsch ausdenken
kann, ergießt sich über sein Haupt. Seine Absichten werden verdreht,
seine Worte mißdeutet, seine Handlungen zu Verbrechen gestempelt.
Aber in ganz Deutschland, im ganzen deutschen Heer erklingt sein Lob.
Bei den Feldgottesdiensten und in allen Kirchen Deutschlands, an
Wochen- und Feiertagen wird brünstig für sein Wohlergehen gebetet.
»Magst ruhig sein!« können die Soldaten ihrem Kaiser sagen; und sie
ihrerseits wissen, daß er niemals seine Pflicht versäumt, und daß er
nie zurückweichen wird, ehe Deutschlands Zukunft gesichert ist.

Es ist kein Kaiser Karl ~V.~, kein Imperator, der in die Kanzlei tritt.
Es ist ein Offizier in der denkbar einfachsten Uniform, einem kurzen,
graublauen Waffenrock mit doppelten Knopfreihen, dunkeln Beinkleidern
und gelben Feldstiefeln. Nicht einmal das kleine schwarz-weiße Band
des Eisernen Kreuzes schmückt ihn. Aber es ist eine fesselnde und
gewinnende Persönlichkeit, ein höflicher und freundlicher Weltmann.
Seine scharfe Auffassung und sein glänzendes Charakterisierungsvermögen
verraten den Beobachter und Künstler, sein kluges Sprechen den
Staatsmann, seine energische Haltung, seine ausdrucksvollen
Bewegungen und prächtigen Schlachtenschilderungen den Feldherrn, sein
verbindliches Wesen Bescheidenheit und Menschenfreundlichkeit, und
seine männlichen, befehlenden Worte den Herrscher, der an Gehorsam
gewöhnt ist. Glücklich das Volk, das besonders in unruhigen Zeiten
einen Herrscher besitzt, der das Vertrauen aller genießt, und an dessen
Beruf niemand zweifelt.

Aber es ist auch ein Paar Augen, die eine wunderbar magnetische Kraft
haben und alle fesseln, sobald der Kaiser hereintritt. Es ist, als
würde der ganze Raum heller, wenn man den ruhigen blauen Augen des
Kaisers begegnet. Seine Augen sind merkwürdig ausdrucksvoll. Sie
erzählen vor allem von unerschütterlicher Willenskraft und eiserner
Energie. Sie erzählen von Wehmut über die Blindheit derer, die nicht
einsehen wollen, daß er nur das will, was Gott gefällig und seinem
Volke nützlich ist. Sie erzählen auch von sprudelndem Witz, von
durchdringendem Verstand, dem nichts Menschliches fremd ist, und von
unwiderstehlichem Humor. Sie erzählen von Ehrlichkeit, Wahrheitsliebe
und einer Aufrichtigkeit, die niemals den Blick abirren läßt, der einem
fest und unerschütterlich durch Mark und Bein dringt.

Das Gefühl von Verzagtheit, das man vielleicht gehabt hat, während
man auf den mächtigsten und merkwürdigsten Mann der Erde wartete,
verschwindet spurlos, sobald der Kaiser nach einem mehr als kräftigen
Handschlag und herzlicher Begrüßung zu sprechen begonnen hat. Seine
Stimme ist männlich, militärisch, er spricht außerordentlich deutlich,
ohne eine einzige Silbe zu verschlucken. Er sucht nie nach einem Wort,
sondern trifft immer den Nagel auf den Kopf, oft mit sehr kräftigem
Ausdruck. Er begleitet seine Rede mit hastigen und ausdrucksvollen
Bewegungen des rechten Arms, während der linke in Ruhe bleibt.
Seine Rede fließt spannend und interessant dahin. Sie wird oft von
blitzschnellen Fragen unterbrochen, die man sich bemühen muß, ebenso
schnell und klar zu beantworten, und gelingt einem das, so kann man
des Kaisers Zufriedenheit bemerken. Er ist äußerst impulsiv, und seine
Rede ist eine Mischung von Ernst und Scherz. Eine kluge Antwort oder
eine lustige Anekdote lösen bei ihm ein herzliches Lachen aus, das auch
seine Schultern erschüttern kann.

Auf Befehl des Kaisers gingen wir in den Speisesaal. Admiral von
Müller saß links, ich rechts von dem hohen Wirt, ihm gegenüber der
Generaladjutant von Gontard.

Der Mittagstisch war einfach gedeckt. Der einzige Luxus war die
goldene Klingel, die vor dem Kuvert des Kaisers stand, und mit der er
klingelte, sobald ein neues Gericht hereingetragen werden sollte. Das
Mittagessen war ebenso einfach: Suppe, Fleisch mit Gemüse, Nachspeise
und Früchte mit Rotwein. Ich bin selten so hungrig gewesen, als nachdem
ich von des Kaisers Tisch aufgestanden war! Nicht wegen der geringen
Anzahl der Gerichte, sondern weil niemals eine Pause im Gespräch
entstand, bis die Klingel zum letztenmal erscholl, alles sich erhob,
und die feldmäßig uniformierten Lakaien unsere Stühle wegrückten.
Der Kaiser sprach fast die ganze Zeit mit mir. Er knüpfte an meinen
letzten Vortrag in Berlin an, dem er beigewohnt hatte; Tibet, wo ich
so unruhige Zeiten erlebte, werde wohl bald das einzige Land auf der
Erde sein, das Ruhe habe. Dann sprach er von der Weltlage und den
Stürmen, die über Europa hinbrausen. Mich freute besonders, zu hören,
mit welcher Achtung und Sympathie sich der Kaiser über Frankreich
aussprach. Er beklagte die Notwendigkeit, die ihn gegen seinen Wunsch
gezwungen habe, sein Heer gegen die Franzosen zu führen, und er
hoffte, daß die Zeit kommen werde, da Deutsche und Franzosen gute
Nachbarschaft halten könnten. Auf dieses Ziel habe er sechsundzwanzig
Jahre hingearbeitet, und er hoffe, daß eine ganz neue Ordnung der Dinge
aus dem gegenwärtigen Krieg hervorgehen werde. Eine Verständigung
zwischen Deutschland und Frankreich werde mit Notwendigkeit ein
unerschütterliches Bollwerk für den zukünftigen Frieden schaffen.
Erst aber den Sieg über die unübersehbaren Heere, die vier Großmächte
gegen Deutschlands Grenzen und die deutschen Besitzungen in fremden
Weltteilen werfen, dann ein ehrenvoller und nach allen Seiten hin
Sicherheit schaffender Friede und schließlich der große und festgebaute
Weltfriede. Vor allem setzt der Kaiser sein Vertrauen in Gott, aber
er verläßt sich auch blind auf das deutsche Volk und seine große,
herrliche Armee. Er vertraut auf die glänzende Tapferkeit und die
Todesverachtung der Soldaten und auf das Offizierkorps, das sie zu
Wasser und zu Lande führt.

Wenn die Franzosen eine Ahnung von der wirklichen Denkweise des Kaisers
hätten, würden sie ihn ganz anders beurteilen als jetzt. Und niemand
wird wohl glauben, daß ich die Verantwortung auf mich nehmen könnte,
dem Kaiser andere Urteile in den Mund zu legen als die, die er wirklich
gefällt hat und die ich selbst von ihm gehört habe. Das hieße die
Gastfreundschaft, die ich an der Front genossen habe, übel lohnen.

[Illustration: Schloß in Stenay, Hauptquartier des deutschen
Kronprinzen.

(Vgl. Seite 37.)]

[Illustration: Französische Gefangene.]

[Illustration: Das zerstörte Dun an der Maas.

(Vgl. Seite 41.)]

Auf dem Tisch in der Kanzlei standen Zigarren und Zigaretten und ein
brennendes Licht. Hier wurde die Unterhaltung lebhaft fortgesetzt, in
Ernst und Scherz, Erzählungen von Kriegsgreueln und lustige Anekdoten
wechselten ab, bis der Kaiser sich verabschiedete, mir eine glückliche
und lehrreiche Reise wünschte und in seine Zimmer hinaufging, wo gewiß
ganze Berge von Papieren und Briefen, Rapporten und Telegrammen ihn
erwarteten.

Alles Gerede, daß der Kaiser unter dem Krieg gealtert sei, daß der
Krieg mit all seiner Mühe und Unruhe seine Kräfte und seine Gesundheit
verzehrt habe, ist Dichtung. Sein Haar ist nicht stärker ergraut als
vor dem Krieg, sein Gesicht hat Farbe, und er ist so wenig abgezehrt
und mager, daß er im Gegenteil von Leben und Kraft strotzt. Ein Mann
von Kaiser Wilhelms Art ist in seinem Element, wenn die Macht der
Verhältnisse ihn zwingt, alles was er besitzt und vor allem sich selbst
zum Nutzen und zur Ehre seines Reiches einzusetzen.



8. Zur fünften Armee.


Der neue Begleiter, den mir General Moltke für die Fahrt in das
Hauptquartier des Kronprinzen gegeben hatte, hieß Hans von Gwinner
und war ein Sohn des großen Bank- und Bagdadbahndirektors in Berlin;
lebhaft und energisch lenkte er selbst sein Automobil. Bald saß ich an
seiner Seite, während der uns begleitende Soldat im Wagen Platz nahm.

In strömendem Regen ging es aus der Stadt hinaus. Der Weg war
schlüpfrig, aber wir fuhren mit rasender Geschwindigkeit. Wir waren
spät aufgebrochen und wollten noch vor Anbruch der Nacht ans Ziel
kommen; sonst war man nicht sicher vor Franktireurs. Bei der fünften
Armee hatte man neulich einen Trupp Franktireurs gefangen genommen und
ohne Pardon erschossen.

Unser Weg führt nach Westen. Bei Redingen überschreiten wir die Grenze
von Französisch-Lothringen. »Karabiner laden«, ruft der Leutnant hastig
dem Soldaten zu. Ich sehe mich unwillkürlich um, vermag aber nichts
Ungewöhnliches zu bemerken; es war auch nur eine Vorsichtsmaßregel,
aber der Befehl klang eigentümlich, als ich ihn zum erstenmal hörte.
Im ersten französischen Ort, Longlaville, sah man zahlreiche Spuren
von deutschen Granaten, aber die Fabriken und ihre hohen Essen waren
geschont. Auch in der Mitte und an den Seiten der Landstraße hatten die
Granaten gewaltige Löcher gerissen, und so mancher Baum war von einem
Kanonenschuß gefällt. Von einigen Häusern ist nicht viel mehr übrig als
die Mauern; von andern hat ein Streifschuß nur das Dach weggerissen.
Die Bahn an der Außenseite der Landstraße ist übel zugerichtet, und
hier und da sind ihre Schienen wie Stahldraht aufgewickelt. Auf den
Kirchtürmen ist oft das Dach abgedeckt, eine besondere Vorliebe
der Franzosen, um offenen Spielraum für die Maschinengewehre und
Beobachtungspunkte für die Offiziere zu schaffen, die die deutschen
Artilleriestellungen und die Wirkung des französischen Feuers erkunden
sollen.

»Wo geht der Weg nach Longwy?« fragt Gwinner. -- »Geradeaus.« Die
Antworten sind stets höflich, wenn auch die Wut im Herzen klopft. Eins
der beiden detachierten Forts von Longwy bleibt rechts liegen, und bald
darauf sind wir in der kleinen Fabrikstadt, die in einem Tal gelegen
und rings von Höhen umgeben ist. Auf einer dieser Höhen liegt die
Festung Longwy, die gleich zu Anfang des Kriegs nach äußerst heftiger
Beschießung von den Deutschen mit Leichtigkeit eingenommen wurde. Tot
und verlassen sah die Stadt keineswegs aus, denn ein großer Teil der
Einwohner war zurückgekehrt, nachdem der Krieg weiter nach Westen
vorgerückt war, und das Leben fing wieder an so gut wie es ging in
seine alten Bahnen zurückzukehren.

Vor der Stadt standen die nackten, schwarzen Mauern eines ausgebrannten
Hauses; aus seinen Fenstern hatte man auf deutsche Truppen geschossen,
die deswegen nach Kriegssitte das Gebäude in Brand steckten. Überall,
wohin man sich wendet, Spuren des Kriegs: auf den Äckern und an den
Grabenrändern fortgeworfene französische Tornister und Uniformstücke;
im Straßengraben ein umgestürztes Automobil, rücksichtslos beiseite
geschoben, um nicht den Verkehr zu stören; ein Stück weiter ein
Motorlastwagen. Hier Trümmer von Gewehren und Munitionswagen, dort
halbmondförmige Wälle zum Schutz für Feldkanonen. Ein Grab mit
Holzkreuz, dann wieder eins -- eine ganze Reihe von Gräbern --
Soldatengräber! In der Mitte der Straße ein paar mit Regenwasser
gefüllte Granatlöcher; sie können gefährlich werden, wenn man sie in
der Schnelligkeit für seichte Pfützen hält; aber Gwinner kennt diese
Straße schon. Rechts und links vom Wege tiefe, schmale Schützengräben
mit kleinen Wällen als Brustwehr und Gewehrstütze. Die Soldaten sind
jetzt fort, und stumm liegen diese Äcker, auf denen vor einem Monat
300000 Mann gekämpft haben! Auf manchem Feld wurde die Ernte von
deutschen Truppen geborgen. An den Grabenrändern, in Wäldchen und
Gebüschen sieht man niedrige, aus Zweigen und Ästen gebaute Hütten, in
denen die französischen Soldaten vor Regen und Kälte Schutz suchten.
Die deutsche Infanterie dagegen hat Zelte, und jeder Soldat trägt auf
seinem Tornister eine Zeltbahn.

Unser Weg führt durch ein Stück Wald. Die Franzosen wissen ihre
Stellungen in waldigem Gelände sehr geschickt zu halten. Sie verstecken
Maschinengewehre in den Baumkronen. Von Flüssen durchzogene Täler und
Waldgegenden betrachten daher die Deutschen als schwer zu erobern. Auf
offenerem Gelände wie im mittleren und südlichen Frankreich läßt sich
leichter im Sturm vorgehen.

Die Hauptstraße von Longwy sieht trostlos aus. Eine lange Strecke weit
kein Haus mehr, nur Ruinen, Schutthaufen, nackte Mauern mit gähnenden
Fensteröffnungen. Nur an den Brücken schultern deutsche Wachtposten
ihr Gewehr, sonst kein Mensch! Die Stadt Noërs ist niedergebrannt
und ihr Kirchturm zusammengeschossen, da ein Maschinengewehr von dem
Platz aus gesungen hat, wo sonst die Glocken zum Abendgebet rufen.
Aber nirgends Leichen, keine gefallenen Soldaten, keine toten Pferde;
alle sind von den Deutschen begraben worden, damit sie nicht die
Luft verpesten und Seuchen hervorrufen. Doch an die Heimsuchungen des
Krieges erinnert noch genug. Längs einer Hecke eine Reihe Strohhütten,
weiterhin umgeworfene Wagen, mit denen die Franzosen versuchten, die
vortreffliche, zu beiden Seiten mit Bäumen bepflanzte Chaussee zu
sperren. Nebenher läuft die Telegraphenlinie, die von den Verteidigern
zerstört, dann aber wieder von deutschen Telegraphenarbeitern instand
gesetzt wurde. --

In Marville wird der Verkehr lebhafter. Gleich neben der Straße auf
einem Felde hat eine Proviantkolonne ihre mit bogenförmigen Zeltdächern
versehenen Wagen im Viereck aufgestellt. Sie rasten, und die Leute
haben ihre Lagerfeuer für die Nacht angezündet. Um die Wagenburg stehen
Wachtposten.

Eine Strecke weiter hat wieder eine Proviantkolonne von einfacheren
Wagen haltgemacht. Sie dürfen des Verkehrs wegen nicht auf der Straße
halten; auch ist es leichter, eine gesammelte Kolonne zu bewachen
und wenn nötig zu verteidigen. Hier überholen wir einen Motoromnibus
mit Feldpost für die fünfte Armee; er donnert mit gewaltigem Lärm
auf der harten Chaussee einher. Nun wird die Straße wieder von einer
Proviantkolonne eingeengt, die noch in Bewegung ist. Da müssen wir
langsamer fahren, damit die Pferde der eskortierenden Reiter nicht
scheu werden und mit dem Auto zusammenstoßen. --

Schon haben wir Montmédy erreicht, dessen kleine Festung sich ergeben
hat, ehe sie beschossen wurde. Bevor aber die Besatzung abzog, sprengte
sie den Eisenbahntunnel, der durch den Berg führt. Die Deutschen
gingen deshalb sofort daran, eine neue Eisenbahn um den Berg herum zu
legen; mit diesem Bau waren französische Gefangene noch beschäftigt.
Ein wunderlicher Anblick, diese Soldaten in ihren blauen und roten
Uniformen arbeiten zu sehen, bewacht von deutschen Soldaten in
feldgrauer Uniform und mit geschultertem Gewehr.

Gegen Abend klärt sich das Wetter auf, und die Sonne geht rot unter wie
eine glühende Kugel. Ihre letzten Strahlen treffen einen Transport
französischer Gefangener, die müde und gebeugt nach Montmédy wandern,
bewacht von deutschen Soldaten.

Nun wird vor uns das Maastal sichtbar und die kleine Stadt Stenay.



9. Beim Kronprinzen.


Wir halten vor dem Haus des Armeeoberkommandos. Hier traf ich
einen meiner Freunde aus dem Großen Hauptquartier, den Landrat und
Reichstagsabgeordneten Freiherrn von Maltzahn, der zu den persönlichen
Freunden des Kronprinzen gehört. Er teilte mir mit, daß ich erwartet
werde und mich beeilen müsse, um bis zum Abendessen um acht Uhr fertig
zu sein. Wir fuhren also bis zu dem kleinen französischen Schloß, wo
der Kronprinz Quartier genommen hatte.

Militärisch uniformierte Lakaien nahmen meine Bagage in Empfang und
führten mich in mein Zimmer im ersten Stock, neben den Privatgemächern
des Kronprinzen. Bald darauf klopfte der diensthabende Hofmarschall
Kammerherr von Behr, ein freundlicher junger Mann von feinem und
ansprechendem Aussehen, an meine Tür, um mich zum Abendessen zu holen.
Wir gingen durch das obere Vestibül auf die Treppe hinaus und wurden
von deren Absatz aus Zeuge einer schönen Zeremonie: Im Hausflur stand
eine Anzahl Offiziere in einer Reihe, ihnen gegenüber etwa zwanzig
Soldaten. Dann erschien der Kronprinz, groß, schlank, aufrecht, in
weißem Waffenrock mit dem Eisernen Kreuz erster und zweiter Klasse und
trat sichern Schrittes zwischen beide Reihen. Ein Herr des Gefolges
trug ihm eine Schachtel mit Eisernen Kreuzen nach. Der Kronprinz nahm
eins und überreichte es dem nächsten Offizier, dankte ihm für die
Dienste, die er Kaiser und Reich geleistet habe, und gratulierte mit
kräftigem Handschlag dem neu ernannten Ritter. Nachdem die Offiziere
ihre Orden für bewiesene Tapferkeit erhalten hatten, kam die Reihe
an die Soldaten; das Zeremoniell war dabei dasselbe wie bei den
Offizieren.

Nachdem die Ritter des Eisernen Kreuzes fort waren, gingen wir ins
Vestibül hinab. Hier kam mir der Kronprinz entgegen und hieß mich in
seinem Quartier und auf dem Kriegsschauplatz herzlich willkommen.
Bei dem Essen waren folgende Herren zugegen: der Chef des Stabs der
fünften Armee, Exzellenz Generalleutnant Schmidt von Knobelsdorf,
Kammerherr von Behr, Generaloberarzt Professor Widenmann, die Majore
von der Planitz, Müller und Heymann, Leutnant von Zobeltitz und einige
Mitglieder des Stabs, die von der Arbeit im Felde später zurückkehrten
und am Ende des Tisches Platz nahmen.

Was man beim deutschen Kronprinzen ißt? Nun, hier ist der Speisezettel:
Kohlsuppe, Pfefferfleisch mit Kartoffeln, Entenbraten mit Salat,
Früchte, Wein, Kaffee und Zigarren. Und wovon spricht man an seinem
Tisch? Nun, das ist kaum möglich zu erzählen, denn wir bewegten uns so
gut wie über die ganze Erde. Der Kronprinz begann, wie der Kaiser, mit
Tibet, und von da aus hatten wir ja bloß einen Katzensprung über den
Himalaja bis zu den Palmen im Hugli-Delta, zu den Pagoden in Benares,
zum silbernen Mond über dem Tadsch-Mahal, den Tigern in den Dschungeln
und dem kristallklaren Widerhall der indischen Wogen an den Klippen
von Malabar Point bei Bombay. Wir sprachen von alten, unvergeßlichen
Erinnerungen, von gemeinsamen Freunden, die zu Feinden geworden. Und
wir sprachen vom Krieg und seinen Greueln und von den furchtbaren
Opfern, die er fordert. »Das hilft nichts,« sagte der Kronprinz, »das
Vaterland fordert alles von uns, und wir wollen, wir müssen siegen,
wenn auch die ganze Welt gegen uns zu Felde zieht.« --

»Ist es nicht wunderlich, daß hier eine so große Ruhe herrscht? Wir
leben ja heute abend wie im tiefsten Frieden, und doch haben wir bloß
ein paar Stunden Wegs bis zu den Feuerlinien!« sagt mein erlauchter
Wirt, nachdem er einen kurzen, präzisen und befriedigenden Rapport
angehört hat, den ein eingetretener Offizier mit lauter Stimme vortrug.

»Ja, Kaiserliche Hoheit, ich hatte mir das Oberkommando einer Armee wie
einen summenden Bienenkorb vorgestellt und finde nun in Wirklichkeit
nicht einen Schimmer von Unruhe oder Nervosität, überall nur Ruhe
und Sicherheit. Was ich aber am liebsten sehen möchte, das wäre eine
Schlacht, denn ich vermute, daß ich mir ebenso wie die meisten andern
Laien eine ganz falsche Vorstellung davon mache.«

Der Kronprinz lächelt und antwortet: »Ja, Schlachtenmaler wie Neuville
und Detaille haben in unsern Tagen wenig Gelegenheit, ihre Kunst
anzuwenden. Von den Kämpfenden sieht man nicht viel, da sie sich
im Gelände und in den Schützengräben verborgen halten, und es ist
gefährlich, einem Bajonettangriff zu nahe zu kommen, wenn man nicht
dienstlich dort zu tun hat. Im großen und ganzen wächst der Abstand
zwischen den Kämpfenden mit der Vervollkommnung der Feuerwaffen. Wer
die beste Artillerie hat, hat die beste Aussicht, zu siegen. Für
uns ist die feldgraue Uniform ein großer Vorteil, wir verschwinden
im Gelände, während die grellfarbigen Uniformen der Franzosen auf
weite Entfernung hin sichtbar sind. Eine Schlacht zu sehen ist fast
unmöglich, nicht einmal der Heerführer, der sie leitet, sieht viel
davon. Seine Leitung geschieht durch Rapporte, Ordonnanzen und
Telephon. Als Zuschauer auf einer Anhöhe in der Nähe Aufstellung zu
nehmen ist nicht anzuraten. Man kann da ziemlich sicher sein, daß man
für einen Beobachter gehalten wird, der das Artilleriefeuer leitet und
deshalb das Ziel der feindlichen Schrapnells ist. Sie werden jedoch bei
Ihrem Besuch hier Gelegenheit bekommen, so viel zu sehen, wie überhaupt
gesehen werden kann.«

Wie die Stimmung beim Kronprinzen von Deutschland war! Fröhlich,
jugendfrisch und ungezwungen. Man merkte nichts von höfischer
Steifheit, sogar der General, der sonst die strengste Disziplin
aufrechterhielt, war von dem herrschenden kameradschaftlichen Geiste
angesteckt. Eine Folge der gewaltigen Arbeitslast, die auf ihm ruhte,
war jedoch, daß er für gewöhnlich später als die andern zu Tisch kam.
Das Abendessen und das Zusammensein nachher zog sich bis gegen 11 Uhr
hin. Das waren die einzigen Stunden, wo man sich in Ruhe traf, denn
tagsüber waren alle bei ihren Arbeiten, und der Kronprinz übernahm dann
an den dazu geeigneten Orten an der Front die Oberleitung.



10. Hinter der Feuerlinie.


_21. September._ Frühzeitig wird geweckt, denn um sieben Uhr war
Frühstück, bei dem sich alles um den Kronprinzen versammelte. Dann bat
mich der Kronprinz, ihn in das Haus des Generalstabs zu begleiten, wo
ein »Feldzugsplan« für mich entworfen werden solle. Der General hielt
es für das Richtigste, daß ich erst einmal das Artilleriefeuer bei
Septsarges sähe. Drei Offiziere erhielten entsprechende Aufträge. Major
Matthiaß war Leiter der Fahrt, ein Soldat Automobilführer.

Das Auto ist fertig und wir nehmen Platz. Mit rasender Geschwindigkeit
fahren wir nach Süden, und ich will nicht leugnen, daß sich meiner
jetzt eine steigende Spannung bemächtigte. Denn das hier war kein
Manöver, sondern der Krieg selbst, der größte Krieg, der jemals auf
Erden ausgefochten wurde, und wir waren an der Westfront, den Franzosen
gegenüber, die mit Recht als die besten Soldaten unter Deutschlands
Widersachern angesehen wurden. Von Minute zu Minute näherten wir uns
der Feuerlinie, und wenn das Auto an den Kurven die Geschwindigkeit
verlangsamte, hörte man die Kanonade immer deutlicher, diese dumpfen
schweren Schüsse, von denen die Erde erzitterte. --

Die Straße ist voll von Proviantkolonnen, die nach Süden ziehen, von
unzähligen Bagagewagen, die leer nach Norden fahren, um bei irgendeiner
Eisenbahnstation neuen Proviant zu holen; von frischen Truppen, jungen,
kräftigen Soldaten, die direkt aus Deutschland kommen. Aber fröhlich
und guter Dinge sind sie alle; sie singen lustige Soldatenweisen,
rauchen ihre Pfeifen und ihre Zigarren, lachen und schwatzen, als zögen
sie hinaus zu einem ländlichen Volksfest. In Wirklichkeit aber ziehen
sie hinaus, um die Lücken zu füllen, die das Feuer der Franzosen in
die Reihen ihrer Kameraden gerissen hat. Sie sind Ersatztruppen, aber
ich finde kein einziges Gesicht, das ein Vorgefühl des nahen Todes
verrät. Den Kanonendonner hören sie deutlicher als wir, denn das Surren
des Automobils übertönt alle anderen Laute. Aber sie scheinen an der
dumpfen Musik Gefallen zu finden, und doch ist ihr Platz weit vor den
Artilleriestellungen!

Wir rasen durch Dun. Man kann kaum von mehr als einer Straße in dieser
kleinen, schön gelegenen Stadt an der Maas reden. Aber wie furchtbar
ist sie verwüstet! Ein wehmutsvoller Trost, daß ihre Häuser von der
eigenen Artillerie der Franzosen zusammengeschossen wurden, um den
Deutschen den Aufenthalt in Dun so ungemütlich wie möglich zu machen.
Dun ist jetzt Etappenort mit Etappenkommandantur, Etappenlazarett,
Etappenmagazin und großem Lager von Waffen und Munition. Bis hierher
reicht die Eisenbahn unter preußischem Betrieb; hier werden auch die
Vorräte aus den Eisenbahnwagen umgeladen und vom Troß weiterbefördert.

Nun merkt man, daß wir uns dem Feuer nähern. Die ganze Straße wimmelt
von Militär. Hier eine Schar Verwundeter, Kopf, Hand oder Arm
verbunden; dort eine Munitionskolonne, eine endlose Reihe Wagen, sie
sind voll beladen mit grober Munition, Granaten für die 21-~cm~-Mörser
bei Septsarges und seine Nachbardörfer an der Front. Jedes Gespann von
sechs Pferden samt dem zweiteiligen Munitionswagen erfordert sechs
Soldaten. Drei reiten auf den linksgehenden Sattelpferden, zwei sitzen
auf dem Bock der vorderen Wagenhälfte und einer nach rückwärts gewendet
auf der hinteren Wagenhälfte. Sie haben Mauserpistolen links im Gürtel,
die Säbel der Reiter sind links am Sattel befestigt. Was tut es, daß
die Uniformen der Leute so schmutzig sind wie der Lehm und der Schlamm
des Feldes; das ganze Gespann ist doch höchst malerisch mit seinen
starken, schweren Geräten, seinen Deichseln, Lederriemen, Seilen und
seinem ganzen Geschirr. Ein Reiter singt, ein anderer pfeift, ein
dritter schreit ein widerspenstiges Nebenpferd an; hinten auf einem
Wagen sitzen ein paar und drehen Zigaretten, bei der rumpelnden
Bewegung des Wagens gar nicht so einfach. Zuletzt kommt die Feldküche
der Mannschaft mit Proviant und einigen Bündeln Holz. Und immer klingt
es in unsern Ohren, dies ewige »Tramp, Tramp«, wenn die Kolonnen
vorbeiziehen, ein niemals versiegender Strom von Kriegern, Pferden,
Proviant und Munition.

Endlich haben wir die Spitze der großen Kolonne erreicht. Hier reiten
ein paar Offiziere, der Kolonnenführer und seine nächsten Leute. Sie
grüßen. Kaum haben wir sie verlassen, da sind wir schon am Ende einer
neuen Munitionskolonne; ihre Wagen sind mit je drei Soldaten bemannt
und von vier Pferden gezogen, von denen nur das vordere linke beritten
ist.

An den Straßenseiten fallen zahllose große, tiefe Löcher auf. Hier
hat das Feuer ordentlich gehaust. Das sehen wir nur allzu gut, sobald
wir wieder an die Maas herunterkommen, da, wo das Dorf Vilosnes so
schlimm mitgenommen wurde. Aber mitten in der Verwüstung blüht das
Soldatenleben: da halten Proviantkolonnen mit unzähligen Wagen, rasten
große Abteilungen von Ersatztruppen, die sich ungeniert auf dem nassen
Erdboden rings um ihre Gewehrpyramiden herum ausgestreckt haben,
reiten Feldgendarmen in grünen Uniformen und werden die gefallenen
Bagagepferde ersetzt, denn in Vilosnes haben die Deutschen ein
Pferdedepot eingerichtet.

Nun donnern die Kanonen mächtig, und wir haben nicht mehr weit bis
zu den deutschen Batterien. Noch ist keine Gefahr. Die unzähligen
Granatlöcher um uns stammen nicht aus den letzten Tagen. Seitdem hier
die Granaten fielen, sind die Deutschen weiter vorgerückt. Aber wir
sind unmittelbar hinter den Feuerlinien; deshalb häufen sich hier alle
Vorräte, die zur Ernährung von Menschen nötig sind, sowie Pferde,
Kanonen und Gewehre. Mitten im Schlamm der Äcker, Felder und Wiesen
haben die Proviantkolonnen und Feldlazarette ihre Biwaks. Nirgendwo
auch nur ein handgroßer Fleck, wo man einen trockenen Schlafplatz für
die Nacht herrichten könnte! Vermutlich schlafen die Leute auf den
Wagen, soweit der Raum reicht. Abgehärtet und frisch wie sie sind,
klagen sie nicht, sie singen nur.



11. Im Schrapnellfeuer.


Beim Dorf Dannevoux, das voller Ersatztruppen ist, kommen wir dem Feuer
noch näher.

Sechs Kilometer weiter liegt Septsarges. Der Weg dorthin ist schon im
Schußbereich der französischen Batterien, und von Zeit zu Zeit schlagen
Granaten neben ihm ein. Aber wir fahren noch im Schutz einer schwachen
Geländewelle im Süden, und es ist ein Glück, daß eine Panne uns zum
Halten zwingt, während wir noch in Deckung sind; denn ein kleines Stück
weiter vorn wird man von den französischen Beobachtungsposten gesehen
und zieht dann mit aller Wahrscheinlichkeit das Feuer auf sich; die
französische Artillerie ist so eifrig, daß sie ihre Munition auf einen
einzigen Menschen verschwendet.

Das Auto ist wieder in Ordnung. »Schnell über die Höhe!« kommandiert
Major Matthiaß. Leichter gesagt als getan, denn der Landweg ist schmal
und ein vollständiges Moorbad, worin schwere Wagen bodenlos tiefe
Furchen hinterlassen haben. Links im Süden werden zwei französische
Fesselballons sichtbar; ein keineswegs behagliches Gefühl, denn sie
stehen mit den Batterien unter ihnen in telephonischer Verbindung.
Es wirkt auch gerade nicht ermunternd, am Wegrand Holzkreuze auf
frischen Gräbern zu sehen. Dort im Graben ein totes Pferd -- der
Granatlöcher sind schon so viele, daß wir ihnen keine Aufmerksamkeit
mehr schenken -- neben der Straße eine Kolonne, die Hafer für die
Pferde der Mörserbatterie gebracht hat. Schon sind wir in nächster Nähe
der ersten Batterien mit je vier dieser gewaltigen Brummer. Zwischen
zwei solchen Stellungen fahren wir während des Feuerns durch. »Laden!«
kommandiert ein Hauptmann -- »Fertig zum Feuer!« -- gleich darauf
»Feuer!« -- alle vier Schüsse gehen fast gleichzeitig los. Blitzschnell
fährt ein Feuerbüschel aus der Mündung. Ein Schuß erdröhnt, daß man
sich die Ohren zuhält und das Land ringsum erzittert, und dann hört
man das eigentümliche, unheimliche Pfeifen, wenn die Projektile in
die französischen Stellungen hinübersausen. Jeder Mörser hat einen
Schutzschild; bei den Kanonen findet die Bedienung in Erdhöhlen
Deckung, falls das Feuer der Franzosen der Batterie allzu hart zusetzen
sollte.

In Septsarges standen auch die Feldküchen bereit mit ihren rauchenden
Schornsteinen. Tagsüber wird das Essen gekocht, und sobald es dunkel
ist, fahren die Feldküchen in die Nähe der Schützengräben, wobei sie
immer soviel als möglich im Gelände Deckung suchen. Die Mannschaften in
den Schützengräben wissen, wo die Küchen zu finden sind, und begeben
sich im Schutz der Dunkelheit dahin, um sich ihre Blechtöpfe mit
siedender Fleischbrühe füllen zu lassen.

Im Dorf erkundigten wir uns bei ein paar Offizieren nach dem Stand
der Dinge und fuhren dann bis zu einem geschützten Platz, wo wir
unsern Wagen verließen. Darauf gingen wir weiter hinauf nach Süden,
wobei wir die nächste Mörserbatterie links und eine Position von
Feldartillerie rechts hatten. Auch die Mannschaften der Feldartillerie
hatten sich neben den Kanonen Erdhöhlen gegraben und mit Zweigen,
Stroh und Laub gedeckt, um sich vor französischen Fliegern zu
verbergen. Vom Automobil aus gingen wir etwa achthundert Meter auf
das französische Feuer zu. Die Schützengräben sind zwei ziemlich
parallel laufende, einige hundert Meter voneinander entfernte Linien.
Hinter ihnen sind die Artilleriestellungen, ebenfalls in zwei fast
parallelen Linien. Wir bewegten uns also jetzt zwischen den deutschen
Artilleriestellungen und den deutschen Schützengräben, d. h. in
dem Gebiet, das das Ziel der französischen Artillerie war. Wir
beobachteten daher alle Vorsichtsmaßregeln, die sich aus dem Gelände
ergaben. Unser Ziel war ein Beobachtungsstand oben auf der Anhöhe,
wo ein paar Artillerieoffiziere unbeweglich wie Bildsäulen bei ihren
auf Holzstativen ruhenden Scherenfernrohren standen. Sie leiteten
das Feuer der Mörserbatterie und meldeten mittels Telephon, wo die
Granaten einschlugen, ob die Schüsse zu niedrig oder zu hoch gingen,
zu weit rechts oder zu weit links vom Ziel, das nach den Meldungen der
Patrouillen und Flieger festgelegt wird.

Unten gingen wir noch einigermaßen sicher, da wir nicht von der
französischen Front aus gesehen werden konnten. »Achten Sie auf die
Telephondrähte!« rief Matthiaß, der an der Spitze ging, als wir einige
Leitungen im Grase überschritten. Nun erreichten wir etwa die Mitte des
Abhangs, wo uns die Franzosen von mehreren Punkten aus sehen konnten,
und stiegen dann in einen langen Laufgraben hinab, der bis in die Nähe
des Beobachtungspostens führte. Der Graben war wenig mehr als einen
Meter tief und wir mußten stark gebückt gehen, um nicht gesehen zu
werden. Infolge der Abschüssigkeit des Terrains war zwar das meiste
Wasser abgelaufen, was aber noch vorhanden war, genügte, um den Boden
des Grabens in einen graubraunen Lehmbrei zu verwandeln, worin man mit
schweren Sohlen ausglitt und bis zur Mitte des Schienbeins einsank.

Die Beobachter stehen oben in ihren Mänteln auf der Spitze des
Hügels, eine niedrige, kurze Brustwehr vor sich. Im allgemeinen
ist man auf solch einem Punkt nicht gerade willkommen, denn man
kann die Aufmerksamkeit der Franzosen wecken und die Beobachter in
Lebensgefahr bringen. Sie grüßten denn auch nur kurz und fuhren fort,
das französische Feuer zu beobachten, unbeweglich wie Bildsäulen.
Wir gingen den letzten Abschnitt im Gänsemarsch, damit es wenigstens
von den gerade gegenüberliegenden Batterien aus scheinen sollte, als
käme bloß ein Mann und wir nicht zerstreut auf der Spitze des Hügels
mehr Bewegung verursachten. Auf den Hacken sitzend, beobachteten wir
das Land im Süden in der Richtung nach Malancourt und orientierten
uns so gut es ging. Der Major erklärte gerade, welche Höhen, Wälder,
Dörfer und Chausseen von den Deutschen genommen worden waren und wo
die französischen Stellungen begannen, als ein Schrapnell in unserer
unmittelbaren Nähe explodierte, gleich links von uns. »Deckung!« rief
Major Matthiaß und warf sich der Länge nach hinter der Brustwehr
nieder. Wir waren kaum seinem Beispiel gefolgt, als drei neue
Schrapnells in etwas weiterer Entfernung niedergingen. Offenbar hatte
uns der französische Beobachter doch gesehen und das Feuer einer
Batterie gerade auf uns einstellen lassen. Wir hielten es daher für
das klügste, einen sichreren Platz aufzusuchen. Zunächst gingen wir
wieder zu der Mörserbatterie hinab. Während der nächste Schuß geladen
wurde, entwarf ich die beigefügte, sehr unvollkommene Skizze, aber es
verlangt wohl niemand, daß man Geistesgegenwart und Kaltblütigkeit
zu ausführlichen Zeichnungen hat, wenn man jeden Augenblick mit
Schrapnells überschüttet werden kann. Das Bild zeigt das Mörserrohr,
gesenkt zum Laden, rechts auf einer Trage ruht ein Geschoß.



12. Madame Desserrey.


Es war noch hell, als ich nach Stenay zurückkam. Am Eingang des
Schlosses saß der Kronprinz und ruhte sich aus; er war eben vom
Tagesdienst zurückgekehrt. Später machte ich noch einen Spaziergang
durch die Stadt. Bei den Maasbrücken wurde ich von den Wachtposten
angehalten, die mich bestimmt aber höflich aufforderten, meinen Ausweis
vorzuzeigen. Es ist ja nicht weiter verwunderlich, daß ich ihnen
verdächtig vorkam, da ich ein Skizzenbuch unter dem Arm trug. Bloß
einer von ihnen, ein ehrenwerter Landwehrmann, erklärte querköpfig,
mein Ausweis sei nicht genügend. »Also der Generalstabschef General
Moltke imponiert Ihnen nicht?« »Nein, der Ausweis muß von der fünften
Armee abgestempelt sein«, antwortete er. Ein paar Kameraden von ihm
retteten die Situation, nachdem sie den Ausweis gelesen und versichert
hatten, daß General Moltke ihnen genüge.

Nach einem kurzen Besuch im Lazarett, das in einer französischen
Artilleriekaserne eingerichtet war, kehrte ich um und blieb erstaunt
am Eingang eines Ladens stehen, in dem Soldaten aus und ein gingen. Da
ich hörte, wie ein paar Soldaten verzweifelte Anstrengungen machten,
sich mit den Inhaberinnen des Ladens zu verständigen, erbot ich
mich zum Dolmetsch. Es war ein Geschäft für Damenartikel, Weißwaren,
Schnürleiber, Spitzen, Taschentücher, Strümpfe, Parfüms, Seife und
andere nützliche Toilettengegenstände. Die Inhaberin, Frau Desserrey,
war seit drei Jahren Witwe und lebte mit ihren drei Kindern und einer
Schwester von diesem kleinen Geschäft. Die Soldaten im Laden wollten
Hemden kaufen, und Madame Desserrey wollte ihnen begreiflich machen,
daß sie ihnen alles, was sie verlangten, nähen wolle, wenn sie ihr den
Stoff dazu schafften. Mit diesem Bescheid waren die Soldaten zufrieden,
kauften ein paar Schachteln Seife und zogen ihrer Wege. Ich fragte
Madame Desserrey, ob der Krieg sie nicht ruiniert habe, doch hatte sie
bisher noch keinen Verlust gehabt; sie hoffte, über den Herbst und
Winter hinwegzukommen und bald den Krieg beendet zu sehen.

»Und wie finden Sie die deutschen Soldaten?« fragte ich.

»Sie haben mir und den Meinen nicht das geringste getan, sind immer
höflich und nehmen sich nichts heraus. Was sie von meinem Lager
brauchen konnten, haben sie gekauft und ehrlich bezahlt; ich könnte ein
großes Geschäft machen, wenn ich nur neue Waren aus Luxemburg erhielte.
Ich und noch drei andere sind die einzigen, die hier ihre Läden
offenhalten; alle übrigen haben geschlossen und sind beim Herannahen
der Deutschen geflohen.«

Im Laden standen zwei Strickmaschinen, daran saßen die achtzehnjährige
Blanche Desserrey und ihre vierzehnjährige Schwester und strickten
Strümpfe für die deutschen Soldaten, während ihr elfjähriger Bruder
draußen auf der Treppe saß und dem Soldatenleben zusah. Fräulein
Blanche war bezaubernd, sah aber leidend aus und hatte einen wehmütigen
Zug in ihren schwarzen Augen und einen Hoffnungsanker an ihrer
Brosche. Ich fragte sie, ob sie viele Freunde draußen im Krieg habe.
Ja, antwortete sie und sie sehne sich nach ihren Freunden, die aus
der Stadt geflüchtet seien. »Wie entsetzlich ist nicht dieser Krieg!«
rief sie, »welches Unglück für alle!« Dann fragte sie, ob man auch
heute an der Front hart kämpfe; sie hatte den Kanonendonner am frühen
Morgen gehört. Ja, man kämpfte erbittert, Deutsche und Franzosen,
und mancher tapfere und vielversprechende junge Mann starb für sein
Vaterland. Fräulein Blanche nähte nicht nur für Soldaten, sie träumte
auch die schönsten Träume, und ihr Herz war rein und ohne Falsch;
sie war liebenswürdig und konnte obendrein lachen inmitten aller
Einquartierungssorgen und beim Strümpfestricken, ja man merkte, daß sie
die Freude zu den vergänglichsten Dingen in dieser Welt zählte. Die
deutschen Soldaten, die hereinkamen, betrachteten sie mit Interesse und
begegneten ihr achtungsvoll. Sie selbst versicherte, sie habe nie Anlaß
gehabt, sich über ihr Benehmen zu beklagen; sie ahnte aber nicht, daß
sie auch den Stärksten mit einem Blick ihrer Augen entwaffnen konnte.

    »~Soyez comme l'oiseau,~
    ~Penché pour un instant~
    ~Sur les rameaux trop frêles,~
    ~Il sent plier la branche,~
    ~Mais il chante pourtant,~
    ~Sachant qu'il a des ailes.~«

Blanche Desserrey hätte die Heldin eines rührenden Romans abgeben
können!

Ich für meinen Teil hatte keine Zeit für Romane. Als ich auf die
Straße hinaustrat, schlug die Uhr des Kirchturms ihre sechs alten
französischen Schläge, und ich begab mich auf mein Zimmer, um einige
Aufzeichnungen zu machen. Plötzlich klopfte es. »Herein!« rief ich mit
Korporalstimme. Und herein trat der Kronprinz, mit einem großen Buche
unter dem Arm. Ich bat meinen hohen Gast, auf dem Sofa Platz zu nehmen;
dort saßen wir denn und plauderten, bis es Zeit wurde, sich für das
späte Mittagessen zurechtzumachen.

[Illustration: Brummer im Feuer bei Septsarges.

(Vgl. Seite 46.)]

Das Buch aber, das der Kronprinz gebracht hatte und das er mich bat,
als Andenken zu behalten, hieß »_Deutschland in Waffen_« und enthielt,
neben Beiträgen aus verschiedenen Federn, eine Reihe von hervorragend
gut ausgeführten und wiedergegebenen farbigen Darstellungen der
verschiedenen deutschen Truppengattungen im Dienst, im Manöver und
im Krieg und der deutschen Kriegsflotte auf hoher See. Der Kronprinz
selbst hat das Werk unter dem Beistand hervorragender Meister
herausgegeben.

[Illustration:

  General Feldmarschall von Haeseler. General von Mudra am Scherenfernrohr.

Bei Eclisfontaine.

(Vgl. Seite 57.)]



13. Morgengrauen.


_22. September._ Während des Essens machte mir der Kronprinz den
Vorschlag, den Major Matthiaß zu begleiten, den der Dienst nach
Eclisfontaine rief. Von dort aus sollte der Sturm auf Varennes und die
umliegenden Dörfer unternommen werden, die die Deutschen schon einmal
in Besitz gehabt, dann aber aus taktischen Gründen wieder geräumt
hatten.

½4 Uhr wurde ich geweckt. Ich zündete mein Licht an, öffnete das
Fenster und sah in die Nacht hinaus. Es war pechdunkel, nur einige
Sterne schimmerten durch die Baumkronen des Parks hindurch -- lautlose
Stille, nur der langsame Schritt der Wachen war zu vernehmen.

Um 4 Uhr saß ich einsam beim Frühstück. Ein Soldat begleitete mich mit
einer Laterne zur Wohnung des Majors Matthiaß, wo das Automobil mit
einem jungen Leutnant und einem Soldaten wartete. Wir nahmen, in Pelze
gehüllt, Platz und rollten zur Stadt hinaus. Vor uns her die hellen
Lichtbündel des Scheinwerfers; in so früher Morgenstunde reichten sie
aber nicht weit. Dichter Nebel lagerte auf der Erde. Wir fuhren daher
behutsam, schon weil die Straße jetzt voll wandernder Kolonnen war.
Der Verkehr auf der Etappenlinie funktionierte auch während der Nacht.
Nimmt denn dieser ewige Zug niemals ein Ende? Wahrhaftig, Deutschland
scheint unerschöpflich an lebender Kraft und Material.

In dem Nebel erscheinen die Bäume wie Spukgestalten, die Posten stehen.
Noch seltsamer nehmen sich in dieser ungewöhnlichen, malerischen
Beleuchtung die Kolonnen aus. Die Reiter, den Mantel über den
Schultern, sitzen auf geduldigen, schnaufenden Pferden und träumen;
einer nach dem andern taucht aus dem Nebel auf, je nachdem das Licht
der Scheinwerfer auf sie fällt. Ein Pferd scheut vor dem Licht und
vor dem Surren der Maschine, sein Reiter schreckt aus seinen Träumen
empor; er schüttelt sich, setzt sich im Sattel wieder zurecht, und der
Zug geht weiter. Neue Reiter tauchen auf, immer einer nach dem andern,
unzählige Pferdehufe trappeln die Straße daher, und die Räder der
schweren Bagagewagen knirschen und ächzen in dem Morast, der sich an
ihnen festsaugt und in unförmigen Klumpen wieder herunterfällt.

Da wird neben der Straße ein rotgelber Schein sichtbar. Wir kommen
näher -- er wird stärker und farbiger: es ist das Lagerfeuer eines
Biwaks, von dem sich müde Soldatengestalten als scharfe Silhouetten
abheben. Sie kochen etwas über dem Feuer, vielleicht Kaffee oder Tee,
und mancher von ihnen raucht schon seine erste Pfeife. Ebenso dunkel
und nebelverhüllt wie die Nacht, die sich noch um sie ausbreitet, ist
das Geschick, das sie heute erwartet! Es liegt in der Luft, daß heute
etwas bevorsteht, ein neuer Kampf an der Front. Aber für die Soldaten
ist das nichts Neues, nichts Ungewöhnliches oder Aufregendes. Für sie
ist es das tägliche Brot, denn an der Front wird immerfort gekämpft,
und das Schicksal ruft sie hinaus in das Feuer. Vielleicht ist es
ihnen bestimmt, gerade heute zu fallen und die Anzahl der Gräber und
Holzkreuze an den Straßengräben zu vermehren. Vielleicht war diese
dunkle Nacht die letzte in ihrem Leben! Zum letztenmal haben sie
wenigstens gut geschlafen; das Biwakfeuer verbreitete eine freundliche
und behagliche Wärme.

Neue Feuer werden sichtbar; um alle bewegen sich Gruppen von Soldaten,
Soldaten und immer wieder Soldaten. An einer Stelle müssen wir
eine Weile halten, da wir mit dem ungebärdigen Pferd eines Reiters
zusammengeraten sind. Hier hören wir die kriegerischen Stimmen der
Nacht von allen Seiten: das Knarren der Wagen, das Klirren der Waffen,
das Getrampel der Pferde, die Unterhaltung der Mannschaften und die
strengen Kommandorufe der Führer. Es sind Truppen, die an die Front
marschieren.



14. Die »Brummer« bei Eclisfontaine.


Um ½7 ist Eclisfontaine erreicht. Der Nebel hängt in Fetzen und
Draperien, bald leichter, bald dichter, ist aber hartnäckig und trotzt
noch immer der aufgehenden Sonne. Es ist heute ein bedeutungsvoller Tag
für die Deutschen; sie wollen angreifen und nach Varennes vorrücken.
Nur der Nebel hindert sie, und es geht schon auf 8. Die Infanterie
soll schon im Vorrücken sein und an der äußersten Front in heftigem
Kampf stehen. Die Artillerie muß noch warten, ehe sie ihre Stellungen
vorschieben kann. Doch von den Plätzen, wo die Batterien jetzt stehen,
beginnen sie ihren Morgengesang. Die Schüsse fallen aus verschiedenen
Richtungen immer häufiger. Ganz nahe dem Dorf sind Feldhaubitzen und
schwere Mörser. Die Schüsse, die schwächer und dumpfer klingen, kommen
von französischer Seite. Manchmal hört man vier und sechs Schüsse fast
zu gleicher Zeit; dann vergeht eine Pause bis zur nächsten Salve.

Ein Offizier begleitet mich die Chaussee entlang durch das Dorf. In
einem kleinen Haus laufen alle Drähte des Feldtelephons zusammen;
hier sitzt ein halbes Dutzend Offiziere an einem langen Tisch,
Telephonhörer am Ohr und Karten vor sich. Hier sammeln sich von der
Front die Meldungen über den Verlauf der Schlacht, über Veränderungen
der französischen und deutschen Stellungen und über die daraus sich
ergebenden Wünsche und Bedürfnisse.

Mit Freund Matthiaß gehe ich ein Stück weiter nach Südwesten bis zu dem
Punkt, von wo aus die Generalität die deutschen Operationen leitet. Das
Gelände steigt bis zu diesem Punkt langsam an; er hat eine dominierende
Lage und erlaubt einen vortrefflichen Ausblick über das ganze Gebiet,
auf dem der Kampf tobt. Hier steht der kommandierende General von
Mudra; in seiner Gesellschaft auch der 78jährige Feldmarschall
von Haeseler, der jetzt kein Kommando hat, aber dem Wunsch nicht
widerstehen konnte, in der Nähe seines alten Korps zu sein, dort, wo
es für Deutschlands Ehre kämpft. Von mehreren Offizieren umgeben,
standen die beiden Generäle den ganzen Tag mitten auf der Landstraße.
Unmittelbar neben der Straße stand auf seinem Holzstativ ein
Scherenfernrohr, und an diesem Fernrohr ein Hauptmann, der unablässig
seine Beobachtungen meldete. Von Zeit zu Zeit trat der kommandierende
General selbst ans Fernrohr.

Der Ort, auf dem wir standen, war nicht ganz ungefährlich. Ein Soldat
in der Nähe der Telephonstation erhielt eine Gewehrkugel in den
Rücken, eigentümlicherweise ohne verwundet zu werden; er fiel nur
infolge des Stoßes oder vielleicht vor Schreck um. Die Kugel, die aus
weiter Entfernung kam, hatte ihre Kraft eingebüßt. Ein anderer wurde
leicht verwundet, ebenfalls von einer Gewehrkugel. Drei Schrapnells
explodierten ganz in unserer Nähe, aber in allzu großer Höhe, um
lebensgefährlich zu sein.

Von einem Punkt in der Nähe von Eclisfontaine hatte man eine
vortreffliche Aussicht nach Südwest in der Richtung auf Varennes.
Hier saß, wohlbeleibt und jovial, auf einem Stuhl mitten auf der
Landstraße der Divisionsgeneral Graf Pfeil. Seitdem der Nebel fast
spurlos verschwunden war, traten auch die Umrisse des Argonner Waldes
hervor. In einer Entfernung von drei Kilometern nach Varennes zu
steigt das Gelände zu einem flachen Kamm an, der ein paar deutsche
Feldartilleriebatterien schützt, die von hier aus mit bloßem Auge
leicht sichtbar sind. Gleich links von diesen Stellungen geht die
deutsche Infanterie vor. Durchs Fernglas sieht man die Soldaten in
stark gebückter Stellung vorrücken, um solange als möglich von der Höhe
geschützt zu sein, die die Kanonen deckt. Wahrscheinlich haben aber
die Franzosen die Infanterie schon gesichtet; unaufhörlich explodieren
Schrapnells über ihren Linien; ein weißes Wölkchen nach dem andern
taucht auf, und aus seiner Mitte schießt ein Blitz hervor. Einmal
zählten wir acht solcher Wölkchen, die gleichzeitig über den Soldaten
schwebten und sie mit einem Regen von Bleikugeln überschütteten.
Zuweilen schlagen in ihrer Nähe auch Granaten ein, leicht erkennbar
an den dunkelgrauen Säulen von Erde, Lehm und Pulver, die entstehen,
sobald sie auftreffen.

Gleich südlich von der Höhe im Südwesten und durch diese unsern
Blicken entzogen, liegen starke Kräfte der deutschen Infanterie in
langen Schützengräben. Diesseits der Batterien sieht man im Gelände
zwei halbmondförmige dunkle Flecke, die sich im Fernrohr in Soldaten
auflösen; sie sitzen und liegen, haben aber Gewehr und Bajonett zur
Hand, um die Kanonen gegen einen Überrumplungsversuch zu schützen.
Die Kanonen sind in die Erde eingegraben, durch Erdwälle gedeckt und
nach der Feuerseite zu stark maskiert. Heute morgen war noch keine
französische Infanterie und Kavallerie zu sehen; auf der feindlichen
Seite kämpfte bloß Artillerie, die nach Aussage der deutschen Offiziere
vortrefflich schoß; nur waren die Geschosse oft sogenannte Blindgänger,
die nicht explodieren.

Plötzlich donnert es um uns von allen Seiten, auch von hinten; eine
Batterie von vier 21-~cm~-Mörsern ist bis zum Dorfe vorgerückt und
steht nur hundert Meter von uns entfernt. Der Boden zittert bei jedem
Schuß. Die vier Schüsse fallen rasch hintereinander, nur ein paar
Sekunden Pause ist zwischen ihnen. Dann hört man eine halbe Minute
oder länger über sich ein zischendes, singendes Pfeifen und sieht
unwillkürlich nach oben. Doch sieht man die Geschosse nur, wenn man
hinter dem Mörser möglichst in der Verlängerung der Flugbahnfläche
steht. Die vier Geschosse fahren gemeinsam durch die Luft und singen
den gleichen Gesang in gleich hohem Ton. Zuweilen scheint er zu
ersterben, aber nach einer Weile ist er wieder deutlich vernehmbar; das
kommt vielleicht von der Windrichtung. Die Mörsergeschosse brauchen
ein paar Minuten bis zum Ziel; der Höhepunkt ihrer Flugbahn liegt
Tausende von Metern über der Erde -- eine schwindelerregende Reise für
diese zentnerschweren Geschosse. Die Geschosse der Feldkanonen, die
gewöhnlich auf nur drei Kilometer Entfernung eingestellt werden, kommen
in einer halben Minute ans Ziel.

Die vier »Brummer« der Batterie warfen ein ums andere Mal ihre schweren
Granaten zu den Franzosen hinüber; jeder Schuß sollte wer weiß wie
vielen Menschen den Tod bringen. Doch schien ihre Hauptaufgabe zu
sein, den Gegner aus Varennes zu vertreiben, das nur sechs Kilometer
südwestlich von Eclisfontaine liegt.

Am Abend fragte ich einen der Beobachter, was das heutige Feuer wohl
koste. Er machte schnell eine Berechnung für 24 Batterien Feldhaubitzen
und 8 Batterien schwere Kanonen und Mörser; die Durchschnittskosten
für jeden Schuß berechnete er auf 50 Mark, die Anzahl der Schüsse auf
zwölftausend; das macht 600000 Mark für einen einzigen Tag und für
einen ganz kleinen Teil der deutschen Front! Andere aber meinten, die
Berechnung sei in jeder Beziehung zu hoch. Auf alle Fälle verbraucht
die Artillerie ungeheure Summen in einem Krieg wie diesem, wo sie die
Hauptwaffe ist. --



15. Verhör französischer Gefangener.


Zwei deutsche Soldaten mit geladenem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett
eskortieren französische Gefangene nach Eclisfontaine. Die meisten
sehen gleichgültig aus, und ihr Blick verrät nur den einen Gedanken:
Nun ist alles verloren, nun ist es aus mit uns! Andere sehen tief
niedergeschlagen aus und haben geweint. Die Kraft ihrer Arme ist
Frankreich entzogen, jetzt, wo sie am meisten gebraucht werden.

Ich war gerade in Gesellschaft des Brigadegenerals Bernhard, als
die Franzosen in ihren blauen Waffenröcken und den weiten roten
Pumphosen daherkamen; die Uniformen waren abgerissen und schmutzig,
kein Wunder, wenn man Tage und Nächte im Schützengraben gelegen hat.
General Bernhard trat zu ihnen und kommandierte Halt; dann ließ er sie
einen Halbkreis bilden und begann, sich mit mehreren zu unterhalten.
Einer war in Auxerre ausgehoben und am elften Mobilisierungstag
über Bar-le-Duc nach Varennes transportiert worden, wo er seitdem
gestanden hatte. Man macht ein Verzeichnis der Gefangenen und gewinnt
so wertvolle Auskünfte über die Zusammensetzung der feindlichen
Truppen, über Regimenter, Brigaden und Armeekorps und ihre Stellung an
der Front. Der General fragte auch die Gefangenen, wie es mit ihrer
Verpflegung stünde; die Antworten lauteten sehr ungleich. Die meisten
waren zufrieden; nur einige behaupteten, sie hätten in der letzten
Woche nur zweimal warmes Essen bekommen, da sie zufällig weit entfernt
von der nächsten Feldküche gestanden hätten.

Schließlich wurde an die Gefangenen die Frage gerichtet, ob sie
Tagebücher hätten, und acht oder neun antworteten: Ja! Die Bücher
wurden dem General übergeben, der sie behielt. Auch dadurch gewinnt
man wichtige Aufschlüsse über die feindlichen Truppenbewegungen, oft
aus scheinbar bedeutungslosen Aufzeichnungen, die nur der Fachmann
zu deuten weiß. General Bernhard las uns später aus einem dieser
Tagebücher das letzte Stück vor, das der Gefangene tags vorher
geschrieben hatte. Da stand u. a.: »Die Preußen beschießen Varennes.
Sie schießen gut, heute nacht traf eine ihrer Granaten den General X.,
als er sich eben niedergelegt hatte.« General Bernhard sagte, die
französischen Gefangenen benähmen sich immer höflich und aufmerksam und
beantworteten alle Fragen korrekt und wahrheitsgetreu. In den meisten
Fällen redeten sie ihn »~mon général~« an und bewiesen damit, daß
sie über die deutschen Rangabzeichen orientiert waren, auch bei der
gleichmachenden Felduniform. Und der General sprach zu den Gefangenen
ohne jede Spur militärischer Strenge und ohne die Überhebung, die Rang
und Macht leicht einflößen können.

Während des Verhörs wandte sich ein französischer Unteroffizier mit
blondem Vollbart an mich und fragte: »Was wird man mit uns tun?« Ich
antwortete: »Man wird Ihnen warme Suppe und Brot geben, und Verwundete
werden ärztlicher Hilfe überantwortet.« Der Mann sah mich fragend und
erstaunt an, offenbar im Zweifel, ob das wirklich wahr wäre. Dann
wies er auf einen seiner Kameraden, der einen blutenden Streifschuß
am Nacken hatte. Ein deutscher Leutnant übergab ihn sofort einem
Sanitätssoldaten.

So bekam ich auch jetzt in unmittelbarer Nähe des Schlachtfeldes eine
Bestätigung dessen, was ich früher im Lazarett gesehen hatte: daß die
französischen Gefangenen bei den Deutschen eine in jeder Hinsicht
humane und wohlwollende Behandlung erfahren, und ich will im Namen
der Wahrheit feierlich erklären, daß die gegenteiligen Behauptungen
gewisser feindlicher Blätter niedrige Lüge und schändliche Verleumdung
sind. Wenn einmal der Tag des Friedens kommt und die französischen
Gefangenen nach Hause zurückkehren, werden sie selbst dafür Zeugnis
ablegen können. Vielleicht werden einige von ihnen sich auch an
Eclisfontaine erinnern.

Später kamen neue Scharen von Franzosen. Sie waren beim Bajonettangriff
der Deutschen gefangen genommen worden. Einer war am 5. August aus
Konstantinopel heimgerufen worden, ein anderer berichtete, er sei
Reservist, und es beginne an Leuten zu mangeln. Mit ihnen unterhielt
sich der Feldmarschall und sein vortrefflicher Adjutant Rechberg, der
ein beneidenswert gutes Französisch sprach.

In einer Gruppe waffenloser Franzosen befand sich auch ein Hauptmann.
Er hatte einen Schuß durch den Schenkel, hinkte stark und stützte sich
auf zwei Soldaten; er hatte ein vornehmes und offenes Aussehen. Als
seine Schar verhört werden sollte, wurde ihm ein Stuhl angeboten, denn
er sah sehr bleich aus.

»Schmerzt die Wunde sehr, ~mon capitaine~?« fragte ein deutscher
Offizier.

»Nein, gar nicht, sie ist ganz unbedeutend«, antwortete er.

»Haben Sie im Kampf große Verluste erlitten?«

»Keine besonderen, wir können alle Lücken ausfüllen.«

»Sie sehen müde aus, es ist Ihnen sicher in der letzten Zeit schlecht
gegangen?«

»Nein, durchaus nicht, ich habe keine Not gelitten.«

»Es tut Ihnen leid, unter den Gefangenen zu sein?«

»Ja«, antwortete er schwer und bestimmt und ohne aufzusehen.

Er gehörte nicht zu denen, die die Gefangennahme demoralisiert. Als das
Verhör geschlossen war, grüßte er und verschwand mit seiner blauroten
Schar an der nächsten Straßenkrümmung.



16. Sturm auf Varennes.


Nach und nach merkt auch der Uneingeweihte gewisse Veränderungen
in der Situation. Die Artilleristen reiten mit ihren prächtigen
Gespannen zu den zwei Batterien im Südwesten mit dem Argonner Wald im
Hintergrund. Eine Munitionskolonne folgt ihnen. Die Kanonen haben eine
Weile geschwiegen; jetzt wird aufgeprotzt, die Pferde vorgespannt,
die Munition in die Wagen gepackt, die Bedienung springt auf ihre
Plätze, die Reiter in die Sättel, und als alles fertig ist, rollen die
Batterien in einem schönen Bogen in voller Fahrt davon und verschwinden
bald hinter der Anhöhe. Westlich davon sieht man neue Schützenlinien
in südwestlicher Richtung zum Sturm vorgehen. Man hört deutlich
das unbehagliche schnarrende Geräusch der Maschinengewehre bei der
Infanterie. Die Angreifer haben Gelände gewonnen und rücken in neue
Stellungen vor.

Ich gehe zum Beobachtungsplatz zurück. Der alte Feldmarschall, der
schon 1870 mitgekämpft hat und nun das Recht hätte, müde zu sein, hat
sich endlich bewegen lassen, auf einem Rohrstuhl Platz zu nehmen. Da
sitzt er nun, lebt in seinen Erinnerungen auf und kann die Augen nicht
vom Kampf und von den weißen Schrapnellwolken abwenden. Sein Blick ist
streng und ernst, sein Gesicht von tiefen, scharfen Falten und Runzeln
gefurcht, sein graues Haar hängt um ihn wie eine Mähne. Er scheint am
liebsten mit sich allein zu sein, aber wenn man ihn anredet, ist er
voller Leben. In stattlicher, militärischer Haltung steht General von
Mudra an seinem Scherenfernrohr und beobachtet. Den roten Kragen auf
dem sonst hellblaugrauen Mantel hat er in die Höhe geschlagen, in der
Hand hält er eine Karte der Gegend, links trägt er eine Feldtasche mit
Karten, Aufzeichnungen, Feder, Zirkeln und dergleichen.

Eine dritte Batterie deutsche Feldartillerie ist vorgerückt und hat
sich eine neue Stellung gesucht. Und eine dritte Linie Infanterie
folgt den beiden ersten und stürmt in der Richtung auf Varennes. Die
Mannschaften springen mit gesenktem Bajonett in stark zerstreuter
Ordnung, um dem feindlichen Feuer ein weniger kompaktes Ziel zu geben,
und verschwinden hinter der nächsten Anhöhe -- Gewehrfeuer knallt im
Tal, begleitet vom Geknatter der Maschinengewehre -- nach ein paar
Minuten laute Hurrarufe: eine neue feindliche Stellung ist genommen!

Die kleine Aktion, die nur ein Glied in einer Kette ist, verursacht
lebhafte Bewegung in Eclisfontaine. Zuerst fahren die Wagen des
Feldlazaretts in voller Fahrt dahin, wo der Kampf stattgefunden
hat; dann ziehen einige Kompanien Infanterie vorüber, um die Lücken
auszufüllen. Kleine Patrouillen von Ulanen mit wagrecht gehaltenen
Lanzen reiten im Galopp nach Varennes. Schließlich fährt die Feldküche
vorüber mit rauchenden Schornsteinen; die Köche sitzen auf den
Küchenwagen.

Auf den Abhängen südlich sieht man kleine Gruppen von acht oder zehn
Mann mit Bahren und einem Schäferhund, der verstreute und vergessene
Verwundete in den Gräben und Furchen suchen muß. Sobald er einen
Verwundeten gefunden hat, bleibt er stehen und ruft durch Bellen die
Sanitätssoldaten mit der Bahre herbei.

Das Artilleriefeuer der Franzosen hat nachgelassen, da sie ihre
Stellungen in dem Maße, wie die Deutschen vorrückten, weiter
zurückverlegen mußten.

Varennes, die kleine Stadt, in der Ludwig ~XVI.~ am 22. Juni 1791
erkannt und gefangen genommen wurde, um nach Paris zurückgeführt zu
werden, steht nun in hellen Flammen, und eine braungelbe Rauchsäule
steigt aus seinen brennenden Häusern empor. Auch Cheppy brennt und
weiterhin Bourcuilles. Der Kirchturm von Cheppy reckt seine trotzige
Spitze aus dem Gewölk von Rauch und Funken empor.

Westlich liegt das weite Tal, das von der Aire durchflossen wird, einem
Nebenfluß der Aisne. Varennes liegt an der Aire, die im Osten den
berühmten Argonner Wald begrenzt. Nach Süden zu durch das Tal stürmen
württembergische Truppen; ein Teil ihres rechten Flügels zieht durch
die Ausläufer des Argonner Waldes. Man erkennt ihr Vorrücken ganz
deutlich durch das Scherenfernrohr, das jederzeit zu meiner Verfügung
steht. Um aber die kleinen weißen mörderischen Buketts zu sehen,
die entstehen, wenn die Schrapnells gerade über den Württembergern
explodieren, dazu braucht man kein Fernrohr. Das Feuer wird von
deutschen Schrapnells erwidert, die in weiterer Entfernung und mehr
nach links sichtbar werden.

Eine Munitionskolonne, die hinter der flachen Anhöhe südlich Schutz
gefunden hat, erhält Befehl, vorzurücken. Der nächste Weg wäre, nach
Südwesten die Chaussee zu verfolgen, auf der ich mich den ganzen Tag
aufgehalten habe. Aber dieser Weg ist gefährlich; die dunkle Linie
der Kolonne wäre von den neuen französischen Stellungen aus sichtbar
und würde ein vortreffliches Ziel geben, außerdem das Feuer auf die
deutsche Oberleitung lenken. Die Kolonne hatte sich eben auf der
Chaussee in Bewegung gesetzt, als ihr Führer den Befehl erhielt, hinter
den großen Mörsern zu fahren. Die Kolonne führte leichte Munition für
Gewehre und Maschinengewehre. Dahin, wo Munition gebraucht wird, fahren
sie erst in der Nacht. Doch tritt selten oder nie Patronenmangel ein,
da die Patronentaschen der Verwundeten und Gefallenen von ihren noch
kampffähigen Kameraden geleert werden.

Eine Batterie leichte Haubitzen wird jetzt im Norden der Chaussee
sichtbar. Ihre Gespanne schwenken mit ihren Feldstücken in schönem
Bogen nach Süden. In Westsüdwest springen sechs Granaten in einer
Entfernung von zwei Kilometern. Sie waren für die dort kurz vorher
vorrückenden Württemberger bestimmt. Aber jetzt ist keine Seele
mehr auf dem Platz, außer vielleicht einem zurückgebliebenen
Sanitätssoldaten.

Um 6 Uhr zählte ich acht brennende Dörfer, von denen jedoch eins
links vom Argonner Wald und im Operationsbereich des benachbarten
Armeekorps lag. Wie viel verwüstete Häuser, wie viel vernichtetes
Privateigentum! Zwar wird die Bevölkerung sich und ihre transportfähige
Habe rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben; aber wie mag es in den
tausend Wohnungen aussehen, wenn die Menschen zurückkehren! Kann man
ohne tiefes Mitgefühl mit den unschuldigen Leuten sein, die am meisten
unter dem Krieg zu leiden haben? Und ist man ein Feind Frankreichs,
wenn man eine Ententepolitik verurteilt, die so namenloses Unglück über
die nordöstlichen Provinzen der Republik gebracht hat? Wer mit eigenen
Augen all diese Folgen des Krieges, Kummer, Armut und Vernichtung
sah, müßte sich selbst verachten, wenn er nicht laut die Politik
verurteilte, die allein an all diesem Unglück Schuld trägt!

»Aber warum rückt nicht auch die Armeeleitung vor?« fragte ich, nachdem
die Truppen sechs oder sieben Kilometer vor der letzten Linie Stellung
genommen hatten.

»Weil man die Telegraphen- und Telephonleitungen nicht sofort
verlängern und das ganze System von Verbindungen mit der neuen
Frontlinie ändern kann.«

Am folgenden Tag wurde Varennes genommen und damit die ganze
Maschinerie ein Stück weiter nach Südwesten vorgeschoben.

Aber nun begann der heutige Tag zur Neige zu gehen; die Sonne näherte
sich den Wipfeln des Argonner Waldes. Ein lehrreicher Tag für mich!
Von der Tätigkeit an der deutschen Front hatte ich eine klare
Vorstellung bekommen, von den Franzosen aber nichts anderes gesehen
als ihr Feuer und die Gefangenen. Ich hatte die unglaublich sichere
und ruhige Leitung des deutschen Oberkommandos bewundert. Es war wie
ein Spiel, das unter gewissen Voraussetzungen gewonnen werden mußte.
Und wenn all diese Voraussetzungen im voraus gegeben und bekannt
waren, dann hegte niemand den geringsten Zweifel am Ausgang. Und die
Voraussetzungen waren: ausgezeichnetes Menschenmaterial, wirkliche
Ritter ohne Furcht und Tadel, ein Volk, das in Friedenszeiten willig
ist, genug und mehr als genug für die Verteidigung des Reiches zu
opfern und, wenn der Krieg ausbricht, bereit ist, auch das Leben zu
opfern zur Verteidigung der Heimat für seine Freiheit und seine Ehre,
eine Ausbildung, die genügend lang ist, um die einzelnen Soldaten und
die großen Truppenverbände unwiderstehlich zu machen, und ein Material,
bei dessen Anschaffung man weder geschachert noch kompromisselt hat.
Der Ausgang des Tageskampfes erweckte daher keine Verwunderung. Man
hörte keine Glückwünsche, keinen Jubel -- man sprach davon wie von der
natürlichsten Sache der Welt!



17. Das Feldlazarett in der Kirche zu Romagne.


Auf der Rückfahrt nach Stenay müssen wir gerade vor dem Feldlazarett
halten. Der Stabsarzt steht auf der Straße und gibt seine Befehle
über Behandlung und Verteilung der neu angekommenen Verwundeten. Ich
werde ihm vorgestellt, und er will mich nicht loslassen, ehe ich das
Feldlazarett gesehen habe. »An die Front kommen, den Krieg studieren
und das Lazarett in Romagne nicht sehen, nein, Herr Doktor, das geht
nicht! Sie haben den ganzen Tag gesehen, wie die Verwundeten von der
Feuerlinie hereinkommen, nachdem sie ihre erste provisorische Pflege
auf dem Schlachtfeld erhielten. Sie haben den Hauptsammelplatz bei
Eclisfontaine gesehen. Nun müssen Sie auch die dritte Etappe sehen, das
Feldlazarett hier.«

Und damit führte mich der Stabsarzt in die kleine, schöne, alte
katholische Kirche. Die Sonne war untergegangen, und Dämmerung breitete
sich über Frankreich. Es war dunkel in der Kirche, aber noch waren
die kostbaren gemalten Fenster zu unterscheiden, und vorn am Altar
brannte ein einsamer Leuchter, der die Dunkelheit eher vermehrte als
verminderte. Achtzig verwundete Deutsche lagen hier. Die Kirchenbänke
waren paarweise zusammengestellt, so daß sie mit den Rückenlehnen
geräumige Kisten bildeten, die mit Stroh gefüllt waren. In jedem
solchen Bett lag ein schwer verwundeter Soldat. Die Bänke reichten aber
nicht für alle. Die übrigen lagen an den Wänden auf aufgeschüttetem
Stroh. Jeder hatte seine Decke, und der Zwischenraum zwischen den
Lagern war so groß, daß Arzt und Sanitätssoldaten ungehindert an jedes
Bett herantreten konnten. Sobald es der Zustand der Patienten erlaubt,
werden sie weiter nach Deutschland geschickt, um neuen Verwundeten
Platz zu machen. Nur die lebensgefährlich Verletzten, die den Transport
nicht ertragen, bleiben da, um in Frieden zu sterben oder, wenn
möglich, zu Krüppeln geheilt zu werden.

Am Altar, im Schein des Leuchters, waren mehrere junge Ärzte mit einem
eben angekommenen Patienten beschäftigt, der sich einer Operation
unterziehen mußte. Ein Licht wurde herbeigeschafft, und der Stabsarzt
führte mich von Bett zu Bett und berichtete unermüdlich über die
verschiedenen Fälle. Die Pforten der Kirche waren geschlossen; von
draußen hörte man das Gerassel der Kolonnen und das Trappeln der
Pferde. Aber eine seltsame, fast unheimliche Stille herrschte hier
im Innern; man fühlte, daß hier ein Kampf zwischen Leben und Tod
ausgefochten wurde. Schwere Atemzüge, aber keine Klagen, ab und zu
ein Seufzer, aber kein Jammern. Keiner zeigte sich schwächer als der
andere, keiner störte die Ruhe der Kameraden. Die meisten schliefen
oder schienen zu schlafen, todmüde von den Kämpfen des Tages.

Wir schreiten von einem Bett zum andern und flüstern, um nicht die
Schlafenden zu wecken und nicht die feierliche Stimmung zu stören.
Achtzig Helden, die heute mit Freuden ihr Blut für ihr Land geopfert
haben! Noch schlummern sie unter den Eisernen Kreuzen -- bald werden
viele von ihnen unter den Holzkreuzen auf dem Kirchhof zu Romagne
schlummern. Hier einer, der einen Schuß durch das empfindlichste
Organ des Unterleibes erhalten hat. Er ist so bleich wie seine
sonnenverbrannte, in den Schützengräben verwitterte Haut es zuläßt, und
sein Puls ist am Verlöschen, aber seine Augen stehen offen, und sein
Blick wandert weit von der Erde in unbekannte Länder. Andere Bilder
sieht er jetzt als vor kurzem in den Schützengräben. Welch himmelweiter
Unterschied! Nach der Unruhe draußen an der Front versinkt er schon
in die große lange Ruhe. Mitten unter seinen Kameraden kam er mir so
einsam und verlassen vor, und ich mußte der Verwandten daheim denken,
die noch hofften und nun bald weinen sollten. »Er lebt nicht bis zum
Sonnenaufgang?« fragte ich den Stabsarzt. »Nein, er beginnt schon zu
erkalten.«

Ein Schulgebäude in unmittelbarer Nähe der Kirche war ebenfalls
Feldlazarett. In allen Zimmern, wo sonst französische Kinder ~Liberté,
Egalité, Fraternité~ lernen, lagen nun verwundete Deutsche. Ein
Schulzimmer war zum provisorischen Operationssaal geworden. Im Feld muß
man sich helfen, so gut man kann. Und man leistet das denkbar Mögliche
mit dem, was gerade zu Gebote steht. Ein paar junge Chirurgen standen,
weiß gekleidet, an einer auf hohen Böcken stehenden Tischplatte,
auf die ein lebensfrischer, schöner junger Soldat gelegt wurde.
Beide Füße waren ihm durchschossen, aber er war noch froh und munter
und rief seelenruhig: »Schneiden Sie mich nicht.« Eine barmherzige
Schwester, die einzige, die so nahe an der Front war, denn sonst
herrscht im Operationsbereich des Feldheers ausschließlich militärische
Organisation, löste den ersten Verband, der mit dem ausgetretenen Blut
zu einer festen Masse zusammengebacken war. Es tat weh, als der Verband
abgerissen und die Wunde entblößt wurde. Aber der Soldat biß die Zähne
zusammen und gab keinen Laut von sich. Das linke Bein war über dem
Fußgelenk zerschmettert; selbst ein Laie konnte erkennen, daß es eine
sehr schlimme Wunde war. Im Augenblick konnte nichts getan werden; er
bekam eine Schiene und einen neuen Verband und dankte herzlich dafür,
daß man so gut zu ihm war. Dann wurde er von zwei Sanitätssoldaten
in ein freies Bett getragen und schien entschlossen, nur zu schlafen
und alles zu vergessen. »Wird er seine Füße behalten?« fragte ich den
Arzt. »Bei dem einen ist keine Gefahr, aber der andere, den wir eben
verbunden haben -- nun, in drei Tagen werden wir sehen. Ich werde schon
mein Bestes tun --« und er schüttelte den Kopf.

Die verwundeten französischen Gefangenen waren auf Strohlagern in
einem Vorratsraum untergebracht; hier sollten sie die erste Pflege
erhalten und dann in ein Lazarett gebracht werden. Sie waren gerade
dabei, Brot und eine nahrhafte warme Suppe zu essen. Und sie aßen mit
glänzendem Appetit und waren allem Anschein nach guten Muts; ein paar
waren geradezu lustig und lachten über ihre Scherze. Auf meine Frage
nach ihrem Befinden antworteten sie: »Wenn es uns die letzten vierzehn
Tage so gut gegangen wäre wie jetzt, dann wäre es uns gar nicht
schlecht gegangen.«

Draußen auf der Straße stand eine große Schar verwundeter Deutscher und
Franzosen, die Pflege suchten. An der Front wurde immer noch gekämpft,
neue Scharen von Verwundeten waren im Lauf der Nacht zu erwarten, die
Ärzte kamen nicht zur Ruhe. Die Franzosen standen in einem Haufen für
sich. Ich trat an einen von ihnen heran; er hatte den ganzen Kopf
verbunden; man sah wenig mehr als Augen und Nase. Auf meine Frage,
wo er verwundet sei, zeigte er mit der linken Hand auf die linke
Scheitelhälfte und dann auf die Unterseite des rechten Unterkiefers.
Ich fragte den Stabsarzt, ob es möglich sei, daß der Mann stehen
und gehen, sehen und hören könne, nachdem ihm ein Schuß senkrecht
durch den Kopf gegangen war. Er antwortete, man habe den Verwundeten
noch nicht untersucht, aber es kämen die merkwürdigsten Verwundungen
vor. Die Kugeln schlagen in den armen Menschenleibern, die oft die
erstaunlichsten Prüfungen bestehen müssen, die seltsamsten Wege ein.

Die Franzosen, versicherte der Stabsarzt, seien bewundernswert
geduldig. Sie könnten wer weiß wie lange warten, ohne ein Wort oder
eine Miene der Ungeduld. Wenn der Arzt einen Franzosen behandeln wolle,
sei es obendrein fast Regel, daß der Verwundete sage: »Meine Kameraden
brauchen die Hilfe nötiger; ich kann warten.« Oder: »Behandeln Sie
bitte erst den Mann da -- er ist Familienvater, und seine Frau lebt
in kümmerlichen Verhältnissen.« Das gleiche Urteil habe ich auch von
andern deutschen Ärzten gehört.

[Illustration: Ordonnanzen.]

[Illustration: Kaffeeküche im Felde.]

[Illustration: Die Kirche in Longwy mit durchschossenem Gewölbe und
erhaltener Kanzel.

(Vgl. Seite 68.)]

So folgt die Barmherzigkeit in Gestalt der Heilkunst den Spuren
des grauenvollen Krieges. Was sind all diese Ärzte, Assistenten,
Sanitätssoldaten, Schwestern anderes als rettende Engel, die mit dem
Engel des Todes um das Leben der Verwundeten kämpfen! Was sind die
Krankenautomobile, Bahren und die eifrigen Schäferhunde anderes als der
Verblutenden Freunde und Bundesgenossen, die die Ernte auf den blutigen
Feldern bergen. Hier geht die Versöhnung getreulich mit dem Krieg Hand
in Hand, wie das Symbol des Roten Kreuzes die Farben des Bluts mit dem
Sinnbild der christlichen Liebe vereint.



18. Der letzte Abend beim Kronprinzen.


_23. September._ Den Tag verbrachte ich in Dun an der Maas, das durch
die Beschießung besonders seitens der Franzosen sehr gelitten hatte.
Gegen ½6 Uhr kehrte der Kronprinz mit seinen Herren von Romagne
zurück; ich sollte ihn in Dun erwarten. Ich ging über die Brücke zur
Stadt hinaus, als eben die vornehmen Automobile mit der Bezeichnung
»Generaloberkommando der fünften Armee« in voller Fahrt dahergerast
kamen. Beim Chauffeur auf dem ersten saß der Kronprinz im Mantel mit
rotem Kragen. Er gab mir ein Zeichen, aufzusteigen, und ich nahm
hinter ihm Platz. Er unterhielt sich eine Weile mit den Offizieren;
dann ging es weiter. Aber langsam, denn wir begegneten gerade einem
Infanterieregiment. Die Mannschaften faßten ihre Helme an der Spitze,
hoben sie in die Höhe und stimmten ein Hurra an, als gelte es einen
Bajonettangriff auf einen französischen Schützengraben; es galt aber
dem Chef der fünften Armee und dem Erben des Reichs. Wir fuhren wie
durch ein brausendes Meer von donnernden Hurrarufen, bis zu den
letzten kleinen Gruppen von zwei und drei Mann. Zuletzt stand noch ein
einsamer Wachtposten an der Straße; auch er schrie aus Leibeskräften!
Als dann der Kronprinz wieder seine Automobilbrille aufsetzte und den
Mantelkragen hochschlug, war er nicht mehr zu erkennen, am wenigsten
von den Reitern, die auf ihre Pferde aufzupassen hatten. Aber, so
versicherte er mir, nichts freue ihn mehr, als sich so von den Soldaten
geschätzt und verstanden zu sehen; sei es doch die vornehmste Pflicht
eines Fürsten, sich des Vertrauens seines Volkes würdig zu zeigen, und
für ihn kein größeres Glück, als so zum deutschen Volk zu stehen.

Bei Tisch war die Stimmung so fröhlich und ungezwungen wie gewöhnlich,
trotzdem man begeisterte Reden, Trinksprüche und Hurrarufe hätte
erwarten können. Varennes war genommen worden, und die Nachricht von
Weddigens Tat auf dem Meer war eingelaufen. Aber man hielt keine Reden
und rief auch nicht Hurra. Der Kronprinz nahm die Neuigkeiten mit
derselben würdigen Ruhe auf, er freute sich, verzog aber keine Miene,
nur seine Augen bekamen einen feuchteren Glanz. Die Unterhaltung drehte
sich dann eine Weile um die Frage, ob die Unterseeboote gegenüber den
schwimmenden Festungen die gleiche Bedeutung erhalten würden wie die
42-~cm~-Mörser gegenüber den Landbefestigungen. Dann sprach man von
andern Dingen, und die Stimmung war kameradschaftlich und gemütlich
wie immer an diesem Tisch. Die unerschütterliche Ruhe der Deutschen,
besonders der Oberbefehlshaber, gegenüber den Erfolgen hat mich oft
in Erstaunen und Bewunderung versetzt. Sie nehmen die Erfolge als
die natürlichste Sache von der Welt, und wenn ein Erfolg Woche für
Woche ausbleibt, so bewahren sie dieselbe Ruhe in dem Bewußtsein, daß
er kommen wird und kommen muß! Die Oberleitung weiß, was sie zu tun
hat, um das Ziel zu erreichen; alle andern, vom Feldmarschall bis zum
Rekruten, hegen blindes Vertrauen zu ihr, und das ganze deutsche Volk
vertraut ebenso blind dem Heer und der Flotte. Solch ein Volk kann
nicht besiegt werden! Alles geht mit mathematischer Genauigkeit und
Notwendigkeit. Daher diese Sicherheit und Ruhe, und daher war am Tisch
des Kronprinzen die Stimmung nicht aufgeräumter als sonst.

Gleich vor Dun, auf der nördlichen Seite der Straße nach Romagne, liegt
ein einsames Grab, das Kreuz mit Kränzen überschüttet. Dort ruht ein
Hauptmann, der mit seiner kleinen Schar inmitten des Feuers aushielt,
als die Franzosen ihre eigene Stadt beschossen, und schließlich auf
seinem Posten fiel. Sein Andenken war unter der Besatzung von Dun
ebenso frisch wie die Blumen auf seinem Grab, die stets erneuert
wurden. Und er war bloß einer unter Millionen! Dem Deutschen scheint es
die einfachste Sache von der Welt, sein Blut hinzugeben und zu sterben.
Nein, ein solches Volk kann nicht besiegt werden!

Während des Essens kam der Generaloberarzt Professor Widenmann; er
hatte im Lazarett nach unserm Freunde Freiherrn von Maltzahn gesehen,
dem ein Automobilunglück zugestoßen war. Das Auto war an einer
Straßenwendung gestürzt und kam mit seiner ganzen Schwere auf von
Maltzahns Brust zu liegen. Ein paar Rippen waren ihm gebrochen, dazu
ein Beinbruch, eine Gehirnerschütterung und der allgemeine Chock.
Sein Zustand war sehr beunruhigend, aber der Arzt hoffte auf seine
Wiederherstellung. Professor Widenmann wird mir unvergeßlich sein. Er
hatte die ganze Welt bereist, war wohlbekannt in Afrika und nahe am
Gipfel des Kilimandscharo gewesen, als Wind und Wetter ihn zwangen,
umzukehren. Wir hatten gemeinsame Freunde nah und fern und unterhielten
uns noch lange, nachdem die andern ihre Zimmer aufgesucht hatten, an
diesem letzten Abend, den ich beim Kronprinzen des Deutschen Reichs
verlebte.



19. Longwy.


Bei der Ausfahrt hatte ich Longwy nicht besichtigen können, dessen
oberer Teil, in Vaubans Festung gelegen, so furchtbar durch den Krieg
gelitten hat, während die Fabrikstadt im Tal der Chiers unbeschädigt
blieb. Ich fuhr also bei der Rückkehr ins Große Hauptquartier am 24.
September hinauf und über die beiden Festungsgräben und bis zu dem Tor,
das eine Erinnerungstafel an Vauban schmückt. Jetzt wehte darüber die
deutsche Flagge.

Der Wachtposten forderte meinen Ausweis. In den Tunnelgängen
schulterten mehrere Posten ihr Gewehr; nach innen zu haben sie ihre
Wohnungen und ihre Küche. An den Mauern kleben große Plakate: »~Armée
de Terre et armée de Mer~« und darunter zwei sich kreuzende Trikoloren;
»~Ordre de mobilisation générale~« mit allem, was dazu gehört, und
schließlich die Bekanntgabe, daß Sonntag den 2. August 1914 der erste
Mobilisierungstag sei. Diese Order kostet Frankreich Ströme seines
edelsten Blutes, zerstört seine nordöstlichen Provinzen und hat die
kleine Stadt innerhalb der Mauern in einen einzigen Schutthaufen
verwandelt.

Am Anfang der Hauptstraße, die Longwy durchschneidet, standen einige
französische Arbeiter und nahmen das Pulver aus französischen
Handgranaten heraus, um sie unschädlich zu machen. Kein Erdbeben hätte
diese Straße in ihrer ganzen Länge schlimmer verwüsten können als
die Granaten. Nicht ein einziges Haus ist stehengeblieben. Als die
Artillerie des Invasionsheers Longwy zu beschießen begann, wurde den
Einwohnern befohlen, den Ort zu verlassen, und die meisten zogen ihres
Wegs. Einige jedoch wollten bleiben; von ihnen wurden etwa sechzig,
darunter mehrere Frauen, unter den Ruinen begraben.

In der Kirche eine Verwüstung ohnegleichen: die Wölbungen des
Seitenschiffs eingestürzt, an den übrigen klafften gewaltige Löcher
von Granaten, deren Splitter über die Säulen herabgeregnet sind und
tiefe Furchen in sie gerissen haben. Von den bunten Glasfenstern sind
kaum einige Splitter übrig; nur von den Bleieinfassungen sieht man
hier und da noch Spuren. Aber die Kanzel, von der aus die christlichen
Wahrheiten verkündet wurden, ist unberührt geblieben, und hätte ein
Priester dort während der Beschießung gestanden, wie der griechische
Patriarch in Konstantinopel, als die Türken die Hagia Sophia stürmten,
so wäre ihm nicht ein Haar gekrümmt worden, und man würde von einem
Wunder gesprochen haben. Vor dem Frieden des Hochaltars schreckten
die Granaten nicht zurück; er war ein Trümmerhaufen auf dem Boden des
Chors, und eine dicke Schicht Kalkstaub bedeckte ihn. Im Langschiff
war es nicht möglich, vorwärts zu dringen, denn die Orgel mit ihren
abgeplatteten Pfeifen und die Chöre mit ihren Bänken und Brüstungen
bildeten einen einzigen Haufen von Gerümpel, Brettern, Bewurf,
Ornamentbruchstücken, Betstühlen und kirchlichen Geräten, alles fast
bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert.

Der untere Teil der festen Kirchenmauern ist verhältnismäßig verschont
geblieben, und gerade hier sind die rechteckigen Bilder in Hochrelief
aus der Leidensgeschichte Jesu. Unter einem, das vollständig
unbeschädigt geblieben ist, standen die Worte: »~Jésus tombe pour la
deuxième fois.~« Das Gesicht des Erlösers drückt unsagbaren Schmerz
aus, wie unter der Last des Kreuzes und der Sünden der Menschen. O
Eitelkeit der Welt! Auf einer Steintafel liest man die gut erhaltene
Inschrift: »~Hanc ecclesiam Ludovici XIV jussu et pecunia procurante
Vauban erectam primar. benedixit lapidem 22 martii 1683~« ... usw.
Nun waren die Orgeltöne verstummt, und von der Kanzel erklangen keine
Trostworte mehr; durch die offenen Wölbungen klagte nur noch der Wind:
»Alles ist eitel.«

Draußen war die Verwüstung ebenso. Hier stand das Skelett eines
Automobils, dort lag das Gerippe eines Zweirads ohne Räder unter
Haufen von Tornistern und Uniformstücken, zerbeulten Blechtöpfen,
Säbelscheiden, Gewehrkolben und -- Pfeifen, Kinderspielsachen,
Farbenkästen und Holztieren, Leitungsrohren, Balkongeländern und
Gittern, Stühlen und Tischen, alles in einem Wirrwarr von Steinen,
Ziegeln und Schutt. Pompeji ist weniger verwüstet als diese Stadt, und
mein altes Lou-lan im Herzen der Wüste, wo die Vernichtung ebenso viele
Jahrhunderte ihre Ernte gehalten hat wie in Longwy Tage, sieht weniger
trostlos aus als Vaubans befestigte Stadt!

In den Straßen war es spukhaft still, nur hier und da tickte es in den
Fugen, und mit einem scharrenden Laut fielen kleine Steine von den
Mauern. Der Wind rumorte in den aufgerissenen flachen Dächern, und die
herunterhängenden Dachrinnen nickten wie festgebundene Schlangen. Hier
und da an einer Ecke war noch ein Straßennamen zu lesen: »~Rue des
Ecoles~« oder »~Rue Stanislas~«.

Im Schutt lagen noch Postkarten, gebleicht und zermürbt von Sonne
und Regen. Ich hob eine auf und las die Adresse: »~Monsieur Crombez,
Subsistant au 164 de Ligne, Longwy-haut.~« Die Karte enthielt nur die
Worte: »Le Mans, 22. August. Lieber Kamerad. Ich bin glücklich nach
Mans gekommen und habe meine Zeugnisse dem Chef direkt geschickt.
Hoffentlich habe ich bald das Vergnügen, Dich wiederzusehen. H....«
Ob dieser Crombez jemals den Gruß seines Kameraden erhalten und das
schöne Bild auf der Karte gesehen hat, das den Zusammenfluß der Huisne
und Sarthe darstellt? Oder steht er in den Verlustlisten als tot oder
vermißt?

Den kleinen Markt vor der Kirche bekränzt ein Viereck von Bäumen.
Viele von ihnen waren niedergeschlagen und lagen nun da, ein Haufen
Reisig und Brennholz. Auf diesen Markt hinaus ging auch die hohle,
zertrümmerte Fassade eines Hauses, über dessen Portal man die Worte
»~Hôtel de Ville~« zu erkennen glaubte und die Jahreszahl 1731.
Sein Vestibül mit Eingang zum ~Bureau de Police~ war ein einziger
Kehrichthaufen von Kleiderfetzen, Möbeln und Papier. Das Polizeiarchiv
lag umhergestreut; darunter die ganze Auflage einer kleinen Schrift:
»~Traité pour l'éclairage au gaz de la ville de Longwy, du 9 Janvier
1912 au 23 décembre 1961.~« Sie sollte also für ganze fünfzig Jahre
gelten. Bei der Drucklegung des Heftes ahnte noch niemand, daß das Gas
schon 1914 verlöschen würde. Die Blätter raschelten, wenn der Wind
durch die öden Räume strich.

Der untere Stadtteil zeigte dagegen keine andern Spuren vom Krieg als
wenige deutsche Uniformen. Das deutsche Militär wanderte seelenruhig
durch die Straßen der eroberten Stadt, in deren Zentrum die
Zivilbevölkerung ganz zahlreich war.

Kurze Zeit darauf fuhr ich über die Grenze nach Luxemburg und erreichte
bei Sonnenuntergang wieder die Hauptstadt des kleinen Großherzogtums.



20. Ein Brief an den Kaiser.


Durch den Hofmarschall Freiherrn von Reischach erhielt ich am 25.
September eine Einladung zur Mittagstafel des Kaisers für 1 Uhr. Unter
den Anwesenden waren außer dem Hofmarschall die Herren von Plessen,
von Gontard und von Buch, letzterer deutscher Gesandter in Luxemburg;
ferner der Feldprediger des Kaisers und einige Adjutanten. Am Vormittag
war die Nachricht von Prinz Oskars Krankheit eingetroffen; er hatte
sich durch Überanstrengung eine Art Herzkrampf zugezogen. Ich erwartete
daher, den Kaiser niedergeschlagen zu finden, aber keine Spur davon.
In jugendlicher, militärischer Haltung trat er herein, hieß mich
wieder mit kräftigem Händedruck willkommen und nahm einen Brief aus
der Tasche, den er mich aufmerksam zu lesen bat, während er sich mit
seinen Herren unterhielt. Der Brief war direkt an den Kaiser gerichtet;
ein Feldwebel, der neben Prinz Joachim gestanden hatte, als dieser
verwundet wurde, schilderte darin, wie tapfer und vorbildlich sich der
Prinz benommen hatte. Der Bericht war einfach und ohne jeden Wortprunk,
aber er zeigte, wie fest und tief die Treue wurzelt, die das deutsche
Heer mit seinem obersten Kriegsherrn verbindet; sie macht die beiden zu
dem festen und unerschütterlichen Felsen, auf dem das Deutsche Reich
erbaut ist. Als der Kaiser zurückkam und mich fragte, was ich von dem
Briefe dächte, antwortete ich bloß: »Es muß Ew. Majestät eine Freude
sein, solche Grüße aus den breiten Schichten des Volks zu erhalten.«

»Ja,« antwortete er, »nichts freut mich so sehr wie die Beweise von der
Treue des Volks und seinem unmittelbaren Zusammenhang mit meiner Armee.
Einen Brief wie diesen verwahre ich unter meinen wertvollsten Papieren.«

Dann sprachen wir von Prinz Oskars Krankheit. Im Zusammenhang damit
äußerte der Kaiser: »Nun ist auch Hohenzollernblut geflossen. Ich
habe sechs Söhne und einen Schwiegersohn im Krieg, und von den vielen
deutschen Fürsten, die an der Front kämpfen, haben schon mehrere
ihr Leben für Deutschlands Sache geopfert.« Im übrigen drehte sich
die Unterhaltung um meine Erlebnisse bei der fünften Armee und die
Kriegsereignisse.

Den Beschluß des Tages bildete ein Abendessen beim Reichskanzler von
Bethmann-Hollweg.



21. Die Eisenbahn im Kriege.


_26. September._ Kurz vor 9 sollte ich auf dem Bahnhof sein und den
Zug benutzen, der ein Weimarer Landsturmbataillon nach Charleville
beförderte. Aber über Nacht war der Fahrplan geändert worden, der
Landsturmzug ging erst später; dagegen stand ein Munitionszug zur
Abfahrt nach Sedan bereit, zweiundzwanzig offene, mit Planen bedeckte
Wagen und ein paar geschlossene. In dem einen der letzteren nahm
ich Platz. Meine Nachbarn waren Bedeckungsmannschaften, zehn oder
zwölf Mann Ersatzreserve; sie kamen von Mainz und hatten in diesem
Zug acht Tage und acht Nächte zugebracht! Unser Wagen hatte sich aus
dem Nordosten Deutschlands hierher verirrt; er trug die Bezeichnung:
»Preuß.-Hess. Staatseisenbahnen, Nord-Ost«, und in meinem Abteil hing
eine Karte über die Bahnstrecke Berlin-Memel.

Eine menschenfreundliche Seele im Hotel Staar hatte mir geraten,
Proviant mitzunehmen, da es mehr als zweifelhaft sei, ob ich unterwegs
etwas Eßbares auftreiben könnte. Also wurden mir mit dem übrigen Gepäck
vier tüchtige Butterbrote mit Schinken und Käse, drei Eier und zwei
Flaschen Mineralwasser ins Kupee gebracht.

Dann ging es hübsch langsam los, aus dem Luxemburger Bahnhof heraus,
an einem stehenden Zug vorüber, der mit plaudernden, rauchenden,
lachenden Soldaten vollbepackt war, die ausgezeichneter Stimmung zu
sein schienen. Die Fahrt ging an gemütlichen Dörfern, Höfen und Wäldern
vorüber, an Wiesen mit grasenden Rindern, Feldern mit pflügenden
Bauern, an Landstraßen und Chausseen mit langen Baumreihen. In
Luxemburg gab's keine zusammengeschossenen Häuser, keine obdachlosen
Menschen. Wohl war die Einquartierung deutscher Truppen wenig
angenehm, aber die Luxemburger haben alles bei Heller und Pfennig
ersetzt bekommen.

Auf den Straßen keine Truppen, keine knarrenden Kolonnen. Wie das
kommt, so nahe der Front? Nun, soweit die Eisenbahnen gehen und in
Zusammenhang mit dem deutschen Eisenbahnnetz stehen, besorgen _sie_
den ganzen Transport bis zum Beginn der Etappenstraßen, wo es keine
Eisenbahnen gibt. Deshalb sieht das Land zu beiden Seiten der Bahn so
idyllisch aus, und das einzige, was an den Krieg erinnert, ist der
Trubel an den Haltestellen und die Posten, die die Bahn bewachen und
oft so dicht stehen, daß der eine den andern sehen kann. Deutsche
Eisenbahntruppen besorgen den Betrieb und Landsturm die Bewachung.

Unser Gleis führt über Mamer und Kapellen. Das Gelände ist schwach
gewellt, nach allen Seiten breiten sich flache, sonnenbestrahlte
Felder. Zwischen zwei Stationen halten wir. Warum? Auf dem Nebengleis
kommt ein gewaltiger Zug mit lauter leeren Güterwagen; keine
Menschenseele ist darin, man _hört_, wie leer sie sind; mit hohler
Resonanz rasseln sie vorüber; sie haben irgendeiner Armee Verstärkungen
gebracht und gehen nun nach Luxemburg zurück, um neue Mannschaften zu
holen. --

Sterpenich! Wir sind also in Belgien. Die Landschaft ist die gleiche,
auch hier deutsche Wachtposten, auch hier pflügende Bauern auf den
Äckern wie in Luxemburg. Nicht einmal die Zollrevision erinnert uns
daran, daß wir ein neues Land betreten: der Krieg reißt alle Schranken
nieder.

In Arlon halten wir länger. Im Südwesten hört man Kanonendonner; ob
er aber von Verdun oder vom Argonner Wald herkommt, können meine
Reisekameraden nicht entscheiden; er klingt dumpf, aber deutlich.

Zuweilen fährt der Zug mit gewöhnlicher Geschwindigkeit, aber bald
bereut er das und fährt wieder langsam, als ob die Last von Toten,
die er in Form von Geschossen mit sich führt, die Erschütterung nicht
vertrüge. Der Bahnkörper liegt nun hoch, und wir fahren auf einer
Brücke über eine Landstraße. Unten steht ein Soldat mit einem Gewehr
und sieht zum Zug hinauf.

Da plötzlich ein Dorf, zusammengeschossen und eingeäschert, nur
noch aus kahlen Mauern bestehend, die zwischen Bäumen hervorlugen.
Eine Allee ist zum Teil umgehauen, auch die Bäume am Rande eines
Gehölzes in der Nähe der Bahn sind gefällt. Wohl um die Bewachung zu
erleichtern und Attentaten vorzubeugen? Nein; weiterhin sind die Stämme
aufgestapelt, ein Güterzug wartet auf sie; sie sollen als Bahnschwellen
dienen.

»Langsam fahren!« steht an scharfen Kurven auf großen Schildern; die
deutschen Lokomotivführer fühlen sich noch nicht so heimisch. Doch ist
der Verkehr nicht besonders lebhaft; man begegnet nur wenigen Zügen auf
dieser zweispurigen Bahn.

Lavaux -- Cousteumont -- Hamipre, kleine Stationen; die Soldaten sitzen
in guter Ruh, rauchen Zigarren und lesen die neuesten Zeitungen.
Longlier-Neufchateau, eine größere Station; vom Kupeefenster aus werden
einige zerstörte Häuser sichtbar. Bei Libramont geraten wir dicht
neben einen gewaltigen Truppenzug, der wie wir Sedan zum Ziel hat.
Der ganze Zug ist laubgeschmückt, als ging es zu einem Sommerfest.
Draußen zwischen den Wagenfenstern liest man mit Kreide geschriebene
Sprüchlein, die von der guten Laune der Passagiere zeugen, z. B. »Auf
zum Mittagessen nach Paris; steht schon bereit«, und andere derartige
Scherze. Unter fröhlichem Singen und Lachen rollt der Zug seinem
unbekannten Schicksal zu.

Nach einstündigem Aufenthalt kommt die Reihe wieder an uns, und wir
fahren über Felder, auf denen duftende Hafergarben wie Soldaten
in Reih' und Glied stehen. Eine Brücke ist zu Beginn der Invasion
gesprengt worden, offenbar um den Bahnverkehr zu stören, der unter
ihrem Bogen hindurchführt. Nun sind Eisenbahnbautruppen damit
beschäftigt, sie wieder herzustellen. Sonst sieht man von der Bahn aus
in Belgisch-Luxemburg nicht viel von den Wirkungen des Kriegs.

Von Libramont aus geht die Fahrt endlich nach Südwesten. Auf einer
kleinen Station halten wir wiederum unmittelbar neben einem Truppenzug
und gleiten langsam an ihm vorüber. Im Wagen dritter Klasse haben
die Soldaten Tornister, Gewehre, Waffenröcke und Patronentaschen
aufgehängt, alles in malerischer, kriegerischer Unordnung. Einige
Leute liegen auf den Bänken und schlafen, andere sitzen, die Beine
übereinandergeschlagen, rauchen, lesen, plaudern oder betrachten
das Leben draußen. In den Kupees erster und zweiter Klasse fahren
Offiziere und Unteroffiziere. Es ist Kavallerie; den Schluß des Zuges
bilden die Güterwagen mit den Pferden, in jedem Wagen sechs, je drei
und drei mit den Köpfen gegeneinander; von der mittleren Wagenöffnung
mit den Schiebetüren sind sie durch Balken getrennt, die an kurzen
Ketten hängen; an den Balken sind ihre Halfter festgemacht. Zwischen
den Balken, also in der Mitte des Wagens, steht auf Böcken ein Tisch
mit zwei Bänken. Hier sitzen ein paar Leute, die gerade mit ihrem
Mittagessen beschäftigt sind.

Bertrix! Wieder eine Stunde Aufenthalt. Ein leerer Zug aus Sedan
verursacht die Verzögerung. Durch das Fenster fängt man unfreiwillig
kleine Brocken von der Unterhaltung der Soldaten auf. »Hast du gehört,
daß die Belgier in der Nähe von Arlon eine geheime Funkenstation
haben sollen, der man noch nicht auf die Spur gekommen ist?« -- »Auf
alle Fälle war das eine Glanzleistung von Weddigen.« -- »Aber die
Verluste zu Land sind viel größer als die zur See. Der Untergang eines
Unterseebootes bedeutet zwanzig Mann, ein Sturm zu Land aber zehn- oder
hundertmal mehr.« -- »Ist es wahr, daß Reims erobert ist?« -- »Der
rechte Flügel scheint ein gutes Stück zurückgegangen zu sein.« -- Alle
Gerüchte gedeihen üppig an den Bahnstationen.

Der Stationsvorsteher kommt in mein Abteil, um mir Gesellschaft zu
leisten. Er erzählt mir, daß die Steinbrücke, über die wir vorher
gefahren sind, am 19. August von den Belgiern gesprengt worden sei, als
hier heiß gekämpft wurde. »Wir Eisenbahner,« fügt er hinzu, »wir müssen
hier sitzen und dürfen den Kanonendonner nur aus der Ferne anhören.
Ins Feuer, wie die andern, dürfen wir nicht.« -- »Aber Ihre Arbeit ist
doch ebenso wichtig; wie stände es mit dem Feuer an der Front, mit der
Verpflegung und den Ersatztruppen, wenn Sie nicht den Eisenbahnbetrieb
in Ordnung hielten!« -- »Gewiß, aber es ist eine fürchterliche
Geduldprobe.«

Endlich kommt der erwartete Zug heran. »Haben Sie keine neuen
Zeitungen?« rufen Wachtposten und Eisenbahnarbeiter, als wir langsam
vorüberfahren. »Ich habe schon alle weggegeben, die ich hatte«,
antworte ich. Aber ich finde noch eine Nummer der Trierischen Zeitung,
und am nächsten Ort, wo mehrere Soldaten beieinander stehen, werfe ich
sie hinaus. Wie eifrig die Leute die Neuigkeiten verschlingen; einer
liest vor, die andern hören zu.

Hier begegnen wir einem lustigen Zug: einige Wagen sind als
Reparaturwerkstätten eingerichtet. Da stehen Hobelbänke und
Schleifsteine, da liegen Sägen, Meißel, Äxte und Hämmer herum. Andere
Wagen sind gestopft voll von Zweirädern, Schubkarren, Spaten, Spießen,
Äxten und Hacken und andern Werkzeugen, die man bei Pionierarbeiten,
Barrikaden und Schützengräben braucht. Hinter einem langen Tunnel
öffnet sich eine herrliche Landschaft, stärker gewellt als die
bisherige; unter uns kreuzen sich mehrere große Landstraßen. An
der nächsten senkt sich der Bahnkörper jäh herab. Unten ist eine
Wachtstube, in der mehrere Landstürmer nach der Arbeit ausruhen und die
Stunde abwarten, wo ihre Kameraden abgelöst werden sollen. Eine Schar
graugekleideter Arbeiter geht, den Spaten auf der Schulter, die Strecke
entlang. An einer kleinen Haltestelle stehen etwa vierzig graue und
blaue Soldaten um ihre Gewehre herum. Es nimmt auch nie ein Ende mit
den Soldaten! Welche Massen werden nicht allein an den Eisenbahnlinien
verbraucht.

Die Sonne geht unter. Hinter einem neuen Tunnel öffnet sich im Tal
unter uns die Aussicht auf den gewundenen Flußlauf der Semois. Neue
Scharen zurückkehrender Arbeiter. »Noch zwanzig Kilometer bis zur
französischen Grenze«, erklärt der eine; ein anderer zeigt in der Nähe
eines zerstörten Dorfes auf eine Anhöhe, wo mehrere Massengräber zu
liegen scheinen. Die Dämmerung schreitet weiter und geht in Nacht über.
Schade, daß man die Aussicht auf dieses herrliche Land verliert. Die
Bahn wendet sich in vielen Kurven, bald steigend, bald fallend. Beim
Ansteigen geht es hoffnungslos langsam, der Zug quält sich, und das
Holz der Wagen seufzt unter der Schwere seiner Last.

Wieder ein Tunnel in Sicht; an seinem Eingang eine kleine Hütte, in der
einige Landstürmer sich eben ihr Abendbrot bereiten. Der Zug fährt so
langsam, daß wir einige Worte mit ihnen wechseln können. Dann geht's
hübsch sachte in die dunkle Öffnung hinein. Die Lokomotive stöhnt und
keucht aus Leibeskräften, der Tunnel füllt sich mit Rauch, und man
schließt die Fenster. Es geht immer langsamer. Nun kann die Maschine es
nicht mehr schaffen, da stehen wir!

Einer meiner Reisekameraden holt in der Finsternis eine kleine Lampe
hervor, die die Stimmung erhöht. Der Rauch wird kompakter und dringt
in das Kupee herein; wenn das noch lange dauert, ersticken wir alle.
Ich öffne einen Augenblick das Fenster und sehe hinaus -- nur Nacht
und Rauch, aber durch den Rauch sieht man die Funken, die von der
Lokomotive sprühen, die neue Kraft zu sammeln scheint. Unser Zug ist
mit Munition beladen, und sollte sie gerade hier im Tunnel in die Luft
fliegen, dann bekommen die Eisenbahntruppen in den nächsten Tagen viel
zu tun!

Die Lokomotive prustet wieder und fängt an, sich zu bewegen. Vorn wird
ein Licht sichtbar, vermutlich die Mündung des Tunnels. Nein, nur
eine Laterne, deren Schein vom Rauch gedämpft wird. Eine Weile später
wieder ein Licht, als ob es endlich tagen wollte; es ist aber nur der
Feuerschein der Maschine. Hört denn dieser ewige Tunnel niemals auf?
Mehr als eine halbe Stunde sind wir darin. Da wird es endlich heller,
und wir atmen wieder frische Luft. Aber vom Tag ist nicht mehr viel
übrig; die Dämmerung verwischt die Umrisse der Landschaft, und über
der Erde schwebt der Halbmond gelb und spöttisch.

Gegen 8 Uhr ist der Mond weiß geworden und sitzt in den Baumwipfeln.
Die Nacht ist hell und kalt. Wie leicht wäre es für Franktireurs,
aus den Schlupfwinkeln des Waldes heraus ihre Kugeln in die schwach
erleuchteten Fenster des Zugs zu senden. Aber kein Schuß erschallt, es
ist lautlos still draußen, nichts erinnert an den Krieg, man ist wie im
tiefsten Frieden.

Um Mitternacht verschlief ich den Rest unserer Fahrt. Um 3 Uhr morgens
weckte mich einer meiner Nachbarn: wir waren in Sedan. Achtzehn
Stunden waren wir unterwegs gewesen. Der Chef der Kommandantur, Major
von Plato, war bereits um diese frühe Morgenstunde auf den Beinen,
heiter und guter Dinge, hieß mich herzlich willkommen und stellte
mir ein Zimmer im Bahnhof zur Verfügung. Bevor ich aber meine neue
Wohnung in Besitz nahm, mußte ich mit dem Major und ein paar andern
Offizieren, die ebenso munter und lebhaft waren wie er, Tee trinken.
Das zeitige Frühstück lieferte die Kriegsverpflegungsanstalt, in der
sechzehn freiwillige Helferinnen bis zu viertausend Verwundete an einem
Tag beköstigt hatten. In einer Küche brodelten beständig gewaltige
Kessel mit kräftiger Suppe. Neben der Station hatte man gleich nach
der Besitznahme in zwei Tagen einen Holzschuppen gebaut, in dem die
Truppen, Verwundete und Unverwundete durcheinander, ihre Mahlzeiten
an langen Tischen einnehmen konnten. Auch jetzt waren viele Plätze
besetzt, und draußen stand ein ganzer Trupp Landwehr zweiten Aufgebots
und wartete auf den Morgenkaffee mit Brötchen. Jeder sollte auch seine
Portion Brot und Fleisch auf die Fahrt an die Front mitnehmen. Alle
waren heiter und guter Dinge, und niemand konnte vermuten, daß diese
Männer binnen kurzem vor dem Feind stehen würden, um zu siegen oder zu
sterben. Im Durchschnitt hatten täglich fünftausend Mann Sedan auf dem
Wege zur Front passiert. Fleisch und Gemüse für ihren Unterhalt liefert
das besetzte Land, der Bürgermeister muß es herbeischaffen -- das ist
so Kriegsgesetz, und man sieht daher leicht ein, wie vorteilhaft es für
eine Armee ist, in Feindesland zu kämpfen. Das besetzte Land muß ja
nicht nur seine eigene Armee, sondern auch die des Gegners ernähren.
Solange es Getreide gab, wurde auch das eingefordert, aber Ende
September mußte für den Brotbedarf der Soldaten Mehl aus Deutschland
beschafft werden. In der Kaffeeküche brodelte ein Dutzend große Kessel,
und eine alte Französin rumorte zwischen ihnen unterhaltungs- und
lachlustig. --

Das Zimmer, das mir nun zugeteilt wurde, war ursprünglich für Major
Plato und seinen Adjutanten bestimmt; sie sollten sich abwechselnd
darin ausruhen. Aber bisher hatten sie es noch nicht benutzen
können, da sie Tag und Nacht durcharbeiteten und zwischendurch
oft in den Kleidern in der Bahnhofswirtschaft schliefen, die als
Kommandanturbureau diente. Im Wartesaal ~III.~ Klasse war das Quartier
der Stationswache. Die Leute lagen auf dem Boden und machten sich
gerade für die Arbeit des neuen Tages bereit.

Unsere Runde führte uns auch in die Wartesäle und Magazine, die als
Lazarett eingerichtet waren. In einem lagen nur schwerverwundete
Franzosen, die von Schwestern des Roten Kreuzes und Ärzten gepflegt
wurden. Ein anderer Saal war den Deutschen überlassen, die bald den
Transport nach Osten ertragen konnten. Auch hier bekam ich einen
lebhaften Eindruck davon, wie wichtig es ist, so schnell als möglich
die Krankensäle, die zur Verfügung stehen, zu räumen. Eben war die
Mitteilung eingegangen, daß ein Zug mit Verwundeten auf dem Weg nach
Sedan sei, und daß fünfhundert Krankenwagen von der Front angefordert
würden -- was auf heftige Kämpfe und blutige Ereignisse schließen ließ.
Als der gemeldete Zug ankam, entstand auf dem Bahnsteig Leben und
Bewegung. Die Schwestern und ihre freiwilligen Träger eilten von Wagen
zu Wagen mit Eimern und Kannen voll rauchenden Kaffees und großen,
runden Körben voll Brot; Sanitätssoldaten standen mit ihren Bahren
bereit, um die Schwerverwundeten zu den Autobussen und damit in das
Städtische Lazarett zu schaffen. Alles geht wie geschmiert, es ist
Lust und Leben in diesem Liebeswerk. Wieviel auch kommen, so reicht
das Essen doch immer zu, die Bahren und Betten gehen nicht aus, und
die hilfreichen Hände werden nie müde. Den verwundeten Franzosen wird
dieselbe freundliche Behandlung zuteil wie den Deutschen, vielleicht
eine noch freundlichere, denn fast alle haben ein Gefühl von Mitleid
gegenüber denen, die in Feindeshand gefallen sind und außer ihren
eigenen Wunden noch fühlen müssen, wie ihr Vaterland blutet. Die
Station Sedan ist wie ein summender Bienenkorb. Hier kommen Züge mit
frischen Truppen herein, und dort halten Transporte von Gefangenen und
Verwundeten. Zwar liegt die Nacht kalt und sternenhell auf der Stadt,
aber für die, die im Dienst der Krankenpflege auf der Station arbeiten,
gibt es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, und es ist mir ein
Rätsel, wie sie dieses Leben aushalten. Die Kraft, die sie aufrecht
erhält und vor Müdigkeit bewahrt, ist die Liebe zum Vaterland, das
seinen größten und schicksalsschwersten Kampf ausficht.



22. Sedan -- 1870!


Am Nachmittag machte ich mit Major Heyn und ein paar andern
Offizieren, von denen einer Richter in Frankfurt a. M. war und jetzt
Kriegsgerichtsrat, eine Automobilfahrt zu geschichtlich berühmten
Orten außerhalb Sedans, Plätzen, deren bloßer Name bei allen Franzosen
Gefühle der Trauer weckt.

[Illustration: Das Weberhaus bei Donchery, wo am 2. Sept. 1870 Napoleon
und Bismarck ihre Unterredung hatten.

(Vgl. Seite 82.)]

[Illustration: Landstürmer am Grabe eines Kameraden.]

In der Nähe des Dorfes Frénois, wo am Vormittag des 2. September 1870
die Kapitulation unterzeichnet wurde, besuchen wir das kleine Schloß
Bellevue, wo König Wilhelm am selben Tage seine Zusammenkunft mit
Kaiser Napoleon ~III.~ hatte. Die beiden Monarchen trafen sich in der
kleinen Glasveranda im Erdgeschoß, die eine Art Vorhalle bildet. Die
Möbel von damals sind alle verschwunden, und kein Andenken aus jener
Zeit ist erhalten. Doch nein! Die alte, würdige und vornehme Dame, die
noch jetzt das Schloß besitzt und, von Alter und Kummer gebeugt,
jetzt zum zweitenmal nach vierundvierzig Jahren alle Phasen eines
französisch-deutschen Krieges erlebt hat! Ihr Haar war schneeweiß,
und sie ging gebückt, aber sie trug ihr Haupt hoch und war stolz und
ehrfurchtgebietend. Wir fragten sie, ob wir das Innere des Schlosses
besichtigen könnten, aber sie bat uns, davon abzustehen, und wir
achteten diesen Wunsch natürlich. Daß die Soldaten, die ihr Weg an
Bellevue vorüberführt, gern die berühmte Veranda sehen wollen, ist ja
weiter nicht zu verwundern, aber die alte Dame bat, man möge diese
Besuche einstellen. Sie wolle Frieden haben und mit ihrem Kummer allein
sein. »~C'est bien malheureux, c'est très, très triste~«, sagte sie ein
ums andere Mal, und sie selber wie ihre Worte erweckten das tiefste
Mitgefühl. Bellevue erhebt seinen runden Turm wie eine Klippe, die von
den Sturmwogen der beiden größten Kriege der neueren Geschichte umspült
ist.

[Illustration: Ärzte in einer Soldatenhütte hinter den Schützenlinien
bei Rouvroy.

(Vgl. Seite 88.)]

Unser nächstes Ziel ist die kleine Stadt Donchery, die jetzt einen
doppelt traurigen Eindruck macht. Hier verhandelten am Spätabend
des 1. September 1870 die Generäle Moltke und Wimpffen über die
Kapitulation. Auch Bismarck war dabei und mehrere Offiziere von
beiden Seiten. Das Haus, in dem die Verhandlung stattfand, wurde in
dem jetzigen Krieg zerstört. Aber Anton von Werners Gemälde existiert
noch. Es wirkt auf den Beschauer fast erschütternd. Rechts die
germanische Eisenkraft, die Entschlossenheit, die keine Kompromisse
duldet, links das geschlagene Frankreich in seinem tiefsten Unglück.
Wohl zieht Moltke unsere Blicke auf sich, wie er, die Hand auf den
Tisch gestützt, dasteht und kategorisch verlangt, daß sich das ganze
französische Heer gefangen geben soll, und wohl betrachten wir mit
gespannter Aufmerksamkeit den eisernen Kanzler, wie er, die Hände am
Säbelknauf, dasitzt und auf die Antwort wartet. Die Hauptfigur des
Bildes ist aber doch Wimpffen. Er ist gerade von dem Schlag getroffen,
den die Übergabebedingungen für ihn und ganz Frankreich bedeuten. Er
hält es nicht mehr aus, er ist aufgestanden, um zu gehen. Aber er
schwankt und muß sich auf den Tisch und einen Stuhl stützen. Das
Licht der Lampe fällt auf sein Gesicht, das den tiefsten Schmerz und
Kummer verrät. Weshalb hat er sich zum Oberbefehl über die Armee
gedrängt, nachdem Mac Mahon verwundet worden war und Ducrot zu seinem
Stellvertreter ausersehen hatte? Nun wird sein Name in der Erinnerung
auf ewig mit diesem Unglückstag verbunden bleiben. Ein Bild Bonapartes
hängt an der Wand; der große Kaiser scheint dem unglücklichen General
einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. Die Gesichter seiner Begleiter
verraten tiefsten Schmerz und Demütigung. Nicht weniger ernst stehen
die Preußen auf der andern Seite des Zimmers. Ihre Züge zeigen
Bewunderung für die glänzende Tapferkeit des französischen Heers und
für eine Todesverachtung, die eines besseren Geschicks würdig gewesen
wäre. Der Künstler hat eine Stimmung hervorgerufen, die uns ahnen
läßt: alle Anwesende sind sich dessen bewußt, daß dieser Tag in der
Erinnerung als einer der unglücklichsten in Frankreichs, als einer der
größten in Preußens Geschichte fortleben wird.

Auf der Rückkehr nach Sedan besuchten wir auch das Haus, in dem am
frühen Morgen des 2. September Napoleon und Bismarck ihre Unterredung
hatten. Von seinem Gefolge und ein paar Reitern begleitet, kam der
Kaiser in einem Landauer nach Sedan gefahren. Er war ausgestiegen und
stand, gebrochen und vorzeitig gealtert, auf seinen Stock gestützt,
als Bismarck heranritt. Auch diesen Augenblick hat Werner auf einem
seiner Gemälde verewigt. Sie gingen dann ins Haus, stiegen die schmale,
halsbrecherische Treppe hinauf und nahmen im hintersten der beiden
größeren Zimmer Platz. Der Wirt, der Weber Fournaise, wurde entfernt,
aber seine siebenundzwanzigjährige Frau hielt sich im Vorderzimmer auf.
Und Madame Fournaise ist noch am Leben, eine freundliche alte Frau,
die das Leben mit philosophischer Ruhe betrachtet, das doch so schlimm
mit ihrem Eigentum verfahren ist. Das einzige, was sie empörte, war,
daß zwei Gewehrkugeln durch ihr Fenster gegangen waren und sich in die
Decke gebohrt hatten. Sie hielt uns im übrigen einen richtigen Vortrag
über den denkwürdigen Tag vor vierundvierzig Jahren und entsann sich
jeder Kleinigkeit. Der Kaiser war freundlich und herablassend, Bismarck
lustig und scherzhaft zu ihr gewesen. Und als die Unterhaltung zu Ende
war und die beiden Herren ihrer Wege gingen, hatte der Kaiser ihr
vier Zwanzigfrankstücke geschenkt, die sie noch unter Glas und Rahmen
und mit folgender Unterschrift aufbewahrt: »~Donnés par sa Majesté
l'Empereur Napoléon III à Madame Fournaise le 2 Septembre 1870.~« Zur
Erinnerung an unsern Besuch sollten wir den Stempel bewahren, den
sie in unsere Notizbücher drückte: »~Maison de la 1^{re} entrevue
Donchery~.« Das Haus selbst ist bekannt unter dem Namen ~Maison du
Tisserand~ oder das Weberhaus.

Wir fuhren auf einer andern Straße nach Sedan zurück, um einen
flüchtigen Blick auf die Festungswerke zu werfen, die seit 1870
geschleift sind, und von den Höhen der Umgebung die schöne Aussicht auf
die unglückliche Stadt zu genießen. In Sedan kann man nicht fröhlich
sein. Es liegt einem bleischwer auf der Brust. Da ist ein Volk, das
gelitten hat und leidet, ein edles, fleißiges und sparsames Volk, das
am Gängelband der republikanischen Demokratie an einen Abgrund von
Unglück geführt wurde, ein Volk, das eines besseren Schicksals würdig
wäre als für eigennützige Freunde zu verbluten, dessen Kinder vergebens
die anscheinend stolzen, in Wirklichkeit aber leeren und hohlen Worte
stammeln: »~Liberté, Egalité, Fraternité!~« Was ist das für eine
Brüderlichkeit, die nie an etwas anderes denkt als an Rache! Was ist
das für eine Gleichheit, die politischen Zwecken die Ersparnisse des
Volks aufopfert! Und was ist das für eine Freiheit, die dieses selbe
Volk der am despotischsten regierten Macht der Erde in die Arme treibt!



23. Bei der vierten Armee.


Im Hotel Croix d'Or in Sedan wohnte Exzellenz General Freiherr von
Seckendorff, der Etappeninspektor der vierten Armee. Der Chef seines
Stabs ist Oberst von Kemnitz; er hat eine gewaltige Schar Offiziere
unter sich, dazu die schwere Verantwortung für die Verbindungslinien
der vierten Armee. Man kann wohl sagen, daß durch seine Hände ganze
Armeen und endlose Reihen von Kolonnen gehen. Er muß Ankunft und Marsch
der Ersatztruppen kontrollieren und ist dafür verantwortlich, daß sie
zur rechten Zeit ankommen. Er hat dafür zu sorgen, daß Kleider, Waffen,
Munition und Verpflegung in genügender Menge vorhanden sind. Er hat
einen Generaloberarzt bei der Etappeninspektion unter sich, und dieser
ist wieder verantwortlich für jedes Lazarett an den achtundzwanzig
Etappenorten wie für Beförderung und Behandlung der Verwundeten im
allgemeinen. Die Bewegungen der Sanitätskolonnen fallen also auch
unter die Etappeninspektion. Der vielseitige General hat außerdem die
Gefangenentransporte und die ewig hin und her rollenden Motorwagen der
Feldposten zu überwachen.

General Seckendorff hatte demnach alle Hände voll zu tun und arbeitete
auch wie ein Pferd; des war ich Zeuge. Er hielt tadellose Disziplin auf
seinen Straßen und inspizierte sie täglich in eigener Person. Er war
schon zwölftausend Kilometer in seinem eleganten gedeckten Automobil
gefahren. Auf den Landstraßen führte er strenges Regiment und konnte,
wenn es nötig war, Soldaten und Offiziere anfahren wie ein Löwe. Zu mir
war er liebenswürdig und freundlich wie lauer Zephirwind. Er nahm mich
mit offenen Armen auf und lud mich ein, zum Abendessen im großen Saal
des Hotels zu bleiben.

Hier versammelten sich etwa vierzig von den dreihundert Offizieren,
die damals in Sedan wohnten, unter ihnen ein Fürst Hohenlohe, der
beim Roten Kreuz beschäftigt war. Bei unserm Eintreten standen die
Herren schon an ihren Plätzen vor dem langen Tisch und den kleinen
Nebentischen, und der General stellte mich gleich allen mit einigen
ebenso kräftigen wie liebenswürdigen Worten vor. Es gab dieselbe
Kost wie für die Soldaten, Reissuppe, Hammelfleisch mit Bohnen
und Kartoffeln und gefüllte Pfannkuchen -- das letzte Gericht ein
Sonntagsluxus.

Nach einem angenehm verbrachten Abend und nachdem mich der General
eingeladen hatte, ihn am nächsten Tage nach Vouziers zu begleiten, ging
ich um Mitternacht durch das stille, menschenleere Sedan. Der Weg von
der Place Turenne bis zum Bahnhof, wo ich wohnte, ist ziemlich lang,
und er wurde von den sechs Wachtposten nicht verkürzt, die einer nach
dem andern aus dem Dunkel auftauchten und mich anhielten als einen
verdächtigen Nachtwanderer, der vielleicht in ungesetzlichen Geschäften
unterwegs war. Jeder mußte General Moltkes Brief lesen und mich dann
meinem Schicksal und dem nächsten Wachtposten überlassen. Aber alle
waren ruhig und höflich, und sie taten ihre Pflicht. Als ich an den
letzten kam, kurz vor dem Bahnhof, trat ich auf ihn zu und fragte ihn,
ob er etwas dagegen hätte, meinen Ausweis zu lesen. Er antwortete
lächelnd: »Ich vermute, der ist schon oft genug gelesen worden;
übrigens hab' ich Sie in Gesellschaft des Chefs der Kommandantur
gesehen.«

Am 28. September begab ich mich frühmorgens in den Gasthof »Zum
goldenen Kreuz« und war bald darauf mit General Seckendorff und seinem
Adjutanten auf dem Weg an die Front der vierten Armee. Die Straße
führt nach Südwesten in der Nähe des Ardenner Kanals, der ein paarmal
gekreuzt wird. Unser erstes Ziel war die Stadt Vouziers, bis wohin die
Eisenbahn ging. Trotzdem benutzen zahlreiche Kolonnen die Chaussee,
neben der auf den Feldern malerische Biwaks sichtbar werden. Hier und
da raucht es noch von einem Lagerfeuer, über dessen Glut die Soldaten
ihr Frühstück zubereitet haben. Zwischen den Kastanien und Ahornen,
deren Laub sich schon verfärbt, bewegt sich das bunte, kriegerische
Landstraßenleben, an das wir schon gewöhnt sind: Soldaten und Fuhrwerk
einer großen Etappenlinie, Proviant- und Munitionswagen, Lazarettautos
und ganze Reihen altmodischer gelber Postwagen, die Feldpostbriefe
befördern und nach Deutschland über Trier fahren, wo die erste
Sortierung geschieht. Die unentbehrlichen Feldgendarmen in ihren grünen
Uniformen reiten auf und ab und passen auf. Ein ausgedientes Pferd hat
seinen Gnadenschuß erhalten und wird eben beiseite geschleppt; ein
Blutstrom fließt aus seinen Nüstern und rötet den Staub der Landstraße.

Wir fahren durch mehrere Dörfer, darunter Tannay und Lechesne am
Ardenner Kanal, und halten kurze Zeit in Vouziers am Westufer
der Aisne. Der General nimmt von ein paar Offizieren der
Etappenkommandantur die Berichte entgegen über das, was sich seit
gestern zugetragen hat. Dann geht die Fahrt weiter nach Süden auf der
Chaussee, die nach Séchault und Cernay führt. In dem zuletzt genannten
Dorf sind wir zwanzig Kilometer westlich von Varennes. Aber zwischen
diesen beiden Orten breitet sich der Argonner Wald aus, in dem noch
heiß gekämpft wird. Von Cernay geht nach Westen die große Landstraße
nach Reims. Auf den ersten sechzehn Kilometern dieser Straße, d. h. bis
zum Dorf Somme Py, hatte ich Gelegenheit, einige höchst interessante
Punkte zu besichtigen. Denn diese Straße war Ende September die letzte
nach Süden, die in dieser Gegend vom deutschen Heer besetzt worden war.

Das erste Dorf westlich von Cernay ist Rouvroy, und weiter wollten
wir heute nicht fahren. Wir machten einen kurzen Aufenthalt und aßen
unser einfaches, feldmäßiges Frühstück, lange, schmale Scheiben
von Kommißbrot mit Butter und Schinken und ein Glas Rotwein. Der
General hatte ein besonderes Automobil mit voll Weinflaschen, die er
an die Soldaten verteilen ließ. Mit dem Wein braucht man in diesen
Gegenden, wo auch die Bauern ihre wohlversehenen Weinkeller haben,
nicht zu sparen. Aber nichts wird ohne weiteres genommen, alles
wird den Eigentümern nach dem Krieg ersetzt, und es gehört zu den
Friedensbedingungen, daß der verlierende Teil jede Quittung über
Sachen bezahlt, die während der Besetzung requiriert worden sind. Der
einzelne darf nicht Schaden leiden unter dem Krieg; es ist Pflicht des
Staats, die persönlichen Verluste zu ersetzen, wenn er das Eigentum
des einzelnen nicht gegen die Invasion zu schützen vermocht hat. Und
wenn die Invasionsmacht den Krieg verliert, so ist es ihre rechtmäßige
Strafe, für die Verluste aufzukommen.

Vielleicht wird jemand sagen, es sei nicht recht, die Soldaten Wein
trinken zu lassen. Im Osten haben ja die Russen den Versuch gemacht,
während des Kriegs ein Generalverbot einzuführen, und sie sind mit dem
Ergebnis zufrieden. Ohne Zweifel ist diese Kraftäußerung an und für
sich bewundernswert. Aber ich glaube doch, daß ein Schluck Rot- oder
Weißwein hier und da den Soldaten nur guttut. Absolute Enthaltsamkeit
zu predigen, ist keine Kunst für den, der nicht die Nächte in kalten,
feuchten Schützengräben zu frieren braucht, in denen man nicht das
kleinste Feuer anzünden darf.

In Rouvroy stiegen wir aus und gingen das sacht ansteigende Gelände
zu Fuß weiter über Felder, Gräben und durch Wälder. Hier war das Land
voller Granatlöcher, und man konnte nicht wissen, wo der nächste
Feuerregen niedergehen würde. Zahlreiche Geschosse lagen rings
verstreut, und ich nahm einen sogenannten »Ausbläser« mit, der beim
Krepieren nicht geplatzt war.

Weiter oben hatten wir Gelegenheit, zu sehen, wie die Ersatztruppen
sich auf der Linie eingerichtet hatten, auf der sie warten, bis sie
ihre Kameraden in den Schützengräben ablösen. Sie lagen teils am
Waldrand, teils im Wald selbst, wo sie sich halb unterirdische, mit
Ästen, Zweigen und Laub gedeckte Höhlen gegraben hatten, die nicht nur
als Wohnstätten dienten, sondern auch zur Deckung vor den Fliegern.
Diese Lager sind immer nach Norden verlegt, damit sie vom Wald gedeckt
sind und von den französischen Stellungen aus nicht gesehen werden. Da
sie so gut maskiert sind, darf man in den Höhlen kleine Feuer anzünden.

An einer Stelle des Waldrandes hatte ein Sanitätswagen im Schutz
einiger dunklen Fichten haltgemacht. Er war beladen mit Verbandzeug,
Heilmitteln, Bahren und andern Sachen, die zur ersten Behandlung der
Verwundeten nötig sind. Das Gespann verfügte über ein Reservepferd, das
gut zu brauchen war, falls eins der gewöhnlichen Wagenpferde erschossen
werden mußte. Ein anderer Wagen, der zur selben Sanitätskolonne
gehörte, war mit einem graugelben Verdeck überspannt. Beide führten
Flagge und Zeichen des Roten Kreuzes. Über die Pferde waren graue
Decken gebreitet, um ihnen einen Farbton zu geben, der soviel als
möglich mit dem des Landes übereinstimmte, alles zum Schutz gegen
Flieger.

In einer kleinen Soldatenhütte in der Nähe hatten sich vier Ärzte der
Kolonne eingerichtet. Sie hatten eben ihr Frühstück beendet, das aus
der nächsten Feldküche geholt wurde, wo auch ich die ebenso kräftige
als wohlschmeckende Kost versuchte. Oben auf der Höhe, von wo aus sich
eine Aussicht über die französischen Stellungen darbot, trafen wir
mehrere Offiziere, und unter einem mächtigen Strohdach eine Anzahl
Soldaten verschiedener Waffengattungen. In der Nähe hatte man zwei
Soldaten im Schatten eines kleinen Wäldchens beerdigt. An den Querarmen
der Kreuze hingen frische Kränze, die verrieten, daß die Tapfern, die
hier ruhten, erst kürzlich dem französischen Feuer zum Opfer gefallen
waren. Ihre Helme schmückten die einfachen Grabhügel.

Auf der Rückfahrt, die auf einer östlicher gelegenen Straße über die
Dörfer Condé, Autry und Grand Pré führte, holten wir vier Kompagnien
Landsturm ein, an deren Spitze ein Musikkorps marschierte. Es ist
ungewöhnlich, so nahe der Front Regimentsmusik zu hören, wo alles
so still wie möglich sein soll und nur die Kanonen und Gewehre ihre
laute Sprache sprechen. Der General ließ unser Auto die ganze Truppe
entlangfahren; dann ließ er neben dem Weg halten, stieg aus und wir
folgten ihm. Die ganze Schar mußte nun vorüberziehen; als die erste
Kompagnie kam, rief er: »Guten Tag, erste Kompagnie!« Ebenso begrüßte
er die übrigen und wurde von ihnen wieder gegrüßt. Es war ein schöner
Anblick, diese kräftigen Männer und ihren elastischen Gang zu sehen
und ihre dunkelblauen Uniformen, die sich scharf von dem gelblichen
Laub der Bäume abhoben, und ebenso prächtig war der General mit dem
energischen, aber freundlichen Blick, dem weißen, wohlgepflegten
Schnurrbart und dem stahlgrauen Haar. Gerade und aufrecht stand er
in seinem grauen Mantel da, die Hände auf dem Rücken. Er hätte sich
nicht die Mühe zu machen brauchen, auszusteigen und zu grüßen, aber es
freute seine Kriegerseele, diese Männer zu betrachten, die Haus und
Heim, Frau und Kind verlassen hatten, um für das Vaterland zu siegen
oder zu sterben. Dann fuhren wir an ihnen zum zweitenmal vorüber und
lauschten wieder dem anfeuernden Parademarsch, der schließlich hinter
uns verklang.

Bei der Rückkehr nach Vouziers übergab mich der General dem Rittmeister
von Behr, einem Bruder des Kammerherrn, einem lebhaften, fröhlichen
Herrn, der dem General versprach, daß mir nichts abgehen solle. Und
er hielt Wort, denn die reichliche Woche, die ich bei ihm und seinen
Kameraden zubrachte, hatte ich Gelegenheit, viel zu sehen und zu lernen
und mit vielen tüchtigen Männern bekannt zu werden; von Behr hatte
schon längst seinen Abschied genommen, aber bei Kriegsausbruch trat er
wieder bei den Kürassieren ein und führte eine Reserveschwadron.

Am 29. September war ich zum Abendbrot bei dem Chef der vierten Armee
Herzog Albrecht von Württemberg eingeladen. Unter den Gästen waren auch
der Kriegsminister Exzellenz von Falkenhayn, der Stabschef General Ilse
und die drei jungen Söhne des Herzogs, alle drei prächtige, schöne
und begabte Jünglinge. Sie taten Dienst an der Front und hatten sich
schon bei mehreren Gelegenheiten durch Tüchtigkeit und Tapferkeit
ausgezeichnet. Gegen Schluß der Tafel erhob sich der jüngste von ihnen;
er stand an einem andern Teil der Front und mußte dorthin zurück. Er
ging um den Tisch herum, nahm von allen Abschied und kam schließlich
zu seinem Vater. Der Herzog nahm seinen Kopf zwischen beide Hände
und küßte ihn, sagte aber kein Wort. Keine Szene, keine Tränen,
keine Ermahnungen, sich nicht unnötig dem Feuer und andern Gefahren
auszusetzen. Es war wie ein gewöhnliches »Gute Nacht, morgen sehen wir
uns wieder«. Und doch, für wie viele Offiziere und Soldaten gibt es
in diesem Krieg kein »morgen«! Wie viele Familien sehen beim Abschied
von ihren Lieben diese zum letztenmal! Wie viele Bande werden für
immer zerrissen! Eine Schwester vom Roten Kreuz hatte vierundzwanzig
Verwandte im Feld, und man sprach von einem Vater, der acht Söhne
draußen hatte und einen neunten sechzehnjährigen, der sich darnach
sehnte, ihrem Beispiel zu folgen. Das ganze deutsche Volk hat in den
letzten Monaten eine Seelenstärke und -größe an den Tag gelegt, die in
unserer Zeit nicht ihresgleichen hat!



24. »Barbarische« Justiz.


Als ich »nach Hause« kam, saßen Rittmeister von Behr und seine Freunde
Graf Eichstätt und Freiherr von Tschammer noch plaudernd beisammen, und
ich gesellte mich zu ihnen. Wir sprachen eben von den Ereignissen des
Tages, als ein Rittmeister hereintrat und meldete, Einwohner von zwei
etwa zwölf Kilometer entfernten Dörfern, die schon anderthalb Monate
in den Händen der Deutschen waren, hätten auf Soldaten geschossen.
Aus dem einen Dorf sollten daher alle Männer, aus dem andern alle
Männer, Frauen und Kinder gefangen in die Stadt gebracht werden. Der
Unterschied schien darauf zu beruhen, daß man in dem einen Dorf auf
Flieger geschossen hatte, in dem andern auf Truppen. Hundert Mann
Landsturm und eine Schwadron berittener Landsturm sollten sich nachts
1 Uhr nach den beiden Dörfern begeben. Während die Reiter an allen
Straßenecken Posto faßten und jeden Fluchtversuch verhinderten, sollten
Haus für Haus von der Infanterie durchsucht und alle Einwohner gefangen
genommen werden. In der Stadt sollten sie dann vor das Kriegsgericht
gestellt und die Schuldigen erschossen werden. So verlangt es das
strenge Kriegsgesetz. Es gibt keine Gnade, keine Rettung. Die armen
Leute taten mir unendlich leid. Was konnten sie mit einigen armseligen
Schüssen gegen eine ganze Armee ausrichten! Glaubten sie vielleicht
den törichten Gerüchten, die Brücken der Pioniere seien nur gebaut,
um den Rückzug der deutschen Heere vorzubereiten, und das Kriegsglück
sei in der letzten Zeit ganz umgeschlagen? Und woher hatten sie diese
Neuigkeiten? Natürlich nur von der Zivilbevölkerung selbst. Wer aber
solche Gerüchte in die Welt setzte, nahm eine ungeheure Verantwortung
für das Leben seiner Landsleute auf sich und gewann dabei nichts.

»Wie erging es nun den Unglücklichen?« wird man fragen. Schon am
nächsten Tag hatte ich Gelegenheit, sie auf der Anklagebank zu sehen:
lauter alte Leute, Bauern und ihre Frauen; die letzteren weinten und
sahen verwundert drein, die Männer zeigten ein ganz gleichgültiges
Aussehen. Der Krieg hatte ihnen schon alles genommen, das Leben hatte
für sie keinen besonderen Wert mehr. In den wenigen Tagen, die das
Verhör dauerte, litten sie keine Not. Ich sah sie einmal in einem Hof
an einem großen Tisch beim Mittagessen sitzen. Das Herz drängte mich,
für sie Fürbitte einzulegen und an die Barmherzigkeit zu appellieren;
der Verstand aber sagte mir, daß man sich nicht in die vom Kriegsgesetz
befohlenen Beschlüsse der militärischen Obrigkeit mischen kann und
darf. Deshalb muß man sein Herz hart werden lassen und kalt wie Eis.
Aber wie ging es ihnen nun? Wurden sie wirklich an einen Baum gebunden
und erschossen? Nach ein paar Tagen fragte ich einen meiner Freunde
nach ihrem Geschick. »Sie wurden alle freigesprochen,« sagte er, »aus
Mangel an Beweisen. Die Täter waren offenbar schon geflüchtet, als
unser Landsturm kam; die Verdächtigen wurden alle in ihre Häuser und
Gehöfte zurückgeführt.«

Man soll nicht meinen, daß die deutschen Kriegsgerichte solche Fälle
leichthin und im Handumdrehen erledigen, als wenn ein Menschenleben in
dem eroberten Lande keinen Wert hätte. Nein, die Kriegsgerichte der
»Barbaren« sind höchst gewissenhaft, unparteiisch und human.



25. Der Krieg in der Luft.


Eine der Fahrten, die ich von Sedan aus mit Rittmeister von Behr
unternahm, führte mich über Cernay, Condé und Challerange. In dem
ersten Dorf nahm ich ein paar Bilder von einer Munitionskolonne auf,
einigen Soldaten, die sich auf einem Hof ihr Mittagbrot zubereiten,
und einer marschbereiten Kompagnie, die ihre Instruktion erhält,
bevor sie an die Front geht. Im nächsten Dorf sahen wir eine Schar
prächtiger Landsturmleute, gleichfalls zur Instruktion aufgestellt, und
ein Biwak von überdeckten Wagen und Pferden. Am schönsten war aber doch
die Munitionskolonne, deren Wagen unter die überhängenden Zweige des
Waldrandes neben dem Weg gefahren und außerdem mit Laubbüschen bedeckt
waren, um gegen französische Flieger geschützt zu sein. Eine Kolonne
Feldlazarettwagen war womöglich noch gründlicher maskiert und wartete
unter den Bäumen, nachdem die Pferde abgespannt waren. Etwas weiterhin
hatte sich eine Sanitätsabteilung im Laubwald selbst niedergelassen, um
in der Nähe zu sein, falls Verwundete die ersten Verbände brauchten.
Ihre Flaggen, das Rote Kreuz auf weißem Grund, schimmerten aus
dem Laubwerk hervor. Dieselbe Vorsichtsmaßregel hatte man für die
Feldküchen getroffen, die ebenfalls unter den Bäumen Deckung gesucht
hatten.

Die französischen Flieger waren jeden Nachmittag zwischen 5 und 6 Uhr
in Tätigkeit. Sie haben eine doppelte Mission: teils mit ihren Bomben
Schaden anzurichten, teils Truppenbewegungen und Artilleriestellungen
zu beobachten. Die Brücke über die Dormoise in Autry war vor zwei
Tagen einem Bombenattentat ausgesetzt gewesen, das zwei Mann tötete,
die Brücke aber unbeschädigt ließ. An einem andern Platz in unserer
Nähe wurde ein Soldat von einem der scheußlichen eisernen Pfeile
getroffen, die die Flieger aus einer Höhe von etwa 2500 Metern
herabwerfen. Sie gehen noch durch das Pferd hindurch, nachdem sie
einen Mann am Kopf getroffen haben. Sie fallen nämlich mit der
Geschwindigkeit einer Flintenkugel und sind schwerer als diese. In
Grand Pré wurde vor einigen Tagen ein Hauptmann von einem Pfeil
getötet und siebenundzwanzig Mann wurden von einer Bombe desselben
Aeroplans verwundet. Als vorige Woche in einer kleinen Stadt hier
in der Nähe der Bau einer Eisenbahnlinie beendet wurde, fielen drei
Bomben in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs nieder, ohne jedoch Schaden
anzurichten. Der Flieger wurde mit Schrapnells aus einer sogenannten
Ballonabwehrkanone beschossen, aber nicht getroffen. An wichtigen
Stellen in Deutschland stehen ständig Wachen gegen feindliche Flieger.
Wenn einer nachts über einer Stadt schwebt, werden mehrere Scheinwerfer
auf ihn eingestellt; er wird vom Licht geblendet und verliert die
Möglichkeit, sich zu orientieren. Im nächsten Kirchturm beginnen die
Maschinengewehre zu singen und ihn mit einem Regen von Kugeln zu
überschütten.

Truppen, Batterien und Kolonnen suchen die Deckung, die das Gelände
bietet, nicht nur, um Bomben und Pfeilen zu entgehen, sondern auch
und vor allem, um ihre Stellungen und Bewegungen geheimzuhalten. Der
Flieger hat verschiedene Methoden, den Seinen Mitteilungen zugehen zu
lassen. Er gibt vermutlich teils direkte Signale, z. B. mit Flaggen
oder elektrischen Lampen, deren Licht man mit dem Fernrohr von der Erde
aus deutlich sehen kann. Wenn ein Flieger Kolonnen oder Truppen am Rand
eines kleinen Wäldchens liegen sieht oder sie dort vermutet, zeichnet
er am Himmelsgewölbe durch seinen Flug die Umrisse des fraglichen
Gebietes ab, und sofort werden Granaten dorthin geschleudert. Eine
der wichtigsten Aufgaben der Flieger ist es also, das Artilleriefeuer
zu lenken. Wenn eine französische Batterie sich die Aufgabe gestellt
hat, eine deutsche Batterie zu beschießen und womöglich zu zerstören,
deren ungefähre Lage dem Flieger bekannt ist, so steigt dieser in der
Nähe des Ziels auf und lenkt das französische Feuer. Wenn die Granaten
zu kurz niedergehen, beschreibt der Flieger einen Kreis mit kleinen
Durchmessern. Dann wird der Abstand verlängert. Wird dieser zu groß,
so daß die Granate hinter das Ziel fällt, dann beschreibt der Flieger
einen Kreis mit großem Durchmesser. Fallen die Granaten links vom Ziel,
dann macht er eine Schwenkung nach rechts, fallen sie rechts vom Ziel,
dann macht er eine Schwenkung nach links. Auf diese Weise stellt er das
Feuer immer näher auf das Ziel ein und erreicht das allein durch seine
Bewegungen in der Luft. Es versteht sich von selbst, daß alle diese
Kunstgriffe ebenso geschickt von den Deutschen pariert werden. Merkt
eine Batterie, daß ein feindlicher Flieger sie beobachtet und das
Feuer näher kommt, dann hört sie mit Schießen auf und verändert in der
Nacht ihren Standort.

Das im übrigen so unglückliche Verhängnis, daß der Kriegsschauplatz in
ihr eigenes Land verlegt ist, bietet den Franzosen den Vorteil, daß
sie von der Zivilbevölkerung wertvolle Erkundigungen einziehen können.
Unter ihr können natürlich leicht Personen verborgen werden, die durch
gewisse Zeichen oder durch nächtliche Lichtsignale die Bewegungen der
Deutschen verraten. Hat sich ein Stab oder ein Oberkommando in einem
Ort niedergelassen, dann werden die französischen Beobachter durch
vereinbarte Signale davon unterrichtet, und daß diese richtig aufgefaßt
werden, merkt man bald am Artilleriefeuer. Signale können auch tagsüber
gegeben werden, z. B. dadurch, daß ein Bauer seine Herde an eine
gewisse Stelle treibt. Über die Moral einer solchen Auskundschaftung
mögen die Ansichten geteilt sein. Aber es ist sicher, daß jedes Volk,
das ein Invasionsheer in seinem Lande dulden muß, mit denselben Mitteln
dem Feinde zu schaden suchen würde.

Fortdauernde Bewegungen sind das beste Mittel gegen Spionage und
direkte Auskundschaftung. Diese Bewegungen werden in der Nacht
vorgenommen. Am Tag hält man sich still unter den Bäumen verborgen.
Und die Deutschen sind Meister in der Verlegung ihrer Truppen. Die
große Beweglichkeit der deutschen Armee, die Schnelligkeit, mit der
ihre verschiedenen Einheiten hin und her geworfen werden, und die
hoch gesteigerte Marschfähigkeit der Infanterie, das sind so einige
Ursachen, die diese Armee zu der ersten der Welt gemacht haben.

Später fuhr ich mit Rittmeister von Behr auf den deutschen Flugplatz
bei X., wo sechs Gotha-Tauben mit Mercedes-Motoren in großen gelben
Zelten standen. Der einen Taube hatten Schrapnellkugeln einen Flügel
durchbohrt, und der Schwanz war mit kleinen Lappen geflickt; solche
»Pflaster« werden fast als Medaillen für Tapferkeit im Felde angesehen.
Je mehr Narben der Aeroplan hat, desto mehr Gefahren war der Flieger
ausgesetzt, desto mehr hat er über dem Feuer der Feinde aufs Spiel
gesetzt. Ich weiß nicht, welches Gefühl am unangenehmsten ist: einen
fremden Flieger gerade über sich zu haben oder zu wissen, daß eine
Ballonabwehrkanone gerade unter einem steht und zielt!

Während wir auf dem Flugplatz waren, stiegen zwei Tauben auf. Es ist
unendlich schön, ihre weichen, leichten Bewegungen zu sehen. Ehe man
weiß, wie es geschieht, verlassen die feinen Räder den Erdboden,
die Taube steigt langsam über das Feld empor und gleitet über die
Baumwipfel dahin. Dann erhebt sie sich in Spiralen immer mehr über
die Erde, und die zwei gewaltigen Eisernen Kreuze unter ihren Flügeln
werden immer kleiner. Sie macht es wie die Brieftaube, die erst bis
zu einer gewissen Höhe ansteigt, um einen orientierenden Überblick
über das Land zu gewinnen, und dann in gerader Linie auf ihr Ziel
losschießt. Denn als unsere erste Gotha-Taube genügend hoch gestiegen
war, ging sie aus der letzten Spirale direkt nach Süden auf die
französischen Stellungen zu und weit über diese hin. Dort muß der
Beobachter, der mit Karte, Notizbuch und Fernrohr vorn sitzt, seine
Beobachtungen machen und dann mit seinen Berichten zurückkommen,
wenn er nicht während der Fahrt heruntergeschossen wird. Über der
feindlichen Stellung geht man in eine Höhe von 2000 oder 2500 Metern,
um einigermaßen vor dem Feuer von unten sicher zu sein. Aber schon 600
Meter hoch bekommen der Flieger und sein Kamerad ein Gefühl von Ruhe,
das dann mit jeden weiteren hundert Metern zunimmt. Nach einer Weile
stieg die zweite Taube auf und folgte der Spur der ersten. --

Ein deutscher Flieger in Bapaume hat mir später mancherlei von seinen
Erfahrungen erzählt. Er braucht gewöhnlich dreiviertel Stunden, um
in eine Höhe von 2000 Metern zu gelangen, und erst wenn er so hoch
gekommen ist, fliegt er über die französischen Linien. Die Aussicht
ist brillant. Er hat die Landschaft, in der der Kampf ausgefochten
wird, direkt unter sich. Bei klarem, schönem Wetter sieht er alles, die
marschierenden Truppen, die Munitionskolonnen und die Trainwagen, auch
wenn sie mit Laub gedeckt sind. Er sieht die Artilleriestellungen, wenn
sie auch noch so gut in Hecken und Büschen versteckt sind; ja er sieht
auch einzelne Reiter und Wanderer auf den Landstraßen.

Aber noch anderes sieht er auf seiner luftigen Fahrt: das Feuer und
die Rauchwolken aus den deutschen und französischen Kanonen, die
Niederschläge und Explosionen. Es donnert und blitzt unter ihm von
allen Seiten, und nicht genug damit: die Franzosen richten ihre
Abwehrkanonen gegen ihn, um seine Flugmaschine zu zerstören und ihn
zu töten. Ein Schrapnell nach dem andern krepiert in seiner Nähe. Er
ist in ungeheurer Spannung, das gestand er gern zu. Noch war er nicht
verwundet worden, aber die Flügel seines Aeroplans zeigten mehrere
Schrapnellöcher, die mit kleinen Pflastern ausgebessert waren. Er hört
die Maschinengewehre und die Gewehre knattern und weiß, daß sie auf ihn
gerichtet sind, und daß er mit dem Fernrohr von allen Seiten beobachtet
wird. Wenn er dies ewige Donnern hört und weiß, daß er jeden Augenblick
getroffen werden und fallen kann, muß er sich zusammennehmen, um nicht
seine Kaltblütigkeit zu verlieren, denn in einer solchen Situation
geben auch die stärksten Nerven nach.

[Illustration: Roter-Kreuz-Wagen bei Rouvroy.]

Er tut seine Pflicht, er darf nicht nachgeben. Die Nervenspannung kann
er nicht überwinden, denn er ist ein Mensch. Aber er kehrt nicht um,
bevor er seinen Auftrag ausgeführt und erfahren hat, was er wissen
will. Seine Aufmerksamkeit ist aufs höchste angespannt, er sieht
und hört alles, nichts entgeht ihm. Er bemerkt auch schon auf weite
Entfernung den französischen Aeroplan, der auf ihn lossteuert. Aber er
ändert seinen Kurs nicht. Sie kommen sich immer näher. Keiner denkt
daran, auszuweichen. Ein Zuschauer muß sich sagen, sie gehen einer
unvermeidlichen Katastrophe entgegen, sie gehen ins Verderben. Aber so
weit setzen sie ihren Flug doch nicht fort, denn bei einem Zusammenstoß
stürzen sie beide herunter und finden den Tod, und das betrachtet
man auf beiden Seiten als unnütz und unpraktisch. Der eine weicht
daher rechtzeitig aus. Der Franzose ist oft mit einem Maschinengewehr
bewaffnet, das für seinen deutschen Kollegen bestimmt ist. Daher geht
der Deutsche mit Hilfe eines hastigen Griffs im rechten Augenblick
entweder unter oder über seinen Gegner hinweg. Kommt er unter ihn,
so wird das Maschinengewehr, das nicht nach unten schießen kann,
unschädlich. Steht er über seinem Gegner, dann erhält er einen Schutz
durch den leichtgepanzerten Boden des Aeroplans. Die Hauptsache ist,
daß er nicht in derselben Ebene wie der andere bleibt. Aber es kann
sein, daß auch der Franzose aufsteigt, und daß ein Wettstreit entsteht,
sich in der Höhe zu überbieten. Oft umkreisen sie sich lange wie ein
paar spielende Eintagsfliegen, nähern sich einander, trennen sich,
verfolgen und schießen, weichen aber immer einem Zusammenstoß aus. Es
ist eine unbeschreibliche Spannung, und unterdes donnern unten die
Kanonen und belauern die Soldaten sich in ihren Schützengräben.

[Illustration: Sanitätskraftwagen in Sedan.]

[Illustration: Verwundetentransport in Sedan.]

Wenn alles normal geht, kann der Flieger drei Stunden in der Luft
bleiben. Hat er seine Aufgabe ausgeführt, so fliegt er nach der
deutschen Seite zurück, hält den Motor an und gleitet in vier Minuten,
die jedoch unendlich lang erscheinen, herab. Er geht im Gleitflug
herunter und kann unter gewissen Verhältnissen landen, ohne wieder den
Motor in Gang zu setzen. Mit einem Gefühl des Behagens setzt er die
Füße wieder auf das feste Land. Wirkliche Ruhe hat er jedoch selten,
denn gerade die Fliegerstationen werden von feindlichen Bombenwerfern
gern aufgesucht.

Die französischen Flieger steigen oft ohne Beobachter auf, um mehr
Bomben mitnehmen zu können. Ist der Apparat mit zwei Personen belastet,
so können nur drei Bomben mitgenommen werden, sonst sechs oder mehr.
Eine Bombe wiegt 10 Kilogramm und ist einen halben Meter hoch. Die
Treffsicherheit richtet sich nach der Übung. Die meisten Bomben richten
keinen Schaden an. Am häufigsten werden Pferde getroffen. Als ich in
Bapaume war, flog ein Flieger über ein Biwak in der Nähe. Fünf Mann
hielten es für ratsam, unter einem schwer belasteten Bagagewagen Schutz
zu suchen. Aber der Wagen wurde getroffen, und von den Leuten fanden
sich nur noch Fetzen vor, als Hilfe anlangte.

Ich habe schon früher von der unerhört wichtigen Rolle gesprochen, die
die Flugmaschinen in diesem Krieg gespielt haben, und daß sie während
der ersten Monate des Kriegs immer mehr verfeinert und vervollkommnet
worden sind. Mein Gewährsmann in Bapaume glaubte behaupten zu können,
daß derjenige, der die besten Flugmaschinen und die geschicktesten
Flieger hat, in einem Stellungskrieg gewinnt, einem wirklichen
Festungskrieg, wie er jetzt an der Westfront ausgefochten wird.



26. Deutsches Sanitätswesen im Felde.


Ich habe mich bei meinem Besuch an der Front oft bei den Verwundeten
aufgehalten und werde auch weiter noch manchmal auf sie zurückkommen.
Es ist daher vielleicht an der Zeit, einen kurzen Überblick über System
und Organisation des deutschen Sanitätswesens im Felde zu geben.

Geographisch hat man zwischen zwei großen Gebieten zu unterscheiden,
dem Operationsgebiet, in dem die kämpfenden Armeen sich befinden, und
dem Etappengebiet, durch das die Verbindung mit der Heimat hergestellt
wird.

Jede Truppe hat ihr Truppensanitätspersonal; seine Aufgabe ist es,
für ihr Wohlbefinden zu sorgen, ihre Hygiene zu beaufsichtigen,
sie vor verdorbenen Nahrungsmitteln zu bewahren, das Brunnenwasser
zu untersuchen usw. So ist es Sache des Regiments-, Bataillons-
und Abteilungsarztes, sowohl die allgemeine Gesundheitspflege zu
überwachen, als auch die erste Hilfe im Felde zu leisten. Wenn die
Truppe in den Kampf geht, ist es Pflicht des Truppenarztes, einen
Truppenverbandplatz auszuwählen und einzurichten.

Jedes Armeekorps hat drei Sanitätskompagnien, und diese
richten unmittelbar hinter der Feuerlinie die drei sogenannten
Hauptverbandplätze ein. Jede der drei Sanitätskompagnien verfügt
über acht oder neun Ärzte, eine große Anzahl Krankenträger,
Sanitätssoldaten, Apotheker usw., alle unter der Bezeichnung
»Sanitätspersonal« zusammengefaßt. Jede Sanitätskompagnie hat
acht zweispännige Krankenwagen, die mit Arzneimitteln, Bahren und
Verbandzeug versehen sind.

Jedes Armeekorps hat zwölf Feldlazarette, die an geeigneten Stellen
hinter der Front eingerichtet werden. Sie müssen an möglichst
geschützte Orte gelegt werden und sind darauf eingerichtet, auch wenn
die Front vorrückt, dort zu bleiben. Von den Truppenverbandplätzen und
den Hauptverbandplätzen kommen die Verwundeten in das nächste fertige
Feldlazarett.

Dieses hat seine eigenen Wagen und eine vollständige
Lazarettausrüstung, als da sind Matratzen oder leere Säcke, die mit
Stroh gefüllt werden können, Kissen, Decken und Laken, Hemden und
andere notwendige Krankenkleidung, Porzellangeschirr und vieles
andere. In den Feldlazaretten werden die ersten chirurgischen
Eingriffe vorgenommen mit Ausnahme von solchen, die sofort und unter
freiem Himmel geschehen müssen, z. B. die Stillung von Blutungen aus
offenen Wunden. In den Feldlazaretten ist das Personal durch und
durch militärisch, da gibt es keine Schwestern und überhaupt keine
Freiwilligen.

An der Spitze des Sanitätswesens jedes Armeekorps steht der Korpsarzt;
er ist Chef der Truppenärzte, der Sanitätskompagnien und Feldlazarette.
Zur Seite hat er einen beratenden Chirurgen, gewöhnlich einen
Universitätsprofessor oder Dozenten, der auch die Feldlazarette
inspiziert.

Der Korpsarzt verfügt auch über einen beratenden Hygieniker, dies ist
gewöhnlich ebenfalls ein Universitätslehrer, der alle verdächtigen
Fälle von ansteckenden Krankheiten zu prüfen und alle notwendigen
Vorsichtsmaßregeln gegen den Ausbruch epidemischer Krankheiten zu
treffen hat. Er führt ein bakteriologisches Laboratorium mit sich und
muß jeden einzelnen Fall von Typhus, Ruhr, Dysenterie und ähnlichen
Krankheiten untersuchen, nachforschen, woher der Kranke gekommen
ist, ihn isolieren und den Ansteckungsherd auszurotten versuchen. In
gewissen Fällen kann er die Einrichtung eines Epidemiekrankenhauses im
Etappenbereich anordnen. Ein solches ist z. B. in Attigny bei Vouziers.

Die Leichtverwundeten, die sich nicht an das Feldlazarett zu wenden
brauchen, wandern an einen sogenannten »Leichtverwundeten-Sammelplatz«
und begeben sich von dort an einen Etappenort und weiterhin zu Fuß
oder in leeren Güterwagen nach Hause. Sobald ihre Wunden geheilt sind,
kehren sie zu ihrem Regiment zurück.

Das Feldlazarett wird nach einiger Zeit durch eine
Kriegslazarettabteilung abgelöst, die nur aus Personal, Arzt,
Sanitätssoldaten und freiwilligen Assistenten besteht. Jedes Armeekorps
verfügt über eine solche Abteilung von etwa dreißig Ärzten und der
entsprechenden Anzahl übrigen Personals.

Das Feldlazarett wird so durch das Vorrücken der Truppen in ein
Kriegslazarett verwandelt, oder mit andern Worten: wenn das
Feldlazarett mit den Truppen vorrückt, wird sein Platz von der
Kriegslazarettabteilung eingenommen. Geht das Vorrücken, wie bei meinem
Besuch, langsam, so tritt keine Veränderung ein, und das Personal hat
verhältnismäßig wenig zu tun.

Die Kriegslazarette liegen gewöhnlich in kleinen Dörfern, oft dreißig
oder vierzig Kilometer von der Eisenbahn. Ihre Aufgabe ist, die
Schwerverwundeten weiter zu behandeln, die das Feldlazarett verlassen
haben, und sie dann nach den Etappenlazaretten zu befördern und
nach Orten wie Sedan, die in regelmäßiger Eisenbahnverbindung mit
der Heimat stehen. Der Transport der Verwundeten geschieht nicht
nur zu Fuß und in leeren Lastwagen, sondern auch durch Kraftwagen
der Krankentransportabteilung, unter denen man Omnibusse aus allen
möglichen Städten findet, sowie Lastwagen mit Namen bekannter Fabriken
und Geschäfte. Sie können bis zu zehn Betten mit sich führen, und
kommen Leichtverwundete in Frage, so kann ein einziges Auto fünfzig
Mann befördern, aber dann sitzen sie auch dicht zusammengepfercht und
sogar auf dem Dach. Sie fahren nur nach den Etappenorten; von da geht
es auf Eisenbahnen, Kanälen oder Flüssen weiter.

Die ganze Etappenlinie entlang sind an geeigneten Punkten Verband-,
Verpflegungs- und Erfrischungsstationen eingerichtet, wo Schwestern,
Krankenwärter und Ärzte von Wagen zu Wagen gehen, um die Patienten
zu untersuchen und diejenigen herauszufinden, die nicht mehr weiter
können. Daheim werden die Verwundeten in die Lazarette geschickt oder
in Häuser, die im Krieg in Lazarette umgewandelt sind. Viele dürfen
auch direkt in ihre Heimat fahren. Von der Front bis in die Heimat
gilt der Hauptgrundsatz: Platz, Platz, Platz! Deswegen beeilt man sich
soviel wie möglich, die Verwundeten loszuwerden, um für neue Scharen
Raum zu bekommen. Jeder Sanitätswagen, der zum Train gehört, ist
genau in Fächer und Schubkästen eingeteilt, so daß jedes Ding seinen
bestimmten Platz hat und leicht zu finden ist. Ebenso mustergiltig und
genau ist schon in Friedenszeiten die Zusammensetzung und Ausrüstung
der Lazarettzüge bestimmt. Die eisernen Krankenbettstellen stehen
bereit; man hat nur die Bänke und Gestelle aus den Wagen dritter Klasse
herauszunehmen und dafür die eisernen Bettstellen festzuschrauben. Man
weiß, wie viele Matratzen, Kissen und Decken für jeden Wagen gebraucht
werden. In den Verband- und Apothekerwagen ist alles so genau geordnet,
daß der Arzt seine Jodtinktur, sein Chinin, sein Stück Heftpflaster
oder seine Sicherheitsnadel mit verbundenen Augen finden könnte. Alles
ist nach einem Schema eingerichtet. Wenn ein Anfänger sich nicht
sofort zurechtfindet, so braucht er nur den gedruckten Schlüssel zu
benutzen, der für die Tausende von deutschen Lazarettzügen gilt. Man
hat über die minutiöse Gründlichkeit der Deutschen in allen Dingen
gespöttelt und hat sie Pedanten genannt. Nun zeigt sich, wozu diese
Pedanterie gut ist! Alles geht wie ein Uhrwerk, und niemand braucht
zu suchen oder zu fragen. Und diese in Friedenszeiten geschaffene
Ordnung herrscht überall! Deshalb ziehen die Deutschen nicht in den
Krieg wie schlaftrunkene und aufgestörte Träumer, sondern als auf alles
vorbereitete und ausgebildete Kämpfer, sei es, daß ihre Pflicht sie in
Reih' und Glied oder an den Operationstisch ruft.

Die deutschen Soldaten haben ein wahres Grauen davor, in die Hand
französischer Ärzte zu fallen, sie sterben lieber! Wenn Gefangene und
Verwundete nach Kriegsschluß ausgetauscht werden, werden unparteiische
Richter in der medizinischen Welt urteilen können, auf welcher Seite
die sorgsamere Pflege und die größere Menschenliebe zu finden waren. In
mehr als einer Beziehung hat dieser Krieg die Ohnmacht und Nichtigkeit
aller Konferenzen und Übereinkünfte in Genf, Haag und andern Orten mit
Namen von einem jetzt leeren und trügerischen Klang dargelegt.



27. Leben an der Front.


Am 1. Oktober machte ich in Gesellschaft des prächtigen Chefs
einer Feldfliegerabteilung, Hauptmann H. von Chamier-Glisczinski,
einen Ausflug an die Front. Er holte mich in seinem Auto ab, und
in wahnsinniger Fahrt ging es nach Somme Py im Südwesten. Vorher
hielten wir jedoch eine Weile bei einer Flugstation, wo der Hauptmann
dienstlich zu tun hatte. Während wir dort standen, kam eine Taube in
herrlichem Gleitflug herabgeschwebt. Sie kam in größter Eile, wie es
schien, und ihre hellen, leichten Flügel hoben sich scharf von dem
hellblauen Himmel ab. Sie kam gerade auf uns zu, und man hatte das
Gefühl, einen Schritt beiseite treten zu müssen, um nicht von der einen
Flügelspitze getroffen zu werden. Als sie dem Erdboden nahe war, schien
sie wieder aufsteigen zu wollen. Aber diese Bewegung geschah nur, um
den Stoß bei der Landung zu mildern, dann rollte sie ein Stück und
hielt auf der Wiese.

Der Flieger und sein Kamerad begleiteten uns auf der weiteren Fahrt.
Und wieder entrollte sich vor uns das Bild des bunten Soldatenlebens
unmittelbar hinter der Front, wie ich es so oft schon gesehen hatte. Es
war heute nicht so schwer, vorwärtszukommen, denn jetzt am Tage hielten
sich die meisten Truppen still und versteckt. Hier und da brannten
kleine Feuer im Schatten der Bäume; man kochte und trank seinen Kaffee,
rauchte seine Pfeife und sonnte sich auf umgestürzten Getreidegarben.
Die Proviantwagen mit ihren weißen und gelben Plandächern waren oft
mit Laub bedeckt, um den französischen Fliegern nicht allzusehr in
die Augen zu stechen. In Somme Py war wenig zu sehen. Fast das ganze
Dorf war niedergebrannt und zerstört; nur rauchgeschwärzte, nackte
Mauern standen da. Unsere Fahrt ging weiter, und nun sahen wir die
gutversteckten Feldküchen, die Sanitätskompagnien mit ihren Wagen,
Ärzten und Krankenträgern, sowie die sogenannte Gefechtsbagage, d. h.
alles, was die in den Schützenlinien liegenden Soldaten an Munition,
Werkzeugen, Kleidern, Proviant und anderm brauchen.

Da, wo links von der Straße vier Feldhaubitzen aufgestellt waren,
ließ Hauptmann Chamier halten und das Auto im Schatten eines Baumes
unterstellen, denn von hier aus war es nicht ratsam, weiterzufahren,
da das Automobil die Aufmerksamkeit der französischen Beobachter auf
sich ziehen konnte. Wir stiegen daher aus und machten eine kleine Runde
um die Batterie, die eben bei der Arbeit war. Die Haubitzen wurden
gerade für die nächste Salve geladen, und ich benutzte die Gelegenheit,
ein Bild davon zu skizzieren. Die Batterie war gut maskiert und mit
kleinen Wällen von Erdschollen, Steinen und Sandsäcken eingefaßt; jede
Kanone außerdem mit einer Schutzplatte versehen, die wenigstens für
Schrapnells und Gewehrkugeln undurchdringlich sein muß. Das Feuer war
auf das 4050 Meter entfernte Dorf Souain gerichtet; es war schon so
gut wie zusammengeschossen, und was noch übrig war, stand in Flammen.
Von dem Beobachtungsstand aus, auf den wir uns später begaben, konnte
man mit scharfen Fernrohren die Wirkung der Granaten beobachten. Wenn
ein Haus getroffen ist, steigt eine dunkle Säule von Gasen, Staub
und Erde auf, und bald verraten Flammen und Rauch, daß die Granaten
das Haus oder mehrere angezündet haben. Wer an diese Dinge nicht
gewöhnt ist, betrachtet sie unwillkürlich mit einem gewissen Respekt.
Vermutlich steigt der Respekt sogar mit der Gewohnheit. Die Offiziere
scheinen vollkommen gleichgültig, aber das ist, glaube ich, meist
nur Selbstbeherrschung; der Führer darf der Mannschaft seine Gefühle
nicht verraten, er muß vollkommen ruhig sein oder scheinen. Aber es
muß auch die stärksten Nerven angreifen, lange im Feuer zu liegen.
Diese Batterie hier war achtzehn Tage auf demselben Platz, ohne von
französischen Fliegern entdeckt worden zu sein.

Die Granate ist mit Pikrin gefüllt, einem Sprengstoff, der noch viel
stärker ist als Dynamit. Beim Auftreffen explodiert die Ladung und
verursacht eine furchtbare Verwüstung. Der Geschoßzylinder zerspringt
dabei in messerscharfe Scherben und verursacht böse, schwer zu heilende
Wunden. Der Zünder des Schrapnells wird dagegen auf Zeit eingestellt,
so daß er z. B. neunzehn Sekunden nach Abfeuerung des Schusses, je nach
der Entfernung, das Geschoß zur Explosion bringt. Auch sein Zylinder
ist mit Pikrin gefüllt und dazu noch mit etwa vierhundert kleinen,
runden Bleikugeln, die in einem schweifförmigen Strahl oder in einem
Kegel sich über das Ziel verstreuen.

Von der Batterie aus wanderten wir zu Fuß durch die Allee und hielten
uns getrennt und im Schatten der Bäume. Einen sicheren Schutz bot
die Allee nicht, denn sie war hier und da unterbrochen. Wir gingen
fünfhundert Meter südlich bis zu dem Beobachtungsstand, von dem aus das
Feuer telephonisch geleitet wurde und die vorderste französische Front
beobachtet werden konnte. Der Platz hieß Ferme- --. Das erste, was
ich sah, war etwas Baumähnliches, das sich über das umgebende Gebüsch
erhob. Es war ein Mast von der Stärke und Höhe einer Telegraphenstange;
eine Stiege führte hinauf zu einer kleinen Plattform und dem Sitz für
einen Beobachter, der nebst seinem Fernrohr unter Laubzweigen verborgen
war.

Am Ziel angelangt, wurden wir von nicht weniger als drei Obersten
empfangen, von denen jedoch zwei nur zufällige Gäste waren,
und von einigen Offizieren. Einer der Obersten namens Fischer,
Brigadekommandeur der Feldartillerie, ein heiterer, gemütlicher Herr,
hatte gleich mir Asien bereist.

Die Offiziere wohnten hier Tag und Nacht und hatten sich unter der
Erde häuslich eingerichtet, da der Platz von dem französischen Feuer
bestrichen wurde. Eine Treppe führte in eine Grottenwohnung von zwei
kleinen, dunklen Zimmern hinab, die von einer Petroleumlampe erleuchtet
und von einem kleinen, eisernen Kamin erwärmt wurden, der jetzt munter
brannte. Auf einem Wandtisch lagen Toilettesachen, Fernrohre, Karten,
Instrumente und Revolver in lustiger Unordnung. Im Schlafzimmer waren
die Betten auf dem Erdboden dicht nebeneinander ausgebreitet. Man darf
nicht allzu empfindliche Nerven haben, wenn man dort unten schlafen
soll. Aber doch war es wenigstens ein Zufluchtsort, wenn der Platz
starkem Feuer ausgesetzt war; gegen Granaten sei er zwar nicht ganz
geschützt, sagte man mir, wohl aber gegen Schrapnells. Auch ihre
Mahlzeiten nahmen die Offiziere gewöhnlich hier ein, um in Ruhe essen
zu können.



28. Die Feld-Telephonstation.


Einige Schritte davon entfernt besuchten wir die Telephonstation,
die in dem gemauerten Keller eines im übrigen zusammengeschossenen
Hauses eingerichtet war. An den Wänden dieser unterirdischen Kammer
war eine ganze Reihe Telephonapparate befestigt; davor saßen einige
Offiziere und Soldaten auf Wandbänken. Solange ich unten war, klingelte
es ununterbrochen in mehreren Telephonen zu gleicher Zeit. Personal
mußte also immer da sein, um zu antworten. Die Station stand mit der
ganzen vierten Armee durch ihr Oberkommando in Verbindung, ebenso
mit dem Großen Hauptquartier. Ja, man konnte sogar jede Verbindung
mit Deutschland erhalten, obgleich natürlich Privatgespräche nicht
zugelassen waren. Zwei junge Flieger, Graf Rambaldi und Leutnant
Bürger, waren eben von einer Erkundung der französischen Stellungen
zurückgekehrt und berichteten ungemein klar und sicher über das, was
sie gesehen hatten. Rambaldi stand lange, den Telephonhörer in der
einen, seine Karte mit den eingezeichneten Beobachtungen in der andern
Hand, und sprach mit einem Offizier des Oberkommandos, der das gleiche
Kartenblatt vor sich hatte und sicher auch Bleistift und Notizbuch.
Der Rapporteur sagte z. B.: »550 Meter nordwestlich von X. sah ich
eine Artilleriestellung von wahrscheinlich nur zwei Kanonen. Auf der
Straße, die westlich davon nach Y. führt, war eine stillstehende
Kolonne von acht Wagen; konnte nicht unterscheiden, ob Munitions- oder
Proviantkolonne. Die Batterie, die gestern in dem Tal südlich von
Z. stand, ist heute verlegt worden; wohin? ist im Augenblick nicht
festzustellen.«

Durch solche Erkundungen bekommt das Oberkommando viel Wichtiges zu
wissen und richtet das Artilleriefeuer darnach ein. Die deutsche
Batterie, die die französische bei dem Dorfe Z. beschossen hat, stellt
natürlich das Feuer ein, sobald bekannt wird, daß das Ziel die Lage
geändert hat, was immer während der Nacht geschieht. Die Geschütze
einer französischen Batterie stehen gewöhnlich weit voneinander, teils,
um die Gefahr zu vermindern, teils auch, um sie leichter vor Fliegern
verbergen zu können.

Von dem Beobachtungsplatz aus waren es etwa zwei Kilometer bis zu den
vordersten deutschen Schützengräben, die dreihundert bis fünfhundert
Meter von den französischen entfernt liegen, ja, zuweilen tausend
Meter. Hier liegen nun die feindlichen Soldaten und belauern einander.
Es ist ein Hundeleben in diesen Gräben! Steckt man die Nase über den
Rand hinaus, ist man des Todes. Gestern vormittag 10 Uhr sah man eine
Schar französische Soldaten aus einem nahen Wald herausschleichen, um
sich vorsichtig dem Schützengraben zu nähern. Zwei Salven Schrapnells
wurden auf sie abgegeben. Hundertundfünfzig Mann blieben liegen, die
übrigen zogen sich zurück. Sie bezahlen mit derselben Münze, sobald
sie Gelegenheit dazu haben, und ihre Artillerie steht auf der Höhe,
ebenso ihre Zielsicherheit. Ihre Munition soll dagegen weniger gut
sein; gestern krepierten von sechsunddreißig Granaten nur sieben, alle
übrigen waren sogenannte »Blindgänger«.

Die deutschen Soldaten bewahren sich mitten in Todesgefahr ihre gute
Laune und setzen zuweilen spaßeshalber einen herrenlosen Helm auf
einen Stock und halten ihn in nickender Bewegung über den Rand des
Schützengrabens. Sofort wird er das Ziel des feindlichen Feuers, und
die Soldaten wetten, wie viele Treffer es geben wird!

Übertriebene Reinlichkeit kann in diesen Gräben nicht herrschen, wenn
man auch das Menschenmögliche tut, um allen Schmutz zu entfernen. In
dieser Gegend hatte sich zwischen den beiden Fronten ein Übereinkommen
ergeben, daß bei gewissen Gelegenheiten die Soldaten den Graben
unbehelligt verlassen konnten, aber nur immer ein Mann, unbewaffnet
und in der Richtung auf den feindlichen Schützengraben zu. Der Soldat
brauchte bloß einen Spaten über den Grabenrand zu heben und ihn
dreimal auf und ab zu schwingen. Nach diesem Signal konnte er ruhig
seine Promenade antreten und wieder an seinen Platz zurückkehren.
Einmal hatten sich zwei weidende Kühe zwischen zwei in kurzem Abstand
voneinander verlaufende Schützengräben verirrt. In der geheimen
Zeichensprache der Soldaten kam die Übereinkunft zustande, ein
französischer Soldat sollte die eine, ein deutscher die andere Kuh
melken! So geschah es, und dann kehrte jeder ruhig in seinen Graben
zurück. Das beweist, daß auch die französischen Soldaten ihren guten
Humor nicht verloren haben.

Die Schützengräben stehen gleichfalls in telephonischer Verbindung mit
der Beobachtungsstation. Einer unserer Freunde fragte mich, ob ich
hören wollte, wie sich die Bewohner des am weitesten vorgeschobenen
Schützengrabens gerade jetzt befänden. Natürlich wollte ich das! Ich
bekam den einen Hörer in die Hand und wurde zunächst nach allen Regeln
der Höflichkeit dem Major vorgestellt, der im Schützengraben auf den
Anruf antwortete. »Wie geht es, Herr Major?« -- »Danke, gut.« -- »Haben
Sie etwas Besonders zu berichten?« -- »Ja, heute nacht wurden einige
Schüsse gewechselt, aber ohne Verluste.« -- »Wie ist die Stimmung bei
der Mannschaft?« -- »Vortrefflich, wie gewöhnlich.« -- »Haben Sie die
acht Maschinengewehre bekommen, die Ihnen gestern nacht geschickt
werden sollten?« -- »Ja, sie sind da und schon aufgestellt, aber für
eines fehlt der Panzerschutz. Wir behelfen uns bis auf weiteres mit
Erdschutz.« -- »Haben Sie sonst noch Wünsche?« -- »Danke, nein, alles
in Ordnung.«

Der Major sprach ruhig und sicher, aber man hörte doch einen Unterton
von Ernst in seinen Antworten.



29. Am Scherenfernrohr.


Der über der Erde liegende Teil des Beobachtungsplatzes war eine
gemütliche Laube im Gebüsch, und hierhin kamen von Zeit zu Zeit
Boten auf Zweirädern gefahren. Wohlgeschützt und versteckt stand ein
Scherenfernrohr auf seinem Dreifuß, ein anderes auf der Landstraße
vor der Laube. Durch solch ein Fernrohr sieht man so gut wie alles
bis an den Rand des Horizonts, und die vertikale Stellung der Tuben
ermöglicht es, daß der Kopf des Beobachters bei der Arbeit ganz im
Schutz eines Eisenschilds oder einer Mauer bleiben kann. Von unserm
hochgelegenen Platz aus hatten wir eine vortreffliche Aussicht über den
ganzen Bereich der nächsten Schützengräben. Oberst Fischer erklärte
mir alles. Er stellte den Horizontalfaden des Fadenkreuzes auf den
deutschen Schützengraben ein, und dieser wurde ganz deutlich als eine
etwas ungerade dunkle Linie sichtbar. Man sah sogar, wie ein Mann aus
dem Graben herausstieg, wahrscheinlich nachdem er dreimal mit dem
Spaten gewinkt hatte! Dann wurde das Haarkreuz auf den französischen
Schützengraben eingestellt, der etwas schwächer sichtbar wurde, aber
doch vollkommen deutlich.

Noch weiter südlich, 3550 Meter von unserm Beobachtungsplatz, sah man
das brennende Dorf Souain und die Wäldchen, in denen man gut versteckte
Artilleriestellungen vermutete; in Ostsüdost, d. h. links von uns,
deutlich eine Batterie von vier Geschützen, und diesseits von dieser
eine jetzt aufgegebene Artilleriestellung.

Plötzlich rief der Oberst: »Deckung!« Eine französische Flugmaschine,
ein Blériot, näherte sich. Man stellte sich schleunigst unter die
Bäume, um seiner Aufmerksamkeit zu entgehen. Einige Ordonnanzpferde,
die in einem Hohlweg standen, wurden an einen sicheren Platz gebracht.
Der Flieger kam näher. Schwach, aber deutlich hörte man das Surren
seines Motors. Er segelte gerade über unsere Köpfe hinweg. Wird er eine
Bombe werfen oder uns mit Pfeilen überschütten? Es wäre ein guter Fang
für ihn, einen Beobachtungsstand zu zerstören, von dem aus das Feuer
geleitet wird und an dem alle Telephondrähte der Gegend zusammenlaufen.
Ein Zivilkundschafter kann ihn ja signalisiert haben. Aber der Flieger
zog vorüber, es erfolgte keine Explosion, und mit einem Gefühl der
Erleichterung sah man ihn verschwinden. Er suchte ein anderes Ziel für
seine Bomben.

Obgleich es mit großer Gefahr verbunden war, gingen wir noch
zweihundert Meter in der Richtung auf die Schützengräben vor. Das
Gelände senkte sich hier langsam. Wir verfolgten die Straße in
zerstreuter Ordnung und im Schatten der Bäume, und wo Gebüsch war,
hielten wir uns darin. Glücklich kamen wir bis zur ersten Linie
der Reservetruppen für die Schützengräben. In diesen wechselt die
Mannschaft jeden Morgen um 6 Uhr. Die Leute können sich also jeden
zweiten Tag ausruhen. Sie haben sich in die Erde eingegraben, und
ihre Wohnungen sind mit Stangen, Zweigen und Heu gedeckt. Sie waren
am Morgen aus dem Schützengraben gekommen und sollten nun bis Mittag
schlafen. Dann wird exerziert, und bei Dunkelheit kommen die Feldküchen
mit ihren dampfenden Kochtöpfen. Es gab eine ganze Reihe solcher
Reservelager an der Nordseite des Gebüschs.

Niemand riet uns, von hier aus den Weg fortzusetzen, denn dann
wären wir unfehlbar von französischen Beobachtern gesehen und mit
mörderischem Feuer bedeckt worden. Ausgerechnet eine Feldküche, die
sich hier doch nur in der Nacht bewegt, war dieser Tage von einer
Granate getroffen worden und hatte vier Mann verloren. Und jetzt
hatten wir Tageslicht und offenes Gelände vor uns. Vor kurzem erst
waren die deutschen Soldaten bei Einbruch der Dunkelheit plötzlich aus
einem nahegelegenen Schützengraben herausgestürmt und hatten einen
Bajonettangriff unternommen. Der Angriff war zurückgeschlagen worden
und mehrere Deutsche auf dem Platze geblieben. Die Leichtverwundeten
wurden in französische Gefangenschaft geführt. Drei Mann waren so
schwer verwundet, daß sie für verloren galten und liegen bleiben
mußten. Die nächsten französischen Soldaten hatten aber Mitleid mit
den armen Verwundeten und brachten ihnen jede Nacht Speise und Wasser,
auch Zigaretten. Eines Tags kam ein mutiger deutscher Arzt mit einigen
Krankenträgern in die deutschen Schützengräben. Sie führten eine Flagge
des Roten Kreuzes mit sich. Erst knallten einige feindliche Schüsse;
als aber die Franzosen erkannten, was die Absicht war, wurde es lautlos
still; niemand wollte das Rettungswerk stören.

Bei einer andern Reservekompagnie, wo wir uns eine Weile mit den
Feldgrauen unterhielten, war vor einiger Zeit ein Leutnant Johannes
gefallen. Rings um sein Grab stand eine ganze Batterie von Granaten wie
ein Bataillon Kegel, das Kreuz war der König! Auch junge Fichten waren
um den Grabhügel des Leutnants gepflanzt.

Nachdem wir uns ein paar Stunden bei diesen liebenswürdigen, fröhlichen
und tapferen Männern aufgehalten hatten, traten wir den Rückweg nach
der Fliegerstation an, wo die diensthabende Wache dem Hauptmann Rapport
erstatten mußte. Sie äußerte dabei: »Es ist gut, daß die Herren nicht
vor einer Viertelstunde gekommen sind, da kam ein Flieger über die
Station und warf eine Bombe ab, die hier gleich in der Nähe krepierte,
aber ohne Schaden anzurichten.« Zur Erinnerung daran erhielt ich einen
Bombensplitter, den man lieber in der Tasche fühlt als im Körper!



30. Feldgottesdienst.


Sonntagmorgen in Vouziers (4. Oktober). Schon früh um 5 weckte mich ein
Franziskanerbruder, den ich im dortigen Lazarett des Professors Zinser
kennen gelernt hatte. Ich kleidete mich schnell an und in Begleitung
eines katholischen Soldaten, der von Behr bediente, wanderten wir
nach dem Altenheim, in dessen Kapelle der Geburtstag des heiligen
Franziskus mit Messe und Gesang gefeiert werden sollte. Es war noch
nicht Tag, der Mond schien nicht, die Nacht herrschte noch auf der
Erde, ein feuchter Nebel schwebte über Vouziers, und das Steinpflaster
der Straßen war naß. Hier und da brannte ein elektrisches Licht, einsam
gegen die Dunkelheit kämpfend. Ab und zu hörte man eilige Schritte;
es waren die Mönche, die zur Messe eilten, und vor einem Haus mit
irgendeiner militärischen Bestimmung ging eine Nachtwache auf und ab,
sonst war die Straße lautlos still.

Am Ziel angelangt, treten wir in einen kleinen Garten ein, an den der
Säulengang des Heims angrenzt, und sind bald darauf in der Kapelle.
Diese ist schon mit Zuhörern gefüllt. Da sitzen Elisabethschwestern aus
Essen in ihren weißen Schleiern und Vincentiusschwestern aus Hildesheim
in ihren schwarzen Schleiern, die Franziskanermönche haben ihre Plätze
eingenommen, und auf den Emporen sitzen mehrere Soldaten. Ihnen
schließe ich mich an.

Die Heiligenbilder am Altar werden von hohen Lichtern erleuchtet, die
eben angezündet werden; aber die beiden Kandelaber werden noch nicht
benutzt. Es ist draußen noch so dunkel, daß die gemalten Fenster nicht
zur Geltung kommen, da sie nur von innen beleuchtet werden. Man erkennt
kaum die Züge der Jungfrau Maria und der heiligen Helena.

Ein Bruder in weißem, goldgesticktem Ornat, umgeben von vier ebenso
prächtig gekleideten dienenden Brüdern, tritt an den Altar heran. Sie
tragen an langen, feinen Ketten Weihrauchkessel, auf deren glühende
Kohlen einer von ihnen ein wohlriechendes Pulver streut, und leichte,
blaue Wolken steigen bis zu meinem Platz auf dem Chor empor.

Nun beginnt das lateinische Altargebet. Ein Priester singt, und die
Versammelten antworten mit dem immer wiederkehrenden Refrain: »~Per
omnia saecula saeculorum.~ Amen.« »~Oremus~« erklingt es vom Altar, und
aus der Versammlung »~Per omnia saecula saeculorum.~ Amen.«

Dann folgt die Predigt. Der Redner knüpft seine Betrachtungen an das
Leben des heiligen Franziskus. Von der ganzen Erde steigen heute
Gebete zu ihm auf. Die Versammelten können sein Andenken nicht besser
feiern als dadurch, daß sie ihre Pflichten im Dienst der Menschenliebe
erfüllen und die Qualen der Verwundeten lindern.

Die Chorfenster bekommen Farbe. Es tagt draußen. Die Gemeinde singt
ein deutsches Lied zu Ehren des heiligen Franziskus. Ein Bruder
tritt an den Altar heran und klingelt ein paarmal mit einem kleinen
Glöckchen. Ich kann meine Augen nicht von diesen Brüdern und Schwestern
abwenden, die von den Schlachtfeldern und Lazaretten gekommen sind,
und deren Gedanken sich nun so friedlich um den Namen des großen
Heiligen sammeln. Wie sind sie davon ergriffen, wie andächtig machen
sie das Zeichen des Kreuzes. Auf einem stimmungsvollen Gemälde im
Chor gegenüber schaut der Gekreuzigte von der Höhe seines Leidens auf
die knienden Gestalten herab. »~Per omnia saecula saeculorum.~« --
»~Dominus vobiscum.~« -- »~Gratias agimus Domino, Deo nostro.~« --
»~Unus est Deus, unus est Dominus.~« Und das Glöckchen läutet wieder,
und der Weihrauchkessel schwingt in seinen Ketten, und es ist, als
träten die Jungfrau und die heilige Helena aus den Wolken um den Altar
hervor und kämen uns allen näher!

Die dienenden Brüder grüßen sich, indem sie sich gegenseitig die Hände
auf Schultern und Haupt legen. Das Abendmahl wird an die Gemeinde
ausgeteilt, und wieder erklingt der stete Refrain »~Per omnia saecula
saeculorum~«. Und man denkt an all die Tapferen, die draußen in den
Schützengräben sterben, und an die Blüte männlicher Jugend zweier
edlen Nationen, die dem Granatfeuer geopfert wird. Vielleicht waren
die Gedanken der Nonnen und Mönche stärker ergriffen von den unruhigen
Ereignissen, die jetzt die Welt erschütterten, als von dem Frieden,
der den Namen des heiligen Franziskus umschwebte. Sie gedachten all
der Soldaten, die in ihrem Beisein gestorben sind. Es ist schwer, zu
sterben, wenn man jung und stark ist und das ganze Leben noch vor sich
hat! Aber ewige Ehre verdienen die Männer, die sich fürs Vaterland
opfern, und ihr Andenken soll lebendig bleiben »~per omnia saecula
saeculorum~«.

[Illustration: Mörser.

(Vgl. Seite 103.)]

[Illustration: Unterirdische Hütten zur Deckung der Ersatztruppen.

(Vgl. Seite 104.)]

Nun werden die Kandelaber auf dem Altartisch angezündet, aber draußen
hat jetzt der Tag gesiegt, und das Gesicht der heiligen Helena
erstrahlt hell und rein vor aller Augen. Ihre Lippen umspielt ein
Lächeln voller Milde und Güte und sie, die Freundin der Wehrlosen und
Leidenden, scheint mit Freude so viel würdige Schwestern und Brüder um
sich zu sehen, die ihre besten Kräfte den verwundeten und sterbenden
Soldaten weihen.

Der Gottesdienst war zu Ende, und mein Franziskanerbruder führte mich
in den Säulengang, wo die Schwestern Kaffee mit feinem Weizenbrot und
Marmelade boten. Hier verbrachten wir bis zum Abschied eine angenehme
Stunde.

½10 Uhr fand der protestantische Feldgottesdienst statt. Das Gotteshaus
war eine Straßenecke unter freiem Himmel, ein sichrerer Platz als
das offene Feld vor der Stadt, wo eine große Menschenmasse immer ein
dankbares Ziel für die Bomben der französischen Flieger abgäbe. Einige
hundert Soldaten und etwa fünfzig Offiziere waren zur Stelle. Ein
Oktett der Regimentsmusik blies einen Choral -- wir kannten ihn nur zu
gut: »Ein' feste Burg ist unser Gott« -- und die Kriegsleute stimmten
mit starken, frischen Stimmen ein.

Dann trat auf der untersten Stufe einer Steintreppe der junge Pastor
Marguth aus Hessen hervor. Er trug einen schwarzen Rock und um den
Arm eine weißviolette Binde wie alle Geistlichen der Feldarmee. Er
sprach im Anschluß an den Römerbrief über die Kraft des Evangeliums,
und kam damit auf die welthistorischen Ereignisse, die aller Gedanken
erfüllten. Er sprach von der unwiderstehlichen Kraft eines Volkes,
das in solchen Zeiten einen Herrscher hat, der in Wahrheit ein Führer
ist. Der Kaiser habe alles getan, um den Krieg zu vermeiden; er habe
den Frieden gewollt, aber da er zum Krieg gezwungen worden sei, habe
er auch gewußt, wo sein Platz sei, und was das Volk von ihm verlangen
konnte. Und im Vertrauen auf dieses Volk habe er nicht gezaudert, für
Deutschlands Existenz und Zukunft loszuschlagen.

Pastor Marguth sprach vom Pflichtgefühl des Volkes als der vornehmsten
Bedingung des Siegs. Das Volk wisse, was es zu tun habe, wenn die
Pflicht es ruft. »Wir müssen Gott danken für seine Gnade, daß er uns
jetzt in der Stunde unserer Heimsuchung in unserer schwersten aber auch
größten Zeit so einig und stark gemacht hat.« Und zuletzt sprach er von
der Ausdauer der Soldaten und von ihrer Entschlossenheit, sich erst mit
dem letzten Mann und dem letzten Pferd zu ergeben.

Es war eine einfache Beredsamkeit ohne Redeblüten, ohne Phrasen;
der Geistliche sprach freimütig mit froher Zuversicht und
unerschütterlicher Siegesgewißheit, und die deutschen Worte weckten
ein klingendes Echo an den französischen Häusern. »Vater unser, der du
bist im Himmel ... Der Herr segne euch und behüte euch ...« Schließlich
wurde wieder ein Choral gesungen, mit so brausender Kraft, als sei es
am Tag vor dem siegreichen Einzug durch das Brandenburger Tor. Hier
standen nun diese breitschultrigen, kraftvollen und jugendfrischen
Germanen, und unter den Helmen flammten Augenpaare, die vielleicht
morgen in den Schützengräben erlöschen sollten! Es überlief mich kalt,
als ich den Choralgesang erschallen hörte und dachte, diese Männer
verstehen die Kunst, zu sterben! Aber ihr Volk wird nie sterben, und es
ist schade um die Mächte, die sich zu ihrem eigenen Untergang vereinigt
haben. Wieviel Blut muß noch fließen, bis sie einsehen, daß ihr Ziel,
Deutschlands Vernichtung, unerreichbar ist!

Die Feldprediger sind ein Geschlecht für sich. Immer froh, munter,
aufopfernd und freimütig. Sie sind die Seelsorger der Soldaten, den
Lebenden predigend, die Sterbenden tröstend und erquickend. Die
Konfession spielt keine Rolle mehr. Protestantische und katholische
Priester verkehren wie Brüder. Alle haben _einen_ Gott, und alle haben
_ein_ Ziel: die Wohlfahrt des Vaterlandes. Oft sieht man Priester zu
Pferde dahergesprengt kommen, das Kreuz um den Hals, den schwarzen
Filzhut auf dem Kopf, die weißviolette Binde am linken Arm des
Feldrocks. Nicht selten sind sie mit dem Eisernen Kreuz geschmückt.
Dann haben sie wohl mitten im Granatfeuer von der Auferstehung und
dem Leben gesprochen oder mit unerschütterlicher Ruhe gepredigt,
während feindliche Flieger über ihnen schwebten. Ja, vielleicht sind
sie Sonnabend nachts in Kälte und Regen zwischen Büschen und Gras
hindurchgekrochen, um an die Schützengräben zu gelangen und ihren
Bewohnern am Sonntag Gottes Wort zu verkünden.

Am Abend desselben Tages wurde in der Kirche zu Cernay Gottesdienst
abgehalten. Man hatte an Licht sparen müssen, und auf dem Altar
brannten nur ein paar Talgkerzen. Aber es war Vollmond und klares
Wetter, und der Mondschein sickerte durch die Fenster herein und
erleuchtete das Schiff und die Säulen und die wetterharten Männer, die
aus ihren Schützengräben oder von ihren Troßwagen gekommen waren. Von
Zeit zu Zeit schlugen französische Granaten in die Stadt ein, und es
donnerte und krachte von Explosionen und einstürzenden Häusern. Aber
der Priester ließ sich nicht stören. Er schien den Krieg draußen nicht
zu merken, sondern sprach, ohne mit der Stimme zu zittern, vom Frieden
in Gott und von den Pflichten gegen das Vaterland. Die Soldaten hörten
mit unerschütterlicher Ruhe zu, und als der Choralgesang schließlich
verklang und die Lichter ausgelöscht wurden, zerstreute sich die Schar
in den Gassen, die eigentümlich erleuchtet waren vom Mondschein und vom
Feuer der brennenden Häuser. --



31. Nach Belgien.


Nachdem ich lange genug bei den prächtigen Offizieren von Herzog
Albrechts Armee verweilt hatte, begann ich mich nach neuen Erlebnissen
zu sehnen, und am Vormittag des 8. Oktober entschloß ich mich, zunächst
nach Sedan zurückzukehren. Da um diese Zeit kein Militärzug abging,
benutzte ich auf den Rat des Stationskommandanten, Oberstleutnant
Böhlau, den Postautobus, in dessen Innern zwei Artillerieleutnants
Müller und Fuchs und meine Wenigkeit hinter den hochaufgestapelten
Briefsäcken noch eben Platz fanden. In Sedan nahm mich Oberstabsarzt
~Dr.~ Fröhlich, mit dem ich schon vorher, in Sedan selbst und in
Vouziers, zusammengewesen war, in einem Lazarettzug mit dreihundert
Patienten, den er nach Breslau zu führen hatte, bis nach Libramont
mit. Dort fragte ich den Stationsvorsteher, ob er mir nach Namur
weiterhelfen könnte.

»Nicht ganz bis dahin, aber bis Jemelle. Und sind Sie erst dort, so
wird sich wohl leicht eine Gelegenheit zur Weiterfahrt finden.«

»Schön, und wann geht der Zug?«

»Im nächsten Augenblick, aber es ist kein Zug, nur vier
zusammengesetzte Lokomotiven, die aus Jemelle requiriert wurden.«

Ich hatte schon manches Beförderungsmittel benutzt, von den Kamelen in
Takla-makan angefangen bis zu den Rikschas in Kyoto. Aber auf einer
Lokomotive war ich noch nie gefahren, und schon deswegen nahm ich den
Vorschlag mit größtem Dank an.

So verabschiedete ich mich denn von ~Dr.~ Fröhlich und wurde mit
meinem Gepäck von laternentragenden Landsturmleuten über einige
Schienenstränge bis zu den vier Lokomotiven geleitet. Auf der ersten
nahm ich Platz; sie hatte den Tender vorn, und ich hatte daher freie
Aussicht über die Landschaft, die sich nach und nach vor meinen Blicken
aufrollte. Aber kühl und zugig war es, eine dünne Schicht dichten
Reiffrostes deckte das Land, und diesen weißen Schein verstärkte noch
der Mond, der hoch und kalt über der durchfurchten Erde schwebte.

Lokomotivführer und Heizer waren kräftig gebaute, unerschütterlich
ruhige Männer. Ihre rußigen Gesichter verrieten keine Bewegung, keine
Unruhe, aber immer hielten sie den Blick fest auf die Bahn gerichtet,
bereit, die Maschine anzuhalten, sobald sich etwas Verdächtiges zeigen
sollte. Überanstrengt waren sie auch nicht, aber in der letzten Zeit
hatten sie auch leichteren Dienst gehabt als früher, wo sie oft
achtundvierzig Stunden, ja manchmal sechzig Stunden ununterbrochen
tätig waren! Die Schüsse der Franktireurs hatten aufgehört, und man
konnte mit einem Gefühl von Sicherheit fahren, was aber Vorsicht nicht
unnötig machte.

Die Nacht ist lautlos still. Wir begegnen langen Militärzügen, die
wunderlich aussehen in der ungewohnten Perspektive; und auf den
Bahnhöfen in Hatrival und Mirwart stehen endlose, leere Güterzüge.
Langsam wird es Tag. Gärten und Wälder erhalten Form, und die
Laubkronen der Bäume heben sich immer deutlicher vom Himmel und von
dem weißen Felde ab. Wir fahren über eine Brücke, die gesprengt,
aber von den Pionieren wieder hergestellt worden ist. Die Landschaft
ist unendlich schön, wellig und hier und da mit Wald geschmückt. Der
Lokomotivführer stellt mir einen kleinen, dreibeinigen Stuhl hin, und
als der Heizer den Ofen öffnet, um Kohlen nachzulegen, lächelt er, als
ich die Gelegenheit wahrnehme, meine Hände zu wärmen.

Forrières! Nun geht die Sonne auf und mit glitzerndem Gold färbt sie
Bäume, Äcker und Wiesen, Häuser und Wagen und die Landsturmleute, die
nicht mehr mit aufgeschlagenen Kragen zu gehen brauchen.

Wir sind in Jemelle und steigen aus. Ich danke für gute
Reisegesellschaft; ein Trinkgeld wird nicht angenommen. Auf dem
Bahnsteig erscheint ein Unteroffizier und fragt, wer ich bin. Er
bekommt meinen Ausweis zu sehen und bittet mich, im Zimmer des
Stationsvorstehers zu warten, bis dieser kommt, es ist ja erst ½7 Uhr.
Drinnen prasselt ein freundlicher Ofen, vor dem ich mich in einen
Lehnstuhl niederlasse und sofort einschlafe.

Nach einer Weile kommt Hauptmann Haaf, der Stationsvorsteher, und weckt
mich, sehr erstaunt darüber, einen wildfremden Menschen im Besitz
seiner Amtsstube zu finden! Aber die Bekanntschaft ist bald gemacht.

»Wann geht ein Zug nach Namur?« frage ich.

»½12 geht ein kleiner Zug Proviantwagen; wenn Sie den benutzen wollen,
lasse ich gern einen Personenwagen anhängen.«

»Natürlich, das paßt ausgezeichnet.« Und dann geleitet mich der
Hauptmann nach einem in der Nähe gelegenen belgischen Restaurant, in
dem ein paar muntere, gesprächige Frauen ein erstklassiges Frühstück
auftischen. Währenddem berichtet der Hauptmann, daß man immerhin noch
nicht ganz sicher vor Franktireurs sei. Vor einigen Tagen war ein
Büchsenschuß auf das Stationsgebäude in Jemelle abgefeuert worden. Man
hatte den Schützen ergriffen und vor das Kriegsgericht gestellt; wie
es ihm ergangen war, wußte man noch nicht. In der Gegend von Houyet
hatte vor kurzem eine Bande Zivilisten einige Deutsche überfallen,
und eine Strafexpedition von hundertunddreißig Mann war gegen sie
ausgesandt worden.

Die Abfahrtsstunde schlägt, und der Zug fährt durch hügeliges Land mit
wohlhabenden Dörfern und auf den Wiesen weidenden Herden. An den Krieg
erinnert nichts als die Landsturmleute, die an der Bahn Wacht halten,
die Eisenbahntruppen, die hier und da arbeiten, und die Militärzüge,
die an den Stationen halten. Auch bei Marloie stand einer, und wir
hielten unmittelbar neben ihm. In einem der Wagen saßen Schwestern vom
Roten Kreuz, und der Zufall wollte es, daß mein Fenster gerade ihnen
gegenüberlag. Einige Schwestern schlummerten, aneinander gelehnt,
andere lasen, die übrigen strickten. Durch das geöffnete Fenster sah
eine der Schwestern heraus. Sie sah lieblich aus in ihrer hellen Tracht
mit dem roten Kreuz am Arm.

»Woher kommen Sie und wohin gehen Sie?« fragte ich.

»Wir sind von Berlin«, antwortete sie, »und sollen nach Sedan.«

»Aber in Sedan ist ja kaum noch ein Verwundeter, die meisten sind nach
Deutschland gebracht worden.«

»Das haben wir gehört, aber es werden wohl bald neue von der Front
kommen. Woher kommen Sie selber?«

»Aus der Gegend südlich von Sedan.«

»Sind Sie Deutscher?«

»Nein, Schwede.« Es war nicht zu umgehen, ich mußte mich der jungen
Dame und ihren Mitschwestern vorstellen. Die Unterhaltung war bald
im besten Gang, und wir waren halbwegs miteinander bekannt geworden,
als mein Zug sachte weiterfuhr. Ich konnte ihnen bloß Glück zu ihrer
menschenfreundlichen Arbeit wünschen und erhielt aus ihrem Fenster
freundliche Abschiedswinke. Damit war diese kleine Idylle zu Ende.

Auf der Strecke zwischen Aye und Hogne machten einige Leute der
Kasseler Eisenbahntruppen Zeichen, daß sie aufsteigen wollten. Der Zug
fuhr langsamer, sie sprangen auf das Trittbrett und fuhren mit Gepäck
und Gewehren mit.

Die kleine Stadt Ciney kann sich eines besonders prächtigen
Stationsgebäudes rühmen, wo der Verkehr lebhafter ist als sonst.
Zuweilen begegnen uns kolossale leere Züge. In den Güterwagen liegen
Stroh und Bänke bunt durcheinander. Vielleicht haben sie Truppen nach
Antwerpen befördert. Oft sieht man bei den Stationen und zwischen
den solid gebauten Steinhäusern der Dörfer gemütliche, gutgepflegte
Küchengärten. In einiger Entfernung von der Bahn erblicken wir
schließlich das Fort Naninnes mit der deutschen Flagge, und dann fahren
wir über die Maas auf einer neuen Brücke, von der man eine Aussicht auf
die alte hat, die in den ersten Kriegstagen gesprengt wurde. Und damit
sind wir in dem bezaubernden, schön gelegenen Städtchen Namur angelangt.



32. Die 42-~cm~-Mörser vor Namur.


Um die etwa nötigen Aufklärungen zu erhalten, wandte ich mich an
einen Hauptmann, einen großen Herrn mit schneeweißem Haar und Bart.
Es stellte sich heraus, das es kein Geringerer war als der Professor
emeritus ~Dr.~ B. Lepsius, der trotz seines hohen Alters mit in
den Krieg gezogen war, ein guter Freund des berühmten schwedischen
Physikers Professor Svante Arrhenius; er hat während meines kurzen
Aufenthalts in Namur wie ein Vater für mich gesorgt.

Nachdem meine Sachen in einem Hotel am Bahnhof untergebracht waren,
machte ich einen Besuch beim Gouverneur, General von Hirschberg, der
nichts dagegen einzuwenden hatte, daß ich eines der Forts besichtigte.
Außer Professor Lepsius begleitete mich Major Friederich vom
Generalstab.

Wir fuhren an die Nordfront und waren bald beim Fort Marchovelette
angelangt, jetzt Fort Nr. ~I~ genannt. Die Deutschen haben alle die
Stadt umgebenden Forts mit römischen Ziffern bezeichnet. Der erste
Eindruck vom Fort Nr. ~I~ ist der, daß die Verwüstung geringer gewesen
ist als bei dem Fort in Port Arthur, wo General Kondratenko fiel; denn
dieses Fort glich, als ich es vor sechs Jahren besuchte, einem einzigen
Schutthaufen. Betrachtet man aber Nr. ~I~ genauer, so erstaunt man über
die unheimliche Wirkung der neuen deutschen schweren Artillerie. Das
Fort hat die Form eines Dreiecks mit einer Spitze nach Nordosten. Sein
Glacis ist mit Stacheldrahtnetzen bedeckt, die zwischen Eisenpfeilern
von einem Meter Höhe ausgespannt sind. Das Netz ist dicht und sein
Gürtel etwa dreißig oder vierzig Meter breit. Innerhalb dieses Gürtels
ist der Graben, der nach außen von der Kontereskarpe, nach innen von
der Eskarpe begrenzt wird. Noch einen Schritt weiter nach innen folgt
ein Wall oder ein kleinerer Graben für Infanteriestellungen und zuletzt
der Kern des Forts mit den Panzertürmen.

In einer Entfernung von zehn oder fünfzehn Metern vor dem
Stacheldrahtnetz sah man das Loch, das ein 42-~cm~-Geschoß in den
Erdboden gegraben hatte; es maß etwa dreißig Meter im Umkreis und war
etwa acht Meter tief. An den fast senkrechten Betonwänden der Eskarpe
und Kontereskarpe sah man die Spuren von gewöhnlichen Granaten, die
strahlenförmig von der Explosionsstelle sich ausbreitende Löcher
hinterlassen hatten. Hier lagen auch Splitter von Sprengbomben
verschiedenen Kalibers. Ein Splitter eines 42-~cm~-Geschosses war
so schwer, daß man ihn nur mit Aufgebot seiner ganzen Kraft bewegen
konnte! Dafür wiegt aber auch ein solches Geschoß in ganzer Gestalt
mehrere hundert Kilo! Ein kleiner Splitter, den ich mitnahm, zeigte,
daß sich die Masse um ein Viertel ihrer ursprünglichen Dicke ausgedehnt
hatte.

Alles, was diese Riesenmörser betrifft, wird geheim gehalten. So viel
aber erfährt man doch, daß diese unerhört schweren Geschosse mehrere
Kilometer hoch geschleudert werden und meilenweit vom Ausgangspunkt
entfernt einschlagen! Man schießt sich mit den großen Mörsern sehr
sorgfältig ein und muß doch darauf gefaßt sein, daß ein Schuß oder
ein paar ihre Wirkung verfehlen. Man stellt aber den Schuß mit einer
solchen Sicherheit ein, daß die Fehlerquelle nur gering ist. Bevor
man die Schüsse abgibt, werden die genauesten Berechnungen und
Beobachtungen angestellt. Während des Einschießens sind Beobachter in
geeignet gelegenen Wäldchen vor der Front aufgestellt, die telephonisch
mit der Bedienung verbunden sind und melden, in welchem Verhältnis
zum Ziel der Aufschlag erfolgt. Wenn ein Ding von der Größe dieser
Geschosse aus einer Höhe von einigen Kilometern herabkommt, kann ja
kein von Menschenhänden errichteter Bau widerstehen!

Im Fort Nr. ~I~ konnte man auch die Wirkung der Geschosse sehen. Ein
Schuß hatte den ringförmigen Panzer der Kuppel des größten Panzerturms
getroffen, war durch diesen wohl einen halben Meter dicken Panzer
hindurchgegangen wie durch Butter und hatte dann noch fünf Meter Beton
durchschlagen. Durch einen sinnreichen Mechanismus ist das Geschoß
so eingerichtet, daß es erst ein paar Sekunden nach dem Auftreffen
explodiert. Es hat, wie die Deutschen sagen, einen Zünder mit
Verzögerung. Daher ist seine Wirkung so furchtbar.

Kruppsche Ingenieure waren zurzeit damit beschäftigt, die Forts
von Namur und Lüttich wieder instand zu setzen, und bedeutende
Arbeitermassen hatten vollauf damit zu tun. Durch die Instandsetzung
der eroberten Befestigungen verstärken die Deutschen ihre strategische
Stellung und können große Truppenkontingente freimachen und in andere
Gegenden schicken.

Welche Wirkung diese schwere Artillerie auf die Besatzung der
beschossenen Forts ausübt, kann man aus der Tatsache ermessen, daß in
einem Fort siebzig Prozent der Verteidiger fielen und dreißig Prozent
schwer verwundet wurden. Unter den Verwundeten war in einem solchen
Falle der tapfere General Leman, der in der Gefangenschaft seinen Degen
wieder erhielt. In einem andern Fort fand man vierzig unverwundete,
aber tote Soldaten. Sie waren offenbar durch die Gase der Geschosse
getötet oder im Betonstaub erstickt, der aufs unheimlichste aufwirbelt
und überall eindringt. Der Luftdruck hatte auch viele gegen die
Kasemattenwände geschleudert; sie wurden mit zerschmetterter Hirnschale
aufgefunden.

Eine der Lehren, die man aus dem jetzigen Kriege ziehen zu
können meint, ist die, daß auch die modernsten Festungen mit den
vorzüglichsten Panzertürmen gegenüber einer Artillerie vom Kaliber der
großen deutschen Mörser ohnmächtig sind. Gerade der Umstand, daß die
Geschosse erst explodieren, wenn sie in die Kasematte eingedrungen
sind, bewirkt, daß die Zerstörung aller Beschreibung spottet. Die
Geschosse wirken erst von oben nach unten durch das Einschlagen selber,
und dann von unten nach oben durch die Explosion. Die 42-~cm~-Mörser
werden in ihre Stellungen auf Eisenbahnschienen befördert, die jedesmal
besonders gelegt werden.



33. »Vandalismus.«


Vom Fort Nr. ~I~ fuhren wir in die Stadt zurück, deren schönste
Partien am Zusammenfluß der Sambre und Maas gelegen sind. Südlich
von der Sambre windet sich eine unendlich malerische Straße zur
Zitadelle hinauf. Von dem prächtigen Grand Hotel Namur-Citadelle, das
auf der Höhe thronte, ist nur noch das Skelett von eisernen Balken
und Ziegelmauern vorhanden. Der Hotelwirt war ein Deutscher, und die
Belgier hatten ihn im Verdacht, daß er beim Anmarsch der Deutschen
seinen Landsleuten Lichtsignale gäbe. Deshalb steckten sie das Gebäude
in Brand. Aber die Aussicht ist noch vorhanden, und sie ist großartig,
besonders auf das Maastal mit seinen zahllosen Villen und Schlössern,
in denen reiche Belgier wohnen oder wohl besser gewohnt haben; denn die
meisten sind infolge der deutschen Okkupation weggezogen.

Die Stadt Namur selbst wurde von den Verheerungen des Kriegs nur
wenig betroffen. Das Rathaus ist eine Ruine, ebenso mehrere Häuser
in der Nachbarschaft; im ganzen sind aber nur etwa zwanzig Häuser
zusammengeschossen. Man hat die Deutschen wegen der Zerstörung
menschlicher Wohnungen, Kirchen, öffentlicher Gebäude und Gegenstände
von kunsthistorischem Wert getadelt. Solche Verluste sind ja an und
für sich beklagenswert, aber weder der Angreifer noch der Verteidiger
nehmen die geringste Rücksicht darauf, wenn es zu siegen oder zu
sterben gilt! Hegt der anrückende Feind, der eine Stadt erobern will,
den Verdacht, daß der Kirchturm der Stadt als Beobachtungsposten
benutzt wird, so schießt er den Kirchturm zusammen. Als die Belgier
den Verdacht gefaßt hatten, daß von Schloß Marche-les-Dames der
Herzogin von Arenberg bei Namur, berühmt wegen seiner kostbaren
Kunstschätze, Signale gegeben würden, steckten sie es in Brand. Wenn
es gilt, das Vorrücken eines Invasionsheeres aufzuhalten oder seine
Verbindungslinien abzuschneiden, scheut der Verteidiger keine Opfer,
wenn auch er selbst in erster Linie den materiellen Verlust erleidet.
Unter den unzähligen Brücken, die die Belgier in ihrem eigenen Lande
gesprengt haben, um den Deutschen den Weg zu verlegen, sind viele,
die für die Deutschen nicht die geringste Bedeutung hatten. Hierdurch
haben sich die Belgier selbst dreifach Schaden zugefügt: sie haben die
Brücken verloren, sie haben die Aufräumungsarbeit zu leisten und, wenn
der Krieg zu Ende ist, eine neue Brücke zu bauen -- alles das wird
durch eine einzige Bohrpatrone verursacht.

Wie oft schafft nicht ein Kriegsheer bei der Verteidigung des eigenen
Landes mehr Verwüstung als das Invasionsheer! Das Sprengen von Brücken
ist an und für sich ein Vandalismus, aber vollkommen berechtigt, wenn
man dadurch strategische Vorteile gewinnen kann. Die Verwüstung,
die die Deutschen bei ihrem Vordringen angerichtet haben, war teils
unfreiwillig, teils durch die Haltung der Zivilbevölkerung erzwungen;
aber niemals erfolgte sie aus Zerstörungswut und Vandalismus.
Entgegengesetzte Behauptungen gehen darauf aus, in der Öffentlichkeit
falsche Vorstellungen zu erwecken, und man kann sicher sein, daß
feindliche Heere, wenn es ihnen gelänge, in Deutschland einzudringen,
dieses Reich mindestens ebenso verwüsten würden, wie jetzt die Gegenden
verwüstet sind, in denen deutsche Heere stehen.

In der ersten Zeit nach der Einnahme Namurs mußten nach Einbruch der
Dunkelheit alle Fenster nach der Straße hinaus erleuchtet bleiben,
während die Straßen selbst im Dunkel lagen. Wer auf der Straße ging,
war daher nicht zu sehen; wer aber aus einem Fenster schoß, wäre
sofort ertappt worden. Alle Haustüren mußten zunächst unverschlossen
bleiben. Nach einiger Zeit wünschten aber die Einwohner aus Furcht vor
den Soldaten ihre Haustüren schließen zu dürfen, und der Wunsch wurde
bewilligt.

Bei meinem Besuch, also am 8. Oktober, machte Namur einen belebten
Eindruck. Noch ½8 Uhr abends waren die meisten Geschäfte offen und
auf den Straßen viel Verkehr. Sogar junge Damen, die anfangs nicht
auszugehen gewagt hatten, zeigten sich wieder. Aber noch durfte niemand
ohne besonderen Ausweis nach 9 Uhr abends außer dem Hause sein. Die
vielen Uniformen, Militärautos und Transporte verwandelten Namur in
eine deutsche Garnisonstadt. Aber Namur war auch noch etwas anderes;
das bewiesen die weißen Fahnen an vielen Fenstern, namentlich in den
Hauptstraßen; sie bedeuteten: wir, die wir in diesem Hause wohnen,
finden uns in die neue Ordnung der Dinge. Wer durch Belgien reist, muß
sein Herz verhärten, denn jeder Schritt erinnert daran, welches Unglück
es sein muß, die Freiheit im eigenen Lande verloren zu haben. Und man
denkt mit Schrecken daran, wie man selbst bei gleichem Unglück fühlen
würde. Ein Strafgericht geht jetzt über Europa. Wehe den Völkern, die
nicht beizeiten ihr Haus besorgt haben und sich auf Vereinbarungen und
papierne Erklärungen verlassen; denn nur die Macht gibt den Ausschlag,
und nur der Starke und Wachsame flößt Respekt ein nach _allen_ Seiten!



34. Generalgouverneur Exzellenz von der Goltz.


Am Nachmittag des 9. Oktober fuhr ich mit einem Militärauto nach
Brüssel, in der Absicht, vor dem Einbruch der Dunkelheit wieder in
Namur zu sein. Der Weg führte mich über das Schlachtfeld von Waterloo.
Ich besuchte das dortige Schlachtenpanorama und den kolossalen Löwen,
den die niederländische Regierung aus eroberten französischen Kanonen
hat gießen und dort auf einem Hügel hat aufstellen lassen.

Dämmerung senkt sich auf diese blutgetränkte grüne Erde herab, der
Wind weht über die Felder und Hügel, wo das Echo der alten Kanonen und
das Gerassel der Harnische und Steigbügel, gekreuzter Lanzen und harter
Säbelhiebe vor fast hundert Jahren verklang. Eine feierliche Stimmung
ergreift den Beschauer dieses Schlachtfeldes, auf dem mehrere Völker
ihren Toten Denkmäler errichtet haben. Nun halten deutsche Soldaten
bei Waterloo und seinen Denkmälern Wacht. Still! Hört man nicht den
Kanonendonner vor Antwerpen? Wir lauschen; nein, alles ist still. Meine
Chauffeure, die mit oben bei dem armen gefangenen Löwen stehen, können
nicht begreifen, was vorgefallen ist. Seit ein paar Wochen konnte man
täglich die Kanonade hören, versichern sie, und nun ist es plötzlich
still! Man sieht nicht einmal im Norden den Feuerschein brennender
Häuser. Sind Wind und Nebel daran schuld? Meine Begleiter glauben
gehört zu haben, in der vorigen Nacht seien fünfzehnhundert Schüsse auf
die unglückliche Stadt abgefeuert worden; die Verwüstung dort müsse
schrecklich sein. Nun ja, denke ich, auch eine Artillerie wie die
deutsche wird Zeit brauchen, um einen Platz wie Antwerpen einzunehmen,
der nach englischen und französischen Angaben die stärkste Festung der
Welt und absolut uneinnehmbar ist.

Die Nacht war hereingebrochen, als wir Brüssel erreichten, aber die
Straßen waren erleuchtet, und die Fenster der Geschäfte und Restaurants
strahlten in hellem Glanz. Viele Spaziergänger waren unterwegs, aber
fahren sah man nur deutsche Offiziere und Soldaten.

An der Ecke der Rue de la Loi wurden wir von zwei Wachtposten
angehalten. Ich zeigte meinen Ausweis, sie gaben den Weg frei, und
wir fuhren weiter bis zum Palast der Ministerien. »Wo wohnt der
Gouverneur?« fragte ich meinen Chauffeur. »Wir sind sofort da«, war
die Antwort. Er hielt vor dem ~Ministère des Sciences et des Arts~. Am
Torweg standen starke Wachtposten. Man führte mich über einen Hof und
in einen langen Korridor mit deutschen Türschildern. Auf einem stand
der Name des Leutnants Massebus; gerade den suchte ich, denn er war
einer der Adjutanten. Er teilte mir mit, der Generalgouverneur sei
den ganzen Tag vor Antwerpen gewesen, werde aber sicher gegen 9 Uhr
zurückkommen; ich möchte dann meinen Besuch erneuern.

Ich fuhr daher nach dem Palast-Hotel, dessen vierhundert Zimmer zum
größten Teil von deutschen Offizieren bewohnt wurden. Zur festgesetzten
Zeit befand ich mich wieder im Empfangsraum des Generalgouverneurs.
Dort warteten mehrere Offiziere. Unter ihnen machte ich die
Bekanntschaft eines Mannes, dessen Namen ich schon hatte nennen hören,
des Hauptmanns Dreger, der Ingenieur bei Krupp ist und einer von denen,
die die 42-~cm~-Mörser konstruiert haben. Dies war nun ein Thema, über
das man nicht sprechen durfte, dafür erzählte aber Hauptmann Dreger,
daß er im Oktober 1908 eine Woche nach mir nach Bombay gekommen sei,
und daß er mich dann buchstäblich über Colombo, Penang, Singapore,
Hongkong und Schanghai verfolgt habe, immer in einem Abstand von kaum
einer Woche.

»Wer ist jetzt drin?« fragte ich.

»Frau Martha Koch aus Aleppo«, antwortete ein Adjutant. »Sie hat
mit Mann und Kindern dreißig Jahre in Aleppo gewohnt, und der
Generalgouverneur gehört seit der Zeit seines türkischen Aufenthalts zu
den alten Freunden der Familie. Nun ist sie hierher gekommen, um dem
Roten Kreuz ihre Dienste anzubieten.«

Ein Offizier, der mit dem Generalgouverneur unterwegs gewesen war,
schüttelte den Kopf und sagte: »Wir wundern uns jeden Tag, daß er noch
lebt, er setzt sich den schlimmsten Gefahren aus. Neulich flog eine
Granate einige Meter über seinen Kopf weg, und er lächelte nur.« Ein
anderer Offizier warf ein: »Ja, er scheint an der Gefahr sein Vergnügen
zu haben, gefährdete Plätze ziehen ihn besonders an, man möchte fast
glauben, daß er den Tod sucht. Das wäre ein schöner Abschluß eines
glänzenden Lebenslaufs. Aber die Kugeln weichen ihm aus, während sie
die, die in seiner Nähe sind, nicht schonen. Ja, er geht so weit, daß
er sich bis an die Schützengräben heranschleicht, sich dort niederlegt
und mit den Soldaten scherzt. Natürlich wirkt seine Gegenwart auf sie
im höchsten Grad anfeuernd. Eines Tags ging er in Begleitung eines
Soldaten bis an einen feindlichen Schützengraben heran, der freilich
lange still gelegen hatte, von dem man aber doch nicht wissen konnte,
ob er Besatzung enthielt oder nicht. Glücklicherweise war er leer.
Als Exzellenz zurückkehrte, machten wir ihm Vorwürfe wegen seiner
Unvorsichtigkeit. »Aber es war ja niemand drin«, antwortete er ganz
ruhig. -- »Aber es hätten sich doch Schützen versteckt halten können.«
-- »Freilich; dann wäre ich wahrscheinlich nicht hingegangen.«

Wie wir gerade von Exzellenz von der Goltz sprachen, trat er selbst aus
seinem Zimmer heraus und forderte mich auf, ihm zu folgen. Ich kannte
ihn von der Berliner Deutsch-Asiatischen Gesellschaft her, wo ich unter
seinem Vorsitz über meine letzte Reise gesprochen hatte. Er empfing
mich auch wie einen alten Bekannten.

Der Generalgouverneur von Belgien, Feldmarschall Freiherr von
der Goltz, seinerzeit Pascha in türkischen Diensten, steht im
zweiundsiebzigsten Lebensjahr, hat aber noch Tatkraft und Energie wie
ein junger Mann und fühlt sich im Felde so recht in seinem Element.
Kräftig gebaut und stämmig, ist er klein von Gestalt, hat freundliche
und lustig blinzelnde Augen hinter einer Brille und erinnert mehr an
einen Professor als an einen General. Tatsächlich ist er auch ein sehr
gelehrter Mann, der viele kriegsgeschichtliche Arbeiten von großem Wert
herausgegeben hat, nicht zum wenigsten über den Deutsch-Französischen
Krieg, an dem er teilnahm.

Als wir allein waren, berichtete er mir die große Neuigkeit, daß
Antwerpen am selben Tag gefallen und die deutschen Truppen nachmittag
3 Uhr eingezogen seien! Kein Wunder also, daß wir bei Waterloo nichts
von einer Kanonade gehört hatten. Ich nahm mir sofort die Freiheit, zu
fragen, ob es erlaubt sei, Antwerpen möglichst bald zu besuchen, da
es interessant und lehrreich sein könne, zu sehen, wie sich eine neu
eroberte Großstadt ausnimmt. Ja, natürlich! Ich könnte alles sehen,
was ich wünschte; ich möge nur am folgenden Morgen gleich nach 7 Uhr
wiederkommen, dann würde ich erfahren, ob ich schon ohne allzu große
Gefahr nach Antwerpen fahren könnte.



35. Antwerpen einen Tag nach seinem Fall.


7 Uhr morgens am 10. Oktober befand ich mich auf dem Weg zum Palast des
Generalgouvernements an der Rue de la Loi. Am Eingang kamen drei junge
Offiziere auf mich zu, fröhlich und guter Dinge, und begrüßten mich,
als wären wir Jugendfreunde. Sie hätten, sagten sie, vom Feldmarschall
den Auftrag bekommen, mich nach Antwerpen zu begleiten. »Wenn es Ihnen
recht ist, fahren wir sofort, das Auto steht bereit.« Natürlich! Der
Chauffeur setzte den Motor in Gang und nahm seinen Platz am Steuer ein.
Neben ihm saß ein Soldat und im offenen Automobil die drei Deutschen
und ich. Alle Deutschen trugen Revolver; außerdem hatten wir drei
Karabiner zur Hand. Offenbar hielt man die Straße noch für unsicher und
den Besuch in der eben eingenommenen Stadt mit Gefahren verbunden. Man
hatte noch keine genaueren Nachrichten über die Stimmung Antwerpens
während der Nacht und am frühen Morgen. »Mir ist es komplett egal, ob
ich jetzt oder ein anderes Mal erschossen werde, sterben muß man ja auf
alle Fälle«, sagte Leutnant Classen, der ein großer Spaßvogel und voll
lustiger Einfälle und Geschichten war. Die übrigen zwei Reisekameraden
waren Leutnant ~Dr.~ Hütten aus Stettin und Leutnant ~Dr.~ Walter Kes
aus Steglitz. ~Dr.~ Kes war auch in Friedenszeiten aktiv und dabei
Doktor der Philosophie, was sehr ungewöhnlich ist.

Sobald alles in Ordnung war, erscholl der Ruf: Los! Und vom ersten
Augenblick an fuhr das Automobil mit wahnsinniger Geschwindigkeit.
Ehe man noch recht wußte wie, lag die große Stadt Brüssel mit ihren
in dieser frühen Morgenstunde stillen und leeren Straßen hinter uns,
und wir waren draußen auf dem ebenen Lande, wo vereinzelte Häuser und
Dörfer, Wäldchen und Heufeime aus dem Nebel auftauchen, der noch mit
dem Morgen kämpft, aber bald von der Sonne zerstreut sein wird. Durch
ein herrliches, altes Tor zwischen zwei runden Türmen sausen wir in
unvorsichtig rascher Fahrt nach Mecheln hinein.

[Illustration: Volltreffer im Fort Koningshoyckt, Antwerpen.]

[Illustration: Gesprengter Turm der Redoute ~Chemin de fer~,
Antwerpen.]

[Illustration: Redoute von Antwerpen.]

Wir lassen rechts die Grand' Place mit dem Rathaus und andern
altertümlichen Gebäuden und der schönen Bildsäule der Margarethe von
Österreich liegen, kreuzen wieder einen Kanal und gelangen auf die
Antwerpener Chaussee. Hier fahren wir zwischen den bedeutenden Forts
Waelhem und Ste. Cathérine, die von häßlichen Stacheldrahtnetzgürteln
und Wolfsgruben umgeben sind, und vorsichtig zwischen den tiefen
Löchern, die krepierende Granaten mitten in die Landstraße gerissen
haben.

Zu beiden Seiten der Straße sehen wir vortreffliche Schützengräben,
die die Belgier auf ihrem Rückzug nach Norden gebaut haben; in den
Landstraßengräben sind schalenförmige Nischen ausgehöhlt, um gegen den
Hagel des Schrapnellfeuers Schutz zu bieten. Links stehen noch weite
Strecken des Landes unter Wasser, und neben der Straße liegen noch
provisorische Pontons, hergestellt aus einem Gitterwerk von Balken, die
auf zylinderförmigen Petroleumfässern ruhen; die Deutschen brauchten
sie beim Übergang über die Wasserläufe.

Die Bewohner des Landes sind wie weggeblasen. Nur ganz selten zeigt
sich noch ein verirrter Bauer oder ein Wächter, der zurückgeblieben
ist, während der Sturm über das Land raste. Aber das Leben auf der
großen Landstraße spottet doch jeder Beschreibung, und der Verkehr
nimmt zu, je weiter wir nach Norden kommen. Es sind die alten,
wohlbekannten Kolonnen, in denselben endlosen Zügen, von gleichem
Aussehen und in der gleichen mustergültigen Ordnung, die wir von den
südlicheren Heerstraßen her kennen. Landwehrtruppen rasten neben den
Wegen und Straßen; sie haben die Gewehre zusammengestellt, an deren
Bajonetten die Mützen, Leibriemen und Patronentaschen hängen. Und dort
biegen mehr als vierzigjährige Landsturmleute in ganzen Regimentern
nach Gent ab. Ihnen fehlt es nicht an gutem Humor und Courage, sie
marschieren wie Jünglinge und singen, als ginge es zum Erntefest!
An den Gewehrmündungen tragen sie Blumen, Kränze um den Hals. Nach
fünftägiger ununterbrochener Eisenbahnfahrt marschieren sie nun
fünfundvierzig Kilometer bis zu den Gefechtsstellungen, vielleicht
um fürs Vaterland zu fallen. Deshalb singen sie. Und doch haben sie
Frau und Kinder daheim gelassen. Für Freiheit und Glück kämpfen und
fallen sie. Sie wissen, was es gilt. Je mehr Kinder sie dem Vaterland
geschenkt haben, desto mehr haben sie zu verteidigen, und desto
wichtiger ist es für sie, daß Deutschlands Freiheit und zukünftige
Größe gesichert wird.

Einigen der vornehmen Villen und Schlösser an der Straße statten wir
unsern Besuch ab. Teils werden sie von einem zurückgebliebenen alten
Diener oder einer Dienerin bewacht, teils sind sie leer und verlassen.
Nirgends ist der Besitzer selbst zurückgeblieben, worüber man sich ja
auch nicht wundern kann. Die Häuser, die wir besuchten, waren völlig
unberührt und zeigten keine Spur von Plünderung oder Verwüstung. Wir
waren auch unter den allerersten, die nach der Eroberung die Straße
daherkamen. Soldaten werden für Diebstahl oder boshafte Zerstörung
streng bestraft. Solche Fälle gehören auch zu den Seltenheiten. Und
wie sollten sich Ausnahmen in einer Millionenarmee vermeiden lassen!
In einer Kolonne, die vielleicht aus hundert oder hundertundfünfzig
Wagen und vierhundert Pferden besteht, und wo siebzig oder achtzig
Mann Karabiner tragen und die Eskorte im übrigen sehr klein ist --
wie soll in einer solchen Kolonne der verantwortliche Führer alles,
was geschieht, kontrollieren können! Man muß auch bedenken, daß eine
Hafenstadt wie Antwerpen, einer der Hauptpunkte des Welthandels, eine
Masse internationales Gesindel beherbergt, das gerade in unruhigen
Zeiten losgelassen wird und auf Raub ausgeht. Es wäre daher nicht
zu verwundern, wenn sich nach Beendigung des Krieges Privateigentum
verwüstet fände. Aber so etwas war bei meinem Besuch noch nicht
geschehen, soweit ich beobachten konnte. Die Schlösser, die wir
besuchten, befanden sich in dem Zustand, in dem ihre Besitzer sie
verlassen hatten.

Es geht an Ruinen und nackten, beschädigten Mauern vorüber und auf
einer hölzernen Pionierbrücke mit der gewöhnlichen Landsturmwache
fahren wir über die Nethe, wo die alte Brücke während des Rückzugs
gesprengt wurde.

Die Schützengräben liegen immer dichter nebeneinander und sind mit
bewundernswerter Sorgfalt angelegt. Die unterirdischen Gänge sind
oft zu kleinen Zimmern ausgebaut, mit Holz- und Erddächern versehen,
die Wände mit Brettern belegt. An einer Stelle ganz nahe der Stadt
sieht man quer über die Straße Spuren von Barrikaden. Sie sind wie
Steinmauern aufgeführt, aber leicht zu umgehen, da Lücken in sie
geschlagen sind. Oft liegen auf und neben der Straße tote Pferde. In
der Nähe des innern Fortgürtels mit den Stacheldrahtnetzen begegnen wir
ein paar Batterien schwerer Mörser, die in dieser Gegend nicht mehr
gebraucht werden und nun wohl auf dem Weg nach dem westlichen Flandern
sind. In derselben Richtung wie wir fährt eine Kolonne, die auf langen,
schmalen Wagen Pontons befördert; sie sollen bald an der Schelde in
Anwendung kommen.

Die Stadt selbst umgibt ein grasbewachsener Wall, den viele Tore
durchbrechen, und vor dem Wall zieht sich ein fortlaufender Graben,
über den Brücken führen. Von den Toren wehen die deutschen Fahnen
herab. Durch das Mechelner Tor gelangen wir in den Stadtteil Berchem
und fahren dann die Mechelner Chaussee nach Nordwesten. Die ganze
Straße ist voll von rastenden Kolonnen und Truppen. Sie stehen
offenbar bereit zu neuen Taten. Hier und da sind Häuser von Granaten
getroffen und an einigen Stellen ist das Straßenpflaster von Granaten
aufgerissen. In der breiten, vornehmen Avenue des Arts sind einige
Bäume von Bomben zersplittert. Place de Meir, eine große, schöne Straße
im Zentrum der Stadt, ist überfüllt von rastenden Munitionskolonnen und
Truppen. Sie stehen froh im Sonnenschein und zeigen eine Haltung und
Miene, als wäre Antwerpens Eroberung die leichteste Sache von der Welt.

Frauen und Kinder sind nicht zu sehen, und der Männer, die die
Truppen betrachten, wenige. Die ganze Bevölkerung ist nach Holland
geflohen, die Reichen nach England oder an die Riviera. Alle Läden sind
geschlossen. An den Banken halten deutsche Soldaten Wacht. Aber die
durch Waffenmacht unterdrückte Stadt ist doch wie zu einem Siegesfest
geschmückt! Ganz Antwerpen flaggt mit -- belgischen Fahnen! Wie ist
es möglich, daß sie aushängen dürfen? Nun, die Stadt ist ja erst
gestern gefallen -- da flaggte man noch für die belgische Armee und die
englischen Hilfstruppen! An den folgenden Tagen verschwanden nach und
nach die schwarz-gelb-roten Flaggen.

Über den Häusern an der Westseite der Place de Meir wirbeln
braunschwarze Rauchwolken zum Himmel empor, und wir gelangen zum
Marché aux Souliers, wo ein ganzes Viertel in Flammen steht. Aber das
Feuer verbreitet keinen unheimlichen Schein in dieser im Sonnenlicht
gebadeten Stadt. Die Flammen schlagen nur wie gelbe, flatternde Flaggen
aus den Fenstern, und von der Straße her sieht man, wie es im Innern
glüht. Mehrere Häuser sind bis auf den Grund zusammengeschossen, und
aus Balken und Gerümpel steigt der Rauch in dichten, schwarzen Wolken
auf. Keine neugierig gaffende Menschenmenge betrachtet dies unheimliche
Schauspiel. Eine Feuersbrunst mehr oder weniger ist nichts Merkwürdiges
in dieser Zeit, die so reich an aufregenden Ereignissen ist. Deutsche
Soldaten halten auch an den Eingängen der Straßen Wacht, an der Place
Verte und Place de Meir. Und es kann ja auch nicht viel Schaulustige in
einer Stadt geben, die zum größten Teil verlassen ist. »Weshalb tut man
nichts, um das Feuer zu löschen?« frage ich. -- »Die Wasserleitung in
Waelhem ist zusammengeschossen, und das einzige, was getan werden kann,
ist, zu sorgen, daß das Feuer sich nicht ausbreitet. Im Notfall müssen
die benachbarten Häuser niedergerissen werden, aber es sieht so aus,
als wolle das Feuer von selber verlöschen.«

Keinem Teil der inneren Stadt Antwerpen ist so übel mitgespielt worden
wie dem Marché aux Souliers, doch nur den Häusern an der Nordseite
der Straße. Ohne Zweifel haben nur ein paar Schüsse in diese Häuser
eingeschlagen. Die Granaten zünden gewöhnlich beim Krepieren, und
dann hat sich das Feuer auf die Nachbarhäuser ausgedehnt. Aber das
Viertel ist von offenen Plätzen und Straßen umgeben, und so blieb das
Feuer begrenzt. Freilich sind diese Straßen sehr eng. Über Marché aux
Souliers wurde vordem ein langwieriger Rechtsstreit geführt zwischen
den Hausbesitzern, der Kommune, die über die Fußsteige verfügt, und dem
Staat, dem Eigentümer der Straße. Der Streit ging um die Erweiterung
der Straße; sie war zu eng für den gerade hier sehr lebhaften Verkehr.
Aber niemand wollte nachgeben. Da kam die deutsche Artillerie und
machte dem Streit mit einem Schlag ein Ende. Nun ist die Straße breiter
als zuvor!

Wir fahren durch die Avenue Sud, die gelb ist vom herabgefallenen
Laub, aber hier sieht man kaum eine Spur des Bombardements, höchstens
die Wirkung einer vereinzelten Granate. Am Südhafen fahren wir an
den langen Reihen Pavillons vorüber, den Lagerhäusern und Kontoren,
welche nach der Straße zu wohlbekannte Firmenschilder tragen:
Hamburg-Amerika-Linie, Norddeutscher Lloyd, Compagnie Maritime
Belge du Congo, Nippon Yusen Kaisha, Red Star Line, Peninsular &
Oriental usw. Gewaltige Wagenparks stehen mit oder ohne Ladung auf
Schienen, ein ganzer Zug ist mit Benzin belastet, ein Fund, der die
deutschen Offiziere hoch erfreute. Ein anderer hat kolossale Heuhaufen
hergebracht, die unter Planen aufgestapelt sind. In den Hallen fand man
bedeutende Vorräte von Kolonialwaren, Hafer, Mehl, Kaffee und andern
Vorräten, die requiriert und verbraucht werden sollten. In einigen
Hallen standen etwa tausend Automobile aller Art, meist Last- und
Droschkenautomobile; sie waren samt und sonders mit Äxten, Spießen und
Hämmern zerschlagen und unbrauchbar gemacht. Sie repräsentierten einen
Wert von etwa neun Millionen Mark!

Wachtposten waren noch nicht aufgestellt, der ganze Hafen lag offen
da, es war fast unheimlich öde und still in den Hallen. Ein paar
Dampfschiffbureaus und das des Südbahnhofs waren in bester Verfassung
zurückgelassen worden. Alles Wertvolle war fort, nur Quittungen
und Rechnungen lagen da, und die Röcke der Beamten hingen noch an
ihren Haken, als ob ihre Besitzer an einem der nächsten Tage hätten
zurückkehren wollen.

Was mehr als alles andere die Aufmerksamkeit im Hafen auf sich lenkte,
waren die kolossalen Petroleumtanks, die nun ein einziges Feuer- und
Rauchmeer bildeten. Das belgisch-englische Heer hatte bei seinem
Aufbruch nicht versäumt, diese Vorräte anzuzünden. Kann man den Feind
nicht hindern, einzudringen, so kann man ihm wenigstens den Vorteil
allzu großen Gewinnes rauben. Deshalb waren die Automobile zerstört und
die Petroleumvorräte in Brand gesetzt worden. Höchst eigentümlich sah
es aus, wie sich die schwarzen Wolken mit ihren grauen und bräunlichen
Rändern zum Himmel emporwälzten und -wirbelten. Man hörte es drinnen
zischen und fauchen, und zuweilen drangen rote Flammen durch den Rauch.
Ab und zu erschollen dumpfe Explosionen, und es war nicht ratsam, nahe
heranzugehen. An einigen Stellen wehte noch, vom Rauch umwirbelt, die
amerikanische Flagge. Nur herrenlose Kühe und Hunde streiften in dieser
Gegend herum.

Gerade gegenüber dem Fort de la Tête de Flandre brannten auf dem Fluß
ein paar große Leichter; sie waren offenbar verankert und hatten
als Pontons für eine provisorische Brücke gedient, die das Heer der
Verbündeten benutzte, als es über die Schelde zurückging und seinen
Rückzug bis Gent fortsetzte. Gewisse Verteidigungsanstalten im Hafen
auf dem Weg zu dieser Brücke bewiesen, daß das belgisch-englische Heer
die Absicht gehabt hatte, bis aufs äußerste zu kämpfen. An einigen
Stellen waren zum Beispiel unter den Hallen Barrikaden aus dicken
Eisenplatten errichtet, und an einer von ihnen standen drei geschützte
Kanonen, die den offneren Teil des Hafens bestrichen. Hier und da waren
Stacheldrahtnetze gespannt und allem Anschein nach so eingerichtet, daß
sie mit Elektrizität geladen werden konnten. Aber zum Gebrauch dieser
Verteidigungsvorrichtungen war es nicht gekommen.

Auf einer Rundfahrt durch die Stadt kamen wir auch in die Rue Carel
Ooms. Dort stand hinter einem eisernen Gitter eine größere Villa, in
deren Park eine alte vornehme Dame, auf zwei jüngere Frauen gestützt,
spazieren ging. Sonst war niemand von den reichen Bürgern der Stadt zu
sehen. Ich trat ein und grüßte, und die Dame berichtete mit schlichter
Würde, sie hätte es nicht über sich gebracht, Antwerpen in der Zeit
seiner harten Heimsuchung zu verlassen, und bei ihren siebzig Jahren
auch nicht gewagt, sich den Gefahren einer Reise auszusetzen. In ihren
Park hatten fünf Granaten eingeschlagen, ihr Haus aber unbeschädigt
gelassen. Doch hatte sie, wie man wohl begreifen kann, in Todesangst
geschwebt. Nun ging sie zum erstenmal aus und schöpfte nach der
qualvollen Stimmung der letzten Tage frische Luft. Unglücklicher waren
ihre nächsten Nachbarn, denn von ihrem Haus standen nur noch die
nackten Mauern. Sie selbst waren fortgereist, doch schienen ihre Diener
dageblieben zu sein, denn man wollte aus der Richtung, wo die Granaten
einschlugen, Hilferufe gehört haben. Schließlich erfuhr ich, die Dame
sei die Witwe des berühmten belgischen Historienmalers Carel Ooms; sie
bewohnte die Villa seit dem 1900 erfolgten Tod ihres Mannes, dem zu
Ehren die Straße benannt worden war.

Nach einem einfachen Frühstück unternahmen wir schließlich eine Tour
nach der Nordseite des Hafens und besichtigten flüchtig die Dampfer in
den Hafenbassins und Docks. Ich ging an Bord eines deutschen Dampfers,
»Celadon«, der auf dem Vorderdeck Spuren eines Sprengschusses zeigte.
Wie ich später hörte, waren in allen diesen Fahrzeugen die Dampfkessel
zerstört, damit sie nicht von den Deutschen benutzt werden konnten.

»Comte de Smet de Naeyer« war der Name eines schönen belgischen
Schulschiffes mit graublauem Rumpf, weißen Masten und feinem
Takelwerk. Aber an Bord war nichts von Interesse. Ich stattete auch
dem großen Australiendampfer »Tasmania« einen kurzen Besuch ab. In den
Offizierskajüten waren alle Schubfächer ausgezogen und alle Wertsachen
fortgenommen, nur Bücher, Papiere, Rechnungen und andere wertlose
Dinge fanden sich noch vor. Aber auf einem Schreibtisch in der Kajüte
des Kapitäns stand das Porträt einer Frau und die Photographie einer
Gruppe blühender Kinder. Im Speisesaal stand ein gedeckter Tisch mit
noch nicht geleerter silberner Kaffeekanne und Tassen, sowie einer fast
leeren Zigarrenkiste. Alle Passagierkajüten waren leer und verlassen.
Wir wanderten durch die langen Korridore, wo unsere Schritte hohl und
laut widerhallten, und blieben zuweilen stehen, um zu lauschen, ob
es unsere eigenen Schritte waren, die wir hörten, oder ob uns jemand
nachging. Man konnte ja in diesen Zeiten alles mögliche annehmen.
Vielleicht hielten sich Flüchtlinge an Bord verborgen. Wir riefen,
aber unsere Stimmen verhallten in dem leeren Schiffsrumpf, und niemand
antwortete. Wir sahen in die Mannschaftskajüten hinein, aber niemand
schlief mehr in diesen Kojen, die sich so oft auf den Wogen des Ozeans
geschaukelt hatten. Alles gleich still, gleich stumm und verlassen.
Es konnte einem an Bord dieses Gespensterschiffs, dieses fliegenden
Holländers mit einer Besatzung von unsichtbaren Geistern, die uns aus
allen Winkeln und Ecken anstarrten, unheimlich zumute werden. --

Die Zeit zum Aufbruch nahte heran, und wir kehrten wieder nach Brüssel
zurück. Weit waren wir nicht gekommen, als wir drei Reservebataillonen
begegneten. An der Spitze marschierte ein Musikkorps, und jedem
Bataillon wurde eine Fahne vorangetragen. Die Soldaten hatten ihre
Gewehre mit Blumensträußchen geschmückt, und ihre Gesichter strahlten
wie gewöhnlich von guter Laune.

Auch diesmal besichtigte ich ein Schloß am Wege. Nie werde ich
die Eindrücke vergessen, die auf mich eindrangen, als ich durch
die leeren, dämmerigen Zimmer wanderte. Im Schlaf- und Gastzimmer
im ersten Stock standen die Betten unverändert, wie sie von den
Besitzern und Gästen des Hauses verlassen worden. Decken und Laken
waren beiseite geworfen, über die Stuhllehnen hingen nachlässig
die Handtücher, die Waschschüsseln standen halbvoll von benutztem
Wasser, und die Seifestücke lagen in ihren Schalen festgetrocknet.
In dem großen prächtigen Speisesaal im Erdgeschoß war der Tisch noch
gedeckt, auf einer Schüssel lag etwa die Hälfte des zuletzt servierten
Gerichts, einer Eierspeise. Etwa zehn Personen hatten an dem Essen
teilgenommen. Einige Teller waren leer, andere noch bedeckt mit Resten
der Mahlzeit. Messer und Gabeln -- Brotstücke -- Gedecke -- ein paar
Champagnerflaschen waren geleert, eine dritte enthielt noch einen Rest
des Weins, der nun seine schäumende Frische verloren hatte. Servietten
auf dem Tisch -- auf den Stuhllehnen -- auf dem Boden -- schnell und
überstürzt waren die Gäste aufgebrochen, als der Kanonendonner näher
kam oder vielleicht eine Granate in der Nachbarschaft einschlug.
Vielleicht hatte auch ein Bote gemeldet, die äußeren Forts seien
gefallen und die Deutschen marschierten geradeswegs auf Antwerpen los.
Und wer waren die Gäste, die hier am Tisch gestört wurden? Die Familie
des Hauses, oder Offiziere, die auf ihrem Rückzug eine Nacht in dem
verlassenen Haus zugebracht hatten?

Auf dem Heimweg konnten wir nicht so schnell dahinrasen wie am Morgen.
Die Straße wimmelte von Kolonnen und Lanzenreitern, sie sollten
nach Antwerpen und von dort nach Gent. Fern aus dem Westen ertönte
Kanonendonner. Die Deutschen ließen sich keine Ruhe. Das uneinnehmbare
Antwerpen war im Lauf weniger Tage gefallen, und sofort zogen die
Eroberer weiter nach Westen. Thalatta, Thalatta! Ans Meer! England
hatte den Krieg haben wollen -- es sollte ihn mehr als je seit
Wellingtons Tagen satt bekommen!



36. Gäste des Generalgouverneurs.


Abends um 9 waren etwa dreißig Offiziere beim Feldmarschall zur
Tafel. Dort sah ich Prinz Waldemar von Preußen wieder und Hauptmann
Dreger und machte die Bekanntschaft des Stabschefs Oberstleutnants
Scheerenberg, sowie des Generaloberarztes ~Dr.~ Stecho, der Schwedisch
sprach und viele Freunde in Schweden hatte. Dann war Bierabend in den
oberen Gemächern, zu dem sich auch der Kriegsminister von Falkenhayn
einfand. Der alte gesprächige von der Goltz berichtete mancherlei über
Antwerpens Fall und seine Vorgeschichte, und war unerschöpflich in
Anekdoten und Episoden aus den letzten Tagen.

An einem der nächsten Abende traf ich dort noch mehrere interessante
Gäste. Eine hohe Erscheinung von königlich aufrechter Haltung, trat
Großadmiral von Tirpitz ins Zimmer, der sich neben dem Kaiser das
größte Verdienst um das Zustandekommen der deutschen Flotte erworben
hat. Hohe Stirn, fröhliche, offene Augen, blonder Vollbart, sichere,
männliche Haltung, ein echter Germane. Es war eine Erquickung, sich mit
ihm zu unterhalten. Für solche Männer gibt es keine Unmöglichkeiten und
nicht die Spur von Unruhe über den Ausgang des Kriegs.

Direktor K. F. von Siemens, der Chef von Siemens & Halske, ist auch ein
ungewöhnlich kraftvoller Germanentypus und von einer Gemütsart, in der
Humor und Ernst eine angenehme Mischung bilden. Die deutschen Verluste
schätzte er auf 250000 Mann, der großen Mehrzahl nach Leichtverwundete,
die bereits an die Front zurückgekehrt seien oder bald zurückkehren
würden und vor den neuen Ankömmlingen das voraus hätten, schon im
Feuer gewesen zu sein und ihre persönlichen Erfahrungen gemacht zu
haben. Es fand sich, daß wir einen gemeinsamen Freund besaßen, den
liebenswürdigen Sir Walter Lawrence, seinerzeit Privatsekretär Lord
Curzons, als dieser Vizekönig in Indien war. Vermutlich hatten wir ihn
nun beide verloren, da dieser Krieg es fertig gebracht hat, auch die
festesten Freundschaftsbande zu zerreißen.

Am Tisch saß auch der fünfundsiebzig Jahre alte Geheimrat Kreidel,
der Chef der Armeeintendantur. Er hatte in der letzten Zeit infolge
von Überanstrengung einige Schwindelanfälle gehabt und sollte nun
zur Erholung nach Deutschland zurückkehren. Dann war auch der neue
Gouverneur von Antwerpen da, General der Infanterie Freiherr von
Hoyningen genannt Huene, den ich schon von Karlsruhe her kannte. Der
Befestigungsgeneral Bailer, sanft und liebenswürdig wie ein Dozent der
Ästhetik, gehörte zu meinen besonderen Freunden. Er war so glücklich,
im Lauf des Tags seinen Sohn gesehen zu haben, der als Leutnant an der
Westfront stand und von dem er lange nichts gehört hatte; Leutnant
Bailer hatte die lange Reise hierhin auf dem Luftwege zurückgelegt und
sollte nun wieder in seinem Aeroplan zurückkehren. Im übrigen sprachen
wir von Gent, das gerade nach ziemlich heftigen Kämpfen in offener
Feldschlacht gefallen war. Der General wollte dort die belgischen
Feldbefestigungen studieren; die Stadt selbst ist unbefestigt. Von
Gent sollte das deutsche Heer nun weiter nach Brügge und Ostende. Und
schließlich sprachen wir von den 300000 Freiwilligen, die eben an
die Front gekommen waren, wo die jungen Studenten mit ihren munteren
Scherzen die älteren Landsturmleute erfreuten, die ihnen dafür mit
ihren Erfahrungen an die Hand gingen.



37. An der Schelde.


Der Generalgouverneur gab mir die Erlaubnis, noch mehrere Male nach
Antwerpen zu fahren und einige Tage dort zu bleiben. Für den 11.
Oktober verabredete ich daher mit ~Dr.~ Hütten, der selbst unser
Auto lenkte, den nächsten Besuch. Mir lag vor allem daran, einige
Aufnahmen von dem malerischen Soldatenleben zu machen, das sich in
den Straßen Antwerpens abspielte. Was könnte wohl für eine Kamera
verlockender sein als die Grand' Place, der kleine, vornehme Platz am
Rathaus und zwischen den Giebelfassaden der alten Häuser. Mitten auf
dem Platz hat man vor nicht langer Zeit eine Bronzefigur aufgestellt,
eine Darstellung des Märchens von dem Jungen, der die Hand des Riesen
wirft: »Handwerfen« -- »Antwerpen«. In einem Haus in der Nähe wurde
einer der größten Maler aller Zeiten geboren, wie auf einer Tafel
über der Haustür zu lesen ist: »~Geboortehuis von Antoon van Dyck,
Kunstschilder 1599-1641~.« van Dycks Modelle und ihre Nachkommen sind
verschwunden, nun bilden deutsche Soldaten die Staffage der Grand'
Place, Marinesoldaten mit Tornistern auf dem Rücken, das Gewehr über
der Schulter, die Patronentasche am Leibriemen, Bajonett und Beutel
an der Seite. Ein Hund läuft treu neben einem von ihnen her -- man
sieht immer wieder deutsche Soldaten, die sich herrenloser Hunde
angenommen haben. Dort sind einige Batterien von 6-~cm~-Schiffskanonen
-- die Bedienung selbst hat sich vorgespannt an Stelle von Pferden. Vor
dem Rathaus rastet eine Kompagnie Infanterie; einige Soldaten machen
auf dem Steinpflaster ihr Schläfchen und benutzen die Tornister als
Kopfkissen. Da stehen Proviantkolonnen mit Zeltdächern über den Wagen
und Heubündeln vor den Pferden, und die Marineradfahrer sitzen auf
ihren lautlos rollenden Rädern. An einem Automobil stand der große
Ingenieur Hauptmann Dreger und betrachtete eine Karte, die Leutnant
~Dr.~ Hütten ihm zeigte. Aber all diese Bilder wechselten in einem
fort, ein ewiges Kommen und Gehen, Fahren und Autosausen, Getrappel
von Pferdehufen und Gerumpel der Artilleriewagen, dazu der Gesang der
Marinetruppen, wenn sie unter den Klängen der »Wacht am Rhein« über den
Platz marschierten.

Weiter zur Fähre unterhalb der Kathedrale. Dort ist das Leben noch
bunter; dort herrscht unentwirrbares Gedränge. Wir lassen das Auto
unter der Aufsicht unseres Soldaten zurück und schieben uns selbst
zwischen Pferden und Wagen vorwärts. Auf der Straße, die zur Fähre
hinabführt, bewegen sich langsam doppelte Kolonnen. Ein donnernder
Kommandoruf erschallt -- sie stehen; dann bewegen sie sich wiederum und
bleiben wieder stehen. Belgische Polizisten in schwarzen Röcken mit
silbernen Knöpfen und schwarzen Helmen, flämisch sprechend, helfen bei
der Ordnung des Verkehrs. Wohin sollen die Wagen und Mannschaften? Sie
werden auf den Fähren über die Schelde nach Tête de Flandre gebracht,
dort beginnt die Straße nach Gent. Sie sollen an die Küste und einen
Blick nach England hinüberwerfen!

Mitunter ist es nicht möglich vorwärtszukommen. Alles ist so
zusammengeschoben, daß ich kaum photographieren kann. Ich will eben
eine Feldküche knipsen, als ein Ulan, der auf einem Bagagewagen
sitzt, mir zuruft: »Nachbar, es ist verboten, die Feldküche zu
photographieren.« »Schön«, antworte ich. Unnötig war es gewiß, da ich
schon Bilder von ihr hatte. Der Titel »Nachbar« war nicht übel.

Am Kai an den Brücken, die mit Rücksicht auf den bedeutenden
Niveauunterschied zwischen Ebbe und Flut gebaut sind, waren die Fähren
in vollem Betrieb. Über drei Pontons war ein fester, rechteckiger mit
Geländer versehener Boden gelegt. Ein Dampfer nahm zwei solche Fähren
ins Schlepptau, und drei Dampfer waren nun dabei, auf sechs Fähren
Proviant- und Munitionswagen, Feldküchen, Feldtelegraphen, Post,
Lazarette, Pferde und Soldaten hinüberzufahren. Unter den Soldaten
waren auch österreichische Artilleristen, die zu den 30,5-~cm~-Kanonen
gehörten.

»Vorwärts!« kommandiert ein Offizier am Kai. Eine Reihe Wagen fährt
vor, die Pferde werden abgespannt, die Wagen von Marinesoldaten an
Bord geschoben, die Pferde dann auf die Landungsbretter geführt;
sie stampfen, prusten, bäumen sich zuweilen und scheuen vor dem
entsetzlichen Untier von Fahrzeug. Aber an Bord müssen sie, und sobald
beide Fähren voll sind, legt der Dampfer los und bugsiert sie im
Handumdrehen über die Schelde nach Tête de Flandre. Dort werden die
Landungsbretter ausgeworfen, die Wagen ans Land geschoben, die Pferde
vorgespannt, und die Kolonnen setzen ihre Fahrt nach Gent fort.

Sobald die Ladung den Kai verlassen hatte, legte ein anderer Dampfer
mit seinen zwei Pontonfähren an derselben Stelle an und nahm ein
neues Kontingent an Bord. So ging das den ganzen Tag hin und her
und sollte es die ganze Nacht hindurch beim Schein der elektrischen
Lampen weitergehen! Und den ganzen nächsten Tag ebenso, solange noch
Kolonnen über die Schelde zu befördern waren, immer mit der gleichen
Schnelligkeit, Ordnung und Disziplin, die das deutsche Heer bei all
seinem Tun und Lassen bis in die kleinste Einzelheit auszeichnet.

Die Fähren kehren von Tête de Flandre nicht leer zurück, denn
dort haben sich unübersehbare Scharen zurückkehrender Flüchtlinge
angesammelt, Männer, Frauen und Kinder mit Korbwagen, Zweirädern und
kleinen Karren und mit allerhand Bündeln und Paketen, eine bunte
Schar von Zivilisten, ähnlich einem Zug Auswanderer. Die meisten
sind Flämen. Auch unter ihnen herrscht bemerkenswerte Ordnung. Sie
trotzen nicht, sie schreien nicht, sie drängen sich nicht vor, um auf
den Fähren Platz zu bekommen, sondern warten ruhig, bis die Soldaten
ihnen den Weg zeigen. Zwischen Militär und Zivilisten herrschte das
beste Einvernehmen, und man sah sie unter Scherzen und Lachen alles
aufbieten, um sich in den verschiedenen Sprachen, Deutsch, Flämisch,
Französisch durcheinander, verständlich zu machen.



38. Löwen.


Der 12. Oktober war ein strahlend schöner Tag. Die Chaussee de Louvain
führte, schön gepflastert, durch dichten Buchenwald, wo kaum ein
Sonnenstrahl bis zum Boden durchdrang. Man sieht in dieser Gegend
keine deutschen Soldaten, es ist, als wäre nichts anderes geschehen,
als daß der Herbst über dieses unglückliche Land hereingebrochen ist.
Hier fahren keine Kolonnen. Die Wagen, die die Straße benutzen, sind
bürgerliche Lastfuhrwerke. Die Equipagen der vornehmen Welt aber sind
verschwunden, seit ihre Besitzer nach andern Ländern aufgebrochen sind.

Achtzehn Kilometer bis Löwen. Innerhalb der Stadt fährt man ein gutes
Stück, bis man die ersten Ruinen erreicht. Ganz Löwen ist keineswegs
zusammengeschossen, wie man sich vorgestellt hat. Kaum ein Fünftel
der Stadt ist zerstört. Zwar kommen auf dieses Fünftel mehrere
kostbare und unersetzliche Bauten; besonders beklagenswert ist der
Verlust der Bibliothek. Inmitten dieser Verwüstung erhebt sich aber
wie ein Fels im Meer das Rathaus, das stolze Kleinod aus der Zeit
von 1450 mit seinen sechs schlanken Türmen in durchbrochener Arbeit.
Ich ging um das Rathaus herum und konnte mit dem besten Willen keine
Schramme in diesen mit verschwenderischem Reichtum geschmückten Mauern
entdecken. Vielleicht findet sich irgendwo eine Ritze von einem
Granatsplitter, die meiner Aufmerksamkeit entgangen ist. Dank der
Treffsicherheit der deutschen Artillerie ist auch nicht ein Gesims
der sechs Türme beschädigt. Der Anlaß zum Bombardement von Löwen ist
bekannt. Beim Einzug in die Stadt wurden die deutschen Truppen von der
Zivilbevölkerung aus den Fenstern beschossen, und da das Verbrechen
nicht auf andere Weise bestraft werden konnte, wurden die Häuser in
Brand geschossen. Als dann deutsche Soldaten das Feuer in den dem
Rathaus benachbarten Häusern zu löschen suchten, lauerten ihnen die
Franktireurs wieder mit ihren Büchsen auf! _Jede andere Armee der
Welt hätte ebenso gehandelt_, und die Deutschen haben es selber tief
beklagt, daß sie gegen ihren Willen gezwungen wurden, zu solchen
Mitteln zu greifen.

Von Löwen fuhr ich nach Mecheln, eine lange Strecke den Kanal entlang,
der die beiden Städte vereint und wo man plötzlich die Masten von
Schuten zwischen den Bäumen der Parks und Alleen hervorlugen sieht.
Nach Mecheln kamen wir gerade zu der Beerdigung eines Marinesoldaten,
der auf seinem Posten gefallen war. Der Tote wurde auf einem belgischen
Leichenwagen zu Grabe gefahren, hinterdrein gingen etwa hundert
Soldaten aus der Armee und Flotte. Nach Hinabsenkung der Leiche wurden
drei Gewehrsalven abgegeben und das Grab zugeschüttet. Auf dem kleinen
Kirchhof waren viele deutsche, mit Kränzen und Helmen geschmückte
Gräber und zwei Massengräber.



39. Die weiße und die schwarze Marie.


Ein trüber Tag, der 16. Oktober! Kein Zipfel zu sehen von der deutschen
Reichsflagge, die schon eine ganze Woche vom Turm der Kathedrale
Antwerpens, hundertdreiundzwanzig Meter über der Erde, herabwehte.
An dem Eingang nach der Place Verte zu stand ein älterer Portier mit
unbeschreiblich strenger Amtsmiene. Er würdigte mich kaum eines Blicks,
als ich in höflichstem Ton fragte, ob die Kathedrale offen sei. »Die
Kathedrale ist offen,« antwortete er, »aber nur für deutsches Militär.«
Schön, mein Alter, dachte ich und zog meinen »Sesam, öffne dich«
heraus, den Ausweis General Moltkes. Der Portier las das Papier und
bekam von Zeile zu Zeile ein immer längeres Gesicht. Als er zu Ende
war, nahm er seine Mütze ab und sagte: »Ist es wirklich wahr, da kann
ich ja dem Herrn Doktor sagen, daß ich Schwede bin, geboren in Wisby,
seit dreißig Jahren ansässig in Antwerpen, und Dahlgren heiße.«

Genug, die Kathedrale stand auch für mich offen, und der ehrenwerte
Dahlgren führte mich umher. Nur eine einzige Granate oder besser ein
einziger Granatsplitter ist in die Mauer unter dem großen Fenster über
dem Eingang an der Place Verte eingeschlagen. Der Schaden ist nicht der
Rede wert, er kann in einem Tag ausgebessert werden. Wäre aber diese
Granate bösartig gewesen, und hätten Rubens' berühmte Gemälde, die
Kreuzigung und die Kreuzabnahme, an ihren früheren Plätzen im Kreuzgang
gehangen, dann hätten sie in großer Gefahr geschwebt. Man hatte sie
indes vor dem Bombardement in Sicherheit gebracht, wie alle andern
kostbaren Gemälde und Kunstschätze Antwerpens. Und die einzige Spur,
die die Granate im Innern der Kirche hinterlassen hat, ist ein Riß in
einer Säule.

Inmitten des nördlichsten Seitenschiffs steht auf einer Bahre ein Bild
der heiligen Jungfrau, die prächtige bis auf die Füße reichende Kleider
und eine goldene Krone trägt. Am Sonntag nach dem 15. August wird sie
alljährlich in Prozession durch die Stadt getragen. Heuer aber, wo ihre
Hilfe so sehr not tat, begnügte man sich damit, lange Opferlichte vor
der himmlischen Königin anzuzünden. Und dieses Jahr blieb sie allen
Bitten taub! Und dabei zeigt die Glasmalerei eines Fensters, wie Karl
~V.~ diesem Marienbild die Schlüssel Antwerpens übergibt. Die Schlüssel
Antwerpens! Die »schwarze« Marie hatte sie jetzt im Besitz, nicht ihre
weiße Namensschwester!

[Illustration: Schwester Martha und ~Dr.~ Hütten in Löwen.]

Die Kanzel ist von van der Voort aus kernigem Eichenholz geschnitzt.
Sie ist zweihundert Jahre alt, aber die Eichen waren vielleicht
fünfhundertjährig, als sie ihr Holz der Verkündigung von Gottes Wort
opferten. Die vier Frauengestalten, die die Kanzel selber tragen,
sind bemerkenswert; sie stellen die vier Weltteile dar -- Australien
war damals nur mangelhaft bekannt. Drei Figuren erhalten genügend
Licht, aber die mit den dicken Lippen und der platten Nase, das
dunkle Afrika, der Weltteil der Schwarzen, steht in tiefem Schatten.
Vier Kontinente tragen den Platz, von dem den Menschenkindern Gottes
ewige Liebe gepredigt wird -- ein schöner Gedanke des Künstlers. Er
glaubte wahrscheinlich, die Welt werde in den kommenden Jahrhunderten
vorwärtsschreiten. Nun aber verkünden fünf Weltteile das Evangelium des
Kriegs und des Hasses! Die beiden Westmächte der Entente tragen die
Verantwortung für den großen Totentanz. Denn sie kämpfen mit Massen
zusammengeraffter Völker. Da kommen Kanadier auf ihren Schiffen aus
Amerika, Turkos und Senegalneger aus Afrika; sonnverbrannte Hindus
und Gurkhas aus Indien liegen frierend in den Schützengräben, und die
Antipoden Australiens und Neuseelands senden Hilfstruppen. Und das
Ziel dieses Weltaufgebots? Die germanische Kultur soll vom Erdboden
vertilgt werden! Die Träger dieser Kultur, das Volk Luthers, Goethes,
Beethovens, Helmholtz' und Röntgens, werden Barbaren und Hunnen
genannt und sind eine Gefahr für die Zukunft und Zivilisation der
weißen Rasse! Gurkhas und Senegalneger mußten ja wohl kommen, uns vor
der Verfinsterung zu bewahren! Der Künstler, der einst die Stirn hat,
das Völkeraufgebot von 1914 zu verherrlichen, sollte nicht vergessen,
daß er in van der Voorts Frauengestalt mit den dicken Lippen und der
platten Nase ein dankbares Motiv vorfindet.

[Illustration: Belgische Gefangene in Mecheln.]



40. Über Gent und Brügge nach Ostende.


Während meines Aufenthaltes in Antwerpen erhielten wir fast täglich
Nachrichten über das schnelle Tempo, in dem die Deutschen sich dem
Meere näherten. »Gent ist genommen -- Brügge genommen -- unsere Truppen
sind in Ostende eingerückt.« Bei meiner Rückkehr nach Brüssel sah
es jedoch so aus, als ob die Verbündeten alles daran setzten, die
deutschen Truppen wieder aus Ostende zu vertreiben, und ein Gerücht war
im Umlauf, die Engländer bombardierten die Stadt.

Begleitet von dem liebenswürdigen Konsul Petri reiste ich am 20.
Oktober mit besonderer Erlaubnis des Generalgouverneurs nach Ostende
ab. Es war trübes Wetter, Regen, und schwere, schwarze Wolken hingen
über dem flachen Lande.

In Gent, das völlig unbeschädigt war, übernachteten wir. Die Stadt
hatte ihr gewöhnliches Aussehen, die Straßenbahnen waren in Betrieb,
alle Geschäfte offen und viele Menschen unterwegs trotz des schlimmen
Wetters; nur die zahlreichen deutschen Uniformen verrieten, was
geschehen war.

Durch das berühmte, altertümliche Brügge mit seinen malerischen Häusern
und Brücken und seinen gewaltigen Stadttoren mit den runden Türmen
fuhren wir am folgenden Tag ohne Aufenthalt durch. Hinter dem Dorfe
Ghistelles hielt uns an einem Kreuzweg ein Posten an, und als wir
haltmachten, hörten wir in der Nähe wahnsinnigen Kanonendonner.

Der Soldat berichtete, in Middelkerke stehe ein harter Artilleriekampf,
und die Deutschen hätten ihre Stellungen diesseits des langen Kanals,
der Ostende mit Nieuport und Dünkirchen verbindet. Ein Geschwader
von englischen Kriegsschiffen liege vor der Küste und beschieße die
deutschen Stellungen, die auch von der Landseite von belgischen und
französischen Truppen angegriffen würden. Aber die Straße nach Ostende,
die erst nach Nordwesten und dann nach Nordnordost geht, sei ziemlich
sicher. Der gefährlichste Punkt sei die Biegung jenseits des Kanals, wo
der Weg seine Richtung ändert. Von Ostende kamen Munitionskolonnen, die
an die Front bei Middelkerke gingen, und von der Front kamen Kolonnen
mit verwundeten Soldaten, die auf dem Wege nach Ostende waren.

Wohlbehalten fuhren wir an der gefährlichen Ecke vorüber, und dann
in die schöne, vornehme Stadt am Meer, die von Baedeker das Zeugnis
erhält: »Ostende ist vielleicht zurzeit das eleganteste Meerbad
Europas.« Wir bogen in die Strandstraße ein, wo eine endlose Reihe
großer Hotels auf das Meer hinaussieht. Die meisten sind nur während
der Saison geöffnet, die am 15. September schließt. Die Stadt wird da
von 45000 Badegästen besucht! Aber Ostende ist auch Überfahrtsstelle
zwischen dem Festland und England, und dieser Verkehr hält das ganze
Jahr über an. Für Reisende, die Sturm oder Ermüdung aufhält, gibt es
einfachere Hotels, aber die liegen in der Stadt.

Es war 2 Uhr. Ich war niemals in Ostende gewesen und kannte keinen von
den deutschen Offizieren. Aber ich hatte meine Papiere und mußte mich
bei dem Kommandanten im Hotel Littoral an der Strandstraße melden.

Das graue, düstere Meer bot einen höchst eigentümlichen Anblick, wenn
man die Augen nach Westen richtete. Der Regen hatte aufgehört, die
Luft sich geklärt, aber der Himmel war noch wolkenbedeckt. Genau im
Westen, neun oder zehn Kilometer entfernt, erkannte man scharf und
deutlich die Umrisse von dreizehn englischen Kriegsschiffen; einige von
ihnen waren Kreuzer, die übrigen große Torpedoboote älterer Jahrgänge.
Sie beschossen die deutschen Stellungen an der belgischen Küste und
wurden selber beschossen. In einemfort änderten sie ihren Platz, um
der deutschen Treffsicherheit entgegenzuarbeiten, blieben aber doch in
derselben Entfernung, und ihre schwarzen Rümpfe hoben sich imponierend
von dem hellen Horizont ab. Aus ihren Schornsteinen stiegen schwarze
Steinkohlenrauchsäulen schräg nach links mit dem Wind, so daß der
Himmel wie gestreift aussah.

Ich besuchte den Kommandanten von Ostende, Kapitän zur See Tägert. Er
wohnte im zweiten Stock des Hotels Littoral. Von seinem Balkon aus
beobachteten wir wieder die englischen Schiffe. Er erzählte, er und
seine Kameraden von der Marine seien am selben Tag, dem 21. Oktober,
morgens nach Ostende gekommen. Sie hatten sich ins Hotel Majestic
begeben, das für das beste in der Stadt galt. Der Hotelwirt erklärte
aber, er habe kein Zimmer frei, eine Unwahrheit, denn die Saison war
längst vorüber. Vielleicht gab der Name des Hotels die Erklärung
dafür, daß keine Zimmer frei waren -- für deutsche Offiziere. Anstatt
sich ihres Rechtes zu bedienen, durch einen Machtspruch Zimmer zu
verlangen, gingen die Deutschen ganz bescheiden ins Hotel Littoral, das
ihnen bis unters Dach zur Verfügung gestellt wurde. Später zeigte sich,
daß der Tausch für sie ein Glück wurde. Die Landoffiziere waren weniger
nachgiebig gewesen und hatten sich ohne weiteres im Hotel Majestic
eingerichtet, wo Küche und Bedienung bald in vollem Gange waren.

Kapitän zur See Tägert, ein vornehmer, gewissenhafter Mann, gab
Befehl, mir das letzte freie Zimmer zur Verfügung zu stellen. Ich nahm
es sofort in Besitz. Vom Korridor des zweiten Stocks kam man in die
Zimmer, die nach dem Meere zu lagen, und deren Türen die Namen der
Marineoffiziere trugen. Die Glastüren nach außen führten auf einen
Balkon mit bequemen Korbstühlen; von dort hatte man freie Aussicht
übers Meer, auf das englische Geschwader und seine kriegerischen
Unternehmungen.

Von meinem herrlichen Aussichtspunkt aus genoß ich einen ungewöhnlich
prachtvollen Sonnenuntergang. Im Westen glühte die Sonne in einem
eigentümlich hellen Ton mit einem Stich ins Gelbe. Die Wolken in ihrer
Nähe waren mit goldgelben Rändern geschmückt, und der Widerschein
glänzte auf dem Meere. Im übrigen war der ganze Himmel mit Wolken
bedeckt, und ab und zu ging obendrein ein feiner Staubregen nieder,
aber die Fensterscheiben nach der Strandpromenade glühten, als ob es in
den Häusern brenne. Gerade dort, wo der blendende Sonnenglanz das Meer
vergoldet, liegt das englische Geschwader. Den ganzen Tag hat es auf
die deutschen Stellungen geschossen, ich sehe die Blitze der englischen
Schiffskanonen und höre nach einer Weile das Donnern des Schusses.
Jetzt, 5 Uhr 20 nach deutscher Zeit, donnerten die Kanonen so heftig
und rasch hintereinander, daß die Fenster des Kursaals rasselten und
klirrten. Eine halbe Stunde später hörte das Feuer auf. Man glaubte,
das Geschwader gehe nach Norden, um Munition zu holen. Das Gold über
dem Meer verblich, die Dämmerung fiel herein, und ein paar Bojen mit
Blinklicht wurden sichtbar.

Im Lauf des Tages hatten sich viele Zivilisten gezeigt, gegen Abend
aber verschwanden sie. Niemand durfte nach 9 oder früh vor 5 Uhr
ausgehen. Die Straßen wurden nicht erleuchtet, aber viele Geschäfte
hatten Licht bis 9 Uhr. An der Strandpromenade brannte nicht eine
einzige Laterne, hier wanderte man in der Dunkelheit unter deutschen
Soldaten. Von vielen Fenstern aber strahlte Licht aufs Meer hinaus, das
galt nicht als gefährlich, da die feindlichen Schiffe auf alle Fälle
genau orientiert waren. Man glaubte jedoch nicht, daß die Engländer
Ostende beschießen würden, da hundert gefallene Deutsche oder mehr und
die Räumung des Platzes nicht den Verlust vieler Millionen englischen
Kapitals aufwiegen würden, das in der Stadt angelegt sein soll!

Ich wurde aufgefordert, mich dem Kreis der deutschen Marineoffiziere
mittags und abends im Hotel Littoral anzuschließen. Als wir uns nun um
8 Uhr zum erstenmal im Speisesaal versammelten, wurde ich mit ihnen
allen bekannt gemacht. Meine speziellen Freunde wurden außer dem Chef
Kapitänleutnant Beß, Leutnant Haak, Stabsarzt ~Dr.~ Schönfelder und
~Dr.~ Kübler. Wir hielten die folgenden Tage gut zusammen und werden
unsere gemeinsamen Erlebnisse in Ostende wohl niemals vergessen.



41. Das Bombardement von Ostende.


Freitag den 23. Oktober weckte mich ~Dr.~ Kübler, um mir eine Promenade
zum Leuchtturm und dem alten Fort vorzuschlagen. Zurück fuhren wir mit
der elektrischen Bahn. Im Wagen saßen Soldaten und Zivilisten. Unter
jenen war ein alter Landsturmmann, der erzählte, er habe drei Söhne
im Krieg, aber er habe keine Ahnung, wo sie ständen und ob sie noch
lebten. »Sie mögen immerhin fallen,« sagte er, »fürs Vaterland opfert
man alles.«

Auf die Strandpromenade zurückgekehrt, setzten wir uns auf eine Bank am
Kursaal und betrachteten das englische Geschwader durchs Fernrohr. Die
Luft war ungewöhnlich klar, das Wetter strahlend.

Kurz vor ½1 Uhr suchte mich Kapitänleutnant Beß auf. Er war eben mit
Admiral von Schröder von Middelkerke zurückgekehrt und erzählte, die
Straße, auf der wir gestern laubgeschmückte Wagen gesehen hatten, sei
jetzt alles andere als sicher, da ein paar Granaten dort eingeschlagen
hätten. Auf der Strandpromenade durfte sich jetzt das Militär
nicht mehr zeigen; Beß riet mir daher ab, Middelkerke einen Besuch
abzustatten; vielmehr hatte er einen andern, weniger gefährlichen
Vorschlag, nämlich ein paar seiner Seekompagnien und ihre Quartiere zu
besichtigen.

Anderthalb Kompagnien waren im Theater einquartiert. Davor standen
sogenannte Schiffskanonen, kleine, leichte Geschütze von derselben
grauen Farbe, wie sie die Panzerschiffe haben, und von 6-cm-Kaliber.
Die zugehörigen Munitionswagen standen auf dem Fußsteig. Wir betraten
das große, schöne Foyer. An den Wänden entlang hatte die Mannschaft
ihre Betten aufgestellt, Matratzen und Kissen, die der Bürgermeister
von Ostende hatte requirieren müssen. Auf den Stühlen sah man Waffen
und Kleider, auf den Tischen Schüsseln und Tassen. Die Logen des ersten
Ranges waren gleichfalls in Schlafplätze und Aufbewahrungsräume für
Kriegsmaterial verwandelt. Den ganzen Rundgang nahmen Betten ein. In
einigen Logen putzten Marinesoldaten ihre Gewehre oder brachten Kleider
und Leibriemen in Ordnung.

Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, der Küche im Theater
einen Besuch abzustatten. Hier hantierten dicke, joviale Marineköche
in weißen Anzügen und Mützen mit aufgestreiften Ärmeln. Die Kessel
brodelten, und appetitreizende Dämpfe erfüllten den Raum. Ich mußte
natürlich die Gerichte kosten und erhielt eine riesige Portion Gulasch
in einem tiefen Teller vorgesetzt, gekochtes Fleisch, Kartoffeln,
Gemüse und Brühe -- vortrefflich! So gutes Essen bekomme ich nicht im
Hotel, dachte ich, und aß mich satt. Kein Wunder bei solcher Kost, wenn
die deutschen Soldaten so stark, frisch und blühend sind! Läge ich
längere Zeit im Felde und hätte zwischen Offiziers- und Mannschaftskost
zu wählen, ich würde ohne Zaudern die letztere wählen! Sie ist gesund,
kräftig und wohlschmeckend und verschont den Magen der Leute mit
allem unnötigen Ballast. Der gute Gesundheitszustand in der deutschen
Armee beruht zum großen Teil auf der ausgezeichneten und reichlichen
Verpflegung.

Aber nun fehlten nur noch fünf Minuten an 1 Uhr, und wir mußten beim
Mittagstisch der Offiziere pünktlich sein. Wir gingen durch die Rue
du Cerf. An der Ecke dieser Straße und der Digue de Mer, der großen
Strandstraße am Meer, ist das Hotel Littoral. Die Rue du Cerf liegt
einige Meter tiefer als die Strandstraße, die auf der Dünenreihe an
der Küste angelegt ist. Ihr Ende steigt zu der großen Strandstraße
hinan. Oben an der Ecke des Littoral stand eine Gruppe Offiziere in
lebhafter Unterhaltung. Sie zeigten nach Westen und benutzten eifrig
ihre Fernrohre. Wir gingen zu ihnen, neugierig, was wohl los wäre. Das
englische Geschwader lag auf seinem gewöhnlichen Platz im Westen und
Westsüdwest, vielleicht uns etwas näher als sonst, sieben oder acht
Kilometer entfernt.

Aber ein Torpedoboot hatte sich von den andern getrennt und fuhr in
voller Fahrt auf Ostende zu, parallel mit der Küste und dem Lande
so nahe wie möglich. Bald darauf sah man ein anderes Torpedoboot im
Kielwasser des ersten steuern. Was wollten sie, diese Gauner? Man
hörte derbe Worte. »Es ist doch stark, einem so direkt auf den Leib zu
rücken! Offenbar sind sie auf Kundschaft aus, aber welche Frechheit,
sie wissen doch, daß wir Ostende besetzt haben. -- Aha, sie vermuten
Unterseeboote und Torpedoboote im innern Hafen und wollen nun sehen, ob
man etwas draußen von der Reede erkennen kann.«

Nun, ihre Absicht mochte sein was sie wollte, ich ging in mein Zimmer
hinauf und machte mich zum Essen fertig. Dann trat ich auf meinen
Balkon hinaus, überzeugt, die Torpedoboote seien umgekehrt oder wieder
aufs Meer hinausgefahren. Aber nein, sie steuerten noch denselben Kurs
wie bisher und der Schaum stand an ihren Vordersteven!

Unten vor meinem Balkon hörte ich einen Offizier mit Stentorstimme
kommandieren, die Straße solle geräumt werden, kein Mensch dürfe sich
vor der langen Häuserreihe blicken lassen. Nur die Wache vor dem
Littoral durfte auf ihrem Posten bleiben, bis auch sie eine Minute
später Deckung suchte.

Da nahm ich mein Fernrohr und eilte die Treppen hinunter. In dem
eleganten, teppichbelegten Vestibül des Hotels, wo Sofas, Tische
und Stühle zwischen riesigen Topfpflanzen kleine Gruppen bildeten,
gingen Offiziere eilig hin und her, und man erkannte leicht, daß etwas
Außergewöhnliches bevorstand. »Wird man schießen?« fragte ich Beß.
»Ja, es wird geschossen«, antwortete er mit stoischer Ruhe. Durch die
Glastüren des Vestibüls konnte man beobachten, was sich an der Mündung
der Rue du Cerf zutrug: dort kommandierte Admiral von Schröder, dort
sah man Kapitän zur See Tägert, und dort rollte die Mannschaft der
Matrosenbrigade mit fieberhafter Hast die zwei 6-~cm~-Schiffskanonen
heran und ihre Munitionswagen -- andere Artillerie war zurzeit in der
Stadt nicht zur Hand.

Die Straße war von Zivilisten geräumt, und kein anderes Militär als
Bedienung und Leitung der Batterie hielt sich dort auf. Ich durfte
daher nicht ausgehen, konnte aber doch beobachten, wie schnell und
genau die beiden Kanonen gerichtet und wie sie geladen wurden: »Laden!
-- Fertig! -- Feuer!«

Der erste Schuß erdröhnte! Das Echo hallte in der Straßenmündung wider,
und die Fensterscheiben des Hotels klirrten in ihren Rahmen. Ich ging
in den Speisesaal. Von dort war freie Aussicht über das Meer und auf
das erste Torpedoboot. Einen Augenblick später folgte der zweite Schuß.
Der erste schlug unmittelbar vor dem Torpedoboot ins Wasser ein, ohne
daß sich entscheiden ließ, ob er Schaden angerichtet hatte. Auch der
zweite Schuß ging ganz in der Nähe des Ziels nieder.

Im Speisesaal waren mehrere Offiziere. Ich stand zusammen mit dem
Leutnant des ersten Reserve-Seebataillons ~Dr.~ Algermissen aus Colmar.
Acht Fenster des großen Saals gehen aufs Meer hinaus, zwei und der
Eingang auf die Rue du Cerf. An den ersteren stehen gedeckte kleine
Tische, im östlichen Teil des Saals der große Tisch, an dem wir unsere
Mahlzeiten einzunehmen pflegten. Die Decke wird von vier Pfeilern
getragen. An dem zweiten von Westen standen Algermissen und ich.

Sofort als die beiden deutschen Schüsse abgefeuert waren, machten
beide Torpedoboote kehrt, und im selben Augenblick begannen sie zu
feuern. Es blitzte aus den Schiffskanonen, wie es schien, direkt
auf uns zu. »Deckung!« rief Algermissen mir zu, und ich stellte
mich hinter die Säule, die wie Papier fortgeflogen wäre, wenn sie
eine 10-~cm~-Granate getroffen hätte! Einige im Saal folgten unserm
Beispiel, andere aber verschmähten kaltblütig diese Vorsichtsmaßregel,
die sie wohl für ungenügend hielten. Das erste Torpedoboot war etwa
1400 Meter entfernt, die Geschosse kamen also schnell genug ans Ziel.
Die ersten flogen zu kurz, schlugen gerade vor dem Littoral ins Wasser,
und hohe, weiße Wassersäulen stiegen von der Einschlagstelle auf.
Sobald sie eingeschlagen haben, richten wir unsere Fernrohre auf das
Torpedoboot, es blitzt wieder, und wir suchen Schutz, doch bloß für
den Körper, nicht für den Kopf, denn man kann seine Augen von einem
solchen Schauspiel nicht abwenden, man will, man muß es um jeden Preis
sehen! Vergeblich aber wäre es, die Spannung zu schildern, in der man
sich befindet in der Zeit zwischen dem Aufblitzen der Kanonen und dem
Einschlagen der Geschosse. Wenn man fühlt und weiß, daß man selbst das
Ziel des »Mantelsacks« ist, der angeflogen kommt! Es ist das keine
Furcht, denn wenn mich jemand gebeten hätte, ihn an eine sichere Stelle
im Innern der Stadt zu begleiten, ich wäre nicht mitgegangen. Es ist
eine Mischung von atemloser Spannung, intensivem Interesse und einer
Aufmerksamkeit, die sich nichts von dem entgehen lassen will, was vor
sich geht. Deshalb hält man ununterbrochen das Fernrohr bald auf das
Boot, bald auf die Einschlagstelle gerichtet. Ein Geschoß prallte von
der Wasserfläche ab und schlug in ein Dachgesims, 58 Schritte von mir
entfernt, wie ich später feststellte. Ein anderes beschrieb eine
höchst merkwürdige Bahn, ich weiß nicht wie, landete aber schließlich
auf der Steinpromenade am Meer und blieb an dem eisernen Geländer
liegen, ohne zu krepieren. Dort lag es noch ein paar Tage, und die
Wache paßte auf, daß niemand das gefährliche Ding berührte. Ein paarmal
konnte ich sehen und hören, wie die Granaten aufs Wasser schlugen,
abprallten, wie flache Steine über das Wasser tanzten und in die
Kaimauer einschlugen. Erst der Blitz aus der englischen Kanone -- dann
das Einschlagen aufs Wasser -- dann der Knall; bald darauf das Krachen,
wenn eine Fassade getroffen war, dann das Poltern der Ziegel oder
Mauerteile auf die Straße.

Das zweite Torpedoboot, das ich von meinem Platz aus nicht sehen
konnte, schoß ebenso munter wie das erste. Da ich nicht sehen konnte,
wann es schoß, war der Schutz, den mir der Pfeiler bot, erst recht
illusorisch. Die beiden deutschen Kanonen gaben jede fünf oder sechs
Schüsse ab. Ob sie Schaden anrichteten, weiß ich nicht. Alles ging zu
schnell, als daß völlige Treffsicherheit hätte erreicht werden können.
An der abschüssigen Straßenmündung liefen die Kanonen zu stark zurück
und mußten bei jedem Schuß von neuem vorgerückt werden. Das Ganze war
in zwölf Minuten vorüber. Die Boote machten fast kehrt und fuhren
schleunigst nach Westen zurück, fortwährend feuernd. Sie gaben etwa
dreißig Schuß ab, wie mir die deutschen Offiziere sagten. Gleichzeitig
schossen sie mit Maschinengewehren. Aber der Abstand nahm zu, und
schließlich hörte das Feuer auf.

»Wie kommt es, daß nicht ein einziger Schuß unser Hotel getroffen
hat?« fragte ich. »Die Engländer müssen doch gesehen haben, daß die
Quelle des deutschen Feuers gerade unsere Straßenecke war, und daß
die Bedienung der Kanonen die einzigen lebenden Wesen auf der ganzen
Strandstraße bildete.«

»Das scheint uns so, aber bei der schnellen Bewegung der Boote konnten
sie wohl kaum entscheiden, woher das Feuer kam. Vielleicht hatten sie
ihre Aufmerksamkeit auf den Hafen gerichtet in dem Glauben, daß wir
dort Torpedoboote liegen hätten. Mehrere Schüsse gingen auch auf den
Hafen.«

»Merkwürdig,« warf ein anderer ein, »daß mehrere Schüsse das Hotel
Majestic getroffen und dort ein paar Offiziere getötet haben. Majestic
ist ein großes, weißes Prachtgebäude, wo die Engländer vermutlich einen
guten Fang zu tun glaubten.«

»Es ist sehr bezeichnend,« fügte ein dritter hinzu, »daß sie uns mit
ihrem Besuch gerade um 1 Uhr beehrt haben, wo sie wußten, daß alle
Offiziere bei Tisch saßen. Offenbar haben sie gedacht, sie könnten
ungehindert vorüberkommen und nach ausgeführter Erkundung wieder
verschwinden, ehe wir fertig wurden.«

Als alles ruhig war, setzten wir uns zu Tisch, und dann begaben Beß,
Kübler und ich uns nach dem Hotel Majestic.

Im Baedeker von 1910 kommt Hotel Majestic unter dem Namen Grand Hôtel
des Bains vor. Seitdem hat es seinen Namen und wahrscheinlich auch
den Besitzer gewechselt. Seine schöne, weiße Fassade war von sechs
Granaten, deren Einschlagstellen wir betrachteten, übel mitgenommen.
Sie hatten große, klaffende Löcher in die Mauern gerissen; auf dem
Fußsteig davor Haufen von Steinen, Ziegeln und Bewurf, und ein
dekorativer Gipsengel mit ausgebreiteten Flügeln lag in Scherben am
Boden.

Im Vestibül lagen Schränke, Tische und Stühle durcheinander. Der
Speisesaal war vor einer Stunde noch einer der elegantesten von
Europa gewesen: der Fußboden mit dicken, roten Brüsseler Teppichen
belegt, die Wände in Weiß und Gold und mit Spiegeln dekoriert, an der
Decke prachtvolle Kronleuchter -- jetzt alles ein Bild grauenhafter
Verwüstung! Zwei Granaten hatten gerade in den unteren Teil der langen
Fensterreihe eingeschlagen, und ihre Splitter hatten klaffende Löcher
in Wände und Decke gerissen. Die Gipsornamente waren heruntergefallen
und lagen in Trümmern, und der Teppich verschwand fast unter ihrem
dicken weißen Staub. Die Fenster waren zu Pulver zermalmt, und die
Spiegelscheiben in merkwürdige Sternfiguren zersprungen, deren Scherben
bei der geringsten Berührung herabzufallen drohten. Tische und Stühle
in Trümmern, die Tischtücher in Fetzen. Nur an den Ecken des Saals,
besonders den westlichen, standen die Tische noch auf den Beinen,
aber Teller und Gläser waren zerschlagen. Füße von Rotwein- und
Champagnergläsern standen noch da, die oberen Teile waren abgeschlagen.

Bei Beginn der Beschießung waren etwa fünfzig Offiziere zum Essen
versammelt gewesen; an einigen Tischen hatte man schon zu essen
begonnen. Die meisten hatten in der Westhälfte des Saals gesessen
und waren deshalb auf wunderbare Weise gerettet worden. An einem
Fenstertisch in der Osthälfte aber hatte der Marinearzt ~Dr.~ Lippe und
ein Adjutant der Matrosenbrigade Platz genommen und bereits zu dinieren
angefangen. Durch den unteren Teil gerade dieses Fensters hatte eine
Granate ihren Weg genommen. Nach den ersten Treffern hatten sich die
beiden Herren wahrscheinlich zu sehr ausgesetzt gefühlt. ~Dr.~ Lippe
war deshalb aufgestanden, aber nur bis an das andere Ende des Tisches
gekommen, als eine Granate hereinsauste und ihn mitten in den Rücken
traf. Er wurde vollständig zerrissen! Was von ihm noch übrig war,
lag vornüber, der Kopf auf den Armen, in einer Blutlache. Von der
Uniform nur noch Fetzen, ein Stück des einen Beines fand man unter
einem Tisch auf der andern Seite des Saals, alles übrige klebte in
Form von Blutflecken und Eingeweiden an Wänden, Decke und Tischtüchern
ringsum. ~Dr.~ Schönfelder, der sofort herbeigeeilt war, konnte nur
die Überreste seines Kameraden in einem Tischtuch sammeln und in ein
Leichenhaus bringen lassen. Der Adjutant hatte eine schwere Kopfwunde
erhalten und wurde ins nächste Krankenhaus getragen.

Ein prächtiger Landsturmmann, der sich mit seinem jungen Sohn im Saal
aufgehalten hatte, erzählte mir, alle andern Mittagsgäste seien mit dem
Leben davongekommen, die meisten aber infolge des Luftdrucks bewußtlos
zu Boden gestürzt, einige auch durch herumfliegende Splitter leicht
verwundet. Die Betäubten erholten sich aber bald wieder.

Das Schicksal ist unergründlich. Weshalb mußte gerade er, der die
Gefahr erkannte und einen sichereren Platz aufsuchen wollte, vom Tode
erreicht werden, während wir, die wir von einem andern Hotel aus das
Schauspiel beobachteten, verschont blieben? Man sagte mir später, mein
Platz sei durchaus nicht sicher gewesen, denn eine Granate kann von
einer Mauer im Hintergrund abprallen, und man kann daher von rückwärts
durch ihre Splitter getroffen werden. In freiem Gelände hat man mehr
Aussicht, unverletzt zu bleiben. Streng genommen hatten also die
Artilleristen an der Straßenmündung einen besseren Platz als wir! Wir
Gäste des Littoral hatten indessen keinen Anlaß, uns über die nichts
weniger als gastfreie Aufnahme zu beklagen, die uns zuerst im Hotel
Majestic zuteil geworden war. Wären die deutschen Marineoffiziere dort
gut aufgenommen worden, dann hätte vielleicht mancher von uns das
Schicksal ~Dr.~ Lippes geteilt.

In der Nacht vom 26. zum 27. Oktober kehrte ich nach Brüssel zurück.



42. Mein erster Abend in Bapaume.


Als ich am 27. Oktober im Hotel zu Brüssel mein Frühstück einnahm,
kam ein stattlicher Offizier gerade auf meinen Tisch zu. Er lächelte
schelmisch, ob ich ihn wohl wiedererkennen würde. Ja, natürlich, ich
rief seinen Namen, ehe er noch ein Wort hervorgebracht hatte: Herzog
Adolf Friedrich zu Mecklenburg! Der Herzog gehört seit mehreren Jahren
zu meinen Freunden. In der geographischen Welt hat er einen berühmten
Namen wegen seiner gewissenhaft vorbereiteten, meisterhaft ausgeführten
und gut und unterhaltend geschilderten afrikanischen Reisen. Jetzt
war er Gouverneur von Togo, befand sich aber gerade auf Urlaub in
Deutschland, als der Krieg ausbrach. Unter solchen Verhältnissen in
Deutschlands großer Schicksalsstunde konnte er nicht nach Afrika
fahren, und da er als Leiter einer Kolonie in der Heimat kein Kommando
hatte, meldete er sich bei seiner alten Truppe, dem Gardekorps, das in
Bapaume lag und zur sechsten Armee gehörte, als Ordonnanzoffizier.

Wir unterhielten uns, bis er wieder zu seinem Korps zurückkehren mußte.
Das Ergebnis der Unterredung war, daß ich hoch und heilig versprechen
mußte, einige Tage in Bapaume sein Gast zu sein. Ich könne kommen, wann
es mir passe, jederzeit. Dann nahmen wir bis auf weiteres Abschied.

Am 28. besichtigte ich mit General Bailer und Geheimrat von Lumm
nochmals die Forts von Antwerpen, um photographische Aufnahmen zu
machen. Am 29. sollte ich den Generalgouverneur an die Front in
der Umgegend von Dixmuiden begleiten, ein Plan, dessen Ausführung
die Ankunft des Königs von Sachsen, der Antwerpen sehen wollte,
durchkreuzte. Ich faßte also einen kurzen Entschluß und fuhr am 30.
Oktober mit einem Auto, das Herr von Siemens, der Chef der Firma
Siemens & Halske, selbst lenkte, nach Bapaume.

Ich hatte mich auch dort auf der Kommandantur zu melden und wurde wie
gewöhnlich mit der größten Freundlichkeit aufgenommen. Dann kam der
Chef, ein alter bayrischer Oberst, der seinen Abschied genommen hatte,
aber bei Kriegsausbruch wieder in Dienst getreten war. Und nun ging es
aus einem andern Ton. »Was ist das dort für ein Zivilist? Was haben Sie
hier zu tun? Woher kommen Sie? Sind Sie Zeitungsmensch? Ich werde schon
herausbringen, was Sie für einer sind, und ob Sie die Erlaubnis haben,
sich in Bapaume aufzuhalten.« Auf alle erdenkliche Weise versuchte
ich, den Obersten zu beruhigen, aber er fuhr mich an wie ein richtiger
Korporal. Als ich ihn ein paar Tage später wiedertraf, fragte er mich:
»Können Sie mir je verzeihen, daß ich neulich so grob zu Ihnen war?«
-- »Mein lieber Oberst,« erwiderte ich, »ich kann Sie versichern,
daß es mir ein unbezahlbares Vergnügen gewesen ist, einen bayrischen
Kriegsmann in seiner vollen Kraft und Autorität zu sehen. Ich konnte ja
ein Spion sein, und Sie hatten nur Ihrer Instruktion zu folgen.«

Darauf führte mich ein Unteroffizier in das Haus, wo ich wohnen
sollte. Ich hatte mich kaum eingerichtet, da klopfte es an meine Tür.
»~Entrez!~« rief ich so neutral wie möglich, und herein trat Herzog
Adolf Friedrich zu Mecklenburg. Jung, froh und herzlich hielt er mir
beide Hände hin und hieß mich in Bapaume willkommen. »Aber dies Zimmer
ist zu klein.« -- »Nein, es reicht vollkommen.« -- »Schön! Wir nehmen
die Mahlzeiten zusammen ein, ich bin jetzt mehrere Tage dienstfrei und
werde Ihnen alles zeigen, was hierherum sehenswert ist.«

Dann plauderten wir, bis es Zeit war zum Abendessen im Offizierskasino.
Als wir eintraten, waren schon alle versammelt. Am großen Tisch
präsidierte Exzellenz von Plettenberg, kommandierender General des
Gardekorps, Generaladjutant des Kaisers und ein alter Freund des
schwedischen Generals Bildt. Ein großer, schlanker, weißhaariger Mann,
ein echter Soldat, fühlte er sich nirgends so wohl wie im dichtesten
Kugelregen. Er setzte sich gleich den Feldmarschällen von Haeseler und
von der Goltz unbedenklich den schlimmsten Gefahren aus, er konnte
mitten in der Nacht zu den vordersten Schützengräben gehen und in einer
Entfernung von 200 Metern das französische Gewehrfeuer auf sich lenken
-- nur um zu sehen, wie es den Soldaten ging, und sich persönlich
davon zu überzeugen, ob alles in bester Ordnung sei. Ein großartiger
Zug nach meinem Dafürhalten; denn der Mut des Heerführers stählt
den der Soldaten. General Plettenberg hatte eine frische, impulsive
Art, war aber jetzt sehr ernst, wohl weil er kürzlich einen Sohn im
Kriege verloren hatte. Oft schwieg er lange und saß nachdenklich am
Tisch, dann aber blitzten plötzlich seine Augen, und er scherzte, wie
gesundheitsgefährlich doch der Krieg sei; man schösse so fahrlässig,
die Kanonen würden so unvorsichtig aufgestellt und die Granaten
schlügen manchmal gerade da ein, wo sich Menschen aufhielten.

Als der General die Gesellschaft zeitig verließ, um an seine nächtliche
Arbeit zu gehen, lud der Herzog ein Dutzend fröhliche Offiziere in sein
Haus. Im Salon wurden die Zigarren angebrannt und schäumender Wein
geschenkt. Die Stimmung war großartig. Nirgends eine Verdrießlichkeit
bei diesen Männern, von denen viele noch am selben Tage dem Tod ins
Angesicht geschaut hatten, aus Schützengräben oder Luftschiffen
oder auf gewagten Patrouillen. Hier waren Deutschlands vornehmste
Familien vertreten. Bald debattierte man in kleinen Gruppen, bald
war die Unterhaltung allgemein, laut, lebhaft, munter. Als aber ein
Generalstäbler geradeswegs vom Generalkommando kam und die letzten
Nachrichten vom östlichen Kriegsschauplatz und von fernen Seekämpfen
brachte, da wurde es still, alle hörten zu, und dann drehte sich die
Unterhaltung um das ernste Wagespiel des Kriegs.

Unter den Gästen war der junge Erbprinz Friedrich von Hohenzollern,
ein bartloser Held, durch verwandtschaftliche Bande mit nicht weniger
als drei Königen verbunden. Er ist ein Neffe des Königs von Rumänien,
außerdem mit dem unglücklichen Könige von Belgien verwandt, und endlich
Schwager des Exkönigs Manuel von Portugal. Der Erbprinz war gemütlich
und voll witziger Einfälle, lachte selbst aber niemals.

Ferner war unter den Anwesenden Herr Schoelvinck, der Direktor von
Benz & Co. Jetzt stand er als Hauptmann im Felde. Er war einer von den
vier Offizieren, die unter dem Schutz der weißen Parlamentärflagge
nach Reims entsandt wurden, um über die Kapitulation der Stadt zu
unterhandeln. Sie wurden gefangen genommen und als Spione angesehen,
und hätten wahrscheinlich das übliche Schicksal der Spione erlitten,
hätte sich der Kaiser nicht an den amerikanischen Gesandten in Paris
gewandt, der ihre Freilassung erwirkte. Über die Behandlung, die sie
erfuhren, werden sie, denke ich, wohl später selbst dies und jenes zu
berichten haben.

[Illustration: Schiffsgeschütze bei Ostende.]

[Illustration: Ein Blick in den zerschossenen Speisesaal des Hotels
Majestic in Ostende.]

Noch einer von den vier Parlamentären war zugegen, der Freiwillige
Carl Clewing, Mitglied des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin,
ein entzückender Mensch voll Humor, Schauspieler und Sänger zugleich.
Ein Schauspieler mit dem Eisernen Kreuz ist nicht gerade etwas
Alltägliches; aber was sieht man dieser Art nicht an der endlos langen
deutschen Front! Clewing ist ein Lautensänger im Stil Sven Scholanders;
die beiden Troubadours hatten gerade im Herbst eine gemeinsame
Sängerfahrt unternehmen wollen. Aber in Clewings Ohren sollten
andere Töne klingen, die der Schrapnells, und auf einer andern Bühne
sollte er auftreten als auf der des Schauspielhauses! Er klagte nicht
über den Tausch; früher hatte er als Schauspieler und Sänger Freude
verbreitet, nun ging von ihm auch der Glanz des Kriegers aus, der
tapfer für sein Vaterland gekämpft hat.

[Illustration: Stabsarzt ~Dr.~ Schönfelder und der Verfasser in den
Dünen.]

[Illustration: Artilleriestellung bei Ostende.]

Von der Laute hatte ihn aber nicht einmal der Krieg ganz zu trennen
vermocht. Er hatte sein Saitenspiel bei sich, setzte sich mitten unter
uns auf einen Stuhl, sah sein Publikum an und lachte schelmisch. Er
sang französische Chansons, sang deutsche Soldatenlieder aus alter
Zeit, sang Winterweisen aus dem Jahre 1530 und »Die goldene Kugel«,
komponiert von ihm selbst. Aber das Beste war doch, daß er mich mit
Bellmann überraschte. Er sang ein paar von Fredmans Episteln in
Niedners Übersetzung:

    Weile an dieser Quelle!
    Sieh! Unser Frühstück ist zur Stelle:
    Rotwein und Pimpinelle
    Und Bekassinchen zart und fein!

Und dann sang er ein frisches, hinreißendes Soldatenlied; der Text
war vermutlich von ihm selbst, die Melodie aber die unseres bekannten
Liedes: »Es gingen drei Mädchen im Sonnenschein«, und in den Refrain:
»Trarallalalala«, stimmten alle deutschen Offiziere mit so wildem
Entzücken ein, daß die Leuchter klirrten und die Ofenklappen rasselten.

So ging der Abend hin, unmerklich überschritt die Zeit die
Mitternachtsstunde, und sie war in die Nähe des zweiten Glockenschlags
gerückt, als wir zum letztenmal in den Refrain einstimmten:
»Trarallalalala, trarallalalala, trarallallallallallallallalla«.



43. An der Front bei Lille.


Am Morgen des 30. Oktober bestiegen wir das Auto des Herzogs, um zur
Feuerlinie zwischen Lille und Armentières hinauszufahren. Wir waren zu
viert: Am Steuer der Chauffeur des Herzogs, neben ihm der Erbprinz von
Hohenzollern, das Signalhorn besorgend, der Herzog und ich. Es hatte
geregnet. Die Landwege waren schrecklich, die Chausseen schlüpfrig und
gefährlich, und über dem nordöstlichen Frankreich lag kühler Nebel.

Zunächst bogen wir auf die große Landstraße nach Arras ein und
behielten diesen Kurs bei, solange man ruhig fahren konnte, ohne gerade
totgeschossen zu werden. Bei dem zusammengeschossenen und verbrannten
Boiry bogen wir rechts ab, verloren aber in dem Gewirr von Dorfstraßen
den Kurs. In Croisilles waren wir wieder auf dem rechten Weg. Hier
zeigten sich Flaggen des Roten Kreuzes, Schwerverwundete wurden in die
Krankenhäuser getragen. Eine Kolonne leichte Feldhaubitzen rollte nach
Arras. Auf dem Felde nahmen Soldaten friedlich Kartoffeln aus, und
in ihrer Nähe waren alte Männer, Frauen und Kinder mit der Ernte von
Zuckerrüben beschäftigt, die hier viel angebaut werden.

Endlich sind wir auf der großen Straße zwischen Cambrai und Douai.
Über Pont-à-Marcq kommen wir bis an den äußeren Fortgürtel von Lille
heran und dann nach wenigen Minuten durch die Porte Douai in die Stadt
hinein. Der Stadtteil in der Nähe dieses Tores liegt in Trümmern.

Im übrigen ist Lille ganz unversehrt. Man kann straßauf, straßab
fahren, ohne irgendwo eine Wirkung des Granatfeuers zu sehen. In der
Mitte der Stadt sind die Straßen obendrein belebt, und viel Volk ist
unterwegs. Junge Damen von unzweifelhaftem Ruf schweben in modernen
Kostümen über die Fußsteige wie Schmetterlinge. Viele Geschäfte und
Hotels sind offen und in Betrieb, als wenn nichts geschehen wäre.
Das einzige, was an den Krieg erinnert, ist außer den zerstörten
Stadtteilen das deutsche Militär -- Reiter, Wagen und Kolonnen.

Hinter dem Dorf Lomme fahren wir weiter in der Richtung nach
Armentières. Rechts und links Wäldchen, Gärten, Parks, Gehöfte und
Dörfer; der Weg ist schmal und aufgeweicht. Eine gut maskierte
Batterie ist in voller Tätigkeit. Von der feindlichen Seite kommt der
Kanonendonner immer näher, wird aber meist von dem steten Surren des
Automobils übertönt. Nur wenn wir die Fahrt verlangsamen oder halten,
scheint der Donner beunruhigend nahe zu sein. Bei einem Landgut,
vielleicht einem Herrensitz, lag etwa 100 Meter nördlich der Straße ein
Wäldchen kaum bis zur Hälfte entlaubter Bäume. In voller Schnelligkeit
fuhren wir, sahen aber glücklicherweise einen jungen Leutnant und zwei
oder drei Soldaten, die unter den Bäumen standen, uns verzweifelte
Zeichen machten und so laut als ihre Lungen es vermochten, »Halt!«
riefen.

Wir hielten sofort, so schnell das bei der raschen Fahrt möglich war,
und gingen über eine sumpfige Wiese zu dem Leutnant hin, der an einem
Tisch mit Karten, Schmiegen, Federn, Ferngläsern usw. stand, und
hörten, jeder Schritt weiter in dieser Richtung sei lebensgefährlich.
Und er schien recht zu haben: es klang, als wären wir von allen Seiten
vom Feuer umgeben! Vor uns, auf einer Linie von Nordnordost nach
Südsüdwest, lagen die nächsten deutschen Schützengräben; deutsche
Artilleriestellungen waren vor, hinter und neben uns. Die Batterie, an
der wir eben vorübergefahren waren, entsandte ihre vollen Ladungen,
ihre Geschosse pfiffen nur so über die Baumwipfel. Vor uns im Norden,
Westen und Südwesten donnerten französische Batterien. Wir waren wie in
einem Ring von Kanonen, die einander laute Liebenswürdigkeiten zuriefen.

In nächster Nähe des Wäldchens stand eine Batterie von
15-~cm~-Haubitzen, zwischen Bäumen und Büschen vortrefflich versteckt;
man sah sie erst aus nächster Nähe. Die Kanonen waren zum Teil mit Laub
bedeckt, damit sie nicht von obenher erkannt würden; Munitionsvorrat,
Hütten und Proviant der Bedienung war ebenso sorgfältig verborgen.
Zum Schutz gegen feindliches Feuer hatten die Leute unterirdische
Höhlen. Aber jetzt saßen sie oben bei ihren Geschützen in voller
Bereitschaft. »Warum schießen Sie nicht?« fragte ich. »Dort über
dem Wäldchen«, antwortete der Leutnant und zeigte nach Südwesten,
»kreist ein französischer Flieger, jedenfalls will er unsere Batterie
feststellen. Wir haben wahrscheinlich auf der französischen Seite
Schaden angerichtet, und nun suchen sie uns, bisher aber vergeblich.
Die feindlichen Granaten krepieren südwestlich von hier in einem
Abstand von nur 500 Metern. Noch gehen sie nicht bis hierhin, aber sie
kommen näher und können die Batterie jeden Augenblick erreichen. Wenn
wir jetzt schießen, während der Flieger in der Luft ist, dann hätten
wir bald das feindliche Feuer über uns.«

Der Flieger zog ein ums andere Mal seine Kreise rings um das Wäldchen.
Solange wir an dem Beobachtungsplatz des Leutnants verweilten, kreiste
er über demselben Fleck; er suchte offenbar die Antwort auf eine ganz
bestimmte Frage. Jedenfalls sollte die Projektion seiner Flugbahn auf
dem Erdboden das Ziel für die feindlichen Granaten angeben; auch schien
er mit Flaggen und mit weißem und rotem Licht Signale zu geben. Die
Batterien, die an diesem Teil der Front den Deutschen gegenüberstanden,
sollten alle englische sein.

Der Leutnant und die Soldaten auf dem Beobachtungsplatz und an
der Batterie verfolgten die Bewegungen des Fliegers mit größter
Aufmerksamkeit, und unter den Bäumen standen besondere Wachen, die
»Halt!« rufen mußten, falls jemand in der Nähe ging oder sich rührte,
während der Flieger seinen Aeroplan so steuerte, daß er freie Übersicht
auf dieser Seite hatte. Wenn er aber langsam umgekehrt war und uns den
Rücken wandte, durften wir uns wieder frei bewegen. Doch war sein Kreis
nur klein, und wer von der Batterie zum Beobachtungsplatz ging, mußte
sich beeilen, denn bald war der Feind wieder da, und man lief Gefahr,
entdeckt zu werden.

Bei den Haubitzen hatten die Artilleristen jetzt nichts zu tun. Bei der
einen frühstückten sie, bei einer andern las ein Soldat laut aus der
Zeitung vor. Zu ihrem großen Vergnügen machte ich ein paar Aufnahmen
von ihnen. Als der Flieger uns dann wieder den Rücken zukehrte, gingen
wir schnell im Schutz der Bäume über die Wiese zum Auto zurück.

Um nach Hause zu fahren, war es noch zu früh; wir konnten noch der
Front im Nordwesten einen Besuch abstatten. Deshalb kehrten wir
nach der Außenlinie von Lille zurück und schlugen dann die Straße
nach St. André, Verlinghem und Quesnoy ein. In St. André lag das
Oberkommando des Korps; hier machten wir halt, und der Herzog fragte
den kommandierenden General, wie weit wir in dieser Richtung fahren
könnten. Bis Quesnoy und noch ein Stück weiter; vielleicht könnten wir
auch die österreichischen 30,5-~cm~-Kanonen in Tätigkeit sehen!

Wir fuhren in der angegebenen Richtung und überholten verschiedene
große Kolonnen, die die Front mit immer neuem Material und neuem
Proviant versehen. Wachtposten wiesen uns auf die Straße zur
österreichischen Batterie. Die Straße war nicht gerade breit; in
der Mitte war sie gepflastert, zu beiden Seiten aber lief ein
ungepflasterter, etwa drei Meter breiter Streifen, der bei dem jetzigen
Wetter einem Schlammbad glich. Der Verkehr war lebhaft, schnelles
Fahren also unmöglich. Ein Stück weiter vorn erreichten wir die
hintersten Automobile von der gewaltigen Kolonne der Mörserbatterie.
Die beiden Mörser waren am weitesten vorn, der Zug hielt und nahm die
rechte Hälfte des Weges ein. Wir stiegen daher hinter der Kolonne aus
und gingen zu Fuß weiter.

Der Weg lag gut einen Meter höher als das Feld rechts. Von links her,
von Südwesten, wurde tüchtig in der Richtung auf uns geschossen. Ein
ums andere Mal krepierten Schrapnells in unserer Nähe, und unaufhörlich
bildeten die Explosionen am Himmel kleine weiße Wölkchen, aus deren
Kern ein Blitz aufflammte. Dann wußten wir, daß der Schrotkegel
unterwegs war. In Hockstellung suchten wir daher Schutz hinter dem
Weg und den Automobilen der Batterie. Wir waren mitten im Feuer
und konnten jeden Augenblick getroffen werden. Unsere Deckung war
durchaus ungenügend, denn die Wagen standen einige Meter voneinander
entfernt, und im übrigen hätte ein Schuß bequem durch mehrere von ihnen
hindurchgehen können.

Je weiter wir vorkamen, desto häufiger schienen die Explosionen
zu werden. Da trafen wir einen Offizier, der uns mitteilte, die
österreichische Batterie sei nicht in Tätigkeit, und weiterzugehen
sei mehr als gefährlich. Wahrscheinlich hatte man durch Flieger die
Kolonne festgestellt und sie zum Ziel für das Feuer mehrerer Batterien
genommen. Das häßliche Pfeifen durchschnitt die Luft, man schoß sich
auf die Mörser und ihre Wagen ein. Wir hielten es daher für das
klügste, diese gefährliche Stelle zu verlassen.

Wie wir eben zu unserm Automobil auf die Landstraße hinaufgekommen
waren, erhielten wir von der englischen Batterie eine ganze Salve. Die
vier Schüsse erfolgten in kurzen Zwischenräumen, alle vier schienen
unser Auto zu suchen. Das erste Schrapnell krepierte etwa zwanzig Meter
hoch über dem Felde und gerade vor uns und dem Automobil. Ich hatte
das deutliche Gefühl, mich mitten in seinem Schrotkegel zu befinden
und war erstaunt, daß ich nicht plötzlich irgendwo in meinem Körper
einen Schmerz fühlte. Die zwei folgenden Schüsse krepierten etwas
seitwärts von dem ersten. Der vierte kam besonders nahe. Es ist, als
hörte man den Tod pfeifen, wenn ein solches Dings gerade auf einen
zukommt. Wir hörten ihn -- er kam von Südwesten. Wo er flog, schien die
Luft zu zischen und zu brennen. Das Pfeifen kam näher, ging über uns
weg und verklang hinter uns. Wir bückten uns alle drei. Die Bewegung
macht man ganz unwillkürlich, und auch Offiziere, die schon im Feuer
gewesen sind, wenden diese Vorsichtsmaßregel an. Mit der Zeit aber
gewöhnt man sich das ab, wenn man sich klar gemacht hat, wie nutzlos
es ist, Schrapnells aus dem Wege gehen zu wollen. Ich hörte später
Artillerieoffiziere sagen, wenn man das Pfeifen ganz in der Nähe
vernähme und das Geschoß unmittelbar vor sich glaube, dann sei es
bereits vorüber.

In welcher Höhe wohl das Geschoß über uns hingegangen war? Der Herzog
schätzte den Abstand auf etwa 8 oder 10 Meter, der Erbprinz auf
höchstens 15. Mir schien es so nahe gewesen zu sein, daß es meine Mütze
hätte streifen können. Das Merkwürdigste aber an diesem freundlichen
Gruß der Engländer war, daß, während die drei ersten Geschosse
explodiert waren, das vierte gar nicht krepierte. Wäre das geschehen,
dann hätten wir aller Wahrscheinlichkeit nach alle drei dagelegen! Das
Geschoß ging in einiger Entfernung hinter uns in den weichen Boden
hinein und, wie ich zu hören glaubte, mit einem Laut, wie wenn man
einen Stein ins Wasser wirft.

Gewöhnlich ist es eine Weile still, wenn eine Batterie ihre vier
Schüsse abgegeben hat. Hat man ein Auto oder ein Pferd zur Hand,
so sucht man einen sichereren Platz, wenn man nicht von der ersten
Feuertaufe so abgehärtet ist, daß man sich nicht weiter darum kümmert.
Wir konnten als sicher annehmen, daß wir so lange Zeit Ruhe hatten, als
die Engländer brauchten, um zu laden, und hielten es für das beste, uns
etwas zurückzuziehen. Der Herzog, ein ungewöhnlich kaltblütiger Mensch,
meinte doch, er wolle mein Leben nicht auf dem Gewissen haben, zum
allerwenigsten jetzt, wo ich sein Gast sei.

Wir nahmen also wieder unsere Plätze ein und fuhren zurück. Rechts
von uns pfiff es zuweilen in den Baumwipfeln und eine Explosion
erfolgte wie von einem Feuerwerkskörper. Dann begegneten wir einer
Munitionskolonne, der wir in den Schlamm hinein ausweichen mußten.
Solange wir geradeaus fuhren, ging das; als wir aber hinter der Kolonne
wieder auf das Pflaster hinaufwollten, schleifte das Rad, und das
Auto fuhr sich in dem Morast fest! Seine Absicht schien zu sein, uns
noch mehrere englische Grüße zu verschaffen! Schließlich war nichts
anderes zu tun, als auszusteigen, bis das erleichterte Auto wieder aufs
Pflaster hinaufkam. Dann ging es weiter nach Lille und von da nach
Bapaume zurück, wo wir bei Einbruch der Dunkelheit ankamen.



44. Die B(apaumer) Z(eitung) am Mittag.


Bapaume hat auf seinem kleinen Marktplatz ein Rathaus, das für ein
Landstädtchen eine ganz prächtige, auf einer Arkade in gotischem Stil
errichtete Fassade hat. An einer Säule hängt eine Anschlagtafel, auf
der täglich die letzten Kriegsnachrichten zu lesen sind. In Bapaume
erscheint nämlich eine am Orte gesetzte und gedruckte Zeitung, die
»B(apaumer) Z(eitung) am Mittag«, deren Redakteur Herr Clewing ist. Sie
erscheint in einer Auflage von 600 Exemplaren, immer nur eine Seite
mit großen Lettern auf gelbem, dünnen Papier.

Die »Bapaumer Zeitung am Mittag« befolgt die gleichen ehrlichen
Grundsätze wie die ganze deutsche Presse, die ihre große Verantwortung
gegenüber der Nation und der kämpfenden Armee wohl erkannt hat. Für
die Soldaten, die Tag und Nacht die schwerste Last zu tragen haben
und fürs Vaterland ihr Leben hingeben, ist nur die Wahrheit, die
reine, klare Wahrheit gut genug. In den Ländern der Entente hat
die Presse noch eine besondere und sehr wichtige Aufgabe, die der
deutschen Presse nicht obliegt, nämlich die, den Mut der Soldaten
anzufeuern und die Hoffnungen der Masse des Volkes aufrechtzuerhalten.
Da nun frohe Nachrichten dort sehr dünn gesät sind, werden sie
in den Redaktionen der verschiedenen Zeitungen fabriziert. Die
deutsche Presse _braucht_ nicht den Mut der Nation anzufeuern, er
brennt in klarer, reiner Flamme! Das deutsche Volk verlangt von
seiner Presse, die ganze Wahrheit zu erfahren, sei sie nun gut oder
schlimm. Gute Nachrichten werden nicht aufgebauscht, schlimme nicht
unterschätzt. Die ganze Nation will über alle Kriegsschauplätze
gut orientiert sein und ihre Zukunftspläne nicht auf einem auf die
Dauer doch unhaltbaren Gewebe von Lügen aufbauen. Ist es verkehrt
gegangen, so ist es am besten, man erfährt das Unglück in seinem
ganzen Umfang, um die Schäden wieder gutmachen und sie in Zukunft
vermeiden zu können. In Deutschland verläßt sich das Volk auf die
Wahrhaftigkeit und das Verantwortlichkeitsgefühl der Presse. Da
strömen die Freiwilligen zu Hunderttausenden unter die Fahnen, ohne
daß Künste und Fälschungen angewandt werden müssen. Sie treibt der
germanische Geist, Nationalstolz, Pflichtgefühl und Ehrgeiz. Nicht
_ein_ Waffenfähiger zaudert, hinauszuziehen und zu sterben; denn das
ist allen klar: will die Vorsehung, daß Deutschland untergeht, so
soll wenigstens der letzte Deutsche auf der letzten Schanze gefallen
sein, wenn die Wellen über dem Wrack zusammenschlagen. Deshalb hat in
diesem Krieg die Presse der Zentralmächte eine viel leichtere Aufgabe
als die Presse der feindlichen Länder. Sie hat nur den Verlauf der
Ereignisse zu registrieren und die Neuigkeiten aus Ost und West und
von fernen fremden Meeren mitzuteilen; sie braucht aber nicht zu dem
ehrlosen Mittel zu greifen, ihre Leser zu betrügen und mit erdichteten
Siegesnachrichten neue Scharen in die Werbelokale zu treiben.

Jeden Tag, sobald die »B. Z. am Mittag« erschienen ist, versammelt
sich vor der Anschlagstafel des Bapaumer Rathauses eine Gruppe eifrig
lesender Soldaten. Es ist erfrischend, sie zu beobachten. Zigaretten
oder Pfeifen im Munde, die Hände in den Hosentaschen, lesen sie langsam
und genau. Noch sind kaum andere als frohe Nachrichten zu melden
gewesen, aber die Soldaten bewahren ihre Ruhe. Höchstens kann man ein
schwaches Lächeln bemerken oder ein Aufblitzen in den Augen. Dieselbe
Ruhe zeigen sie, wenn einmal eine betrübende Nachricht gebracht wird,
zum Beispiel daß ein Kriegsschiff verloren gegangen ist.

Zuweilen sieht man Soldaten, die sich nicht damit begnügen, zu lesen --
sie schreiben gleich die ganze Zeitung in ihre Notizbücher ab. Weshalb?
Wahrscheinlich sind sie nach der vordersten Front unterwegs, nach den
Schützengräben, wo sie ihren von der Welt abgeschlossenen Kameraden den
Inhalt der Telegramme mitteilen wollen. --



45. Im Schützengraben.


In der letzten Oktobernacht war es unmöglich, die Besatzungen der
Schützengräben bei dem Dorfe Monchy-au-Bois, nicht weit von Bapaume,
in der üblichen Weise zu wechseln. Bloß ein Mann oder ein paar konnten
auf einmal zu den Gräben kriechen. Wenn der Mond nicht scheint oder die
Gegend in Nebel gehüllt ist, können die Soldaten truppweise vorgehen;
heute nacht aber waren sie der Gefahr ausgesetzt wie am Tage und mußten
die größte Vorsicht beobachten.

Auch dem kaltblütigsten Soldaten muß es seltsam vorkommen, wenn er
auf Fußspitzen und Ellenbogen durchs Gras kriechen soll, zumal da
er noch das Gewehr zu schleppen hat. Er muß zuweilen haltmachen,
teils weil er müde wird, teils um nach dem Graben auszuschauen und
zu lauschen. Dann kriecht er wieder ein Stück vorwärts und lauscht
wieder. Alles ist still, aber jeden Augenblick kann ein Schuß knallen,
können die Kugeln pfeifen. Schließlich liegt der Schützengraben vor
ihm wie eine dunkle Linie. Wird er hinkommen, ohne von den Franzosen
entdeckt zu werden? Er drückt sich immer näher an den Boden heran und
bewegt sich immer vorsichtiger und langsamer. Jetzt fehlen noch 20
Meter -- jetzt nur noch 10. Der Graben liegt scharf gezeichnet vor
ihm, noch ein Katzensprung trennt ihn davon. Und doch ist der Abstand
ungeheuer, denn hier ist die Gefahr am größten! Auf den Graben selbst
halten die französischen Wachtposten und Patrouillen vor allem ihre
Aufmerksamkeit gerichtet. Diese zwei Meter tief und einen Meter breit
ins Feld gegrabene Furche ist voll von bewaffneten, wachenden Männern
-- aber kein Laut ist zu hören, kein lebendes Wesen, kein Schein eines
vorsichtig abgeblendeten Feuers zu sehen. Kein Duft einer Zigarette,
wohl aber andere Gerüche, die Menschen anzeigen. Endlich hat der Soldat
bloß noch einen Meter. Es ist still auf der französischen Seite --
lautlos wie eine Katze schlüpft er über den Rand und ist gerettet.
Nun kann einer seiner Kameraden seinen Platz verlassen und unter
denselben Vorsichtsmaßregeln in die unterirdischen Höhlen hinter den
Schützengräben zurückkriechen, wo er seine warme Suppe erhält und dann
schlafen, schlafen, schlafen kann wie ein Toter!

Der Abgelöste hat 48 schwere Stunden hinter sich. Nachts oder bei
Nebel müssen er und seine Kameraden sich wachhalten, denn dann ist die
Gefahr eines Überfalls am größten. Der eine oder der andere kann wohl
eine Weile schlummern, aber mancher Wachtposten darf überhaupt nicht
schlafen, wenn ihm das Leben lieb ist. Tagsüber kann die Mehrzahl in
ihren Höhlen schlafen, aber auch da sind immer Wachen ausgestellt.

In die dem Feind zugekehrte Wand des Grabens sind schalenförmige
Aushöhlungen oder Nischen eingegraben, die gegen das Feuer Schutz
gewähren. Es kann aber vorkommen, daß eine Granate in die andere Wand
einschlägt, und dann sind die Soldaten verloren. Deshalb gräbt man auch
hier und da Grotten, ja geradezu unterirdische Zimmer, die zuweilen so
luxuriös eingerichtet sind, daß sie Vorhänge vor dem Eingang haben. An
den Wänden der Kammern ist Stroh für Schlafplätze aufgeschichtet, und
nicht selten wird der kleine Zeltstreifen, den jeder Soldat bei sich
hat, als Decke benutzt. Ist der Abstand zwischen den Schützengräben,
wie hier, nur achtzig Meter, so darf, selbst in den unterirdischen
Höhlen, kein Licht angezündet werden, noch weniger Feuer, weshalb die
Luft recht kalt und feucht wird. Beträgt aber der Abstand drei- oder
vierhundert Meter, dann darf Licht brennen.

Die Soldaten haben Proviant bei sich, aber es kann vorkommen, daß sie
durch heftiges Feuer von aller Verbindung abgeschnitten werden und dann
einen oder mehrere Tage hungern müssen. Aber auch dieses Unglück nehmen
sie mit gutem Humor hin.

Bei Regen werden die Schützengräben entsetzlich. In Belgien sah ich
das schon. Das Regenwasser sammelte sich in ihnen an; halb angefüllt
mit graugelbem Wasser und Lehmschlamm, ähnelten sie Abzugsgräben neben
einem Acker. General von Winckler erzählte, seine Leute hätten 24
Stunden bis ans Knie im Wasser gestanden, ohne zu klagen und ohne krank
zu werden. Wenn sie zurückkehrten, schildern sie ihren Kameraden ihre
Erlebnisse mit unverwüstlichem Humor. Man sollte meinen, die Leute
würden mißmutig, wenn sie 24 Stunden lang im Wasser liegen. Aber bei
den deutschen Soldaten kommen verdrießliche Mienen nicht vor. Um der
Überschwemmung abzuhelfen, ließ der General Ablaufgräben graben, durch
die das Regenwasser nach Zisternen geleitet wurde.

An manchen Stellen wird die Verbindung mit den Schützengräben
durch Laufgräben erleichtert, die von einem geeigneten, im Gelände
verborgenen Punkt im Zickzack dorthin führen und den Mannschaftswechsel
in hohem Maße erleichtern.

Die Schützengräben verlaufen nicht in geraden Linien, wenn nicht
etwa, wie südlich von Antwerpen, das Land völlig eben ist. Sonst
richten sie sich nach den Formen des Bodens. Im allgemeinen werden
sie so angelegt, daß sie nach dem Feinde zu freie Aussicht haben
und Überrumpelungsversuche erschweren. Ein Schützengraben hat daher
gewöhnlich eine sehr unregelmäßige Form, er gleicht einer Kurve mit
Ausbuchtungen nach vorn und hinten. Oft zerfällt er auch in mehrere
kleine Sektionen. Den Zwischenraum zwischen den verschiedenen Teilen
füllen Stacheldrahtnetze und andere Hindernisse aus. Oft ist ein
Schützengraben dem Artilleriefeuer besonders ausgesetzt; wenn er
in einer stark gewellten Linie verläuft, können einzelne Strecken
den Bahnen der feindlichen Geschosse parallel liegen und von dem
Artilleriefeuer buchstäblich reingefegt werden. Um sich dagegen
zu schützen, graben die Soldaten sogenannte Traversen, ganz kurze
Zweiggräben, die sich von dem großen Schützengraben im rechten Winkel
abzweigen. Zu diesen Schutzgängen nehmen die Soldaten ihre Zuflucht,
wenn das Feuer auf den Hauptgraben eingestellt ist.

Wenn man wie bei Monchy-au-Bois auf Grund des allgemeinen strategischen
Plans lange Zeit stillgelegen hat -- hier seit dem 6. Oktober --, so
hat man Zeit und Gelegenheit, an den Schützengräben, Traversen und den
unterirdischen Höhlen Verbesserungen und Erweiterungen vorzunehmen.

Auf der dem Feinde zugewandten Seite der deutschen Schützengräben
bei Monchy-au-Bois laufen breite Gürtel von Stacheldrahtnetzen
und tiefe Wolfsgruben mit spitzen Pfählen auf dem Grund. Solche
Verteidigungswerke, die bloß an einigen Stellen von offenen Passagen
unterbrochen werden, lassen sich nur im Dunkel der Nacht oder bei Nebel
errichten, aber auch unter günstigen Verhältnissen ist die Arbeit mit
Lebensgefahr verbunden, nicht zum wenigsten wegen der Patrouillen, die
des Nachts umherstreifen und sich natürlich gerade auf dem schmalen
Streifen zwischen den deutschen und den französischen Schützengräben
bewegen. Ihre Aufgabe ist, sich über die Verteidigungswerke der Feinde
zu orientieren. Erst wenn die Patrouillen erfolgreiche nächtliche
Streifzüge unternommen haben, läßt sich ein Angriff wagen. Bei Monchy
sollen die Franzosen mehr Angriffe gemacht haben als die Deutschen,
und die Massen von Leichen, die zwischen den Schützengräben lagen und
einen unerträglichen Geruch verbreiteten, waren daher zum größten Teil
Franzosen. Oft geschieht es, daß sich Patrouillen beider Parteien
begegnen, dann entsteht sofort ein Kampf auf Leben und Tod, bis die
eine Partei zurückgeht. Den Verwundeten helfen ihre Kameraden, sich
in den Schützengraben zu retten, aber die Toten bleiben liegen und
verpesten die Luft, denn niemand kann sich ihnen ohne Lebensgefahr
nähern. Solche kleine Scharmützel fanden bei Monchy jede Nacht statt.

An einer Stelle, nahe von Monchy, sollen Franzosen und Deutsche in
einem und demselben Graben liegen. Eine französische Patrouille hatte
sich im Dunkel der Nacht verirrt und zu einem zufällig leeren Teil
eines deutschen Schützengrabens ihre Zuflucht genommen. Als sie ihren
Irrtum bemerkte, errichtete sie in dem Graben selbst nach beiden Seiten
Erdwälle, und von diesen Wällen aus hatten sich die Gegner in einem
Abstand von wenigen Schritten beschossen. Ich weiß nicht, wie es den
Franzosen zuletzt ergangen ist; wahrscheinlich waren sie verloren.
Ihre Stellung war absolut unhaltbar, und bestenfalls mußten sie sich
gefangen geben, wenn der Proviant ausblieb.

Natürlich sind die Verhältnisse in den Schützengräben sehr verschieden.
Liegen sie weit voneinander entfernt, so sind die Verbindungen leichter
und das Leben ist in ihnen erträglicher, nicht zum wenigsten deshalb,
weil man sie leichter reinhalten kann. Bei Monchy-au-Bois sollten die
Zustände in diesen unterirdischen Wohnungen unbeschreiblich sein.
Um so mehr ist der frohe, frische Mut, die Bereitwilligkeit und die
Opferwilligkeit der Soldaten zu bewundern. Wenn sich einer über Kälte
oder Verpflegung unter der Erde beklagen wollte, würde er von seinen
Kameraden ausgelacht und gescholten werden, aber ich hörte nicht, daß
sich solch ein Fall ereignet hätte.

In einem Dorf in der Nähe hatte Prinz Eitel Friedrich sein Quartier.
Man erzählte, er wohne in einem ziemlich zusammengeschossenen Bauerngut
und lebe nachts auf dem Felde, immer dem Feuer ausgesetzt. Alle priesen
seinen Mut, seine Energie und seine hervorragenden Eigenschaften als
Mensch und Soldat.



46. Allerseelen.


Seit tausend Jahren wird in der katholischen Kirche am 2. November
das Allerseelenfest gefeiert zur Erinnerung an die Toten und als
Mahnung für die Lebenden, zu Gottes Thron Fürbitten für die Seelen
hinaufzuschicken, die im Fegefeuer schmachten. In den Kirchen wird eine
Messe für die Verstorbenen gelesen, und auf den Kirchhöfen werden die
Gräber mit Kränzen und Blumen geschmückt.

In der Stadtkirche von Bapaume wurde am Sonntag, 1. November,
eine deutsche Allerseelenfeier zur Erinnerung an die gefallenen
Soldaten abgehalten. Der Herzog und ich begaben uns rechtzeitig zum
Gottesdienst. Wir fanden aber die Kirche bereits gedrängt voll von 4000
Soldaten. Wir bahnten uns einen Weg zum Chor, wo uns zwei Stühle in
einer Gruppe von Offizieren angewiesen wurden.

Die alte Kirche macht einen wahrhaft großartigen und prächtigen
Eindruck. Wenn man Platz genommen hat, betrachtet man zunächst das
Gotteshaus mit seinen hohen, gotischen Wölbungen und seinen schönen
Fenstern. Zu beiden Seiten des mächtigen Langschiffs werden schmale
Seitenschiffe von soliden Säulen getragen. Die Wände sind mit großen
Gemälden, wahrscheinlich von zweifelhaftem Kunstwert, geschmückt. Durch
die gemalten Fenster sickert das Sonnenlicht herein und fällt in allen
Farben des Regenbogens auf die weißen Säulen. Man ist erstaunt darüber,
daß eine Stadt von wenig mehr als 3000 Einwohnern eine Kirche braucht,
die 4000 Mann faßt! Aber an den großen Festen versammelt dieses
Gotteshaus die Bevölkerung der ganzen Umgegend.

Alle Bänke sind überfüllt, in allen Gängen stehen die Soldaten dicht
gedrängt, die Helme im Arm. Man sieht katholische Schwestern in ihren
schwarzen Trachten, weißen Hauben und Rote-Kreuz-Binden. Das Militär
ist ohne Waffen, man hört keine Säbel rasseln. Niemand wird zum
Gottesdienst kommandiert, es steht den Soldaten frei, die Kirchzeit zu
verbringen, wie sie wollen. Und doch ist die Kirche bis auf den letzten
Platz gefüllt. Diese abgehärteten Krieger fühlen das Bedürfnis, Gottes
Wort zu hören, bevor sie dem Tode entgegengehen.

Als ich meine Blicke von dem erhöhten Platz auf dem Chor über das
Langschiff schweifen ließ, fühlte ich mein Herz im Takt mit den 4000
Südgermanen schlagen. Rotbäckig und sonnenverbrannt standen sie da,
ein Bild gesammelter Manneskraft, eisenharten Willens und demütigen
Glaubens an Gottes Hilfe. Ihre feldgrauen Uniformen hatten meist durch
die Berührung mit der Erde in den Schützengräben und unterirdischen
Wohnungen einen Ton erhöhter Echtheit erhalten; hier und da sah man
auch die dunkelblauen Uniformen der bayrischen Landsturmleute.

Der festliche Schmuck der Kirche war das Verdienst dieser
Landsturmleute. Der Chor bildete eine einzige Laube von Blattpflanzen,
und an allen Pfeilern hingen große, grüne, zum Gedächtnis der
Gefallenen gewundene Kränze. Das Merkwürdigste war aber doch die
Achtung, die die guten Bayern einer kleinen Statue der Jeanne d'Arc
gewidmet hatten, die links am Chor stand, innerhalb des Triumphbogens.
An und für sich hatte dieses Gipsbild der 17jährigen Jungfrau von
Orleans gar nichts Merkwürdiges an sich. Sie war so, wie man sie an
vielen andern Orten sieht. Sie stand königlich aufgerichtet in ihrer
Rüstung und hielt in ihrer Hand die weiße, liliengeschmückte Fahne,
und doch konnte ich meine Blicke nicht von ihr wenden. Sie schien
die deutschen Soldaten im Langschiff zu betrachten, und ihre Lippen
umspielte ein ironisches Lächeln.

Wie war sie hierher gekommen? Zwar war sie von Leo ~XIII.~ vor 20
Jahren selig gesprochen worden. War sie unterdes auch in die Schar der
Heiligen aufgenommen? Jedenfalls war sie in diesem Teil Frankreichs
Gegenstand tiefster Verehrung. Daß sie nicht zum Schmuck der Kirche
selbst gehörte, konnte man sehen, denn sie stand auf einem dürftig
mit einen Tuch drapierten Kasten. Als der Krieg wie eine finstere
Gewitterwolke über Frankreich hing, hatte man sie in die Kirche
getragen, und die Gläubigen waren vor ihr niedergekniet und hatten
sie gebeten, ihren Geist und ihre siegreiche Hilfe den Franzosen zu
schenken. Die Bürger von Bapaume hatten ihr, um sie zu gewinnen,
zahlreiche Lichter geschenkt, die vor dem Bild befestigt waren. Und nun
kommt das Merkwürdigste: Die guten Bayern hatten ihr einen Hintergrund
von hohen Topfpflanzen gegeben und alle Lichter angezündet, dieselben
Lichter, die brennende Gebete um Sieg über die Deutschen sein sollten!

Die Jungfrau hatte sicher einen anderen und tieferen Grund, über die
Torheit der Menschen zu lächeln. Zu ihrer Zeit war halb Frankreich von
den Engländern und ihren Verbündeten überschwemmt worden. Gegen diese
Engländer kämpfte sie, die besiegte sie, und als man sie schließlich
den Engländern auslieferte, wurde sie von ihnen als ketzerische Hexe
der Inquisition übergeben! Sie wurde beschimpft, mit rohen Soldaten
eingesperrt und schließlich verbrannt -- alles das von diesen
Engländern, denen gegen die Deutschen zu helfen sie nun mit brennenden
Gebeten und Lichtern angefleht wurde! Man wird ihr verzeihen, daß sie
den Mund verzog und sich etwas verwirrt fühlte.

Nun steigen die Töne der Orgel machtvoll und klar zur Wölbung empor,
und volltönende Stimmen aus den Kehlen von 4000 jungen Kriegern singen:

    O Haupt voll Blut und Wunden,
    Voll Schmerz und voller Hohn,
    O Haupt, zum Spott gebunden
    Mit einer Dornenkron'!
    O Haupt, sonst schön gekrönet
    Mit höchster Ehr' und Zier,
    Jetzt aber höchst verhöhnet,
    Gegrüßet seist du mir ...

    Erscheine mir zum Schilde,
    Zum Trost in meinem Tod
    und laß mich sehn dein Bilde
    In deiner Kreuzesnot;
    Da will ich nach dir blicken,
    Da will ich glaubensvoll
    Dich fest an mein Herz drücken:
    Wer so stirbt, der stirbt wohl.

[Illustration: Markt in Bapaume.

  Rathaus mit Anschlag der
  »B(apaumer) Z(eitung) am Mittag«.

  Denkmal Faidherbes.
]

[Illustration: Englische Gefangene mit ihrer französischen Wirtin in
Lille.

(Vgl. Seite 184.)]

Nachdem Clewing, von unserm Platz aus unsichtbar, aber überall
vernehmbar, seine klangvolle Stimme hatte hören lassen, betrat
der Divisionspfarrer Franz Xaver Münch die Kanzel. Mit würdiger
Autorität sah er auf seine Gemeinde herab, Soldaten aller Grade und
Waffengattungen, barmherzige Schwestern, Protestanten und Katholiken.
Der Gottesdienst war interkonfessionell, der Prediger selbst Katholik.
Aber jetzt, in der größten Zeit des deutschen Volkes, sind alle
konfessionellen Schranken zusammengebrochen, es gibt keinen Unterschied
mehr zwischen Protestanten, Katholiken und Juden, es gibt nur noch
Deutsche! »Jetzt sind wir alle ein Mann geworden, und alle haben wir
einen Gott.«

Die ergreifenden Worte des Priesters vollständig wiederzugeben, muß ich
mir hier versagen; meine Leser werden sie in der großen Ausgabe meines
Buches finden. Nur eine besonders erschütternde Stelle der Predigt möge
hier folgen:

»Und ein zweiter Ruf tönt aus den Massengräbern: ‚_Vergesset unsere
Leiden und unsere Wunden nicht!_‛ Meine lieben Kameraden. Der große
Völkerapostel hat einmal seiner Gemeinde in stolzer Liebe zum
Gekreuzigten zugerufen: ‚Ich trage die Wunden des Herrn an meinem
Leibe.‛ Wer von unserem Volke sich noch etwas sittlichen Ernst bewahrt
hat, wird die Wunden und die Leiden dieses Krieges zeitlebens in seiner
Gesinnung tragen. Der Preis unserer Befreiung und unserer Siege war der
teuerste und kostbarste, den eine Nation zu zahlen hat: das Blut der
Jugend! Kommt und schauet, wie wir sie begraben! Nicht einmal einen
armen Sarg können wir ihnen gewähren. Wir können sie nicht wie die
Germanen auf die Schultern heben und über die Berge in die deutsche
Heimat tragen. Aber, meine lieben Brüder, ich kenne einen Sarg, der
kostbarer ist als der Sarg, gezimmert von einem fremden Meister: das
ist der Sarg des deutschen Herzens! Dahinein, tief und verborgen,
wollen wir unsere teuren Toten betten; ihn führen wir heimwärts in die
deutsche Heimat. Und wenn einmal -- was Gott, der Schirmherr unserer
deutschen Sache verhüten möge -- die Zeit kommen sollte, wo eine
Generation, unsere Jünglinge, unsere Töchter und Frauen nicht mehr
wissen, was uns der Friede und eine neue Blüte des Reiches gekostet
hat, wo man nur der Früchte in einem erschlaffenden Genußleben sich
freut, wo man entnervenden und zersetzenden Sitten wie fremden Göttern
zu huldigen beginnt -- dann, meine lieben Brüder, ist für uns, die
wir heute hier an den Massengräbern trauern, die Stunde gekommen, wo
wir die Särge öffnen und einer nur genießenden Nation unsere Toten,
ihre Wunden und ihre letzten Stunden zeigen werden, dann zeigt, ihr
Väter, eure gefallenen Söhne. Dann mögen die Geister der Gefallenen
den schwersten Kampf gegen das eigene Volk führen, das die Wunden des
Kriegs nicht mehr in seiner Seele trägt.

So ist der heutige Tag, der unsern Toten gilt, im Grunde ein Tag
quellenden Lebens, neuer Hoffnung, machtvollster Aufgaben. Für unsere
Gegner sind die Gräber eine gigantische Anklage, für uns ein heiliger
Hinweis auf die Zukunft. Sie haben Sturm gesät, sie werden auch Sturm
ernten. Und dieser Sturm sind wir. Aus kleinlichen Motiven und geführt
und verleitet von selbstsüchtigen kleinen Gruppen, haben sie auf das
Fleisch gesät und sie werden Verderben ernten. Wir dürfen vor Gott
beschwören, daß wir auf den Geist der Gerechtigkeit und des Friedens
gesät haben. Der Krieg ist für uns eine monumental-geistige Sache einer
einheitlich auferstandenen, in ihren heiligsten Gefühlen gekränkten
und zur Gegenwehr gezwungenen Nation. Diese Nation wird aber auch vom
Geiste der Gerechtigkeit und des Friedens ewiges Leben ernten. Amen.«

Das Musikkorps spielte eine Hymne, deren prachtvolle, festliche Töne
in der Kirche widerhallten. Ein Quartett stimmte das ~Ave verum corpus
natum~ an, und schließlich sang die Gemeinde den Choral:

    Großer Gott, wir loben dich.
    Herr, wir preisen deine Stärke.
    Vor dir neigt die Erde sich
    Und bewundert deine Werke.
    Wie du warst vor aller Zeit,
    So bleibst du in Ewigkeit. --

Der Gottesdienst war zu Ende, und die Soldaten gingen hinaus, an
der kleinen Jungfrau von Orleans vorüber, die ihnen dank Schillers
herrlichem Gedicht keine Fremde war. Gewiß durften die Lichter vor ihr
brennen -- sie hatte ja die Engländer besiegt. Jetzt wurden sie schnell
ausgelöscht, und sie stand wieder einsam träumend und still.



47. »Lieb Vaterland, magst ruhig sein!«


Eine blutige Erinnerung aus dem Französisch-Deutschen Krieg ist
mit Bapaume verknüpft. Am 3. Januar 1871 griff General Faidherbe
an der Spitze des ~XXII.~ und ~XXIII.~ Armeekorps General Goeben
an, der die 15. Division kommandierte, die 3. Kavalleriedivision
und ein kombiniertes Detachement unter Prinz Albrecht. Die deutsche
Truppenstärke, wenig mehr als 15000 Mann und 84 Kanonen, war kaum halb
so groß wie die französische, zwang jedoch Faidherbe nach neunstündigem
Kampf, sich auf Arras und Douai zurückzuziehen.

Nun waren seitdem 44 Jahre vergangen, und Bapaume war wieder in den
Händen der Deutschen. Mitten auf dem Markt hatten die Franzosen eine
Statue Faidherbes errichtet, ein würdiges Denkmal einer glänzenden
Laufbahn. Mehrere Male hatte ihm sein Vaterland die Lösung dringender
Aufgaben anvertraut, daheim auf Guadeloupe, in Algier, Senegal,
Kabylien, und schließlich war er im November 1870 von Gambetta zum Chef
der Nordarmee ernannt worden. Mut, Zuversicht, Initiative und glühender
Eifer fehlten ihm nicht, aber gegen die systematisch ausgebildete
deutsche Armee vermochte er mit seinen Miliztruppen nichts auszurichten.

Faidherbe überlebte seine Mißerfolge lange, er starb in Paris erst
1889, nach achtzehn Jahren des Grams darüber, daß sein Feldherrntalent
nutzlos vergeudet worden war, und zwar durch Verblendung und Unkenntnis
der Volksvertreter, die ihr Land an den tiefsten Abgrund nationalen
Unglücks führten, dessen unsere Zeit Zeuge gewesen ist.

Da steht er nun in Bronze auf seinem weißen Sockel, eins der Opfer
der Verblendung seines Volks. Und um ihn herum stehen die Söhne des
Volks, das ihn besiegte, und das nun wieder in den Spuren seiner
Väter gesiegt hat. Trotzig und entschlossen steht er da, die Arme
gekreuzt; mit der rechten Hand packt er den Griff des Degens. Seine
ganze Haltung scheint den unerschütterlichen Entschluß zu verraten,
keinen Schritt zurück, nur vorwärts zu gehen; sein Uniformmantel
flattert im Winde, seine Mütze sitzt keck und schief. Den Kopf trägt
er hoch und stolz. Sein Blick ist auf -- deutsche Truppen gerichtet,
jetzt wie damals! Viele von denen, die eben in der Kirche waren, haben
sich auf dem Markt versammelt. Das Musikkorps bildet einen Halbkreis
vor Faidherbes Denkmal. Der Kapellmeister hebt den Taktstock, und nun
schallt die »Wacht am Rhein« über den Markt. Zündend umbrausen die Töne
der Messinginstrumente den Helden oben auf seinem Sockel. Er scheint
trotziger denn je. Er steht da mit gezogenem Degen, auf seinem Gesicht
ruht der Ausdruck tiefer Tragik.

Ruhig und sicher stehen die deutschen Musikanten und ihre Kameraden,
die sich in Gruppen um sie versammelt haben. Eine Stimmung von
Siegessicherheit erfüllt all diese Krieger. Clewing beginnt zu singen,
andere folgen seinem Beispiel, und machtvoll wogt der Gesang über den
Markt:

    Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
    Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
    Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein,
    Wer will des Stromes Hüter sein?
    Lieb' Vaterland, magst ruhig sein,
    Fest steht und treu die Wacht,
    Die Wacht am Rhein!



48. Kronprinz Rupprecht von Bayern.


Am Abend des 1. November fuhr ich um 7 Uhr mit dem Herzog Adolf
Friedrich zu Mecklenburg von Bapaume nach Douai, wo wir um 8 Uhr zum
Abendessen beim Chef der sechsten Armee, Kronprinz Rupprecht von
Bayern, eingeladen waren. Die Entfernung beträgt gegen 34 Kilometer und
wird bequem in dreiviertel Stunden zurückgelegt. Aber die Wachtposten
kosten auch Zeit, und es war 5 Minuten vor 8, als wir endlich ankamen.
Ein Adjutant führte uns in einen Salon, und dort hatten wir kaum eine
halbe Minute gewartet, als Kronprinz Rupprecht schon hereintrat.

Er gehört zu den seltenen Menschen, die alle lieben und bewundern,
die Engländer vielleicht ausgenommen, doch ich glaube, die Franzosen
würden nicht umhin können, ihm Achtung zu zollen. In der deutschen
Armee gilt er als ein ganz hervorragender Heerführer und gründlich
geschulter Soldat. Aussehen, Haltung und Sprache sind im höchsten
Grade gewinnend und sympathisch. Er ist weder stolz noch herablassend,
sondern prunklos und einfach wie ein gewöhnlicher Mensch. Wenn man
weiß, daß ihn kürzlich der schlimmste Schlag getroffen hat, der ihn
treffen konnte, dann glaubt man vielleicht Spuren davon auf seinem
Gesicht zu entdecken, einen Zug von Wehmut, sonst aber verrät weder
eine Miene noch ein Seufzer, wie tief er den Tod seines 13jährigen
Sohnes betrauert. Wo es Vaterland und Reich gilt, muß alle private
Trauer zunächst zurücktreten. Der Kronprinz hat auch keine Zeit, zu
trauern oder an den Verlust und die Leere zu denken, die er bei seinem
siegreichen Einzug in München fühlen wird. Er lebt für und mit seiner
Armee und ist jedem Soldaten ein Vater. Seine ganze Denkkraft, seine
ganze physische Stärke, seine ganze Zeit opfert er diesem einzigen
großen Ziel.

Kronprinz Rupprecht kommt schnell und ungezwungen herein, streckt uns
seine Hände entgegen und heißt uns herzlich willkommen. Dann fügt er
mit scherzhaftem Tonfall in der Stimme hinzu: »Ich habe heute abend an
meinem Tisch noch andere vornehme Gäste.«

»Wen denn?« fragt der Herzog.

»Den Kaiser«, antwortet der Kronprinz und schlägt die Hände zusammen.

»Den Kaiser?« rufen wir. Wir hatten keine Ahnung, daß er sich überhaupt
in dieser Gegend befand.

»Ja, der Kaiser hat heute hier verschiedene Truppenteile besucht und
versprochen ..... Doch still, ich höre sein Automobil«, und damit eilte
der Kronprinz hinaus.

Inzwischen kam das Gefolge des Kronprinzen herein und begrüßte uns,
dann auch die Herren des Kaisers, von denen ich einige kannte. Ehe ich
noch hatte fragen können, woher der oberste Kriegsherr gekommen sei,
wurden wir in den Speisesaal gerufen. Dort saß der Kaiser bereits auf
seinem Platz am Tisch. Wir traten alle an unsere Stühle, aber niemand
setzte sich. Der Kaiser saß mit gesenktem Kopf und sah sehr ernst aus.
Plötzlich aber schlug er seine blitzenden blauen Augen auf und nickte
freundlich nach allen Seiten. Als er mich sah, streckte er die Hand
über den Tisch und rief scherzend: »Guten Tag, mein lieber Sven Hedin.
Es scheint Ihnen gut zu gefallen in meiner Armee«, was ich ohne einen
Augenblick zu zögern bejahte.

Der Kaiser war brillanter Laune. Ich weiß wirklich nicht, ob er
schlechter Laune sein kann, denn so oft ich die Ehre hatte, mit ihm
zusammen zu sein, war er immer froh, liebenswürdig und lebhaft. Wohl
kann er mit scharfen Worten seinem Unmut über eine verächtliche
Handlung des Feindes Ausdruck geben, aber bald wird er wieder der reine
Sonnenschein und lacht ansteckend über einen lustigen Einfall. Er
hat eine großartige Fähigkeit, Leben in eine Gesellschaft zu bringen
und das Gespräch in Spannung zu halten, so hier über zweiundeinhalb
Stunden. Dabei erzählt er eine Masse merkwürdige Neuigkeiten, Dinge,
die sich an den verschiedenen Orten in den letzten Tagen zugetragen
haben und wenigstens dem Herzog und mir vollkommen neu waren. Wenn man
den Kaiser nach den Verhältnissen irgendeines fernen Landes fragt, aus
dem lose, widerspruchsvolle Nachrichten gekommen sind, hält er sofort
mit meisterhafter Disposition eine ordentliche Vorlesung über seine
innere und äußere Politik, seine Volksstimmungen, seine Hilfsquellen
und seine Waffenmacht. Ich erinnere mich nicht, jemand begegnet zu
sein, der in dieser Hinsicht sich mit Kaiser Wilhelm messen könnte.

Er hat auch die Gabe, blitzschnell was andere sagen aufzufassen und zu
beurteilen. Mit lebhaftem Interesse hörte er Kronprinz Rupprecht zu,
als dieser allerlei von seiner Armee berichtete, und mir, als ich das
Bombardement von Ostende beschrieb.

Es war ½11 Uhr, als der Kaiser seine Zigarre weglegte und aufstand, um
sich mit jenem kräftigen Händedruck zu verabschieden, der durch Mark
und Bein geht. Nur der Kronprinz begleitete ihn in das unmittelbar
neben dem Speisesaal gelegene Vorzimmer, von dem einige Stufen auf die
Straße hinausführten. Ein Soldat stand bereit und hielt den hellen
blaugrauen Mantel mit dem dunklen Pelzkragen, ein anderer überreichte
die gewöhnliche preußische Offiziersmütze. Nachdem Wirt und Gast
sich noch einige Minuten unterhalten hatten, gingen sie zusammen zum
Automobil, der Kaiser stieg ein und der Wagen fuhr schnell in die Nacht
hinaus.



49. Tommy Atkins in Gefangenschaft.


Um 8 Uhr morgens wieder heraus und fort über das öde Feld von Artois
nach Douai! Bald darauf kreuzten wir die Stadt Lille in schneller
Windung, fuhren durch die Porte de Roubaix wieder hinaus und folgten in
nordöstlicher Richtung der langen, dichtbebauten Straße, die Lille und
Roubaix verbindet.

In Roubaix lagen noch 250 Engländer und eine Anzahl Offiziere, die
am Nachmittag nach Deutschland transportiert werden sollten. Die
Mannschaft war in einem großen Saal untergebracht, vermutlich einem
geräumten Restaurant. Möbel waren nicht zu sehen, aber große Bündel
Stroh auf dem Boden, besonders an den Wänden. Hier konnten sich die
Soldaten ihr Nachtlager herrichten, und sie litten wahrhaftig keine
Not. Ein Tommy, der eine ungefährliche Kopfwunde hatte, wurde gerade
von einem englischen Arzt, der selbst Gefangener war, behandelt. In
einem angrenzenden Zimmer mit Glasdach standen lange Reihen von Tischen
und Stühlen, wo die Gefangenen ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegten.
Hier photographierte ich ein paar Gruppen, durch die der Leser sich
überzeugen kann, daß die Engländer in der Gefangenschaft weder betrübt
noch leidend aussehen. Auf dem einen Bild haben sie sogar eine muntere,
mollige Französin bei sich, aber ich muß zu ihrer Ehre zugestehen, daß
die edle Dame selbst darum gebeten hatte, mit ihren Verbündeten und
zufälligen Eßkunden zusammen porträtiert zu werden. Sie war nämlich die
Wirtin und überwachte die Verpflegung der Gefangenen.

In der Wirtschaftsküche kochte die Gefangenenkost in großen Kesseln;
auch dort war das Personal zum überwiegenden Teil französisch. Wer
die Deutschen anklagt, daß sie mit der Verpflegung der Gefangenen
knausern, der sollte sich im Restaurant zu Roubaix umsehen. Dort war
alles reichlich und gut. Austern, Trüffeln und Plumpudding gab es
zwar nicht, aber die Söldner, die zufällig aus Eastend waren, hatten
wahrscheinlich lange nicht so gut gegessen wie in Roubaix. Dazu kam,
daß die französische Wirtin in Tommy Atkins ziemlich verliebt war und
wie eine Adlermutter dafür sorgte, daß er das nötige Essen bekam.

Es geschieht nicht, um meiner Kamera zu schmeicheln, wenn ich behaupte,
das eben erwähnte Bild sei eine treffliche Illustration der »~Entente
cordiale~« der Westmächte. Die französische Dame lächelt und strahlt
und kann sich keine feinere Einfassung denken als zwischen handfesten
englischen Soldaten. Sie sollte an den Sinn des lustigen Liedes
denken, das mit den Worten schließt: »~I love you my darling, cette
phrase vous coutera beaucoup~«, und dessen Moral ist: ~La France pour
les Français!~ Es ist gefährlich, mit Tommy Atkins zu kokettieren.
Es läßt ihn ganz kühl, das sieht man auf dem Bild. Er sitzt kalt wie
eine Marmorstatue und schenkt seiner Pflegerin keinen andern Gedanken
als den: Geh zu, wir werden die Suppe essen, die du kochst! Wann wird
sie es satt sein, so undankbar behandelt zu werden? Wird sie damit
fortfahren, bis ihr das Letzte genommen ist?

In dem großen Saal lagen nun Tommy Atkins und seine Kameraden und
ruhten im Stroh. Sie sahen frisch und munter aus, und viele hatten
sympathische, männliche Züge. Als ich vor einer Gruppe stehen blieb
und mich mit den Leuten unterhielt, blieben sie ungeniert liegen,
antworteten aber sehr höflich und mit der unerschütterlichen Ruhe, die
für ihre Rasse charakteristisch ist. Sie gestanden offen zu, daß sie
mit der Behandlung, die sie erfuhren, und mit ihrer Kost zufrieden
seien. Einer von ihnen fand, man könne es im Kriege gar nicht besser
haben. Das einzige, was ihnen nicht gefiele, wäre, daß sie im Saal
nicht rauchen dürften. Ein deutscher Offizier, der neben uns stand,
erklärte ihnen, der Saal sei feuergefährlich, nicht zum wenigsten wegen
des trockenen Strohs, und die Deutschen wünschten nicht, daß ihre
englischen Gefangenen hier verbrennten.

In einem großen, gemütlichen Zimmer im ersten Stock wurden drei
Offiziere gefangen gehalten, ein Hauptmann und ein Leutnant, beide
Engländer, und ein französischer Leutnant. Jeder von ihnen hatte sein
gutes, reinliches Bett und im übrigen Tisch und Stühle und andere
notwendige Möbel.

Der englische Leutnant war ein feiner und angenehmer junger Mann,
der Sohn eines angesehenen Londoner Kaufmanns. Sein Vater stand in
Geschäftsverbindung mit Deutschland, und er selbst war, ich glaube, in
Hamburg gewesen, um Deutsch zu lernen. Der Krieg hatte alle seine Pläne
auf den Kopf gestellt. »Aber wir hatten doch keine andere Wahl und
mußten mit!« meinte er.



50. Die englische Lüge.


Gar zu gern hätte ich noch gesehen, wie es den Indern in dem nebligen
Herbst von Artois und Flandern erging. Aber die indischen Gefangenen
der Zitadelle von Lille hatte man eben nach Osten abgeschoben, um neuen
Scharen Platz zu machen. Ich selbst hatte einmal erfahren, wie es sich
rächt, Inder in ein kälteres Klima zu verpflanzen. Auf meiner letzten
Reise nach Tibet hatte ich zwei Radschputen aus Kaschmir mit. Als
wir in die Berge hinaufkamen, waren sie dem Erfrieren nahe, und mein
Karawanenführer Muhamed Isa erklärte, sie seien so nutzlos wie junge
Hunde. Ich mußte sie deshalb verabschieden. Ähnlich erging es mir mit
meinem indischen Koch; er war außerhalb Indiens völlig unbrauchbar.
In Tibet lebt man von Fleisch, in Indien von Vegetabilien. Wie hätte
er eine so plötzliche Veränderung des Klimas und zugleich der Diät
ertragen können!

Nun berichtete die Presse, die Engländer hätten einen vollständigen
Import von Indien nach Europa angeordnet. Es fiel mir schwer, das zu
glauben, aber an der Front erfuhr ich, es sei wahr. »Wie behandeln Sie
die indischen Soldaten?« fragte ich einmal ein paar Offiziere. -- »Wir
arretieren sie«, antwortete einer, und ein anderer fügte hinzu: »Das
braucht es gar nicht; sie werden bald in den Schützengräben erfrieren.«

Wenn ich zugestehe, daß ich selbst eine Dummheit beging, als ich
glaubte, Inder könnten in Tibet Dienste tun, so darf ich wohl
behaupten, daß Lord Charles Beresford eine noch siebenmal größere
Dummheit beging, als er die Hoffnung aussprach, »indische Lanzenreiter
die Berliner Straßen räumen und die kleinen braunen Gurkhas es sich im
Park von Sanssouci bequem machen zu sehen.«[A] Aber dieser Import ist
mehr als eine Dummheit -- er ist ein Verbrechen!

  [A] Dieses Zitat ist Professor Steffens Buch »Krieg und Kultur«
      entnommen, das ich aufs wärmste jedem empfehle, der in die
      sozial-psychologischen Irrgänge des Weltkriegs eindringen will.

Großbritannien hat bald hundertundfünfzig Jahre glänzend seine Mission
erfüllt, Indiens Vormund zu sein; einem andern Volk würde diese
Riesenaufgabe kaum so gelingen. Indische Truppen haben mit Ehren gegen
ihre Nachbarn gekämpft und dazu beigetragen, die Ordnung unter 300
Millionen aufrechtzuerhalten. Aber niemals ist es einer englischen
Regierung eingefallen -- »vor dem jetzigen ~Liberal Government~« --,
farbige Heiden gegen christliche Europäer zu verwenden! Das ist ein
Verbrechen an Kultur, Zivilisation und Christentum. Und wenn die
englischen Missionare es billigen, dann sind sie Heuchler und schlechte
Verkündiger des Evangeliums. Indiens englische Herren verachten mit
Recht alle ehelichen Verbindungen zwischen Weißen und Hindus; die
Kinder aus solchen Ehen werden wie Maulesel betrachtet, oft auch so
genannt; sie sind weder Pferd noch Esel, sie sind halfcast. In Kalkutta
haben sie ihr eigenes Viertel und dürfen in keinem andern Stadtteil
wohnen. Aber -- wenn es sich darum handelt, die »deutschen Barbaren«
niederzuwerfen, dann ist eine Verbindung mit dem bronzefarbenen Volk
Indiens für den Engländer gut genug!

Ist es ein des zwanzigsten Jahrhunderts würdiger Fortschritt in Kultur
und Zivilisation, daß man die ahnungslosen Inder Hunderte von Meilen
über Meer und Land schleppt, um sie auf den Schlachtfeldern Europas
gegen die ersten Soldaten der Welt, die deutsche Armee, ins Feuer zu
treiben? Wenn diese Frage mit Ja! beantwortet werden kann, bleibe
ich doch unerschütterlich bei meiner Auffassung, daß eine solche
Handlungsweise der Gipfel der Grausamkeit ist! Grausam nicht gegen die
deutschen Soldaten, denn ich weiß, was für Empfindungen die indischen
Gegner ihnen einflößen: Verachtung und Mitleid! Auch geht es nicht
recht vorwärts mit der »Räumung der Berliner Straßen«, und die Linden
von Sanssouci werden wohl kaum über den Kriegerstämmen von den Abhängen
des Himalaja rauschen.

Was mögen diese indischen Truppen von ihren weißen Herren denken! Das
wird die Zukunft zeigen. Wer etwas von dem Land der tausend Sagen
gesehen hat, wer über die Kämme des Himalaja geritten ist, wer im
Mondschein beim Tadsch Mahal träumte, wer den heiligen Ganges in grauen
Ringen leise an den Kais von Benares vorübergleiten sah, wer entzückt
war von dem Zug der Elefanten unter den Mangobäumen in Dekkan, mit
einem Wort, wer Indien liebt und die Ordnung und Sicherheit bewundert,
die unter der englischen Verwaltung dort herrscht, der bedarf keiner
starken Phantasie, um zu begreifen, mit welchen Gedanken die indischen
Soldaten zurückkehren werden, und mit welchen Gefühlen ihre Familien
und Landsleute in den kleinen engen Hütten an den Abhängen des Himalaja
ihren Berichten lauschen werden. Er kann nur mit Schaudern daran
denken, denn er muß sich sagen, daß hier im Namen der Zivilisation ein
Verbrechen an Zivilisation und Christentum begangen wird.

Die Frage läßt sich nicht unterdrücken: werden diese indischen
Kontingente wirklich gebraucht? Reichen die weißen Millionen
Großbritanniens, Kanadas und Australiens nicht zu, von Franzosen,
Belgiern, Russen, Serben, Montenegrinern, Portugiesen, Japanern,
Turkos und Senegalnegern nicht zu reden? Es scheint wirklich so. In
der »Times« vom 5. September liest man in den fettesten Lettern die
Überschrift: ~The need for more men.~ (Mangel an Leuten.) Schon damals
brauchte man mehr Leute, um die »Kultur« der »deutschen Barbaren«
auszurotten! Das englische Volk muß mit besonderen Mitteln dazu erzogen
werden, Anlaß und Zweck des Kriegs zu begreifen! Sonst bleiben die
Engländer zu Hause und spielen Fußball und Cricket.

Und wie steht es nun um diese neue Volkserziehung? Darüber unterrichtet
uns die englische Presse täglich. Sie ist eine systematische Lüge! Die
verhängnisvolle Wirklichkeit, die England langsam einer Katastrophe
zuführt, muß durch eine strenge Preß- und Telegrammzensur verheimlicht
werden. Von Hindenburgs Siegen hat das englische Volk keine Ahnung. Die
Entwicklung der deutschen Operationen in Polen wird in ein siegreiches
Vorrücken der Russen auf Berlin umgedeutet! Über den deutschen Kaiser
verbreitet man die schändlichsten Verleumdungen! Die Germanen sind
Barbaren, die zerschmettert werden müssen, und an diesem preiswürdigen
Unternehmen müssen die zivilisierten Völker Serbiens, Senegambiens
und Portugals teilnehmen! England führt den Krieg durch konsequente
Fälschung der Wahrheit, die in der englischen Presse so selten ist wie
in der deutschen die Lüge.

Aber glaubt denn das Volk wirklich alles, was in den englischen
Zeitungen steht? Ja, ganz blind! Davon habe ich mich durch Briefe aus
England überzeugen können. Ein mir zugeschickter Aufruf, der von vielen
Gelehrten -- darunter mehrere Träger des Nobelpreises! -- unterzeichnet
ist, schließt mit den Worten: »Wir beklagen tief, daß unter dem
unheilvollen Einfluß eines militärischen Systems und seiner zügellosen
Eroberungsträume der Staat, den wir einmal geehrt haben, jetzt als
Europas gemeinsamer Feind und Feind aller Völker, die die Rechte der
Nationen achten, entlarvt ist. Wir müssen den Krieg, in den wir uns
eingelassen haben, zu Ende führen. Für uns wie für Belgien ist er ein
Verteidigungskrieg, der für Freiheit und Frieden durchgekämpft wird.«

Die alte Geschichte vom Splitter und Balken! Ist denn Englands
Weltmeerherrschaft kein militärisches System? Läßt sich ein
ausgedehnterer Militarismus denken als der, der seine Werbungen über
fünf Kontinente ausdehnt? Der sogar nach dem Strohhalm greift, den das
republikanische Portugal darreicht, und in den Zeitungen ~The need for
more men~ annonciert?

Was war denn der Burenkrieg? Vielleicht eine Äußerung derselben humanen
»Fürsorge für die kleinen Staaten«, die jetzt England eine Lanze für
Belgiens Selbständigkeit brechen läßt?

Es wäre nutzlos, jetzt, wo es zu spät ist, ergründen zu wollen,
wie sich der große Krieg würde entwickelt haben, wenn England
ruhig geblieben wäre. So viel aber ist sicher, daß Belgien dann
seine Selbständigkeit nicht länger eingebüßt hätte als bis zum
Friedensschluß. Der Krieg wäre dann auch nicht zu einem Weltkrieg
angewachsen wie jetzt -- zu der größten und tragischsten Katastrophe,
die je das Menschengeschlecht heimgesucht hat. Keine Nation hat je eine
größere, weltumfassendere Verantwortung getroffen als England! Und man
kann die Männer nur tief beklagen, die vor Gegenwart und Nachwelt diese
erdrückende Verantwortung werden zu tragen haben.



51. Heimwärts.


Am 4. November war die Zeit meines Aufenthalts an der Front abgelaufen,
und ein Auto brachte mich nach Metz. Nie habe ich einen vornehmeren
Chauffeur gehabt als diesmal, denn der Herzog Adolf Friedrich selbst
hatte am Steuer Platz genommen. Es war die wildeste Fahrt, die ich je
mitmachte. Der Herzog lenkte mit verblüffender Ruhe und Kaltblütigkeit;
wo es auf freier Chaussee geradeaus ging, legten wir 90 bis 100
Kilometer in der Stunde zurück. Zuweilen konnte man kaum Atem holen,
aber herrlich war es doch, mit solcher Schnelligkeit das Land zu
durchfliegen. Um 9 Uhr 20 morgens waren wir abgefahren, und bald nach
Einbruch der Dunkelheit langten wir in Metz an.

Von den mannigfachen Abenteuern meiner Rückfahrt kann ich in diesem
Büchlein, das ja nur einen kleinen Teil meiner Erlebnisse an der
deutschen Front wiedergibt, nicht weiter erzählen. Auch meinen
Aufenthalt in Metz, meinen letzten Besuch an der Front bei Blamont,
meine Heimfahrt über Ludwigshafen und Mannheim, meine »Verhaftung« in
Heidelberg als Spion und die köstliche Gestalt, die diese harmlose
Episode in der französischen und englischen Presse annahm, meinen
Besuch bei der Großherzogin Luise von Baden und im Lazarett zu
Karlsruhe, meinen schließlichen Aufenthalt in Berlin -- alles dies
werden meine Leser in meinem großen Buche geschildert finden, in dem
ich weit ausführlicher über meine Eindrücke an der deutschen Front, die
zu den stärksten meines Lebens gehören, Rechenschaft ablege.

Nur eine Anekdote sei hier noch mitgeteilt, da sie ein treffliches
Gegenstück zu Tommy Atkins und seiner französischen Wirtin bildet.
Gewisse Zeitungen hatten behauptet, die Deutschen behandelten
ihre Kriegsgefangenen grausam und unmenschlich. In dem großen
Gefangenenlager in Döberitz bei Berlin, das ich mit Erlaubnis des
stellvertretenden Generalstabs gründlich besichtigen durfte, hatte ich
Gelegenheit festzustellen, daß diese Behauptung ebenso eine Lüge ist
wie alles andere, was augenblicklich zur kriegerischen »Erziehung«
des englischen Volkes von seiner Regierung in die Welt hinausposaunt
wird. Das Döberitzer Lager enthielt 4000 Russen, 4000 Engländer und
einige hundert Franzosen, Belgier und Turkos; Exemplare des übrigen
ethnologischen Farbenkastens waren leider nicht da.

Die jetzige Freundschaft zwischen Engländern und Russen bewährt
sich im Gefangenenlager keineswegs. Tommy betrachtet Ivan als einen
verlausten Wilden, und Ivan sieht in Tommy einen aufgeblasenen
Renommisten, mit dem die anspruchslosen Gäste des Samovars nicht
verkehren.

Im Krankenhaus in Döberitz ging ein Tommy auf und ab. Er sah bleich
aus, war aber Rekonvaleszent.

»~How are you getting on?~« fragte ich. -- Keine Antwort.

»~I hope you will become a little bit of all right, by and by~«, begann
ich von neuem. Tommy sah mich nur lächelnd an.

»Ist er taub oder blöd?« fragte ich den Arzt, der uns begleitete.

»Nein, er ist -- Russe«, antwortete der Arzt lachend.

Wie dieser Russe in Tommys Uniform geraten war, blieb ein ungelöstes
Rätsel! --

Wahrlich, es wird einem wunderlich zumute, wenn jetzt, wo es die
Vernichtung Deutschlands gilt, Tommy Atkins und Ivan Ivanowitsch
sich einreden, gute Freunde zu sein! Ist die Gefahr einer russischen
Invasion in Indien, die einsichtige Engländer wie Lord Curzon, der
bedeutendste Vizekönig, den Indien bisher hatte, seit vielen Jahren
prophezeien, weniger drohend geworden?

Gewiß, es gibt für Rußland einen andern Ausweg nach dem Meere, und zwar
nach Westen -- und meine schwedischen Landsleute sollten das nicht
vergessen!

  _Gott schütze mein Vaterland!_


Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.



Werke von Sven Hedin.


Der Name Sven Hedin ist ein Programm, ein Kennwort für Reiselust und
Forscherdurst, für Wagemut und Unerschrockenheit (Schlesische Ztg.).
Hedins Verdienst ragt über die Fachwissenschaft riesengroß empor;
er lehrt uns, neue Teile der Erde mit den Augen des Kulturmenschen
sehen. Mit um so größerer Freude bekennen wir das, als er selbst
erklärt hat, daß die Wurzeln seiner Wissenschaft in _deutschem_ Boden
stecken (Konservative Monatsschrift). Von allen Forschungsreisenden
der Gegenwart steht er uns menschlich am nächsten, denn es gibt keinen
andern, der sich so unbefangen und vielseitig zeigt (Neue Hamburger
Ztg.). Seine Erzählerkunst ist von einer zwingenden Objektivität; er
berichtet die gefahrvollsten Abenteuer, die merkwürdigsten Wunder
mit solcher Selbstverständlichkeit, daß man den schweren Ernst
seiner Aufgabe oft verschwinden sieht. Es gibt wohl in der heutigen
Reiseliteratur wenig Werke, die wissenschaftlich so bedeutsam und
dabei als reine Unterhaltungsmittel so plastisch und fortreißend
sind (Berliner Tageblatt). Er versteht es meisterhaft, im leichten
Plauderton seine wissenschaftlichen Ergebnisse mitzuteilen, so daß
man belehrt wird, ohne es zu merken (Vorwärts). An Hedin am meisten
zu schätzen ist jedoch die geradezu geniale Art, wie er uns all die
fremden Menschen, die entweder die wechselvollen Schicksale seiner
Reisen teilten oder ihm auch nur flüchtig begegneten, vertraut und
lebendig macht. Diese lebensvolle Menschenschilderung bildet unbedingt
den Gipfelpunkt seines schriftstellerischen Könnens (Rud. Greinz im
Deutschen Literaturspiegel). Wohl kein Geograph unserer Tage versteht
es wie Hedin, die Resultate großer wissenschaftlicher Fragen mit dem
liebevollen Auge des edlen Menschen zu sehen und zu schildern (Echo der
Gegenwart). Zu alledem kommt noch, daß Hedin nicht nur ein Meister der
geographischen Wissenschaft, eine auch in ihrer reinen Menschlichkeit
interessante und fesselnde Persönlichkeit und glänzender Darsteller,
sondern auch ein virtuoser Zeichner und Aquarellist ist und seine Werke
nicht nur mit vortrefflichen Photographien, sondern auch mit einer
Menge individuell gesehener Figuren- und Landschaftsbilder schmücken
konnte (Düsseldorfer Ztg.). -- Hedins Werke sind:

  Durch Asiens Wüsten.

  (107 Abb., 2 farbige Tafeln, 5 Karten) Gebunden 10 M.

  Im Herzen von Asien.

  (407 Abbildungen, 5 Karten) 2 Bände, gebunden 20 M.

  Transhimalaja.

  (397 Abbildungen, 10 Karten) 2 Bände, geb. 20 M. Ergänzungsband
  geb. 10 M.

  Zu Land nach Indien.

  (308 Abb., 6 Taf., 15 Panoramen, 2 Karten) 2 Bde. geb. 20 M.

Als Volks- und Jugendbücher besonders zu empfehlen:

  Abenteuer in Tibet.

  (137 Abbildungen, 8 farbige Tafeln, 4 Karten) Gebunden 8 M.

  Von Pol zu Pol.

  Vom Nordpol zum Äquator. ◇◇◇◇ Rund um Asien. ◇◇◇◇ Durch Amerika zum
  Südpol. Jeder Band einzeln käuflich, gebunden 3 M.

Durch den Weltkrieg 1914-15 gewinnt schließlich Hedins politische
Broschüre:

  Ein Warnungsruf.

  (Geheftet 50 ₰) die Bedeutung einer scharfsinnigen Prophezeiung.


Verlag F. A. Brockhaus, Leipzig.



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  | Anmerkungen zur Transkription                                |
  |                                                              |
  | Inkonsistenzen wurden beibehalten, wenn beide Schreibweisen  |
  | gebräuchlich waren, wie:                                     |
  |                                                              |
  | anderen -- andern                                            |
  | Anschlagstafel -- Anschlagtafel                              |
  | Aufenthaltes -- Aufenthalts                                  |
  | dunkeln -- dunklen                                           |
  | inneren -- innern                                            |
  | Invasionsheeres -- Invasionsheers                            |
  | Kompagnien -- Kompanien                                      |
  | Krieges -- Kriegs                                            |
  | mustergiltig -- mustergültig                                 |
  | offener -- offner                                            |
  | Schrittes -- Schritts                                        |
  | sicheren -- sichern                                          |
  | sonnenverbrannte -- sonnverbrannte                           |
  | Tadsch Mahal -- Tadsch-Mahal                                 |
  | Tapferen -- Tapfern                                          |
  | Überrumpelungsversuch -- Überrumplungsversuch                |
  | unserem -- unserm                                            |
  | Volkes -- Volks                                              |
  | wagerecht -- wagrecht                                        |
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  | Interpunktion wurde ohne Erwähnung korrigiert.               |
  | Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen:              |
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  | S. 4 "Baiern" in "Bayern" geändert.                          |
  | S. 73 "Mamers" in "Mamer" geändert.                          |
  | S. 134 "Tète" in "Tête" geändert.                            |
  | S. 138 "Freiherr von Hoeningen" in "Freiherr von Hoyningen"  |
  |        geändert.                                             |
  | S. 145 "Helmholz" in "Helmholtz" geändert.                   |
  | S. 151 "Digue du Mer" in "Digue de Mer" geändert.            |
  | S. 151/152 "Sten-Stentorstimme" in "Stentorstimme" geändert. |
  | S. 179 "General Göben" in "General Goeben" geändert.         |
  | S. 179 "Guadelupe" in "Guadeloupe" geändert.                 |
  | S. 185 "verbrännten" in "verbrennten" geändert.              |
  | S. 186 "Ghurkas" in "Gurkhas" geändert.                      |
  | S. 188 "In den Times" in "In der Times" geändert.            |
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