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Title: Anthroposophie im Umriss - Entwurf eines Systems idealer Weltansicht auf realistischer Grundlage
Author: Zimmermann, Robert
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Anthroposophie im Umriss - Entwurf eines Systems idealer Weltansicht auf realistischer Grundlage" ***


                             ANTHROPOSOPHIE
                               IM UMRISS.

                                ENTWURF
                   EINES SYSTEMS IDEALER WELTANSICHT
                                  AUF
                        REALISTISCHER GRUNDLAGE


                                  VON

                           ROBERT ZIMMERMANN.


                              WIEN, 1882.
                           WILHELM BRAUMÜLLER
                K. K. HOF- UND UNIVERSITÄTSBUCHHÄNDLER.



                        "Den Zufall gibt die Vorsehung; zum Zwecke
                        "Muss ihn der Mensch gestalten. -- --"

                                                               Schiller.



AN HARRIET.


Du warst es, als sich Nacht über mein Auge zu lagern drohte, deren
Seelenstärke mir den Entschluß eingab, die lange unfreiwillige Muße
der Dunkelkammer zum ordnenden Abschluß längst zerstreut gereifter
Gedankenreihen zu benützen, zu deren Niederschrift eine gefällige
Hand willig sich herlieh.

So entstand dies Buch, dessen Ideengehalt also Niemand abzustreiten
im Stande sein wird, daß er, wie das Licht, im Dunkeln geboren sei.

Wem anders als Dir dürfte dasselbe zu eigen sein?


        Waldvilla am Attersee, den 4. September 1881.

                                                                      R.



VORREDE.


Titel und Vorrede stehen vor dem Buche. Soll diese nicht eine Rede
aus dem Buche, sondern vor dem Buche sein d. h. nichts enthalten,
was in das letztere selbst gehört, so bleibt ihr nur übrig, sich
mit dem ersteren und mit dem Vorredner selbst zu beschäftigen. Ueber
beide werden wenige Worte genügen.

Anthroposophie ist der Name des Buches. Die Philosophie, welche
denselben wählt, will damit angedeutet haben, dass es weder ihr
Ziel sei, wie das der speculativen Schule, Theosophie, noch ihr
genüge, wie empirischer Unphilosophie, kritiklose Anthropologie zu
sein. Wenn derselben -- nicht zu ihrem Leidwesen -- die speculativen
Schwingen fehlen, um mit ikarischem Aufflug das gottgleiche Wissen
des theocentrischen Standpunktes der ersteren zu erreichen, so mangelt
ihr nicht weniger die in mancher Hinsicht beneidenswerthe Gabe, über
die Schranken und Widersprüche, die der gemeine Erfahrungsstandpunkt
in sich trägt, das kritische Auge zuzudrücken. Ihr Wunsch geht dahin,
anthropocentrisch d. i. "Menschenwissen" und doch Philosophie d. h. von
der Erfahrung aus-, aber, wenn es das logische Denken erfordert,
über dieselbe hinausgehende Wissenschaft zu sein.

Dasselbe bezeichnet sich als "Entwurf eines Systems" und zwar "einer
idealen Weltansicht auf realistischer Grundlage". Ersterer Charakter
wird dessen knappe Fassung und die Abwesenheit erweiterter Polemik
rechtfertigen. Als Versuch eines Systems muss es gewärtig sein,
so wenig nach dem Geschmack des ungebundenen "Philosophirens auf
eigene Hand", welches in unseren Tagen gerade wie vor hundert Jahren
herrschende Mode ist, gefunden zu werden, wie sie dieses selbst nach
dem ihrigen findet.

Dagegen möchte die ideale Weltansicht, die es vertritt, weder mit
dem schulmässigen Idealismus aller Farben, noch deren realistische
Grundlage mit dem platten Realismus ideenloser Erfahrung
verwechselt sein. Der Idealismus derselben besteht nicht darin,
wie der Platonische, an die Wirklichkeit, sondern wie jener Kant's
und der Sittenlehre Fichte's, an die Verwirklichung der Ideen durch
Menschenhand zu glauben. Die realistische Grundlage desselben aber ist
nicht der gemeine (Baconische), sondern der philosophische Realismus,
wie er auf Kant's kritischer Basis von dessen realistischen Nachfolgern
dem metaphysischen Idealismus der Gegenseite entgegengesetzt worden
ist.

Dessen in vorliegender Darstellung gewonnene Gestalt wird von den
Gegnern desselben eben so mit jenem Herbart's als geistesverwandt
erkannt, wie von Freunden des letzteren in nicht wenigen und nicht
unerheblichen Punkten über denselben hinausgehend genannt werden. Dass
deren Abweichungen von der ursprünglich Herbart'schen Fassung nicht
neu, sondern, wie z. B. das kritische Verhältniss zur Theorie der
Selbsterhaltungen als des wirklichen Geschehens, so wie jenes zu der
Annahme der sogenannten "einfachen Empfindungen", in der Denkweise
des Vorredners vom Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn an
vorhanden gewesen seien, haben frühere Schriften desselben, wie dessen
1847 und 1849 erschienene Monographieen: "Leibnitz's Monadologie"
und "Leibnitz und Herbart, eine gekrönte Preisschrift" bezüglich
der Selbsterhaltungen, dessen 1865 veröffentlichte: "Aesthetik als
Formwissenschaft" bezüglich der einfachen Empfindungen hinlänglich
an den Tag gelegt.

Herbart hat sich bekanntlich am Schlusse der Vorrede zu seiner im
Jahre 1828 erschienenen "allgemeinen Metaphysik" einen "Kantianer
vom Jahre 1828" genannt. Wenn Schreiber dieses, der seine erste
Anregung zum philosophischen Studium einem Gegner Kant's (dem gerade
vor hundert Jahren, am 5. October 1781 geborenen edlen Denker und
Dulder Bolzano) und einem Freunde Herbart's (dem scharfsinnigen
Kritiker der Hegel'schen Psychologie, Exner) verdankt, heute,
wo seit dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft gerade ein
volles, seit jenem der allgemeinen Metaphysik mehr als ein halbes
Jahrhundert verflossen ist, sich "einen Herbartianer vom Jahre 1881"
zu nennen unternimmt, so glaubt er damit sein Verhältniss zu Kant wie
zu Herbart zutreffend bezeichnet zu haben. Die Uebereinstimmung mit
Beiden verbirgt sich nicht; über die Abweichungen, zustimmend oder
ablehnend, mögen Kundige urtheilen.

Geschrieben im Säcularjahr der "Kritik der reinen Vernunft".


        Wien, den 21. Mai 1881.

                                                          Der Verfasser.



INHALT.


                                                    Seite

    Einleitung                                          1

    I. Buch: Die Ideen.

        1. Capitel: Die logischen Ideen                11
        2. Capitel: Die ästhetischen Ideen             40
        3. Capitel: Die ethischen Ideen                77

    II. Buch: Das Wirkliche.

        1. Capitel: Das Nicht-Ich                     141
        2. Capitel: Das Ich                           207
        3. Capitel: Das Social-Ich                    250

    III. Buch: Die Kunst.

        1. Capitel: Die Bildungskunst                 269
        2. Capitel: Die Bildekunst                    283
        3. Capitel: Die bildende Kunst                294

    Schluss                                           307



ANTHROPOSOPHIE.


ZUR EINLEITUNG.


1. Philosophie hat ihrem uralten Namen zufolge nicht blos die
Aufgabe, zum Wissen zu gelangen, sondern als Liebe zum Wissen, da
man dasjenige, was man liebt, zu verkörpern bemüht ist, das Gewusste
in die Wirklichkeit einzuführen. Erstere fällt der Philosophie als
Theorie d. i. als Wissenschaft, letztere derselben als Praxis d. i. als
Kunst zu. Philosophie als Wissenschaft entsteht durch Bearbeitung von
Begriffen, während die Philosophie als Kunst das Wirkliche bearbeitet;
erstere hat zum Zweck, durch Bearbeitung der, sei es durch Erfahrung
gewonnenen, sei es durch Gewöhnung und Ueberlieferung überkommenen
Begriffe von dem, was wirklich und wahr ist, zu wirklichen Begriffen
d. i. zu solchen, welche die Probe der Kritik, sowohl der logischen,
als der erfahrungsmässigen, aushalten, zu gelangen; diese hat den
Zweck, durch Bearbeitung des gegebenen, als Material dienenden, sei
es in blossen Gedanken, sei es in Sachen bestehenden Wirklichen zu
einem den Anforderungen des Begriffs entsprechenden d. i. zu einem
begriffsgemässen Wirklichen zu gelangen. Gegenstand der ersteren
sind daher Begriffe, welche als solche von den Sachen, Gegenstand der
letzteren Sachen, welche als solche von den Begriffen unterschieden
sind. Philosophie als Wissenschaft ist daher im buchstäblichen Sinne
nicht von dieser Welt, während Philosophie als Kunst von dieser
Welt ist.

2. Philosophie als Wissenschaft hat daher die Aufgabe, nicht nur
selbst musterhafte Begriffe (Begriffsmuster), sondern solche Begriffe
herzustellen, welche der Philosophie als Kunst bei ihrem Verfahren
gegenüber den Sachen als Muster dienen können (Musterbegriffe). Jene
bedürfen eines Musters, dem sie als musterhaft zu entsprechen haben;
diese dagegen sind selbst Muster, denen die Sachen entsprechen
sollen. Aufgabe der Philosophie als Wissenschaft, zu musterhaften
Begriffen zu gelangen, wird es daher vor allem sein, das Muster
herzustellen, dem die Begriffe, um für musterhaft gelten zu dürfen,
genügen müssen. Aufgabe der Philosophie als Kunst, Musterbegriffe
zu verwirklichen, wird es neben der Verpflichtung, die von der
Philosophie als Wissenschaft als musterhaft anerkannten Begriffe zu
ihren Musterbegriffen zu machen, vor allem sein, die Beschaffenheit
des Wirklichen als des allein ihr zu Gebote stehenden Materials zu
studiren, in welchem dieselben verwirklicht werden können.

3. Da jeder Begriff, er sei welcher er wolle, etwas an sich tragen
muss, was ihn zum Begriff macht (seine Form), und anderes, was ihn
zu diesem besonderen Begriff macht (seinen Inhalt), so wird das
Muster, dem jeder Begriff zu gleichen hat, um für musterhaft gelten
zu dürfen, sowohl seine Form, als seinen Inhalt, oder vielleicht
beides zugleich betreffen können, ja müssen. In ersterer Hinsicht
wird es daher eine Musterform geben, welcher als Norm jeder Begriff
ohne Unterschied sich zu unterwerfen hat, um als Begriff anerkannt
zu werden; in letzterer Hinsicht wird es eine Norm geben, welcher
jeder Begriff eines gewissen Inhaltes sich anzubequemen hat, um
als musterhafter Begriff eben dieses Inhaltes angesehen zu werden;
jene stellt daher die massgebende Norm für sämmtliche Begriffe ohne
Unterschied des Inhaltes, diese dagegen stellt die Norm für Begriffe
irgend eines gemeinsamen Inhalts, z. B. für alle diejenigen dar,
die sich auf Seiendes (Existirendes) oder für alle diejenigen, die
sich auf Seinsollendes (noch nicht Existirendes) beziehen.

4. Diejenigen Normen, die sich auf alle Begriffe ohne Unterschied des
Inhalts, welche für musterhaft gelten sollen, erstrecken, machen den
Inhalt der Logik; diese, die sich nur auf Begriffe eines gewissen
gemeinsamen Inhalts, welche innerhalb dessen für musterhaft gelten
sollen, beschränken, machen den Inhalt der andern philosophischen
Wissenschaften aus. Jene stellt das Muster für jeden Begriff ohne
Unterschied, diese stellen die Muster für diejenigen Begriffe dar,
welche in den Bereich des von ihnen beherrschten Inhalts gehören. Da
nun jeder Begriff seinem Inhalte nach entweder auf ein Wirkliches
d. h. auf ein Object bezogen wird, das als seiend gedacht wird, oder
auf ein nicht Wirkliches d. i. auf ein Object, das entweder, wie
die mathematischen, überhaupt als nichtseiend, oder, wie z. B. ein
Kunstwerk, nur als noch nichtseiend, aber voraussichtlicherweise in
der Zukunft seiend gedacht wird, so lassen sich die philosophischen
Wissenschaften in zwei Gebiete zerfällen. Das eine derselben umfasst
die Musterbegriffe für alle diejenigen, welche (mit Recht oder mit
Unrecht) auf Wirkliches bezogen werden. Das andere dagegen enthält
die Musterbegriffe, welche (mit Recht oder mit Unrecht) auf, sei es
überhaupt nicht, oder nur noch nicht Seiendes bezogen werden. Begriffe
der erstern Art (deren Inhalt als wirklich gedacht wird) können
physische, Begriffe der letztern Art (deren Inhalt als nicht wirklich
gedacht wird) müssen sodann nicht-physische heissen. Nimmt man bei
den letzteren Rücksicht darauf, ob der Inhalt derselben es unmöglich
macht, ihn als wirklich zu denken, wie es bei den mathematischen der
Fall ist, oder ob derselbe zwar als im gegebenen Moment nichtseiend
gedacht, dessen Existenz in der Zukunft aber keineswegs als unmöglich
vorgestellt wird, wie es z. B. bei dem in Gedanken entworfenen
Plane eines künftigen Bauwerks der Fall ist, so tritt eine weitere
Unterabtheilung hinzu. Jene Begriffe, deren Inhalt die Wirklichkeit
ausschliesst, können als solche den obengenannten physischen in dem
Sinne zugerechnet werden, als der Inhalt der einen wie der andern einen
Zusatz über dessen Wirklichkeit enthält, der Inhalt der einen dieselbe
bejaht, jener der andern dieselbe verneint; dieselben können daher in
diesem erweiterten Sinne beide physisch heissen. Jene Begriffe dagegen,
welche weder über die Wirklichkeit, noch über die Unwirklichkeit
ihres Inhaltes eine Aussage in sich schliessen, ja nicht einmal über
die zukünftige Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit desselben, deren
Inhalt sonach, was seine Wirklichkeit betrifft, in keiner Weise das
Interesse in Anspruch zu nehmen vermag, können nichtsdestoweniger
ein solches erwecken, inwiefern dieser Inhalt nicht als wirklich oder
unwirklich, sondern ausschliesslich als Gedanke d. i. als gedachter
Inhalt einen Zusatz im Gemüthe des Denkenden mit sich führt, durch
welchen er von letzterem entweder als angenehm oder unangenehm,
nützlich oder schädlich, schön oder hässlich -- im Allgemeinen
entweder beifällig oder missfällig beurtheilt wird. Begriffe dieser
Art können, weil es sich bei denselben nicht, wie bei den sogenannten
physischen, um eine die Vorstellung ihres Inhalts begleitende Aussage
über Wirklichkeit oder (zufällige oder nothwendige) Unwirklichkeit
desselben, sondern um einen die Vorstellung des Inhalts (zufällig
oder nothwendig) begleitenden Gefühlsausdruck handelt -- ästhetische
heissen. Die philosophische Wissenschaft, welche die Musterbegriffe
für die physischen Begriffe enthält, ist die philosophische Physik
(oder Metaphysik); jene, welche die Musterbegriffe für die ästhetischen
umfasst, die philosophische Aesthetik.

5. Logik, (philosophische) Physik und (philosophische) Aesthetik
machen zusammen den Umfang der Philosophie als Wissenschaft aus. Der
Zusatz: philosophisch bei den beiden letztgenannten Disciplinen ist
deshalb nicht überflüssig, weil diejenigen Wissenschaften, welche
die auf dem reinen Erfahrungswege gewonnenen, keineswegs musterhaften
Begriffe von Wirklichem einer- und die von keineswegs allgemeinen und
nothwendigen, sondern zufälligen und individuellen oder höchstens
particulären Zusätzen des Lobes oder Tadels begleiteten Begriffe
umfassen, andererseits, die empirische Natur- und die empirische
Geschmackslehre gleichfalls Physik und Aesthetik genannt werden. Die
Bezeichnung Metaphysik für die erste derselben hat, von dem bekannten
zufälligen historischen Ursprung des Wortes abgesehen, insofern einen
zulässigen Sinn, als die durch kritische Sichtung herbeigeführte
systematische Zusammenstellung musterhafter physischer Begriffe,
welche die mit diesem Namen bezeichnete Wissenschaft ausmacht, das
Vorhandensein eines ursprünglich durch Erfahrung gegebenen, logisch
noch unbearbeiteten, also im philosophischen Sinne des Wortes rohen
Vorrathsmateriales physischer Begriffe voraussetzt, philosophische
(Meta-) Physik also der Zeit nach erst nach (meta) der vor- oder
unphilosophischen (empirischen) Physik zu Stande kommen kann.

6. Unter denselben, die als philosophische Wissenschaften sämmtlich
musterhafte (d. i. im philosophischen Sinne vollendete) Begriffe
umfassen, stehen Logik und Aesthetik insofern in engerer Verwandtschaft
unter einander, als ihre musterhaften Begriffe zugleich Musterbegriffe
für Anderes sind d. h. diesem zur Nachahmung vorgestellt werden,
während die metaphysischen Begriffe keine andere Bestimmung haben,
als den Inhalt des Wirklichen musterhaft d. i. wie er wirklich ist,
darzustellen. Und zwar enthält die erstere die Musterbegriffe für das
Denken sowohl überhaupt, als in Bezug auf einen bestimmten Inhalt,
durch deren Nachahmung dasselbe zum Wissen d. i. wahrem Denken erhoben
wird, sowohl im Allgemeinen, als in Bezug auf irgend einen besonderen
Gegenstand; die Aesthetik dagegen enthält die Musterbegriffe für jede
beliebige producirende, sei es geistige, sei es physische Thätigkeit,
insofern durch dieselbe etwas Beifallswürdiges oder Tadelnswerthes
(Nützliches oder Schädliches, Angenehmes oder Unangenehmes, Schönes
oder Hässliches) hervorgebracht wird.

7. Musterbegriffe dieser Art, sie seien nun solche für das Denken
oder für jede andere (geistige oder physische) nachahmende Thätigkeit,
werden Ideen genannt, und zwar als Vorbilder (Normen) für das Denken,
das zum Wissen werden soll, logische Ideen; als Vorbilder dagegen
für irgend eine andere, auf Hervorbringung eines Beifallswerthen
gerichtete schaffende Thätigkeit, ästhetische Ideen. Erstere machen
daher den Inhalt der Logik, letztere den der Aesthetik aus.

8. Unter den geistigen Thätigkeiten, deren Producte Beifall oder
Missfallen nach sich ziehen, ist die eine, das Wollen, von der Art,
dass sie auf keine Weise, weder willkürlich noch unwillkürlich,
unterlassen werden kann; denn auch das Nichtwollen des Wollens wäre
ein Wollen. Zugleich hat dasselbe die auszeichnende Eigentümlichkeit,
dass von dem Urtheil über dessen Beschaffenheit das Urtheil über
den Werth oder Unwerth des Wollenden selbst abhängt und, da, wie
oben bemerkt, der Einzelne niemals aufhören kann zu wollen, diesem
Urtheil niemals entgangen werden kann. Während daher zu jeder andern
ästhetisch producirenden Thätigkeit ein besonderes ästhetisches Talent
erforderlich ist, ist nicht nur die Fähigkeit, sondern die Nöthigung
zu wollen Jedem ohne Unterschied eigen, und während, um der Kritik
jeder andern ästhetisch producirenden Thätigkeit zu entgehen, der
Producirende nichts weiter nöthig hat, als dieselbe zu unterlassen,
so kann, wie oben bemerkt, auf die Bethätigung des Wollens niemals
Verzicht geleistet werden. Aus beiden angeführten Gründen verdienen
diejenigen ästhetischen Ideen, welche als Vorbilder für das Wollen
dienen, aus dem Kreise der übrigen als ein besonders ausgezeichnetes
Gebiet hervorgehoben und zum Unterschied von den übrigen, welche
sodann im engeren Sinne des Wortes ästhetische heissen mögen, mit einem
besonderen Namen bezeichnet zu werden. Als ein solcher empfiehlt sich,
da von dem Urtheil über das Wollen jenes über den sittlichen Werth,
das Ethos, des Wollenden abhängt, der Ausdruck ethische, oder, da
das Wollen zunächst zum Handeln überführt, praktische Ideen.

9. Logische, ästhetische und ethische Ideen machen daher den Inhalt
der Philosophie als Wissenschaft aus, insofern dieselbe Wissenschaft
von Musterbegriffen (Ideenwissenschaft) ist. Metaphysische d. i. im
philosophischen Sinne musterhafte Begriffe vom Wirklichen machen den
Inhalt der Philosophie als Wissenschaft aus, insofern sie Wissenschaft
von Wirklichem (Seinswissenschaft) ist. Diese, da sich der Inhalt ihrer
Begriffe auf das Wirkliche bezieht, knüpft an die Erfahrung, durch
welche zuerst vom Wirklichen ein Begriff gewonnen wird, an, indem sie
die durch Erfahrung gegebenen Begriffe vom Wirklichen entweder behält
wie sie gegeben sind, wenn sie vor dem Forum des wissenschaftlich
d. i. logisch geschulten Denkens behaltbar, oder verwirft, wenn sie
nach dem Urtheil des letzteren unhaltbar, oder umbildet, wenn sie
zwar nach dem Urtheil der Logik verwerflich, aber vermöge des durch
unabweisliche Erfahrung ausgeübten Zwanges unvermeidlich sind. Die
logische Unhaltbarkeit der gegebenen Erfahrungsbegriffe verräth sich
dadurch, dass in denselben Widersprüche bemerkbar werden, welche
demnach ebensowenig, wie sie selbst, abgewehrt, um deren willen jedoch
der mit denselben behaftete Inhalt der Erfahrung wissenschaftlich
nicht als Wahrheit gelehrt werden kann! Die Umbildung der so gegebenen
aber widersprechenden Erfahrungsbegriffe besteht darin, dass dieselben
berichtigt d. h., da von dem erfahrungsmässig Gegebenen ohne Schädigung
der Erfahrung nichts hinweggelassen werden kann, durch aus dem Denken
geschöpfte Zusätze so lange und in der Weise ergänzt werden, bis und
dass der Widerspruch verschwindet. Die so umgestalteten d. i. rational
(widerspruchsfrei, denkbar) gemachten Erfahrungsbegriffe heissen von da
an metaphysische (philosophische Seins- oder Wirklichkeits-) Begriffe.

10. Logische, ästhetische und ethische Ideen knüpfen nicht an das
Gegebene an, sondern fordern im Gegentheil als Musterbegriffe,
dass das Gegebene an sie anknüpfe. So wenig nach Kant aus dem
Sollen ein Sein, so wenig kann aus dem Sein das Sollen "geklaubt"
werden. Dieselben sind, wie das a priori Kant's, zwar nicht vor,
aber unabhängig von dem gegebenen Inhalte der Erfahrung, daher ihre
Geltung nicht, wie die des letzteren, eine beschränkte (comparative)
und nur mehr oder weniger wahrscheinliche (zufällige), sondern, wie
die jenes a priori, allgemeine und nothwendige ist. Logik, Aesthetik
und Ethik sind daher keine blos beschreibenden (descriptiven), wie
die Erfahrungswissenschaft und in gewissem Sinne selbst die Metaphysik
es ist, sondern vorschreibende (normative) Wissenschaften, daher sie
auch wohl im Gegensatze zu jenen, welche theoretische heissen können,
praktische Wissenschaften genannt zu werden pflegen.

11. Mit Rücksicht auf letztere Bezeichnung zerfällt Philosophie
als Wissenschaft demnach in einen praktischen: die Ideen- (oder
praktischen) Wissenschaften, und theoretischen: die Seinswissenschaft
(Metaphysik) umfassenden Theil, zwischen welchen beiden Philosophie
als Kunst, welche die Gestaltung des Wirklichen nach den Ideen oder
die Hineinbildung der Ideen in das Wirkliche vollzieht, die verbindende
Brücke bildet. Die Lösung dieser Aufgabe ist daher der philosophischen
ebensowenig wie irgend einer anderen Kunst, da der Zweck der Kunst
überhaupt in der Ideendarstellung im gegebenen Stoffe besteht, ohne
Kenntniss der darzustellenden Ideen (Ideenwissenschaft) einer-, wie des
gegebenen Stoffes (Seinswissenschaft) andererseits möglich. Erstere
macht den Inhalt des ersten, die Wissenschaft vom Wirklichen den des
zweiten, die Lehre von der die logischen, ästhetischen und ethischen
Ideen im und am Wirklichen verwirklichenden (philosophischen) Kunst
jenen des dritten Buches aus.



ERSTES BUCH.

DIE IDEEN.


ERSTES CAPITEL.

DIE LOGISCHEN IDEEN.


12. Logische Ideen (Musterbegriffe) sind die normalen Formen
(Begriffsnormen), welchen das Denken sich zu fügen hat, wenn es als
wahres Denken d. i. Wissen anerkannt werden will. Dieselben sind
weder eins mit den psychologischen Erscheinungsformen des Denkens,
vermöge welcher dasselbe ein Entstehen und Vergehen, ein Heller-
und Dunklerwerden im Bewusstsein besitzt, noch mit den sogenannten
logischen Denkformen, nach welchen dasselbe in Begriffe, Urtheile und
Schlüsse zerfällt. Jenes nicht, weil psychologisch betrachtet die
Entstehung unwahrer Gedanken (Irrthümer) ebenso nach Naturgesetzen
erfolgt, wie jene von Erkenntnissen (wahren Gedanken) -- dieses nicht,
weil unrichtige und ungiltige Gedanken ebensogut in der Begriffs-,
Urtheils- und Schlussform gedacht, gefällt und gefolgert werden,
wie richtige und giltige. Das Kriterium, durch welches Denken zum
Wissen sich erhebt, muss daher anderswo gesucht werden.

13. Dasselbe kann, da jedes Denken einen gewissen Grad von Intensität
(Stärke, Lebhaftigkeit), mit welchem dasselbe, und einen gewissen
Inhalt besitzt, welcher in demselben gedacht wird, entweder in diesem
oder in jenem liegen. Läge es in jenem, so würde daraus folgen, dass
jedes Denken, welches einen gewissen hohen Grad von Lebhaftigkeit
besitzt, um dieser seiner Energie willen für Erkenntniss gelten
müsse, während es offenbar ist, dass auch einleuchtende Irrthümer,
wie Hallucinationen Geistesgestörter, eine hohe, ja für diese
unüberwindliche Stärke besitzen können. Liegt es dagegen in diesem,
so kann das Kennzeichen des Inhalts als eines wahren entweder in
dessen Verhältniss zu einem vom Denken als solchem unterschiedenen
Andern, oder es muss in der Beschaffenheit des Denkinhalts selbst
gefunden werden.

14. Das Andere, zu welchem das Denken als Denkinhalt betrachtet,
ein gewisses Verhältniss haben soll, um für wahr gelten zu dürfen,
und das als Anderes des Denkens nicht selbst wieder Denken sein kann,
ist das Sein. Das Verhältniss, in welchem das Denken zum Sein stehen
muss, um für Wahrheit zu gelten, aber kann kein anderes sein als
das der Uebereinstimmung des Denkens mit dem Sein. Das Kriterium der
Wahrheit lautet daher von diesem Gesichtspunkt aus: Wissen ist mit
dem Sein übereinstimmendes Denken.

15. Dasselbe setzt, um möglich zu sein, daher einerseits die
Möglichkeit der Uebereinstimmung, andererseits die Möglichkeit der
Erkenntniss jener Uebereinstimmung des Denkens mit dem Sein von Seite
des Denkens voraus. Wäre die erstere unmöglich, so wäre damit auch
das Wissen d. i. die Uebereinstimmung zwischen Denken und Sein, an
sich unmöglich; wäre das letztere unmöglich, so wäre damit das Wissen
um jene an sich vorhandene Uebereinstimmung für uns unmöglich. Im
ersteren Falle wäre die Wahrheit überhaupt nicht, im letzteren Falle
so gut als nicht vorhanden.

16. Soll Uebereinstimmung zwischen beiden von einander verschieden
gedachten Elementen -- dem Denken einer-, dem Sein andererseits --
bestehen, so muss entweder das eine vom andern, das Denken vom Sein
oder das Sein vom Denken, abhängig gedacht, oder die Verschiedenheit
beider kann nur als eine scheinbare gedacht werden, so dass entweder
nur das eine von beiden ist, während das andere nicht ist, oder dass
beide nur die unterschiedenen Seiten eines dritten Ununterschiedenen
sind. Im ersten Falle wird entweder das Denken vom Sein (das Logische
vom Alogischen) oder das Sein vom Denken (das Alogische vom Logischen)
beherrscht; im zweiten Falle besteht entweder nur das Sein, so dass
das Denken nur ein verhülltes Sein -- oder nur das Denken, so dass das
Sein nur ein verhülltes Denken ist; während im dritten Falle Denken
und Sein nur das unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtete
unbekannte X eines Dritten darstellen.

17. Gegen die Abhängigkeit eines der beiden qualitativ von einander
unterschiedenen Elemente, des Denkens und des unter der Form der dem
Denken qualitativ entgegengesetzten ausgedehnten Materie gedachten
Seins, hat sich unter den Neuern zuerst bekanntlich Cartesius
ausgesprochen. Denken (Geist) und Sein (Materie) sind für einander
schlechterdings unzugänglich, und da, wenn weder der Geist die Materie,
noch diese jenen zu beeinflussen vermag, eine Uebereinstimmung zwischen
den beiden undenkbar ist, so bleibt, um Wissen d. i. Uebereinstimmung
des Denkinhalts mit dem Seinsinhalt zu ermöglichen, nichts übrig,
als die Bürgschaft des gemeinschaftlichen Schöpfers beider, welcher
als höchstes wissendes und wahrhaftiges Wesen das Denken nicht kann
täuschen wollen. Das eigentliche Kriterium des Wissens liegt sodann
nicht sowohl in der Uebereinstimmung des Denkens mit dem Sein, von
der das Denken durch sich selbst nichts zu wissen vermag, sondern in
der Bürgschaftsleistung eines andern höhern Wesens für die Wahrheit
unseres Denkens; dasselbe ist sonach kein logisches, sondern ein
blos autoritatives.

18. Weder die mit dem Schleier der göttlichen Allmacht, hinter welchem
auch das Unmögliche möglich wird, sich deckende unbegreifliche
göttliche Assistenz, noch die anscheinende Verbesserung derselben
durch das System der sogenannten gelegenheitlichen Ursachen
(Occasionalismus), durch welches letztere die Gottheit aus dem
erhabenen Dunkel des Nichtwissens herabgezogen und zu einem das Denken
mit dem Sein vermittelnden "deus ex machina" (Leibnitz) erniedrigt
wird, beseitigt die Schwierigkeit. Dieselbe hört dagegen auf, wenn
deren Ursache, die qualitative Verschiedenheit des Denkens und
seines Andern (der Materie) aufgehoben und entweder, wie Leibnitz
und der Spiritualismus thaten, die Materie in Geist verwandelt
(spiritualisirt), oder, wie Hobbes und die Materialisten lehrten,
der Geist in Materie verwandelt (materialisirt) wird. Jene machen
die Materie zu einem zwar "bene fundatum", aber doch nur zu einem
"phänomenon" des Geistes, so dass der Geist -- diese den Geist zu
einem "Hirngespinnst" d. i. zu einem blossen Phänomen der Materie,
so dass diese allein das wahrhaft existirende ist. Zwischen dem
Denken und einem Sein, das selbst wieder Denken (Idealismus) -- und
dem Sein und einem Denken, das selbst wieder Sein ist (Realismus) --
aber ist Uebereinstimmung möglich.

19. Allerdings nur, wenn zwischen Denkendem und Denkendem einer-, wie
zwischen Seiendem und Seiendem andererseits Causalitätsverband denkbar
ist. Wenn das Denken, wie die Materialisten wollen, selbst materiell,
der Geist nichts anderes als ein feinerer Körper ist, liegt nichts
Widersprechendes darin, dass zwischen Geist und Materie in demselben
Sinn Wechselwirkung stattfinde, wie zwischen den Corpuskeln oder
körperlichen Elementen der Materie selbst; wenn dagegen, wie die
Spiritualisten wollen, zwischen dem immateriellen Denkenden und den
gleichfalls immateriellen, folglich ihrer qualitativen Beschaffenheit
nach vom Denken nicht verschiedenen, also selbst als "denkend"
gedachten Elementen der Materie (unkörperlichen Atomen, Monaden,
"Seelen") gegenseitiger Einfluss (influxus physicus) herrschen
sollte, so wäre dies nur unter der Voraussetzung möglich, dass sich
dieselben von dem einen Theile ablösten und von dem andern aufgenommen
würden. Beides aber ist unmöglich, da von einem Immateriellen, also
Theillosen, kein Theil sich abscheiden lässt und an dem Ort eines
anderen Immateriellen, der als Sitz eines Theillosen selbst ohne
Theile (ein einfacher Punkt) sein muss, für einen neu hinzutretenden
kein Platz vorräthig ist, das heisst, weil, wie Leibnitz sagte,
die Monaden keine Fenster haben. Soll dessen ungeachtet zwischen
dem Geiste und dem Rest des aus Monaden bestehenden Universums
Uebereinstimmung d. i. Harmonie bestehen, so muss diese letztere
von aussen, also wie bei Descartes durch die Gottheit, nur weder auf
unbegreifliche (durch schlechthinige Allmacht), noch auf unwürdige
("deus ex machina") Weise, sondern, wie es der Gottheit allein würdig
ist, auf einem von Ewigkeit her erkannten, gewollten und geschaffenen
Wege als prästabilirte Harmonie hergestellt werden.

20. Allein gesetzt auch, es bestünde einerseits zwischen Denken
und Denken (Idealismus), andererseits zwischen Sein und Sein
(Materialismus) je wirklicher Causalverband, so wäre die dadurch
ermöglichte Uebereinstimmung, in welcher das Wissen bestehen soll,
doch nur im ersten Fall eine Uebereinstimmung des Denkens mit Denken,
also mit sich selbst, im zweiten Fall eine Uebereinstimmung des Seins
mit Sein, also wieder mit sich selbst, in keinem von beiden aber jene
Uebereinstimmung des Denkens mit Sein, in welcher der Annahme zufolge
das Kriterium der Wahrheit gelegen sein soll.

21. Weder die Unabhängigkeit beider, noch die nur scheinbare
Verschiedenheit eines der beiden Elemente des Wissens (Denken
und Sein) macht deren Uebereinstimmung mit und unter einander
möglich; als dritter Fall ist zu untersuchen, ob die Einerleiheit
beider dieselbe gestatte. Wenn Denken und Sein zwar der Art nach
unterschieden, aber weder, wie im Idealismus, nur das Denken, noch,
wie im Materialismus, nur das ausgedehnte (materielle) Sein ist,
sondern beide, wie der Spinozismus will, Seiten eines Dritten ihnen
gemeinsam zugrundeliegenden (der alleinen Substanz) sind, so sind
Denken und Sein dem Wesen nach substantiell identisch d. h. das
Denken ist dasselbe was das Sein, und dieses was jenes. Es findet
jedoch ebendeshalb zwischen beiden keine "Harmonie" (Uebereinstimmung)
statt, denn eine solche setzt Verschiedenheit der Uebereinstimmenden
(Gegensatz in der Einheit), nicht Einerleiheit der Aufeinanderbezogenen
(Einheit ohne Gegensatz) voraus.

22. Weder Uebereinstimmung mit sich selbst (wie im Idealismus und
Materialismus), noch Identität (wie im Spinozismus) ist Harmonie;
Leibnitz ist nicht, wie Moses Mendelssohn behauptete, durch Spinoza
auf die Idee der prästabilirten Harmonie geführt worden. Jene ist
blos formale, diese ist keine Uebereinstimmung. Das materiale, in der
Uebereinstimmung des Denkens mit dem Sein bestehende Kriterium des
Wissens ist weder auf dem Standpunkt des (metaphysischen) Dualismus,
noch des (idealistischen oder materialistischen) Monismus, noch der
(pantheistischen oder atheistischen) Identitätslehre brauchbar.

23. Dasselbe ist jedoch auch überhaupt unbrauchbar. Denn gesetzt,
es fände zwischen Denken und Sein wirklich und thatsächlich
Uebereinstimmung statt, so würde, um sich über dieselbe Gewissheit
zu verschaffen, eine Vergleichung zwischen dem Inhalt des Denkens
mit jenem des Seins erforderlich sein. Da nun, um letztere zu
bewerkstelligen, der Inhalt des Seins selbst gedacht, als gedachter
Inhalt aber selbst Gedanke (Denken) sein müsste, so würde in obiger
Vergleichung nicht, wie es verlangt ist, Denken mit Sein, sondern
Denken mit Denken (gedachtem Sein) verglichen, d. h. das Sein selbst
(als ungedachtes, Nichtdenken) bliebe unverglichen. Das materiale
Kriterium des Wissens, die Uebereinstimmung zwischen Denken und Sein
wäre unerkennbar.

24. Dasselbe ist daher, logisch betrachtet, weder an sich noch für
uns möglich. Kann aber das Kriterium des Wissens nicht material in
der Uebereinstimmung des Denkinhalts mit dem Seinsinhalt gefunden,
so muss es ausschliesslich in ersterem (als formales) gesucht
werden. Die Entscheidung, ob ein Denken Wissen d. i. wahres Denken
sei, kann nur auf Grund der Beschaffenheit des Inhalts desselben,
rein als solcher betrachtet, gefällt werden. Dass damit der Bestand
eines von demselben unterschiedenen Sein weder verneint, noch, was
schon Aristoteles und Kant verboten, das Denken für das einzige Sein
erklärt werde, ist selbstverständlich.

25. Mit der Behauptung, dass das Kriterium der Wahrheit des Denkinhalts
in diesem selbst enthalten sei, ist weder ausgesprochen, dass jeder
beliebige Inhalt des Denkens eo ipso als Denkinhalt wahr, wie der
Panlogismus, noch dass jeder Denkinhalt falsch sei, wie der absolute
Skepticismus behauptet. Ersterer, welchem das Denken mit dem Wissen,
das thatsächliche mit dem vernünftigen Denken in Eins zusammenfällt,
ist logischer Optimismus; der letztere, dem jegliches (wirkliche
und vernünftige, gleichviel) Denken als Denkillusion (Scheinwissen)
erscheint, ist logischer Pessimismus; beide insofern sie von einem
günstigen oder ungünstigen Vorurtheil bezüglich des Denkens als Wissens
ausgehen, sind unkritischer (positiver oder negativer) Dogmatismus.

26. Dass wenigstens einige Denkinhalte falsch seien, folgt
nothwendigerweise daraus, weil es dergleichen gibt (a, non-a), die sich
untereinander selbst aufheben d. h. von denen der eine mit dem andern
im Denken unverträglich ist; dass es wenigstens einigen Denkinhalt
gibt, der wahr d. h. wenigstens einiges Denken, das Wissen ist,
folgt daraus, weil das Gegentheil dieser Behauptung, das Wissen,
dass es kein Wissen gebe, sich selbst aufhebt. Aufgabe der Logik
bleibt es nun, diejenigen Merkmale, durch welche derjenige Denkinhalt,
der Wissen (Erkenntniss), von demjenigen, der Scheinwissen (Irrthum)
ist, sich unterscheide, aufzustellen.

27. An jedem Denkinhalt ohne Ausnahme lässt sich zweierlei
unterscheiden: die Art, wie er dem Denken, und das Was, welches in
demselben dem Denken gegeben ist. In ersterer Hinsicht unterscheiden
wir unwillkürliches (ohne, ja wider den Willen des Denkenden demselben
aufgezwungenes) und willkürliches (aus dem eigenen Wollen des Denkenden
entsprungenes) Gegebensein; im ersteren Sinne vermittelter Denkinhalt
kann (in engerer Bedeutung) gegebener, im letzteren Sinne entstandener
wird dann gemachter heissen. Im Hinblick auf das Was unterscheiden
wir verwandten und nicht verwandten, aber verträglichen Denkinhalt;
unter dem verwandten weiters ganz oder theilweise identischen und
unverträglichen (sich conträr oder contradictorisch ausschliessenden)
Denkinhalt.

28. In Bezug auf das Wie des Gegebenseins gilt, dass der unwillkürlich
gegebene (also unabweisliche) Denkinhalt, desgleichen derjenige ist,
den wir als Thatsache zu bezeichnen pflegen -- was den Anspruch
betrifft, für Wissen zu gelten -- (alles Uebrige gleichgesetzt),
vor dem willkürlich gemachten den Vorzug hat. Ersterer kann als
nothwendige Bildung (Repräsentation), letzterer darf als Einbildung
(Imagination) bezeichnet werden. Dass daraus, dass ein gewisser
Denkinhalt unwillkürlich gegeben ist, zwar geschlossen werden dürfe,
die Entstehung desselben sei durch eine von dem Willen des Denkenden
verschiedene Ursache, keineswegs aber voreilig gefolgert werden dürfe,
sie sei durch eine von ihm gänzlich verschiedene, nicht nur ausserhalb
seines Intellects, sondern auch ausserhalb seines Leibes gelegene,
also durch eine sogenannte äussere Ursache erzeugt, braucht kaum
erst erwähnt zu werden. Ebensowenig, dass aus dem Umstand, dass die
Unwillkürlichkeit des Gegebenseins auf eine vom Willen des Denkenden
verschiedene Ursache zu schliessen erlaubt, keineswegs zu folgern
gestattet sei, dass diese selbst der Beschaffenheit jenes Denkinhalts
ähnlich beschaffen sein müsse, da sich, wie oben bemerkt, ohne
(unmögliche) Vergleichung des Denkinhalts mit dem jenseits desselben
gelegenen Seinsinhalt über das wechselseitige qualitative Verhältniss
beider nichts ausmachen lässt.

29. Der Vorzug des gegebenen vor dem gemachten Denkinhalt wird desto
begründeter sein, je energischer, je häufiger und in je vollkommenerer
Anordnung derselbe gegeben ist. In ersterer Hinsicht wird unter
gleichen Verhältnissen der lebhaftere vor dem minder lebhaft,
der klare und deutliche vor dem dunkel, der dauerhafte und sich
behauptende vor dem augenblicklich und flüchtig gegebenen Denkinhalt --
in zweiter Hinsicht der wiederholt vor dem nur einmal, der häufig vor
dem selten, der auch Anderen in gleicher Weise vor dem nur dem Einen
gegebenen Denkinhalt -- in dritter Hinsicht der in regelmässiger Folge
ursprünglich gegebene vor dem zerstreuten und sprunghaft gegebenen,
der in gleich regelmässiger Folge wiederkehrende vor dem in seiner
an sich regelmässigen Reihenfolge unregelmässig wiederkehrenden,
der auch in Andern in der nämlichen Anordnung wiederkehrende vor dem
bei jedem in anderer Reihenfolge gegebenen Denkinhalt in Bezug auf
den Anspruch, als Wissen gelten zu dürfen, den Vorrang haben.

30. Das Was des Gegebenen macht dabei keinen Unterschied,
ebensowenig ob das ohne oder wider den Willen des Denkenden dem
Denken Aufgedrungene demselben durch einen von aussen (Sinnen-) oder
durch einen von innen kommenden (Bewusstseins-) Zwang aufgenöthigt
ist. Ersteres ist bei den Thatsachen der sogenannten äusseren,
dieses bei jenen der sogenannten inneren Erfahrung der Fall. Unter
die ersteren gehört, dass wir unter bestimmten Umständen keine anderen
als gewisse Sinnesempfindungen haben (Augenschein), zu den letzteren,
dass wir mit oder nach einander in das Bewusstsein eingetretene
Empfindungen unter einander verbinden müssen (Ideenassociation),
sowie dass wir Denkinhalte, die ein gewisses Verhältniss unter
einander haben, entweder (wenn sie gleich oder ähnlich sind) zugleich
denken müssen, oder (wenn sie entgegengesetzt sind), nicht zugleich
denken können (Denkgesetz der Identität und des Widerspruchs). Im
ersteren Fall wird der Zwang durch die Sinne, im zweiten und dritten
durch die Natur des Bewusstseins, und zwar der Zwang zur Verknüpfung
gleichzeitiger oder successiver Vorgänge durch die sogenannte "Enge des
Bewusstseins" -- dagegen der Zwang, gewisse Gedanken zugleich denken
zu müssen oder nicht zugleich denken zu können, durch deren Inhalt
(logischer oder Denkzwang) ausgeübt. In diesem Sinne sind nicht nur
die einzelnen Sinnesthatsachen, sondern ist die (im Sinne Kant's)
transcendentale Thatsache der Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit und
sind nicht blos die einzelnen Bewusstseinsthatsachen, sondern ist die
(gleichfalls transcendentale) Thatsache unserer Bewusstseins- und
Denkorganisation (die thatsächlichen Naturgesetze des Bewusstseins,
die Denkgesetze) ein dem Denken unwillkürlich d. h. unabhängig vom
Willen des Denkenden Gegebenes (Zufälliges), so dass an sich auch
eine andere Organisation der Sinne wie des Bewusstseins d. h. ein
anders geartetes Erkenntnissvermögen (als gleichfalls transcendentale
Thatsache) sich denken liesse.

31. Wie bei der Frage nach dem Gegebensein des Denkinhalts von dessen
Was, so wird bei jener nach dem Was des Denkinhalts von dessen
Gegebensein abgesehen. Da nun in Bezug auf den Umstand, dass sie
Denkinhalt sind, sämmtliche Denkinhalte einander gleichen, so lässt
sich daraus allein, dass ein gewisses Was Inhalt des Denkens ist, kein
Schluss auf dessen Wahrheit oder Falschheit machen. Die Betrachtung der
Besonderheit des Was der einzelnen Denkinhalte aber gehört nicht mehr
in die Logik, sondern in die besonderen Wissenschaften, deren Inhalt
sie ausmachen (z. B. der Begriff des Seienden in die Metaphysik, der
des Guten in die Ethik etc.). Dagegen lässt sich aus dem Verhältniss,
in welchem verschiedene Denkinhalte ihrem Was nach unter einander
stehen (z. B. aus dem Verhältniss ihrer Congruenz oder Incongruenz)
sehr wohl eine Folgerung machen, was, wenn der eine derselben als wahr
oder falsch angenommen oder erwiesen wird, mit dem anderen in Bezug
auf Wahrheit oder Falschheit vor sich gehen müsse. Die auf letzterem
Wege möglichen Folgerungen müssen aus einer vollständigen Aufzählung
der zwischen Denkinhalten ihrem Was nach möglichen Verhältnisse sich
vollständig ergeben.

32. Da nun die einzelnen Denkinhalte ihrem Was nach unter einander
nur entweder verwandt oder nicht verwandt (disparat), die verwandten
aber nur entweder ganz oder theilweise identisch oder entgegengesetzt
sein können, so ergibt sich als Uebersicht der zwischen verschiedenen
Denkinhalten ihrem Was nach möglichen Verhältnisse folgendes Schema:
(ganze oder theilweise) Identität, Gegensatz, Disparatheit.

33. Ganz oder theilweise identische Denkinhalte haben das
Eigenthümliche, dass sie einander bedingen, so dass, sobald der
eine (a oder a b) gedacht wird, ebendadurch auch der andere (a ist
a; a b ist a) ganz oder theilweise gedacht wird. Entgegengesetzte
Denkinhalte haben das Eigenthümliche, dass sie einander ausschliessen
d. h. dass entweder nur, wenn der eine gedacht wird, der andere nicht
gedacht werden kann (conträrer Gegensatz: a ist nicht b), oder so,
dass zugleich, wenn der eine nicht gedacht wird, der andere gedacht
werden muss (contradictorischer Gegensatz: wenn nicht a ist, so ist
non-a). Disparate Denkinhalte haben das Eigenthümliche, dass sie
einander im Denken weder bedingen noch ausschliessen, so dass, wenn
der eine gedacht wird, auch der andere gedacht werden kann, aber weder
der andere noch sein Gegentheil gedacht werden muss (z. B. diese Rose
ist roth -- sie könnte aber auch weiss sein). Ganz oder theilweise
identische, sowie disparate Denkinhalte sind daher unter einander
verträglich -- entgegengesetzte dagegen unverträglich. Zwischen ganz
oder theilweise identischen Denkinhalten findet für das Denken eine
vom Inhalt derselben ausgehende Nöthigung statt, vom Denken des einen
zu jenem des andern überzugehen. Bei entgegengesetzten Denkinhalten
findet für das Denken eine vom Inhalt derselben ausgehende Nöthigung
statt, vom Denken des einen zum Denken des Gegentheils des anderen
überzugehen. Bei disparaten Denkinhalten findet eine vom Inhalte
derselben ausgehende Nöthigung für das Denken von einem zum andern
überzugehen, überhaupt nicht statt, sondern wenn eine solche eintreten
soll, so muss sie durch etwas vom Inhalt derselben Verschiedenes,
also entweder durch eine äussere, vom Willen des Denkenden unabhängige
Ursache (z. B. den Augenschein) oder durch eine innere, vom Intellect
unabhängige Ursache (z. B. die Willkür des Denkenden) herbeigeführt
werden. Erstere heissen daher einhellig (consonirend), entgegengesetzte
misshellig (dissonirend), disparate blos einstimmig.

34. Gänzlich identische Denkinhalte können, da es nach dem principium
identitatis indiscernibilium zwei mit einander völlig übereinkommende
Dinge überhaupt nicht geben kann, auch nicht zwei sondern müssen
nothwendig ein und derselbe d. h. als Denkinhalt einzig sein; solche
können daher auch kein Verhältniss unter einander haben. Dagegen kann
es sehr wohl Denkinhalte geben, welche, obgleich dem Was ihres Inhalts
nach nicht identisch, doch ihrem Umfang nach identisch sind; in welchem
Fall dieselben äquipollent heissen (z. B. Wechselbegriffe). Theilweise
identische Denkinhalte können entweder in der Weise identisch sein,
dass der eine ganz in dem andern, aber nicht umgekehrt dieser in jenem
enthalten ist, in welchem Fall derjenige, welcher den andern in sich
enthält, der übergeordnete, derjenige, welcher in dem andern enthalten
ist, der untergeordnete heisst; oder dieselben sind so beschaffen,
dass jeder ausser dem ihm mit dem anderen Gemeinsamen noch etwas
Besonderes enthält, so dass beide diesem Gemeinsamen untergeordnet,
unter einander aber beigeordnet sind. Im ersteren Fall ist der im
anderen enthaltene Denkinhalt unter diesem subsumirt, im zweiten
Falle jeder der beiden dem ihnen gemeinsamen subordinirt; von den
äquipollenten wird der eine dem anderen substituirt.

35. Von unter einander subsumirten Denkinhalten gilt, dass wenn
der subsumirende Denkinhalt wahr oder falsch, auch der darunter
subsumirte entsprechend eines von beiden sei. Der subsumirende heisst
in Bezug auf den subsumirten der weitere, dieser dagegen der engere
Denkinhalt und es gilt der Satz, dass das von dem weiteren Behauptete
oder Ausgeschlossene ebendarum auch von dem engeren behauptet oder
ausgeschlossen, keineswegs aber das von dem engeren Behauptete und
Ausgeschlossene auch von dem weiteren behauptet und ausgeschlossen
sei. Durch die Fortsetzung dieses Verhältnisses, indem jeder einen
anderen subsumirende Denkinhalt seinerseits selbst wieder unter einen
anderen subsumirt erscheint, gelangt man zu Denkinhalten, welche die
weiteste -- durch die Fortsetzung desselben in umgekehrter Richtung,
indem jeder subsumirte Denkinhalt seinerseits einen anderen als unter
sich subsumirend erscheint, gelangt man zu Denkinhalten, welche die
engste Geltung besitzen. Jenes Verfahren selbst kann als Subsumtions-,
und zwar entweder als analytische (Generalisations-)  Methode, welche
von -- dem Inhalt nach reicheren, aber dem Umfang nach engeren --
Denkinhalt zu -- dem Inhalt nach ärmeren, aber dem Umfang nach weiteren
-- Denkinhalt hinaufsteigt, oder als synthetische (Restrictions-)
Methode, wenn sie von -- dem Inhalt nach ärmeren, aber dem Umfange
nach weiteren -- Denkinhalt zu -- dem Inhalt nach reicheren, aber
dem Umfang nach engeren -- Denkinhalt hinabsteigt, bezeichnet werden.

36. Von einander coordinirten (beigeordneten), einem gemeinsamen
dritten subordinirten Denkinhalten gilt, dass der Inhalt des
übergeordneten in dem Inhalt jedes der beiden oder mehreren
untergeordneten, aber nicht umgekehrt, enthalten und der Umfang
des übergeordneten der Summe der Umfänge sämmtlicher demselben
untergeordneten Denkinhalte congruent sein müsse. Der übergeordnete
Denkinhalt heisst in diesem Sinne der höhere, die demselben unter-,
zugleich aber unter sich einander beigeordneten Denkinhalte heissen
die niederen. Durch die Fortsetzung dieses Verhältnisses, indem der
subordinirende höhere Denkinhalt seinerseits einem höheren subordinirt
erscheint, gelangt man zum höchsten -- durch dessen Fortsetzung
in entgegengesetzter Richtung: indem die subordinirten niederen
Denkinhalte je wieder anderen als unter sich subordinirend erscheinen,
gelangt man zum niedersten Denkinhalt. Von dem höheren Denkinhalt gilt
der Satz, dass, was von demselben behauptet oder ausgeschlossen, auch
von dessen niederen behauptet oder ausgeschlossen, keineswegs zwar,
was von nur einem oder mehreren der niederen behauptet, auch von dem
höheren behauptet, wohl aber, dass dasjenige, was von sämmtlichen
niederen ausgeschlossen, auch von dem höheren ausgeschlossen sei. Das
Verfahren, das auf die Fortsetzung jenes Verhältnisses sich gründet,
heisst die Subordinations-, und zwar die Abstractions- (Inductions-)
Methode, wenn sie von niederen zu höheren Denkinhalten hinauf-,
die Determinations- (Deductions-) Methode, wenn sie von höheren zu
niederen Denkinhalten hinabsteigt.

37. Von einander äquipollenten, substituirbaren Denkinhalten gilt, wenn
der eine wahr oder falsch, dass es auch der andere sei (z. B. was vom
gleichseitigen Dreieck gilt, gilt auch vom gleichwinkeligen). Durch
die Fortsetzung dieses Verhältnisses, so dass der einem andern
äquipollente Denkinhalt seinerseits einem dritten äquipollent ist,
entsteht die Substitutions-, wenn wir die sich gleichbleibende
Identität des Umfanges, oder die Transmutationsmethode, wenn wir
die von einem zum andern eintretende Aenderung des Inhalts im Auge
haben. Dieselbe findet ihre Verwendung zumeist in den mathematischen
Wissenschaften, in welchen z. B. [m-te Wurzel aus n-te Wurzel aus a]
= [(m × n)-te Wurzel aus a] gesetzt, also bei verändertem Inhalt
derselbe Umfang behalten wird. Während das Subsumtions- und
Subordinationsverfahren auf wahrer und vollständiger Identität beruht,
indem die Identität des Inhalts die des Umfangs nach sich zieht, beruht
das Substitutionsverfahren zwar auf wirklicher, aber unvollständiger
Identität, indem bei Einerleiheit des Umfangs Verschiedenheit des
Inhalts herrscht. Dasselbe bildet daher bereits den Uebergang von
dem Verhältniss der Identität zu jenem der Nichtidentität d. i. der
Disparatheit der Denkinhalte.

38. Disparate Denkinhalte haben mit äquipollenten das gemein, dass
sie verschiedenen Inhalt, gehen aber dadurch über dieselben hinaus,
dass sie auch verschiedenen Umfang haben. Daraus folgt, dass während
bei den äquipollenten der Uebergang von einem zum andern zwar nicht,
wie bei den identischen, mittels des Inhalts, aber doch mittels des
beiderseitigen Umfanges, also immer noch durch reines Denken erfolgt
-- bei den disparaten derselbe weder aus der Betrachtung des Inhalts,
noch aus jener des Umfangs, also auch nicht aus dem reinen Denken
geschöpft, sondern allein durch etwas von diesem Unterschiedenes,
z. B. durch eine Anschauung, welche beide Denkinhalte verbunden
aufweist, vermittelt werden kann. Während daher die Verknüpfung
zwischen identischen und äquipollenten Denkinhalten analytisch d. i. so
erfolgt, dass und weil der mit dem andern verknüpfte Denkinhalt, sei
es seinem Inhalt (wie bei den identischen), sei es seinem Umfange
nach (wie bei den äquipollenten) bereits in diesem enthalten ist,
erfolgt dieselbe bei disparaten Denkinhalten synthetisch d. i. so,
dass der eine zu dem andern als (ein dem Inhalt und Umfang nach)
völlig neuer hinzugefügt wird. Grund der Verbindung ist bei jenen ein
innerer, der so lange besteht, als Inhalt oder Umfang der mit einander
verknüpften Denkinhalte derselbe bleiben; Grund der Verbindung ist
bei diesen ein äusserer und die Verbindung besteht nur so lange,
als dieser Grund besteht. Verbindungen ersterer Art sind daher nicht
nur nothwendig, weil und so lange die Denkinhalte dieselben bleiben,
sondern auch allgemein, weil der Denkinhalt, von so Vielen und so oft
er gedacht werden mag, immer derselbe bleibt. Verbindungen letzterer
Art dagegen sind nicht nur zufällig, weil der Grund derselben
ein äusserer, sondern auch individuell oder höchstens particulär,
weil der äussere Grund derselben jederzeit nur für den einzelnen
Denkenden, und zwar in diesem bestimmten Fall, bestenfalls für
mehrere Denkende und mehrere Einzelfälle als der gleiche vorhanden
ist, keineswegs aber für alle Denkenden und ebensowenig in allen
Einzelfällen derselbe sein muss. Jene, zu welchen noch die später
zu betrachtenden, auf dem Verhältniss des Gegensatzes beruhenden
Trennungen und Verknüpfungen von Denkinhalten hinzukommen, können
mit dem für allgemeine und nothwendige Denkverbindungen seit Lambert
und Kant gebräuchlich gewordenen Ausdruck apriorische, letztere
(z. B. die durch sinnliche Anschauung herbeigeführten) Verbindungen
können, da dieselben nicht mit den Denkinhalten ursprünglich gegeben,
sondern zwischen denselben erst nachträglich (z. B. durch Erfahrung)
entstanden sind, aposteriorische genannt werden.

39. Apriorische Denkverbindungen sind daher stets analytisch oder (wie
die mathematischen) äquipollent; synthetische dagegen weder sämmtlich
(wie der rationale Dogmatismus lehrte), noch wenigstens zum Theile (wie
der zum Kriticismus herabgedämpfte ursprünglich radicale Skepticismus
Kant's einräumte) apriorisch, sondern sämmtlich aposteriorisch. Das
(mathematische) Vorurtheil Kant's, welches darin bestand, dass er
sämmtliche mathematische Urtheile für synthetisch hielt, hat denselben
im Zusammenhang mit dessen unbegrenzter Verehrung für die Mathematik
als Wissenschaft dahin geführt, ihr zu Liebe, da die mathematischen
Sätze seiner Ansicht nach synthetisch waren und dennoch allgemein und
nothwendig wahr sein sollten, apriorische Synthesen zuzulassen und,
da dieselben durch Anschauung vermittelt sein mussten, durch sinnliche
Anschauung aber keine apriorische d. i. allgemeine und nothwendige
Verbindung hergestellt werden kann, gleichfalls ihr zu Liebe eine
besondere, psychologisch nicht nachweisbare Art von Anschauung, die
von ihm sogenannte "reine Anschauung", zu erfinden. Dieselbe sollte
einerseits, wie die sinnliche Wahrnehmung, Anschauung, andererseits,
wie die sinnliche Wahrnehmung nicht, allgemein und nothwendig
d. h. sie sollte a und non-a, Thesis und Antithesis zugleich (ein
logisches Wunder) sein; als thatsächliche Erscheinungen einer solchen
bezeichnete er die Vorstellungen des Raumes und der Zeit, die er
beide der Einzigkeit ihrer beziehungsweisen Gegenstände halber für
Anschauungen, und zwar der sinnlich unwahrnehmbaren Beschaffenheit
dieser wegen für "reine Anschauungen" erklärte. Die Anschauung des
Raumes legte er als vermittelnde den geometrischen, jene der Zeit
den arithmetischen Synthesen zu Grunde.

40. Den Beweis für die synthetische Natur des mathematischen
Urtheils schöpft Kant aus dem Umstand, dass sowol das Prädicat
des arithmetischen Urtheils: 5 + 7 = 12, wie das des geometrischen
Urtheils: die Gerade ist die kürzeste zwischen zwei Punkten, etwas
vom Subjecte derselben Verschiedenes enthalte: das Prädicat 12 sei
nämlich weder mit 5, noch mit 7, das Prädicat "kürzeste Linie zwischen
zwei Punkten" nicht mit "die Gerade" identisch. Das Urtheil 5 + 7 =
12 sagt aber weder, dass 5, noch, dass 7 jedes für sich gleich 12,
sondern besagt, dass die Summe beider 5 + 7 = 12 sei d. h. dass die
Vorstellung (5 + 7) der Vorstellung 12 zwar nicht (dem Inhalt nach)
gleich sei, aber (dem Umfang nach) gleich gelte d. h. wie jeder
Mathematiker weiss, die eine für die andere substituirt werden
könne. Dasselbe ist bei dem geometrischen Urtheil der Fall; es ist
richtig, dass die Vorstellung "Gerade" nicht dem Inhalt nach eins
mit der Vorstellung "kürzeste Linie zwischen zwei Punkten" ist;
unrichtig aber ist, dass sie derselben nicht äquipollent d. h. dass
nicht jede Linie, die eine Gerade, auch die zwischen zwei Punkten --
ihrem Anfangs- und Endpunkt -- gelegene kürzeste sei. Der Uebergang
vom Subject zum Prädicat wird daher wirklich in beiden Fällen nicht,
wie Kant meinte, synthetisch durch eine von aussen hinzutretende (weder
durch eine reine, noch, wie die heutige "inductive Mathematik" wähnt,
sinnliche) Anschauung, sondern ausschliesslich analytisch durch die
Betrachtung des Umfanges beider im reinen Denken vermittelt.

41. Der Irrthum Kant's entsprang daher, dass er äquipollente
Urtheile nicht für identisch und folglich jedes seiner Ansicht nach
nicht (ganz oder theilweise) identische Urtheil für synthetisch
hielt. Mathematische Urtheile, in welchen Subject und Prädicat wie
bei den zu beiden Seiten des Gleichheitszeichens stehenden Ausdrücken
dem Worte nach verschieden lauten, dem Werthe nach ohne Schädigung
untereinander vertauscht werden können, galten ihm für apriorische
Synthesen, während sie, wie oben gezeigt, zwar apriorisch, aber
analytisch sind. Da ihm, wie er sich ausdrückte, sämmtliche analytische
Urtheile zwar richtig, aber nicht wichtig, die mathematischen dagegen
nicht nur richtig, sondern auch wichtig erschienen, so hätte er,
indem er die letzteren für analytische erklärte, dieselben in ihrer
wissenschaftlichen Würde herabzusetzen geglaubt; dieselben mussten
daher um jeden Preis von den analytischen getrennt bleiben.

42. Die Unwichtigkeit analytischer Denkverbindungen hatte für Kant
darin ihren Grund, dass dieselben zu dem schon bekannten nichts neues
hinzufügten. Dieselbe bezog sich daher nicht sowohl auf die Haltbarkeit
der durch analytische Betrachtung vermittelten Verbindungen gewisser
Denkinhalte, als vielmehr auf den durch dieselben zu bewerkstelligenden
Erkenntnissfortschritt des Denkenden von Bekanntem zu Unbekanntem. Weil
in letzterer Hinsicht das analytische Urtheil in seinem Prädicat das
Subject nur ganz oder theilweise zu wiederholen schien, wurde dasselbe
von ihm im besten Falle als eine unnütze Tautologie, in allen anderen
Fällen als ein Herabsteigen von einer höheren auf eine niedere, bereits
überwundene Erkenntnissstufe angesehen. Regressives Subsumtions- und
inductives Subordinationsverfahren waren ihm zufolge nichts weiter
als Auslösen eines Theiles aus einem schon bekannten Inhalt, durch
welchen derselbe zwar "erläutert", unsere Erkenntniss selbst jedoch
keineswegs "erweitert" werde. Des Substitutions- als eines Verfahrens,
durch welches ein beständiges idem per idem erzeugt werde, hielt Kant
in seinem Bemühen um Ausdehnung der Grenzen der Erkenntniss es nicht
einmal der Mühe für werth, Erwähnung zu thun.

43. Von diesem Standpunkt aus allerdings mit Recht, wenn es wahr
wäre, dass das Substitutions- d. i. das Verfahren, einen gegebenen
Denkinhalt durch einen demselben äquipollenten zu ersetzen d. h. den
gegebenen zu transmutiren, in der That für das Erkennen keinen
Fortschritt bedeutete. Während aber derjenige, der an der Stelle des
subsumirenden den jeweilig subsumirten oder an der Stelle des concreten
(subordinirten) nur den abstracten (subordinirenden) Denkinhalt
besitzt, in der That sozusagen "der Masse nach" weniger besitzt als er
vorher besass, und nichts, was er nicht schon vorher besass, besitzt
derjenige, der an der Stelle des ursprünglich gegebenen Denkinhalts
einen demselben äquipollenten, aber transmutirten Denkinhalt gewonnen
hat -- zwar "der Masse nach" (wenigstens was den Umfang betrifft)
nicht mehr, als er besass, er besitzt aber etwas, was er vorher
entschieden nicht besass, anstatt des ursprünglichen alten den durch
Transmutation an dessen Stelle getretenen neuen Denkinhalt. Dasselbe
stellt, zwar nicht dem Umfang, aber der Qualität des Gedachten nach,
wirklich eine Bereicherung des Denkenden dar.

44. Subsumtions- und Subordinationsverfahren machen daher, wie Kant's
analytische Urtheile, in der That blosse Erläuterung, Substitutions-
und synthetisch-aposteriorisches d. i. empirisches Verfahren machen,
wie Kant's synthetische Urtheile, eine wirkliche Erweiterung unserer
Erkenntniss, und zwar das erstere mit allgemeiner und nothwendiger,
das letztere allerdings nur mit mehr oder weniger beschränkter
und mehr oder weniger zuverlässiger, auch im besten Fall nur
wahrscheinlicher, niemals ausnahmsloser (unbedingter) Giltigkeit
möglich. Erstere beiden eignen daher vorzüglich den deducirenden,
aus dem Allgemeinen das Besondere ableitenden und classificirenden,
das Allgemeine aus dem Besonderen abstrahlenden Wissenschaften,
während das Substitutionsverfahren in den rein mathematischen, das
empirische dagegen in den Erfahrungswissenschaften zu Hause ist. Die
erstgenannten gehen von einem bereits erreichten Erkenntnissvorrath an
Allgemeinem aus, um durch Analyse desselben das darin eingeschlossene
Besondere sich zum Bewusstsein zu bringen. Die zweitgenannten gehen
von einem bereits gewonnenen Erkenntnissvorrath an Besonderem aus,
um durch Ausscheidung des Abweichenden und Zusammenfassung des
Gemeinsamen das in demselben gleichsam schlummernde Allgemeine an's
Licht zu ziehen. Die Wissenschaften, welche, wie die Lehre von den
Gleichungen in der Mathematik und die Theorie von der Erhaltung
der Kraft und des Stoffes in der Physik und Physiologie den seinem
Werthe und Umfang nach sich gleichbleibenden Denk-, wie den seiner
Quantität und Qualität nach sich gleichbleibenden Stoffinhalt, in
stets neue Formen sich umgiessen lassen, suchen dadurch das im ewigen
Wechsel Beharrende und das im ewigen Beharren stets Fliessende zu
gewinnen. Die Erfahrungswissenschaften aber sind darauf aus, durch
natürliche und künstliche Beobachtung (Experiment) zwischen bis dahin
wenn nicht für unverknüpfbar gehaltenem, doch unverknüpft gebliebenem
Denkinhalt neue, bisher unerhörte Verbindungen in mehr oder weniger
weitreichender und dauerhafter Weise festzustellen.

45. Letztere werden naturgemäss um desto mehr sich befestigen, je öfter
dieselben wiederholt worden; sei es, dass diese Wiederholung durch eine
unwillkürliche d. i. vom Willen des dieselben verknüpfenden Denkenden
unabhängige, also auch ohne ja wider denselben sich erneuernde, oder
eine willkürliche d. i. vom Willen des Denkenden entweder abhängige,
oder mit demselben identische, also auch mit und durch denselben
sich erneuernde Ursache verursacht sei. Dieselbe ist im ersteren
Fall eine gegebene, und so auch der Grund ihrer Erneuerung ein
gegebener; im letzteren Fall eine gemachte, und so auch der Grund
ihrer Erneuerung ein solcher. Im ersteren Fall wird die Verbindung
der disparaten Denkinhalte durch das Denken so lange bestehen und
so oft sich wiederholen, als die gegebene Ursache besteht und sich
erneuert, im letzteren Fall dagegen so lange und so häufig, als der
Wille, sie zu verbinden, im Denkenden entsteht und sich erneuert. In
beiden Fällen wird im Denkenden in Folge der zunehmenden Wiederholung
eine wachsende Disposition zur Verknüpfung jener an sich durch nichts
auf einander hinweisenden Denkinhalte zu Stande kommen. Dieselbe wird
jedoch im ersten Fall ihren Grund in einem Gegebenen (also Objectivem),
im letzteren Falle in einem Wollen (Subjectivem) haben, und daher dort
als (objective) Gewohnheit, die dem Denkenden von aussen angewöhnt
wird, hier als (subjective) Gewöhnung, zu welcher der Denkende sich
selbst verwöhnt hat, sich festsetzen.

46. Denkverbindungen disparater Denkinhalte, die auf Gewohnheit
beruhen, gestatten darum einen Rückschluss auf jenen Grund,
dessen Folge dieselbe ist, als einen objectiven d. h. unabhängig
vom Willen des Denkenden bestehenden. Solche dagegen, welche nur
auf einer Verwöhnung des Denkenden beruhen, gestatten höchstens
einen Rückschluss auf die subjective Beschaffenheit des Willens des
Denkenden. Ungeachtet der Grund der Verbindung in beiden Fällen kein
logischer (aus dem Inhalt des zu Verbindenden entspringender Denk-),
sondern ein blos psychologischer Zwang ist, welcher in dem einen Fall
durch das Gegebensein des Objects auf den Willen, in dem andern Fall
von dem Willen auf das Gegebenwerden des Objects ausgeübt wird, so
ist der Grad wie der Grund der Festigkeit in jedem der beiden Fälle
ein verschiedener. Derselbe beruht im ersten Fall auf dem Natur- und
Fundamentalgesetz des Bewusstseins, durch welches dasselbe genöthigt
wird, zugleich oder nach einander Gegebenes, sei es (dem Inhalte nach)
Homogenes oder Heterogenes, unter einander dergestalt zu verknüpfen,
dass mit dem Einen das Andere gedacht oder nach dem Eintreten des Einen
das Eintreten des Anderen erwartet wird (Ideen-Associationsgesetz
der Coëxistenz und der Succession). Da die Wirksamkeit desselben
unabänderlich ist, so muss, sobald irgend etwas dem Denkenden als
zugleich oder nach einander Seiendes gegeben ist, das Denken des
Einen mit dem Andern, oder das Erwarten des Einen nach dem Andern
ebenso unabänderlich erfolgen, so dass selbst der Wille des Denkenden
demselben keinen Einhalt zu thun vermöchte. Diese Unabänderlichkeit des
psychischen Vorganges des Verbindens gewisser Denkinhalte in einem und
des Erwartens gewisser Denkinhalte nach einander im andern Falle lässt
in Folge einer (logisch zwar ungerechtfertigten, aber psychologisch
sehr erklärlichen) unwillkürlichen Erschleichung die Sachlage so
erscheinen, als ob die vom Denken notwendigerweise mit oder nach
einander verknüpften Denkinhalte an sich mit oder nach einander
nothwendigerweise verknüpft wären d. h. die Naturgesetzlichkeit
des Bewusstseinsvorganges (der Association nach Coëxistenz und
Succession) wird auf das Verknüpfte (Objective) selbst als dessen
naturgesetzliches Mit- oder Nacheinandersein übertragen. Da nun
beispielsweise Eigenschaften (Accidentien) nicht ohne Träger derselben
(Substanz) und Wirkungen nicht ohne vorangehende Ursachen gedacht
werden können, so liegt darin der Grund, warum Gegebenes, welches dem
Denkenden entweder mit oder nach einander gegeben wird, von diesem
als im Verhältniss -- wenn es zugleich gegeben ist -- der Inhärenz
d. i. des Accidens zur Substanz -- wenn es nach einander gegeben
ist -- der Causalität d. i. der Wirkung zur Ursache stehend gedacht
wird. Hume's Behauptung, dass das Causalgesetz aus der Gewohnheit
entspringe und daher nichts anderes als die -- durch das ursprünglich
beobachtete und zu wiederholtenmalen erneuerte Nacheinanderauftreten
gewisser Phänomene -- motivirte Erwartung des Wiedereintretens des
einen derselben sei, wenn das andere vorangegangen ist, hat daher
insofern, als dieselben untereinander völlig disparater Natur sind,
berechtigte Geltung.

47. Dagegen beruht in dem Falle, als die Verbindung disparater
Denkinhalte nicht durch objectives (gleichzeitiges oder successives)
Gegebensein, sondern durch den Willen des Denkenden erfolgt, der
Grad und die Dauer ihrer Festigkeit lediglich auf der Energie und der
Dauerhaftigkeit dieses Willens. Da nun der letztere, insofern er durch
nichts von ihm Unabhängiges beeinflusst (motivirt), sondern lediglich
grundlos sich selbst bestimmend (transcendentalfrei, reine Willkür),
also im buchstäblichen Sinn des Wortes Eigenwille (Laune, Eigensinn)
ist, und als solcher ebenso grundlos vergeht als entsteht, also seiner
Natur nach veränderlich (wetterwendisch, launenhaft) ist, so können
auch die durch denselben allein herbeigeführten Denkverbindungen
nicht anders als veränderlich (Denklaunen, Capricen) sein, welche,
so scheinbare Festigkeit dieselben auch besitzen mögen, so lange
die sie festhaltende Willensmarotte Bestand hat, dieselbe nicht
blos in den Augen Anderer, sondern des Denkenden selbst nothwendig
sogleich einbüssen, sobald dessen Eigenwille eine andere Richtung
eingeschlagen hat.

48. Auf der durch Gegebenes entstandenen (objectiven) Gewohnheit beruht
die unabweisliche (wirkliche), auf der durch Willkür herbeigeführten
(subjectiven) Gewöhnung beruht die angebliche (scheinbare)
Erfahrung. Jene beansprucht, weil die Naturgesetze des Bewusstseins
für alle bewusstseinsfähigen Wesen derselben Gattung dieselben
sind, sobald die Bedingungen des Gegebenseins für das Bewusstsein
(z. B. die Simultaneität oder Succession) die nämlichen bleiben,
auch für alle bewusstseinsfähigen Wesen derselben Gattung die gleiche
uneingeschränkte Geltung. Diese kann eine solche höchstens innerhalb
des Kreises der Herrschaft desjenigen Willens, auf welchem die
ursprüngliche Verknüpfung des Denkinhaltes und deren Bestand beruht,
über sich selbst und eventuell über den Willen anderer Denkenden,
welche dem seinigen gegenüber als Dienende (Autoritätsgläubige,
Willensknechte) sich verhalten, behaupten. Das Verfahren, nach welchem
allgemein giltige Erfahrung zu Stande kommt, kann daher allein als
erfahrungswissenschaftliche (empirische) Methode, dasjenige dagegen,
nach welchem nur individuell oder höchstens in beschränktem Kreise als
solche anerkannte d. i. Scheinerfahrung erreicht wird, muss als den
Schein erfahrungswissenschaftlicher Methode affectirender, an sich
unwissenschaftlicher Erfahrungstrug bezeichnet werden. Beispiele
der ersten liefern alle wirklichen Erfahrungswissenschaften; das
auffälligste Beispiel des letzteren bietet die auf angeblichen
uncontrolirbaren und nur innerhalb des Kreises gläubiger Jünger als
solche anerkannten Erfahrungen einzelner Auserwählter (z. B. Medien,
Geisterseher) -- angeblich unter genauer Beobachtung des methodischen
Verfahrens wirklicher Erfahrungswissenschaft -- aufgebaute
vermeintliche Erfahrungswissenschaft von der Geisterwelt (Spiritismus).

49. Wie disparate Denkinhalte mit äquipollenten darin übereinkamen,
dass beiderseits die Denkinhalte ihrem Inhalt nach nicht identisch
waren, so unterscheiden sich dieselben von ihrem Inhalte nach
entgegengesetzten Denkinhalten dadurch, dass die ersteren ihrem
Umfange nach mit einander verträglich, die letzteren dagegen in Bezug
auf diesen unter einander unverträglich sind. Dieselben schliessen
einander entweder in der Weise aus, dass, was in den Umfang des einen,
nicht in den Umfang des andern fällt, in welchem Fall sie conträr,
oder in der Weise, dass zugleich dasjenige, was nicht in den Umfang
des einen, eo ipso in den Umfang des andern fällt, in welchem Fall sie
contradictorisch entgegengesetzt heissen. Sie können einander aber
auch in der Weise ausschliessen, dass, was in den Umfang des einen,
nicht in den Umfang des andern, was nicht in den Umfang des einen,
in den Umfang des andern fällt, die Umfänge beider aber zugleich den
Umfang eines dritten, beiden übergeordneten Denkinhaltes ausmachen,
in welchem Fall sie subconträr entgegengesetzt genannt werden. Von
conträr entgegengesetzten Denkinhalten gilt, dass, wenn der eine
wahr ist, der andere falsch, von contradictorisch entgegengesetzten
überdies, dass, wenn der eine falsch ist, der andere wahr sein muss;
von subconträr entgegengesetzten dagegen gilt, dass, weil beider
Umfänge in den Umfang eines dritten fallen und denselben erschöpfen,
dasjenige, was in dem Umfang des einen liegt, nicht in dem Umfang des
andern liegen kann (wie bei den conträren), aber auch, dass, was nicht
in dem Umfang des einen liegt, in dem Umfang des andern liegen muss
(wie bei den contradictorischen Gegensätzen), dass also, wo a ist,
nicht b, dagegen b ist, wo a nicht ist, und weiter, dass, wo das eine
von beiden, auch das beiden übergeordnete dritte ist, dass also beide
subconträr entgegengesetzte zugleich keines das andere und (in Bezug
auf das dritte als "ihre höhere Einheit") eins und dasselbe sind. Ist
der einem andern conträr entgegengesetzte Denkinhalt seinerseits einem
dritten conträr entgegengesetzt, so dass, wenn a wahr ist, b falsch
sein muss, so lässt sich aus der Wahrheit von a nicht schliessen,
dass nun auch der dem b conträr entgegengesetzte Denkinhalt c wahr
sein müsse, wol aber, dass derselbe wahr sein könne, indem aus der
Wahrheit von a zwar die Falschheit von b, aus der Falschheit von b aber
keineswegs die Wahrheit von c folgt. Lässt sich der einem Denkinhalt
a contradictorisch entgegengesetzte Denkinhalt non-a seinerseits
wieder in zwei contradictorisch entgegengesetzte Denkinhalte b und
non-b spalten, so gilt nicht nur, dass, wenn a wahr ist, sowol b als
non-a nothwendig falsch sein müsse, sondern auch, dass, wenn a falsch
ist, eines von beiden, b oder non-b nothwendig wahr sein muss. Von
subconträr entgegengesetzten Denkinhalten gilt, dass, sobald auch nur
einer von beiden wahr ist, ein dritter, der beiden übergeordnete, wahr
und daher, wenn dieser selbst einem vierten subconträr entgegengesetzt,
auch der ihm und diesem übergeordnete fünfte Denkinhalt wahr sei. Auf
die Fortsetzung des ersten Verhältnisses gründet sich das Verfahren, zu
einer Reihe conträrer Gegensätze zu gelangen, die alle zugleich wahr,
also copulativ verbunden werden können (z. B. die Farbenreihe). Auf
die Fortsetzung des zweiten Verhältnisses gründet sich das Verfahren,
durch Zerfällung des contradictorisch entgegengesetzten Gliedes in
weitere Gegensätze zu einer vollständigen Eintheilung zu gelangen,
deren Glieder untereinander disjunctiv getrennt werden können. Auf die
Fortsetzung des dritten Verhältnisses gründet sich das construirende
oder sogenannte dialektische Verfahren, mittels dessen mit Hilfe
stets neu eingeführter subconträrer Gegensätze zu immer neuen sich
übereinander aufthürmenden "höheren Einheiten" gelangt wird, deren
jede die vorhergehende (nach dem bekannten Hegel'schen Doppelsinn)
zugleich aufhebt und "aufhebt" (tollit et servat).

50. Mit dem Verhältniss des Gegensatzes ist die Reihe derjenigen,
welche das "was" des Denkinhaltes angehen, erschöpft. Mit dem ersten,
auf das "wie" des Gegebenseins sich stützenden, der unwillkürlichen
Nöthigung, einen gewissen Denkinhalt zu denken, ergeben sich für
die Beurtheilung des Anspruches eines gewissen Denkens, für Wissen
gelten zu dürfen, im Ganzen fünf Gesichtspunkte, von denen der erste
quantitativ, die übrigen qualitativ heissen können, weil jener sich auf
das Quantum des Gegebenseins, diese sich auf das Quale des Gegebenen
beziehen, und an deren jeden sich entsprechende methodische Verfahren
zum Wissen zu gelangen anschliessen.

51. Der erste derselben ist der Gesichtspunkt der
Denknothwendigkeit. Der unwillkürlich gegebene erscheint als der nicht
nicht zu denkende d. i. nothwendig zu denkende oder denknothwendige
Denkinhalt; und zwar in desto höherem Grade, je besser die
Unwillkürlichkeit seines Gegebenseins d. i. dessen Gegebensein ohne,
ja wider den Willen des Denkenden bezeugt ist. Letzteres ist aber in
desto höherem Grade der Fall: 1. je unwiderstehlicher derselbe sich
aufdrängt und gegen alle mit Wissen und Willen angestellten Versuche,
sich desselben zu erwehren, behauptet. In diesem Sinne gilt der Satz:
facta loquuntur, und dass es nichts fruchte, gegen "Thatsachen" die
Augen zu verschliessen; denn da die Ursache dieses ohne, ja wider
Willen Gegebenseins nicht im Willen des Denkenden liegen soll, so
kann dieselbe nur entweder in einem von diesem Willen Verschiedenen
gelegen, oder das Gegebene müsste ohne Ursache (grundlos) gegeben
sein. Letzteres ist um so unwahrscheinlicher, als der sogenannte Satz
vom zureichenden Grunde (principium rationis sufficientis), welcher
besagt, dass nichts ohne Grund erfolge, selbst wahrscheinlicher ist;
denn auch dieser ist, als Denkinhalt betrachtet, kein willkürlich
gemachter (erfundener), sondern selbst ein unwillkürlich gegebener
(evidenter), dessen das Denken sich nicht zu erwehren vermag und
der bei jedem sich bietenden Anlass sich wieder -- und was das
Gewicht seines Gegebenseins verstärkt, Jedermann in gleicher Weise
aufdrängt. Je unwahrscheinlicher es aber ist, dass das Gegebensein
eines gewissen Denkinhalts ein blosser Zufall sei, desto mehr steigert
sich dieselbe, wenn und in dem Masse, als derselbe Denkinhalt in
zahlreicheren Fällen mit gleicher Unabweislichkeit wiederkehrt, und
damit die Wahrscheinlichkeit, dass die Ursache seines Gegebenseins
wie seiner Wiederholung in einer äusseren, und zwar beharrenden
(objectiven, nicht subjectiven) Ursache, z. B. die sich aufdrängende
Empfindung der rothen Farbe nicht in einer subjectiven Affection des
Gesichtsorganes (Rothsehen), sondern in einem objectiven, von aussen
kommenden Reize desselben ihren Grund habe.

52. Die Unwillkürlichkeit des Gegebenseins wird aber 2. in noch
höherem Grade bestätigt, wenn es sich zeigt, dass dieser beharrende
und objective Grund nicht blos für den einzelnen Denkenden, sondern
für alle Seinesgleichen in gleicher Weise besteht. Dies aber ist der
Fall, wenn die Persönlichkeit des Denkenden als veränderlich angenommen
und innerhalb derselben Gattung denkender Wesen jede beliebige andere
Persönlichkeit an dessen Stelle gesetzt, der Erfolg ceteris paribus
immer derselbe bleibt d. h. der dem Einzelnen als unwillkürlich
gegeben erscheinende Denkinhalt auch jedem Anderen mit gleicher
Unwiderstehlichkeit als ein solcher sich aufnöthigt, z. B. dieselbe dem
Wahrnehmenden als Empfindung sich aufdrängende Gesichtsvorstellung auch
von jedem Anderen an seiner Statt als solche empfunden wird. Ist es
nämlich an sich schon höchst unwahrscheinlich, dass das unwillkürlich
scheinende Gegebensein bei dem einen Denkenden blosser Zufall sei,
so ist es noch unverhältnissmässig unwahrscheinlicher, dass derselbe
Zufall sich bei jedem beliebigen an dessen Stelle tretenden Anderen
wiederholen werde.

53. Der höchste Grad der Bestätigung der Unwillkürlichkeit des
Gegebenseins aber wird dann erreicht, wenn 3. derselbe Denkinhalt,
der sich dem Einzelnen einmal oder zu wiederholtenmalen, ferner
jedem Anderen an dessen Statt in gleicher Weise sich aufgenöthigt
hat, von jedem Anderen nicht nur einmal, sondern in jedem beliebigen
wiederkehrenden Fall als solcher erfahren wird d. h. wenn derselbe
Denkinhalt für Jedermann und unter beliebig veränderten Umständen
stets mit gleicher Unabweislichkeit als unwillkürlich gegeben
empfunden wird. Das sich auf diese Thatsache gründende Verfahren kann
als Constatirungs- oder mit Rücksicht auf die demselben zu Grunde
liegende Zählung der Fälle, in welchen die Thatsache des unwillkürlich
Gegebenseins beobachtet worden ist, als das statistische Verfahren
bezeichnet werden. Durch die Fortsetzung desselben gelangt man mit der
Zunahme der Zahl der Bestätigungen zu einem immer wachsenden Grade von
Wahrscheinlichkeit, welche, wenn die Zahl der erfahrenen Bestätigungen
jener der an sich möglichen Wiederholungen gleicht, zur völligen, wenn
sie derselben sich nähert, ohne einen einzigen Fall des Gegentheils
(negative Instanz) erlitten zu haben, zur moralischen Gewissheit wird.

54. Der Grad dieser Wahrscheinlichkeit lässt sich, jedoch nur in
dem Fall, wenn die Zahl der an sich möglichen Fälle bekannt ist, der
Rechnung unterwerfen. Derselbe wird durch einen Bruch ausgedrückt,
dessen Nenner die Zahl der überhaupt möglichen (m + n), dessen
Zähler die Anzahl der beobachteten einander bestätigenden Fälle
(m) ausdrückt. Erreicht die Anzahl der beobachteten die der an sich
möglichen Fälle, so wird der Bruch m/(m + n) = (m + n)/(m + n) = 1
und die Wahrscheinlichkeit verwandelt sich in Gewissheit. Erreicht sie
dagegen nur die Hälfte der Zahl der an sich möglichen Fälle, so dass m
= n ist, so wird der Bruch m/(m + n) = 1/2 und die Wahrscheinlichkeit
verwandelt sich in halbe Gewissheit d. i. Zweifel. Geht die Zahl
der beobachteten über die Hälfte der an sich möglichen Fälle hinaus,
oder bleibt sie hinter derselben zurück, so wird der Bruch m/(m + n)
im ersten Fall > 1/2, im zweiten Fall < 1/2 d. h. es tritt in jenem
Fall Wahrscheinlichkeit, in diesem Unwahrscheinlichkeit ein.

55. Der äussere Grund des unwillkürlich Gegebenseins kann, da er
nicht im Willen des Denkenden liegt, nur entweder trotzdem im
Denkenden selbst, und zwar entweder in dessen psychischer oder
somatischer Beschaffenheit, oder ausserhalb desselben in der
sogenannten Aussenwelt gelegen sein. Im letzteren Falle heisst
das unwillkürlich Gegebene eine äussere, in beiden anderen Fällen
dürfte es mit Rücksicht auf die innerhalb des Denkenden zu suchende
Ortslage der Ursache eine innere Thatsache heissen; gewöhnlich wird
aber nur die in der psychischen Beschaffenheit des Denkenden (in
dessen Intellect oder Gefühlsleben) gelegene Ursache als eine innere
bezeichnet; die in der somatischen Natur des Denkenden (z. B. in der
anormalen Natur seiner Sinnesorgane) gelegene pflegt zu den äusseren
Ursachen gerechnet zu werden. Innere Thatsachen werden daher nur
solche genannt, welche Bewusstseinsthatsachen, sei es des Intellects,
sei es des Gefühlslebens, sind, während alle übrigen, ihr Grund mag
innerhalb oder ausserhalb der somatischen Natur des Denkenden liegen,
äussere Thatsachen heissen; erstere bilden die Grundlage der inneren,
letztere die Basis der äusseren Erfahrung.

56. Zu den inneren Thatsachen, und zwar des Intellects, gehören
unwiderstehlich sich aufdrängende und deshalb von gewissen Denkern als
"angeboren" bezeichnete Begriffe und Urtheile (wenn es dergleichen
gibt); zu den inneren Thatsachen des Gefühlslebens die unwiderstehlich
sich aufdrängenden Aussprüche der Mahnung und Abmahnung, die von
gewissen Denkern auf die Quelle einer unfehlbaren inneren Stimme (des
moralischen oder ästhetischen Gefühls; das daimonion des Sokrates, der
"deus in nobis") zurückgeführt worden sind (wenn es eine dergleichen
gibt); alle übrigen Thatsachen, die ihren Grund in einer inner-
oder ausserhalb des Leibes des Denkenden gelegenen Ursache haben,
gehören im weiteren, diejenigen, welche ihren Grund in einer vom
Leibe verschiedenen Ursache haben, wie die sogenannten "objectiven"
Sinnesempfindungen, deren Grund "objective" d. h. von aussen kommende
Sinnesreize sind, im engeren Sinne der äusseren Erfahrung an.

57. Zur Constatirung, dass ein gewisser Denkinhalt Thatsache
des Intellects d. h. unabweislich sei, sowie, dass ein solcher
Thatsache des Gefühlslebens d. h. als Gefühl unwiderstehlich sei,
gibt es demnach keinen von dem zur Constatirung, dass ein gewisser
Denk- (z. B. Empfindungs-) Inhalt Thatsache der Erfahrung sei
d. h. unvermeidlich empfunden werde, einzuschlagenden verschiedenen
Weg. In jedem der genannten Fälle muss der Versuch, denselben mit
Wissen und Willen nicht zu denken so oft und unter so vielfach
wiederholten Umständen und von so Vielen wiederholt werden, bis
sich die Aussichtslosigkeit, sich desselben erwehren zu können, zur
moralischen Gewissheit erhoben hat. Denkinhalte, welche diese Probe
bestanden haben, können als evidente d. i. einleuchtende, wenn auch
weiter durch nichts begründungsfähige d. h. als unwiderlegliche,
sei es Bewusstseins-, sei es Sinnesthatsachen, gelten.

58. Bei den Intellects- und Gefühlsthatsachen, wie bei den
Sinnesthatsachen bleibt dabei die von Moment zu Moment veränderliche
Individualität des einzelnen, wie die von Individuum zu Individuum
abweichende Individualität der mehreren Denkenden zu überwinden. Weder
ist der Einzelne in verschiedenen Momenten seines Daseins sich selbst,
noch sind die Einzelnen sich untereinander gleich. Der Intellect
wird zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen eben überwiegenden
Vorstellungskreisen, das Gemüth von eben vorhandenen Stimmungen
beherrscht, welche dem gegebenen Denkinhalt ihre d. h. eine momentane
oder temporäre subjective Färbung ertheilen. Das äussere Sinnesorgan
des Beobachtenden unterliegt von Fall zu Fall oder von Beobachter zu
Beobachter individuellen, sei es augenblicklichen, sei es habituell
gewordenen Störungen, welche (wie z. B. die Farbenblindheit, die
Kurz- oder Weitsichtigkeit) dem gegebenen Inhalt der Beobachtung
eine sei es augenblickliche, sei es dauernde subjective Entstellung
(z. B. Farbenfälschung, Entfernungsfälschung) aufprägen. Letztere
Gefahr hat bei astronomischen Observationen zur Aufstellung der
sogenannten Bessel'schen Augengleichung geführt, durch welche der
habituelle Beobachtungsfehler jedes Beobachters ein- für allemal
eruirt und sodann, wie der habituelle Gangfehler einer Uhr durch
die sogenannte Zeitgleichung, bei jeder von demselben angestellten
Beobachtung dieselbe corrigirend ebenso in Anschlag gebracht wird, wie
durch Kenntniss der täglichen Acceleration oder Retardation des Pendels
auch mittels einer fehlerhaften Uhr richtige Zeitbestimmungen erreicht
werden können. Wie hier von der individuellen Natur des Beobachters,
so muss bei Beurtheilung desjenigen, was als Bewusstseins-, sei es
Intellects- oder Gefühlsthatsache, gelten soll, von der individuellen
Natur wie der augenblicklichen Gemüthsstimmung abgesehen d. h. das
Urtheil, dass ein gewisser Denkinhalt unwillkürlich gegeben sei,
muss, um mit Kant zu reden, "mit Vermeidung aller Privatgefühle"
gefällt werden.

59. Der auf diesem Wege als denknothwendig nachgewiesene
Denkinhalt gilt dem Denken als wahrer Denkinhalt. Die Idee
der Denknothwendigkeit ist die erste logische d. h. die erste
derjenigen Ideen, von welchen das Denken in seinem Streben, Wissen
zu werden, sich leiten lässt. Da dieselbe auf dem Nachweise des
unwillkürlich Gegebenseins des Denkinhalts, dieser Nachweis selbst
aber auf einem Constatirungsverfahren beruht, dessen äusserste
Grenze die zwar dem Bedürfniss genügende, aber die Sache selbst
niemals erschöpfende moralische Gewissheit bildet, so folgt aus dem
Erweise, dass ein gewisser Denkinhalt denknothwendig, allerdings
nicht mit Nothwendigkeit, dass derselbe wahr sei, aber es folgt mit
Nothwendigkeit, dass derselbe dem Denkenden wahr scheine.

60. Die zweite logische Idee, die wie die folgenden auf dem Was des
Denkinhalts, statt wie die erste auf dessen Wie, und zwar auf dem
Verhältniss der einseitigen oder gegenseitigen Inhaltsidentität
zweier Denkinhalte ruht, ist die der Analyse d. i. der Versuch,
durch Auflösung des Inhalts in seine näheren und entfernteren
Bestandteile zu einem Urtheil über dessen Wahrheit oder Falschheit zu
gelangen. Dieselbe tritt, wie oben angeführt, wenn die Inhaltsidentität
einseitig ist, als Subsumtion, wenn sie gegenseitig ist, als
Subordination des einen unter den andern Denkinhalt auf, an welche die
betreffenden Verfahrungsweisen, und zwar an die erstere die analytische
(regressive) und synthetische (progressive), an die letztere die
Abstractions- und die Determinationsmethode sich anschliessen.

61. Die dritte logische Idee, die auf der Identität des Umfangs
(Aequipollenz) beruht, ist die Gleichgeltung d. i. der Versuch, durch
Substituirung eines dem Gegebenen gleichgeltenden Denkinhalts zu einem,
wenigstens dem Inhalte nach von dem ersten verschiedenen, neuen auf
einem Wege zu gelangen, auf welchem die Wahrheit oder Falschheit des
letzteren aus jener des gegebenen sich folgern lässt. Auf dieselbe
gründet sich das, wenn man die Identität des Umfangs im Auge hat,
Substitutionsmethode, wenn man die Verschiedenheit des Inhalts in
Betracht zieht, Transmutationsmethode genannte Verfahren, in welchem
die Wahrheit des ursprünglich gegebenen Denkinhalts durch allen nicht
blos scheinbaren, sondern wirklichen Wechsel des Inhalts hindurch
und trotz desselben sich forterhält.

62. Die vierte logische Idee ist die der Synthese d. i. die Verknüpfung
disparater Denkinhalte in Folge eines nicht aus der Betrachtung des
Inhalts desselben abgeleiteten, diesem fremden, aber zur Begründung
jener zureichenden Grundes. Je nachdem derselbe entweder eine äussere
(Sinnes-, aposteriorische) oder (wie bei Kant's mathematischen
Urtheilen) eine reine (Intellectual-, apriorische) Anschauung ist,
ist die Synthesis selbst entweder empirisch (zufällig, particulär),
welche blosse Wahrscheinlichkeit, oder apriorisch (allgemein,
nothwendig), welche (wenn es deren überhaupt gibt) ausnahmslose
Gewissheit gewährt. Auf dieselbe gründet sich das empirisch- (wenn
die Synthese eine empirische) oder apriorisch- (wenn die Synthese
eine reine ist) synthetische Verfahren, welches im ersten Falle
zu empirischen (mehr oder weniger wahrscheinlichen), dagegen im
letzteren Falle zu apriorischen (mit dem Anspruch auf Allgemeinheit
und Nothwendigkeit ausgesprochenen) Ergebnissen führt.

63. Die fünfte logische Idee ist die der Ausschliessung, welche auf
dem Verhältniss des Gegensatzes, und zwar als Widerstreit auf dem des
conträren, als Widerspruch auf dem des contradictorischen, dagegen als
sogenannte "Einheit der Gegensätze" (Synthese des Ausgeschlossenen) auf
dem des subconträren Gegensatzes beruht. Während die ersten beiden blos
trennend (disjunctiv), verhält sich der letzte zugleich verbindend
(copulativ). An jene schliesst sich ein negatives, Denkinhalte
scheidendes, an dieses ein affirmatives, Geschiedenes wieder
vereinigendes Verfahren an, daher jenes vorzugsweise als die Methode
des scharfsinnigen, verborgene Unterschiede des Aehnlichen streng
sondernden Verstandes, dieses als die einer tiefsinnigen, verborgene
Aehnlichkeit des Geschiedenen aufspürenden, Entgegengesetztes als
Eins schauenden (speculativen) Vernunft angesehen wird.

64. Keine der fünf angeführten logischen Ideen ist der Schlüssel zum
ganzen Wahren, aber jede derselben ist ein Schlüssel zu Wahrem. Weder
dasjenige Verfahren im Denken, welches sich ausschliesslich auf das
unwillkürliche Gegebensein (Positivität) des Denkinhalts stützt und
daher Positivismus oder, weil das Gegebene als Thatsache gilt, auf
Thatsachen gegründetes Denken d. i. Empirismus heisst, noch das ebenso
ausschliesslich auf das Was des Denkinhalts (Rationalität) gegründete
Verfahren, welches auf die Beziehungen (rationes) der Denkinhalte
zu und unter einander sich stützt und deshalb Rationalismus heisst,
erschöpft die Totalität des dem Denken zugänglichen Erkenntnissgehalts;
beide sind, indem der Positivismus des rationalen Verfahrens bedarf,
um von den gegebenen Thatsachen aus, der Rationalismus der positiven
Grundlage bedarf, um von derselben aus weiter fortzuschreiten, dazu
bestimmt, einander gegenseitig zu ergänzen.

65. Der Positivismus oder das lediglich von Thatsachen ausgehende
Denken ist, je nachdem diese letzteren innere oder äussere
(Bewusstseins- oder Sinnesthatsachen), die ersteren entweder Thatsachen
des Intellects, oder des Gefühls, oder des Willens, die letzteren
entweder durch krankhafte von innen kommende oder durch normale
von aussen kommende Sinnesreize erzeugte Sinnesthatsachen, blosse
Hallucinationen (visiones) oder Wahrnehmungen des äusseren Sinnes
(visus et auditus) sind, nach der Reihe entweder intellectualer
(wie der auf angeborne Ideen sich berufende Cartesianismus) oder
sensualer (wie die Gefühlsphilosophie Jacobi's, die schottische
Moral- und sogenannte Philosophie des gesunden Menschenverstandes),
oder theletischer (wie die Willensphilosophie Schopenhauer's),
oder visionärer (wie Swedenborg's Mysticismus und Spiritismus), oder
sensualistischer Positivismus (wie die philosophie positive Comte's,
welche seit Diesem im engeren und eminenten Sinne diesen Namen
führt). Nimmt derselbe hierbei seinen Ausgangspunkt lediglich von
den Thatsachen der, sei es inneren, sei es äusseren Erfahrung, so ist
er gemeiner, unkritischer Positivismus (Dogmatismus); betrachtet er
dagegen die Erfahrung selbst (sei es die innere, sei es die äussere)
als Thatsache, neben und ausser welcher noch andere thatsächliche
Erfahrungen (aussermenschliche oder übermenschliche) möglich sind,
so ist er transcendentaler, kritischer Positivismus (Kriticismus).

66. Der Rationalismus oder das lediglich auf die ein- oder
gegenseitigen Beziehungen (rationes) des Denkinhalts sich stützende
Denkverfahren ist entweder analytischer, wenn er lediglich durch
die logischen Ideen der Analyse, der Gleichgeltung und der conträren
oder contradictorischen Ausschliessung, dagegen synthetischer, wenn
er überdies durch jene der Synthese sich leiten lässt. Letzterer
heisst empirischer, wenn die Synthese ausschliesslich aposteriorisch,
dagegen reiner, wenn dieselbe (wie etwa in Kant's mathematischen
Urtheilen) apriorisch verstanden wird. Tritt zu den logischen Ideen des
empirischen Rationalismus jene des Widerstreits und des Widerspruchs
in der Weise gesetzgebend hinzu, dass, was durch empirische Synthese
gegeben ist, trotzdem ohne Umbildung (Berichtigung oder Ergänzung)
nicht behalten werden darf, sobald es Widersprüche einschliesst, so
geht derselbe in rationalen Empirismus über, während er im Gegenfall
empirischer Irrationalismus (Empiristik) wird. Tritt zu den logischen
Ideen, welche den reinen Rationalismus leiten, jene der "Einheit der
Gegensätze" in der Weise hinzu, dass das durch den Verstand Getrennte
(Reflexions- oder Verstandesphilosophie) in einer "höheren" Vernunft-
(intellectualen) Anschauung wieder als Eins geschaut wird, so geht der
reine in speculativen Rationalismus (rationale Dialektik, speculative
oder Vernunftphilosophie) über.

67. Wenn die logischen Ideen als Vorbilder des Denkens dasselbe zum
Wissen (Erkenntniss), so führen die Gegentheile derselben dasselbe zum
Nicht- oder Scheinwissen (Irrthum). Gegentheil der Denknothwendigkeit
ist die Denkzufälligkeit, des unwillkürlich Gegeben- das willkürlich
Gemachtsein des Denkinhalts, in Folge dessen derselbe im Gegensatz
zum erfahrenen (Erlebniss) als erfundener (Fiction) erscheint. Das
Gegentheil der Analyse d. i. der Zerlegung des Denkinhalts in seine
Bestandtheile, wodurch derselbe deutlich wird, ist die Confusion
d. i. die Vermengung der verschiedenen Bestandtheile des Denkinhalts,
wodurch derselbe verworren und dunkel wird. Das Gegentheil der Gleich-
ist die Ungleichgeltung des Denkinhalts, wodurch beliebige Denkinhalte,
welche nichts weder dem Inhalt noch dem Umfang nach mit einander gemein
haben, für einander gesetzt werden. Das Gegentheil der berechtigten
oder doch für berechtigt gehaltenen, sei es auf wirklicher Gewöhnung
beruhenden empirischen oder auf, wenn auch blos vermeintlicher,
reiner Anschauung beruhenden apriorischen Synthese bildet die, sei
es in einem, sei es im andern Sinn unberechtigte, entweder, statt auf
wirklicher Gewöhnung, auf blosser Angewöhnung oder Verwöhnung beruhende
empirische, oder nicht einmal auf vermeintlicher, sondern willkürlich
behaupteter (stat pro ratione voluntas) reiner Anschauung beruhende,
fälschlich für apriorisch ausgegebene Synthese. Das Gegentheil der
Idee der Ausschliessung bildet die Duldung der Gegensätze, und zwar
nicht blos des conträren und contradictorischen, sondern auch die
des subconträren, welche letztere sich durch die Annahme der "Einheit
der Gegensätze" von blosser Toleranz bis zur durch die logische Idee
der Ausschliessung verbotenen positiven Anerkennung des Widerspruchs
steigert und in diesem die Wahrheit findet. Wie die logischen Ideen
als Schlüssel zum Wahren, kann jedes dieser ihrer Afterbilder als
ein solcher zum Falschen dienen.

68. Wie die Summe der logischen Ideen zusammengenommen das Muster
darstellt, dem das Wahre, so stellt die Summe der Gegentheile derselben
das Schema dar, welchem ganz oder theilweise das Unwahre gleichen
muss. Mit der Aufstellung beider, des Einen zur Nachahmung, des Andern
zur Abschreckung für jedes Denken, das Wissen (Erkenntniss) werden
will, ist das Geschäft der Logik als allgemeiner Wissenschaft von
den normalen und anormalen Formen des Denkens (Denknormen) vollendet.



ZWEITES CAPITEL.

DIE ÄSTHETISCHEN IDEEN.


69. Wie die logischen Ideen die (formalen) Normen enthalten,
unter welchen beliebiger Denkinhalt zum wahren d. i. zum unbedingt
d. h. von Jedermann und allezeit als solcher anerkannten Denkinhalt
wird, so stellen die ästhetischen Ideen die Bedingungen dar,
unter welchen beliebiger Vorstellungsinhalt zu schönem d. i. zum
unbedingt d. h. von Jedermann und allezeit als solches anerkanntem
Wohlgefälligen wird. Während dagegen die logischen Ideen auf ein
jenseits des Denkinhalts Gelegenes d. i. auf ein Object hinweisen,
auf welches derselbe bezogen wird, weisen die ästhetischen von dem dem
Denkenden vorschwebenden Vorstellungsinhalte auf diesen als das Subject
zurück, von welchem derselbe sei es mit Beifall oder mit Missfallen
aufgenommen wird. Jenen, die auf ein Gewusstes d. h. einen dem Sein
entsprechenden Denkinhalt ausgehen, ist es daher keineswegs, diesen
dagegen, die blos auf ein Wohlgefälliges d. h. einen dem Denkenden
genehmen Vorstellungsinhalt aus sind, aber völlig gleichgiltig, ob
ein diesem Denk- oder Vorstellungsinhalt entsprechender Gegenstand
jenseits oder nebst demselben thatsächlich vorhanden sei.

70. Der Unterschied beider Auffassungsweisen lässt sich durch das
Verhältniss des Denkers und des Dichters zu ihren beiderseitigen
Stoffen erläutern. Der Denker, er sei nun Philosoph oder Empiriker, hat
ein Interesse daran, dass der Inhalt seiner, sei es philosophischen,
sei es für Erfahrung gehaltenen Gedanken mit dem Inhalt, sei es der
philosophischen, sei es der Erfahrungs- (naturgeschichtlichen oder
historischen) Wahrheit sich decke, z. B. dass der Held seiner Gedanken
dem Helden der Geschichte congruent sei. Der Dichter, er sei nun ein
solcher in Farben, Tönen oder Worten, hat nur ein Interesse daran,
dass der Inhalt seiner Vorstellungs- (Farben-, Ton- oder poetischen)
Welt wohlgefällig d. h. seiner eigenen, sowie den Anforderungen seiner
Zuschauer-, Zuhörer- oder Lesewelt an ein ästhetisches Kunstwerk
angemessen sei. Der Held seiner Tragödie braucht darum keineswegs
mit dem (wenn auch gleichnamigen) Helden der Geschichte sich zu
decken. Jener nimmt als Historiker an Richard III., Egmont, Wallenstein
ein historisches, dieser als Dramatiker an denselben Persönlichkeiten
nur ein dramatisches (ästhetisches) Interesse. Ersterem kommt es darauf
an, seinen Helden zu schildern, wie er wirklich war, aus keinem anderen
Grunde, als weil er so war; dieser begnügt sich denselben darzustellen,
wie er seiner Charakteranlage nach nicht nur hätte sein können, sondern
bei ungehemmter Entfaltung derselben unter den gegebenen Verhältnissen
hätte sein müssen, aus keinem anderen Grunde, als weil die wirkliche
Entfaltung eines Charakters nur die naturgesetzlich-nothwendige Folge
seiner ursprünglichen psychischen Naturell- und Temperamentsanlage
sein kann.

71. Verglichen mit dem wissenschaftlichen (theoretischen) Interesse
an der Wahrheit und Wirklichkeit des Gedachten ist das ästhetische
an der blossen Wohlgefälligkeit und Möglichkeit des Vorgestellten
streng genommen kein Interesse. Der Poet oder überhaupt der Künstler
scheint dem Forscher und Gelehrten interesselos, gleichgiltig,
wie seinerseits wieder dieser gegen die künstlerische Abrundung und
innere Geschlossenheit eines dem Reiche des blossen Scheins angehörigen
Phantasiebildes kalt und theilnahmslos bleibt. Der ästhetisch Gestimmte
nennt den um Wahrheit und Wirklichkeit seiner Gedanken besorgten Denker
und Gelehrten einen Realisten und Prosamenschen; dieser den nur auf
Schönheit und innere Vollendung bedachten Künstler einen Idealisten und
phantastischen Schwärmer. Die Gedankenwelten beider sind durch eine
tiefe Kluft getrennt, über welche gleichwohl die Unverbrüchlichkeit
der logischen Ideen, ohne welche auch die wohlgefällige Gedankenwelt
nicht möglich, durch welche allein aber weder die wirkliche noch irgend
eine mögliche Welt wohlgefällig wird, eine ausgleichende Brücke spannt.

72. Aus dem Vorstehenden geht hervor, dass das Schöne (die ästhetische
Vorstellungswelt) Schein, keineswegs aber folgt daraus, dass jeder
Schein schön sei. So wenig zur Wahrheit eines beliebigen Denkinhalts
genügt, dass derselbe Inhalt eines Denkens, so wenig reicht es zur
Schönheit eines beliebigen Vorstellungsinhalts hin, dass derselbe
Inhalt eines Vorstellens sei. Wie vom logischen Gesichtspunkt aus
weder kein noch jeder Denkinhalt wahr, so ist vom ästhetischen
Gesichtspunkt aus weder kein noch jeder Schein schön; ästhetischer
Dogmatismus und Skepticismus sind wie logischer Dogmatismus und
Skepticismus gleichmässig abzuweisen. Und wie für die Logik daraus
die Aufgabe erwächst, die Merkmale anzugeben, durch welche wahrer
von falschem Denkinhalt, so erwächst für die Aesthetik die ihrige,
die Kennzeichen festzustellen, durch welche schöner von unschönem
(hässlichem) Schein sich unterscheidet.

73. Wie von derjenigen Logik, welche die Wahrheit in der
Uebereinstimmung des Denkens mit dem Sein, also in einem materialen
Kriterium findet, das Kennzeichen des wahren im Unterschied zum
falschen Denkinhalt darin gefunden wird, dass durch denselben ein
anderer, der Seinsinhalt, gedacht und zwar so gedacht wird, wie er
wahrhaft ist: so wird von derjenigen Aesthetik, welche die Schönheit
in der Uebereinstimmung der Idee mit der sinnlichen Erscheinung, also
in einem materialen Kriterium findet, das Kennzeichen des schönen vor
hässlichem Schein darin gefunden, dass durch jenen ein Anderes, nämlich
die Idee hindurchscheint und zwar so hindurchscheint, wie sie wahrhaft
ist. Dieselbe, die eben darum Gehaltsästhetik heisst, geht davon aus,
dass das Schöne nicht sowohl Schein, als vielmehr Erscheinung eines
hinter demselben befindlichen idealen Gehalts und daher nicht an sich
und um seiner selbst willen, sondern mittelbar und um eines andern,
des in demselben zur sinnlichen Erscheinung kommenden Gehalts willen
schön sei. Dasselbe verhält sich dieser Auffassung zufolge zu dem in
demselben erscheinenden um seiner selbst willen werthvollen Gehalt
wie der Mond, der sein Licht von der Sonne empfängt, während diese
im ureignen Lichte strahlt.

74. Das Schöne als sinnlicher Schein ist von diesem Gesichtspunkte
aus betrachtet nichts weiter als die sinnliche Hülle eines an sich
unsinnlichen oder, wenn man will, übersinnlichen, sei es persönlich
(wie in der theistischen Aesthetik: Carrière), sei es unpersönlich
(wie in der pantheistischen Aesthetik: Vischer) gedachten Wesens,
also im ersten Falle die sinnliche Erscheinung Gottes, im zweiten die
sinnliche Erscheinung der logischen oder ethischen Idee. Ersterer
Auffassung zufolge wäre sonach Schönheit überall dort, wo Gott,
aber auch nur dort, wo dieser erscheint, letzterer Auffassung zufolge
überall dort, wo die (sei es theoretische oder praktische) Vernunft,
aber auch nur dort, wo diese erscheint. Wie das Schöne mit dem sinnlich
erscheinenden Göttlichen, so fiele dessen Gegentheil, das Hässliche,
mit dem gleichfalls sinnlich erscheinenden Un- oder Widergöttlichen
(dem Dämonischen oder Satanischen: Weisse) -- zusammen; wie das Schöne
mit der sinnlich erscheinenden Vernunft (dem Wahren und Guten), so
fiele dessen Gegentheil mit der gleichfalls sinnlich erscheinenden
Un- oder Widervernunft (dem A- oder Antilogischen, Unwahren, dem Un-
oder Widersittlichen, dem Bösen) zusammen. Im ersten Falle erhielte
das Schöne wesentlich religiösen, im letzteren dagegen einen im Wesen
lehrhaften (didaktischen und moralischen) Charakter.

75. Folge des ersteren ist, dass die (religiöse) Gehalts-Aesthetik
die Kunst der Religion unter-, Folge des letzteren ist, dass die
(nichtreligiöse aber philosophische) Gehalts-Aesthetik die Philosophie
der Kunst überordnet. Jene macht dieselbe zur Dienerin der Theologie,
diese weist ihr den Beruf zu, die "Wahrheit im Bilde" (das Allgemeine
im Besonderen: Allegorie, oder im Individuellen: Symbol) darzustellen.

76. Demzufolge hätte die Kunst keinen andern Zweck, als sich
selbst überflüssig zu machen d. h. sich entweder in Religion oder
in Philosophie, der schöne Schein keine andere Bestimmung, als sich,
sobald irgend möglich, in übersinnliches Sein, sei es in das göttliche,
sei es in das der Idee, aufzulösen. Die Sinnlichkeit, die nach Leibnitz
nur eine "dunkle Vernunft" d. i. eine verworrene Erkenntniss (notio
confusa) des Wahren ist, bildet nur die untergeordnete Vorstufe zur
reinen Vernunft, welche als solche "klare" d. i. deutliche Erkenntniss
(notio clara atque distincta) der Wahrheit ist. Die Vollkommenheit
der ersteren, durch welche schon das niedere Erkenntnissvermögen
in den Stand gesetzt wird, das Wahre und Gute, wenngleich nur
sinnlich zu erkennen, bietet der schwachen, mit der irdischen
Mangelhaftigkeit sinnlicher Leiblichkeit behafteten Menschennatur
einen dürftigen Ersatz für die mangelnde Vollkommenheit reiner
Vernunfterkenntniss, deren übermenschliche Wesen in höherem Grade,
und die Gottheit, die aller Sinnlichkeit ledig ist, im höchsten Grade
sich erfreuen. Dieselbe macht, wie die Sinnlichkeit den Unterschied
des Menschen vom reinen Geistwesen, so gewissermassen einen Vorzug
desselben vor diesem aus, indem der Mensch, der allein Sinnlichkeit
besitzt, allein auch der Vollkommenheit derselben d. i. der Schönheit,
fähig ist. Derselbe theilt, um mit Schiller zu reden, "sein Wissen"
(die reine Vernunfterkenntniss) zwar "mit höheren Geistern", die
Kunst aber hat derselbe "allein".

77. Wie das Schöne nach dieser Auffassung nur eine dem Wissen
parallele Auffassung des Wahren und Guten, die Kunst nur eine der
Wissenschaft parallele Darstellung von beiden, so ist die Aesthetik als
Wissenschaft von der Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntniss nach
dieser zuerst von Baumgarten aufgebrachten, von den platonisirenden
Aesthetikern des nachkantischen Idealismus (Schelling, Hegel und
ihren Schulen) adoptirten Auffassung eine Paralleldisciplin der
Logik als Wissenschaft von der Vollkommenheit der reinen Vernunft-
und Verstandeserkenntniss. Indem sich dieselbe zur Aufgabe setzt,
das niedere Erkenntnissvermögen, den Sinn, als Erkenntnissorgan
zur Vollkommenheit zu bringen, steckt sich dieselbe ein Ziel,
welches nachher die von Mill und Anderen sogenannte inductive
Logik mit ungleich grösserem Recht und Erfolg sich vorgesetzt
hat. Indem dieselbe das Schöne als sinnliche d. i. zugleich ver-
und entschleiernde Hülle desselben Wahren und Guten betrachtet, von
welchem die Wissenschaft durch Vernunft (Philosophie) die nackte und
schleierlose Erkenntniss ist, setzt sie dasselbe zu einem Nothbehelf,
zu einer Staarbrille herab, da das operirte Auge des Sehendgewordenen
den selbst leuchtenden Glanz der Idee nicht aushält.

78. Weder Beliebigkeit des Gehalts, noch dessen an sich vorhandene
Trefflichkeit, also überhaupt nicht Beschaffenheit des Gehalts macht
den Schein zum Schönen. Ersteres nicht, weil sonst jeder Schein schön,
das Zweite nicht, weil der Schein, um schön zu sein, aufhören müsste zu
scheinen, das Dritte nicht, weil der Schein, wenn er Gehalt besässe,
nicht Schein sondern Erscheinung wäre. Sehen wir aber beim Schein
(Bild) von der Forderung eines hinter demselben verborgenen Gehaltes
(Sinn) ab, so dass nur jener (das vorschwebende Bild) und der, dem
er scheint (das Subject, dem das Bild vorschwebt), übrig bleibt, so
kann, da nicht jeder Schein schön ist, der Grund, um deswillen einiger
Schein schön ist, anderer nicht, nur entweder in der Beschaffenheit
des Scheins als Schein, oder in der Desjenigen, dem er scheint (des
ästhetischen Subjects) gefunden werden.

79. Ersterer Fall schliesst in sich, dass der schöne Schein als
Schein gewisse Eigenschaften besitze, die dem nichtschönen abgehen;
letzterer Fall erheischt, dass das ästhetische Subject, dem nur schöner
Schein scheint, von demjenigen, dem auch unschöner vorschwebt, der
Art nach verschieden, beziehungsweise das erstere vor dem letzteren
bevorzugt, sozusagen ein ästhetisches "Sonntagskind" sei. Aus dem
ersteren folgt, dass der Aesthetik die Aufgabe erwachse, die dem
Schein als Schein nothwendigen Eigenschaften, um schön zu sein,
aufzuspüren; aus dem letzteren folgt, dass es ein Mittel geben
müsse, das wirkliche von dem vermeintlichen, entweder sich selbst
betrogener- oder betrügerischerweise dafür ausgebenden oder von Anderen
fälschlicherweise dafür gehaltenen "Sonntagskind" d. h. das echte,
geborene Genie (den künstlerischen Edelstein) von dem unechten,
nachgemachten oder sich selbst dazu machenden Aftergenie (dem
pierre-de-Strass der Kunst) zu unterscheiden.

80. Letzteres kann in nichts anderem bestehen, als in dem Nachweis,
dass das einem gewissen Subject schön Scheinende wirklich schön
d. h. dass das für ein ästhetisches Genie sich ausgebende oder dafür
gehaltene Subject wirklich ein solches sei. Dieser Nachweis kann
aber nicht dadurch geführt werden, dass der Ursprung des fraglichen
Scheins aus diesem fraglichen Subject erwiesen wird, denn eben, ob
dieses Subject als solches Genie sei, ist die Frage. Die Schönheit des
dem genannten Subject vorschwebenden Scheins muss daher unabhängig
von dessen Ursprung aus jenem Subject d. h. dieselbe kann nicht
(historisch) durch den Hinweis auf den Ursprung, sondern sie muss
(philosophisch) durch den Hinweis auf die Beschaffenheit des Scheins
dargethan werden.

81. Nicht die Person des Gesetzgebers rechtfertigt das Gesetz; die
Güte des Gesetzes bewährt vielmehr den Gesetzgeber. Ist diejenige
Beschaffenheit, welche den Schein zum Schönen macht, an sich erkannt,
so ist damit auch der Massstab zur Beurtheilung des Anspruchs
des Subjects, dem er scheint, gegeben, für ein aesthetisches zu
gelten: nicht umgekehrt. Wie diejenige Aesthetik, die den durch
die sinnliche Hülle hindurchscheinenden Gehalt zum Massstab der
Schönheit nimmt, didaktischen, so nimmt diejenige Form derselben,
welche die Offenbarungen des wahren oder blos vermeintlichen Genius
zur Norm für die Nachahmung erhebt, positiven (historischen) Charakter
an. Jene bewundert das Schöne, weil es wahr oder gut, diese, weil
es Product dieses oder jenes (mit Recht oder Unrecht) bewunderten
Geistes ist. Der wahre Grund der Bewunderung des Schönen kann aber
weder in dem Umstand, dass es Erscheinung eines Gehalts, noch in dem,
dass es Schöpfung eines gewissen (Einzel-, Volks-, Zeit-) Geistes ist,
sondern muss in dem Besitz derjenigen Eigenschaften gesucht werden,
die es zum Schönen machen.

82. Weder die theologisirende, noch die metaphysicirende, am wenigsten
die moralisirende Aesthetik, welche einen der Kunst fremden, und
ebensowenig der ästhetische Positivismus oder Historismus, welcher
eine einzelne positive oder geschichtlich gegebene Erscheinung
der Kunst (z. B. die Antike oder die mittelalterliche Kunst) zum
allgemein giltigen Massstab des Schönen erheben will, stellt die
wahre Form dieser Wissenschaft dar. Diese kann nur von der Betrachtung
derjenigen Eigenschaften, welche das Schöne als Schein -- abgesehen
ebenso von dessen möglicher oder wirklicher Bedeutung für einen
ausserhalb desselben gelegenen Gehalt, wie von dessen Ursprung aus
einem schöpferischen Subject -- an sich (objectiv) besitzt, ihren
streng wissenschaftlichen Ausgang nehmen.

83. Aesthetik als Wissenschaft ist daher weder materiale, den Schein
auf ein Sein beziehende, noch historische, den Schein seinem Ursprung
nach erklärende, sondern wesentlich formale, den Schein als Schein
behandelnde Wissenschaft. Da sich nun, wenn, wie gefordert, sowol
von der Bedeutung, wie von dem Ursprung des Scheins abgesehen wird,
an diesem nichts weiteres unterscheiden lässt, als wie derselbe und
was an demselben scheint, so kann die dem Schein als Schein zugewandte
Betrachtung wesentlich keine anderen als diese zwei Gesichtspunkte
umfassen.

84. Ersterer, welcher das Wie d. i. die Lebendigkeit, Kraft,
Energie, Reichthum, Fülle und Mannigfaltigkeit des Scheins oder deren
Gegentheile ins Auge fasst, kann der Gesichtspunkt der Quantität,
letzterer, welcher die Einheitlichkeit oder Gegensätzlichkeit, innere
Uebereinstimmung oder Widerstreit des Scheins zum Objecte hat, der
qualitative heissen. Jener umfasst das Verhältniss, in welchem das
Quantum des vorschwebenden Scheins zu der aufnahmsfähigen Capacität
des ästhetischen Subjects steht, letzterer begreift die Verhältnisse,
in welchen entweder der vorschwebende Schein seinem Was nach zu einem
ausserhalb desselben gelegenen Sein steht, oder, da nach dem Obigen von
einem solchen hier abgesehen werden muss, diejenigen, in welchen die
Theile des Scheins ihrem Was nach zu- und untereinander stehen. Nach
dem ersteren wird der starke vom schwachen, der reiche vom dürftigen,
der geordnete vom ordnungslosen Schein, nach diesem werden im Inhalt
des Scheins gleiche und ungleiche, verträgliche und unverträgliche,
harmonische und disharmonische Theile unterschieden.

85. In Bezug auf das Wie steht der starke d. i. mit einem hohen Grad
von Lebhaftigkeit dem ästhetischen Subject vorschwebende Schein
dem schwachen d. i. nur mit einem geringen Grad von Lebhaftigkeit
im Bewusstsein vorhandenen; der reiche, einen grössern Raum im
Bewusstsein mit mannigfaltigem Inhalt ausfüllende Schein dem dürftigen,
mit einförmigem Inhalt erfüllten; der in sich zusammenhängende und
geordnete dem zusammenhangslosem und in sich ordnungslosem Schein
gegenüber: so dass je der erstere, wenn von dem Was des Vorschwebenden
abgesehen und nur das Wie des Vorschwebens im Auge behalten wird,
vor dem letzteren -- was den die Vorstellung des Scheins im Gemüth
begleitenden Zusatz des Wohlgefallens oder Missfallens betrifft -- den
Vorzug hat. Wird lebhafterer Vorstellungsinhalt mit minder lebhaftem
nur in Bezug auf den Grad der Lebhaftigkeit beider verglichen, so
gefällt der erstere neben dem letzteren, missfällt der letztere
neben dem ersteren unbedingt, welches auch immer der Inhalt des
Vorschwebenden selbst oder die sonstige, individuelle Gemüths- und
Geistesbeschaffenheit des Subjectes sei, dem er vorschwebt. Aus diesem
Grunde gefällt die sinnliche Vorstellung mehr als die unsinnliche, das
Bild mehr als der Begriff, die anschauliche Vorstellung mehr als die
abgezogene, die concrete mehr als die abstracte; aber auch dasjenige,
was "in kürzester Zeit die grösste Menge von Vorstellungen anregt"
(worin Hemsterhuis und Goethe das Wesen des Schönen fanden) mehr als
dasjenige, das in verhältnissmässig langem Zeitraum verhältnissmässig
wenig Vorstellungen erzeugt, dasjenige, welches das Vorstellen in
gesetzlicher und geregelter Weise beschäftigt, mehr als dasjenige,
durch welche dasselbe in sprunghafte und verworrene Thätigkeit geräth.

86. Der Grund des Gefallens in dem einen, des Missfallens in dem
anderen Falle liegt in der naturgesetzlichen Beschaffenheit des
Bewusstseins. Wird das Vorstellen in eine seiner Natur angemessene
Bethätigung versetzt, so entsteht ein Lust-, findet das Gegentheil
statt, ein Unlustgefühl. Da nun die lebhafte d. i. mit einem höheren
Grade von Intensität vorgestellte Vorstellung das Vorstellen in einem
höheren Grade beschäftigt als dies bei der minder lebhaften d. i. mit
einem geringeren Grade von Intensität vorgestellten Vorstellung der
Fall ist, so dass die Differenz der Intensitätsgrade beider auf der
Bewusstseinsscala sich wie die Differenz der Wärme-Intensitäten auf
der Thermometerscala ablesen lässt, so folgt, dass das Vorstellen
der lebhafteren von einem höheren, jenes der minderen Intensität von
einem geringeren Lustgefühl begleitet sein muss, welches letztere,
nur mit dem ersteren verglichen, als relatives Unlustgefühl sich
herausstellt. Dasselbe muss bei dem reicheren und mannigfaltigeren
verglichen mit dem dürftigeren und einförmigeren Vorgestellten der
Fall sein, indem das erstere das Vorstellen nicht nur quantitativ,
sondern auch qualitativ mehr beschäftigt als das letztere; und eben
dies bei dem in sich zusammenhängenden und gesetzmässigen Vorgestellten
im Gegensatze zu dem in sich zerrissenen und lückenhaft Vorgestellten,
indem das erstere das Vorstellen in einem naturgemässen und sich aus
sich selbst entwickelnden Gange erhält, das letztere dasselbe durch
seine Zusammenhanglosigkeit nöthigt, seinen Gang zu unterbrechen,
sowie durch seine Sprunghaftigkeit, seine bisherige Richtung plötzlich
und gewaltsam abzubrechen und eine neue durch nichts vorbereitete
und vermittelte Richtung einzuschlagen. Von der Unlust, die das
Bewusstsein durch den Mangel oder die Monotonie des Vorstellungsinhalts
erleidet, gibt das Gefühl der Langenweile -- von der Unlust, welche die
gezwungene Unterbrechung oder das gewaltsame Abbrechen der bisherigen
Vorstellungsreihe mit sich führt, gibt der Widerwille Zeugniss, den
das Anhören eines zusammengewürfelten Vortrags oder das Auffassen
einer regellosen Körpergestalt dem Vorstellenden einflösst.

87. Aus der Natur des Bewusstseins folgt es auch, dass weder der
Intensitätsgrad, noch die Fülle des dem Vorstellen Dargebotenen eine
gewisse äusserste Grenze der Leistungsfähigkeit desselben überschreiten
darf. Das "nicht zu gross" und "nicht zu klein", worin Aristoteles
in seinem bekannten Beispiel von dem hundert Stadien langen Thiere
das Wesen des Schönen findet, hat seine Geltung nicht sowol in Bezug
auf die Grenzen des vorzustellenden Objects, als vielmehr auf jene
des vorstellenden Bewusstseins. Was diese überschreitet, kann nicht
mehr vorgestellt werden, so dass an die Stelle der wachsenden Lust,
welche die steigende Bethätigung des Vorstellens nach sich zieht,
die wachsende Qual des Bewusstseins tritt, welche das mit jedem
neuen Ansatz sich steigernde Gefühl des Unvermögens vorzustellen,
hervorruft. Auf der letzteren beruht das niederdrückende Gefühl,
welches den Eindruck des Erhabenen d. i. eines solchen begleitet,
dessen Vorstellung eine Entwicklung von vorstellender Kraft erheischt,
welche weit über die Schranken jedes endlichen, also auch unseres
eigenen Vorstellens, hinausreicht.

88. Wie das Vorstellen des Erhabenen, weil es den Vorstellenden
an die Grenze seines Vermögens vorzustellen mahnt, von einem
Unlust-, so ist die Vorstellung des Grossen, weil sie denselben
seiner weitreichenden Fähigkeit vorzustellen innewerden lässt,
von einem Lustgefühl begleitet. Denn da eine Grösse als Summe von
Einheiten nicht anders vorgestellt werden kann, als indem diese Summe
d. h. indem diese Einheiten nach einander vorgestellt werden, so ist
bei jeder Vorstellung einer solchen die Bethätigung des Vorstellens,
folglich die aus derselben folgende Lust um so grösser, je grösser jene
Summe d. h. je zahlreicher die nach einander vorgestellten Einheiten
sind. Aus diesem Grunde gefällt das Grössere neben dem Kleineren, weil
es dem Vorstellen mehr, missfällt das Kleinere neben dem Grösseren,
weil es dem Vorstellen weniger Beschäftigung, jenes dem Vorstellenden
mehr, dieses ihm minder Lust gewährt. Weil aber die Fähigkeit des
Vorstellens in quantitativer Beziehung ihre Grenze, so hat auch das
Grosse nach der einen, das Kleine nach der entgegengesetzten Richtung
eine solche, jenseits welcher es vorstellbar zu sein, und folglich
das eine zu gefallen, das andere zu missfallen aufhört. Das in schönen
Verhältnissen gebaute Thier des Aristoteles hört, obgleich alle seine
Proportionen dieselben bleiben, sobald es zu einer Länge von hundert
Stadien ausgedehnt und zur Höhe eines Gebirges erwachsen vorgestellt
werden soll, auf, übersehbar und folglich auch, schön zu sein.

89. Vom quantitativen Gesichtspunkt aus gilt daher für eine ästhetische
d. i. eine unbedingt wohlgefällige Welt der Satz, dass (innerhalb
der dem Bewusstsein gesteckten Grenzen des Vorstellens) das Grosse
ohne Unterschied des Stoffs, in welchem, wie des Objects, an welchem
dasselbe sich findet, unbedingt d. h. Jedermann und jederzeit gefalle,
das Kleine (unter der gleichen Einschränkung) ebenso missfalle. Beides,
das Lustgefühl, welches die Betrachtung des Grossen, wie das
Unlustgefühl, welches die des Kleinen erweckt, sind reine Gefühle;
das Gefühl, welches den Eindruck des Erhabenen begleitet, ist ein
gemischtes Gefühl, indem es einerseits in Folge der oben geschilderten
Unvorstellbarkeit des erhabenen Objects ein Unlust-, andererseits eben
der jener Unvorstellbarkeit wegen vermutheten unendlichen d. i. jedes
Mass überschreitenden Grösse des erhabenen Gegenstandes halber ein
Lustgefühl enthält. Aus diesem Grunde bewundern wir das Erhabene,
aus jenem Grunde verzweifeln wir an uns selbst; das Erhabene gefällt,
indem wir selbst uns missfallen; jenes erscheint über jedes uns
erreichbare Mass hinaus gross, während wir selbst ihm gegenüber uns
über jedes denkbare Mass hinaus klein erscheinen.

90. Was den qualitativen Gesichtspunkt betrifft, so gilt der Satz,
dass das Was des Scheins, da dasselbe ein ästhetisches sein soll,
von einem beifälligen oder missfälligen Zusatz im Vorstellenden,
da dasselbe ein schönes sein soll, von dem gleichen Zusatz in jedem
Vorstellenden begleitet sein muss. Ohne das erste wäre das Vorgestellte
dem Vorstellenden gleichgiltig; ohne das letztere wäre der Zusatz
von einem Vorstellenden zum andern, ja in demselben Vorstellenden von
Zeitpunkt zu Zeitpunkt veränderlich. Gleichgiltiger Vorstellungsinhalt
aber ist nicht ästhetisch; veränderliches d. i. vom Vorstellenden zum
Vorstellenden oder im Vorstellenden selbst wechselndes Wohlgefallen
oder Missfallen aber ist nicht unbedingtes d. h. allgemeines und
nothwendiges Wohlgefallen oder Missfallen. Bei völlig gleichgiltigem
Vorstellen wäre überhaupt keine Aesthetik, bei dem Mangel eines
allgemeinen und nothwendigen Gefallens oder Missfallens d. h. bei der
Abwesenheit einer allgemeinen und nothwendigen Norm für Gefallen und
Missfallen aber doch keine Aesthetik als Wissenschaft möglich.

91. Das Was des ästhetisch Vorgestellten darf daher, da dessen
begleitender Zusatz im Vorstellenden überall (d. h. in jedem
Vorstellenden) und jederzeit (d. h. bei jeder Wiederholung seines
Vorgestelltwerdens) derselbe sein soll, nicht als Ziel und Inhalt
eines Begehrens (Begierde, Wunsch, Wollen) vorgestellt werden. Denn da
alles, was überhaupt begehrt wird, sobald dieses Begehren Befriedigung
erlangt, ein Lustgefühl nach sich zieht, so würde, wenn der Zusatz des
Gefallens eines gewissen Vorstellungsinhalts blos von dem Umstände
abhinge, dass dessen Vorgestelltes begehrt wird, überhaupt jeder
beliebige Vorstellungsinhalt ohne Unterschied gefallen, weil und
so lange, sowie demjenigen, von dem er begehrt wird. Und da sich
in keiner Weise vorhersagen lässt, was unter gewissen Umständen
Object eines gewissen Begehrens werden könne, da überhaupt jede
gegen Hemmnisse im Bewusstsein aufstrebende Vorstellung Sitz eines
(bisweilen sehr heftigen) Begehrens werden kann, so wäre es ebenso
unmöglich, vorherzusagen, ob und welcher Vorstellungsinhalt, sowie
wem er unter Umständen gefallen werde, woraus der Spruch, dass sich
über den Geschmack nicht streiten lasse, entstanden ist.

92. Nicht alles Gefallende wird begehrt, aber alles, wodurch ein
Begehren befriedigt wird, gefällt. Das höchste und reinste Gefallen
ist dasjenige, welches durch keinerlei Beisatz eines (sinnlichen oder
idealen) Begehrens getrübt, verunreinigt oder auch nur von einem
solchen begleitet wird; "die Sterne, die begehrt man nicht". Das
Gefallen, das nur unter Voraussetzung eines Begehrtwerdens entspringt,
bleibt dagegen aus, wenn das letztere mangelt. Ein allgemeiner
und nothwendiger Zusatz von Gefallen oder Missfallen kann aus dem
zufälligen und individuellen (bestenfalls particulären) Umstand
des Begehrt- oder Verabscheutwerdens nicht abgeleitet werden. Das
nur bedingt d. h. unter Voraussetzung einer Begierde Wohlgefällige
d. h. das nur subjectiv Angenehme, oder, da alles, was als Gegenstand
einer Begierde oder als Mittel zu deren Befriedigung gilt, dem
Begehrenden nützlich, dessen Gegentheil schädlich scheint, das
Nützliche ist kein Gegenstand der Aesthetik.

93. Aber auch das nicht subjectiv sondern objectiv d. h. ohne
Voraussetzung eines Begehrtwerdens Angenehme ist als solches noch nicht
ein Gegenstand der Aesthetik. Denn zu dieser, damit sie Wissenschaft
sei, ist erforderlich, dass sich das Aesthetische d. h. das von
einem beifälligen oder missfälligen Zusatz unbedingt (bei Allen und
in allen Fällen) Begleitete nicht blos fühlen (d. h. dunkel), sondern
wissen (d. h. klar und deutlich vorstellen und in Worten aussprechen)
lasse. Das Angenehme aber hat die Eigenschaft, dass dessen Inhalt
mit dem begleitenden Zusatz (dem Lustgefühl) ununterscheidbar
zusammenrinnt, wie das Gleiche auch bei dessen Gegentheil, dem
Unangenehmen mit der dieses begleitenden Unlust (dem Schmerzgefühl)
der Fall ist. Das Angenehme der einzelnen Ton- oder Lichtempfindung
lässt sich nicht definiren, der Sitz und der Grund des Schmerzgefühls
(Kopf-, Zahnschmerz) sich aus diesem nicht herauslesen. Der Inhalt
des objectiv d. h. aus dem Vorgestellten selbst, nicht aus der
subjectiven Gemüthslage des Vorstellenden entspringenden Lust- oder
Schmerzgefühls ist zwar unbedingt, aber nicht wissbar, also kein
Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntniss.

94. Während sonach das einzelne Angenehme oder Unangenehme zwar
Gegenstand eines Lust- oder Unlustgefühls, von diesem selbst gesondert
aber nicht vorstellbar ist, sind die zwei oder mehreren Vorstellungen,
aus deren gegenseitiger Beziehung oder Verhalten (ratio) ein auf dieses
bezügliches und die Beschaffenheit desselben zum Ausdruck bringendes
Lust- oder Unlustgefühl entspringt, sehr wol jede für sich und von
jenem Gefühl abgesondert angebbar. In jenem Fall ist das Gefühl ein
solches, das aus der Beziehung eines gewissen Vorstellungsinhalts
(z. B. einer Ton- oder Farbenempfindung) zum vorstellenden Subject,
in diesem Fall ein solches, das aus der Beziehung zweier oder
mehrerer Vorstellungen (z. B. Ton- oder Farbenempfindungen) zu und auf
einander im Vorstellenden entspringt. Dass jener einzelne Ton oder die
einzelne Farbe gefalle oder missfalle, hängt daher wesentlich von der
augenblicklichen oder habituellen Beschaffenheit des vorstellenden
Subjects, dass das Verhältniss der zwei oder mehreren Töne oder
Farben gefalle oder missfalle, dagegen ausschliesslich von der an sich
unveränderlichen und immer sich gleich bleibenden Inhaltsbeschaffenheit
dieser letzteren selbst ab. Da die Beschaffenheit des Subjects nun
von Individuum zu Individuum eine andere ist, so kann folgerichtig
das mit von derselben abhängige Gefühl von Einem zum Andern ein
anderes d. h. derselbe Ton, dieselbe Farbe kann dem Einen angenehm,
dem Anderen unangenehm sein. Den Beleg dafür bieten die sogenannten
Idiosynkrasien (z. B. Mozart's Abneigung gegen den Trompetenton,
Cäsar's und Wallenstein's Widerwillen gegen den Hahnschrei,
die Vorliebe gewisser Individuen oder ganzer Völker für gewisse
Klangfarben, Tonlagen, Farbentöne und Beleuchtungseffecte). Wirkungen
dieser und ähnlicher Art, die oft zu den stärksten gehören (Klang- und
Lichteffecte) sind daher wesentlich pathologischer, durch die physische
und psychische Beschaffenheit des vorstellenden Subjects bedingter,
keineswegs ästhetischer, von der Beschaffenheit des Vorgestellten
(dem Inhalt der Vorstellungen als Object des Vorstellens) abhängiger
Natur. Die durch dieselben hervorgerufenen Gefühle können, insofern
die sie verursachenden Vorstellungen nicht in Beziehung stehend zu
anderen d. i. nicht als Glieder eines Verhältnisses gedacht werden,
wol aber an sich in ein Verhältniss zu anderen treten d. h. als Stoff
(Material) zu einem solchen dienen können, materiale oder Stoffgefühle;
diejenigen Gefühle, welche sich auf das Verhältniss zweier oder
mehrerer Vorstellungen d. i. auf die Verbindung derselben zu und
unter einander, also auf deren Form beziehen, müssen dann formelle
oder Formgefühle heissen.

95. Nur die letzteren bilden die Grundlage der Aesthetik als
Wissenschaft. Da die Verhältnisse zweier oder mehrerer Vorstellungen zu
einander, insofern sie nur von deren Inhalt abhängen, so lange dieser
Inhalt derselbe bleibt, immer dieselben sein müssen; da ferner die oben
bezeichneten Formgefühle nichts anderes als die sich mit ihren Ursachen
deckenden Effecte jener Verhältnisse im Bewusstsein sind, so folgt,
dass dieselben Verhältnisse auch allezeit und in Jedermann dieselben
Gefühle zur Folge haben werden d. h. dass die zwischen gewissen
Vorstellungen ein für allemal ihrem Inhalt nach bestehenden Beziehungen
allezeit und bei Jedermann von demselben Zusatz des Wohlgefallens oder
Missfallens begleitet d. h. objective d. i. unbedingt wohlgefällige
oder missfällige Formen sein werden. Von dieser Art ist z. B. das
nur von dem Inhalt der beiden Töne, des Grundtons und der Quinte,
abhängige und als solches unbedingt wohlgefällige Quintenintervall;
ein solches die nur von der Beschaffenheit der beiden Farben, Roth und
Grün, abhängige harmonische Farbenterz; ein solches endlich der nur
von dem Verhältniss der beiden verglichenen Gedanken, des unbildlichen
und des bildlichen, abhängige Gedankenaccord der Metapher.

96. Verbindungen derartiger beharrender Verhältnisse zwischen
Vorstellungen mit den aus denselben entspringenden und daher ihrer
Entstehung nach an deren Vorhandensein im Bewusstsein gebundenen
(fixen) Formgefühlen werden, da sich die ersteren (die Verhältnisse)
abgesondert von den letzteren (den Formgefühlen) für sich vorstellen
lassen, also das Gefühlte mit dem Gefühl nicht in Eins zusammenfliesst,
nicht mehr blos ästhetische Gefühle, sondern ästhetische Urtheile
genannt. Das Subject derselben wird durch das zwischen den
Vorstellungen herrschende Verhältniss (z. B. die Harmonie), das
Prädicat derselben durch das darauf bezügliche Gefühl (z. B. die
Wohlgefälligkeit) gebildet. Das Urtheil lautet in diesem Fall: die
Harmonie zwischen a und b (d. i. den beiden im Verhältniss der Harmonie
stehenden Tönen) gefällt. Die logische Natur dieser Urtheile besteht
darin, dass der Umfang des Subjects und der Umfang des Prädicats unter
einander congruent d. h. dass, so oft das Verhältniss der Harmonie,
eben so oft auch das Wohlgefallen vorhanden ist. Dieselben sind daher,
da ihre Subjects- und ihre Prädicatsvorstellung verschiedenen Inhalt,
aber denselben Umfang haben, nach der logischen Idee der Aequipollenz
identische, also unfehlbare Urtheile, und ihre Geltung d. h. die
Behauptung, dass ein gewisses Verhältniss (z. B. die Harmonie) gefalle,
unbedingt d. i. eben so allgemein als nothwendig.

97. Das Was des ästhetischen Scheins, wenn derselbe schön
d. h. unbedingt wohlgefällig sein soll, kann daher niemals weder der
Inhalt einer blossen Begierde, noch eine vereinzelte Vorstellung,
sondern muss immer ein Verhältniss zwischen mehreren d. h. dasselbe
muss stets ein zusammengesetztes aus einer Mannigfaltigkeit von
Theilen, welche selbst wieder Vorstellungen sind, bestehendes
Ganze sein. Da nun zwischen Vorstellungen, welche nicht verwandten,
d. i. disparaten Inhalts sind, zwar ein Verhältniss, eben das der
Disparatheit, stattfindet, dieses aber, da die beiden Vorstellungen
keine innere Beziehung auf einander haben, im Bewusstsein keinerlei
auf sich bezügliches Gefühl erzeugt (weder Lust noch Schmerz erweckt),
also ästhetisch indifferent d. h. dem Vorstellenden gleichgiltig ist,
so kann das Was des schönen Scheins nur ein Verhältniss zwischen
verwandten d. h. entweder ganz oder theilweise identischen, oder
entgegengesetzten Vorstellungen d. h. es muss selbst entweder die
(ganze oder theilweise) Identität oder der Gegensatz der Vorstellungen
sein.

98. In qualitativer Hinsicht ergeben sich daher für das Was des schönen
Scheins folgende Möglichkeiten: entweder das Verhältniss zwischen den
Theilen des Scheins, die selbst wieder Vorstellungen sind, ist das
der völligen Identität, so dass beide dem Inhalte nach nicht, und da
an dieser Stelle von der Intensität des Vorgestelltwerdens abgesehen
wird, auch nicht durch dessen grössere oder geringere Lebhaftigkeit
sich von einander unterscheiden, folglich eins und dasselbe und daher
nach dem principium identitatis indiscernibilium eine und dieselbe
Vorstellung sind. In diesem Falle findet zwar im strengsten Sinn
Identität, aber kein Verhältniss zwischen den beiden statt, da zu
jedem solchen zwei Glieder gehören, jene beiden Vorstellungen aber
nur ein einziges ausmachen. Das Verhältniss der Identität kann daher,
wenn ästhetisch, nur eines der theilweisen Identität sein.

99. Letztere, da sie darin besteht, dass beide Theile einen Theil ihres
Inhalts mit einander gemein haben, während der Ueberrest, da beide
Theile inhaltsverwandt sind, gegenseitig nicht im Verhältniss der
blossen Disparatheit stehen kann, sondern in jenem des Gegensatzes
d. h. der gegenseitigen Ausschliessung bestehen muss, kann nun
entweder so beschaffen sein, dass das Gemeinsame das Gegensätzliche
oder dieses jenes überwiegt, oder dass beides sich gegenseitig
gleichschwebend erhält. Letzterer Fall bringt, da das Identische
sowie das Gegensätzliche in beiden das nämliche, also abermals kein
Verhältniss zwischen mehreren, sondern nur eins und das nämliche
(nicht zweimal, sondern ein einzigesmal) vorhanden ist, eben so wenig
wie die strenge Identität ein wirkliches Verhältniss, sondern nur
den Schein eines solchen hervor und muss daher ebenso wie jene aus
der Betrachtung gelassen werden.

100. Die überwiegende Identität kann nun entweder eine einseitige oder
eine gegenseitige sein. Im ersten Falle findet der Inhalt des einen
Gliedes sich ganz im Inhalt des zweiten, aber nicht umgekehrt dieser
in jenem wieder. Im zweiten Fall enthält der Inhalt jedes der beiden
Glieder etwas, das ihm mit dem Inhalt des andern gemeinsam, während
der Rest des einen dem Reste des andern entgegengesetzt ist. Beide
Glieder des Verhältnisses verhalten sich so, dass im ersten Fall
eines das andere, aber nicht umgekehrt, im zweiten Fall dagegen
jedes das andere abbildet. Und zwar verhält sich im ersten Fall
dasjenige Glied, welches im andern ganz, in welchem aber das andere
nur zum Theile enthalten ist, zu diesem anderen wie das Nachbild zum
Vorbild, die Copie zum Original, wie denn auch das getreueste Porträt
selbst dann, wenn es alle Züge der Individualität auf das genaueste
ausprägt, hinter dieser noch um das Merkmal der wirklichen Belebtheit
zurücksteht. Im zweiten Fall dagegen stellen beide Glieder dem Inhalt
nach Unterarten eines dritten, des beide verknüpfenden Gemeinsamen
(tertium comparationis) dar, zu welchem jedes derselben im Verhältnisse
des Vorbildes zum Nachbilde steht.

101. Ausdruck der überwiegenden, sei es einseitigen, sei es
gegenseitigen Identität im Bewusstsein ist ein Lust-, wie jener des
überwiegenden Gegensatzes ein Unlustgefühl. Ersteres entsteht, indem
die gleichzeitig im Bewusstsein vorhandenen Vorstellungen des in ihnen
enthaltenen Identischen halber mit einander zu verschmelzen, letzteres,
indem dieselben des in ihnen enthaltenen Gegensatzes halber sich von
einander gesondert zu halten streben. Jenes wie dieses Streben ist
der Ausdruck eines psychischen Naturgesetzes, kraft dessen ihrem
Inhalt nach ähnliche Vorstellungen einander zu verstärken, ihrem
Inhalt nach entgegengesetzte einander gegenseitig zu hemmen gezwungen
sind. Wenn daher in dem Inhalt zweier im Bewusstsein gleichzeitig
vorhandenen Vorstellungen das Identische das Gegensätzliche überwiegt,
so gewinnt auch das Streben nach Vereinigung beider durch Verschmelzung
naturgemäss die Oberhand über das Streben nach Trennung beider
durch Hemmung d. h. die Verschmelzung wird erleichtert; überwiegt
dagegen das Gegensätzliche das Identische, so gewinnt das Streben
nach Auseinanderhaltung Oberwasser, die Verschmelzung wird erschwert
oder gänzlich gehindert. Ausdruck der Erleichterung wird das Lust-,
jener der Erschwerung das Unlustgefühl.

102. Den empirischen Beweis für die vorstehende Erklärung liefert
die Thatsache der Wohlgefälligkeit harmonischer d. i. solcher Ton-
und Farbenverhältnisse, deren Glieder überwiegend identisch, sowie
der Missfälligkeit solcher, deren Glieder überwiegend entgegengesetzt
sind. Seitdem durch die physiologischen Theorien des Sehens wie des
Hörens (von Helmholtz, Young u. A.) erwiesen ist, dass die früher
(z. B. von Herbart) sogenannten einfachen Sinnesempfindungen als
Elemente des Bewusstseins keineswegs einfach, sondern selbst aus
einer Summe gleichzeitig vernommener elementarer Sinneseindrücke
zusammengesetzt sind, handelt es sich bei dem Verhältniss zwischen
solchen, wie es die Ton- und Farbenintervalle sind, nicht mehr um
eine Beziehung zwischen einfachen (theillosen), sondern zwischen
zusammengesetzten (aus Theilen bestehenden) Gliedern. Während es,
wenn die Glieder eines (harmonischen oder disharmonischen) Ton- oder
Farbenverhältnisses einfache sind, schlechthin unerklärlich bleibt,
warum dieselben gefallen oder missfallen, wird die Begründung
dieser empirischen Thatsache unter der Voraussetzung, dass jene
Glieder aus Theilen bestehen, dadurch ermöglicht, dass gewisse (mehr
oder minder zahlreiche) dieser Theile in beiden Gliedern dieselben
seien. Ueberwiegt die Anzahl der beiden gemeinsamen Bestandtheile jene
der in beiden einander entgegengesetzten, so muss ein wohlgefälliges,
findet das Gegentheil statt, ein missfallendes Verhältniss sich
ergeben.

103. Die Theorie der Obertöne in der Musik (Helmholtz), jene der
gleichzeitigen Erregung der complementären Farben in der Optik
(Young, Hering u. A.) gibt das Beispiel her. Da jeder Ton, der gehört,
d. i. mittels des Ohres empfunden wird, kein abstracter, sondern ein
concreter d. i. mittels eines gewissen Instruments, als welches auch
das menschliche Stimmorgan gelten muss, hervorgebrachter ist und als
solcher eine charakteristische, von der Beschaffenheit der Tonquelle
herrührende Färbung, die sogenannte Klangfarbe, besitzen muss, so
wird mit jedem empfundenen Ton nothwendig zugleich dessen Klangfarbe
d. i. die denselben begleitende Wirkung der specifischen Natur des
ihn erzeugenden Organs vernommen. Helmholtz nun hat gezeigt, dass die
Wirkung, die wir Klangfarbe nennen, nichts anderes sei, als die Summe
gewisser, jeden durch irgend eine Tonquelle erzeugten abstracten Ton
(Grundton) begleitenden secundären Töne (Obertöne), deren akustischer
Werth und numerische Menge je nach der Art der Tonquelle verschieden,
z. B. bei dem Geigenton eine andere als bei dem Clavierton, bei der
Alt- eine andere als bei der Sopranstimme u. s. w. ist. Werden daher
gleichzeitig verschiedene Töne, deren jeder seine Klangfarbe besitzt,
vernommen d. h. werden statt zweier abstracter Tonempfindungen zwei
Summen von Tonempfindungen vernommen, deren jede aus der Empfindung des
Grundtons und den Empfindungen seiner Obertöne zusammengesetzt ist, so
kann nur zweierlei stattfinden: entweder beide Summen der Empfindungen
haben nicht nur gemeinschaftliche, sondern so viele gemeinschaftliche
Bestandtheile, dass im Gesammteindruck der Eindruck der identischen
Tonempfindungen jenen der entgegengesetzten Tonempfindungen überwiegt,
oder dieselben haben gar keine oder so wenig Tonempfindungen gemein,
dass im Gesammteindruck der Eindruck der identischen gegen den der
nicht-identischen Tonempfindungen (d. i. solcher, deren Töne nicht
zusammenfallen, Schwebungen) verschwindet. Im ersten Fall consoniren,
im zweiten dissoniren die Töne.

104. Consonanz (Harmonie) und Dissonanz (Disharmonie) der
Tonempfindungen hängt demzufolge von deren überwiegender Identität
oder dem Gegensatz des Inhalts derselben ab. Da nun bei den
Farbenempfindungen das Analoge stattfindet, indem eben so wenig wie
der abstracte Ton, die abstracte Farbe empfunden wird, so lässt sich
vermuthen, dass auch zwischen der Begründung der Farben- und jener
der Tonharmonie Analogie sich einstellen werde. Jede empfundene Farbe
ist eine concrete, die unter dem Einfluss einer specifischen dieselbe
bedingenden Lichtquelle (z. B. des Sonnenlichts, des Mondlichts, des
Kerzen- oder Lampenlichts) entstanden ist und die Spur dieser letzteren
in einer charakteristischen Eigenthümlichkeit, dem sogenannten
Farbenton, errathen lässt. Jede Farbenempfindung aber ist zugleich,
physiologisch betrachtet, keine vereinzelte, sondern das gleichzeitige
Resultat der gleichzeitigen Erregungen des Sehorgans durch das dieses
letztere berührende Licht, so dass gleichzeitig alle in dem letzteren
enthaltenen Farben des Spectrums in jenem angeregt und in Folge dessen
empfunden werden. Ist z. B. das auffallende Licht Sonnenlicht, in
welchem als Grundfarben Roth, Gelb und Blau (oder nach Andern Grün,
Roth und Violet) enthalten sind, so werden im Auge jedesmal die jenen
dreierlei Lichtreizen entsprechenden Vorgänge zugleich erregt und
daher auch in Folge dessen alle drei Farben zugleich empfunden. Der
Unterschied, dass in dem einen Fall die Empfindung als Roth, in dem
andern als Blau bezeichnet wird, obgleich in dem ersteren neben dem
Roth nothwendig auch Blau und Gelb, also Grün -- in dem letzteren Falle
neben dem Blau auch Roth und Gelb, also Orange empfunden worden sein
musste, liegt nur darin, dass in dem einen Fall der rothe Lichtreiz
den blauen und gelben, in dem andern Fall der blaue Lichtreiz den
rothen und gelben, und folglich sowol der Erregungszustand des Auges,
in welchen dasselbe durch rothes und blaues Licht versetzt ward,
die anderen gleichzeitigen Erregungszustände, wie die Empfindung Roth
und Blau, welche durch jenen Erregungszustand hervorgerufen ward, die
anderen mit ihr gleichzeitigen Empfindungen an Intensität übertraf,
letztere also durch jene in latenten Zustand versetzt, d. i. für das
Bewusstsein verdunkelt wurden. Dass dieselben ihrer Latenz ungeachtet
thatsächlich vorhanden waren, beweisen die von Goethe und Purkyne
sogenannten subjectiven Farbenerscheinungen d. i. das Hervortreten
des complementären Farbenbildes, nachdem durch längeres Anhalten des
ursprünglichen das Auge für den bezüglichen Farbenreiz abgestumpft
worden ist. Die stärkste unter den gleichzeitigen Farbenempfindungen,
nach welcher a potiori die Benennung derselben erfolgt, z. B. in
obigen Fällen die Empfindung Roth und die Empfindung Blau, können nach
Analogie der Grundtöne als Grundfarben, die der gleichzeitigen, aber
durch sie in den Hintergrund gedrängten Lichtreize können nach Analogie
der Obertöne als Oberfarben (Nebenfarben) bezeichnet werden. Letztere
machen zusammen, wie obige Beispiele zeigen, stets die Empfindung
der complementären Farbe aus (Grün, wenn als Grundfarbe Roth, Orange,
wenn als Grundfarbe Blau empfunden wird) und die Nuance, welche die
Empfindung des Rothen dadurch empfängt, dass mit ihr zugleich mehr
oder weniger latent nothwendig Grün empfunden werden muss, kann, wenn
die Beimischung einen erheblichen Grad erreicht, als Farbenstich, und
zwar des Rothen entweder in's Grüne als ganze, oder in's Blaue oder
Gelbe als Bestandtheile der grünen Mischfarbe charakterisirt werden.

105. Treten daher unter Voraussetzung derselben Lichtquelle zwei
Farbenempfindungen gleichzeitig oder nach einander in's Bewusstsein,
so ist jede derselben nicht einfach, sondern zusammengesetzt, und zwar
aus der Empfindung der Grundfarbe und jener der Oberfarbe; trifft es
sich nun, dass diejenige Farbe, die in der einen derselben Grundfarbe,
in der anderen Oberfarbe ist, so sind beide Farbenempfindungen ihrem
Inhalt nach überwiegend identisch, wie dies bei der Farbenverbindung
Roth (dessen Nebenfarbe Grün) und Grün (dessen Nebenfarbe Roth ist) und
ebenso bei der Verbindung Blau (dessen Nebenfarbe Orange) und Orange
(dessen Nebenfarbe Blau ist), dagegen nicht bei der Verbindung Roth
(dessen Nebenfarbe Grün) und Blau (dessen Nebenfarbe Orange ist)
thatsächlich der Fall ist. Verbindungen ersterer Art können daher
harmonische (Farbenconsonanzen), Verbindungen nicht complementärer
Farben müssen disharmonische (Farbendissonanzen) heissen.

106. Die Analogien zwischen harmonischen Ton- und dergleichen
Farbenverbindungen sind unter Anderen von Unger weiter ausgeführt
worden. Wie unter den ersteren Terz, Quint und Octave als Consonanzen,
Secunde, verminderte Quart und Septime als Dissonanzen, so werden
von ihm unter den letzteren die Terz als harmonische, die Secunde
als disharmonische Farbenintervalle unterschieden. Dem musikalischen
Accord als harmonischer Verbindung dreier Töne (Dreiklang) wird der
Farbenaccord als harmonische Verbindung dreier Farben (Dreischein), der
Vervielfältigung der Tonscala durch Erhöhung und Vertiefung der Töne
eine ebensolche der Farbenleiter durch Erhöhung und Verminderung der
Lichtstärke, der Unterscheidung von Klangfarben und Tongeschlechtern
nach Ton- eine ebensolche von Farbentönen und Farbengeschlechtern
nach Lichtquellen etc. zur Seite gesetzt.

107. Wie die Consonanz auf überwiegender Identität, so beruht deren
Gegentheil auf überwiegendem Gegensatz. Wie die leicht und anstandslos
vor sich gehende oder allen Hemmnissen zum Trotz durchgesetzte
Verschmelzung überwiegend identischer Vorstellungen ein in dem
letztgenannten Fall noch beträchtlich gesteigertes Lustgefühl, so
lässt der alles Bemühens, Entgegengesetztes zu vereinigen, ungeachtet
immer wiederkehrende Misserfolg, der durch den als unüberwindliches
Hemmniss sich herausstellenden Gegensatz herbeigeführt wird, ein
nachgerade bis zur Unerträglichkeit sich steigerndes Gefühl der
Unbefriedigung zurück. Die theilweise gleichen, aber überwiegend
entgegengesetzten Vorstellungen werden durch das in ihnen enthaltene
Gleiche immer wieder zu einander gezogen, durch das gleichfalls in
ihnen enthaltene Entgegengesetzte, welches letztere überwiegt, aber
unaufhörlich aus einander gehalten. Dieses bewirkt, dass sie nicht
eins werden, jenes verursacht, dass sie trotzdem nicht von einander
loskommen können. Dieses gleichzeitige sich Suchen und sich Fliehen,
sich Festhalten und sich Verdrängen der Gegensätze bringt im Gemüth
eine Ixionsartige Unruhe hervor, deren Bestand auf die Dauer für den
Vorstellenden unhaltbar wird.

108. Folge davon ist, dass derselbe obigen Zustand zu beseitigen sich
entschliesst. Da dieser aber auf der gegensätzlichen Beschaffenheit des
Inhalts und der in Folge dessen sich schlechterdings unter einander
ausschliessenden Natur der gleichzeitig im Bewusstsein vorhandenen
Vorstellungen beruht, folglich so lange fortwähren muss, als jener
Inhalt derselbe bleibt, so kann obige Qual auf keine andere Weise
beschwichtigt werden, als indem an die Stelle der gegenwärtig im
Bewusstsein vorhandenen und demselben als mit einander unverträgliche
gleichzeitig vorschwebenden Vorstellungen andere unter einander
verträgliche entweder zufällig (etwa durch Versetzung in eine andere
Umgebung, welche andere Vorstellungen bringt) treten, oder absichtlich
(etwa durch freiwilligen Entschluss, den gegenwärtigen durch einen
beliebigen anderen künstlich festgehaltenen Vorstellungsinhalt zu
ersetzen) an deren Stelle geschoben werden. In beiden Fällen wird die
Qual, die aus dem gleichzeitigen Vorhandensein unverträglicher Gedanken
entsteht, allerdings beseitigt, aber im ersten Fall, da nur ein Zufall
das Verschwinden der unverträglichen Vorstellungen aus dem Bewusstsein
veranlasst hat, nur auf so lange, als nicht ein neuerlicher Zufall
die Rückkehr derselben in das Bewusstsein herbeiführt, im zweiten
Fall nur für den, der jenen Entschluss gefasst, sein inneres Auge
gewaltsam gegen die wirklich im Bewusstsein gegenwärtigen Vorstellungen
verschlossen und an die Stelle derselben künstlich andere eingeführt
hat, und nur auf so lange, als er diesen Willen selbst oder die Kraft
hat, denselben ins Werk zu setzen. Die auf solchem Wege herbeigeführte
Beseitigung der Qual ist daher keine natürliche und, weil aus der
innern Natur der im Bewusstsein vorhandenen Vorstellungen entsprungen,
Dauer verheissende, sondern dieselbe findet gleichsam "auf Kündigung"
statt d. h. mit dem Vorbehalt, dass, sobald die durch den Zufall
oder durch den Willen des Vorstellenden gezogene künstliche Schranke
einmal, wie immer, aufhöre, die ursprünglichen, nicht vernichteten,
sondern nur in Latenz versetzten unverträglichen Vorstellungen wieder
emportauchen und dadurch die alten Wunden von neuem bluten werden.

109. Ein Beispiel einer solchen, und zwar durch den Zufall beseitigten
Qual innerlich vorhandener Gegensätze bietet die Heilung eines
zerrissenen Gemüths durch die Abwechslung, Zerstreuung und den
überwältigenden Eindruck, welchen Reisen, Geselligkeit und erhabene
Gebirgsnatur in diesem herbeiführen. Ein Beispiel einer durch
freiwilligen Entschluss "auf Zeit" bewirkten Unterdrückung der
Unruhe, die das Bewusstsein eines widerspruchsvollen Verhältnisses
erzeugt, bietet die Resignation, mit welcher der in einer sogenannten
"Vernunftheirat" Befangene den Gegensatz zwischen der ersehnten und
der thatsächlichen Beschaffenheit seiner Beziehungen zum anderen Theil
erträgt. In beiden Fällen findet Beschwichtigung wirklich statt, aber
im ersteren nur auf zufällige Weise, so dass mit der Rückkehr in die
frühere Umgebung auch das frühere Gefühl des Unglücks wiederkehrt;
in dem letztern nur auf künstliche Weise, so dass mit dem Schwach-
oder Schwankendwerden des Entschlusses auch das volle Gefühl des
lastenden Widerspruchs erneuert wird. Das gefundene Gleichgewicht
ist labil, nicht stabil.

110. Ein unerträglicher Zustand, das gleichzeitige Vorhandensein
sich unter einander ausschliessender Vorstellungen im Bewusstsein,
ist beseitigt; aber ein anderer, gleich unerträglicher, ist an dessen
Stelle getreten. War der frühere Zustand Unruhe, so ist der jetzige
vergleichsweise allerdings Ruhe; diese selbst aber ist nichts weiter
als verhüllte Unruhe. Nicht wirkliche Ruhe, sondern der Schein der
Ruhe ist an die Stelle der, obgleich latent, immer noch währenden
Unruhe getreten; der ursprüngliche Zustand schlummert gleichsam
unter dem künstlich geschaffenen Boden fort und harrt des Moments,
wo er wieder hervorbrechen, den künstlich übergeworfenen Schleier
zerreissen, den ursprünglich dagewesenen, niemals vernichteten,
sondern nur äusserlich niedergehaltenen Zustand wieder herstellen kann.

111. Von dieser Sachlage gilt, dass Schein, der sich für Sein gibt,
auf die Dauer unhaltbar sei, und zwar gleichviel, ob der wirklich
vorhandene Zustand im Bewusstsein, an dessen Stelle künstlich
ein anderer gesetzt worden ist, ein an sich missfälliger oder ein
beifälliger, das Zugleichsein einander ausschliessender oder ein
solches mit einander übereinstimmender Vorstellungen sei. Denn
nicht darin besteht die Unerträglichkeit, dass an die Stelle eines
unerträglichen Zustandes ein erträglicher getreten ist, sondern darin,
dass an die Stelle des wirklich, wenngleich latent, vorhandenen,
ein scheinbar d. i. nur zum Scheine, vorhandener gesetzt worden
ist. Das Unlustgefühl, das sich an das Vorhandensein zweier einander
ausschliessender Vorstellungen im Bewusstsein knüpft, ist verschieden
von demjenigen, welches dem Umstande gilt, dass Schein für Sein,
ein unwahrer an die Stelle des wahren, ein gemachter an jene des
gegebenen Zustandes eingetreten ist. Wenn das erstere aufhört, sobald
die einander ausschliessenden Vorstellungen entweder aufhören einander
auszuschliessen, oder gänzlich aus dem Bewusstsein geschwunden sind, so
schwindet das letztere nicht eher, als bis der widernatürlicherweise
hergestellte Trug, durch welchen Schein an die Stelle des Seins
gesetzt ward, aufgelöst, der künstlich erzeugte Zustand aufgehoben
und der ursprüngliche, widerrechtlich aus dem Bewusstsein verdrängte,
wieder in dasselbe zurückgekehrt ist. Ausdruck dieses Verhältnisses
ist der Satz: Schein, der sich für Sein gibt, missfällt, und zwar in
gleichem Grade, das ursprüngliche Sein, welches durch Schein ersetzt
worden ist, möge an sich beifällig oder missfällig d. i. der Schein,
der durch einen andern verdrängt wurde, möge an sich schön oder
hässlich gewesen sein. In dem einen Fall wird durch die Herstellung
des ursprünglichen Zustandes ein wohlgefälliger, im andern Fall ein
missfälliger Zustand erneuert; aber das Missfallen, welches sich an
den Fortbestand eines erlogenen anstatt des wirklichen Zustandes
heftet, wird in beiden Fällen vermieden. Alles, was sich sagen
lässt, beschränkt sich darauf, dass durch die Wiederherstellung eines
ursprünglichen missfälligen Zustandes zwar das Missfallen, das diesem
gilt, nicht vermieden, aber doch ein anderes, das dem Trugbild gilt,
beseitigt wird, während im Gegenfalle durch die Wiederherstellung eines
ursprünglichen beifälligen Zustandes nicht blos das Missfallen an der
Geltung blossen Scheins für Sein von Grund aus vernichtet, sondern
zum Ueberfluss ein Beifälliges in das Bewusstsein zurückgeführt wird.

112. War der ursprüngliche Zustand Dissonanz, so wird durch
dessen Wiederherstellung ein dissonirender, war er Consonanz, ein
consonirender erneuert; die inzwischen vorhanden gewesene Verhüllung
des wirklich vorhandenen durch einen fälschlicherweise an dessen Stelle
getretenen aber wird in beiden Fällen schwinden gemacht. Im ersteren
Fall wird eine Wunde blossgelegt, die nur scheinbar geschlossen,
aber nicht wirklich geheilt war; im letzteren Fall wird eine Heilung
wieder als Heilung anerkannt, die fälschlicherweise für eine Erkrankung
ausgegeben worden war. In jenem Fall ist der Schlusszustand allerdings
Krankheit, aber der Irrthum, welcher dieselbe für Gesundheit hielt,
wenigstens ist beseitigt. In diesem Fall hat nicht blos der Irrthum,
welcher Heilung für Erkrankung nahm, seine Geltung eingebüsst,
sondern der Schlusszustand ist die wirkliche Gesundheit.

113. Eine Bewegung geht vor sich, die in drei Abschnitten
verläuft. Ausgangspunkt derselben bildet der ursprünglich vorhandene,
deren Mitte der trügerischerweise an dessen Stelle getretene, ihren
Schluss der dem ursprünglichen gleiche, aus dessen Verdunkelung
durch den inzwischen waltend gewesenen Druck wieder hergestellte
Zustand. Dieselbe vollzieht sich, weil der verdunkelnde Zustand
künstlich durch eine äussere Ursache an die Stelle des ursprünglich
vorhandenen geschoben worden ist, nicht durch, sondern gleichsam
im Kampfe wider die letztere, und gewinnt dadurch den Anschein,
Selbstbewegung d. i. Resultat eines ihr selbst innewohnenden und sie
bestimmenden Bewegungsimpulses, eines sie belebenden Lebenskeims,
einer sie bewegenden Seele zu sein d. h. die Bewegung erscheint als
lebendige, beseelte Bewegung.

114. Ist das in obiger Bewegung Begriffene ästhetischer d. h. dem
Vorstellenden vorschwebender, beifälliger oder missfälliger (schöner
oder hässlicher) Schein, so gewinnt derselbe durch obigen Process
selbst den Schein der Beseelung. Der im Bewusstsein ursprünglich
vorhanden gewesene Schein, der von dem Vorstellenden künstlich mit
Wissen und Willen aus demselben verdrängt und durch einen andern,
der sich an seiner Stelle für den wahren ausgibt, ersetzt worden
ist, aber ohne, ja wider Willen des Vorstellenden sich behauptet,
seinerseits den ihn zu verdrängen bestimmt gewesenen Schein verdrängt
und in's Bewusstsein wieder zurückkehrt, nimmt dadurch selbst den
Anschein selbstständigen Lebens, inwohnender Beseelung an, löst
sich, indem er sich gegen den Vorstellenden auflehnt, vom Willen
desselben, also vom vorstellenden Subject ab und erscheint (nicht
als subjectiver, sondern) als objectiver, (nicht als beherrschter,
sondern) das Subject beherrschender, in sich selbst abgeschlossener
und von innen heraus belebter d. i. als (scheinbar) lebendiger Schein
oder als ästhetisches Object.

115. Dasselbe ist harmonisches, wenn der mit dem Schein des
Lebens auftretende Schein ursprünglich schöner Schein, dagegen
ein disharmonisches, wenn derselbe ein hässlicher Schein war. Der
ästhetische Schein, den wir als Vorstellung des Engels, ist als
ästhetisches Object nicht mehr und nicht weniger beseelt, als der
ästhetische Schein, den wir als Bild eines Satans bezeichnen; weder
der eine noch der andere muss darum wirkliches Object d. i. beseelte
Wirklichkeit und reale Geistigkeit sein. Diese, die lebendige Existenz,
wenn sie mehr sein soll als ein Geschöpf der Einbildungskraft, gehört
vor das Forum der Metaphysik, jene, die Existenz des Scheins der
Lebendigkeit, die nicht mehr sein will als ein Product der Phantasie,
fällt als solches allein unter die Jurisdiction der Aesthetik.

116. In dem nothwendigen Entwicklungsgang der dramatischen Handlung
kommt jener Schein nothwendiger Selbstbewegung des Scheins zur
ästhetischen Erscheinung. Wie der ursprüngliche Schein aus seiner
Verdunklung durch Ueberwindung der letztern wieder zum Vorschein,
so kommt der ursprüngliche Thatbestand aus dessen eingetretener
Verdunklung durch deren Ueberwindung wieder zur Klarheit. Oedipus, der
seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet hat, aber in Folge
seines Irrthums, dass er der Sohn des korinthischen Königspaares sei,
weder das eine noch das andere Verbrechen verübt zu haben wähnt, wird
durch die Macht der den trügerischen Wahn zerreissenden Verhältnisse
zur Klarheit über sich selbst und zum Bewusstsein der thatsächlichen
Lage d. i. der auf ihm lastenden tragischen Schuld gebracht. Der
Brudermord im dänischen Königshause, welchen der ehebrecherische
und kronenräuberische Mörder durch die schlaueste und künstlichste
Veranstaltung in den Schleier des tiefsten Geheimnisses zu hüllen
verstanden hat, wird durch den überlegenen Scharfsinn des Prinzen,
der sich mit speculativem Tiefsinn paart und, um verborgen zu bleiben,
sich in die Maske des Wahnsinns steckt, mit langsamer, aber durch ihre
Ausdauer unwiderstehlicher Zähigkeit an's Licht und in der Schlinge,
die er im Andern sich selbst gelegt, zur Bestrafung gezogen. Der
ursprüngliche Thatbestand bildet den Anfang, die Exposition --
die eingetretene Verdunkelung den Wendepunkt, die Peripetie --
die Lichtung derselben und die Wiederherstellung des ursprünglichen
Zustandes den Schluss, die Katastrophe der dramatischen Bewegung.

117. Dieselbe erscheint in Folge dessen weder zufällig, noch
willkürlich d. i. durch die Laune oder das Belieben des dichtenden
Subjects, sondern nothwendig und naturgesetzlich d. i. wie ohne
und unabhängig vom Willen des Dichters durch die Beschaffenheit des
Inhalts der darzustellenden Handlung selbst, und zwar jeder folgende
Moment durch den vorhergehenden, wie die unabänderliche Wirkung aus den
gegebenen Ursachen herbeigeführt. Die dramatische Handlung (und zwar
nicht blos, wie Schiller an Goethe schrieb, "die tragische") steht
unter der Herrschaft des Causalitätsgesetzes, nach welchem bestimmte
Ursachen bestimmte Wirkungen und gegebene Ursachen unausbleiblich ihre
nie fehlenden Wirkungen nach sich ziehen müssen. Dieselbe gewinnt
dadurch als ästhetisches (d. i. Scheins-) Object den Schein eines
beseelten d. i. von innen heraus bewegten Naturobjects; wie das
Thier, das Geschöpf der Mutter Erde, von ihr losgelöst, Leben und
selbstständige Bewegung an den Tag legt, so scheint das dramatische
Kunstwerk, Geschöpf der dichterischen Einbildungskraft, von dieser und
deren Träger, dem Dichter, losgelöst, inneres Leben und selbstständige,
von innen heraus getriebene Beweglichkeit zu besitzen.

118. Was von dem dramatischen, muss von dem Kunstwerk jeder anderen
Kunst (der epischen und lyrischen Poesie nicht weniger, wie der Ton-
und bildenden Kunst) als ästhetischem Object gelten. Jedes derselben,
wenn es für ein solches gehalten werden will, muss den Schein
der Objectivität d. i. der beseelten Lebendigkeit und lebendigen
Beseeltheit an sich tragen. Derselbe wird durch die Schönheit des
beseelt scheinenden Objects, z. B. der Natur, keineswegs ersetzt
(seelenlose Schönheit), durch die Abwesenheit solcher keineswegs
aufgehoben (seelenvolle Hässlichkeit; "la belle laidron"). Das wirklich
Beseelte hat daher vor dem ästhetischen nur scheinbar Beseelten
zwar das Merkmal der Wirklichkeit voraus; da aber nicht diese,
die ihrerseits für den Beschauer nur als Erscheinung in Betracht
kommt, sondern der blosse Schein der Wirklichkeit ästhetisch ist,
so bedeutet jener Vorzug, ästhetisch genommen, nichts und der schöne
wirkliche Gegenstand ist daher nicht mehr und nicht minder schön als
der blosse Schein schöner Wirklichkeit. Es wäre denn, man rechnete die
materielle Wirklichkeit des wirklichen Schönen zu dessen ästhetischer
statt zu dessen physischer Natur und verstünde unter ästhetischem
d. i. dem Genuss des schönen Scheins (wie der platte Realismus und
ästhetische Materialismus will) den materiellen d. i. den Genuss der
schönen Materie (z. B. den physischen Genuss der weiblichen Schönheit).

119. Mit der Betrachtung des überwiegend Identischen, so wie des
überwiegend Gegensätzlichen im theilweise Identischen ist die
Aufzählung der ästhetisch in Betracht kommenden möglichen Fälle
zwischen dem Was des Scheins statthabender Beziehungen erschöpft. Ein
ausschliessend Gegensätzliches, das nicht zugleich bis zu einem
gewissen Grade identisch wäre, kann es, da nur verwandte Vorstellungen,
also solche, deren Inhalt mehr oder weniger unter denselben Begriff
fällt, Bestandtheile der ästhetischen Vorstellungswelt ausmachen
können, in dieser nicht geben. Auch die am stärksten entgegengesetzten
Elemente der letzteren, die sogenannten contrastirenden oder
einander contraponirten (Contrast und Contrapost) Vorstellungen
(wie Riese und Zwerg, Licht und Schatten, forte und piano etc.) sind
nicht blos dadurch mit einander verwandt, dass ihre Objecte zu der
nämlichen Gattung gehören, sondern sie werden einander überdies noch
durch das auszeichnende Merkmal nahegerückt, dass diese beiderseits
Ausnahmen von der Regel, obgleich in entgegengesetzten Richtungen
(der Riese eine Abweichung von der gewöhnlichen Menschengrösse nach
oben, der Zwerg eine solche nach unten, das Licht das Maximum, die
Finsterniss das Minimum der gewöhnlichen Helligkeit; das Fortissimo den
höchsten, das Pianissimo den geringsten Grad der Intensität des Tones)
darstellen. Obige Fälle machen daher zusammengenommen mit derjenigen,
welche aus der Grösse oder Kleinheit des vorgestellten Objects
abgeleitet wird, die Summe derjenigen Bedingungen aus, unter welchen
ästhetischer Schein, er enthalte sonst welchen stofflichen Inhalt
immer, unbedingt d. i. allgemein und nothwendig gefällt oder missfällt.

120. Aus dem quantitativen Gesichtspunkt entspringt die ästhetische
Idee der (ästhetischen) Vollkommenheit. Dieselbe besteht darin,
dass der ästhetische Schein, sowol was dessen Vorgestelltwerden, als
was dessen Vorgestelltes betrifft, zum "Vollen kömmt" d. h. sowol das
erstere zu dem höchstmöglichen Grade von Intensität als das letztere zu
dem höchsten mit Rücksicht auf die Grenzen der Vorstellungsfähigkeit
des vorstellenden Subjects erreichbaren Masse von Grösse erhoben
wird. Ersteres geschieht, indem nicht nur jedes einzelne Vorstellen
mit dem höchst erreichbaren Grade von Lebhaftigkeit erfolgt, sondern
möglichst viel Vorstellen in kürzester Zeit bethätigt wird, aber auch,
indem das Vorstellen selbst auf möglichst gesetzmässige und normale
Weise sich vollzieht. Letzteres geschieht, indem das Vorgestellte,
soweit dessen Natur es erheischt oder doch gestattet, in möglichster
Grösse, Reichthum, Fülle und Wohlordnung vorgestellt und dadurch
zwar nicht über (wie dies beim Erhabenen der Fall ist) aber bis an
die erlaubten Grenzen des Vorstellenden erweitert wird. An dieselbe
schliesst sich ein Verfahren an, dessen Tendenz dahin gerichtet
ist, im ganzen Umkreis des das Bewusstsein ausfüllenden Vorstellens
schwaches Vorstellen durch energisches, daher, da jede sinnliche
Vorstellung die unsinnliche, jede concrete die abstracte, jede
bildliche die unbildliche an Lebhaftigkeit übertrifft, unsinnliche
durch sinnliche Vorstellungen, Begriffe durch Anschauungen, den
eigentlichen Gedanken durch einen uneigentlichen (Tropus, Metapher), im
Allgemeinen Begriffe durch Bilder (Symbole, Allegorien, Gleichnisse) zu
ersetzen, die Energie des Vorstellens durch associirte, auf das Gemüth
wirkende Nebenvorstellungen zu erhöhen, mit einem Wort die gesammte
Vorstellungswelt des Bewusstseins entsprechend zu tonisiren. Resultat
dieses Verfahrens ist ein im Ganzen und in jedem seiner Bestandtheile
lebhaftes, reiches und wohlgeordnetes Vorstellungsleben, vollkommener
ästhetischer Schein, welcher nicht mit dem Schein des Vollkommenen
d. i. eines einem gewissen Zwecke oder einem gewissen Begriffe
Entsprechenden, Zweck- oder Begriffsmässigen zu verwechseln ist. Jener
gehört dem Vorstellen, dieser dem Vorgestellten an; jener drückt aus,
dass vollkommen vorgestellt, dieser würde ausdrücken, dass Vollkommenes
vorgestellt werde.

121. In Bezug auf das Vorgestellte drückt die Idee der Vollkommenheit
aus, dass caeteris paribus dasselbe wohlgefälliger sei, wenn es als
gross, als wenn es als klein vorgestellt wird. Der einschränkende
Zusatz besagt, dass ein Vorgestelltes, das seiner Natur nach eine
gewisse Grösse ausschliesst, auch nicht unter dieser vorgestellt
werden dürfe, weil es sonst eben nicht dies, sondern ein anderes
Vorgestelltes wäre. Das Niedliche, Zarte, Milde kann daher nicht
als gross, darum aber darf es auch nicht kleiner vorgestellt werden,
als seine Natur es gestattet. Dagegen bekundet sich die Wirkung des
Grossen unwiderleglich in der Neigung der spielenden Einbildungskraft,
die Grösse vorgestellter Objecte (Räume, Zeiten, Naturgegenstände,
Helden und Göttergestalten) über das Mass des Erfahrenen und
Wahrgenommenen, so wie des Natürlichen ins Unbestimmte, Schranken- und
Grenzenlose, Un-, Ueber-, ja Widernatürliche zu erhöhen und sich ohne
Rücksicht auf Möglichkeit oder gar Wirklichkeit an der Steigerung,
Häufung und Vervielfältigung von Raum-, Zeit- und Naturgrössen zu
ergötzen. Beispiele derselben finden sich vor allem in der Märchen-
d. i. in der Lieblingswelt der Kinder- und Kindheitsvölkerphantasie,
z. B. bei den Indern, deren Imagination sich in der endlosen Anreihung
von Tausenden und aber Tausenden von Jahren und Meilen, sowie in der
Ausmalung der übernatürlichen Grösse ihrer Götter- und Büssergestalten,
deren Haupt in die Wolken reicht, während ihr Fuss auf der Erde
wurzelt, durch deren Locken sich der Gangesstrom vom Himmel herab
ergiesst, die hunderttausende von Jahren auf einem Beine stehen etc.,
gefällt, oder bei den baltischen Letten, deren Volkssage die Ewigkeit
dadurch zu schildern sucht, dass, wenn der Diamantberg im Norden,
an dessen Gipfel alle hundert Jahre ein winziges Vögelchen dreimal
sein Schnäbelchen wetzt, in Folge dessen in Staub verwandelt sein,
die erste Minute der Ewigkeit verflossen sein wird. In allen Götter-
und Heldensagen kehrt die Vergrösserung der Leibesgestalt wieder,
aber auch der irdische Held sucht durch Helm und wallenden Helmbusch
und dessen Scheindarsteller, der Heldenspieler, durch den Kothurn
seine natürliche Grösse wenigstens scheinbar zu vermehren.

122. Aus dem qualitativen Gesichtspunkte der theilweisen, aber
überwiegenden und zwar derjenigen Identität, bei welcher Einseitigkeit
der Uebereinstimmung des beiderseitigen Inhalts herrscht, ergibt sich
die ästhetische Idee des Charakteristischen. Dieselbe besteht darin,
dass derjenige Theil des ästhetischen Scheins, der als charakteristisch
bezeichnet wird, zu jenem, als dessen Charakteristik er angesehen
sein will, in dem Verhältnisse des Nachbildes zum Vorbilde, der
Nachahmung zum Nachgeahmten, der Copie zum Originale steht, so dass
alle wesentlichen Züge des letzteren sich an der ersteren wiederfinden
und beide einander ihrer Inhaltsbestimmtheit nach so ähnlich werden,
als es, ohne dass beide aufhören zwei, und dahin gelangen ein
einziges zu sein, nur immer möglich ist. Das Wesen dieses ästhetisch
Charakteristischen ist daher von jenem des in wissenschaftlichem Sinne
Charakteristischen dadurch verschieden, dass in dem letzteren Fall das
Charakterisirte stets ein wirkliches oder ein wahres oder doch ein für
eins von beiden gehaltenes ist, während bei dem ersteren das Vorbild
eben so gut ein erfundenes (als wahr oder wirklich nur fingirtes) sein
kann. Dasselbe ahmt daher weder, wie die Kunst dem Aristoteles zufolge
soll, die Natur -- noch, wie Winkelmann lehrte, ausschliesslich die
schöne Natur nach; das Wohlgefällige der charakteristischen Nachahmung
ist sowol von der Wahrheit und Wirklichkeit wie von der Schönheit des
Nachgeahmten unabhängig und beruht einzig und allein auf der Treue
der Nachahmung. Dieselbe gestattet daher nicht nur die Nachahmung
des Hässlichen, sondern diejenige Kunst, welche vornehmlich die Idee
des Charakteristischen zum Leitstern nimmt, wählt sogar dasselbe mit
Vorliebe, weil dadurch der Verdacht, als sei es ihr mehr darum zu thun,
Schönes, als schön darzustellen, am gewissesten abgelenkt und das
Streben nach Treue der Darstellung, worin ihr eigentliches Verdienst
besteht, am energischesten hervorgehoben wird. Grosse Charakteristiker,
auf allen künstlerischen Gebieten, pflegen daher lieber das von Goethe
treffend als solches bezeichnete "Bedeutende" als das makellose
Schöne, Charakterdarsteller vorzugsweise "Charaktere" d. i. mit
hervorstechenden, die Kunst der Nachahmung herausfordernden Zügen
ausgestattete Individuen (Richard III., Carl und Franz Moor, Hamlet,
Othello, Mephistopheles u. A.) zum Gegenstande der Darstellung zu
wählen; unter den Helden Homers hat auch der Thersites nicht gefehlt.

123. An die Idee des Charakteristischen schliesst sich ein Verfahren
an, welches dieselbe nicht blos in einem einzelnen vorschwebenden
Theile, sondern im ganzen Umfange der ästhetischen Vorstellungswelt
(des Scheins) zur Geltung zu bringen d. h. welches, wo und was immer
vorgestellt werde, charakteristisch vorzustellen trachtet. Wenn die
Uebereinstimmung des Vorzustellenden mit der wirklichen Vorstellung
im Allgemeinen als Wahrheit, wenn dieselbe in dem besonderen Falle,
da das Vorzustellende ein äusseres, ein Object der Aussenwelt ist,
als äussere (geschichtliche oder naturgeschichtliche) Wahrheit
bezeichnet wird, so kann jene Tendenz, in der gesammten Welt des
Scheins Uebereinstimmung zwischen Vorbild und Nachbild herrschen
zu machen, Streben nach innerer d. h. da das Vorbild auch ein
erdichtetes sein kann, poetische Wahrheit heissen. Dasselbe geht
sonach nicht darauf aus, im Sinne der äusseren Wahrheit wahr zu
sein d. h. einen äusseren Gegenstand treu wiederzugeben, wohl aber
darauf, im Sinne derselben wahr zu scheinen d. h. einen (gleichviel
ob erfundenen oder erfahrenen) Gegenstand so treu nachzubilden, dass
diese Nachahmung, wenn jener Gegenstand ein äusserer wäre, im Sinne
der äusseren Wahrheit wahr genannt werden müsste. In diesem Sinne
der inneren, nicht in jenem der äusseren Wahrheit hat Aristoteles'
Poetik die Tragödie philosophischer als die Geschichte genannt, weil
jene das Geschehende als Mögliches und daher aus innerlichen Gründen
Begreifliches, diese dagegen dasselbe lediglich als Geschehenes,
seinen inneren Gründen nach erst zu Errathendes darstellt; jene
sonach ihren Werth in der Uebereinstimmung der Wirkungen mit ihren
Ursachen d. h. in der Abspiegelung der letzteren durch die ersteren,
die Geschichte dagegen lediglich in der Uebereinstimmung ihrer
Darstellung mit der äusseren Wirklichkeit sucht.

124. Der qualitative Gesichtspunkt der theilweisen, aber
überwiegenden, und zwar derjenigen Identität, welche in der
gegenseitigen Uebereinstimmung des beiderseitigen Inhaltes sich
offenbart, ergibt die ästhetische Idee des Harmonischen oder des
(ästhetischen) Einklangs. Dieselbe besteht darin, dass jedes Glied des
Verhältnisses, indem es das andere in sich abbildet, seinerseits ebenso
von dem anderen abgebildet wird. Das Wesen des ästhetischen Einklanges
unterscheidet sich daher von jenem des Charakteristischen dadurch,
dass, während bei dem letzteren das Abbild zwar ganz im Vorbilde,
nicht aber umgekehrt dieses in jenem enthalten ist, hier jedes
Glied zugleich Nachbild und Vorbild des anderen ist. Beide Glieder
enthalten einen gemeinsamen Bestandtheil, durch den sie verknüpft,
und ausserdem einen entgegengesetzten, durch welchen sie aus einander
gehalten werden. Je wichtiger der erste im Gegensatz zum zweiten,
um desto bedeutender der Einklang, um desto nachdrucksvoller das
Lustgefühl. Jenes dritte Gemeinsame stellt gleichsam den Exponenten
des harmonischen Verhältnisses dar und wird, wenn die im Einklang
befindlichen Glieder beide Gedanken z. B. das eine die Vorstellung der
Sache, mit welcher eine andere, das andere die Vorstellung des Anderen,
das mit jener verglichen werden soll, ausmacht, der Vergleichungspunkt
(tertium comparationis) genannt. So bildet in der Metapher, die das
Kameel als Schiff der Wüste bezeichnet, das Merkmal, dass beide,
Kameel wie Schiff, als Transportmittel durch eine unwirthbare Wüste
benutzbar sind, das verknüpfende -- dagegen das Merkmal, dass diese
Wüste bei dem einen wasserlose Sand-, bei dem anderen eine uferlose
Wasserwüste ist, das trennende Element beider Gedanken. Je nachdem
die harmonirenden Glieder des Einklanges Ton-, Farben-, Formen- oder
eigentliche Gedankenvorstellungen sind, welche letzteren allein sich in
Worten ausdrücken lassen, wird der Einklang selbst als musikalische,
Farben-, Formen- oder Gedankenharmonie, je nachdem die vorhandene,
aber verborgene Aehnlichkeit des Verschiedenen leicht, blitzähnlich,
oder in gleichsam visionärer Intuition an den Tag tritt, als Witz
oder als Tiefsinn (die sonach beide ebensowol innerhalb der Ton-,
Farben- und Formen-, wie der Gedankenwelt vorkommen können) bezeichnet.

125. Geht die beiderseitige Identität der Verhältnissglieder so
weit, dass beide sich nur durch die entgegengesetzte Lage im Raume
unterscheiden d. h. dass das eine rechts und links gleichweit
entfernt von einem idealen Mittelpunkt, oder nach oben gleichweit
über, wie nach unten gleichweit unter einer idealen Ebene gedacht
wird, so geht der Einklang in die Symmetrie oder den blos räumlichen
Contrast (Contrapost) -- wenn dagegen der Gegensatz zwischen den
Verhältnissgliedern so gross, dass nur das Mass ihrer räumlichen
Entfernung von einem gemeinsamen Mittelpunkt oder einer gemeinsamen
Ebene dasselbe, ihre beiderseitige Richtung im Raume aber gleichfalls
entgegengesetzt ist, so geht dieselbe in den nicht blos räumlichen,
sondern eigentlichen (stofflichen) Contrast über. Unter die erstere
fällt zum Beispiele die Anordnung gleicher Thürme in gleicher
Entfernung von der Mittelaxe der Kirche nach entgegengesetzten
Weltgegenden (wie z. B. beim Kölner- oder beim Stephansdom). Unter
den letzteren füllt die Anordnung eines noch unverwundeten und eines
schon verschiedenen Sohnes in gleicher Entfernung von der Mittelaxe
der Gruppe nach entgegengesetzten Richtungen bei der Darstellung
des Laokoon. Beide können wie in räumlicher, so auch in zeitlicher
Anordnung, wenn an die Stelle des idealen Mittelpunktes im Raume ein
eben solcher in der Zeit, und statt der räumlichen Richtung nach rechts
und links, oben und unten, die zeitliche nach der Vergangenheit und
nach der Zukunft hin eingeführt wird, Anwendung finden. So kehrt in
der Tanzmusik nach der Coda die ursprüngliche Melodie, im Ritornell
und Strophenlied der Refrain wieder und baut sich im Fortschritte der
dramatischen Handlung Schürzung und Lösung vor und nach dem Knoten
symmetrisch auf.

126. An die ästhetische Idee des Einklanges schliesst sich ein
Verfahren an, welches dieselbe im ganzen Umfange des dem Bewusstsein
vorschwebenden Scheins durchzuführen d. h. welches nur solche
Bestandtheile in demselben zuzulassen bemüht ist, die unter einander
nicht nur verwandt (homogen), sondern überwiegend identisch sind. Das
Resultat dieses Verfahrens ist die ästhetische Einheit, welche je
nach der specifischen Natur des die ästhetische Vorstellungswelt
ausmachenden Scheins bald als musikalische (d. i. als Einheit der
Tonwelt, des Tongeschlechts, der Tonleiter), bald als malerische
(d. i. als Einheit der Licht- und Farbenwelt, der Beleuchtungsquelle,
des Farbengeschlechtes u. dgl.), bald als bildnerische (d. i. Einheit
der Formenwelt: der schlanken, aufstrebenden und im Spitzbogen
sich wölbenden in der germanischen; der Quader, des Halbrund
und der flachgewölbten Kuppel in der römischen; des horizontalen
Architravs, der Säule und des Giebels in der griechischen Baukunst
etc.), in der poetischen Welt bald als lyrische (d. i. als Einheit
der Gemüthsstimmung), epische (d. i. als Einheit der Zeitlinie, an
welcher die Begebenheiten aufgereiht werden), bald als dramatische
(d. i. als Einheit der Handlung) sich kundgibt.

127. Der qualitative Gesichtspunkt der Ausschliessung des Gegensatzes
ergibt die Idee der ästhetischen Correctheit. Dieselbe besteht darin,
dass keine mit einander unverträglichen Vorstellungen gleichzeitig
im Bewusstsein vorhanden, oder, wenn vorhanden, aus demselben
beseitigt sind. Jenes kann als natürliche, dieses als künstliche,
also nur auf Zeit und nur für denjenigen, welcher den Gegensatz
beseitigt hat, bestehende Correctheit bezeichnet werden. Da die
Abwesenheit unverträglicher Vorstellungen im Bewusstsein zwar
Missfallen verhindert, selbst aber keinerlei Wohlgefallen hervorruft,
so ist die Correctheit im Gegensatze zu den Ideen der Vollkommenheit,
des Charakteristischen und des Einklanges, welche als solche positiv
beifällig sind, nur eine negative ästhetische Idee, deren Verletzung
missfällt, deren Beobachtung jedoch gleichgiltig lässt. Dieselbe stellt
daher zwar die conditio sine qua non des unbedingt Beifälligen, für
sich allein aber weder als natürliche, noch (und zwar noch weniger)
als künstliche ein Wohlgefälliges dar. Beispiel der natürlichen
Correctheit ist der natürliche, Beispiel der künstlichen dagegen
der sogenannte künstliche Anstand, von welchen der erstere auf der
Einhaltung der durch das natürliche Schicklichkeitsgefühl gebotenen
Grenzen, der letztere dagegen auf der ängstlichen Beobachtung der
conventionellen, durch gesellschaftliche Uebereinkunft festgesetzten
Formen und Gebräuche des geselligen Umganges beruht. Ein Beispiel aus
der Kunstwelt liefert im Gegensatze zu der natürlichen Correctheit,
welche im Drama Einheit der Handlung fordert, die dem französischen
Nationalgeschmack entsprungene künstliche Correctheit des classischen
Dramas der Franzosen, welche noch überdies die sogenannte Einheit
der Zeit und des Ortes erheischt. Während daher die natürliche
Correctheit eine allgemeine und nothwendige, drückt die künstliche
eine zufällige, auf den Umkreis einer Nation oder eines Zeitalters
beschränkte Eigenschaft des ästhetischen Scheines aus.

128. An die Idee der Correctheit schliesst sich ein Verfahren an,
welches bestimmt ist, die Ausschliessung mit und unter einander
unverträglicher Bestandtheile durch den ganzen Umkreis der ästhetischen
Vorstellungswelt durchzuführen. Ergebniss desselben ist die ästhetische
Reinheit d. i. die Abwesenheit alles Störenden in der ästhetischen
Vorstellungswelt, welche, wenn die durchzuführende Correctheit eine
natürliche ist, selbst als solche, ist sie dagegen eine künstliche, als
künstliche Reinheit bezeichnet wird. Dieselbe ist, wie die Correctheit,
nur eine negative Eigenschaft des schönen Scheins, durch welche, wenn
sie eine natürliche ist, das Missfallen für Alle, überall und auf
immer, wenn sie dagegen blos eine künstliche ist, nur für diejenigen
nur an jenen Orten und nur für so lange vermieden wird, für welche,
an welchen und so lange das conventionelle Uebereinkommen, auf das
sie begründet ist, besteht. Beispiele der natürlichen Reinheit bietet
der natürliche, der künstlichen dagegen der künstlich festgesetzte
Sprachgebrauch in Regel und Schrift, wie der erste zum Beispiele
in der deutschen, der letztere dagegen in Folge der Herrschaft des
Dictionnaire de l'Académie in der französischen Literatur stattfindet.

129. Der qualitative Gesichtspunkt der Wiederherstellung des Seins aus
dem an dessen Stelle getretenen und dasselbe verdunkelt habenden Schein
ergibt die ästhetische Idee der Ausgleichung. Dieselbe besteht darin,
dass die wirklich im Bewusstsein vorhandenen Vorstellungen, welche,
sei es durch Zufall, sei es durch Absicht, aus dem Bewusstsein
verdrängt und durch andere, denselben entgegengesetzte ersetzt
worden sind, ohne, ja wider den Willen des Vorstellenden in das
Bewusstsein zurückkehren und ihrerseits diejenigen, die ihre Stelle
eingenommen haben, verscheuchen. Der durch die Unwillkürlichkeit ihres
Wiederauftauchens erzeugte Schein der Unabhängigkeit der Vorstellungen
vom Vorstellenden wirft auf deren Vorgestelltes selbst den gleichen
Anschein der Selbstständigkeit, inneren Lebens und Beseeltseins, so
dass die Bewegung der wieder auftauchenden Vorstellungen im Bewusstsein
nicht als eine durch den Vorstellenden hervorgerufene, sondern als
eine den Vorstellungen selbst innewohnende, als Selbstbewegung des
Vorgestellten, als lebendiger Schein erscheint d. h. das Geschöpf des
Bewusstseins sich in Selbstbewusstsein verwandelt. Je nachdem die aus
ihrer Verdunklung wieder hergestellten Vorstellungen entgegengesetzt
oder harmonische waren, wird das Product des vollzogenen Ausgleiches
entweder das Dasein entgegengesetzter oder harmonischer Vorstellungen
d. h. der Ausgleich selbst entweder ein solcher mit disharmonischem
oder harmonischem Ausgang sein. Ersterer schliesst zwar mit einer
offenen Dissonanz (wie ein Heine'sches Lied oder eine Chopin'sche
Phantasie), aber das Missfallen, welches der Geltung blossen Scheins
für Sein anklebt, wenigstens ist vermieden. In letzterem Falle wird
nicht blos letzteres Missfallen unmöglich gemacht, sondern die wieder
hergestellte ursprüngliche Consonanz lässt den Process der Ausgleichung
in einen volltönenden Accord ausklingen.

130. Wie die Idee der Correctheit, so ist jene der Ausgleichung keine
positive, unbedingten Beifall begründende, sondern blos negative,
unbedingtes Missfallen verhütende Idee. Weder die Vermeidung des
Störenden, noch die Wiederherstellung des Ursprünglichen ist an und für
sich beifalls-, aber die Gegenwart des Unerträglichen und der Bestand
der Lüge für Wahrheit sind an und für sich verwerfenswerth. Beide
Ideen bilden daher zwar Bedingungen, ohne welche kein Schönes sein,
durch welche allein aber nichts zum Schönen werden kann.

131. An die ästhetische Idee des Ausgleichs schliesst sich
ein Verfahren an, welches dieselbe durch den ganzen Umkreis des
ästhetischen Scheins durchzuführen, allenthalben das Sein an die Stelle
des Scheins zu setzen und die ursprünglich gegebenen anstatt der für
dieselben eingeschobenen Elemente der ästhetischen Vorstellungswelt
wieder herzustellen bemüht ist. Ergebniss desselben ist der durch
die gesammte Welt des ästhetischen Scheins verbreitete Anschein
selbstständiger Lebendigkeit, inwohnender Beseelung und Bewegung,
Ablösung des Vorgestellten vom vorstellenden Subjecte d. i. die
ästhetische Idee der Objectivität als Beseeltheit und Seelenhaftigkeit
des ästhetischen Objectes. Dieselbe geht darauf aus, die Geschöpfe
des vorstellenden Subjects als Geschöpfe ihrer selbst d. i. als sich
selbst den Leib ihrer äusseren Erscheinung, Bewegung und Handlung
bauende und bestimmende seelenhafte Subjecte, die gesammte Welt des
ästhetischen Scheins als beseelte Welt, das Kunstwerk der Phantasie wie
ein Naturwerk erscheinen zu lassen. Ausdruck dieses Strebens ist die
dramatische, nach der natürlichen Verkettung von Ursachen und Wirkungen
aus den gegebenen Charakteren und der gegebenen Situation mit innerer
Nothwendigkeit hervorspringende, scheinbar ohne Wissen und Willkür
des Dichters, wie "auf eigenen Füssen" einherschreitende dramatische
Handlung. Die aus dem Hirn des Dichters entsprungenen scheinbar
lebendig wandelnden Gestalten gleichen den Steinen Deukalion's,
welche zu Menschen geworden sind.

132. Keine der angeführten ästhetischen Ideen ist das ganze Schöne,
aber jede derselben bezeichnet ein Element des Schönen. Weder das
Grosse, noch das Charakteristische oder Harmonische, noch weniger
das Correcte oder das Ausgeglichene für sich erschöpft das Gebiet des
unbedingt Wohlgefälligen, aber jedes der drei ersten, die eben darum
die positiven Merkmale des Schönen ausmachen, stellt ein solches
dar; die beiden letzteren dienen demselben wenigstens als negative
Kriterien. Unter einander verglichen lassen die Eigenschaften der
Vollkommenheit, Wahrheit, Einheit und Reinheit als ruhendes, lässt
sich dagegen die Beseelung, Bewegung und Objectivität als bewegtes
Schönes bezeichnen. Die Gesammtheit sämmtlicher ästhetischer Ideen
zu einem Totalbilde vereinigt prägt dem ästhetischen Schein, wenn
derselbe von geringerem, ja von dem geringsten denkbaren Umfang ist,
den Stempel der Schönheit, wenn derselbe von grösserem, ja von dem
grössten denkbaren Umfang ist, durch die Erweiterung der einfachen
ästhetischen Ideen mittels des sich an dieselben anschliessenden
Verfahrens: der Grösse zur Vollkommenheit, des Charakteristischen zur
Wahrheit, des Einklangs zur Einheit, der Correctheit zur Reinheit und
der Ausgleichung zur Objectivität, die nie und nirgends erlöschende
Marke der Classicität auf.

133. Wie jeder der logischen Ideen, so steht jeder der ästhetischen
Ideen ihr Gegenbild zur Seite. Der ästhetischen Idee der Vollkommenheit
steht die der Unvollkommenheit, der des Grossen die des Kleinen, jener
des Charakteristischen die des Charakterlosen, jener des Einklangs
die des Missklangs gegenüber. Wie das Grosse, Reiche und Wohlgeordnete
gefällt, so missfällt das Kleine, Dürftige und Zusammenhangslose. Wie
das sein Vorbild in bezeichnenden und wesentlichen Zügen wiedergebende
Nachbild Wohlgefallen erregt, so folgt der unbestimmten, verblasenen
und verschwommenen, kaum kenntlichen Nachahmung das Missfallen auf dem
Fusse. Wie das Harmonische, wo und an wem es sich findet, unbedingt
Lob, so zieht das Disharmonische, wenn es nicht als Vorbereitung zu
einem Harmonischen um dieser seiner dem Schönen dienenden Stellung
willen geduldet wird, unbedingt Tadel nach sich. Die Gegensätze
des Correcten und Ausgeglichenen sind durch die Missfälligkeit des
gleichzeitig vorhandenen Unverträglichen und der Geltung des Scheins
für Sein selbst als unbedingt missfällig gekennzeichnet: Incorrectheit
und Trug erscheinen als unbedingt verwerflich.

134. Eine Ausnahme macht die Stellung des an sich unbedingt
Missfälligen, Unverträglichen, in der Idee der Ausgleichung mit
harmonischem Ausgang. Weil in diesem Fall das Ursprüngliche und am
Schluss des Processes Wiederhergestellte ein Harmonisches ist und
der Eindruck dieses letzteren durch die vorangegangene Verdunklung,
durch dessen disharmonisches Gegentheil, wie die Erfahrung zeigt,
der auflösenden Consonanz durch die vorangegangene Dissonanz, des
neugeborenen Lichtes durch die vorhergegangene Finsterniss, auf das
vorstellende Subject, den Beschauer und Hörer, erhöht und bestärkt
wird, so tritt in diesem Fall das an sich, wenn es als Zweck gedacht
wird, unbedingt auszuschliessende Missfällige (die Dissonanz, das
Nachtdunkel) in die Rolle eines die Erscheinung des Harmonischen,
welches als Selbstzweck nicht nur möglich, sondern gefordert ist,
vorbereitenden und fördernden Mittels zurück und wird um dieser seiner
dem Harmonischen nützlichen Beschaffenheit willen nicht nur zugelassen,
sondern, um den schliesslichen Effect des Harmonischen auf jede
mögliche Weise und zu jedem erreichbaren Grade zu steigern, mit Wissen
und Willen als Hilfsmittel verwendet. Von dieser Art ist der Gebrauch
der Dissonanzen in der Musik, des Licht- und Schattencontrastes, so
wie der Farbengegensätze in der Malerei, des tragischen d. i. das
Gerechtigkeitsgefühl beleidigenden Schicksalsverhängnisses in der
Tragödie, die Einführung sittlich verwerflicher Charaktere (moralischer
Schlagschatten, Bösewichter, Intriguanten) in die dramatische oder
epische Handlung etc.

135. Wie die Zusammenfassung der ästhetischen Ideen das Schöne,
jede derselben für sich ein Schönes, so stellen die Gegenbilder
der einzelnen ästhetischen Ideen jedes für sich ein Hässliches, die
Zusammenfassung aller in einem Totalbilde das Hässliche dar. Werden
die Gegenbilder der einzelnen ästhetischen Ideen durch ein dem
Verfahren bei den ersteren entgegengesetztes auf den ganzen Umkreis
der ästhetischen Vorstellungswelt ausgedehnt, so dass in demselben
durchgängig statt der Vollkommenheit Unvollkommenheit, statt der
Grösse Kleinlichkeit, statt der Wahrheit Unwahrscheinlichkeit, statt
der Einheit Verwirrung, statt der Reinheit Rohheit und statt der sich
selbst beseelenden und tragenden Objectivität gesetzlose Willkür
und genial scheinen wollender Subjectivismus herrscht, so wird,
wie durch jene dem Totalbild der Stempel der Classicität, so durch
diese demselben das Gepräge der ungebundenen Individualität d. i. des
romantischen Subjects, die formlose Form der Romantik aufgeprägt.

136. Mit der Aufstellung der ästhetischen Ideen und ihrer Gegenbilder,
der einen zur Nachahmung, der andern zur Abschreckung für jedes
Schaffen, das Schönes d. i. unbedingt Wohlgefälliges hervorbringen,
unbedingt Missfälliges vermeiden will d. h. mit der Aufzählung
der normalen und anormalen Formen, welche Normen des ästhetischen
Vorstellens und künstlerischen Producirens sind, ist das Geschäft
der Aesthetik als allgemeiner Wissenschaft vom Schönen vollendet.



DRITTES CAPITEL.

DIE ETHISCHEN IDEEN.


137. Wie die logischen Ideen die Normen, unter welchen Denken zum
Wissen, die ästhetischen die Normen, unter welchen ästhetischer Schein
zum Schönen, so stellen die ethischen Ideen die Bedingungen dar,
unter welchen Wollen zum Guten wird. Von Kant stammt der Ausspruch,
dass das einzige, was wahrhaft und in jeder Hinsicht gut genannt zu
werden verdiene, der gute Wille sei; welcher aber der gute d. h. unter
allen denkbaren Willen derjenige sei, der unbedingt d. h. allgemein
und nothwendig gefällt, sollen nachstehende Betrachtungen entwickeln.

138. Wie bei dem schönen wirklichen Gegenstande dasjenige, was ihn
zum schönen macht, nicht darin besteht, dass er Wirklichkeit, sondern
darin, dass er Schönheit besitzt, so kann bei dem guten wirklichen
Wollen der Grund, der es zum guten macht, nicht darin liegen, dass es
wirklich, sondern darin, dass es gut ist. Da nun der wirkliche schöne
Gegenstand vor dem blos gedachten (d. i. dem Schein eines solchen)
nichts weiter voraus hat als eben die Wirklichkeit, und folglich der
Grund seiner Schönheit nicht in demjenigen gefunden werden kann,
was ihn vom Schein unterscheidet, sondern nur in demjenigen, was
auch diesem eigen ist, so kann auch die Ursache, um deren willen
der gute wirkliche Wille gelobt und dessen Gegentheil getadelt wird,
keine andere als eine solche sein, welche der wirkliche mit dem blos
gedachten (d. i. mit dem blossen Schein-) Willen gemein hat. Wie
aber dasjenige, was das schöne Wirkliche mit dem schönen gedachten
Gegenstande gemein hat, nur beider Form, so kann auch dasjenige, was
dem guten Wirklichen mit dem blos gedachten guten Willen gemeinsam
ist, nur deren gemeinschaftliche Form, und der einzige wahre Grund,
um deswillen gutes wirkliches Wollen gut genannt zu werden verdient,
kann daher nicht in dessen Realität, sondern nur in dessen (unbedingt
wohlgefälliger d. i. den Normen des unbedingt Wohlgefälligen
entsprechender) Form gefunden werden.

139. Wäre das Gegentheil der Fall d. h. läge der Grund, warum gutes
wirkliches Wollen unbedingt gefällt, in Eigenschaften, welche von
dessen Wirklichkeit abhängen, so ergäbe sich Folgendes: Jedes wirkliche
Wollen bringt einerseits als Wirkendes Wirkungen d. i. Folgen hervor
und ist andererseits entweder als Bewirktes die Wirkung eines anderen
Willens, oder als Selbstbewirktes die Wirkung seiner selbst, als
des eigenen Willens. Im ersten Falle ist es selbst als Wirkliches
die Ursache eines anderen Wirklichen; im zweiten Falle ist seine
Ursache der entweder gebietende oder der als Muster zur Nachahmung
reizende Wille eines Anderen; im letzten Falle ist es selbst seine
eigene Ursache.

140. Da jedes wirkliche Wollen ein Streben, ein solches aber nichts
anderes ist als das Aufstreben der Vorstellung des Erstrebten
im Bewusstsein gegen die Hemmnisse, welche bisher auf derselben
lasteten, so erzeugt jedes Wollen, welches etwas bewirkt d. h. eine
wirkliche Veränderung seiner bisherigen Lage hervorbringt, ebenso
unausbleiblicher Weise ein Lust- als im entgegengesetzten Fall, wenn
es nichts bewirkt, ein Unlustgefühl. Indem sich das erstere mit der
Vorstellung des im Wollen Erstrebten d. i. des Objectes des Wollens
verknüpft, erscheint dieses letztere als ein Gut; indem das letztere
das gleiche thut, erscheint das Erstrebte als ein Uebel; jenes, weil
an dessen Vorstellung sich ein Lustgefühl geheftet, wird von da an
als ein Begehrens-, dieses, weil dessen Vorstellung fortan von einem
Unlustgefühl begleitet wird, als ein Verabscheuungswerthes angesehen,
die Güte des Wollens von dessen Richtung auf Güter, deren Gegentheil,
die Bosheit, von dessen Richtung auf Uebel abhängig gemacht. Die
Ethik als Wissenschaft von den Bedingungen des Guten nimmt die Gestalt
einer Güterlehre an.

141. Die Eigenschaft eines Objectes als eines Gutes oder Uebels
hängt ab von den die Vorstellung desselben begleitenden Lust- oder
Unlustgefühlen. Je nachdem diese letztern stärker oder geringer, werden
höhere und niedere Güter und Uebel unterschieden. Durch den Umstand,
dass die Vorstellung des einen von dem höchsten Lust-, die Vorstellung
des anderen von dem höchsten Unlustgefühl unzertrennlich ist, wird das
höchste Gut vor dem grössten Uebel gekennzeichnet. Dass sich dabei
an die Vorstellung der Lust als solcher das höchste Lustgefühl,
an jene der Unlust das höchste Unlustgefühl und zwar nicht blos
in diesem und jenem, sondern in jedem Fall heften muss, in welchem
von Lust und Unlust als Ziel des Wollens die Rede ist, und dass in
Folge dessen kein Gegenstand geeigneter erscheint, als höchstes Gut
aufgestellt zu werden, als die Lust (Glückseligkeit, eudaimonia) und
keiner näher liegt, um als höchstes Uebel zu erscheinen, als die Unlust
(Unseligkeit, kakodaimonia) scheint eben so wenig befremdlich, als es
unbestimmt bleibt, ob unter jener Lust, die als Gut, und jener Unlust,
die als Uebel bezeichnet wird, jede beliebige ohne Unterschied, oder
irgend eine bestimmte, z. B. nur sinnliche oder nur geistige Lust,
nur eigene (Egoismus) oder nur fremde Glückseligkeit (Altruismus),
die Glückseligkeit eines Theiles oder die des Ganzen (allgemeines Wohl,
salus publica) verstanden werden solle.

142. Letzterem Mangel soll dadurch abgeholfen werden, dass diejenige
Lust, welche mit keinerlei Unlust gemischt, also rein erscheint,
der gemischten -- also diejenige, deren Folgen nicht einer solchen
vorgezogen wird, deren nachträgliche Wirkungen von Unlust begleitet
sind. Aus diesem Grunde wurde von den Hedonikern und Epikuräern die
sinnliche Lust als vorübergehende und flüchtige der geistigen als der
dauer- und standhaften nachgesetzt, von Aristoteles das beschauliche
Leben des Denkers als das einzige wahren Genuss gewährende hoch über
das banausische Treiben der Sinnlichkeit erhoben. Dem Streben nach
eigener, selbstsüchtiger Glückseligkeit, in welchem die Einen (die
Encyklopädisten, Helvetius) das Ziel des Wollens erblickten, wird
von Anderen (Hume, Smith, Comte) das Streben nach fremder d. i. nach
der Glückseligkeit des Andern (autrui, Altruismus) entgegengestellt
d. h. das selbstlose und selbstverleugnende uneigennützige dem
selbstsüchtigen eigennützigen Wollen -- mit Recht, aber grundlos
d. h. ohne Angabe eines Grundes, warum das eine besser als das
andere sein solle -- vorgezogen. Eben so richtig, aber auch eben so
wenig motivirt ist der von Leibnitz u. A. hervorgehobene Vorrang der
allgemeinen vor der besondern oder gar individuellen Glückseligkeit,
in Folge dessen das Wohl des Ganzen jenem des Theiles, dieses
jenem des Einzelnen zwar (mit Recht) vorzuziehen, der Grund aber,
durch welchen diese Bevorzugung gerechtfertigt (und welcher, wie
später gezeigt werden soll, ausschliesslich in der ursprünglichen
unbedingten Wohlgefälligkeit wohlwollender Gesinnung gelegen) ist,
eben so wenig anzutreffen ist.

143. Der andere Mangel, an dem jede Ethik als Güterlehre leidet,
aber kann auf keine Weise beseitigt werden. Dieselbe geht davon aus,
dass es Güter d. h. Objecte gebe, die begehrens-, und solche, die
verabscheuungswerth sind, und will durch die Angabe der ersteren,
wie durch die Ausscheidung der zweiten das gute d. h. auf Güter, von
dem bösen d. h. auf Uebel sich richtenden Wollen unterscheiden. Wenn
aber nach Obigem an jede Befriedigung des Wollens, gleichviel welches
dessen Object sei, ein Lustgefühl sich knüpft und jedes Object, dessen
Vorstellung ein Lustgefühl begleitet, ein Gut darstellt, so folgt,
dass das Object jedes Wollens, gleichviel welches es sei, ein Gut --
und daher jedes Wollen ohne Unterschied, weil auf ein Gut gerichtet,
ein gutes, folglich der Unterschied zwischen gutem und nicht gutem
Wollen illusorisch sei. Folge der Ethik als Güterlehre wäre daher,
entweder, dass jedes Wollen als Wollen gut (ethischer Optimismus), oder
dass kein Wollen besser als das andere (ethischer Indifferentismus),
oder dass kein Wollen gut (ethischer Pessimismus und Nihilismus),
oder, da jedes wirkliche Wollen aus dem Gefühl des Nichtbesitzes des
Gewollten d. i. aus einem Unlustgefühl hervorgeht, dass Nichtwollen
am besten sei (ethischer Quietismus). In keinem dieser Fälle ist
Ethik als Wissenschaft möglich.

144. Wie das wirkliche Wollen als Wirkendes Ursache, so ist es als
Bewirktes Wirkung eines Wirklichen. Kann nun dasjenige, wodurch ein
Wollen bewirkt wird, nur wieder ein Wille sein, so ist nur zweierlei
möglich: entweder ist der bewirkende Wille ein fremder d. h. der eines
von jenem, der will, unterschiedenen, oder der eigene d. i. der eines
mit demjenigen, welcher will, identischen Individuums. In beiden
Fällen kann der Wille entweder als befehlender, das eigene Wollen
als Wirkung jenes Willens als gehorchendes, oder als vorbildender,
das eigene Wollen als nachahmendes auftreten. Im ersten Fall nimmt das
gute Wollen die Form des pflichtmässigen, die Ethik als Wissenschaft
die Gestalt einer Pflichtenlehre, im zweiten Fall das vorbildende
Wollen die Rolle eines Tugendmusters, die Ethik als Wissenschaft die
Form einer Tugendlehre an.

145. Grund der Güte des Wollens ist in der ersten die Beschaffenheit
des befehlenden Willens. Ist dieser selbst gut, so ist es auch
sein Gebot (die Pflicht) und folglich auch das diesem gemässe
d. i. pflichtgemässe Wollen. Ist er dagegen das Gegentheil, so
ist es auch sein Gebot und folglich das Wollen desto schlechter,
je pflichtgemässer es ist. Soll daher die Ethik die Form einer
Pflichtenlehre annehmen dürfen, so muss zuerst ausgemacht sein,
dass der gesetzgebende Wille in der That der gute d. h. dass das
von ihm Gebotene niemals etwas anderes sein könne, als was des
Gebotenwerdens werth ist. Dieses aber kann weder einfach dadurch
erwiesen werden, dass dargethan wird, der gebietende Wille sei
der stärkste, noch dadurch, dass zu erweisen versucht wird, er sei
entweder der göttliche oder überhaupt ein höherer (übermenschlicher,
übersinnlicher, überempirischer), sondern allein dadurch, dass
dargethan wird, er sei der gute d. h. sein Inhalt stimme mit
demjenigen überein, was den Inhalt des Guten d. h. des am Wollen
unbedingt Wohlgefälligen ausmacht. Erweis der Güte des Gebots durch
den Nachweis, dass der gebietende Wille der stärkste d. h. stärker
als der gehorchende und folglich denselben zu zwingen vermögend sei,
würde das Faustrecht d. h. das angebliche Recht des Stärkeren bedeuten
d. i. den Grundsatz: dass dasjenige, was die Macht will, gut, nicht
aber, dass nur die Macht, die das Gute will, diejenige sei, der
man zum Gehorsam verpflichtet ist. Das zweite würde das Vorangehen
des Beweises erfordern, dass der Gesetzgeber, als dessen Gesetz das
gebotene Wollen sich kundgibt, wirklich Gott d. h. nicht blos ein
angeblicher, sondern der wirkliche Gott d. h. ein solcher sei, zu
dessen Eigenschaften es naturnothwendig gehört, nur das Gute d. i. das
sein Sollende, zu wollen. Da nun dieser Beweis nicht erbracht werden
kann, ohne das Gute d. i. das unbedingt Wohlgefällige am Wollen zu
kennen, auf dessen Uebereinstimmung mit dem angeblich göttlichen Gebot
eben die Anerkennung des letzteren als eines göttlichen beruht, so
setzt die Ethik als theologische d. i. das Gute auf das Gebot Gottes
zurückführende Wissenschaft, die Kenntniss des Guten als gewonnen
voraus, statt dieselbe zu gewähren. Wird jedoch der gesetzgebende
Wille statt in einen Andern, in das Innere des Wollenden selbst,
gleichsam als ein höherer, überempirischer in das menschliche,
empirische Individuum verlegt, so dass der Mensch gleichsam als ein
aus zwei Elementen, einem überempirischen und einem empirischen,
zusammengesetztes Doppelwesen erscheint, deren eines zum Befehlen,
das andere zum Gehorchen bestimmt ist, so kehrt dieselbe Schwierigkeit
wieder d. h. es muss neuerdings dargethan werden, dass der sich im
Menschen als der höhere geberdende Wille ("der Gott in uns") wirklich
den Anspruch besitze und nicht blos mache, als solcher anerkannt,
und dessen Gesetz die Berechtigung habe, nicht blos, weil es sein,
sondern weil es ein gutes Gesetz ist, Gehorsam zu fordern.

146. Selbst Kant's souveräner kategorischer Imperativ hat der
Verpflichtung, als gutes d. i. Gehorsam zu fordern berechtigtes Gebot
sich zu legitimiren, sich nicht zu entziehen vermocht. Freilich
thut er dasselbe nicht durch den Erweis, dass der Inhalt seines
Gebotes der gute, sondern dadurch, dass das Gegentheil desselben in
sich widersprechend sei. Der von ihm aufgestellte Satz: Handle so,
dass die Maxime deines Wollens fähig sei, als allgemeines Gesetz zu
dienen, soll nicht den Inhalt des Guten, sondern ein Kennzeichen
darbieten, denselben zu erkennen. Die Fähigkeit einer Maxime,
allgemein als Gesetz aufgestellt zu werden, verräth sich darin, dass
das Gegentheil derselben, als allgemeines Gesetz gedacht, sich selbst
widerspricht. Kant's Kriterium des Guten ist logisch, nicht ethisch.

147. Aber das Beispiel, das er gibt, führt nicht einmal zum
Widerspruch. Kant erweist die Pflicht, anvertraute Güter zurückzugeben,
auf die Weise, dass er bemerkt, im entgegengesetzten Fall würde es
keine anvertrauten Güter mehr geben. Allein die der Maxime, anvertraute
Güter zurückzustellen, entgegengesetzte Maxime, anvertraute Güter
nicht zurückzustellen, würde nur dann auf einen Widerspruch führen,
wenn sie verlangte, obgleich keine anvertrauten Güter vorhanden seien,
dennoch dergleichen zurückzustellen. Dieselbe führt jedoch auf keinen
Widerspruch, wenn sie, wie sie es wirklich thut, verlangt, anvertraute
Güter, wenn dergleichen vorhanden sind, nicht zurückzustellen.

148. Kant geht von dem richtigen Satze aus, dass jedes gute Gebot
allgemein giltig und schliesst daraus umgekehrt, dass jedes allgemein
giltige Gebot nothwendig gut sei. Er erweist daher statt, wie er
sollte, die Folge aus dem Grund, umgekehrt, wie er nicht durfte, den
Grund aus der Folge. Allgemein giltige Gebote sind nothwendig gute,
aber nicht alles, was allgemein gilt d. h. dessen Gegentheil auf
einen Widerspruch führt (wie z. B. mathematische Wahrheiten) ist ein
ethisches Gebot. In der kürzeren Form, welche Kant seinem obersten
Sittengesetze gibt: folge der praktischen Vernunft d. i. thue, was
du sollst, wird die leere Tautologie, in die sich der kategorische
Imperativ verwickelt, noch auffälliger. Denn da die Vernunft nichts
anderes ist als die Stimme des Sollens, so bedeutet jenes Gebot:
du sollst, was du sollst -- einen identischen Satz.

149. Der kategorische Imperativ oder die sogenannte praktische Vernunft
im Wollenden nimmt in Bezug auf den Inhalt ihres Gebots dem an sich
Guten gegenüber keine andere Stellung ein, als Gott und die sogenannte
göttliche Gesetzgebung ausserhalb des Wollenden. Wie die letztere,
um den angeblichen von dem wahren (d. i. eines Gottes würdigen) Willen
Gottes unterscheiden zu können, nach den Worten des Thomas von Aquin:
non ideo bonum est, quia deus præcepit, sed ideo deus præcepit, quia
bonum est, der Rechtfertigung durch Uebereinstimmung ihres Inhalts
mit jenem des an sich Guten (d. i. des unbedingt Wohlgefälligen am
Wollen) bedarf, so muss, um den Ausspruch der wahren von dem einer
blos vermeintlichen gebietenden Vernunft unterscheiden zu können,
der Inhalt desselben an dem Massstab einer andern, der über Werth und
Unwerth des Wollens unbedingt entscheidenden urtheilenden Vernunft
geprüft und durch diese entweder bestätigt oder verworfen werden.

150. Wie in der Pflichtenlehre der Grund der Güte des gehorchenden in
jener des befehlenden Willens, so liegt in der Ethik als Tugendlehre
der Grund der Güte des nachahmenden in jener des nachgeahmten
Willens. Dieselbe stellt, wie die stoische Moral in der Person des
stoischen Weisen, wie Aristoteles in seinem "gerechten Mann" (orthos
anêr) ein ethisches Ideal, das Bild einer vollendeten oder doch
für vollendet ausgegebenen idealen Persönlichkeit als Tugendmuster
d. i. als nachahmungswerthes Vorbild auf, durch dessen Nachahmung
das Wollen des Nachahmenden selbst tugendhaft, Mustertugend wird,
aus keinem andern Grunde, als weil und insofern es dem Wollen
des Tugendmusters gleicht. Ethik als Tugendlehre ist daher zwar
vorschreibend, insofern sie ein Vorbild zur Nachahmung aufstellt,
aber zugleich blos beschreibend, indem sie das Wesen des Tugendmusters
ausmalt. Die stoische Moral begnügte sich nicht damit, auf das Ideal
des Weisen als Muster hinzudeuten, sondern entwarf ein Charaktergemälde
desselben und seines Verhaltens in allen denkbaren Lebenslagen als
musterhaft. Die Ethik als Tugendlehre verfährt weder imperativ, noch
deducirend, sondern demonstrirend d. i. auf ein gegebenes, sei es
historisch in der Wirklichkeit, sei es poetisch in der idealen Welt,
Vorhandenes hinweisend und dasselbe ein- für allemal als ethische
Autorität d. i. als den schlechthinigen Ausdruck des an sich Guten
proclamirend. Wie Max von Wallenstein sagt: "Auf ihn nur braucht' ich
zu schau'n und war des rechten Pfad's gewiss" -- so zeigt die Ethik
als Tugendlehre auf jede Frage nach dem Guten, statt aller Antwort
auf den Guten hin, in dessen jeweiligem Wollen dasselbe verkörpert sei.

151. Soll dessen ethische Autorität nicht blos "auf Autorität"
hin, das Ideal des stoischen Weisen nicht blos auf das Zeugniss
der Stoiker, der orthos anêr nicht blos auf jenes des Aristoteles
hin als Tugendmuster gelten, so muss die Berechtigung derselben,
ideal d. i. absolut wohlgefälliges Vorbild zu sein, wissenschaftlich
d. i. durch Uebereinstimmung ihres Wollens mit dem an sich Guten
(d. i. dem unbedingt Wohlgefälligen am Wollen) vorher erwiesen
werden. Weil aber dieser Erweis die Kenntniss des Guten bedingt, das
gute Wollen nicht deshalb gut, weil es das Wollen des Guten (Mannes),
sondern der Gute deshalb gut ist, weil er das Gute will, so setzt
Ethik als Tugendlehre, statt selbst Wissenschaft des Guten zu sein,
vielmehr diese d. i. die Wissenschaft der Normen, nach welchen das
Wollen unbedingt gefällt oder missfällt, die ästhetische Wissenschaft
vom Wollen, die Willensästhetik voraus.

152. Güter-, Pflichten- und Tugendlehre als Formen der Ethik sind damit
gleichmässig abgelehnt. Die Eigenschaften des Wollens, welche dasselbe
zum guten machen, gehören nicht, wie bei jenen, dem wirklichen, sondern
ausschliesslich dem gedachten Wollen d. i. der blossen Vorstellung
eines solchen, dem Schein eines Wollens an. Wie ästhetischer Schein
überhaupt weder dadurch, dass etwas durch denselben hindurchscheint,
noch dadurch gefällt, dass er einem gewissen Subjecte scheint, sondern
allein dadurch, dass er gewisse unbedingt wohlgefällige Formen an
sich trägt, so gefällt das Bild eines Wollens weder dadurch, dass
dieses bestimmte Folgen nach sich zieht (wie in der Güterlehre),
noch dadurch, dass dieses das, sei es gebietende oder als Muster
vorgestellte Wollen eines Andern nachahmt (wie in der Pflichten-
und Tugendlehre), sondern allein dadurch, dass das Wollen gewisse
unbedingt wohlgefällige Formen an sich trägt. Die Aufstellung dieser
letzteren ist die Aufgabe der Ethik als Aesthetik des Wollens.

153. Zieht man von dem guten wirklichen Wollen die äussere Hülle
der Wirklichkeit ab, so bleibt der Gedanke, das Bild oder die
Vorstellung dieses Wollens allein übrig. Dieses Bild wird als
Vorgestelltes nicht nur mit einem gewissen Grade von Intensität
vorgestellt, sondern das Wollen, dessen Bild es ist, wird in diesem
als Wollen von einem bestimmten höheren oder niederen Intensitätsgrad
vorgestellt. Dasselbe wird ferner nicht blos in Beziehungen und
Verhältnissen (der Gleichheit, Ungleichheit, der Identität oder des
Gegensatzes) zu anderen ähnlichen oder unähnlichen Willensbildern
vorgestellt, sondern das Wollen, dessen Bild es ist, wird selbst
als in Beziehungen und Verhältnissen (der Uebereinstimmung oder
des Widerstreits) zu anderem, sei es Wollen, sei es Vorstellen,
stehend vorgestellt. Jenes ergibt einen quantitativen, dieses einen
qualitativen Gesichtspunkt zur Beurtheilung des Wollens.

154. Ersterer betrifft das Wie, letzterer das Was des vorgestellten
Wollens. Dasselbe wird von jenem aus entweder als stark, oder als
schwach, als reich und mannigfaltig, oder als dürftig und einförmig,
als wohlgeordnet und in sich zusammenhängend, oder als ordnungslos
und in sich zerrissen vorgestellt, und nach der ästhetischen
Idee der Vollkommenheit dem starken, reichen, zusammenhängenden
vor dem schwachen, armen und zusammenhanglosen Wollen der Vorzug
gegeben. Von diesem aus wird dasselbe entweder als mit einem anderen
Wollen (z. B. dem eines Andern) ganz oder theilweise identisch oder
demselben entgegengesetzt vorgestellt und nach der ästhetischen
Idee des Einklangs im ersteren Falle mit Lob, in letzterem mit Tadel
begleitet. Die Entwicklung und Aufzählung aller sowol vom quantitativen
als vom qualitativen Gesichtspunkt aus möglichen Fälle ergibt die
ethischen Ideen.

155. Diese Fälle sind folgende. Jedes Wollen als solches besitzt eine
Energie, mit welcher, und einen Inhalt, welcher gewollt wird. Wird
die erstere d. i. das Quantum des Wollens, ohne Rücksicht auf den
letzteren, das Quale des Wollens, allein ins Auge gefasst, so ergibt
sich der quantitative, findet das Gegentheil statt, der qualitative
Gesichtspunkt seiner Beurtheilung. Weil jede Bethätigung des Wollens
als eines Ueberwindens entgegenstehender Hemmnisse von Lustgefühl
begleitet ist und sich dasselbe in gleichem Grade steigert, als das
aufgewendete Quantum der Wollensbethätigung wächst, so muss mit der
Vorstellung des grösseren Quantums von Wollensbethätigung nothwendig
ein grösseres, mit der Vorstellung eines mit dem ersteren verglichen
kleineren Wollensquantums eben so nothwendig ein geringerer Grad von
Lustgefühl verbunden sein d. h. das stärkere Wollen gefällt neben dem
schwächeren, das schwächere missfällt neben dem stärkeren. Dieser
Erfolg besteht so lange, als das proportionale Verhältniss
zwischen den beiden unter einander verglichenen Wollensquantitäten
dasselbe bleibt. Ob die beiden unter einander ihrer relativen
Stärke nach verglichenen Wollen als einem und demselben oder als
verschiedenen wollenden Wesen angehörig gedacht werden, macht dann
keinen Unterschied. Wächst das kleinere Wollensquantum, oder nimmt
das grössere ab, so dass schliesslich beide den gleichen Grad von
Stärke besitzen, oder bei fortwährendem Wachsen des kleineren oder
Abnehmen des grösseren das schwächere zum stärkeren, das stärkere zum
schwächeren Wollen wird, so hört in dem einen Fall, da beide gleich
stark geworden sind, jeder Vorzug des einen vor dem andern auf,
in dem andern Fall, da das schwächere zum stärkeren geworden ist,
kehrt sich das Verhältniss um, das vorher wohlgefällige missfällt,
das vorher missfällige wird wohlgefällig. In beiden Fällen stellt das
stärkere den Massstab des schwächeren, jenes gleichsam das "Volle"
dar, zu welchem dieses erst "kommen" soll.

156. Wird das Quantum des Wollens hierbei als über jedes erreichbare
Mass hinaus fortschreitend vorgestellt, so geht die Vorstellung des
starken in die des durch seine Stärke erhabenen Wollens d. i. eines
solchen über, im Vergleich mit welchem jede dem Vorstellenden
selbst als Wollendem erreichbare Stärke seines Wollens in nichts
verschwindet. Das in diesem Fall vorgestellte Wollen erscheint mit
dem des Vorstellenden selbst verglichen unendlich (d. h. über jede
diesem vorstellbare Grenze hinaus) gross; das eigene Wollen des
Vorstellenden diesem mit jenem verglichen unendlich (d. h. über
jede von diesem vorstellbare Grenze hinaus) klein. Letzterer
Umstand ruft in dem Vorstellenden das unangenehme Gefühl seiner
Schwäche als wollendes, dagegen das Bewusstsein, einen dem seinen
unendlich überlegenen Willen zwar nicht im Wollen erreichen, aber
doch wenigstens mit seiner vorstellenden Kraft vorstellen zu können,
das angenehme Gefühl der eigenen Stärke als vorstellendes Wesen hervor,
so dass beide, dieses Lust- und jenes Unlustgefühl zusammen, jenem über
alles Mass hinaus gesteigerten Wollen gegenüber wieder das gemischte
Gefühl des Erhabenen erzeugen. Letzteres mag, da es ein Wollen ist,
zum Unterschied von dem im Vorangehenden erwähnten, welches nur auf
der Ueberschreitung der Grenze des Vorstellbaren beruhte, mit einem
Kant'schen Ausdruck das dynamisch Erhabene heissen.

157. Wird, wie oben vom Quale, so vom Quantum des vorgestellten Wollens
ab und nur auf das Was desselben gesehen, so ergeben sich, da in Bezug
auf den Umstand, dass überhaupt etwas gewollt wird, ein Wollen dem
andern gleicht, in Bezug auf dasjenige, welches gewollt wird, aber,
weil jede beliebige Vorstellung Sitz eines Wollens werden kann, eine
so unendliche Mannigfaltigkeit stattfindet, dass von einer Aufzählung
oder Vergleichung derselben unter einander keine Rede sein kann,
nur nachstehende Fälle. Das vorgestellte Wollen wird entweder auf den
Wollenden selbst oder auf einen anderen Wollenden bezogen, letzterer
aber entweder als blos in der Vorstellung des ersten vorhanden, oder
als wirklich vorhanden vorgestellt. Findet das erste statt d. h. wird
das Wollen des Wollenden auf den Wollenden selbst bezogen, so muss
etwas in diesem als vorhanden vorgestellt werden, was sich mit dessen
Wollen vergleichen lässt. Wird dagegen das Wollen auf einen Anderen
bezogen, so muss in diesem etwas vorhanden gedacht werden, das sich
mit dem Wollen jenes ersten vergleichen lässt. Dasjenige im Wollenden,
mit dem sich sein Wollen vergleichen lässt, kann nun nichts anderes
sein, als das Bild dieses Wollens d. h. die Vorstellung, die er sich
selbst von seinem Wollen macht. Dasjenige im Andern, womit das Wollen
des ersten verglichen wird, seinerseits kann wieder nur ein Wollen,
und zwar entweder als blos gedachtes d. i. nur in der Vorstellung des
ersten vorhandenes, oder als wirkliches, thatsächlich existirendes
im zweiten sein.

158. Das Bild, das sich der Wollende von seinem eigenen Wollen macht,
gehört dessen Vorstellen (dem Intellect), das Wollen selbst, von dem er
ein Bild sich macht, dessen mit der Vorstellung der Erreichbarkeit des
Angestrebten verbundenem Streben (dem Willen) an: beide, das Bild des
Wollens im Intellect und das wirkliche Wollen des Willens des Wollenden
verhalten sich zu einander, wie Vorbild und Nachbild, Original und
Copie; der Intellect entwirft das Bild eines gewissen möglichen Wollens
(Willensproject), der Wille führt es aus oder auch nicht im wirklichen
Wollen (Willensact). Im ersten Fall trägt das wirkliche Wollen die Züge
des gedachten d. h. dasselbe ahmt das letztere nach; im letzteren Fall
fallen Willensproject und Willensact, auf ihren Inhalt hin angesehen,
gänzlich aus einander, gedachtes und wirkliches Wollen decken einander
nicht. Beide Fälle, die auf der einseitigen Identität des gedachten
und des wirklichen Wollens beruhen, wiederholen die ästhetische Idee
des Charakteristischen auf dem Gebiete des Wollens.

159. Wie jene allgemein darin besteht, dass sich der gesammte Inhalt
des Nachbildes am Vorbilde, dagegen nicht alles, was letzterem
eigen ist, an dem ersten findet, so besteht das Verhältniss zwischen
gedachtem und wirklichem Wollen darin, dass der gesammte Inhalt des
wirklichen sich in dem Inhalt des gedachten, nur mit dem Unterschied
vorfindet, dass er das einemal nur als Gedanke (Vorstellung, Bild,
ideal), das anderemal als Wollen (wirklich, real) vorhanden ist. Wie
unter der Herrschaft der Idee des Charakteristischen Original
und Portrait einander so nahe kommen, dass nur der Umstand, dass
das eine ein wirklich, das andere ein nur scheinbar belebtes ist,
sie von einander scheidet, so kommen im vorliegenden Verhältniss
gedachtes und wirkliches Wollen mit einander so vollkommen überein,
dass nur der Umstand, dass das eine als wirklich nur gedachtes, das
andere ein Gedachtes verwirklichendes Wollen ist, sie trennt. Der
unbedingte Beifall, welcher die erstere, die Harmonie zwischen
Vorbild und Nachbild, begleitet, kann daher auch dem letzteren,
welches die Harmonie zwischen gedachtem und wirklichem Wollen des
Wollenden ausdrückt, eben so wenig fehlen, wie dessen Gegentheil,
der Disharmonie zwischen beiden, das unbedingte Missfallen.

160. Wie die Beziehung zwischen gedachtem und wirklichem Wollen im
Wollenden selbst auf der einseitigen, so beruht jene zwischen dem
wirklichen Wollen des Wollenden und seiner Vorstellung vom Wollen
eines Andern auf jenem der gegenseitigen Identität. Beide Fälle
haben das mit einander gemein, dass beide Glieder, deren Beziehung
unter einander das Verhältniss ausmacht, dem Bewusstsein eines
und des nämlichen Individuums (des Wollenden) angehören; ferner,
dass diese Glieder jedesmal je ein gedachtes und ein wirkliches
Wollen sind; der Gegensatz beider Fälle aber besteht darin, dass
das gedachte Wollen, auf welches das wirkliche Wollen sich bezieht,
in dem einen Fall als das eigene des Wollenden, in dem anderen als
das eines Anderen gedacht wird. Wie nun im ersten Fall das gedachte
eigene zum Vorbild des eigenen wirklichen Wollens, so wird in dem
hier vorliegenden Falle das gedachte fremde zum Vorbild des eigenen
wirklichen Wollens. In jenem Fall wird das Bild des eigenen Wollens, in
diesem das Bild des fremden Wollens vom Wollenden nachgeahmt, so dass
in jenem Harmonie zwischen gedachtem eigenem und eigenem wirklichem,
in diesem dagegen Harmonie zwischen gedachtem fremdem und wirklichem
eigenem Wollen stattfindet. Gedachtes fremdes und eigenes wirkliches
Wollen werden dabei ihrem Inhalt nach congruent, dem Umstand nach,
dass das eine blos gedacht, das andere wirklich, das eine eigenes,
das andere fremdes Wollen ist, als gegensätzlich vorausgesetzt; jedes
der beiden Verhältnissglieder hat durch die Identität des Inhalts
etwas, und zwar ein Ueberwiegendes mit dem andern gemein und jedes
etwas, wenngleich nichts überwiegendes, das eine die Eigenschaft,
dass es eigenes und wirkliches, das andere die entgegengesetzte,
dass es gedachtes und fremdes Wollen ist, vor dem anderen voraus.

161. Dass in diesem Willensverhältniss die ästhetische Idee des
Einklangs auf ethischem Felde wiederkehrt, braucht kaum erst
hervorgehoben zu werden. Gedachtes fremdes und eigenes wirkliches
Wollen verhalten sich zu einander wie die überwiegend identischen,
obgleich jedes dem andern theilweise entgegengesetzten Glieder einer
Ton-, Farben- oder Gedankenharmonie. Wie dieser auf ästhetischem,
so kann jenem Willensverhältniss auf ethischem Gebiet das unbedingte
Lob eben so wenig ausbleiben, wie seinem Gegentheil, der Disharmonie
zwischen gedachtem fremdem und eigenem wirklichem Wollen der unbedingte
Tadel.

162. Schon hier mag erwähnt sein, dass der Einklang des eigenen
wirklichen mit dem gedachten fremden Wollen nicht mit der inhaltlichen
Uebereinstimmung des eigenen mit fremdem Lust- oder Unlustgefühl,
wie sie in den bekannten psychischen Phänomen des sogenannten
Mitgefühls zu Tage tritt, verwechselt werden dürfe. Jener drückt
eine Beziehung eigenen Wollens auf fremdes, dieses zwar gleichfalls
eine Beziehung eigener auf fremde Gemüthszustände, jedoch nicht eine
solche des Wollens, sondern des Fühlens aus. Das sympathetische Gefühl
ist die Wiederholung eines fremden oder die Entstehung eines jenem
entgegengesetzten Gefühls im eigenen Gemüth, obiges Willensverhältniss
dagegen die Wiederholung eines dem fremden gleichen oder die Entstehung
eines jenem entgegengesetzten Wollens im eigenen Willen. Jenes ist
bei dem Mitleid und der Mitfreude, wo das Leid des Andern Leid, die
Lust des Andern Lust in uns hervorruft, einerseits -- bei Neid und
Schadenfreude, wo die Lust des Andern Leid und das Leid des Andern
Lust in uns nach sich zieht, andererseits der Fall. Dieses ereignet
sich, wenn ein (wirklich oder vermeintlich) vorhandener Wunsch oder
Wille eines Andern Veranlassung wird, unsererseits dasselbe, oder
zum Grund für uns wird, das ihm Entgegengesetzte zu wollen.

163. Das sympathetische Gefühl, welches durch Nachahmung der Gefühle
eines Andern und obiges Willensverhältniss, welches durch Nachahmung
der Wünsche eines Andern von unserer Seite entsteht, haben nichts
weiter mit einander gemein, als dass in beiden Fällen der Andere
durch seine inneren Vorgänge Ursache wird gewisser Vorgänge in uns,
mit dem bedeutsamen Unterschied, dass bei dem sympathetischen Gefühl,
auch wenn die nachgeahmten Gemüthszustände nicht wirklich vorhanden
sind, doch gewisse Zeichen, welche als Aeusserungen derselben gelten
können (z. B. Thränen als Zeichen des Leides, Lachen als solches der
Freude) wirklich wahrgenommen (also wenn jener Gemüthszustand nicht
wirklich vorhanden ist, künstlich, wie es beim Schauspieler der Fall
ist, erzeugt) werden müssen, dass also der Andere jedenfalls wirklich
vorhanden sein muss; während bei obigem Willensverhältniss das Wollen
des Andern blos gedacht, daher eben so wie dieser Andere selbst nur
in der Vorstellung des Wollenden als dessen Gedanke (Imagination)
zu existiren nöthig hat.

164. Ein neues Willensverhältniss entsteht, wenn das Wollen des
Andern, auf welches das des Wollenden bezogen wird, nicht blos
gedacht d. h. nur als Gedanke im Wollenden vorhanden, sondern wirklich
d. h. unabhängig von dessen Gedacht- oder Nichtgedachtwerden neben und
ausser dem Wollenden vorhanden ist. In diesem Fall muss, da wirkliches
Wollen nicht ohne wollendes Subject als Träger desselben gedacht werden
kann, jener Andere selbst als Wollender neben und ausser dem ersten
Wollenden als wollendes Du neben dem wollenden Ich als existirend
gedacht werden. Das Willensverhältniss, welches bisher nur in einer
Beziehung, sei es des eigenen gedachten zum eigenen wirklichen,
sei es des wirklichen eigenen zum fremden gedachten Wollen, sonach
innerhalb des Bewusstseins eines einzigen Wollenden bestand, erweitert
sich durch die Beziehung des wirklichen eigenen zu fremdem wirklichem
Wollen über die Sphäre des individuellen Bewusstseins hinaus zu einer
Beziehung, welche zwischen zwei verschiedenen Wollenden angehörigen
Wollen d. i. zu einem solchen, welches zwischen zwei verschiedenen
Individuen besteht und daher nicht ohne Hinaustreten des einen wie
des andern der beiden auf einander zu beziehenden wirklichen Wollen
über die Grenze der Innen- in die Atmosphäre der Aussenwelt gedacht
werden kann. Dass diese letztere hiebei für beide eine gemeinsame
sein muss, leuchtet von selbst ein. Wäre sie es nicht d. h. wäre die
Welt, in welche das Wollen des einen, von der Welt, in welche das
des andern hinaustritt d. i. sich äussert, in der Weise verschieden,
dass, was in der einen geschieht, in keiner Weise zu jenem, was in der
andern vor sich geht, eine Beziehung zu haben vermöchte, so könnte
auch zwischen dem Wollen des einen (des Ich) und jenem des andern
(des Du) als gänzlich ausser einander gelegenen Welten angehörig,
keine solche bestehen, und das Willensverhältniss, von dem hier die
Rede, wäre einfach unmöglich.

165. Dadurch, dass die Aeusserungen beider wirklicher Wollen in
eine beiden gemeinsame Aussenwelt fallen, ist nur die Möglichkeit,
keineswegs die Wirklichkeit einer Beziehung zwischen denselben
hergestellt. So lange die beiderseitigen Willensäusserungen neben,
aber auch ausser einander herlaufen können, ohne dass eine der andern
auf ihrem Wege begegnet, mögen sie beide zwar ihrem Inhalt nach
d. h. in Gedanken und als gedachte Willensbestrebungen mit einander
verglichen werden; zwischen beiden als wirklichen d. i. als wirkenden
Wollen besteht, so lange keiner derselben auf den andern wirkt,
kein wirkliches Verhältniss.

166. Letzteres tritt erst ein, wenn die eine Willensäusserung auf
die andere trifft, und zwar in der Weise, dass dieselbe weder durch
die andere, noch diese durch jene hindurchgehen kann, ohne einander
zu stören, sondern dass die eine die andere und diese jene in ihrem
Fortschreiten hemmt d. h. dass beide, als gleichzeitig bestehend
gedacht, mit einander unverträglich sind. Beide Willensäusserungen
stehen sodann unter einander in einem Verhältniss, welches dem der
gegenseitigen Ausschliessung des seinem Inhalt nach überwiegend
Entgegengesetzten entspricht und, wie dieses einen Conflict zwischen
mit einander unverträglichen Vorstellungen im Denken, so einen
solchen zwischen mit einander unverträglichen Wirklichen im Sein
darstellt. Jene als einander ausschliessende Gedanken können nicht
mit einander zugleich gedacht, diese als einander ausschliessende
Kräfte können nicht als mit einander zugleich bestehend ertragen
werden. Ausdruck dieses Conflicts ist der Streit beider Wollenden.

167. Willensacte (volitiones) sind "Gedanken, die leicht bei einander
wohnen"; Willensäusserungen (actiones) sind "Sachen, die sich hart
im Raume stossen". Jene, auch wenn sie dem Inhalt nach einander
ausschliessen, überschreiten die Grenze des Bewusstseins ihres Trägers
nicht; diese, auch wenn sie dem Inhalt nach mit einander verträglich
sind, gehen über dieses hinaus und treten als Veränderungen in der
Aussenwelt d. i. als Verschiebungen der bisherigen Lage der Dinge in
der letzteren auf. Auch wenn die Willensäusserung in nichts anderem
besteht als in einem Ausruf, einem gesprochenen Wort, einer Miene,
einer Gliederbewegung des eigenen Leibes des Wollenden, so wird durch
dieselbe eine Aenderung der bisherigen Sachlage, durch den Ruf, das
Wort eine Erschütterung der den Raum erfüllenden atmosphärischen Luft,
durch die Geberde, die Handbewegung eine Umstellung der Masse des
eigenen organischen Leibes herbeigeführt, welche bei der stetigen
Erfüllung des Raumes mit Nothwendigkeit eine Ortsveränderung der
angrenzenden Luft- oder Stofftheile herbeiführen und so als nähere
oder entferntere Wirkung des durch den Willen gegebenen Impulses
durch den Raum und die Materie sich fortpflanzen muss. Da sonach
jede Willensäusserung als solche einen gewissen Theil des den Raum
erfüllenden dünneren oder dichteren Stoffes für sich in Anspruch
nimmt, so kommt es ganz auf die Natur dieses letzteren an, ob derselbe
fähig sei, zweien oder mehreren Willensäusserungen als Werkzeug der
Aeusserung zugleich zu dienen. Ist der Stoff, welchen der Wille zu
seiner Aeusserung gebraucht, von der Art, dass er zugleich von einem
andern, von jenem verschiedenen Wollen zu dessen Aeusserung verwendet
werden kann d. h. ist derselbe für beide Wollen durchdringlich
(permeabel), so entsteht kein Streit: die Aeusserung des einen geht
durch die Aeusserung des anderen Willens hindurch, ohne dieselbe zu
hindern oder durch sie gehindert zu werden. So gehen die Schallwellen,
die das gesprochene Wort des einen erzeugt, durch jene, die das
des andern hervorruft, dem Anscheine nach ohne einander zu stören,
hindurch, indem beiden dieselbe den Raum erfüllende atmosphärische
Luft zum Schallorgan dient. Ist dagegen jener Stoff von solcher
Beschaffenheit, dass derjenige Theil desselben, welcher von einem
Willen als Instrument seiner Aeusserung in Beschlag genommen ist, nicht
zugleich von einem andern zu gleichem Zweck in Besitz genommen werden
kann d. h. ist der von einem Wollen erfüllte Stoff undurchdringlich
(unpermeabel) für ein anderes Wollen, so stellt er den Stein des
Anstosses dar, an dem beide Wollen und in dem sie beide an einander
prallen; es entsteht ein Zustand, der so, wie er ist, nicht dauern und
so lange beide Wollen dieselben bleiben, die sie sind, nicht anders
werden kann. Eine unhaltbare und doch thatsächliche Sachlage --
ein realer d. i. real gewordener Widerspruch.

168. Von dieser Art war die Situation, von welcher Carl V. sagte,
"dasselbe, was mein Bruder Franz will, will ich auch, nämlich
Mailand." Indem das Object beider Wollen ein solches ist, dass es nur
einem oder keinem von beiden dienen kann und doch beide Wollen solche
sind, dass sie nicht aufhören, eben dieses Object zu begehren, wird
eine Sachlage geschaffen, welche, obgleich factisch, doch irrational
und obgleich irrational, doch factisch ist, als unabweislich zugleich
und undenkbar sich aufdrängt.

169. Ausdruck dieses Eindrucks im Zuschauer ist der unbedingte Tadel,
der dem Streite folgt. Derselbe kann, da der Grund des Streites
einerseits in dem Umstand, dass beide dasselbe Object wollen,
andererseits in dem Umstand, dass dieses seiner Natur nach nicht
beiden zugleich nachzugeben vermag, gelegen ist, nicht der Natur des
Objects, die als solche unveränderlich durch Naturgesetze gegeben ist,
sondern nur den beiden Wollenden gelten, deren Wille der Natur des
Wollens nach veränderlich und von der Selbstbestimmung der Wollenden
abhängig ist. Da nun obiger Tadel so lange sich erneuert, als obige
Sachlage unverändert fortbesteht, letztere aber nur eine Aenderung
erfahren kann, wenn, da die Natur des Objects unveränderlich ist,
eines der beiden streitenden Wollen, oder wenn beide eine Abänderung
erleiden, so folgt, dass, um dem Tadel zu entgehen, kein anderer Ausweg
möglich ist, als dass das streitende Paar, oder wenigstens einer der
Streitenden vom Streite ablässt d. i. sein bisheriges Wollen ändert,
auf das Object desselben verzichtet, dasselbe freilässt.

170. Durch diese Aenderung des Wollens erlischt der Streit, es wird
Friede. Das Object, das den Anlass zum Streite bot, ist dasselbe
geblieben, das es war, nur der nach seiner Beschaffenheit äusserliche,
zufällige Umstand, dass es zugleich Gegenstand zweier Wollen und
dadurch Grund geworden war, dass diese sich als unverträglich mit
einander an den Tag legten, ist geschwunden. Dasselbe kann nunmehr
entweder, wenn beide verzichtet haben, ruhig an seinem Ort beharren
oder wenn nur einer verzichtet hat, ohne Anstand dem Wollen des Anderen
Raum geben. Der unerträgliche, weil in sich widersprechende Zustand
besteht nicht mehr, weil die mit einander unverträglichen Wollen
nicht mehr bestehen d. h. weil die Wollenden, die bisher sich unter
einander ausschlossen, sich jetzt entweder, weil keiner mehr, oder,
weil nur mehr einer will, was er wollte, sich unter einander vertragen.

171. Je nachdem dieses nunmehrige Sichvertragen der Wollenden
stillschweigend erfolgt oder ausdrücklich durch eine, wie immer
geartete Kundgebung von Seite der Wollenden (Vertrag, pactum)
bekräftigt wird, nimmt der hergestellte Friede selbst natürlichen oder
positiven, vertragsmässigen Charakter an. Je nachdem die Aenderung des
Wollens, auf deren Grund hin der Streit erlischt, sei es bei einem,
sei es bei jedem der Streitenden entweder nur aus dem Grunde erfolgt,
weil derselbe oder dieselben zur Einsicht gelangt sind wegen gänzlicher
Erschöpfung an physischer Kraft nicht mehr streiten zu können, oder
weil einer oder beide die Ueberzeugung gewonnen haben, es bringe
grösseren Vortheil Frieden zu schliessen als weiter zu streiten,
oder endlich weil derselbe oder dieselben ausser Stande sich fühlen,
den, so lange der Streit fortwährt, stets sich erneuernden Tadel,
welcher die Streitenden trifft, weiter zu tragen, nimmt der Friede
selbst entweder den Charakter eines blossen "Nothfriedens" oder den
eines "Schacherfriedens", oder im letzten Falle den eines sittlichen
d. h. eines um keines andern Motives willen, als um dem ethischen
Tadel des Streites zu entgehen, geschlossenen Friedens an.

172. Nur der letztgenannte ist dauerhafter, beide vorher angeführten
sind lediglich vorübergehender Natur. Der aus keinem anderen Grunde
entstandene Friede, als weil die streitenden Parteien sich erschöpft
fühlen, während der Wille zu streiten, wenn die Kräfte zureichten, nach
wie vor vorhanden bleibt, besteht nur so lange, als das Kraftgefühl
mangelt; mit dem Erwachen des letzteren hebt der Streit wieder an. Der
um des materiellen Vortheiles willen geschlossene Friede aber währt
nur so lange, als die Aussicht auf Erlangung grösserer Vortheile durch
den Frieden, als durch den Streit besteht; von dem Augenblicke an,
als diese Aussicht schwindet, oder die ihr entgegengesetzte sich
eröffnet, hört auch der Wille Frieden zu halten auf und schlägt in
den entgegengesetzten, von neuem Streit zu beginnen, um. Bestand
und Dauer des Friedens hängen sonach in beiden Fällen nicht von
dem an sich unwandelbaren Urtheil über den unbedingten Unwerth des
Streites, sondern von äusseren Umständen ab: in dem einen Fall von
denjenigen Verhältnissen, welche den Wiederersatz der verlorenen Kräfte
beschleunigen oder verzögern, in dem andern Falle von den Umständen,
welche die Erlangung materieller Vortheile durch den Frieden oder
durch den Streit begünstigen oder verhindern. Nur derjenige Friede,
der auf der Macht der Einsicht in die Verwerflichkeit des Streites
über Gemüther und Wollen der im Streit begriffen Gewesenen beruht,
trägt die Bürgschaft unveränderten Fortbestandes, so lange jene Macht
unverändert sich forterhält, in sich. Die Erhaltung letzterer Macht
aber ist so lange gesichert, als das ethische Urtheil des Wollenden
ungetrübt, seine Beurtheilung des Streites von dessen den Widerspruch
in sich tragender Natur ausschliesslich bestimmt und dadurch die
Wiedererneuerung unbedingter Verwerfung desselben in jedem gegebenen
Falle unvermeidlich ist.

173. Wie die natürliche Correctheit d. i. die Abwesenheit einander
ausschliessender Vorstellungen im Bewusstsein zur künstlichen d. i. zu
der sei es zufällig, sei es willkürlich "auf Zeit" hervorgebrachten
Verdrängung der unverträglichen aus dem und Ersatz derselben durch
mit einander verträgliche Vorstellungen in dem Bewusstsein, so verhält
sich der natürliche d. i. der Friede von Natur aus, innerhalb dessen
unter einander ausschliessende Willensäusserungen überhaupt nicht
vorkommen, zum künstlichen d. i. zu demjenigen Friedenszustande,
innerhalb dessen thatsächlich vorhanden gewesene mit und unter einander
unverträgliche Willensäusserungen, sei es in Folge physischer Ursachen
(z. B. Erschöpfung der Kräfte) zufällig oder in Folge den Willen
bestimmender Motive (z. B. der Schädlichkeit oder der Verwerflichkeit
des Streites) willkürlich "auf Zeit und Kündigung" beseitigt und
durch mit einander verträgliche Willensäusserungen ersetzt worden
sind. Derselbe verheisst desto grössere Festigkeit, je dauerhafter die
Gründe sind, welche die Ausschliessung der mit einander unverträglich
gewesenen Willensäusserungen bewirkt haben; dagegen desto geringere,
je wandelbarer und von der Laune des Geschickes abhängiger die Motive
waren, welche die ursprünglich Streitenden zur Ablassung von jenem
ihren Streit erregenden Wollen bewogen haben. Jenes ist, wie oben
gezeigt, bei demjenigen Beweggrund vom Streite abzustehen, der aus
der Einsicht von dessen Verwerflichkeit entspringt, dieses dagegen
bei denjenigen Friedensgründen der Fall, welche nur durch die Noth
oder den äusseren Nutzen dictirt sind.

174. Der künstliche Friede erstickt den Streit, aber nur für so
lange, als der Wille nicht zu streiten, die Oberhand behält. Mit dem
Verschwinden oder dem Nachlassen der Macht des letzteren taucht der
Streit wieder empor; dessen "schlangenhaariges Scheusal" schlummert
nur gebändigt aber nicht vernichtet unter der künstlichen Decke des
Friedens. Der hergestellte Friede ist auf sein Wesen hin angesehen
scheinbarer, nicht wirklicher; die wirklich vorhandenen, nur künstlich
beseitigten sind die einander ausschliessenden Willensäusserungen
("bellum omnium contra omnes"), der Unfriede. Letztere sind nicht
absichtlich mit Wissen durch das Wollen der Streitenden, sondern sie
sind unabsichtlich, ohne Wissen, ja voraussichtlicher Weise gegen
den Willen der durch dieselben mit einander in Streit Gerathenden
herbeigeführt. Das Wollen, dessen Aeusserung an einem bestimmten Punkte
der Aussenwelt mit der eines Anderen feindselig zusammentrifft, hat
weder vor dem Zusammentreffen von dem Vorhandensein des Du noch von
dessen auf jenes Object sich richtendem Wollen, also auch nicht von
der Möglichkeit, noch weniger von der Unausweichlichkeit des Streites
eine Vorstellung gehabt, dasselbe hat folglich diesen weder gewollt
noch wollen gekonnt und würde möglicher Weise, wenn es desselben
Bevorstehen gekannt hätte, die streitdrohende Aeusserung seines Willens
nicht gewollt haben. Das Wollen der Streitenden ist an der Entstehung
des Streites keineswegs ohne Schuld, aber jeder der Streitenden ist
am Streite unschuldig; jener wäre nicht entstanden, wenn keiner von
beiden das Streitobject gewollt hätte; aber keiner von beiden hat
das Object als Streitobject und eben so wenig einer von beiden den
Streit gewollt. Der Tadel, der dem Streit gilt, trifft darum jeden der
Streitenden nur insofern, als ohne das Wollen desselben kein Streit
entstanden wäre; derselbe trifft beide Streitende in gleichem Grade,
weil beide an dem Zustandegekommensein des Streites im gleichen Grade
in einem Sinn betheiligt, im anderen unbetheiligt sind.

175. Die gleiche Vertheilung des Tadels auf beide Wollende hört auf,
wenn die gleiche Betheiligung beider Willenssubjecte an dem zwischen
denselben stattfindenden Verhältniss ein Ende nimmt. Dieser Fall
tritt ein, wenn das Zusammentreffen beider Wollenden nicht zufällig,
ohne Wissen und Absicht beider, sondern absichtlich, mit Wissen und
durch das Wollen des einen von beiden, dagegen ohne Wissen und wider
den Willen des anderen herbeigeführt wird. Jener, dessen gewusstes
und gewolltes Object nicht, wie im vorhin geschilderten Falle des
Streites ein beliebiges, sondern ein Anderer und zwar der Andere,
das Du, und dessen jeweiliger Zustand ist, heisst insofern der Thätige
(agens), dieser, der ohne Wissen und Willen, ja selbst wider Willen,
mit seinem jeweiligen Zustand Object für die Willensäusserung des
ersten ist, heisst insofern der Leidende (patiens). Letzteres nicht
in dem Sinn, als müsse die Folge seines Objectseins für den Anderen
eben ein eigentliches Leid d. i. ein Schmerzgefühl sein, sondern in
dem Sinn, dass die Veränderung seines gegenwärtigen Zustandes, sei es
zum Schlechteren oder zum Besseren, eben die Folge der ihn zum Object
wählenden Willensäusserung des Thätigen sei. An der Verursachung dieser
Folge d. i. an der Veränderung des bisherigen Zustandes, welche der
eine erzeugt, der andere nur duldet, sind beide ungleich betheiligt.

176. Wie Hammer und Ambos verhalten sich Thätiger und Leidender. Das
geschmiedete Eisen ist Wohl oder Wehe des Leidenden. Das Schmieden des
Eisens erfolgt durch den Hammer, aber auf dem Ambos; die Veränderung
der bisherigen Sachlage nicht ohne den Leidenden, an dem, aber
durch den Thätigen, von dem sie vollzogen wird. Jene selbst, mit dem
bisherigen Zustande verglichen, stellt eine Störung desselben dar;
der Urheber derselben, der Thätige, erscheint als Störenfried. Ausdruck
dieser Störung d. i. derjenige von dem bisherigen verschiedene Zustand,
welcher durch den Thätigen verursacht ist, ist die That. Dieselbe als
Zustand, der jetzt ist und vorher nicht war, ist ein Wirkliches und
als solches die Wirkung eines Wirkenden (des Thäters). Diese Wirkung
selbst aber ist in dem Geiste des Wirkenden vorgebildet als Vorsatz
(Absicht) und in dem Zustande des durch dieselbe betroffenen Leidenden
abgebildet als Folge (Erfolg). Nur wo beide, Vorsatz im Thätigen,
Erfolg im Leidenden, einander decken, ist wirklich That; wo der
Erfolg mangelt, ist, wenn das Wollen nicht zur Aeusserung gelangt ist,
Intention ohne Action, wenn das Wollen zu nur unvollkommener Aeusserung
gelangt ist, Versuch ohne Gelingen, wenn dagegen zwar der Erfolg,
aber weder Versuch noch Absicht voranging, blosses Ereigniss vorhanden.

177. Da, wo keine That, auch kein Thäter vorhanden ist, so kann für
das nackte Ereigniss, das sich an dem einen der beiden Wollenden, dem
Leidenden, vollzieht, der andere der beiden, der sogenannte Thätige,
zwar vielleicht als eine der mitbedingenden Ursachen, niemals aber
kann das Wollen desselben als Ursache jenes Ereignisses angesehen
werden. Da ferner, wo kein Erfolg, keine That, aber doch Absicht, ja
Versuch einer solchen vorhanden ist, so kann für das Nichteintreten des
Erfolges am Leidenden zwar die geistige oder körperliche Beschaffenheit
des sogenannten Thätigen (dessen Unverstand oder Ungeschick) als
eine der Mitursachen des Ausbleibens des Erfolges, niemals aber
kann dessen Wollen als die Ursache des Nichtgelingens betrachtet
werden. Wird daher, wie es auf ethischem Gebiete der Fall ist, nur
das Wollen beurtheilt, so fällt in dem ersten der beiden angeführten
Fälle der sogenannte Thätige ganz ausserhalb des Kreises ethischer
Beurtheilung, in dem zweiten dagegen zwar in denselben hinein, aber
da dessen anderweitige psychische und physische Mängel, welche das
Misslingen des Erfolges herbeigeführt haben, den Schluss auf eine
ähnliche Mangelhaftigkeit in Bezug auf Beherrschung und Regelung
seines Wollens gestatten, unter mildernden Umständen.

178. Durch die That als Störung des bisherigen Zustandes ist etwas
geschehen; aber so lange dieselbe als That d. i. als Störung nicht
anerkannt ist, scheint es, als sei nichts geschehen. Oedipus hat
seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet, aber nach
aussen scheint es, als habe er weder das eine noch das andere
gethan. Gegen scheltende Knechte eines unbekannten Reisenden hat er
als ungerecht angegriffener Wanderer sich zur Wehre gesetzt: die zum
Preise der Befreiung der Stadt von der Pest und Sphinx ausgesetzte
Witwe des verstorbenen Königs hat er durch Lösung des Räthsels auf
rechtmässigem Wege zur Gattin erworben. Ein Verbrechen ist geschehen,
aber es scheint, als sei keines geschehen; Schein gibt sich für Sein,
ein nur scheinbar vorhandener für den wirklich vorhandenen Zustand
aus. Die anscheinende Sachlage steht mit der thatsächlichen in einem
Widerspruch, der sich auf eine Zeit lang, aber nicht auf die Dauer
verheimlichen lässt, und dessen klaffender Spalt um so unerträglicher
erscheint, als der Inhalt des scheinbar zu dem Inhalt des wirklich
Geschehenen im einander ausschliessendem Gegensatze steht.

179. Wie das Missfallen am Streit auf dem gleichzeitigen Bestand zweier
einander ausschliessenden Willensäusserungen, so beruht das Missfallen
an der Störung durch die That in dem gleichzeitigen Fortbestand
zweier einander ausschliessender Sachlagen, der scheinbaren, die vor
der That bestand und dem Anschein nach trotz der That fortbesteht,
und der wirklichen, welche durch die That erzeugt worden ist und dem
Anschein nach noch nicht besteht. Wie es unmöglich ist, dass zwei
mit einander unverträgliche Willensäusserungen zugleich existiren,
so ist es unmöglich, dass zwei mit einander unverträgliche Sachlagen
zugleich als bestehend und wirklich anerkannt werden: dass Oedipus
zugleich schuldig und schuldlos sei. Wie der Bestand unverträglicher
Willensäusserungen, so ist der Bestand unverträglicher Sachlagen
ein irrationaler; aber, wie der Bestand jener Willensäusserungen, so
lange das Object und die Willen der Streitenden dieselben bleiben,
ein factischer, so ist der Bestand der einander ausschliessenden
Sachlagen, deren eine, die scheinbare, für wirklich, deren andere,
die wirkliche, für Schein gehalten wird, ein thatsächlicher: wie dort,
so ist hier das Irrationale factisch, und ist das Factische irrational;
in jenem wie in diesem Falle existirt der Widerspruch.

180. Derselbe besteht so lange, als der Schein besteht, dass die
scheinbare Sachlage wirklich und die wirkliche Sachlage Schein
sei. Soll derselbe verschwinden, so muss dieser Schein verschwinden,
die scheinbare Sachlage muss als Schein, die wirkliche sich als
wirklich offenbaren. Dies geschieht, wenn die todtgeschwiegene
Störung als solche anerkannt d. h. durch entsprechende Gegenstörung
ausgeglichen und auf diese Weise zwar nicht der ursprüngliche Zustand,
der als zeitlich vergangener nicht wiederkehren kann, aber doch ein
demselben gleicher wieder hergestellt wird.

181. Die ästhetische Idee des Ausgleichs ist es, die hier auf ethischem
Gebiete wieder zum Vorschein kommt. Die wirkliche Sachlage, die durch
die That herbeigeführt, aber durch den anscheinenden Fortbestand des
vorherigen Zustandes gleichsam mit einem Schleier bedeckt worden ist,
tritt aus der Verdunkelung wieder ans Tageslicht. Oedipus, der zum
Verbrecher geworden ist, aber keiner scheint, wird durch die Aufhellung
der That als solcher erkannt und durch die an ihm verübte Vergeltung
die durch den Schein seiner Schuldlosigkeit entstandene Verrückung des
wirklichen Thatbestandes wieder zurechtgerückt. So weit die Sachlage
durch den Anschein des Gegentheils nach einer Richtung hin verschoben
worden ist, so weit muss sie zum Zwecke der Aufhebung dieses Anscheins
nach der entgegengesetzten Richtung hin zurückgeschoben werden. So viel
(quantum) Ablenkung vom wirklichen Thatbestand nach der einen Seite
hin stattgefunden hat, so viel (tantum) Einlenkung zum wirklichen
Thatbestande hin muss von der andern Seite stattfinden. Störung und
Gegenstörung heben einander auf; wie jene in der That, findet diese
ihren Ausdruck in der Vergeltung. Das Mass der Gegenstörung ist durch
das Mass der Störung, die Ausdehnung der Vergeltung durch jene der
That gegeben. Ausdruck dieses gegenseitigen Verhältnisses ist die
Billigkeit (æquitas).

182. Da, so lange der Widerspruch beider Sachlagen, der wirklichen
und der scheinbaren, bestand, Missfälliges bestand, so lange die
Störung als todtgeschwiegene, die That als unvergoltene währte,
aber auch der Widerspruch währte, so hört mit der Aufhebung der
Störung durch Gegenstörung d. i. mit der Vergeltung der That,
zwar der Widerspruch und damit das Missfällige auf, wie mit der
Aenderung der streitenden Willensäusserungen der Streit aufhört,
aber ein unbedingt Beifälliges ist dadurch nicht hergestellt. Weder,
wenn, vom Gesichtspunkt des Leidenden angesehen, die That eine Weh-
noch wenn sie eine Wohlthat ist; denn die Beschaffenheit des Erfolges,
den der Leidende erfährt, ist für die Qualifikation der That, insofern
sie dem Thäter angehört, gleichgiltig. Nicht die Wohlthat als Wohl-
noch die Wehethat als Wehe-, sondern beide als Thaten bedürfen der
Vergeltung. Wenn es von einem andern, z. B. vom politischen oder
gesellschaftlichen Gesichtspunkt aus nöthiger scheint, dass Wehthaten,
als dass Wohlthaten Vergeltung erfahren, weil die letzteren die Summe
des schon vorhandenen Wohlbefindens nur vermehren, die ersteren dagegen
die vorhandene Summe nur vermindern können und deshalb die Gesetzgebung
der Staaten früher und eifriger für die Bestrafung der einen als für
die Belohnung der andern Sorge zu tragen pflegt, so stellt dieser
Unterschied sich vom ethischen Gesichtspunkt aus als unzulässig dar,
da nicht die That in ihrer specifischen Qualität als Wohl- oder Wehe-,
sondern als That überhaupt zur Vergeltung auffordert. Während das
sogenannte jus talionis mit seinem Ausspruch: Aug um Aug, Zahn um
Zahn, sich an das quale der That, dem ein tale der Vergeltung, hält
sich die Billigkeit an das quantum der That, welchem das tantum der
Vergeltung entspricht. Jenes betrachtet die Zufügung eines andern
als des erlittenen Leides, diese nur die Zufügung eines grösseren,
aber auch die eines geringeren Leides als das erfahrene war, als
Verletzung der Norm. Das eine, die Rückgabe eines geringeren Masses
von Weh, liesse einen unvergoltenen Ueberrest der That zurück; das
andere, die Rückgabe eines grösseren, wäre als Ueberschuss über das
zu vergeltende seinerseits selbst That, die Vergeltung erheischte.

183. Mit der Betrachtung des absichtlich von Seite des einen
der Wollenden herbeigeführten Zusammentreffens zweier wirklicher
Wollenden ist die Reihe der möglichen Willensverhältnisse, die
Gegenstand unbedingten Lobes oder eben solchen Tadels werden können,
erschöpft. Dieselbe ist durch eine Folge einander dichotomisch
ergänzender Eintheilungen entstanden, zwischen deren einzelne
Glieder sich weder ein weiteres einschieben, noch an deren Schluss
ein weiteres sich anfügen lässt. Die zu vergleichenden Wollen wurden
entweder ohne, oder mit Rücksicht auf den Umstand, ob sie einem
und demselben, oder verschiedenen Wollenden angehören, angesehen;
jene, welche in den Umfang des letzteren Gliedes der Eintheilung
fielen, abermals in solche, welche einem und demselben oder welche
verschiedenen Wollenden (und zwar der geringsten Anzahl derselben,
dem Ich und dem Du) angehörten, unterschieden. Erstere, da sie, um
als Glieder eines Willensverhältnisses innerhalb desselben Wollenden
auftreten zu können, sich zu einander nur wie gedachtes zu wirklichem
Wollen verhalten konnten, boten nur eine Gelegenheit zu weiterer
Unterabtheilung dar -- je nachdem das gedachte Wollen, als dessen
Nachbild das wirkliche auftrat, entweder das eigene (Vorstellung des
eigenen Wollens), oder ein fremdes (Vorstellung des Wollens eines
Andern) war. Letztere, welche als solche verschiedenen Wollenden
angehören und nur dadurch, dass sie mit einander irgendwie und irgendwo
in Berührung gebracht wurden, in ein Verhältniss zu einander treten
konnten, vermochten in Contact nur entweder durch Zufall oder durch
Absicht (eines der Wollenden) versetzt zu werden. Weder ein Wollen,
das weder eigenes, noch fremdes, noch ein Zusammentreffen Wollender,
das weder absichtslos, noch absichtlich wäre, ist denkbar. Die
Glieder obiger Eintheilung schliessen einander daher vollständig
aus und ergänzen einander zum Umfang des einzutheilenden Ganzen:
die Eintheilung ist vollständig.

184. Auch in dem Sinn, dass ein weiteres Glied am Schlusse sich
nicht hinzufügen lässt. Denn ein solches könnte nur durch die
Vermehrung der zu einander in Beziehung zu setzenden wirklichen
Wollen über die kleinstmögliche Anzahl hinaus gesucht werden;
eine solche aber ergibt kein neues, sondern nur eine Wiederholung
vorheriger Willensverhältnisse. Auch die drei, vier, n wirklichen
Wollen verschiedener wollender Wesen müssen, um zu einander ein
Verhältniss einzugehen, irgendwie und irgendwo zusammengeführt und
dadurch die mehreren Wollenden mit einander in Berührung gebracht
werden. Da nun von selbst einleuchtet, dass jenes Zusammentreffen nur
entweder durch Zufall oder durch Absicht verursacht werden könnte,
so würde im ersteren Falle Streit, im letzteren Falle würden Wohl-
oder Wehethaten die Folge sein d. h. die zwei letztgenannten obiger
Willensverhältnisse würden, nur vervielfältigt, wiederkehren.

185. Aus dem quantitativen Gesichtspunkt der Beurtheilung des Wollens
ergibt sich die ethische Idee der (ethischen) Vollkommenheit. Dieselbe
unterscheidet sich von der ästhetischen Vollkommenheit dadurch,
dass der letzteren entsprechend das Grosse überall, wo es sich
findet, neben dem Kleineren -- der ersteren zufolge das Grosse am
Wollen neben dem Kleinen an diesem insbesondere gefällt. Da nun die
Grösse des Wollens als eines wirklichen und wirkenden d. i. als einer
Kraft, in der Intensität d. i. in der Stärke desselben besteht, so
nimmt das allgemein ästhetische Urtheil: das Grosse gefällt neben
dem Kleinen, das Kleine missfällt neben dem Grossen, auf ethischem
Boden die Gestalt an: das starke Wollen gefällt neben dem schwachen,
das schwache missfällt neben dem starken. Indem hiedurch das stärkere
Wollen zum Massstab des schwächeren wird, stellt der Grad seiner Stärke
dem schwachen gegenüber jene Grenze dar, zu welcher dieses gelangen,
das "Volle", zu dem dieses "kommen" muss, wenn seine Missfälligkeit ein
Ende nehmen soll. Mit der Erreichung jener Grenze hört, wie schon oben
bemerkt, das Missfallen am schwächeren, weil dessen Schwäche selbst,
auf, aber auch das Verhältniss; mit der Ueberschreitung derselben
kehrt sich, wie gleichfalls oben bemerkt, dasselbe um: das jetzt
stärkere Wollen gefällt, das jetzt schwächere Wollen missfällt von
nun an. Da das Gefallen an der Stärke des Wollens von jeder sonstigen
Beschaffenheit desselben abstrahirt, so folgt, dass ein nach der Idee
der ethischen Vollkommenheit wohlgefälliger Willensact in anderer
Hinsicht missfällig, ja unbedingt verwerflich sich darstellen kann,
ohne den Anspruch auf Beifall, ja auf Bewunderung nach jener Richtung
hin einzubüssen. In diesem Sinn bleibt auch dem Bösewicht, ja dem
verkörpert gedachten Bösen, dem satanischen Ideal ethisches Lob
nicht aus, wenn sich derselbe oder dieses letztere in gewaltiger,
das gewöhnliche, ja selbst alles menschliche Mass übersteigender
Energie der Willenskraft offenbart. Richard III., Jago, Carl Moor,
Milton's Satan, Klopstock's Abadonna, "der Geist, der stets verneint",
regen von diesem ethischen Einzelgesichtspunkt aus "schaudernde
Bewunderung" an. In Heroenzeitaltern und bei Naturvölkern macht
die Verehrung für die ins Ungemessene gesteigerte Willensenergie
fast allein den Inhalt des moralischen Codex aus; die Achtung des
schwächeren für das stärkere Geschlecht ist vorwiegend auf das Gefühl
überlegener Willensmacht des letzteren begründet. Wie die intensive
Grösse des einzelnen Willensactes, so erweckt die extensive Grösse der
Vervielfältigung des Willens in zahlreichen, sei es dem Inhalt nach
gleichen, oder mannigfaltigen Willensacten und die Geschlossenheit
und innere Systematik dieser letzteren, verglichen mit Armuth und
Einförmigkeit des Wollens, so wie mit dessen Halt- und Systemlosigkeit,
unbedingtes Lob, während dem letzteren Tadel folgt.

186. An die ethische Idee der Vollkommenheit schliesst sich ein
Verfahren an, welches die in derselben enthaltene Forderung der
Stärke, der Mannigfaltigkeit und des inneren Zusammenhangs des
Wollens einerseits auf den gesammten Umkreis der Willensbethätigung
des Wollenden d. h. auf dessen Gesammtwollen, andererseits über den
einzelnen Wollenden hinaus, auf jede Vereinigung mehrerer, ja aller
überhaupt Wollenden d. i. auf alle durch ein gemeinsames Band unter
sich verknüpften Glieder einer Gesellschaft d. i. auf deren gesammtes,
innerhalb ihres Umkreises vorhandenes Wollen ausdehnt. Dasselbe
besteht darin, dass sowol in jedem einzelnen Individuum als solchem
wie in der Gesellschaft jedes vorhandene Wollen zur höchstmöglichen
Energie gesteigert, nicht vorhandenes Wollen in jeder erreichbaren
Vielheit und Mannigfaltigkeit geweckt, ferner das gesammte auf diese
Weise gegebene oder entwickelte Wollen in inneren Zusammenhang und
gesetzliche Anordnung gebracht und in beiden erhalten werde. In
ersterer Hinsicht begünstigt jenes Verfahren die Einseitigkeit, in
Bezug auf die Menge dagegen die Vielseitigkeit des Wollens, davon
die erste weniges, aber starkes, die letztere, wenngleich schwaches,
doch vieles und mannigfaltiges Wollen fördert, während durch die
Berücksichtigung des Verhältnisses des gesammten Wollens zu jedem
der dasselbe ausmachenden Willensacte das Vorwiegen der einseitigen
auf Kosten der vielseitigen, aber auch umgekehrt das Uebergewicht
der vielseitigen über die einseitige Willensentwicklung vermieden
und dadurch das Gleichgewicht zwischen beiden entgegengesetzten
Richtungen der Vervollkommnung des Wollens erhalten wird. In letzterer
Hinsicht geht jenes Verfahren darauf, dass innerhalb des Umkreises der
Gesellschaft jedes in irgend einem ihrer Glieder vorhandene Wollen zu
dem höchsten erreichbaren Grade von Energie gesteigert, aber auch dass
innerhalb desselben jedes nicht vorhandene Wollen, sei es in einem
einzelnen, sei es in sämmtlichen Gliedern, geweckt und auf diese
Weise die Mannigfaltigkeit des Wollens innerhalb der Gesellschaft
zum höchsten erreichbaren Grade entwickelt werde. Durch ersteres
wird innerhalb der Gesellschaft die Einseitigkeit, durch letzteres
die Vielseitigkeit des Wollens gefördert, durch die Herstellung
des Gleichgewichts zwischen beiden entgegengesetzten Richtungen der
innerhalb der Gesellschaft vorhandenen Willensentwicklung aber sowol
die Ueberhebung einer einzelnen, als die Verseichtigung der vielen
vorhandenen Willensrichtungen verhütet.

187. Steigerung wirklicher oder doch als Anlage vorhandener Kräfte in
quantitativer Hinsicht ohne Rücksichtnahme auf deren anderweitige
qualitative Beschaffenheit ist es, was im Allgemeinen Cultur
heisst. Die ethische Idee der Vollkommenheit enthält die Forderung
der Cultur des Wollens in jedem einzelnen Wollenden, wie in jeder
Gesellschaft von solchen. Jedes obiger Forderung entsprechende
Individuum stellt ein ethisches Culturideal d. h. das Ideal eines
ethisch cultivirten Gesammtwollens dar; jede Gesellschaft, welche
das gleiche thut, repräsentirt ein ethisches Cultursystem d. i. das
Ideal einer die Cultur des Wollens in ihrem gesammten Umfang und nach
jeder möglichen Richtung hin verwirklichenden Gesellschaft. Ersteres
schliesst in sich, dass innerhalb des Wollenden keine Richtung des
Wollens unvertreten, aber auch keine über das mit der gleichzeitigen
Pflege aller übrigen verträgliche Mass hinaus getrieben sei. Letzteres
schliesst in sich, dass innerhalb des Umkreises der Gesellschaft jede
vorhandene Willensrichtung stark, nicht nur in jedem einzelnen Gliede,
in dem sie sich findet, sondern durch möglichst viele Glieder der
Gesellschaft, in welcher sie sich findet, vertreten, aber auch, dass
keine innerhalb des Umfangs der Gesellschaft unvertreten d. h. nicht
wenigstens in einigen oder in einem ihrer Glieder in genügender
Stärke entwickelt sei. Jene Glieder der Gesellschaft, in welchen die
nämliche Willensrichtung vorhanden ist, machen dadurch in ethischer
Hinsicht eine Gesellschaftsclasse für sich, die Mannigfaltigkeit der
innerhalb der Gesellschaft vorhandenen einzelnen, mehreren oder vielen
Gliedern derselben gemeinsamen Willensrichtungen macht in Bezug auf die
Gesellschaftsclassen die Buntheit und Mannigfaltigkeit der (ethisch)
cultivirten Gesellschaft aus. Stellen unter den mannigfaltigen in
der Gesellschaft durch Classen vertretenen Willensrichtungen die
ihrem Inhalt nach lobenswerthen das Licht, die ihrem Inhalt nach
verwerflichen den Schatten (in ethischer Hinsicht) dar, so kommt
durch die Vielfältigkeit der Gesellschaftsclassen Licht und Schatten,
überhaupt ethische Färbung in die Gesellschaft, innerhalb welcher
je nach dem Uebergewicht der vorhandenen guten über die schlechten,
oder der vorhandenen schlechten über die guten Willensrichtungen in
der Gesellschaft, das Urtheil über die (im ethischen Sinne) helle oder
dunkle Natur dieser selbst erfolgt und diese je nach der Proportion,
die zwischen der Summe der guten und jener der verwerflichen in
ihr vorhandenen Willensrichtungen (wie sie z. B. die Statistik der
stationären Anzahl innerhalb der Gesellschaft vorkommenden Verbrechen
ausweist) herrscht, als (a potiori) eine relativ gute oder relativ
verdorbene bezeichnet wird.

188. Aus dem qualitativen Gesichtspunkt der Uebereinstimmung des
eigenen gedachten mit dem eigenen wirklichen Wollen ergibt sich die
ethische Idee der inneren Freiheit. Dieselbe entsteht dadurch, dass
die ästhetische Idee des Charakteristischen auf das ethische Gebiet
übertragen, das gedachte eigene Wollen als Vor-, das eigene wirkliche
Wollen als dessen Nachbild angesehen wird. Insofern jenes als Bild
eines noch nicht vorhandenen, aber dem Wollenden möglichen Wollens
in dessen Geiste vorangeht, dieses als wirklich vorhandenes, jenem
Bilde entweder entsprechendes oder nicht entsprechendes, demselben in
der Zeit nachfolgt, lässt sich das erste als Project, das letztere
als getreue oder ungetreue Ausführung desselben betrachten. Jede
sogenannte Maxime oder praktischer Grundsatz des Handelns stellt, da
sie nicht vorhandenes Wollen beschreibt, sondern eine Regel für nicht
vorhandenes, also künftiges Wollen formulirt, das Bild eines möglichen
Wollens, ein Willensproject dar, welches sich zu der Gesammtheit
aller Maximen d. i. zu der sogenannten praktischen Einsicht des
Wollenden verhält, wie dessen einzelner Willensact zu der Totalität
seines wirklichen Wollens. Dasselbe Verhältniss, welches zwischen
dem einzelnen Willensproject und dem einzelnen Willensact herrscht,
kann daher auch zwischen der gesammten praktischen Einsicht und dem
gesammten wirklichen Wollen des Wollenden stattfinden, so dass das
letztere entweder als getreue oder als ungetreue Nachahmung der
ersteren sich darstellt. Fasst man blos das Verhältniss zwischen
einem einzelnen Willensproject und dem darauf seinem Inhalt nach
bezüglichen Willensact ins Auge, so findet, im Fall der letztere seinem
Inhalt nach dem Willensproject entspricht, zwischen beiden unbedingt
wohlgefällige Harmonie, im Gegenfall, wenn der einzelne Willensact
durch seinen Inhalt dem des Willensprojects entgegengesetzt ist,
unbedingt missfällige Disharmonie statt. Wird an die Stelle obiger
Verhältnissglieder dagegen einerseits die praktische Einsicht,
anderseits die Gesammtheit des wirklichen Wollens des Wollenden
gesetzt, so tritt, wenn zwischen beiden Uebereinstimmung herrscht,
gleichfalls unbedingtes Lob, herrscht aber Zwietracht zwischen beiden,
unbedingte Verwerfung ein.

189. Das Bild harmonischen Einklangs zwischen Willensproject
und Willensact bietet ein (im psychologischen Sinne) freies, das
missfällige Zerrbild machtlosen Widerstreits zwischen Willensproject
und Willensact bietet ein (im selben Sinne) unfreies Wollen. Im
psychologischen Sinne frei heisst dasjenige Wollen, das durch
Motive, die aus der praktischen Einsicht (diese sei, wie sie wolle)
genommen sind, bestimmt, unfrei dagegen dasjenige, welches, obgleich
wie das vorhergehende motivirt, durch Beweggründe bestimmt ist,
die anderswoher (z. B. von den Antrieben der Sinnlichkeit, von
Affecten und Leidenschaften) genommen sind. Ein in diesem Sinne freies
(obgleich nicht "transcendental freies", sondern determinirtes) Wollen
wird mit dem praktischen Grundsatz, der sein Motiv ausmacht, sich
stets, ein in diesem Sinne unfreies d. i. anderswoher (z. B. durch
eine Leidenschaft) beherrschtes Wollen wird sich dagegen zwar mit
diesem seinem dasselbe besitzenden Motiv, niemals aber mit einem
der praktischen Einsicht entlehnten Grundsatz in Uebereinstimmung,
sonach mit einem solchen sich stets in Widerspruch befinden. Im
psychologischen Sinne freies Wollen ist daher nicht blos äusserlich
d. h. in dem ohnehin selbstverständlichen Sinn des Wortes "frei",
in welchem zwar das Handeln, aber niemals das Wollen durch eine
äusserliche Macht erzwungen oder verhindert zu werden vermag, sondern
ein solches ist zugleich innerlich frei d. h. in dem Sinne, dass
auf dasselbe Beweggründe, die nicht aus der praktischen Einsicht,
also aus dem Intellect genommen sind, keinen bestimmenden Einfluss
auszuüben vermögen. Insofern das nämliche Verhältniss nicht blos
zwischen einem einzelnen Grundsatz und einem einzelnen Willensact,
sondern zwischen dem Ganzen der praktischen Einsicht und dem Ganzen
des Willens besteht, heisst nicht blos, wie oben, das einzelne Wollen
(volitio), sondern der ganze Wille (voluntas) im psychologischen
Sinne und zwar innerlich frei, und der Wollende selbst, dessen Wille
diese Eigenschaft besitzt, ein Charakter. Im entgegengesetzten Falle,
wenn der Wille unfrei ist, heisst derselbe charakterlos.

190. Aus diesem Grunde, weil der Einklang zwischen gedachtem und
wirklichem Wollen der Freiheit des Wollens bedarf, um zur Erscheinung
zu gelangen, wird der auf jenem beruhenden ethischen Idee der inneren
Freiheit letzterer Name beigelegt. Dieselbe ist als Idee d. h. als
Musterbild für das wirkliche Wollen weder eins mit der Freiheit des
Willens, welche als solche ein Wirkliches, der freie wirkliche Wille,
noch mit dem Charakter, welcher als solcher gleichfalls ein Wirkliches
d. h. der in einem wirklichen Individuum verwirklichte freie Wille
ist. Jene gehört als Idee dem ethischen, beide letzteren gehören als
Wirkliche dem Gebiete des Wirklichen und zwar des Psychischen, dem
psychologischen Gebiete an; jene, gleichviel ob ein ihr entsprechendes
Wirkliches vorhanden sei, drückt eine allgemein giltige Forderung
(ein Postulat), letztere beiden drücken, wenn und wo sie existiren,
die verkörperte Erfüllung dieser Forderung selbst aus.

191. An die Idee der inneren Freiheit schliesst sich ein Verfahren
an, welches bestimmt ist, die Uebereinstimmung zwischen gedachtem
und wirklichem Wollen nicht blos über die Gesammtheit des Wollens des
einzelnen Individuums, sondern über die Gesammtheit der innerhalb des
Umkreises einer durch ein gemeinsames Band verknüpften Mehrheit von
Individuen (einer Gesellschaft) vorhandenen praktischen Einsicht
und wirklichen Wollens auszudehnen. Dasselbe geht darauf aus,
dass nicht nur innerhalb eines einzelnen Individuums das gesammte
Wollen frei d. i. der Wollende ein Charakter sei, sondern auch,
dass innerhalb der Gesellschaft der Wille jedes einzelnen Mitgliedes
derselben frei d. i. dass die Gesellschaft selbst eine Vereinigung von
charaktervollen Individuen sei. Erstere Forderung drückt aus, dass
die jeweilige praktische Einsicht d. i. die Gesinnung des Wollenden
die Seele seines gesammten Willens und Handelns, letztere Forderung
drückt aus, dass die Gesellschaft eine Vereinigung in diesem Sinne
gesinnungsvoller d. i. durch ihre jeweilige praktische Einsicht,
welchen Inhalts dieselbe auch sein möge, in ihrem gesammten Wollen und
Thun beseelter Individuen darstelle. Die Erfüllung der erstgenannten
macht das Ideal eines (im ethischen Sinne) beseelten Wollenden,
die Erfüllung der letztgenannten das Ideal einer (im ethischen
Sinne) beseelten Gesellschaft aus. Wie innerhalb der praktischen
Einsicht des Individuums die verschiedenen in derselben enthaltenen
praktischen Grundsätze jeder für sich ein Gebiet des Gesammtwollens
des Wollenden beherrschen, so werden innerhalb der Gesellschaft durch
die dem Inhalt nach unter einander abweichenden Gesinnungsweisen,
deren jede einem Bruchtheil der dieselbe ausmachenden Mitglieder
gemeinsam ist (im ethischen Sinne) Gesinnungsgenossenschaften als
gesellschaftliche Fractionen d. i. Parteien gebildet, deren jede
für sich als Vereinigung von derselben Gesinnung in ihrem Thun und
Lassen geleiteter Individuen eine beseelte Gesellschaft im Kleinen
repräsentirt. Die Mannigfaltigkeit der in den verschiedenen Parteien
als herrschende auftretenden Sinnesarten gibt der Gesellschaft
selbst, innerhalb deren dieselben sich bewegen, den Charakter
der Buntheit und ertheilt ihr zugleich je nach dem Uebergewicht
gewisser Parteirichtungen über die denselben entgegengesetzten ihre
(im ethischen Sinne) vorstechende Färbung. Wie dem charaktervollen
Individuum eine Vielheit von Maximen, die sich dem Anschein nach nicht
selten unter einander aufzuheben trachten, in Wahrheit aber, wie es die
Einheit der Gesinnung verlangt, schliesslich einem obersten praktischen
Grundsatz als Kern und Seele der gesammten praktischen Einsicht sich
unter- und einordnen, unentbehrlich ist, so bedarf eine im wahren
Sinne des Wortes beseelte Gesellschaft innerhalb ihres Umkreises
eines rege bewegten Parteilebens, dessen jeweilige Richtungen nicht
selten einander zu widerstreiten, ja gegenseitig einander aufzuheben
scheinen, schliesslich jedoch, je nach dem Uebergewicht einer oder
einiger über die übrigen, einer obersten die Richtung der Gesellschaft
selbst ihrem grösseren oder doch mächtigeren Theile nach (a potiori)
ausdrückenden Tendenz mit oder gegen ihren Willen zu dienen gezwungen
sind. In diesem Sinne stehen die Fortschritts- den Rückschrittsmännern,
die Reformer den Conservativen, standen einst die liberales, die nach
einem bekannten Witzwort "lieber alles", den serviles, die "sehr
vieles" wollten, stehen noch heute "Culturkämpfer" den Clerikalen,
die Schwarzen den Rothen, die Tories den Whigs u. s. w. gegenüber.

192. Aus dem qualitativen Gesichtspunkt des Einklanges des eigenen
wirklichen mit dem nur gedachten fremden Wollen ergibt sich die
ethische Idee des Wohlwollens. Dieselbe entsteht durch die Uebertragung
der ästhetischen Idee des Einklanges, welche auf dem Verhältniss
überwiegender gegenseitiger Identität beruht, auf das Gebiet des
Wollens. Beide Glieder, das gedachte fremde und das eigene wirkliche
Wollen, gehören einem und demselben Wollenden an; das fremde Wollen
ist in demselben als Vorstellung, das eigene Wollen dagegen als Wille
wirklich. Ob das seiner Vorstellung entsprechende Wollen des Anderen
in diesem und somit dieser Andere selbst auch wirklich existire,
ist dabei gleichgiltig. Da der Einklang nur zwischen der Vorstellung
des fremden Wollens und dem wirklichen eigenen stattfinden soll,
so kann jene erstere eben so gut eine blosse Einbildung (Fiction)
als eine Abbildung (Reflex) eines anderen Wollens sein. In keinem
Falle leidet die Wohlgefälligkeit der Uebereinstimmung des eigenen
mit dem vorgestellten fremden Wollen dadurch einen Abbruch, dass
dieses letztere und dessen Träger nur in der Vorstellung des ersten
besteht. Zeugniss dafür gibt der Verkehr des Kindes mit seiner Puppe,
deren ihr angedichtete Wünsche dasselbe mit Eifer zu erfüllen sich
bemüht, wie jener des Dichters mit der nur in seiner Phantasie
beseelten leblosen Natur und mit der oft nur als Ideal seiner
Einbildungskraft lebendigen Geliebten.

193. Eben so wenig als die Schönheit der Harmonie des gedachten
fremden und des eigenen wirklichen Wollens von der mehr als blossen
Gedankenexistenz, ist dieselbe von der Inhaltsbeschaffenheit des
fremden Wollens abhängig. Nicht darin hat der unbedingte Beifall,
welcher obigen Einklang begleitet, seinen Grund, dass das gedachte
Wollen des Anderen ein an sich gutes, sondern darin, dass das
wirkliche eigene Wollen mit dem wie immer beschaffenen Inhalt
des fremden Wollens identisch ist. Die Gesinnung, aus welcher
die Erfüllung wenn auch thörichter Wünsche des Andern entspringt
(Affenliebe), ist als wohlwollender Ausdruck der Unterordnung
des eigenen unter die Vorstellung eines fremden Wollens nicht
weniger schön als diejenige, die sich als werkthätige Theilnahme
an berechtigten Strebungen und Absichten des Andern kund thut. Wie
bei der ästhetischen Idee des Einklanges ist das Lob des Wohlwollens
nur durch die Harmonie, keineswegs durch die anderweitige stoffliche
Qualität der Verhältnissglieder bedingt.

194. Das Bild harmonischen Einklangs zwischen gedachtem fremden
und eigenem wirklichen Wollen bietet das psychische Phänomen des
selbstlosen oder uneigennützigen d. i. nicht durch die Rücksicht
auf das eigene Selbst, oder den Vortheil des Wollenden begründeten
Wollens. Dasselbe ist so wenig, wie irgend ein wirkliches Wollen, ohne
Grund d. h. dasselbe ist, wie jedes wirkliche Wollen, durch ein Motiv
(Beweggrund) bewegt (motivirt); aber dieses Motiv ist im Unterschied
von andern, die aus den Folgen des Wollens für den Wollenden selbst
d. i. aus der möglichen Vermehrung oder Verminderung des eigenen Wohles
des Wollenden (Eudämonie) hergenommen sind, aus dem einzigen Umstand
entlehnt, dass das vorgestellte Wollen wirklich Wollen eines Andern
sei d. h. dessen Gegenstand von einem Andern angestrebt und der Besitz
desselben von einem Andern werde als Lust d. i. als Vermehrung seines
(des Andern) Wohles empfunden werden. Das uneigennützige Wollen ist
daher keineswegs motivlos, sondern dasselbe hat nur kein eigennütziges
(eudämonistisches), nicht die Rücksicht auf das eigene, wol aber
eine solche auf das fremde Wohl zum Motiv. Wie das Beherrschtsein
des Wollens durch selbstsüchtige Beweggründe, wo es als habituelle
Willensbeschaffenheit auftritt, Egoismus (Selbstliebe, Selbstsucht),
so heisst im entgegengesetzten Sinne das Freisein des Wollens von
eudämonistischen Beweggründen und der willige Gehorsam desselben
gegen von der Rücksicht auf das Wohl des Andern dictirte Motive, wenn
er zu habitueller Willensbeschaffenheit geworden ist, Nächstenliebe
(Altruismus). Wo die letztere lebt, wird die Vorstellung, dass ein
gewisses Wollen von dem Andern gehegt werde, hinreichen, ein demselben
conformes im Vorstellenden zu erzeugen; wo der erstere waltet, wird
dieselbe Vorstellung genügen, nicht blos, um jedes dem Wollen des
Andern conforme eigene Wollen zu hemmen, sondern, wenn die Selbstsucht
so weit gesteigert ist, dass sie das Phlegma ihrer natürlichen
Trägheit zu überwinden und zur Action überzugehen vermag, ein den
Wünschen des Andern widerstrebendes Wollen im Wollenden hervorzurufen.

195. Ausfluss der Nächstenliebe wird ein wirkliches Wollen sein,
das nach der Idee des Wohlwollens gefällt, Wirkung der Selbstliebe
ein solches, das nach derselben Idee unbedingt missfällt. Jenes,
das uneigennützig nur auf das Wohl des Andern bedachte, wird darum
als gütiges, dieses, das selbstsüchtig nur auf das eigene Wohl oder
gar auf dem Wohl des Andern Entgegengesetztes bedachte Wollen wird
deshalb im ersten Fall ein herzloses, im andern Fall ein boshaftes,
das Wohlwollen selbst Güte, sein Gegentheil, das Uebelwollen, Bosheit
genannt. Von der ersteren wie von der letzteren, insofern jede von
beiden, die Güte grundlos liebt, die Bosheit grundlos hasst, gilt
des Dichters Wort: Ich glaube selbst, die Lieb' hat keinen Grund
(Immermann).

196. Verschieden von der ethischen Idee des Wohlwollenden, wie von dem
psychischen Phänomen der Güte und deren Gegentheil, ist das gleichfalls
psychische Phänomen der sogenannten sympathetischen Gefühle. Zwar
bietet sowol die psychische Erscheinung des Mitleids wie der Mitfreude
das Bild eines harmonischen Einklangs, die Erscheinung des Neides
wie der Schadenfreude das Bild einer missfälligen Disharmonie dar,
aber weder zwischen Wollen, noch zwischen einem blos gedachten
und einem wirklichen Verhältnissgliede, wie beides beim Wohl- oder
Uebelwollen der Fall ist. Das sympathetische Gefühl wiederholt das
Gefühl eines Andern entweder durch ein demselben gleiches, oder durch
ein demselben entgegengesetztes Gefühl. Ursache dieser Wiederholung
ist jedoch keineswegs die bewusste Reflexion, dass das eigene Gefühl
Nachahmung eines fremden Gefühls, sondern der unwillkürliche und
folglich auch unbewusste Reflex des fremden Gefühls durch das eigene
Gefühlsleben. Das fremde Gefühl wirkt auf das eigene gleichsam durch
Ansteckung, wie es im Gebiete der Muskelbewegungen bei der Entstehung
solcher mit gewissen Vorstellungen durch Association verbundener
Bewegungen durch die zufällige oder absichtliche Erregung jener
Vorstellungen der Fall zu sein pflegt. Das Bewusstsein des Unterschieds
der fremden von der eigenen Persönlichkeit wird dabei gar nicht
geweckt, oder geht im Mechanismus des nachahmenden Gefühlsprocesses
verloren. Auf diese Weise setzt ein Komiker die Lachmuskeln, ein
Tragöde die Thränenfisteln der Zuschauer in unwillkürliche und dem
Bewusstsein entrückte Bewegung, so dass die letzteren gleichsam wie aus
einem Zustand der Verzücktheit erwachen und sich hinterdrein wundern,
gelacht und geweint zu haben. So wenig fühlt sich der nachahmende
Theil als Nachahmer eines Andern, dass nicht selten das Mitgefühl, sei
es Mitfreude oder Mitleid, sofort aufhört, wenn der Mitfühlende sich
darauf besinnt, dass es nicht eigenes, sondern das Leid eines Andern,
und nicht eigene, sondern fremde Freuden sind, die ihn bewegen. In
solchem Fall hält das Mitgefühl nur so lange und nur darum vor,
als und weil der Mitfühlende sich nur bewusst ist, dass er fühle,
keineswegs aber bewusst ist, dass er nur mitfühle. Ohne daher geradezu
egoistisch zu sein, weil weder das Bewusstsein vorhanden ist, dass
das Gefühlte uns, noch der Gedanke, dass es einen Andern angehe, ist
das Mitgefühl doch sicher nicht altruistisch, weil es im Augenblick
schwinden kann, sobald wir des letzteren innewerden.

197. Dasselbe wird jedoch vollkommen selbstsüchtig, wenn, wie
Schopenhauer behauptet hat, der Grund des Mitleids einzig darin
gelegen sein soll, dass der Mitleidige sich in demselben seiner
metaphysischen Einerleiheit mit dem Andern bewusst und auf diesem
Wege innewerde, dass weder der Andere von ihm verschieden, noch des
Andern Leid mehr als sein eigenes Leid sei. Unter dieser Voraussetzung
könnte das Mitgefühl nicht nur, wie oben bemerkt, sondern es müsste
nothwendiger Weise, also jedesmal aufhören, sobald der Einzelne
über seine persönliche Unterschiedenheit vom Andern und folglich
über den Umstand, dass das gefühlte Leid nicht sein eigenes sei,
zur Besinnung käme. Die wesentliche und unentbehrliche Eigenschaft,
wenn auf das Mitgefühl ein Theil des Glanzes fallen soll, den das
Wohlwollen ausstrahlt, die individuelle Sonderung beider Fühlenden,
wäre durch obige Annahme grundsätzlich beseitigt.

198. So wenig Mitleid und Mitfreude sich mit dem Wohlwollen,
eben so wenig decken sich Neid und Schadenfreude mit dessen
Gegentheil, dem Uebelwollen. Gleichwol tritt bei den letzteren die
unleugbare Aehnlichkeit beider, obgleich gattungsmässig verschiedener
Gemüthszustände stärker hervor als bei den ersteren. Während Mitleid
und Mitfreude zu ihrer Entstehung des Bewusstseins des individuellen
Unterschieds des Mitfühlenden vom Fühlenden nicht bedürfen, setzt die
Entstehung sowol des Neides, als einer durch fremde Lust geweckten
Unlust, wie der Schadenfreude, als einer durch fremde Unlust erregten
Lust, dieses Bewusstsein in gewissem Grade voraus, da es sich
nicht um eine Wiederholung des fremden Gefühls durch ein gleiches,
sondern um die Beantwortung eines solchen durch ein entgegengesetztes
eigenes handelt, fremdes und eigenes Gefühl also schon um deswillen
als verschiedenen Individuen angehörig empfunden werden müssen,
weil beide verschiedene, und zwar, da sie entgegengesetzter Natur
sind, sehr merklich verschiedene Qualität besitzen. Beide kommen
daher nicht nur in ihren Wirkungen, die sowol bei dem Neid als bei
der Schadenfreude, bei dem blossen Gefühl nicht stehen zu bleiben,
sondern zu demselben entsprechenden Wünschen, Entschlüssen, ja selbst
Aeusserungen fortzuschreiten pflegen, dem Uebelwollen so nahe,
als überhaupt Phänomene verschiedener Gattungen sich einander zu
nähern vermögen, sondern auch das Urtheil, das über dieselben, wo
sie zu Tage treten, ergeht, fällt von der unbedingten Verwerfung,
welche das Uebelwollen begleitet, nichts weniger als verschieden
aus. Von dem "Neide" der Götter redet die Mythologie, wenn sie deren
dem Menschengeschlecht übelwollende Gesinnung, und vom "Neidhart"
die Volkssage, wenn sie den Bösen bezeichnen will.

199. Die selbstlose Freiwilligkeit der Unterordnung des eigenen
unter das fremde Wollen tritt um so anschaulicher hervor, je grösser
die Ueberlegenheit der eigenen über die fremde Kraft und je weniger
der Verdacht, dass jene Unterordnung eine durch Furcht erzwungene
sein könnte, zulässig erscheint. Dieselbe offenbart sich dort am
auffälligsten, wo die Ueberlegenheit die denkbar höchste d. h. wo
der dem Andern freiwillig sich unterordnende Wille, mit diesem
verglichen, unendlich stark, derjenige, dem er sich unterordnet,
mit jenem verglichen, unendlich schwach ist. Beides ereignet sich im
Verhältniss der Gottheit zum Menschen, deren Güte gegen diesen eben
darum als unendlich gross und der göttliche Wille selbst als Ideal
des Gütigen sich kundgibt.

200. An die ethische Idee des Wohlwollens schliesst sich ein
Verfahren an, welches die in derselben enthaltene Forderung nicht
blos auf das gesammte Wohl und Wehe Anderer berührende (sociale)
Wollen des einzelnen Wollenden, sondern auf die Gesammtheit des
innerhalb des Umkreises einer Gesellschaft vorkommenden, auf
deren gegenseitiges Verhältniss zu einander bezüglichen Wollens
der Mitglieder ausdehnt. Dasselbe geht darauf aus, dass jedes
sociale Wollen des einzelnen, so wie dass das sociale Wollen jedes
Mitgliedes der Gesellschaft Wohlwollen sei; sociales Uebelwollen
sowohl im Einzelnen wie in der Gesellschaft gemieden werde. Da nun
das Wohlwollen (bene velle) darin besteht, des Andern Wohl zu wollen
(bonum velle), so geht jene Forderung dahin, dass jedes sociale
Wollen im Einzelnen wie in der Gesellschaft die Tendenz habe, in
jenem des Andern, in dieser aller Andern (d. i. das allgemeine) Wohl
zu fördern. Und da die Befriedigung jedes -- stofflich wie immer
beschaffenen -- Wollens Lustgefühl, also Wohlbefinden zur Folge
hat, so kann unter dem, was jeder sein Wohl und folglich auch die
Gesellschaft das ihre, d. i. das allgemeine Wohl nennt, nicht wol
etwas anderes sein als die Befriedigung dort sämmtlicher Wünsche
und Willensbestrebungen des Andern, hier die Erfüllung sämmtlicher
im Umkreise der Gesellschaft vorhandenen oder doch zur Aeusserung
gelangenden Wünsche und Willensbestrebungen Aller. Die Erreichung
beider Ziele, die Befriedigung sämmtlicher Wünsche des Andern (die
Glückseligkeit des Andern), und die Befriedigung sämmtlicher Wünsche
Aller (die allgemeine Glückseligkeit) müssen daher in der wohlwollenden
Gesinnung, das erste in der jedes Einzelnen gegen jeden Andern, das
zweite in der jedes Mitgliedes der Gesellschaft gegen alle übrigen
d. i. gegen die Gesellschaft selbst gelegen und die Erreichung
derselben muss der Zweck aller socialen Bestrebungen sein.

201. Diese selbst d. i. die Befriedigung der vorhandenen Wünsche
aber ist nicht blos durch die auf sie gerichtete dauernde Gesinnung
des Einzelnen und jedes Einzelnen, sondern zugleich, da es sich
um die Realisirung wirklich vorhandener Wünsche in der wirklich
vorhandenen Aussenwelt handelt, durch die Existenz der und die
Möglichkeit der Verfügung über die zu jenem Endzweck unentbehrlichen
oder doch förderlichen Mittel d. i. der und über die realen Objecte,
welche, insofern sie jenem Zweck dienstbar gemacht werden, Güter
heissen sollen, bedingt. Dieselben können sowol materieller als
geistiger Natur, Gegenstände der Körper- wie der geistigen Welt sein;
wesentlich ist ihnen nur, dass dieselben zur Befriedigung vorhandener
Wünsche dienen und in Anspruch genommen werden können. Von dieser
Art ist der Grund und Boden mit seinem Ertrag, sowol dem inneren
(Erz- und Gesteinsschätzen), wie dem äusseren (Nahrungspflanzen
und verarbeitungsfähigen Gewächsen), aber auch der vorhandene Fond
an geistiger Kraft und Intelligenz mit seinem Ertrag, dem inneren:
den Gefühls- und Gedankenschätzen des einzelnen, dem äusseren: den
Literatur- und Kunsterzeugnissen des Gesellschaftsgeistes.

202. Diese, sei es materiellen, sei es geistigen Güter zur Befriedigung
vorhandener Wünsche in der Art zu verwenden, dass die mit den gegebenen
Mitteln erreichbare höchste Befriedigung der gegebenen Wünsche
erzielt werde, ist die Aufgabe einer besondern auf dieses Endziel
hin arbeitenden Kunst, die, insofern es dabei auf die bestmögliche
Verwendung der Mittel zum Zwecke d. i. auf die Verwaltung ankommt,
Haushaltungs- oder Verwaltungskunst (Oekonomik) und zwar entweder
private, wenn es sich blos um den klugen Gebrauch der dem einzelnen
Individuum zum Besten des Anderen verfügbaren Güter handelt, oder
öffentliche (Oekonomik der Gesellschaft; Nationalökonomik, Staats- und
Volkswirthschaftskunst), wenn das Ziel die grösstmögliche Förderung
des allgemeinen Wohls durch geschickte Benützung der innerhalb
der Gesellschaft disponibeln materiellen und geistigen Vermögen
ist. Die Erfüllung derselben von Seite des einzelnen Wollenden
macht das Ideal eines Menschenfreundes (Philanthropen), d. i. eines
solchen aus, der sein gesammtes geistiges wie materielles Vermögen in
selbstverleugnender Gesinnung dem Besten Anderer opfert; ihre Erfüllung
von Seite einer Gesellschaft dagegen stellt (im ethischen Sinne) das
Ideal eines Verwaltungssystems dar d. i. einer derartigen Organisation
des Gebrauchs und der Verwendung sämmtlicher innerhalb des Umkreises
der Gesellschaft vorhandenen und verfügbaren materiellen wie geistigen
Güter, dass dadurch die grösstmögliche Befriedigung vorhandener Wünsche
und Bedürfnisse sämmtlicher Gesellschaftsmitglieder, die unter den
gegebenen Umständen höchstmögliche Summe des allgemeinen Wohls oder
der allgemeinen Glückseligkeit (salus publica) verwirklicht wird.

203. Von selbst leuchtet ein, dass auch bei der sorgfältigsten
und wohlwollendsten Verwaltung die erreichbare Gesammtsumme der
Wünschebefriedigung hinter der jeweiligen Summe der vorhandenen
Wünsche zurückbleiben muss. Denn während die letztere eine ins
Unbegrenzte wachsende, ist der Vorrath gegebener Güter und der aus
demselben zum Besten des Ganzen zu schöpfende Vortheil auch bei der
umsichtigsten Benutzung nur einer begrenzten Steigerung fähig. Das
Ziel des Philanthropen, wie das der philanthropischen Gesellschaft ist
als erreicht anzusehen, wenn die Summe des allgemeinen Wohls die unter
den gegebenen Bedingungen erreichbare höchste Grenze gewonnen hat. Je
nachdem in den wohlwollenden Bestrebungen des Einzelnen zum Besten des
Andern, der Gesellschaft zum Besten Aller, vorzugsweise die mittels
materieller oder die mittels geistiger Güter realisirbaren Wünsche
d. i. die materiellen oder die geistigen Interessen berücksichtigt
werden, nimmt die Philanthropie dort, das Verwaltungssystem hier selbst
einen vorwiegend materialistischen, der Pflege der materiellen, oder
idealistischen, der Pflege der idealen Interessen gewidmeten Charakter
an. Innerhalb der menschenfreundlichen Bestrebungen des Einzelnen
lassen sich je nach der Beschaffenheit der Güter verschiedene Zweige
des Philanthropismus, innerhalb des wohlwollenden Verwaltungssystems
lassen sich je nach den Zwecken, welche, und den Gütern, mittels
welcher dieselben verwirklicht werden sollen, verschiedene Zweige
der Verwaltung unterscheiden. Die Mannigfaltigkeit derselben,
deren einige auf die Hebung der materiellen Zwecke und Güter,
z. B. auf die Cultivirung, Bebauung und Ausnutzung der Bodenschätze
und des Grundertrags, andere auf die Hebung ideeller Zwecke durch
Förderung und Pflege wissenschaftlicher und literarischer Bildung und
Schöpfungen abzielen, bringt in die Verwaltung selbst jene Vielheit
und Buntheit gleichzeitiger auf das Wohl, sei es einzelner Classen
von Gesellschaftsmitgliedern, in deren Besitz eben jene Güter sich
befinden oder zu deren Beruf jene Zwecke gehören d. i. gewisser Stände
-- sei es des Ganzen, abzweckender Bestrebungen hervor, die sich nicht
selten unter einander zu widerstreiten scheinen, zusammengenommen aber
je nach dem Ueberwiegen der einen über die andern dem Verwaltungssystem
seine bestimmte individuelle Färbung ertheilen. Dieselbe zeigt je nach
dem Uebergewicht der materiellen über die geistigen, oder dieser über
die materiellen Interessen einen bestimmten hervorstechenden mehr
realistischen oder mehr spiritualistischen Ton, zwischen welchen
Gegensätzen ein weises, die Harmonie aller Interessen im Auge
behaltendes Administrationssystem eine gleichschwebende Temperatur
herzustellen und zu erhalten bemüht sein wird.

204. Der qualitative Gesichtspunkt des missfälligen Streits einander
ausschliessender Willensäusserungen ergibt die ethische Idee des
Rechts. Dieselbe entsteht durch die Uebertragung der ästhetischen Idee
der Correctheit auf das ethische Gebiet. Wie correcte Vorstellungen
solche sind, die als gleichzeitige im Bewusstsein sich unter
einander vertragen, so sind rechtmässige (d. i. dem Recht gemässe)
Willensäusserungen solche, die gleichzeitig vorhanden einander nicht
ausschliessen. Wie die Correctheit eine natürliche oder künstliche,
je nachdem die Verträglichkeit jener Vorstellungen eine ursprüngliche
d. i. aus dem Inhalt derselben selbst fliessende, oder eine (sei
es durch Zufall oder durch Willen) herbeigeführte ist, indem der
ursprüngliche Inhalt so lange abgeändert oder durch einen anderen
ersetzt wurde, bis die anfänglich unverträglichen zu verträglichen
Vorstellungen wurden, so ist die Rechtsgemässheit (oder, was eben so
viel ist, die Erlaubtheit gewisser Willensäusserungen) eine natürliche
oder künstliche, je nachdem dieselben schon ursprünglich ihrem
Inhalt nach verträglich sind, oder erst in Folge einer gemeinsamen
Uebereinkunft (Vertrag) der Wollenden eine solche Abänderung,
beziehungsweise Ersetzung durch anders beschaffene erfuhren, dass die
bisher unter einander unverträglichen fortan für verträglich gelten
können. Heissen daher Willensäusserungen, die sich unter einander
nicht ausschliessen d. h. ohne missfälligen Streit hervorzurufen
gleichzeitig mit und neben einander bestehen können, im Allgemeinen
(im ethischen Sinn) erlaubte, so sind solche, deren Verträglichkeit
eine ursprüngliche, aus ihrem Inhalt selbst fliessende ist, natürlich
erlaubte, solche dagegen, deren Verträglichkeit erst aus einem zwischen
den Wollenden stattgehabten Vertrage stammt, vertragsmässig erlaubte
Willensäusserungen. Erstere, da ihre Erlaubtheit durch den Inhalt der
Willensäusserungen selbst begründet ist, sind jedesmal und jedermann
erlaubt, sobald dieser Inhalt der nämliche ist; diese dagegen, deren
Verträglichkeit nur aus dem durch Vertrag festgesetzten Inhalt fliesst,
sind nur so lange und nur denjenigen erlaubt, so lange und für welche
jener Vertrag besteht. Erlaubte Willensäusserungen der ersteren
Art werden daher auch wol als natürliche (sogenannte angeborene),
erlaubte Willensäusserungen der letzteren Art dagegen als erworbene
(sogenannte positive) Rechte bezeichnet. Die Summe der (angeborenen
und erworbenen) Rechte d. i. der Inbegriff sämmtlicher dem Wollenden
erlaubter, oder solcher Willensäusserungen, durch deren Vornahme
derselbe keinen Streit erhebt, macht das Recht des Wollenden aus.

205. Wie der als correct bezeichnete Vorstellungsinhalt eine Grenze
für die unbeschränkte Freiheit des Vorstellens bezeichnet, jenseits
welcher dasselbe aufhört, ästhetisch geduldet, und anfängt, unbedingt
missfällig zu werden, so stellt der Inhalt der ("angeborenen und
erworbenen") Rechte d. i. des Rechts des Wollenden, eine (natürliche
oder vertragsmässige) Schranke für die grenzenlose Freiheit der
Willensäusserung desselben dar, jenseits welcher diese aufhört,
ethisch geduldet, und anfängt, unbedingt missfällig zu werden. Der
Doppelsinn des Begriffs der Grenze, welcher zugleich die Ausdehnung
des einen und dessen Ausschliessung von dem Nachbarlande bedeutet,
kehrt im Begriff des Rechts insofern wieder, als durch dasselbe sowol
die Ausdehnung der erlaubten Willensäusserung einer-, wie deren
Ausschliessung von der gleichfalls erlaubten Willensäusserung des
nachbarlichen Wollenden andererseits bezeichnet wird. Jenes, die Summe
der Rechte des Wollenden, macht das Recht im subjectiven, dieses, die
Summe der (natürlichen oder vertragsmässig festgesetzten) Schranken
der Willensäusserung, das Recht im objectiven Sinne des Wortes aus.

206. Wie die Rechtfertigung des Correcten nur in dem Umstand
liegt, dass ein von demselben abweichender Inhalt des Vorstellens
Ausschliessung unter dem gleichzeitig Vorgestellten d. i. Widerstreit
im Vorstellen, und dadurch Missfallen erzeugt, so liegt der Grund
des Rechtmässigen (Erlaubten) ausschliesslich in dem Umstand,
dass eine von dem Inhalt desselben abweichende Willensäusserung
mit einander unverträgliche Willensäusserungen im Umfang des zur
Aeusserung gelangenden Wollens d. i. Streit hervorruft und dadurch
Missfallen erzeugt. So wenig dort ein Unterschied dadurch begründet
wird, dass die Correctheit eine natürliche oder künstliche, so wenig
geschieht dies hier durch den Umstand, dass die Rechtmässigkeit
eine natürliche oder vertragsmässige ist; wie bei dem Incorrecten
das Missfallen nur denjenigen, aber jeden trifft, dessen Vorstellen
vom Correcten abweicht, so geschieht es hier mit dem Missfallen, das
nur jenem, aber auch jedem gilt, dessen Willensäusserung das Erlaubte
überschreitet. Wie es aber beim Correcten sich ereignen kann, dass der
Inhalt des künstlich mit dem des von Natur aus Correcten in der Weise
in Collision geräth, dass von Natur aus Correctes durch conventionelle
Uebereinkunft künstlich als incorrect, dagegen durch letztere ein
Vorstellungsinhalt künstlich als correct festgesetzt werden kann,
welchen das unbefangene Vorstellen als incorrect empfindet, so kann
es geschehen, dass natürlich Erlaubtes vertragsmässig als unerlaubt
und solches durch Vertrag als erlaubt hingestellt werden kann, was dem
unbefangenen ästhetischen Urtheil als unerlaubt erscheinen muss. Was
in solchem Fall auf ästhetischem Gebiete gilt, dass der Umfang des
natürlich Correcten ein unbeschränkter, weil nur von dem sich immer
gleich bleibenden Inhalt des Vorgestellten abhängiger, jener des
künstlich Correcten aber ein auf den Umkreis eingeschränkter sei,
innerhalb dessen, sei es Herkommen, Ueberlieferung, Sitte und Gebrauch
oder positive Convention dasselbe fixirt haben, wird anstandslos auf
das ethische angewendet werden dürfen, dass das natürlich Erlaubte
unbeschränkte, weil nur aus dem Inhalt der Willensäusserungen
fliessende, das vertragsmässig Erlaubte jedoch nur auf denjenigen
Umkreis beschränkte Geltung besitze, innerhalb dessen stillschweigender
d. h. blos durch Zulassung, oder ausdrücklicher d. i. mit mehr oder
weniger Förmlichkeit kundgegebener Vertrag dasselbe für die Vertrag
Schliessenden (aber auch nur für diese) als erlaubt festgestellt haben.

207. Indem die ästhetische Idee der Correctheit jeden
Vorstellungsinhalt verbietet, durch welchen Unverträglichkeit zwischen
dem gleichzeitig Vorgestellten, so verwehrt die Idee des Rechts
jede Willensäusserung, durch welche Streit zwischen den Wollenden
hervorgerufen wird. So wenig die erstere hiebei einen Unterschied
zwischen den beiden Vorstellungen, eben so wenig macht diese einen
solchen zwischen den beiden Wollenden. Die Aufforderung, Streit zu
meiden d. i. sich innerhalb der durch das (sei es natürliche oder
vertragsmässige) Recht gezogenen Willensgrenze zu halten, ergeht an
beide Wollende in ganz gleicher Weise, ganz abgesehen von dem Umstände,
ob durch diese letztere die Freiheit der Willensäusserung des Einen
eine Erweiterung, jene des Anderen eine Verengerung erfahren hat
d. h. ob durch dieselbe dem ersten eine Befugniss (ein Recht gegen
den zweiten) eingeräumt, dem zweiten eine solche zu Gunsten des
ersten entzogen (demselben eine Pflicht gegen den ersten auferlegt)
worden sei. Da nun eben so wol Streit entsteht, wenn die eingeräumte
Befugniss überschritten, als wenn die entzogene Befugniss wieder in
Anspruch genommen wird, so bedeutet jene Aufforderung für denjenigen,
dem das Recht jene Befugniss gibt, so viel, dass er dieselbe nicht
missbrauchen, dagegen für denjenigen, dem das Recht jene Befugniss
nimmt, so viel, dass er dieselbe nicht mehr als sein Recht gebrauchen
dürfe, beides aus keinem andern Grunde, als weil jede obiger beider
Handlungsweisen Streit erzeugt.

208. Mehr als diese Aufforderung, um der Vermeidung des Streites willen
einerseits seine Berechtigung nicht zu überschreiten, andererseits
seine Verpflichtung zu erfüllen, kann aus der Idee des Rechts
nicht abgeleitet werden. Dieselbe enthält weder die Ermächtigung
für den Berechtigten, im Falle unterlassener Pflichterfüllung von
Seite des Verpflichteten dieselbe mit Gewalt d. i. durch Anwendung
von Zwangsmassregeln durchzusetzen, noch schliesst dieselbe für den
Verpflichteten die Befugniss ein, sich im Falle gemissbrauchten oder
mit Zwang durchgesetzten Rechts von Seite des Berechtigten demselben
mit Gewalt d. i. mittels Anwendung von Gegenzwangsmassregeln zu
widersetzen. Ersteres nicht, weil jeder Zwang einen Eingriff in
die erlaubten Willensäusserungen des Verpflichteten, somit von
Seite des Berechtigten diesem gegenüber selbst eine Streiterhebung
darstellt. Letzteres nicht, weil jeder Gegenzwang von Seite des
Verpflichteten einen Eingriff in die erlaubten Willensäusserungen des
Berechtigten, also seinerseits eine Streiterhebung einschliesst. Weder
kann der Zwang, welcher von Seite des Berechtigten zur Durchsetzung
seiner Berechtigung, noch kann der Gegenzwang, welcher von Seite
des Verpflichteten gegen den Berechtigten ausgeübt wird, sich auf
diejenige Willensäusserung einschränken, welche im ersten Fall
ausschliesslich das Recht, im letzteren eben so ausschliesslich die
Pflicht ausmacht. Beide, Berechtigter und Verpflichteter, werden in
solchem Falle sich in gleicher Lage befinden wie der Jude Shylock,
dem das Gesetz die Befugniss einräumt, zur Durchsetzung seines Rechts
gegenüber dem Kaufmann von Venedig Gewalt anzuwenden d. i. das
contractlich zugestandene Pfund Fleisch nahe dem Herzen demselben
wirklich aus lebendigem Leibe zu schneiden, jedoch unter der von dem
"klugen" Richter hinzugefügten Bedingung, dass er bei Ausübung dieses
seines Rechts nicht selbst seinerseits ein Unrecht begehe d. h. nicht
eine ihm contractlich nicht zugestandene Handlung ausführe, daher
keinen einzigen Tropfen Blutes vergiessen dürfe. Wie durch letzteren
Zusatz die ihm zugestandene Zwangsbefugniss illusorisch, weil der
Natur der Sache nach unausführbar, so wird die angeblich in der Idee
des Rechtes enthaltene Zwangsbefugniss in ethisch geschärften Augen
dadurch zunichte gemacht, dass die Ausübung einer solchen ohne neue
Streiterhebung, also seinerseits Rechtsverletzung, dem Berechtigten
durch die Natur der Sache unmöglich gemacht wird.

209. Ist nun in der Idee des Rechts wirklich nichts mehr als die
Aufforderung, beim Rechte zu bleiben, keineswegs aber die Erlaubniss
enthalten, Unrecht mit Gewalt zu hintertreiben, so ist allerdings zu
erwarten, dass, wenn nicht auf anderem Wege Vorsorge getroffen wird,
Missbrauch des Rechtes unmöglich, Unterlassung der Pflicht unthunlich
zu machen, sowol das eine wie das andere in einem Grade überwuchern
werde, dass der thatsächliche Zustand der durch die Idee des Rechts
gestellten Forderung Hohn sprechen wird. Weder lässt sich hoffen, dass
die Scheu, vor der Idee des Rechts durch Streiterhebung missfällig zu
werden, in dem Gemüthe des Berechtigten häufiger als es bei solchen,
die einer Aufforderung zur Rechtlichkeit überhaupt nicht bedürfen,
ohnehin der Fall zu sein pflegt, eine solche Macht besitzen werde,
um ihm die Anwendung von Zwang zur Durchsetzung seines Rechts
unmöglich zu machen, noch könnte es Wunder nehmen, wenn die Furcht,
durch gewaltsamen Widerstand vor der Idee des Rechts missliebig zu
erscheinen, bei dem Verpflichteten, der sich durch Missbrauch des
Rechtes bedroht und durch Anwendung von Zwang in unbestrittenen
Rechten beeinträchtigt sieht, zu schwach wäre, ihn von dem Versuch
gewaltsamer Gegenwehr zurückzuhalten. Vielmehr ist vorauszusehen,
dass in den bei weitem meisten Fällen der Berechtigte der Verlockung,
sein verweigertes Recht auf Kosten des Verpflichteten durchzusetzen,
der Verpflichtete dem Drange, sein angegriffenes Recht gegen den
Uebermuth oder die Uebermacht des Berechtigten sicherzustellen, nicht
werde widerstehen und dadurch an die Stelle des Friedenszustandes, wie
ihn die Idee des Rechtes fordert, ein Kriegszustand, wie ihn der Kampf
des Berechtigten um sein Recht gegen den Verpflichteten und der Kampf
des Verpflichteten für sein Recht wider den Berechtigten darstellt,
treten werde. Soll letzteres verhütet und die Herstellung des Rechts-
d. i. eines solchen Zustandes, in welchem der Berechtigte sein Recht,
aber nicht mehr als dieses fordert, der Verpflichtete seine Pflicht
und nie weniger als diese leistet, nicht auf jene märchenhaften Zeiten
verschoben werden, in welchen die Idee des Rechts durch Erziehung
und Gewöhnung Macht genug über die Gemüther gewonnen haben wird,
um die Sicherstellung des Rechts durch andere Mittel überflüssig zu
machen, so muss ein Ausweg ausfindig gemacht werden, dem Berechtigten
seine Leistung, dem Verpflichteten seinen Schutz vor Uebergriffen
zu verbürgen, ohne von Seite des ersten wie des letzteren durch
unrechtmässige Streiterhebung missfällig zu werden. Derselbe besteht
darin, dass die Befugniss im Falle der Pflichtverweigerung Zwang, im
Falle des Missbrauchs der Berechtigung Widerstand ausüben zu dürfen,
ihrerseits ausdrücklich vertragsmässig stipulirt und dadurch selbst
zum Recht d. i. zu einem Zwangsrecht erhoben werde. Der Unterschied
desselben von der oben erörterten Sachlage besteht darin, dass in der
letzteren das Recht zu zwingen als eine mit jedem Rechte unmittelbar
nicht nur verbundene, sondern demselben innewohnende und folglich
aus demselben ohne weiteres fliessende Befugniss angesehen, dagegen
nun als ein zweites neben und ausser dem Recht, zu dessen Schutze es
bestimmt ist, ausdrücklich errichtetes und mit diesem nicht innerlich
(deductiv), sondern nur äusserlich (copulativ) verbundenes Recht
betrachtet wird. Durch dasselbe verwandelt sich der zur gewaltsamen
Zurückeroberung der verweigerten Leistung ausgeübte Zwang und der
zum Schutz gegen Ueberschreitung geübte gewaltsame Widerstand aus
unrechtmässigen (unerlaubten) in rechtmässige Handlungen, indem
beide Theile eingewilligt haben, der eine die zur Durchsetzung der
Pflicht, der andere die zum Schutz gegen Missbrauch nothwendigen
Gewaltmassregeln sich gefallen lassen zu wollen.

210. Da die Idee des Rechts nichts weiter verlangt, als dass Streit
gemieden d. h. gegenwärtiger Streit geschlichtet, zukünftiger verhütet
werde, so ist dasselbe in dem Grade als vollkommener anzusehen, als
obiger Zweck erreicht d. h. als durch dasselbe Streit beseitigt oder
unmöglich gemacht wird. Welcherlei Inhalt dazu in jedem gegebenen Falle
der zweckdienlichste d. h. welcherlei Recht in jedem gegebenen Falle
das zweckentsprechendste sein werde, lässt sich nicht im Allgemeinen
festsetzen, sondern hängt von dem jeweiligen Inhalt derjenigen
Willensäusserungen ab, deren Verträglichkeit unter einander durch
dasselbe gesichert werden soll. Schon von Natur aus mit einander
verträgliche Willensäusserungen (sogenannte angeborene Rechte),
sobald es deren überhaupt gibt, bedürfen, da zwischen ihnen kein
Streit herrscht, auch nicht besonderer Festsetzungen, denselben zu
vermeiden; es wäre denn, es träten Fälle ein, in welchen auch diese
sonst verträglichen Willensäusserungen zu einander ausschliessenden
werden und Streit verursachen. Von dieser Art sind z. B. diejenigen
Willensäusserungen, die im Gebrauch der Athmungsorgane zum
Einschlürfen der zum Lebensunterhalt unentbehrlichen Quantität
atmosphärischer Luft bestehen. Dieselben gelten unter normalen
Verhältnissen als verträglich unter einander, indem jederzeit Luft
genug existirt, um dem gleichzeitigen Athmungsbedürfniss Mehrerer
zu genügen. Das Recht, sich derselben zum Athmen zu bedienen, kann
daher im obigen Sinne als ein natürliches (sogenanntes angeborenes)
angesehen werden. Tritt jedoch der Fall ein, dass (wie z. B. in
Holwell's "schwarzer Höhle" oder unter der Taucherglocke) das
vorhandene Quantum athembarer Luft ein beschränktes, wol gar für
das vorhandene Bedürfniss der Mehreren nicht ausreichendes wird,
so werden die sonst verträglich gewesenen Aeusserungen des Willens,
zu athmen, sofort zu unverträglichen: es entsteht Streit und damit
nicht nur die Möglichkeit, sondern der Idee des Rechts zufolge die
Aufforderung, ein Recht d. i. eine Bestimmung zu treffen, durch
welche (wie es z. B. unter der Taucherglocke thatsächlich der Fall
ist) der Verbrauch der Luft bezüglich der Einzelnen geregelt und
deren erlaubter vom unerlaubten gesondert wird. Sind dagegen die
Willensäusserungen von Haus aus unverträgliche, so wird jenes Recht
das beste sein, welches die darin liegende Ursache des Streits am
schnellsten, gründlichsten und dadurch am dauerhaftesten behebt,
wobei indess immer der Grundsatz gilt, dass auch das schlechte Recht,
weil es den Streit, wenn auch nur oberflächlich und vorübergehend,
beseitigt, immer noch besser sei als der Streit selbst.

211. Lässt sich aber auch über den Inhalt möglicher Rechte ohne
Berücksichtigung des Inhaltes möglicher Willensäusserungen nichts
allgemeines aussagen, so lassen sich doch in Bezug auf die Form,
durch welche das Recht seiner Idee in mehr oder minder vollkommener
Weise genügt, Bestimmungen treffen. Hier gilt, dass das Recht (es
sei natürliches oder vertragsmässiges) seinem Inhalt nach, er sei,
welcher er wolle, nicht zweifelhaft sein d. h. dass derselbe entweder
(wie es bei den natürlichen Rechten der Fall zu sein pflegt) an sich
evident sein, oder (wie es bei den vertragsmässigen Rechten durch
besondere die Festsetzung derselben begleitende Förmlichkeiten:
Gebrauch bestimmter Worte oder äusserer Zeichen, Handschlag,
Stabbruch u. dgl. zu geschehen pflegt) evident gemacht werden
muss. Zweifel in ersterer Hinsicht, durch welche entweder der Inhalt
wirklicher natürlicher Rechte ungebührlich ausgedehnt, oder ein
seinem Inhalte nach keineswegs natürliches Recht als angeborenes
in Anspruch genommen wird, sind daher (im ethischen Sinne) nicht
weniger schädlich als Zweifel der letzteren Art, durch welche der
vertragsmässige Inhalt eines positiven Rechtes seinem ursprünglichen
Sinne entgegen umgedeutet oder ein anderes als das vertragsmässige
Recht als vertragsmässig behauptet wird. Doppelsinn, Halbheit oder
Zweideutigkeit des Ausdruckes, Ausserachtlassen von Bedingungen, die
auf die künftige Geltung des Rechtes von Einfluss sein können, sind
daher Mängel des Rechtes, denen gegenüber die, wenn auch an Pedanterie
streifende Deutlichkeit und Umständlichkeit der Formulirung, so wie
der vorschriftsmässige Gebrauch feststehender Formeln und Symbole
(wie im römischen, im deutschen Recht) im Recht am Platze ist.

212. Ist schon das zweifelhafte Recht von Uebel, weil es die
Bestreitung des Rechtes seinem Inhalte nach möglich macht, ja
erleichtert, so ist das "naturwidrige" Recht d. i. ein solches, dessen
Bestimmungen mit Gesetzen, sei es der leblosen, sei es der lebendigen
Natur im Widerspruch stehen, also ohne jene, was unmöglich ist, zu
umgehen, nicht in Vollziehung gesetzt werden können, in noch höherem
Grade fehlerhaft, weil es anstatt den Streit zu verhüten, zu demselben
reizt und dessen Bestand permanent macht. In Bezug auf dasjenige Recht,
dessen Bestimmungen den Naturgesetzen der leblosen Natur zuwiderlaufen,
versteht diese Mangelhaftigkeit und damit die Nichtigkeit desselben
der Idee des Rechtes gegenüber sich von selbst, und das Märchen wie die
Mythe haben von derartigen, physisch unerfüllbaren Pflichtleistungen,
die den Hörer rühren und die Hilfe übernatürlicher Mächte herausfordern
sollen, reichlich Gebrauch gemacht. In Bezug auf solche dagegen, deren
Bestimmungen die lebendige Natur z. B. die Bewegung und den Gebrauch
der Glieder des eigenen Leibes als Werkzeug der Willensäusserung
betreffen, offenbart sich die Widernatürlichkeit einer Verpflichtung,
durch welche auf jene verzichtet werden soll, dadurch, dass in Folge
der unzerreissbaren Association zwischen Bewusstseinsvorgängen und
Willensimpulsen auf der einen und Muskelbewegungen, die zur Veränderung
der Stellung des Leibes und der Glieder führen, auf der anderen Seite
jener Verzicht unaufhörlich nicht durch, sondern ohne, ja wider den
Willen des Verpflichteten zurückgenommen, das Recht gebrochen werden
wird, obige Bestimmung daher, weit entfernt, den Streit dauernd
hintanzuhalten, vielmehr unaufhörlich dazu beiträgt, denselben zu
erneuern. Die streng genommen zwar nicht Unrechtmässigkeit, aber
der Idee des Rechtes gegenüber Zweckwidrigkeit derartiger Rechte
(Leibeigenschaft, Hörigkeit, Sclaverei) hat dazu geführt, z. B. das
Recht auf den Gebrauch der eigenen Glieder und die freie Bewegung
des Leibes als ein sogenanntes "angeborenes" anzusehen, was es im
strengen Sinne des Wortes nicht ist, da die physische Unmöglichkeit,
auf dieselben zu verzichten, nicht behauptet, sondern nur der in einem
solchen Verzicht enthaltene, unaufhörlich wiederkehrende Reiz zur
Verletzung des eingegangenen Rechtes tadelnd hervorgehoben werden kann.

213. Ein der Idee des Rechtes entsprechendes Bild eines Zustandes,
in welchem kein Streit herrscht, liefert der Friede, sei es
der natürliche, innerhalb dessen entweder (wie "im Paradiese"
und im "goldenen Zeitalter") nur unter einander verträgliche
Willensäusserungen stattfinden, oder (so wie im sogenannten
Nothfrieden) mit einander unverträgliche Willensäusserungen nur
deshalb nicht stattfinden, weil die Streitenden, oder doch einer von
ihnen, obgleich der Wille zu streiten nach wie vor besteht, in Folge
physischer Erschöpfung ausser Stande sind ihren Willen zu äussern,
sei es der vertragsmässige, innerhalb dessen entweder aus Furcht oder
um des Vortheiles willen (Schacherfrieden) in dem einen, oder aus
Respect vor der Idee des Rechtes in dem anderen Falle vertragswidrige
d. h. unter einander unverträgliche Willensäusserungen unterlassen
werden. Letztgenannter entspricht, da der Respect vor der Rechtsidee,
wie diese selbst, sich immer gleich bleibt, dem Ideal eines Rechts-
d. i. eines Zustandes, in welchem der Streit dauernd vermieden wird,
unter den sämmtlichen angeführten in vollkommenster Weise.

214. An die ethische Idee des Rechtes schliesst sich ein Verfahren
an, welches die in derselben enthaltene Forderung nicht blos auf die
gesammten Willensäusserungen des Wollenden, sondern auf die Gesammtheit
der innerhalb des Umkreises einer Gesellschaft an den Tag tretenden
Willensäusserungen der Mitglieder derselben ausdehnt. Dasselbe
besteht darin, dass sämmtliche Willensäusserungen des Individuums zum
mindesten erlaubt d. i. rechtmässig, so wie dass keine der innerhalb
des Umkreises der Gesellschaft an den Tag tretenden Willensäusserungen
eines ihrer Mitglieder unerlaubt d. i. unrechtmässig sei; oder,
was dasselbe ist, dass weder der Wollende noch irgend ein Mitglied
der Gesellschaft durch irgend eine seiner Willensäusserungen Streit
erhebe. Die Tendenz desselben ist, nicht nur jede unrechtmässige
Handlung zu unterlassen, sondern wo Streit entstanden ist denselben auf
rechtmässige Weise zu schlichten, nicht nur von Seite des Wollenden in
Bezug auf jede seiner Handlungen, sondern von Seite der Gesellschaft
in Bezug auf jede innerhalb ihres Umkreises vorfallende Handlung
ihrer Mitglieder. Die Erfüllung derselben von Seite des einzelnen
Wollenden ergibt das Ideal des rechtlichen Mannes d. i. eines solchen,
der nicht nur für seine Person jeder unerlaubten Handlungsweise sich
jederzeit enthält, sondern wenn ohne, ja wider seinen Willen Streit
dennoch entstanden ist, denselben auf keine andere als auf erlaubte
Weise (also nicht durch Selbsthilfe, Duell u. s. w.) schlichtet;
die Erfüllung derselben von Seite einer Gesellschaft dagegen ergibt
das Ideal einer Rechtsgesellschaft d. i. einer solchen, die nicht
nur innerhalb ihres Umkreises diejenigen Anstalten trifft, um Streit
zwischen ihren Mitgliedern zu verhüten (Rechtsgesetzgebung), sondern
auch alle diejenigen anordnet, deren Zweck es ist, entstandenen
Streit auf rechtmässige Weise zu schlichten (Gerichtsverfahren). Jenes
bildet sowol beim einzelnen Wollenden wie bei der Rechtsgesellschaft
den präventiven, den Ausbruch des Streites beseitigenden, dieses bei
beiden den repressiven, ausgebrochenen Streit beschwichtigenden Theil
der Erfüllung der Rechtsidee.

215. Je nach den verschiedenen Gattungen unerlaubter Handlungen und
Achtung heischender Rechte, welche der Einzelne sich zu unterlassen
und zu respectiren gebietet, wie je nach der Mannigfaltigkeit der
Veranlassungen, welche zum Streitausbruch, und der Verfahrungsweisen,
welche zum Streitaustrag führen können, kommt in die rechtliche
Gesinnung des Einzelnen wie in die Rechtsgesetzgebung und das
Rechtsverfahren der Gesellschaft eine Buntheit und Vielartigkeit,
welche je nach der vorherrschenden Berücksichtigung einer bestimmten
Classe von Rechten vor und im Gegensatz zu den übrigen (z. B. der
privaten vor den öffentlichen, oder umgekehrt der öffentlichen vor
dem privaten, des Hausrechts vor dem Landrecht und dessen vor dem
Reichs- und Staatsrecht, des kirchlichen vor dem weltlichen Recht,
oder umgekehrt u. s. w.) der Rechtsgesinnung des Einzelnen so wie
der Gesellschaft eine bestimmte Färbung (z. B. die privatrechtliche
im germanischen, die öffentlich rechtliche im antiken Recht, die
clericale im mittelalterlichen, die profane im modernen Staate)
ertheilt und in den verschiedenen Zweigen sowol der Rechtsgesetzgebung
wie des Rechtsverfahrens sich, sei es zu Gunsten, sei es zu Ungunsten
einer oder der anderen Classe von Rechten, geltend macht. Letztere
beiden zerfallen je nach den verschiedenen Classen der Rechte, die
zu errichten und zu schützen sind, sich unter einander aber eben so
wol zu widerstreiten scheinen, als zu ergänzen bestimmt sein können,
in eben so viele Zweige sowol der Gesetzgebung als des gerichtlichen
Verfahrens, zwischen welchen ihres scheinbar ausschliessenden
Charakters ungeachtet (z. B. geistliche und weltliche Gesetzgebung,
canonisches, militärisches und Civilgerichtsverfahren u. dgl.) eine
weise Rechtsorganisation das Gleichgewicht nicht nur, wo es gestört
zu werden droht, herzustellen, sondern dauernd zu erhalten und zu
befestigen bemüht sein wird.

216. Der qualitative Gesichtspunkt der missfälligen Störung durch
absichtliche Willensäusserung ergibt die ethische Idee der (billigen)
Vergeltung. Dieselbe entsteht durch die Uebertragung der ästhetischen
Idee des Ausgleichs auf das ethische Gebiet. Wie Schein, der sich
für Sein gibt, um deswillen unbedingt missfällt und, so weit sich
derselbe vor das Sein hervorgedrängt hat, so weit wieder zurückgedrängt
d. i. das ursprüngliche Sein aus seiner Verdunkelung wieder hergestellt
werden muss, damit das Missfallen verschwinde, so missfällt absichtlich
herbeigeführte Störung, die sich für Nichtstörung ausgibt und daher
durch entsprechende Gegenstörung ausgeglichen d. i. der ursprüngliche
oder doch ein diesem gleicher Zustand wieder hergestellt werden muss,
damit das Missfallen aufhöre. Da die Ursache der eingetretenen Störung
weder eine leblose (ein blosses Naturereigniss), noch eine absichts-
(also bewusst-) lose Willensäusserung (im Affect, in der Leidenschaft),
sondern eine absichtliche (also bei klarem Bewusstsein beabsichtigte)
Willensäusserung ist, so fällt, da die entsprechende Gegenstörung
nichts anderes als die Wirkung der Störung und folglich, da diese
selbst die Wirkung jener Ursache, zugleich die (nur entferntere)
Wirkung jener absichtlichen Willensäusserung ist, dieselbe mit
ganzer Gewalt und in ihrem ganzen Umfange auf den Träger der
absichtlichen Willensäusserung d. i. den Thäter als den "Störenfried"
zurück. Derselbe erscheint daher einerseits als verantwortlich
für die Störung, andererseits als Gegenstand der Gegenstörung. In
ersterer Hinsicht hängt der Grad seiner Verantwortlichkeit ab von
dem Grad seiner Urheberschaft; in letzterer Hinsicht wird das Mass
der an ihm zu verwirklichenden Gegenstörung durch dasjenige der von
ihm ausgegangenen Störung vorgezeichnet.

217. Der Grad der Urheberschaft wird gemessen durch die Erwägung,
inwiefern und inwieweit eine gewisse Störung als Wirkung
absichtlicher Willensäusserung eines gewissen Wollenden angesehen
werden könne. Dieselbe hat zunächst zu erforschen, ob und dass
die stattgehabte Störung Wirkung eines Willens (d. i. ob und dass
sie Willensäusserung), hierauf, ob und dass diese Willensäusserung
absichtlich d. i. unter Umständen erfolgt sei, unter welchen allein
von Wollen einer- und Absichtlichkeit andererseits die Rede sein
könne. Erstere Untersuchung, da sie den Zusammenhang einer in der
Aussenwelt eingetretenen Veränderung eines bisherigen Zustandes
und die Verursachung dieser durch einen wirksam gewordenen Willen
betrifft, hängt von der Rücksicht auf die Naturgesetze der äusseren
(physischen) Welt ab; letztere Untersuchung, da sie den Zusammenhang
eines bestimmten Wollens mit einem bestimmten Vorsatz d. i. die
Verursachung einer im Innern des Bewusstseins vor sich gegangenen
Veränderung im Wollen durch einen gleichfalls im Bewusstsein
vorgegangenen Act des Intellects betrifft, hängt von der Rücksicht
auf die Naturgesetze der inneren (psychischen) Welt ab. Jene hat zu
constatiren, dass es bei der Verursachung der Störung durch ein Wollen,
diese, dass es bei der Verursachung des Wollens durch den Intellect
"mit rechten Dingen" zugegangen d. h. dass nicht nur zwischen der
Störung und dem angeblichen Störenfried ein Causalzusammenhang
bestehend, sondern dass derselbe an keiner Stelle unterbrochen,
kein Ring der Kette ausgefallen sei. Das Ergebniss der ersteren ist
der Grad der physischen, jenes der letztern Betrachtung der Grad der
psychischen Urheberschaft des Thäters.

218. Letzterer hängt ab von der Zurechnungsfähigkeit des Thäters. Eine
solche ist nicht vorhanden, wenn die psychischen Bedingungen mangeln,
von welchen nach psychischen Naturgesetzen das Zustandekommen
eines wirklichen Wollens, so wie dessen Beeinflussung durch den
Intellect abhängig ist. Da nun wirkliches Wollen nur dort existirt,
wo weder, wie beim Begehren, zwar eine Vorstellung des Begehrten,
aber keine von dessen Erreichbarkeit oder Nichterreichbarkeit, noch,
wie beim Wünschen, nebst der Vorstellung des Gewünschten auch noch
die Vorstellung von dessen Unerreichbarkeit, sondern nur dort, wo
ausser der Vorstellung des Gewollten auch noch die Ueberzeugung von
dessen Erreichbarkeit vorhanden ist, so hängt die Entscheidung über
die Zurechnungsfähigkeit in erster Reihe davon ab, ob der Zustand
des Bewusstseins ein solcher gewesen sei, in welchem die Möglichkeit
vorhanden war, über Erreichbarkeit oder Unerreichbarkeit des Begehrten
Erwägungen anzustellen, Urtheile zu fällen und sein Begehren durch
dieselben bestimmen zu lassen d. h. ob der angebliche Thäter in einem
Gemüthszustande sich befunden habe, der es ihm psychisch möglich
machte, verständige Ueberlegungen über sein Begehren anzustellen. Da
ferner von einer Absicht in Bezug auf den Andern nur insofern die
Rede sein kann, als eine Vorstellung davon vorausgesetzt wird, was die
Folge einer gewissen Willensäusserung in dem Zustande des Anderen sein
d. h. ob derselbe dadurch verbessert oder verschlechtert werden werde,
so hängt die Entscheidung über die Zurechnungsfähigkeit in zweiter
Reihe davon ab, ob der Zustand des Bewusstseins ein solcher gewesen
sei, um eine Vorstellung von den unausbleiblichen oder doch möglichen
Folgen einer gewissen Handlung für den Leidenden wirklich oder auch
nur möglich zu machen d. i. ob der angebliche Thäter sich in einem
Geisteszustande befunden habe, der ihm erlaubte, eine vernünftige
Ueberlegung anzustellen.

219. Der Unterschied beider Ueberlegungen ist dieser: erstere,
die sogenannte verständige, hat es, nachdem das Begehren einmal
vorhanden ist, lediglich mit der Frage zu thun, ob das Begehrte auch
möglich sei. Letztere, die sogenannte vernünftige, hat es, bevor noch
ein Begehren wirklich vorhanden ist, mit der Frage zu thun, ob ein
solches erlaubt sei. Die Antwort auf jene Frage hängt lediglich von
Erwägungen ab, deren Gegenstände aus dem Bereiche der physischen,
die Antwort auf diese dagegen von solchen, die aus dem Bereiche der
sogenannten moralischen Welt entnommen sind. Ueber Erreichbarkeit oder
Unerreichbarkeit entscheidet richtig oder unrichtig die Kenntniss oder
Unkenntniss der Naturgesetze; über die Erlaubtheit oder Unerlaubtheit
entscheidet wahr oder falsch das Bewusstsein oder das Nichtbewusstsein
der Moralgesetze. In einem Zustand, in welchem das "Weltbewusstsein"
d. i. die Fähigkeit, nach der vorhandenen Kenntniss der Naturgesetze
zu verfahren, aus was immer für einem Grunde (augenblickliche oder
dauernde Unwissenheit) nicht vorhanden oder abhanden gekommen ist,
kann keine verständige, in einem solchen, in welchem "das ethische
Bewusstsein" d. i. die Stimme des Gewissens, die Kenntniss des
Gebotenen und Verbotenen, sei es aus was immer für einem Grunde
(ethische Blindheit oder ethische Verblendung) unterdrückt ist,
keine vernünftige Ueberlegung stattfinden. Der angebliche Thäter ist
in solchem Falle entweder schon in erster oder doch in zweiter Reihe
im psychologischen Sinne des Wortes unzurechnungsfähig.

220. Der Umstand, ob die dem Störenfried zur Last fallende Störung
seinerseits durch die absichtliche Herbeiführung oder die eben
so absichtliche Unterlassung einer gewissen Willensäusserung
verursacht wird, macht in der Beurtheilung seiner Urheberschaft
keinen wesentlichen Unterschied. Ersterer Fall, welcher, wenn die
verursachte Störung ein Wehe des von derselben Betroffenen darstellt,
als dolus bezeichnet wird, kommt mit dem letzteren, welcher unter
derselben Voraussetzung den Namen culpa führt, darin überein, dass
beide Ursache der Störung sind, und unterscheidet sich von diesem nur
dadurch, dass der Thäter das einemal etwas thut, von dem er weiss,
dass dessen Thun, das anderemal etwas nicht thut, von dem er weiss,
dass dessen Nichtthun eine gewisse Folge nach sich ziehen müsse und
werde. Letzteres Wissen wird nothwendig erfordert, wenn von einer durch
Unterlassung auf sich geladenen Schuld des Unterlassenden die Rede
sein soll; wo dasselbe mangelt, aber durch die Unterlassung Störung
entsteht, kann der Unterlassende höchstens in dem Falle für dieselbe
zur Verantwortung gezogen werden, als ihm die Nichtunterlassung
ausdrücklich zur Pflicht gemacht war. Dessen Vergehen besteht
jedoch in einem solchen Fall nicht sowol in der Herbeiführung der
Störung, von deren Möglichkeit er nichts wusste, als vielmehr in der
Vernachlässigung der ihm aufgetragenen Pflicht. Fand weder Wissen um
die Folgen, noch ausdrückliches Gebot der Nichtunterlassung statt,
so kann von einer absichtlichen Unterlassung nicht gesprochen und die
Folge der Störung dem "unfreiwilligen" Störenfried nicht aufgebürdet
werden.

221. Mit dem Erweis der Thäterschaft ist das Object der Vergeltung,
mit dem Mass der Thäterschaft das Mass dieser letzteren gegeben. Jede
wirkliche Störung kann, um nicht missfällig zu werden, nur am
wirklichen Thäter und nur in dem Masse, aber auch nicht unter demselben
vergolten werden, in welchem er Thäter ist. Inwiefern die von ihm
ausgegangene That selbst Wohl- oder Wehethat, der Thäter wirklicher
Wohl- oder Wehethäter ist, nimmt die Vergeltung die Gestalt der
Belohnung d. i. des Rückgangs eines dem zugefügten gleichen Quantums
von Wohl an den Wohlthäter, oder der Bestrafung d. i. des Rückgangs
eines gleichen Quantums von Wehe an den Wehethäter an.

222. Ueber das Subject der Vergeltung d. i. den zur Vergeltung
Berufenen, wird durch die Idee der Vergeltung nichts ausgesagt. Die
Forderung derselben lautet dahin, dass vergolten werde, aber sie
lässt dahingestellt, durch wen vergolten werde. Dieselbe ist erfüllt
und das Missfallen geschwunden, wenn die Störung ausgeglichen, auch
dann, wenn durch die Ausgleichung dieser Störung der Ausgleichende
(der Vergelter) aus irgend einem Grunde selbst tadelnswerth geworden
ist. Die Vergeltung kann eben so gut durch einen unpersönlichen
Vorgang (auf dem Naturwege), wie durch einen persönlichen Act (auf dem
Gerichtswege) erfolgen. In ersterem Fall zieht die eingetretene Störung
die entsprechende Gegenstörung (die That das Loos) wie die Ursache ihre
Wirkung nach sich; im letzteren Fall wird die Vergeltung, welche sonst
ausgeblieben wäre, über den Thäter in Folge des Rathschlusses einer
persönlichen Vergeltungsmacht (sei es göttlicher oder menschlicher)
verhängt und ausgeübt. In ersterem Fall herrscht Nemesis, im letzteren
Dike.

223. Die vergeltende Persönlichkeit kann tadelnswerth erscheinen,
nicht weil sie vergilt, sondern weil sie vergilt. Die Vergeltung von
Wohlthaten durch ein entsprechendes Quantum Wohl an dem Wohlthäter
lässt nicht nur die Idee der Vergeltung, sondern auch die Person
des Vergelters in verklärendem Lichte erscheinen, weil bei dem
Wohlspendenden nicht blos billige, sondern (mit Recht oder Unrecht)
auch wohlwollende Gesinnung vorausgesetzt wird. Die Vergeltung der
Wehethat durch ein entsprechendes Quantum Wehe an dem Wehethäter
dagegen lässt die Person des Vergelters in einem ungünstigen Lichte
sich darstellen, weil an derselben zwar die billige Gesinnung
allenfalls anerkannt, aber der Verdacht übelwollender Gesinnung
d. i. einer Freude am Wehethun rege gemacht wird. Der Strafrichter,
der das Urtheil fällt, noch mehr der Nachrichter, der es vollzieht, hat
die Wirkung dieses unwillkürlichen Nebenverdachtes an seiner Person zu
erfahren; der Henker, der Hand anlegt an den, wenn auch gerechterweise,
Verurtheilten, wird von der Volksmeinung für unehrlich erklärt und
wurde nicht selten in der Ausübung seiner Pflicht vom Volke gehindert
und gesteinigt. Wie es in feiner empfindenden Zeitaltern einst dahin
kommen mag, dass die Anwendung der Todesstrafe von selbst aufhören
muss, weil sich niemand mehr finden wird, der das verrufene Amt des
Scharfrichters auf sich nimmt, so liesse sich denken, dass die Fällung
von, wenn auch gerechten, Strafurtheilen bei empfindlichen Seelen
Widerstand erfährt, weil sich dieselben weder vor Anderen noch vor
sich selbst dem Verdacht aussetzen mögen, mehr der Freude, Anderen
weh thun zu können, nachgegeben, als der Idee billiger Vergeltung
ausschliesslich gehorcht zu haben.

224. Dieser Verdacht wird gesteigert, wenn die Person des Vergelters
mit dem Beleidigten, schwindet beinahe völlig, wenn dieselbe mit dem
Beleidiger identisch ist. Ersteres enthält den Grund, um deswillen
Vergeltung von Rache verschieden, letzteres den Grund, warum unter
allen Formen der strafenden Vergeltung die der Selbstvergeltung die
am mindesten anstössige ist. Bei demjenigen, der durch den Andern
absichtliches Weh erlitten hat, liegt die Voraussetzung, dass er die
sich darbietende Gelegenheit, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, nicht
sowol mit der persönlichen Kühle des unbetheiligten Richters, sondern
mit der schadenfrohen Hitze des gereizten Rachgierigen ergreifen
werde, am nächsten; die Hoffnung, dass derselbe es bei dem billigen
Masse der Vergeltung bewenden lassen werde, ist bei ihm die geringste;
die Aussicht, dass er dasselbe in ungebührlicher Weise überschreiten
werde, die wahrscheinlichste. Unter allen als passende Werkzeuge der
Vergeltung denkbaren Persönlichkeiten ist daher die des Beleidigten die
unpassendste und sonach durch die Idee der Billigkeit vom Vergelteramt
(z. B. im Zweikampf, Duell) ausgeschlossen. Dagegen, da bei jedem
Einzelnen die Neigung, sich selbst Wehe zu thun, nicht, der Entschluss,
sich selbst ein derartiges zuzufügen, nur als Wirkung eines über die
Schranken eudämonistischer Motive hinausreichenden, idealen d. i. nur
von ethischen Ideen beherrschten Wollens vorausgesetzt werden kann,
ist die Selbstvergeltung d. i. die Zufügung eines dem von ihm
ausgegangenen gleichen Quantums von Wehe an seine eigene Person
von der Hand des Wehethäters über jeden Verdacht anderer als rein
ethischer Vergeltungsgesinnung erhaben und zugleich die Annahme,
dass sich der Vergelter mit dem billigen Masse der Vergeltung
begnügen werde, gerechtfertigt, so dass durch dieselbe der Idee
der Vergeltung zugleich in der reinsten und in der angemessensten
Weise Genüge gethan wird. Dieselbe ist daher nicht nur des Nimbus
halber, mit dem sie die Person des Vergelters umgibt, sondern auch
um der Kürze und Anschaulichkeit des Vergeltungsverfahrens willen
(z. B. als vergeltender Selbstmord) im Drama (Othello, Don Caesar,
Guido von Tarent u. A.) besonders beliebt.

225. Wie die Nothwendigkeit zu strafen, um Missfallen zu vermeiden,
von der Idee der Vergeltung, so hängt die Möglichkeit zu strafen,
ohne missfällig zu werden, von dem Motiv des Strafenden ab. Fordert
die erste: fiat justitia pereat mundus, so erlaubt die letztere nur:
fiat justitia, ne pereat mundus. Das Motiv der Strafe kann kein
anderes sein, als damit die geschehene Wehethat nicht unvergolten,
der Wehethäter nicht straflos bleibe. Der Beweggrund des Strafenden
kann kein anderer sein, als die wohlwollende Gesinnung, dass durch
den Vollzug der Strafe nicht sowol Anderen Leid zugefügt, als vielmehr
Anderer Leid verhütet, oder Anderer Wohl gefördert werde. Je nachdem
dieser Andere der Wehethäter selbst, oder ein Anderer als dieser ist
d. h. durch das Wehe, das dem Wehethäter zugefügt wird, entweder
dessen eigenes Weh verhütet oder gemildert, dessen eigenes Wohl
gewahrt und gemehrt werden soll, oder das gleiche bei einem Andern
dadurch herbeigeführt werden soll, zerfällt vom Gesichtspunkt des
Strafenden aus die Strafe in Besserungs- und Abschreckungsstrafe. Jene
geht darauf aus, den Wehethäter selbst, diese den Anderen seiner
ethischen Beschaffenheit nach durch das dem ersteren zugefügte Leid zu
verändern d. h. die Strafe als ein Motiv in das Bewusstsein des einen
wie der anderen zu dem Zwecke einzuführen, damit in der Folge eine der
strafbaren Handlung gleiche Handlungsweise, sei es von dem Gestraften
selbst, sei es von den Zeugen seiner Bestrafung unterlassen werde. Die
durch die Strafe herbeizuführende Aenderung der ethischen Qualität
besteht bei dem Gestraften in einer wirklichen Aenderung seines
bisherigen (sträflichen) Wollens, so dass an die Stelle desselben
künftig ein seinem Inhalt nach entgegengesetztes (unsträfliches) Wollen
trete, sein Wollen demnach ein besseres werde. Bei Anderen dagegen
kann dieselbe nur darin bestehen, dass ein gewisses bisher nicht
wirklich vorhandenes d. h. noch niemals in Handlung übergegangenes,
wenngleich vielleicht als Neigung, Hang, Vorsatz längst bestandenes
Wollen auch künftig nicht wirklich d. i. wirksam werde. Während daher
die Abschreckungsstrafe ihren Zweck erfüllt, wenn sie überhaupt Andere,
also auch den Gestraften selbst zur Enthaltung von der strafbaren
Handlung bewegt, hat die Besserungsstrafe denselben erst dann erreicht,
wenn sie in den Anderen und darunter vor allem in dem Gestraften ein
neues, dem Inhalt der sträflichen Handlung entgegengesetztes Wollen
erzeugt. Da die Strafe ein Wehe zufügt, so wird der Grund, durch
welchen dieselbe sowol zum Motiv der Enthaltung vom sträflichen, wie
zur Erzeugung eines demselben entgegengesetzten Wollens wird, zunächst
kein anderer sein, als Furcht vor dem Wehe, das sie mit sich bringt:
Furcht vor dessen Wiederkehr bei dem Gestraften, vor dessen drohendem
Eintreten bei dem Zeugen der Strafe. Hat dieselbe zur Folge, dass
sowol bei dem Gestraften als bei den Zeugen der Strafe, das sträfliche
Wollen, bei dem Gestraften nicht mehr, bei den Anderen überhaupt
nicht eintritt, so sind die letzteren nicht schlechter geworden,
als sie waren, so ist das Wollen des Gestraften besser geworden,
als es war; der Gestrafte selbst aber, so lange nur Furcht vor der
Strafe ihn von der Wiederbegehung der sträflichen Handlung abhält,
ist nicht gebessert. Letzteres ist erst dann der Fall, wenn nicht nur
das Wollen ein anderes, sondern auch das Motiv des anders Wollens ein
anderes als das eudämonistische der Furcht d. h. wenn es das ethische,
die Ueberzeugung von der Verwerflichkeit der strafbaren Handlung
als solcher geworden ist. Diesen äussersten Schritt, welcher nicht
blos eine Aenderung des Wollens, sondern eine solche der Gesinnung
bedeutet, in dem Gestraften herbeizuführen, reicht die blosse Strafe,
welche als solche zwar auf das Gemüth d. i. auf die Empfänglichkeit für
die angenehmen oder unangenehmen Folgen einer gewissen Handlungsweise,
und auf die Klugheit, unangenehmen Folgen auszuweichen, keineswegs aber
auf die praktische Weisheit d. i. auf die Einsicht in den unbedingten
Werth oder Unwerth einer Handlungsweise Einfluss zu üben vermag,
für sich so wenig aus, dass zur Erreichung dieses Zweckes vielmehr
andere Mittel (Belehrung, Erziehung) zu Hilfe genommen werden müssen,
das Beste aber von dem im Gemüth des Gestraften selbst zum Durchbruch
gelangten Erwachen der unwiderstehlichen Stimme und Macht des Gewissens
erwartet werden muss.

226. Letztgenannter Grund ist es, welcher bewirkt, dass die
Formen der Strafe, je nachdem dieselbe als Besserungs- oder als
Abschreckungsstrafe betrachtet wird, unter einander abweichende,
nicht selten sogar entgegengesetzte Gestalt annehmen. So fordert
die Strafe, die abschreckend wirken soll, volle, ja verstärkte
Oeffentlichkeit, während die Besserung des Gestraften, wenn sie
den Zweck der Strafe abgeben soll, durch Geheimhaltung derselben,
um diesem die Beschämung zu ersparen, begünstigt wird. Während die
Oeffentlichkeit des Strafvollzuges die Furcht vor der Strafe steigert,
erleichtert deren Geheimhaltung dem Gestraften die Aenderung sowol
seines bisherigen Wollens wie seiner bisherigen Gesinnung. Jene
erschwert dem Gestraften auch nach eingetretener Besserung den
Rücktritt in die Gesellschaft, die Zeuge seiner Bestrafung gewesen
ist; diese, indem sie Bestrafung und Gesinnungsänderung in der Stille
sich vollziehen lässt, macht durch weise Schonung des Ehrgefühles dem
Gestraften nicht sowol die Wiederaufnahme als vielmehr das dem Anschein
nach wenigstens ungestörte Fortleben unter Anderen möglich. Entmenschte
Rohheit und gedankenlose Neugier haben den öffentlichen Strafvollzug
längst mehr zur Befriedigung brutaler Schaulust und barbarischer
Gefühllosigkeit erniedrigt, als zum wirksamen Drohmittel erhabener
Gerechtigkeitspflege erhöht; die Verlegung desselben in abgelegene und
der Menge verschlossene Räume, so wie die Ersetzung der die sittliche
Pest durch Ansteckung mehrenden gemeinsamen durch der Einkehr in sich
selbst und dem Wachwerden ethischer Gesinnung vortheilhafte Einzelhaft
stehen in der Gegenwart als sichtbare Zeichen des Uebergewichtes
des Besserungs- über das blosse Abschreckungsmotiv und verfeinerten
ethischen Zartgefühles aufrecht.

227. An die Idee der billigen Vergeltung schliesst sich ein Verfahren
an, welches dieselbe nicht blos über die gesammte Willenssphäre
des Einzelnen, so weit nicht andere Motive es verhindern, einer-,
so wie auf sämmtliche innerhalb des Umkreises einer Gesellschaft zu
Tage tretende mittels absichtlicher Willensäusserung hervorgerufene
Störungen andererseits ausdehnt. Dasselbe geht darauf aus, dass nicht
nur jede vom Einzelnen verübte, wie jede am Einzelnen geübte That
vergolten, sondern dass jede innerhalb des Umkreises der Gesellschaft
ans Licht getretene Wohl- oder Wehethat in entsprechender Weise
vergolten werde. In ersterer Hinsicht schliesst die Idee der Vergeltung
die Forderung ein, dass jeder, der Gegenstand einer Wohl- oder Wehethat
gewesen ist, deren Vergeltung (entweder durch ihn selbst oder durch
Andere) suche, und jeder, der Urheber einer Wohl- oder Wehethat
geworden ist, deren Vergeltung (durch Andere oder durch sich selbst)
dulde. In letzterer Hinsicht drückt dieselbe aus, dass innerhalb des
Umkreises der Gesellschaft keine wie immer geartete wirklich vollzogene
That verborgen, so wie dass keine durch Zufall oder durch absichtliche
Veranstaltung ans Licht gezogene That ohne Vergeltung bleibe. Die
Erfüllung ersterer Forderung stellt das Ideal des gerechten Mannes,
der sein Recht fordert, aber auch nimmt, die Erfüllung der letzteren
das Ideal eines Lohnsystems d. i. einer Gesellschaft dar, innerhalb
welcher jeder That ihr Lohn, der Wohlthat die ihr gebührende Belohnung,
der Wehethat die verdiente Bestrafung zu Theil wird. Jenem entspricht
es, wie Heinrich von Kleist's Michael Kohlhaas darauf zu bestehen,
dass die ihm widerrechtlich geraubten Rosse, von dem junkerlichen
Räuber mit eigener Hand dick gefüttert, ihm zurückgestellt werden, aber
zugleich die über ihn selbst rechtmässig verhängte Strafe gesetzloser
Willkür und widergesetzlicher Selbsthilfe sich willig gefallen zu
lassen. Wie in ersterer Handlung des Gerechten berechtigter "Kampf
ums Recht", so tritt in der letzteren des Gerechten bereitwillige
Anerkennung des "Sieges des Rechtes" ans Tageslicht. Dem Ideal eines
Lohnsystems würde eine Gesellschaft genügen, in welcher nicht nur alle
zweckdienlichen Anstalten getroffen werden, nicht blos wie die heutigen
"Detectives" verborgen gebliebene Missethaten aufzudecken und wie
die heutigen "öffentlichen Ankläger" der Strafgewalt zu denunciren,
sondern in gleicher Weise geheime oder (zufällig oder absichtlich)
vergessene Wohlthaten aufzuspüren und als öffentliche Lobredner der
Macht, welche die Pflicht und die Mittel zur Belohnung besitzt,
zur Kenntniss zu bringen. In letzterem Sinn hat schon Sokrates
den ihm gebührenden Lohn dahin definirt, dass er verdient habe,
auf öffentliche Kosten im Prytaneum erhalten zu werden. Während die
heutige Gesellschaft für den Zweck der Entdeckung und Kundmachung
geschehener Wehethaten ein zahlreiches Heer besonders geschulter und
instruirter Organe besitzt, zieht sie es vor, ohne Zweifel um den
Zartsinn der Wohlthäter zu schonen, das Bekanntwerden geschehener
Wohlthaten dem Zufall, oder dem seltenen guten Willen der Empfänger
so wie der Neider anheimzustellen. Dieselbe hat ebenso es längst als
ihre Aufgabe angesehen, zur Bestrafung innerhalb ihres Umkreises
kundgewordener Vergehen zweckdienliche Anstalten (Strafgerichte)
und Verfahrungsweisen (Strafverfahren) zu errichten und zu ersinnen,
hat es jedoch in Bezug auf den zweiten, nicht minder wichtigen
Theil des Lohnsystems, die Belohnung auch der ihr bekannt gewordenen
Wohlthaten, bei den dürftigsten Einrichtungen (Preisgerichte) und
den armseligsten Verfahrungsweisen (Bürgerkronen, Ehrenzeichen,
Monthyon'sche Tugendpreise) bewenden lassen. Nicht Keppler allein
ist ein Beispiel, dass die moderne Gesellschaft Wohlthätern der
Menschheit "öffentliche Steine" statt Brot gegeben hat. Wie in der
gerechten Gesinnung des Einzelnen zwischen der Geneigtheit, sein
Recht zu fordern, und der Bereitwilligkeit, dasselbe zu nehmen,
so kann innerhalb des Lohnsystems zwischen der Sorgfalt Strafen zu
verhängen und der Lässigkeit Wohlthaten zu belohnen ein empfindliches
Missverhältniss herrschen, in Folge dessen die gerechte Gesinnung
in Vergeltungssucht einer- und Widersetzlichkeit andererseits, die
Gerechtigkeit der Gesellschaft in drakonische Strenge einer- und
athenische Undankbarkeit andererseits ausartet. Das Ueberwiegen der
Recht fordernden über die rechtsduldsame, der Straffrohen über die
belohnungseifrige Gesinnung oder das Gegentheil gibt dem Einzelnen
wie der Gesellschaft hinsichtlich der Idee der Vergeltung ihre
eigenthümliche Färbung und ruft jenen Gegensatz einander bekämpfender
Willensrichtungen, deren eine auf die Zufügung wenn auch verdienten
Weh's, die andere auf die Schenkung wohlverdienten Wohls gerichtet ist,
hervor, zwischen welchen eine weise Organisation sowol des Strafs-
wie des Belohnungssystems das versöhnende Mass herzustellen und
festzuhalten bemüht sein wird.

228. Mit der Idee der billigen Vergeltung ist die Reihe der
ethischen d. i. der Uebertragungen ästhetischer Ideen auf das
ethische Gebiet erschöpft. Keine derselben ist das ganze Gute,
aber jeder derselben entspricht ein Element des Guten. Wie das
vollkommene, so ist das innerlich freie und das wohlwollende Wollen
ein gutes; sind die Gegentheile des Streits: der Friede unter den
Wollenden, und der unvergoltenen That: die billige und willige
Vergeltung seitens der Wollenden, kein schlechtes Wollen. Aber nur
alle zusammengenommen als Eigenschaften des Wollens d. i. dasjenige
Wollen, das zugleich in quantitativer Hinsicht stark, in qualitativer
Hinsicht charaktervoll, gütig, rechtlich und gerecht ist, ist das gute
Wollen. Die Erweiterung der ethischen Ideen auf die Gesellschaft,
welche derselben nach einander den Charakter eines Cultursystems,
einer beseelten Gesellschaft, eines Verwaltungssystems, einer
Rechtsgesellschaft und eines Lohnsystems verleiht, bringt nicht nur
durch jede der genannten Eigenschaften eine von dem Gesichtspunkt
einer vereinzelten ethischen Idee aus verehrungs- oder doch wenigstens
achtungswürdige Gesellschaft, sondern durch die Vereinigung aller
genannten Eigenschaften das Ideal desjenigen hervor, was in besserem
als in dem banal-herkömmlichen Sinne der "guten Gesellschaft" eine
wahrhaft gute Gesellschaft d. i. eine solche heissen darf, in welcher,
wie in dem guten Wollen die einfachen, so die gesellschaftlichen
ethischen Ideen zur Verwirklichung gelangt sind.

229. Wie jeder der logischen und ästhetischen Ideen, so steht jeder
der ethischen Ideen ein Gegenbild zur Seite; jener der (ethischen)
Vollkommenheit das der (ethischen) Unvollkommenheit, jener der
inneren Freiheit das der inneren Unfreiheit (Willensknechtschaft),
jener des Wohlwollens das des Uebelwollens, während Streit und
unvergoltene That die natürlichen Gegensätze des durch die Ideen des
Rechts und der billigen Vergeltung Geforderten ausmachen. Wie jedes
einer ethischen Idee entsprechende Wollen ein gutes (lobenswerthes,
im ethischen Sinn schönes), so stellt jedes einem ihrer Gegenbilder
gleichende Wollen ein schlechtes (tadelnswerthes, im ethischen Sinne
hässliches) Wollen dar. Wie jene zusammengenommen den Inhalt des
Guten, so erschöpfen diese zusammengenommen den Inhalt des ethisch
verwerflichen Wollens. Wird dabei durch ein dem bei den ethischen Ideen
angewendeten ähnliches Verfahren die in dem Gegenbilde enthaltene
Forderung nicht blos auf das Gesammtwollen des einzelnen Wollenden,
sondern auf jenes einer ganzen Gesellschaft ausgedehnt, so entstehen
nach der Reihe die den oben genannten entgegengesetzten Einzel- und
Gesellschaftsideale. Dem Ideale des Willensstarken tritt gegenüber
die Willensschwäche, dem Ideal des Cultursystems das Zerrbild eines
solchen in der innerlich schwächlichen, dürftigen und zerfahrenen
Willensbeschaffenheit ihrer sämmtlichen Mitglieder. Dem Ideal des
Charakters und der beseelten Gesellschaft stellt sich das Extrem
innerer Haltlosigkeit im Einzelnen, so wie der seelenlose Mechanismus
und Formalismus in der Gesellschaft entgegen. Die Kehrseite des Ideals
der Güte und eines wohlwollenden Verwaltungssystems offenbart sich
in dem satanischen Ideal der Bosheit (dem Bösen), wie in dem wüsten,
auf Raubbau und nutzlose Vergeudung der Güter gegründeten Haushalt
innerlich und äusserlich verlotterter Wirthschaftsgesellschaften. Das
Widerspiel, sei es auf natürliche, sei es vertragsmässige Basis
gestellter Rechts- und Friedenszustände tritt in dem rücksichtslosen
Walten der Macht des Stärkern, in dem Kriege Aller gegen Alle und dem
auf gegenseitige Vernichtung abzielenden "Kampf ums Dasein" zu Tage,
während das Gegenstück zu dem in der Forderung billiger Vergeltung
enthaltenen Gemälde das Bild eines Zustandes darbietet, in welchem
der Wohlthäter darbt und das vergossene Blut vergebens zum Himmel
schreit. Wie die Zusammenfassung ethischer Gegenbilder im Wollen
eines einzelnen Individuums dieses zum Ideal der Schlechtigkeit
stempelt, so drückt die Zusammenfassung sämmtlicher Gegenbilder
ethischer Gesellschaftsideale im Wesen einer einzigen Gesellschaft
dieser in einem andern als in dem herkömmlich alltäglichen Sinn der
sogenannten "schlechten Gesellschaft" das Gepräge einer schlechten
Gesellschaft auf.

230. Mit der Aufstellung der ethischen Ideen und ihrer Gegenbilder,
der einen zur Nachahmung, der andern zur Abschreckung für jedes Wollen,
das auf Hervorbringung des guten d. h. unbedingt wohlgefälligen Wollens
gerichtet ist d. i. mit der Aufzählung der normalen und anormalen
Formen, welche Normen des Wollens und Handelns sind, ist das Geschäft
der Ethik als allgemeiner Wissenschaft vom Guten vollendet.



ZWEITES BUCH.

DAS WIRKLICHE.


ERSTES CAPITEL.

DAS NICHT-ICH.


231. Was überhaupt Wirkliches, dass irgendwie Wirkliches, und was
oder welcher Art das Wirkliche sei, ist weder so ausgemacht, noch so
leicht auszumachen, als diejenigen, welche es lieben, die Wissenschaft
vom Wirklichen als allein wirkliche Wissenschaft den "hohlen Träumen
der Speculation" entgegenzusetzen, zu glauben sich anstellen oder
Andere gern überreden möchten. Sofern und so lange es gewiss ist,
dass der Weg zum Wirklichen für das wirkliche Vorstellen nur durch
das wirklich Scheinende d. i. durch den Schein des Wirklichen führt,
der Schein der Wirklichkeit für das Bewusstsein früher gegeben
ist und demselben näher steht als die, wenn überhaupt vorhandene,
hinter demselben stehende Wirklichkeit selbst: so lange bleibt es
unbestreitbar, dass die Wissenschaft vom Wirklichen zunächst und vor
allem mit dem anscheinend Wirklichen sich aus einander zu setzen hat,
wenn sie nicht in Gefahr gerathen soll, blos scheinbar Wirkliches
für das Wirkliche selbst, oder, was in den Ohren der Freunde der
Wirklichkeit noch befremdender klingen müsste, den Schein für das
einzige Wirkliche zu halten.

232. Ersteres ist die Ansicht des (gemeinen empirischen) Realismus,
letzteres jene des (gleichfalls empirischen, obgleich nicht eben
gemeinen) Idealismus. Jener geht davon aus, dass das wirklich
Scheinende das Wirkliche, dieser davon, dass der Schein eines
Wirklichen das einzige Wirkliche sei. Vom Gesichtspunkt des Realismus
aus sind die Dinge nicht nur, wenn, sondern sie sind auch das, was
sie zu sein scheinen; von dem Gesichtspunkt des Idealismus aus sind
die Dinge, die scheinen, die einzigen, welche sind. Jener schliesst
jede Möglichkeit eines Zwiespaltes zwischen Schein und Wirklichkeit
aus dem Grunde aus, weil das scheinbar Wirkliche mit dem Wirklichen
identisch, dieser dagegen aus dem Grund, weil ausser dem Schein kein
Wirkliches vorhanden ist.

233. Ersterem steht die Thatsache im Wege, dass es wirklich Scheinendes
gibt, dem doch keine Wirklichkeit entspricht, letzterem der Umstand,
dass, wenn dem Schein kein Wirkliches gegenübersteht, es auch
keinen Schein geben kann. Der Mond, der am Horizont emporsteigt,
scheint wirklich grösser als derselbe Mond, wenn er im Zenith steht,
ohne dass daraus folgte, dass er wirklich grösser sei. Der wirklich
vorhandene Schein ist in diesem Fall eine nothwendige Täuschung, welche
dadurch, dass sie nothwendig ist, nicht aufhört, Täuschung zu sein. Die
scheinbare Bewegung des gestirnten Himmels um die Erde, welche der
wirklichen Bewegung der Erde um ihre Axe gerade entgegengesetzt ist,
ist der Schein einer Wirklichkeit, aber nicht diese selbst. Wie in den
angeführten Fällen vertreten in allen sogenannten Sinnestäuschungen,
denen entweder ein Anderes als das scheinbare Wirkliche (Illusionen),
oder überhaupt kein Wirkliches entspricht (Hallucinationen),
anscheinende die Stelle der wirklichen Dinge, während in den
sogenannten Sinnesqualitäten (Färbung, Klang, Geruch, Geschmack,
Härte, Weichheit u. dgl.) anscheinende Eigenschaften, die ihren
Grund nur in der Beschaffenheit des wahrnehmenden Sinnesorgans,
die Stelle wirklicher Eigenschaften vertreten, die ihren Grund in
der Zusammensetzung, inneren und äusseren Structur, oder in der
Beschaffenheit der Oberfläche der Körper selbst haben. So ist die
Farbe, die dem gemeinen Realismus als eine wirkliche Eigenschaft der
Körper gilt, in Wahrheit nur eine scheinbare Eigenschaft derselben,
weil sie denselben nur insofern und nur unter der Voraussetzung
zukommt, inwiefern und dass ein sehendes Auge vorhanden sei, welches
den Eindruck des von der Oberfläche des Körpers reflectirten Lichts
auf der empfindlichen Netzhaut empfängt und in Empfindung der Farbe
verwandelt. So ist der Klang, der nach derselben Anschauungsweise zu
den realen Eigenschaften des tönenden Körpers gehört, nichts weiter,
als die in Folge innerer oder äusserer Erschütterung der kleinsten
Theile desselben hervorgebrachte periodische Wellenbewegung der
atmosphärischen Luft, welche dem Hörnerven sich mittheilt und
im Centralorgan des empfindlichen Nervensystems in die Sprache
des Bewusstseins, in dem Reiz heterogene aber correspondirende
Empfindung, aus Gehörreiz in Gehörsempfindung sich umsetzt. Ohne Augen,
lässt sich sagen, wäre das All der Dinge dunkel, ohne Gehörsorgan
stumm. Sämmtliche sogenannte wirkliche Eigenschaften, welche der
Körperwelt Sinnlichkeit, sichtbare Gestalt für das Auge, hörbaren
Reiz für das Ohr und entsprechende Wahrnehmbarkeit für die übrigen
Sinnesorgane verleihen, werden denselben viel mehr von dem aufnehmenden
mit Sinnesorganen ausgerüsteten Träger des Bewusstseins aufgeprägt, als
diesem von jenem übermittelt, und verdienen daher mit weit grösserem
Recht anscheinende d. h. den Dingen nur scheinbar anhaftende, in
Wirklichkeit denselben nur angedichtete Eigenschaften zu heissen.

234. Folgt aus obiger Betrachtung, dass nicht alles wirklich
Scheinende wirklich, so folgt daraus doch nicht, dass der Schein
des Wirklichen das einzige Wirkliche sei. Jene Erwägung begründet
den Unterschied eines scheinbar Wirklichen, dem Wirkliches, und eines
ebensolchen, dem kein Wirkliches entspricht; letztere Behauptung möchte
denselben verwischen und alles wirklich Scheinende in blossen Schein
eines Wirklichen, somit das Wirkliche selbst in ein Unwirkliches
verwandeln. Dieselbe geht von der Ansicht aus, dass, was nicht im
Bewusstsein gegenwärtig, auch nicht für dasselbe vorhanden sei;
dass aber, weil das im Bewusstsein vorhandene nichts anderes sein
kann als Bewusstseinsvorgang, auch das für dasselbe Vorhandene
ausschliesslich Bewusstseinsvorgänge sein können. Da nun, was im
Bewusstsein (also als Vorstellung) vorhanden sein kann, nicht das
Wirkliche selbst (die von der Vorstellung der Sache verschiedene
Sache), sondern nur der Schein eines solchen (die als wirklich
gedachte Sache d. i. der Gedanke der Sache) zu sein vermag, so könne
alles für das Bewusstsein Vorhandene unmöglich das Wirkliche selbst,
sondern nur dessen Schein, somit für dasselbe das einzige Wirkliche
ausschliesslich der Schein eines Wirklichen sein. Statt daher hinter
dem Schein ein imaginäres Wirkliches zu suchen, trachtet der Idealismus
den Schein als nur scheinbar Unwirkliches, in Wahrheit als einziges
Wirkliches festzuhalten, so dass, mit dem Realismus verglichen, das
Verhältniss des Scheinbaren zum Wirklichen sich umkehrt, das in den
Augen des Realismus Unwirkliche (der Schein, die Vorstellung, idea) für
wirklich, dagegen das in dessen Augen Wirkliche (die Sache, dasjenige,
was mehr als blosse Vorstellung ist, res) für unwirklich erklärt wird.

235. Die Widerlegung des Realismus bestand darin, dass in dem
scheinbar Wirklichen, welches derselbe seinem Grundsatz gemäss,
dass zwischen dem Inhalt des wirklich Scheinenden und jenem des
Wirklichen kein Unterschied bestehe, für wirklich erklärt, Fälle
aufgezeigt wurden, in welchen das anscheinend Wirkliche unmöglich
für wirklich genommen werden konnte. Die Widerlegung des Idealismus,
wenn sie denselben Weg einschlüge und in dem Inhalt des Scheins, den
der letztere für das einzig Wirkliche erklärt, Widersprüche nachwiese,
hätte damit nur dargethan, dass sich im Schein, also im Unwirklichen,
keineswegs aber, dass sich im Wirklichen, also in dem, was mehr
ist als Schein, Widersprüche vorfinden. Die bekannten Antinomien,
welche Kant in Bezug auf die Möglichkeit aufstellt, dass die Welt
Grenzen im Raum und einen Anfang in der Zeit, aber auch, dass sie
keine Grenzen im Raume und keinen Anfang in der Zeit habe, stammen
daher, weil die eine wie die andere beider einander ausschliessender
Behauptungen einem Gegenstande gilt, welcher als solcher nicht der
realen, sondern der Scheinwelt angehört, von einem solchen aber sich
gleichzeitig einander Ausschliessendes behaupten lässt, ohne dadurch
mit der Natur des Scheines, der ja als solcher ein Unwirkliches ist,
also das Widersprechende erträgt, in Widerstreit zu gerathen.

236. Die Widerlegung des Idealismus, wenn überhaupt möglich, muss
auf anderem Wege gesucht werden. Kann dieselbe nicht aus dem Umstande
geschöpft werden, dass der Inhalt des Scheines in seinen Bestandtheilen
sich unter sich selbst, so kann sie vielleicht ihren Ausgangspunkt
nehmen von der Betrachtung, dass der Begriff eines Scheines, der neben
sich selbst kein Wirkliches zulässt, sich selbst widerspricht. Da nun
ein Scheinen undenkbar ist ohne ein Etwas, welches scheint (objectiver
Schein) oder ein Etwas, welchem es scheint (subjectiver Schein)
vorauszusetzen, so muss entweder dasjenige, welches scheint (das
Object) und dasjenige, welchem scheint (das Subject) abermals Schein
und als solcher eines weiteren, sei es Objects, sei es Subjects des
Scheinens bedürftig sein, welcher Regressus sich sofort in infinitum
wiederholt, oder es muss, sei es das Object, sei es das Subject,
näher oder entfernter etwas anderes als Schein d. i. ein Wirkliches
sein, womit die Behauptung des Idealismus, dass Schein das einzige
Wirkliche sei, sich von selbst aufhebt.

237. Allerdings nur unter der Annahme, dass das nach den Gesetzen des
Denkens Undenkbare unmöglich d. h. dass das nach den Gesetzen des
Denkens nicht als wirklich Denkbare auch nicht wirklich sei. Folgt
aus der Natur des Denkens zwar, dass der Denkende einen gewissen
Denkinhalt mit Nothwendigkeit denken müsse, so folgt daraus keineswegs,
dass der Seinsinhalt mit diesem nothwendigen Inhalt des Denkens eins
sein müsse. So lange es kein Mittel gibt, den Inhalt des Seins mit dem
Inhalt des Denkens zu vergleichen, um denjenigen Denkinhalt, der mit
dem Seinsinhalt als congruent sich herausstellt, als Wissen zu fixiren
(und dass es kein solches gibt, hat die Betrachtung der logischen
Ideen zur Evidenz gebracht), so lange bleibt die Möglichkeit offen,
dass die Dinge in der Wirklichkeit sich anders verhalten, als die
Gesetze des Denkens letzteres nöthigen, das Verhalten derselben mit
Nothwendigkeit zu denken d. h. dass der unvermeidliche und durch die
Gesetze des Denkens demselben aufgenöthigte Denkinhalt des Denkens
und der um seiner Unzugänglichkeit willen stets unbekannt bleibende
Inhalt des Seins unter einander nicht übereinstimmen, ja vielleicht,
was weder wahrscheinlich, noch unwahrscheinlich, sondern eben nur
möglich ist, sich unter einander sogar widersprechen.

238. Erst ein späterer Anlass wird Gelegenheit bieten, von der aus
obiger Betrachtung fliessenden Einschränkung Gebrauch zu machen. Aus
der Widerlegung des Realismus folgt, dass die Wissenschaft des
Wirklichen, wenn sie nur Wirkliches besitzen will, aus dem wirklich
Scheinenden alles dasjenige ausscheiden muss, was nur den Schein der
Wirklichkeit hat. Aus der Widerlegung des Idealismus folgt, dass der
"Traum der Speculation", wenn er aufhören soll, "Traum" zu sein, zu dem
Schein, der ihm zufolge das einzige Wirkliche ist, ein Wirkliches, sei
es im subjectiven Sinne, als Träger des Scheins, sei es im objectiven
Sinne, als Ursache des Scheins, hinzufügen muss. Erstere Operation,
durch welche im wirklich Scheinenden der Schein des Wirklichen
vom Wirklichen gesondert wird, ist eine kritische, letztere, durch
welche zu dem ursprünglich allein vorhandenen Schein des Wirklichen
ein Wirkliches hinzugethan wird, ist eine ergänzende. Jene führt in
das wirklich Scheinende neben der Betrachtung des Wirklichen, welches
scheint (des Objects), die Betrachtung eines anderen Wirklichen ein,
welchem es scheint (des Subjects); diese geht von der Betrachtung des
ihrer ursprünglichen Ansicht nach allein wirklichen Scheins zu dessen
Erklärung, sei es aus einem Wirklichen (dem Subject) oder durch ein
Wirkliches (Object) fort.

239. Die Einführung des Subjects, welchem das Wirkliche scheint, um
aus dem Zusammenwirken beider, des Objects, welches scheint, und des
Subjects, dem es scheint, das wirklich Scheinende als deren Product
begreiflich zu machen, bedeutet die Einfügung eines idealistischen
Elements in die realistische Betrachtung. Die Hinzufügung eines
Wirklichen, sei es als Träger (Subject), sei es als Ursache
(Object) des Scheins zu diesem selbst, um, sei es durch jenen,
sei es durch diese, dessen Schein der Wirklichkeit begreiflich zu
machen, bedeutet die Einführung eines realistischen Elements in die
idealistische Betrachtungsweise. Durch die allmälige Ausbreitung des
ersteren im Realismus wird dieser dem Idealismus, durch die allmälige
Vertiefung des letzteren im Idealismus wird dieser dem Realismus
näher gebracht. Der gemeine oder empirische Realismus nimmt in Folge
kritischer d. i. philosophisch sichtender Behandlung idealistischen,
der gemeine oder empirische Idealismus nimmt in Folge der ergänzenden
d. i. philosophisch erklärenden Behandlung realistischen Charakter an.

240. Schon der Vater des gemeinen Realismus, Bacon, hat die Bemerkung
gemacht, dass das wirklich Scheinende Elemente umschliesst, welche
nicht aus dem Wirklichen, sondern aus dem dasselbe wahrnehmenden
und auffassenden Subjecte stammen, und, weil sie jenem als wirklich
von diesem nur angedichtet sind, dieselben treffend als "Idole"
(Fictionen) bezeichnet. Dass unter denselben auch solche sich
vorfinden, welche, wie die von ihm sogenannten "Idola tribus", dem
auffassenden (menschlichen) Subject vermöge dessen Gattungscharakter
angehören und daher bei sämmtlichen Individuen derselben Gattung
(also zum Beispiel bei allen Menschen) zu deren Auffassung des
ihnen wirklich Scheinenden in stets gleicher Weise beitragen müssen,
kann als ein Vorspiel zu der von Kant nachdrücklich hervorgehobenen
Betheiligung des transcendentalen (d. i. des Gattungs-) Subjects an
dem Zustandekommen der Erfahrung, als des Productes zweier Factoren,
eines subjectiven und eines objectiven, angesehen werden. Wie diesem
zufolge "die Welt der Erscheinung" d. i. das wirklich Scheinende zwar
der "Materie" d. i. dem Stoffe nach aus dem Object, welches scheint,
der "Form" nach jedoch aus dem transcendentalen Subjecte stammt, dem
es scheint, so setzt sich nach Bacon die Welt des wirklich Scheinenden
zusammen einerseits aus demjenigen, was aus dem Wirklichen stammt
(der Erfahrung), und demjenigen, was diesem von dem auffassenden
Gattungssubject nur angedichtet wird (der Scheinerfahrung der
"Idola tribus").

241. Allerdings mit dem Unterschied, dass der eine, der Realist, diese
subjective Hinzuthat im wirklich Scheinenden als eine Verunreinigung
der Wissenschaft vom Wirklichen angesehen hat, von welcher dieselbe
so bald und so gründlich als möglich befreit werden müsse, um die
Erfahrung d. i. das Wirkliche rein zu erhalten, während der andere,
der Idealist, gerade in dieser aus dem Gattungssubject herkommenden
und daher allen auffassenden Individuen derselben Gattung in gleicher
Weise eigenen subjectiven Hinzuthat im wirklich Scheinenden das
Mittel erblickt hat, dieses aus einer nur individuellen in eine
für alle Individuen derselben Gattung der Form nach identische
Scheinwelt und dadurch aus einer nur individuell giltigen in eine
allgemeine und nothwendige Erfahrung zu verwandeln. Bacon ging
darauf aus, das subjective, also, vom Standpunkt des Realismus aus
angesehen, idealistische Element im wirklich Scheinenden gänzlich aus
demselben zu entfernen, und nur dasjenige, was in demselben nicht
sowol Schein eines Wirklichen, als Schein des Wirklichen ist, für
Erfahrung gelten zu lassen. Aber schon dessen Nachfolger Locke hat
gezeigt, dass die sogenannten secundären Eigenschaften der Körper,
wie Farbe, Klang, welche jener als Schein des Wirklichen gelten
liess, nur als Schein eines Wirklichen gelten dürfen d. h. nicht,
wie jener glaubte, am Wirklichen wirklich vorhanden, sondern von
einem anderen Wirklichen, dem auffassenden Subject, als scheinbare
Eigenschaften den Körpern angedichtet seien. Werden dieselben,
als blosser Schein eines Wirklichen, aus dem wirklich Scheinenden
ausgeschieden, so bleiben in diesem als Schein des Wirklichen nur
mehr die sogenannten primären Eigenschaften (wie Gestalt, Ausdehnung,
Grösse) und als Kern alles wirklich Scheinenden und kat' exochên
Wirkliches das (übrigens unbekannte) Substrat des Scheins und Träger
der Eigenschaften, die sogenannte Substanz, als alleiniges Object
einer wirklichen Wissenschaft vom Wirklichen übrig. Das von Bacon
vergebens zu verdrängen gesuchte idealistische Element hat seine
Stelle im Realismus mit Gewinn zurück erobert.

242. Aber auch ein skeptisches ist damit in den Vordergrund
getreten. Wenn die sogenannten secundären Eigenschaften nur den
Schein eines Wirklichen, aber nicht eine Erscheinung des Wirklichen
darstellen, dann ist die sinnliche Erfahrung, welche dieselben als
Schein des Wirklichen zeigt, eine trügerische, den Schein an die
Stelle der Wirklichkeit setzende Vorstellung des Wirklichen, nicht
sowol eine Erkenntniss der, als eine fortgesetzte Täuschung über die
Wirklichkeit. Die nächste Folge dieser Einsicht kann keine andere sein,
als dem Sinnenschein, welcher die Basis aller sinnlichen Erfahrung
ausmacht, und damit dieser selbst, die auf so ungewisser Grundlage
sich aufbaut, mit Misstrauen entgegen zu kommen.

243. Dasselbe muss sich naturgemäss in demselben Grade steigern, als
sich der Umfang des idealistischen Elementes d. i. der subjectiven
Hinzuthat im wirklich Scheinenden erweitert. Die Ausbreitung desselben
hat zuerst Locke's idealistischer Fortsetzer Berkeley herbeigeführt
durch die Behauptung, dass die sogenannten primären Eigenschaften der
Körper, welche derselbe als wirkliche ansah, nicht weniger scheinbar
als die sogenannten secundären Eigenschaften, und, ebenso wie diese,
Hinzuthaten des vorstellenden Subjects im wirklich Scheinenden
d. i. durch das vorstellende Subject, keineswegs durch das Object
des Vorgestellten hervorgebrachter Schein, also zwar Schein eines
Wirklichen, aber nicht selbst Wirkliches seien. Dieselbe erreichte den
höchsten Grad dadurch, dass Berkeley die weitere Bemerkung hinzufügte,
dass der Körper nichts anderes als die Summe seiner Eigenschaften, die
Annahme einer den Kern desselben ausmachenden Substanz als Träger der
Eigenschaften eine an sich völlig überflüssige, von dem vorstellenden
Subject, wenn auch nicht willkürlich, aber doch unwillkürlich gemachte
grundlose Voraussetzung, die sogenannte Substanz daher eben so wol
wie die sogenannten primären und secundären Eigenschaften zwar der
Schein eines Wirklichen, aber eben so wenig wie diese ein Wirkliches
sei. Letztere Behauptung verwandelte, da der Körper fortan nichts
weiter als die Summe seiner (primären und secundären) Eigenschaften,
diese aber als Summe von nicht wirklichen, sondern nur scheinbaren
Eigenschaften selbst nur eine Scheinsumme sein sollte, den angeblich
wirklichen Körper in blossen Schein eines Körpers, die sogenannte
Welt des Wirklichen in blossen Schein einer wirklichen Welt und
löste somit den gesammten Realismus in Idealismus, die gesammte
Sinneswahrnehmung als Basis der sinnlichen Erfahrung in Sinnestrug,
und damit jene selbst aus einem Spiegel der wirklichen Welt in die
leere Vorspiegelung einer solchen auf.

244. Diese äusserste mögliche Ausdehnung des idealistischen Elementes
im Gebiete des Realismus musste die Ausdehnung der Skepsis auf den
ganzen Umfang der sinnlichen Erfahrung zur unausbleiblichen Folge
haben. Hatte der Idealismus sämmtliches wirklich Scheinende in
innerlich hohlen Schein eines Wirklichen verkehrt, so musste die
Aussicht auf Erkenntniss des Wirklichen auf dem Wege der Erfahrung
sich in die trostlose Einsicht in die Unmöglichkeit einer solchen,
auf Grund völligen Mangels eines Wirklichen verwandeln. Nicht nur
die Bestandtheile des wirklich Scheinenden d. i. die Elemente, aus
welchen die scheinbare Welt bestand, waren sofort zu blossem Schein
eines Wirklichen herabgesetzt, sondern auch die Verknüpfung derselben
unter einander und zu einem Ganzen konnte nur eine scheinbare, das
durch dieselbe hergestellte Ganze nur dem Schein nach ein Ganzes sein
d. h. die gesammte angeblich wirkliche Welt mit ihren vermeintlich
wirklichen Bestandtheilen und deren vermeintlich wirklichem und
wirksamem Zusammenhang unter einander (dem Causalverband) musste
sich dem Auge des Denkers als eine Scheinwelt, deren Bestandtheile
als elementarer Schein, deren Zusammenhang unter einander als zwar
anscheinend, aber nicht wirklich vorhandener d. i. vom vorstellenden
Subject in die Welt der Phänomene hineingelegter, keineswegs (wie
die Erfahrung von ihren sogenannten Naturgesetzen behauptet) aus
derselben herausgelesener Zusammenhang darstellen.

245. Hume ist es, der diese Consequenz des Skepticismus aus dem
in bodenlosen Idealismus umgewandelten Realismus seiner Vorgänger
gezogen hat. Dieselbe wird nicht verbessert dadurch, dass an die
Stelle des realen Zusammenhanges zwischen den Erscheinungen von ihm
die subjective Gewöhnung des vorstellenden Subjectes gesetzt wird,
in Folge wiederholten nach einander Auftretens gewisser Phänomene
jedesmal, sobald das eine derselben (das antecedens) wiederkehrt, das
andere (das consequens) zu erwarten und daher ersteres als Ursache,
letzteres als Wirkung zu bezeichnen. Denn es muss einleuchten, dass
zwar, wenn der eine jener Vorgänge der reale Grund, der andere die
reale Folge ist, das Eintreten des ersten jedesmal jenes des zweiten
nach sich ziehen muss, keineswegs aber, dass in umgekehrter Weise
das (vielleicht ganz zufällige) Vorausgehen der einen, Nachfolgen
der andern Erscheinung als genügender Beweis dafür gelten darf, dass
die erste die Ursache der zweiten sei. Während die Auseinanderfolge
zweier Phänomene deren Aufeinanderfolge nothwendig, macht deren
Aufeinanderfolge den Schluss auf die Auseinanderfolge nur möglich;
die Behauptung der letzteren (des Causalzusammenhanges) in Folge
einer durch öfter beobachtete Succession beider Erscheinungen im
Vorstellenden erzeugten Gewohnheit, beide unter einander in Verbindung
stehend zu denken, kann daher niemals völlige (apodiktische), sondern
höchstens sogenannte moralische (problematische) Gewissheit d. i. mehr
oder weniger Wahrscheinlichkeit erlangen.

246. Diese Folgerung war es, welche Kant, wie er selbst sagt,
"aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt hat", nicht aus dem des
Wolf'schen Rationalismus, über welchen er längst hinaus, sondern aus
dem des Locke-Newton'schen Empirismus, in welchem er damals (1770)
noch völlig befangen war. Dass es auf dem von Hume eingeschlagenen
Wege, der auch ihm als die natürliche Fortsetzung der Bahn seiner
Vorgänger galt, schliesslich dahin kommen müsse, dass auch die
allgemeinen Naturgesetze, durch welche der Gang der Natur und
die Einheit des Weltalls zusammengehalten wird, ihre strenge und
ausnahmslose Nothwendigkeit und Allgemeinheit einbüssen und sich in
blosse, mehr oder weniger wahrscheinliche und mit mehr oder weniger
Zuversicht ausgesprochene Vermuthungen des die Natur auffassenden und
in seiner Vorstellung zusammenfassenden Subjects verkehren müssen,
erschien Kant so unausweichlich, zugleich aber für ein auf Erkenntniss
des Wirklichen, wie es ist, statt auf Einbildung einer blossen
Scheinwelt gerichtetes Denken, wie das seinige, so unerträglich,
dass er um deswillen mit dem zum Skepticismus entarteten Empirismus
brach und von dem Ergebniss einer nicht nur subjectiven, sondern auch
nur particulär giltigen und blos wahrscheinlichen Naturauffassung zu
der sofortigen Erforschung und Feststellung der Bedingungen einer
zwar gleichfalls nur subjectiven, aber schlechterdings allgemeinen
und nothwendigen Erfahrung überging.

247. Wie die bisherige Betrachtung das allmälige Eindringen des
idealistischen Elements in den Realismus und dessen allmälige,
schliesslich denselben überfluthende Ausbreitung in diesem blossgelegt
hat, so legt die Entwicklungsgeschichte des Idealismus in umgekehrter
Weise nicht nur das Eindringen, sondern das stetige Anwachsen des
realistischen Elements im Idealismus als unvermeidlich dar. Schon
dem Vater des gemeinen Idealismus, Berkeley, ist die Schwierigkeit
nicht entgangen, die für denjenigen, der die gesammte wirklich
scheinende Welt nur als im vorstellenden Subject vorhandenen
Schein einer wirklichen Welt ansieht, aus dem Umstande erwächst,
dass in den verschiedenen vorstellenden Subjecten, wenn unter
denselben Uebereinstimmung und Mittheilung möglich sein soll,
diese nur in ihrem jeweiligen Vorstellen existirende Scheinwelt
in sämmtlichen Vorstellenden die nämliche, nach Inhalt und Form
unter sich harmonirende Welt sein muss, ohne dass sich die Frage
beantworten liesse, warum, da in jedem seine eigene Welt entsteht,
diese Welt in allen als die gleiche entstehen müsse. Leibnitz hat diese
Frage, die sich auch ihm aufdrängen musste, weil jede "fensterlose"
Monas in ihrem Innern eine "Welt als Vorstellung" enthält, mit der
Berufung auf die durch Gott prästabilirte Harmonie aller Monaden und
somit auch ihrer sämmtlichen, obgleich von einander unabhängigen
inneren Vorstellungswelten beantwortet. Der Bischof von Cloyne,
von dem es zweifelhaft ist, ob er von Leibnitz etwas wusste, sucht
die Lösung des Problems, wie die vorgestellten Welten der einzelnen
Vorstellenden unter einander correspondirend gedacht werden können,
gleichfalls in Gott, welchen er als den Urheber der im Vorstellenden
vorhandenen Vorstellungswelt und dadurch zugleich als Veranstalter
der Uebereinstimmung zwischen den in den verschiedenen Vorstellenden
vorhandenen Vorstellungswelten bezeichnet. Die nur als Schein eines
Wirklichen im Bewusstsein vorhandene wirkliche d. i. der Schein
einer wirklichen Welt, ist sonach schon bei Berkeley, dem Urheber
des Idealismus, nicht das einzige Wirkliche, sondern derselbe setzt
nicht nur das vorstellende Subject (den Geist), in dem er existirt
d. i. dem er scheint, sondern überdies seinen Urheber, Gott, durch den
er existirt d. i. der in ihm scheint, als Wirkliche voraus d. h. der
Schein ist weder, wie der strenge Idealismus will, das einzige
Wirkliche, noch mit jenen beiden Wirklichen, dem vorstellenden Subject
einer- und der den Schein erzeugenden Gottheit andererseits verglichen,
überhaupt wirklich (real), sondern nur ideal (unwirklich), während der
Geist und Gott die eigentlich Wirklichen d. i. real Existirenden sind.

248. Das realistische Element, das Wirkliche neben dem Schein,
als einzigem Wirklichen, ist sonach schon in die ursprünglichste
Gestalt des Idealismus, und zwar so von Seite des Subjects, dem er
scheint (des Geistes), wie von jener des Objects, das ihm scheint
(der Gottheit), eingedrungen. Von jener aus angesehen, tritt das
Wirkliche auf als Träger, von dieser aus angesehen, als Ursache des
im Bewusstsein schwebenden Scheins. Während aber in dieser Gestalt
des mit realistischen Elementen versetzten Idealismus der Träger
des Scheins sich leidend (receptiv), die Ursache des Scheins allein
thätig (spontan) sich verhält, sind daneben Auffassungen denkbar, nach
welchen entweder der Träger sich gleichfalls wie die Ursache thätig,
oder der Träger sich thätig, aber zugleich als einzige Ursache sich
verhält, während eine dritte von jener ursprünglichen nur dadurch
sich unterscheidet, dass als die Ursache des Scheins nicht ein
geistiges d. i. ein solches Object, in dessen Natur es liegt, Subject
d. i. vorstellendes Wesen zu sein, sondern ein seiner Qualität nach
beliebiges Wirkliches betrachtet wird, dessen Beschaffenheit unbekannt
bleibt, dessen Existenz jedoch von derjenigen des Subjects als Träger
des Scheins völlig unabhängig ist.

249. Wird der Träger des Scheins d. i. das vorstellende Subject
ebenso wie die Ursache des Scheins d. i. das vorgestellte Object als
thätig d. i. jedes derselben als wirklich d. i. wirkend betrachtet,
so stellt der im Bewusstsein schwebende Schein eines Wirklichen,
die scheinbar wirkliche Welt (die Welt als Phänomenon), ein Product
aus zwei Factoren, dem Subject des Vorstellens und dem Object der
Vorstellung, dar, dessen Beschaffenheit sonach als solches von der
Beschaffenheit seiner Factoren als solcher nothwendig abhängen muss. In
dem Einfluss des Subjects auf die Beschaffenheit dieses Products
besteht die Herrschaft des idealistischen, in dem Einfluss des Objects
auf dieselbe jene des realistischen Elements in der phänomenalen
Welt. Je nachdem jener Einfluss zur Vorherrschaft des einen oder des
andern wird, nimmt diese Scheinwelt selbst vorwiegend idealistischen,
auf die Seite blossen Scheines der Wirklichkeit, oder realistischen,
auf die Seite der Wirklichkeit selbst hindeutenden Charakter an.

250. Der Einfluss des realistischen Objects auf das Zustandekommen
der phänomenalen Welt im Bewusstsein ist der geringste, wenn dasselbe
als Wirkliches durch seine Thätigkeit nichts weiter bewirkt, als dass
überhaupt Schein, der als Material zum Aufbau einer phänomenalen Welt
durch das vorstellende Subject verwendet werden kann, im Bewusstsein
vorhanden ist. Dieser Fall tritt in jener Gestalt zu Tage, welche Kant
dem Idealismus gegeben hat, und die Rolle, die das Object in obiger
Darstellung spielt, ist die nämliche, die Kant seinem "Ding an sich"
zugewiesen hat. Dasselbe hat ihm zufolge keine andere Bestimmung,
als die Existenz, keineswegs aber die Qualität des im Bewusstsein
schwebenden Scheins eines Wirklichen begreiflich zu machen. Dass ein
Wirkliches ausser und neben dem vorstellenden Subjecte sei, wird durch
die Thatsache der Existenz des Scheins eines solchen im Bewusstsein
unzweifelhaft gemacht. Was das Wirkliche, das nebst und ausser dem
vorstellenden Subjecte existirt, seiner Qualität nach sei, dagegen
kann aus der Qualität des im Bewusstsein schwebenden Scheins nicht
ausgemacht werden, weil diese letztere lediglich von der Qualität des
vorstellenden Subjects abhängig ist. Das reale Object, "das Ding an
sich", ist der Grund, dass überhaupt im Bewusstsein Sinnesempfindungen
(wie Gesichts-, Gehörs-, Geruchs-, Geschmacks- und Tastempfindungen)
vorhanden sind; die Qualität des realen vorstellenden Subjects
dagegen ist der Grund, dass im Bewusstsein gerade Empfindungen (wie
Farben, Töne, Wohlgerüche, Wohlgeschmäcke, Härte, Weichheit) vorhanden
sind. Wäre das erste nicht, so entstünde überhaupt kein Schein, wäre
das letztere ein anderes, als es ist, so entstünde anderer Schein. Wie
die Existenz des Scheins von jener des Objects, so hängt die Qualität
des Scheins von jener des Subjects ab; der im Bewusstsein wirkliche
Schein in seiner qualitativen Eigenthümlichkeit ist daher nur durch
das gemeinsame Zusammenwirken des Dings an sich und der specifischen
Organisation des vorstellenden Subjects d. i. (wie Kant nach der
alten Terminologie seiner Wolf'schen Schulung sich ausdrückte)
"des Erkenntnissvermögens" erklärlich.

251. Erklärlich aber auch, dass bei dieser Sachlage der jeweiligen
thatsächlichen Beschaffenheit des sogenannten Erkenntnissvermögens
an dem Zustandekommen und der Gestaltung der phänomenalen Welt der
Löwenantheil zufallen muss. Liefert der objective Factor, das Ding
an sich, nichts weiter als den Stoff, ja nicht einmal diesen selbst,
sondern nur die Veranlassung, dass ein solcher, aus welchem die
phänomenale Welt aufgebaut werden soll, überhaupt im Bewusstsein
vorhanden ist, so muss der Grund der gesammten Form, in welcher der
Stoff zum Aufbau zusammengeordnet, ja sogar der Form, in welcher
derselbe zum Baue verwendet wird, gänzlich in dem subjectiven Factor
d. i. in der Beschaffenheit des vorstellenden Subjectes d. i. in jener
seines sogenannten Erkenntnissvermögens gesucht werden. Letzteres,
als Baumeister der phänomenalen Welt, baut sozusagen auf eigene Hand,
nicht nur nach eigenem Plan, sondern auch mit selbstgeformtem Material;
das "Ding an sich" als Bauherr ist nur die Ursache, dass überhaupt
gebaut wird und dass die erforderlichen Mittel zum Baue vorhanden sind.

252. Der Organismus des sogenannten Erkenntnissvermögens ist es,
welchen Kant seiner "Kritik der reinen Vernunft" zu Grunde gelegt
und als dessen nothwendige Folgen die kritischen Ergebnisse dieser
letzteren entsprungen sind. Insofern derselbe den idealistischen Factor
der phänomenalen Welt repräsentirt, hat Kant seine Philosophie als
Idealismus, insofern deren Ergebnisse auf die Betrachtung desselben
als der Quelle der Bedingungen aller Erkenntniss gestützt sind, als
Transcendentalphilosophie, und jenen Idealismus selbst (im Gegensatz
zu dem gemeinen, empirischen) als transcendentalen Idealismus
bezeichnet. Die Differenz seines und des empirischen Idealismus
beschränkte sich jedoch nicht auf den genannten Unterschied,
sondern wurzelte zugleich in der Verschiedenheit des vorstellenden
Subjectes, welches den idealistischen Factor der phänomenalen Welt
ausmacht, und welches im empirischen Idealismus das individuelle
Einzelsubject, in dem seinen dagegen das allgemeine Gattungssubject,
oder, nach Kant's Ausdruck, das sogenannte transcendentale Subject
ist. Folge davon ist, dass die Form der phänomenalen Welt, insofern
dieselbe aus der Beschaffenheit des vorstellenden Subjectes stammt,
im empirischen Idealismus nur eine individuelle, zufällige,
für die Vorstellungswelt des Einzelsubjectes bestimmende, im
transcendentalen Idealismus dagegen eine allgemeine und nothwendige,
die Vorstellungswelt aller vorstellenden Einzelsubjecte derselben
Gattung bestimmende sein muss. Durch diese Einführung der Form als
einer allgemeinen und nothwendigen an der Stelle der blos zufälligen
und singulären überwindet Kant den Hume'schen Skepticismus, der sich
an die Sohlen des empirischen Idealismus geheftet hat, und verwandelt
die phänomenale Welt d. i. die Welt der Erfahrung aus einer nur für
den Einzelnen giltigen und nur zufällig (durch dessen individuelle
Gewöhnung) entstandenen in eine für Alle identische und nothwendig
(d. i. als unausbleibliche Folge der allen gemeinsamen Organisation
des Erkenntnissvermögens) entstehende Erfahrung.

253. Die beziehungsweisen Antheile des idealistischen Factors
d. i. des in Allen identischen transcendentalen Subjectes einer- und
des realistischen Factors d. i. des für Alle identischen (als seiner
Qualität nach unbekanntes x hinter der phänomenalen Welt stehenden)
Dings an sich an dem Zustandekommen einer allgemein giltigen Erfahrung
sind es, welche Kant als das a priori und das a posteriori der
Erfahrung bezeichnet. Zu dem letzteren gehört nach der Auffassung
Kant's nichts weiter als der sinnliche Stoff, zu welchem das "Ding
an sich" den äusseren Anstoss gegeben hat; zu dem ersteren gehören
sämmtliche Formen, welche demselben in aufsteigender Reihe durch die
(im Sinne der alten Wolf'schen psychologischen Theorie) einander
übergeordneten Stufen des sogenannten Erkenntnissvermögens, des
Sinnes, des Verstandes und der Vernunft zu Theil werden sollen. Als
solche betrachtete Kant bekanntlich die zwei von ihm sogenannten
"reinen Anschauungsformen", welche dem Sinn, die (zwölf) von ihm
construirten "Urtheilsformen", welche dem Verstande, und die (drei)
von ihm anerkannten (Schlussformen), welche der Vernunft erb und
eigen seien. Durch die Anwendung der erstgenannten, und zwar der
reinen Anschauungsform des Raumes d. i. des Nebeneinander auf den
durch die äusseren Sinne, der reinen Anschauungsform der Zeit d. i. des
Nacheinander auf den durch den sogenannten inneren Sinn gegebenen Stoff
entsteht der Schein räumlich und zeitlich verschieden angeordneter
Gruppen sinnlichen Vorstellungsmaterials, welche durch die Anwendung
der reinen Urtheilsformen und der daraus deducirten Stammbegriffe
(Kategorien) des Verstandes den Schein wirklicher Einzeldinge, und
zwar solcher erhalten, die als Substanzen Träger von Eigenschaften,
und entweder als Ursachen Urheber von anderen ihresgleichen als
Wirkungen, oder selbst als Wirkungen durch andere ihresgleichen als
Ursachen hervorgebracht sind. Durch die Anwendung endlich der reinen
Schlussformen und der daraus abgeleiteten Ideen der Vernunft entsteht
der Schein solcher Wirklicher, die entweder (wie die Seele) das
einheitliche Subject zu allen möglichen Prädicaten, oder (wie die Welt)
die Totalität aller Ursachen und Wirkungen, oder (wie die Gottheit)
als ens realissimum die Summe aller möglichen Prädicate darstellen.

254. In dem Nachweis der Nothwendigkeit der Entstehung obiger Gattungen
des wirklich Scheinenden besteht das positive, in dem gleichzeitigen
Erweis, dass obige Gattungen des wirklich Scheinenden nur eben so viele
Gattungen vom Schein eines Wirklichen seien, das negative Resultat
des Transcendentalidealismus. Hauptsächlich um des letzteren willen
ist Kant der "alles Zermalmer" genannt worden. Es ist aber nicht zu
übersehen, dass von anderer Seite aus angesehen Kant's Philosophie dem
negativen Ergebniss des Idealismus, der alles sogenannte Wirkliche
in Schein auflöst, gegenüber ein sehr positives Ergebniss durch
die nachdrückliche Betonung der Unentbehrlichkeit einer realen
Unterlage der phänomenalen Welt in der Existenz des "Dings an sich"
bietet, durch welche sich, wie Schopenhauer richtig gesehen hat,
die zweite Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" sehr merklich
von der ersten, welche fast ausschliesslich der Hervorkehrung des
idealistischen Factors gewidmet ist, unterscheidet. Nachdem diejenigen
Wirklichen, welche Kant selbst als die eigentlichen Gegenstände der
alten Metaphysik bezeichnet hat, Seele, Welt und Gott, sich unter dem
Prisma der Kritik in blosse Scheinwirkliche aufgelöst haben, bleibt
als Rest des Wirklichen das Ding an sich allein übrig, welches man
mit Recht als den Rest der alten Metaphysik in Kant's Philosophie,
und dessen zu einem Minimum zusammengeschrumpfte Beschreibung man
als den Inhalt dessen betrachten kann, was im eigentlichen Sinne des
Wortes Kant's Metaphysik heissen darf.

255. Dieselbe setzt sich mit Ausnahme der Behauptung der leeren
Existenz durchaus aus negativen Prädicaten zusammen. Dem Ding an sich
können weder quantitative noch qualitative Bestimmungen beigelegt
werden. Dasselbe kann in ersterer Hinsicht weder als Eins, noch als
Vieles, in letzterer Hinsicht weder als raumlos, noch als räumlich
(also auch weder als unendlich, noch als endlich, weder als ausgedehnt,
noch als unausgedehnt), noch als zeitlos, oder zeitlich (also auch
weder als in der Zeit entstanden, noch als ewig), noch als geistig
(immateriell) oder körperlich (materiell) bezeichnet werden. Alles,
was der transcendentale Idealismus von demselben weiss und auszusagen
berechtigt ist, beschränkt sich darauf, zu behaupten, dass es sei,
aber nicht, was es sei.

256. Aber auch dies nur aus dem Grunde, weil der sinnliche Stoff als
wirklicher Schein eine im Bewusstsein vorhandene Wirkung ist und daher
als solche zur Ursache ein Wirkliches haben muss. Die Voraussetzung,
dass jede Wirkung ihre zureichende Ursache haben müsse (das von
Leibnitz sogenannte principium rationis sufficientis) gehört zu den
fundamentalen Axiomen des Denkens, nach Kant insbesondere zu den dem
Organismus des Erkenntnissvermögens wesentlichen Urtheilsformen des
Verstandes. Aus ersterem folgt, dass sich ein Denken, für welches
obiger Satz fundamentale Geltung besitzt, von einem in dieser
Hinsicht anders geartet sein sollenden Denken d. i. einem solchen,
für welches derselbe jene Giltigkeit nicht besässe, schlechterdings
keine Vorstellung zu machen im Stande sei. Aus letzterem folgt, dass
ein im Kantschen Sinn organisirtes Erkenntnissvermögen der Folgerung,
dass jeder angeblichen Wirkung eine derselben genügende Ursache
entsprechen müsse, schlechterdings nicht zu entrathen vermag, ohne
sich selbst aufzuheben. Beides zusammen macht einleuchtend, dass die
auch vom Idealismus unbestrittene Thatsache der Existenz wirklichen
Scheins zu dem Schlusse führen muss, dass auch als Ursache desselben
irgend ein Wirkliches existire.

257. "Wie der Rauch auf die Flamme, deutet Schein auf Sein";
in diesen Worten Herbart's ist obiger Schluss am prägnantesten
ausgesprochen. Allerdings mit dem Seitenblick, dass dieses angedeutete
Sein nicht inner-, sondern ausserhalb desjenigen Wirklichen, welches
den Träger des Scheins darstellt, d. i. des vorstellenden Subjects
zu suchen sein möchte. Hier ist der Punkt, wo die Nachfolger Kant's,
die, wie er, auf dem Boden des Transcendentalidealismus stehen, in
die einander entgegengesetzten Richtungen eines Idealismus, der sich
auf das Subject des Scheins (den idealistischen Factor) d. i. eines
idealistischen, und eines solchen, der sich auf das Object des Scheins
(den realistischen Factor) stützt, d. i. eines realistischen Idealismus
(der im Vergleiche mit jenem auch Realismus heissen kann) aus einander
gehen. Aber auch die Stelle, wo diejenigen, die nicht wie Kant auf dem
Boden des transcendentalen Idealismus beharren, sondern mit Umgehung
des idealistischen Factors das Wirkliche unmittelbar, weder durch
einen Schluss von der Wirkung auf die Ursache, noch überhaupt durch
einen Act eines wie immer gearteten Denkens, sondern auf einem von
diesem gänzlich verschiedenen Wege (etwa durch das Gefühl wie Jacobi,
oder durch den Willen wie Schopenhauer) ergreifen zu können glauben,
sich von jenen trennen und zu einem das Denken transcendirenden
(deshalb fälschlich transcendental genannten) Realismus gelangt sind.

258. Darin stimmen beide, der idealistische und der realistische
Idealismus, mit einander überein, dass der Schein als wirklicher
eine Ursache und zwar ein Wirkliches zur Ursache haben müsse; aber
darin gehen sie beide aus einander, dass der erstere diese Ursache
innerhalb, der andere dieselbe ausserhalb des Bewusstseins sucht. Der
"Jude Kant's", Salomon Maimon, war es, der zuerst die Bemerkung
machte, dass die Annahme des Dings an sich von Seite Kant's auf einem
Fehlschluss beruhe. Wenn der Satz, dass jede Wirkung eine Ursache
haben müsse, wie die kritische Organisation des Erkenntnissvermögens
lehrt, nichts anderes ist als eine dem vorstellenden Subject, und
zwar dessen Verstande innewohnende Urtheilsform, so folgt, dass das
Subject zwar niemals umhin kann, wo es eine Erscheinung als Wirkung
betrachtet, eine Ursache derselben vorauszusetzen, dass aber daraus,
dass das Subject durch die Natur seines Erkenntnissvermögens zu diesem
Vorgang gezwungen ist, auf keine Weise gefolgert werden darf, dass
eine derartige Ursache auch wirklich vorhanden sei. Wenn daher Kant
aus der Existenz der Empfindungen auf die nothwendige Existenz des
Dings an sich als deren Ursache schliesse, so begehe derselbe eine
mit seinen eigenen Principien im Widerspruch stehende Erschleichung,
indem aus den letzteren keineswegs die Existenz des Objects, sondern
höchstens für das Subject die Nothwendigkeit sich ableiten lasse,
ein solches vorauszusetzen. Als Fichte's Wissenschaftslehre mit der
Behauptung hervortrat, dass Kant durch die Zulassung des Dings an
sich als Ursache des Stoffs der phänomenalen Welt mit sich selbst in
unhaltbaren Widerspruch gerathe, war ihm jener mit der gleichen schon
vorangegangen. Fichte aber war es, welcher aus obigem Selbstwiderspruch
zuerst die Folgerung zog, dass die Annahme der Existenz eines Dings
an sich als eines vom Träger des im Bewusstsein wirklichen Scheins
unterschiedenen Wirklichen gänzlich fallen gelassen d. h. dass der
realistische Factor des Transcendentalidealismus, das Object, welches
scheint, entfernt werden müsse.

259. Nach dem Verschwinden des realistischen bleibt von den beiden
Factoren, durch deren Zusammenwirken die phänomenale Welt des
transcendentalen Idealismus entsteht, nur der idealistische Factor,
nach der Entfernung des Objects, welches scheint, von den beiden
Wirklichen, deren gemeinsames Product die Welt des Bewusstseins ist,
nur das Subject, welchem scheint, übrig, geht der transcendentale
Idealismus in einen solchen des Subjects (subjectiver Idealismus)
über. Statt zweier Wirklicher, welche die Basis des transcendentalen
Idealismus bilden, hat der subjective Idealismus zu seinem
Substrat ein einziges Wirkliches, welches zugleich die Rolle des
idealistischen und des realistischen Factors der phänomenalen Welt
übernimmt d. h. der phänomenalen Welt nicht nur (wie der erste)
die Form gibt, sondern auch (wie der letztere) den erforderlichen
Stoff (das sinnliche Empfindungsmaterial) selbst erzeugt. Während
daher im transcendentalen Idealismus der Träger des Scheins,
das wirkliche Subject, gegen die Ursache desselben, das wirkliche
Object, sich leidend, letzteres gegen ersteres sich thätig verhält,
stellt derselbe im subjectiven Idealismus als Träger (Subject)
zugleich die Ursache (Object) des Scheins in einem identischen
Wirklichen dar, verhält sich das nämliche Wirkliche zugleich als
Subject leidend gegen sich selbst als Object und thätig als Object
gegen sich selbst als Subject d. h. als Subject-Object. Den Anstoss,
welchen im transcendentalen Idealismus das Subject vom Object empfing,
um Empfindung d. i. Material der phänomenalen Welt im Bewusstsein
hervortreten zu lassen, empfängt dasselbe nunmehr nicht von einem
von ihm unterschiedenen Andern, sondern von sich selbst. Das von ihm
unterschiedene Andere (Object), welches der transcendentale Idealismus
noch als ein wirklich Anderes (d. i. als ein anderes Wirkliches) ansah,
ist in den Augen des subjectiven Idealismus nur mehr ein scheinbar
Anderes, in Wirklichkeit kein Anderes als das Subject, welches das
erste und einzige Wirkliche zugleich ist. Dasselbe, insofern es die
Rolle des wirklichen realistischen Factors, des Objects, spielt,
producirt nicht blos sämmtlichen Stoff der phänomenalen Welt, sondern
es schafft auch den Schein, als sei dieser Stoff durch ein Anderes
als es selbst d. h. es schafft den Schein eines realen Objects,
welches den Stoff der phänomenalen Welt producirt. Letzterer, als vom
Subject geschaffener Schein eines von diesem unterschiedenen Objects
und daher dieses selbst, ist sonach in der That nichts weiter als eine
Schöpfung d. i. eine durch einen Setzungsact des Subjects entstandene
und daher von diesem abhängige Setzung desselben, eine Fiction,
aber nichts Wirkliches. Wird diese seine fictive Natur vorübergehend
verkannt, der Schein eines Objects für dessen Wirklichkeit genommen,
das scheinbare Object, als ob es ein Wirkliches wäre, dem Subject
entgegengesetzt, so muss diese Täuschung, welche, weil das Subject
das einzige Wirkliche ist, nur eine Selbsttäuschung des Subjects sein
kann, einmal ein Ende nehmen, das scheinbare Object als blosser Schein
eines Objects erkannt und das vermeintlich vom Subject unterschiedene,
als von ihm unabhängig wirklich bestehendes gedachte Object als von
ihm abhängiges und nur durch dessen eigene Setzung entstandenes vom
Subjecte zurückgenommen werden.

260. Setzung des Objects durch das Subject, Verkennung des
scheinbaren Objects, indem dasselbe für wirklich gehalten wird,
und Wiedererkennung des fälschlich für wirklich gehaltenen Objects
als eines nur scheinbar vom Subject Verschiedenen sind die drei
Momente, in welchen die innere Entwickelungsgeschichte des einzigen
Wirklichen, welches der subjective Idealismus stehen gelassen hat,
des Trägers des Scheins im Bewusstsein sich vollzieht. Dieselbe
stellt gleichsam den Fortschritt einer dramatischen Handlung dar, in
welcher das ursprünglich Geschehene durch den Schein des Gegentheils
vorübergehend verdunkelt und am Schlusse aus der Verdunkelung wieder
hergestellt wird. Wie in der letzteren das wirklich Geschehene vor
dem Beginn d. i. ausserhalb der sichtbaren Handlung gelegen, also
der Kenntniss des Zuschauers anfänglich entzogen ist, so liegt im
obigen Process innerhalb des Bewusstseins das wirklich Geschehene,
die Setzung des scheinbaren Objects durch das Subject, vor dem Beginn
d. i. ausserhalb des erwachten Bewusstseins und bleibt auf diese
Weise der Kenntniss des Subjects d. i. dessen eigenem Bewusstsein
über sich selbst verborgen. Aus ersterem folgt, dass beim Beginne
des Dramas die sichtbare Handlung das Gegentheil dessen zeigt, was
wirklich geschehen ist; aus dem letzteren folgt, dass beim Erwachen
des Bewusstseins der Inhalt desselben das Gegentheil dessen aufweist,
was wirklich der Fall ist; jene stellt das Geschehene als nicht
geschehen, diese stellt das vom Subject gesetzte Object als nicht
gesetzt durch das Subject dar. Die schliessliche Lösung erfolgt, wie
in der dramatischen Handlung durch die Aufhellung des Geschehenen, so
in obigem Bewusstseinsprocess durch die Selbstaufhellung d. i. durch
das Bewusstwerden des Subjects über sich selbst und seine eigene
Setzung des Objects, d. i. durch das Selbstbewusstsein.

261. Dieses Subject, das einzige Wirkliche und folglich Wirkende ist
es, welches der Urheber der Wissenschaftslehre das "Ich" genannt
und dessen in den drei auf einander folgenden Stufen der Thesis,
Antithesis und Synthesis sich entwickelnde Natur derselbe als niemals
rastendes Thun (d. i. unablässiges Wirken) bezeichnet hat. Dasselbe
setzt im Lauf seiner Entwickelung sein eigenes Gegentheil, das
Nicht-Ich, und nimmt es im Verfolge derselben als von ihm selbst
gesetztes d. h. als Ich in sich wieder zurück. Der erste Theil dieses
Processes, welcher sich vor dem Bewusstwerden vollzieht, stellt die
bewusstlose d. i. die Naturseite (Nachtseite) der Entwickelung des Ich,
der zweite Theil desselben, weil er sich bei Bewusstsein vollzieht,
stellt die bewusste d. i. die Geistesseite (Tagseite) derselben und,
da das Ich das einzige Wirkliche ist, jener Abschnitt zugleich die
Entwickelung des Wirklichen als eines bewusstlosen d. i. als Natur,
dieser jene des nämlichen Wirklichen als eines bewussten d. i. als
Geist dar. Die Gliederung der gesammten Wissenschaft vom Wirklichen vom
Standpunkt des subjectiven Idealismus aus in eine solche vom Ich als
Natur (Naturphilosophie) und vom Ich als Geist (Geistesphilosophie),
aber auch die Möglichkeit einer solchen, welche beide Seiten der
Entwickelung des Ich als Entwickelungsseiten eines und des nämlichen
Ich, als identisch betrachtet (Identitätsphilosophie), so wie einer
weitern, welche die Betrachtung des Entwickelungsgesetzes des Ich
als eines nicht nur selbst innerlich nothwendigen, sondern diese
Entwickelung nothwendig fordernden, der Betrachtung des wirklichen
Entwickelungsganges desselben als Natur und Geist voranstellt
(Dialektik, metaphysische Logik) ist dadurch vorgezeichnet.

262. Je nachdem das Ich als Wirkliches (agens), oder als blosser
Infinitiv, als Wirken (agere) bestimmt, das erstere entweder als
endliches oder als unendliches (absolutes) Ich aufgefasst wird,
gliedert sich der Idealismus des Subjects in die drei Stufen des
(im engeren Sinn sogenannten) subjectiven Idealismus (Fichte),
absoluten Idealismus (Schelling) und Panlogismus (Hegel). Jener
besteht darin, dass als einziges Wirkliches ein endliches Ich
(das transcendentale Subject); der zweite darin, dass als einziges
Wirkliches ein absolutes Ich (die Gottheit, das absolute Subject); der
dritte darin, dass als einziges Wirkliches das unpersönliche Wirken
und zwar, da das einzige Wirkliche des Idealismus das vorstellende
(denkende) Subject ist, das unpersönliche Denken, die Vernunft
angesehen wird. Die Entwickelungsgeschichte des ersten d. i. der
Inhalt der gesammten Wissenschaft stellt den Bewusstseinsprocess dar,
mittels dessen das endliche Ich zum Bewusstsein seiner selbst, zum
Selbstbewusstsein gelangt d. i. Geist wird. Jene des zweiten macht
den immanenten Entwickelungsprocess aus, mittels dessen das absolute
Subject durch die vorläufigen Phasen der Natur- und der Weltgeschichte
hindurch zum Bewusstsein seiner selbst d. i. zum Bewusstsein seiner
Göttlichkeit, zum absoluten Bewusstsein gelangt d. i. absoluter Geist,
Gott wird. ("Am Ende der Weltgeschichte", sagte Schelling, "wird
Gott sein".) Der Panlogismus endlich repräsentirt den dialektischen
Process, mittels dessen die unpersönliche (objective) Vernunft
(die logische Idee) durch ihr Gegentheil, das vernunftlose Sein
(die Natur), hindurch zur persönlichen (subjectiven) Vernunft (zum
absoluten Geiste) wird. ("Aufgabe der Philosophie ist", sagte Hegel,
"die Substanz zum Subjecte zu machen".)

263. Alle drei Formen des Idealismus des Subjects kommen darin überein,
das Wirkliche sei, aber auch, dass nur ein Einziges wirklich sei. Wird
daher dieses als einziges Wirkliches von einem Widerspruch betroffen,
welcher entweder verhindert, dasselbe überhaupt anzunehmen, oder doch
hindert, dasselbe als wirklich gelten zu lassen, so werden sämmtliche
Formen jenes Idealismus von demselben zugleich betroffen. Derselbe ging
von dem Satze aus, dass der Schluss des transcendentalen Idealismus
von dem Schein als Wirkung auf ein Object als Ursache desselben ein
Selbstwiderspruch sei, aus dem Grunde, weil die Folgerung von der
Wirkung auf die Ursache nur eine Urtheilsform des Verstandes, und
daher die Consequenz, dass der Schein im Bewusstsein eine Ursache
haben müsse, zwar für den Verstand unvermeidlich, aber darum nichts
weniger als (objectiv) giltig sei. Gleichwol hat diese Einsicht,
wenn sie den Namen verdient, den Idealismus nicht gehindert, von der
Thatsache des im Bewusstsein schwebenden Scheins auf eine erzeugende
Ursache desselben zurückzuschliessen, nur mit dem Unterschied, dass er
dieselbe nicht ausserhalb des Bewusstseins (in ein Object), sondern
in den Träger des Bewusstseins (in das Subject) verlegt d. h. dieses
selbst zur Ursache des Scheines macht. Wenn nun, wie der Idealismus
behauptet, der Schluss von der Wirkung auf eine Ursache als blosse
Verstandesform überhaupt unberechtigt ist, so ist der Schluss von
der Wirkung auf eine innerhalb des Bewusstseins gelegene, sogenannte
innere Ursache mindestens ebenso unberechtigt, wie jener von der
Wirkung auf eine ausserhalb des Bewusstseins gelegene, sogenannte
äussere Ursache. Der subjective Idealismus hat daher von diesem
Gesichtspunkt aus ebensowenig das Recht, das Subject als Wirkliches,
wie der objective Idealismus seiner Meinung nach ein solches besitzt,
ein vom Subject unterschiedenes Object als Wirkliches anzunehmen.

264. Wie man sieht, hat der Idealismus des Subjects, der gewöhnlich
kurzweg mit dem Namen Idealismus bezeichnet wird, in diesem Punkt
dem Idealismus des Objects, kurzweg Realismus genannt, nichts
vorzuwerfen. Derselbe hat nicht nur nicht mehr und nicht weniger
ein Recht, als erzeugende Ursache des Scheins ein Wirkliches,
er hat überdies, was bedenklicher ist, kein Recht, das von ihm
angenommene Wirkliche als wirklich anzunehmen. Letztere Annahme
fällt, wenn dasjenige, was als wirklich gedacht werden soll, mit
einer Eigenschaft behaftet ist, welche verhindert, dasselbe als
wirklich zu denken. Dieser Fall tritt aber ein, wenn dasjenige,
was als wirklich gedacht werden soll, in sich einen Widerspruch
einschliesst. So gewiss aus dem Umstand, dass ein als wirklich zu
Denkendes keinen Widerspruch einschliesst, nur geschlossen werden
kann, dass es möglich, keineswegs, dass es wirklich sei, so gewiss
muss aus dem Umstand, dass ein als wirklich zu Denkendes in sich
einen Widerspruch enthält, die Folgerung gezogen werden, dass dasselbe
unmöglich d. i. auf keine Weise je wirklich sei. Das einzige Wirkliche
des Idealismus, das Ich, nun soll in der Weise gedacht werden, dass
dasselbe zugleich sein eigenes Object und sein eigenes Subject sei,
den Stoff seiner phänomenalen Welt zugleich empfange und erzeuge,
also zugleich gegen sich selbst als Leidendes und auf sich selbst
als Thätiges sich verhalte d. h. es soll so gedacht werden, dass es
zugleich seine eigene Ursache und seine eigene Wirkung (causa sui),
also dass es im strengsten logischen Sinn des Wortes Entgegengesetztes
d. i. sich unter einander Ausschliessendes zugleich und als jedes von
beiden sein eigenes Gegentheil, um es mit einem Wort zu sagen, der
lebendige Widerspruch sei. Ein solcher aber kann nicht als wirklich
gedacht werden.

265. Auch dann nicht, wenn die Erfahrung ihn zu bestätigen
scheint. Die Thatsache, welche der Idealismus anzuführen liebt,
um durch dieselbe zu erweisen, dass ein sich zugleich als Thätiges
und Leidendes Verhaltendes, eine causa sui, wirklich, und daher,
was auch die Logik dagegen einwenden möge, möglich sei, ist
das Phänomen des Selbstbewusstseins. Dasselbe, so schliesst der
Idealismus, als factisches Bewusstsein des Selbst von sich selbst,
ist thatsächlich Subject und Object, Leidendes und Thätiges, Ursache
und Wirkung zugleich: das Ich stellt sich vor und das Ich stellt
sich vor. Als jenes ist es das Vorstellende (Subject), als dieses das
Vorgestellte (Object), als beider Identität ist das Ich Vorstellendes
und Vorgestelltes zugleich (Subject-Object). Durch diese unbestreitbar
scheinende psychologische Thatsache, d. i. durch die Wirklichkeit eines
im logischen Sinn mit einem inneren Widerspruch Behafteten ist nach der
Meinung des Idealismus die Möglichkeit, ein in sich Widersprechendes
als wirklich zu denken, erwiesen; der Einspruch der Logik, dass
Widersprechendes nicht als wirklich gedacht werden könne, abgewiesen.

266. Gegenüber dem Canon: a non posse valet conclusio ad non esse, geht
der Idealismus von dem entgegengesetzten aus: ab esse valet conclusio
ad posse. Die Richtigkeit seiner Folgerung hängt von dem Umstande
ab, ob und dass die angebliche Thatsache des Selbstbewusstseins
wirklich eine Thatsache, oder, was eben so viel ist, ob und dass die
Behauptung, das Ich stelle sich vor, auf einer wirklichen Erfahrung
oder auf einer blossen Einbildung beruhe. Die Thatsache, welche den
Widerspruch zu stürzen bestimmt ist, darf nicht selbst wieder auf
einen Widerspruch sich stützen. Dieselbe muss, um gegen die Einrede
der Logik Stand zu halten, eine selbst widerspruchsfreie, evidente,
nicht nichtanzuerkennende Thatsache sein.

267. Es fehlt viel, dass die sogenannte Thatsache des
Selbstbewusstseins dieser Forderung genügte. Wenn, wie der Idealismus
einräumt, das Phänomen des Selbstbewusstseins nichts weiteres in sich
schliesst als das "Sich sich Vorstellen" (se sibi repraesentare)
des Ichs, so enthält das Sich (se) abermals nichts anderes als
das Ich d. h. das Sich sich Vorstellen, das Sich (se) in diesem
aber das nämliche "Sich sich Vorstellen" zum dritten, und das
sich darin wiederholende Sich dasselbe zum vierten Male u. s. f.,
d. h. es entsteht ein regressus in infinitum. Das Ich erweist sich
als eine mit der Forderung, eine unendliche Reihe vorzustellen,
behaftete, demnach als eine im wirklichen Vorstellen schlechthin
unvollendbare Vorstellung d. h. als eine solche, die niemals Thatsache
d. i. wirkliche Vorstellung sein kann. Einer Thatsache aber, die
keine sein kann, gegenüber steht der Einwand der Logik, dass in sich
Widersprechendes niemals wirklich sein könne, aufrecht.

268. Der Widerspruch, welcher den Idealismus ausschliesst,
liegt sonach nicht darin, dass er als Ursache des im Bewusstsein
schwebenden Scheins ein Wirkliches setzt, sondern darin, dass er
als solche ein in sich Widersprechendes d. h. ein Wirkliches setzt,
das nicht als wirklich gedacht werden darf. Indem der Idealismus des
Objects, der Realismus, von dem im Bewusstsein schwebenden Schein
als Wirkung auf eine denselben erzeugende Ursache schliesst, thut
er nichts anderes, als, wie oben gezeigt, auch der Idealismus thut;
indem derselbe als solche jedoch nicht ein in sich Widersprechendes,
sondern ein solches setzt, das ohne Einsprache der Logik als wirklich
gedacht werden kann, thut er wirklich anderes und besseres, als jener
that. Derselbe begnügt sich weder, im Gegensatz zum Idealismus des
Subjects, die Annahme des Ich als des einzigen Wirklichen abzulehnen,
noch, in Uebereinstimmung mit Kant, die Unerlässlichkeit der Annahme
eines übrigens in jeder Hinsicht unbekannten realen x, des von jeder
denkbaren quantitativen und qualitativen Bestimmtheit entblössten
"Dings an sich", zuzugeben, sondern schreitet im Gegensatze zu beiden
zu der eben so wol realistischen als pluralistischen Behauptung fort,
dass nicht nur Wirkliches sei, sondern unbestimmt viele Wirkliche seien
d. h. dass die Voraussetzung solcher auf Grundlage und zur Erklärung
des thatsächlich im Bewusstsein schwebenden Scheins nicht nur nicht
widersprechend, sondern im Gegentheil, das Gegentheil derselben der
Forderung eines logischen Denkens widersprechend sei.

269. Weshalb die Annahme, es gebe Wirkliches, nicht nur nicht
widersprechend, sondern vielmehr die gegentheilige Annahme, es
gebe kein Wirkliches, widersprechend sei, ist schon oben gezeigt
worden. Von dem "Rauche" des Scheins gilt der Schluss auf die
"Flamme" des Seins. Wo nichts Wirkliches wäre, könnte auch keines
scheinen; keineswegs aber gilt auch der umgekehrte Satz, dass, wo
kein Wirkliches scheint, auch kein Wirkliches vorhanden sei. Denn
es lässt sich sehr wol denken, dass Wirkliches sei, auch ohne zu
scheinen. Die Setzung des Wirklichen auf Grundlage des vorhandenen
Scheins ist eine bedingte; das Gesetztsein des Wirklichen aber ist
ein durch dessen Setzung auf Grundlage des Scheins nicht bedingtes,
also unbedingtes. Dasselbe wird gesetzt, weil der Schein gesetzt ist;
aber es wäre gesetzt, auch wenn der Schein nicht gesetzt wäre. Die
Setzung desselben erfolgt nicht, wie jene des (scheinbaren) Objects
im Idealismus, durch das Ich, welches setzt, sondern besteht, wie der
von seinem Gedachtwerden unabhängige Denkinhalt, auch ohne Subject,
welches setzt. Die Position des (scheinbaren) Objects durch das Subject
(im Idealismus) ist eine relative; mit dem Subject fällt auch das
Object. Die Position des Wirklichen im Realismus ist eine absolute;
dieselbe hört nicht auf, auch wenn das Subject aufhört.

270. Nur die letztere Position ist wahre, die relative ist keine
Position. Das eigentlich Ponirte ist in der relativen Position
nicht das Gesetzte (das Object), sondern das Setzende (das Subject);
die Position des Ponirten ist daher nur eine scheinbare; die wahre
Position ist die des Ponirenden. Dieses allein ist wahrhaft, das von
ihm Gesetzte nur dem Anschein nach wirklich; das einzige Wirkliche
sonach nicht das Gesetzte, das Object, sondern das Setzende, das
Subject. Soll das Object das Wirkliche d. i. nicht nur dem Schein nach,
sondern in Wahrheit wirklich sein, so muss es von seiner Setzung durch
das Subject unabhängig gesetzt d. h. es muss als das, was es ist,
auch dann gesetzt sein, wenn weder eine Setzung desselben durch ein
Subject, noch überhaupt ein von demselben unterschiedenes Subject je
wirklich vorhanden ist.

271. Die absolute Position ist der Ausdruck des Seins. Durch dieselbe
ist das Sein, wie von jeder Setzung durch das Subject, so auch von der
Setzung durch jedes, wie immer geartete Denken unabhängig. Dasselbe
ist, wie Bonaparte zu Campoformio von der französischen Republik sagte:
"wie die Sonne, wehe dem, der sie nicht sieht!" Dem Denken bleibt
nichts übrig, als das Sein als das, was es von vornherein ist, als
Sein anzuerkennen; das Sein aber als solches bedarf dieser Anerkennung
durch das Denken nicht. Das Sein ist nicht, wie Schelling sagte,
"vor" dem Denken, aber es bestünde auch ohne das Denken.

272. Ein Denken, welches das Wirkliche nicht als absolut d. i. als von
ihm unabhängig gesetzt dächte, hätte dasselbe nicht als Sein, sondern
als Schein gedacht. Derselbe Grund, welcher das Denken nöthigt, ein
Wirkliches zu denken, nöthigt es auch, dieses letztere als unbedingt
gesetzt d. i. als seiend zu denken. Der Grund aber, der für das Denken
die Annahme eines Wirklichen unvermeidlich macht, ist die Thatsache des
Scheins des Wirklichen d. i. das -- nicht willkürlich durch den Willen
des Denkenden, sondern unwillkürlich, ohne, ja selbst wider den Willen
des Denkenden -- Gegebensein des Scheins des Wirklichen. Der Inhalt
dieser durch die Thatsache des Scheins des Wirklichen d. i. durch
die Erfahrung bedingten Setzung ist das unbedingt Gesetzte.

273. Dass das Wirkliche, was es auch immer sei, unbedingt gesetzt,
nicht aber, was das Wirkliche, wenn gesetzt, seinem Was nach sei, ist
damit ausgesprochen. Nur so viel lässt sich folgern, dass, wie auch
das Was des Wirklichen gedacht werden möge, dasselbe nicht so gedacht
werden dürfe, dass dessen unbedingtes Gesetztsein dadurch unmöglich
gemacht wäre. Dies aber würde der Fall sein, nicht nur wenn das Was
des Wirklichen in irgend einer Weise von der Natur eines dasselbe
Setzenden abhängig gedacht, sondern auch dann, wenn dasselbe durch
das Gesetztsein eines Andern bedingt gedacht würde. Dasselbe darf
in ersterer Hinsicht daher nicht so beschaffen gedacht werden, wie
das vermeintlich Setzende (z. B. das vorstellende Subject) seiner
Beschaffenheit nach ist d. h. etwa als vorstellend, weil dieses
letztere vorstellt, oder als fühlend, oder wollend, weil dieses
letztere fühlt und will. Es darf aber auch in letzterer Hinsicht
nicht so gedacht werden, dass dessen Gesetztsein das Gesetztsein
eines Anderen bedingt, also nicht als zusammengesetzt d. i. aus
Theilen bestehend, weil dann dessen Gesetztsein durch das Gesetztsein
jedes einzelnen dieser Theile bedingt, also nicht unbedingt wäre. Aus
ersterem folgt, dass das Was des Wirklichen in keiner Weise aus dem Was
etwa des vorstellenden Subjects als des vermeintlich dasselbe Setzenden
erschlossen werden könne. Aus dem letzteren folgt, dass das Was des
Wirklichen, weil unbedingt gesetzt, nicht zusammengesetzt d. i. nicht
aus Theilen bestehend sein dürfe, sondern streng einfach sein müsse.

274. Jedes wahrhaft Wirkliche ist daher einfaches Wirkliches. Dasselbe
ist nicht nur, wie das sogenannte physikalische Atom, scheinbar,
sondern wirklich "atom" d. i. untheilbar; nicht blos, wie jenes, weil
es mit den vorhandenen Werkzeugen nicht mehr getheilt werden kann, oder
für den gegebenen Zweck nicht mehr weiter getheilt zu werden braucht,
sondern, weil es schlechthin keine Theile hat. Dasselbe schliesst
seiner Einfachheit halber zwar nicht jede Vielheit, aber doch jede
Vielheit einander coordinirter Glieder von sich aus d. h. dasselbe
ist weder ein Bündel einander nebengeordneter Eigenschaften, noch
eine Summe ebensolcher sogenannter Kräfte oder Vermögen. Es kann
sein Was weder verlieren noch verändern, ohne (was unmöglich ist
bei einem unbedingt Gesetzten) selbst aufzuhören. Dasselbe kann
daher weder qualitativ ein anderes als, noch quantitativ ein mehr
oder weniger dessen werden, was es ist; dasselbe ist, sobald es ist,
sowol ewig als unveränderlich; weder dessen (unbedingtes, also von
jeder Bedingung unabhängiges) Gesetztsein, noch dessen einfaches,
jeder Zuthat oder Abtrennung von Theilen, jedes Wachsthums wie jeder
Abnahme unfähiges Was kann einen Wechsel erleiden. Die unvermeidliche
Consequenz der absoluten Position und der Einfachheit des Was ist
die Erhaltung des wandellosen Selbst jedes Wirklichen.

275. Im Begriffe des Wirklichen liegt, dass es Wirkendes ist
d. i. wirkt d. h. dass dessen Sein und dessen einfache Qualität von
dessen Wirken d. i. sich Bethätigen unabtrennlich ist. Weder ein
Wirkliches, das nicht wäre, noch ein Seiendes, das nicht wirkte, wäre
ein wahrhaft Wirkliches; jenes wäre nur der Schein eines Wirklichen,
dieses wäre ein Todtes, also nicht Wirkliches. Die Zusammengehörigkeit
beider darf nicht so gedacht werden, als wäre das Sein und die Qualität
das Substrat des Wirkens d. h. als besässe das Wirkliche als seiende,
aber nicht wirkende Qualität seine besondere, als seiende, aber
wirksame Qualität wieder seine abgesonderte Wirklichkeit d. h. als
stellte die seiende Qualität nach Abzug des Wirkens gleichsam
das Residuum, das caput mortuum des Wirklichen dar. Die unbedingt
gesetzte einfache Qualität und das Wirken sind nicht nur im Begriffe
des Wirklichen, sondern in diesem selbst unzertrennlich eins, so dass
das Wirkliche weder gedacht werden kann, ohne dasselbe als wirkend
zu denken, noch als Wirkliches sein d. h. wirklich sein kann, ohne
zu wirken.

276. Ebensowenig wie die absolute Position, das unbedingte
d. i. bedingungslose Gesetztsein, darf das mit derselben im
Wirklichen in Eins verschmolzene Wirken von einer, wie immer gearteten
Bedingung abhängig gedacht werden. Weder kann dessen Beginn, noch
dessen Aufhören an einen Zeitpunkt geknüpft werden, vor welchem und
nach welchem zwar das unbedingt Gesetzte, aber nicht als Wirkendes,
sondern als Wirkungsloses bestünde, noch darf dasselbe so verstanden
werden, als setzte es einen besondern, noch weniger einen von ihm,
dem Wirklichen, unterschiedenen Stoff voraus, um sich als Wirken zu
bewähren. Die Frucht des mit der absolut gesetzten einfachen Qualität
unauflöslich und unablösbar verbundenen Wirkens des Wirklichen ist
dessen Wirklichkeit.

277. Nothwendige Wirkung des mit dem Wirklichen seiner Natur nach
verbundenen Wirkens ist, dass etwas geschieht. Das Gegentheil, die
Annahme, dass nichts geschehe, ungeachtet gewirkt wird, widerspricht
sich selbst. Denn ein Wirken ohne wie immer beschaffenen Erfolg hätte
nichts bewirkt d. h. wäre kein Wirken gewesen. Nothwendige Folge der
Einfachheit und Unveränderlichkeit der Qualität des Wirklichen ist,
dass, was immer geschehe, weder eine Setzung, noch Aufhebung der
absoluten Position eines Wirklichen, noch die, sei es quantitative,
sei es qualitative Abänderung der Qualität eines Wirklichen, weder
der eigenen, noch einer fremden sein kann; daher alles, was wirklich
geschieht, weder die Qualität, noch das Gesetztsein des Wirklichen,
sondern nur das mit demselben unablöslich verschmolzene Wirken des
Wirklichen angehen kann d. h. dass alles, was wirklich in Folge des
Wirkens geschieht, nur eine Aenderung (Modification) dieses Wirkens
selbst, beziehungsweise dessen Zunahme oder Abnahme, Förderung oder
Hemmung, Erhaltung in der bisherigen, oder Ablenkung nach einer andern
Richtung bedeuten kann.

278. Dass überhaupt Wirkliches ist und, was wirklich ist, wirkt,
macht die realistische, dass mehr als ein einziges Wirkliches,
eine unbestimmbare Menge von Wirklichen sei, die pluralistische
Seite des Realismus aus. Wie das erstere aus dem Satze, dass
scheinbar Wirkliches, so folgt das letztere aus der Thatsache,
dass der Schein eines vielfachen Wirklichen gegeben ist. Während
der Schluss dort lautet: ohne Sein kein Schein, lautet er hier: ohne
Vielheit und Vielfachheit des Seins keine Vielheit und Vielfachheit
des Scheins. Die entgegengesetzte Annahme, dass aus der Einheit
und Einfachheit des Seins der Schein der Vielheit und Vielfachheit
des Seins hervorgehe, widerspricht sich selbst. Dieselbe lässt
unerklärt, warum, wenn das Erzeugende, der realistische Factor,
die Ursache der Empfindung, das nämliche ist, die Wirkung derselben,
die Empfindung, bald diese, bald jene sei, das "Ding an sich", von
welchem der Anstoss zur Empfindung ausgeht, bald eine Gesichts-, bald
eine Gehörsempfindung, und wieder einmal die Empfindung des Blauen,
ein anderes mal die des Rothen verursache, dabei aber selbst als
Ursache immer dasselbe bleibe. Wird an die Stelle des Dings an sich das
Wirkliche d. i. eine absolut gesetzte, einfache Qualität substituirt,
so erhöht sich die Schwierigkeit, zu begreifen, wie diese letztere,
welche als einfach jede Vielheit coordinirter, aber unter einander
qualitativ verschiedener Wirkungsweisen ausschliesst, doch zugleich
Ursache qualitativ verschiedener Wirkungen d. i. z. B. qualitativ
unterschiedener Empfindungen werden könne; dieselbe führt daher mit
Nothwendigkeit dazu, so viele und so vielerlei qualitativ verschiedene
Ursachen vorauszusetzen, als und so vielerlei qualitativ verschiedene
Wirkungen gegeben sind d. h. wo die Thatsache vielfachen qualitativ
unterschiedenen Scheins gegeben ist, auch die Existenz eines vielfachen
und qualitativ unterschiedenen Wirklichen zu postuliren.

279. Wie durch die Betonung der realistischen Grundlage des Scheins dem
Idealismus, so ist durch die Betonung der pluralistischen Grundlage des
Scheins der Realismus jedem wie immer gearteten Monismus d. i. jeder
All-Eins-Lehre entgegengesetzt. Jener, er sei subjectiver, absoluter
oder Panlogismus, entbehrt eines wahrhaft Wirklichen; dieser,
er sei idealistisch oder selbst realistisch, entbehrt einer wahren
Vielheit des Wirklichen. Jenem zufolge ist das Wirkliche blosser Schein
(Phantasmagorie) welchen sich entweder das endliche oder das absolute
Ich, oder die absolute Vernunft vorspiegelt, um mittels desselben zum
Bewusstsein seiner, beziehungsweise ihrer selbst zu kommen d. i. Geist
zu werden. Diesem zufolge ist jede Vielheit und Individuation des Seins
blosser Schein (Phantasmagorie), welchen das eine und einzige Wirkliche
(es sei nun Spinozistische Substanz oder Schopenhauer'scher Allwille)
entweder (wie die beiden genannten) mit blinder Nothwendigkeit, oder
(wie das Hartmann'sche "Unbewusste") zu dem Zwecke sich vorgaukelt,
um mittels desselben zum Bewusstsein und sei es durch Selbstverneinung
oder durch werkthätigen Anschluss zur Realisirung des Weltzwecks zu
gelangen. Während der erstere begreiflich zu machen unterlässt, wie
aus demjenigen, was selbst nicht einmal den Schatten der Wirklichkeit
besitzt, auch nur der Schein einer solchen entspringen könne, setzt
der letztere dem Bedenken, wie aus demjenigen, was selbst nicht
einmal eine Spur der Vielheit in sich schliesst, auch nur der Schein
einer solchen und der Vielfachheit des Wirklichen hervorgehen könne,
vorsichtiges Stillschweigen entgegen.

280. So viel wirklicher Schein, so viel wirkliches Sein -- lautet der
Satz des Realismus, aber nicht, wie viel wirkliches Sein. Derselbe
begnügt sich, zu behaupten, dass um der Vielheit und Mannigfaltigkeit
des durch die Erfahrung gegebenen Scheins willen eine eben solche
Vielheit und Mannigfaltigkeit des Wirklichen gesetzt, aber er
enthält sich, der Versuchung nachzugeben, bestimmen zu wollen,
welche (ob endliche oder unendliche) Vielheit des Wirklichen gesetzt
werden müsse. Eben so wenig wie das Quantum, wagt er das Quale
des Wirklichen anders als durch die schon oben angeführte, aus dem
Begriff der absoluten Position abgeleitete Folgerung der qualitativen
Einfachheit zu bestimmen. Wie die Vielheit des Scheins zwar die
Annahme einer Vielheit des Wirklichen, aber nicht die Bestimmung der
Vielheit des Wirklichen, so erlaubt die Mannigfaltigkeit des Scheins
zwar die Annahme einer Mannigfaltigkeit des Wirklichen, aber nicht
die Bestimmung des Mannigfaltigen des Wirklichen. Dass vieles und
mannigfaltiges Wirkliches sei, weder aber wie vieles, noch welcherlei
Art das Wirkliche sei, vermisst sich der Realismus anzugeben.

281. Die Mannigfaltigkeit ist die geringste d. h. die Gleichartigkeit
des Wirklichen ist die denkbar grösste, wenn dessen Verschiedenheit
nicht in einer sogenannten inneren (Eigenschaft), sondern nur in einer
sogenannten äusseren Beschaffenheit, also in einer solchen gelegen
ist, welche weder Aehnlichkeit noch Gegensatz, überhaupt keinerlei
Verwandtschaft des Wirklichen voraussetzt, sondern auch bei übrigens
völlig disparaten Wirklichen stattfinden kann. Von dieser Art sind
die räumlichen und zeitlichen d. i. diejenigen Bestimmungen eines
Wirklichen, welche sich ändern können, ohne dass dieses letztere
selbst dadurch eine Aenderung erfährt, obgleich andere Wirkliche
dadurch eine solche erfahren mögen. Der in seiner Umlaufsbahn und
Umlaufszeit sich um die Sonne bewegende Planet erleidet durch seine
Fortbewegung in seinen inneren Eigenschaften keinerlei Veränderungen,
während die Wirkungen, welche er selbst auf andere Planeten ausübt
(z. B. die sogenannten Störungen) wesentlich durch die Stellung
d. i. durch den Ort bedingt werden, welchen derselbe in einem
jeweiligen Zeitpunkt im Verhältniss zu ihnen im Weltraum einnimmt. Eben
so wenig erleidet der Weltkörper, wenn nicht andere Ursachen in und
an demselben Veränderungen bewirken, durch den blossen Abfluss der
Zeit, innerhalb welcher er seine Bahn zurücklegt, eine Veränderung,
obgleich, wenn eine solche an ihm vorgegangen und er demungeachtet
derselbe geblieben sein soll, dies nur unter der Voraussetzung denkbar
ist, dass seine Beschaffenheit vor und seine Beschaffenheit nach
obiger Veränderung in verschiedene Zeitpunkte fallen. Die vielen und
verschiedenen Wirklichen sind daher am wenigsten verschieden, jedoch in
keiner Weise nicht verschieden, wenn deren Verschiedenheit lediglich in
der Verschiedenheit d. i. in der Nichtidentität ihrer räumlichen und
zeitlichen Bestimmungen d. i. des Wo und des Wann ihrer Wirklichkeit
d. i. ihres Wirkens gelegen ist. Dieselben sind verschieden, insofern
ihre Orte im Raum verschieden d. h. ausser einander, dagegen nicht
verschieden, insofern sie Wirkliche d. i. Wirkende sind. Dieselben sind
verschieden, insofern je nach der Verschiedenheit ihres Aussereinander
(d. h. der räumlichen Distanz ihrer Orte) ihr Wirken verschieden,
dagegen nicht verschieden, insofern sie Wirkende sind. In Bezug auf
die Zeit sind sämmtliche Wirkliche als unbedingt Gesetzte insofern
nicht verschieden, als ihr Gesetztsein von jeder, also auch von jeder
zeitlichen Bedingung unabhängig ist; dagegen können sie als Wirkende
insofern verschieden sein, als ihr Wirken sich ändert, während sie
selbst dieselben bleiben und diese Aenderung nur unter der Annahme
möglich ist, dass das eine zu einer, das anders geartete Wirken
dagegen zu einer andern Zeit stattfindet.

282. Wirkliche, die sich durch räumliche und zeitliche Bestimmungen
unterscheiden, können im Uebrigen eben so wol unterschieden als nicht
unterschieden, sie werden trotzdem unterschiedene d. i. Einzelwesen
und, da dieselben als unbedingt gesetzte, einfache Qualitäten, Atome
d. i. untheilbare Wesen sind, Individuen sein. Dieselben müssen
als räumlich (d. i. dem Ort nach) verschiedene, ausser einander,
beziehungsweise neben einander sein; das Wirken derselben, insofern
es in einem und demselben Individuum ein verschiedenes sein soll,
kann nur nach einander, beziehungsweise auf einander erfolgen. Da
dieselben ausser einander d. h. da ihre Orte, wenn sie selbst
unterschiedene sein sollen, nicht dieselben sein sollen, so muss es
der Orte wenigstens eben so viele geben, als es Wirkliche gibt. Da das
Wirken eines jeden derselben, wenn es ein anderes sein soll, in einen
anderen Zeitpunkt fallen muss, so muss es der Zeitpunkte wenigstens
eben so viele geben, als in demselben Wirklichen Abänderungen seines
Wirkens gegeben sind. Mit der Unbestimmbarkeit der Zahl der Wirklichen
ist daher zugleich die Unbestimmbarkeit der Zahl der Orte, mit der
Unbestimmbarkeit der Zahl möglicher Abänderungen des Wirkens eines
und desselben Wirklichen zugleich die Unbestimmbarkeit der Zahl der
Zeitpunkte gegeben. Wie die Menge des auf Grundlage des durch die
Erfahrung gegebenen Scheins anzunehmenden Wirklichen, so lässt sich
die Menge der auf Grundlage des angenommenen Wirklichen anzunehmenden
Orte, so wie jene der auf Grundlage der durch Erfahrung gegebenen
Abänderungen des Wirkens des Wirklichen anzunehmenden Zeitpunkte je
nach Bedürfniss ins Unbestimmte erweitern.

283. Der Inbegriff des gesammten auf Grundlage des durch die Erfahrung
gegebenen Scheins jeweilig anzunehmenden Wirklichen d. i. der Inbegriff
sämmtlicher Atome macht den Stoff, der Inbegriff des von sämmtlichen
Wirklichen ausgehenden Wirkens die Kraft, der Inbegriff sämmtlicher
Orte den Raum, und jener sämmtlicher Zeitpunkte die Zeit aus. Da
der in jedem gegebenen Augenblick dem Bewusstsein durch Erfahrung
aufgedrungene Schein eines Wirklichen ein bestimmter, und insofern
endlich, in jedem gegebenen Augenblick aber ein anderer seinerseits
abermals bestimmter und insofern endlicher ist, so folgt, dass das
Quantum des Wirklichen, da dessen Annahme nur auf Grund des gegebenen
Scheins eines solchen erfolgt, nur dann ein unendliches sein muss,
wenn der gegebene Schein die Annahme eines solchen fordert, im Uebrigen
aber über dasselbe keine andere Bestimmung möglich ist, als dass das
Quantum des Stoffs dem Quantum des durch Erfahrung gegebenen Scheins
proportional sein muss. Da nun der Schluss vom Schein auf das Sein
keineswegs verlangt, dass unendlich, sondern nur, dass unbestimmt
viele Wirkliche dessen reale Grundlage ausmachen sollen, so kann auf
Grund der gegebenen Erfahrung über das Quantum des anzunehmenden
Stoffs nichts weiter ausgesagt werden, als dass dasselbe ein
verhältnissmässiges, mit dem Wachsthum des durch Erfahrung gegebenen
Scheins für das Bewusstsein in stetem Wachsen begriffenes, an sich
aber, da das Wirkliche als unbedingt gesetztes keinerlei Abänderung
seines Gesetztseins fähig ist, ein unveränderliches sein muss.

284. Wie das Quantum des Stoffs, so ist das Quantum der Kraft zugleich
als veränderlich d. i. der Zunahme fähig, und als unveränderlich,
einer solchen unfähig anzusehen. Ersteres, insofern die Annahme
wirklichen Wirkens nur auf Grund des durch die Erfahrung dargebotenen
scheinbaren Wirkens und sonach die Bestimmung des Quantums des
ersteren nur im Verhältniss zu dem erfahrungsmässig gegebenen Quantum
des letzteren statthat, letzteres, insofern das Wirken nichts anderes
als die Verwirklichung der im Wirklichen unbedingt gesetzten einfachen
Qualität und folglich, da diese letztere unveränderlich ist, die Summe
der Verwirklichungen sämmtlicher einfacher Qualitäten des Wirklichen
eben so wie die Summe dieser selbst immer dieselbe bleiben muss. Das
Gesetz der Unveränderlichkeit des Quantums wirklichen Wirkens d. i. der
Erhaltung der Kraft ist nur die unvermeidliche Folge des Gesetzes der
Unveränderlichkeit des Quantums des Wirklichen d. i. der Erhaltung des
Stoffs. Dagegen ist das Quantum der aus dem jeweilig durch Erfahrung
gegebenen scheinbaren Wirken erschlossenen Kraft eben so wie das
Quantum des auf Grund des durch die jeweilige Erfahrung dargebotenen
scheinbaren Wirklichen erschlossenen Stoffs der Veränderung, und zwar
eines im richtigen Verhältniss zu der allmälig anwachsenden Erfahrung
zunehmenden Wachsthums bedürftig und fähig.

285. Der Grund, weswegen letzteres, das jeweilige Quantum des
scheinbaren mit dem des wirklichen Wirkens weder jemals identisch ist,
noch werden kann, liegt in der Verschiedenheit, beziehungsweise dem
Gegensatz der individuellen Wirklichen und der daraus fliessenden
Verschiedenheit, beziehungsweise des Widerstreits ihres Wirkens. In
der Natur der Sache liegt es, dass verschiedene, ganz oder theilweise
der Qualität nach entgegengesetzte Wirkliche auch in ihrem Wirken
ganz oder theilweise einander entgegengesetzt sind d. h. dass ihr
Wirken sich gegenseitig ganz oder theilweise zwar nicht vernichtet,
weil die unbedingt gesetzte und selbst unveränderliche Qualität des
Wirklichen der Vernichtung unfähig ist, aber ganz oder theilweise
hemmt, so dass der Schein entsteht, als werde nichts oder als werde
weniger gewirkt, während thatsächlich gewirkt, und zwar mehr gewirkt
wird als gewirkt zu werden scheint. Das auf diese Weise gehemmte,
also scheinbar nicht wirklich, in der That aber wirklich, jedoch im --
durch entgegengesetztes Wirken -- gebundenen Zustande vorhandene Wirken
ist gleichsam latentes, schlummerndes, dagegen das ungehemmte, durch
ganz oder theilweise Entgegengesetztes nicht gebundene, also freie
Wirken offenbares, lebendiges Wirken. Die Summe des letzteren muss,
da unter der Summe des Wirkenden jedesmal ein bestimmter Bruchtheil
unter sich entgegengesetzten Wirkens vorhanden sein muss, nothwendig
kleiner ausfallen als die Summe des überhaupt (im gehemmten und
ungehemmten Zustande) vorhandenen Wirkens und zwar desto kleiner,
je grösser die Summe des unter sich entgegengesetzten, also sich
hemmenden Wirkens im Verhältniss zur Summe des Wirkens überhaupt
ist. Die Wirklichen selbst, deren Wirken gehemmt ist, die also, um
dieses Gehemmtseins willen, nicht zu wirken, also nicht wirklich zu
sein scheinen, während sie doch wirkend, also wirklich sind, stellen
zusammengenommen den Inbegriff desjenigen Wirklichen dar, welches zwar
wirklich, dem Scheine nach aber nicht wirklich d. h. für die aus dem
Scheine des Wirklichen auf die Wirklichkeit folgernde Beobachtung
so gut wie nicht vorhanden ist d. h. den Inbegriff des latenten,
jeweilig nicht nur seiner Qualität nach unbekannten, sondern auch
seiner Existenz nach ungekannten Wirklichen.

286. Letzterer liefert den Vorrath sowol zur Vermehrung des sichtbaren,
wie zur Erweiterung des Umfanges des aus gegebenem scheinbaren
erschlossenen wirklichen Wirkens. Indem bisher gebundenes Wirken aus
irgend einem Anlass frei d. h. ungehemmtes Wirken wird, tritt es aus
dem latenten in den Zustand offenbaren Wirkens d. h. es tritt selbst,
wenigstens scheinbar, als neues, bisher nicht wahrgenommenes Wirken zu
der Summe des bisher sichtbar gewesenen Wirkens hinzu; indem es als
offenbar gewordenes, also den Schein des Wirkens erzeugendes Wirken
vor das Bewusstsein tritt, ruft es in diesem den unvermeidlichen
Schluss auf wirkliches Wirken d. i. eine Erweiterung des bisherigen
Umfanges bekannten Wirkens hervor. Wie durch den ersteren Umstand
die Summe des sichtbaren Wirkens, so wird durch den letzteren die
Kenntniss wirklichen Wirkens vermehrt, durch jenen die Summe der in
der Totalität des Wirklichen lebendig thätigen, im Verhältniss zur
Summe der in derselben leblos schlummernden Kräfte, durch diesen die
Summe des auf Grund erweiterter Erfahrung erschlossenen Wirklichen
gegenüber dem auf Grund der bisherigen Erfahrung als wirklich
gekannten, ebenmässig vergrössert.

287. Da das Quantum des überhaupt vorhandenen Wirkens nach Obigem
unveränderlich, die Summe des jeweilig ungehemmten Wirkens aber
veränderlich ist, so folgt, dass jede Zunahme der Summe des sichtbaren
von einer entsprechenden Abnahme der Summe des gebundenen Wirkens und
umgekehrt jede Zunahme dieser von einer Verminderung jener begleitet
sein muss. Könnte die Abnahme sichtbaren Wirkens je so weit sich
erstrecken, dass jedes ungehemmte Wirken sich in gehemmtes, also jedes
wirkliche Wirken in scheinbares Nichtwirken verkehrte, so müsste an
Stelle des Scheins eines Wirklichen vielmehr der entgegengesetzte
Schein der Abwesenheit irgend eines Wirklichen d. h. es müsste
der Schein der Wirklichkeit des Nichts (Nihilismus) entstehen,
welches sich selbst widerspricht. Sollte dagegen in umgekehrter
Weise die Zunahme des sichtbaren Wirkens so weit fortschreiten, dass
sämmtliches gebundenes sich in freies Wirken verwandelte, also jeder
Schein eines Nichtwirkens sich in den entgegengesetzten Schein des
Wirkens auflöste, so müsste, da jede Hemmung eines Wirkens nur aus
der Verschiedenheit, beziehungsweise dem Gegensatze der Wirkenden
entspringt, der Schein entstehen, als sei zwischen den Wirkenden
überhaupt keine Verschiedenheit d. h. als seien überhaupt nicht
unterschiedene Wirkliche (Pluralismus, Individualismus), sondern nur
ein einziges, schlechterdings unterschiedloses Wirkliches (Monismus,
All-Eins-Lehre) vorhanden; welcher Schein, da, wie oben gezeigt, die
Annahme eines einzigen Wirklichen auch nicht einmal die Entstehung
des Scheins einer Vielheit ermöglicht, sich selbst widerspricht. Da
sonach von diesen beiden Fällen keiner als jemals möglicher Weise
eintretend gedacht werden darf, ohne etwas sich selbst Widersprechendes
zu denken, so folgt, dass weder die Abnahme des sichtbaren Wirkens
jemals so weit gehen kann, dass völlige Ruhe (Leblosigkeit), noch die
Zunahme desselben je so hoch sich steigern kann, dass durchgängige
Lebendigkeit (Bewegung) im ganzen Umkreis des Wirklichen herrsche,
sondern dass immer Ruhe und Bewegung, Leblosigkeit und Lebendigkeit
zugleich, jedes in einem mehr oder weniger weit reichenden Theile
des Wirklichen vorhanden sei.

288. Wie den Quantis des Stoffs und der Kraft, kommt den Quantis
des Raumes und der Zeit Wandelbarkeit zugleich und Wandellosigkeit
zu. Wenn der erstere nichts anderes ist als der Inbegriff der
Orte des Wirklichen, so folgt, dass dessen Quantum weder grösser
noch kleiner sein kann als das Quantum des Wirklichen. Da nun das
letztere, wie gezeigt, in einer Hinsicht veränderlich, in einer
andern dagegen unveränderlich ist, so folgt, dass in Bezug auf das
Quantum des Raumes dasselbe stattfinden muss. Jede Erweiterung des
bisher bekannten Umfanges des Wirklichen durch die Annahme neuer
Wirklicher macht die Annahme neuer Orte und damit die Vermehrung des
bisherigen Quantums des Raums nöthig. Die Erhaltung des Quantums des
Stoffs d. i. des Inbegriffs aller Wirklichen, deren jedes seines von
dem jedes andern unterschiedenen Orts bedarf, macht die Erhaltung
des Quantums des Raums unvermeidlich. Wenn die Zeit nichts anderes
ist als der Inbegriff der Zeitpunkte d. i. derjenigen Bedingungen,
unter welchen allein das Wirken eines Wirklichen jeweilig ein anderes
geworden, das Wirkliche selbst aber dasselbe geblieben sein kann, so
folgt, dass jedes Anderswerden der Wirkung mindestens zwei Zeitpunkte,
denjenigen, in welchen das unveränderte, und denjenigen, in welchen
das veränderte Wirken fällt, fordere, und daher das Quantum der
Zeitpunkte nicht kleiner sein könne als das Quantum der eingetretenen
Veränderungen des Wirkens. Da nun das Quantum des Wirkens überhaupt,
also auch das Quantum der in demselben enthaltenen Abänderungen des
Wirkens einerseits, wie aus der Erhaltung des Stoffs folgt, immer
dasselbe, andererseits, wie aus der Veränderlichkeit des scheinbaren
Wirkens folgt, veränderlich ist, so folgt, dass auch das Quantum der
Zeit einerseits, so weit dasselbe durch das Quantum der überhaupt
wirklichen Abänderungen des Wirkens bedingt ist, immer dasselbe,
dagegen, so weit dasselbe von dem jeweilig im Bewusstsein schwebenden
Quantum scheinbaren Wirkens abhängig ist, veränderlich sein muss.

289. Aus dem Begriff des Raumes folgt, dass er erfüllter Raum sei
d. h. dass es einen sogenannten leeren Raum nicht geben könne. Da
derselbe nichts anderes ist, als der Inbegriff der Orte, die Setzung
eines Orts aber nur auf Veranlassung und im Gefolge der Setzung eines
Wirklichen, dessen Ort er ist, erfolgt, so kann es weder Orte geben,
in welchen kein Wirkliches, noch Wirkliche, für welche kein Ort gesetzt
ist. Die an verschiedenen Orten befindlichen Wirklichen können daher
zwar nicht nur ausser einander, sondern es können auch zwischen ihren
Orten andere Orte gelegen d. h. sie müssen nicht an einander sein;
keineswegs aber dürfen die zwischen ihren Orten gelegenen Orte als leer
d. h. als solche gedacht werden, in welchen kein Wirkliches befindlich
ist. Folge davon ist, dass eine sogenannte actio in distans d. h. ein
Wirken durch den leeren Raum hindurch schon aus dem Grunde unmöglich
wird, weil die Voraussetzung derselben, der leere d. h. mit Wirklichen
nicht erfüllte Raum eine in sich widersprechende, folglich im Umfang
des auf Grundlage des Wirklichen gesetzten Raums niemals zutreffende
Annahme ist.

290. Da der Ort jedes Wirklichen, so lange deren individuelle
Unterschiedenheit von ihren räumlichen und zeitlichen Bestimmungen
abhängig gedacht wird, nur ein einziger sein kann, so bleibt derselbe
so lange unbestimmt, als sich auch nur ein einziger Ort angeben lässt,
welcher demselben Wirklichen mit gleichem Recht zugesprochen werden
kann. Dieses aber ist der Fall, wenn das Wirken des Wirklichen als
eine Function seines Aussereinander mit anderen Wirklichen gedacht
und sonach der Ort desselben als lediglich durch die Entfernung von
dem Ort eines anderen Wirklichen bestimmt vorgestellt wird. Denn
sodann findet sich nicht nur ein einziger Ort, sondern es finden sich
unzählige Orte, welche mit gleichem Recht als Ort jenes Wirklichen
angenommen werden können, da sie alle von dem zweiten die gleiche
Entfernung haben, nämlich alle diejenigen, welche die Oberfläche
einer Kugel bilden, deren Mittelpunkt das zweite Wirkliche und deren
Radius der Abstand des ersten vom zweiten ist. Soll daher aus diesen
unzähligen ein einzelner als Ort des Wirklichen ausgeschieden werden,
so müssen zu der Angabe der Entfernung weitere Angaben hinzukommen,
deren eine darin besteht, in welcher der unzähligen Kreisebenen, welche
durch den Mittelpunkt jener Kugel gelegt werden können, deren zweite
dahin lautet, in welchem der in jener Kreisebene vom Mittelpunkt an
die Peripherie gezogenen Radien der Ort jenes Wirklichen zu suchen
sei. Erst durch die letztgenannte dieser Angaben ist der Ort des
Wirklichen völlig und dergestalt bestimmt, dass schlechterdings
kein zweiter angebbar ist, welcher mit ihm die nämlichen räumlichen
Bestimmungen theilte. Dieselben sind daher für jeden unter obigen
Bedingungen gesetzten Ort eines Wirklichen dreifach und zwar durch
dessen Beziehungen zu drei auf einander in demselben Punkte senkrechten
Richtungen (den sogenannten Coordinaten) fixirt, der auf solche Weise
gedachte Raum daher als ein dreidimensionaler, nach den Richtungen
der Länge, Breite und Tiefe ausgedehnter, vorgestellt.

291. Da letztere Vorstellung nur unter der Annahme erfolgt, dass das
Wirken des Wirklichen eine Function der Entfernung desselben von einem
anderen Wirklichen sei, so leuchtet ein, dass deren Nothwendigkeit
schwindet, sobald an die Stelle obiger Annahme eine andere gesetzt,
das Wirken des Wirklichen z. B. statt von der Entfernung desselben von
einem andern Wirklichen, von dessen Nichtentferntsein von letzterem
d. h. statt von dem räumlichen Aussereinander von dem örtlichen
Ineinander beider Wirklichen abhängig gedacht wird. In diesem Falle
wäre nämlich der Ort des Wirklichen auch durch die Angabe seiner Lage
im Raume nach allen drei Dimensionen desselben noch nicht bestimmt,
da sich noch immer ein zweiter Ort angeben liesse, welcher ganz die
nämliche Lage im Raume besässe, nämlich jener des zweiten Wirklichen,
von welchem das erste der Annahme zufolge "nicht entfernt", sondern
mit welchem dasselbe "in einander" sein soll. Es müsste also, wenn
die Wirklichen dennoch verschieden sein sollten, entweder der Raum
eine weitere, sogenannte vierte Dimension besitzen, nach welcher
Orte desselben, deren Lage nach Länge, Breite und Tiefe identisch
ist, dennoch verschieden sein könnten, oder die Verschiedenheit
der Wirklichen dürfte nicht mehr blos in deren räumlichen (oder
zeitlichen) Bestimmungen, sondern sie müsste in deren sogenannter
innerer Beschaffenheit gelegen sein. Obige Annahme, dass das Wirken
des Wirklichen eine Function der Entfernung, um so mehr die fernere
enger begrenzte, dass dieselbe in einer Abnahme der Wirkung mit
der Entfernung, so wie die engste, dass diese Abnahme im Quadrat
der Entfernung erfolge, hat schon Kant in seinen "Gedanken von der
wahren Schätzung lebendiger Kräfte" (Werke Hart. VIII. 26) für eine
"willkürliche" erklärt, an deren statt an sich eben so gut eine andere,
z. B. dass mit der Entfernung eine Zunahme des Wirkens eintrete,
oder die Abnahme im Cubus der Entfernung erfolge etc. hätte gedacht
werden können. Dieselbe wird eben nur deshalb gedacht, weil wir uns von
einem Raume, der unter einer anderen Annahme entsteht, z. B. von einem
vierdimensionalen, eben, wie Kant gleichfalls p. 27 bemerkt, keine
Vorstellung zu machen im Stande sind, und die gegebene Erfahrung des
scheinbar Wirklichen mit der Annahme des dreidimensionalen Raums und
der Abnahme der Wirkung im Quadrate der Entfernung am vollkommensten
übereinstimmt.

292. Wie der Raum unter der Annahme, dass das Wirken eine Function
der Entfernung sei, eine dreidimensionale, so hat die Zeit unter der
Annahme dass das Wirkende vor und nach der Abänderung seines Wirkens
dasselbe sei, nur eine eindimensionale Ausdehnung. Wie jeder Ort im
Raum durch sein Verhältniss zu einem andern nach drei in demselben
auf einander senkrechten Richtungen, so ist jeder Punkt in der Zeit
durch sein Verhältniss zu zwei andern mit ihm in derselben Richtung
gelegenen, deren einer vor, der andere hinter ihm liegt, so lange
vollkommen bestimmt, als nicht an die Stelle des ersten ein zweites
Wirkliches getreten ist. Denn nur unter der letztern Voraussetzung,
dass es sich nicht mehr um eine Abänderung des Wirkens desselben,
sondern eines anderen Wirklichen handelt, ist es möglich, dass es
noch einen zweiten Zeitpunkt gibt, welcher in der nämlichen Richtung
von einem vor und einem hinter ihm gelegenen Punkte die nämliche
Entfernung besitzt wie jener erste.

293. Mit der Annahme, dass das Wirken überhaupt keine Function der
Entfernung, also von dieser unabhängig, jedes Mass der Entfernung
für das Mass der Wirkung gleichgiltig sei, hat sich der Mysticismus,
der an die "Wirkung in die Ferne" glaubt, mit der Voraussetzung, dass
der Raum eine vierte Dimension besitze, der moderne in ein exactes
Gewand sich drapirende Spiritismus, mit der Hypothese endlich, dass
die Verschiedenheit der individuellen Wirklichen nicht sowol in deren
räumlicher und zeitlicher Bestimmtheit, als vielmehr in deren innerer
qualitativer Unterschiedenheit zu suchen sei, der (im Unterschied vom
quantitativen sogenannte) qualitative Atomismus (Leibnitz, Herbart,
Lotze) zu schaffen gemacht. Der erste geht von dem Grundsatz aus,
dass zwar die Orte der Wirklichen verschieden, also die Wirklichen
ausser einander, das eine z. B. wie Ennemosers magnetisirte Frau in
St. Petersburg, das andere, der Magnetiseur, in München seien, die
Entfernung beider Orte jedoch für die Wirkung gleichgiltig d. h. diese
auch bei der grössten Entfernung ungeschwächt und die nämliche sei. Der
zweite lässt, und darin besteht seine Uebereinstimmung mit der einmal
angenommenen Basis der exacten Naturwissenschaft, welche bewirkt,
dass derselbe auch für Naturforscher verlockende Kraft besitzt --
der zweite lässt die Annahme, dass das Wirken eine Function der
Entfernung d. h. der Verschiedenheit der Orte der Wirklichen sei,
gelten, besteht aber darauf, dass die Orte zweier Wirklichen,
deren räumliche Lage nach allen drei bekannten Abmessungen des
Raumes identisch ist, dennoch verschiedene seien d. h. dass der
Raum eben noch eine, die vierte Dimension, besitze. Der qualitative
Atomismus aber, welcher die räumliche und zeitliche Verschiedenheit
der Wirklichen nur als eine Folge der qualitativen Verschiedenheit
derselben ansieht d. h. deren räumliches Ausser- und zeitliches
Nacheinander nicht als die Bedingung, sondern als die Folge der
Wechselwirkung der letzteren betrachtet, daher statt die Wirkung
als eine Function der Entfernung zu definiren, dieselbe vielmehr
(wie der Mysticismus) nur unter Voraussetzung völligen "Ineinanders"
der Wirklichen für möglich hält, kommt dadurch dahin, die räumliche
und zeitliche Ausdehnung für blossen (wenngleich objectiven) Schein,
die Totalität sämmtlicher individueller Wirklichen für räumlich und
zeitlich ungeschieden, sonach (in räumlicher und zeitlicher, also
quantitativer Hinsicht) als eins und doch ihrer Beschaffenheit nach
als geschieden: d. h. (in qualitativer Hinsicht) als vieles zu setzen.

294. Mit der Entwickelung der Dreidimensionalität des Raums aus der
"willkürlichen Annahme", dass das Wirken Function der Entfernung
sei, hat die Wissenschaft vom Wirklichen die Grenze desjenigen,
was sich aus der Thatsache des Scheins des Vielen und Vielfachen
auf philosophische d. i. auf nothwendige Weise, oder so aussagen
lässt, dass eine gegentheilige Behauptung das Denken selbst
aufheben würde, überschritten. Dass Wirkliches, und zwar Vieles und
Vielfaches, demnach, wenn nicht anders, doch wenigstens als durch
seine räumliche und zeitliche Bestimmtheit Unterschiedenes gedacht
werden müsse und nicht nicht gedacht werden könne, ohne das Denken
mit sich selbst d. i. mit seinen eigenen Normen in Widerspruch zu
versetzen, folgert der Realismus aus der Thatsache des Scheins
vieler und vielfacher Wirklichen mit Nothwendigkeit; dass das
Wirken des Wirklichen eine Function der Entfernung der Orte des
Wirklichen, zu der Erklärung des ersteren demnach die Annahme der
Dreidimensionalität des Raumes erforderlich sei, folgert derselbe
aber nur als Möglichkeit, neben welcher andere Möglichkeiten, und
auf Grund der gegebenen Erfahrung als eine Wahrscheinlichkeit, neben
welcher diese anderen als Unwahrscheinlichkeiten bestehen. Weder die
Annahme des Mysticismus, dass das Wirken keine Function der Entfernung,
noch jene des Spiritismus, dass der Raum vierdimensional sei, hat,
so lange nicht zahlreichere und besser als die bisherigen beglaubigte
Thatsachen deren Möglichkeit erweisen, die Wahrscheinlichkeit für
sich; der qualitative Atomismus, welcher dahin gelangt, die Vielen
(quantitativ) als eins und (qualitativ) als viele zu setzen, hat
den Widerspruch, dass eins = vieles und vieles = eins sein soll,
und damit die Möglichkeit gegen sich.

295. Aber auch der Versuch, das Denken selbst zu verleugnen und
mit dessen Umgehung auf einem anderen Wege des Wirklichen sich zu
bemächtigen, wie ihn der das Denken transcendirende und darum wol auch
(obgleich, wie oben bemerkt, fälschlich) sogenannte transcendentale
Realismus wagt, führt zu keinem andern Ziel. Derselbe stützt sich
entweder, um der Nothwendigkeit zu entgehen, dasjenige, was vom
Denken als seiend anzunehmen verboten wird, ablehnen, oder, was von
diesem als wirklich anzunehmen geboten wird, annehmen zu müssen,
auf den trivialen Satz, dass dasjenige, was durch das Zeugniss
der Sinne bestätigt, wahr, was durch dasselbe verworfen werde,
falsch sei, gleichviel ob das erstere den Normen des Denkens
entgegen, das letztere durch dieselben zu denken geboten sei,
und fällt dadurch auf den längst kritisch überwundenen Standpunkt
des gemeinen empirischen Realismus zurück. Oder er beruft sich, um
den Forderungen des Denkens auszuweichen, auf ein vom Vorstellen
(dem Intellect) wesentlich und der Art nach verschiedenes Organ,
über welches die Gesetze des logischen Vorstellens (die Normen des
Intellects) keine Gewalt haben, dem sie daher auch weder zu gebieten,
noch zu verbieten berechtigt sein sollen. Als ein solches wird von
der einen Schule des transcendenten Realismus (Gefühlsphilosophie:
Jacobi) das Gefühl, von der andern (Willensphilosophie: Schopenhauer)
das Wollen bezeichnet. Jener zufolge ergreift im Gefühl der Fühlende
das Wirkliche (übersinnlich Reale) unmittelbar, ohne Dazwischenkunft
und folglich zwar ohne die Hilfe, aber auch ohne die Mängel des
Intellects; dieser zufolge weiss das Subject, indem es sich selbst
als wollendes weiss, damit zugleich das einzige wahrhaft Wirkliche,
den Willen, unmittelbar, ohne Dazwischenkunft und folglich auch
ohne das Trügerische der Vorstellung. Von der ersteren gilt, dass,
da im Gefühl Gefühltes und Fühlen ununterscheidbar zusammenrinnt,
derjenige, der blos fühlt, eben darum nicht weiss, und daher blosses
Fühlen eben so wenig wie blosses "Ahnen" (Fries) Princip und Grundlage
einer Wissenschaft werden kann. Von der letzteren gilt, dass, wie
schon Herbart treffend bemerkt hat, unmittelbares Wissen wie seiner
selbst als Wollenden, so des Wirklichen als Willen, ein Wissen,
folglich die Möglichkeit zu wissen, und schliesslich, da Wissen eben
nichts anderes als eine Art des Denkens d. i. wahres Denken ist, das
angeblich mit Umgehung des Denkens erfolgte Ergreifen des Wirklichen,
um überhaupt möglich zu sein, das Denken voraussetzt.

296. Letzterer Einwand, welcher die Möglichkeit, mit Umgehung des
Denkens zu dem transcendenten Sein, dem Wirklichen selbst zu gelangen,
überhaupt trifft, wird nicht widerlegt, sondern nur umgangen durch
die Behauptung, dass die Natur des Wirklichen auf dem Erfahrungswege
zwar nicht der gemeinen, sinnenfälligen, aber einer nicht gemeinen,
mystischen Empirie erkannt d. h. dass das "speculative Resultat" die
Erkenntniss des Wirklichen seinem Wesen nach, "auf inductivem Wege"
d. i. an der Hand exacter Thatsachen erreicht werde. Ersteres wäre nur
dann der Fall, wenn entweder der "Erfahrungsweg" das Denken aus- oder
der angeblich "inductive Weg" exacte Thatsachen einschlösse. Jenes
findet so wenig statt, dass vielmehr die Kritik des sogenannten
empirischen Realismus eben nichts anderes betrifft als das Verbot,
sich des sogenannten Erfahrungsweges ohne vorläufige Sichtung nach
den Normen des logischen Denkens zu bedienen, dieses aber bleibt
wenigstens so lange und für alle diejenigen zweifelhaft, als und für
welche die angeblichen Erscheinungen der Naturheilkraft des Hellsehens,
des Instincts u. s. w. den Werth unbestrittener Erfahrungsthatsache
entweder noch nicht erreicht haben, oder, was eben so möglich, ja
vielleicht wahrscheinlicher ist, niemals erreichen werden.

297. Mit obiger Grenzüberschreitung ist aber auch der Punkt
erreicht, wo die philosophische Wissenschaft vom Wirklichen der
Erfahrungswissenschaft von demselben die Hand zu bieten vermag. Jene,
die von der Erfahrung aus-, aber auf Grund in deren Inhalt gelegener
Nöthigung über dieselbe hinausgeht, hat mit der letzteren, die
nicht nur wie jene auf der Erfahrung fusst, sondern auch innerhalb
derselben verharrt, die Aufgabe gemein, die Erfahrung begreiflich zu
machen. Seitens der letzteren geschieht dies, indem sie das gesammte
Wissen vom Wirklichen auf den Boden der Erfahrung zu stellen, seitens
der ersteren, indem sie den Boden der Erfahrung selbst sicher zu
legen unternimmt. Beide, die philosophische und die empirische
Wissenschaft vom Wirklichen gleichen Arbeitern, welche von den
entgegengesetzten Seiten eines Berges her, unsichtbar für einander,
aber auf gemeinsamen Voraussetzungen fussend und einer gemeinsamen
Methode sich bedienend, einen Tunnel durch das Innere desselben zu
bohren unternehmen, in der Hoffnung, wenn ihre Voraussetzungen giltig
und ihre Berechnungen richtig sind, irgendwo in der Höhlung desselben
zusammenzutreffen. Jene schreitet von den allgemeinen Begriffen und
Principien des Wirklichen und seines Wirkens in der Richtung gegen die
erfahrungsmässig gegebenen Erscheinungen der scheinbaren Wirklichkeit
nach vorwärts, diese, von der Erscheinungswelt der Erfahrung in der
Richtung gegen deren allgemeinste und oberste reale und gesetzliche
Voraussetzungen nach rückwärts. Wenn beider methodische Grundsätze
giltig und ihre Folgerungen zutreffend sind, werden beide früher
oder später irgendwo an der Grenze einerseits des Denknothwendigen,
andererseits des Erfahrbaren einander begegnen müssen.

298. Einen thatsächlichen Beweis für die Richtigkeit dieser
Annahme liefert die Herrschaft, welche die Atomistik einerseits
als philosophische über die philosophische, andererseits als
physikalische über die empirische Wissenschaft vom Wirklichen gewonnen
hat. In der ersteren ist dieselbe als zugleich realistische und
pluralistische Grundlegung der phänomenalen Welt an die Stelle der
sowol idealistischen als monistischen einstigen "Naturphilosophie", in
der letzteren ist sie, wie Fechner eben so gründlich als scharfsinnig
ausgeführt hat, längst mit Recht an die Stelle der (noch von Kant
begünstigten) einstigen dynamischen Naturauffassung getreten. So wenig,
wie Fechner selbst zugestanden hat, die philosophische Atomenlehre mit
der physikalischen identisch, so gewiss ist dieselbe mit der letzteren
verträglich d. h. bietet die Existenz einer unbestimmten Vielheit
einfacher wirklicher und unausgesetzt wirkender Wesen einen realen
Anknüpfungspunkt dar für die Zurückführung der gesammten Phänomene
der körperlichen Welt auf die Existenz unbestimmt vieler untheilbarer
und daher gleichfalls "einfach" genannter, mit rastlos thätigen
Kräften ausgestatteter Elemente. Dass die letzteren ihrer behaupteten
Einfachheit ungeachtet von Fechner als "körperliche" bezeichnet werden,
ist nur als Beleg anzusehen, dass die empirische Wissenschaft vom
Wirklichen, welche innerhalb der Grenzen des sinnlich Erfahrbaren
bleibt, der philosophischen, welche von Haus aus über dieselben hinaus
führt, zwar stetig sich nähert, aber sie noch nicht berührt.

299. Aber nicht nur der empirischen Wissenschaft von der körperlichen,
auch jener von der Bewusstseinswelt sowol des Einzel- wie des
gesellschaftlichen Subjects bietet die philosophische Wissenschaft
vom Wirklichen, jener in dem einfachen Wirklichen eine reale, dieser
in der unbestimmten Menge realer Bewusstseinsträger eine reale und
pluralistische Grundlage dar. Wie die unbestimmte Vielheit einfacher
Wirklicher den haltbaren Boden für den aus einer eben so unbestimmten
Vielheit atomistischer Elemente zusammengesetzten Stoff der physischen
Welt, so bildet das einzelne individuelle Wirkliche den haltbaren
Mittelpunkt, in welchem der aus einer unbestimmten Menge elementarer
Bewusstseinsvorgänge bestehende Stoff der psychischen Welt im Phänomen
der Einheit des Ich's wie in einem Brennpunkt zusammenfliesst, und
macht die Vielheit individueller Wirklichen der letztgenannten Art,
deren jedes für sich ein Bewusstseinscentrum abgibt, die unentbehrliche
Grundlage dessen aus, was als Vereinigung durch ein gemeinsames Band
unter einander verknüpfter, bewusster oder doch bewusstseinsfähiger
Individuen den Stoff der Gesellschaft und der Entwickelung derselben
in den Grenzen des Raums und in der Folge der Zeit d. i. der Geschichte
ausmacht.

300. Letzteren, den dreifachen Stoff, den die Betrachtung der
körperlichen, der Bewusstseins- und der geschichtlichen Welt liefert,
aber vermag die Wissenschaft vom Wirklichen nicht der philosophischen,
sondern nur der empirischen Wissenschaft von diesem zu entlehnen. Der
philosophischen Wissenschaft vom Wirklichen kann es nicht beikommen,
die unausgefüllte Kluft, welche zwischen den äussersten erlaubten
Consequenzen des Denknothwendigen und den äussersten Grenzen
des Erfahrbaren übrig bleibt, durch Conjecturen ausfüllen, oder
den Uebergang von dem einen zum andern durch Einbildungen ebnen
zu wollen, welche weder mehr in der Nothwendigkeit des Denkens,
noch schon in der Möglichkeit der Erfahrung eine Rechtfertigung zu
finden im Stande sind. Dieselbe hat zwar die Aufgabe, die Erfahrung
zu befragen und, wenn deren Antwort ihr unbefriedigend, sei es der
Form nach unvollkommen, sei es dem Inhalt nach unvollständig dünkt,
dieselbe den Normen des Denknothwendigen gemäss der ersten nach zu
berichtigen, dem zweiten nach deren Ergänzung abzuwarten, aber sie
hat weder die Mittel dieselbe aus Eigenem zu ersetzen, noch, wenn
sie nicht vom Taumel orphischen Hochmuths ergriffen ist, jemals
die Anmassung, die Erfahrung überflüssig machen zu wollen. Indem
sie sonach an die selbst aus der Erfahrung geschöpfte Eintheilung
des erfahrbaren Wirklichen in ein solches, dessen Kenntniss aus der
sogenannten äusseren (Physisches) ein solches, dessen Kenntniss aus
der sogenannten inneren (Psychisches), und in ein solches, dessen
Kenntniss aus der äussern und innern Erfahrung zugleich stammt
(Sociales, Geschichtliches) sich unbedenklich anschliesst, begnügt
sie sich, jedes der drei genannten Gebiete des Erfahrbaren mit dem
auf Grund der Erfahrung, aber durch Hinausgehen über dieselbe als
denknothwendig erkannten, wahren Wirklichen zu vermitteln und in
einer an logischem Faden ungezwungen fortlaufenden Anordnung des
durch die Erfahrung gebotenen Stoffs eine systematische Uebersicht
des erfahrbaren Wirklichen in der Körper-, in der Geistes- und in
der geschichtlichen Welt zu entwerfen. Jenes macht den Inhalt der
philosophischen Betrachtung der sogenannten bewusstlosen Welt,
oder des Nicht-Ich, das zweite den Inhalt der Betrachtung der
bewussten Welt, des Ich, das dritte den Inhalt der Betrachtung einer
gleichfalls bewussten, aber in dem Bewusstsein einer Mehrheit zur
Einheit verknüpfter, bewusster Individuen d. i. einer Gesellschaft
sich abspielenden Welt des socialen oder geschichtlichen Ich aus.

301. Die Betrachtung des Nicht-Ich beginnt mit jener des letzten,
was auf dem Wege der Erfahrung, oder vielmehr schon nur durch einen
Sprung, der über die wirkliche Erfahrung hinausführt, erreichbar ist,
des Atoms. Dasselbe ist nach der Ansicht der Physiker (Ampère, Moigno
u. A.) zwar einfach aber doch "körperlich" (Fechner); jenes bedeutet,
dass dasselbe untheilbar oder doch wenigstens für jetzt nicht weiter
als getheilt angesehen sein soll, dieses, dass dasselbe nichts desto
weniger als materiell d. i. dem körperlichen Stoff (Materie), dessen
letzten Bestandtheil es ausmacht, als gleichartig gelten soll. Erstere
Eigenschaft nähert, letztere dagegen entfernt das physikalische Atom
von dem philosophischen, welches letztere zwar im strengsten Sinn
des Wortes seiner Qualität nach als einfach, dessen Qualität selbst
aber als schlechterdings unbekannt d. h. auch nicht, wie jene des
physikalischen Atoms, etwa als materiell zu denken ist. Je nachdem
empirische Naturbetrachtung von der Ansicht ausgeht, dass sämmtliche
Atome unter einander der Qualität nach gleich, oder einige derselben
ursprünglich und unveränderlich ihrer qualitativen Beschaffenheit nach
von jener der anderen verschieden sind, scheidet sich dieselbe in eine
rein quantitative und in eine ganz oder doch zum Theile qualitative
Atomistik, deren erstere nicht nur alle Verschiedenheiten der Körper,
sondern auch sämmtliche Erscheinungen der körperlichen Welt aus den
Verschiedenheiten rein quantitativer Beziehungen unter der Qualität
nach homogenen, die letztere dagegen dieselben ganz oder doch
theilweise aus der verschiedenen qualitativen Natur die Elemente der
Körper, so wie die Grundlage körperlicher Erscheinungen ausmachender,
unter einander heterogener Atome abzuleiten bemüht ist.

302. Die erfahrungsmässig gegebenen Verschiedenheiten der Körper
d. i. der räumlich und zeitlich begrenzten zusammengehörigen Gruppen
von Atomen, also die Unterschiede einerseits des belebten (organischen)
oder leblosen (unorganischen) Körpers, ferner die Unterschiede der
letzteren, als zusammengesetzte, die sich in weitere, der Qualität
nach verschiedene Bestandtheile zerlegen, und einfache (die sogenannten
einfachen Stoffe der Chemie), die sich in solche nicht weiter auflösen
lassen, ferner die Unterschiede der letzteren selbst je nach ihrer
qualitativen Beschaffenheit (z. B. des Sauerstoffs vom Wasserstoff, des
Stickstoffs vom Kohlenstoff, des Calcium vom Magnesium u. s. w.) werden
von der qualitativen Atomistik auf eine fundamentale qualitative
Verschiedenheit der den Stoff der Körper ausmachenden letzten Elemente
zurückgeführt, so dass dieselben bei den organischen Körpern andere
als bei den unorganischen und ebenso bei jedem der einfachen Körper,
welche die letzten qualitativ unterschiedenen Bestandtheile der
zusammengesetzten abgeben, andere als bei den übrigen seien. Dieselbe
betrachtet als sogenannte biologische Atomistik jeden belebten Körper
als bestehend aus gleichfalls lebendigen Atomen, den sogenannten
Zellen, während der leblose Körper bis in seine letzten Elemente
hinab aus gleichfalls leblosen Elementen bestehend vorgestellt
wird. Als sogenannte chemische Atomistik sieht dieselbe nicht nur
den zusammengesetzten Körper, z. B. das Wasser, für bestehend aus
qualitativ verschiedenen und zwar aus Atomen von zweierlei Art an,
davon die einen sauerstoff-, die andern wasserstoffartig und davon
jene mit diesen nach einem bestimmten Verhältniss, so dass auf je
zwei Atome Wasserstoff ein Atom Sauerstoff (H2O) gerechnet wird (dem
sogenannten stöchiometrischen Verhältniss), unter einander verbunden
sind. Wird letztere Ansicht auch auf die sogenannten organischen Körper
ausgedehnt, so dass diese als zusammengesetzt aus einfachen Stoffen
gedacht werden, welche unter andern Verhältnissen die Bestandtheile
unorganischer Körper ausmachen z. B. aus Sauerstoff, Wasserstoff,
Kohlenstoff und hauptsächlich Stickstoff, so schwindet zwar der
qualitative Unterschied zwischen belebten und unbelebten Körpern, aber
derjenige zwischen den einfachen Körpern bleibt bestehen d. h. die
Atome des Sauerstoffs sind nach wie vor qualitativ verschieden
von jenen des Wasserstoffs, die des Azots von jenen des Carbons
u. s. w. Zeigen nun Körper, ungeachtet die qualitativen Bestandtheile
derselben die nämlichen sind, dennoch verschiedene Eigenschaften
(die sogenannte Isomerie), so werden, da diese Verschiedenheit
nicht mehr aus der Verschiedenheit der qualitativen Beschaffenheit
der Elemente sich erklären lässt, quantitative Verschiedenheiten der
(qualitativ gleichen) Körper und zwar solche, welche entweder aus dem
arithmetischen Gesichtspunkt der Menge oder aus dem geometrischen
der (räumlichen) Lage der Elemente entlehnt sind, zur Erklärung
herangezogen. (Wie dies z. B. bei der Weinsteinsäure, welche auf die
Polarisationsebene des Lichtes eine drehende Wirkung ausübt, bei der
Thatsache der Fall ist, dass eine Gattung derselben unter übrigens ganz
gleichen Verhältnissen jene Ebene nach rechts, eine andere dagegen
dieselbe nach links dreht. In diesem Falle wird angenommen, dass die
Atome der rechtsdrehenden Weinsteinsäure eine Lagerung nach rechts,
jene der letzteren eine solche nach links besitzen.)

303. Das Charakteristische der quantitativen Atomistik besteht
darin, dass sie diejenige Hypothese, welche die qualitative nur in
Ausnahmsfällen, wie z. B. in jenem der Isomerie, zu Hilfe ruft,
der gesammten Erklärung der Körperwelt als alleinige zu Grunde
legt. Während dieser zufolge die Verschiedenheit der Körper in der
Regel auf der qualitativen Verschiedenheit ihrer Elemente d. h. auf
der Verschiedenheit ihres Stoffes und nur in einigen Fällen auf der
Verschiedenheit der Zusammensetzung ihrer übrigens gleichen Elemente
d. i. auf jener der Form beruht, macht jene letztere Ausnahme zur
Regel d. h. betrachtet die Isomerie als eine Grund- und gemeinsame
Eigenschaft aller sonst wie immer unterschiedenen Körper und leitet
sämmtliche Verschiedenheiten der letztern ausschliesslich aus der
Verschiedenheit ihrer Zusammensetzung aus übrigens gleichen Elementen
d. i. aus der Form ab. Ihr zufolge sind daher nicht nur die Elemente
des belebten nicht von jenen des unbelebten Körpers, sondern auch
die Elemente irgend eines einfachen Stoffes nicht von jenen jedes
beliebigen andern Stoffes verschieden. Letzteres setzt voraus, dass
die gleichwol unbestreitbare Unterschiedenheit sowol der nächsten --
durch die Analyse organischer Körper erreichbaren -- Bestandtheile von
den -- durch Analyse sogenannter unorganischer Körper darstellbaren --
Stoffen (z. B. des Eiweissstoffes, des Proteïns, des Caffeïns, Theïns
u. dgl. von Oxygen, Hydrogen, Gold, Eisen, Platin u. s. w.) wie die
gleichfalls unleugbare Unterschiedenheit der einfachen Stoffe selbst
gleichwol nur eine scheinbare, der Grund derselben lediglich in der
verschiedenen Art der Verbindung ursprünglich durchaus homogener
Elemente zu einem Ganzen zu suchen, der sogenannte organische Körper
zwar in seinen nächsten und näheren, keineswegs aber in seinen
entfernten und entferntesten Bestandtheilen von den unbelebten
unterschieden, so wie dass die ganze bekannte und noch zu ergänzende
Reihe sogenannter einfacher d. i. weiter nicht zerlegbarer Stoffe
nur als eine Reihe der Form nach unterschiedener Umbildungen eines
einzigen (sei es eines der bereits bekannten Stoffe oder eines
bisher unbekannten Stoffes) anzusehen sei. Erstere Behauptung,
die der stofflichen Identität der lebendigen und leblosen Körper,
hat in der Naturwissenschaft unserer Tage bereits weite Verbreitung
gefunden; letztere Behauptung, welche auf einem weiten Umwege in
exacter Weise die Ansicht der Urmutter der Chemie, der Alchymie,
von der Transformationsfähigkeit der verschiedenen Körper in einander
erneuert, hat in der sogenannten "Philosophie der Chemie" (J. B. Dumas)
ihren Platz und durch die Aufstellung der sogenannten Typentheorie
und die Entdeckung der sogenannten typischen Körper, durch welche von
Einigen die grosse Zahl der bisher als einfach angenommenen Stoffe
bereits bis auf acht herabgemindert scheint (Ciancian), bereits eine
empirische, wenigstens annähernde Bestätigung erhalten.

304. Die Aufgabe einer logischen Uebersicht des empirischen Stoffs
kann es nicht sein, über die Geltung der einen oder der andern
beider entgegengesetzten Formen der Atomistik, über welche nur
Thatsachen zu entscheiden vermögen, einen Ausspruch zu thun. Die
logische Consequenz d. i. die innere Uebereinstimmung mit der durch
die philosophische Wissenschaft vom Wirklichen gelegten realen
Grundlage der phänomenalen Welt hat, wie es augenscheinlich ist,
die quantitative Atomistik in höherem Grade als die qualitative für
sich. Ist es überhaupt richtig, dass die vielen unbedingt gesetzten
einfachen Wirklichen unter einander die kleinste denkbare qualitative
Verschiedenheit d. i. keine andere besitzen als diejenige, welche
in deren räumlichen und zeitlichen Bestimmtheiten sich ausdrückt,
so ist es nur folgerichtig, auch die Gesammtheit der letzten realen
Elemente, welche zusammengenommen den Stoff der Körperwelt ausmachen,
der physikalischen Atome, als einen Inbegriff qualitativ gleichartiger
Elementarbestandtheile der Körper zu betrachten. Das elementare Atom,
dessen Qualität eben diejenige des einzigen wirklichen Grundstoffs ist,
wird sodann gleichsam die unterste Stufe einer aufsteigenden Reihe
bilden, als deren einzelne Glieder nach einander die Atome der bisher
sogenannten einfachen Stoffe (das Sauerstoff-Atom, das Stickstoff-Atom,
das Gold-Atom u. s. w.) auftreten würden, deren jedes für sich durch
eine eigenthümliche Combination, sei es von Atomen des Urstoffs, sei
es von solchen, die selbst schon durch dergleichen gewonnen wären,
repräsentirt würde. Die Aufstellung dieser Reihe, welche die übliche
Zerlegung organischer und unorganischer Körper in deren sogenannte
einfache Bestandtheile über die Grenze der bis zu diesem Augenblicke
als einfach betrachteten Stoffe hinaus durch die erreichte oder doch
versuchte Zerlegung dieser selbst bis zu dem schlechterdings letzten
nicht blos relativ, sondern absolut einfachen Grundstoff ausdehnt,
würde sodann das Ziel der Chemie als Wissenschaft ausmachen.

305. Wie der quantitativen Atomistik für die stoffliche Beschaffenheit
sämmtlicher Elemente der Körperwelt eine einzige Qualität, so genügt
ihr für die Art und Weise des Wirkens derselben ein einziges Gesetz;
die qualitative Atomistik, insofern sie eine Mehrheit qualitativ
unterschiedener Classen körperlicher Bestandtheile zulässt, bedarf für
die qualitativ verschiedene Art des Wirkens jeder einzelnen derselben
eben so vieler specifisch verschiedener Gesetze. So lange die Elemente
organischer Körper selbst als organisch, die unorganischer Körper
dagegen als unorganisch gelten, kann das Gesetz, welches das Wirken
der erstern, mit jenem, welches das der letzteren beherrscht, so
wenig wie das Wirken jener "lebendigen" Elemente (die Lebenskraft)
mit jenem der "leblosen" Elemente (der todten Naturkraft) identisch
sein. Eben so wenig kann das Wirken, welches seinen Grund in der
qualitativen Verwandtschaft (Affinität) der Körper hat (chemische
Anziehung) das nämliche sein mit demjenigen, das auch bei völliger
Nichtverwandtschaft (Disparatheit, Heterogeneität) der Körper erfolgt
(mechanische Anziehung) und folglich eben so wenig das Gesetz, welches
jenes (Affinitätsgesetz, Wahlverwandtschaft), identisch mit demjenigen,
welches dieses regelt (Gravitationsgesetz, Schwere). Mit der Aufhebung
qualitativer Verschiedenheit der Körper tritt der umgekehrte Fall
ein. Das Gesetz, welches das Wirken der Elemente organischer Körper
bestimmt, braucht fortan von demjenigen, von welchem das Wirken der
Elemente unorganischer Körper abhängt, eben so wenig verschieden zu
sein, als das Wirken, das seinen Grund in der Verwandtschaft der
Körper hat, als das Wirken der ursprünglichen Elemente d. h. als
dasjenige betrachtet werden kann, für welches Gleichartigkeit oder
Ungleichartigkeit derselben gleichgiltig und das daher eben so
wenig durch die qualitative Aehnlichkeit wie durch den qualitativen
Gegensatz der Körper bedingt ist. Sind die Elemente belebter und
unbelebter Körper qualitativ dieselben, so ist auch deren Wirken
und folglich dessen Gesetz dasselbe; ist das Wirken in Folge der
Verwandtschaft nicht dasjenige der ursprünglichen Elemente, so ist
auch dessen Gesetz nicht mit dem Gesetz des Wirkens dieser letzteren,
und da diese die wahren, weil letzten Elemente der Körper sind, nicht
mit jenem der wahren Körperelemente identisch. Wird daher, wie die
quantitative Atomistik thut, auf die in der That letzten Bestandtheile
der Körperwelt, die unter einander qualitativ nicht weiter
unterschiedenen Atome zurückgegangen, so muss das Gesetz, welches
das Wirken dieser letzteren regelt, das nämliche und einzige für das
Wirken der gesammten Körperwelt sein. Die Aufstellung dieses Gesetzes,
welches die Zerlegung der scheinbar unter einander grundverschiedenen
Wirkungsweisen der scheinbar von einander qualitativ unterschiedenen
Körper bis zur Auflösung der ersteren in die überall in gleicher Weise
erfolgende Wirkungsweise der wahren d. i. in allen Körpern qualitativ
identischen Elemente der Körperwelt verfolgt und dadurch die gesammte
phänomenale Welt als unter der Herrschaft eines und desselben, wenn
gleich nicht selten in so verwickelter Form auftretenden Gesetzes,
dass es den Anschein eines neuen Gesetzes erhält, stehend erweist,
müsste das Ziel der Physik als mechanischer Wissenschaft ausmachen.

306. Als dieses Gesetz sieht die moderne Naturwissenschaft das
Gravitationsgesetz Newton's an. Die philosophische Wissenschaft vom
Wirklichen bestimmt, wie oben gezeigt, das Wirken der Atome als eine
Function ihres räumlichen Abstandes von einander. Die empirische geht
über diese Allgemeinheit des Inhalts hinaus und bestimmt letztere näher
als Abnahme des Wirkens im Quadrate der Entfernung. Dieselbe bleibt
jedoch keineswegs bei der Bestimmung des Wirkens seinem Quantum nach
stehen, sondern schreitet zu der Erweiterung derselben seinem Quale
nach fort, indem sie dasselbe in den relativ grössten Abständen
der Atome von einander als Anziehung, Attraction, in den relativ
kleinsten als Abstossung, Repulsion charakterisirt. Erstere bewirkt,
dass die Atome auch in den relativ weitesten Abständen von einander
noch zusammengehalten, letztere macht, dass dieselben in Eins zusammen
zu fallen verhindert werden. In Folge der Attraction bilden sämmtliche
durch dieselbe an einander geknüpfte Atome ein nicht nur in Gedanken,
sondern durch ein physisches Band zusammenhängendes Ganzes; in Folge
der Repulsion bilden dieselben, weil die letztere die Annäherung
der Atome an einander über das Mass einer gewissen (kleinsten)
Entfernung hinaus unmöglich macht, ein discretes Ganzes. Während
der Raum, der philosophischen Wissenschaft vom Wirklichen zufolge,
demnach stetig mit "philosophischen" Atomen d. i. im strengsten
Sinne des Wortes einfachen Wirklichen erfüllt gedacht werden muss,
erscheint derselbe in der empirischen Wissenschaft vom Wirklichen nur
in der Weise mit "physikalischen" Atomen d. i. mit im physikalischen
Sinn letzten Elementen der Körperwelt erfüllt, dass zwischen je
zwei derselben leerer Raum d. h. ein Zwischenraum vorhanden ist, in
dem keine weiteren "physikalischen" Atome sich befinden. Dass mit
der Einschiebung desselben die Schwierigkeit des Begreifens einer
actio in distans d. i. eines Wirkens durch den leeren Raum hindurch
wiederkehrt, pflegt, da dieselbe ja nur eine "philosophische" ist,
der empirischen Physik selten Verlegenheit zu bereiten.

307. Dagegen hat sich dieselbe auf Grund der sogenannten
"Imponderabilien" veranlasst gesehen, durch die Einführung eines
weiteren gleichfalls körperlichen, jedoch, mit den physikalischen
Atomen verglichen, relativ "unkörperlichen" Stoffs, des sogenannten
"Aethers", in die leer gelassenen Zwischenräume der physikalischen
Atome, welche letzteren in demselben gleichsam, wie die Sterne
am Firmament, zerstreut zu schweben, oder, wie die Fische im
Wasser, in unregelmässigen Abständen zu schwimmen scheinen, der
Ansicht der philosophischen Wissenschaft vom Wirklichen von dem
stetigen Erfülltsein des Raumes durch einfache Wirkliche, um einen
beträchtlichen Schritt näher zu kommen. Die Elemente desselben, die
sogenannten Aetheratome, verhalten sich zu den physikalischen gleichsam
wie Atome zweiter zu solchen erster Ordnung. Dieselben werden zwar
eben so wenig wie diese ohne leere Zwischenräume, letztere selbst
aber werden im Verhältniss zu diesen als "unendlich klein" und das
von den Aetheratomen ausgehende Wirken wird zwar gleichfalls wie das
der Körperatome als Anziehung und Abstossung, jedoch als nur in der
kleinsten Entfernung wirksam vorgestellt. Jedes Körperatom erscheint
wie von Aetheratomen eingehüllt, welche dasselbe in Gestalt einer
Sphäre von allen Seiten umgeben und mit jenem zusammen unter der Form
winziger Kügelchen, deren vergleichsweise dichten Kern das Körperatom,
deren dünnere Peripherie die Aetheratome ausmachen, die reale durch
den Raum discret vertheilte Grundlage der sogenannten Materie bilden.

308. Je nachdem die erfahrungsmässig gegebenen Phänomene der
körperlichen Welt auf die Körperatome allein ohne Berücksichtigung des
deren Zwischenräume ausfüllenden Aethers, oder auf die Aetheratome
allein als Bestandtheile des die Zwischenräume der physikalischen
Atome ausfüllenden Stoffs zurückgeführt werden, ergeben sich zwei
Hauptclassen physischer Phänomene, deren eine das Wirken und die
Zustände des im engern Sinn sogenannten körperlichen Stoffs, die
andere das Wirken und die Zustände des Zwischenstoffs d. i. des
Aethers umfasst. Jene begreift, je nach der Grösse der Abstände der
Körperatome unter einander und der davon abhängigen Menge dieser
letzteren selbst innerhalb bestimmter räumlicher Grenzen (Volumen),
dreierlei Gattungen von Körpern, deren eine bei einem gewissen
Volumen die relativ grösste, deren dritte bei demselben Volumen
die relativ kleinste Menge von Körperatomen enthält, während die
zweite eine im Verhältniss zu jenem Volumen mittlere Menge von Atomen
einschliesst. Folge davon ist, dass in den Körpern der ersten Gattung
die Abstände der einzelnen Atome von einander relativ die kleinsten,
dagegen bei Körpern der dritten Gattung relativ die grössten sein
müssen, während bei den Körpern der Mittelgattung die Distanz der
Atome eine mittlere ist. Die Atome von Körpern der ersten Gattung
werden daher, da die anziehende Kraft je kleiner die Entfernung desto
stärker wirkt, am festesten, die Atome von Körpern der dritten Gattung
werden, da die Anziehung mit der Entfernung abnimmt, am lockersten
unter einander zusammenhängen; die Atome der Körper der Mittelgattung
werden, da die Entfernung und folglich die Anziehung eine mittlere
ist, einen mittleren Grad des Zusammenhangs darstellen. Bei Körpern
der ersten Art wird daher nicht nur das Verhältniss der Menge der
Atome (der Masse) zu der räumlich begrenzten Grösse des Inhalts (dem
Volumen) d. i. die relative Dichtigkeit die grösste, sondern auch der
Widerstand, welchen dieselben der Trennung der Atome entgegensetzen,
in Folge der starken Anziehung der Theile unter einander (der Cohäsion)
der relativ bedeutendste, bei Körpern der dritten Art dagegen aus
demselben Grunde die Dichtigkeit die geringste und der Widerstand
gegen die Trennung der mindestbedeutende sein, während den Körpern
der zweiten Art mit einer mittleren Dichtigkeit auch ein mittlerer
Widerstand d. h. ein solcher, welcher die Trennung der Atome weder
erschwert noch erleichtert, also gegen dieselbe sich gleichgiltig
verhält, eigen ist. Körper der ersten Art, als deren Repräsentant
die Erde angesehen wird, werden als feste, Körper der dritten Art,
als deren Repräsentant die atmosphärische Luft gilt, als luft- oder
gasförmige, Körper der mittleren Art, deren Typus das Wasser darstellt,
werden als flüssige bezeichnet.

309. Weder die Grösse des räumlichen Volumens, noch jene der Masse,
oder der Abstände der Atome von einander, absolut betrachtet, macht
hiebei einen Unterschied. Das Gesetz, welches die Atome der grossen
Weltkörper, der Nebelflecke und Sternhaufen zusammenhält, ist genau
das nämliche, welches auch die Atome des kleinsten Bruchtheils
eines festen Körpers auf der Erde an einander bindet; die Atome
des Weltmeeres hängen in keiner andern Weise zusammen, als jene
des Wassertropfens; und die Atmosphäre, welche entfernte Weltkörper
umhüllt, ja die ganze durch den Weltraum ausgebreitete, verdünnte
Luftmasse zeigt mit jener der irdischen Lufthülle verglichen nur
graduell verschiedene Structur. Zwischen den drei genannten Gattungen
von Körpern aber herrscht dabei das Verhältniss, dass einerseits
der luftförmige Körper durch Verminderung der Abstände seiner Atome
unter einander zuerst, wenn dieselbe den mittleren Grad der Entfernung
erreicht, in flüssigen, wenn sie denselben überschreitet, allmälig in
festen Zustand übergehen d. h. sich verdichten, umgekehrt der feste
Körper durch Vergrösserung jener Abstände seinerseits in flüssigen
und allmälig in luftförmigen Zustand übergehen d. h. sich verdünnen
kann. Je nachdem hiebei die zeitliche Aufeinanderfolge der genannten
Zustände verschieden, also entweder der feste, oder der luftförmige,
oder der flüssige als der (zeitlich) erste gedacht wird, aus welchem
die andern sich entwickelt haben, so dass im ersten Fall aus der
Verdichtung allmälig die Verdünnung, im zweiten aus der Verdünnung
allmälig (durch Niederschlag) die Verdichtung, im dritten aus einer
mittleren Dichtigkeit durch Verdichtung einerseits das Feste, durch
Verdünnung andererseits das Luftförmige hervorgeht, gliedern sich die
verschiedenen physikalischen Kosmogonien, als deren Repräsentanten
schon im Alterthum erscheinen: die Atomistiker, welche das Feste (die
körperlichen Atome), die jonischen Naturphilosophen Anaximenes und
Diogenes von Apollonia, welche das Luftartige, und Thales, welcher
das Flüssige für das der Zeit nach Erste erklärten, aus dem alles
Uebrige entstanden sei.

310. In allen genannten Fällen ist die Verbindung der Atome unter
einander eine mechanische, durch ein und dasselbe allgemeine Gesetz
der Anziehung nach dem umgekehrten Quadrate der Entfernung beherrschte,
welche so lange besteht, als dieses seine Geltung behauptet, und daher
jeder willkürlichen Aufhebung, sie komme von welcher Seite immer,
entzogen ist. Die zum Körper vereinten Atome erscheinen unter der
Pression dieses Gesetzes selbst zu einem mehr oder minder lockern
Gefüge comprimirt, also gleichsam einem von aussen kommenden Drucke
unterworfen. Die Elemente der Körper selbst stellen zusammengenommen
einen durch Vereinigung (Association) entstandenen räumlich begrenzten
Haufen, eine Menge gemengter (nicht gemischter) Bestandtheile dar,
deren jeder undurchdrungen von dem andern und undurchdringlich für
die andern für sich und zugleich im Verbande mit den andern als Glied
eines physischen Ganzen besteht. Auf qualitative Verschiedenheit
der zum Ganzen des Körpers verbundenen Theile konnte bisher schon
aus dem Grunde keine Rücksicht genommen werden, weil die quantitative
Atomistik eine solche bei den ursprünglichen Elementen der Körperwelt,
den primitiven Körperatomen, nicht kennt. Soll daher dennoch von
qualitativ unterschiedenen Elementen der Körper die Rede sein,
so können diese nicht selbst primitiv, sondern sie müssen aus
der allerdings primären Verbindung primitiver Atome gleichsam als
Atome höherer Ordnung entstanden sein. Von dieser Art wären, wenn
die Ansicht der quantitativen Atomistik die richtige und die darauf
fussende Behauptung der "philosophischen" Chemie, dass alle scheinbar
heterogenen Stoffe Umbildungen eines Grundstoffs seien, giltig sein
sollte, die bisher sogenannten einfachen Stoffe d. i. Körper wie
Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff u. s. w. aufzufassen, deren jeder
demzufolge aus Atomen bestehend gedacht würde, welche selbst eine
eigenartige Gruppirung der primitiven Atome in sich schlössen. Das
sogenannte Sauerstoffatom wäre sonach zwar im Verhältniss zu dem
sogenannten Kohlenstoffatom, keineswegs aber im Verhältniss zu den
primitiven Atomen als wirklich atom d. i. als theillos zu bezeichnen,
da dasselbe zwar eben so wenig aus weiteren Sauerstoffatomen wie das
Kohlenstoffatom aus weiteren Kohlenstoffatomen, keineswegs aber,
wie es im Begriff des primitiven Atoms liegt, überhaupt nicht aus
weiteren Atomen bestehend gedacht wird. Wie das primitive einfaches,
so wäre demnach das Sauerstoffatom zusammengesetztes d. i. aus zu einem
Ganzen verbundenen primitiven Atomen bestehendes Atom (Molecul) und der
(feste, flüssige oder luftförmige) Körper, bei dessen Zusammensetzung
die qualitative Beschaffenheit seiner Bestandtheile in Frage kommt, ist
sonach als ein in seinen nächsten Bestandtheilen nicht aus einfachen,
sondern aus zusammengesetzten Atomen bestehender anzusehen.

311. Wie die Verbindung der Atome im mechanisch zusammengesetzten
Körper eine mechanische, so ist sie in dem chemisch zusammengesetzten
Körper, derselbe bestehe nun aus einander homogenen oder heterogenen
Elementen, eine chemische, auf der Anziehung derselben in Folge ihrer
qualitativen Verwandtschaft (Affinität) beruhende. Dieselben stehen
wie die Bestandtheile des mechanischen Körpers unter der Herrschaft
eines allgemeinen Gesetzes, nur dass dieselbe nicht sowol, wie dort,
einem von aussen ausgeübten Drucke, als vielmehr einem von innen aus
der Beschaffenheit der Atome stammenden Zuge sich vergleichen lässt,
vermöge dessen die Atome wie Glieder einer und derselben Familie
sich zu einander hingezogen, oder wie Glieder heterogener Rassen
(z. B. Weisse und Farbige) sich von einander abgestossen fühlen. Wie
die Verbindung blutsverwandter Familienglieder eine innigere ist als
die blos gesellige Zusammenkunft einander gleichgiltiger Genossen,
so ist die chemische Vereinigung qualitativ Verwandter inniger,
als jene blos mechanische indifferenter Atome und wird deshalb als
Verschmelzung im Gegensatz zur blossen Summation, als "Mischung"
im Gegensatz zur blossen Mengung bezeichnet. Letzterer Ausdruck ist
insofern ungenau, als er zu dem Irrthum verleiten kann, eine völlige
"Durchdringung" der einzelnen Atome als möglich anzunehmen, während
doch nur eine "Durchdringung" der sich unter einander verschmelzenden
Körper (z. B. Kohlenstoff und Sauerstoff zu Kohlensäure) in der Weise
stattfindet, dass mit jedem Atom des ersteren zwei Atome des letzteren
sich verbinden, also ein neues Gemenge gleichsam höherer Art entsteht,
dessen Atome je eine binäre Verbindung zwischen O und C darstellen,
die einzelnen, sowol Kohlenstoff- als Sauerstoffatome, dagegen für
einander undurchdringlich bleiben.

312. Sowol der mechanisch wie der chemisch zusammengesetzte
Körper hat die Eigenschaft, dass, sobald der dessen Bestandtheile
zusammenhaltende Druck oder Zug aus was immer für einem Grunde
erlischt, derselbe in seine Elemente zerfallen oder sich auflösen
muss. Wird statt dessen auf Grund einer im Körper selbst enthaltenen
Veranlassung jene zusammenhaltende Kraft ununterbrochen erneuert,
entweder indem überhaupt neuer Stoff, welchem dieselbe Anziehung, oder
neuer qualitativ verwandter Stoff, welchem derselbe Zug innewohnt,
von neuem herbeigeschafft wird, so entsteht im Gegensatz zu jenem aus
Mangel an Erneuerung abgestorbenen leblosen (unorganischen) der belebte
(organische) Körper. Die Eigenthümlichkeit, welche denselben von dem
mechanischen Körper unterscheidet, besteht darin, dass der letztere,
sobald die Bestandtheile desselben durch andere ersetzt werden, nicht
mehr derselbe, sondern ein neuer, wenngleich dem vorigen gleicher,
der organische Körper dagegen auch nach dem Ersatz derjenigen seiner
Bestandtheile, deren Anziehung unter einander erloschen ist, durch
andere, noch immer derselbe wie früher d. h. ein blos erneuerter
ist. Die Eigenthümlichkeit, welche denselben vom chemischen Körper
unterscheidet, dagegen besteht darin, dass der organische Körper
niemals, wie der einfache chemische homogen, sondern stets heterogen
d. h. aus verschiedenen Stoffen zusammengesetzt sein muss, aber
nicht, wie andere chemische Körper, aus beliebigen (z. B. Wasser aus
Sauerstoff und Wasserstoff, atmosphärische Luft aus Sauerstoff und
Stickstoff, Kalk aus Calcium und Sauerstoff, Kochsalz aus Chlor und
Natrium), sondern jedesmal nur aus gewissen Stoffen zusammengesetzt
sein darf. Folge der ersteren Eigenschaft ist, dass ein Theil des
organischen Körpers, nämlich derjenige, in dem die Veranlassung
liegt, dass sich der übrige Theil ohne Schädigung des Ganzen zu
erneuern vermag, diesem letzteren gegenüber eine ausgezeichnete
Stellung behauptet, insofern er den bleibenden, dieser dagegen den
wechselnden Bestandtheil des Körpers ausmacht, jener also denjenigen,
durch welchen der Körper immer derselbe bleibt, dieser denjenigen,
durch welchen derselbe unaufhörlich ein anderer wird. Folge der
letzteren Eigenschaft ist, dass, wo gewisse einfache chemische Körper
mangeln, als welche die Erfahrung bisher Sauerstoff, Wasserstoff,
Stickstoff und hauptsächlich Kohlenstoff hervorzuheben gelehrt hat,
die Entstehung organischer Körper, auch wenn alle übrigen Bedingungen
und die grösste Fülle anderweitiger chemischer Körper vorhanden
wäre, unmöglich ist. Finden beide Bedingungen vereinigt bei der
kleinstmöglichen Anzahl körperlicher Atome Erfüllung, so entsteht der
denkbar kleinste belebte Körper, das organische Atom, die sogenannte
Zelle, während aus der Verbindung von solchen, sei es mit, sei es
ohne Zuhilfenahme unorganischer Bestandtheile, der Zellenorganismus
d. i. der -- wie der mechanische Körper aus mechanisch verbundenen
mechanischen, wie der chemische Körper aus chemisch verbundenen
chemischen, so aus organisch verbundenen organischen Elementen
bestehende -- organische Körper hervorgeht.

313. Die ausgezeichnete Stellung des beharrenden Theils gegenüber dem
wechselnden im belebten Körper äussert sich nicht blos darin, dass er
selbst (er sei nun ein einzelnes Atom oder eine Gruppe von solchen)
während der ganzen Dauer des organischen Körpers (Lebensdauer) immer
derselbe bleibt, sondern auch darin, dass in ihm die Ursache enthalten
ist, um welcher willen und durch welche nicht nur stets neuer und zwar
zu seiner Erhaltung passender Stoff (Leibesnahrung) herbeigeschafft,
sondern auch der Neuheit des Materiales zum Trotz die ursprüngliche
Form (Leibesform) im Wesentlichen unverändert erhalten wird. Derselbe
stellt daher gleichsam den beherrschenden Mittelpunkt ("die Seele")
dar, zu welchem die Gesammtheit des übrigen den Körper jeweilig
ausmachenden Stoffs sich als beherrschtes, zur Erhaltung des Ganzen
verbrauchbares Material ("als Leib") verhält. Da derselbe beherrschend
nur im Verhältniss zu dem von ihm Beherrschten, mit dem Aufhören der
Herrschaft aber zwar Beherrschendes wie Beherrschtes nach wie vor
vorhanden, aber nicht mehr als Herrscher und Beherrschtes vorhanden
sind, so hört mit dem Erlöschen des organischen Bandes zwischen der
"Seele" und dem "Leibe" des belebten Körpers d. i. mit dem Tode
auch der bisher herrschend gewesene Bestandtheil desselben auf,
Seele eines Leibes, wie der bisher beherrscht gewesene Bestandtheil
desselben aufhört, Leib einer Seele zu sein; das Atom oder die
Atome, welche bisher den bleibenden, so wie diejenigen, welche
bisher den jeweiligen veränderlichen Bestandtheil des organischen
Körpers ausgemacht haben, hören jedoch dadurch keineswegs auf, als
Atome d. i. zwar aus ihrer bisherigen Verbindung ausgelöst, aber
fähig und bereit, neue Verbindungen einzugehen, sei es wieder als
"Seele" eines Leibes (Metempsychose) oder als Leibtheil einer Seele
(Palingenesie), zu existiren.

314. Je nachdem der organische Körper als am Orte haftend, oder
mit der Fähigkeit begabt, denselben beliebig zu wechseln, so wie,
je nachdem derselbe als sich oder anderes vorstellend oder überhaupt
nicht als vorstellend gedacht wird, wird derselbe im ersten Falle,
da die Erfahrung an der sogenannten Pflanze weder freie Bewegung,
noch Zeichen vorstellender Thätigkeit aufweist, als pflanzenartiger,
im zweiten Fall, da die Erfahrung am sogenannten Thiere zwar freie
Beweglichkeit, aber (wenigstens bei den niedersten Thiergattungen)
keine Spur von vorstellender Thätigkeit zeigt, als thierartiger, im
dritten Fall, wenn sich nicht nur die Fähigkeit, anderes, sondern
(wie schon bei den höheren Thiergattungen) sogar die Fähigkeit
äussert, bis zu einem gewissen Grade sich selbst vorzustellen,
da die Erfahrung letztere Eigenschaft (die Vorstellung des Ich)
hauptsächlich am Menschen kennt, als menschenähnlicher bezeichnet
werden. Mit dem Erwachen des Ich d. i. derjenigen Vorstellung, durch
welche der belebte Körper andere, sei es belebte oder leblose Körper,
von sich unterscheidet d. h. als Anderes als er selbst, als Nicht-Ich
sich gegenüberstellt und dadurch sich zu diesem und dieses zu sich in
ein Verhältniss bringt, welches je nach dem Mass seiner im Vergleich zu
der Kraft jenes Andern und nach der Beschaffenheit seiner Bedürfnisse
im Vergleich zu den Bedürfnissen jenes Andern zu einem überlegenen
oder unterliegenden, zu einem freundlichen oder feindseligen, zu
friedlichem Genuss oder zum Kampfe ums Dasein werden kann, ist das
Reich des Bewusstlosen, des Nicht-Ich, abgeschlossen.

315. Wie die Atome, so üben auch die Körper eine Wirksamkeit
auf einander aus, welche je nach der Beschaffenheit derselben
entweder mechanischer, chemischer oder organischer Art ist. Erstere
äussert sich als Schwere, indem ein Körper den andern vermöge
seiner überlegenen Masse, die zweite als Wahlverwandtschaft, indem
ein Körper den andern vermöge seiner innigeren Verwandtschaft, die
dritte als Geschlechtsneigung, indem ein Körper den andern in Folge
des geschlechtlichen Gegensatzes an sich zieht. Wie durch die erstere
eine Ablenkung des angezogenen Körpers, wenn derselbe bewegt ist, von
seiner ursprünglichen Richtung, wenn er unbewegt ist, eine Annäherung
an den Ort des anziehenden Körpers, in beiden Fällen jedoch, wenn
kein anderweitiges Hinderniss, z. B. die widerstrebende Eigenbewegung
des angezogenen Körpers, dazwischen tritt, eine Vereinigung des
angezogenen mit dem anziehenden und dadurch eine Vergrösserung der
Masse des letzteren herbeigeführt wird, so wird durch die zweite eine
Auflösung der bisherigen Verbindung des angezogenen Körpers und die
Entstehung einer neuen Verbindung durch die Verschmelzung desselben
mit dem anziehenden veranlasst, auf dem dritten Wege aber durch
die organische Vereinigung zweier geschlechtlich entgegengesetzten
belebten Körper ein neues organisches Individuum auf Kosten und aus
dem Stoffe der Zeugenden erzeugt. Jene, die mechanische Anziehung
associirt bisher getrennte Körper zu einem neuen, welcher dieselben
in sich begreift; die zweite trennt nicht zusammengehörige Körper, die
vereinigt, und führt zusammengehörige zusammen, die getrennt waren; die
dritte leitet aus bisher vereinzelt gestandenen organischen Individuen
durch Zusammenschluss derselben ein neues, in keinem derselben für
sich allein, aber in beiden zusammengenommen wol- und vollbegründetes
Individuum ab. Das Wirken der ersten wie der zweiten Art bringt als
producirende Thätigkeit zwar nicht dem Stoff, aber der Form nach neue
Körper, die letztgenannte als reproducirende weder dem Stoff, noch der
Form nach neue, sondern denjenigen, aus welchen sie entstanden sind,
gleiche Körper d. h. sie bringt das in der Zeugung untergegangene
in einem neuen Individuum wieder hervor. Während durch die erstere,
die schaffende ("die Phantasie der physischen Welt") Thätigkeit
der gegebene Stoff in vorher nicht gegebener Gestalt umgebildet,
wird durch die letztere, die fortpflanzende ("das Gedächtniss der
Materie") Thätigkeit die Spur des einmal vorhanden Gewesenen in allem
Folgenden mehr oder minder getreu aufbewahrt und dessen Andenken
durch dasselbe erneuert. Auf ersterem Wege bilden sich aus dem im
Weltraum gleichmässig vertheilten Stoffe durch locale Verdichtung frei
schwebende, sogenannte "kosmische Wolken", durch Anhäufung desselben
um einen dichtern Kern sogenannte "Nebelflecke" und "schweifende
Kometen"; wachsen durch Vereinigung kleinerer Weltkörper allmälig jene
im Weltraum zerstreuten Massenkugeln heran, die andern als Central-
und, wie es das Niederstürzen von Sternschnuppen und Meteorsteinen
auf deren Oberfläche beweist, zum Sammelpunkte dienen. Auf dem zweiten
Wege bildet sich jener wirthschaftliche Haushalt in der Natur, durch
welchen die von den pflanzlichen Organismen aufgenommene Kohlensäure
im Inneren derselben zersetzt, der Kohlenstoff zurückbehalten und der
Sauerstoff durch die Lungen der Pflanze, die Blätter, ausgeathmet,
von den thierischen Organismen dagegen eingeathmet und in den Lungen
zur Oxydirung des Blutes verwendet wird. Auf dem letztgenannten
Wege endlich werden wenigstens in den höheren pflanzlichen und
thierischen Gattungen die unzähligen Nachkommen gezeugt, während auf
den niederen Stufen der vegetabilischen Organismen die Fortpflanzung
durch Keimzellen (Sporen) und Sprossen, bei den animalischen durch
Theilung und Zerfällung der ursprünglich zu einem einzigen vereinigt
gewesenen in mehrere selbstständige Individuen die Stelle der sexualen
Generation vertritt.

316. Wie die Atome, so sind die Körper in verschiedenen regelmässigen
oder unregelmässigen Abständen durch den Weltraum ausgestreut, so
dass einzelne derselben unter einander, wie die Atome zu Körpern, so
die Körper zu Systemen und weiter diese selbst wieder zu ihrerseits
unter sich zu einem Ganzen verknüpften Aggregaten von Systemen gehören,
während andere keinem in sich geschlossenen Körperverband einverleibt,
sei es aus dem Gebiet eines in das eines anderen Körpersystems
hinüberstreifen, theils frei durch den Weltraum irren. Zu den
ersteren gehören die Systeme einzelner Centralkörper mit ihren in
ihren Bewegungen von ihnen abhängigen Begleitern, welche ihrerseits
wieder von solchen begleitet sein können. Dieselben bilden im Weltmeer
des mit Körpern erfüllten Raumes gleichsam "Weltinseln" und können
ihrerseits mit anderen ihresgleichen zu einem "Inselmeer" d. i. zu
einem Archipelagos von Weltsystemen vereinigt sein. Ein solches bildet
allem Anschein nach der selbst um einen, sei es idealen, sei es realen
(nach Mädler Alpha Herculis) Mittelpunkt gravitirende Weltring der
sogenannten Milchstrasse, von welchem unser Sonnensystem mit seiner
Centralsonne, seinen Planeten und Planetoiden, deren Trabanten und
Ringen, sowie mit den theils gleichfalls ringförmig angeordneten,
theils zerstreut rotirenden Asteroiden, Sternschnuppen und Meteormassen
einen Bestandtheil ausmacht. Der Inbegriff sämmtlicher Weltkörper
bildet das sichtbare Universum, das mechanisch durch das Gesetz
der Gravitation beherrscht und chemisch, wie die Spectralanalyse
gezeigt hat, durchgängig aus solchen Stoffen zusammengesetzt ist,
welche auch auf oder innerhalb der Erde vorkommen. Flüssige und
luftartige Bildungen (Meere und Atmosphären) sind auch auf von
der Erde verschiedenen Weltkörpern beobachtet, dagegen Spuren
organischen Lebens bisher nur auf dieser wahrgenommen worden, daher
von vegetabilischen und animalischen, so wie von menschenähnlichen
Bewohnern erfahrungsgemäß bisher nur auf dieser die Rede sein kann.

317. Sowol die Zwischenräume zwischen den Welt-, so wie jene zwischen
den festen und flüssigen Körpern auf der Erde sind von luftartigen
Körpern (auf der Erde von einem aus Sauerstoff und Stickstoff,
so wie einigem Ozon bestehenden Luftkörper, der sogenannten
atmosphärischen Luft) ausgefüllt, deren Gegenwart auch in den
scheinbar leeren Theilen des Weltraums durch die Widerstände, welche
bewegte Weltkörper mittels derselben erlitten haben (z. B. durch
die allmälige Verengung der Bahn des Enke'schen Kometen), erwiesen
ist. Die Zwischenräume der physikalischen Atome werden, wie oben
bemerkt, durch Atome des sogenannten Weltäthers erfüllt gedacht,
auf dessen Zustände diejenigen Phänomene, welche sonst je specifisch
verschiedenen sogenannten "unwägbaren" Stoffen (Imponderabilien),
z. B. die Lichterscheinungen einem Lichtstoff, die magnetischen einem
magnetischen Fluidum u. s. w. zugeschrieben wurden, nunmehr als auf
deren gemeinsamen Träger zurückgeführt zu werden pflegen. Dieselben
zerfallen in solche, bei welchen die qualitative Beschaffenheit der
Körperatome gleichgültig, und solche für welche dieselbe bestimmend
ist. Zu den ersteren gehören die Licht- und Wärmeerscheinungen,
die sich deshalb (wenngleich in unzähligen Graden der Abstufung)
zwischen und in allen Körpern des Weltalls vorfinden; zu den
letzteren lassen sich die sogenannten, magnetischen und elektrischen
Erscheinungen zählen, deren erstere an die Gegenwart eines bestimmten
chemischen Stoffs (des Eisens), deren letztere an die Gegenwart und
gegenseitige Berührung mindestens zweier qualitativ heterogener Stoffe
(z. B. Zink und Kupfer) gebunden ist. Der Zustand des Aethers selbst
wird als kleinste periodische Bewegung der Aetheratome (Schwingung)
in verschiedener Menge und Richtung vorgestellt, wobei der Unterschied
stattfindet, dass diejenigen, welche als Träger des Lichtphänomens
angesehen werden, an der Oberfläche der Körper (mit Ausnahme der
durchsichtigen oder durchscheinenden) stattfinden und diese daher im
Inneren dunkel erscheinen, während diejenigen, welche die Träger des
Wärmephänomens sind, auch im Inneren der Körper statthaben, diese
daher je nach dem Grade derselben innerlich erhitzt oder erkältet
erscheinen. Bei den magnetischen und elektrischen Erscheinungen lässt
sich die Betheiligung des Aethers in der Weise verschieden denken,
dass derselbe in dem Körper, welcher den erforderlichen Stoff,
das Eisen enthält, an zwei entgegengesetzten Enden, den Polen,
angehäuft erscheint, wobei die Erfahrung zeigt, dass gleichnamige
Pole einander abstossen, während bei den elektrischen Erscheinungen
an den zu ihrer Entstehung erforderlichen heterogenen Körpern der
Aether an zwei einander der Richtung nach entgegengesetzten Enden (+
und -) sich anhäuft, wobei die Erfahrung zeigt, dass entgegengesetzte
Pole sich anziehen. Inwieweit bei den elektrischen Strömen, von
welchen Muskelcontractionen begleitet zu werden pflegen, sowie bei
den Erscheinungen des sogenannten thierischen Magnetismus und der
thierischen Elektricität eben so wie bei jenen der sogenannten
animalischen Wärme die Betheiligung des Aethers eine Rolle
übernehme, muss um so mehr dahingestellt bleiben, als mit Ausnahme
der elektrischen Muskelströme und der thierischen Wärme die übrigen
sogenannten Thatsachen noch allzu sehr der empirischen Bestätigung
bedürfen. Insofern jene dem Weltäther zugeschriebenen Phänomene,
mit den auf die physikalischen Atome zurückgeführten Erscheinungen
verglichen, dem der groben Masse der letzteren gegenüber verfeinerten
Charakter ihrer materiellen Grundlage entsprechend selbst einen
gleichsam "vergeistigten" Stempel tragen, sind sie es, welche
durch ihre Gegensätze der Helligkeit und der Finsterniss, der
Hitze und der Kälte, der magnetischen und elektrischen Spannung
und Lösung der Physiognomie der physischen Körperwelt ein an die
wechselnden Stimmungsgegensätze des menschlichen Gemüthes mahnendes
Gepräge aufdrücken und daher als Bilder und Gleichnisse für die
letzteren mit Vorliebe pflegen verwendet zu werden. Steigern sich
dieselben so weit, dass sie namhafte Veränderungen in der Welt der
physischen Körper verursachen, die Lichterscheinung als Brand, die
Wärmeerscheinung als Explosion oder Eruption, der Magnetismus als
magnetisches, der elektrische Strom als atmosphärisches Ungewitter
auftritt, so nimmt deren Wesen eine an die plötzliche, aber auch
vorübergehende Natur der von unwillkürlichen Körperbewegungen
begleiteten Gemüthserschütterungen, der sogenannten Affecte, an und
liefert für diese ("flammender Zorn", "leidenschaftlicher Ausbruch")
das treffendste Gleichniss.

318. Wie dem denknothwendigen das durch die Erfahrung gegebene
Wirkliche, so steht dem denknothwendigen das empirisch gegebene
Wirken gegenüber. Die Vorstellung des letzteren unterliegt um so mehr
logischen Schwierigkeiten, als weder der Begriff eines Wirkens durch
den leeren Raum, wie er durch die discrete Vertheilung der Atome
im Raume gefordert ist, noch der Begriff eines Dinges, welches
eins und zugleich der Träger vielfach sich ändernden Wirkens,
noch endlich jener der Veränderung d. h. eines Dinges, welches
anders geworden und doch dasselbe geblieben sein soll, und jener der
unter den letztgenannten fallenden Bewegung als Ortsveränderung ohne
schwerwiegende kritische Bedenken bleibt. Erstgenannter ficht durch die
Einsicht in die Unmöglichkeit, dass von dem angeblich Einfachen Theile
sich loslösen und durch einen Sprung über das Leere hinüber einem
andern eben so Einfachen einverleibt werden könnten, streng genommen
die Möglichkeit so wol der Anziehung wie der Abstossung und damit die
Basis des physischen Zusammenhangs unter den Elementen der Körperwelt
an. Die Einheit des Dinges, während dessen Wirken ein vielartiges
sein soll, ruft den Widerspruch, wie Eins = Vielem gedacht werden
könne, die Identität des Dinges, nachdem es ein anderes geworden,
ruft den Widerspruch, wie Eines und dasselbe zugleich nicht dasselbe
sein könne, wider sich hervor und nöthigt, dem ersteren durch die
Annahme, dass das Wirken eines Dinges das Product nicht eines einzigen
Atoms, sondern des Zusammenseins einer Gruppe mehrerer Atome sei und
demnach, wenn die Bestandtheile dieser Gruppe verschiedene seien,
sehr wol ein Verschiedenes nicht nur sein könne, sondern sein müsse,
dem zweiten dagegen durch die Bemerkung zu begegnen, dass, weil jedes
sogenannte "Ding" nur eine Gruppe von Atomen, also ein Ganzes sei,
dasselbe durch das Ausscheiden einzelner und Eintreten anderer,
während der Rest derselbe geblieben ist, sehr wol eine Veränderung
erlitten und doch (in Bezug auf obigen Rest) seine Identität aufrecht
erhalten haben könne. Bezüglich der Bewegung als Ortsveränderung
aber gilt, dass dieselbe nur dann einen Widerspruch einschliesse,
wenn dieselbe in dem Sinn verstanden wird, dass das Bewegliche im
selben Zeitpunkt an einem und demselben Orte befindlich und nicht
befindlich, keineswegs aber, wenn dieselbe so aufgefasst wird, dass das
Bewegliche in jedem stetig auf einander folgenden Zeitpunkt in einem
anderen Orte befindlich sei. Dieselbe setzt daher eben so nothwendig
die Zeit als den Raum voraus und wird durch das Verhältniss des in
einem gewissen Zeitabschnitt zurückgelegten Raumes d. i. durch die
Geschwindigkeit gemessen.

319. Das in der Zeit vor sich gehende erfahrungsmässig gegebene
Geschehen, die Veränderung des Zustandes der Körperwelt, ist eine
dreifache, und zwar tritt dasselbe, je nachdem entweder nur der Ort
des Körpers, wobei dessen Form sowol als Stoff dieselben bleiben,
oder nur die Form des Körpers, während der Stoff unberührt bleibt,
oder schliesslich auch dieser eine Veränderung erleidet, als Orts-,
Form- oder Stoffwechsel auf. In ersterer Hinsicht kann die Bewegung
der Richtung nach entweder eine fortschreitende, wie bei dem Stoss
und Wurf, oder eine in sich zurückkehrende, wie bei den rotirenden
Weltkörpern und den Blutkörperchen im Blutkreislauf, oder eine zugleich
fortschreitende und in sich zurückkehrende Bewegung, wie bei dem um
die Erde sich drehenden und zugleich mit dieser um die Sonne bewegten
Monde sein. Der Qualität nach kann dieselbe entweder eine in gleichen
Zeitabschnitten auf gleiche Weise sich wiederholende (gleichförmige)
oder in gleichen Zeiträumen abnehmende (retardirende) oder zunehmende
(accelerirende) Bewegung, in ersterer Hinsicht überdies entweder
eine am selben Ort sich gleichförmig wiederholende (schwingende),
oder dabei zugleich im Raume fortschreitende, entweder nach der
nämlichen, oder abwechselnd nach entgegengesetzten Richtungen von
der Fortschrittslinie gleichförmig ausschlagende Bewegung sein: jene
ergibt die periodische Bogen-, diese die Wellenbewegung. Hinsichtlich
des Formenwechsels findet beim mechanischen und chemischen Körper ein
Uebergang des festen in den flüssigen und luftartigen Zustand, oder des
flüssigen in den festen und luftförmigen, oder des letztgenannten in
den festen und flüssigen statt, während beim organischen die sogenannte
Transformationslehre (Darwinismus) im Gegensatz gegen die Theorie
von der Constanz der Arten und Gattungen es mehr als wahrscheinlich
gemacht hat, dass nicht nur in der vegetabilischen Natur die Arten
und Gattungen der Organismen durch allmälige Umbildung einer oder
weniger ursprünglichen Pflanzentypen ("Urpflanze", "Metamorphose der
Pflanze": Goethe), sondern auch in der animalischen Welt die Arten und
Gattungen des Thierreichs durch allmälige Umbildung eines oder einiger
ursprünglicher Thiertypen ("Bathybios", "Gastraea": Haeckel), sei es
auf dem Wege immanenter Teleologie (Goethe), sei es auf dem natürlicher
Zuchtwahl (Darwin), oder unwillkürlicher, reflexartiger Nachahmung
("Mimicry": Wallace) in einander übergehen. Was den Stoffwechsel
betrifft, so hat die Erfahrung bis heute zwar die Vermuthung,
dass der unorganische chemische Stoff nur eine Umbildung des
primitiven mechanischen Stoffs sei, durch die chemische Typentheorie
wahrscheinlich zu machen, für die Behauptung aber, dass der organische
Stoff nur eine Umbildung des unorganischen, der belebte Naturkörper
aus leblosen, etwa durch Urzeugung (generatio æquivoca), entstanden
sei, eben so wenig einen jeden Zweifel ausschliessenden Beweis
durch Thatsachen zu führen vermocht, wie für die weitere, dass das
"Phänomen der Empfindung", durch welches der (anderes und sich selbst)
vorstellende Organismus sich von dem nicht vorstellenden, obgleich
ebenfalls organischen Körper unterscheidet, nichts anderes als eine
Umbildung des derselben entsprechenden "Nervenreizes" und demnach als
psychischer oder Bewusstseinsvorgang von diesem als physiologischem
d. i. Nervenzustand, eben so wenig wie dieser als organischer Vorgang
von den unorganischen Vorgängen der mechanisch-chemischen Körper dem
Wesen nach verschieden sei. Insbesondere was die letztgenannte von den
positivistischen und materialistischen Gegnern einer weder mit Biologie
noch mit Phrenologie und Physiologie identischen Psychologie immer
von neuem wiederholte, aber niemals bewiesene Versicherung betrifft,
haben ausgezeichnete Physiologen (Ludwig, Fick) ein offenes: ignoramus,
einer der ausgezeichnetsten (Dubois-Reymond) sogar ein eben solches:
ignorabimus ausgesprochen.

320. Wie die Gesammtheit der im Weltraum vertheilten (unorganischen und
der auf einem oder dem andern derselben anzutreffenden organischen)
Körper in ihrer gegenseitigen physischen Zusammengehörigkeit mit
und in ihrer Abhängigkeit von einander, so weit dieselben unserer
Erfahrung zugänglich sind, das physische Weltall, den Kosmos, so macht
die Gesammtheit des in und zwischen denselben in der Zeit vor sich
gehenden Geschehens, deren periodischer und nichtperiodischer Orts-,
Formen- und Stoffwechsel von der unmessbaren, primitiven Oscillation
des Aethers bis zu den Umläufen der Weltkörper und dem schwankenden
Gleichgewicht einander äquilibrirender Weltsysteme, von der Zerlegung
des Wassertropfens durch den elektrischen Funken in seine Elemente
bis zu den ein System von Weltkörpern erleuchtenden und erwärmenden
Verbrennungsprocessen gasförmiger Centralsonnen, von der molecularen
Anziehung und Abstossung primitiver Stofftheile bis zu den verwickelten
mechanisch-chemischen Processen, welche die Erscheinung des Lebens
und das Erwachen des Bewusstseins bedingen, herauf, so weit dasselbe
unserer Erfahrung zugänglich ist, die Naturgeschichte der physischen
Welt, die Geschichte des Weltalls aus.



ZWEITES CAPITEL.

DAS ICH.


321. Wie die Erfahrung lehrt, dass es physische d. h. mechanische,
chemische und organische, so lehrt sie auch, dass es psychische
d. h. dass es Phänomene des Empfindens und Vorstellens, des Fühlens,
Begehrens und Wollens gibt, aber sie lehrt keineswegs, weder dass
physische und psychische Vorgänge identisch, noch dass sie nicht
identisch seien. Was die Erfahrung als äussere an der Hand der
sinnlichen Beobachtung und des durch künstliche Werkzeuge verschärften
Experiments über die Phänomene des als vorstellend bezeichneten
belebten Organismus zu erreichen vermag, ist (wenigstens bis zur
Stunde) noch niemals Empfindung (psychischer Zustand) gewesen, sondern
jedesmal, wenn auch noch so sehr verfeinerter physischer Zustand (eine
Bewegung, ein Nervenreiz, ein Zersetzungsvorgang) geblieben. Was die
Erfahrung als innere an der Hand der Beobachtung seiner selbst und
Anderer und des, so weit die Natur der Sache es erlaubt, künstlich
angestellten Versuchs blosszulegen vermochte, war noch nicht physischer
(Bewegung, Reiz, chemischer Process), sondern ausschliesslich immer
wieder psychischer Vorgang (elementare Sinnes- oder Muskelempfindung,
elementares Lust- oder Schmerzgefühl, elementares Streben oder
Verabscheuen). Sowol die Behauptung, dass Bewegung (ein extensiver
Zustand) Empfindung, wie jene, dass Empfindung (ein intensiver Zustand)
Bewegung sei, ist jede für sich ein unerlaubter Schritt auf Grund
angeblicher über die Grenze gegebener Erfahrung hinaus auf ein Gebiet,
wo nicht die (nicht vorhandene) Thatsache, sondern allein die aus
Thatsachen gezogene denknothwendige Folgerung zu entscheiden vermag.

322. Es ist nicht die Verschiedenheit beider Classen von Erscheinungen
dem äusseren Anschein nach, welche bestritten wird, eben so wenig
als die Gegner der Verschiedenheit organischer und unorganischer
Körper den anscheinenden Unterschied beider zu leugnen gewillt
sind. Aber in dem einen wie in dem andern Fall geht die Tendenz
dahin, die allerdings anscheinende Verschiedenheit als eine blos
scheinbare darzulegen und so wie die organischen und unorganischen
Körper, auch physische und psychische Phänomene dem Wesen nach
als identisch hinzustellen. Insoweit dieses Bemühen sich auf das
angebliche wissenschaftliche Bedürfniss stützt, in der Gesammtheit
der erfahrungsmässig gegebenen Erscheinungen Einheitlichkeit
nachzuweisen, würde dasselbe, wenn die letztere Einheit in der
Mannigfaltigkeit d. i. Harmonie wäre, mehr ein ästhetisches,
also der strengen Naturwissenschaft fremdes, als ein direct
wissenschaftliches Bedürfniss, wenn dieselbe aber vielmehr Einerleiheit
(langweilige Monotonie, abwechselungslose Einförmigkeit), wie es
wahrscheinlicher ist, bedeuten sollte, im Grunde gar kein Bedürfniss
befriedigen. Insofern dasselbe einerseits die Verschiedenheit der
Phänomene d. i. des scheinbar Wirklichen, andererseits die Identität
des Substrats d. i. des wahrhaft Wirklichen zur Voraussetzung hat,
widerspricht dasselbe dem denknothwendigen Axiom, dass, wie der
Vielheit des Scheins eine Vielheit des Seins, so der qualitativen
Mannigfaltigkeit des ersteren eine eben solche des letztern entsprechen
müsse. Das Gleichniss Fechner's, dass Physisches und Psychisches wie
die beiden Ansichten eines Kreisbogens sich verhalten, der von der
Seite des Mittelpunktes aus betrachtet concav, von jener der Peripherie
aus gesehen convex erscheint, ohne dadurch aufzuhören, ein und dasselbe
zu sein, kann wol blenden, aber nicht beweisen. Denn eben dieses
Herausgehen nach der entgegengesetzten Seite, um das Object von dieser
aus ins Auge zu fassen, ist bei dem Verhältniss zwischen Physischem und
Psychischem aus dem Grunde unmöglich, weil der Umkreis des Psychischen
d. i. der Bewusstseinsphänomene, zu welchen auch die Sinnesempfindung
und sinnliche Wahrnehmung gehört, auch von demjenigen Beobachter,
der sich wie der Naturforscher auf die Seite des Physischen stellt, in
keiner Weise überschritten werden kann. Von dem, worin der Physiker das
Wesen des optischen oder des akustischen Phänomens erblickt, von der
Oscillation der Aethertheilchen oder den Luftwellen ist in demjenigen,
was der Psychologe als das Wesen der Gesichts- oder Gehörsempfindung
ansieht, in der qualitativen Farbe oder dem eben solchen Ton, nichts
Gleichartiges anzutreffen, noch lässt sich die Anzahl von mehr als
vierhundert Billionen Schwingungen mit der Empfindung des Blauen oder
jene von 32 Schallwellen in der Secunde mit jener des tiefsten hörbaren
C-Tones der Orgel vergleichen. Physische und psychische Erscheinungen,
als Phänomene betrachtet, sind nicht blos scheinbar, sondern wahrhaft
verschieden und, was ihre qualitative Natur, allerdings nicht, was
deren quantitatives Mass betrifft, schlechterdings unvergleichbar.

323. Dennoch wäre es voreilig, wie der qualitative Dualismus thut,
aus der Verschiedenheit beider Classen von Erscheinungen auf
eine qualitative Verschiedenheit ihrer beziehungsweisen Substrate
d. i. da das scheinbar Wirkliche auf wahrhaft Wirkliches deutet,
auf eine zwiespältige qualitative Beschaffenheit des Wirklichen zu
schliessen. Die Folgerung, dass, wenn die Erscheinung verschiedenartig
sei, auch das Wesen des derselben zu Grunde liegenden Wirklichen
ein verschiedenartiges sein müsse, hat nur dann Gewalt, wenn sie
dazu gebraucht wird, um darzuthun, dass das in diesem Falle zu
Grunde liegende Wirkliche nicht ein einziges, sondern ein multiplum
von Wirklichen sein, den verschiedenen Erscheinungen demnach nicht
ein und dasselbe, sondern bald diese, bald eine andere Gruppe von
mehreren Wirklichen zu Grunde liegen müsse. Keineswegs aber folgt
daraus, dass jene Wirklichen selbst nicht blos numerisch, sondern
ihrer inneren Beschaffenheit nach unter einander verschieden
sein d. h. dass sie etwa verschiedenen Classen von Wirklichen
angehören müssten, so lange nicht erwiesen ist, dass die blosse
Verschiedenheit äusserer Beschaffenheiten, wie Zahl, Lage,
Gruppirung der Atome, nicht hinreiche, verschiedenartigen Schein
in der Erscheinungswelt hervorzubringen. Da letzterer Erweis, wie
das Beispiel der quantitativen Atomistik lehrt, keineswegs erbracht,
im Gegentheil durch diese einleuchtend gemacht worden ist, wie unter
Voraussetzung durchgängig gleicher Beschaffenheit der Atome lediglich
durch verschiedene Zahl und räumliche Anordnung derselben verschiedene,
ja anscheinend ganz entgegengesetzte Phänomene (wie z. B. das nach
rechts und das nach links Drehen der Polarisationsebene) sich erklären
lassen, so steht von dieser Seite, wie es scheint, nichts im Wege,
auch physische und psychische Phänomene auf qualitativ gleichartiges
Wirkliches zurückzuführen.

324. Letzteres würde nur dann undenkbar sein, wenn die Qualität eines,
mehrerer, oder aller zum erklärenden Phänomen einer-, und jene des
denselben zu Grunde zu legenden Wirklichen andererseits einander in
der Weise widersprächen, dass die durch die Erfahrung gewährleistete
Thatsächlichkeit des oder der einen durch die (aus was immer für einem
Grunde) behauptete Beschaffenheit des andern geradezu ausgeschlossen
wird. Dieser Fall würde eintreten, wenn zum Beispiel unter den
thatsächlichen psychischen Erscheinungen eine solche sich vorfände,
die ihrer Natur nach nur innerhalb eines einzigen und zwar eines seiner
Qualität nach streng einfachen Wirklichen vor sich gehen kann, während
dagegen von anderer Seite behauptet würde, nicht nur, dass alles, was
überhaupt als Substrat einer Erscheinung solle angesehen werden können,
eine Verbindung mehrerer Wirklicher, eine Gruppe von solchen sein
müsse, sondern auch, insofern dasselbe als Träger einer Erscheinung
gelten soll, seiner Qualität nach zusammengesetzt sein müsse. In diesem
Fall würde entweder die Thatsächlichkeit jenes Phänomens verleugnet,
oder, wenn dies dem Zeugniss der Erfahrung gegenüber als unausführbar
sich herausstellt, angenommen werden müssen, dass dasselbe, obgleich
wirklich, doch ohne wirkliches Substrat, gleichsam in der Luft schwebe.

325. Obiger Fall tritt ein bei dem Phänomen der sogenannten Einheit des
Bewusstseins, der Theorie der sogenannten "Psychologie ohne Seele" und
der Psychologie des sogenannten "Materialismus" gegenüber. Jene geht
davon aus, dass die Natur des Phänomens der Einheit des Bewusstseins
mit der Qualität des ihrer Ansicht nach ausschliesslich wahrhaft
Wirklichen unverträglich und daher, da dessen Wirklichkeit nicht
bestritten werden könne, dasselbe thatsächlich ohne reales Substrat
sei. Letztere räumt ein, nicht nur dass obiges Phänomen thatsächlich,
sondern auch, dass kein irgendwie wirklich vorhandenes Phänomen ohne
irgendwie beschaffenes Wirkliches als Substrat desselben denkbar,
behauptet aber, dass die Natur obiger Erscheinung auch mit der
Annahme eines aus Theilen bestehenden Substrates verträglich sei. Die
Widerlegung der ersteren müsste darauf ausgehen darzuthun, nicht nur,
dass dasjenige Substrat, welches die "Psychologie ohne Seele" für das
ausschliesslich Wirkliche, weil ausschliesslich mögliche ausgibt,
weder das einzig Wirkliche, noch überhaupt ohne Selbstwiderspruch
ein mögliches sei, sondern auch, dass eine als wirklich zugestandene
Erscheinung weder ohne ein Wirkliches als Substrat, noch überhaupt
ohne Substrat gedacht werden könne. Die Widerlegung der letzteren
müsste dahin gerichtet sein, zu erweisen, dass der Versuch, die Natur
obigen als thatsächlich anerkannten Phänomens mit der materiellen
d. i. aus Theilen bestehenden Natur seines Substrats als verträglich
darzustellen, illusorisch, und daher die einzige Möglichkeit,
dessen Thatsächlichkeit begreiflich zu finden, in der Annahme eines
"atomistischen" d. i. theillosen Trägers für dasselbe gelegen sei.

320. Den Beweis zu führen, dass das wahrhaft Wirkliche seiner
Qualität nach einfach d. i. nicht aus Theilen bestehend, dass sonach
dasjenige Wirkliche, welches die "Psychologie ohne Seele" nicht nur,
obgleich dasselbe, sondern wol gar, weil es zusammengesetzter Natur
(materiell) ist, für das wahrhaft Wirkliche hält, weder ein solches
sei noch sein könne, sondern blos den Schein eines solchen enthalte,
hat im Obigen bereits der philosophische Realismus durch seine von
der Erfahrung aus-, aber aus denknothwendigen Gründen über dieselbe
hinaus gehende Wissenschaft vom Wirklichen übernommen. Derselbe hat
aber auch zugleich dargethan, und in diesem Punkt steht, wie aus dem
Vorigen sich ergibt, selbst die "Psychologie des Materialismus" ihm als
Bundesgenossin zur Seite, dass auch der Schein eines Wirklichen, wenn
er ein wirklicher d. i. thatsächlicher ist, nicht ohne ein Wirkliches
als dessen Substrat gedacht werden könne und daher die Annahme der
"Psychologie ohne Seele", dass der von ihr als thatsächlich anerkannte
Schein der Einheit des Bewusstseins ohne ein solches, also buchstäblich
ein Luftphantom sei, auf einer argen Selbsttäuschung beruhe.

327. Zum Beweise für die andere d. i. für diejenige Behauptung, welche
den thatsächlichen Schein der Einheit des Bewusstseins mit der aus
Theilen bestehenden Natur des Trägers derselben für vereinbar hält,
haben sich deren Vertheidiger, die Psychologen des Materialismus,
auf ein ihrer Meinung nach zutreffendes Beispiel aus der exacten
Naturwissenschaft, auf die in der Mechanik der Zusammensetzung der
Kräfte fundamentale Thatsache der Resultante berufen. Dieselbe stellt
in der That ein Wirkliches dar, welches als solches nur durch das
Zusammenwirken anderer Wirklichen, der sogenannten Componenten zu
Stande kommt, zugleich aber auch ein solches, das mit der Wirklichkeit
dieser letzteren verglichen nur ein scheinbares ist d. h. nur den
Schein selbstständiger Wirklichkeit hat, während die eigentlich
Wirklichen, weil die eigentlich Wirkenden, die Componenten sind. Werden
die letzteren, also ein Vielfaches, als das Substrat der Resultirenden,
welche als solche ein Einfaches ist, vorgestellt, so scheint obige
Thatsache anschaulich zu machen, wie die zusammengesetzte Natur
der Grundlage eines Phänomens die einheitliche, ja sogar einfache
Beschaffenheit des letztern nicht ausschliesse, und sonach auch die
Möglichkeit, dass das seiner Natur nach einfache Phänomen der Einheit
des Bewusstseins in einem zusammengesetzten, aus einer Mehrheit von
Theilen bestehenden Substrate vor sich gehe, plausibel zu machen.

328. Trifft obiges Gleichniss zu, so beweist es nichts; beweist es
aber etwas, so beweist es das Gegentheil von dem, was nach dem Wunsche
seiner Urheber dadurch bewiesen werden soll. Die Beweiskraft desselben
hängt davon ab, dass dasjenige, was unter dem Namen der Resultirenden
mit dem Phänomen der Einheit des Bewusstseins verglichen wird, wirklich
im Sinn der Mechanik eine solche sei. Aber schon Lotze hat bemerkt,
dass dieser sogenannten Resultanten das wichtigste Merkmal einer
solchen, nämlich nichts geringeres fehle als der gemeinschaftliche
Angriffspunkt, der ihr mit ihren Componenten gemeinsam sein muss. Die
Resultirende ohne einen solchen wäre wie Schiller's Glocke, welcher,
wie Schlegel witzig bemerkt hat, der Schwengel fehlt. Ist aber die
Resultante eine wirkliche Resultirende d. h. hat sie mit ihren
Componenten den Punkt des Angriffs wirklich gemein, dann stellt
dieser Punkt eben dasjenige dar, was für das Phänomen der Einheit
des Bewusstseins der atomistische Träger desselben darstellen soll
d. h. obiges Gleichniss beweist, statt gegen, im Gegentheil für
die Unentbehrlichkeit eines einfachen Wirklichen als Substrat des
Phänomens der Einheit des Bewusstseins.

329. Aus der Thatsache der Einheit des Bewusstseins folgt, dass es
Phänomene gibt, welche als Substrats nur eines einzigen theillosen
und untheilbaren Wirklichen bedürfen und daher mit allen denjenigen
Phänomenen, welche zu ihrer realen Unterlage ein Aggregat von solchen
d. i. (im physikalischen Sinne) einen (mehr oder weniger verfeinerten
oder vergröberten) Körper voraussetzen, qualitativ schlechterdings
unvergleichbar sind. Umgekehrt wird es erlaubt sein, anzunehmen,
dass alle diejenigen Phänomene, welche mit letzteren unvergleichbar,
ihrerseits dagegen mit dem Phänomen der Einheit des Selbstbewusstseins
insofern vergleichbar seien, als sie ebenso wie dieses jedes irgendwie
zusammengesetzte Substrat ausschliessen und im Gegensatz zu den mit
diesem unvergleichbaren Erscheinungen einen atomistischen Träger
als reale Unterlage bedingen. Da nun das Phänomen der Einheit
des Bewusstseins ein psychisches ist, alle diejenigen Phänomene
aber, welche als ihr Substrat eine materielle Grundlage erfordern,
als physische bezeichnet werden, so folgt, dass alle mit letzteren
unvergleichbaren Phänomene (wie Vorstellen, Fühlen, Streben und Wollen)
als psychische dem Phänomen der Einheit des Bewusstseins gleichartig
sein und daher ebenso wie dieses an einem theillosen Träger haften
werden. Wird dabei vorzugsweise die Eigenthümlichkeit ins Auge
gefasst, dass jedes zusammengesetzte d. h. aus Theilen bestehende
Substrat ein Aussereinander der Orte dieser letzteren d. h. eine
räumliche Ausdehnung (extensum) erheischt, während das einfache
theillose Wirkliche eine solche ausschliesst und nur den einfachen Ort
(mathematischen Punkt) eines einfachen Wirklichen (eines dynamischen
Punkts oder einer punktuellen Kraft; "Monade", "Dynamide") ausfüllt,
so können die physischen Phänomene auch extensive und müssen die
psychischen sodann im Gegensatz dazu intensive genannt werden. Jene
schliessen die Ausdehnung und damit die Räumlichkeit ein, diese
dagegen zwar die Ausdehnung, keineswegs aber die Räumlichkeit aus; jene
erfolgen als Vorgänge innerhalb eines räumlich ausgedehnten Substrats
selbst in räumlich ausgedehnter Weise (Bewegung als Ortsveränderung,
Anziehung, Schwingung u. s. w.), diese erfolgen als Vorgänge innerhalb
eines zwar an einem Orte im Raume befindlichen (also nicht raumlosen
oder unräumlichen), aber nur einen einfachen (ausdehnungslosen)
Ort im Raume einnehmenden (also selbst ausdehnungslosen) Wirklichen
zwar im Raume, können aber selbst eben so wenig wie das Wirkliche,
dessen Vorgänge sie sind, räumlich ausgedehnt sein (Empfindung als
Intensitätsveränderung, Hemmungsgefühl, Streben u. s. w.). Wie der
Inbegriff der extensiven Phänomene die Grundlage der Physik, so bildet
jener der intensiven die Grundlage der Psychik oder Psychologie; jener
umfasst alle materiellen d. h. an einem materiellen Substrat haftenden
und durch die Wechselwirkung zwischen den Elementen der Materie,
den physikalischen Atomen, hervorgebrachten, dieser dagegen alle an
einem atomistischen Substrat haftenden und aus der Wechselwirkung der
elementaren Vorgänge innerhalb desselben entspringenden Erscheinungen.

330. Da das einzige atomistische Substrat erfahrungsmässig gegebener
Erscheinungen dasjenige ist, welches auf Grund des thatsächlichen
Phänomens der Einheit des Bewusstseins als Träger nicht nur dieses,
sondern sämmtlicher ihm gleichartiger Phänomene vorausgesetzt
wird, so folgt, dass wie es voreilig schien, aus der qualitativen
Verschiedenheit der physischen und psychischen Erscheinungen auf
qualitativ verschiedene Beschaffenheit ihrer beziehungsweisen
Substrate zu schliessen, es eben so voreilig wäre, aus den
erfahrungsmässig gegebenen Zuständen eines atomistischen Wirklichen
auf das Vorhandensein gleicher oder doch ähnlicher Zustände im Innern
anderer oder gar aller atomistischen Wirklichen zu schliessen. Aus
der denknothwendigen Folgerung, dass, was immer in einem
atomistischen Wirklichen vor sich gehe, nur intensive und insofern
den erfahrungsgemäss gegebenen Vorgängen des Vorstellens, Fühlens
und Strebens ähnliche Zustände sein können, folgt keineswegs, dass,
weil dergleichen in demjenigen Atome, welches als Träger des Phänomens
der Einheit des Bewusstseins gilt, durch die Erfahrung gegeben sind,
ähnliche auch in allen übrigen einfachen Wirklichen, also z. B. auch
in denjenigen, welche als letzte reale Grundlage der physikalischen
Materie angesehen werden, gegeben sein müssten oder thatsächlich
seien. Jene einfachen Wirklichen, welche auf Grund thatsächlich
erfahrener intensiver Zustände d. i. erfahrungsmässig gegebener
psychischer Phänomene (selbst erlebter oder an Anderen beobachteter
Vorstellungen, Gefühle, Begehrungen und Willensentschliessungen) als
deren unentbehrliche atomistische Träger denknothwendig vorausgesetzt
werden müssen, mögen als solche "Seelen" d. h. reale Atome heissen,
deren eigenthümliches Wirken in der gegebenen Erfahrung unter der Form
des Vorstellens, Fühlens, Strebens und anderer aus diesen letzteren
abgeleiteten Zustände erscheint, deren specifische Qualität aber eben
so wie jene aller übrigen einfachen Wirklichen, welche den Boden
des erfahrungsmässig gegebenen Scheins der Wirklichkeit ausmachen,
der Erkenntniss entzogen bleibt. Wie die Farbe, der Klang, die Härte
oder Weichheit, ja wie die Körperlichkeit selbst nicht das Wesen des
Wirklichen, sondern die Form ausmacht, unter welcher dasselbe für die
äussere Erfahrung, so stellt die vorstellende, fühlende, strebende
Thätigkeit, ja die Seelenhaftigkeit selbst diejenige Gestalt dar,
unter welcher das Innere des Wirklichen für die innere Erfahrung
erscheint; was das Wirkliche selbst, von der Erfahrung, äusserer wie
innerer, abgesehen, an sich seiner Natur nach sei, bleibt hier wie
dort unbekannt.

331. Wie aus der einfachen Qualität des atomistischen Wirklichen,
welches als Träger der erfahrungsmässig gegebenen psychischen
Zustände vorausgesetzt werden muss, dessen Unveränderlichkeit,
so folgt aus der Vielheit und Mannigfaltigkeit der zugleich und
nach einander durch die Erfahrung gegebenen psychischen Zustände,
als deren Träger es gilt, dessen Veränderlichkeit. Während der
ersteren zufolge die Qualität desselben und dadurch das Wirkliche
immer dasselbe bleibt d. h. als dasjenige Selbst, das es ist, sich
erhält, scheint es der letzteren zufolge nicht nur im nämlichen
Zeitaugenblick mehreres und verschiedenes zugleich, sondern in auf
einander folgenden Zeitmomenten jeweilig ein anderes zu sein. Da jener
Schein der Vielheit und Mannigfaltigkeit nicht entstehen könnte, wenn
in der Einheit und Einfachheit des Wirklichen nicht dessen Anlage
gegeben wäre, so entsteht die Frage, wie sich die letztere mit der
ersteren, die Einheit und Einfachheit des Wirklichen mit der Vielheit
und Mannigfaltigkeit des Scheines im Wirklichen, also die Annahme,
dass viele und vielerlei Zustände im Wirklichen zugleich oder nach
einander gegeben seien, mit der denknothwendigen Voraussetzung seiner
Einheit und Einfachheit vertrage. Die Beantwortung derselben wird
zwar erleichtert, aber nicht überflüssig gemacht durch die Bemerkung,
dass diese mehreren zugleich gegebenen Zustände vorübergehende, also
nicht etwa bleibende Eigenschaften des einfachen Wirklichen, sogenannte
dauernde "Seelenvermögen" oder Seelenkräfte sein sollen, welche schon
Herbart treffend der alten Psychologie gegenüber als "mythologische
Wesen" bezeichnet hat; die Schwierigkeit besteht fort, wenn auch nur
in einem einzigen Zeitmoment eine Vielheit unter einander verschiedener
Zustände in dem einfachen Wirklichen als zugleich vorhanden vorgestellt
und dasselbe dadurch gleichsam in vieles gespalten gedacht werden soll.

332. Ein Blick auf die gegebene Erfahrung lehrt, dass dies thatsächlich
der Fall sei. Qualitativ verschiedene Empfindungen, wie die einer
bestimmten Farbe, eines bestimmten Wohlgeruchs u. s. w. sind in der
sinnlichen Wahrnehmung der Rose dem Bewusstsein gleichzeitig gegeben
und müssen sonach in dem realen atomistischen Träger desselben als
gleichzeitig vorhandene, aber qualitativ unterschiedene Zustände
angesehen werden. Dasselbe soll daher nicht blos wirklich, sondern
es soll als einfache Qualität zugleich in so vielen verschiedenen
Qualitäten wirklich sein, als qualitativ verschiedene Zustände in
demselben als zugleich vorhanden gedacht werden sollen. Wie die
qualitative Atomistik die Gesammtheit der körperlichen Erscheinungen
auf eine Anzahl einfacher qualitativ unter einander verschiedener
Stoffe zurückführt, so leitet eine derselben entsprechende empirische
Psychologie die Gesammtheit der psychischen Erscheinungen von einer
Anzahl einfacher, qualitativ verschiedener Elementarzustände ab,
als dergleichen sie die sinnlichen Empfindungen, wie sie durch
die verschiedenen Sinnesorgane gegeben sind (Gesichts-, Gehörs-,
Geruchs-, Geschmacks- und Tastempfindungen, ferner die Temperatur-,
die Muskelempfindungen etc.) betrachtet. Werden die letztern als
wirklich einfach und zugleich als unter einander specifisch verschieden
angesehen, so muss obige Schwierigkeit, wie in dem qualitativ einfachen
Träger qualitativ verschiedene Zustände zugleich gegenwärtig sein
können, in ganzer Schärfe hervortreten.

333. Um dieselbe zu heben, hat Herbart den Ausweg der sogenannten
"zufälligen Ansichten" ergriffen. Indem das Reale a, dessen einfache
Qualität a sein soll, mit dem Realen b, dessen Qualität durch b
ausgedrückt werden soll, der Qualität nach verglichen wird, zeigt sich,
dass jede der beiden Qualitäten Bestandtheile enthalte, die sich unter
einander wie plus und minus verhalten und daher, wenn die beiden Realen
zusammengedacht werden, sich unter einander aufheben müssen. Da jedoch
die einfache Qualität, als einfach, keine Theile enthalten, also auch
keine solchen, die sich, mit einer andern Qualität verglichen, wie plus
und minus verhalten, in sich schliessen kann, so stellt jene Auffassung
derselben in Gedanken, laut welcher dieselbe nicht nur Theile, sondern
einer andern Qualität entgegengesetzte Theile umfassen soll, nicht
den wahren Inhalt der Qualität, sondern blos eine zufällige Ansicht
derselben dar, kraft welcher gewisse Bestandtheile der Qualität des
Realen in ihrem Zusammen mit andern aufgehoben werden sollten, aber
nicht können, die Qualität zwar verändert werden sollte, aber nicht
kann, weil jene aufzuhebenden Theile eben keine Theile, sondern nur in
der zufälligen Ansicht der Qualität als solche angedichtet sind. Diese
durch das Zusammen eines Realen mit anderen Realen demselben
in Folge des gegensätzlichen Verhaltens seiner Qualität zu deren
Qualitäten, von dem dieselben zusammenfassenden Denken zugemutheten,
aber da jede einfache Qualität unveränderlich ist, niemals wirklich
eintretenden Störungen sind es, welche Herbart "Selbsterhaltungen"
des Realen genannt und als die einzige mit der strengen Einfachheit
der Qualität desselben verträgliche Art des wirklichen Geschehens,
den erfahrungsmässig gegebenen psychischen Vorgängen als metaphysische
Grundlage untergebreitet hat. Dieselben sollen je nach der Qualität
desjenigen Realen, welches mit dem gegebenen, um dessen Zustand es
sich handelt, in einer zufälligen Ansicht zusammengefasst wird,
selbst qualitativ verschieden (z. B. einmal eine Gesichts-, das
andere Mal eine Gehörsempfindung u. dgl.), nichts desto weniger aber
die Qualität des Realen, dessen Zustände sie sind, qualitativ immer
dieselbe und ungespalten sein. Sie sollen ferner wirklich und doch als
Störungen der Qualität des Realen, die zwar eintreten sollten, aber,
weil sonst letztere und damit das Reale selbst aufgehoben würde,
niemals eintreten können, zwar zugemuthete, aber niemals wirklich
gewordene, also im Grunde blosse Forderungen sein, die an das Reale
um seines Zusammen mit anderen willen vom zusammenfassenden Denken
gestellt, aber von jenem niemals erfüllt werden. Ob Zustände der Art
überhaupt das Recht gewähren, dieselben als wirkliches Geschehen und
zugleich als den einzigen Anknüpfungspunkt zu bezeichnen, welchen
das streng einfache Reale für die erfahrungsmässig gegebene vielfache
Mannigfaltigkeit psychischer Phänomene zu bieten vermöge, ist von der
Seite der Erfahrungspsychologie eben so vielfach bestritten, als von
der Seite der Schule ohne durchschlagenden Erfolg vielfach vertheidigt
worden. Angriff und Abwehr gehen von der Alternative aus, dass entweder
das wirkliche Geschehen im Realen nicht wirklich, oder die Qualität des
Realen nicht einfach sein könne. Jenes, weil Einfachheit der Qualität
die Wirklichkeit qualitativer Verschiedenheit des Geschehens, dieses,
weil die qualitative Verschiedenheit des Geschehens die Einfachheit
der Qualität ausschliesse.

334. Allerdings nur, weil und so lange das wirkliche Geschehen als
qualitativ wirklich verschieden gedacht wird. Findet das Gegentheil
statt d. h. wird das wirkliche Geschehen als qualitativ nicht
verschieden d. h. seiner Qualität nach unter einander homogen und der
Qualität des Wirklichen, dessen Geschehen es ausmacht, entsprechend
vorgestellt, so entfällt der nicht abzustreitende Widerspruch zwischen
der Qualität des Wirklichen, die einfach, und jener des Geschehens,
die mannigfaltig sein soll, und damit auch der Grund, welcher die
Wirklichkeit qualitativ verschiedenen Geschehens mit der Einfachheit
der Qualität des Wirklichen selbst unverträglich zu machen droht. Nicht
die Vielheit des Wirkens, sondern die gleichzeitige Vielartigkeit des
Wirkens widerspricht der qualitativ einfachen Natur des Wirklichen;
letztere schliesst nicht aus, dass das einfache Wirkliche zu anderen
einfachen Wirklichen gleichzeitig anders sich verhält, wol aber
schliesst sie aus, dass sich dasselbe zu jedem der andern als ein
Anderes verhält.

335. Wie in der Physik die quantitative Atomistik der qualitativen,
an Stelle der qualitativ verschiedenen qualitativ gleichartige Atome
entgegensetzt, so führt dieselbe in der Psychologie, den qualitativ
unterschiedenen psychischen Elementarzuständen gegenüber, qualitativ
ununterschiedene primitive psychische Vorgänge in die Betrachtung
ein. Jene geht von der Voraussetzung aus, dass die sogenannten
einfachen Stoffe in der Chemie, diese glaubt sich zu der Annahme
berechtigt, dass die sogenannten einfachen Empfindungen im Bewusstsein
nicht die ursprünglichen primitiven, sondern, die einen wie die andern,
aus weiteren, wahrhaft letzten Elementen und zwar jene aus unter sich
gleichartigen primitiven Körper-, diese aus gleichfalls unter einander
homogenen primitiven Bewusstseinselementen zusammengesetzt seien. Wie
die quantitative Atomistik in der Körperwelt, so strebt sie in der
Bewusstseinswelt die qualitativen auf blos quantitative Unterschiede
zurückzuführen; wie in der Chemie das Sauerstoffatom als eine Gruppe
primitiver Atome und dadurch als verschieden vom Kohlenstoffatom,
als einer anders geformten Gruppe derselben primitiven Atome, so
geht sie darauf aus, in der Psychologie z. B. die Empfindung des
Blauen als eine Gruppe primitiver Bewusstseinselemente und dadurch als
verschieden von der Empfindung des Rothen, als einer anders geformten
Gruppe derselben primitiven Bewusstseinselemente, hinzustellen. Das
qualitativ specifische Atom (z. B. das Kohlenstoffatom) ist ihrer
Auffassung zufolge eine räumlich, die qualitativ specifische Empfindung
(z. B. die Empfindung des Roth oder die Empfindung des Tones C) eine
zeitlich geordnete Gruppe, jene von neben-, beziehungsweise ausser
einander im Raume gelagerten primitiven Atomen (etwa in Gestalt eines
Würfels oder einer Kugel), diese von nach, beziehungsweise auf einander
folgenden primitiven Bewusstseinsacten (etwa Billionen derselben für
die Empfindung des Roth, 32 derselben für den Ton des tiefen C).

336. Wie diese Ansicht in der Physik durch die Entdeckung der
typischen Körper und die chemische Typentheorie, so hat dieselbe
in der Psychologie durch die Entdeckung von Helmholtz, dass unsere
vermeintlich einfachen Tonempfindungen zusammengesetzter Natur seien,
eine Bestärkung erhalten. Jene hat es wahrscheinlich gemacht, dass
die bis jetzt für einfach gehaltenen chemischen Stoffe sich in weitere
zerlegen lassen und deren Analysen schliesslich zu der Annahme eines
Grundstoffs führen werden; diese lässt die Vermuthung zu, dass,
wie die Ton-, so auch die Empfindungen anderer Sinnesorgane sich
als zusammengesetzt und schliesslich als quantitative Combinationen
einer und derselben Grundempfindung erweisen werden. Mehr als jene
Wahrscheinlichkeit und diese Vermuthung auszusprechen, lässt weder
der gegenwärtige Stand der äussern noch jener der innern Erfahrung
zu, obgleich nicht geleugnet werden kann, dass die quantitative
Atomistik, wie sie der Erfahrung über die Körperwelt sich am bequemsten
anschmiegt, so auch einer consequenten Betrachtung der Bewusstseinswelt
Vortheile in Aussicht stellt.

337. Einer und zwar nicht der geringste besteht darin, dass
durch die Zurückführung der vermeintlich specifisch verschiedenen
elementaren Bewusstseinsvorgänge auf ursprünglich gleichartige
die schwer empfundene Unvergleichbarkeit physischer Vorgänge, wie
es die Nervenreize, und psychischer, wie es die unmittelbar durch
dieselben ausgelösten und auf dieselben bezüglichen Empfindungen
sind, auf das geringste denkbare Mass herabgesetzt wird. Werden,
wie längst in der physischen, so nun auch in der psychischen Welt
die Verschiedenheiten sämmtlicher Phänomene auf rein quantitative
Bestimmungen zurückgeführt, so steht nichts im Wege, die quantitativen
Bestimmungen der physischen jenen der correspondirenden psychischen
Vorgänge als gleich oder doch (wie das Weber-Fechner'sche Gesetz in
einem einzelnen Falle versucht hat) als irgendwie proportional zu
denken und dadurch die Unvergleichbarkeit beider auf die allerdings
durch nichts zu beseitigende Unvergleichbarkeit des ursprünglichen
physischen (der als solcher ein extensiver) und des gleichfalls
ursprünglichen psychischen Vorgangs (der als solcher ein intensiver
ist) zu beschränken. Stellt der Gehirn- oder Nervenvorgang, welcher
die nächste Voraussetzung der Empfindung bildet, in der Reihe der
sich stufenförmig über einander erhebenden physischen Vorgänge des
mechanischen, chemischen und organischen Geschehens das oberste,
so stellt die unmittelbar, obgleich unvergleichbar an jene sich
anschliessende, primitive Empfindung in der Reihe der sich stufenweise
über einander erhebenden Formen des psychischen Geschehens das unterste
oder Anfangsglied dar, aus welchem, wie dort aus der Wechselwirkung
der kleinsten Körpertheilchen (physikalische Atome, Molecüle) alle
höheren physischen, so durch Umbildung und Wechselwirkung alle höheren
psychischen Bildungen sich entwickeln.

338. Für die primitive Empfindung d. i. für den dem elementaren
Vorgang im Nervenreiz entsprechenden elementaren Vorgang im Bewusstsein
hat Lotze den Ausdruck "ictus" geprägt. Derselbe macht anschaulich,
dass die Wirkung eines kleinsten extensiven Vorgangs, z. B. einer
einzelnen Aetherschwingung, ein kleinster intensiver Vorgang, die einer
solchen entsprechende und daher im Innern so oft sich wiederholende
Empfindung sein kann, als der sie veranlassende physische Vorgang,
die Aetherschwingung, im äussern sich wiederholt. Wie die Empfindung
selbst von der veranlassenden Schwingung, so hängt die Zahl der sich
wiederholenden gleichen Empfindungen von der Zahl sich wiederholender
gleicher Schwingungen ab, und wie durch die letztere in den Augen
des Physikers der specifische Charakter des physischen Phänomens
(z. B. durch die Zahl von 745 Billionen Schwingungen in der Secunde
jener des rothen Lichtes), so erscheint durch die Zahl der sich
wiederholenden primitiven Empfindungen der specifische Charakter des
psychischen Phänomens (in obigem Fall der Empfindung des Rothen)
in den Augen des Psychologen gegeben. Die Zahl der Schwingungen
innerhalb einer bestimmten Zeiteinheit drückt für den Physiker das
Quale, die Grösse der Schwingung (amplitude) die dynamische Intensität
des Physischen (z. B. der Farbe) aus; eben so stellt in den Augen
des Psychologen die Zahl der innerhalb derselben Zeiteinheit sich
wiederholenden primitiven Empfindungen das Quale, die Stärke des
einzelnen ictus durch ihr multiplum die dynamische Intensität des
psychischen Phänomens (z. B. der Gesichtsempfindung des Rothen)
dar. Die quantitative Bestimmung dort (das Vielfache der Schwingungen)
und die quantitative Bestimmung hier (das Vielfache der primitiven
Empfindungen) lassen, vorausgesetzt dass die Zeiteinheit dieselbe
sei (z. B. die Secunde), der Unvergleichbarkeit der beiderseitigen
Quales (der Schwingung einer- und des ictus anderseits) ungeachtet,
eine Vergleichung der beiderseitigen Quanta zu und gestatten die eine
durch die andre zu messen.

339. Dieselbe Voraussetzung macht es aber auch möglich, nicht
nur das Verhältniss der primitiven Empfindungen selbst, sondern
auch das aller aus denselben abgeleiteten psychischen Phänomene,
ähnlich wie das Verhalten der körperlichen Elemente und aller daraus
abgeleiteten physischen Phänomene, mit Rücksicht auf die in denselben
enthaltenen quantitativen Bestimmungen und deren Relationen zu einander
einer mathematischen Behandlung zu unterwerfen. Wie die Atome der
Körperwelt sich als Kräfte betrachten lassen, die im Verhältniss
ihrer Stärke anziehend oder abstossend auf einander wirken,
so lassen die primitiven Empfindungen mit Rücksicht auf den Grad
ihnen eigener Intensität als Kräfte sich ansehen, welche sich unter
Voraussetzung gleichartiger Richtung verstärken, unter Voraussetzung
entgegengesetzter ganz oder theilweise hemmen werden. Die exacte
Naturwissenschaft trachtet die gesammten Erscheinungen der körperlichen
Welt, auch die verwickeltesten, die sogenannten Lebenserscheinungen,
nicht ausgeschlossen, in ihrem letzten Grunde auf Annäherungen und
Entfernungen der kleinsten Theilchen der körperlichen Masse (der
Molecüle und physikalischen Atome) nach statischen und mechanischen
Gesetzen zurückzuführen; eine exacte Psychologie wird das gleiche Ziel,
die Reduction der gesammten Bewusstseinserscheinungen auf gegenseitige
Verstärkung oder Hemmung der primitiven Bewusstseinserscheinungen
("Bewusstseins-Atome") nach statischen und mechanischen Gesetzen vor
Augen haben.

340. Wie die Gesammtheit der physikalischen Atome den Stoff der
Körper-, so bildet die Gesammtheit primitiver Bewusstseinsvorgänge
den Stoff der Welt des individuellen Bewusstseins. Wie jene
erfahrungsgemäss eine begrenzte d. h. so weit reichende ist, als nach
unserer Erfahrung das physische Band reicht, welches als Gravitation
die Elemente der Materie zusammenhält, so ist die Menge des psychischen
Materiales erfahrungsgemäss für jedes individuelle Bewusstsein
eine begrenzte, deren Beginn mit dem Zeitpunkt des erwachenden
(Geburt), deren Ende mit jenem des erlöschenden Bewusstseins
(Tod) des Individuums zusammenfällt. Jene wie diese stellt ein
Stoffquantum dar, das sich weder vermehren noch vermindern lässt,
dessen Form jedoch im Laufe der Zeit, und zwar die des physischen
Stoffs während der Dauer des sichtbaren Universums, die des primitiven
Bewusstseinsmaterials während der Dauer des psychischen Individuums,
Aenderungen in ununterbrochener Folge erfahren kann und, wie die
Erfahrung, die äussere durch Beobachtung der Entwickelungsgeschichte
des Weltalls, die innere durch Beobachtung der Processe im Bewusstsein
des Individuums, zeigt, thatsächlich erfährt. So wenig jemals dem
Begriff unbedingten Gesetztseins entsprechend das Denken ein Sein
d. h. Realität hervorzubringen vermag, so wenig vermag der atomistische
Träger des Bewusstseins auch nur eine einzige primitive Empfindung aus
sich selbst d. i. ohne durch anderes Wirkliche gegebene Veranlassung
zu erzeugen. So gewiss das Wirkliche als unbedingt Gesetztes durch
das Denken zwar als solches anerkannt, aber nicht aufgehoben zu werden
vermag, so gewiss kann ein einmal stattgehabtes wirkliches Geschehen
(eine primitive Empfindung im Bewusstsein) durch Verleugnung von
Seite des Wirklichen, in dem es geschehen ist, zwar verdunkelt,
aber niemals ungeschehen gemacht werden.

341. Wie die Totalität des körperlichen Stoffs und aller daraus
näher oder entfernter sich entwickelnden Erscheinungen den Inhalt des
räumlich und zeitlich ausgedehnten Weltalls, so bildet die Gesammtheit
des Bewusstseinsmaterials und aller näher oder entfernter daraus
abgeleiteten Bewusstseinsphänomene den Inhalt des nicht räumlich,
wol aber zeitlich ausgedehnten Bewusstseins. Jenes besitzt obige
Eigenschaft, weil dessen Bestandtheile nicht nur ausser einander,
sondern auch nach einander, dieses nur die letztere, weil dessen
Bestandtheile zwar nicht blos nach einander, sondern auch mit einander,
in dieser letzteren Eigenschaft aber niemals ausser einander sein
können. Letzteres nicht, weil das atomistische Wirkliche, dessen
Zustände sie sind, keinen Raum darbietet für eine gleichzeitige
"itio in partes". So gut die gleichzeitig existirenden Elemente des
körperlichen Stoffs ihres räumlichen Aussereinander ungeachtet durch
das physische Band, das sie an einander fesselt, gezwungen sind, als
Theile desselben physischen Weltalls mit einander in Zusammenhang
zu bleiben, so gut sind die gleichzeitig vorhandenen Elemente des
individuellen Bewusstseins durch die atomistische Beschaffenheit ihres
gemeinsamen Trägers gezwungen, als Theile desselben Bewusstseins
unter einander in realen Zusammenhang zu treten. So wenig ein
Weltkörper, durch das Band der Schwere gehalten, aus dem sichtbaren
Universum und seinem Verband mit anderen Weltkörpern sich entfernen,
so wenig kann irgend ein Bestandtheil des Bewusstseins der Berührung
mit den gleichzeitig mit ihm in demselben Bewusstsein vorhandenen
Bestandtheilen ausweichen. Derselbe ist, wohl oder übel, gezwungen,
sich mit denselben, sei es feindlich oder freundlich, in Contact
zu setzen.

342. Letztere Nöthigung enthält den Grund der sogenannten
Ideenassociation d. i. der Vergesellschaftung der gleichzeitig
in demselben Bewusstsein vorhandenen Phänomene. Derselbe ist ein
"mechanischer", demjenigen vergleichbar, dessen Wirkung wie durch
einen Druck von aussen auf mittels desselben zusammengehaltene Körper
ausgeübt wird, und steht so wenig, wie dieser zu der qualitativen
Beschaffenheit der Körper, zu der qualitativen Beschaffenheit der
associirten Phänomene in Beziehung. Nicht der Umstand, dass sie dem
Inhalt nach ähnlich oder unähnlich, sondern allein die Thatsache,
dass sie gleichzeitig Bestandtheile desselben Bewusstseins sind,
knüpft die Erscheinungen an einander und dehnt ihre Wirksamkeit
nachhaltig auch auf solche Bestandtheile des Bewusstseins aus,
welche nicht ganz, sondern nur theilweise mit den eben im Bewusstsein
anwesenden Erscheinungen gleichzeitig sind. Letzteres macht erklärlich,
warum in demselben Bewusstsein auf einander folgende Erscheinungen,
vorausgesetzt dass dieselben schon einzutreten angefangen haben, bevor
die gegenwärtigen gänzlich geschwunden sind, sich mit den letzteren
gleichfalls und, wenn obige Voraussetzung sich erfüllt, alle einander
succedirenden Bewusstseinsphänomene sich unter einander associiren.

343. Treten daher gewisse Bewusstseinsphänomene (z. B. primitive
Empfindungen) thatsächlich zugleich oder in der Weise nach einander
ins Bewusstsein ein, dass die vorangehende noch fortdauert, wenn
die folgende schon eintritt, so müssen sich dieselben unter einander
verbinden, und zwar desto inniger, je öfter das gleichzeitige oder
successive Eintreten derselben sich wiederholt. Sind nun Gründe
vorhanden, welche bewirken, dass gewisse Phänomene niemals anders als
gleichzeitig oder in derselben Ordnung nach einander ins Bewusstsein
eintreten können, so muss diese Nöthigung, sich unter einander
zu verbinden, zuletzt eine so unwiderstehliche werden, dass jene
Phänomene schlechterdings nicht mehr ohne einander gedacht d. h. dass
dieselben nur als ein zusammengehöriges Ganzes d. i. als Aggregat
von Bewusstseinsphänomenen gedacht werden können, dessen Theile zwar
eben so wenig wie die des mechanischen Körpers durch Gleichartigkeit
oder Gegensatz unter einander verwandt sein müssen, aber eben so wie
diese durch mechanischen Druck und Cohäsion, so durch den Zwang der
Simultaneität oder Succession mit einander verbunden sind.

344. Aggregate dieser Art sind von Herbart "Complicationen" genannt
worden. Das Charakteristische derselben liegt darin, dass die
Beschaffenheit des Inhalts des Verbundenen gleichgiltig, der Grund
der Verbindung einzig die Gleichzeitigkeit oder Aufeinanderfolge
des Verknüpften ist. Daraus folgt, dass auf diesem Wege eben so
gut verwandte, als gänzlich disparate Bewusstseinsphänomene zur
Verbindung gelangen, und nicht nur Heterogenes, sondern selbst
Widersprechendes durch die blosse Thatsache der Gleichzeitigkeit oder
der Succession zu einem (im letzteren Falle sogar widerspruchsvollen)
Ganzen zusammengewürfelt und durch den Zwang der Ideenassociation
zusammengeschweisst werden kann. So wenig der nur mechanisch
zusammengesetzte physische Körper aus qualitativ gleichartigen
Elementen, so wenig braucht die Complication aus solchen zu bestehen;
so gewiss aber vom Standpunkt der quantitativen Atomistik aus der
chemisch einfache Körper (z. B. das Sauerstoffatom), da derselbe nichts
weiter als eine eigenartig geformte Gruppe primitiver physikalischer
Atome ist, nichts anderes als ein blosses Aggregat sein kann,
weil bei dessen Zusammensetzung die Qualität seiner Bestandtheile
noch keine Rolle spielt, so gewiss kann die im Sinne der bisherigen
Psychologie einfach genannte Empfindung (z. B. die Empfindung Roth
oder Ton C), wenn dieselbe nichts weiter als eine eigenartige Gruppe
primitiver Bewusstseinsacte (ictus) sein soll, nichts anderes sein,
als eine Complication, weil bei derselben von einer Rücksicht auf
qualitative Beschaffenheit ihrer primitiven Elemente keine Rede sein
kann. Das Sauerstoffatom stellt in diesem Fall unter den möglichen
Gruppirungen, welche physikalische Atome überhaupt einnehmen können,
eine solche dar, welche thatsächlich gegeben und von der äusseren
Erfahrung unter dem Namen des Sauerstoffes fixirt worden ist;
eben so möchte die vermeintlich einfache Empfindung des Rothen eine
Complication primitiver Bewusstseinsacte ausdrücken, welche unter den
zahllosen möglichen Combinationen primitiver Bewusstseinselemente
thatsächlich gegeben und von der inneren Erfahrung durch den Namen
des Roth-Empfindens vor andern ihrer Gattung ausgezeichnet worden ist.

345. Qualitativ verschiedene Empfindungen der Art (Farbenempfindungen
wie Roth, Blau, Grün; Tonempfindungen wie Violinton g, h;
Geruchsempfindungen wie Rosengeruch, Veilchengeruch etc.),
welche selbst schon Complicationen primitiver Bewusstseinsacte
sind, verhalten sich zu diesen letzteren, wie sich die qualitativ
verschiedenen sogenannten einfachen chemischen Stoffe (Sauerstoffatom,
Kohlenstoffatom) als Gruppen ursprünglicher Molecüle zu diesen
letzteren selbst verhalten. Dieselben nehmen die nach den primitiven
Bewusstseinsacten nächste Stufe unter den Bildungen des Bewusstseins,
wie die chemischen einfachen Stoffe die nach den physikalischen
Atomen nächste Stufe unter den Körperbildungen des Naturlebens ein
und können, wie diese letzteren zu "Gemengen" einfacher Stoffe (wie
die atmosphärische Luft ein solches von Sauerstoff und Stickstoff
darstellt), so zu neuen Complicationen, sei es gleichartiger, sei es
ungleichartiger Empfindungen sich verbinden. Wie aus der Verbindung
chemisch gleichartiger Atome ein homogener Körper, so entsteht aus der
Verbindung gleichartiger Empfindungen, z. B. durchgehends Empfindungen
rothen Lichts, eine homogene, wie aus der Verbindung ungleichartiger
Atome ein chemisches Stoffgemenge, so aus der Verknüpfung heterogener
Empfindungen eine heterogene Complication. Complicationen dieser
Art, die also eben so bereits fertige Empfindungen, wie diese
letzteren primitive Bewusstseinsacte zur Voraussetzung haben, sind
die sogenannten Anschauungen, die als solche entweder reine d. h. aus
durchaus homogenen, oder gemischte d. i. aus heterogenen Empfindungen
zusammengesetzt sind. Von jener Art ist die Anschauung des Rothen,
von dieser die Anschauung z. B. des Goldes. Jene entsteht dadurch, dass
vermöge der flächenförmigen Ausbreitung des Sehnervs als Netzhaut auf
der Oberfläche des kugelförmigen Augapfels bei der Einwirkung rothen
Lichts auf denselben niemals eine vereinzelte Empfindung des Rothen,
sondern stets, da mehrere Punkte der Netzhaut zugleich von rothem
Licht getroffen werden, eine Summe von Roth-Empfindungen d. h. eine
durch Gleichzeitigkeit verknüpfte Complication unter einander homogener
Empfindungen zum Vorschein kommen muss. Diese entsteht dadurch, dass
mehrere unter einander verschiedene Sinne durch das angeschaute Object
zugleich, jeder in seiner Weise, der Sehnerv z. B. durch den Glanz und
die gelbe Farbe des Goldes, der Hörnerv durch dessen Metallklang, der
Tastnerv durch dessen Glätte und Kälte u. s. w. in Erregung versetzt
werden und so eine Gruppe heterogener Empfindungen gebildet wird, die
unter einander durch Gleichzeitigkeit verknüpft und als Complication
mit dem gemeinsamen Namen des Goldes belegt werden.

346. Wie chemisch disparate Körperbestandtheile, die zu einander
keinerlei Affinität besitzen und lediglich durch mechanischen Druck
zusammengehalten werden, in ihrem Verbande beharren, aber auch nur so
lange beharren, als jener währt, chemisch verwandte Körperbestandtheile
aber in Folge dieser Verwandtschaft eine viel innigere, und zwar so
weit gehende Verbindung unter einander eingehen, dass dieselbe nicht
wieder auf mechanischem, sondern nur auf chemischem Wege in Folge
stärkerer Verwandtschaft mit einem anderen Körper gelöst werden kann:
so bleiben reine Anschauungen, deren Bestandtheile homogen, also
dem Inhalt nach unter einander verwandt sind, auf dem Niveau einer
durch blosse Gleichzeitigkeit verknüpften Complication nicht stehen,
sondern gehen deren Elemente in Folge ihrer Homogeneität unter einander
allmälig eine viel innigere Verbindung ein, während die gemischten
Anschauungen, deren Elemente unter einander disparat d. h. dem Inhalt
nach gegen einander indifferent sind, fortfahren, ausschliesslich
durch das Band blosser Gleichzeitigkeit vereinigt zu sein. Jene
innigere Verbindung homogener Empfindungen, welche im Gegensatz zu
der durch Gleichzeitigkeit erzeugten, durch deren Gleichartigkeit
hervorgebracht wird, ist von Herbart treffend "Verschmelzung" genannt
und dadurch von der blossen Complication in ähnlicher Weise wie die
chemische Verbindung von der mechanischen unterschieden worden. Das
Charakteristische derselben liegt darin, dass sie wol auf Veranlassung
des gleichzeitigen Vorhandenseins homogener Bewusstseinsvorgänge, aber
nicht durch diese Gleichzeitigkeit entsteht d. h. dass die gleichzeitig
gegebenen gleichartigen Empfindungen zwar nicht verschmelzen könnten,
wenn sie nicht gleichzeitig wären, jedoch nicht verschmelzen, weil
sie gleichzeitig, sondern weil sie gleichartig sind.

347. Wie mit der Einführung des qualitativen Unterschieds der
körperlichen Elemente ein neuer Gesichtspunkt in der Betrachtung
der physischen Welt eröffnet und damit eine neue Stufe im Aufbau
des Naturlebens erreicht wird, so treten mit der Berücksichtigung
des qualitativen Unterschieds der Bewusstseinselemente nicht nur die
einzelnen psychischen Bildungen, sondern auch deren Beziehungen zu,
unter und auf einander in eine neue Beleuchtung. Wurden dieselben
bis dahin nur auf die Thatsache hin angesehen, dass sie entweder
gleichzeitig oder nach einander ins Bewusstsein eintraten und in
Folge dessen, wie sie sonst immer beschaffen sein mochten, sich unter
einander associiren mussten, so werden dieselben von nun an eben so
ausschliesslich ihrer Verwandtschaft d. h. der ganzen oder theilweisen
Identität oder dem Gegensatz ihres Inhalts nach ins Auge gefasst,
in Folge deren sie, wenn sie einmal gleichzeitig oder successiv im
Bewusstsein vorhanden sind, unvermeidlich mit einander in Contact
treten müssen. Je nachdem jener Inhalt beschaffen, entweder ganz oder
theilweise derselbe oder ein ganz oder theilweise entgegengesetzter
ist, wird die Berührung der im Bewusstsein gleichzeitig vorhandenen
Vorgänge, welche einander in Folge der atomistischen Beschaffenheit
ihres gemeinsamen Trägers nicht auszuweichen vermögen, freundlich
oder feindlich sein d. h. dieselben werden sich im ersten Fall unter
einander verstärken d. h. mit einander verschmelzen, im zweiten Fall
unter einander schwächen d. h. einander gegenseitig hemmen. Jener
Vorgang entspricht der chemischen Anziehung zwischen qualitativ
gleichen, dieser dem Kampf zwischen qualitativ ungleichen Körpern,
von welchen der eine Bestandtheile enthält, welche zu dem andern
eine grössere Verwandtschaft besitzen als zu ihm selbst d. h. zu
ihm selbst im innerlichen Gegensatze stehen. Wie jene zu der
Verschmelzung der gleichen Körper, so führt dieser zur Ausscheidung
des Entgegengesetzten, worauf die zurückgebliebenen, nunmehr nicht
mehr gegensätzlichen Bestandtheile sich mit einander vereinigen.

348. Wie bei der Nichtberücksichtigung der qualitativen Beschaffenheit
des zu Verknüpfenden eine Association auf Grund der Gleichzeitigkeit
oder Succession, so findet bei Berücksichtigung derselben zwar
gleichfalls Association, aber in Folge der Gleichartigkeit oder des
Gegensatzes des zu Verknüpfenden statt. Zwar lässt sich die letztere
auf die erstere zurückführen, insofern Bewusstseinsphänomene, die
ihrem Inhalt nach identisch sind, als gleichzeitige deshalb sich
ansehen lassen, weil, wenn ihr Inhalt einmal gegeben ist, derselbe in
diesem Fall als der nämliche gegeben ist, welcher in allen folgenden
Fällen wiederkehrt. Allein, da jede Wiederholung desselben Inhalts
nichts desto weniger ein von der ursprünglichen Vorstellung desselben
verschiedener Act des Bewusstseins, also in diesem Betracht ein neues
Bewusstseinsphänomen und demnach mit jenem keineswegs gleichzeitig ist,
so kann der Grund der Verbindung beider demungeachtet nicht in deren
(nicht vorhandener) Gleichzeitigkeit, sondern muss in der (ganzen oder
theilweisen) Identität ihres Inhalts gesucht werden. Die Association
durch Gleichzeitigkeit, durch welche gleichsam "mechanische", und die
Association durch Gleichartigkeit, durch welche gleichsam "chemische"
Verbindungen zwischen Bewusstseinsvorgängen zu Stande kommen, ist
daher wesentlich verschieden.

349. Wie in der reinen Anschauung d. i. in der homogenen Complication
homogene Empfindungen, so werden in dem durch Verschmelzung
entstandenen Bewusstseinsgebilde homogene, sei es reine, sei es
gemischte Anschauungen unter einander verbunden. Da dieselben homogen
d. h. ihrem Inhalt nach gleichartig sind, so verstärken sie einander,
so dass das neu entstehende Bewusstseinsgebilde in seiner Intensität
die Intensitäten aller derjenigen Anschauungen vereint, aus deren
Verschmelzung unter einander es erwachsen ist. Von dieser Art sind die
sogenannten sinnlichen Vorstellungen, welche als solche kein primitives
Bewusstseinsgebilde, sondern erst auf Grund und durch Verschmelzung
zahlreicher einzelner, unter einander gleichartiger Anschauungen
allmälig geworden sind. Auf diesem Wege sucht der sogenannte
Anschauungsunterricht durch künstliche Veranstaltungen, welche
die wiederholte Vorführung gleicher Anschauungen durch Vorzeigung
des nämlichen Gegenstandes bezwecken, sinnliche Vorstellungen von
bedeutender Intensität zu erzeugen. Dieselbe stellt daher gleichsam
die Summe derjenigen homogenen Einzelanschauungen dar, aus denen sie
erwachsen, oder welche vielmehr in ihr zu einem Ganzen verwachsen
ist, zugleich aber auch einen Kern, durch dessen überlegen gewordene
Intensität jede im Verlauf des Bewusstseinsprocesses in denselben
eintretende homogene Anschauung herangezogen und mit welchem dieselbe
sofort, denselben neuerdings verstärkend, verschmolzen wird. Da
die Stärke auf diesem Wege gebildeter sinnlicher Vorstellungen mit
der Menge der Anschauungen, welche deren Unterlage im Bewusstsein
ausmachen, sich fortwährend steigert, so erklärt es sich, dass
solche, die aus den Anschauungen der Umgebung (z. B. der Heimat),
also aus den natürlicher Weise häufigsten entstanden sind, die
relativ grösste Stärke besitzen müssen und daher im Bewusstsein
am längsten und dauerhaftesten sich festsetzen, aber auch auf die
weiteren ihrerseits aus sinnlichen Vorstellungen auf was immer für
einem Wege abgeleiteten Bewusstseinsbildungen (z. B. Begriffe) den
grössten Einfluss üben müssen.

350. Wenn die sinnliche Vorstellung durch die Verschmelzung homogener
Anschauungen entsteht, so leuchtet ein, dass, wenn diejenigen
Anschauungen, welche die Unterlage einer gewissen sinnlichen
Vorstellung ausmachen, zwar unter einander homogen, aber zugleich
einem gewissen Kreise von Anschauungen, welcher seinerseits einer
sinnlichen Vorstellung als Basis dient, heterogen sind, auch die
durch die Verschmelzung der ersteren und die durch die Verschmelzung
der letzteren entstehende sinnliche Vorstellung unter einander
heterogen sein müssen. Dieselben werden je nach der Beschaffenheit
der Anschauungskreise, aus welchen sie erwachsen sind, unter einander
entweder gänzlich disparat, oder ihrer Heterogeneität ungeachtet mehr
oder minder unter einander verwandt d. h. ihrem Inhalt nach theilweise
identisch, theilweise entgegengesetzt d. h. zum Theil aus gleichen,
zum Theil aus entgegengesetzten Elementen zusammengesetzt sein. Findet
das erstere statt, so werden dieselben, wenn sie gleichzeitig oder
nach einander im Bewusstsein vorhanden sind, sich zu einer Complication
höherer Ordnung, d. i. zu einer solchen verbinden, deren Bestandtheile
im Gegensatz zu den früher erwähnten niederer Gattung weder blosse
primitive Bewusstseinsacte, noch Empfindungen oder Anschauungen,
sondern selbst schon sinnliche Vorstellungen, also Gebilde höherer
Art sind. In letzterem Falle dagegen werden dieselben unter
einander, so gut es geht, sich zu verschmelzen trachten, wobei die
identischen Bestandtheile in beiden die Verschmelzung begünstigen, die
entgegengesetzten in beiden dagegen dieselbe mehr oder minder vereiteln
werden. Dadurch wird ein Bewusstseinsgebilde zum Vorschein kommen,
in welchem ein Theil völlig verschmolzen d. h. eins, der andere Theil
dagegen der Verschmelzung widerstrebend d. h. in Spannung begriffen
ist. Jener setzt sich aus den in sämmtlichen sinnlichen Vorstellungen,
aus welchen das neue Gebilde erwachsen ist, identischen, dieser dagegen
aus den in sämmtlichen obigen sinnlichen Vorstellungen von einander
abweichenden d. h. sich unter einander ausschließenden Bestandtheilen
zusammen; jener, der die Intensität sämmtlicher jenen sinnlichen
Vorstellungen gemeinsamen Bestandtheile in sich vereinigt, besitzt
eine vergleichsweise überlegene, die widerstrebenden Bestandtheile
gleichsam "wider Willen" festhaltende Kraft; dieser, dessen einzelne
Bestandtheile sich unter einander ausschliessen d. h. trennen
möchten, aber nicht können, weil sie mit den identischen zu einem
Ganzen vereinigt sind, stellt einen Zustand in sich gespannter,
einander gegenseitig hemmender, aber nicht vernichtender, relativ
schwacher Kräfte dar, welche gegenüber der gesammelten Intensität der
in dem bleibenden Bestandtheil verschmolzenen identischen Elemente
gleichsam verschwinden. Das so entstandene Bewusstseinsgebilde, das
zu seinem Inhalt die sämmtlichen sinnlichen, unter einander verwandten
Vorstellungen, aus denen es entstanden ist, gemeinsamen Bestandtheile,
zu seinem Umfang d. i. zu seiner Grundlage im Bewusstsein aber die
Summe dieser sinnlichen Vorstellungen, aus denen es entstanden ist,
selbst hat, ist das sogenannte Gemeinbild oder im psychologischen
Sinne der Begriff.

351. Derselbe kommt als psychisches mit dem belebten Naturkörper
als physischem Gebilde insofern überein, als er, wie dieser, einen
bleibenden unveränderlichen und einen veränderlichen, wechselnden
Bestandtheil in sich schliesst. Vermöge des ersteren bleibt das
Gemeinbild: Baum, das aus den sinnlichen Vorstellungen Birke, Buche,
Tanne, Apfelbaum, Palme u. s. w. durch Verschmelzung der diesen allen
gemeinsamen Bestandtheile entstanden ist, immer dasselbe, während
die Merkmale, welche der Birke oder der Buche eigenthümlich sind,
beliebig mit einander vertauscht werden und so das Gemeinbild bald
in das Bild einer Birke, bald in das einer Buche u. s. w. verändern
können. Letztere, die sinnlichen Vorstellungen Birke, Buche, Fichte
u. s. w. machen den Umfang, die ihnen allen gemeinsamen Merkmale den
Inhalt des Begriffs Baum aus. Dieser als identischer Vereinigungspunkt
des dem ganzen Umfang Gemeinsamen stellt gleichsam "die Seele"
dieses ganzen Kreises von Vorstellungen dar, in welchen derselbe
als allen gemeinsamer Bestandtheil erscheint. Mit der sinnlichen
Vorstellung hat der Begriff als psychisches Gebilde gemein, dass
er wie diese durch Verschmelzung homogener Elemente entstanden
ist. Er unterscheidet sich aber von ihr durch den Umstand, dass die
Anschauungen, aus welchen die sinnliche Vorstellung erwächst, keine
andern als durchaus homogene Elemente in sich schliessen, während die
sinnlichen Vorstellungen, aus welchen der Begriff erwächst, neben den
homogenen d. i. in allen identischen Bestandtheilen, die im Begriff mit
einander verschmelzen, noch heterogene ja einander entgegengesetzte
Bestandtheile in sich schliessen, die im Begriff einander hemmen und
gegenseitig in Spannung versetzen. So hat die Vorstellung Birke mit
der Vorstellung Tanne alle diejenigen Merkmale gemein, die der Begriff
Baum enthält, aber in jener ist zugleich das Merkmal des belaubten,
in dieser das des Nadeln tragenden Baumes enthalten, die sich unter
einander ausschliessen. Da sich nun niemals vorhersagen lässt, ob
nicht künftig ins Bewusstsein eintretende Anschauungen sinnliche
Vorstellungen herbeiführen werden, welche zwar unter denselben
bereits vorhandenen Begriff fallen, aber zugleich Elemente in sich
schliessen, welche mit jenen aller bisherigen sinnlichen Vorstellungen
des Umfangs jenes Begriffs im Widerspruch stehen, so muss der Umfang
des Gemeinbildes und dadurch dieses selbst ein gewisses Schwanken
zeigen, von welchem die sinnliche Vorstellung, die nichts anderes
als die Verschmelzung sämmtlicher ihr zu Grunde liegenden homogenen
Anschauungen zu einem einzigen Ganzen ist, sich frei erhält. Je
nachdem der Zusammenhang des Begriffs mit den Vorstellungen, aus
denen er stammt, mehr oder minder lose d. h. entweder ein solcher
ist, bei welchem die gemeinsamen Bestandtheile von den sich unter
einander ausschliessenden sich noch nicht so weit losgemacht haben,
dass nicht mit dem Vorstellen der ersteren zugleich eines oder einige
der letzteren (mit Ausschluss der übrigen) vorgestellt würden,
während im anderen Falle die Verbindung zwischen den gemeinsamen
und den individuellen Bestandtheilen bereits so weit gelockert ist,
dass die ersteren rein und ohne Begleitung eines oder mehrerer der
letzteren vorgestellt werden, scheiden sich die Begriffe als psychische
Gebilde in eine niedere und eine höhere Ordnung, welche zugleich an
die entsprechende der organischen Körperwelt erinnern. Im ersten Fall,
so lange das Gemeinbild nicht rein, sondern jedesmal unter Begleitung
eines oder mehrerer Merkmale, die nicht dem ganzen Umfang, sondern
nur einem Theile desselben eigen sind, vorgestellt wird (z. B. der
Baum nur als belaubt, während es doch auch Coniferen gibt, oder nur
als ästig, während es doch auch astlose Bäume wie die Palmen gibt),
erscheint dasselbe gleichsam wie die Pflanze an den Boden, aus dem
es erwachsen ist d. i. an die sinnlichen Vorstellungen geheftet,
die dessen Unterlage im Bewusstsein bilden, ohne sich von der
"Scholle" losmachen und frei (wie das Thier in seinen Bewegungen)
über die sinnlich anschauliche Basis, in welcher es seine Wurzel hat,
erheben zu können. Auf dieser Stufe wird z. B. das Dreieck, weil es
aus den Vorstellungen eines recht-, stumpf- oder spitzwinkeligen,
eines gleichseitigen, gleichschenkligen oder ungleichseitigen, eines
ebenen oder sphärischen Dreiecks erwachsen ist, jedesmal unter dem
Bilde eines von diesen d. h. es wird entweder als spitzwinklig oder
als rechtwinklig, als gleichseitig oder als ungleichseitig, niemals
aber als keines von diesen d. i. rein als Dreieck (in abstracto)
vorgestellt. Die Eierschale der sinnlichen Vorstellungen, aus
denen es erwachsen ist, klebt dem aus dem Ei geschlüpften Küchlein
des psychischen Begriffs in diesem Stadium der psychologischen
Entwickelung gleichsam noch auf dem Rücken an. Dasselbe erhält sich
um so länger, je kleiner und homogener der Kreis der sinnlichen
Vorstellungen ist, aus welchen das Gemeinbild seine Nahrungssäfte
zieht. Denn je gleichartiger die sinnlichen Vorstellungen unter
einander d. h. je geringer an Zahl und Intensität die unter einander
entgegengesetzten Bestandtheile derselben sind, desto weniger hemmen
und verdunkeln sich dieselben unter einander; desto weniger wird der
Zusammenhang zwischen den identischen und den particulären Merkmalen
d. i. zwischen dem Begriff und seinem Umfang aufgehoben, und desto
leichter werden mit den gemeinsamen auch eines oder einige besondere
Merkmale d. h. wird das Gemeinbild selbst in einer besonderen Färbung
(in concreto) vorgestellt. Je reicher und mannigfaltiger dagegen
der Umkreis der sinnlichen Vorstellungen wird, um desto grössere
Gegensätze finden zwischen den letzteren statt, um so mehr löschen die
einander entgegengesetzten Merkmale sich unter einander völlig aus,
um desto mehr wird der Zusammenhang zwischen den allen gemeinsamen
und den individuell besonderen Merkmalen gelockert, um desto weniger
tritt eine Nöthigung ein, im Gemeinbilde nebst den gemeinsamen
auch noch eines oder einige nur particuläre Merkmale vorzustellen,
um desto mehr löst sich das Gemeinbild als ein abstractes von der
ihm zu Grunde liegenden Vorstellungsunterlage im Bewusstsein ab und
schwebt als ein auf dieser zwar erwachsenes, aber nicht mehr mit ihr
verwachsenes Gebilde frei über der Sphäre concreter Vorstellungen. Erst
das auf diese Stufe der Entwickelung erhobene Gemeinbild ist wahres
Allgemeinbild d. h. stellt nicht blos eines, einige oder viele Theile
des Umfangs, sondern im eminenten Sinn den ganzen Umfang vor und kann,
statt wie bisher an einem Theile desselben mit Ausschluss des übrigen
zu haften, über alle Theile desselben ohne Ausnahme frei hin und her
sich bewegen. Das so geläuterte Gemeinbild ist wirklich Begriff, denn
es begreift sämmtliche Glieder seines Umfangs unter sich, zugleich in
dieser abstracten Reinheit aber auch ein blosses "Ideal", dem sich das
wirklich vorhandene Gemeinbild zwar zu nähern, welches dasselbe jedoch
niemals vollkommen zu erreichen vermag, weil der Zusammenhang zwischen
den gemeinsamen und zum Begriff verschmolzenen und den individuellen,
den sinnlichen Vorstellungen angehörigen Merkmalen zwar vermindert,
aber niemals zerrissen werden kann und daher der thatsächliche Begriff
eine, wenn auch noch so leichte Färbung auf Grund seines Ursprungs
immer an sich tragen muss. Letzteres ist um so weniger zu verwundern,
als ja auch der thierische Organismus, seiner, mit der Sesshaftigkeit
der Pflanze verglichen, frei erscheinenden Beweglichkeit ungeachtet,
dem Boden seiner Heimat und den Bedingungen seiner Geburt verhaftet
bleibt und sich fremden Himmelsstrichen entweder gar nicht, oder nur
höchst allmälig durch Acclimatisation einverleibt.

352. Die höchste Stufe erreicht der Begriff, wenn er sich selbst
begreift d. h. wenn er das auf dem Grunde der sinnlichen Vorstellungen
erwachsene Gemeinbild sich selbst vorstellt. Dieses geschieht, wenn
das im Bewusstsein vorhandene Gemeinbild jedes andere in demselben
Bewusstsein auftauchende homogene, psychische Gebilde in Folge dieser
seiner Homogeneität als gleichartig erkennt, vermöge seiner überlegenen
Intensität an sich zieht und mit sich selbst verschmelzt. Dasjenige
Gebilde, von welchem die Verschmelzung ausgeht (das thätige), spielt
dabei die herrschende, dasjenige, welches mit demselben verschmolzen
wird, das leidende, die unterthänige Rolle. Jenes erscheint als
das überlegene, das sich des anderen bemächtigt; gleichsam als
der Krystallisationspunkt, an welchen das andere anschliesst, oder
als der Organismus, welchem das andere zur Nahrung dient. Wie der
thierische Organismus den pflanzlichen (die vegetabilische Nahrung)
sich assimilirt, so wird von dem mächtigeren psychischen Gebilde das
ihm homogene schwächere appercipirt d. h. nicht blos als vorhanden
wahrgenommen (percipirt), sondern als verwandt d. h. ihm zugehörig
erkannt und als das seinige in Besitz genommen (appercipirt). Hat
sich einmal der Begriff Baum im Bewusstsein festgesetzt, so reisst
derselbe jede später in dasselbe eintretende homogene Erscheinung
d. i. jede künftige Wahrnehmung irgend eines Baumes sofort als
ihm zugehörig an sich und fügt sie als ihm Gleichartiges zu sich
als bereits vorhandenem psychischem Gebilde hinzu, welches dadurch
naturgemäss zu immer grösserer Stärke und dem entsprechender Macht
im Bewusstsein anwachsen muss.

353. Psychische Bildungen dieser letzten Art, welche nicht mehr weder
zunächst noch entfernt blosse Perceptionen d. h. wie die primitiven
Bewusstseinsacte durch extensive (äussere) veranlasste intensive
(innere) Zustände oder, wie die Anschauungen, sinnlichen Vorstellungen,
niederen und höheren Gemeinbilder aus jenen durch Complication oder
durch Verschmelzung entstanden, sondern Apperceptionen d. h. andere
ihresgleichen beherrschende Phänomene sind, lassen sich als im
Bewusstsein vertheilte Centralmassen betrachten, deren jede zahlreichen
andern zum Mittel-, Sammel- und Vereinigungspunkte dient. Da die Macht
derselben über andere ihresgleichen von ihrer eigenen, relativ diesen
überlegenen Intensität abhängt, indem jede Vorstellungsmasse eine ihr
ähnliche desto leichter sich aneignen wird, je stärker sie selbst
und je schwächer die letztere ist, so ist es klar, dass diejenige,
welche durch die Umstände begünstigt, nothwendig von allen die stärkste
werden, zugleich die stärkste Anziehungskraft erlangen und schliesslich
die übrigen alle oder doch fast alle sich aneignen muss. Eine solche
aber ist diejenige Vorstellungsmasse, welche sich auf den Vorstellenden
d. i. auf den Träger des Bewusstseins selbst bezieht und deshalb
als "Ich" bezeichnet wird. Während z. B. die Vorstellung des Baumes
nur dann im Bewusstsein vorhanden sein kann, wenn die Anschauungen,
aus welchen dieselbe erwächst, wirklich in das Bewusstsein jemals
eingetreten sind, und demnach jenem nothwendig fehlen muss, dem jene
Anschauungen mangeln (eben so wie dem Blinden die Farben, dem Tauben
die Töne u. s. w.), kann eine auf sich selbst bezügliche Vorstellung
dem Vorstellenden niemals abgehen, weil die Anschauungen, auf deren
Grund dieselbe erwächst (zunächst die Empfindungen des eigenen
Leibes) demselben nie fehlen können; und dieselbe muss nothwendig
unter allen übrigen die relativ höchste Intensität erreichen, weil
die Veranlassungen zu derselben mit jenen aller andern Vorstellungen
verglichen die häufigsten und, wie der eigene Leib, dem Bewusstsein
beinahe ununterbrochen gegenwärtig sind. Zwar durchläuft dieselbe
als psychisches Gebilde eine Reihe von Entwickelungsstadien, in
deren Verfolge sich dieselbe immer mehr von überflüssigen d. h. zur
reinen Ich-Vorstellung wesentlich nicht erforderlichen Bestandtheilen
befreit und aus einer Vorstellungsmasse, welche zunächst aus den
Vorstellungen des eigenen Leibes und seiner Bestandtheile besteht,
allmälig zu jener des reinen Sichselbstwissens im Selbstbewusstsein
hinauf läutert; allein ihre bevorzugte Stellung und in deren Folge
ihre appercipirende Macht über die übrigen Bildungen im Bewusstsein
bleibt immer dieselbe und bewirkt, dass zuletzt nur dasjenige als im
Bewusstsein wirklich vorhanden angesehen wird, was, weil vorhanden,
durch das Ich appercipirt und als das Seinige angeeignet worden ist.

354. In dieser appercipirenden Macht, welche die Ich-Vorstellung
über die Gebilde des Bewusstseins im weitesten Umfange ausübt,
liegt der Grund, weshalb der sich selbst begreifende Begriff
d. i. das zur appercipirenden Vorstellungsmasse gewordene Gemeinbild
"Ich-ähnliche" Vorstellung genannt werden kann. Derselbe kann,
während er für die Vorstellungen seines Kreises im Bewusstsein
das Centrum bildet, seinerseits von der Ich-Vorstellung, welche
das Centrum des individuellen Bewusstseins ausmacht, als zu ihrem
Kreise gehörig appercipirt werden. Jeder derselben lässt sich mit
einem jener kleineren Centralkörper, im Weltraum vergleichen, welcher
seinerseits wieder einem grösseren ein ganzes Weltsystem beherrschenden
Centralkörper unter- und in dessen Umkreis eingeordnet ist. So wenig
die Abhängigkeit von diesem die relative Selbstständigkeit jenes ersten
anderen gegenüber, so wenig schliesst die Apperception des zum Begriff
gewordenen Gemeinbilds durch das Ich die Fähigkeit des ersteren aus,
seinerseits zu seinem Kreise gehörige Vorstellungen als die seinigen
zu appercipiren. Wie die Ich-Vorstellung den appercipirenden Begriff
im Grossen, so stellt jeder für sich ein Ich im Kleinen dar und öffnet
dadurch die Möglichkeit, unabhängig vom Ich als ein solches für sich
d. h. als ein anderes Ich im Bewusstsein sich geltend zu machen.

355. Abnorme Erscheinungen des Bewusstseinslebens, in welchen neben
der herrschenden Ich-Vorstellung eine zweite deren Rolle usurpirende
Vorstellungsmasse ihrerseits einen Theil des Bewusstseinsinhalts an
sich reisst, so dass in Folge dessen, wie etwa in einem und demselben
Weltsystem zwei Centralkörper, so in einem und demselben Bewusstsein
zweierlei Ich sich in die Herrschaft über dasselbe getheilt zu haben
scheinen, lassen sich auf die übermächtig gewordene Apperception
solcher "Neben-Iche" zurückführen. In dem Geisteskranken, der sich in
seinem Delirium für Gott Vater hält und als solcher beträgt, während
er in den sogenannten lichten Zwischenräumen bei gutem Verstande
ist und seinem eigentlichen Ich gemäss denkt, will und handelt, ist
jene fixe Idee zum ichartigen Mittelpunkt geworden, um welchen herum
der mit demselben harmonirende Theil des Bewusstseinsinhalts sich
krystallisirt, während der mit ihm disharmonirende von demselben
abgestossen wird. Folge davon ist, dass der Kranke während seiner
gesunden Momente von dem, was er während seines "Aussersichseins"
geredet und gethan, kein Bewusstsein haben kann, da die betreffenden
Bewusstseinsphänomene nicht von seiner d. i. von der Ich-Vorstellung
seines gesunden Bewusstseinslebens, sondern von einer dieser fremden,
wenngleich innerhalb desselben "Bewusstseinsraums" befindlichen,
ihrerseits als Ich-Vorstellung fungirenden Vorstellungsmasse
appercipirt worden sind. Folge aber auch, dass ein solcher Kranker
von der Haltlosigkeit seiner Selbsttäuschung niemals überzeugt werden
kann, da ja derjenige, der Ueberzeugungsgründen zugänglich ist, mit
demjenigen, welcher derselben bedarf, zwar real d. i. insofern deren
beiderseitigem Bewusstsein derselbe atomistische Träger zu Grunde
liegt, identisch, dem Bewusstsein d. h. dem von einer und derselben
Ich-Vorstellung appercipirten Umkreis psychischer Vorgänge nach aber
von demselben gänzlich verschieden ist.

356. Mit dem Erwachen und allmäligen Heranwachsen der Ich-Vorstellung,
welches nicht mit dem Erwachen des Bewusstseins d. h. mit dem
Auftauchen psychischer Vorgänge zu verwechseln ist, tritt in der
Entwicklungsgeschichte des psychischen Lebens ein Wendepunkt ein. Das
neugeborne Kind hat ein Bewusstsein d. h. in demselben finden nicht
nur primitive Bewusstseinsacte, sondern bereits aus solchen durch
Complication und Verschmelzung sich bildende Empfindungen, Anschauungen
und sinnliche Vorstellungen, aber es hat keine Ich-Vorstellung und
in Folge dessen findet keine Apperception der in ihm vorgehenden
Bewusstseinsacte als der seinigen statt. Wie die Processe in
der Körperwelt des Weltraums vor dem Auftreten des Menschen zwar
gesetzmässig ihren Verlauf nahmen, aber weder als solche gewusst, noch
von irgend einem Wesen als zu ihm in irgend einem Verhältniss stehend
auf sich bezogen werden, so wickeln sich die Processe im Bewusstsein
vor dem Auftreten der Ich-Vorstellung in diesem zwar gesetz- und
regelmässig ab, ohne jedoch als solche gewusst und von irgend einer
auf den Träger des Bewusstseins bezüglichen Vorstellungsmasse als die
ihrigen angeeignet zu werden. Während der leblose Naturkörper den
ihn bewegenden Impulsen der Naturkräfte Widerstand und bewusstlos
Folge leistet, ist es für den belebten Naturkörper, sobald er
sich, wie im Menschen, nicht blos zur Vorstellung, sondern zur
Vorstellung seiner selbst erhoben hat, charakteristisch, dass er das
Vorgestellte, die ihn umgebende Körperwelt, in ein Verhältniss zu
sich, dem dieselben und sich selbst vorstellenden Wesen setzt und
nicht blos als daseiend, sondern als um seinetwillen und für ihn
daseiend d. h. als sein "Eigenthum" betrachtet, Sonne und Mond als
bestimmt, ihm zu leuchten, Früchte und Thiere als bestimmt, ihn zu
nähren und zu kleiden, sich selbst als den Ziel- und Endpunkt des
gesammten sichtbaren Weltalls ansieht. In der Entwicklungsgeschichte
des Bewusstseins stellt der vor dem Erwachen und Mächtigwerden der
Ich-Vorstellung ablaufende Zeitraum gleichsam die vorgeschichtliche
(wie in der Entwicklungsgeschichte des Weltalls die vormenschliche)
Periode dar; innerhalb desselben sind zwar Bewusstseinsphänomene
verschiedenster Art (Vorstellungen, Gefühle, Begierden und Wünsche)
bereits vorhanden, aber erst mit dem Auftreten der Ich-Vorstellung in
ihrer Mitte werden sie von der letzteren als um ihretwillen vorhanden,
als zu ihr in Beziehung stehend und ihr zugehörig angesehen und dadurch
aus "unbewussten" d. h. von keinem Ich als die seinigen gewussten zu
"bewussten" d. h. zu nicht nur im Bewusstsein vorhandenen, sondern
auch von dem Ich dieses Bewusstseins als vorhanden gewussten und
als die seinigen anerkannten Bewusstseinsacten erhoben. Wie jener
Zeitraum, in welchem nur unbewusste Phänomene im Bewusstsein vor
sich gehen, gleichsam die Nachtseite, so macht derjenige, innerhalb
dessen nach dem Erwachen und Mächtigwerden der Ich-Vorstellung auch
bewusste psychische Zustände, und zwar in immer steigender Menge
auftreten, die Tagseite des psychischen Lebens aus. Letztere kann
durch vorübergehendes Erlöschen der Ich-Vorstellung (wie es z. B. in
der Ohnmacht, im Affect, im Delirium und periodisch wiederkehrend im
Schlafe stattfindet) eben so vorübergehende Unterbrechungen (gleichsam
Rückfälle in die Nacht des unbewussten Daseins), aber nur mit dem
bleibenden Aufhören der Ich-Vorstellung ein bleibendes Ende erfahren.

357. Wie die elementaren Bewusstseinsacte, so üben die durch
Complication oder Verschmelzung aus denselben entstandenen
Bewusstseinsgebilde höherer Ordnung, durch die Einheit des
atomistischen Trägers gezwungen, der kein Ausweichen gestattet,
gegenseitig Wirkungen auf einander aus. Jene vereinigen sich zu einer
Complication, wenn sie gleichzeitig oder succedirend, verschmelzen
mit einander, wenn sie dem Inhalt nach gleichartig sind. Letzterer
Act geht ohne Aufenthalt und widerstandslos vor sich, wenn die zu
verschmelzenden dem Inhalt nach identisch, dagegen zögernd und erst
nach vorausgegangenem Sichsträuben, wenn dieselben dem Inhalt nach
entgegengesetzt sind. In ersterem Falle verstärken, im zweiten Falle
schwächen die mit einander verschmelzenden Bewusstseinsacte einander,
indem in jenem Fall die Intensität des einen zu der Intensität des mit
ihm identischen andern einfach hinzugefügt, dagegen im zweiten Fall
ein Theil der Intensität des einen durch einen Theil der Intensität
des andern "gebunden" und dadurch sowol der gebundene Theil der
Intensität des einen, wie der ihn bindende Theil der Intensität des
anderen unwirksam gemacht, folglich die ursprüngliche Intensität
beider um diesen beziehungsweisen Bruchtheil vermindert wird. Der auf
diese Weise an Intensität gewachsene Bewusstseinsact ist, bildlich
gesprochen, heller, diejenigen, deren Intensität abgenommen hat,
sind beziehungsweise dunkler geworden, als sie vorher waren; der
Inhalt derselben aber ist derselbe geblieben. Geht die Verdunkelung
so weit d. h. hat die Intensität eines Bewusstseinsactes so sehr
abgenommen, dass die Gegenwart desselben im Bewusstsein unmerklich
wird (in ähnlichem Sinn, wie ein gleichwol vorhandener Lichtreiz
für die Netzhaut, ein vorhandener Schallreiz für den Gehörsnerv
unmerklich werden kann), so hat der Act die äusserste Grenze im
Bewusstsein, die sogenannte "Schwelle des Bewusstseins" (wie der
Licht- und Schallreiz die Reizschwelle) erreicht; sinkt sie noch
tiefer herab, letztere überschritten. Das sogenannte Vergessene
ist diesem Grade der Verdunkelung anheimgefallen, indem dasselbe,
da nichts, was einmal geschah, ungeschehen gemacht werden kann,
zwar ("als Spur") nach wie vor im Bewusstsein vorhanden, aber, weil
unmerklich geworden, seiner Wirksamkeit nach so gut wie nicht vorhanden
ist und sich von dem im Bewusstsein wirklich nicht vorhandenen, weil
niemals vorhanden gewesenen, nur dadurch unterscheidet, dass es unter
günstigen Umständen wieder hell zu werden d. h. sich im Bewusstsein
wieder bemerklich zu machen vermag. Geschieht letzteres, so heisst
der Bewusstseinsact ein erneuerter (z. B. die schon vergessen
gewesene Vorstellung eine Erinnerung), kein neuer, weil es der
frühere "latent" gewordene Zustand ist, welcher neuerdings "patent"
d. i. als wirksamer auftritt. Bewusstseinsacte dieser Art werden
im Gegensatz zu den ursprünglichen auf Veranlassung äusserer Reize
erzeugten (producirten) wiedererzeugte (reproducirte) genannt und,
je nachdem sie den ursprünglichen ganz oder nur zum Theile gleichen,
als unverändert (Gedächtnissacte) oder als verändert reproducirte
(Phantasieacte) unterschieden. Die Reproduction selbst erfolgt entweder
mit oder ohne Hilfe von Seite anderer Bewusstseinsacte; in letzterem
Fall erhellt sich der verdunkelt gewesene Bewusstseinsact gleichsam
von selbst, sobald und weil die bisherige Ursache seiner Verdunkelung
(z. B. der von Seite eines dem Inhalt nach entgegengesetzten Acts
ausgeübte Druck) aufgehört hat zu wirken; in ersterem Falle wird
der unter die Schwelle herabgedrückte Bewusstseinsact durch einen
andern über derselben befindlichen, welcher mit jenem, sei es durch
Gleichzeitigkeit oder Succession, associirt oder durch Gleichartigkeit
des Inhalts verwandt ist, wieder emporgezogen. Unmittelbar reproducirte
Vorstellungen, welche nach Herbart "freisteigende" heissen, machen,
wenn sie während des Schlafes auftreten, als Träume, wenn sie mitten
unter heterogenen Vorstellungskreisen im Wachen auftauchen, als
sogenannte Einfälle sich geltend, die, wenn sie dem Inhalt nach
als besonders überraschend oder glücklich erscheinen, wol auch
für "Eingebungen" (Inspirationen) gehalten zu werden, Veranlassung
geben. Mittelbar reproducirte Vorstellungen bilden, wenn sie zugleich
unverändert reproducirte sind, die Grundlage des auf Gedächtniss
und Ueberlieferung beruhenden sogenannten historischen Wissens; wenn
sie zugleich zum Theil verändert reproducirte sind, das wirksamste
Hilfsmittel eines nicht nur das vorhandene Vorstellungsmaterial frei
umformenden (dichtenden), sondern jede erregte Vorstellung durch
eine Fülle begleitender Vorstellungen bereichernden und dadurch die
gesammte Vorstellungsthätigkeit belebenden (phantasievollen) Schaffens.

358. Wie die Wirksamkeit der Körper im physischen, so ist die
Wirksamkeit der durch Complication oder Verschmelzung entstandenen
Vorstellungsmassen im psychischen Leben auf einander dreifacher
Art. Dieselbe erfolgt nach Art der mechanischen Wirksamkeit zwischen
Körpern, wenn die vorhandenen Vorstellungsmassen ohne Rücksicht
auf die Beschaffenheit ihres Inhalts lediglich auf Grund einer
äusseren Veranlassung mit einander verbunden oder von einander
getrennt werden; dagegen nach Art der chemischen Wirksamkeit zwischen
Körpern, wenn dieselben mit Rücksicht und in Folge der Beschaffenheit
ihres Inhalts mit einander verknüpft oder getrennt werden, endlich
nach Art der organischen Wechselwirkung zwischen den Körpern, wenn
durch zwei oder mehrere Bewusstseinsgebilde mit Rücksicht auf deren
Inhaltsbeschaffenheit ein neues hervorgebracht wird. Erstere Art
der Wirksamkeit findet bei der durch blosse Gleichzeitigkeit oder
Aufeinanderfolge veranlassten Vereinigung gewisser Vorstellungen zu
Begriffen, eben solcher Begriffe als Subjects- und Prädicatsbegriff
zu Urtheilen, eben solcher Urtheile als Prämissen und Schlusssatz
zu Schlüssen statt. Da dieselbe nicht durch den Inhalt des zu
Verknüpfenden, sondern lediglich durch die Thatsache bedingt wird, dass
das zu Verknüpfende gleichzeitig oder nach einander im Bewusstsein
erlebt, also erfahren wurde, so wird um der empirischen Natur des
Grundes der Verknüpfung halber die vollzogene Verknüpfung selbst eine
empirische und werden die durch eine solche zu Stande gekommenen
Begriffe, Urtheile und Schlüsse deshalb empirische genannt. Die
zweite Art der Wirksamkeit findet bei der durch Homogeneität bewirkten
Verschmelzung gewisser Anschauungen zu sinnlichen Vorstellungen, so
wie der durch Verschmelzung der identischen Bestandtheile gewisser
Vorstellungen verursachten Entstehung von Begriffen, endlich bei
der mit Rücksicht auf den Inhalt herbeigeführten Vereinigung bisher
getrennt gewesener, aber zusammengehöriger Begriffe als Subjects- und
Prädicatsbegriff im bejahenden, so wie durch Trennung bisher verbunden
gewesener, aber nicht zusammengehöriger Begriffe im verneinenden
Urtheil statt. Die dritte Art der Wirksamkeit aber zeigt sich,
wenn, wie z. B. im einfachen oder zusammengesetzten Syllogismus,
aus zwei (oder mehreren dem Inhalte nach verwandten d. i. theilweise
identischen, theilweise entgegengesetzten) Urtheilen (major, minor) ein
neues, dem Inhalte nach mit keinem der Vordersätze für sich, aber mit
allen zusammengenommen (wie die Folge mit der Summe ihrer Theilgründe)
identisches Urtheil erzeugt wird. Letztere beiden Arten der Wirksamkeit
werden zusammengenommen im Gegensatz zu der ersten, da dieselbe mit
Rücksicht, die erste dagegen ohne Rücksicht auf den Inhalt erfolgt,
um der logischen Natur des Grundes der Verknüpfung willen logische und
die auf diesem Wege zu Stande kommenden Bewusstseinsgebilde logische
Begriffe, logische Urtheile und logische Schlüsse genannt. Während die
erste den durch Erfahrung gegebenen Stoff in Folge der Gleichzeitigkeit
oder der Aufeinanderfolge desselben zu einem Ganzen verknüpft,
welches als solches ein blosses Aggregat des Erfahrenen d. h. eine
durch Wiederholung sich stets vermehrende Häufung einzelner Erfahrungen
ausmacht, verfährt die zweite Art der Wirksamkeit dem durch Erfahrung
gegebenen Bewusstseinsinhalt gegenüber kritisch (sichtend), indem
sie dasselbe mit Rücksicht auf dessen Inhalt prüft, das Verwandte
verbindet, das Verträgliche duldet, das Unverträgliche ausscheidet, die
dritte Art der Wirksamkeit aber begründend (constructiv), indem sie auf
Grund der im gegebenen Bewusstseinsmaterial gegebenen Bedingungen in
jenem nicht Gegebenes, aber durch diese Bedingtes folgert d. h. aus dem
Vorhandenen Nichtvorhandenes, aus dem Alten Neues erzeugt. Ersteres,
das rein empirische Verfahren, aus dem die sogenannte "Praxis" im Leben
und der "Empirismus" in der Wissenschaft sich entwickeln, kann auch
als "Juxtaposition" d. i. als Nebeneinanderreihung von Thatsachen,
das zweite als "Analyse", aus der die sogenannte Verstandesthätigkeit
im Leben und die zersetzende Kritik in der Wissenschaft hervorgeht,
die dritte als "Synthese", auf welcher die sogenannte Vernünftigkeit
im Leben und die aufbauende Deduction in der Wissenschaft beruht,
bezeichnet und je nach dem Vorherrschen der einen oder der andern
das individuelle Bewusstseinsleben als überwiegend empirisches
(mechanisches), verständiges (auflösendes) oder vernünftiges
(organisches) benannt werden. Sowol durch das empirische wie durch
das analytische Verfahren werden zwar nicht dem Stoff, aber doch der
Form nach neue Bewusstseinsbildungen, durch das organische werden
anstatt und auf Grund alter Bewusstseinsbildungen neue, denselben
gleichartige wiedererzeugt. Wie durch das Summirung vorangegangener
Bewusstseinsacte ein neuer entsteht, der eben nur die Summe der
früheren ist (z. B. das copulative Urtheil als Summe der copulirten
Urtheile; der auf vollständiger Induction ruhende Schlusssatz als
Summe der vollständig aufgezählten Prämissen), so kommen durch die
Verbindung des Zusammengehörigen aber Getrenntgewesenen, und durch
die Trennung des Nichtzusammengehörigen aber Verknüpftgewesenen
neue Bewusstseinsgebilde zu Stande, die von den früheren nicht
dem Stoff, aber der Form nach verschieden sind (z. B. das Urtheil:
die Erde bewegt sich um die Sonne, durch die Auflösung des früheren
Urtheils: die Sonne bewegt sich um die Erde). In beiden Fällen bestehen
diejenigen Bewusstseinsbildungen, aus welchen die neue entstanden ist,
neben dieser in der Weise fort, dass dieselben im ersten Fall Theile
der neu entstandenen ausmachen d. h. in derselben einbegriffen sind,
im zweiten Fall dagegen nur die Stelle gewechselt haben und, wie im
obigen Beispiel von dem Verhältniss der Erde zur Sonne, das frühere
Subject zum Prädicat, das frühere Prädicat zum Subjecte geworden
ist. Dagegen gehen bei der organischen Bewusstseinsthätigkeit
die Bewusstseinsbildungen, auf Grund welcher eine neue, denselben
gleichwerthige entstehen soll, in letzterer unter; die neue (z. B. der
Schlusssatz) tritt nicht blos neben die alten, sondern an die Stelle
der alten (der Prämissen); letztere werden durch die neu entstandene
Bewusstseinsbildung weder vermehrt, noch ergänzt, sondern im vollen
Sinne des Wortes ersetzt und wie die Schildwache von ihrem Posten
durch deren Nachfolger abgelöst. Wie die Summe nicht mehr enthält
als ihre Summanden, das Product nicht mehr als seine gleichviel in
welcher Ordnung multiplicirten Factoren, so enthält auch das neue auf
Grund seiner Vorgänger organisch entstandene Bewusstseinsgebilde,
die Folge, nicht mehr und nicht weniger als diese (die Gründe)
zusammengenommen, mit dem Unterschied, dass die Summanden in der
Summe, die Factoren im Product unverändert fortbestehen, während
die Theilgründe in der Folge fortan ununterscheidbar mit dieser
zur Einheit zusammenfliessen. Letztere Art des Zusammenhanges
unter Bewusstseinsgebilden stellt gleichsam eine fortlaufende
Kette von Gründen und Folgen dar, in welcher jedes einzelne Glied
alle vorangegangenen in sich schliesst und seinerseits von allen
folgenden umschlossen wird, und welche sich mit der organischen
Kette vergleichen lässt, welche durch Fortpflanzung geschlechtlich
geschiedener Organismen von Generation zu Generation hin gebildet
wird. Wie in jeder der letzteren die Spur aller Stammeltern, so
erhält sich in jedem Gliede der ersteren, als Folge betrachtet, die
Spur aller Stammgründe. Und wie jene durch die organische Umbildung
sämmtlichen in den vorangegangenen elterlichen Organismen enthaltenen
Stoffs entstanden, so ist diese durch das causale Zusammenwirken
aller in den vorangegangenen Gliedern der Kette wirksam gewesenen
Theilgründe begründet.

359. Alle bisher in Betracht gezogenen Bewusstseinsvorgänge waren
entweder primitive Bewusstseinsacte, oder solche, welche aus
diesen in Folge der zwischen ihnen herrschenden quantitativen und
qualitativen Beziehungen entstanden sind. Machen nun jene Beziehungen,
von den mittels derselben hervorgerufenen Bewusstseinsgebilden
abgesehen, abgesondert für sich im Bewusstsein sich geltend, so
entsteht eine neue Classe von psychischen Phänomenen, die von der
ersteren zwar insoweit abhängig ist, als sie ohne Vorhandensein
jener überhaupt nicht entstände, sich aber zugleich dadurch
von jener unterscheidet, dass ihre Veranlassung nicht, wie bei
den primitiven Bewusstseinsacten, ausser dem Bewusstsein (in
Nervenreizen), sondern im Bewusstsein selbst liegt d. i. in den
Beziehungen, welche zwischen den einzelnen Bewusstseinsgebilden
im Bewusstsein selbst herrschen. Solche Beziehungen sind z. B. die
relative Unterdrückung oder im Gegensatz dazu die relative Befreiung,
welche Gebilde im Bewusstsein durch andere in demselben Bewusstsein
erleiden oder erleben, und die Bewusstseinsvorgänge, welche durch
solche veranlasst werden, z. B. die Unlust bei der Einklemmung,
die Lust bei der Erlösung eines Bewusstseinsgebildes durch andere,
werden Gefühle genannt. Während alle primitiven Bewusstseinsacte und
in Folge dessen alle aus denselben in directer Reihe gewordenen, wenn
auch in noch so entfernter und sinnlich abgeblasster Weise zu ihrem
Gegenstand ein äusseres Object haben, ist das Object der Gefühle,
das relative Verhältniss der Bewusstseinsgebilde im Bewusstsein zu
einander, im eminenten Sinne ein inneres und der Inhalt derselben dem
Inhalt der (sinnlichen wie unsinnlichen) Vorstellungen (Anschauungen
oder Begriffe) durchaus unähnlich. Dieselben lassen sich als psychische
Phänomene mit jenen physischen vergleichen, deren Ursache nicht in den
physikalischen Atomen und deren Verknüpfung zu Körpern, sondern in dem
die Zwischenräume der physikalischen Atome ausfüllenden Weltäther und
dessen Beziehungen zu dem physischen Stoffe zu suchen ist. Licht,
Wärme, Magnetismus und Elektricität stellen Erscheinungen dar,
deren Grund nicht in den Atomen, sondern zwischen denselben liegt;
Lust und Unlust, Freude und Schmerz Phänomene, deren Grund nicht
oder doch wenigstens nicht immer in dem Inhalt, sondern in der Lage
gewisser Vorstellungen oder Vorstellungsmassen im Bewusstsein zu
finden ist. Die Vorstellung des abwesenden Freundes ist von einem
Unlustgefühl begleitet; nicht weil uns die Vorstellung des Freundes
unangenehm, sondern weil dieselbe durch das Bewusstsein seiner
Abwesenheit gedrückt und dadurch in eine Klemme gerathen ist, aus
welcher dieselbe zu befreien wir uns ausser Stande wissen. Dieselbe
Vorstellung tritt aber sogleich in Begleitung eines Lustgefühls
auf, wenn die Erscheinung des Freundes dieselbe aus dem Banne der
Vorstellung seiner Abwesenheit erlöst. Dieselben zerfallen (wie
die Aetherphänomene) von vornherein in zwei Classen, je nachdem
die Entstehung des Gefühls von der Beschaffenheit des Inhalts der
Vorstellung, an die es sich heftet (wie dort die Beschaffenheit des
Aetherphänomens von der Qualität der Körper, deren Zwischenräume er
ausfüllt) unabhängig, oder durch denselben (wie dort das Aetherphänomen
durch die specifische Natur der Körper) bedingt ist. Gefühle ersterer
Art, weil sie durch Vorstellungen jedes beliebigen Inhalts veranlasst
werden können, werden (von Herbart) treffend als "vage", solche,
die einen bestimmten Vorstellungsinhalt voraussetzen, als "fixe"
bezeichnet. Jene entsprechen in dieser Hinsicht den Licht- und
Wärme-, diese den magnetischen und elektrischen Phänomenen. Jene,
da sie nicht nur bei jeder Vorstellung andere, sondern auch bei
derselben Vorstellung verschiedene, um so mehr in verschiedenen mit
Bewusstsein ausgerüsteten Individuen immer wieder andere sein können
(indem nicht nur Demselben dasselbe bald süss bald bitter, sondern auch
Verschiedenen dasselbe verschieden schmeckt), haben mit Recht zu dem
Sprichwort, dass sich über den Geschmack (eigentlich das Gefühl) nicht
streiten lasse, Veranlassung gegeben und sind ihrer "Subjectivität"
halber auch wohl "subjective Gefühle" genannt worden. Diese, die
fixen Gefühle, trifft zwar obiges Sprichwort nicht, weil die an dem
Inhalt gewisser Vorstellungen haften und daher stets nicht nur im
einzelnen, sondern in jedem Bewusstsein im Gefolge dieser Vorstellungen
auftreten, also im Gegensatz zu den subjectiven Gefühlen "objectiv"
(allgemein d. i. allen gemein) sind; dafür tritt bei ihnen, wenn nicht
besonders Rath geschafft wird, der allgemeine Uebelstand des Gefühls,
dass es sich, statt auf Objecte, auf das Subject d. i. statt auf
Vorgestelltes, auf den Vorstellenden selbst bezieht (in Bezug auf
jenes also "dunkel" ist, nicht weiss, was es fühlt) so sehr in den
Vordergrund, dass dasselbe darum mit Misstrauen betrachtet und von dem
Versuch, auf dasselbe eine Wissenschaft zu gründen, ausgeschlossen
zu werden pflegt. Dieser Uebelstand schwindet, wenn das Gefühlte
(die Vorstellung) nicht, wie es bei dem sogenannten Angenehmen und
Unangenehmen der Fall ist, mit dem Gefühl in eins zusammenrinnt,
sondern, wie es bei dem Schönen und Hässlichen der Fall ist, von
dem Gefühl abgesondert vorgestellt d. h. nicht nur gefühlt, sondern
auch gewusst und als Subject eines ästhetischen Urtheils d. i. eines
solchen, dessen Prädicat ein Wohlgefallen oder Missfallen ausdrückt,
im Verhältniss zu einem andern Gleichartigen (ganz oder theilweise
Identischen oder Gegensätzlichen) seiner Uebereinstimmung oder
Nichtübereinstimmung nach mit diesem und dadurch seinem Werthe nach
beurtheilt wird. Wie der Inbegriff der Gefühle (der vagen wie der
fixen) überhaupt das Gemüth, so wird der Inbegriff der ästhetischen
Urtheile, die ihrer logischen Natur nach identische, also unfehlbare
Urtheile sind, der Geschmack, in dem besonderen Fall, wenn das Object
des ästhetischen Urtheils ein Wollen ist, das Gewissen genannt.

360. Wie die Aetherphänomene zeigen auch die Gemüthserscheinungen
Gegensätze und Intensitätsunterschiede, die bei jenen durch die
Bezeichnungen Helligkeit und Finsterniss einerseits, Hitze und Kälte
andererseits, bei diesen durch die Begriffe Lust und Unlust einer-,
Freude (gesteigerte Lust) und Schmerz (gesteigerte Unlust) andererseits
ausgedrückt werden. Wie unter den ersteren die magnetischen und
elektrischen Erscheinungen insofern eine besondere Stellung einnehmen,
als sie zu ihrem wirksamen Hervortreten der Gegenwart eines anderen
Körpers bedürfen, welcher entweder angezogen oder abgestossen
wird, so spielen unter den Gefühlen diejenigen, welche zu ihrem
Hervortreten der Gegenwart eines zweiten Bewusstseins bedürfen,
in welchem ähnliche oder entgegengesetzte Gefühle entweder wirklich
vorhanden sind oder doch vorhanden zu sein scheinen, die sogenannten
sympathetischen oder Mitgefühle, eine eigenthümliche Rolle. Dieselben
stellen als Mitleid und Mitfreude die Wiederholung eines wirklichen
oder vermeintlichen Leid- oder Lustgefühles des fremden im eigenen
Bewusstsein, dagegen als Neid und Schadenfreude die Begleitung eines
wahren oder vermeintlichen Lust- oder Leidgefühles im andern durch
ein dem Inhalt nach entgegengesetztes Gefühl im eigenen Bewusstsein
dar. Fremdes und eigenes Gefühl sind im ersten Fall gleich-, im
letzteren ungleichnamig. Wie der elektrische Strom durch sogenannte
Induction einen ihn in gleicher oder entgegengesetzter Richtung
begleitenden, so erzeugt fremdes wirkliches oder vermeintliches
Gefühl durch Nachahmung das ihm gleiche oder entgegengesetzte
im eigenen Bewusstsein. Leid und Freude wirken ansteckend wie
Weinen und Lachen und pflanzen sich unwillkürlich, ja wider Willen
von einem zum andern fort. Sympathetische Gefühle haben daher,
auch wenn sie wie Mitleid und Mitfreude einen guten oder wie Neid
und Schadenfreude einen schlimmen Charakter zu haben scheinen und
Veranlassung zu wohlthätigen wie zu feindseligen Handlungen werden
können, im Grunde weder den einen noch den andern, sondern entstehen
durch einen blossen Naturprocess. Da dieselben jedoch, um zu Tage
zu treten, der Gegenwart eines zweiten Individuums bedürfen, so
weisen dieselben über den Umkreis des einzelnen hinaus und stellen
zwischen diesem und dem andern eine zunächst blos ideelle d. h. nur
im Bewusstsein des Mitfühlenden vorhandene Verbindung her, die aber,
wenn das Gefühl Willensentschliessungen und in deren Folge Handlungen
nach sich zieht, zu einer realen, den andern entweder anziehenden
(sympathische Annäherung) oder von sich entfernenden (antipathische
Abstossung) Beziehung werden, daher die Gesellung der Individuen
entweder befördern oder hemmen kann, daher die sympathetischen
Gefühle auch als sociale oder gesellige Gefühle bezeichnet und die
aus denselben entspringenden Attractionen und Repulsionen zwischen
den Individuen mit den Wirkungen zwischen den physikalischen Atomen
wirksamer Anziehungs- und Abstossungskräfte verglichen werden.

361. Wie plötzlich zu grosser Intensität gesteigerte und über
einen ausgedehnten Raum sich verbreitende Aetherphänomene als
(magnetisches, elektrisches) "Ungewitter", so werden plötzlich
hochgesteigerte Gefühle, wenn dieselben sich über den grössten
Theil des Bewusstseins oder über das ganze Bewusstsein in der Weise
ausbreiten, dass die Ich-Vorstellung unterdrückt und die von dieser
ausgehende, beherrschende Macht vorübergehend aufgehoben wird,
als Affecte bezeichnet. Wie jene ihres keineswegs unvorbereiteten,
aber unvermutheten Auftretens halber Ausnahmen von dem gewohnten
Naturlauf, so scheinen diese, da sie, obgleich nicht ohne Grund,
doch ohne bekannten Grund erfolgen, gesetzlose Unterbrechungen
des regelmässigen Bewusstseinsverlaufs zu bilden, daher sie, wie
jene als elementare, so als psychische Zufälle betrachtet zu werden
pflegen. Dort scheint die Natur, hier ist in Folge der Unterdrückung
der Ich-Vorstellung der im Affect Befindliche ausser sich und
die durch das aussergewöhnliche Ereigniss in der Natur (Erdbeben,
Sturmflut, Blitzstrahl u. s. w.) etwa angerichteten Verheerungen
können eben so wenig den (vorübergehend ausser Wirksamkeit gesetzt
zu sein scheinenden) Naturgesetzen, als die etwa im Zorn verübten
unerlaubten oder gemeinschädlichen Handlungen dem (vorübergehend
seiner Herrschaft über das Bewusstsein beraubten) Ich des Zornigen
zur Last gelegt werden. Folge der plötzlichen Lösung des Bandes
zwischen der Ich-Vorstellung und dem bis dahin von dieser beherrschten
Bewusstseinsinhalt ist es auch, dass die etwa bestehenden Associationen
zwischen inneren Gemüths- und äusseren Körperbewegungen widerstandslos
zum Ablauf kommen und daher der vorhandene Gemüthszustand z. B. des
Zornes, dessen Aeusserung sonst durch die Schranken des Wohlanstandes
gehemmt oder doch gezügelt würde, sich rücksichtslos in masslose
Reden und Handlungen umsetzt. Je nachdem die Ursache, durch welche die
Ich-Vorstellung und deren Herrschaft unterdrückt wird, darin besteht,
dass plötzlich eine zu grosse Menge von Vorstellungen auf einmal ins
Bewusstsein eindringt, neben welchen jene sich nicht zu behaupten
vermag, oder dass Umstände eintreten, welche bewusstes Vorstellen
(also auch das der Ich-Vorstellung) überhaupt unmöglich machen,
werden die Affecte in sthenische (Affecte der Stärke) und asthenische
(Affecte der Schwäche) eingetheilt. In jenen wird die Ich-Vorstellung
gehemmt, während die durch den Affect herbeigeführten Vorstellungen
einander gegenseitig unterstützen; in diesen werden die letzteren
sich zugleich unter einander selbst hemmen. Ersterer Art ist der Zorn,
welcher beredt, letzterer der Schrecken, welcher stumm macht.

362. Wie das in der Zeit vor sich gehende wirkliche Geschehen
in der physischen, so ist auch das in der psychischen Welt ein
dreifaches. Wie die erste Art desselben in der Körperwelt darin
besteht, dass der Körper sich bewegt d. h. seinen Ort im Raume, so
besteht die erste Art des Geschehens in der Bewusstseinswelt darin,
dass der Bewusstseinsact aus seinem gegenwärtigen in einen anderen,
also zukünftigen Zustand überzugehen strebt d. h. seinen "Ort"
im Bewusstsein verändert. Von dieser Art ist das Aufstreben einer
durch andere verdunkelten d. h. unter die Schwelle des Bewusstseins
gedrückten Vorstellung aus der Tiefe nach oben gegen die hemmenden
Widerstände. Jede auf diese Weise im Streben begriffene Vorstellung
stellt ein Begehren dar, dessen Gegenstand, der zu erreichende Zustand
der Vorstellung, abwesend, und dessen Befriedigung eben die Erreichung
jenes Zustandes der Vorstellung selbst ist. Folge des Gesagten ist,
dass ohne Vorstellung des Begehrten keine Begierde entstehen (ignoti
nulla cupido), aber auch, dass jede Vorstellung Sitz einer Begierde
werden kann. Dieselbe wird gesteigert, je mehr Hindernisse sich der
Erreichung ihres Ziels in den Weg stellen d. h. je grösser die Zahl
und der Druck derjenigen Vorstellungen ist, welche dem Inhalt der
aufstrebenden Vorstellung des Begehrten entgegengesetzt sind. Die
Vorstellung der Nahrung erzeugt in dem Hungrigen eine Begierde, weil
sich dieselbe durch die Abwesenheit ihres Gegenstandes (den Mangel
an Nahrung) in gedrücktem Zustande befindet. Dieselbe strebt nach
Befriedigung, indem der Hungrige diejenigen Hindernisse zu beseitigen
sucht, welche der Anwesenheit des Begehrten (der Herbeischaffung von
Nahrungsmitteln) im Wege stehen. Sind dieselben beseitigt d. h. ist
die Nahrung nicht nur herbeigeschafft, sondern der Hungrige wirklich
in deren Genuss begriffen, so hört die Begierde auf. Die Befriedigung
ist erreicht, die Vorstellung der Nahrung, die bis dahin eine blosse
Einbildung war, ist zur Empfindung, die bis dahin nur "imaginirte"
zur "geschmeckten" Speise geworden d. h. die Vorstellung der Nahrung
hat sich aus dem Zustande einer Fiction in den einer sinnlichen
Wahrnehmung bewegt, also ihren "Ort" im Bewusstsein wirklich verändert.

363. Je nachdem der Gegenstand einer aufstrebenden Vorstellung
ein sinnlicher oder nicht-sinnlicher (intellectueller), kann
das Begehren selbst ein sinnliches oder intellectuelles, je
nachdem dasselbe von einer Vorstellung über Erreichbarkeit oder
Nichterreichbarkeit, Erlaubtheit oder Unerlaubtheit des Begehrten
nicht nur begleitet, sondern von dieser abhängig gemacht wird oder
nicht, wird es verständiges oder verstandloses, vernünftiges oder
vernunftloses Begehren heissen. Das verständige Begehren ist Wollen,
wenn es begehrt, weil das Begehrte ihm erreichbar, dagegen blosser
Wunsch, wenn es begehrt, ungeachtet das Begehrte ihm unerreichbar
scheint. Das vernünftige Begehren ist vernünftiges Wollen, wenn es
begehrt, was und weil dasselbe nicht nur erlaubt, sondern geboten,
dagegen verblendetes Wollen (Leidenschaft), wenn ihm, was es begehrt,
erlaubt, vernunftwidriges (böses) Wollen, wenn es begehrt, was und
obgleich es ihm selbst unerlaubt, ja verboten scheint. Die Gesammtheit
des innerhalb eines individuellen Bewusstseins enthaltenen Begehrens
macht dessen (psychisches) Naturell, die Gesammtheit des innerhalb
desselben eingeschlossenen verständigen und vernünftigen oder verstand-
und vernunftlosen Wollens dessen (im psychologischen Sinne des Worts)
Charaktermässigkeit oder Charakterlosigkeit aus.

364. Wie in der physischen, so auch in der psychischen Welt ist
die zweite Art der wirklich vor sich gehenden Veränderung ein
Formwechsel. Wie der feste Körper in flüssigen und luftförmigen,
so kann das Bewusstseinsgebilde aus dem lockeren Zustand blosser
Complication in den inniger Verschmelzung homogener Elemente
übergehen. Wie der chemische Körper in Folge der Anziehung
wahlverwandter Elemente Bestandtheile abgibt und andere an
sich zieht, so wird durch die Verschmelzung identischer und die
Ausstossung sich unter einander ausschliessender Bestandtheile
einer-, durch die Verbindung bis dahin unverbundener Bestandtheile
andererseits die Form der Bewusstseinsgebilde verändert, werden im
ersteren Fall aus sinnlichen Vorstellungen durch Abstraction der
gemeinsamen Bestandtheile Gemeinbilder (Begriffe), im letzteren
Fall durch Combination bisher getrennter, obgleich mit einander
verträglicher Bestandtheile durch die Erfahrung gegebener sinnlicher
Vorstellungen neue durch die Erfahrung nicht gegebene sinnliche Bilder
(Phantasievorstellungen) hervorgebracht. Wie endlich die Formen der
Organismen durch organische Transmutation der Arten und Gattungen im
Pflanzen- wie im Thierreich in einander übergehen, so werden aus den
ursprünglich auf Grund von Anschauungen entstandenen Begriffen durch
fortgesetzte Abstraction höchste und allgemeinste Begriffe (Kategorien)
und wird durch fortgesetzte Combinationen sinnlicher Erfahrungselemente
eine neue erfundene Welt voll sinnlich anschaulicher Lebendigkeit
(Phantasiewelt) gewonnen. Während aber in der physischen Welt die
Erfahrung den Beweis für den Uebergang der unorganischen in die
organische und dieser in die bewusste Form bisher schuldig geblieben
ist, tritt im Bewusstseinsleben die Abhängigkeit der beiden scheinbar
fundamental verschiedenen Classen von Bewusstseinsphänomenen, der
Gefühle und der Bestrebungen, von jener der Vorstellungen offen an
den Tag, indem sowol die Gefühle wie die Strebungen sich nicht als
gattungsmässig verschiedene Vorgänge, sondern als blosse Zustände
der Vorstellungen herausgestellt haben.

365. Die dritte Art des wirklichen Geschehens ist der
Stoffwechsel. Derselbe bildet den Abschluss der physischen Welt,
indem der Reiz (der extensive physische) sich in Empfindung (den
intensiven psychischen Zustand) umsetzt d. h. der reale sich in einen
Bewusstseinsvorgang verwandelt. Derselbe bildet den Abschluss der
psychischen Welt, indem der intensive psychische (Vorstellung, Gefühl,
Wollen) sich in einen extensiven physischen Zustand (Lautsprache,
Geberdensprache, Handlung) umsetzt und so der Bewusstseinsvorgang
in einen realen Vorgang sich verwandelt. Wie dort die Bewegung
der Moleculartheilchen des Nervensystems als Empfindung in das
Bewusstsein, so wird hier der Gedanke durch den tönenden Laut
des Worts, das Gefühl durch den sichtbaren Ausdruck der Miene, der
Wille durch die von ihm veranlasste Bewegung des eigenen und dadurch
mittelbar eines oder mehrerer fremder Körper wieder in die materielle
d. i. in die Körperwelt aufgenommen, indem die durch das Stimmorgan
schallend bewegte atmosphärische Luft als Verkörperung des Gedankens,
die unwillkürlich veränderte oder (im Affect) verzogene Physiognomie
als Verleiblichung des Gemüths, die durch Muskelbewegung der eigenen
Leibesglieder bewegte Verschiebung der anstossenden Nachbarkörper
als sich bethätigende Aeusserung des eigenen Willens erscheint. Die
erste als hörbares Zeichen für die Vorstellung liefert das Werkzeug
für die Bewahrung und Mittheilung der Gedankenwelt und als solche die
Grundlage der Sprache. Die zweite als sichtbares Zeichen für das im
Innern lebendige Gefühl liefert das Material zur Veranschaulichung des
Anderen (Höheren, Niederen oder Gleichen) gegenüber vorhandenen oder
doch vorhanden zu sein scheinenden Gefühls und bildet als solches die
Grundlage der Sitte. Die dritte als physischer Ausdruck des entweder
wirklich oder doch dem Anschein nach vorhandenen Wollens liefert
den greifbaren Stoff zur Beurtheilung des gegen Andere beobachteten
streitsüchtigen oder friedlichen Verhaltens und bildet als solcher die
Grundlage des Rechts. Indem das individuelle Ich auf diese Weise sein
Inneres nach aussen kehrt, die Vorgänge seines Bewusstseins in Reden,
Geberden und Thaten umsetzt und dadurch für andere seinesgleichen
hörbar, sichtbar und greifbar macht, wird dasselbe aus einem
vereinzelten zum sociabeln d. i. des geselligen Zusammenseins mit
Anderen fähigen und dadurch in Vereinigung mit diesen zur Grundlage
eines Mehreren gemeinsamen d. i. des Social-Ichs.

366. Wie die Gesammtheit der Weltkörper und ihrer "Parasiten" den
physischen Kosmos, so macht die Gesammtheit der im individuellen
Bewusstsein während der gesammten Fortdauer desselben vertheilten
Bewusstseinsgebilde (Empfindungen, Anschauungen, Begriffe, Gefühle,
Begehrungen und Willensacte), soweit dieselben der innern Erfahrung
zugänglich sind, in ihren gegenseitigen Beziehungen zu und ihrer
relativen Abhängigkeit von einander, von den primitiven, namenlosen
Bewusstseinsacten, deren jedem ein ebenso anonymer Nervenreiz oder eine
unmerkliche Transversalschwingung des Weltäthers entspricht, bis zu
den höchsten und ausgearbeiteten des abstracten Allgemeinbegriffs,
des verfeinerten Geschmacksurtheils und des der empfindlichsten
Gewissensstimme willig gehorchenden Willensentschlusses herauf
die Seelenwelt des Individuums aus. Wie dort die Totalität
des physischen Geschehens die Naturgeschichte des Weltalls, so
stellt hier der Inbegriff des im individuellen Bewusstsein nach
unveränderlichen Naturgesetzen sich vollziehenden Geschehens, von
der Wechselwirkung zwischen den primitiven Bewusstseinsacten bis zu
der logischen Verbindung von Anschauungen zu Begriffen, Begriffen zu
Urtheilen, Urtheilen zu Schlüssen, Schlüssen zu Gedankensystemen und
dieser, wenn ihr Inhalt es gestattet, zu einem sie alle umfassenden
Universalsystem einer-, von den leisesten Regungen der Lust und Unlust
bis zu Entzücken und Jammer und den verheerenden Stürmen affectvoller
Gemüthserschütterung, von sinnlichen Gelüsten und kindischen Wünschen
bis zu sittlichen Entschliessungen und männlichen Thaten andererseits
herauf, soweit dasselbe der innern Erfahrung zugänglich ist, den
Entwickelungsprocess des Bewusstseins, die Naturgeschichte der
Seele dar.



DRITTES CAPITEL.

DAS SOCIAL-ICH.


367. Wie mit der Einkehr des anziehend oder abstossend nach aussen
gewandten einfachen Wirklichen in sich selbst die Möglichkeit des
individuellen, so ist mit der Auskehr des Innern in Rede, Geberde
und Handlung die Möglichkeit eines Mehreren gemeinsamen Bewusstseins
gegeben. Letzteres kann nicht bedeuten, dass in Mehreren dasselbe,
sondern nur dass in Mehreren ein gleiches Bewusstsein oder, was
dasselbe ist, dass der Inhalt des jeweiligen individuellen Bewusstseins
Mehrerer das gleiche, dieses Bewusstsein selbst aber nichts desto
weniger bei jedem das eigene sei. Identität des Bewusstseins
in dem Sinne, dass dasselbe Bewusstsein in Allen sei, würde die
Individualität der Einzelnen in den blossen Schein einer solchen
verwandeln, das Bewusstsein des Einzelnen in einen Bewusstseinsact
des in Allen identischen Allgemeinbewusstseins auflösen. Letzteres
darf daher nicht als Substanz, zu welcher die Einzelbewusstsein wie
vorübergehende modi sich verhalten, sondern muss als Summe der in
Mehreren gleichen d. i. dem Inhalt, nicht der Zahl nach eins seienden
Bewusstseinsacte gedacht werden. Die Einzelbewusstsein, welche
zusammengenommen die Voraussetzung eines ihnen allen gemeinsamen
Bewusstseins ausmachen, sind ihrer realen Basis nach so wenig eins,
dass derselbe Bewusstseinsinhalt in dem einen mit grösserer, in dem
andern mit geringerer Lebhaftigkeit, dort mit völliger Klarheit, hier
im ungewissen Dunkel vorhanden sein kann, ohne dass derselbe aufhört,
jenem mit diesem gemein und dadurch ein integrirender Bestandtheil
des gemeinsamen Bewusstseins, der "Volksseele" zu sein.

368. Niemals darf die letztgenannte als eine von den "Seelen" der
Angehörigen des Volks real unterschiedene, gleichsam als eine Seele
vor, neben oder über den ihrigen gedacht werden. Dieselbe stellt nichts
weiter als den mit einem Namen bezeichneten Inbegriff dessen dar,
worin alle Volksangehörigen als vorstellende, fühlende und strebende
Wesen mit einander dauernd übereinstimmen d. h. was abgesehen von
den Privat- und individuellen Meinungen, Geschmäcken und Gelüsten
jedes Einzelnen den bleibenden und Allen gemeinsamen Bestandtheil
ihres Fürwahrhaltens, Werthhaltens und Anstrebens ausmacht.

369. Weil nun jeder Versuch, über die Gemeinsamkeit des Inhaltes
individuell verschiedener Einzelbewusstsein ein Urtheil zu fällen,
nicht nur voraussetzt, dass dieser Inhalt selbst äusserlich
wahrnehmbar, sondern auch dass er Anderen verständlich sei, so
folgt, dass die Entstehung einer auf das Bewusstsein gemeinsamen
Bewusstseinsinhaltes gegründeten Vereinigung Mehrerer zur Einheit
die Möglichkeit gegenseitig verständlicher Mittheilung durch Allen
gemeinsame äussere Zeichen der inneren Vorgänge bedingt. Letztere
werden, insofern sie bestimmt sind, das Innere Anderen sinnlich
wahrnehmbar zu machen, je nach der Verschiedenheit der Sinne
verschiedenartige (hörbare, sichtbare, tastbare etc.) sein können,
da die Gemüthsvorgänge, zu deren Versinnlichung für Andere sie dienen
sollen, verschiedene (Empfindungen, Anschauungen, Begriffe, aber
auch Gefühle und Willensacte) sind, je nach der Art dieser letzteren
andere sein müssen. Jener Umstand erzeugt die Laut- und Tonsprache,
die zur Bezeichnung hörbare, die Schrift- und Geberdensprache, die
zur Bezeichnung sichtbare, die monumentale oder Gedenksprache, die
zur Bezeichnung tastbare Zeichen verwendet. Von diesem Gesichtspunkt
aus lässt sich die Sprache des Gedankens von jener des Gefühls und
des Willens unterscheiden. Von den drei letztgenannten verwendet
die Sprache der Vorstellung meist hörbare, als (chinesische und
mexikanische) Bilderschrift aber auch sichtbare Zeichen, wobei auf die
Beschaffenheit der zu verkörpernden Vorstellungen Rücksicht genommen
wird. Sind dieselben z. B. Empfindungen (Farben- oder Tonempfindungen),
so können dieselben nur dadurch Anderen mitgetheilt werden, dass man
die ihnen entsprechenden Sinnesreize erzeugt d. h. durch Töne (Musik)
und Farben (Colorit). Sind dieselben sinnliche Vorstellungen, deren
Objecte in der Erfahrung gegeben sind, so können dieselben Anderen
mitgetheilt werden, entweder indem jene Objecte ihnen selbst vor Augen
geführt (demonstrirt) oder statt der Gegenstände selbst deren Bild zur
Anschauung gebracht wird (Bilderschrift, Anschauungsunterricht). Sind
sie dagegen Begriffe, also solche Vorstellungen, deren Objecte in
der Erfahrung nicht angetroffen werden, die also auch nicht durch
die letzteren oder deren Bilder sichtbar gemacht werden können, so
bleibt nur übrig, entweder jene Begriffe durch sinnliche Vorstellungen
(Symbole) zu ersetzen und sodann diese durch ihre Gegenstände oder
deren Bilder sichtbar zu machen, oder zu deren Bezeichnung hörbare
Zeichen zu wählen (Lautsprache). Letztere selbst werden entweder so
gewählt, dass sie mit dem Gegenstand der zu bezeichnenden Vorstellung
eine Aehnlichkeit haben oder doch an diesen erinnern (Onomatopöïen,
natürliche Lautsprache) oder, wenn dies nicht der Fall ist, willkürlich
festgesetzt (conventionelle Lautsprache). Die Sprache des Gefühls
verwendet sowol hörbare als sichtbare Zeichen; unter jenen nehmen die
Freuden- und Schmerzenslaute (Interjectionen), so wie die Anwendung
gewisser Rede- und Begrüssungsformeln, um bestimmte Gefühle (Ehrfurcht
oder Verachtung, Liebe oder Hass etc.) auszudrücken, unter diesen
Lachen und Weinen als Zeichen der Freude und der Trauer, aber auch
Geberden und Stellungen, welche bestimmt sind, gewisse Gefühle (der
Anbetung, der Unterwerfung, der Freundschaft oder deren Gegentheile)
zu veranschaulichen, ihre Stelle ein. Auch diese zerfallen, je nachdem
dieselben ohne Erklärung jedermann verständlich, oder nur innerhalb
eines bestimmten Kreises üblich sind, in natürliche (Natursprache des
Gefühls) und künstliche (conventionelle Gefühlssprache). Die Sprache
des Willens endlich, die Handlung bedient sich als Materials ihrer
Aeusserungen des eigenen Leibes und der Organe desselben, entweder des
tönenden (Stimmorgan), um sich hörbar (Befehl), oder der Gliedmassen,
um sich sichtbar (Armschwenkung als Commandozeichen), oder dessen
physischer Kraft, um sich tastbar (Schub, Stoss, Schlag) vernehmlich zu
machen, wobei auch diese Zeichen in natürliche (Erhebung der Stimme,
des Stockes) und künstliche (Handschlag als Einwilligungszeichen,
Anstecken des Ringes als Vermählungszeichen etc.) sich sondern.

370. Mittheilbarkeit und Verständlichkeit der Zeichen würden
nicht ausreichen, wenn die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse
nicht derart beschaffen wären, dass deren Gebrauch zu gegenseitiger
Verständigung sein Ziel zu erreichen vermag. Zu diesem Zweck dürfen
diejenigen, durch deren Verständigung unter einander ein allen
gemeinsames Bewusstsein zu Stande kommen soll, weder räumlich noch
zeitlich so durchgreifend von einander geschieden, noch so weit von
einander entfernt sein, dass die Mittheilung durch (hörbare, sichtbare,
tastbare) Zeichen unmöglich wird. Dieselben dürfen daher weder
durchaus verschiedenen Welten (z. B. die einen der erfahrungsmässigen
dreidimensionalen, die andern einer vorgeblichen vierdimensionalen
Raumwelt) angehören, noch innerhalb derselben Welt räumlich und
zeitlich so weit aus einander liegen, dass eine, sei es räumliche
Berührung, sei es zeitliche Ueberlieferung, wo nicht aufgehoben,
doch in äusserstem Grade erschwert und dadurch ihrem Gehalte nach
bis zum Unmerklichen herabgeschwächt wird. In ersterer Hinsicht wird
die Entstehung eines Vielen gemeinsamen Bewusstseins erleichtert
durch deren Anwesenheit innerhalb eines Allen gemeinsamen Raumes und
vermittelt durch ein Generationen überdauerndes und von Geschlecht
zu Geschlecht sich fortpflanzendes, sei es mündlich (Tradition), sei
es schriftlich (Literatur) aufbewahrtes Gedankencapital. Wie durch
die Gemeinsamkeit des Bodens, auf dem die Vereinigung Mehrerer zur
Einheit erwächst (z. B. der gemeinsamen Heimat) die Genesis eines
gemeinsamen Bewusstseinsinhalts durch den Umstand begünstigt wird,
dass die Umgebung für alle dieselbe, also auch der aus dieser stammende
Anschauungskreis, welcher die Grundlage aller spätern Vorstellungs-
und Begriffsbildung ausmacht, bei allen der nämliche ist, so wird
den Nachkommen durch stillschweigendes Herkommen und unwillkürliche
Gewöhnung ein von Geschlecht zu Geschlecht sich ansammelnder Vorrath
von Begriffen, Gebräuchen und Gesetzen von den Eltern her gleichsam
angeerbt und von ihnen ihrerseits den Enkeln hinterlassen. Folge
davon ist, dass sich der Besonderheit der räumlichen und zeitlichen
Verhältnisse, so wie der Verständigungsmittel, unter welchen das
Mehreren gemeinsame Bewusstsein sich entwickelt, entsprechend,
letzteres selbst und damit die Vereinigung Mehrerer, innerhalb welcher
es heimisch ist, eine besondere, nur dieser Vereinigung von Individuen
eigenthümliche Färbung annimmt, und dadurch nicht nur selbst, mit
dem Allgemeinbewusstsein einer andern "Gesellschaft" verglichen,
einen individuellen Charakter trägt, sondern auch der Gesellschaft
selbst, deren Eigenthum es ist, das Gepräge einer (gesellschaftlichen)
Individualität verleiht.

371. Was die physikalischen Atome für die physischen, die primitiven
Bewusstseinsacte für die psychischen, das sind die "sociabeln"
Individuen für die socialen Gebilde. Wie jene zusammengenommen
den Stoff aller körperlichen, die primitiven Empfindungen das
Material aller Bewusstseinsphänomene, so machen die mit Bewusstsein
ausgerüsteten Individuen die Basis aller gesellschaftlichen
Vereinigungen aus. Als solche werden dieselben dem Gesichtspunkt der
quantitativen Atomistik entsprechend als unter einander ursprünglich
eben so gleichartig gedacht wie die Atome in der Physik, die primitiven
Empfindungen in der Psychologie. So wenig die beiden letztgenannten
selbst ein Gegenstand weder der äussern noch der innern Erfahrung sind,
sondern auf Grund der letztern durch einen Sprung über dieselbe hinaus
als deren unentbehrliche Grundlage vorausgesetzt werden, eben so wenig
werden bewusste Individuen vollkommen gleicher Beschaffenheit in der
(geschichtlichen) Erfahrung angetroffen, sondern wie jene als Annahme
der thatsächlich vorhandenen Ungleichheit der Individuen hypothetisch
untergelegt. Letztere macht es möglich, wie es die Physik mit den
Körpern, die Psychologie mit den Gebilden des Bewusstseins thut,
auch die verschiedenen "Gesellschaftskörper" (Corporationen) aus dem
Gesichtspunkt ihrer Zusammensetzung aus primitiven Elementen ("Atomen
der Gesellschaft") zu betrachten und je nach der Beschaffenheit
des dieselben mehr oder minder innig, mehr oder minder dauerhaft
zusammenhaltenden Bandes als eben so viele verschiedene Ordnungen
socialen Zusammenseins anzusehen.

372. Die erste und unterste derselben ist diejenige, bei welcher
die qualitative Gleichheit oder Verschiedenheit der zu einem Ganzen
verbundenen Individuen gleichgiltig, das sie verknüpfende Band von
derselben unabhängig ist, der Grund der Vereinigung daher eben so
gut innerhalb der allen gemeinsamen Beschaffenheit ihrer Natur, wie
gänzlich ausserhalb der Natur derselben in einem dieser zufälligen
Umstände gelegen sein kann. Ersterer Art sind alle aus der allen
Menschen ohne Unterschied eigenen physischen und psychischen
Beschaffenheit (z. B. dem Bedürfniss nach Nahrung, nach Schutz,
nach geselliger Unterhaltung etc.) entspringenden Anlässe zur
Vereinigung, um deren willen schon Aristoteles den Menschen als "das
gesellige Thier" bezeichnet, und aus welchen Hugo Grotius den von
ihm sogenannten "Geselligkeitstrieb", so wie Hobbes das im "Kriege
Aller gegen Alle" erwachende Schutzbedürfniss der Schwächern als Motiv
gesellschaftlicher Vereinigung besonders hervorgehoben hat. Letzterer
Art ist das absichtslos, ja selbst wider die Absicht herbeigeführte
Zusammensein Mehrerer an demselben Orte und zu derselben Zeit
(z. B. Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel, welche sie nöthigt,
oder ihnen Gelegenheit gibt, sei es wider, sei es mit ihrem Willen
unter einander in gesellige Verbindung zu treten). Verbindungen der
Art, welche entweder, wie die letztgenannten zufälligen, kein oder,
wie überall dort, wo es sich um die blos vorübergehende Befriedigung
eines (wenngleich in der allgemeinen Menschennatur gegründeten,
also in anderer Form stets wiederkehrenden) Bedürfnisses handelt, ein
gleichfalls nur augenblickliches Interesse der Einzelnen zur Ursache
haben, sind dieser ihrer Natur nach die häufigsten, weil sie immer
wieder von neuem durch Zufall oder durch die Wiederkehr desselben
Bedürfnisses entstehen, aber eben so zufällig wie nach eingetretener
Befriedigung sofort wieder vergehen können und werden. Das zunächst
liegende Beispiel liefern die sogenannten geselligen Zusammenkünfte,
deren Beweggrund lediglich in dem augenblicklichen Bedürfniss
des Zeitvertreibs, oder die ebenso zahlreichen als mannigfaltigen
Associationen, deren Ziel auf gemeinsam durchzusetzende Zwecke der
Ersparung, des Erwerbes, des Gewinns, der Sicherung und Versicherung
des Lebens und Eigenthums u. s. w. gerichtet ist. Insofern dieselben
nichts weiter sind als vorübergehende, durch das Band eines äusseren
Zwecks, aber auch nur durch dieses zusammengehaltene Aggregate
einander im übrigen persönlich durchaus gleichgiltiger Individuen,
lassen sie sich mit nur mechanisch zusammengesetzten Körpern
vergleichen, deren zeitweiliger Cohäsionszustand von der geringeren
oder grösseren Anziehung zwischen den Atomen und deren Dauer von
jener des sie zusammenhaltenden äusseren Druckes bedingt ist. Wie
die letztern desto schwerer beweglich sind, je ungleichartiger,
dagegen desto leichter, je gleichartiger ihre Bestandtheile sind,
so erscheinen gesellige Vereinigungen "schwerflüssig", wenn sie aus
ungleichartigen Individuen zusammengewürfelt, dagegen "leicht in Fluss
zu bringen", wenn ihre Mitglieder der Stimmung, dem Stande und dem
Streben nach gleichgeartet sind. Sogenannte Actiengesellschaften,
deren Theilnehmerschaft weder an persönliche Mitwirkung, noch an
ein Andere übertreffendes Mass der Betheiligung, sondern lediglich
an den Besitz einer mit jeder andern gleichwerthigen, gleichgiltig
von Hand zu Hand wandernden Actie geknüpft ist, stellen die loseste,
gleichsam "luft- oder gasförmige" Form der Gesellschaft zur Schau,
deren Mitglieder einander eben so fremd und fern wie die in weiten
Distanzen von einander befindlichen, in steter Abstossung gegen
einander begriffenen ruhelos beweglichen Molecüle eines Gases stehen.

373. Wird die qualitative Beschaffenheit der Gesellschaftsatome
berücksichtigt, so entsteht jene zweite Ordnung geselliger
Corporationen, die man dem chemisch zusammengesetzten Körper
vergleichen kann. Wie durch die Verschmelzung homogener Atome der
chemisch einfache, durch die Complication qualitativ verschiedener
Stoffe der chemisch zusammengesetzte Körper, so entstehen auf
Grund der Beschaffenheit der Gesellschaftselemente zwei Arten von
Corporationen, deren eine Verbindungen qualitativ gleichartiger,
die andere ungleichartiger Individuen umfasst. Zu jenen gehört, wenn
dieselbe blos gesellige Zwecke verfolgt, die sogenannte "Männer-"
oder "Frauen-", zu diesen die "gemischte Gesellschaft", ferner,
wenn jene aus Personen desselben Alters, Berufs, Standes besteht,
die Alters-, Berufs-, Zunft- und Standesgenossenschaft: zu diesen,
wenn sie aus Personen verschiedener Berufe und Stände gemengt ist,
die sogenannte bürgerliche Gesellschaft, wenn sie auf dem Grunde der
geschlechtlichen Beschaffenheit beruht, die Freundschaft zwischen
Personen desselben (männlichen oder weiblichen), die Liebe zwischen
Personen entgegengesetzten Geschlechts. Findet dieselbe ihren Halt
im Bewusstsein gegenseitiger Bluts- oder Gesinnungsgemeinschaft, so
bildet sich diejenige Gruppe gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit,
welche als physische (Bluts-) Einheit, da sie im Gegensatz zur
Familie aus einander dem Grade nach gleichstehenden Gliedern
besteht, Verwandtschaft (Sippe), als psychische (Geistes-) Einheit
im Gegensatz zur Schule, da sie einander dem geistigen Range nach
gleich hoch stehende Mitglieder begreift, Jüngerschaft (Wissens-
oder Glaubensgemeinde) heisst. Da der Grund der Vereinigung in den
genannten Fällen nicht in einem vorübergehenden Zweck, sondern in der
bleibenden, sei es leiblichen, sei es geistigen Beschaffenheit der
Gesellschaftsglieder gelegen ist, so kann nicht nur, sondern muss
dieselbe (Ausnahmsfälle abgerechnet) so lange bestehen, als jene
Beschaffenheit unverändert bleibt, also z. B. die geschlechtliche
Basis der Liebe sich nicht durch Naturvorgänge in eine geschlechtlose
verkehrt oder das geistige Band des Jüngerthums durch den Abfall vom
Glauben zerschnitten wird.

374. Wie der beseelte Körper vom leblosen sich dadurch unterscheidet,
dass ein Theil desselben ("die Seele") beharrt, während der andere
("der Leib") sich im Laufe des Lebens fortwährend erneuert, ohne dass
der Körper selbst ein anderer wird, so liegt das Charakteristische
der dritten Ordnung gesellschaftlicher Vereinigungen darin, dass
dieselben "ewige Dauer" besitzen, indem ein Theil derselben ("der
herrschende") immer derselbe bleibt ("le roi est mort, vive le roi"),
während der andere (der "beherrschte") sich unaufhörlich erneuert, ohne
dass die Gesellschaft selbst eine andere wird. Je nachdem das Band,
welches den bleibenden Bestandtheil mit dem veränderlichen verbindet,
ein reales (Blutsband) oder blos ideales (Gesinnungsverband) ist,
erfolgt die Erneuerung entweder durch Geburt jüngerer aus den älteren
(Generation) oder durch Aufnahme späterer Mitglieder durch die frühern
(Adoption). Ersteres ist in der Familiengemeinschaft zwischen Eltern
und Kindern (Ascendenten und Descendenten, Vorfahren und Nachkommen),
letzteres in der Gesinnungs- oder Glaubensgemeinschaft (Schule,
Kirche, politische Partei) der Fall. Jene erweitert sich durch die
Aufnahme der Seitenverwandten zur Stammesgemeinschaft, durch die
Zurückführung blutsverwandter Stämme auf einen gemeinsamen Stammvater
zum Stammvolk (Nation), durch die Ableitung mehrerer Stammvölker von
einem gemeinsamen Urvolk (Indogermanen, Arier) zur Racengemeinschaft
und mittels der mythischen Abstammung der gesammten Menschheit
von einem gemeinsamen Stammvater zur Gemeinschaft aller Menschen
(Weltbruderschaft). Diese dehnt sich von der an Umfang kleinsten
Gesinnungs- und Glaubensgenossenschaft, die, wie z. B. die erste
Christengemeinde, nur den Stifter und zwölf Genossen umfasst, bis zu
der räumlich Millionen und zeitlich Jahrtausende einschliessenden
Bildungs- oder Glaubensgemeinschaft aus, welche, wie z. B. die
europäische Civilisation, das Christen- oder Buddhistenthum Theilnehmer
und Bekenner im Laufe der Zeit nach hunderttausenden von Millionen
zählen. Wie die durch Geburt der Gemeinschaft einverleibten Mitglieder
von Natur aus den Aeltern ähnlich, so werden durch Aufnahme gewonnene
den ursprünglich vorhandenen künstlich verähnlicht (assimilirt),
indem entweder, wenn die Aufnahme durch Wahl erfolgt, nur ähnliche
gewählt (z. B. in eine Akademie der Wissenschaften nur Gelehrte,
in eine politische Partei nur politische Gesinnungsverwandte) oder,
wenn sie durch freiwilligen Anschluss geschieht, die Aufgenommenen im
Sinn der bestehenden Gemeinschaft (z. B. der ägyptische Neophyt durch
die Priesterschule, der künftige Soldat durch das Cadetteninstitut)
erzogen werden.

375. Die so entstandene Gesellschaft bildet einen organischen
Körper, welcher entweder wie der vegetabilische Organismus an dem
Boden haftet, auf dem er erwachsen und mit dem er verwachsen ist,
oder wie der animalische Organismus von demselben äusserlich und
innerlich abgelöst, frei über ihn hinstreifend, obgleich innerhalb
durch die Schranken der Acclimatisationsfähigkeit gezogener Grenzen
den Ort seiner vorübergehenden Niederlassung wechselt. Jener ergibt
die autochthone, dieser die nomadische Gemeinschaft (Familie,
Stamm, Volk). Jene tritt vorzugsweise als sesshafte und in Folge
dessen, da die von der Natur freiwillig dargebotene Nahrung allmälig
versiegt, zur künstlichen Erzeugung derselben, so wie der übrigen
Lebensbedürfnisse d. i. zum Ackerbau und zur Industrie gedrängte
Bevölkerung auf. Diese, da sie die an einem Orte mangelnden Bedürfnisse
nicht selbst erzeugt, sondern dort nimmt, wo sie dieselben findet,
erscheint in den mannigfaltigsten Formen als Jäger-, Handels-
und Räuber- oder Eroberervolk. Wie der belebte Organismus durch
die Entwickelung eines Centralorgans (Gehirn und Nervensystem),
innerhalb dessen der physische Reiz sich in bewusste Empfindung
umsetzt, zum vorstellenden, Ich-ähnlichen und als solcher durch die
allmälige Vorstellung seiner selbst (Ich-Vorstellung) selbst zum Ich
d. i. zum sein selbst bewussten Individuum wird, so gestaltet sich die
organische Gesellschaft dadurch, dass innerhalb ihres Umkreises ein
Centralorgan (Regent und Regierung) entsteht, in welchem das allen
gemeinsame Denken, Fühlen und Streben sich in bestimmte Vorstellung
d. i. in deutlich vorschwebenden Zweck, Erwägung und Herbeischaffung
der Mittel und verwirklichende That umsetzt, zu einer (nach Haupt und
Gliedern) organisirten staatähnlichen Gesellschaft, welche durch die
allmälig fortschreitende Verkörperung der Vorstellung der Gesellschaft
(der Gesellschaftsidee) selbst zum Staat d. i. zu der ihrer selbst als
Gesellschaft bewussten, die Verwirklichung der Gesellschaftsidee sich
zum Zweck und dieselbe mittels der zu ihrer Realisirung erforderlichen
Mittel in Vollzug setzenden individuellen Gesellschaft wird.

376. Organisirte Gesellschaften der Art, wenn sie reale d. h. ihre
Mitglieder unter einander blutsverwandt sind, treten je nach dem Umfang
und dem Grade der Verwandtschaft als Familie im engeren, nur Eltern und
Kinder, oder weiteren, auch die nächsten Seitenverwandten begreifenden
Sinne als Verband der Familienglieder unter dem Familienhaupt, oder
als Stamm (Clan) unter dem Stammeshaupt (Häuptling, Scheik), oder
als Volk unter dem (angestammten) Volkshaupt (König) auf. Dagegen,
wenn ihre Glieder zwar geistes-, glaubens-, oder gesinnungs-, aber
nicht blutsverwandt sind, erscheint die organisirte Gesellschaft,
je nachdem der Inhalt der allen gemeinsamen Ueberzeugung entweder
ein wissenschaftlicher, oder ein religiöser, oder ein politischer
ist, in Gestalt entweder der (philosophischen oder künstlerischen)
Schule unter einem (philosophischen oder künstlerischen) Schulhaupt
(Meister), oder als (Landes-, National-, Welt-) Kirche unter einem
(Landes-, National-, Universal-) Kirchenhaupt (Landesbischof,
Papst, Dalai Lama), oder als (theokratischer, nach göttlichen,
oder militärischer, nach mit Gewalt aufgedrungenen fremden Gesetzen
beherrschter, oder autonomer, Verfassungs- d. i. nach eigenen Gesetzen
sich selbst beherrschender) Staat unter einem (theokratischen, von Gott
eingesetzten, oder kriegerischen, durch Unterjochung aufgedrungenen,
oder verfassungsmässigen) Staatsoberhaupt (Fürst "von Gottes Gnaden",
Eroberer, constitutioneller Herrscher). Je nachdem das Centralorgan,
in welchem das allen gemeinsame Bewusstsein der Gesellschaft sich
verkörpert, dessen Bewusstsein also gleichsam die Stelle des allen
gemeinsamen Bewusstseins vertritt, selbst aus einem einzigen oder
mehreren unter einander coordinirten oder aus einem und mehreren
diesem zusammengenommen coordinirten Individuen besteht, nimmt
derselbe monarchische, oder collegiale, oder parlamentarische Form
an, indem im ersten Fall das Gesammtbewusstsein im Monarchen (Josef
II. und Friedrich II. als "erste Diener des Staates") im zweiten
Fall im Regierungscollegium (Directorium, Bundesrath), im dritten
Fall im Herrscher und den Stellvertretern des Gesammtbewusstseins
(Abgeordnete, Parlament, Kammer, Reichstag) zusammengenommen incarnirt
erscheint. Die monarchische Gestalt entartet zur Tyrannis, wenn an die
Stelle des Gesammtbewusstseins das Einzelbewusstsein des Herrschers
(l'état c'est moi), die collegiale Regierung zur Oligarchie,
wenn an die Stelle des Gesammtbewusstseins jenes einer Minderheit
(einer Kaste in der Priester-, Adels- oder Geschlechter-, eines
Standes in der Militär- oder Zünfte-, des Geldes in der Finanz-
und Bankiersherrschaft: Theokratie, Aristokratie, Martokratie,
Plutokratie), dagegen zur Ochlokratie, wenn an die Stelle des
Gesammtbewusstseins die bewusstseinslose Menge als herrschende
Macht tritt. Die parlamentarische Regierung kann je nach dem
Uebergewicht des Einen über die Vielen, oder der Vielen über den
Einen in Scheinparlamentarismus (wie unter dem Julikönigthum)
oder in Scheinmonarchismus (wie in England) ausarten. In der
monarchisch organisirten Gesellschaft wird nicht nur die Einheit des
Gesammtbewusstseins, sondern werden auch die in demselben, wie in jedem
Bewusstsein vorhandenen und einander bestreitenden Gegensätze in das
stellvertretende Bewusstsein des Alleinherrschers verlegt und damit
demselben die gesammte Verantwortlichkeit für die aus dem Zwiespalt der
letzteren entspringenden Folgen aufgebürdet. In der collegialen Form
der Regierung prägen die im Gesammtbewusstsein einander bekämpfenden
Extreme (Radicalismus und Conservatismus) innerhalb des höchsten
Regierungsorgans selbst als solche sich aus, während die Einheit des
Bewusstseins durch die mangelnde Spitze nur collectiv und daher nur
unvollkommen (Präsident) vertreten erscheint. Die parlamentarische Form
hat den Vorzug, dass in derselben die Einheit des Gesammtbewusstseins,
wie die in demselben vorhandenen Gegensätze gleichzeitig, die eine
in der monarchischen Spitze und durch deren ewige Dauer in der
festgesetzten Erbfolgeordnung am dauerhaftesten, die andere in den
innerhalb der Volksvertretung einander bekämpfenden politischen
Parteien (Fortschritts- und Stillstandsmänner, Whigs und Tories)
am vollkommensten repräsentirt erscheint und daher das Ganze der
Regierung, Monarch und Parlament, vereinigt das treueste Spiegelbild
des gesellschaftlichen Gesammtbewusstseins darstellt.

377. Wie die andere ihresgleichen appercipirenden d. h. sich
anschmelzenden Vorstellungsmassen im individuellen Bewusstsein,
so stellen die einzelnen, jede für sich organisirten Gesellschaften
(Familie, Stamm, Schule, Kirche etc.) innerhalb der räumlich, zeitlich
und organisch zu einem Ganzen geeinigten Gesellschaft Mittelpunkte dar,
welche vermöge ihrer bereits erlangten und befestigten Macht ihren
Einfluss und Umfang durch die Heranziehung und Assimilirung gesinnungs-
oder stammesverwandter Individuen zu vergrössern und zu erweitern
bemüht sind. In diesem Sinne bildet sich um die durch Geburt, Ansehen
oder Reichthum hervorragende Familie ein Familienanhang, um den durch
Zahl, Macht oder Intelligenz zur Präponderanz gelangten Stamm ein
Stammesgefolge, zieht die zu Gewicht und Nachdruck gelangte Schule
(Staatsphilosophie Hegel's unter Altenstein) stets neue Anhänger,
wie eine durch den Besitz himmlischer und irdischer Güter reich
gewordene, mit Privilegien für jenseits und diesseits ausgestattete
Kirche (Staatskirche, englische Hochkirche) stets neue Bekenner
an sich und droht, indem sie aus einer staatähnlichen zu einer
dem Staat ebenbürtigen oder demselben überlegenen Macht innerhalb
der Gesellschaft heranwächst und die besonderen Familien- oder
Stammes- (Nationalitäts-), Schul- oder Kircheninteressen allmälig im
Allgemeinbewusstsein einen überwiegenden Einfluss gewinnen, zu einem
Staat im Staate und dadurch für diesen selbst zu einer ähnlichen
Gefahr, wie das im individuellen Bewusstsein übermächtig gewordene
Neben- oder zweite Ich für die Ich-Vorstellung zu werden.

378. Wie die Ich-Vorstellung über das gesammte, oder doch den grössten
Theil des Bewusstseins seine Herrschaft auszudehnen, so strebt
der Staat über alle innerhalb seiner Raum-, Zeit- und Volksgrenzen
vorhandenen organisirten Gesellschaften die Oberhoheit auszuüben
d. h. sie aus unabhängigen in von ihm abhängige Corporationen, als
seine Familien und Stämme, seine Schule, seine Kirche u. s. w. zu
verwandeln. Derselbe duldet demgemäss innerhalb seines Umkreises weder
sich souverän geberdende Feudalherren, noch von der Staatseinheit sich
emancipirende Nationalitäten- oder Ländergelüste (Kantönligeist), eben
so wenig von derselben unabhängige Unterrichts- (die "freie Schule"),
oder religiöse Körperschaften (die "freie Kirche"), während diese
ihrerseits gegen den "Racker von Staat" (Friedrich Wilhelm IV.) sich
zu behaupten bemüht sind (Kampf der Reichsfürsten gegen den Kaiser,
der Vasallen gegen den Landesherrn, der Provinzen und Stämme gegen das
Reich, der "freien" d. i. katholischen Universitäten in Belgien gegen
die Staatsuniversität, der Kirche gegen den Staat; "Culturkampf").

379. Wie die physischen, so üben die Gesellschaftskörper gegenseitig
Wirkungen auf einander aus. Wie die mechanisch zusammengesetzten
Körper durch Häufung, so vergrössern sich die auf Association zu einem
gemeinsamen Zwecke beruhenden Corporationen durch Vermehrung ihrer
Mitgliederzahl in Folge der Fusion derjenigen, welche gleiche Zwecke
verfolgen. Dieselbe wird überall dort, wo die gegebenen Umstände
das gleichzeitige Bestehen mehrerer denselben Zweck verfolgenden
Gesellschaften nicht erlauben, durch den daraus entspringenden
"Kampf ums Dasein" d. i. durch die sogenannte "freie Concurrenz"
herbeigeführt, dessen Devise das "ôte toi, que je m'y mette", und
dessen Ursache das "da-" d. i. das "an dem Orte sein wollen" ist,
den ein Anderer einnimmt. Dagegen stehen die auf der qualitativen
Gleichheit oder Ungleichheit ihrer Mitglieder ruhenden Gesellschaften
unter einander wie die chemischen Körper in wahlverwandtschaftlichen
Beziehungen, vermöge deren bestehende Verbindungen in Folge stärkerer
Anziehung gelöst und bisher nicht bestandene aus demselben Grunde
geschlossen werden. Wechsel der Berufs-, der Standesgenossenschaft auf
der einen, des Gegenstandes der Freundschaft, der Liebe auf der anderen
Seite sind die Folgen derselben. Jene werden durch Abneigung gegen den
gegenwärtigen, durch Vorliebe für den künftigen Beruf oder Stand, diese
durch Antipathie gegen den bisherigen, Sympathie für den künftigen
Gegenstand der Freundschaft oder der Liebe verursacht. Organische
Gesellschaftskörper verschmelzen unter einander entweder auf realem
z. B. dem geschlechtlichen Wege, indem durch Heirat verschiedenen
Familien angehöriger Familienglieder (Familienheirat) eine neue
Familie, durch Heiraten aus verschiedenen Stämmen ein neuer Stamm
(Römer: aus Latinern und Sabinern), durch Ineinanderaufgehen zweier
oder mehrerer Nationalitäten eine neue Nationalität (die englische:
aus Sachsen und Normannen; die lateinische: aus Celten und Germanen;
die amerikanische: aus Briten, Iren, Deutschen) entsteht, oder
auf idealem Wege, indem aus der Vereinigung zweier oder mehrerer
Wissens-, Glaubens-, oder politischer Genossenschaften eine neue Schule
(z. B. die neuere Akademie aus Platonismus und Stoicismus), eine neue
Kirche (z. B. die anglicanische aus Katholicismus und Lutherthum),
eine neue politische Partei (z. B. Disraeli's Reformtories aus Tories
und Peeliten) hervorgehen.

380. Autochthone Gesellschaften, die ihre "Scholle" behaupten,
werden auf diesem Wege von nomadischen, welche dieselbe vorübergehend
occupiren, letztere von staatbildenden, welche daselbst sich bleibend
niederlassen wollen, im "Kampf ums Dasein" bedrängt und verdrängt. Wie
jene nach einander, so treten gleichzeitige nachbarliche organisirte
Gesellschaften (Familien, Stämme, Schulen, Kirchen und Staaten) im
Kampf ums Dasein (Familienfehde, Stammesfehde, Schulzwist, Sectenhass,
Krieg) in feindliche oder freundliche Berührung (Familienbund,
Stammesbündniss, Schulen- und Kircheneinigung, Staatenbündniss.) Je
nachdem die Folge derselben die gegenseitig anerkannte Unabhängigkeit
oder die auf gewaltsamem oder friedlichem Wege herbeigeführte
Abhängigkeit des einen von dem andern Gesellschaftskörper ist, geht
im ersten Falle ein statisches Gleichgewicht zwischen denselben
(Oesterreichs und Preussens Aequilibrium im deutschen Bunde; das
"europäische Gleichgewicht") oder das Uebergewicht eines über die
übrigen (Preussens im deutschen Reich; Russlands während der Zeiten der
heiligen Allianz in Europa; der Nord- über die Südstaaten in Amerika),
in beiden Fällen ein System von Gesellschaftskörpern (Staatensystem)
aus demselben hervor, in welchem entweder die einzelnen sich zu
einander wie Gegensonnen oder wie um eine Centralsonne rotirende
Planeten verhalten. Ersteres kann, wenn die einzelnen Glieder (Staaten)
ihrer Unabhängigkeit von einander ungeachtet zu einem Ganzen sich
vereinigen, zu einer Gesellschaftsföderation (Staatenbund), letzteres,
wenn die Abhängigkeit der vielen vom Centralkörper sich vermindert,
zu einem Föderativkörper (Bundesstaat) führen.

381. Wie der die Zwischenräume der physikalischen Atome füllende
Aether und die zwischen den festen Körpern befindliche Luftmasse,
jener gleichsam die immaterielle, diese die materielle Atmosphäre der
Körperwelt ausmacht, wie die auf die Beziehungen zwischen den einzelnen
Bewusstseinsgebilden bezüglichen Phänomene des Bewusstseins (die
Gefühle) gleichsam die gemüthliche Temperatur der Bewusstseinswelt,
deren Wärme oder Kälte ausdrücken, so stellt das innerhalb einer
Gesellschaft vorhandene gemeinsame Bewusstsein mit seinen allen
gemeinsamen Vorstellungen, Gefühlen und Strebungen gleichsam das
psychische Innere der Gesellschaft, die ersten deren Geist, die
zweiten deren Gemüth, die letzten deren Charakter dar. Erstere, der
Inbegriff des im Bewusstsein der Gesellschaft lebenden Meinens,
Glaubens und Wissens, macht dabei gleichsam die Licht-, die
Summe der innerhalb derselben vorhandenen Lust- und Unlustgefühle,
insbesondere aber jene der im gemeinsamen Bewusstsein wirksamen Mit-
oder socialen Gefühle gleichsam die Wärme-, die magnetischen und
elektrischen Phänomene innerhalb der gesellschaftlichen Atmosphäre aus,
während die Zahl und Beschaffenheit der innerhalb der Gesellschaft
begangenen Thaten, wenn dieselben als unvorsätzliche im Rausche
der Leidenschaft begangene Handlungen angesehen werden dürfen,
den Grad der innerhalb der Gesellschaftsatmosphäre vorhandenen,
der Gewitterschwüle vergleichbaren, affectvollen Spannung, wenn
sie dagegen als vorsätzliche, im zurechnungsfähigen Zustand zur
Aeusserung gelangte Willensacte betrachtet werden müssen, das der
mittleren Witterung ähnliche Niveau des innerhalb der Gesellschaft
gegebenen Sittlichkeitszustandes bezeichnen. Licht und Finsterniss
in der physischen kehren innerhalb der gesellschaftlichen Welt
als die Gegensätze der Aufklärung und des Wahn- und Aberglaubens,
Hitze und Kälte jener als Gemüthsfülle und Gemüthlosigkeit,
Anziehung und Abstossung gleichnamiger und ungleichnamiger Pole
als menschenfreundliches Mitgefühl und erkältende Selbstsucht,
verheerende Sturmfluten, magnetische und elektrische Ungewitter, aber
auch luftreinigende Gewitterstürme und befruchtende Frühlingsregen
als zerstörende Ausbrüche entfesselter Leidenschaft, aber auch
als heroische Thaten enthusiastischer Aufopferung, endlich der
durchschnittliche Zustand der Licht- und Wärmevertheilung in dem
durchschnittlichen Verhältniss begangener Ausschreitungen und
Verbrechen (wie es die sogenannte moralische Statistik aufweist)
zu der Zahl und dem Bildungszustand der Gesellschaft wieder.

382. Wie die Körper im Raume, die Vorstellungen im Bewusstsein, so
wechseln die Gesellschaftsglieder ihren Ort innerhalb der Gesellschaft,
die Gesellschaften selbst den ihrigen im Raume neben, in der Zeit nach
und vor andern Gesellschaften. In dem "Kampf ums Dasein", welchen die
Körper in der physischen, die Vorstellungen der Bewusstseinswelt,
wie die Mitglieder der Gesellschaft um ihre Stellung in dieser mit
einander führen, werden die einen, die herrschenden, von oben nach
unten, andere, beherrschte, von unten nach oben gedrängt, und wie die
Hindernisse, die dem im Raume bewegten Körper, und die Hemmungen,
die der zur Klarheit aufstrebenden Vorstellung im Wege stehen,
so die gesellschaftlichen Widerstände, welche den innerhalb der
Gesellschaft Emporstrebenden begegnen, durch Glück oder Klugheit
überwunden. Wandervölker und Auswanderer verändern den Ort ihres
geselligen Zusammenlebens, während bis dahin blühende Gesellschaften
durch Zerfall und innere Erschlaffung von ihrer Höhe herabsinken oder
durch andere von derselben gestürzt werden. Wie aber der physische
Körper gleich dem Bewusstseinsgebilde nicht blos den Ort, sondern auch
Form und Stoff zu wechseln vermag, so geht der Gesellschaftskörper
nicht nur aus der lockeren in engere Association (Actiengesellschaft
in Handelscompagnie), sondern aus der qualitätslosen in die qualitative
Genossenschaft (aus blosser Geselligkeit zur Freundschaft) und endlich
in organische Verschmelzung (aus dem Liebesverhältniss zur Heirat und
Familie) und organisirte Gesellschaft, diese aus der pflanzenartigen
Form des Autochthonenthums aber selbst in die freibewegliche der
Wandergesellschaft, nach dieser in die höhere Form der staatähnlichen
Organisation und schliesslich in deren höchste und vollkommenste
Gestaltung, den Staat über.

383. Wie der Stoff des Bewusstseins die primitiven Bewusstseinsacte,
so ist der Stoff der Gesellschaft der Inbegriff jener
Bewusstsseinsindividualitäten, welche unter einander durch die
Congruenz ihres individuellen Bewusstseinsgehalts zu einem Alle
umfassenden gemeinsamen Bewusstsein verbunden werden. Hört eines dieser
Einzelbewusstsein auf, seinem Inhalt nach mit jenem der übrigen zu
harmoniren, so gehört dasselbe nicht mehr dem Allgemeinbewusstsein
an und hat der Einzelne, dessen Bewusstsein auf diese Weise sich
von dem allgemeinen geschieden hat, innerlich längst aufgehört
Gesellschaftsmitglied zu sein, auch wenn nach aussen hin dessen
bisheriger Verband dem Anschein nach unverändert fortbesteht. So kann
der innerlich von dem Glaubensbekenntniss einer Glaubensgenossenschaft
Abgefallene äusserlich in dem gesellschaftlichen Verbande seiner
Kirche fortleben, also längst "confessionslos" geworden sein,
ehe er sich äusserlich als solchen bekennt. Mit der Auflösung des
gemeinschaftlichen Bewusstseins löst die Gesellschaft sich selbst
auf, mit der Selbstauflösung aller unter eine gemeinsame Kategorie
(z. B. unter jene der Familie, der Schule, der Kirche etc.) gehörigen
Gesellschaften tritt für jede jener Kategorien socialer Nihilismus
(der Familie als Auflösung jedes Familien-, der Schule oder Kirche als
solche jedes wissenschaftlichen und Bekenntnissverbandes) ein. Mit der
Selbstauflösung des Staats als der gesellschaftlichen Verwirklichung
der Gesellschaftsidee erfolgt die Verneinung dieser selbst, die
Annihilisation eines gesellschaftlichen Verbandes überhaupt und damit
die Rückkehr zum ursprünglichen Zustand ungesellter Individuen, des
Zerfalls des socialen, wie oben des physischen Stoffs, in seine Atome.

384. Wie die Gesammtheit der physischen Körper den Kosmos, die
Gesammtheit der Bildungen des individuellen Bewusstseins die Seelenwelt
des Individuums, so macht die Gesammtheit gesellschaftlicher Körper
von den gleichgiltigsten und flüchtigsten Associationen bis zu
dauerhaften, sei es durch Bluts-, sei es durch Ueberzeugungsbande
verschmolzenen organischen und organisirten Corporationen und zu
der ausdauerndsten und umfassendsten von allen, dem Staate und den
Staaten in ihren gegenseitigen, sei es auf Ebenbürtigkeit, sei es auf
Abhängigkeit gegründeten Beziehungen, als Staatensystem, so weit die
geschichtliche Erfahrung reicht, die Welt der Geschichte aus. Wie die
Totalität des physischen und jene des im individuellen Bewusstsein
sich vollziehenden psychischen Geschehens die Naturgeschichte des
Kosmos und die Geschichte der Seelennatur, so stellt die Gesammtheit
des innerhalb der Gesellschaft wie innerhalb der Gesellschaften von
den unscheinbarsten Regungen eines gemeinschaftlichen Bewusstseins im
Umkreis locker verknüpfter bis zu der reichsten Entfaltung gemeinsamen
Denkens, Fühlens und Wollens unter einander physisch oder psychisch
eng verwandter Individuen, von dem einförmigen Dahinleben der Natur-
bis zu den wechselvollen Schicksalen hochcivilisirter Culturvölker,
von den seltenen und zufälligen feindseligen und freundlichen
Berührungen zerstreuter Horden, Familien und Stämme bis zu den eng
verflochtenen materiellen und geistigen Interessen und dem Raum und
Zeit überwindenden Handels-, literarischen und persönlichen Verkehr
einer zu stets sich steigernder Gleichartigkeit der Bildung, der
Sitten und der staatlichen Formen entwickelten Menschheit herauf, so
weit die geschichtliche Erfahrung reicht, die nach unveränderlichen
Gesetzen sich vollziehende Entwickelungsgeschichte der Gesellschaft,
die Weltgeschichte dar.



DRITTES BUCH.

DIE KUNST.


ERSTES CAPITEL.

DIE BILDUNGSKUNST.


385. Wie es die Aufgabe des ersten Buches war, die Ideen als
Musterbegriffe ohne Rücksicht auf eine denselben entsprechende oder
nicht entsprechende Wirklichkeit, jene des zweiten dagegen, das
Wirkliche ohne Rücksicht auf dessen vorhandene oder nicht vorhandene
Uebereinstimmung mit den Ideen, jedes der beiden genannten Gebiete
rein, ohne Beeinflussung oder Färbung durch das andre für sich
darzustellen, so ist es die Aufgabe des dritten, durch dessen
Gegenstand, die Kunst, welche weder, wie der Inhalt des ersten
vorschreibende, noch wie jener des zweiten Buches beschreibende
Betrachtung, sondern reale Bethätigung ist, die Ideen in die
Wirklichkeit einzuführen d. h. das mit den Ideen nicht in Einklang
stehende Wirkliche diesen, so weit dessen Natur es gestattet,
harmonisch zu gestalten.

386. Aus dem Gesagten folgt, dass der Begriff der Kunst, insofern unter
demselben Darstellung von Ideen im wirklichen Stoffe verstanden wird,
weder mit jenem der schönen Kunst, welche die Darstellung ästhetischer
Ideen, noch mit jenem der Technik, welche die kunstfertige Ueberwindung
der Ideendarstellung durch das wirkliche Material in den Weg gestellter
Widerstände in sich begreift, identisch, sondern weiter als beide
ist und als auf Wissen sich stützendes Können überall dort zur
Anwendung kommt, wo von Darstellung gleichviel was für welcher Ideen
in wirklichem, gleichviel ob willigem oder sprödem Stoffe die Rede
ist. Jenes, das Merkmal der Ideendarstellung, unterscheidet die Kunst
von der ideenlosen Virtuosität, die sich in Ueberwindung im Material
nicht gegebener, sondern in demselben ausdrücklich hervorgesuchter,
also selbstgemachter Schwierigkeiten gefällt. Dieses, das Merkmal
der Realität des Materials, durch welche die Idee selbst solche
gewinnt, unterscheidet die Kunst von dem traumhaft dahinfliessenden
Bewusstseinsgespinnst, welches weder durch die Verarbeitung nach
logischen Ideen logischen Halt, noch durch solche nach ästhetischen
Ideen ästhetische Form, noch durch gleiche nach ethischen Ideen
ethischen Gehalt, noch endlich durch Verkörperung in lebendigem,
eigenem oder fremdem, oder in leblosem Stoff reale Gestalt annimmt. Wie
jene Können ohne Wissen (entweder nicht Kennen oder nicht Kennenwollen
der Ideen, die sich gar wol mit umfassender Kenntniss des sonst zur
Ideendarstellung bestimmten Stoffs verträgt), so stellt dieses, auch
wenn es wie der hellseherische Traum des Genius das Wahre trifft, ein
Wissen ohne Können dar (nicht Verarbeiten, oder nicht Verarbeitenwollen
der Idee im Stoff, welches sich gar wohl wo mit umfassendem Vermögen
künstlerischer Darstellung vertragen, aber auch aus Mangel technischer
Anlage oder aus "göttlicher Trägheit" entspringen kann).

387. Kunst in diesem Sinn ist einerseits so vielfach, als überhaupt
zur Darstellung geeignete Ideen, und so mannigfaltig, als zur Aufnahme
derselben empfängliche Stoffe vorhanden sind. Dieselbe erscheint
in ersterer Hinsicht als Darstellerin logischer, ästhetischer und
ethischer d. i. der Ideen des Wahren, Schönen und Guten. In letzterer
Hinsicht wird es darauf ankommen, ob das Material, dessen die Kunst
sich bedient, psychischer (Bewusstseins-) oder physischer (materieller)
Natur, und im ersteren Fall, ob der Bewusstseinsstoff Inhalt des
eigenen oder eines fremden Bewusstseins sei. Dieselbe gliedert sich
in dieser Hinsicht in die dreifache Kunst der Bildung der Vorgänge des
eigenen Bewusstseins (Vorstellen, Fühlen, Wollen), so wie jener eines
fremden Bewusstseins, endlich der Körper und Processe der physischen
(leblosen und lebendigen) Natur nach (logischen, ästhetischen,
ethischen) Ideen. Die erste als Kunst der Ideendarstellung im eigenen
Vorstellen, Fühlen und Wollen d. i. der Bildung des eigenen Vorstellens
nach logischen, ästhetischen und ethischen, des eigenen Fühlens nach
ästhetischen und des eigenen Wollens nach ethischen Normen ergibt
die Kunst der Selbstbildung oder die Bildungskunst. Die zweite als
Kunst, das Vorstellen, Fühlen und Wollen eines Andern, das erste nach
logischen, ästhetischen und ethischen, das zweite nach ästhetischen,
das dritte nach ethischen Normen zu bilden, ergibt die Kunst der
Bildung Anderer oder die Bildekunst. Die dritte als die Kunst, die
Processe und Körper der materiellen, lebendigen und leblosen Natur
nach Ideen zu behandeln d. i. durch die Wahrheit als Wissenschaft zu
beherrschen, durch die Schönheit als Kunst zu verschönern und durch
die Güte als wohlwollende und menschenwürdige Behandlung zu veredeln,
ergibt als Kunst die Natur zu bilden, die bildende Kunst.

388. Bildungskunst als Ideendarstellung im eigenen Vorstellen ist
als Darstellung logischer Ideen in demselben zunächst logische
Kunst. Insofern die logischen Ideen den Inbegriff der Bedingungen
ausmachen, unter welchen Denken zum Wissen wird, besteht deren Aufgabe
darin, das eigene Vorstellen in Wissen, den Inhalt desselben in
Wissenschaft zu verwandeln. Der Denkende wird zum Wissenden, wenn ihm
alles dasjenige, aber auch nur dasjenige als wahr d. i. als richtig
und giltig erscheint, was ihm in Folge der Anwendung logischer
Normen auf sein Denken als solches erscheinen muss. Andernfalls
weiss er nicht, sondern meint, ahnt oder glaubt nur. Ersteres, wenn
er überhaupt keine Gründe, letzteres, wenn er andere als logische
d. i. aus dem Inhalt des Gedachten stammende Gründe hat, dasselbe für
wahr zu halten. Je nachdem diese letzteren entweder aus dem Gefühl,
oder aus dem Begehren, Wünschen und Wollen genommen sind, so dass der
Vorstellende dasjenige für wahr oder falsch hält, was seinen Gefühlen,
oder dasjenige, was seinen Wünschen entspricht oder entgegen ist,
tritt das von ihm für wahr Gehaltene in der Form eines Vorausgefühlten
(Geahnten) oder Vorauserwarteten (Geglaubten) auf, auch dann, wenn
dasselbe nach logischen Regeln aus der Beschaffenheit des Gedachten
weder vorhergesehen, noch überhaupt gewusst werden kann.

389. Insofern und weil das Wissen vom Meinen, Ahnen und Glauben
verschieden, die Form des Gewussten auch dann, wenn der Inhalt
derselbe ist, von der Form des blos Gemeinten, Geahnten oder
Geglaubten verschieden sein muss, so folgt, dass die logische
Kunst als Bearbeitung des eigenen Vorstellens nach logischen Regeln
zunächst darauf ausgehen muss, das zu bearbeitende Material d. i. das
eigene Vorstellen von allen ihm fremdartigen Bestandtheilen und
Zusätzen zu reinigen d. h. alles dasjenige auszuscheiden, was nicht
selbst Vorstellung, sondern Gefühl oder Streben (Begierde, Wunsch,
Wille) ist. Dieselbe trachtet daher vor allem den Vorstellenden
von jeder Rücksicht auf dasjenige frei zu machen, wodurch der
Inhalt des Gedachten zu dessen Gefühlen, Begierden, Wünschen und
Willensbestrebungen in förderlicher oder hemmender Beziehung steht
d. h. entweder ein ästhetisches oder ein praktisches Interesse für
denselben hat. Denn, wo das erstere herrscht, wird der Vorstellende
eine eben so begreifliche Neigung zeigen, dasjenige, was ihm aus irgend
einem Grunde nützlich, angenehm oder schön erscheint d. h. gefällt,
für wahr oder wirklich, wie dasjenige, was ihm missfällt, für falsch
oder Fiction zu halten; wo das letztere herrscht, wird er bereit sein,
dasjenige, was er aus irgend einem Grunde begehrt, wünscht oder will,
für begehrenswerth, möglich und erlaubt, so wie dessen Gegensätze
d. i. alles dasjenige, was er verabscheut, weder wünscht noch will,
für das Gegentheil zu halten. Aus dem ersteren entspringt, wenn das für
wahr Gehaltene deshalb dafür gehalten wird, weil dasselbe uns nützlich,
dagegen für falsch, wenn es uns schädlich scheint, die sogenannte gute
oder schlimme Ahnung, -- wird es dagegen für wahr oder falsch gehalten,
je nachdem es uns angenehm und schön oder unangenehm und hässlich
dünkt, der poetische Optimismus oder Pessimismus, poetischer Glaube
oder Unglaube (Wahnglaube). Aus dem letzteren entspringt, je nachdem
das praktische Interesse an dem Inhalt des Gedachten den Vorstellenden
nur gestimmt macht, Ungewisses, ja selbst Unwahrscheinliches, aber
doch Mögliches und bis zu einem gewissen Grad Wahrscheinliches über
diesen hinaus für wahrscheinlich, ja selbst für gewiss zu halten,
oder dermassen verblendet, dass er nicht blos Unwahrscheinliches
für wahrscheinlich, sondern Unmögliches für möglich, ja selbst für
wirklich hält, im ersten Fall Leichtgläubigkeit, im zweiten Fall
Aberglaube. Beide sind verzeihlich, wenn die Begierden, Wünsche und
Willensbestrebungen, durch die sie veranlasst werden, entweder an
sich löblich oder doch erlaubt, dagegen unentschuldbar, wenn dieselben
nicht blos thöricht, sondern unerlaubt und verwerflich sind.

390. Die Bearbeitung des eigenen Vorstellungsmaterials erfolgt, wenn
das letztere von fremdartigen, ästhetischen und praktischen Zusätzen
gereinigt ist, "sine ira", aber erst, wenn dieselbe nicht blos auf
Grund des psychischen Mechanismus, sondern nach logischen Normen
geschieht, "cum studio". Jene dient nur dazu, den Vorstellenden von
den Einflüssen des ästhetischen und praktischen Interesses auf sein
Denken frei d. h. das rein wissenschaftliche Interesse an dem Inhalt
des Gedachten zu dessen einzigem zu machen: diese geht darauf aus,
die durch den psychischen Mechanismus des Bewusstseins thatsächlich in
demselben entstandenen Gedanken vom Gesichtspunkt der logischen Ideen
einer kritischen Prüfung zu unterziehen d. h. das specifisch logische
oder im weiteren Sinn philosophische Interesse zu befriedigen. Die
Aufgabe der ersteren ist erfüllt, wenn es derselben gelungen ist,
auf rein wissenschaftlichem d. i. weder durch ästhetische, noch
praktische Interessen beeinflusstem Wege inhaltsvolle Gedanken
(Begriffe, Urtheile, Schlüsse, Systeme), jene der letzteren aber erst,
wenn sie es dahin gebracht hat, den Forderungen logischen Denkens
gegenüber haltbare d. i. logisch denkbare Gedanken (denknothwendige
oder doch logisch erlaubte Begriffe, Urtheile, Schlüsse und Systeme)
herzustellen. Frucht der ersteren ist die naive d. i. empiristische
und im philosophischen Sinn kritiklose, die der letzteren dagegen die
bewusste d. i. philosophische, weil durch logische Kritik gesichtete
Wissenschaft.

391. Die naive Wissenschaft führt ihren Namen daher, weil sie
einerseits zwar Wissenschaft d. h. von den Einflüssen des Gefühls
und des Willens frei, andererseits aber naiv ist d. i. um die Frage,
ob der psychische Mechanismus von Haus aus derart beschaffen sei,
dass die durch denselben im Bewusstsein zum Vorschein kommenden
Gebilde (Begriffe, Urtheile, Schlüsse, Schlussketten und Systeme)
wahre d. i. richtige und giltige Begriffe, Urtheile u. s. w. sein
müssen oder doch sein können, sich unbekümmert zeigt. Letztere aber
d. i. die eigentlich kritische Frage, weil sie nichts geringeres
als das gesammte erkenntnisstheoretische Problem d. i. die Würdigung
der gesammten auf dem Wege des psychischen Mechanismus entstandenen
Vorstellungen in Bezug auf deren Erkenntnisswerth enthält, ist um
so unabweislicher, je weniger es sich bestreiten lässt, dass gewisse
auf obigem Wege mit naturgesetzlicher Nothwendigkeit im Bewusstsein
sich einstellende Vorstellungsgebilde in Hinsicht auf deren Bedeutung
für die Erkenntniss keinen oder sogar einen negativen Werth besitzen
d. h. nicht blos Hohl-, sondern Wahngebilde sind. Zu diesen gehören
die sogenannten Sinnestäuschungen (Illusionen und Hallucinationen),
aber auch der Schein der täglichen Bewegung des gestirnten Himmels
um die Erde, oder des am Horizont vergrösserten Durchmessers des
Mondes, deren sich der Astronom, der sie als Trug erkennt, eben so
wenig wie der Laie, der sie für Wirklichkeit nimmt, zu erwehren
vermag. Ebendahin aber auch gewisse Begriffe, welche, wie jener
Schein, auf Grund des psychischen Mechanismus im Bewusstsein mit
naturgesetzlicher Nothwendigkeit entstehen und daher unabweislich,
aber nichts desto weniger von einer Inhaltsbeschaffenheit sind,
welche nicht ohne weiteres gestattet, deren Inhalt für möglich,
geschweige denn für wirklich, also auch nicht sie selbst für richtige
und giltige Begriffe zu halten. Von dieser Art sind Begriffe,
deren Inhalt auf Wirkliches bezogen und folglich, da dieselben
thatsächlich im Bewusstsein gegeben sind, als wirklich gesetzt wird,
zugleich aber in sich widersprechend ist, so dass die Forderung,
denselben als wirklich zu setzen, nichts geringeres bedeutet als
ein Widersprechendes, also ein solches, was nach logischen Ideen als
wirklich nicht gedacht werden darf, denselben zum Trotz als solches zu
denken. Zeigt sich nun, dass zu diesen Begriffen gerade diejenigen
gehören, von welchen die sogenannten Erfahrungswissenschaften,
Natur- und Geschichtswissenschaft, den umfassendsten Gebrauch und die
freigebigste Anwendung machen, ja solche, ohne welche das von obigen
Wissenschaften errichtete Wissenschaftsgebäude, die sogenannte Natur-
und Geschichtserfahrung, weder Grundlage noch Zusammenhang, überhaupt
keinerlei Halt besässe, so erscheint das in die Zuverlässigkeit und
Glaubwürdigkeit jener Wissenschaften gesetzte Vertrauen so lange
als unberechtigt, die Wissenschaft selbst als naiv, so lange nicht
entweder jene Begriffe beseitigt oder, da dies, ohne das Werk jener
Wissenschaften selbst zu zerstören, unmöglich ist, wenigstens die
Widersprüche aus deren Inhalt verschwunden sind.

392. Der geschilderte Fall ereignet sich bei den sogenannten
metaphysischen oder, wenn alle Begriffe, deren Inhalt auf Wirkliches
bezogen wird, ontologische (Seinsbegriffe) heissen sollen, bei den
allgemeinsten ontologischen Begriffen, als welche (von Herbart)
namentlich jene des Dings mit mehreren Merkmalen, der Veränderung
(incl. der Bewegung) der Materie und des Ichs angeführt worden
sind. Dieselben sind sämmtlich "Thatsachen des Bewusstseins" d. h. sie
finden sich in Folge und auf Grund des psychischen Mechanismus in
jedem normal naturgesetzlich entwickelten Bewusstsein in gleicher
Weise, als aus den ursprünglichen Bewusstseinsacten gesetzmässig
abgeleitete psychische Gebilde vor; der Inhalt derselben ist daher
weder selbst gemacht, sondern gegeben, noch willkürlich anders gemacht,
als er gegeben ist, sonach unabweislich. Derselbe ist aber zugleich
so beschaffen, dass er einander gegenseitig ausschliessende, weil
widersprechende Bestimmungen enthält, sonach unhaltbar. Bei dem Begriff
des Dings mit mehreren Merkmalen besteht dieser Widerspruch darin,
dass dasselbe zugleich als eins und als vieles, bei dem Begriff der
Veränderung darin, dass das Veränderte zugleich als dasselbe und nicht
dasselbe, bei der Materie darin, dass dieselbe ins Unendliche getheilt
und doch aus Theilen entstanden, bei dem Begriff des Ich endlich
darin, dass dasselbe als sich sich vorstellend d. i. einen regressus
in infinitum einschliessend und doch als finitum d. i. als vollendet
gedacht werden soll. Dieselben sind aber zugleich von der Art, dass das
gesammte Gebäude der Erfahrung und sonach der Erfahrungswissenschaft
auf der Voraussetzung ihrer Giltigkeit ruht; weder die Körper-, noch
die geschichtliche Welt, wie sie erfahrungsmässig gegeben sind, wären
ohne Voraussetzung der Wirklichkeit von Dingen als Trägern zahlreicher
Eigenschaften, von Bewegung in Raum und Zeit, so wie qualitativer
Veränderung von Stoff in der einen und bewussten Individuen in
der anderen möglich. Letztere und damit die gesammte auf Erfahrung
beruhende vorgebliche Wissenschaft vom Wirklichen müsste sonach so
lange für bodenlos, diese Wissenschaft selbst für naiv gelten, als jene
vor dem Forum der Logik unhaltbaren Begriffe deren Grundlage ausmachen.

393. Da die Bearbeitung der im Bewusstsein auf normalem
Wege entstandenen Vorstellungen vom Gesichtspunkt jener
erkenntnisstheoretischen Frage nicht durch den Inhalt der Vorstellungen
selbst, sondern durch das Verhältniss der Naturgesetze des Denkens (des
psychischen Mechanismus) zu dessen Normalgesetzen (den logischen Ideen)
bedingt ist, so erstreckt sich die Bezeichnung der Naivetät über das
ganze Gebiet der unkritisch (d. i. ohne Rücksicht auf obige Frage)
verfahrenden Wissenschaft d. h. auf die Gebiete aller besonderen
Wissenschaften, gleichviel welchen Gegenstand dieselben betreffen
mögen, sonach auf die formalen, wie Mathematik und Grammatik,
nicht weniger, wie auf die realen, und unter diesen ebenso auf die
theoretischen, welche, wie Geschichte und Naturwissenschaft, von
Wirklichem, wie auf die praktischen, welche wie Kunst- und Sitten-,
Rechts-, Staats- und Erziehungslehre von erst zu Verwirklichendem
handeln; endlich auf das von der Erfahrung nicht blos ausgehende,
sondern ausschliesslich auf dieselbe sich stützende d. i. empirische
Denken (empirischer Dogmatismus) nicht weniger als auf jedes den
Ursprung seiner Begriffe aus dem psychischen Mechanismus und damit
die Zweifelhaftigkeit ihres erkenntnisstheoretischen Werths entweder
nicht kennende oder vornehm ignorirende, um dieser seiner begrifflichen
Form willen im eminenten Sinn "philosophisch" (rational, speculativ,
dialektisch) sich nennende Denken (dogmatische Philosophie).

394. Wie jeder Dogmatismus, auch der in der Philosophie, vor, so liegt
die bewusste d. i. durch Bearbeitung der im psychischen Mechanismus
gewordenen Begriffe nach logischen Normen entstandene und ihrer
Uebereinstimmung mit den letztern innegewordene Wissenschaft nach der
Beantwortung der kritischen Frage d. i. dem Kriticismus. Wie dieser
selbst aus der Skepsis, so geht die wahre d. h. kritisch gesichtete
Wissenschaft aus der Kritik hervor. Insofern die letztere auf alle
thatsächlich im Bewusstsein vorfindlichen Begriffe, gleichviel welchem
wissenschaftlichen Gebiete dieselben angehören mögen, sich ausdehnt,
unterscheidet sie sich von jener Gattung von Kritiken, deren jede
sich nur auf ein begrenztes Gebiet für richtig und giltig gehaltener
Begriffe, Urtheile oder Schlüsse erstreckt d. i. wie die sogenannte
historische Kritik angeblich historische Thatsachen, wie die sogenannte
philologische Kritik vermeintlich echte Textesüberlieferungen, wie
die ästhetische Kritik unverdienter Weise als mustergiltig gepriesene
Kunstleistungen u. s. w. auf ihre wahre Gestalt und wirklichen Gehalt
zurückzuführen sich zur Aufgabe macht. Wie durch letzteren Umstand
dem Umfange nach, so sondert sie sich von den angeführten Arten der
Kritik überdies durch die Beschaffenheit des der Beurtheilung zu Grunde
liegenden Massstabs ab, welcher für sie weder in der Uebereinstimmung
oder im Widerspruch des angeblich Geschichtlichen mit als solches
Anerkanntem (wie bei der historischen Kritik), noch in dem Einklang
oder der Abweichung der vermeintlich echten mit oder von der als
solche beglaubigten Textesüberlieferung (wie bei der philologischen
Kritik), noch in der Harmonie oder Disharmonie der jeweilig gelobten
oder getadelten Leistung mit den ästhetischen Normen (wie bei der
Kunstkritik) u. s. w., sondern einzig und allein in der Denkbarkeit
oder Undenkbarkeit, so wie in der Denknothwendigkeit der Begriffe
nach logischen Normen gelegen ist.

395. Die auf diesem Wege durch Bearbeitung der Begriffe entstandene
Wissenschaft ist Philosophie. Der Unterschied derselben von den
besonderen Wissenschaften liegt, da die Bearbeitung, aus der sie
entspringt, sich auf die Gebiete aller Wissenschaften ausdehnt, nicht
darin, dass sie anderes, sondern darin, das sie anders weiss. Wenn der
Name der Wissenschaft nicht nach dem Grade der Wissenschaftlichkeit
ertheilt, sondern je nach der Besonderheit des Gegenstandes vertheilt
werden soll, so ist die Philosophie, wie der Poet bei der Theilung der
Erde, so bei der Theilung des (Bacon'schen) "Globus intellectualis"
zu spät gekommen. Wenn dagegen jener allein entscheidet, so ist die
bewusste aus kritischer Sichtung des Gewussten hervorgegangene allein
wahre (Normal- und zugleich Universal-) Wissenschaft. Dieselbe
zerfällt, je nachdem die Bearbeitung gegebener Begriffe nach
logischen Normen der formalen oder der realen Seite derselben
gilt, selbst in eine philosophische Formal- und in philosophische
Realwissenschaften. Jene behandelt die gegebenen Begriffe lediglich
als Begriffe, wobei von der Beschaffenheit des Inhalts derselben
abgesehen wird, und erstreckt sich daher auf alle gegebenen Begriffe
ohne Unterschied. Diese unterscheiden sich von jener gemeinsam
durch den Umstand, dass der Inhalt der Begriffe berücksichtigt,
unterscheiden sich aber unter einander selbst wieder durch den
Umstand, dass die eine derselben alle diejenigen Begriffe umfasst,
deren Inhalt als wirklich gedacht, die andere dagegen alle diejenigen,
deren Inhalt allgemein und nothwendig wohlgefällig oder missfällig
gefunden werden soll. Erstere, die philosophische Formalwissenschaft
fällt mit der (formalen) Logik, letztere beiden als theoretische und
praktische philosophische Realwissenschaft fallen mit der Metaphysik
(philosophische Wissenschaft vom Wirklichen, Ontologie) und Aesthetik
(philosophische Wissenschaft vom Gefallenden und Missfallenden,
welche auch als Ethik das unbedingt Gefallende am Wollen in sich
schliesst) zusammen.

396. Wie die Darstellung logischer Ideen im eigenen Vorstellen
logische, so ist jene, ästhetischer Ideen in demselben schöne
Kunst. Insofern in den letztgenannten die Summe der Bedingungen
enthalten ist, unter welchen wie immer beschaffener realer Stoff
unbedingt gefällt oder missfällt, geht die ästhetische Ideendarstellung
darauf aus, das eigene ohne Rücksicht auf ästhetische Zwecke durch
psychischen Mechanismus entstandene in schönes d. i. den ästhetischen
Normen angemessenes Vorstellen zu verwandeln. Da nun dasjenige,
wodurch Vorgestelltes gefällt oder missfällt, nicht das Was (der
Gehalt), sondern das Wie (die Gestalt) desselben ist, so muss,
um das gegebene Vorstellen in ästhetisches zu verwandeln, zunächst
von dem Inhalt desselben und der Frage, ob derselbe wahr oder ein
demselben entsprechendes Object wirklich oder nicht wirklich sei,
völlig abgesehen und das wissenschaftliche (prosaische) Interesse
an der Wahrheit oder Wirklichkeit durch das ästhetische (poetische)
Interesse an der Schönheit des Gedachten ersetzt werden. Während die
logische Kunst Denken in Wissen, muss die schöne Kunst auch wahre in
nur wahr scheinende Gedanken verkehren, wenn dieselben ästhetisch
d. i. als schöner Schein, statt didaktisch d. i. als theoretische,
oder moralisch d. i. als bessernde Belehrung wirken sollen. Sogenannte
didaktische oder moralische Kunst ("moralisch Lied") ist daher nicht
sowol Kunst als vielmehr Wissenschaft (Gedankenprosa) in Kunstform
(Lehrgedicht, Fabel).

397. Das auf diesem Wege in Schein umgewandelte Vorstellen (die
"Welt der Phantasie") bildet das Material der ästhetischen
Ideendarstellung. Dasselbe ist so vielfach und mannigfaltig
als das Vorstellen selbst und zerfällt, wie dieses, je nach
der Beschaffenheit seines Inhalts in verschiedene Classen. Die
erste derselben ist jene der sogenannten einfachen Empfindungen
(des Gesichts oder Gehörs oder des Tastsinns, während Geruchs- und
Geschmacksempfindungen ihrer Unbestimmtheit wegen als ästhetisches
Material keine Verwendung finden, ausser etwa in der Gastronomie,
in welcher durch Abwechslung verschiedener Geschmäcke, oder in
der Garten- und Toilettenkunst, wo durch Abwechslung verschiedener
Wohlgerüche ein dem ästhetischen verwandter Eindruck hervorgebracht
werden soll). Die Gesichtsempfindungen, und zwar sowol jene der
quantitativ verschiedenen Helligkeits- und Dunkelheitsgrade (Licht
und Schatten) wie die der qualitativ unterschiedenen Lichteindrücke
(Farben) liefern den Stoff für die Kunst des Colorits (Helldunkel
und Farbengebung). Die Empfindungen des Gehörssinns, und zwar sowol
jene der quantitativ verschiedenen Intensitätsgrade des Schalls (forte
piano), wie jene der qualitativ verschiedenen periodischen Klangreize
(Töne) liefern den Stoff für die phonetische Kunst (Modulation,
Klangfarbe). Die Tastempfindungen, und zwar sowol jene des quantitativ
verschiedenen Drucks und der demselben Widerstand leistenden Kraft,
die "statischen" Empfindungen, wie jene der qualitativ verschiedenen
(ebenen oder gekrümmten) Körperoberflächen (Ebene, Kugeloberfläche,
gewellte Oberfläche u. s. w.), die "plastischen" Empfindungen, liefern
das Material, jene für die bauende, diese für die bildende Kunst
(Architektur und Sculptur). Die zweite Art der Vorstellungen begreift
diejenigen, deren Inhalt leere Reihen und deren Grössenverhältnisse,
und zwar sowol Zeit- und Zahlen- als Raumverhältnisse ausmachen,
welche letzteren selbst einander entweder quantitativ gleich
(wie bei den symmetrisch angeordneten Gegenständen im Raum), oder
proportional (wie bei der regelmässigen Aufeinanderfolge gleicher
und ungleicher Abschnitte in der Zeit), oder qualitativ gleichartig
(z. B. als Raumformen entweder durchaus lineare, oder ebene, oder
gekrümmte Flächenformen, als Zeitabschnitte durchaus lineare Formen)
oder ungleichartig (als Raumformen aus geraden und krummen Linien,
ebenen und gekrümmten Flächen, als Zeitformen aus Eintheilungsgliedern
nach verschiedenen Zeiteinheiten gemischt) sein können. Dieselben
liefern den Stoff, wenn sie Raumformen und deren Verhältnisse zum
Inhalt haben, für die zeichnende (raummessende und raumbildende),
wenn Zeitformen und deren Verhältnisse ihren Inhalt ausmachen,
für die rhythmische (zeitmessende und zeitraumbildende Kunst). Die
dritte Classe von Vorstellungen umfasst die sinnlichen Vorstellungen
und die aus denselben entwickelten Gemeinbilder (Begriffe), welche
als solche einen bestimmten aus der Erfahrung entweder unmittelbar,
oder durch inzwischen eingetretene Veränderungen mittelbar geschöpften
Inhalt besitzen d. i. Gegenstände darstellen, welche entweder ganz
oder deren Bestandtheile in der sogenannten wirklichen d. h. in der
phänomenalen Welt der Erfahrung vorfindlich sind, liefert den Stoff
zur Ideendarstellung in der Vorstellungswelt der gegebenen Erfahrung
d. i. zur Dicht- oder poetischen Kunst. Durch die Vereinigung zweier
oder mehrerer dieser sogenannten einfachen Künste zu einer einzigen
Kunst kann eine zusammengesetzte Kunst d. h. Ideendarstellung in
einem Material entstehen, welches die Summe der Materiale der zum
Ganzen verbundenen Künste ist. So ergibt sich durch die Verbindung
der zeichnenden und der coloristischen Kunst die malerische, durch
jene der rhythmischen und phonetischen Kunst die musikalische, durch
jene der zeichnenden und bauenden die architektonische, und durch
jene der zeichnenden und bildenden die plastische Kunst. Nur dürfen
die Materialien, die mit einander verbunden werden sollen, nicht
ungleichartig d. i. nicht z. B. das eine Raumform, das andre Zeitform
sein, daher sich Rhythmik als Zeitkunst wol mit phonetischer Kunst,
deren Empfindungen (die Tonempfindungen) nach einander (successiv),
nicht aber mit der coloristischen Kunst, deren Material (die Licht
und Farbenempfindungen) zugleich (simultan) auftritt, verbinden lässt.

398. Aus dem Umstande, dass die ästhetische Ideendarstellung je
nach der Verschiedenheit des Vorstellungsmaterials zwar immer
schöne Kunst, aber stets eine andere ergibt, fliesst, dass
wo das erforderliche Material im Bewusstsein gar nicht oder in
ungenügendem Masse vorhanden ist, die bezügliche schöne Kunst durch
keine Art künstlicher Bildung erworben zu werden vermag (poeta
nascitur). Derjenige, welchem aus was immer für einem Grunde
(z. B. durch die mangelhafte Lichtreizempfindlichkeit seines
Gesichts-, oder Gehörsreizempfindlichkeit seines Gehörsorgans)
die Unterscheidungsgabe für die feinen Nuancen der Farben- oder
Tonempfindungen und deren Intensitäten versagt ist, ist weder zum
Coloristen noch zum Musiker geschaffen; demjenigen, welcher für die
sinnlichen Eindrücke seiner Umgebung entweder, wie der träumerische
Denker in Folge seines Insichgekehrtseins, oder wie der oberflächliche
Weltling in Folge unaufhörlichen Zerstreutseins weder Auge noch Ohr
besitzt, geht die Bedingung des Dichters ab.

399. Wie die logische Kunst, wo sie nicht die Wissenschaft, sondern
die Virtuosität in der Handhabung logischer Kunstgriffe zum Ziel
hat, in Sophistik, so artet die schöne Kunst, wenn sie nicht die
Darstellung ästhetischer Ideen, sondern die Darlegung unumschränkter
Herrschaft über das ästhetische Material d. i. blosse Kunstfertigkeit
sich zum Zweck setzt, in Künstelei aus. Jene wie diese wird dadurch
abgeschnitten, dass sowol die logische wie die schöne Kunst unter
die Herrschaft der ethischen Ideen gestellt d. h. dass sowol die
Ausübung der logischen Pflicht, nur Logisches zu denken, wie jene
der ästhetischen Pflicht, nur Schönes zu schaffen, von der ethischen
Pflicht, nur das Gute zu wollen, abhängig gemacht d. h. weder alles,
was überhaupt gewusst werden kann, zu wissen gestrebt, noch alles,
was Schönes überhaupt geschaffen werden kann, zu schaffen unternommen
wird. Ausdruck dieser Mässigung, welche vor allem einerseits das zur
Erfüllung des sittlichen Berufs Unentbehrliche ("das Reich Gottes")
im Wissen sucht und das der Erreichung desselben im Wege Stehende
seiner lockenden Schönheit ungeachtet im Schaffen unterlässt d. h. nur
Wissenschaft, aber nicht jede Wissenschaft, und nur Schönes, aber
nicht jedes Schöne duldet, ist als Darstellung der ethischen Ideen
im eigenen, sei es Forscher-, sei es Künstlerbewusstsein, die Weisheit.

400. Wenn die Bildungskunst des eigenen Vorstellens nach logischen,
ästhetischen und ethischen Ideen zusammengenommen die Kunst der
Geistesbildung, so macht jene des eigenen Fühlens nach ästhetischen
Ideen die Kunst der Gemüthsbildung aus. Dieselbe geht, um Kunst
d. h. um Darstellung in einem dem Darzustellenden homogenen Material
zu sein, darauf aus, ihren Stoff, die Gefühle, in ihrer Reinheit
herzustellen d. h. von jedem Zusatz, der etwas anderes als Gefühl
(z. B. Begierde) und jeder Form, die eine andere als die Form des
Gefühls (z. B. bewusste Vorstellung; wissenschaftliche Einsicht) wäre,
freizumachen. Dieselbe scheidet daher einerseits alle diejenigen
Gefühle aus, die nur durch die Befriedigung oder Nichtbefriedigung
eines eben vorhandenen zufälligen und ausschliesslich individuellen
Begehrens, Wünschens oder Wollens veranlasst sind (die sogenannten
"vagen" oder subjectiven Gefühle, Erregungen), andrerseits aber
auch alle diejenigen sogenannten kritischen d. h. ein Gefallen oder
Missfallen ausdrückenden Urtheile, welche mit Bewusstsein aus anderen
Urtheilen als ihren Gründen abgeleitet, also nicht in der Gefühlsform
d. h. als unwillkürlicher (bewusstloser), unvermittelter Vorgang im
Bewusstsein gegeben sind. Folge des ersteren ist, dass als Material
für ästhetische Ideendarstellung nur allgemeine und nothwendige
(sogenannte "fixe" oder objective) Gefühle, Folge des letzteren, dass
nur sogenannte ästhetische (d. i. an sich evidente, eines Beweises
weder fähige noch bedürftige) Werthurtheile als solches zugelassen
werden. Jene wie diese, da es zu beider Beschaffenheit gehört,
allgemein und nothwendig d. h. unbedingter Ausdruck eines Wohlgefallens
oder Missfallens zu sein, die ästhetischen Ideen aber selbst nichts
anderes sind als das an sich unbedingt Wohlgefällige und Missfällige,
machen von Haus aus die Darstellung der letzteren als deren "Stimme"
im Bewusstsein (die Idee in uns; das "Daimonion des Sokrates") aus. Je
nachdem diese letztere sich richtend d. i. lobend oder tadelnd über
eigenes Verhalten (Schaffen oder Wollen), oder als harmonischer oder
disharmonischer Nachklang fremder Gefühle vernehmen lässt, wird sie
im ersteren Fall, wenn sie das eigene Schaffen seinem Werthe nach
beurtheilt, Geschmack (ästhetisches Gewissen), wenn sie das eigene
Wollen billigt oder missbilligt, Gewissen (sittlicher Geschmack),
in letzterem Falle sympathetisches Gefühl und zwar als harmonisches
Sympathie (Mitgefühl, Mitleid, Mitfreude), wenn es disharmonisch ist,
Antipathie (Neid, Schadenfreude) genannt.

401. Frucht der Gemüthsbildung ist die Lebendigkeit des Geschmacks (der
"Stimme des Gottes") im Künstler, des Gewissens (der "Stimme Gottes")
im Einzel- und des Mitgefühls (socialen Gefühls) im geselliglebenden
(socialen) Menschen. Wie die erste der schönen Kunst, so arbeitet die
zweite der Bildungskunst des eigenen Wollens nach ethischen Normen
vor; jene, indem durch die Lebendigkeit der eigenen Kunsteinsicht und
des eigenen Kunsturtheils das eigene Schaffen des Künstlers gehoben
und geregelt, diese indem durch die Regsamkeit der eigenen ethischen
Einsicht und des Gewissensurtheils das eigene Wollen und Thun geweckt,
beaufsichtigt und beeinflusst wird. Wie das Geschmacksurtheil die
ästhetische Norm für den Schaffenden, so bietet das Gewissensurtheil
die sittliche Norm für den Wollenden dar, und deren Anwendung auf
den gegebenen Fall erfolgt um so leichter, aber auch von Seite des im
Bewusstsein vorhandenen Materials zur Darstellung der sittlichen Ideen
d. i. von Seite des eigenen Begehrens, Wünschens und Wollens um so
widerstandsloser, je reiner d. h. je freier von fremdartigen Zusätzen
und Einmischungen das letztere gehalten wird. Dasselbe darf daher
weder in der Form blosser Vorstellung eines Wollens, noch in jener
eines bewusstlosen Begehrens oder einsichtslosen Wünschens, sondern
es muss in jener des wirklichen Wollens zur Beurtheilung vorliegen,
um an der ethischen Norm mit Bewusstsein gemessen und von der Stimme
des Gewissens zugelassen oder verworfen werden zu können. Indem
auf diese Weise die ethische Idee im Willens- wie auf ähnlichem
Wege die ästhetische Idee im Schaffensact zur Darstellung gelangt,
verkörpert sich durch deren Ausdehnung einerseits auf das gesammte
Wollen, andrerseits auf das gesammte Schaffen die ethische Idee, der
Inhalt der Gewissensstimme, im sittlichen, wie die ästhetische Idee,
der Inhalt der Geschmacksstimme, im künstlerischen Charakter und
tritt, wie die Ideendarstellung im eigenen Vorstellen als Geistes-,
jene im eigenen Fühlen als Gemüths-, so jene im eigenen Wollen als
Kunst der Charakterbildung auf.



ZWEITES CAPITEL.

DIE BILDEKUNST.


402. Wie die Bildungskunst darauf ausgeht, das eigene, so
ist die Bildekunst bemüht, fremdes Vorstellen, Fühlen und
Wollen ideengemäss zu gestalten. Dieselbe setzt daher nicht nur
Bewusstsein der Ideen im eigenen und Empfänglichkeit für dieselben
im fremden Bewusstsein, sondern sie setzt überdies, wie jede für
Andere bestimmte Mittheilung, eine beiden gemeinsame Welt und ein
beiden verständliches Verständigungsmittel voraus. Ersteres, wie
letzteres, bedingt eine innerhalb bestimmter Grenzen sich bewegende
Gleichartigkeit des sich mittheilenden und des zur Aufnahme der
Mittheilung bestimmten Bewusstseins, welche weder so weit gehen darf,
dass die Verschiedenheit zwischen beiden zu einer blossen Wiederholung
des einen im andern herabsinkt, noch so sehr abgeschwächt werden
darf, dass die Verschiedenheit beider bis zu völligem Gegensatz
sich steigert. Jenes wäre der Fall, wenn das sich mittheilende
Bewusstsein weder quantitativ noch qualitativ verschiedenen Inhalt
von dem des empfangenden besässe, letzteres dagegen, wenn das
empfangende Bewusstsein dem sich mittheilenden nicht nur quantitativ
überlegen, sondern qualitativ demselben etwa in der Weise, dass das
eine endliches (menschliches), das andere schlechthin unendliches
(göttliches) Bewusstsein darstellte, entgegengesetzt wäre. Während
qualitativ homogene, obgleich quantitativ weit von einander abstehende
Bewusstseinsindividualitäten immerhin der nämlichen Welt angehören und
eines gemeinsamen Verständigungsmittels sich bedienen können, fallen
die Welten qualitativ entgegengesetzter Bewusstseinsindividualitäten,
wie diese selbst, als qualitative Gegensätze aus einander und ist
zwischen denselben eine Verständigung nur unter der Voraussetzung
möglich, dass entweder die eine (niedere, endliche) in die Sphäre
der andern ("der Mensch zum Gotte") emporgehoben, oder die andere
(die höhere, unendliche) in jene der niederen "der Gott zum Menschen"
herabgezogen wird. In jenem Fall nimmt das endliche Bewusstsein Inhalt
und Form des unendlichen (der Mensch Göttergestalt: Apotheose) und
damit nicht nur die Erkenntniss- (Intuition, absolutes Wissen), sondern
auch die Ausdrucksweise (visionäre, prophetische Sprache) des absoluten
Bewusstseins an. In letzterem Falle steigt das göttliche Bewusstsein
nicht nur zu den Formen und Gesetzen des menschlichen, sondern auch
zur Menschengestalt (Menschwerdung: Incarnation) und menschlichen
Sprache (Unterredung, Belehrung durch Rede und Beispiel) herab.

403. Wie bei der Kunst der Ideendarstellung im eigenen, besteht die
Vorbedingung bei jener im fremden Bewusstsein darin, dieses letztere
als dargebotenes Material rein d. h. je nach der verschiedenen Classe
von Bewusstseinsindividualitäten, zu der es gehört, von fremdartigen
Zusätzen und Vermengungen frei zu erhalten. Je nachdem das fremde
Bewusstsein Einzelbewusstsein, oder einer Gesellschaft gleichartiger
Individuen gemeinsames (Gesellschafts-) Bewusstsein, ersteres selbst
entweder dem Bildner qualitativ gleichartiges und nur quantitativ
untergeordnetes (werdendes) oder demselben ungleichartiges, quantitativ
entweder ebenbürtiges oder überlegenes, in beiden Fällen fertiges
Bewusstsein ist, werden drei Classen der Bildekunst, je nachdem die
Thätigkeit des Bildners auf die Bildung des fremden Vorstellens oder
des fremden Fühlens oder des fremden Wollens gerichtet ist, in jeder
derselben drei besondere Formen der Bildekunst unterschieden. Jene
drei ergeben nach einander a. die Kunst der Ideendarstellungen
im jugendlichen Bewusstsein (Jugendbildung), b. die Kunst der
Ideendarstellung im schon geformten, gereiften Bewusstsein
(Regiment), c. die Kunst der Ideendarstellung im öffentlichen
Bewusstsein (Staatskunst); diese ebenso nach einander a. die Kunst
der Ideendarstellung im fremden Vorstellen (Unterricht), b. die Kunst
der Darstellung der ästhetischen Ideen im fremden Fühlen (Zucht),
c. die Darstellung ethischer Ideen im fremden Wollen (Regierung).

404. Wie die Kunst der Selbstbildung jene der Geistes-, Gemüths- und
Charakterbildung, so begreift die der Jugendbildung (Erziehungskunst,
Pädagogik) die des Unterrichts (Didaktik), der Zucht und der Regierung
der Jugend in sich. Dieselbe setzt, wie jede Kunst, die Kenntniss der
darzustellenden Ideen einer-, des Materials, in welchem dieselben zur
Darstellung gelangen sollen d. i. nicht nur jene des menschlichen
Bewusstseins überhaupt (Psychologie des Menschen), sondern die des
jugendlichen Bewusstseins (Psychologie der Jugend) insbesondere
andrerseits voraus. Insofern das letztere von dem des erwachsenen
Menschen nicht qualitativ, sondern nur quantitativ, nicht den Gesetzen
seiner Entwickelung, sondern nur dem bisher eingesammelten Vorrath
des Bewusstseinsinhalts nach verschieden, in Anbetracht des letzteren
dürftiger als jenes ist, geht die Aufgabe der Jugendbildung dahin,
einerseits den mangelnden Bewusstseinsinhalt in das Bewusstsein
einzuführen, andererseits für die normale Entwickelung der aus dem
Wechselverkehr der Vorstellungen entspringenden Gefühle, Begehrungen,
Wünsche, Willensacte und Handlungen Sorge zu tragen. Jenes,
die Zuführung des erforderlichen Bewusstseinsinhalts (Bildung der
Vorstellungen und Vorstellungsmassen) macht den Zweck des Unterrichts;
dieses, und zwar die Regelung der aus der wechselseitigen Hemmung und
Förderung der Vorstellungsmassen entspringenden Gefühle macht die
Aufgabe der Zucht, dagegen die Bändigung des aus den aufstrebenden
Vorstellungen und Vorstellungsmassen aufbrausenden Begehrens,
Wünschens und Wollens, insbesondere aber der das Zusammenleben mit
Andern störenden Aeusserungen der Gefühle und Begierden in Handlungen
die Aufgabe der Regierung der Jugend aus.

405. Welcherlei Material an Vorstellungen dem Bewusstsein zugeführt
werden soll, hängt von der Natur der in demselben darzustellenden
Ideen ab. Dasselbe und folglich auch der Charakter des vermittelnden
Unterrichts wird naturgemäss ein anderes sein, wenn Ideen aller
Art, als wenn Ideen nur einer besonderen Gattung (z. B. nur die
ästhetischen oder nur die ethischen oder nur die logischen) in
demselben zur Darstellung kommen sollen. In jenem Fall werden alle
Vorstellungen dem Bewusstsein zugeführt werden müssen, an deren
Vorhandensein überhaupt eine Classe der Ideen, in letzterem Fall nur
solche, an welchen gerade eine bestimmte Classe von Ideen Interesse
nimmt. Erstere Form des Unterrichts umfasst daher alle Vorstellungen
und Vorstellungsmassen, an deren Herbeiführung der Erziehungs-
d. i. der Kunst der Darstellung aller, der logischen nicht weniger wie
der moralischen und ästhetischen Ideen im Jugendbewusstsein gelegen
ist, und wird deshalb als erziehender, im Gegensatze dazu jene Form
des Unterrichts, welche an der Darstellung nur einer Classe von Ideen
und zwar der logischen im jugendlichen Vorstellen Interesse hat, als
wissenschaftlicher Unterricht bezeichnet. Letztere Form zerfällt, je
nachdem es sich lediglich darum handelt, dem jugendlichen Bewusstsein
wissenschaftliche d. i. den logischen Normen gemässe Vorstellungen und
Vorstellungsmassen zu überliefern oder dasselbe nicht blos anzuregen,
sondern anzuleiten und zu befähigen, dergleichen ohne vorhergegangene
Mittheilung (nicht reproductiv), durch eigene, den logischen Normen
entsprechende Thätigkeit aus sich (productiv) zu erzeugen, in eine
niedere und höhere Stufe, deren erste nur darauf ausgeht, Gelehrte,
deren letztere darauf hinzielt, Forscher zu bilden. Die Aufgabe der
Bildung durch erziehenden Unterricht fällt, wenn der Unterricht weder
gelegentlich, noch einem oder wenigen (wie in der Familie), sondern
vielen zugleich und in einer seinem Zwecke besonders gewidmeten Anstalt
(Unterrichtsanstalt, Schule) ertheilt wird, der untersten, für alle
ohne Unterschied bestimmten Stufe derselben, der Volksschule; die
Gelehrtenbildung der mittleren, zur Ausbildung einer Gelehrtenclasse
und zugleich zur Vorbereitung für die Selbstforschung gewidmeten
Gelehrtenschule (Gymnasium, Realschule); die dritte der zur Bildung
künftiger wissenschaftlicher Selbstforscher bestimmten obersten Stufe,
der Hochschule (Universität, Polytechnicum) zu.

406. Durch die Wahrnehmung des moralischen und des ästhetischen
Interesses mit und neben dem wissenschaftlichen arbeitet der erziehende
Unterricht sowol der Zucht wie der Regierung vor. Der ersteren, indem
durch die Beachtung solcher Vorstellungen und Vorstellungsmassen,
durch welche die Entstehung (sei es der Intensität wie der Qualität
nach) bedenklicher Gefühle entweder gänzlich verhindert oder doch
beschränkt, dagegen jene (sowol der Stärke als dem Inhalt nach)
wünschenswerther Erregungen geweckt und gefördert wird, bei der Auswahl
des Unterrichtsmaterials die Regelung der im Bewusstsein vorhandenen
Gefühle nach Qualität und Energie erleichtert, das jugendliche Gemüth
in Freud und Leid "in Züchten", in seinen Mitgefühlen für und gegen
Andere keusch, schamhaft und "züchtig" gehalten wird; der letzteren,
indem durch die Beachtung solcher Vorstellungen und Vorstellungsmassen
bei der Auswahl des Unterrichtsmaterials, durch welche einerseits
die Furcht vor den Folgen unbändiger Ausschreitungen in Affects-
und Willensäusserung erweckt und erhöht, andererseits die Aussicht
auf die wohlthätigen Wirkungen gemässigten Verhaltens nach aussen,
so wie in Beziehung auf Andere wirksam belebt und gesteigert, der
Uebermuth der im Bewusstsein auftauchenden blinden Triebe, Affecte
und Leidenschaften gezügelt, der Störungs- und Zerstörungseifer der
Jugend durch Lohn und Strafe eingedämmt wird.

407. Wie der Unterricht, so hat die Zucht und die Regierung,
also die gesammte Jugenderziehung zum letzten Zweck, mit der
Erreichung ihres Ziels, der Geistes-, Gemüths- und Charakterreife,
sich selbst überflüssig zu machen. Jenes geschieht, wenn der Schüler
zum Selbstforscher, dieses, wenn das stürmisch bewegte und erregte
Gemüth zur ruhig prüfenden Stimme des Innern und das halt- und ziellos
zerfahrende Trachten und Treiben zum zielbewussten Wollen und in sich
gefesteten Charakter geworden ist.

408. Wie die Erziehung an das werdende, so wendet sich die zweite
Art der Bildekunst an ein bereits ("im Strom der Welt") gewordenes
Bewusstsein. Soll dasselbe nicht blos einförmiger Wiederholung,
sondern lebendiger Wechselwirkung zugänglich und fähig sein,
so muss zwischen demjenigen Theil, welcher den andern nach sich
zu bilden trachtet, und jenem, welcher sich das vom Andern "nach
seinem Bilde" Gebildetwerden gefallen lässt, zwar Verwandtschaft,
aber nicht Gleichheit, darf zwar Ungleichheit, aber nicht Gegensatz
herrschen. Dieser Fall findet statt bei der gegenseitigen, Geist,
Gemüth und Charakter beeinflussenden Wechselwirkung zwischen dem
Geschlecht nach entgegengesetzten (Mann und Weib), oder dem Range,
Stande, Beruf, der Lebensstellung nach verschiedenen, insbesondere
einander über- und untergeordneten Individuen (Vornehmen und Geringen,
Herren und Dienern), am entschiedensten und folgereichsten aber
zwischen dem Gläubigen und dem "nach seinem Ebenbilde" gedachten
d. i. vom Menschen menschenähnlich erschaffenen Gott (homo homini
deus).

409. Dieselbe tritt, da es sich um Ideendarstellung in dem Bewusstsein
eines fremden Erwachsenen handelt, nicht als (ja bereits vollendete)
Erziehung, sondern als "Regiment" (des Mannes über das Weib oder
umgekehrt; des Herrn über den Knecht oder "des Kammerdieners
über den Fürsten"; des Gläubigen über seinen Gott oder umgekehrt
der Götter über den Menschen) auf. Dasselbe setzt von Seite des
Bildenden zwar Ueberlegenheit, aber nicht, wie bei der Erziehung,
an Bildung überhaupt, sondern in einer bestimmten Art und Richtung
der Bildung voraus. Daher ist der Unterricht innerhalb dieser
Classe der Bildungskunst nicht wie bei der Jugendbildung allgemein
bildender, sondern fachmännischer (Fachunterricht), der Lehrer dem
Schüler nicht an Bildung im Allgemeinen, sondern nur an Bildung
in dem besondern Fache überlegen (Fachlehrer, Fachstudium). An die
Stelle des erziehenden tritt daher hier der für ein bestimmtes Fach
vorbereitende Unterricht (Proseminar für Philologen; pharmaceutischer
Vorbereitungscurs für Apotheker), während der Fachunterricht selbst
in zwei Stufen, die niedere und höhere zerfällt, auf deren erster das
Fach wissenschaftlich gelehrt, auf deren zweiter die Ausübung desselben
praktisch zur Fertigkeit erhoben wird. Als Schule gliedert sich der
Fachunterricht nach obigen Stufen in die Vorbereitungs-, gelehrte Fach-
und fachliche Hochschule (Zeichenschule, Kunstschule, Meisterschule
d. i. Atelier). Wird der Charakter des Unterrichts nicht durch das
Fach, für welches, sondern durch die Beschaffenheit des Schülers, für
welchen er ertheilt wird, bestimmt, so entsteht, wenn das Geschlecht
massgebend ist, der sogenannte "weibliche Unterricht" (Töchterschule,
Frauenlyceum), wenn der gesellschaftliche Rang den Ausschlag gibt,
der privilegirte Unterricht (Ritterakademie, Adelsconvict), wenn
das Glaubensbekenntniss entscheidet, der confessionelle Unterricht
(confessionelle Schule, katholische Universität) u. s. w.

410. Einen besonderen Charakter nimmt der Unterricht an, wenn
der zu Unterrichtende in den Augen des Unterrichtenden selbst als
der besser Unterrichtete gilt. Dieser Fall, welcher eigentlich die
Ironie des Unterrichts darstellt, ereignet sich dort, wo dem Kläger
ein Richter, dem Gläubigen sein Gott gegenübersteht. Jener wie
dieser wird von demjenigen, der sich an einen von beiden wendet,
für ihn selbst an Einsicht überlegen und doch von dem besonderen
Fall, um den es sich handelt, für nicht unterrichtet gehalten,
zugleich aber vorausgesetzt, dass es dem Richter gegenüber nur einer
"Vorstellung", dem Gotte gegenüber nur eines "Gebets" bedürfe, um
als Kläger von jenem die Gewährung seines Rechts, als Gläubiger von
diesem die Erhörung seiner Bitte zu erlangen. Der geschilderte Fall
ist gleichsam die Umkehrung der sogenannten sokratischen Ironie; denn
während bei dieser der Wissende sich unwissend stellt und zum Schein
Belehrung heischt, wird der Wissende hier als unwissend vorgestellt,
welcher der Belehrung bedarf.

411. Wie das Regiment dem Unterricht das Gepräge des Fachs, Standes,
Geschlechts, Glaubensbekenntnisses u. s. w., so verleiht dasselbe
der Zucht wie der Regierung den Charakter desjenigen Gefühls-
und Willensmaterials, in welchem die Darstellung der ästhetischen
oder der ethischen Ideen statthaben soll. Dieses Material sind,
wenn der zu bildende Erwachsene einem bestimmten Geschlecht oder
Stande, Range, Glaubensbekenntniss oder Nationalität angehört, die
entsprechenden, jenem Geschlecht, Stande, religiösen Bekenntniss
u. s. w. angehörigen besonderen Gefühle (männliches Ehr-, weibliches
Schamgefühl; militärischer esprit de corps; Adels-, confessionelles,
Nationalitätsbewusstsein), welche als Ausdruck der ästhetischen
Idee im Gemüthsleben die sogenannte (militärische, religiöse, sexuale
u. s. w.) Disciplin (Standeszucht, Kirchenzucht, Keuschheit) im Gefolge
haben. In gleicher Weise machen die einem gewissen Geschlechte,
Stande, Glaubensbekenntniss u. s. w. gestatteten oder versagten
Willensäusserungen und Handlungen dasjenige aus, was als Ausdruck
der ethischen Ideen innerhalb jenes Geschlechts, Hauses, Standes,
Glaubensbekenntnisses u. s. w., dessen Reglement (Standesordnung; Haus-
und Dienstordnung; religiöses Ceremoniell; Fasten- und Kleiderordnung
etc.) darstellt. Wie auf der Herrschaft des Vornehmen über den Geringen
der Herrn-, so beruht auf der Minneherrschaft der Frau über den Mann
der Minne-, oder (Ulrich von Lichtenstein's) Frauendienst. Wie auf
der Herrschaft des Gottes über den Gläubigen der Gottes-, so ruht auf
der romantischen Anbetung der jungfräulichen Mutter der Mariendienst.

412. Wie die Erziehungskunst das jugendliche, das Regiment
das erwachsene Einzel-, so geht die Politik (Staatskunst) das
den Mitgliedern einer organisirten Gesellschaft (Schule, Partei,
Kirche, Staat) gemeinsame, daher als solches öffentliche Bewusstsein
an. Dieselbe hat als Ideendarstellung im öffentlichen Bewusstsein
dieselben sowol in dessen Vorstellen d. i. im öffentlichen Geiste,
wie in dessen Fühlen d. i. in der öffentlichen Meinung, und dessen
Wollen d. i. im öffentlichen Willen zum Ausdruck zu bringen. Jede
organisirte Gesellschaft trachtet demnach als Ausfluss ihrer Politik
ihre eigene Schule zu gründen, ihren eigenen Anstand zu behaupten und
ihre eigene Regierung zu führen. Je nachdem die Gesellschaft selbst
als philosophische oder wissenschaftliche Secte unter einem Schul- oder
Sectenhaupt (Stoa unter Zeno), oder als politische Partei unter einem
Parteihaupt (Conservative unter Pitt, Liberale unter Fox in England),
als eine Kirche unter ihrem Kirchenhaupt (die katholische Kirche unter
dem Papst), als Staat unter seinem Staatshaupt (Oesterreich unter
Josef II., Preussen unter Friedrich dem Grossen) organisirt ist,
bedarf sie einer Schule (Sectenschule, Parteischule, confessionell
kirchliche Schule, Staatsschule) als Werkzeug zur Bildung des ihrem
Geiste entsprechenden öffentlichen Geistes, deren und der von ihr
aus verbreiteten Wissenschaft Färbung demnach eine politische, die
Farbe der Politik der sie stiftenden und erhaltenden Gesellschaft
(der Secte, Partei, Confession oder des Staates) sein wird. Dieselbe
wird nicht sowol darauf bedacht sein, gebildete, als vielmehr im
Sinn ihrer eigenen Politik politisch gebildete Anhänger ihrer Secte,
Parteigenossen, confessionelle Bekenner oder "gute" Staatsbürger zu
bilden; die wissenschaftliche wird unter ihren Händen in eine Schul-,
Partei-, Kirchen- oder staatspolitische Lehrkanzel umgewandelt.

413. Wie die Politik als Anwendung der logischen Ideen auf den
öffentlichen Geist als Staatsklugheit, so erscheint sie in der
Anwendung der ästhetischen Ideen auf denselben als politischer Anstand,
in jener der ethischen Ideen dagegen als politische Weisheit. Jene
verbietet, den öffentlichen Geist verstandeswidrig, z. B. durch die
Berufung auf den sogenannten "beschränkten Unterthanenverstand",
der zweite, denselben anstandswidrig z. B. durch Verletzung
des öffentlichen Schicklichkeitsgefühls, die dritte, denselben
vernunftswidrig z. B. durch Festhalten an dem längst im öffentlichen
Bewusstsein Abgestorbenen zu beeinflussen. Dagegen gebietet die Politik
als öffentliche Zucht nicht nur den Ausschreitungen des öffentlichen
Gemüthslebens nach der Seite des Lust- wie des Unlustgefühls, Rohheit
und Ausgelassenheit einer-, Jammer- und Wehklagen andererseits
Einhalt zu thun, sondern auch die dem geselligen Zusammenleben
hinderlichen antisocialen Gefühle nach Möglichkeit zu hemmen und
deren entgegengesetzte, die socialen Gefühle (Mitgefühle) eben so zu
wecken und zu fördern, so wie auch direct (durch Belehrung), oder
indirect (durch Anschauung) die ästhetischen Gefühle zu beleben,
die sittlichen Gefühle zu wecken und auf diese Weise zur Hebung des
öffentlichen Humanitätsgefühls, Gewissens und Geschmacks wirksam
beizutragen. Von selbst leuchtet ein, dass je nach dem Charakter der
Gesellschaft von welcher und innerhalb welcher auf das öffentliche
Gemüthsleben Einfluss genommen wird, dieses selbst und sonach auch
die innerhalb ihrer herrschende öffentliche Zucht einen der Politik
dieser Gesellschaft entsprechenden Charakter tragen, also nicht nur
innerhalb einer philosophischen oder wissenschaftlichen Secte anders
als innerhalb einer politischen Partei, innerhalb einer Kirche anders
als innerhalb eines Staates gehandhabt werden, sondern auch je nach
dem verschiedenen Charakter der Schule, Partei, Kirche oder des
Staats in der einen Schule (z. B. in jener der Stoiker) anders als
in einer anderen (z. B. in jener der Epikuräer), unter Radicalen und
Socialdemokraten anders als unter Legitimisten und Hochconservativen,
unter Christen anders als unter Mohamedanern und in einem freien
anders als in einem südstaatlichen Sclavenstaate ausfallen wird. Nicht
nur die Anstands- und Schicklichkeitsbegriffe werden verschiedene,
auch die Schönheits- und sittlichen Gefühle werden je nach dem
Gesichtspunkt und der Beschaffenheit des Gesellschaftsbewusstseins
verschiedene sein. Wie die Staatskunst beim Unterricht der Schule,
so wird sie sich bei ihrer Einwirkung auf die öffentliche Meinung
aller derjenigen Organe bedienen, welche durch eine lebhafte und mit
sich fortreissende Erregung der Gefühle auf dasjenige, was sie für
löblich oder schändlich, erlaubt oder unerlaubt, schön oder hässlich,
anständig oder anstandswidrig angesehen wissen will, einer-, wie auf
die Erregung, sei es des öffentlichen Mitgefühls oder des öffentlichen
Hasses, anderseits vorübergehend oder bleibend thätigen Einfluss
zu üben vermögen. Wie sie zum Zwecke der Bildung des öffentlichen
Geistes der Wissenschaft, so bedient sie sich behufs der Bildung des
öffentlichen Geschmacks, Gewissens und Mitgefühls der schönen Kunst
und zwar der ästhetischen Beredsamkeit in Wort und Bild, sei es
(wie die Kirche) von der Kanzel (Predigt, Erbauungsrede), sei es,
wie in der profanen Gesellschaft (Schule, Partei, Staat), von der
"moralischen" Schaubühne herab (Schulkomödie, politisches Tendenzstück,
Nationaltheater). Wie die Kirche durch die schöne Kunst (Tempel und
Kirchenbau, geistliche Musik, priesterlicher Festschmuck, Altardienst)
den öffentlichen Gottesdienst zu verherrlichen, so trachtet der Staat
durch öffentliche Feste ("Circenses") das öffentliche Vergnügen zu
fördern, durch Veranstaltung öffentlicher Schauspiele (wie in Athen
durch Aussetzung von Preisen), durch Kunstsammlungen, Monumentalbau-
und Bildwerke (Akropolis, Stoa poikile) den öffentlichen Geschmack
zu erziehen, durch Aufführung von Tragödien, welche "Mitleid und
Furcht", von Komödien, welche durch Darstellung "unschädlicher
Thorheit" Heiterkeit erregen, wohlthätige "Entladung" (Katharsis:
Aristoteles-Bernays) des öffentlichen Gemüths von "diesen und derlei
Leidenschaften" zu bewirken. Wie die Predigt und die Bühnenrede vom
Munde, so dringt die (periodische und nicht periodische) ästhetische
Presse vom lesenden Auge aus zum Herzen und wird um ihrer mächtigen
Wirkung willen auf das öffentliche Gemüthsleben (Romanliteratur)
von der organisirten Gesellschaft mit Vorliebe als ein Gegenstand
der öffentlichen Zucht angesehen und je nach ihrer den Zwecken
derselben nachtheiligen oder vorteilhaft scheinenden Richtung zu hemmen
(Censuredicte, index librorum prohibitorum) oder (durch Subventionen,
Preise) zu fördern gesucht.

414. Wie durch den Unterricht auf den öffentlichen Geist, durch die
Zucht auf die öffentliche Meinung, so sucht die Staatskunst durch
die Regierung auf den öffentlichen Willen zu wirken. Wie jenes
zur wissenschaftlichen Erziehung im Geist einer philosophischen
oder wissenschaftlichen Schule oder Secte, politischen Partei,
der Kirche oder des Staates, das zweite zur ästhetischen Erziehung
ebenso im Geiste einer der genannten Gesellschaften, so führt
das letzte zur Regierung der Gesellschaft entweder vom Schul-
oder vom Partei-, vom kirchlichen oder vom staatlichen Standpunkt
aus. Wie die darzustellenden Ideen die ethischen, so ist das zur
Darstellung bestimmte Material das innerhalb der Schule, Partei,
Kirche oder Staatsgesellschaft existirende gemeinsame Wollen, welches
jenen gemäss zu gestalten das Ziel der Regierung jeder der genannten
Gesellschaften ausmacht. Mittel und Werkzeug zur Erreichung desselben
ist daher alles, was einerseits den Ausartungen des öffentlichen
Willens zuvorzukommen (präventive), andererseits stattgehabte
Ueberschreitungen zurückzudrängen (repressive Massregeln) im Stande
ist. Zu jenen gehört in erster Reihe die (politische) Belehrung,
welche den öffentlichen Willen in die von dem Geiste der Gesellschaft
demselben angewiesenen Schranken, sei es durch Ueberzeugung, sei es
durch Ueberredung zu leiten und in denselben aller Verlockungen zum
Gegentheil ungeachtet zu erhalten vermag. Zu den letzteren gehört die
(politische) Bestrafung, welche nicht nur die Folgen der eingetretenen
Ueberschreitung auszugleichen, sondern die Wiederkehr ähnlicher
durch Abschreckung zu verhindern trachtet. Wie der Unterricht der
Katheder, die öffentliche Zucht der Kanzel oder der Schaubühne, so
bedient sich die Regierung zu jenem Zwecke der Redner-, zu diesem
der Gerichtsbühne. Von jener herab wird auf den öffentlichen Willen
im Geiste der Schule, Partei, Kirche oder staatlichen Gesellschaft
durch öffentliche Rede bestimmend, also in der Richtung jeder der
obengenannten mit sich fortreissend, von dieser herab auf denselben
durch das Schauspiel öffentlichen Gerichtsverfahrens d. i. öffentlicher
Klage und Vertheidigung einer- und ebensolcher Urtheilsvollstreckung
andererseits im Geiste derjenigen Gesellschaft, welche Gericht hält,
abschreckend eingewirkt. Wie der politische Redner für die Schule,
so wirbt der Parteiredner (mündlich oder als Parteischriftsteller
schriftlich) für die Partei, der kirchliche Redner für seine
Kirche, der staatliche für den Staat; wie die Schule Schulstrafen
z. B. Ausschliessung aus der Schule, die Partei Parteistrafen,
so verhängt die Kirche für den Abfall von ihrem gemeinsamen
Bekenntniss Kirchenstrafen (Excommunication) und veranstaltet
öffentliche kirchliche Gerichtsvollziehungen (Kirchenbusse, Autos
da fé), und übt der Staat in seinem Namen Gerichtspflege und setzt
deren Urtheile öffentlich in Vollzug (Hinrichtungen, öffentliche
Gefängnisse). Während die letzteren auf das Auge, so sind die
Parteiergiessungen und Parteiargumente der politischen Eloquenz
auf das Ohr der Oeffentlichkeit berechnet und werden weit über den
Gehörskreis der letzteren hinaus durch die politische (periodische und
nichtperiodische) Presse ("die sechste Grossmacht"), die Rednerbühne
durch den Leitartikel, das öffentliche Gericht durch die (politische)
Caricatur und den öffentlichen politischen Witz in harmloser, durch die
öffentliche Brandmarkung mittels der Schrift in um so drastischerer
Weise vollzogen, als die unter einander widerstreitenden Schul-,
Partei-, kirchlichen und staatlichen Gesichtspunkte unter einander
so widerstreitende Urtheile zur Folge haben, dass die Wunden, welche
die Presse nach einer Seite schlägt, von derselben Presse wie von
der goldenen Lanze des Achilleus nach der andern wieder geheilt werden.

415. Wie die Kunst als Ideendarstellung ihr Zerrbild in der
ideenlosen Virtuosität, die logische Kunst insbesondere das ihre
in der grundsatzlosen Sophistik, so findet der Jugendunterricht,
dessen Wesen in der Anpassung an das jugendliche Bewusstsein
liegt, das seine in der von diesem sich freimachenden Emancipation
(vorzeitigen Reife, Präcocität), das Regiment als Bildung des Andern
nach sich seine Entartung im Despotismus (Tyrannei), welcher die
qualitative Beschaffenheit des Andern, sei es den geschlechtlichen
Gegensatz (Sclaverei des Weibes), sei es die allgemein menschliche
Verwandtschaft (Leibeigenschaft des Knechtes) ausser Acht lässt,
endlich die Staatskunst als Erziehung des öffentlichen Bewusstseins
ihr Afterbild in der sogenannten Staatsraison, welche der ersteren
als Kunst der Ideendarstellung die ideenlose Praktik (politische
Routine) in der willkürlichen Beeinflussung des öffentlichen Geistes
nach Schul-, Partei-, Kirchen- und Staatszwecken, der öffentlichen
Meinung nach persönlichen Stimmungen und des öffentlichen Willens
nach Opportunitätsgelüsten unterschiebt.



DRITTES CAPITEL.

DIE BILDENDE KUNST.


416. Wie die Bildungskunst Ideendarstellung im eigenen, die Bildekunst
im fremden Bewusstsein, so ist die bildende Kunst Ideendarstellung
in unbewusstem, sei es leblosem, sei es belebtem Stoff. Dieselbe
setzt daher nicht nur, wie jede Kunst, die Kenntniss der (logischen,
ästhetischen und ethischen) Ideen, sondern als solche überdies
die Kenntniss des gesammten ihr zu Gebote stehenden (leblosen und
belebten) Materials d. i. die Naturwissenschaft und zwar sowol jene
der leblosen (Physik) wie der belebten Natur (Physiologie, Biologie)
in ihrem ganzen Umfange voraus. Während jedoch letztere sich mit der
Kenntniss der Natur, ihrer Erscheinungen und ihrer Gesetze begnügt
d. h. die Natur nur beschreibt, geht jene darauf aus, den Gehalt der
Natur mit der Forderung der Ideen zu vergleichen und die Gestalt der
Natur, soweit es thunlich ist, nach dieser zu verändern.

417. Da jeder Abänderungsversuch der der Natur natürlichen Gestalt,
Herrschaft über die Natur, letztere aber vor allem Macht über dieselbe
d. h. die in derselben gegebenen wirksamen Kräfte bedingt, letztere
aber nur durch die Wissenschaft ("Wissenschaft ist Macht") erlangt
werden kann, so folgt, dass die Bedingung der bildenden Kunst in dem
Gewinn echter d. i. den logischen Ideen entsprechender Wissenschaft zu
suchen und nur von einer solchen die zur Gewinnung einer vollständigen
Herrschaft über die Natur unentbehrliche Macht zu erwarten ist.

418. Insofern die Kunst dieser durch die Naturwissenschaft ihr zu
Gebote gestellten Macht über die Natur sich bedient, um überhaupt
Veränderungen an derselben hervorzubringen, ist dieselbe technische,
inwiefern sie dies thut, um Ideen in derselben zur Darstellung zu
bringen, jedoch allein bildende Kunst. Jene fällt als nur um ihrer
selbst willen ins Werk gesetzte Ueberwindung durch die Natur ihrer
Beherrschung in den Weg gestellter Widerstände mit der Virtuosität,
als Unterschiebung persönlicher, der Ideendarstellung fremder
Zwecke bei der Beherrschung der Natur (z. B. Ausbeutung derselben
zu persönlichem Gewinn) mit der politischen Willkürherrschaft in
Eins zusammen, während die letztere einerseits mit der Bildungs-
und Bilde-, andererseits mit der echten Staatskunst (Staatsweisheit)
gleichlaufende Richtungen verfolgt.

419. Dieselbe geht zunächst darauf aus, die Gestalt der Natur
logischen Normen anzubequemen d. h. wo in derselben Widersprechendes
thatsächlich, aber den Widerspruch aus demselben zu entfernen
möglich ist, diesen zu beseitigen, wo dagegen Gleichartiges, mit
dem Gegebenen Verträgliches oder durch dasselbe sogar Gefordertes
thatsächlich nicht gegeben, aber dessen Herbeiführung möglich ist,
dasselbe heranzuziehen d. h. im ganzen Umfang der Natur das nicht
Zusammengehörige, aber Vereinigte zu sondern, das Zusammengehörige,
aber Getrennte zu verbinden und auf diese Weise nicht nur für
die Erhaltung, beziehungsweise Wiedererzeugung bestehender oder
längst bestandener innerlich zusammengehöriger, sondern auch für das
künftige Bestehen bisher nicht bestandener, innerlich zusammengehöriger
Verbindungen durch Erzeugung neuer Sorge zu tragen. Wie die Erfüllung
der ersten Aufgabe mit der kritischen Sichtung durch die Erfahrung
gegebener Begriffe, in Folge deren bestehende Urtheile aufgehoben
(negirt), nicht bestehende neu gebildet (affirmirt) werden,
so zeigt jene der letzteren einerseits mit dem Ersatz durch die
Erfahrung gegebener Begriffe durch denselben an Umfang gleiche,
an Inhalt ungleiche (äquipollente), andererseits mit der Erzeugung
neuer Urtheile als Schlusssätze aus durch die Erfahrung gegebenen
Prämissen (Vordersätzen) und deren Fortsetzung zu Schlussketten und
Begriffssystemen Verwandtschaft. Jene fasst die Naturproducte nicht
nur mit Rücksicht auf den Ort, an welchem, und die Zeit, zu welcher,
sondern auch auf die begleitenden Umstände und die Umgebung, unter
welcher sie gegeben sind d. h. in Beziehung auf- und zu einander,
folglich, da unter denselben der Mensch selbst erscheint, auch in
Beziehung zu diesem und auf diesen d. h. als für ihn nützlich oder
schädlich ins Auge; diese berücksichtigt bei der Betrachtung der
im Raume gegebenen Erscheinungen und Naturkörper vornehmlich deren
Vergänglichkeit in der Zeit und bemüht sich, einerseits durch die
Fürsorge für die Erzeugung neuer Individuen die Gattungen, wie durch
die Verschwisterung verschiedenen Gattungen angehöriger Individuen
neue Gattungen zu erhalten. Je nachdem die bildende Kunst sich auf die
blosse Veränderung des Ortes und Zeitpunkts, so wie des Quantums der
Naturproducte beschränkt oder an deren qualitative Zusammensetzung,
so wie deren stoffliche Veränderung Hand anlegt, zerfällt dieselbe in
drei verschiedene Classen, die sich als Handel und Verkehr, Gewerbe
und Industrie, Bodenbebauung und Thierzucht bezeichnen lassen.

420. Handel und Verkehr sind bestimmt, Naturproducte nach ihrem
eigenen und des Menschen Bedürfniss von Orten, welche für sie nicht
passen, weil sie zu eng für dieselben geworden sind (Ueberproduction
im Pflanzen- und Thierreich; Uebervölkerung), zu entfernen (Export;
Auswanderung) und an Orten, wo sie mangeln oder Raum zur Ausbreitung
finden (productionsarme Flächen; unbewohnte Gegenden), abzusetzen
(Import; Colonisation). Beide suchen daher vor allem die Schranken,
welche einerseits der freien, andrerseits der raschen Beweglichkeit im
Wege stehen, aufzuheben (Zoll- und Handelsfreiheit; "Time is money"),
andrerseits alle Mittel anzuwenden, die den Erwerb und Vertrieb
der Producte erleichtern (Geld statt Tausch), die Geschwindigkeit
der Bewegung erhöhen (Eisenbahnen, Dampfschiffe), den Zeitverbrauch
zum (schriftlichen und mündlichen) Verkehr kürzen (Post, Telegraph,
Telephon) und die Sicherheit desselben gewährleisten (Handelsschutz,
Handelsbündniss, Handelsversicherung, Monopol). Gewerbe und Industrie
gehen darauf aus, unzusammengehörige Stoffverbindungen, wenn sie
Gemenge sind, mechanisch von einander zu trennen (Bergbau), wenn
sie Mischungen sind, chemisch von einander zu lösen (Erzschmelze),
zusammengehörige durch Anhäufung (Baukunst) oder durch Verschmelzung
(Legirung) zu stiften. Je nachdem dies bei unorganischen oder
organischen, in letzterer Hinsicht bei Stoffen aus dem vegetabilischen
oder aus dem animalischen Reiche geschieht, nehmen beide stofflich, je
nachdem es durch Händearbeit, oder mit einfachen, oder fast ohne diese
mittels verwickelter bis zur scheinbaren Selbstständigkeit gesteigerter
Werkzeuge (Maschinen) geschieht, formell verschiedenen Charakter an
(Handwerk, Maschinenarbeit). Nach dem Quantum der Production und der
zu derselben erforderlichen Kosten werden Klein- und Grossgewerbe,
Klein- und Grossindustrie unterschieden. Wie der Handel und der Verkehr
eine Tendenz, in die Ferne zu streben, so zeigen Gewerbe und Industrie
eine solche, am Orte zu beharren d. h. die Naturproducte dort, wo sie
zu finden sind, ihrer Form nach zu verändern, (örtliche Vereinigung
von Bergbau und Erzschmelzen; Verwendung des localen Steinbruchs
als Baumaterial: Schieferdächer am Rhein, Holzbau im Gebirge;
Tracht aus Thierhäuten und einheimischer Wolle). Dieselben suchen
daher einerseits alle Schranken, welche der Freiheit des Gewerbes
überhaupt (Zunftzwang), wie an dem Orte des betreffenden Materials
(Bodeneigenthum) im Wege stehen, zu entfernen (Gewerbefreiheit,
Freischurf), andrerseits alle Mittel zu entdecken und zu verwenden,
welche die, sei es mechanische, sei es chemische Formänderung der
Naturstoffe ermöglichen (Mechanik, Maschinentechnik, Ingenieurkunst)
oder erleichtern (technische Chemie, Technologie, Scheidekunst),
zugleich aber das auf diesem Wege geschaffene industrielle Product
gegen Verdrängung oder Ersatz durch seinesgleichen im Verbrauche
sichern (Gewerbeschutz durch Marken und Zölle, industrielle
Privilegien). Bodenbebauung und Thierzucht sind bestrebt, einerseits
jene durch künstliche Anpflanzung von Gewächsen dieselben vor der
allmäligen Entartung (Degeneration) und schliesslichem Untergang,
diese durch künstliche Züchtung von Thieren letztere vor gleichem
Schicksal zu bewahren, andererseits durch Veredelung (z. B. Pfropfung)
auf künstlichem Wege neue Varietäten von Pflanzen wie durch Kreuzung
neue Schläge von Thieren zu erzeugen. Beide gehen darauf aus,
nicht nur das vorhandene Quantum organischer Naturproducte sich
nicht vermindern, sondern dasselbe sich stets vermehren zu lassen
(natürliche Fruchtbarkeit), aber auch die Qualität derselben den
Beziehungen der Naturorganismen unter einander gemäss zu ändern,
Futterpflanzen für Thiere, Gemüse für die Menschen zu schaffen, oder
wucherndes Unkraut (Gramineen) in Nutzpflanzen (Getreide) umzubilden
(Agricultur), so wie durch Zähmung und Pflege wild lebende Thiere in
Hausthiere (Civilisation bei Thieren und Menschen) und durch Kreuzung
schwächerer mit stärkeren, oder Ersatz ersterer durch letztere Racen
brauchbare Nutzthiere hervorzubringen (veredelnde Schaf-, Rinder-,
Pferde-, Geflügelzucht etc.). Da die Bodenbebauung nicht blos, wie
Gewerbe und Industrie, eine natürliche Tendenz am Orte zu bleiben
besitzt, sondern am Boden als unbeweglichem haftet, so muss dieselbe,
was diesem an natürlicher Fruchtbarkeit abgeht, durch künstliche
Steigerung derselben d. i. durch Bodenverbesserung (künstliche Düngung,
Bewässerung, Bearbeitung) zu ersetzen, so wie dessen Ertrag durch
künstliche Sicherungsanstalten gegen nicht abzuwehrende Störungen
von aussen (atmosphärische Einflüsse, Dürre, Hagelwetter) zu schützen
trachten (Hagel- und Wetterschadenversicherung). Umgekehrt muss die
Thierzucht, da sie des freibeweglichen Charakters der Thiernatur wegen
eines erweiterten Spielraums bedarf, sich in die Lage versetzt fühlen,
den Mängeln des Orts, an dem sie geübt wird, durch Ortsveränderung
(Weideplätze, Austrieb des Viehs auf die Alpen, Uebersiedelung je nach
dem Wechsel der Jahreszeiten) abhelfen, so wie Leben und Gesundheit
ihrer Pfleglinge gegen drohende Störungen von aussen (Thierseuchen)
entweder indirect durch künstliche Absperrung (Thiereinfuhrverbote),
oder direct durch künstliche Heilung und Wiederherstellung
(Thierarzneikunde, Sanitätsmassregeln) schützen zu können. Insofern
aber weder Bodenanbau noch Thierzucht das natürliche Hinderniss
aus dem Wege zu räumen vermögen, welches durch das Aufwachsen von
Pflanzen und Thieren unter den klimatologischen und atmosphärischen
Einflüssen ihrer einheimischen Natur deren Verpflanzung in andere Erd-
und unter andere Himmelsstriche entgegensteht, muss dieser letztern die
(der Natur der Sache nach nur langsam erfolgende) Acclimatisation und
allmälige Einbürgerung derselben vorhergegangen sein, welchem Zweck
beide durch besondere Eingewöhnungsanstalten (Acclimatisationsgärten
für Pflanzen und Thiere) zu genügen bedacht sein werden.

421. Die hervorragende Stellung, welche der Mensch (wie die
Ich-Vorstellung unter den Bewusstseinsbildungen und der Staat unter
den organisirten Gesellschaften) unter den organischen Producten der
Natur einnimmt, macht es erklärlich, dass die Beziehungen der übrigen
Naturerzeugnisse auf ihn d. i. deren beziehungsweise Nützlichkeit
oder Schädlichkeit für den Menschen vom menschlichen Gesichtspunkt
aus die Hauptrichtschnur für die Zwecke des Handels und Verkehrs, der
Gewerbe und Industrie, des Ackerbaues und der Thierzucht abgeben. Wie
derselbe geneigt ist, mit dem Erwachen seines Bewusstseins sich als
den Mittelpunkt des Weltalls (wie das Kind sich als den Mittelpunkt des
Hauses) zu betrachten, Sonne Mond und Gestirne als bestimmt anzusehen,
ihm zu leuchten, ihn zu wärmen, so sieht er sich als den natürlichen
Herrn und Gebieter seiner organischen wie unorganischen Umgebung
an und nimmt keinen Anstand, die unterirdischen wie oberirdischen
Schätze der Erdrinde (Erz und Gestein, Pflanze und Thier) zu seinem
Dienste zu gebrauchen. Die bildende Kunst als Ideendarstellung
im belebten wie leblosen Material nimmt dadurch, dass der Mensch
anderen Naturproducten gegenüber für sich eine Ausnahmsstellung
beansprucht, unwillkürlich einen beschränkten, im menschlichen Sinn
egoistischen, die Beherrschung der Natur zum Nutzen des Menschen
gebrauchenden Charakter (Utilitarismus) an, welcher, wenn der ideale,
auf Darstellung der logischen, ästhetischen, oder ethischen Ideen
gerichtete Zweck der Kunst mit des Menschen natürlichen, aber auch,
wenn er mit dessen erkünstelten (Luxus-) Bedürfnissen, Gelüsten
und Anmassungen in Widerstreit geräth, denselben rücksichtslos
aufopfert. Derselbe steht als despotische Willkürherrschaft über
die Natur der ideenlosen technischen Virtuosität in der Besiegung
natürlicher Hindernisse eben so als Entartung bildender Kunst zur
Seite, wie andererseits die zu zweck- und nutzlosem Spiel mit den
natürlichen Formen und Kräften des menschlichen Körpers ausgeartete
Athletik, Pantomimik, Akrobatik und andere Schwimm-, Gang-, Ritt-
und Forceproben zu der auf durchgreifender Kenntniss des Baues und
normalen Lebensprocesses desselben beruhenden Gymnastik, Diät und
Gesundheitspflege das Gegenstück darstellen.

422. Wie die bildende Kunst als Darstellung der logischen Ideen in
der leblosen und belebten Natur als "Weltverbesserung", so tritt
sie als Verwirklichung der ästhetischen Ideen in derselben als
"Weltverschönerung" auf. Als solche geht dieselbe darauf aus,
die Gestalt der Natur ästhetischen Normen anzubequemen d. h. wo in
derselben Schwächliches, Verkommenes, Krüppelhaftes sich zu entfalten
droht, dieser Gefahr zuvorzukommen (Orthopädie bei Pflanzen und
thierischen Körpern), wo es sich vorfindet, dasselbe zu beseitigen
(Durchforstung des Waldes; Aussetzung der Kinder in Sparta und
Rom), wo Disharmonisches in der Natur thatsächlich gegeben ist
oder bevorsteht, nach Möglichkeit Einklang an dessen Stelle zu
setzen (Landschaftsgärtnerei, Parkanlagen), auch leblose Natur
wie Producte der Menschenhand mit dem Schein der Lebendigkeit und
der Beseelung auszustatten (Cascaden als Gartenzier; Kunstgewerbe;
Ornamentik). Je nachdem zum Material der Ideendarstellung die leblose
oder die lebendige Natur, in der letzteren die vegetabilische oder die
thierische, in dieser insbesondere der menschliche Körper gewählt,
die ästhetische Idee in demselben minder oder mehr durch die schon
vorgefundene Gestalt des natürlichen Stoffes gebunden erscheint,
wird die bildende Kunst als ästhetische Ideendarstellung (Plastik)
in leblose und lebendige, oder in freie (schöne), oder decorative
(verschönernde) Plastik (ornamentale Kunst), je nach dem Quantum des
verwendeten Materials in Gross- und Kleinplastik unterschieden.

423. Zu der im leblosen Material ästhetisch bildenden Kunst gehört
die Bildnerkunst, welche entweder unbeweglichem materiellem Stoff,
z. B. Felsgestein ("lebendigem Fels") eine bestimmte ästhetische Form
ertheilt (Höhlentempel, Felsengräber, behauener Fels) oder bewegliches,
lebloses Material (natürliches oder künstliches Gestein, Bruchstein,
Backstein; Holz, Bein, Metall) entweder (als Block, Stamm, Thierzahn,
Erz u. s. w.) einzeln geometrisch (wie der Steinmetz, der Zimmermann
etc.) oder ästhetisch (wie der Bildhauer, der Bildschnitzer in Holz
und Bein, der Bildgiesser in Erz u. s. w.) formt, oder (als Baukunst)
in Massen entweder als ungeformtes (Roh-) Material (unbehauenes
Holz oder Gestein) oder als schon geformten Stoff (gezimmertes Holz,
behauenen Stein) zu ästhetischen Formen zusammenhäuft und entweder
auf natürlichem Wege durch eigene Schwere (Cyklopenmauern) oder durch
künstliche Bande (Kitt, Mörtel, Klammern etc.) zu einem ästhetischen
Ganzen verbindet (Rohbau, Kunstbau, Architektur, Monumente). Zu
der lebendigen Plastik gehört, je nachdem das Material derselben
dem Pflanzen- oder dem Thierreich entnommen ist, die Kunstgärtnerei,
welche lebendige, sei es wildgewachsene (Feldblumen), sei es veredelte
Gewächse (Garten- und Treibhauspflanzen) zu einem ästhetischen Ganzen
(Blumenstrauss, Beet, Gartenanlage), und die Schauspielkunst, welche
thierische und menschliche Körper, sei es in ihren natürlichen
(Nacktheit), sei es in künstlichen Bedeckungen (Maske, Costüm) zu
einem ästhetischen Ganzen (lebendigem Gemälde) vereinigt, welches
letztere entweder als ruhend (Tableau, lebendes Bild) oder als bewegt
und in diesem Fall entweder als episch fliessende (Aufzug, Parade,
Makart's "Festzug"), oder als causal sich aus sich selbst entwickelnde
dramatische Handlung (Bühnenschauspiel) dargestellt wird.

424. Die Plastik ist frei, wenn die ihr bei der Verwirklichung der
ästhetischen Idee durch das Material dargebotenen Schranken keine
andern sind als solche, die in den Bedingungen der Darstellung in
physischem (also schwerem und schwer zu behandelndem) Stoffe (Statik
und Mechanik; Schwerpunkt) und in der Beschaffenheit des letzteren
selbst liegen (Brüchigkeit des Gesteins, Geäder des Marmors,
Spaltrichtungen und Geäst im Holze u. s. w.), dagegen gebunden,
wenn ihr dergleichen durch einen ausserhalb der ästhetischen
Ideendarstellung gelegenen Zweck (des Bedürfnisses oder des
Luxus, des Nutzens oder der Laune) auferlegt werden. Nur in jenem
Fall ist die Plastik schöne, in diesem dagegen nur verschönernde
Kunst, welcher die Aufgabe gestellt ist, das Unentbehrliche (Haus,
Hausgeräth, Kleidung), oder das zwar Entbehrliche, aber Erwünschte
(Bequemlichkeit, Reichthum), das Erforderliche im Dienste bestimmter
Gesellschaftszwecke (Gotteshäuser und Altargeräth in der Kirche,
öffentliche Gebäude und politische Insignien im Staate) oder
das Ueberflüssige, auf zufälligen Stimmungen und vorübergehenden
Einfällen augenblicklich tonangebender Gesellschaftskreise (Mode,
"chic") mit ästhetischen Formen zu schmücken. Der ersten der genannten
Richtungen entspricht die sogenannte "Kunst im Hause", welche das
Wohnhaus und die häusliche Umgebung, so wie die äussere Erscheinung
(Tracht, Zierat, Haartracht), der zweiten die Decorationskunst, welche
auch die weiteren und in grösserem Massstabe angelegten Umgebungen
(Palast, Park, Staatskleid), der dritten die kirchliche Kunst,
welche Ort und Art der gottesdienstlichen Verrichtungen (Tempel,
Dom, Altar, kirchliches Ceremoniell), der letzten die patriotische
oder Monumentalkunst, welche Ort und Art der staatlichen Vorgänge
(Residenzschloss, Parlamentshaus, Thron- und Kroninsignien, Hof-
und Staatsceremoniell) ästhetisch belebt und veredelt. Zur schönen
Plastik gehören Sculptur und Architektur und zwar sowol wenn es
sich um die Herstellung in ihren Massen geringer (kleine Plastik
z. B. Medailleurkunst) wie grosser Objecte handelt (grosse Plastik:
Denkmalkunst, Triumphbogenarchitektur). Zu der verschönernden Kunst
gehört das Kunstgewerbe und die Kunstindustrie, die, wenn es sich
um die ornamentale Verzierung beweglicher Gegenstände handelt, als
"Kleinkunst" (Keramik, Kunsttischlerei, Kunstschlosserei, Emaillirkunst
u. s. w.), wenn dagegen unbewegliche Gegenstände (Nutzbauten,
Wohnräume, Gesellschafts- und Festsäle, Gärten, öffentliche Anlagen
und Plätze, Brücken, Thore u. s. w.) verschönert werden sollen,
als decorative Kunst (Stadtverschönerung, Gartenarchitektur) auftritt.

425. Ausdruck der Verwirklichung der ästhetischen Idee in der
gesammten Erscheinung des menschlichen Lebens, des Einzelnen wie der
Gesellschaft und ihrer näheren und entfernteren Umgebung, ist die
Kunst "schön zu leben" ("Kalobiotik": Rahel; W. Bronn). Dieselbe
ist als Ideendarstellung so wenig mit der Kunst "gut zu leben"
("rasend" gut zu leben, rühmte sich Gentz) d. i. mit der gesuchten
Verfeinerung (Raffinement) des Sinnengenusses (Schlemmerei), als die
Kunst (logisch) überzeugender mit der Kunstfertigkeit (sophistisch)
überredender Beredsamkeit zu verwechseln. Ihre Tendenz geht dahin,
aus der gesammten, psychischen und physischen Beschaffenheit des
Individuums wie der Gesellschaft, aus deren Vorstellen, Fühlen und
Wollen, aber auch aus deren hörbarer und sichtbarer Selbstdarstellung
in Rede, Manier, Haltung und Handlung, so wie selbstgeschaffener oder
doch selbstgewählter naher und ferner Hülle und Begleitung (Kleidung,
Schmuck, Hausgeräth, Wohnung, Umgang, Sitten und Gebräuchen) nicht
nur (negativ) alles Störende und Disharmonische auszuscheiden,
sondern (positiv) denselben das Gepräge edler Freiheit und innerer
Uebereinstimmung mit und unter einander und zu einem wohlgefällig
abgerundeten Ganzen aufzudrücken d. i. das Leben in jedem gegebenen
Zeitmoment und die gesammte Zeitdauer desselben hindurch (wie
die Griechen und Goethe) zum "Kunstwerk" zu gestalten. Ergebniss
derselben, so weit ein solches durch die spröde Natur der ideenlosen
Wirklichkeit gestattet wird, ist eine schöne Erscheinungs-, wie jenes
der logischen, das gesammte Denken zum Wissen durchläuternden Kunst
eine wahre Gedankenwelt.

426. Weder nach jenen der logischen, noch nach jenen der ästhetischen,
sondern ausschliesslich nach den Anforderungen der ethischen
Idee ist die dritte Form der bildenden Kunst bemüht, die gegebene
Gestalt der Erfahrungswelt zu verändern. Dieselbe kann nicht darauf
ausgehen, in der Natur (etwa) vorhandenen Willen ("blinden Willen":
Schopenhauer) den Anforderungen der ethischen Norm anzubequemen,
weil deren Bewusstlosigkeit die Willensform ausschliesst. Die Absicht
derselben kann daher einzig darauf gerichtet sein, der Natur, soweit
thunlich, diejenige Gestalt zu verleihen, welche sich dieselbe,
wenn sie von einem Willen beseelt wäre d. h. die Fähigkeit besässe,
die Stimme der ethischen Ideen nicht nur zu vernehmen, sondern
auch zu befolgen, selbst geben oder gegeben haben müsste. Da unter
dieser Voraussetzung die Gestalt der Natur die unter den gegebenen
Verhältnissen beste d. h. diejenige geworden wäre, welche den Normen
der ethischen Ideen unter allen überhaupt möglichen Gestaltungen der
Natur am meisten entsprochen haben würde, so folgt, dass das Streben
der dritten d. i. der ethischen bildenden Kunst auf nichts anderes als
auf die Herstellung der besten unter den überhaupt möglichen Naturen,
beziehungsweise auf die Annäherung der bestehenden an das Ideal der
besten Natur gerichtet sein könnte.

427. Dieses selbst aber kann nichts anderes sein als das Bild einer
Natur, deren sämmtliche Bestandtheile, leblose wie belebte, zum Ganzen
in einer Weise verbunden werden, welche die zweckmässigste d. h. der
Summe der innerhalb der gesammten Natur vorhandenen Bedürfnisse,
Wünsche und Bestrebungen unter allen überhaupt denkbaren am meisten
entsprechend d. h. dem allgemeinen Wohl oder der Glückseligkeit des
Ganzen unter allen denkbaren am vollkommensten genügend wäre. Da
nun die Summe in der Natur gegebener Wünsche eine bestimmte, die
Summe der zu deren Verwirklichung zu Gebote stehenden Bedingungen
d. i. der Naturproducte, als Güter betrachtet, gleichfalls eine
begrenzte ist, so folgt, dass die Aufgabe der ethischen Kunst auf
nichts anderes gerichtet sein könne, als durch die unter allen
denkbaren beste Verwaltung der gegebenen Natur der grösstmöglichen
Summe von Glückseligkeit in der gesammten (leblosen wie lebendigen)
Natur (den Menschen mit eingeschlossen) zur Verwirklichung zu helfen.

428. Dieselbe geht darauf aus, nicht nur Verwaltungssystem, sondern
das unter den gegebenen Verhältnissen beste Verwaltungssystem der
Natur, nicht nur, wie die Oekonomik Hauswirthschafts-, wie die
Nationalökonomik Volks- oder Staatswirthschaftskunst, sondern als
Weltökonomik Weltwirthschaftskunst (bestmöglicher Haushalt der Natur)
zu sein d. h. weder (wie die gewinnsüchtigen Ausbeuter der Natur)
ausschliesslich im Dienste und zu den Zwecken des Menschen, noch (wie
erbarmungslose Naturkräfte) taub gegen Wohl und Wehe gefühlsfähiger
Wesen, sondern der bestehenden Proportion zwischen dem empfindungs-
und genussfähigen und dem genuss- und empfindungslosen Antheil der
gesammten Natur gemäss, dem Wohle des ersten und den Hilfsmitteln
des zweiten entsprechend zu wirthschaften. Je nachdem es sich dabei
entweder um die Hinderung des Missbrauchs durch Zerstörung oder
Verminderung gegebener, oder um die Förderung des Verbrauchs durch
Vermehrung gegebener und Erzeugung nicht gegebener Güter handelt,
nimmt dieselbe negativen (internationaler Schutz der Meere, Gewässer,
Wälder, Singvögel; Antisclavenliga; Sanitätspflege; völkerrechtlicher
Schutz des Privateigenthums in Kriegszeiten) oder positiven Charakter
an (internationale Welt- und Handelsstrassen: Suez-Canal, Durchstich
von Panama; Handels- und Schifffahrtsbündnisse, Entdeckungsreisen). Je
nachdem dieselbe mehr auf den vorhandenen Wünschen entsprechende
Vertheilung der schon vorhandenen, oder auf entsprechende Betheilung
der bisher Unbefriedigten durch neu zu schaffende Güter gerichtet
ist, nimmt dieselbe mehr den Charakter einer Versorgung (bestehender
Wünsche mit vorhandenen Mitteln: Communismus, Gütertheilung) oder
Vorsorge (für künftige Wünsche durch neue Mittel: Socialismus,
Organisation der Gesellschaft) an. Die Frucht der auf die gesammte
Natur, leblose wie lebendige, ausgedehnten Darstellung der ethischen
Ideen durch die bildende Kunst ist die in ethischem Sinn vollendete,
dem Zweck grösstmöglichen Wohlbefindens aller empfindungsfähigen
Wesen entsprechende, unter den gegebenen Umständen bestmögliche Natur,
der ethische Kosmos, die beste Welt (Optimismus).

429. Wie die erste Form der bildenden Kunst die logischen, die
zweite die ästhetischen, so verkörpert die dritte die ethischen
Ideen. Wie die bildende Kunst als Ideendarstellung im Physischen
Erziehung der Natur, so ist die Bildungskunst eigene, die Bildekunst
Erziehung des Menschengeschlechts. Wie diese im gemeinsamen, die
Selbsterziehung im einzelnen Bewusstsein, so stellt die bildende Kunst
die Culturentwickelung und den Culturprocess in der gesammten leblosen
und lebendigen Natur dar. Die Ideendarstellung im Wirklichen überhaupt,
die Kunst, ist der lebendige Culturprocess; die Entwickelungsgeschichte
derselben von deren ersten Anfängen im erwachenden Bewusstsein des
Einzelnen durch das Jugend-, Mannes- und gesellschaftliche Bewusstsein
hindurch bis zu den fernen und fernsten Grenzen des Alls, soweit
dieselben unserer Erfahrung zugänglich sind, bildet den Inhalt der
Entwickelungsgeschichte der Cultur, der Culturgeschichte des Weltalls.



SCHLUSS.


430. Mit der Ideendarstellung in der Geistes- und Körperwelt ist
die Philosophie als Kunst, wie mit der Darlegung des Ideeninhalts
einer-, des Inhaltes der Wirklichkeit andererseits die Philosophie
als Wissenschaft zum Abschluss gebracht. Der philosophische Realismus
geht nicht von der Annahme aus, weder dass das Wirkliche als solches
vernünftig, noch dass das Vernünftige als solches wirklich sei
(Optimismus: Hegel); aber auch nicht von der entgegengesetzten, dass
das Wirkliche als solches vernunftlos (Pessimismus: Schopenhauer), oder
gar als solches vernunftwidrig (lebendiger Widerspruch; Realdialektik:
Bahnsen) sei. Derselbe setzt aber voraus, sowol dass das Vernünftige,
welches als solches nicht wirklich ist (die Ideen), wirklich, als dass
das Wirkliche, welches als solches nicht nothwendig vernünftig ist
(Natur, Geist, Geschichte), vernünftig werden kann, werden soll und
werden wird, wenn nach dem bekannten Wort "Jeder seine Schuldigkeit
thut". Die Verwirklichung der Ideen ist weder eine Thatsache,
die in der Vergangenheit, noch eine solche, die in der Gegenwart,
sondern eine Aufgabe, deren Erfüllung in der Zukunft und in den
Händen des Menschen liegt. Der Traum eines "goldenen Zeitalters",
von welchem ein nüchterner Rationalist wie Kant als von jenem des
"ewigen Friedens", wie ein extremer Positivist wie Comte als dem
"état positif" schwärmte, wird dann erfüllt sein, wenn die gesammte
Ideenwelt real geworden und die gesammte Wirklichkeit von den Ideen
durchdrungen d. h. wenn dasjenige, was Schiller "das Kunstgeheimniss
des Meisters" nannte, die "Vertilgung des Stoffes durch die Form"
offenbar, oder, wie Schleiermacher es ausdrückte, "wenn die Ethik
Physik und die Physik Ethik" geworden sein wird. Eine Philosophie,
welche, wie die vorstehende, sich weder wie die Theosophie auf einen
menschlichem Wissen unzugänglichen theocentrischen Standpunkt versetzt,
um von ihm aus den "Vernunfttraum" als längst geschaffene Wirklichkeit,
noch wie die Anthropologie auf den zwar anthropocentrischen, aber
unkritischen Standpunkt gemeiner Erfahrung stellt, um von ihm aus eine
ideenerfüllte Wirklichkeit als "Traum der Vernunft" anzusehen, welche
sonach zugleich anthropocentrisch d. i. von menschlicher Erfahrung
ausgehend und doch Philosophie d. i. an der Hand des logischen Denkens
über dieselbe hinausgehend sein will, ist Anthroposophie.





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Anthroposophie im Umriss - Entwurf eines Systems idealer Weltansicht auf realistischer Grundlage" ***

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