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Title: Vertraute Briefe an eine Freundin
Author: Garve, Christian
Language: German
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project.)



  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1801 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung
    und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend
    korrigiert. Ungewöhnliche sowie inkonsistente Schreibweisen wurden
    beibehalten, insbesondere wenn diese in der damaligen Zeit üblich
    waren oder im Text mehrfach auftreten. Fremdsprachige Zitate
    werden dem Original entsprechend unverändert wiedergegeben. Das
    Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter erstellt.

    Das Buch wurde in Frakturschrift gedruckt, wobei üblicherweise
    zwischen den Großbuchstaben ‚I‘ und ‚J‘ nicht unterschieden
    wird. Daher wurde in einer Passage (‚Frau von I.‘) willkürlich
    der erstere Buchstabe gewählt. Für die von der Normalschrift
    abweichenden Schriftschnitte wurden die folgenden Sonderzeichen
    verwendet:

        gesperrt:   +Pluszeichen+
        Antiqua:    ~Tilden~

    Einzelbuchstaben in Antiquaschrift wurden bei der Auszeichnung
    nicht berücksichtigt.

  ####################################################################



                           Christian Garve’s

                           Vertraute Briefe

                                  an

                            eine Freundin.

                               Leipzig,
                   bey P. Phil. Wolf und Compagnie.
                                 1801.



Inhalt.

                                                 Seite
    Vorrede des Herausgebers.                      iii
    Erster Brief.                                    3
    Zweyter Brief.                                  10
    Dritter Brief.                                  13
    Vierter Brief.                                  18
    Fünfter Brief.                                  28
    Sechster Brief.                                 41
    Siebenter Brief.                                51
    Achter Brief.                                   58
    Neunter Brief.                                  60
    Zehnter Brief.                                  68
    Eilfter Brief.                                  77
    Zwölfter Brief.                                 81
    Dreyzehnter Brief.                              88
    Vierzehnter Brief.                              95
    Funfzehnter Brief.                             105
    Sechzehnter Brief.                             111
    Siebenzehnter Brief.                           123
    Achtzehnter Brief.                             130
    Neunzehnter Brief.                             141
    Zwanzigster Brief.                             145
    Ein und zwanzigster Brief.                     155
    Zwei und zwanzigster Brief.                    165
    Drey und zwanzigster Brief.                    172
    Vier und zwanzigster Brief.                    178
    Fünf und zwanzigster Brief.                    187
    Sechs und zwanzigster Brief.                   194
    Sieben und zwanzigster Brief.                  202
    Acht und zwanzigster Brief.                    205
    Neun und zwanzigster Brief.                    215
    Dreyssigster Brief.                            221
    Ein und dreyssigster Brief.                    227
    Zwey und dreyssigster Brief.                   231
    Drey und dreyssigster Brief.                   237
    Vier und dreyssigster Brief.                   244
    Fünf und dreyssigster Brief.                   246
    Sechs und dreyssigster Brief.                  250
    Sieben und dreyssigster Brief.                 254
    Acht und dreyssigster Brief.                   263



Vorrede des Herausgebers.


Die Freundin Garve’s hat bey der Herausgabe dieser Briefe keine
andere Absicht, als mit allen Freunden und Verehrern des guten Mannes
ein kleines, ihr sehr theures Erbtheil von ihm zu theilen. Daß
dieser Gedanke ihrem eignen Herzen und ihrer Gesinnung gegen ihren
verstorbenen Freund wohlthun, ist sie gern geständig. -- So wenig auch
Garve’s +gelehrter Nachlaß+ dadurch um ein Bedeutendes vermehrt werden
mag, so kann doch auch der Gelehrte sich wohl dieser Briefe freuen;
er sieht in ihnen den Geist blühen, von dem er die Früchte kennt und
schätzt. Was man von Schriftstellern nicht heraus geben muß, sind
taube Blüthen und unreife Früchte; von einem philosophischen Geiste
ist die Blüthe so angenehm, als die Frucht stärkend; und wenn ein Mann
etwas geworden ist -- dann wird der Welt die Frage interessant: wie
wurde er es? -- Diese Briefe enthalten vielleicht manche interessante
Data zur Beantwortung der Fragen: Wie war Garve, der Jüngling? -- Wie
früh war sein Geist gereift, gefaßt, in sich gegründet? -- Wie wurde
Garve, der Mann? -- Wie entwickelte sich der Plan seines Lebens? -- Wie
wurde Garve, der Schriftsteller? -- -- Diese Briefe sind unmittelbar
vor seiner Bearbeitung des Cicero geschrieben, und man kann sie
in mehr als einer Hinsicht als einen Eingang in sein öffentliches
schriftstellerisches Leben ansehen.

So viel für diejenigen, die in diesen Briefen Garven, den Gelehrten,
suchen. Diese und alle gute Menschen, denen dieselben in die Hände
kommen, mögen sich freuen -- dieß ist der lebhafteste, ja ich kann
wohl sagen, der einzige Wunsch der Herausgeberin, ihren Freund hier
in den ersten, reinsten, natürlichsten Verhältnissen des Lebens zu
sehen, Garven, den +Sohn+, -- den +Freund+ -- und den +Menschen+. --
Hier kann ihn der Gute lieben, der den Gelehrten nicht kennt; und gern
wird vielleicht der Gelehrte sein philosophisches Werk einen Augenblick
hinlegen, um mit dem menschlichen Verfasser desselben einige Zeit im
Zirkel seiner Familie, seines Jugendlehrers, und seiner Freunde,
zuzubringen.

Dieß sind die Gedanken der Freundin Garve’s bey der Herausgabe dieser
Briefe, nach welchen sie wegen derselben von dem Publikum beurtheilt zu
werden wünschen muß.



                           Vertraute Briefe

                                  an

                            eine Freundin.



Erster Brief.


    Dienstags Nachmittags um 3 Uhr,
    den 11. May, 1767.

Endlich bin ich wieder bey Ihnen, und vergesse in diesem Augenblicke
alle die Schwermuth, den Verdruß, und die Langeweile, die ich seit
unserer Trennung ausgestanden habe. Wir haben es uns hundert Mal
gesagt, daß die empfindlichen Herzen mehr zum Leiden als zur Freude
gemacht sind. Und wenn ich der Sympathie, die alle unsere Neigungen
einander so gleich gemacht hat, trauen darf, wenn meine Empfindungen
den Ihrigen ähnlich waren, so sind Sie diese drey Tage über nicht
glücklich gewesen. Zuerst eine mehr süße als unangenehme Schwermuth,
aber bald darauf eine finstere und traurige Melancholie, die alle
Ideen der Seele in ihre Farbe kleidete, und selbst der Hoffnung nicht
zuließ, sie zu trösten.

Ich finde, daß ich gemeiniglich in dem Augenblicke, wenn mir ein
Unglück widerfährt -- und unsere Trennung halte ich für eins -- mehr
bestürzt als traurig bin. Die Geschwindigkeit, mit welcher es mich
überrascht, benimmt mir die Fähigkeit darüber nachzudenken. Ich werde
einiger Maßen fühllos, ich erstarre. Aber wenn mein Gemüth wieder ruhig
genug ist, die Größe und die Folgen des Uebels zu überlegen; wenn es
sich die Scenen des Vergnügens wieder vorstellt, deren es jetzt beraubt
ist; wenn es von da sich zu den künftigen Aussichten wendet; dann wird
erst sein ganzes Gefühl rege, und alle seine Kräfte vereinigen sich
bloß dazu, es in der Traurigkeit zu unterhalten.

Ich bin Ihnen noch so nahe, und es scheint mir eine unermeßliche
Entfernung zu seyn. Und doch werde ich Ihnen in einem halben Jahre
nicht näher kommen, -- vielleicht niemals. Aber lassen Sie mich diese
unglückliche Furcht unterdrücken. Ich sehe Sie wieder.... Mein Herz
ist mir dafür Bürge, das der Himmel nicht umsonst mit dem Ihrigen so
sympathetisch gemacht hat. Selbst unter einem entfernten Himmelsstriche
würde ich Sie geliebt haben, ohne Sie zu kennen, -- eine Person,
die Ihnen ähnlich wäre, eine zweyte Wilhelmine. Und nun, da uns die
Vorsicht zusammen gebracht hat, da wir uns haben kennen lernen müssen,
da wir diesen geheimen Zug der Aehnlichkeit in uns entwickelt, unsere
Seelen gegen einander gehalten, und sie so ähnlich gefunden haben, als
zwey freundschaftliche Seelen seyn müssen; da wir überzeugt worden
sind, daß dieses höchste Geschenk der Gottheit, die Freundschaft,
für unsere Herzen gemacht ist: nun sollten wir einander auf immer
verlassen? um wieder in der Welt nach einer uns verwandten Seele zu
suchen und zu seufzen, und sie vielleicht nicht zu finden.

Sie sehen, ich schreibe stolz. Ich nenne mich keck Ihren Freund;
und zwar in der hohen Bedeutung, in welcher dieses Wort nur selten
gebraucht wird. Aber wen sollte auch Ihre Gütigkeit nicht stolz machen.
Mein Herz ist noch von derjenigen gerührt, die Sie mir den letzten
Tag erwiesen haben. Wie oft habe ich mir nicht die Auftritte dieses
Tages von meiner Einbildungskraft wieder vorspielen lassen! Und immer
verweilte ich mich bey dem Augenblicke, wo ich in einer Bestürzung,
die mich von meinen Bewegungen nicht mehr Herr seyn ließ, meinen Huth
suchte, und Sie mir das unerwartete Vergnügen ankündigten, daß ich noch
einen halben Tag länger bey Ihnen seyn könnte. Niemals hat man eine
freundschaftlichere Gefälligkeit zu einer gelegenern Zeit gethan, zu
einer so gelegenen Zeit, daß ich Ihnen die Grausamkeit vergebe, daß Sie
mich die Angst des Abschieds haben zwey Mal empfinden lassen.

Ich sollte Ihnen nun meine Reise beschreiben. Ich wollte sie Ihnen
beschreiben. Ich habe jede Kleinigkeit bemerkt, von der ich hoffte,
daß sie entweder einer kleinen Satyre fähig wäre, oder, durch Ihre
freundschaftliche Theilnehmung an allem was mich betrifft, Ihnen
wichtig seyn könnte. Ich hatte in meinen Gedanken eine ganz kleine
Sammlung von solchen Zügen, und schon dachte ich mit Eitelkeit an
die Reisebeschreibung, die ich daraus zusammensetzen wollte. Aber
dieses war noch in der ersten Zeit, wo der Einfluß Ihrer noch nicht
längst verlornen Gegenwart meiner Seele noch Muth und eine gewisse
Munterkeit erlaubte. Aber seit diesem Zeitpunkte sind alle jene Ideen
weggewischt worden. Der Schmerz hat sie alle so einförmig gemacht, daß
ich sie nicht ohne Mühe, und gewiß ohne Anmuth aus ihrer Dunkelheit
hervorziehen würde. Also will ich Ihnen nur kurz sagen, daß ich meine
Reisegesellschaft nicht genauer kennen gelernt habe, als wir sie im
Wirthshause schon kannten, ausgenommen, daß der Macedonier ein großer
Schläfer war, den ich herzlich beneidete, durch die ärgsten Stöße
niemals in seiner Ruhe gestört zu werden; daß der Herr Magister sehr
wenig sprach, und daß dieses Wenige alle Mal etwas kraftloses und
langweiliges war; daß mein Nachbar ein Kaufdiener, und noch ein vierter
ein Dreßdner war.

Ich selbst habe den Postwagen in W*** verlassen. In der That war
es beynahe eine Unbesonnenheit, die ich beging. Die Sache war so.
Der Postwagen war auf das erschrecklichste befrachtet. Eine Menge
Geldfässer und anderer schwerer Waren! Vier elende und abgetriebene
Pferde würden ihn mit Mühe und Noth bey dem besten Wege gezogen haben.
Aber dieser war entsetzlich. Aus einem Loch ins andere! Ich stieg drey
bis vier Mal ab. Ich ging zu Fuß. Aber so oft ich wieder aufstieg,
verschlechterte sich alle Mal der Weg. Das Gewicht des Wagens machte,
daß er bey jedem Abhange sehr stark schwankte; wir waren zwey Mal in
der größten Gefahr gewesen, umzuwerfen. Endlich bemächtigte sich die
Furcht meiner. Ich dachte an den schrecklichen Fall bey B***werda.
Ich fuhr beständig in Angst. Wir erreichten endlich W***. Einer von
der Gesellschaft, eben der Dreßdner, der eben so furchtsam wie ich
war, nahm hier Extrapost für sich bis H****burg. Ich entschloß mich,
ihm Gesellschaft zu leisten. In der That war es unüberlegt: denn ich
hatte mit genauer Noth so viel Geld bey mir, als nöthig war; und meinen
Koffer hatte ich auf der ordinären zurück gelassen.

Wir kamen um 9 Uhr nach H***burg. Ich fand keinen Menschen aus
G****dorf. Man erwartete mich erst Montags. Ich wußte also von neuem
nicht, wie ich nach G****dorf hinüber kommen sollte. Ich erwartete
erstlich die ordinäre Post, um meinen Koffer zu haben. Ich ganz
allein, in der Poststube, wo ein durch die jetzigen Meßexpeditionen
abgematteter Postschreiber auf einem Stuhle schlief, bey einem kleinen
einsamen Lämpchen, hatte alle mögliche Zeit zur Schwermuth. In der That
brachte ich die Stunden höchst traurig zu. Endlich kam mein Koffer.
Ich nahm noch einmal Extrapost nach G****dorf. Hier kam ich um 11 Uhr
an. Meine Freunde, oder vielmehr mein Freund, der eben zu Bette gehen
wollte, empfing mich liebreich.

Hier lebe ich nun nicht mit der düstern Melancholie, die durch die
Einsamkeit genährt wird, aber in einem gewissen Tiefsinn, den man mir
auch anmerkt. Ich habe kaum diesen Augenblick finden können. Man ruft
mich schon etliche Mal, und ich muß nothwendig den Brief endigen,
ob ich gleich nicht den hundertsten Theil von dem gesagt habe, was
ich Ihnen sagen wollte. Was für eine elende, unvollkommene Art der
Unterredung ist doch ein Brief! Gott segne Sie. Von ganzem Herzen

    der Ihrige.



Zweyter Brief.


    G***dorf, den 28. May,
    1767.

Ich reise diesen Augenblick von hier nach H****burg. Dort erwarte ich
Hr. M.. und mit ihm -- das angenehmste, was ich in meinen gegenwärtigen
Umständen erhalten könnte, Ihre eigne Gegenwart ausgenommen.

Ich fange an, das Leben als eine lange und oft beschwerliche Reise
anzusehen, auf der wir von einem höhern Führer geleitet werden. Von
Zeit zu Zeit kommen einige angenehme Ruheplätze, wo wir uns nur erholen
sollen, und wo wir ganz und gar zu wohnen wünschen. Ihr Haus und ihre
Gesellschaft war einer von diesen. Ich fing schon an in demselben zu
vergessen, daß ich bloß zur Fortsetzung meiner Reise gestärkt werden
sollte. Es kommt der fürchterliche Befehl zum Aufbruche. Ich verlasse
in einer Art von Betäubung den angenehmen Aufenthalt. Endlich kommt
meine Empfindung wieder; aber nur um mich meinen Verlust fühlen zu
lassen. Lange, lange sehe ich mit einer zaudernden Sehnsucht nach dem
gewünschten Orte zurück, indeß ich mich immer mehr von ihm entferne.
Dort, dort, sage ich, ist meine Freundin, und ich reise nach der
entgegenstehenden Gegend. +Von einem unbefriedigten Verlangen zur
Schwermuth ist nur ein einziger Schritt.+ Endlich verlieren sich alle
diese schmerzhaften Ideen in dem Gedanken an meinen großen und gütigen
Anführer. Er ist zugleich der Führer meiner Freundin. In ihm, unserm
gemeinschaftlichen Vater, vereinigen sich wieder unsere Seelen, wenn
sie auch durch noch so weite Entfernungen von einander getrennt sind.
+So ist der Schmerz oft unser Lehrer; und eine menschliche Seele, die
niemals traurig gewesen wäre, müßte gewiß lasterhaft seyn.+

Die Pferde sind angespannt, alles ist fertig. Ich schreibe mitten unter
dem Geräusch. -- Ich bin unaufhörlich

    der Ihrige.



Dritter Brief.


    B***, den 3. Juni.

Fleuch, Brief, eile, so geschwind wie meine Gedanken, um es meiner
besten Freundin zu sagen, daß ich meine Reise überstanden, daß ich
meine Mutter wieder gesehen habe, und daß ich mich doch über beydes nur
halb so sehr freue, als wenn sie mit daran Theil nähme.

O meine gefühlvolle Freundin, was wäre das für eine Scene für Sie
gewesen, da ich meine Mutter wieder sah. Denken Sie nur. Sie wußte
nicht ein Wort davon, daß ich Sonntags kommen würde. Der Himmel hatte
sogar zu meinem Glück den Brief unrichtig gehen lassen, worin ich es
Ihr von G****dorf aus meldete. Sie war den Tag zuvor mit meinem alten
Lehrer (den Sie schon kennen und hochschätzen) dem Hrn. Ringeltauben,
vom Lande herein gekommen. Die Wiederkunft in die Stadt hatte
den Schmerz über den Verlust der liebenswürdigsten Tochter wieder
aufgeweckt. Meine Reise war ihr ein neuer Kummer. Eine Menge von andern
unangenehmen Umständen hatte ihr Gemüth für das Vergnügen verschlossen.
Sie stand am Fenster in einer bekümmerten und traurigen Stellung. Zu
eben der Zeit komme ich an. Ich steige bey einem fremden Hause ab. Ich
fliege mit einer gewissen Art von ängstlicher Eile über die Straßen.
Ich komme an das Haus meiner Mutter, ohne daß mich ein Mensch gewahr
wird, die Treppe hinauf, fort, fort, bis an das Zimmer meiner Mutter.
Ich eröffne die Thüre mit Zittern. In diesem Augenblicke sehe ich meine
Mutter mit ausgebreiteten Armen auf mich zufliegen. -- Mein Sohn, mein
allerliebster Sohn, du bist es! -- Ihre Thränen ersticken das übrige.

Ich war völlig sprachlos. Ich küßte alle, die in der Stube waren, ohne
ihnen ein Wort zu sagen. Ich ging, wie ein Mensch in der Irre, von
einem zum andern herum, ohne zu wissen, wer um mich war, und was in
mir selbst vorging. Endlich fingen die Thränen an zu fließen. Mein
Herz wurde leichter. Meiner Mutter ihres auch. Ein sanfter und stiller
Schmerz über die Abwesenheit einer Person, die ich bey einem solchen
Auftritte am liebsten würde gegenwärtig gesehen haben, vermischte
sich mit unserer Freude, und brachte eine gewisse stille, aber nicht
verdrießliche Schwermuth hervor, die unter allen Zuständen der Seele
vielleicht der angenehmste ist, und den sie am längsten aushalten kann.

O meine gütigste Freundin! Ich habe noch nicht alles gewußt, was ich
an meiner Cousine verloren habe. Die liebenswürdigste Gestalt, ein
richtiger und durchdringender Verstand, ein sicheres und feines Gefühl,
Adel und Hoheit in den Empfindungen, Unschuld und Tugend im Herzen;
das waren die Vorzüge, die jeder an ihr kannte, und jeder, der für
Vollkommenheiten von dieser Art Augen hat, hochschätzte. Aber sie war
für mich noch mehr. Sie war die einzige Freundin, der Trost und die
Stütze meiner Mutter, das Band unserer Familie, die Hoffnung und die
Belohnung eines Freundes, den ich verehre, und der in ihr sein Glück
würde gefunden haben. Denken Sie, was ich dabey fühlen muß, wenn man
mir noch die letzten Beweise ihrer Gewogenheit gegen mich erzählt,
ihren Wunsch, mich wieder zu sehen, ihre Freude bey der Hoffnung von
meiner nahen Zurückkunft. Ist denn alles, was gut und vortrefflich ist,
nur bestimmt, zu leiden und zu sterben?

Schon fange ich an, für Sie selbst zu fürchten. Eine so gute,
rechtschaffene Frau, eine so zärtliche Freundin, eine so verständige
Mutter, ist vielleicht nur ein Darlehn, kein Geschenk, das der Himmel
der Erde macht. Werden Sie ja wieder gesund, oder Sie machen mich ganz
melancholisch. Ich bin es ohnedieß schon halb; meine Mutter kränklich,
von Schmerz und Kummer verzehrt; mein Onkel seiner geliebtesten Tochter
beraubt; meine übrigen Freunde theils zerstreut, theils unglücklich:
ist das nicht mehr als genug, selbst ein hartes Herz zu beunruhigen? --

Sie sehen, ich habe Ihre Briefe erhalten. Einen durch Hrn. M.., den
andern gestern mit der Post. Sie sind die angenehmste unter meinen
Ergötzungen gewesen. Was meynen Sie wohl? Herr M.. gab mir ihn erst
in Stauchitz. Bis dahin sagte er nicht ein Wort, daß er einen Brief
von irgend einem Menschen hätte. Glauben Sie nicht, daß mich diese
fehlgeschlagene Hoffnung, einen Brief von Ihnen zu bekommen, den Weg
über sehr unruhig machte? Und doch fürchtete ich mich zu fragen, weil
ich den Zweifel für besser hielt, als einer unangenehmen Sache gewiß zu
seyn. Endlich wagte ich es, ihn ganz leise zu fragen, ob er von Niemand
Briefe hätte. Ja, sagte der Mensch ganz gelassen, ich habe einen von
***. Was ist doch der Mann für eine Schlafmütze, dachte ich. Geschwind,
geschwind her mit dem Briefe! Aber was ist denn das für eine Dame, die
an Sie so zeitig schreibt? -- Eine gute Frau, eine recht sehr gute
Frau! Aber geben Sie mir den Brief her. Nun denken Sie sich das übrige.
--

Den Augenblick kommt man, und sagt, daß die Post abgeht, und ich meine
Briefe würde hier behalten müssen. Ums Himmelswillen, mein lieber
Post-Sekretär, wenn ich Euch jemals eine solche Freundin, wie ich habe,
wünschen soll, so bestellt diesen Brief an die meinige!



Vierter Brief.


    B***, den 8. Juni.

Ungeachtet ich anfangs über die neue Einrichtung, die es Ihnen mit
meinem Posttage vorzunehmen beliebte, ein bischen murrete, so muß
ich Ihnen doch jetzt sagen, daß Sie es recht gut gemacht haben. Sie
kennen die Theorie des Vergnügens. Sie wissen, wie notwendig es sey,
seine Vergnügungen zu sparen, um sie recht zu genießen. Durch Ihre
gegenwärtige Einrichtung haben Sie zwischen dem Vergnügen, von Ihnen
Briefe zu bekommen, und dem beynahe eben so großen, Briefe an Sie zu
schreiben, fast gleiche Zwischenräume gesetzt, da sie sich vorher
unmittelbar auf einander drängten. Auf diese Art wird mir die Zeit von
einem Freytage zum andern kürzer, und zwischen beyden Unterredungen,
die ich mit Ihnen die Woche halte, bey deren einer ich Sprecher, und
bey der andern Hörer bin, ist doch auch Raum genug, um das Verlangen
nach einer neuen wieder recht lebhaft zu machen.

Wissen Sie, was mir das ärgste bey dieser Art von Umgang zu seyn
scheint? Dieses, daß ein Brief, den man (wenn unsere Freunde sehr gütig
sind) acht Tage erwartet hat, in eben so viel Minuten zu Ende gelesen
ist, und nach Verlauf dieser glücklichen acht Minuten, in denen man den
Brief lieset, schon wieder die neuen acht Tage angehen, in denen man
auf den folgenden wartet. Bey alle dem bin ich doch noch immer sehr
glücklich, daß Sie so gütig sind, und meinem Vergnügen alle Wochen
einen Theil Ihrer Zeit schenken. Ihre Briefe geben mir wieder in meinen
Augen einen gewissen Werth. Und dieses ist sehr nöthig, da ich mir hier
zuweilen in gewissen Gesellschaften recht einfältig vorkomme.

Ich habe mir vorgenommen, Ihnen heute viel von mir selbst
vorzuschwatzen. Nicht eben, daß ich mich für einen sehr guten
Gegenstand des Gesprächs hielte; aber ich habe heute nun einmal keinen
bessern, oder wenn ich ihn hätte, so wäre ich nicht dazu aufgelegt, ihn
zu nutzen. Ich muß mich also schon mit mir selbst begnügen. Ueberdieß
sind Sie selbst daran schuld, daß Sie mir die Eitelkeit in den Kopf
gesetzt haben, als wenn alles, was mich anginge, sehr wichtige Sachen
für Sie seyn müßten. Diese Einbildung mache ich mir also zum Vortheile
meiner Trägheit zu Nutze, und mache getrost meine Briefe zu einem
guten, ehrlichen Zeitungsblatte von mir selbst. Heute sollen Sie also
erfahren, wie ich meinen Tag hier gewöhnlicher Weise zubringe; obgleich
der Ausnahmen beynahe so viel sind, als der Fälle, die unter die Regel
gehören.

So wissen Sie denn, daß ich nicht bloß gewöhnlich, sondern beständig
sehr spät aufstehe. Dieses +spät+ aber müssen Sie weder früher noch
später annehmen, als acht Uhr des Morgens nach B***scher Uhr. Ich habe
schon lange die Ursachen dieser Begebenheit, die mit meinen Entwürfen
und Vorsätzen so wenig übereinstimmt, aufgesucht; ich bin aber noch
nicht weiter als bis auf die Dunkelheit der Alkove gekommen, in der
ich liege, und die der Sonne vor Mittag den Besuch nicht erlaubt.
Dieses ist ein sehr gutes Mittel die fernere Untersuchung wenigstens
aufzuschieben, die sich vermuthlich damit endigen würde, daß ich ein
wenig faul wäre.

Der erste Gedanke, wenn ich erwache, ist, nach einem kurzen Dank
für das Geschenk eines neuen Tages, der Gedanke an meine Freunde.
Wie glücklich, denke ich alsdann, bin ich, daß ich wieder in einer
Welt erwache, in der so manches edle, vortreffliche Herz an meinem
Leben und an meiner Wohlfahrt Theil nimmt! Ich überzähle alsdann
mit aller der Begierde, mit der ein reicher Geitziger am frühen
Morgen seine Summen wieder überzählt, die Anzahl dieser Freunde. Ich
bin nicht mißvergnügt, daß ich sie so klein finde. +Das Herz liebt
desto stärker, je mehr es konzentrirt ist.+ Dieser stille Genuß der
Glückseligkeit, Freunde zu haben, bereitet mich zu einer andern vor;
-- zu der, ihnen Gutes zu wünschen. Wie rührt und wie erhebt mich in
diesem Augenblicke ein Gedanke an den Herrn und den Vater, den ich mit
allen meinen Freunden gemein habe. Er ist bey ihnen, so wie bey mir
gegenwärtig; er regiert ihr Leben, so wie das meinige; er sorgt für
ihre Glückseligkeit mit alle dem Eifer, mit dem ich dafür sorgen würde,
wenn ich die Macht dazu hätte. Durch diese Erinnerung scheinen sich mir
die weitesten Entfernungen zu verengern. Ich vereinige mich mit meinen
Freunden. Bürger einer und derselben großen Republik, in einerley
gemeinschaftlichen Plan von allgemeiner Glückseligkeit verflochten,
von einerley Gesetzen regiert und von gleichen Hoffnungen belebt, sind
unsere Geister unter einem beständigen, gemeinschaftlichen Einfluß eben
derselben Güte! --

Ich muß mich mit Gewalt von diesen Betrachtungen losreissen. Das
Vergnügen macht geschwätzig. Und doch sind Worte so wenig fähig,
Vergnügungen von der Art zu beschreiben, daß man nothwendig entweder
einem Herzen, das sie niemals empfunden hat, verdrießlich, oder einem
solchen, das sie kennt, matt und kraftlos vorkommen muß. Auf diese
geheimen Ergötzungen folgt eine andere, an der meine liebe Mutter, und
meine Cousine, die beständig bey ihr ist, Theil nimmt. Wir trinken
gemeinschaftlich auf einem kleinen Altan, den wir haben, und der mit
Grünem besetzt ist, Thee. Sie wissen schon, was ich Ihnen sonst von dem
Vergnügen der Theestunde vorgeschwatzt habe; und in der That bleibt es
noch immer eine der schönsten Stunden des ganzen Tages. Sie können es
auch daraus schließen, daß wir sie fast niemals vor zehn Uhr endigen.
Ich habe mich hier zum Lekteur meiner ganzen Familie aufgeworfen, und
man hört mich noch so ziemlich gern. Ich lese also diesem Amte zu
Folge auch manchmal beym Thee ein Stück vor. Das gewöhnlichste aber
ist, daß wir bloß sprechen; sehr oft von Leipzig, noch weit öfter
von Ihnen; das können Sie denken. Um zehn Uhr gehe ich herunter, und
diese beyden Stunden bis zu Mittage lasse ich mir ungern rauben. Mein
Geist wird ohne eine tägliche Nahrung trocken und leer. Er ist keine
immerbrennende Flamme, die durch ihre eigene Kraft in die Höhe steigt.
Er ist wie das in Stein eingeschlossene Feuer, das nur von Zeit zu Zeit
Funken giebt, und auch diese müssen erst heraus geschlagen werden. Ich
lese also in diesen zwey Stunden, oder ich schreibe. Das was ich lese,
und was ich davon denke, das sollen Sie alles nach und nach erfahren. --

Aber diese zwey kostbaren Stunden sind eben jetzt vorbey; ich habe
sie dazu angewendet, an Sie zu schreiben; und das ist gewiß der
beste Gebrauch, den ich die ganze Woche davon mache. Dem ungeachtet
verzweifle ich noch nicht, ehe man mich zu Tische ruft, zu Ende zu
kommen. Das nächste also, was jetzt folgt, ist, daß ich esse. Die
Gesellschaft eben dieselbe, die es beym Thee war. Die Gerichte sehr
mäßig, aber sehr wohlschmeckend. Und hier kann ich nicht unterlassen,
eine kleine Lobrede für die Schlesischen Köche und Köchinnen
einzuschalten. Wenn ein Land durch gute Suppen, durch sehr fettes
und derbes Rindfleisch, durch vortreffliches und wohlzugerichtetes
Kräuterwerk glücklich würde, so wäre in der Welt nichts ungerechter,
als die Klagen, von denen meine Ohren hier gar nicht ausruhen. Denn
alles das und noch weit mehr, als ein solcher Idiot in der jetzigen
Favorit-Wissenschaft der Welt, wie ich bin, sagen kann, das besitzt
Schlesien. O warum kann ich nicht hier Ihren Geschmack aufbieten, mir
Recht zu sprechen! Warum kann ich Sie nicht einmal mit dem Manne, ohne
welchen alle mögliche Schlesische Gerichte umsonst vor Ihnen stünden,
an unserm Tische sitzen sehen! --

Wenigstens will ich den Einfall in meinen Gedanken verfolgen. Ich werde
den Augenblick gerufen. Wie wäre es, wenn Sie, ohne ein Wort zu sagen,
nach B***lau gekommen wären, wenn Sie mich heute überraschen wollten,
wenn ich Sie oben schon an unserm Tische sitzen und auf mich schmälen
sähe, daß ich Sie so lange habe warten lassen. Ich gehe, ich gehe, --
um meinen Traum zu vernichten. --

Ich komme eben von Tische wieder, und ich habe nur noch einen
Augenblick Zeit bis zur Post. Auf meiner Mutter Stirne saßen, wie ich
heraufkam, einige finstere Wolken. Einige verdrießliche Geschäfte, und
noch mehr als das, die Unruhe eines Baues, der sie beynahe aus ihrem
Zimmer vertreibt, hatten diese Wolken zusammengezogen. Ich schreibe mir
heute die Ehre zu, sie zerstreut zu haben. Wenigstens habe ich meine
Mutter heiterer verlassen, als ich sie fand. --

Um also meinen Tag vollends bis zum Abend zu bringen, so müssen Sie
wissen, daß ich unmittelbar nach Tische eine kleine halbe Stunde den
Flügel spiele. In meiner Mutter Stube steht ein ziemlich guter mit zwey
Klavieren. Dann kommt der gesellschaftliche Kaffee. Sie können glauben,
daß ich den niemals ohne meine Mutter und Cousine trinke, ausgenommen,
wenn diese Frauenzimmerbesuch hat, den ich nicht kenne. Nichts ist
ungewisser und unsicherer als der übrige Rest des Nachmittags. Wir
fahren zuweilen in Gesellschaft einiger Freunde spazieren. Ein ander
Mal gehe ich ganz allein mit einem einzigen Bekannten. Ich besuche dann
und wann die hiesigen öffentlichen Bibliotheken; ich mache zuweilen
Staats-Visiten, die mich ennuyiren; und dann endlich bleibe ich einmal
zu Hause, um recht viel oder gar nichts zu thun.

Der Abend ist dem Mittag vollkommen ähnlich. Ordentlicher Weise ist
mein Onkel bey uns, der der rechtschaffenste Mann, aber fast immer
kränklich und dann und wann ein wenig argwöhnisch ist. Leben Sie wohl.
Ich bin --

    N. S.

Denken Sie einmal, liebste Freundin! gestern bekomme ich von Herrn
Weisen einen Brief, -- einen sehr gütigen, freundschaftlichen
Brief. Und dieses Vergnügen muß mir durch eine so traurige
Nachricht verbittert werden, als die von Meinhards Tode. Ja, dieser
rechtschaffene Mann, dieser große Gelehrte, dieser schöne und
empfindliche Geist, dieser mein Freund -- ist todt. ~Peace to his
gentle shade!~



Fünfter Brief.


    B***, den 9. und 10. Juni.

Niemals ist ein Brief mit einem so schmerzhaften Verlangen erwartet
worden, als ich gestern den Ihrigen erwartete. Selbst in dem Schoße
meiner Familie, und an der Seite der vortrefflichsten Mutter, empfinde
ich dem ungeachtet, daß mir noch ein Freund und eine Freundin fehlt,
um diesem Glück seine Vollständigkeit zu geben. Ich fühle es, daß mir
Ihr Umgang nothwendig geworden ist; und ohne die Gütigkeit, mit welcher
Sie mir Ihren Briefwechsel versprachen, und ohne die Beständigkeit,
mit welcher Sie dieses Versprechen ausführen, würde ich meine
hiesigen Freunde mit dem beständigen Anblick einer gewissen Unruhe
beleidigt haben, die sie vielleicht auf die Rechnung eines Mangels von
Zärtlichkeit geschrieben hätten. Aber jetzt setzt mich Ihre Gütigkeit
in den Stand, zwey der angenehmsten Beschäftigungen mit einander zu
verbinden, die Unterhaltung mit meiner Mutter und das Andenken an Sie.

Meine Mutter kannte Sie schon als eine sehr gütige Freundin von ihrem
Sohne, ehe ich noch Leipzig verließ. Aber nun kennt sie Sie als eine
vortreffliche Frau, als eine zärtliche Freundin, mit einem Worte, als
eine Person von einem solchen Geiste und einem solchen Herzen, als die
Liebe und die Freundschaft nöthig hat, wenn sie beschlossen hat, einen
glücklichen Ehemann und einen kleinen Kreis glücklicher Freunde zu
machen.

Was meynen Sie wohl? Ich zeige meiner Mutter alle Ihre Briefe. Sie
liest sie beynahe mit eben dem Feuer, mit welchem ich sie lese. Bey
gewissen Stellen füllen sich ihre Augen mit Thränen der Zärtlichkeit
und der Freude. So stark wirken diese gleichgestimmten Herzen auf
einander, selbst in der weitesten Entfernung. Glauben Sie wohl, daß
ich es hätte aushalten können, ein ganzes halbes Jahr zuzubringen,
ohne Jemand zu haben, mit dem ich mich von Ihnen unterreden könnte,
und in dessen Schoß ich zuweilen mein volles Herz ausleerte, wenn
Ihre Gütigkeit und die Sehnsucht nach Ihrem Umgange dasselbe mit
zu unruhigen und stürmischen Wünschen anfüllte? Und könnte wohl
diese Person Jemand anders als meine Mutter seyn? Sie, die an den
kleinsten Vergnügen ihres Sohnes Theil nimmt, sollte sie nicht in der
Glückseligkeit, die ihm der Himmel geschenkt hat, eine Freundin und
einen Freund zu besitzen, einen Theil derjenigen wieder finden, die sie
durch den Tod einer Tochter, die zugleich Freundin war, verloren hat?

Ja, gütigste Freundin, schon theilt meine Mutter alle die Empfindungen
mit mir, die mir die Bekanntschaft mit einer so edlen und zugleich
zärtlichen Seele eingeflößt hat, und die ich, wenn es möglich ist,
durch die Abwesenheit noch gestärkt und vermehrt finde. Unsere
Unterredungen beleben sich am meisten, wenn sie Sie zum Gegenstand
haben; und ohne daß wir es gewahr werden, kommen sie durch die
wunderbarsten Irrgänge immer wieder auf diese Lieblingsmaterie zurück.
So viel Gewalt hat das Herz über unsere Denkungskraft, daß die
leichtesten und schwächsten Verbindungen schon genug sind, Ideen in
die Seele wieder zurück zu bringen, die durch ein starkes Interesse an
uns gebunden sind. Lassen Sie sich dieses von +Home+ viel besser und
gründlicher sagen. Ich mag nicht philosophiren, ich will Ihnen bloß
sagen, was ich empfinde. --

Aber gütigste Freundin, wie haben Sie es übers Herz bringen können,
mir mit einem so versteckten, aber für mich doch sehr fühlbaren
Vorwurf wehe zu thun? -- Oder trauten Sie es der Feinheit meines
Gefühls nicht zu, daß ich den kleinen Ansatz von Empfindlichkeit
gewahr werden würde, der Ihnen die Worte eingab: „Ich suchte in der
Folge Ihres Briefes Trost, aber ich fand keinen. Sie, der Sie mit mir
einerley Gefühl haben, Sie empfinden den Unterschied wohl, der zwischen
der Verstorbenen und mir ist!“ Und noch dazu eine so ceremoniöse
Vorsichtigkeit, Ihren Namen nicht zuerst zu schreiben! Ein kleiner,
ganz kleiner Rest von Weiblichkeit! würde Onkel Selby sagen. Wie?
glauben Sie wohl, daß ich meine Cousine liebte, und die Eigenschaften
nicht von ganzem Herzen hochschätzte, die sie liebenswürdig machten?
daß ich ihren Verlust beweinen, und mich nicht zugleich über den Besitz
von Freunden erfreuen sollte, in denen ich ihren Geist und ihr Herz
wieder finde? Oder können Sie so ungerecht gegen sich selbst seyn,
diese größten Geschenke des Himmels in sich zu verkennen, und sich
unter Ihren eigenen Werth herabzusetzen? Liebste, gütigste Freundin,
lassen Sie sich niemals durch einen gewissen Unmuth die Erhabenheit der
Seele schwächen, die ohne Stolz, dennoch ihre eigene Vollkommenheit
fühlt, und indem sie die Stufe erkennt, auf welche die Güte des
Schöpfers sie gesetzt hat, dadurch nur noch mehr Muth bekommt, höhere
zu erreichen. --

Aber lieber will ich glauben, daß Sie nur darum diese Stelle in Ihren
Brief gesetzt haben, um mir die Gelegenheit, die ich so sehr wünsche,
zu geben, es Ihnen noch einmal zu sagen, wie hoch ich meine Freundin
schätze, und wie theuer sie meinem Herzen ist. Ich kann dieses, zu
meinem eigenen Vergnügen nicht oft genug wiederholen. Denn welche
Glückseligkeit ist der gleich, seinem Freunde zu sagen, daß man ihn
liebt, wenn es nicht die Glückseligkeit ist, zu hören, daß man von ihm
geliebt wird? Wenn ich also von meiner Cousine rede, so glauben Sie
nur, daß keine Ideen verwandter sind und einander leichter erwecken,
als der Gedanke an ein Gut, das man verloren, und der an ein anderes,
das uns der Himmel noch läßt; und daß der Abgang von so theueren
Freunden das Herz nur noch zärtlicher gegen diejenigen macht, die uns
noch übrig sind.

Ich glaube, ich habe Ihnen schon in Leipzig gesagt, daß ein Freund von
mir und von unserm Hause, ein junger angehender Dichter, der jetzt
in Halle studirt, ein Gedicht auf meine Muhme gemacht hat. Ich habe
es hier erst zu sehen bekommen. Weil viel gute Stellen darin sind,
obgleich manche gegen die übrigen matt, andere in der Verbindung,
in der sie stehen, nicht richtig und zusammen hängend genug, und
noch andere zu überhäuft und nur durch die Rechte der Poesie zu
entschuldigen sind, so will ich es Ihnen abschreiben. Aber schöner,
als das ganze Gedicht, ist meinem Urtheile nach ein Motto aus dem
Petrarch, welches er demselben vorgesetzt hat. Wo ich nicht irre, so
ist es eine der schönsten Stellen im ganzen Petrarch. Es ist aber zur
Anwendung auf die Person, die der Gegenstand dieses Gedichts ist,
nicht schicklich und angemessen genug, und überhaupt kann es nur im
Munde eines Liebhabers und eines solchen Liebhabers als Petrarch,
sein rechtes Verhältniß bekommen. Ich will es wagen, die Stelle zu
übersetzen, ob ich Sie gleich zu eben der Zeit bedauren werde, daß Sie
nicht das Original lesen können.

    „Wer alles sehen will, was nur die Natur und der Himmel unter den
    Menschen vermag, der komme, diese zu sehen. Aber er komme bald.
    Denn der Tod raubt zuerst die besten, und läßt die schlechtern
    stehen. Dieses in dem Reiche der Götter schon lang erwartete schöne
    und sterbliche Geschöpf geht nur vorüber, und bleibt nicht. Wenn er
    noch zu rechter Zeit kommt, so wird er jede Tugend, jede Schönheit,
    jede erhabene Eigenschaft in einem Körper mit wunderbarer Mischung
    vereinigt sehen. Aber wenn er zu lange zaudert, so wird er nur
    kommen, um beständig zu weinen“[A].

Ist diese Apostrophe nicht das rührendste Gemählde eines von Schmerz
ganz durchdrungenen Herzens? Aber nun zum Gedicht selbst. Sie sollen
nur die besten Strophen davon bekommen.

      Also blühte rühmlich Doris Leben --
    Rühmlich mußte sie es wieder geben;
    Und das grosse Beyspiel im Erblassen
    Noch der Erde zum Vermächtniß lassen;

      Da ihr lieblich Auge brechen sollte,
    Stürmend Feuer durch die Adern rollte,
    Freunde sprachlos matte Hände rangen,
    Und die Engel froh die Flügel schwangen,

      Schaute sie des Todes letzten Schlägen
    Voll Geduld und Majestät entgegen,
    Ruhig, da die Trennung jetzt begonnte,
    Weil sie nur die Hülle wechseln konnte.

      Keusche Jungfraun, eilt ihr Grab zu ehren.
    Pflanzt Zypressen, oft benetzt mit Zähren,
    Und gelobet auf dem Staub der Schönen
    Euren Wandel einst wie sie zu krönen.

      Aus den Zweigen soll ein Hayn entsprießen,
    Junge, leicht verführte Töchter müssen
    Ihn besuchen, die Geschichte hören,
    Und erröthend sittsam wiederkehren.

      Jährlich sollen freundschaftliche Reyhen,
    Wo sie schlummert, zarte Lilien streuen,
    Und das Opfer mit gedämpften Saiten
    Und wehmüthigem Gesang begleiten.

      Nie, Geliebte, nie wirst du vergessen!
    Deinen Nachruhm wird kein Ruhm ermessen.
    Laß noch Einen für die Tugend brennen,
    So wird er auch dich mit Ehrfurcht nennen.

      Und sollt’ einst auf der undankbar’n Erden
    Sie verkannt, gehaßt von allen werden;
    Darf sie nur, um alle zu entzücken,
    Sich mit deinem süßen Reitze schmücken.

Dürfte ich wohl so eigennützig seyn, und mit diesem kleinen Geschenke
wuchern? Meine Freunde kennen Sie noch nicht als eine eben so
empfindungsvolle Dichterin, als Sie eine gefühlvolle Ehegattin und
Freundin sind. Einige von den kleinen Stücken, die Sie mir einmal
vorlasen, und unter diesen auch das Hochzeit-Gedicht, das Sie für
einen Ihrer Bekannten gemacht haben, würden mich in den Stand
setzen, dieses Vergnügen meiner Mutter zu machen. Ich würde sogar
durch die Mittheilung derselben ein gewisses Ansehen bekommen. Ich
würde Macht haben, Gefälligkeiten auszutheilen; und ich würde gewiß
meine Geheimnisse nicht so wohlfeil verkaufen. Sie sehen schon, daß
ich unbescheiden genug bin, auch wohl gar eine kleine Mühe Ihnen
aufzulegen. --

Wenn ich nur dafür im Stande wäre, Ihr Tagebuch, das mich so sehr
unterhält und mich auf einige Augenblicke wieder zu Ihnen zurück
bringt, mit einem eben so angenehmen zu vergelten. -- Aber meine
Geschichte (ich nehme die Unterhaltung mit meiner Mutter aus, und
die wissen Sie schon größten Theils) ist so einförmig, oft für den
Helden derselben so langweilig, und fast immer für die Leser so wenig
unterrichtend, daß ich alle Mal abgeschreckt werde, so oft ich daran
denke, meine Briefe mit meinen Begebenheiten, anstatt mit meinen
Empfindungen anzufüllen. Sie sollen unterdessen alle meine Freunde,
die ich hier hochschätze, kennen lernen. So bald nur der Cirkel von
Besuchen, in dem ich mich jetzt herumgedreht habe, durch seyn wird,
so werde ich es mir zu einer fest gesetzten Beschäftigung machen, Sie
ganz in unsere Familie und in unsere Bekanntschaften einzuführen, und
mich auch zuweilen für die Langeweile, die mir einige davon machen, zu
rächen.

Meine Reise ist, wie Sie wissen, glücklich, aber dem ungeachtet
ziemlich unangenehm gewesen. Meine Gesellschafter waren entweder
Misanthropen oder Schläfer. Ich dankte unterdessen beyden für die
Muse, die sie mir gaben, an meine Freunde zu denken. Oft in der Mitte
der Nacht, wenn alles um mich schlief, schweifte meine durch die
Stille noch mehr aufgeweckte Seele zu allen Wohnungen meiner Freunde
umher, und segnete ihren sanften und ruhigen Schlaf. Bald flog ich
unsern langsam kriechenden Pferden zuvor, warf mich in Gedanken zu den
Füßen des Bettes meiner Mutter, küßte sanft ihre Hand um sie nicht zu
wecken, und flehte den Beystand der sie bewachenden Engel an, sie mir
zu beschützen. Bald überraschte ich Sie, weit glücklicher als mein
Freund Reiz, in Ihrem Schlafzimmer, und gebot Ihrem Schutzgeist, Ihnen
mitten im Schlafe die angenehmsten, fröhlichsten und schönsten Bilder
vorzustellen, und Ihre Seele, selbst ohne ihr Wissen, noch vollkommener
zu machen. -- Alsdann -- Ich freue mich, theuerste Freundin, daß unsere
Freundschaft von der Beschaffenheit ist, daß meine Seele von dem
Andenken an Sie, unmittelbar zu dem Gedanken an Gott, unsern großen und
gemeinschaftlichen Freund, übergehen kann, zu dessen Verehrung solche
Seelen, wie die Ihrige, geschaffen worden. Meine Seele steigt durch
diese Stufen auf eine leichtere Art bis zu ihm hinauf.

Aber ich muß, ich muß schließen u. s. w.


Fußnote:

[A] Für Freunde des Originals folgt hier das ganze Sonnet:

    ~Chi vuol veder quantunque può natura,
      E’l Ciel tra noi, venga a mirar costei,
      Ch’è sola un Sol, non pur agli occhi miei,
      Ma al mondo cieco, che virtù non cura;~

    ~E venga tosto, perchè morte fura
      Prima i migliori, e lascia stare i rei;
      Questa aspettata regno degli Dei
      Cosa bella mortal passa, e non dura.~

    ~Vedrà s’arriva a tempo, ogni virtute,
      Ogni bellezza, ogni real costume
      Giunti in un corpo con mirabil tempre.
    Allor dirà, che mie rime son mute.
      L’ingegno offeso dal soverchio lume;
      Ma se più tarda, avrà da pianger sempre.~



Sechster Brief.


    B***, den -- Juli.
    1767.

Wissen Sie auch wohl, daß ich Ihre Frage, ob wir noch einerley
Empfindungen mit einander hätten, für einen Vorwurf würde angesehen,
und daß mich dieser Vorwurf würde gekränkt haben, wenn ich nicht selbst
in den Beyspielen, die Sie dafür anführen, eine nette Bestätigung
dieser Gleichheit Ihrer Gesinnungen mit den meinigen, auf die ich so
stolz bin, gefunden hätte. Ich kann mir also unmöglich helfen. Ich muß
erst diese beyden Punkte erörtern, ehe ich ein Wort weiter schreiben
kann, gesetzt auch, daß Ihnen indeß der Brief vor Langerweile aus der
Hand fallen sollte.

Zuerst also meine Unzufriedenheit bey meiner Ankunft in B****. Sollte
ich Ihnen erst nöthig haben, die Quellen davon zu entdecken? Sie
sagen, ich hatte Freunde verlassen, die mich liebten, und ich kam zu
andern, die ich auch liebte. Haben Sie niemals diese angenehme Mischung
von Schmerz und Vergnügen, von Verlangen und von Befriedigung, von
Sehnsucht nach abwesenden Gütern, und von Genuß der gegenwärtigen
empfunden? Haben sich niemals mit den Thränen, die Sie über den Anblick
neuer Freunde vergossen, diejenigen vermischt, die Ihnen das Andenken
an die, von denen Sie sich losgerissen hatten, ablockte? Sie, die Sie
die menschliche Seele so gut kennen, da Sie Ihre eigene mit so vieler
Sorgfalt studirt haben, wissen Sie nicht, wie geschickt eine gewisse
Art von Freude ist, die traurigen Empfindungen, die eine Zeit lang in
der Seele geschlafen haben, wieder zu erwecken, und mit ihnen vermischt
einen gewissen Zustand der Ermattung hervorzubringen, wo die Seele, zu
denken und zu handeln unfähig, unter der Menge von dunkeln Ideen, die
sich in ihr zusammen drängen, erliegt. So empfand meine gute Mutter den
Verlust ihrer Tochter niemals mehr, als da sie ihren Sohn wieder sah,
und ich fühlte in den ersten Umarmungen meiner Mutter am meisten, wie
viel ich an Freunden verloren hatte, die in diesem Augenblicke mit mir
die Glückseligkeit einer wieder vereinigten Familie würden getheilt
haben.

Dieses waren die Regungen der ersten Augenblicke. Ihnen folgten andere
eben so traurige, aber weniger angenehme. Glauben Sie ja nicht, daß
die guten Leute immer glücklich sind. Wenn sie es wären, so bin ich
stolz genug zu sagen: unser Haus würde mehr als einen Glücklichen
einschließen. Aber wie weit, wie weit ist es davon entfernt, daß dieses
ganz wahr seyn sollte? Meine Mutter, durch die natürliche Zärtlichkeit
ihres Körpers, und durch die große Empfindlichkeit ihrer Seele, einer
Menge von Uebeln bloß gestellt, mit denen die Natur härtere und
fühllosere Menschen verschont hat; durch eine beynahe fortgehende Reihe
von Unglücksfällen in einer beständigen Uebung dieser Empfindlichkeit
unterhalten; durch eine sehr schwere und sorgenvolle Nahrung, die
sie seit dem Tode ihres Mannes ohne Gehülfen und Rathgeber besorgt,
abgemattet und entkräftet, von Krankheit und der Annäherung des Alters
bis zu dem äußersten Grade der Zärtlichkeit in ihren Nerven gebracht;
und in diesem Zeitpunkte ihrer besten Stütze beraubt, und fast mitten
unter ihrer Familie einsam und verlassen, -- sagen Sie mir, geliebte
Freundin, was würden Sie in meinen Umständen fühlen, wenn Sie, so wie
ich, sich außer Stande sähen, dieser Mutter zu helfen; wenn Sie ihr
sogar in der Zukunft keine Aussicht, wenigstens keine nahe Aussicht
anweisen könnten, durch die Sie ihre gegenwärtigen Umstände erträglich
machten? Sagen Sie mir, liebe Freundin, wo ist die Stelle, die für
mich zubereitet ist, und von der ich hoffen könnte, meiner Mutter die
ihrem gütigen Herzen so theuere Glückseligkeit zu verschaffen, in der
Gesellschaft ihres Sohnes ihre letzten Tage in Ruhe und Zufriedenheit
zuzubringen? Ich selbst in die Welt nur noch so hingeworfen, in die
Welt, die, dem Himmel sey es gedankt, nicht ganz leer von Freunden
für mich, aber vielleicht leer von Beförderern und dem, was man
darin Patronen nennt, ist; ich selbst noch von einem Orte zum andern
herumirrend, zwar nicht ganz ohne Endzweck, aber doch noch ohne große
Mittel, diesen Endzweck auszuführen; was kann ich für meine Mutter
thun, da ich für mich selbst nichts zu thun vermag?

Glauben Sie wohl, daß es mir unter diesen Umständen leicht wird, daran
zu denken, daß ich meine Mutter verlassen soll; sie so verlassen, ohne
ihr vorher zu sagen, nach was für einem Plane ich arbeiten werde, um
ihre Glückseligkeit mit der Erreichung meiner Wünsche zu vereinigen?
Und doch kann ich nicht anders; ich muß sie verlassen. Alles, sie
selbst ausgenommen, macht, daß ich diesen Augenblick beynahe wünsche.
Die Beförderung, die mir meine Vaterstadt darbieten kann, ist, wie Sie
wissen, nur von einer einzigen Art. Glauben Sie nicht, daß mich der
Name und die gewöhnliche Verachtung eines Schulmannes abhalten würde,
in einen Stand zu treten, der, wenn er recht verwaltet wird, ehrwürdig
ist, und den die Vortheile und die Erleichterung, die ich meiner Mutter
dadurch verschaffe, mir auch sogar liebenswürdig machen würden. Aber
die Verrichtungen, die hier zuerst denen auferlegt sind, die in diesen
Stand treten, die Unwissenheit, und noch mehr der elende Geschmack,
der unter den meisten der hiesigen Schullehrer herrscht, und durch
sie ohne Zweifel die Studirenden ansteckt; der durchgängige Mangel an
guter Lebensart bey dieser ganzen Zunft Leuten, unter denen ich doch
genöthigt würde zu leben; der Mangel an Ermunterung und Hülfsmitteln
zur Vermehrung der Wissenschaften, die ich mehr schätze als alles;
endlich, was darf ich es erst sagen, die Entfernung von Freunden, die
mir theuer sind, um so viel theurer, weil ich sie nicht bloß der Natur
und Familienverbindungen zu danken habe; -- alles dieses, und was weiß
ich noch, was für hundert dunkel damit vermischte Vorstellungen mehr,
machen mir es ganz unmöglich, daran zu denken.

Nun gut also. Ich gehe von B****. Aber wohin? Nach L***zig? Ja
freilich ist dieß der Ort, der mich unter allen am meisten an sich
zieht. Aber was hälfe es, wenn ich vor mir selbst es verbärge. Es
ist nicht Hoffnung der Beförderung, sondern das Vergnügen, meine
Freunde wieder zu sehen, welches mir diese Stadt vor allen andern so
angenehm macht. Sie wissen selbst, und wenn Sie es nicht wissen, so
lassen Sie sich es den braven und rechtschaffenen Ebert sagen, was für
Geduld und Aufopferungen dazu gehören, sein Glück bey der Leipziger
Akademie zu erwarten. Und während der Zeit, daß ich diese vielleicht
fehl schlagende Probe machte, würde meine arme Mutter von Alter und
Sorgen verzehrt, von ihren noch übrigen Freunden vollends entblößt,
und stürbe, ehe sie die so lange gehoffte und so theuer errungene Ruhe
ihres Alters gekostet hätte. Lassen Sie mich also auf eine andere
Universität gehen, wo die Beförderung leichter und geschwinder ist.
Setzen Sie den besten möglichen Fall. Machen Sie mich in einigen Jahren
zum Professor in Halle, oder in irgend einem andern solchen Winkel der
Erde. Jetzt soll ich meine Mutter in ihrem Alter aus ihrem natürlichen
Boden in ein ganz fremdes Land verpflanzen, sie aus einer belebten und
volkreichen Stadt in einen todten und finstern Flecken führen, sie aus
dem Cirkel ihrer Freunde und ihrer Bekanntschaften, die sie von langer
Zeit her kennen, die sie alle hochschätzen, unter ganz fremde und für
sie noch gar nicht eingenommene Menschen bringen, -- oder mir mit einem
so groben Stolze schmeicheln, daß ich allein aller deren Stelle würde
ersetzen können. -- Ist dieses vielleicht nicht ein eben so schwerer
und trauriger Schritt für beyde? -- Und doch bey dem allen, was bleibt
mir übrig?

Sie sehen, liebe Freundin, wenn Sie diese Ueberlegungen machen, Sie
werden meine Unruhe nicht schelten, so gütig Sie mich auch von Ihrer
Gewogenheit versichert haben, und so gewiß ich von der Liebe der
Meinigen bin. -- Aber das ist noch lange nicht alles. Ich behalte mir
dieß auf einen andern Brief vor. Ich kann nicht anders; ich muß Sie mit
meinen eigenen Angelegenheiten unterhalten. Der Wohlstand würde dieß
bey Personen, die weniger meine Freunde wären, verbieten. Aber es ist
gar zu eine große und eine zu unentbehrliche Glückseligkeit, zuweilen
sein volles Herz in den Schoß eines Freundes ausschütten zu können.
Ich habe Ihnen schon oft gesagt, Sie und Ihr liebster Gemahl machen
in meiner Einbildungskraft nur Eine Person aus. Sie sind in meinen
Gedanken eben so unzertrennlich, als Sie es durch Ihre Liebe sind.
Alles also, was ich Ihnen schreibe, ist zugleich für ihn geschrieben.
Sein kurzer Brief ist mir dem ungeachtet so angenehm gewesen, als der
längste Brief hundert anderer mir nicht seyn würde.....

Ich sehe, ich stehe in Gefahr, meinen Brief eben so lang und so voll
von Digressionen zu machen, als es des Tristram Shandy Roman ist. Also
nur noch ein Wort von Klopstock und seinen Briefen, und dann nehme
ich bis auf künftigen Freytag von Ihnen Abschied. (Können Sie wohl
errathen, was ich da erwarte?) --

Ich wundere mich gar nicht darüber, daß Ihnen des Mannes, und mir der
Frau ihre Briefe zärtlicher vorkommen. Das macht, würde Onkel Tobias
sagen, Sie sind eine Frau, und ich ein junger Mensch. Ich habe des
Klopstocks Briefe flüchtig gelesen, der Frau ihre recht aufmerksam. Sie
haben vielleicht das Gegentheil gethan. Mit einem gleichen Grade der
Aufmerksamkeit würden wir bey beyden vielleicht gleich viel empfunden
haben. Ich wenigstens, durch die Verschiedenheit Ihres Gefühls
aufmerksam gemacht, habe sie noch einmal gelesen, und schon habe ich
des Klopstock Briefe viel zärtlicher gefunden. Aber, daß es ihre
weniger sind, das wollte ich doch noch nicht gerne für wahr halten.

Wie gern fieng’ ich noch die eilfte Seite an, um Stellen zu meiner
Vertheidigung anzuführen! Aber es hilft nichts. Es ist jetzt ein Uhr,
Dienstags in der Nacht. Möchten doch die gütigen Engel Ihre und Ihres
Geliebten Ruhe beschirmen u. s. w.



Siebenter Brief.


    B***, den -- Juli
    1767.

Wahrheiten, die uns sehr am Herzen liegen, können niemals zu oft
bewiesen werden. So ein sophistisches Ding ist dieses Herz, daß es sich
der Ueberzeugung von eben der Sache am meisten widersetzt, von der es
am meisten gewiß zu seyn wünscht. Ich, zum Beyspiel, bedarf keiner
neuen Proben mehr, um zu wissen, daß Sie meine Freundin sind. Und doch,
mit welchem Vergnügen habe ich diejenigen aufgenommen, die Sie mir
in Ihren letzten Briefen gegeben haben, gerade so, als wenn dieß die
ersten gewesen wären. Sie wissen, wie schwer sich Empfindungen durch
Beschreibungen deutlich machen lassen. Man kann nichts weiter thun,
als diejenigen, welche ähnliche gehabt haben, an ihr eigenes Gefühl
erinnern.

So stellen Sie sich also Ihren lieben Mann, meinen Freund, an dem
Abende eines sehr geschäftigen Tages vor. Er tritt zuerst mit einer
etwas tiefsinnigen und zerstreuten Miene in ihr Zimmer. Seine von
fremden Bildern ganz angefüllte Seele empfängt schon die geheimen
Einflüsse Ihrer Gegenwart, ohne sie noch zu fühlen; selbst die ersten
Liebkosungen verschwenden Sie an den Undankbaren vergeblich. Endlich
thut Ihr Anblick und Ihre Zärtlichkeit ihre gehörige Wirkung; und jetzt
schweben nur noch die Sorgen der Geschäfte auf der Oberfläche der
Seele, wie die Nebel an einem heitern Frühlingsmorgen auf dem Gipfel
der äußersten Berge. So gewinnt der Ehemann einen Schritt nach dem
andern über den Geschäftsmann -- bis er zuletzt nur ganz allein übrig
bleibt. Was Ihnen in diesem Augenblicke ein stillschweigender Kuß ist,
den er Ihnen aus vollem Herzen giebt, ein Druck seiner Hand, bey dem er
sie zugleich seine Wilhelmine nennt, sehen Sie, das waren für mich Ihre
Briefe. Versicherungen von Sachen, die wir lange wissen, die wir aber
gern vergessen, an denen wir sogar zweifeln, aus bloßem Muthwillen, um
sie uns noch einmal versichern zu lassen!

Ich glaube, Sie müssen es schon bemerkt haben, daß es eins von meinen
Steckenpferden ist, (hieraus können Sie schließen, daß ich den
Tristram Shandy lese) über alles, was in und mich herum vorgeht, zu
philosophiren, jede Begebenheit, wenn sie auch die natürlichste und
gewöhnlichste von der Welt ist, zu erklären und aus Gründen zu zeigen,
wie sie möglich gewesen ist. Wenn ich mich nicht irre, so war ich eben
im Begriffe, einen guten Ritt darauf zu thun. Denn, anstatt Ihnen mit
drey Worten zu sagen, liebe Freundin, Ihre Briefe waren mir herzlich
lieb, und dann gleich zur Beantwortung ihres Inhalts fortzugehen;
verwende ich eine und eine halbe Seite, um es zu beweisen, daß es
möglich gewesen ist, daß ich mich über Ihre Briefe habe freuen können.
Und doch, welcher Beweis wäre stärker gewesen, als die Aufmerksamkeit,
mit welcher ich alle Ihre gütigen Vorschläge erwogen habe.

Nach dem Wunsche, bey Ihnen zu seyn, ist keiner stärker als der, daß
Sie es zuweilen wünschen möchten, daß ich bey Ihnen wäre. Denken
Sie also, was es seyn muß, wenn Sie noch mehr thun, und nicht bloß
wünschen, sondern schon Anstalten machen, mich bey sich zu behalten.
Wenn es mir jemals schwer angekommen ist, Schwierigkeiten gegen den
Rath meiner Freunde zu machen, so ist es gegen einen solchen, der
die größten Wünsche meines Herzens vereiniget. Der Entwurf, den Sie
mir machen, der freylich der natürlichste und ohne Zweifel auch der
sicherste ist, ist dem ungeachtet viel zu weit aussehend, als daß
ich damit meine Mutter beruhigen könnte, die bey Ihrem Alter und
bey Ihrer Schwäche eine Glückseligkeit, auf die sie so viele Jahre
warten muß, für gar keine hält. Und wie kann sie hoffen, diesen
Zeitpunkt zu erleben, wenn die Zeit, die dazwischen ist, mit Sorgen
und Mißvergnügen angefüllt seyn sollte. Gesetzt aber, ich hätte das
Ziel erreicht, und meine Mutter wäre noch im Stande, eine so große
Veränderung vorzunehmen; was sind es nicht für neue Beschwerden, die
die Ausführung unsers Vermögens verursachen würde. -- Meine Mutter
hat bey allen Beschwerlichkeiten ihrer Nahrung doch auch den Vortheil
gehabt, daß sich ihr Vermögen besser verinteressirt hat, als durch
bloßes Ausleihen. Lassen Sie nun von einem nicht großen, aber doch
für einen ehrlichen Mann hinlänglichen Vermögen das abgehen, was der
Abzug kostet; setzen sie dazu die Verschiedenheit des Geldes und der
Preise der Dinge in beyden Ländern, und endlich rechnen Sie noch
die Schwierigkeiten, die mit der Errichtung einer neuen Haushaltung
verbunden sind; und Sie werden sehen, daß meine Mutter nicht die Hälfte
der Bequemlichkeiten würde haben können, zu denen sie hier gewohnt
ist. Denn daß meine eigene Einnahme einen beträchtlichen Zuschuß zu
unserer Oekonomie in wenig Jahren machen sollte, dazu sehe ich keine
andere, als sehr unsichere Hoffnungen. Sehen Sie, so partheiisch
ich für einen Entschluß bin, der mit meinen Neigungen so sehr
übereinstimmt, so kann ich es mir doch nicht verhehlen, daß dieses sehr
beträchtliche Schwierigkeiten sind; und was kann ich darauf antworten,
wenn meine Mutter sie mir entgegensetzt? -- Was anders, als daß die
Schwierigkeiten für mich, in B**** zu bleiben, noch größer sind, und
wenn sie sich auch alle auf eine einzige zurück bringen ließen, ich
meyne diese, daß ich zu dem Stande, der für mich der einzige ist, nicht
die geringste Neigung habe?

Sie müssen es diesem Briefe ansehen, daß er unter sehr vielen
Zerstreuungen geschrieben ist. Ich bin gar nicht mit ihm zufrieden.
Denn bey alle den Schwierigkeiten, die ich mache, wollte ich doch
nicht, daß Sie glaubten, ich hätte jetzt mehr Lust hier zu bleiben, als
ehemals. Ich komme mit Gottes Hülfe gewiß auf Michaelis nach Leipzig,
aber ob um beständig dort zu bleiben, das ist in den Händen der
Vorsehung. --

Ich reise morgen mit dem Herrn Oberforstmeister S**** und seiner
Gemahlin nach S***witz, wo mein ehmaliger Lehrer und Hofmeister Pfarrer
ist. Meine Mutter kommt auf den Freytag mit meinem Onkel und seiner
Tochter nach. Dieser geht alsdann mit dem Herrn Oberforstmeister weiter
ins Gebirge nach L***, um da die Brunnenkur zu brauchen. Wir übrigen
bleiben in S***witz, und werden dort in einer vortrefflichen Gegend
vier oder fünf Wochen in dem Hause meines Lehrers zubringen. Dieser
Aufenthalt könnte mir durch nichts in der Welt unangenehm gemacht
werden, als wenn Ihre Briefe nicht mehr so richtig einliefen, oder die
meinigen nicht zu rechter Zeit auf die Post gegeben würden; denn das
Dorf ist sechs Meilen von B****. Ich werde aber alles mögliche thun, um
beydes zu verhüten.

Diese Reise macht heute meinen Brief so kurz, und nöthigt mich, den an
meinen lieben M. Reiz ganz aufzuschieben. Es ist jetzt 12 Uhr in der
Nacht und morgen muß ich um 6 Uhr auf seyn. Leben Sie wohl!



Achter Brief.


    Mittwochs des Morgens.

Ich wende noch die Augenblicke, die ich vor dem Antritte meiner Reise
übrig habe, dazu an, an Sie zu denken, und das, was ich gedacht
habe, niederzuschreiben. Ich weiß, daß sich Ihre freundschaftliche
Neubegierde nicht bloß damit beruhigen wird, zu wissen wo ich bin. Sie
werden auch wissen wollen, was ich da mache. --

Wenn ich mich nicht irre, so müssen Sie schon Herrn Ringeltauben, in
dessen Hause ich seyn werde, aus meinen Beschreibungen kennen. Ich
verehre ihn als meinen Lehrer; und ich liebe ihn als meinen Freund und
meinen Bruder. Hochachtung und Dankbarkeit sind gewiß die festesten
Bande, die die Natur hat, zwey nicht ganz unedle Seelen mit einander
zu verbinden. Sein Haus soll sehr bequem, und die Gegend vortrefflich
seyn. Meine Mutter, die das Land über alles, und den Herrn Ringeltauben
als ihren Sohn liebt, wird sich dort wieder erholen, und das wird auf
mich zurück wirken. Endlich werde ich Bücher genug haben, um die leeren
Stunden auszufüllen. Der Herr Oberforstmeister, mit dem ich reise, ist
lange im Kriege mit dem General Wobersnow in Leipzig gewesen. Er ist
ein Mann von sehr vielem Verstande, von einer großen Erfahrung, (da er
lange Zeit mit den Vornehmsten der Armee und einige Zeit auch mit dem
Könige selbst umgegangen ist;) und der Mann einer Frau, die beynahe
meine Gespielin gewesen ist. Der Weg heraus geht an der Oder, in
einer sehr angenehmen Gegend. Ihre Briefe dürfen Sie nicht anders als
bisher addressiren. Ich habe gemessene Ordre gestellt, sie mir gleich
nachzuschicken.

Erwarten Sie also ins künftige Briefe, die voll von ländlicher Unschuld
und Einfalt, aber auch voll von ländlichem Vergnügen sind.



Neunter Brief.


    S***witz den -- Juli.

Es giebt gewisse Arten von Vergnügungen, die uns unempfindlich machen,
weil sie uns berauschen. Indem alsdann die gegenwärtige Empfindung die
ganze Seele ausfüllt, und ihre gesammten Fähigkeiten bloß in dem Genuß
erschöpft werden, so werden alle Erinnerungen, alle Reflexionen aus der
Seele verdrängt, und mit ihnen zugleich die feinern Vergnügungen, die
auf dieselben gegründet sind. In diesem Zustande ist die ganze Seele
Maschine, und sie bewegt sich ganz unwillkührlich nach der Richtung des
Stoßes, die ihr ein so heftiger äußerer Antrieb giebt.

Eine andere Art hingegen, die nur die Sinnen in so weit rührt, als es
nöthig ist, durch sie die Einbildungskraft rege zu machen, eröffnet
allen Arten von moralischen Empfindungen den Zugang. Sie macht das
Herz weich, und so zu sagen -- schmachtend. Die Vernunft ist dabey
heiter genug, alle verwandten Ideen herbeyzurufen, jede angenehme
Erinnerung mit der augenblicklichen Empfindung zu verbinden, und unter
die Ergötzungen des Auges und des Ohres die moralischen Vergnügungen
der Freundschaft und der Tugend zu mischen.

Unter diese letztere Gattung gehört diejenige Art von Vergnügen, die
ich jetzt genieße. Sie sind so still und so ruhig, wie die Fluren
des Abends, durch die ich gehe, und eben so heiter und rein, als das
blaue Gewölbe, das mich deckt. Alles das, was ich sehe, und was die
Quelle des Vergnügens ist, ist zugleich ein Stoff zu Betrachtungen,
die vielleicht noch ergötzender sind, als der sinnliche Eindruck
selbst. Wenn ich dann auf einer großen lachenden Wiese, die von alten
ehrwürdigen Eichen rings um eingeschlossen, und von dem schwankenden
Schatten derselben halb überstreut ist, die mildern Einflüsse der
Abendsonne genieße; dann versetze ich in diese Gegend alle meine
Freunde. Ich sammle in Gedanken diesen kleinen aber ehrwürdigen
Haufen von Leuten, die ich liebe und die mich wieder lieben, um mich
herum, alle durch gegenseitige Neigungen an einander gebunden, alle
von einerley Geiste beseelt, zu einerley Empfindungen aufgelegt, und
mit eben denselben Arbeiten des Wohlthuns und der Mildthätigkeit
beschäftigt. Dieses Spiel meiner Einbildungskraft treibe ich so lange
fort, bis ich ganz von den Gegenständen, die um mich sind, entfernt in
andern Welten und noch glücklichern Gegenden herumschwebe. Von diesem
Fluge ermüdet kehre ich wieder zu dem Orte und dem Stande zurück, in
welchem ich bin, und, Dank sey es meinem Geschick! ich habe bey dem
Ende meines Traumes noch nicht alles verloren. Meine Mutter, meine
Cousine, und mein Lehrer und Bruder, die um mich herum sind; Sie,
die erste meiner Freundinnen, und die übrige Reihe meiner männlichen
Freunde, die von mir entfernt, aber durch ihr Andenken, durch ihre
guten Wünsche, und durch ihr Theilnehmen an meinem Wohl, nahe um mich
sind, alle diese theuern Personen, die mir die gütige Vorsicht auf
dem Wege des Lebens aufstoßen ließ, um durch ihre Begleitung das Rauhe
und Unangenehme meiner Reise zu versüßen, alle diese sind wirklich
da, sie lieben mich, sie machen mich durch ihre eigenen Verdienste
hochachtungswürdig, und geben mir durch ihre Achtung den Werth, den ich
mir selbst niemals erwerben würde.

Ich habe ausfindig gemacht, (denn was für Mittel sucht man nicht
auf, wenn man gewisse Sachen nicht verändern kann, um wenigstens uns
eine andere Seite von ihnen zuzukehren?) daß die Abwesenheit in der
Freundschaft zu etwas nützlich ist. Sie ist das Maß ihrer Stärke. Ich
habe neulich im Plutarch gelesen, und wenn es nicht Plutarch gesagt
hätte, so hätten Sie mir es sagen können, daß der Beweis einer recht
heftigen Liebe nicht sowohl die Größe des Vergnügens sey, die einer in
des andern Gegenwart empfindet, als vielmehr die Größe des Schmerzes,
die ihnen die Trennung verursacht. Mich deucht, man kann eben dieses
von der Freundschaft sagen. Das Vergnügen des freundschaftlichen
Umganges ist, ruhig, gemäßigt, und beynahe mehr Heiterkeit als
Freude; das Verlangen aber, wenn man desselben entbehrt, ist heftig,
zuweilen gar stürmisch. Sie können glauben, daß ich diese Erfahrung
bloß von den Empfindungen abstrahire, die mir die Erinnerung an unsere
ehemaligen Vergnügungen erweckt. Ich weiß also zuverlässig, wie sehr
ich Ihr Freund bin, ich weiß, wie sehr Sie meine Freundin sind. Diese
Ueberzeugung ist mir sehr viel werth. Soll ich Ihnen erst sagen, daß
ich Sie nicht allein meyne, wenn ich von Ihnen rede?

Ich habe Ihnen bisher nur meine Empfindungen erzählt. Jetzt sollen Sie
noch etwas von meiner Geschichte wissen. Ich habe Ihre Briefe noch
nicht. -- Ich meyne die, die Sie vergangene Woche geschrieben haben,
und die verwichenen Freytag in B*** angekommen seyn müssen. Sagen Sie
mir, ist es nicht mir recht zum Possen, daß die Post nach B***, die die
Briefe von B**** hierher bringt, gerade eine Stunde eher des Freytags
abgehen muß, als die Ihrigen ankommen? und dann geht keine wieder
eher, als auf den Dienstag. Ich bekomme sie also erst Mittwochs. --
Diese Sache ist gar nicht zu ändern; ich muß also nur aufhören, daran
zu denken.

Meine Reise ist sehr glücklich und bequem gewesen. Der Herr *** ist ein
durch seinen Verstand und Erfahrung angenehmer Gesellschafter. Seine
Frau ist es etwas weniger; und da ein großer Theil ihres Werths in dem
Range und dem Stande ihres Mannes liegt, so schlägt sie denselben auch
ein bißchen zu hoch an. Aber das thut nichts. Gegen mich, als einen
alten Freund und Verwandten, ist sie immer sehr gütig.

Die zwey Tage, die bis zu meiner Mutter Ankunft verflossen,
recognoscirten wir, ich und mein lieber Bruder, die Gegend. Sie
können sie nicht leicht schöner jemals gesehen haben. Wir liegen sehr
nahe an der Oder, an deren Ufer überhaupt die schönsten Gegenden von
Schlesien sind. Dunkle, ehrfurchtsvolle Hayne, angenehme Wiesen, die
fruchtbarsten Felder, alle Theile einer bezaubernden Landgegend
wechseln mit einander ab. An dem einen Orte gehen wir auf einem
erhabenen Damm, (denn deren müssen hier sehr viele der Gewalt des
Stroms im Frühjahr entgegengesetzt werden), von dem man auf beyde
Seiten die Aussicht auf die angrenzenden Wiesen und den dabey gelegenen
Wald hat. Der Damm selbst ist mit Eichen besetzt, die ihre hohen
Wipfel einander zuwehen. An einem andern Orte ist ein weitläuftiger
Thiergarten, von drey Stunden in der Rundung, wo man den angenehmsten
Schatten, die erfrischendste Kühle, und den erfreuenden Anblick von
munteren, freyen und glücklichen Geschöpfen zugleich genießt. An einem
dritten Orte ist ein dicker beynahe unwegsamer Wald, wo selbst die
mittägliche Sonne keinen Zugang findet, und wo die melancholische
Stille nur durch das Rauschen der Aeste, oder das entfernte Girren der
Turteltaube, oder das Geräusch eines sich mitten im Walde durch die
Aeste durcharbeitenden Hirsches unterbrochen wird.

Hier stellen Sie sich also mich, an meiner Seite meine Mutter, meine
Schwester (denn so habe ich meines Onkels Töchter immer betrachtet,
und so habe ich sie geliebt) und meinen Freund vor. Da der Herr ****,
seine Frau, und mein Onkel, in das Bad gegangen sind, so herrschen wir
hier ganz allein. Wir stehen nicht eben sogar früh auf. Wir trinken
gemeinschaftlich unsern Thee. Wir verdienen unsere Mittagsmahlzeit
durch einen recht guten Spaziergang, von dem wir zuweilen unterwegs
unter einer hohen Eiche ausruhen. Die heißen Stunden sind zur Lektüre
und zur Arbeit bestimmt. Der Abend ist ganz zu ländlichen Vergnügungen.
Wir schlafen ruhig und vergnügt, weil keine unsere Ergötzungen etwas
anders als das Verlangen zurück läßt, sie zu wiederholen.

Ich lese meiner Mutter zuweilen auf einer Rasenbank, die eine große
Haselstaude beschattet, aus den Gedichten des +Gisecke+ vor. O diesen
Mann müssen Sie lesen. Er ist der Dichter der Freundschaft und der
ehelichen Liebe. Wer kann also ihn besser richten? und wessen Beyfall
würde ihn mehr belohnen? Er ist nicht immer stark, aber er ist immer
gut. Leben Sie tausend Mal wohl u. s. w.



Zehnter Brief.


    S***witz den 27. Juli.

Ob ich gleich befürchten muß, daß meine Briefe Sie nicht in Leipzig
treffen, so kann ich es doch nicht über mich erhalten, keine zu
schreiben. Einen Brief an Sie schreiben, ist wenigstens halb so viel,
als einen von Ihnen bekommen. Ich glaube, ich habe Ihnen das schon
einmal gesagt. Aber das thut nichts. Ich fürchte es nicht, mich in
einer Sache zu wiederholen, die auf einerley Art empfunden auch
nur auf einerley Art ausgedrückt werden kann. Ich habe überhaupt
gemerkt, daß wahre Empfindungen sich zwar richtiger, aber niemals so
mannigfaltig ausdrücken lassen, als diejenigen, welche Geschöpfe der
Einbildungskraft sind. Der schöne Geist und das empfindliche Herz sind
deßwegen nicht immer beysammen, und zu gefallen und zu rühren, sind
zwey sehr verschiedene und oft einander entgegenstehende Sachen.

Sie sind also in Dreßden. Denn ich bin so glücklich gewesen, Ihren
ersten Brief Mittwochs, und den andern unmittelbar darauf Freytags
zu bekommen. Ich weiß nicht, warum mir diese Reise gar nicht recht
war. Sie schienen nicht mir näher zu kommen, sondern sich von mir
zu entfernen. Endlich bin ich auf die Ursache gekommen; wenigstens
das Wahrscheinliche fürs Gewisse zu nehmen. Ich fürchtete, unser
Briefwechsel würde gestört werden. Ueberdieß, glaube ich, weiß
ich Sie gern zu Hause, weil ich mir den Ort, wo Sie sind, und die
Beschäftigungen, die Sie da vornehmen, besser vorzustellen weiß. Das
Bild ist lebhafter, weil es mehr bestimmt ist. In Dreßden können Sie
da und da und da seyn. Aber wo Sie wirklich sind, und was Sie wirklich
machen, das kann ich mir zu keiner einzigen Stunde des Tages mit
Gewißheit denken. Ich befinde mich in einem fremden Ort, wo ich meine
Freundin bey jedem Schritt, den sie sich von mir entfernt, verliere,
und sie kaum mit der größten Mühe des Abends im Gasthofe wieder finde.

Endlich, (denn Sie müssen wissen, ich suche mein Herz zu studiren,
besonders wenn ich irgend eine ungewöhnliche Bewegung darin merke,
und das nicht mehr bloß um meinet, sondern auch um Ihretwillen;)
endlich also überfiel mich die bey einer wirklichen Freundschaft so
natürliche Eifersucht. Ich weiß die eigentliche Absicht Ihrer Reise
nicht. Aber das konnte ich mir doch vorstellen, daß Sie dort neue
Verbindungen errichten würden, oder durch schon gemachte Verbindungen
dazu wären veranlasset worden. Könnten eine Menge von neuen Eindrücken
nicht die alten verdunkeln, wenn sie auch nicht im Stande wären, sie
auszulöschen? Sie werden allenthalben, wo Sie hinkommen, und wo man
noch Geist und Herz genug hat, um es an andern gewahr zu werden,
Freunde finden. Ich müßte sehr verblendet, und mehr eitel als
ehrgeitzig seyn, wenn ich mich überreden sollte, daß mich nicht viele
dieser Freunde an allen Arten von Vorzügen übertreffen sollten. Und
ist es nicht in der Natur, dachte ich, daß man das bessere dem weniger
guten vorzieht?

Dieser Gedanke würde mich niedergeschlagen haben (und doch bin ich
sonst großmüthig genug, mich wie Phocion, oder wer es sonst war, zu
freuen, daß es so viel bessere Menschen giebt als ich) aber jetzt
würde mich dieser Gedanke niedergeschlagen haben, wenn mir nicht noch
ein Vorzug von mir eingefallen wäre, den ich willens bin, dem größten
Theil Ihrer Freunde, oder lieber (denn was soll ich heucheln?) allen
Ihren Freunden streitig zu machen. Ich liebe und schätze Sie so hoch,
-- als es Ihr Bruder thun könnte. Erlauben Sie mir immer, daß ich mir
einen Ehrennamen beylege, zu dem Sie mir selbst das Herz gegeben haben.
Ich liebe Ihren Mann, ich liebe Ihre kleine Wilhelmine, ich liebe Ihre
Freunde; selbst ehe ich sie noch kenne, empfehlen sie sich mir schon
durch diesen Namen mehr als durch alle Lobsprüche. Ich brenne vor
Begierde, an dem Glück und an dem Vergnügen einer solchen würdigen
Familie zu arbeiten; selbst meiner Freundschaft wünschte ich den Segen,
daß sie ein neues Band der ehelichen Liebe zwischen Ihnen beyden wäre,
auf die sich Ihre ganze Glückseligkeit gründet. Ich wünschte mir
einen größern Verstand, um Sie durch meinen Rath zu der glücklichsten
Mutter der vollkommensten Tochter zu machen; und mehr Tugend und mehr
Herrschaft über meine Leidenschaften, um Sie auf eben dem Wege, durch
welchen ich gegangen wäre, zu der Ruhe und der Heiterkeit der Seele
zu führen, die wir uns beyde so sehr wünschen, und die so oft durch
geringe Veranlassungen unterbrochen wird. Ich bin jetzt nahe dabey,
Ihre Frage zu beantworten, und nicht bloß Ihre, sondern auch meine
eigene.

Der heutige Tag, sagte ich manchmal zu mir selbst, ist vollkommen dem
gestrigen ähnlich. Alle Umstände sind dieselben. Nicht ein einziges von
meinen Gütern ist mir genommen. Nicht ein Wunsch ist heute von seiner
Befriedigung weiter zurück gesetzt, als er es gestern war. Und doch
war ich gestern vergnügt, und heute bin ich traurig und mißvergnügt.
Ich habe diese Betrachtung erst vor wenig Tagen wiederholt, wo mein
Zustand des Gemüths dem Ihrigen vollkommen ähnlich war; ob ich Sie
gleich warnen muß zu glauben, daß eine gewisse Munterkeit im Ausdrucke
ein richtiges Maß für den Grad des Vergnügens sey, den ich zu der
Zeit genieße. Man kützelt sich zuweilen um zu lachen, eben indem man
Schmerzen empfindet. Ich bin heute recht vergnügt, aber es würde die
unnatürlichste Sache von der Welt für mich seyn, Lachen zu erregen.
Also zu unsrer Untersuchung zurück! Sie wissen, daß die stärksten
Triebfedern unsrer Seele im Dunkeln liegen. Die Wirkung wird um desto
schwächer, je sichtbarer die Ursache ist. Das Deutliche reducirt sich
immer auf wenige Begriffe, die bald überzählt sind, und deren Summe
niemals etwas so großes ausmachen kann, daß man davor erschrecken
sollte. Alles das kommt uns nur unermeßlich vor, dessen Grenzen
wir nicht kennen. Sehen Sie, eben so entsteht unser Unmuth, wie an
dem heitern Himmel sich ein kleiner schwarzer Punkt erst in eine
kleine Wolke ausbreitet, dann sich immer mit den benachbarten Dünsten
vermischt und endlich den ganzen Horizont ringsum verdüstert. So lassen
Sie also in diese fröhliche Seele, deren ganze Saiten von dem Vergnügen
ausgespannt sind, jeden Eindruck anzunehmen und zu verdoppeln,
lassen Sie in dieselbe ein einziges Wort eines Geliebten fallen,
eines Ehegatten, oder eines Freundes, das dem Grade der erwarteten
Zärtlichkeit nicht entspricht; eine kleine Ungeschicklichkeit, die
wir selbst begehen, und die in uns die Erinnerung unsrer übrigen
Schwachheiten wieder erweckt; eine kleine Schwierigkeit bey der
Ausführung irgend einer unsrer Absichten, selbst die Empfindung einer
kleinen Unordnung im Körper. Auf einmal kommen die Vorstellungen von
alle dem Unangenehmen, was in unserm ganzen Zustande ist, zu Hauf. Das
Vergnügen hatte sie, so wie die Sonne den Nebel, nicht vernichtet,
sondern nur aus einander getrieben. Gegenwärtiges, Vergangenes,
Zukünftiges, alles drängt sich in unsere enge Seele zusammen, und macht
darin ein solches Chaos, und so eine wilde Vermischung, daß aller unser
Verstand, und wenn wir auch der Stoische Weise wären, nicht zureicht,
es aus einander zu setzen. Alle Uebel werden in diesem Augenblicke
unendlich, unaufhörlich, unvermeidlich. Altes verliert sein Maß und
seine Grenze, weil es beständig mit etwas anderm vermischt ist, das wir
davon nicht scheiden können oder wollen. Wenn man einmal so glücklich
ist, so weit zu kommen, sich sein ganzes Unglück nach einander
herzuerzählen; oder wenn man genöthiget wäre, es in diesem Augenblicke
einem andern zu sagen, so würde man sich wundern, wie Sachen, die,
wenn man sie sagt, so wenig betragen, doch, wenn man sie bloß dunkel
fühlt, einen so großen Eindruck machen und so viel Verwüstung anrichten
können. Ergänzen Sie diese Gedanken durch Ihre eigene Erfahrung. --

Aber sagen Sie mir auch dazu, was ich nicht thun kann, wie man es
anstellen muß, um dieser Unruhe -- ich will nicht sagen, ganz los zu
werden, denn das möchte ich nicht einmal; wenn man die Empfindlichkeit
von seinem eigenen Uebel wegnimmt, so verliert man auch die gegen
die Uebel anderer, -- aber sie doch zu mäßigen. Bloß moralische
Vorschriften sind vergebens. Der Verstand geht seinen Weg, und die
Einbildungskraft den ihrigen. Es müssen Uebungen, ordentliche Uebungen
seyn. -- Aber das ist eine Materie, wozu ich Ihren Verstand brauche. --
Ich schriebe gerne mehr, aber Sie möchten alsdann wirklich anfangen,
kürzere Briefe zu wünschen, und dann sehe ich schon zum Voraus,
würde ich trotz aller meiner Philosophie in eben den Unmuth und die
Unzufriedenheit verfallen, die ich beschreibe. Leben Sie wohl u. s. w.



Eilfter Brief.


    S***witz den 4. Aug.

Ich wußte wohl, daß ich die Reise nach Dreßden nicht umsonst fürchtete.
Ich habe keine Briefe von Ihnen, und das zu einer Zeit, wo ich sie am
allermeisten nöthig gehabt hätte, um mir Muth und Entschlossenheit
dadurch zu geben. Sie sind also noch nicht aus Dreßden zurück gewesen,
oder Sie waren von der Reise zu müde, oder -- diese unglückliche
Sucht Ursachen zu allem zu finden, macht daß wir jede gewöhnliche
Begebenheit durch unsere Auslegung zur Qual für uns machen. Denn daß
Sie noch meine Freundin sind, daß Sie es noch eben so sehr sind, als
da ich Sie das letzte Mal in Borsdorf Thränen vergießen sah, (ein sehr
kostbares Denkmal Ihrer Freundschaft!) das lasse ich mir selbst meine
melancholische Einbildungskraft in ihren finstersten Stunden nicht
ausreden. Aber warum konnte mein Freund Reitz nicht schreiben, daß Sie
noch nicht gekommen wären? Gewiß, ich würde in ähnlichem Falle diese
Aufmerksamkeit für ihn gehabt haben. --

Mit mir sind unterdessen manche Veränderungen vorgegangen; -- nicht
eben mit meinen Umständen, aber mit meinen Aussichten. Ich stehe seit
einigen Tagen alles Unangenehme der Unentschlossenheit und des Zweifels
aus. -- Gellert hat mir seit drey Posttagen drey Mal geschrieben. --
Sie wissen, daß, als ich noch in Leipzig war, ein Hofmeister für des
Graf F.. ältesten Sohn gesucht wurde. Gellert hielt mich dazu für
tüchtig. Ich selbst hatte Lust. Globig aber hatte dazu schon Jemand
erwählt, der aus Göttingen angekommen war. Dieser wurde vom Grafen
nicht angenommen. Nach ihm wurde M. Kraft, (eben der, dem ich in
meiner Abwesenheit meine Stube eingeräumt hatte) vorgeschlagen und
angenommen. Dieser geht nach Petersburg als Astronom. Gellert war
so aufmerksam, diese Gelegenheit sogleich zu ergreifen, und mich an
Globigen mit aller seiner gütigen Partheylichkeit zu empfehlen. Vor
acht Tagen erhalte ich einen Brief von Gellert, in welchem einer vom
Präsidenten an ihn eingeschlossen ist. Er meldet ihm, daß der von ihm
empfohlene Mensch wäre angenommen worden, oder auf Michaelis angenommen
werden könnte. Der Graf verlangte dabey einen Plan zu dem Unterrichte
seines Sohnes, der 15 Jahr alt, von guten Talenten, und nicht ohne
Wissenschaften seyn soll.

Kaum hatte ich diesen Brief beantwortet, ihm für seine Güte gedankt,
und ihm meinen Entschluß und die Einwilligung meiner Mutter gemeldet,
so kommt von ihm ein zweyter. Ich erwartete nichts Geringeres, als den
Tod des Grafen; denn er ist sehr krank gewesen. Aber es war noch ein
zweyter Vorschlag. Sie kennen die Frau von I., eine K..sche Tochter,
und ihre zwey Söhne, von denen der älteste lahm ist. M. Hahn war bisher
ihr Hofmeister. Dieser kommt nach Hamburg, und die Frau Obersten
sucht einen neuen. Der junge Herr soll bald in die Collegia gehen,
und der jüngste soll bloß der Aufsicht, nicht aber dem Unterricht des
Hofmeisters anvertraut werden. Das Gehalt ist 150 Thaler. Wenn diese
Stelle außer Leipzig läge, so hätte ich sie geradezu ausgeschlagen.
Aber meine Freunde wieder zu sehen, Sie wieder zu sehen, Gellerten --
alle, alle wieder zu sehen, bey Ihnen zu leben, -- das ist mehr als man
braucht, um eine noch seltsamere Frau, als die Frau von J. ist, und
einen noch beschränkteren Eleven, als ich mir ihren Sohn vorstelle,
ertragen zu lernen.

Sagen Sie mir, was hätten Sie mir gerathen, Sie und Ihr lieber Mann,
wenn ich bey Ihnen gewesen wäre? Ich will Ihnen sagen, was ich gethan
habe. Ich habe die Entscheidung Gellerten überlassen; ich habe ihm die
Bewegungsgründe und die Schwierigkeiten auf beyden Seiten vorgestellt.
Wenn alles gleich wäre, so würde ich ohne Streit F..s Haus dem J..schen
vorziehen, von dem ich weder mehr Ansehen, noch mehr Umgang mit der
großen Welt, noch mehr Glück aufs künftige zu erwarten habe. In beyden
Fällen komme ich doch erst nach Leipzig, und sehe Sie wieder. --

Ich schriebe gern noch mehr, aber um mich selbst zu verläugnen, und um
Sie von meinen langen Briefen ausruhen zu lassen, sage ich kein Wort
mehr, als daß ich u. s. w.



Zwölfter Brief.


Ein treuer, freundschaftlicher Rath kommt niemals zu spät, wenn er auch
gleich eine geschehene Wahl nicht mehr ändern kann. Sie wissen, ich
schrieb Gellerten, an eben dem Tage, da ich Ihnen die Nachricht davon
gab. Es würde mir schwer werden, eine Entscheidung, die ich ihm einmal
übergeben habe, wieder zurück zu nehmen. Ich bin in der That vollkommen
Ihrer Meynung, daß es immer gefährlich ist, dem Urtheile eines andern
(und wäre dieser andere auch der weiseste und rechtschaffenste Mann)
eine Entscheidung zu überlassen, bey der er, wenn es möglich wäre,
sich in uns verwandeln müßte, wenn er richtig urtheilen sollte. Dem
ungeachtet glaube ich, daß ich es nach den Umständen, in welchen ich
war, so machen mußte. Diese Erinnerung wird mich trösten, der Ausgang
der Sache mag seyn, welcher er will. Um mich aber auch bey Ihnen zu
rechtfertigen, so sollen Sie diese Umstände wissen.

Sie kennen die Schwierigkeit, (oder wenigstens können Sie sich sie
vorstellen), die es einen Menschen kostet, dessen Glück oder Unglück
nicht ihn allein trifft, sondern sich auf Personen ausbreitet, die
ihm theurer als sein eigen Leben sind, was es diesen Menschen, sage
ich, kostet, einen Entschluß zu fassen, von welchem diese Personen
glauben, daß er für sein künftiges Schicksal so wichtig ist. Wenn
man das Unglück hat, Niemand in der Welt anzugehören und eine mit
dem übrigen menschlichen Geschlecht nicht zusammenhängende Insel
auszumachen, so hat man entweder Muth oder Unbesonnenheit genug,
geschwind zu entscheiden. Neigung, und die auf eine gewisse Seite
gerichtete Einbildungskraft geben der Wahl bald den Ausschlag. Wenn man
aber so wie ich, als Sohn, als Verwandter, als Freund, in Verbindungen
steht, die an unser Wohl das Wohl anderer verknüpfen, so wird ein
Entschluß schon weit schwerer, für dessen Erfolg man so vielen Personen
Rechenschaft zu geben hat.

Setzen Sie nun noch, daß die Sache so sehr ungewiß ist, wie die
meinige, und daß so viel andere, von uns ganz unabhängige Begebenheiten
zusammen kommen, und uns helfen müssen, wenn sie nicht fehl schlagen
soll: wer kann alsdann kühn genug seyn, für den Ausgang zu stehen,
besonders wenn man durch unglückliche Beyspiele geschreckt ist. Man
glaubt in diesen Fällen sehr leicht, daß das, wozu sich eine besondere
Gelegenheit anbietet, mehr als ein Ruf der göttlichen Vorsehung
angesehen werden kann, als das, wozu nichts als unser Entschluß etwas
beygetragen hat. Vielleicht ist dieses zuweilen Vorurtheil. Aber
scheint es uns alsdann nicht Wahrheit, wenn die Unternehmung mißlingt?
Nach Leipzig ohne Ruf und Veranlassung zu gehen, und auf gut Glück
Vorlesungen anzufangen, wie viel Stimmen glauben Sie wohl, daß ich hier
dafür würde gefunden haben? Noch dazu da Leipzig außer unsers Herrn
Ländern liegt, wo, wenn gegen die Regeln der Wahrscheinlichkeit alles
aufs glücklichste fällt, am Ende doch immer die Schwierigkeit übrig
bleibt, die die Versetzung einer ganzen Familie und ihres Vermögens
in einen entfernten Ort mit sich führet. Was blieb mir also bey dem
Wunsch und beynahe bey dem Bedürfniß, das ich hatte, nach Sachsen
zurückzukommen, was blieb mir anders übrig, als eine Art von Beruf
zu wünschen, die mir mehr und stärkere Ursachen verschaffte, mein
Vaterland wieder zu verlassen, als meine bloße Neigung seyn konnte.

Dieses war die erste Ursache, warum ich eine Hofmeisterstelle wünschte,
zu der mich sonst nicht Noth noch eine sehr große Lust, Hofmeister zu
seyn, antrieb. Diesen Gesichtspunkt einmal festgesetzt, erschien mir
die Sache auch von andern Seiten vortheilhaft, so wie gemeiniglich,
wenn unsere Neigung festgesetzt ist, unser Verstand die Mühe über
sich nimmt, sie durch Gründe zu rechtfertigen, die doch nichts dazu
beygetragen hatten, sie hervorzubringen. Ich fand als Hofmeister
eines jungen Herrn von Stande meine Lust, die Welt, und wenn es seyn
könnte, die große Welt etwas kennen zu lernen, befriedigt; ich sah
in der Ferne die Aussicht zu Reisen. Endlich glaubte ich, daß, wenn
sich durch diesen Weg die Schwierigkeiten des akademischen Lebens,
besonders in Leipzig, etwas erleichtert hätten, wenn es dadurch für
mich wahrscheinlicher geworden wäre glücklich zu seyn, als es für
jeden andern ist, der mit eben so viel Zuversicht, wie ich, seine
Vorlesungen anschlägt: daß, sage ich, ich alsdann meine Verwandten und
Freunde durch stärkere Gründe würde bewegen können, einen beständigen
Aufenthalt in Leipzig genehm zu halten. Dieses sind die Ursachen, warum
ich es für nothwendig gehalten habe, unter einem von beyden Vorschlägen
wählen zu müssen.

Wenn sich keine solche Gelegenheiten angeboten, oder wenn ich sie
ausgeschlagen hätte; wissen Sie, was für ein Entwurf an dessen Stelle
getreten wäre? Ich würde diesen Winter in B**** geblieben seyn. (Und
würde ich wohl diese Bitte meiner Mutter haben abschlagen können, wenn
ich ihr weiter nichts, als bloß die Begierde lieber anderswo als bey
ihr zu seyn, zum Bewegungsgrunde hätte vorzulegen gewußt?) Man würde
während der Zeit Versuche auf mich gethan haben, meinen Aufenthalt in
meinem Vaterlande beständig zu machen. Wenn ich gegen alle Vorschläge
hartnäckig genug ausgehalten hätte, so würde ich endlich künftige
Ostern nach Halle gegangen seyn, und zu lesen angefangen haben. Ich
weiß, daß dieß doch vielleicht das Ende der Sache seyn wird. Aber
genug, ich bin zufrieden, wenn es nur jetzt nicht geschieht, und wenn
ich noch zuvor das Ziel von Geschicklichkeit und Wissenschaft an einem
dazu weit bequemern Orte erreiche, ohne welches ich mich selbst für
einen unwürdigen Lehrer der Akademie halten würde. --

Was nun die Wahl unter beyden betrifft, so war die Zeit zur Ueberlegung
kurz; meine Neigung durch die Vortheile der Nation des Ministers, und
durch die Vortheile des Orts bey der andern getheilt; meine Mutter
höchst unschlüssig, furchtsam, mich den Schwierigkeiten und Gefahren
bloß zu stellen, die sie im Dienste der Großen für mich zu finden
glaubte, und doch auch ungewiß, ob die Vortheile diese Gefahren nicht
überwiegen; ich selbst nicht vermögend genug, sie von allen Umständen,
die die J..sche Condition heruntersetzen, zu unterrichten, und nicht
dreist genug, mir alle die Talente zuzuschreiben, die des Grafen seine
zu erfordern schien. Was konnte ich thun, um mich und sie zugleich
zu beruhigen, als die Entscheidung einem Manne auftragen, der beyde
Stellen besser kennen muß, wie ich. --

Noch ist von ihm keine Antwort da. Wenn er für die J..sche entscheidet,
so bestehe ich durchaus auf der Bedingung, Collegia lesen zu dürfen.
Ohne das wird nichts daraus; das versichere ich Sie heilig. Und nun,
l. F., verlassen Sie mich nicht mit Ihrer Liebe, Ihrem Rathe und mit
Ihrem Beystande. In unserer Freundschaft finde ich einen Trost, der mir
jede Schwierigkeiten leichter überwinden, und jeden Kummer ertragen
hilft u. s. w.



Dreyzehnter Brief.


    S***witz den 12. Aug.

Wenn Sie noch mehr solche schöne Briefe, und solche angenehme
Erzählungen nach S**** schreiben, so werden alle meine Freunde anfangen
auf mich neidisch zu werden. Wenn Sie nur sehen sollten, mit was für
Begierde hier Jedermann Ihre Briefe erwartet, mit wie viel Ungeduld
wir uns nach dem Bothen umsehen, der sie uns bringen soll, und wie
wenig einer dem andern Zeit lassen will, sie durchzulesen. Sie können
glauben, daß ich mir nicht wenig darauf zu Gute thue, daß an mich die
Briefe zuerst kommen, und daß ich nicht nur dieses Vergnügen zuerst
genieße, sondern es auch alsdann in meiner Macht habe, Gefälligkeiten
damit auszutheilen.

In der That, ich würde meine hiesigen Freunde nicht so hoch schätzen,
wenn sie das Glück, eine solche Freundin zu besitzen, nicht für
beneidenswerth hielten. Meine Mutter insbesondere, die jeder Beweis
von der Rechtschaffenheit ihres Sohnes mehr als alles erfreut --
(und welcher Beweis könnte stärker seyn, als der, daß er von solchen
Freunden ihrer Gewogenheit werth gefunden wird?) meine Mutter ist so
sehr von ihren Briefen eingenommen, daß ein Posttag ohne Briefe ihr
beynahe schon eben so viel Unruhe macht, als mir selbst. Darf ich es
Ihnen wohl erst sagen, daß uns der letzte diese Unruhe gemacht hat?
Denn in der That hatten wir Herz genug, drey Tage nach dem Empfang
Ihres letzten Briefes schon wieder einen neuen zu erwarten.

Ich habe immer geglaubt, man müsse den Menschen aus den Gegenständen
seines Vergnügens kennen lernen. Ich habe Leute gesehen, die in ihren
Geschäften vernünftig genug schienen, und die sich doch nach geendigter
Arbeit in der elendesten Gesellschaft und durch die abgeschmacktesten
Zeitvertreibe erholen konnten. Diese Leute könnte ich nimmermehr zu
meinen Freunden machen. Wenn ich aber Jemand, so wie meine Freundin,
sich an dem Anblick einer tugendhaften und glücklichen Familie erfreuen
sehe; wer durch den Anblick einer zärtlichen und sorgfältigen Mutter,
eines gütigen Herrn, liebreicher und gutgearteter Bedienten, kurz eines
solchen Hauses, wie Sie mir das Gärtnersche beschreiben, gerührt wird,
für dessen Güte bin ich Bürge, und ohne ihn zu kennen, öffnet sich
schon mein Herz gegen ihn zu sympathetischen Empfindungen.

Wie gern möchte ich der Rektor von Königsbrück in dem Augenblick
gewesen seyn, da Sie ihn in seinem Hause überraschten. Ich habe
mich schon oft darüber gefreuet, daß das Schicksal einige unserer
Begebenheiten eben so ähnlich gemacht hat, als es unsere Empfindungen
sind. Ich weiß, Sie sagten mir einmal, daß Sie von allen Ihren Lehrern
wären außerordentlich geliebt worden. Der Besuch in Königsbrück hat
mich wieder an dieses Gespräch erinnert. Mein gütiges Schicksal hat
mir eben so nachsehende, oder eben so liebreiche Lehrer gegeben. Alle
sind meine Freunde gewesen, und haben mich mit einer vorzüglichen
Gewogenheit beschenkt. Sie wissen, daß ich jetzt sogar in dem Hause
meines Lehrers wohne, der aber noch weit mehr mein Freund ist. --

Von diesem glücklichen Montage, wo Sie vergnügt waren, weil Sie andere
vergnügt machten, habe ich Sie mit Freuden wieder zurück an die
Stelle begleitet, wo Sie sonst oft von einem andern mehr ungestümen
Freunde überfallen wurden, der bey Ihnen alle Mal seine Ruhe und seine
Heiterkeit wieder fand, wenn er beydes durch seine eigene Schwäche,
oder durch unglückliche Nachrichten von seinen Freunden, verloren
hatte.

Die Beschäftigungen der Ehegattin, der Hausfrau, der Mutter haben mir
immer die edelsten geschienen, die ein menschliches Geschöpf einnehmen
könnten. Sie sind mir aber jetzt noch viel mehr werth, da ich weiß, daß
es die Beschäftigungen meiner Freundin sind. Ich stelle sie mir hundert
Mal des Tages in jedem dieser Geschäfte vor, und entwerfe mir von ihrem
ganzen Leben den schönsten und vortrefflichsten Plan. Von einer Stufe
der weiblichen Vollkommenheit zur andern führe ich Ihre Wilhelmine
bis zu dem Augenblicke, wo Sie sie einem glücklichen und tugendhaften
Manne zuführen, für den Ihre Sorgfalt sie zubereitet hatte. Indeß, daß
Sie in dieser Ihrer Erstgebohrnen schon alle Freuden und Belohnungen
einer Mutter fühlen, theilen sich noch andere Kleinere in die Sorge und
die Arbeiten einer Mutter. So erblicke ich Sie endlich am Ende Ihrer
Laufbahn, unter der Gestalt einer ehrwürdigen Shirley, das Haupt und
die Krone einer ganzen sich immer mehr ausbreitenden Familie, die durch
Dankbarkeit, durch Hochachtung, durch Liebe, durch alles, was die Natur
zärtliches hat, an Sie gebunden ist. Wenn denn von einem Winkel der
Erde, wo Ihr Freund die Erfüllung seiner Wünsche nur aus der Ferne,
aber doch mit der lebhaftesten Bewegung seines schon matt gewordenen
Herzens hört, wenn er sich aus diesem Winkel einmal hervorbegiebt, um
noch seinen letzten Tagen die Glückseligkeit zu geben, seine Freundin
glücklich zu sehen, und sich unter den Haufen ihrer Kinder mischt --
und ihre Hand mit den Thränen der Freude und Zärtlichkeit benetzt; --
welchen Monarchen würde ich alsdann beneiden?

Sie werden sagen, ich machte Schimären. Aber lassen Sie mich sie immer
machen; sie sind oft viel angenehmer als die Wirklichkeiten. Und
glücklich müssen Sie doch seyn mit den Gesinnungen und dem Herzen,
welches Sie haben; Sie mögen es nun werden, auf was für eine Art Sie
wollen. Und ich muß an Ihrer Glückseligkeit Theil nehmen, als Ihr
Freund -- oder als Ihr Schutzgeist. Denn auch bis dahin führt mich
oft meine Einbildungskraft, wenn sie in der gehörigen Mischung von
Melancholie und Vergnügen ist. Ich prophezeihe mir ein kurzes Leben,
und ich bin sehr damit zufrieden. Ich wäre es noch mehr, wenn ich nur
noch zuvor etwas Gutes gethan, und eine Spur von meinem Daseyn zurück
gelassen hätte. In allen Fällen werde ich doch nicht glauben, umsonst
gelebt zu haben, wenn ich auch nur einen Menschen zurück lasse, den ich
besser oder glücklicher gemacht habe. --

Ich habe von Gellerten noch keine Antwort. Unterdessen habe ich ihm den
Aufsatz geschickt. Wie gern hätte ich zuvor unsern gemeinschaftlichen
Freund zu Rathe gezogen. Ich verwahre die Kopie für ihn, um sein
Urtheil noch hintennach zu erfahren. --

Und nun empfehle ich Sie und Ihren geliebten -- auch von mir geliebten
guten ** der Vorsicht und der Beschützung des Himmels, und trage es
diesem freundschaftlichen gütigen Mond auf, der eben jetzt über meinen
Gesichtskreis kommt, Sie mit seinen Strahlen zu begrüßen -- und Sie an
Ihren Freund zu erinnern, wenn Sie ihn unter bessern Freunden vergessen
sollten u. s. w.



Vierzehnter Brief.


    Breßlau den 26. Aug.

Wenn der Brief in eben dem Augenblicke zu Ihnen kommen könnte, in
welchem ich ihn schreibe, wenn ich tausend Empfindungen mit einem Worte
ausdrücken, und die ganze Fülle meiner Seele ohne Zeichen, durch eine
Art von Inspiration der Ihrigen mittheilen könnte, dann, glaube ich,
würde die Ungeduld gestillt werden, mit welcher ich jetzt diesen Brief
anfange. Die Zeit, bis er zu Ihnen gelangt, scheint mir unermeßlich;
und ich wollte gern, daß Sie es diesen Augenblick wüßten, daß nur
der Zufall, nicht Ihr Freund an Ihrer Unruhe schuld gewesen ist; daß
er eben dieselbe Unruhe um der nämlichen Ursache willen ausgestanden
hat; und daß, so gern er jeden sorgenvollen Augenblick aus Ihrem Leben
austilgen wollte, ihm doch diese Ihre Bekümmerniß, mehr als jedes
andere Zeichen Ihrer Freundschaft schätzbar und theuer ist.

Ja in der That, l. F., das Schicksal hat sich recht bemühet, unsere
Seelen die letzte Woche mit einerley Gedanken und mit eben denselben
Bekümmernissen einzunehmen. Ihr Brief, (der, den ich in S**** schon vor
acht Tagen erhalten sollte) blieb aus, und ich fand ihn nicht eher, als
des Sonntags bey meiner Zurückkunft in B****. Ich weiß nicht, warum
Ihre Briefe gerade da am ehesten ausbleiben müssen, wenn ich sie am
meisten wünsche. Denken Sie nur, ich trug schon die ganze Woche vorher,
aus Ursachen, die ich mir so wenig erklären, als ihre Wirkung aufheben
kann, einen gewissen stillen mehr nagenden, als heftig beunruhigenden
Verdacht mit mir herum, Sie wären mir nicht mehr so gut, als vordem.
Sie wissen, Gründe richten sehr wenig gegen Empfindungen aus. Ich
erwartete also Ihren nächsten Brief, um meine Furcht und mein Mißtrauen
zu beschämen. Wir konnten den Tag, an welchem Ihre Briefe ankommen,
keinen Boten in die Stadt schicken, und diese Briefe (so dachte ich
damals) blieben also auf der Post bis den folgenden Tage liegen. Ein
sehr unangenehmer Verzug, der aber die Begierde und die Erwartung noch
mehr schärfte. Endlich hatten sich die Stunden bis zur Ankunft des
Boten langsam und traurig genug fortgeschlichen -- und nun kam er ohne
Briefe.

Stellen Sie sich selbst vor, was eine Fehlschlagung in einer solchen
Verfassung für Wirkungen auf ein Gemüth haben mußte, das dem Ihrigen
ähnlich ist. Sie schienen mir blos deswegen nicht geschrieben zu
haben, um mir zu sagen, daß ich Recht gehabt hätte mich zu fürchten.
Ich bildete mir ein, als hätten Sie in meiner Seele eine Unruhe lesen
können, und hätten deswegen geschwiegen, um ihren Grund zu bestätigen.
Ich hörte schon auf, mein eigner Freund zu seyn; denn gewiß, ich
würde mich selbst für ein nichtswürdiges Geschöpf ansehen, wenn Ihre
Freundschaft mir in meinen Augen keinen Werth mehr gäbe.

Die Seele kann in einem so unangenehmen Zustande nicht lange beharren.
Er ist, so wie Sie sagen, und so wie meine Erfahrung mich lehrt, ein
Stand der Unthätigkeit, der Philosophie unsers Freundes ungeachtet.
Sie wankt also eine Zeit lang zwischen Reflexion und Gefühl, zwischen
deutlichen Gründen und dunkeln Einbildungen hin und her; sucht eine
Menge Beweise, um das nicht zu glauben, was sie scheut, und stürzt sich
doch wieder, trotz aller Beweise, in ihre traurige Ueberzeugung zurück.
Dieses Mal siegte ich aber doch endlich! denn das war ich gewiß genug,
daß Ihre Freundschaft nicht so, wie der meisten Menschen ihre, ohne
besondere Ursache nur erkalten kann, blos deswegen, weil die nähern
sie immer umgebenden Gegenstände unaufhörlich einen Theil ihrer Wärme
rauben, und sie durch diese allmählige Ausdämpfung zuletzt bis zu der
ordentlichen Temperatur der Gleichgültigkeit zurückbringen. Aber das
wußte ich nicht, daß Sie mich Ihrer Freundschaft immer auf gleiche Art
würdig finden würden. Ich habe immer geglaubt, daß die Freundschaft,
so wie die Liebe, eine gewisse Art von Verblendung erfordere; nicht
eine solche, die die Gestalten verkehrt, sondern die, welche den guten
Eigenschaften allein Licht giebt, und die schlechten in Schatten setzt.
Wie wäre es nun, wenn Sie diese Verblendung gewahr geworden wären, --
wenn Sie anfingen, mich eben so zu sehn, wie mich alle übrige Menschen
sehn? -- Aber kurz, Sie hatten mir noch keine Veranlassung gegeben,
diese Veränderung zu glauben. Ich konnte selbst den Ursprung dieses
Gedankens in meiner Seele nicht ausfindig machen. Er erfüllte die Seele
so, wie manches falsche Gerücht die Stadt, ohne daß man sagen kann, wer
das Ding zuerst erzählt hat. Und konnten endlich Ihre Briefe nicht aus
tausend andern Ursachen zurückgehalten werden?

Aber dabey schmeichelte ich mir doch nicht, daß Sie wirklich
geschrieben hätten, und es blos Unrichtigkeit der Post wäre, die mir
Ihren Brief vorenthielte. Ich verließ S**** des Sonntags, nicht mit so
viel Widerstreben, als ich sonst gethan haben würde, wenn ich nicht
Ihre Briefe in der Stadt zu erwarten gehabt hätte. Ich fand sie, und in
denselben die zärtlichste, gütigste Freundin, die Sie immer waren, dazu
gemacht, das Leben nicht bloß Eines Mannes glücklich zu machen.

In der That bedurfte ich dieses Trostes, um nicht allen meinen Muth
unter der Menge unangenehmer Zufälle zu verlieren, die auf uns in der
Stadt warteten. Meine Mutter kam halb krank nach Hause. Ihr Bruder,
der, wie Sie wissen, im Bade gewesen ist, war kurz zuvor durch den
Banquerout eines der ansehnlichsten hiesigen Häuser, dem er einen
beträchtlichen Theil seines Vermögens anvertraut hatte, zurückgerufen
worden. Ein andrer unsrer Freunde, der brave T****, sah durch eben
diese Begebenheit eine Summe von 10000 Rthlr. auf vielleicht weit
weniger als die Hälfte heruntergesetzt; eine andre Freundin, die Mad.
P*** (eine von den wenigen Frauen, die Ihrer Bekanntschaft werth
wären), war gefährlich krank, und der Arzt hatte ihr erst vor kurzem
die Hoffnung zum Leben wiedergegeben. Meines Onkels jüngste Tochter war
es auch. Die allgemeinen Klagen vermischten sich mit der besondern Noth
unsrer Familie. Endlich bekam ich Gellerts Brief, und die Nachricht
von des Grafen Tode. Mit diesem verschwand alle Aussicht auf künftigen
Winter. Die nächsten Monate sogar hüllten sich wieder in Dunkel
und Finsterniß ein; -- und nirgends, nirgends sahe ich irgend einen
Schimmer eines Lichtes, der mich zu meiner Freundin wieder zurückführte.

An die Stelle dieser verschwundenen Hoffnung trat eine Furcht, die ich
schon überwunden zu haben glaubte. Während meines Aufenthalts in B***
ist der Prorektor des hiesigen ersten Gymnasiums wegberufen worden.
Meine Freunde dachten ganz natürlicher Weise an mich. Ich verzeihe
Ihnen den Wunsch, mich hier zu behalten; er entspringt aus einem so
gütigen Herzen, daß ich ihn gern mit meinem Wunsche bestätigen wollte,
wenn es auf weiter nichts als Vergnügen dabei ankäme. Man redete also
viel davon, man erforschte meine Gesinnungen, man ersann sich allerhand
Möglichkeiten. Alles das war gut, so lange die Sache noch in einer
gewissen Ferne blieb. Ich gestand, so oft die Rede davon war, meine
vollkommene Abneigung; und ich gab, wie ich denke, Gründe davon, um ihr
nicht den Schein des Eigensinns und des Vorurtheils zu geben. Man hörte
endlich, da die Wahl ins Lange gezogen wurde, auf davon zu reden.
Heftige Bestrebungen verzehren sich selbst, wenn sie nicht sogleich
thätig werden können. Ich erklärte mich ein Mal für alle Mal, daß ich
keinen Schritt der Sache entgegen thun würde. Eine ganz freywillige,
unveranlaßte Anbietung dieses Amtes würde alsdenn von mir nicht ohne
Ueberlegung verworfen werden.

Ich glaubte, daß ich gewiß sehen könnte, daß dies niemals geschehen
würde, da der hiesige Magistrat die Maxime hat, den ungestümsten
Bittern die Aemter am ersten zu geben, und da die Jahrbücher von
B*** noch kein Beyspiel von einem jungen Menschen haben, der, ohne
die niedern Stufen des Schuldienstes durchkrochen zu seyn, zu dieser
Würde erhoben worden wäre. Mitten unter diesen Sachen reiseten wir
aufs Land, mein Onkel ins Bad. Die Briefe Gellerts brachten uns alle
diese Gedanken aus dem Sinne, und Leipzig und Dreßden nahmen unsre
Aufmerksamkeit so sehr ein, daß wir nicht mehr wußten, ob es einen
Prorektor in B*** giebt. Ich kam wieder zurück mit der vollkommensten
Sicherheit, daß diese Stelle längst würde besetzt seyn, und daß
alles entschieden sey. Kein Mensch dachte wieder daran, bis Gellerts
Brief dem Laufe unsrer Vorhersehungen eine neue Richtung gab. Gestern
war ich mit meiner Mutter in einer großen und zu meinem Unglück sehr
vermischten Gesellschaft. Einer davon, ein Herr von P***, ein Mann, dem
große Reichthümer und viele Verbindungen eine Art von Ansehn geben,
dem es übrigens weder an Verstande, noch einem gewissen Grade von
Empfindung mangelt, zog mich gleich bei seinem Eintritte auf die Seite.
-- Hören Sie, sagte er, wollen Sie Prorektor seyn? -- Die Frage war
sehr kurz, und die Antwort schien entscheidend seyn zu müssen. -- Ich
wiederholte ihm kurz das, was ich allen meinen Freunden schon längst
gesagt hatte. -- Ich war von Herzen froh, als ich endlich erfuhr,
seine Frage bedeutete nichts mehr, als jede andre Frage von der Art;
als ein Freund meines Onkels und meiner Mutter hatte er ihre Wünsche
vorhergesehn, und wollte es bloß erfahren, ob es auch die meinigen
wären.

Unser Gespräch war noch nicht zu Ende, da es von einem Schwarme andrer
Leute unterbrochen wurde. Ich hatte bey einem sehr vollen Tische
den langweiligsten elendesten Abend von der Welt. Ich dachte fast
an nichts, als an den Kontrast dieser Gesellschaft, und der kleinen
an Ihrem Tische, in der ich so viele Stunden unter dem heitersten
Vergnügen verlor. -- Nur einen einzigen solchen Abend, l. F., und ich
wäre auf einen Monat zufrieden u. s. w.



Funfzehnter Brief.


    B***, den 9. Septbr.

Unerachtet mich meine Reise gehindert hat, an der besondern Lustbarkeit
dieses Tages Theil zu nehmen, so bin ich nichts desto weniger bey
Ihnen gewesen, so wie ich es alle Tage bin. Und vielleicht war es ein
gewisser geheimer Einfluß, den Ihre Seelen auf die meinige hatten, der
mich diesen Tag (es war der letzte, den ich in M*** zubrachte), beynahe
vergnügter machte, als ich die ganze übrige Zeit gewesen war. --

Eine Grille, die mir Schwedenborg, und sein Kommentator, M. Kant, in
den Kopf gesetzt hat, kann ich mir noch nicht ausreden. -- So geht
es; Sätze, die uns lieb sind, nimmt man gar zu leicht für Wahrheiten
an, und das Sicherste, was ein Philosoph thun kann, um uns von seinen
Hypothesen zu überzeugen, ist, daß er den Wunsch in uns erregt, daß
sie wahr wären. -- Aber zur Sache selbst.

Schwedenborg sagt, das Verhältniß, das die Geister gegen einander
haben, und welches ihren Ort ausmacht, ist von dem Orte, den ihre
Körper einnehmen, durchaus unterschieden. Die Geister machen zusammen
eine Welt für sich aus, und die Körper, die ihren Stand bestimmen,
in so fern sie durch Empfindungen denken, und ihre Begriffe aus dem
sinnlichen Gebiete herholen, schränken sie doch nicht im mindesten
ein, in so fern sie Geister sind. -- So ist es also möglich, daß zwey
Geister ganz dicht aneinander stoßen, deren Körper hundert Meilen weit
von einander entfernt sind. Zwischen beyden kann der vertrauteste
Umgang seyn, der aber niemals zum Bewußtseyn kommt, -- als bey
gewissen auserwählten Seelen, denen, wie Schwedenborg sehr deutlich
sich ausdrückt, das Innere geöffnet ist; -- oder bey außerordentlichen
Gelegenheiten, wo der hellere Glanz der Empfindungen, der sonst alle
andere Ideen auslöscht, so sehr verdunkelt wird mit sammt dem ganzen
Gefolge von Erinnerungen und Phantasien, daß jene geistigen Eindrücke
sich aus dem Grunde der Seele herausheben. Durch dieses Mittel will
Schwedenborg alle die wunderbaren Dinge gewußt haben, durch die er
in den Ruf des größten Narren und des größten Wahrsagers unsrer Zeit
gekommen ist. --

Aber kurz und gut, die Theorie gefällt mir, und ich dächte also, daß
sie wahr wäre. Meine Seele würde nichts so sehr wünschen, als um alle
die von ihr geliebten und mit ihr verwandten Seelen so nahe zu seyn,
daß sie die Einflüsse derselben empfangen, und auf sie wieder Eindrücke
machen könnte. Der Körper ist bisher zu der Erreichung dieses Wunsches
ein beschwerliches Hinderniß gewesen, jede Vereinigung forderte immer
eine vorhergegangene Trennung, und Freunde wiederzusehen und von
Freunden geschieden zu seyn, waren immer zwey unzertrennliche Sachen.
Aber nun, die Theorie Schwedenborgs einmal festgesetzt, wer hindert
mich, meine Seele an den Ort hinzubringen, wo es ihr am besten gefällt,
und um sie herum alle die Geister zu pflanzen, deren Gemeinschaft so
oft ihren Wunsch und ihre Sehnsucht erregt hat? Lassen Sie mich also 50
Meilen, und -- was sind diese? lassen Sie mich um halbe Erddiameter von
Ihnen entfernt seyn, -- und doch soll meine Seele von der Ihrigen nicht
um ein Haar breit weiter kommen. Denken Sie, wenn unsre sterblichen
Augen den himmlischen Anblick ertragen könnten, was es wäre, diese
Gesellschaft von Geistern bey einander zu sehn; erst die unsrigen, wie
sie unsichtbare Begriffe von einander annehmen und sich mittheilen,
Begriffe, die erst in künftigen Epoquen unsers Daseyns uns selbst
bekannt werden sollen; wie sie sich vielleicht einander aufklären,
reinigen, bessern, und ohne unser Wissen schon die Glückseligkeit
künftiger Zeitalter verbreiten; -- alsdann die Seelen unsrer liebsten
Freunde, Ihres Gemahls, meiner Mutter, unsers Reizes, -- und dann,
wenn irgendwo in der Welt eine Julie oder eine Schirley lebt, -- ein
reizendes Mädchen, deren Schönheit die Ankündigung von Verstand und
Unschuld ist, -- eine zärtliche Ehegattin, deren geschäftiger Fleiß,
-- so wie der Ihrige, -- den Abend eines mühsamen Tages ihrem Manne
und ihrem Freunde mit stiller und unschuldiger Fröhlichkeit krönt, --
eine ehrwürdige Mutter, der ein neues Geschlecht seine Tugend und seine
Glückseligkeit dankt, -- diese alle bey uns, unsre Vertrauten, schon
vorbereitet, uns künftig, wenn wir einander erkennen werden, zu lieben,
und das Vergnügen einer Gemeinschaft zu fühlen, die hier nur bloß unsre
Reflexion beschäftigte.

Sie sehen, ich bin in Gefahr, vielleicht ein eben so großer Schwärmer
zu werden, als Schwedenborg selbst. Und in der That ist ein Traum, der
uns vergnügt macht, hundert Mal besser, als eine Wahrheit, die uns
Kummer verursacht.

Ueber ihr Gedicht und noch mehr über dessen Mittheilung bin ich von
Herzen vergnügt gewesen. Die zwey letzten Strophen haben mir am meisten
gefallen, vielleicht weil Sie darin an mich denken. --

Ich hätte Ihnen noch so viel zu sagen, als auf diesem Blatte und
auf zehn andern nicht Raum hätte. Aber ich bin einmal schon des
Mißvergnügens gewohnt, meine Briefe da schließen zu müssen, wo sich
meine Unterredung mit Ihnen erst recht anfangen sollte. Die Ideen
drängen sich so in meinem Kopfe zusammen, sobald ich die Feder ansetze,
an Sie zu schreiben, daß sich endlich eine aus dem Haufen hervordrängt,
-- nicht die die vornehmste und wichtigste gewesen wäre, sondern die
sich am schnellsten der Seele und meiner Feder bemächtigen konnte. --
Aber das muß ich Ihnen doch noch sagen, daß ich von Gellerten, seit dem
letzten, der mir des Grafen Tod ankündigte, keine Briefe habe, und daß
ich ohne Vorschläge von ihm, -- wenig Mittel sehe, diesen Winter mit
Ihnen zuzubringen u. s. w.



Sechzehnter Brief.


Lassen Sie mich Sie immer heute zu einer ungewöhnlichen Zeit
überfallen. Ungelegen kann es Ihnen doch nicht seyn (so zuversichtlich
hat mich schon Ihre Freundschaft gemacht). Mein Herz ist zu voll; und
ich weiß schon, eher wird es nicht ruhig, bis es sich ganz in das
Ihrige ausgegossen hat. Wie sehr empfinde ich heute das Glück, eine
Freundin zu haben, die meinen Schmerz gern mit mir theilt, und lieber
mit mir trauert, als allein fröhlich ist. Aber erschrecken Sie nur
nicht über diesen Anfang. Es ist nur Mitleiden, nicht eignes Unglück,
das diese unruhige Bewegung in mir hervorbringt -- aber Mitleiden, das
auf seinen höchsten Grad gestiegen ist, und beynahe zu eignem Gefühl
wird. --

Ich war gestern von meiner Reise den Augenblick angekommen, als man mir
sagte, meine Mutter wäre in dem Krankenzimmer einer Freundin, und sie
würde den Abend dort zubringen. -- Ich habe Ihnen schon mehrmals das
P***sche Haus genannt, als eine von den Familien, die mit der unsrigen
am genauesten verbunden ist und von mir am meisten hochgeschätzt
wird. In der That besteht sie beynahe aus lauter hochachtungswürdigen
Personen. Das Haupt der Familie, der alte Herr P***, ehemals ein sehr
angesehener Kaufmann, war noch außerdem, -- was selten Kaufleute sind
-- ein empfindlicher und zärtlicher Ehemann, ein dienstfertiger Freund,
ein gütiger Vater, und ein durch Erfahrung und vielfache Kenntnisse
angenehmer Gesellschafter. Seine Frau, unsre Anverwandte, -- die Krone
ihres Hauses, und beynahe auch des unsrigen, ist von der Natur und
durch ihren Fleiß recht dazu ausgerüstet, Glückliche zu erfreuen,
und die Unglücklichen zu trösten. Ein starker und beynahe männlicher
Verstand, der nur durch eine beständige Uebung, nicht durch Unterricht
ausgebildet ist; eine Gegenwart des Geistes, die selbst durch ihre
zarte Empfindsamkeit niemals geschwächt wird; ein gewisses Feuer und
eine Thätigkeit andern Dienste zu leisten, die die Schwierigkeiten
überwindet, wovor die andern nur erschrecken; ein freundschaftliches
Herz, das seine Befriedigung im Gutes thun findet, und eine gewisse
Art von Mangel fühlt, so bald es sich zu Niemandes Besten beschäftigen
soll; und dieses alles war zu ihrer glücklichen Zeit mit einer
beständigen Heiterkeit der Seele, und mit so viel Lebhaftigkeit
verbunden, daß sie gemeiniglich die Seele der Gesellschaft wurde, in
der sie sich befand.

Herr P**** hatte von seiner erstern Ehe eine Tochter, die schon
ziemlich erwachsen war, als er sich mit unsrer Freundin vermählte, und
die einige Jahre darauf den Halbbruder ihrer Stiefmutter heyrathete.
Die Frau ***, so heißt diese würdige Frau, hatte von der Natur nicht so
viel vorzügliche Gaben, aber dafür eine gewisse Sanftmuth und Stille
in ihrem Charakter, eine tiefe und mehr durchdringende als lebhafte
Empfindlichkeit, und ein so kindliches, gutes, freundschaftliches Herz
bekommen, daß sie die vertrauteste Freundin und die ehrerbietigste
Tochter ihrer Eltern zugleich war. Ihre Seele war der Seele ihrer
neuen Mutter, oder vielmehr ihrer Schwester (denn so liebten sie sich,
und so ist ihr Betragen gegen einander noch bis auf den heutigen Tag)
nicht ähnlich, aber sie war dazu gemacht, dieselbe auszufüllen, und
mit ihr ein Ganzes auszumachen. Ihr Gemahl, der Frau P**** Bruder,
den sie schon vor drey Jahren durch eine grausame Krankheit verlor,
hatte vielleicht unter allen die wenigsten Talente, aber er besaß
ein so durchaus gutes Herz, er liebte seine Frau und seine Schwester
so innigst, und er räumte ihre Vorzüge über ihn so gern ein, daß man
ihm bloß um seiner Ehrlichkeit willen gut wurde. Und so wie er war,
wurde er auch wieder von seiner Frau, die sonst vielleicht zu einem
scheinbarern Glück Hoffnung gehabt hätte, so geliebt, als wenn er der
vollkommenste aller Männer gewesen wäre. Von diesem ihrem Manne hatte
sie zwey Kinder, einen Sohn und eine Tochter, deren Geburt nun erst
alle Hoffnungen des Großvaters und alle Wünsche der gesammten Familie
erfüllte.

Beyde Familien wohnten in Einem Hause, aßen an demselben Tische,
liebten sich alle unter einander mit einer Zärtlichkeit ohne Beyspiel,
und machten das Bild einer einträchtigen und glücklichen Familie aus.
Wenn die Geschäfte des Tages sie von einander entfernt hatten, so
kamen sie doch gewiß am Abend alle zusammen, ihre lieben Kleinen mit;
und dann genossen sie in einer beneidenswerthen Ruhe alle Freuden des
häuslichen Lebens, die einzige Glückseligkeit des Menschen, wenn anders
Menschen glücklich seyn können. Ihre äußern Umstände störten diesen
Genuß eben so wenig. Ihr Vermögen war weit mehr als hinlänglich, ihrer
Freunde waren viel; -- und wenn es, um ein Gut zu genießen, nothwendig
ist, daß andre wissen, daß wir es haben; so war die allgemeine
Hochachtung für sie eine Bestätigung ihrer Glückseligkeit und ihrer
Verdienste.

Und diese ganze Familie, dieser ganze kleine Kreis von tugendhaften
und glücklichen Freunden, liebe Freundin, ist jetzo nur noch
fähig, Mitleiden zu erregen; -- das ganze Gebäude ihrer häuslichen
Glückseligkeit ist durch eine Reihe auf einander folgender
Unglücksfälle zerstört; jede Wurzel des Vergnügens ausgerottet, und
fast hat selbst die Zukunft für sie nichts mehr als Schrecken. Der
Tod des Herrn B***, der vor drey Jahren zu eben der Zeit erfolgte,
als ich hier meine Mutter besuchte, war der Anfang und gleichsam
die Ankündigung davon. Dieser Tod war so schmerzhaft, und mit so
traurigen Umständen begleitet, daß er auf das Gemüth aller einen sehr
tiefen Eindruck machte -- auf das Gemüth seiner Gattin aber einen
immerwährenden. Diese schon von Natur furchtsame und schüchterne Frau
wurde durch den Verlust ihres Mannes beynahe zu Boden gedrückt. Nur die
Gesellschaft und die Zärtlichkeit ihrer Mutter, der Frau P****, und die
Sorgfalt für die Erziehung der beyden liebenswürdigen Kinder, in denen
sie die Liebe der Mutter und der Gattin vereinigte, nur diese hatten
sie bisher erhalten, und ihr nach und nach den Muth und die Freudigkeit
wiedergegeben, ohne die das Leben eine Last ist.

Eine andere glückliche Begebenheit schien die Freude wieder in dieses
Haus zurückführen zu wollen. Eine Tochter der Frau P****, von einer
erstern Ehe, ihrer Mutter bey weitem nicht gleich, aber doch auch ihrer
nicht ganz unwürdig, heyrathete den Hrn. Z****, der lange Zeit im Felde
Dienste geleistet hatte, ein Liebling der Vornehmsten der Armee und
selbst des Königs gewesen war, und die glücklichsten Aussichten vor
sich hatte. Ein Mann von vielem Verstande, von einer wahrhaft guten
Lebensart, und der, wenn er noch nicht die richtigsten Grundsätze
hatte, doch fähig war, sie anzunehmen. Er war damals ***, und wurde
bald darauf ****, welches eines der ansehnlichsten Aemter in unserm
Lande ist, und unmittelbar auf den geheimen Rath folgt. Dieser Mann
liebte seine Frau, ob sie gleich weder ihm an Gaben gleich, noch seinen
Erwartungen und Wünschen gemäß war. Aber vielleicht liebte er sie noch
mehr um ihrer Mutter als um ihrer selbst willen; und beynahe glaube
ich, daß noch bis auf diese Stunde die Hochachtung, die er für seine
Schwiegermutter hat, die Liebe gegen seine Frau erhält.

Diese Verbindung, die ihrer Familie ein neues so würdiges Glied gab,
wurde kurz darauf die Quelle mehr als eines Jahres voll Kummer
und Angst. Z**** empfand, nachdem er zur Ruhe kam, die Folgen der
Ermüdungen des Krieges. Er fiel in dem ersten Jahre seines Ehestandes
in eine gefährliche Gliederkrankheit, die ihn zuerst mit den
grausamsten Schmerzen angriff, und alle Augenblicke seinen Tod drohte,
bald darauf ihn des völligen Gebrauchs aller seiner Glieder beraubte,
und ihn ganz hülflos der unaufhörlichen Pflege und Wartung seiner
Freunde selbst in seinen kleinsten Bedürfnissen benöthigt machte.
Diese Krankheit ist endlich, nachdem sie sechs Vierteljahre das ganze
Haus in einer beständigen Abwechselung von Furcht und von Betrübniß
erhalten hat, durch eine sehr beschwerliche Kur, und durch den Gebrauch
mannigfaltiger Bäder gehoben worden. Sie wissen, daß er nur erst
neulich mit meinem Onkel im Bade gewesen ist. --

Aber dieses war noch nicht der einzige Kummer. -- Die unglücklichen
Umstände unsers Landes haben die Handlung des Herrn P*** sehr
geschwächt; -- aber noch würden sie ihnen wenig Schaden gethan
haben, wenn sie nicht auch zugleich den Kopf dieses würdigen Alten
geschwächt hätten. Dieser sonst so lebhafte und geschäftige Mann, der
die Thätigkeit selbst war, sich immer herzhaft entschloß und klug
ausführte, dieser versinkt in seinem Alter, von Kummer und Sorgen
niedergedrückt, in eine völlige Unempfindlichkeit. Seine Gemüthskräfte
erlöschen; seine Seele, die durch so viele und starke Eindrücke zu
heftig erschüttert worden, nimmt jetzo gar keine mehr an, oder alle
verlöschen augenblicklich auf dem Grunde, der schon völlig von den
vergangenen Ideen eingenommen ist. So ist er für seine Familie und
seine Freunde schon todt, ob er gleich sich noch unter ihnen bewegt;
und seine Gattin, die sonst von ihm Ansehn und Ehre erhielt, ist jetzo
kaum mit aller ihrer Klugheit und der zärtlichsten Sorgfalt vermögend,
ihn vor der Verachtung der Fremden, und selbst vor der Geringschätzung
seiner Freunde zu schützen. Denken Sie sich nun seine Tochter, die noch
immer dieselbe kindliche, ehrerbietige Zärtlichkeit für ihn hat, und
denken Sie, was es einem Herzen, wie das ihrige, kosten muß, ihn alle
seine schätzbaren Eigenschaften verlieren zu sehn. --

Noch war ein einziger Trost für dieses Haus übrig, aber ein sehr
großer, und der vielen Leiden das Gegengewicht halten konnte; -- der
Trost, zwey hoffnungsvolle und liebenswürdige Kinder in ihrem Schooße
aufwachsen zu sehen, die die Verdienste, und, wenn es möglich wäre, die
ehemalige Glückseligkeit ihrer Eltern erneuerten. -- Und nun liegt das
jüngste davon, ein Knabe von ungefähr acht Jahren, die unschuldigste,
sanftmüthigste, geduldigste Seele, das Bild und der Liebling seiner
Mutter -- und ringt mit dem Tode.

Bey seinem Bette fand ich meine Mutter. Ich bin niemals von einem
Anblicke so gerührt, so durchdrungen worden. Die Krankheit des Kindes
ist die allerschmerzhafteste und grausamste, glaube ich, die ich jemals
gesehn habe: die allerentsetzlichsten Kopfschmerzen, die, wie der Arzt
muthmaßt, aus einer Beschädigung des Gehirns entstehen, und schon vier
Tage und Nächte ohne den geringsten Nachlaß fortdauern. Sie pressen
dem armen liebenswürdigen Knaben, der alles, alles sonst mit der
größesten Gelassenheit erträgt, und selbst jetzo die schmerzhaftesten
Operationen ohne Murren mit sich vornehmen läßt, ein Geschrey aus, das
mir bis in das Innerste der Seele geht. -- O Gott, wer muß der Unmensch
seyn, der die Stimme des Schmerzes ertragen kann, wenn er selbst der
Urheber davon ist! -- Mein Herz wird davon zerrissen! -- Und dann in
dem Augenblicke einer kleinen Linderung ihn mit einer ängstlichen
Zärtlichkeit nach seiner Mutter rufen zu hören, diese vor seinem
Bette knien zu sehen, und dann ihn, wie er seine kleinen Arme um sie
herumschlingt, sie fest an sich drückt, und dann mit einer gewissen
dringenden Heftigkeit sie seiner Liebe versichert, -- dann mitten unter
diesen Liebkosungen, von dem Schmerz überwunden, auf einmal in das
kläglichste Geschrey ausbricht, und das zu ganzen Nächten fortsetzt
-- Gott, kaum kann ich den Gedanken davon ertragen. -- Heute ist der
Schmerz schon Herr über sein Bewußtseyn, und er kennt nicht mehr seine
Mutter. --

Liebste Freundin, werden Sie mir es wohl vergeben, daß ich Sie mit so
traurigen Gegenständen unterhalte? Aber mir wird meine Noth leichter,
wenn ich denke, Sie wissen sie und nehmen daran Theil.

N. S. Zu gleicher Zeit mit dem Ihrigen erhielt ich auch einen sehr
freundschaftlichen Brief von Herrn Weise. Eine kleine Anekdote, die er
mir von Meinhardten erzählt, kann ich Ihnen unmöglich verschweigen.
Bey seiner Abreise von Leipzig fragte ihn der Post-Commissar Gellert:
Ob er nicht einige günstige Aussichten hätte? O ja, sagte er, die
glücklichste Aussicht von der Welt -- die Aussicht auf mein Grab.



Siebenzehnter Brief.


    Den 16. September.

Der Kleine, dessen Leiden ich Ihnen schilderte, hat sich gebessert. Er
ist keines menschlichen Leidens mehr fähig. -- Für den tugendhaften
Mann und für den Christen ist der Tod wenig; aber für den Menschen ist
der Schmerz immer etwas sehr Großes. Neulich war mein ganzes Mitleid
für das Kind selbst, jetzo ist es nur noch für seine Mutter. Ich will
Ihnen nicht ihren Schmerz beschreiben, um nicht den Ihrigen rege zu
machen. Sie wissen, was es heißt, Mutter seyn. -- Aber einen andern
Verlust muß ich Ihnen erzählen, der nicht so schmerzhaft, -- aber
doch für uns empfindlich ist; noch dazu einen Verlust, der die ganze
Begierde, zu Ihnen zu kommen, bey mir wieder rege macht, da er mir die
vortrefflichste Gelegenheit dazu verschafft hätte. Denken Sie nur,
ich hätte in Gesellschaft eines Tralles zu Ihnen kommen können, ich
hätte Sie gesehn, Sie hätten einen unsrer besten Freunde gesehn, die
Hochachtung, die ich für meine Freundin habe, hätte sich noch eines
rechtschaffenen Herzens bemeistert, und -- Aber hören Sie erst die
Geschichte.

Tralles als einen Arzt kennen Sie, glaube ich. Aber das müssen Sie
noch wissen, daß er beynahe der würdigste Gelehrte und der beste
Gesellschafter in B**** ist. Diese Titel werden Sie, denke ich, noch
nicht so aufmerksam machen, (welche Eigenliebe!) als wenn ich Ihnen
sage, daß er der älteste Freund unsers Hauses, daß er fast der einzige
recht vertraute Freund meines Onkels ist, -- daß seine erste Frau die
beste und die einzige Freundin war, die meiner Mutter ihr ganzes Herz
besessen hat. Dieser Mann, der neulich nach Warschau als Leibarzt
kommen sollte, und es aus Liebe zu seinen Freunden ausschlug, hat jetzt
einen andern Antrag, der just in einer so unglücklichen Epoque kommen
muß, da sich B**** bey ihm durch einen ansehnlichen Verlust, den er
durch die Betrügerey eines Freundes leidet, verhaßt gemacht hat, daß
er fast geneigt ist, ihn anzunehmen. Die Fürstin von Gotha verlangt
ihn zu ihrem Beystande bey ihrer jetzigen schwachen Gesundheit, --
und wünscht ihn als Leibarzt zu behalten. Er kam eben von einer Reise
wieder, als er einen Brief von dem Gothaischen Hofe fand, wo man ihn
unter den schmeichelhaftesten Hoffnungen, die man einem Menschen geben
kann, einladet, noch diesen Herbst nach Gotha zu kommen, seine Familie
mitzubringen, -- und den Winter dort zu bleiben. Es sollte alsdann von
seiner Wahl und von dem Grade von Zufriedenheit abhängen, den er mit
dem dasigen Aufenthalte, und der Art von Aufnahme, die er erhalten
hätte, haben würde, ob er nach Breßlau zurückkehren oder bey ihnen
sein Leben beschließen würde. Denn er ist schon sechszig Jahr. -- Er
ist nun entschlossen, die Reise zu thun, ob er gleich ihren Erfolg
noch nicht vorhersieht. Seine jetzige Frau wird ihn mit ihrem kleinen
Sohne begleiten. Von zwey Töchtern aus der ersten Ehe ist die eine
verheyrathet, und kann also ihrem Vater nicht folgen, die andre will
zum Beystand ihrer Schwester zurückbleiben.

Dieser D. Tralles nun reist auf den Sonnabend ab, -- und reist
über Leipzig. -- Was würde ich nicht darum gegeben haben, so einen
Gesellschafter zu finden; und wie sehr gütig war nicht seine
Anerbietung. -- Wenn ich mitführe, sagte er, so wollte er wechselsweise
auf dem Kutschersitze fahren, wenn er keinen andern Platz hätte.
Demungeachtet bleibe ich hier, -- verliere einen Freund, den ich noch
hatte, und komme zu denen nicht, die ich entbehrte. --

Ich sinne schon die ganze Zeit, seitdem ich diese Reise weiß, auf
Mittel, den D. Tralles Ihnen oder Ihrem lieben Gatten vorzustellen.
Ich schmeichle mir, Sie würden einen Mann nicht ungern sehen, der
erst vor wenig Tagen aus unserm Hause kommt, der uns alle kennt, der
unser Freund ist, -- und der es verdient, auch der Ihrige zu seyn.
Aber ich gestehe es, ich begreife noch nicht, wie die Sache zu machen
ist. Er bleibt nur einen halben Tag und über Nacht in Leipzig. -- Er
will Gellerten besuchen, an den ich heute schreibe, und bey dem ich
ihn anmelde. -- Er ist ein Anverwandter von ***. Man erwartet ihn in
diesem Hause, und man wird ihn ohne Zweifel dahin ziehn. -- Wo mir
recht ist, so ist diese ***sche Familie nicht eben im Besitz einer sehr
großen Achtung. Ich kenne sie nur vom Parterre aus; aber von da sah
mir die Tochter sehr einfältig und eitel -- ihre Mutter stolz und ein
bischen verbuhlt aus. -- Zum Glück hat Tralles eine Gabe, die uns allen
beyden fehlt, -- sich die Narren ganz gut gefallen zu lassen. Er wird
aus der Gesellschaft der vernünftigsten Leute in die Versammlung der
Thoren übergehn, ohne von seiner guten Laune etwas einzubüßen.

Im Vorbeygehen, -- Sie hätten meine Fehler nicht besser treffen können;
-- fast eben dieselben, die mir meine Mutter so oft vorwirft. Sie
gesteht mir, daß sie noch so ziemlich mit mir zufrieden ist, wenn ich
bey ihr oder bey gewissen Personen bin (und das sind noch dazu sehr
wenig), die mir gefallen; aber daß ich der unerträglichste Mensch
wäre unter einer Gesellschaft, die mir mißfiele. In der That verliere
ich unter Leuten von einer gewissen Art nicht bloß meine Lustigkeit,
sondern auch meinen gesunden Verstand; ich denke nicht mehr, ich
vegetire nur. -- Aber wieder zu unserm Tralles zurück!

Nach dem Plane seiner Reise, den er erst gestern Abend in einer
Gesellschaft entwarf, bey der ich gegenwärtig war, wird er erst auf den
Sonnabend über acht Tage in Leipzig ankommen. Seine Frau und sein Kind
nöthigen ihn, langsamer zu gehen. Bis dahin kann ich Ihnen also noch
einmal schreiben. -- Aber nun meine eigne Rückreise zu Ihnen! --

Meine Mutter mag es Ihnen sagen, ob es mir leicht wird, diese
aufzuschieben. In der That sehne ich mich zuweilen nach einer
einzigen Viertelstunde, die ich mit Ihnen zubringen könnte, -- mit
einer solchen Ungeduld, die im Stande wäre, mich zu Ihnen zu führen,
wenn unsre Begierden uns Kräfte gäben. -- Aber meine Mutter wünscht
meine Gegenwart; sie hält sie zu ihrer Gesundheit auf diesen Winter
für nothwendig; sie thut alles, was sie kann, und sie würde noch
mehr thun, um den Winter hindurch von einer andern Seite meinem
Studiren gewisse Beförderungen zu verschaffen, die ich von der einen
verliere. -- Mein Freund hat seine Gedanken recht aus meiner Seele
herausgenommen, -- eben dieselben Vorstellungen, fast mit eben den
Worten, mit welchen ich sie schon manchmal meiner Mutter gemacht habe.
Bücher, Muße, Lehrer, das würde ich hier vielleicht alles haben, --
aber Freunde, die mich aufmuntern, die mich in einer beständigen
Bewegung erhalten, deren Seele, mit der meinigen gleich gestimmt, jeder
von ihren Gedanken entspräche, und ihnen gleichsam zur Geburt hülfe --
die fehlen mir durchaus.

Meine Mutter sehnt sich bald so sehr nach Ihnen, als ich selbst.
Ihr Brief hatte sie ganz aufgeheitert. O Freundschaft und kindliche
Liebe, deinen geheiligten Banden sey meine ganze Seele gewidmet! -- --
Aber was wäre die Freundschaft ohne Tugend, und was die Tugend ohne
Aufopferungen? u. s. w.



Achtzehnter Brief.


    Den 23. September.

Ich werde heute einen langen Brief schreiben, das sehe ich voraus.
Ich habe wenig Zeit dazu, ich werde ihn also geschwind und schlecht
schreiben. Sie werden ihn also nicht lesen können, und ich werde ihn
umsonst geschrieben haben. Aber das schadet nichts. Für die Mühe, die
es mich kostet, einen Brief an Sie zu schreiben, bin ich schon belohnt,
wenn er geschrieben ist. Meine Seele, die sich jeden Tag mit Ihnen,
-- und mit Niemanden lieber beschäftigt, -- heftet sich doch niemals
so ganz, so lange, so ununterbrochen auf meine Freundin, als während
dem ich an sie schreibe. Allen fremden Gedanken, jedem unwillkommenen
Besuche ist in dieser Zeit der Zutritt versagt -- und ich bin so völlig
mit meiner ganzen Seele bey Ihnen, als ich es war, wenn ich des Abends
an Ihrem Fenster (wenn der Mond und die Nachtigall Ihres Nachbars die
ruhige Heiterkeit und die harmonischen, aber simpeln Bewegungen unsrer
Seele abbildeten) der Freundschaft genoß, -- und einen Augenblick
lang, in dem ich die Sorge für die Zukunft und selbst den Wunsch nach
derselben vergaß, sagen konnte: +Nun bin ich glücklich!+

Wenn es Ihnen ganz gleichgültig wäre, daß ich nicht nach Leipzig komme,
-- so wüßte ich nicht, was mir schwerer seyn würde, als der Winter hier
in Breßlau. Die Freundschaft ist, wie ich sehe, auch grausam. Sie will
das Recht, den Freund vergnügt und glücklich zu machen, so ganz allein,
so ausschließungsweise haben, daß er beynahe darüber murrt, wenn er es
ohne sie seyn könnte. Ich habe es immer den Dichtern übel genommen,
wenn sie ihre Verliebten so eigennützig machen, daß sie ihre Geliebte
mit weniger Schmerz sterben, als in den Armen eines Andern leben und
glücklich seyn sehen. -- Aber ich merke nun schon, daß unsre edelsten
Neigungen immer so eigennützig seyn müssen. Die Liebe ist eine
Leidenschaft. Die Freundschaft ist nur eine Gesinnung. Ihre Wirkungen
sind nur in den Graden unterschieden, -- in ihrer Natur eben dieselben.
-- Wenn es einen Menschen gäbe, der Ihnen meine Stelle so vollkommen
ersetzte (verzeihen Sie mir einen Stolz, den Sie mich gelehrt haben),
daß Sie, ohne Wunsch nach meiner Zurückkunft, mich an jedem Orte der
Welt gleich gern sähen: diesem Menschen würde ich nicht gut seyn
können. -- Ich vermehre nun in meinen Gedanken diese Empfindung bis zu
der Stärke, die der Leidenschaft der Liebe proportionirt ist, und ich
sehe es ein, daß der Dichter das menschliche Herz besser versteht, als
der Philosoph; -- und daß, so göttlich Plato auch seyn mag, Shakspeare
doch mehr von der Liebe weiß, als er. Sie haben doch wohl Romeo und
Juillet gesehn? Nun wohl! Glauben Sie nicht, daß Juillet ihren Romeo
lieber vernichtet, als untreu sehen würde? -- Aber davon genug, und
vielleicht schon zu viel, wenn ich es mit dem vergleiche, was ich noch
zu sagen habe.

Tralles, unser guter Tralles, ist mit seiner Frau und seinem Kinde am
Sonnabend fort. -- Aber er hat keinen Brief an Sie mit. Zuerst, weil es
hier sogar gefährlich ist, einem Reisenden andre als offne Briefe, oder
solche, die er öffnen kann, mitzugeben. Ein neues Edikt setzt auf diese
Vervortheilung der Posten mehr als 100 Rthlr. Strafe. Zum zweyten, weil
ich meine Absicht, Sie und den D. Tralles zusammen zu bringen, doch
nicht würde erreicht haben. Er hätte Ihnen den Brief zugeschickt, oder
seine Frau hätte Ihnen Visite gemacht, -- oder Ihr lieber Gatte wäre zu
dem D. Tralles gegangen. -- Kurz, ich sehe nicht, wie Sie eigentlich
mit ihm in Bekanntschaft gekommen wären. Endlich will er nur über Nacht
in Leipzig bleiben. Ich glaube, es wird nichts daraus werden, dem
ungeachtet wollte er doch, -- und nach diesem Entschlusse nahm er hier
seine Maßregeln. Nun hat er Verwandte in Leipzig, wie Sie schon wissen.
Gellert, dem er von vielen Seiten empfohlen ist, wird ihn aufhalten. --
Ludwig ist sein alter Schulfreund und sein Korrespondent. Die Zeit wird
also selbst für seine alten Bekanntschaften zu kurz seyn. -- Und doch
wollte ich -- ich weiß nicht wie viel dafür geben, wenn Sie ihn sähen,
oder Ihr lieber Mann, -- oder wenn er Sie sähe. -- Er wird im blauen
Engel wohnen. -- Schon dachte ich, ob Sie ihn vielleicht über eine
wirkliche oder erdichtete Krankheit von sich oder Ihrem Kinde zu Rathe
ziehen wollten; dieses würde immer für ihn schmeichelhaft, aber doch
ein bischen seltsam seyn. Dann dachte ich wieder, ob Ihr Mann nicht den
Tag zu Gellerten gehn könnte. -- Alles das dachte ich, und doch bin ich
noch nicht auf das gekommen, was mir gefällt und genug thut. -- Der
einzige Trost ist, -- er will auf dem Rückwege (denn zurückkommen wird
er gewiß) länger in Leipzig verweilen, -- und alsdenn bin ich entweder
schon bey Ihnen, oder ich schreibe durch Sie an Tralles. --

Von Kaufleuten, die nach Leipzig gingen (Kaufleute meine ich, nicht
Krämer), weiß ich keinen, als Herrn ****, und der geht noch dazu mit
seiner Frau. Sie sind beyde -- eben nicht Freunde -- aber Bekannte von
uns. Und die Frau ist noch dazu, -- oder war wenigstens als Jungfer
-- eines unsrer schönsten Gesichter. Der Mann ist wohlhabend, und hat
den besten Garten um B***. Für die Meisten ist dies Verdienst genug,
seine Bekanntschaft sehr angelegentlich zu suchen. Für Sie und mich ist
es wenig. Ueberdieß geht er schon morgen ab. Mein Brief also, den ich
heute abschicke, kommt eher an, als er, -- und was brauche ich erst
auf Gelegenheiten zu warten, an Sie zu schreiben, so lange die Posten
richtig gehen?

Sie verlangen von mir mein Tagebuch? -- Nichts in der Welt wünschte ich
mehr, als daß Sie alle meine Handlungen wüßten, meine ganze Aufführung
unter jeden Umständen, bey jeglicher Veranlassung sähen, -- daß Sie die
Aufseherin meines Herzens seyn könnten, und durch Ihren gütigen Beyfall
das Wahre und das Gute bestätigten, -- und durch Ihren liebreichen
Tadel meine Vorurtheile und meine Schwachheiten besiegen hülfen. --
Aber wie kann eine kurze, unvollständige, trockne, oft Ihnen vielleicht
langweilige Erzählung diese Absichten erreichen? -- Dem ungeachtet
sollen Sie so viel wissen, als ich zu sagen vermag. Keinen treuern
Geschichtschreiber sollten Sie je gesehen haben, als ich es von mir
selbst seyn wollte. Nur vergeßlicher, mangelhafter....

Ich weiß nun selbst nicht mehr, was ich mir noch alles für Schimpfnamen
geben wollte. Man rufte mich ab, -- und nun, in den zwey Minuten, die
mir noch übrig sind, habe ich was bessers zu thun, als auf mich zu
schelten.

Meine Lebensart also zuerst, -- wäre noch so ziemlich, wenn ich weniger
faul, weniger zu einer anhaltenden Arbeit ungeschickt, weniger unruhig,
und wegen meiner künftigen Aussichten ein bischen scharfsichtiger
wäre. Ich stehe spät auf, -- ob ich mir es gleich am Abende alle
Mal vornehme, früh aufzustehn. -- Die Theestunde bleibt immer noch
die goldne Stunde des Tages. Ich, meine Mutter und meine Muhme,
ein jedes durch den Schlaf erfrischt, und durch keine Arbeit noch
entkräftet, bringt seine erste noch nicht vernutzte Munterkeit in die
Gesellschaft. Während des Thees lese ich vor. Neulich hatten wir den
Hausvater und den natürlichen Sohn, -- jetzo ist es der Hypochondrist.
Der Schriftsteller wird bewundert, -- und der Vorleser bekommt auch
etwas von dem Dank, oder nimmt sich wenigstens selbst seinen Theil
davon, ohne erst daran erinnert zu werden.

Der übrige Morgen wäre nun dazu, etwas zu arbeiten, -- wenn ich jetzt
oft zum Arbeiten aufgelegt wäre. Wenn ich es bin, so arbeite ich
jetzo für Herrn Weisen, in seiner Bibliothek. Essen und Kaffee ist
wieder die gesellschaftliche Stunde. Ich spiele auf dem Klaviere,
ich liege im Fenster, ich schwatze, ich höre, ich lese vor, eins ums
andre, manchmal alles zugleich, zuweilen nichts von allem. Zwey oder
drey Stunden sind auf die Art leicht hinweg geschwärmt. Sonntags sind
öfter Freunde bey uns, als andre Tage. Den vergangenen machte ich
eine neue Bekanntschaft. Der junge Herr v. **** besuchte mich mit
seinem Schwager, dem H*** ***. Der erste war von seiner Familie zum
Kaufmann bestimmt, von seinen Neigungen zum Studiren; und seine Talente
sind wenigstens nicht wider diese Neigung. Er hat großes Geld, --
schafft sich also eine prächtige Bibliothek, liest viel, hat prächtige
Instrumente und Musikalien, spielt gut auf dem Flügel, und macht seine
Person, die von Natur nicht sonderlich einnehmend ist, durch seine Mühe
und durch seinen Fleiß wenigstens hochachtungswürdig. --

Ordentlicher Weise gehe ich des Abends von fünf Uhr an spatzieren. --
Ganz allein; und welche Gesellschaft könnte mir auch angenehmer seyn,
als die, die ich mir alsdann aus allen vier Gegenden der Welt zusammen
hole? Shakspeare sagt: Die Welt ist nur eine Werkeltagswelt, wo alle
Sachen, gar nicht so, wie wir wünschen, und wie wir es einrichten
würden, sondern ihren gewöhnlichen alltäglichen Lauf kommen, sie mögen
nun dadurch unsern Wünschen in die Queere kommen, oder nicht. -- Um
also diesem Mangel abzuhelfen, schaffe ich mir alsdann auf meine Hand
eine andre, eine Feyertagswelt. In dieser Welt ist Ihr Mann kein
Advokat mehr, seine Arbeiten unterhalten ihn nur, aber sie nehmen ihn
nicht ganz ein, -- er lebt für den Staat nützlich, aber doch immer für
seine Gattin mehr, als für seine Klienten, -- in dieser Welt sind Ihre
Stunden alle heiter, alle voll Hoffnung, daß die künftige Stunde die
gegenwärtige an Glückseligkeit noch übertreffen werde. In dieser Welt
schreibt mein guter Reiz keine Register mehr; endlich in dieser bin ich
bey Ihnen, -- ich bin Ihr Bruder; meine Mutter ist Ihre Mutter, wir
machen alle nur eine Familie aus.

Aber nun muß ich Sie nur schon wieder sicher zu unsrer Welt
zurückbringen. -- Denken Sie nur, ein ganz neuer Auftritt. Heute früh,
eben in dem Augenblicke, da ich Ihren Brief schreiben will, schreibt
der Kriegsrath von Klöber, der ehemalige Hofmeister des ersten Sohns
vom Minister ****, mir einen französischen Brief. -- Der jüngste Sohn
des Ministers soll jetzo nach Halle gehn. -- Er schlägt mir vor,
ich sollte die Stelle als Hofmeister bey ihm annehmen. Zweyhundert
Thaler Gehalt; ein Engagement auf zwey Jahre; Hoffnung zu Reisen,
und die Versicherung befördert zu werden. -- Was meinen Sie, daß ich
gethan habe? Ich mußte noch denselben Morgen antworten. Die Sache war
dringend. Ich schicke Ihnen meine Antwort mit. Leben Sie wohl u. s. w.



Neunzehnter Brief.


    Den 30. September.

Nach Ihrem Briefe zu urtheilen, hatten Sie meinen Brief noch nicht
empfangen oder noch nicht gelesen, als Sie den Ihrigen schrieben. In
der That habe ich es mir schon vorgeworfen, daß meine Briefe immer so
lang und so übel geschrieben sind. Ich würde es Ihnen für übel halten,
wenn Sie sich die Mühe nehmen wollten, sie bis ans Ende zu entziffern.
Um es Ihnen also etwas leichter zu machen, und Ihnen doch dabey nicht
ganz unbekannt zu werden, werde ich Ihnen von nun an nichts als
Geschichte schreiben. Bringt der Himmel uns wieder zusammen, so werden
wir Zeit genug haben, Betrachtungen anzustellen. --

Wenn Sie also nun jetzo meinen vorigen Brief gelesen hätten, so wüßten
Sie, daß es noch nicht so ganz gewiß ist, ob ich in Breßlau diesen
Winter bleibe. Herr v. Klöber, bey dem ich gestern wieder gewesen
bin, schreibt heute noch ein Mal an den Minister; und die Antwort,
die wir künftigen Sonntag, erwarten, wird die Sache entscheiden.
-- Klöber hatte, wie er mir sagte, nicht sowohl zur Absicht, mir
selbst diese Hofmeisterstelle vorzuschlagen, als durch mich Jemanden
kennen zu lernen, der dazu tüchtig wäre. -- Er vermuthete, daß ich
schon andre gewissere Aussichten hätte, und daß ich das Reisen zu
einer nothwendigen Bedingung machen würde, das doch bey dem Sohne
des Ministers noch ungewiß wäre. -- Ich sagte ihm, daß der Entschluß
zu meiner künftigen Lebensart ziemlich fest, aber der Weg, den ich
dazu wählen wollte, noch gar nicht so bestimmt wäre; daß meine größte
Sorge sey, der Charakter des jungen Herrn oder seine Denkungsart könne
vielleicht nicht genug mit der meinigen übereinstimmen, um die Art von
Freundschaft und Vertraulichkeit zu errichten, die zu einer glücklichen
Ausführung meines Geschäfts unumgänglich wäre; daß endlich mir der
Aufenthalt auf einer Akademie noch weit lieber seyn würde, wenn ich
während desselben schon Vorbereitungen und Uebungen auf meine künftige
Lebensart anstellen könnte. Bey allen diesen meinen Antworten müssen
Sie daran denken, daß ich es mit dem Minister von *** zu thun hatte,
dessen Gewogenheit mir in jeder Verfassung von Gewicht seyn würde. --
Ich will Ihnen nicht erst sagen, was mir Klöber antwortete. Er war
außerordentlich gütig in der Beurtheilung meiner Fähigkeit zu einem
solchen Posten, -- er erzählte mir sein eigen Beispiel, -- endlich
versprach er, noch ein Mal an den Minister zu schreiben, und das, was
ich wünschte, ihm vorzutragen. --

Wenn Sie diesen v. Klöber kennten, so würden sie einen rechtschaffenen
Mann, einen Mann von Grundsätzen, von Geschmack und von einer großen
Belesenheit an ihm finden. Er ist sehr lange gereiset. Er spricht alle
drey moderne Sprachen gut. Er kennt die Litteratur von jeder; aber für
die Engländer ist er enthusiastisch. Sie sollten ihn von Shakspeare
reden hören!

Aber was machen Sie denn, beste beste Freundin? warum lassen Sie mir
denn nichts von diesen Ihren Geschäften, von Ihren häuslichen Unruhen,
von Ihren Bekümmernissen, von Ihren Vergnügen wissen? Warum wollen Sie
mir denn so ganz fremd werden? -- Warum mit mir eine so allgemeine
Sprache, die dem Kompliment so ähnlich sieht? Sie sagen mir wohl, daß
Sie mir noch gut seyn, -- aber bald möchte ich daran zweifeln, da Sie
mich so wenig Ihres Vertrauens würdigen. -- Wie wohl, ich bin heute
ohne dieß unruhig. Vielleicht giebt mein Gesicht den Gegenständen die
finstre Farbe, in der sie mir erscheinen. Ich habe endlich eine lange,
verdrießliche Arbeit geendigt. Ich schicke heute ein ganzes Packt an
Herrn Weisen. Von Gellerten habe ich Briefe, die mich ermahnen, hier zu
bleiben. -- Haben Sie nichts von Tralles gesehen? -- Leben Sie wohl u.
s. w.



Zwanzigster Brief.


Recht! liebe Freundin, von den Eindrücken am Morgen hängt das Vergnügen
oder der Verdruß des ganzen Tages ab. Ich folge Ihren Regeln und ahme
Ihrem Beispiele nach, -- und der erste meiner Gedanken ist heute für
Sie. Warum kann ich doch den Gang dieses Briefes nicht beschleunigen,
oder warum habe ich Ihnen nicht eher geschrieben, um Ihnen geschwind
genug zu sagen, wie richtig Sie gemuthmaßt haben. Ja, ja, tausend Mal
hat es mich gereuet, daß ich diesen Brief geschrieben hatte. Nicht,
als wenn es nicht einerley Empfindungen der Freundschaft wären, die
mir ihn damals eingaben, und die jetzt machen, daß er mich reut.
Aber diese Empfindungen hatten sich den Tag so wunderlich mit einer
Menge verdrießlicher Vorstellungen vermischt, daß Sie selbst diese
Gestalt annahmen und unter einer so fremden Miene beynahe unkenntlich
wurden. -- Ich hasse argwöhnische Freunde; ihre Zärtlichkeit besteht
bloß in dem Verdrusse, den sie leiden oder den sie verursachen.
Aber dem ungeachtet -- eine gewisse Art von Besorgniß begleitet die
Zärtlichkeit, und es kann Gelegenheiten geben, wo sie wirklich in
Argwohn ausbricht. -- So fürchtet Niemand die Verachtung mehr, als der
die Hochachtung wünscht, und der beständige Verdacht, gering geschätzt
zu werden, ist ein sicheres Zeichen des Stolzes.

„Ja, dachte ich, sie ist wohl noch meine Freundin, aber nicht mehr
so zärtlich, so feurig, als ehemals; sie nimmt nicht mehr an meinen
Angelegenheiten Theil; sie läßt mich nichts mehr von den ihrigen
wissen. -- Wer weiß, sind nicht diese gütigen Gesinnungen, von denen
sie mich versichert, ein bloßer zurückgebliebener Schimmer von
dem Feuer ehemaliger Empfindungen? Und warum, thörichter Mensch,
warum sollte sie dich auch mit dem hohen Grade von Freundschaft
lieben? Welche Verdienste hast du um sie, was für Dienste hast du
ihr geleistet, was für Beweise von deiner Freundschaft ihr gegeben?
Nein, nein! sie kann nicht ohne Ursache lieben; die Natur will, daß
Empfindungen, die auf einer bloßen Verblendung beruhten, mit ihr
zugleich aufhören. Die Einbildung schmückt zuweilen einen Gegenstand
weit über seinen Werth aus, und leiht ihm alle die schönen glänzenden
Farben, durch die er uns gefällt; -- aber dieser Schmuck fällt ab,
die Farben verlöschen und der Verstand kommt zuletzt und zerstört
die ganze Bezauberung. Ja! Abwesenheit und neue Eindrücke haben ihre
Wirkung gethan, -- und vielleicht, was ich, was sie selbst noch für
Zärtlichkeit hält, ist nichts als die Erinnerung, daß sie ehemals
zärtlich gegen mich gewesen ist.“

Stellen Sie sich nun meine Seele vor, die durch finstre Irrgänge von
melancholischen Betrachtungen bis auf diesen Punkt gekommen war,
und dann bewundern Sie die Gelassenheit, mit der ich meinen letzten
Brief schrieb. -- Die Seele bleibt nicht lange in einem Zustande des
Mißvergnügens, den sie sich selbst verursacht hat. Die Einbildungskraft
nimmt bald wieder einen andern Weg; die Vernunft kehrt sich die
lichtere Seite des Gegenstandes zu, -- und dann wundert man sich über
die feste Gewißheit, mit der man vor wenig Augenblicken Sachen glaubte,
die man jetzt für unmöglich hält.

„Nein, -- so fing meine Seele an, sich wieder zu erheben -- nein, die
Freundschaft kann in einer edlen Seele niemals ohne Grund entstehen;
-- und wenn sie einmal die Vernunft gebilligt hat -- kann sie alsdann
in derselben erlöschen? Diese falsche Demuth, mit der du dich selbst
erniedrigst, würde das Urtheil und die Wahl deiner Freundin verunehren.
Ja, du hast Verdienste um sie: die Begierde, ihr alle mögliche Dienste
zu leisten; ein Herz, welches sich fähig fühlt, um ihretwillen große
Schwierigkeiten zu überwinden; ein Gefühl, welches mit dem ihrigen
übereinstimmend und darauf gerichtet ist, sie, und wenn es möglich
ist, mit ihr gemeinschaftlich alle Menschen glücklich zu machen; --
dieß sind die einzigen Verdienste, die die Freundschaft verlangt, und
mit denen sie sich beruhigt. -- Und nun, dieses festgesetzt, warum
sollte dich ein Brief beunruhigen, der an sich voll von Gütigkeit,
-- nur deswegen dir nicht genug thut, weil er deinen Erwartungen
nicht entspricht? Du erwartetest von ihr Rath, Beyfall, Ermunterung;
du erhieltest dafür nur Versicherungen ihrer Freundschaft und ihres
Wunsches, dich wieder zu sehn. Würden diese dich nicht in einer jeden
andern Gemüthsverfassung, nur nicht in der, in welcher du warst,
zufrieden gestellt haben? -- Und du hast ihr einen Brief schreiben
können, der, wenn sie wirklich das wäre, was du argwöhnst, sie unwillig
machen; und wenn sie das ist, was du wünschest, sie kränken muß.“ --

Wie hätte ich in diesem Augenblicke den mit Vergnügen empfangen, der
mir diesen Brief wieder gebracht hätte! -- Sehen Sie, so bin ich
gestraft worden, noch ehe Sie es wünschen konnten, daß ich gestraft
würde. -- Aber da ich nicht das Ganze rechtfertigen kann, so muß
ich wenigstens einen Theil entschuldigen, -- wenigstens den Theil,
wo ich wünschte, mehr von Ihren Umständen zu wissen. -- In der That
ist das, was ich dabey dachte, was ich mir noch jetzo dabey denke,
nur dunkel, und es wird mir schwer, es auszudrücken, -- aber doch
empfinde ich, daß es etwas Wirkliches ist. -- Sehen Sie, mitten
unter diesen angenehmen Kreis von Vergnügen und Beschäftigungen,
die Ihre unschuldigen Tage ausfüllen, stehlen sich nicht oft kleine
Gelegenheiten und Ursachen zur Bekümmerniß, zur Sorge, zur Betrübniß,
zur Freude, zur Hoffnung? Kleine vorübergehende Wolken, die unsern
Himmel auf eine kurze Zeit verfinstern; unvorhergesehene kleine
Stürme, die uns von dem ordentlichen Laufe unsers Lebens auf einige
Augenblicke verschlagen; -- dann wieder auf einmal ein lächelndes,
schönes Ufer, eine unerwartete Aussicht, die die Krümmung des Stroms,
auf dem wir fuhren, uns verborgen gehalten hatte. -- So sehe ich Sie
vielleicht den einen Tag, bey einer kleinen Blässe, die Sie auf dem
Gesichte Ihrer Wilhelmine bemerken, oder bey einer kleinen Verminderung
ihrer gewöhnlichen Munterkeit, -- in eine ganze Reihe von sorgsamen
und traurigen Betrachtungen gerathen, die selbst die Vergnügungen
dieses Tages mit einem gewissen Nebel überziehn; und dann schweben
dunkle Bilder, wie die eines schwermüthigen Traums, auf dem Grunde
der Seele. Den andern empfing Sie vielleicht Ihre liebe Tochter mit
einem freudigen Lächeln, vielleicht erwiederte sie auf eine mehr als
gewöhnliche Art Ihre mütterliche Zärtlichkeit, und zeigte Ihnen von
fern die Belohnungen Ihrer Sorgfalt, in den süßen Ergießungen einer
kindlichen Dankbarkeit; vielleicht blickten durch ihre Bewegungen
oder durch ihre noch unartikulirte Sprache die ersten Strahlen der
aufgehenden Vernunft; -- und dieser Eindruck stimmte die Seele für
diesen Tag zu lauter angenehmen Bewegungen; -- dann wieder eine
zärtlichere Liebkosung von Ihrem Gemahl; ein unerwartetes Merkmal von
der Hochachtung eines Freundes; -- eine auffallende und mit Ihren Ideen
recht übereinstimmende Betrachtung eines Ihrer Schriftsteller; eine
glücklich ausgeführte Arbeit, -- ein vollbrachtes Werk des Wohlthuns
und der Menschenliebe: -- auf der andern Seite eine kaltsinnigere oder
eine zerstreutere Miene auf dem Gesichte Ihres Mannes; eine kleine
Uneinigkeit in Ihren Meinungen; selbst das Mißvergnügen über eine
Handlung, die man wünschte ändern zu können, weil sie unsern Absichten
und unserm Plane nicht vollkommen gemäß gewesen ist; -- alles das
ist es, was ich oft von Ihnen zu wissen wünschte, -- und wobey sich
mein ganzes Herz bewegen würde, wenn ich es von Ihnen hörte. -- O
Freundschaft, wenn deine geheiligten Bande zwey tugendhafte Seelen so
mit einander verbinden, daß alle Empfindungen und Gedanken der einen
in die andre übergehen, -- dann verdoppeln sich ihre Kräfte, Gutes zu
thun; ihre tugendhaften Regungen werden zu Entschlüssen; ihre Fehler
werden ihre Lehrer; und jede fliegt mit der zusammengesetzten Kraft
und Geschwindigkeit von beyden ihrem großen Ziele zu. Mein Herz ist zu
voll. Ich kann nicht mehr schreiben. --

Ich habe Zeit gehabt, mich von meinem Enthusiasmus wieder zu erholen.
Die älteste Tochter des D. Tralles ist den Augenblick bey uns gewesen,
und hat einen Brief von ihm aus Leipzig gebracht. Er hat bey O...
gewohnt. Professor Gellert hat ihn mit einer ungemeinen Freundschaft
aufgenommen; er hat ihm selbst wieder in dem O...schen Hause die
Gegenvisite gemacht. D. Ludwig hat seinen alten Freund erkannt, -- und
alle haben sich um die Wette bestrebt, ihm seinen kurzen Aufenthalt
angenehm zu machen. Er ist mit Leipzig und seinen Einwohnern so wohl
zufrieden, daß er ihnen beynahe auf unsre Unkosten Lobsprüche macht,
und sie ehrt, indem er seine Breßlauischen Freunde herunter setzt. Mir
ist bey dieser Begebenheit vorzüglich lieb, daß er mit der Aufnahme
Gellerts vergnügt gewesen ist. Ich habe dadurch ein kleines Verdienst
um Tralles, und einen Beweis von der Gewogenheit Gellerts.

Aber daß ich von Klöber noch keine Antwort habe, daß ich noch immer in
derselben Ungewißheit bin, in der ich meinen letzten Brief schrieb;
daß ich gestern, da nach Klöbers Vermuthung die entscheidende Antwort
vom Minister (der auf seinen Gütern ist) kommen sollte, gar nichts,
weder von ihm noch dem Minister, gehört habe: alles das ist mir höchst
verdrießlich, und bringt meine Seele in eine gewisse ungeduldige
Bewegung, die sie zu wenig Sachen geschickt läßt. -- Ich erhalte aber
vielleicht noch diese Woche die Antwort -- und dann will ich -- nicht
zur Strafe -- sondern zum Ersatz der unruhigen Stunden, die mich
Ihr und mein neulicher Brief gekostet hat, Ihnen auf den Sonnabend
schreiben. Alsdann sollen Sie zugleich etwas von meiner jetzigen
Lektüre hören. Denken Sie nur, ich lese die ~Fairy Queen~ von Spencer,
einem Dichter, ohne den Milton vielleicht nicht gewesen seyn würde.
-- Ich habe nicht geglaubt, ihn in Breßlau zu bekommen; aber es sind
einige sehr vollständige Englische Bibliotheken hier. Leben Sie wohl
u. s. w.



Ein und zwanzigster Brief.


    Den 4. Oktober.

So wenig steht es oft in unsrer Gewalt, unsre Wünsche, oder auch unsre
Versprechen zu erfüllen! Dieses kurzsichtige Ding, die Seele, macht
immer Entwürfe, ohne die Hindernisse eher zu bemerken, bis sie von
ihnen gestört wird; dann springt sie plötzlich auf, sieht um sich herum
nach Hülfsmitteln, findet keine, und überläßt sich endlich einem trägen
und unthätigen Mißvergnügen. Ungefähr dieß ist die Geschichte des
Briefes, den ich an Sie schreiben wollte, und den ich nicht geschrieben
habe.

Danken Sie es meiner Bescheidenheit, daß ich Ihnen die Erzählung
aller der kleinen Störungen und Geschäfte erspare, die jede für sich
nichtswürdig, doch zusammen genommen zum Herrn meiner ganzen Zeit
wurden. Ich werde mich nun hüten, Ihnen so bald wieder einen Brief
außer den gewöhnlichen zu versprechen. Denn nichts ist verdrießlicher,
als eine erregte Erwartung nicht befriedigen. Aber ich werde desto
aufmerksamer seyn, die Augenblicke ausfindig zu machen, wo ich, ohne
mich vorher angemeldet zu haben, bey meiner Freundin einen unerwarteten
Besuch machen kann.

Nun kommt Ihr Brief. -- O Sie haben also auf den meinigen gewartet!
Jetzt komme ich mir nicht bloß unglücklich, sondern strafbar vor. Ich
weiß, wie mir es seyn würde, hätten Sie mir ein ähnliches Versprechen
gethan, ohne es zu halten. Lassen Sie mich geschwind von dieser
unangenehmen Erinnerung wegeilen. Der Himmel wird schon heiter, der Weg
gut und die Luft kalt, um Pferd und Postillion hurtig zu machen, und
meinen Brief so geschwind als möglich zu Ihnen zu bringen.

Außerdem muß ich Ihnen sagen, daß ich jetzo nicht bloß ruhiger, sondern
auch vergnügter bin, als seit einigen Wochen. Vorgestern erhielt ich
einen Brief von Klöber. Die Sache mag wohl ungefähr so seyn, wie ich
vermuthete. Unterdessen weiß Klöber so wenig davon, als ich. So viel
hat er nur durch die dritte Hand gehört, daß in dem Plane des jungen
Herrn Veränderungen gemacht wären, daß er nach Frankfurt an der Oder
gehen sollte, wo ihn schon sein Gouverneur erwartete. Dieser Brief
bestätigt mein Urtheil über das Herz des Herrn von Klöber, denn in
Ansehung seines Verstandes ist es ohnedieß schon ausgemacht. Mich
dünkt, dieser Mann ist zu einer wahren Freundschaft gemacht. Er ist mit
den Großen umgegangen, ohne ihre Denkungsart anzunehmen, und ehrt die
Rechte der Menschlichkeit mehr, als alle die Unterscheidungen, die der
Stolz oder die Sklaverey eingeführt haben. Er liebt die Engländer, und
sein Charakter nähert sich wirklich dem ihrigen. Ich bin zufrieden, daß
ich jetzo einen würdigen Mann mehr kenne, und seine Freundschaft ist
für mich eine größere Akquisition, als eines Ministers Gnade. --

-- Das ist also die Ursache meiner Zufriedenheit. Aber das ist doch
noch nicht Vergnügen. -- So wissen Sie denn also, daß der Himmel will,
Sie sollen in die meisten meiner Vergnügen einen gewissen stillen aber
wirksamen Einfluß haben. Eine gewisse Beziehung auf Sie macht eine
Sache angenehm, die mir sonst gleichgültig wäre, und vermehrt den Werth
einer andern. --

Vor zwey Tagen tritt Herr von Grischanowsky, ein Russischer Kavalier,
der, mit einem Griechischen Popen zum Hofmeister, in Leipzig studirte,
in mein Zimmer. Sie müssen ihn ohne Zweifel wenigstens vom Fenster aus
gekannt haben. Ich bin zuweilen mit ihm in Gesellschaft gewesen; und
da mir Ebert seine Lernbegierde und seinen Fleiß rühmte, und an ihm
selbst mir seine natürliche Offenherzigkeit gefiel, so war mir sein
Umgang nicht ganz unangenehm, ob gleich zu einem guten Gesellschafter
sein Kopf noch zu leer und seine Zunge zu ungebildet ist. -- Diesen
ruft nun sein Vater, Gouverneur der Russischen Ukräne, zurück. Er reist
hier durch, und wird sich acht Tage hier aufhalten. Ein Bekannter
also, der vor wenig Tagen erst aus Leipzig kommt, der mit Ihnen auf
derselben Straße gewohnt hat, der Sie vielleicht gesehen hat, ohne Sie
zu kennen; der außerdem ein Schüler und ein Freund meines guten Eberts
ist; ein solcher Mensch, wenn er nur halb so gut wäre, wie der Herr von
Grischanowsky, muß mir ohne Zweifel sehr willkommen seyn. Er brachte
mir außerdem noch einen Brief von Ebert, worin dieser mich bittet,
seinem Freunde den Aufenthalt hier, so viel ich könnte, angenehm zu
machen. Ich habe nun nach meiner Art Anstalten dazu gemacht. Heute
Nachmittag kommt er zu mir, und da er die Flöte recht hübsch spielt,
so werden wir zusammen ein kleines Duett machen. Nach drey Uhr führe
ich ihn auf die beste unsrer Bibliotheken, und morgen zu Mittag ist
meine Mutter auf mein Verlangen so gütig gewesen, und hat eine kleine
Gesellschaft zum Essen gebeten, die sich ungefähr zur Gesellschaft des
jungen Herrn und seines Hofmeisters schicken wird. Zum Glück ist unter
meinen Verwandten ein Mann, der ehemals in Russischen Diensten als
Officier gestanden hat, der bis zu den äußersten Gränzen des Russischen
Reichs gegen China, den Nordpol und die Türkey gekommen ist, der
selbst Russisch spricht, und eine große Kenntniß von diesem Reiche und
seinen Einwohnern, und also natürlicher Weise (weil wir doch das, was
wir uns die Mühe gegeben haben, zu untersuchen, auch unfehlbar lieben)
auch viel Neigung für sie hat. Er ist jetzo Bau-Direktor von unsrer
Stadt, ein Mann von einer vollkommenen Kenntniß seiner Wissenschaft,
von einer sehr guten Einsicht in die Mathematik, und von einer
ausgebreiteten Erfahrung. Diesen werde ich zur Gesellschaft des jungen
Herrn bestimmen.

Für den Popen ist ein hiesiger Geistlicher, Herr ***, der ein recht
guter Gesellschafter seyn würde, wenn er seinen Kanzelton ablegen
könnte. Wenigstens hat er doch Neubegierde genug, sich von einem
Fremden recht viel erzählen zu lassen; -- und das ist immer schon ein
großes Verdienst. -- Den Nachmittag wollen wir alsdann, wenn das Wetter
günstig ist, in einem Garten zubringen, und dann des Abends wieder ein
kleines Koncert machen.

Kleinigkeiten von der Art würde ich sonst an keinen andern Menschen
schreiben. Aber weil wir doch in so viel Stücken ähnlich denken,
so werden wir vielleicht auch noch darin übereinstimmen, daß diese
kleinen Umstände uns am meisten in den Stand setzen, bey unserm Freunde
gegenwärtig zu seyn; und das ist immer für ein Herz, wie das unsrige,
wichtig.

Noch ist ein andrer von meinen Bekannten aus Leipzig, und noch dazu
mein Landsmann, obgleich aus dem entferntesten Winkel von Schlesien,
Herr von P****, angekommen. Er hat nach mir gefragt, und hat mich noch
nicht gefunden. Auch ich muß ihn sprechen, um alle Gelegenheit zu
nutzen, mich an die vergangene Zeit zu erinnern. Diese Besuche nehmen
mir einen großen Theil meiner Zeit weg, ob ich gleich außerdem nicht so
viel davon übrig habe. Von zehn bis zwölf habe ich meine Vorlesungen
mit dem Herrn v. K*** angefangen. Eine Stunde ist für die Philosophie,
die zweyte für die Römer und Griechen. Ich werde Ihnen künftig einmal
meinen Plan schreiben, nach dem ich das Studium der Philosophie
einrichten würde, wenn ich ganz Herr von der Einrichtung der Erziehung
eines jungen Menschen wäre. --

Jetzo muß ich auf Ihren Brief kommen. Daß Weise an mich gedacht und
von mir vortheilhaft gesprochen hat, ist mir lieb. Aber daß er nicht
schreibt, ist mir unbegreiflich. Ich habe ihm vor ungefähr 5 Wochen
einige Beyträge, die er selbst in vielen Briefen so gütig war, von
mir zu verlangen, geschickt. Ich habe ihm nach der Zeit noch ein Mal
geschrieben, nachdem ich seine Lieder durchgelesen hatte. Auch dieser
Brief ist schon wieder vierzehn Tage fort, und noch auf keinen eine
Antwort. In dieser Ungewißheit hat mich Ihre kurze Nachricht wirklich
getröstet; besonders da unser Reiz, den ich bat, noch an dem Tage zu
Weisen zu gehn, und mir von ihm Nachricht zu geben, Hindernisse muß
gefunden haben, meine Bitte zu erfüllen. Sagen Sie es doch unserm
Freunde im Vertrauen, daß der Entwurf unsrer Geschäfte nicht richtig
gemacht ist, wenn gar keine Lücken für unsre Freunde darin sind.

Sie nur, meine geliebte Freundin, Sie allein ersetzen mir den Verlust,
den mir die Arbeitsamkeit oder die Zerstreuung meiner übrigen
Freunde verursacht. Dank sey es der Liebe, die durch Ihre heftigen
Erschütterungen Ihrer Seele zuerst die Weiche, die Empfindlichkeit
und die schnelle Beweglichkeit gegeben hat, die sie jetzt so sehr zur
Freundschaft fähig macht.

Sie wollen, ich soll über die Liebe philosophiren. Ich wüßte nicht
leicht einen Gegenstand, der reicher und zugleich einnehmender wäre.
Aber heute sollen Sie anstatt meiner Philosophie nur Einen Vers
aus dem ältesten Englischen Dichter, dem Spencer, bekommen, der es
werth ist, daß Sie ihn kennen lernen. Sein Werk ist eine Ariostische
Epopee; noch unordentlicher, wenn es seyn kann. Aber einzelne
Stellen sind ausnehmend schön. Sein Werk besteht aus sieben Büchern,
wovon jedes eine gewisse Tugend unter einer Reihe von allegorischen
Rittergeschichten vorstellt. So fängt er das dritte Buch an, welches
die Keuschheit zum Gegenstande hat:

      ~Most sacred fire, that burnest mightily
    In living breasts, ykindled first above,
    Amongst th’ eternal spheres, and lamping sky,
    And thence pour’d into men, which men call Love;
    Not that same, which doth base affections move
    In brutish minds, and filthy lust inflame;
    But that sweet fit, that doth true beauty love,
    And chooseth vertue for his dearest dame,
    Whence spring all noble deeds, and never-dying fame.~

                      II.

      ~Well did antiquity a God thee deem,
    That over mortal minds hast so great might,
    To order them, as best to thee doth seem,
    And all their actions to direct aright etc.~

Von diesem Gedichte, von der Philosophie der Liebe und von meiner
jetzigen Lektüre werden meine nächsten Briefe handeln, wofern Sie mit
diesen Materien zufrieden sind. Lessings Dramaturgie werden Sie ohne
Zweifel schon gelesen haben. Außerdem müßten Sie nicht einen Augenblick
anstehen; nur müßten Sie suchen, die Stücke, die er beurtheilt, kurz
zuvor durchzulesen u. s. w.



Zwei und zwanzigster Brief.


    Breßlau, den 14. Oktober.

Wie haben Sie es über Ihr freundschaftliches Herz bringen können, mich
heute ohne Briefe zu lassen, da Sie es empfinden mußten, daß ich eines
neuen Zeugnisses Ihrer Freundschaft jetzo am meisten bedürfte? Aber
es ist nun einmal beschlossen, daß ich diese Woche in nichts ruhig
werden soll. Weiter wäre nichts nöthig, um mich auf diese ganze Woche
unglücklich zu machen, als daß sich in dem Innersten meiner Seele ein
kleiner Argwohn erhübe, und mich überredete, Sie wären unwillig, oder
welches mir noch weit unerträglicher wäre, gleichgültig. -- Denn daß
Sie oder einer von Ihren lieben Theuern krank seyn sollten, daran kann
ich gar nicht einmal denken. -- Aber fürchten Sie nichts. Ich arbeite
aus allen Kräften, alle Art von Argwohn bey mir zu zerstören, oder
ihm zuvor zu kommen. Außerdem, daß er unsern Freund beleidigt, und
uns kränkt, ist er noch eine gewisse Folge eines schwachen Geistes.
Ich setze nämlich zum Voraus (und ich bilde mir ein, daß das nichts
ist, als was ausgemacht ist), daß es Stärke des Geistes sey, eine
einmal durch Gründe erlangte Ueberzeugung, auch ohne immer neue und
wiederholte Beweise, in ihrer ersten Zuverlässigkeit zu erhalten, und
sie gegen die Angriffe, die die bloße Einbildungskraft auf sie thut, in
Sicherheit zu stellen. So sehe ich manche Leute an der Religion, oder
an der fortdauernden Existenz unsrer Seele zweifeln, nicht weil sie die
Gründe niemals erkannt, oder falsch gefunden hätten, sondern weil sie
zu schwach sind, vergangene Betrachtungen sich wieder gegenwärtig zu
machen, und weil das Bild von einer gewissen Möglichkeit, daß die Sache
anders seyn könnte, über ehemals gemachte Schlüsse die Oberhand hat. --
Wie? -- werde ich also zu mir selbst sagen, wenn der Anfall von Argwohn
heftig und gefährlich ist -- sollte mich dieser Brief erst lehren,
daß sie meine Freundin ist? Oder wenn dieses auch ohne ihn schon
ausgemacht war, kann mir alsdenn sein Ausbleiben mehr rauben, als ich
durch seinen Empfang würde bekommen haben? Ich würde wissen, was sie
macht, wie sie meinen Brief aufgenommen, ob sie mir vergeben hat. Das
ist es also, was ich nicht weiß; und ob es gleich immer unangenehm
ist, sich solche Fragen nicht eher als in vier Tagen beantworten zu
können, so ist es doch immer nur ein kleiner Aufschub. -- Und endlich,
konnte nicht mein feindlicher Dämon ihr eben solche Hindernisse in den
Weg gelegt haben, als ich selbst hatte, da ich am Sonnabend schreiben
wollte? Würde ich wünschen, daß sie das Ausbleiben meines versprochenen
Briefes einer andern Ursache als der Unmöglichkeit zuschriebe, ihn zu
schreiben? -- Ich will Ihnen diese Hindernisse erzählen, zuerst um
mich zu zerstreuen, und mich also gegen einen Feind zu sichern, der
aller meiner Entschließungen ungeachtet mich leicht überfallen könnte,
wenn ich unverwandt den ersten Gegenstand ansähe; und zum andern, weil
sie beynahe den wichtigsten Theil meiner Geschichte auf diese Woche
ausmachen.

Eben da ich im Begriff war, mich zum Schreiben zu setzen, kommt der
Bediente vom Herrn von Klöber, und bittet mich, in einer halben Stunde
zu ihm zu kommen. Es war Vormittags nach zehn. Ich ziehe mich in aller
Geschwindigkeit an, und gehe. -- Hören Sie, sagte er, indem er mich
empfing, der Minister ist gestern Abends unvermuthet angekommen, und
ich soll Sie jetzo den Augenblick zu ihm führen. -- Diese Nachricht war
mir nicht ganz unerwartet; denn da der Minister nicht antwortete, so
wußte ich dieß keiner andern Ursache zuzuschreiben, als daß er selbst
bald von seinen Gütern, wo er sich aufhielt, herein kommen wollte.
Beynahe aber wäre es mir lieber gewesen, ihm zuerst durch Briefe
bekannt zu werden, weil ich weiß, daß eine natürliche Furchtsamkeit,
über die ich nicht Herr bin, mir bey dem ersten Besuche selbst von
Leuten, deren Stand weit unter dem eines Ministers von Schlesien ist,
nicht die völlige Gegenwart des Geistes läßt, ohne die man sich niemals
von einer vortheilhaften Seite zeigen kann. Ueberdieß ist der Anblick
von Hoheit für ein etwas edles Gemüth immer zu demüthigend, als daß
man mit der ganzen Freyheit und Freudigkeit des Geistes handeln könnte,
die allein unsern Reden und Handlungen Anmuth geben kann. Wir gingen
also hin. Die Abwesenheit des Ministers hatte die Geschäfte gehäuft;
wir waren nicht die einzigen, die auf einen Augenblick warteten, wo sie
ihn sprechen könnten. Endlich kam der Minister aus seinem Kabinet, und
ging auf uns zu. Herr von Klöber stellte mich ihm vor. Der Minister
that an mich nichts als die gewöhnlichen Fragen, wer meine Eltern
und meine Verwandten wären, wo ich studirt hätte, wie lange ich hier
wäre; lauter Fragen, die in jedem andern Munde wenig in Verlegenheit
setzen würden, und die doch in dem Munde eines Ministers auf gewisse
Weise niederschlagend seyn können. Ich beantwortete sie so kurz, als
ich konnte; -- aber das hätte ich nicht geglaubt, daß dieß alles seyn
würde; ich hielt sie nur für eine Einleitung zu einem Gespräche, das,
wie ich hoffte, der Hauptsache näher kommen, für den Minister wichtiger
und mir angenehmer seyn würde. Aber in diesem Augenblicke kehrte er
sich zu dem Bedienten, der im Zimmer stand. „Ist der Doktor noch bey
meiner Frau?“ -- „Ja, Ihre Excellenz!“ -- „Nun, so muß ich wohl noch
einen Augenblick zu ihr gehen; kommen Sie nur zu Tische. Sie auch, Herr
v. Klöber.“ -- Und damit war er fort. --

Wir kamen also gegen die in diesem Hause gewöhnliche Tischzeit, gegen
zwey Uhr wieder. Die ganze Gesellschaft, die auf diesen Tag eingeladen
war, versammelte sich nach und nach im Vorzimmer. Ich lernte bey dieser
Gelegenheit den Graf Dönhof, einen Kriegsrath, den geheimden Rath
Meinike und noch eine ganze Menge andrer kennen, die größtentheils
Männer von vielem Verstande sind. Der Minister erschien nicht eher als
um halb drey Uhr. So lange hatten ihn seine Geschäfte aufgehalten. --
In diesem Augenblicke setzten wir uns auch zu Tische. Die Gemahlin des
Ministers und seine noch unverheyrathetete Tochter waren die einzigen
Damen an der Tafel. Die Damen sprachen bloß französisch. Ueberhaupt
waren die Gespräche gleichgültig. Der Minister bestimmte selbst ihren
Gegenstand, und da sie größtentheils Begebenheiten betrafen, die ich
nicht wußte, so war es ganz natürlich, daß ich dabey stumm war.

Die Tafel dauerte bis 5 Uhr; und so wie der Minister aufstand, so ging
er auch ohne einen Augenblick zu warten, in sein Cabinet zurück, wo
ihn schon wieder eine ganze Menge Leute und Geschäfte erwarteten. Wir
unterhielten uns noch eine kleine Weile in dem Tafelzimmer. Herr von
Klöber sagte endlich, da er sahe, daß die Hoffnung, diesen Nachmittag
bey Sr. Excellenz vorzukommen, vergeblich wäre, daß wir uns beurlauben
wollten, und daß er dem Bedienten aufgetragen hätte, ihn zu rufen,
sobald der Minister nach ihm fragen würde. Von diesem Augenblicke an
nun weiß ich wieder nichts, und die ganze Sache ist noch nicht einen
Schritt weiter. Ich wünschte sie nur entschieden, nur auf irgend eine
Art entschieden zu sehn; denn die Ungewißheit ist unter allen das
schlimmste u. s. w.



Drey und zwanzigster Brief.


    Den 28. Oktober.

Allemal, wenn ich mich niedersetze, an Sie zu schreiben, ist mein
Kopf von Gegenständen, die alle geschrieben seyn wollen, so voll, daß
ich über der Wahl endlich den größten Theil davon vergesse, oder mein
Brief und die Zeit schon zu Ende ist, wenn ich noch kaum über den
ersten Punkt heraus bin. Indem ich alsdann den Brief schließe, und
es empfinde, wie wenig ich Ihnen gesagt habe, und wie viel ich Ihnen
noch zu sagen hätte; so ärgere ich mich über den elenden Ersatz, den
ein kurzer kaum angefangener Brief für den Umgang mit einer solchen
Freundin, wie Sie sind, thun soll. Ich thue mit dem Kinde in Weisens
Liede den Wunsch:

    O wenn ich doch ein Vogel wär,
    So schnell und federleicht,
    Der über Berg und Thäler hin
    Im Augenblicke streicht!
    Dann flög’ ich über Land und See,
    Durchreiste jeden Ort,

Wär bald -- wo denn? Gewiß nirgends, oder doch nirgends öfter, als
bey Ihnen. Was für einen kleinen freundschaftlichen Schrecken würde
ich Ihnen nicht abjagen, wenn ich, ehe Sie sich es versähen, den
gegenüberstehenden Stuhl an Ihrem Fenster einnähme, indem Sie an
dem andern sitzen. Ich sehe schon zum Voraus, ich würde kein Wort
vorbringen können, ich würde stammeln, und wenn ich meine Stimme wieder
hätte, so würden es nur gebrochene Laute seyn, die ich vorbrächte. --

Weg, angenehme Schwärmerey, die geschwind genug meine Einbildungskraft
ganz anfüllen, und dann aus meinem Briefe alle wichtigere Gegenstände
verdrängen könnte! -- Nun habe ich mir in meinem Kopfe gewisse Punkte
geordnet, unter welche dieser Brief gebracht werden soll. Aber ich sage
sie Ihnen nicht zuvor, bis ich erst sehe, wie viel ich davon zu Stande
bringe. Sage ich jetzo nur wenig, so können Sie immer glauben, ich
habe nicht mehr schreiben wollen, da Sie sonst hätten denken müssen,
ich hätte nicht mehr schreiben können. Also zur Sache:

Zuerst fragen Sie mich in Ihrem vorletzten Briefe, ob ich Ihre Briefe
aufhebe? Die Frage würde fast eine kleine Beleidigung seyn, wenn
ich nicht, die Wahrheit zu sagen, ähnliche Beleidigungen auf meiner
Rechnung hätte. Meine Mutter ist die Depositaria davon, so wie von
Ihren Porträts. -- Also wollen Sie diese wirklich wieder haben? Ich bin
in der That so unverschämt gewesen, sie schon für ein halbes Geschenk
anzusehen. Unterdessen, wenn Sie über das Porträt Ihres Gemahls Herr
sind, so sind Sie es doch nicht über das Ihrige. Ich werde Ihnen das
erste zurück schicken, wenn Sie es so befehlen, aber ich werde dadurch
mein Recht auf das andere nur verstärkt glauben. Meine Mutter, die Sie
wahrhaftig liebt, würde an dem Schmerz Theil nehmen, den es mich kosten
würde, dieses kleine Stück von Ihnen selbst aus den Händen zu geben.
Indessen, wenn Sie darauf auch bestünden; so muß ich Ihnen nur sagen,
daß die Gelegenheiten, solche Sachen zu schicken, nicht so häufig sind;
und ich habe immer in meiner Macht, zu sagen, daß ich keine gehabt
habe. Sehen Sie eine andere kleine Beleidigung in Ihrem vorletzten
Briefe, die ich ungeahndet gelassen habe.

Aber nun auf Ihren jetzigen zu kommen, der so voll von Freundschaft
und gutem Herzen ist, und der mich würde zu Ihrem Freunde gemacht
haben, wenn ich es noch nicht wäre; so muß ich nur Ihre zu große
Demuth ein bischen schelten. Sage nur deiner Freundin, sagte meine
Mutter, indem sie Ihren Brief las: Eine Frau, die eine so edle Freude
an einer guten Handlung haben konnte, als die ist, die sie in ihrem
Briefe erzählt, kann vieler andern Vorzüge entbehren. Glauben Sie
nur, dieses Herz, welches Ihnen der Himmel gegeben hat, ist immer das
größte Geschenk, welches er einem Sterblichen machen kann. Ohne dieses
Herz ist der Verstand ein bloßes blendendes Licht ohne Wärme, und die
Schönheit eine unbedeutende Form. Aber dieses Herz kann der Schönheit
und selbst höherer Einsichten entbehren, und doch immer noch nicht
bloß liebenswürdig sondern verehrungswerth bleiben. Wenn aber diese
glückliche Verbindung zwischen Empfindung und Einsicht, zwischen dem
Kopf und dem Herzen vorhanden ist, die ich in meiner Freundin finde und
hochschätze, wenn der eine der Diener ist, die gutthätigen Absichten
des andern auszuführen: dann kann das Glück immer seine übrigen Güter
zurückhalten; die Natur hat ihm schon genug vorgearbeitet, um in jedem
Umstande, in jeder Verfassung, selbst unter den Beunruhigungen, die
eine Folge dieser Eigenschaften sind, die Person selbst glücklich, und
andre zu ihren Verehrern und Freunden zu machen. --

Um Sie nun in Ansehung meiner in Ruhe zu stellen, so muß ich Ihnen
sagen, daß, ob ich gleich noch keine Nachricht habe, ich doch die
Sache für entschieden halte, und auch recht zufrieden damit bin, daß
sie entschieden ist. -- Wenn man bey einer Reise in der Nacht lange
Zeit ohne seinen Weg zu sehen, fortgegangen ist, und nicht gewußt hat,
ob man nicht vielleicht in fremden und unwegsamen Wüsten herumirrt;
wenn dann auf einmal ein aufgehender heller Stern uns zeigt, daß wir,
ohne es zu wissen, noch immer auf dem rechten Wege sind, und von einer
unsichtbaren Hand geleitet, unvermerkt dem Ziele unsrer Bestimmung
näher kommen: dieser Freude ist diejenige gleich, die man fühlt,
wenn man mitten unter dem Zusammenlauf mannichfaliger und uns oft
unangenehmer Begebenheiten einen einzigen fortgehenden Plan erblickt,
der mitten unter diesen verschlungnen Irrgängen immer fortgesetzt
worden ist, und durch alle die Hindernisse, die uns beunruhigten, nicht
aufgehalten werden konnte.

Ich kann Ihnen nicht das ganze Räthsel erklären, wie ich zu dieser
Betrachtung komme. In der That aber glaube ich Ursache zu haben,
zufrieden zu seyn, wenn ich dem Minister mißfallen habe u. s. w.



Vier und zwanzigster Brief.


    Den 11. November.

Lassen Sie uns immer einige unsrer Erwartungen fehlschlagen, der
Himmel versorgt uns dafür wieder mit Vergnügen, auf die wir weder
Anspruch noch Hoffnung hatten. So war der Brief, den ich gestern von
ihrem lieben Gemahl, so die zwey Briefe, die ich zu gleicher Zeit
von Herrn Weisen erhielt. Meiner Mutter und mir waren Ihre Briefe,
wenn nicht eben so unerwartet, doch gewiß eben so erwünscht. Alle
so voll von Freundschaft, Liebe, Zärtlichkeit, daß mein Herz in
unaussprechlichen Empfindungen überfloß, und wenn der Geist Kraft
genug hätte, diese Einschränkung des Raums und seine enge Wohnung zu
durchbrechen, wenn er, ohne seinen schweren Gefährten, den Körper,
mitzunehmen, mit ätherischer Leichtigkeit mit seinen Wünschen in
gleicher Geschwindigkeit sich bewegen könnte, so wäre Ihr Wunsch und
der meinige gestern erfüllt, ich hätte Sie alle, alle gesehn; auch ihn,
meinen guten und zu geschäftigen Freund, dem ich für den Brief, den er
an mich schreiben will, gern alle die erlasse, die er nicht geschrieben
hat. Ich danke es Ihnen recht sehr, liebster Freund (ich rede jetzt mit
Ihrem guten Manne), daß Sie für die Erhaltung meiner Freunde -- der
größten Glückseligkeit die ich kenne, -- oder welches eben so viel ist,
für meine Gewißheit, daß ich sie noch besitze, so viel Mühe und Sorge
über sich nehmen. --

Weise ist in der That einer von meinen schätzbarsten Freunden, und,
Dank sey es seinem gütigen Herzen, auch von meinen zärtlichsten. Ich
habe zwey lange Briefe von ihm bekommen, die beyde vortrefflich sind,
wenn sie nur nicht gar zu schmeichelhaft für mich wären. Meine Mutter,
die an meiner ganzen Correspondenz Theil nimmt, sorgt immer, meine
Freunde werden mich verderben. Und in der That, ich glaube beynah, ihre
Furcht ist nicht ganz ungegründet. -- Aber nun verderben oder nicht,
so werde ich doch nimmermehr zugeben, daß selbst die übertriebenen
Lobsprüche von Freunden mit Schmeicheleyen einerley wären. Wenn uns
die ersten in einen kleinen Irrthum über unsre Verdienste führen, so
sind sie zuerst selbst darin. Ihr Herz hat zuerst ihrem Verstande den
unschuldigen, und beynahe sagte ich, zur Freundschaft nothwendigen
Betrug gespielt; und hundertmal mehr können sie sagen, als wahr
ist, aber niemals ein Wort mehr als sie denken. Da fängt erst die
Schmeicheley an, wo der Ausdruck größer ist als die Gesinnung, und
unser Verstand den Werth des andern richtiger bestimmt, als unsre
Worte. --

Der eine Brief von Weisen war schon längst vorher geschrieben, und war
mit einem kleinen Geschenk von Büchern, das er mir bestimmte, einem
hiesigen Buchhändler übergeben worden, der eben erst gestern ankommen
mußte; der andre kam mit der Post, und den habe ich vielleicht zum
Theil Ihnen zu danken.

Darf ich Ihnen nun wohl noch erst sagen, daß gestern einer von meinen
angenehmsten Tagen gewesen ist, oder vielmehr Stunden, -- denn eine
von den größten Sonderheiten, ich weiß nicht ob der menschlichen
Natur oder der meinigen (leider vermischen sich diese beyde nur gar
zu oft in den Augen des Beobachters; aber genug, ich empfinde sie,
diese Sonderheit, und wie ich sie empfinde, so will ich sie Ihnen
ausdrücken; vielleicht entdecken wir wieder einen neuen Punkt, wo unsre
beyden Seelen an einander gränzen); und die seltsamste Wirkung des
Vergnügens ist gewiß Schwermuth; und demungeachtet ist es bey mir die
gewöhnlichste, wofern das Vergnügen nur mehr empfindlich als rauschend
ist. Wenn meine Seele nach der Befriedigung gewisser Begierden
geschmachtet hat, und sich diese ihr endlich mit einemmale anbietet;
so weigert sich die Seele gleichsam einen Augenblick, dieselbe
anzunehmen; sie entzieht sich dem Genusse eines Vergnügens, das sie
für zu schmeichelhaft hält, als daß sie sich gleich überzeugen könnte,
daß es für sie wirklich bestimmt ist, und das Herz verschließt sich
vor den Eindrücken, die es doch so sehnlich erwartete. Nach und nach,
wenn die erste Bestürzung vorüber ist, wenn sich die angenehmen Bilder
in der Einbildungskraft anhäufen, wenn die wiederholten, aber sanften
Schläge des Vergnügens diese muthwillige Unempfindlichkeit überwunden
haben, öffnet sich das Herz wieder; die Empfindungen strömen von allen
Seiten zu und erfüllen es; die Bewegungen werden lebhafter, das Gesicht
heitrer; unsre ganze Seele bekommt eine Art einer neuen Existenz, und
diese Empfindung von der Verdoppelung ihrer Kräfte verbindet sich noch
mit den Eindrücken des Vergnügens, um diesen glückseligen Zustand eine
Zeitlang zu erhalten.

Wer in diesen Augenblicken die Gabe zu gefallen, wenn sie auch ihm
sonst fehlt, nicht durch die Zauberkraft des Vergnügens erhält, der mag
es nur aufgeben, jemals zu gefallen. In der That ist ein von Vergnügen
durchdrungnes Herz schon an sich der angenehmste Gegenstand für den
Zuschauer; und außerdem hat der Mensch niemals mehr, als in diesen
Zeiten, seine eignen Talente zu seinem Gebote; seine Ideen werden
lebhafter, seine Einfälle gelingen, sein Witz verliert den Zwang und
die Steife; und alles, was er sagt, bekommt durch die harmonischen
Züge, mit denen sein Gesicht es bekräftigt, und durch eine gewisse
lebhafte und doch anständige Bewegung, mit dem es begleitet wird, mehr
Kraft und mehr Anmuth.

O wenn diese glücklichen Augenblicke fortdauern könnten! Ich habe von
der Macht des Vergnügens so große Ideen, daß ich glaube, es könnte
Trägheit in Feuer, und Dummheit in Witz verwandeln, wenn wir erst die
Kunst erfunden hätten, es dauernd zu machen. -- Aber so verzehrt sich
die Freude, wie eine Flamme, durch ihre eigne Stärke. -- Die Spannung
der Kräfte, ohne welche sie nicht entstehen würde, bereitet schon die
Erschlaffung vor, mit der zugleich die Schwermuth zurück kehrt; der
Genuß erfordert eine gewisse Anstrengung, die wir nicht gewahr werden,
weil sie angenehm ist, und die uns erst die darauf folgende Erschöpfung
entdeckt; und durch eine unausbleibliche Rückkehr, die ein Gesetz der
ganzen Natur ist, sinkt die Seele eben so tief unter ihre gewöhnliche
Höhe, als sie sich über dieselbe erhoben hatte.

Ich sehe, ich verliere mich in einer Art von Philosophie, die für
mich alle Mal gefährlich ist. Ich grüble vielleicht gar zu gern über
meine eignen Empfindungen, und oft verliert sich mir der Gegenstand
aus dem Gesichte, indem ich seine Wirkungen aufsuchen will. -- Was
ich eigentlich zu sagen vorhatte, ist dieß. Eine so große Anzahl von
Beweisen der Zärtlichkeit und Freundschaft der würdigsten Personen
hatten meiner Seele eine gewisse Selbstzufriedenheit gegeben, die nicht
Eitelkeit, -- aber doch höchst süß ist. Aber eben diese verlor sich mir
unter der Hand, als ich sie eben erst bemerkte. Auf sie folgte eine
gewisse Furcht, daß einmal eine Zeit kommen könnte, wo diese Freunde
von mir richtiger oder strenger urtheilten; eine Art von Kummer, wie
ich so vortheilhaften Meinungen und so günstigen Erwartungen, die sie
von mir hätten, ein Gnüge leisten könnte. -- Ich schien mir unter
einer Art von Verbindlichkeit zu erliegen, die mir ihre Gütigkeit
auferlegt hatte, und indem ich mein eignes nichtsbedeutendes Selbst
mit dem vergrößerten und geschmeichelten Bilde verglich, welches sie
als ähnlich mit mir annehmen; so wurde mir angst, daß ein solcher
Irrthum einmal vielleicht aufgehoben werden, und irgendwo ein solcher
unglücklicher Brunnen seyn möchte, wie ihn Ariost beschreibt, der,
wenn man ihn kostet, alle Verblendungen der Liebe heilt, und dem
bloßen kalten Verstande alle seine Freyheit zurück giebt, zu prüfen.
Dieser Wunsch, meinen Freunden zu zeigen, daß ich ihrer nicht unwürdig
sey, mit der Unmöglichkeit, die ich vor mir zu sehen glaubte, ihn zu
befriedigen, brachte eine Art von Aengstlichkeit in mich, die endlich,
ohne ihren Gegenstand zu wissen, nach etwas suchte, was mir fehlte, und
was sie doch nicht finden konnte.

Sehen Sie nun, würde eine andre Freundin, gegen die Schwachheiten
ihres Freundes weniger nachsichtig als Sie, eine solche Anatomie
seiner eignen Thorheiten ertragen; besonders wenn ich darüber das
vergesse, was Sie eigentlich von mir wissen wollten, und was ich auch
zu schreiben im Sinne hatte? -- Herr von Grischanowsky ist beynahe
alle Tage bey uns, wenigstens eine oder zwey Stunden. Meine Mutter ist
ihm seines wirklich guten Herzens wegen recht gut worden. In der That
habe ich in ihm noch weit edlere Gesinnungen entdeckt, als ich selbst
in Leipzig in ihm kannte. -- Aber sein Hofmeister -- ob er gelehrt
ist, das mag er selbst am besten wissen, -- aber daß er höchst grob,
unempfindlich gegen alle Höflichkeit, bäurisch stolz, und ohne alle
Annehmlichkeit im Umgange ist, das wissen wir leider alle, die wir ihn
in unsrer Gesellschaft gehabt haben. Jetzo bitte ich nur immer den
jungen Herrn ohne ihn u. s. w.



Fünf und zwanzigster Brief.


    Den 18. November.

O wenn Sie wüßten, was mich Ihr Brief für einen traurigen Tag gekostet
hat, Sie würden ihn nicht geschrieben haben, oder Sie schrieben
heute einen zweyten, um ihn zu widerrufen! Aber gewiß, gewiß, Sie
werden keinen schreiben. -- Ich lese ihn wieder, Ihren Brief, und er
beunruhigt mich noch mehr. Ich sollte weniger zärtlich gegen Sie seyn,
-- ich sollte mich dem Brunnen des Ariosts nähern, +von dem einige
Freunde vielleicht schon getrunken haben+. Wer sind diese Freunde?
-- Setzen Sie einmal (um einen Satz, den ich nur in Absicht auf mich
wahr hielt, auf die Freundschaft überhaupt auszudehnen), setzen Sie,
daß eine Art von Uebertreibung dazu gehöre, um den Grad von Liebe
hervor zu bringen, ohne den die Freundschaft kalt und die Ehe in
kurzem beschwerlich ist; setzen Sie, daß unsre Einbildungskraft die
Vollkommenheiten unsers Lieblings vergrößern müsse, wenn sie das Herz
mit der gehörigen Stärke treffen sollen; setzen Sie dieß alles: so
behaupte ich doch, daß selbst diese Verblendung Größe des Geistes
voraus setze, und daß es Stärke des Geistes sey, sie zu erhalten.
Achten Sie also ja nicht meine Theorie für so gefährlich, daß sie den
Kaltsinn für eine natürliche Folge der Ueberlegung erklären sollte.
Wenn er eine beständige Eigenschaft unsers Herzens ist, so ist es
Kleinheit, und folgt er auf einen feurigen Anfang, so ist es Schwäche
der Seele. -- Sie hatten neulich eine Philosophie der Liebe von mir
verlangt. Hier sind einige kleine Züge davon, auf die mich diese
Betrachtungen natürlicher Weise leiten.

Man kann immer sicher vermuthen, daß in den Meinungen etwas Wahres
sey, die allgemein von den Menschen angenommen werden; und die in den
rohesten Zeiten zuerst. Die Wirkung der Natur, und die Gesinnungen,
die unmittelbar durch den Einfluß der Dinge um uns herum hervor
gebracht werden, erkennt man am besten in den Epoquen, wo wenig andre
Principien der menschlichen Gedanken vorhanden sind. Nun in diesen
Zeiten war Tapferkeit und Liebe die größte Tugend der Männer, und
Keuschheit, oder mit einem andern Worte, Beständigkeit und Treue das
einzige Verdienst der Frauen. Die Rittergeschichten, so ausschweifend
sie sind, vergnügen mich demungeachtet um dieser richtigen und mit der
Natur harmonirenden Grundsätze willen, die allenthalben durchblicken,
und ohne die selbst diese Ausschweifungen nicht Statt gehabt hätten. --
Wenn die Philosophie sich nun damit bemengt, den Grund dieser Gesinnung
zu erklären, so kann es seyn, sie geräth auf falsche Ursachen; der
Zusammenhang dieser Leidenschaft mit den wesentlichen Vollkommenheiten
des Menschen kann vielleicht durch eine ganz andre Kette gehen, als die
ich einsehe; -- aber sie thut demungeachtet ihr eigentliches Werk, sie
ist in ihrem Berufe. Denn wozu soll Philosophie, wenn sie nicht die
Meinungen und Neigungen, die die Seele einnehmen, ohne daß sie weiß,
woher sie sie hat, als Phänomene behandelt, deren Ursprung gefunden
werden soll? Meine Erklärung ist diese.

Jede unsrer Ideen ist nach einem gewissen Eindrucke gebildet, den die
Empfindung zuerst in unsrer Seele hervor gebracht hat. Diese Eindrücke
zergliedern, zusammen setzen, anders ordnen, als sie zuerst in die
Seele gekommen sind, das ist alles, was die Seele damit thun kann.
Ideen, deren Theile nicht ursprünglich sinnliche Eindrücke wären, sind
unmöglich. Der Umfang, die Lebhaftigkeit, kurz alle Vollkommenheiten
unsrer Ideen (und diese machen doch wohl den eigentlichen Vorzug des
denkenden Wesens aus) hängen von der Beschaffenheit dieser ersten
Impressionen ab. Sind die Gepräge, die die Gegenstände in unsrer Seele
abdrücken, richtig und vollständig, so werden ihre Kombinationen
ebenfalls richtig seyn, und der Kopf wird helle; sind sie tief und
stark, so werden ihre Kombinationen lebhaft und eindringend, und der
Geist wird schön. Die Kraft zu empfinden ist also die vornehmste
Fähigkeit der Seele, nach deren Größe sich die übrigen richten. Sie
verschafft die Materialien, aus welchen die übrigen bauen; sie bemahlt
zuerst die leere Fläche der Seele mit den Bildern, aus denen die
übrigen auf eben die Art neue machen, wie Apelles seine Venus aus den
schönsten Theilen der Mädchen von Gnidus zusammen setzte. Die Größe
der Seele besteht in der Fähigkeit, viele und große Eindrücke auf
einmal zu bekommen, und sie ohne Verwirrung zu erhalten. Die Stärke der
Seele, in der Fähigkeit, einmal empfangene Eindrücke nicht durch den
beständigen Zufluß von neuem verlöschen zu lassen, sondern sie gegen
das unaufhörliche Reiben neuer Ideen unverletzt zu erhalten. --

Sie sehen schon, wie nahe wir zu Ihrer Lieblings-Leidenschaft gekommen
sind. Eben dieselbe Lebhaftigkeit, dasselbe Feuer der Impression, durch
welche große Geister gebildet und große Unternehmungen vorbereitet
werden, bringt diese reizende Tochter, die Liebe, hervor, wenn
die Vollkommenheiten eines andern denkenden Wesens der Gegenstand
sind. Eben diese Dauer, dieses Anhalten der Impression, welche dem
Mathematiker die langwierigsten Untersuchungen zu Ende bringen
hilft, und die weitaussehendsten Entwürfe durch alle Hindernisse und
Schwierigkeiten verfolgt, bringt die Treue in der Freundschaft, und
die Beständigkeit in der Liebe hervor. Wenn sich nun noch mit der
Empfindung, welche Vollkommenheit und Schönheit erregen (und das ist
alles, was bey der Freundschaft nothwendig ist), noch diese süße
Wallung, dieses Gefühl von Lust verbindet, die das Eigenthum der Liebe
ist; wenn der Körper, sonst ein Störer unsrer geistigen Vergnügungen,
sie hier unterstützt, und seinem edlern Theile zu neuen Quellen von
Empfindungen verhilft: dann steigt vom Himmel diese ehrwürdige Göttin
herab, und knüpft zwey menschliche Wesen mit unauflöslichen Banden
an einander; dann weist sie jedem von ihnen als den vornehmsten
Gegenstand und die größte Uebung seiner Empfindungskraft, seinen
Geliebten an. Von ihm soll die Seele diese ewig dauernden Einflüsse
bekommen, die ein Beweis und eine Ausübung ihrer eignen Kraft sind.
Durch diese Gewohnheit gestärkt, und durch diese unaufhörliche
Uebung erhöht, soll seine Empfindung sich von da aus über das ganze
Gebiet von Vollkommenheit und Schönheit ausbreiten; sich nach jeder
Tugend, jeder Vortrefflichkeit ausstrecken, dieselbe umfassen, und
durch eine untergeordnete, aber eben so unveränderliche Liebe mit
sich verbinden. -- So wie die allgemeine Menschenliebe durch die
beständige, aber stufenweise Erweiterung der Familienliebe entsteht;
so wird in edlen Seelen die Tugend durch die Liebe geboren. Die in dem
Geliebten koncentrirte Empfindung entwickelt sich, und geht von einer
Vollkommenheit zur andern, die alle zusammen in dem Gegenstande der
Liebe durch ein dunkles Gefühl wahrgenommen wurden. Die Seele erlangt
die Macht, den äußern Dingen und dem Strome ihrer eignen Ideen zu
widerstehn; sie lernt, mitten unter den beständigen Revolutionen, die
der stets veränderte Eindruck der äußern Dinge in unsern Gesinnungen
hervor zu bringen sucht, die Ideen, die ihr wichtig sind, aufrecht zu
erhalten; und so lehrt die Liebe einen verständigen Geist denken, und
ist die Vorbereitung zur Tugend für das Herz u. s. w.



Sechs und zwanzigster Brief.


    Den 21. November.

Noch ist die Sonne nicht über dem Haupte meiner schlafenden Freundin
aufgegangen. Aber ich, von der Freundschaft und der Begierde bey ihnen
Ihnen zu seyn aufgeweckt, empfinde ein weit süßer und höher Vergnügen,
als Sie selbst in den Armen des Schlafs. Unter dem Schirme dieser
stillen und ehrwürdigen Dunkelheit, die noch Ihr Schlafzimmer bedeckt,
kann ich ungestört den angenehmen Schwärmereyen nachhängen, die von
dem Gelärme und den Zerstreuungen des Tages verdrängt werden. Mich
dünkt, ich sehe Sie mit der Miene der Unschuld, und mit einem gewissen
sanften Lächeln, das durch fröhliche Träume hervor gebracht wird, an
der Seite Ihres lieben Gatten. Wenn Ihre tugendhafte Seele, für die
Ruhe und Glückseligkeit erschaffen, zuweilen durch die verdrießlichen
Zufälle des Tages aus sich selbst heraus gerissen, und mit einer
unruhigen Heftigkeit von Gegenstand zu Gegenstand umher getrieben wird,
so kehrt sie doch des Nachts wieder zu sich selbst und zu der Wohnung
der Zufriedenheit und der Ruhe zurück. Der Geist, der des Tages über
oft von seinem Gefährten, dem Körper, Befehle annehmen mußte, wird
nunmehro ganz wieder sein eigen, und bringt unter den Bildern, die
ihm vorher aufgedrungen wurden, jetzo nur die reinsten und schönsten
wieder hervor. O möchten Sie doch beym Erwachen diese muntre und
fröhliche Heiterkeit, diese Erhöhung Ihrer Kräfte, diese wiedererlangte
Leichtigkeit fühlen, die eines solchen Schlafs unausbleibliche
Frucht ist. O möchten doch meine Wünsche über Ihren heutigen Tag den
glücklichen Einfluß haben, daß dieses Licht, welches Sie jetzt zum
ersten Mal erblickt, keine andern, als die Scenen der Liebe, der
Tugend und der Freundschaft erleuchtete. Möchte der Himmel Ihnen heute
manchen Unglücklichen in den Weg führen, dem Sie beystehen, manchen
Rechtschaffenen, dessen Glück Sie befördern können! Möchte Ihre Seele,
wie die Fläche des Meeres an einem stillen Morgen, von keinem Sturme
bewegt, das Bild des Himmels in sich auffangen, und dem betrachtenden
Zuschauer, Ihrem Gemahl oder Ihrem Freunde, in gemildertem aber
unverfälschtem Glanze wieder zurück werfen. Nun gehe ich zu meiner
alten Materie fort.

Wenn die Metaphysik der Liebe, die in den Französischen Dichtern und
Schriftstellern so häufig ist, ein elender Ersatz für die wirklichen
Ergießungen der Empfindung ist, die wir in der Julie von Shakspeare
oder Rousseau finden; so wäre sie doch immer ein sehr wichtiges Stück
von Psychologie, wenn man nur mehr die Art, wie diese Leidenschaft
entsteht, und die Zusammenstimmung der verschiedenen Fähigkeiten der
Seele, die da seyn muß, wenn sie zu einem gewissen Grade gelangen soll,
erklärte, als alle die kleinen Symptome, die sich bey ihrer Gegenwart
äußern, und die doch so oft nur von der Galanterie erzeugt, und von der
wahren Empfindung, wie von einem zu heftigen Feuer, verzehrt werden.
-- Man kann schon daraus, daß diese Leidenschaft so selten ist, und
daß von tausenden, die sich mit einander verbinden, oft nur zwey von
dieser himmlischen Göttin einander zugeführt werden, -- schon daraus
kann man vermuthen, daß diese Eigenschaft, welche die Seele des Feuers
der Empfindung fähig macht, eine eben so seltne Gabe sey, als die,
welche den Verstand zur Hervorbringung neuer Ideen in den Stand setzt.

Die Geschichte macht gewissen großen Männern, deren Andenken sie
uns aufbehalten hat, eine Schwachheit aus ihrer Liebe. Aber gewiß,
diese Geschichtschreiber waren keine Philosophen; sie verstanden es
nicht, daß eben dieselbe Quelle die beyden Ströme der Empfindung und
der Einsicht ausgießt; daß die Fähigkeit zu großen Leidenschaften
die großen Männer hervor bringt; und daß Heinrich, wenn er in Nacht
und Nebel, in einem Bauerkittel verkleidet, sich mitten durch die
Postirungen und Wachen der Feinde zu seiner geliebten Estrées
schleicht; wenn in dem heftigesten Anfalle körperlicher Schmerzen diese
Emfindung dennoch bey ihm siegt, und er am Rande des Grabes seiner
Estrées noch schreiben konnte: ~Mon premier penser est à Dieu, et le
second à Vous~; eben dieselben Fähigkeiten des Geistes brauchte, durch
die er der große Feldherr und der vortreffliche König wurde.

Ich habe die Liebe neulich blos als eine Folge von Eindrücken
angesehen, deren Stärke und Dauer zeigt, wie sehr die Seele fähig ist,
lebende und bleibende Bilder der äußern Gegenstände zu empfangen. Aber
die Seele verhält sich nicht blos leidend; es sind nicht Wirkungen,
die nur auf sie geschehen, und denen sie nur nicht widerstehen darf.
Ihre eigne Kraft muß diese Eindrücke beleben, sie fest halten, sie
in diejenige Form bringen, in welcher sie ihren Einfluß noch immer
auf dieselbe fortsetzen, wenn sie gleich selbst ihre erste Stärke
verloren haben. Akenside macht in seinen ~Pleasures of Imagination~
eine vortreffliche Anmerkung, die für den Moralisten, und ich denke
auch für den Liebhaber, höchst wichtig ist. Gewisse unsrer Pflichten
und unsrer schönsten Neigungen beruhen auf einer Art von Illusion, die
nur durch eine starke und mächtige Einbildungskraft aufrecht erhalten
werden kann. Von der Art ist die Vaterlandsliebe. Der Begriff von
Societät ist viel zu allgemein und abstrakt, und die Bande, mit welchen
wir an diesen Haufen unbekannter und uns gleichgültiger Menschen
geknüpft sind, wären für uns viel zu schwach, um uns Gefahr und Tod für
diese leicht zu machen: wenn nicht die Einbildungskraft an die Stelle
dieser reellen Objekte, die zu groß und zu weit sind, als daß wir sie
mit unsrer Empfindung umfassen könnten, ein gewisses Phantom setze,
welches wir selbst ausschmücken, und unter dessen Bilde wir diese
unsichtbare Gottheit, das Vaterland, anbeten. So erhitzte sich der
Römer bey dem Anblicke seines Senats, des Kapitols oder irgend eines
andern öffentlichen Monuments, das himmelweit von dem wahren Vaterlande
entfernt war, und welches er doch dafür annahm, um seine Empfindung in
eine engere Sphäre zusammen zu drängen, und sie dadurch zu beleben.

Lassen Sie uns dieses auf die Liebe anwenden. Sie ist, wenn wir sie
zergliedern, das Resultat aus den vereinigten Wirkungen des Vergnügens
an Vortrefflichkeit, der Freundschaft und der sinnlichen Lust. Es
ist augenscheinlich, daß, wenn die Leidenschaft nur aus einer dieser
Quellen entsteht, sie mit derselben zugleich versiegt; und da alle
Arten von sinnlichem Vergnügen vermöge der Natur der Seele abnehmen, so
muß ein Feuer erkalten, welches blos durch sie angezündet war. -- Aber
es giebt eine andere Art von bessern Seelen, die nicht blos wie Silenen
lieben, und die die Venus, die aus dem Schaume des Meeres entstand, von
der himmlischen, die vom Olympus entspringt, und an dem Throne Jupiters
selbst ihren Sitz hat, unterscheiden; ihr Geist liebt in der That,
nicht blos ihr Körper; und demungeachtet werden diese rechtschaffnen
Liebhaber doch kalte Ehemänner. Die Gewohnheit übt über ihre Seelen
ihre gewöhnliche Gewalt aus, und weil ihre Leidenschaft blos durch
die Eindrücke auf sie hervor gebracht wurde, so verlischt sie, so wie
die Zeit ein Stück nach dem andern von diesen Eindrücken verwischt,
und sie zu der gewöhnlichen Stärke aller übrigen Begriffe in unsrer
Seele zurück bringt. Nur eine dritte Gattung von Seelen, die an die
Stelle ihres Freundes oder ihres Geliebten ein gewisses erhöhtes Ideal
setzen; die aus den Vollkommenheiten, die sie wirklich in ihm gewahr
werden, die sie aber noch verschönern, ein Ganzes zusammen setzen,
welches wirklich vollkommner ist, als der Gegenstand selbst; die in
sich selbst beständig eine neue Quelle von Empfindung finden, und in
der Beschauung des Bildes, was sie sich selbst geschaffen haben, und zu
dem ihnen das Original so zu sagen nur die ersten Striche gegeben hat,
sich mit neuem Feuer beleben: diese sind es allein, die der Liebe ihre
Schwingen ausreissen, und das Feuer, das sonst durch den Zufluß neuer
Materie unterhalten werden muß, durch ihr eignes ernähren.

Ich bin jetzt auf dem Wege, zu zeigen, wie eben diese Kraft der
Imagination, ohne die niemals eine große oder dauerhafte Liebe gewesen
ist, große Männer und vortreffliche Thaten hervor bringt. -- Aber
dieses ist selbst für einen neuen Brief noch zu viel Materie, und man
ruft mich schon ein Mal über das andre u. s. w.



Sieben und zwanzigster Brief.


Ich habe heute einen so heftigen Schnupfen und Kopfschmerzen, daß
nichts in der Welt, als die Begierde, Ihnen auch die kleinste, und
wenn es nur eine minutenlange Unruhe wäre, zu ersparen, mich hätte
bewegen können, die Feder anzusetzen. Demungeachtet habe ich zwey so
liebe werthe Briefe von Ihnen vor mir, die ich beantworten sollte;
und die mir auch Stoff genug geben würden, wenn ich nicht heute zu
allem, als zu einem gänzlichen Müßiggange, unaufgelegt wäre. Wenn Sie
meine Briefe nicht verstehen, so ist es immer gewiß meine Schuld. Ich
bringe oft meine Gedanken zur Welt, ehe sie völlig ausgebildet sind;
und es ist natürlich, daß meine Freunde, wenn ich sie ihnen in diesem
Zustande übergebe, nicht recht wissen, was sie mit diesen ungeformten
Massen machen sollen. Thun Sie an diesen verunglückten Geschöpfen
die Barmherzigkeit, die Sokrates an ähnlichen Geburten seiner Freunde
that; wenn Sie sie nicht gleich bey der Entstehung haben retten können,
so geben Sie ihnen wenigstens, so wie sie da sind, die erträglichste
Figur, die sie machen können. Bilden Sie sie aus, erziehen Sie
sie; und wenn sie es werth sind, so vermählen Sie sie mit den weit
liebenswürdigern Kindern eines so sanften und zarten Herzens, und eines
so richtigen Verstandes, als der Ihrige ist.

Ich habe diese Materie noch nicht erschöpft. Ich habe mir die Liebe
blos in ihrer Entstehung vorgestellt. Sie sollen nun auch meine
Gedanken über ihre Wirkungen wissen. Ich sehe schon zum Voraus, daß ich
in Gefahr komme, meine Schwäche sehen zu lassen, indem ich vielleicht
mit meinen Beschreibungen bey Ihnen, die es empfinden, nicht schließen,
was Liebe ist, ungefähr in eben den Rang kommen werde, in welchem bey
uns Sehenden der blinde Philosoph steht, der sehr gründlich, wie er
dachte, die rothe Farbe durch den Schall einer Trompete erklärte. --

Ich sehe, ich fange an, meinen Kopfschmerz zu vergessen, indem ich mit
Ihnen rede. Wäre der Abgang der Post nicht so nahe, so glaube ich, ich
schriebe vier Seiten voll, ehe ich daran dächte, daß ich nur so viel
Zeilen schreiben wollte. Erzählen Sie mir doch etwas von Ihrer jetzigen
Lektüre u. s. w.

N. S. Romeo und Julie ist nun gedruckt. -- Aber Sie müssen das Stück
entweder schon gesehen haben, oder es noch sehen, ehe Sie es lesen.



Acht und zwanzigster Brief.


    Den 9. December.

Ich bin jetzo etwas mehr beschäftigt, als sonst; und wenn ich also
jetzt etwas kürzere Briefe schreibe, so ist es doch gewiß wenigstens
mit dem Wunsche, Ihnen längere schreiben zu können.

Der Freundschaft, so wie der Tugend ist die nächtliche Stille heilig.
Ich ergötzte mich schon sonst an der Vorstellung, daß sich alsdann
vielleicht oft unsre Gedanken und Betrachtungen begegnen, und unsre
Wünsche vereinigt zum Himmel steigen; und jetzt sehe ich, daß ich
Ursache dazu hatte. Ja, liebe Freundin, die Tugend, diese himmlische
Göttin, breitet ihren Glanz auf alles aus, was sie umgiebt; sie
erleuchtet die Freundschaft, und sie erwärmt sie auch; sie verwandelt
die Liebe, die ein blos körperliches Bedürfniß ist, in die edelste
und erhabenste Leidenschaft, deren eine menschliche Seele fähig ist,
und verlängert sie, die sonst mit dem Genusse zugleich unterging, bis
an die letzten Gränzen unsrer Existenz. Durch sie wird die mütterliche
Zärtlichkeit das Glück des menschlichen Geschlechts, und der Grund,
worauf die Wohlfahrt und die Tugend seiner Glieder erbaut wird; sie
endlich macht alle unsre Vergnügungen heilig, und unsre Ergötzungen zu
so viel guten Werken.

Sie haben ohne Zweifel jetzo Romeo und Julie gelesen oder gesehen.
Wenn ich es eher bedacht hätte, so hätte ich meine ganze Philosophie
ersparen können. Dieses Stück ist der vortrefflichste Kommentar über
die Liebe. Alle Ausdrücke scheinen von dem Hauche dieser Leidenschaft
beseelt; und das heftigste Feuer brennt durch und durch, und greift
selbst die unempfindlichsten Herzen an. -- Aber sagen Sie mir,
wenn Sie es gelesen haben, warum ist die Rührung im dritten Akte
angenehmer, als die heftige Erschütterung im fünften? Ist es nicht,
daß dort Pflicht mit Liebe, Tugend mit Leidenschaft streitet? Die
vortrefflichste Seele ist zwischen der kindlichen und ehelichen
Zärtlichkeit getheilt. Man sieht sie kämpfen, und wenn endlich die
Liebe alle übrigen Empfindungen verschlingt, so ist sie uns doch schon
auf einer so vortrefflichen Seite bekannt, daß wir ihr ihren Entschluß
zum Heldenmuth anrechnen. Im fünften Akte wirkt blos die Situation,
wenig der Charakter. Die Begebenheit auch bey jeden andern Personen
würde eben so traurig seyn. Die beyden Verliebten zeigen nun nichts
mehr als Liebe, mit keiner andern Empfindung, mit keiner Tugend mehr
vermischt. So wie Fluthen des Meeres, wenn sie sich über ein Land
ergießen, die Mannigfaltigkeiten der Natur auf ein Mal verdecken,
und statt tausend verschiedner, ergötzender Gegenstände nur ihre
eigne traurige, allenthalben gleiche und einförmige Fläche dem Auge
darbieten: so löscht in diesen Augenblicken die Liebe jeden andern
Begriff, jedes Gefühl in der Seele aus. Der Begriff von Tugend, den
wir in die Liebe dieser Personen geheftet hatten, und der uns diese
Liebe noch weit schöner macht, verschwindet vollends, da sie sich zu
Ausschweifungen bringen lassen, die der Tugend so durchaus entgegen
sind. Die ganze Scene ist theatralisch vortrefflich. Der Selbstmord mag
nun entweder durch die heftigen Triebfedern, die in dem außerordentlich
Schrecklichen der Begebenheit dazu enthalten sind, bey uns entschuldigt
werden; oder er mag, wie Moses glaubt, gar nothwendig seyn, um uns von
der Größe der Leidenschaft, auf der doch unsre ganze Rührung beruht,
zu überzeugen. Ob ich gleich das letztre nicht recht glaube. Vergebens
wäre der Selbstmord, um uns zu rühren, wenn wir nicht schon zuvor für
die Person eingenommen, und von der Leidenschaft, die sie einnimmt,
ergriffen wären. Aber im Leben wenigstens würde uns ein solches
Schauspiel mehr Schaudern als Vergnügen erwecken. Lieber wünschte ich,
Julien wie Heloisen in einem Kloster zu sehen. Oft würde ich dieses
alsdann besuchen, um durch die dunkeln und einsamen Wohnungen die
durchdringenden aber doch süßen Klagen der Schwermuth, der Liebe und
der Sehnsucht zu hören. Gottseligkeit sollte mit der Liebe kämpfen; und
Julie würde eine Heilige werden. --

Einen Theil der Wirkungen der Liebe sehen Sie also in dem Stücke meines
Freundes zugleich mit ihren Symptomen. Freylich nur die schrecklichsten
und die traurigsten. Aber mich dünkt, sie sind doch sehr geschickt,
uns auf die erfreulichen zu führen. Wie schmerzlich sollte es mir
seyn, wenn hier meine Grundsätze von Ihren Empfindungen abwichen. Aber
doch muß ich sie sagen; die Freymüthigkeit, die in dem Gefolge der
Freundschaft ist, und ein gewisser Eifer, den ich in mir selbst fühle,
Ihnen auch alle meine Vorurtheile, so lange ich sie noch für wahr
halte, ohne Verstellung mitzutheilen, fordert es von mir.

Sie sehen, ich habe schon meine Meinung gesagt. Es giebt, wie ich
glaube, überhaupt bey jeder unsrer Neigungen eine doppelte Seite. Die
eine will blos genießen, sie sucht den Gegenstand nur auf, hält ihn
fest und ergötzt sich an ihm. Die andre bereitet sich den Genuß erst
vor, indem sie den Gegenstand verschönert, vollkommener, besser, und
wenn er dessen fähig ist, glücklicher macht. Diese schiebt den Genuß
auf, um ihn zu erhöhen. Die Leidenschaft hat eigentlich in dem ersten
Theile unsrer Neigung ihren Sitz. Hier gehört weniger Thätigkeit, nur
Empfindung dazu; man empfängt blos, fühlt und genießt. Die Vernunft
stört hier mit ihren Reflexionen die Heftigkeit der Begierde nicht;
sie wird sogar, wenn die Empfindung heftig wird, eine Zeit lang völlig
unthätig, -- alle Spannkräfte der Seele erschlaffen, sie sinkt in eine
bezaubernde, aber deswegen vielleicht oft gefährliche Schwärmerey.
-- So war die Liebe der Julie in Romeo größtentheils. Wenn sie von
dem andern Theile abgesondert ist, so geschieht das, dessen ich
oben gedachte. Der Grund der Seele, der sonst mit einer Reihe von
mannigfaltigen schönen und lieblichen Bildern bemahlt war, wird nun mit
einer einzigen einförmigen Farbe überzogen; die Einbildungskraft kennt
nunmehr keine andern Bilder, als die zu diesem Gegenstande gehören;
und der Verstand selbst entzieht sich einer jeden andern Reflexion,
als der, welche die Hitze ernähren oder vermehren kann. Hiervon, wenn
sich ein trauriges Geschick mit einer solchen Leidenschaft verbindet,
erwarte ich alle schrecklichen Folgen, die vom Anfange der Welt her so
oft die Begleiter der Liebe gewesen sind. Ein solches Feuer verzehrt
den Menschen, den es nur erwärmen sollte. -- Zum guten Glück sind
auch dazu nur große Seelen fähig. Aber ist es nicht traurig, daß eben
diese am leichtesten durch eine Leidenschaft überwältigt werden, die
jede andre Kraft, jede Fähigkeit ihrer Seele vernichtet; alle ihre
angebornen und erworbenen Vollkommenheiten verschlingt, oder doch für
nichts als für sie arbeiten läßt; der Tugend selbst nur die Gestalt der
Liebe läßt, und dieselbe zu Boden tritt, sobald sie sich ihr entgegen
setzt.

Gesetzt aber, daß das glücklichste Ende eine Liebe, die blos von
dieser Art ist, bekrönte. Geben Sie der Julie einen Romeo, der alle
Entzückungen der Liebe mit ihr theilt; versöhnen Sie ihre beyden
Familien mit einander, lassen Sie sie mit dem Beyfalle des Himmels und
ihrer Eltern Eheleute werden. Nehmen Sie der Zeit und dem beständigen
Umgange die Gewalt, die sie sonst über die meisten Herzen haben, die
Heftigkeit der Neigung zu mäßigen, und Feuer in Wärme zu verwandeln,
lassen Sie sie in unaufhörlichen Ergießungen ihrer ersten Liebe ihr
Leben zubringen. -- Glücklich können sie vielleicht dabey seyn, -- aber
nützliche brauchbare Leute gewiß nicht; sie sind alsdann für die Welt
verloren. Und wenn sie das erhabenste Genie und den größten Heldenmuth
hätten, so würden sie mit allen beyden nichts weiter ausrichten, als
die Flamme, die bey andern Menschen aus Mangel der Nahrung auslöscht,
unterhalten; sie würden immer empfinden und genießen, -- aber niemals
thun.

Doch nun wollen wir diese unvollständige Neigung ergänzen, wollen den
andern weniger eigennützigen Theil hinzusetzen. Wir sehen alsdann in
unserm Gemahle oder Freunde nicht mehr blos ein Gut, das wir genießen
sollen; sondern auch ein Eigenthum, das wir verbessern, erweitern und
vortrefflicher machen wollen. Er ist alsdann nicht mehr ein bloßer
Gegenstand unsers Gefühls, sondern auch unsrer Bemühungen. Dieser Theil
der Neigung muß nothwendig ruhiger und gelassener seyn, und bey nicht
sorgfältigen Beobachtern zuweilen den Schein der Kälte annehmen;
zuerst, weil nach der Natur der Seele jede Neigung, die unmittelbar
mit dem Genusse verknüpft ist, stärker seyn muß, als die, welche erst
durch eine Kette von vielen Gliedern mit dem Genusse zusammen hängt;
zum andern, weil wir alsdann von dem Gegenstande selbst mit unsern
Gedanken und unsern Betrachtungen eine Zeit lang abgehen, und sie auf
unsre Bemühungen, auf die Mittel, die wir zu unserm Zwecke wählen
wollen, und auf die Art und Weise, wie wir sie am geschicktesten
anwenden, richten müssen. Diese Neigung ist thätig, bringt alle Kräfte
der Seele in Bewegung, spannt alle ihre Triebfedern, erweckt alle ihre
Begriffe, und erhöht unsre natürliche Stärke bey jeder Handlung, durch
den neuen Endzweck, den wir bey derselben außer dem Unmittelbaren der
Handlung hinzusetzen. So kann der geschäftigste Mann, aus Liebe zu
seiner Gattin, alle die Arbeiten thun, die ihr seinen Umgang entziehen.
Weit von seiner Geliebten, kann der Jüngling sich unter einen Haufen
gezückter Schwerdter stürzen, oder den brausenden Wellen trotzen, indem
das Bild seiner Geliebten wie eine unsichtbare Göttin um ihn schwebt,
seinen Arm stärker, und seinen Muth unerschrockner macht. -- Dann
lassen Sie auf Mühseligkeit und Arbeiten, selbst auf die Entbehrung,
der man sich aus Liebe unterzogen, eine Stunde des Genusses folgen. --
Dann lächelt der Himmel selbst über ihre Freuden! u. s. w.



Neun und zwanzigster Brief.


Meine Geschäfte sind kaum von der Erheblichkeit, daß man ihnen diesen
Namen geben kann. Demungeachtet füllen sie meine ganze Zeit aus,
besonders, da ich manchmal viele Tage durch Zerstreuungen verhindert
werde, daran zu denken. Außer dem, was ich zu meinem eigenen
Unterrichte vornehme, haben Gellert und Weise von mir einige Arbeiten
gefordert, die ich beschleunigen muß. Ich werde dazu die Zeit zu nutzen
suchen, da Herr von K****, der mich sonst jeden Tag einige Stunden
kostet, verreist ist. Fürchten Sie aber nichts für unsern Briefwechsel.
Die Freundschaft kennt ihre Rechte, und sie weiß sie gegen alle andre
Ansprüche und Forderungen zu vertheidigen. Ueberdieß ist ihre Sprache
kurz. Man versteht sie durch Sympathie. Sie erklärt nicht sowohl ihre
Empfindungen, sie macht nur den andern auf seine eignen aufmerksam;
und nur indem sie des Freundes Herz in Bewegung setzt, zeigt sie ihr
eignes. --

Aber warum lassen Sie Ihre Tage durch Träume beunruhigen? -- Oder warum
geben Sie einem Traume, der so vieler guter, glücklicher Auslegungen
fähig ist, gerade die, welche Sie kränken muß. Ich sehe in demselben
nichts, als Ihre eigne Zärtlichkeit, die selbst in den nächtlichen
Gemählden, die Ihnen Ihre Einbildungskraft vorstellt, der Freude des
Wiedersehens eine Gewalt über das Herz giebt, unter welchem dasselbe
erliegt. -- Ich bin als Freund verpflichtet auf Mittel zu denken, die
Ihnen diese öftern Unruhen, wenn es nicht möglich ist, ihnen zuvor zu
kommen, wenigstens mäßigen. Ist es nicht wahr, daß eine solche Unruhe
(ich rede nicht bloß von der letzten) unthätig und zur Verrichtung
eines jeden Geschäftes, selbst zu dem Genusse des Vergnügens unwillig
und unfähig macht? Und ist dieß wohl der Zustand, in dem wir oft seyn
sollen, in dem wir am meisten Gutes zu thun hoffen können? Vermehren
Sie den Grad, oder verlängern Sie diesen Zustand. Sie werden sehen, daß
er nach und nach den Gebrauch jeder unsrer Fähigkeiten aufheben und
uns zu einer Art von Schlaf bringen wird, der voll von fürchterlichen
Träumen ist, und uns eben so viel Zeit raubt, als der natürliche, ohne
uns dieselbe Erquickung zu geben? --

Demungeachtet fühlt die Seele eine gewisse Süßigkeit darin, um deren
willen sie sich dieser Unruhe überläßt, und sich selbst den Mitteln
entzieht, die sie aufheben könnten. Ich kenne diesen Zustand, aber
ich finde ihn allemal für mich schädlich, ob ich gleich nicht allemal
so glücklich bin, mich davon zu befreien. Wenn es aber gelingt,
so ist es niemals anders, als durch eine anhaltende und die Seele
sehr einnehmende Beschäftigung. Man muß gleich im Anfange, wenn man
die erste Anlage zu einer solchen Gemüths-Verfassung bemerkt, die
Aufmerksamkeit mit Gewalt von dem Gegenstande abziehen und auf etwas
richten, was im Stande ist, sie anzuheften und von der Rückkehr
abzuhalten. Ein andres Frauenzimmer würde vielleicht den Mangel solcher
Gegenstände vorwenden können; aber Sie nicht, liebe Freundin, die außer
den Geschäften einer Hausmutter auch noch alle die für sich haben,
die die Wissenschaften und die Lektüre verschaffen. Wählen Sie sich
also alsdann eines von den Büchern, die Sie am meisten lieben; oder
noch besser, arbeiten Sie selbst etwas. Sie werden sich zuerst zwingen
müssen. Die Seele wird mit Widerwillen sich von dem neuen Gegenstande
wegwenden. Aber nach und nach, wenn besonders der erste Anfang geglückt
ist, wird sich der Gegenstand der Seele bemächtigen; es wird eine neue
Leidenschaft rege; der Wunsch und die Hoffnung, die Sache, die man vor
hat, schön zu machen. Endlich arbeitet man aus Geschmack fort, da man
blos aus Ueberlegung angefangen hatte.

Ich freue mich auf Ihre Anmerkungen über die eheliche Liebe, und wenn
sie auch von meinen Grundsätzen abgiengen. Sie wissen nun schon,
wenn wir Philosophen einmal ein System im Kopfe haben, so muß sich
alles darnach richten, und entweder seine Form annehmen, oder es wird
verworfen. Nun nach diesem Systeme finde ich allerdings zwischen der
Liebe vor der Ehe, und in derselben, einen Unterschied. Nicht in
dem Feuer, noch in der Delikatesse derselben; aber in der Art, sie
auszudrücken. Ich nehme wieder meine Eintheilung zu Hülfe. Das was
in der Liebe blos Begierde ist, und zu seinem Endzwecke den Genuß
hat, herrscht nothwendig vor der Ehe. Das was in derselben Bestrebung
und Eifer ist, und zum Gegenstande mehr des Andern Glück, als unser
Vergnügen hat, sollte in der Ehe herrschen. Dem zu Folge muß nothwendig
die Leidenschaft des Liebhabers aufwallend und ungestüm seyn, denn sie
streckt sich erst nach einem Gute aus, welches sie erreichen will; die
Liebe des Ehemannes ruhig und thätig, denn sie arbeitet nun an der
Erhöhung und Verschönerung eines Gutes, das schon ihr Eigenthum ist.
Ohne diese Einschränkung ist die eheliche Liebe in Gefahr, tändelnd
zu werden, welches sie von ihrem wahren Zwecke beynahe eben so weit
abbringt, als die Kälte.

Ich sage Ihnen alle meine Gedanken, liebe Freundin, als einer Person,
die zu meiner größten Vertraulichkeit und zu einer Kenntniß meiner
innersten Gesinnungen ein Recht hat. Läutern Sie meine Grundsätze, und
arbeiten Sie selbst an der Verbesserung Ihres Freundes u. s. w.



Dreyßigster Brief.


Ihr Urtheil über den Romeo, und Ihr Wunsch wegen seines Schlusses
ist mit meiner Mutter ihrem vollkommen einerley. In der That ist der
letzte Auftritt mehr schrecklich als rührend, Julie mehr unsinnig
als schwärmerisch, und ihre Liebe mehr Raserey als Leidenschaft.
Ich bin begierig, auch von den beyden übrigen Stücken, die in eben
diesem Theile stehen, Ihr Urtheil zu wissen. Marmontels Erzählungen
lassen sich vielleicht um desto schwerer in Dramata verwandeln, je
ausgearbeiteter schon der Dialog ist. Man kann schwerlich verhindern,
daß der Leser nicht die neuen angesetzten Stücke von den alten
unterscheide; und man geht gar zu leicht aus einem Charakter heraus,
der nicht von Anfang an unser eigen ist. So geht es, dünkt mich, mit
der Corally ihrem, der in dem Stücke, die Freundschaft auf der Probe,
am meisten hervor sticht, und den er zuweilen verfehlt hat. -- Aber
ich höre, die Mademoisell Schulz verläßt das Theater. Versäumen Sie
doch ja nicht, Romeo zu sehen, ehe sie fortgeht. Sie macht diese Rolle
unnachahmlich schön; ich setze nur das Einzige an ihr aus, daß sie in
den Stellen, wo ohnedieß schon der zu weit getriebene Affekt beynahe
bis ins Widrige geht, noch einige Grade hinzu setzt.

Aber genug von dieser Materie, die ohnedieß schon erschöpft ist.
Ich hätte mehr Lust, meinen Streit mit Ihnen, als meine Kritik zu
verlängern. Sie wissen noch nicht, wie hartnäckig ich bin, wenn ich
mir einmal in den Kopf gesetzt habe, etwas zu behaupten. Ihr Brief hat
mir gefallen; und mit weniger Eigensinn, als ich habe, hätten mich
Ihre Gründe verblendet oder überzeugt. In der Verfassung, in welcher
ich bin, kann ich noch nicht sagen, welches von beyden. Denn wenn ich
sagte, daß ich ohne Eigensinn hätte müssen überzeugt werden, so wäre
dieß eben so viel, als gestünde ich zu, ich hätte Unrecht.

Sie wollen also zwischen dem Liebhaber und dem Ehemanne durchaus keinen
Unterschied zulassen; und ich bildete mir ein, ich hatte es recht
förmlich bewiesen, daß einer seyn müßte. So kann einem die Eigenliebe
verblenden! Vielleicht richte ich durch eine Allegorie aus, was meine
Metaphysik nicht vermochte. -- Wenn zuerst nach einer langen Dürre,
oder am Ende des Winters, Jupiter in einem fruchtbaren Regen in den
Schoos der mütterlichen Erde herab steigt: dann wird auf einmal die
ganze Gestalt der Natur geändert. Blumen und Gewächse von aller Art
bedecken die erst nackte Oberfläche; die Bäume schimmern von jungem
Grün, das nur noch wie zartes Moos auf die kahlen Aeste gestreut ist;
die todte Stille der Natur wird rege und lebendig; Luft und Erde
bekommen wieder Bewohner; der Wechsel ist eben so plötzlich, als schön.
-- Aber wenn nun diese erste Rückkehr der Natur zum Leben geschehen
ist, dann kann der ganze liebliche Sonnenschein, und die schönsten,
erfrischendsten Regen, durch die er unterbrochen wird, nicht gleich
große und gleich merkliche Veränderungen hervor bringen. Im Stillen,
ungesehen, wächst nunmehr durch eben die Kraft, die ihn zuerst hervor
brachte, der Halm zur Aehre, das Gras zur Staude, und die Blüthe zur
Frucht heran. Noch immer empfängt die Erde dieselben wohlthätigen und
kräftigen Einflüsse des Himmels; aber sie kann jetzt nicht mehr durch
sie eine ganz neue Schöpfung hervor bringen, sie kann nicht mehr die
ganze Gestalt der Natur umändern. -- Aber in ihrer geheimen Werkstatt
empfängt und nutzt sie noch auf eben die Art den himmlischen Segen,
sie verschließt ihn jetzt in sich, um ihn den Pflanzen ganz allein
mitzutheilen, die sie hervor gebracht hat, und um Korn, Obst, Wein auf
den stillern Herbst zu bereiten.

Sollten alle folgenden Eindrücke dem ersten gleich seyn? -- Das ist
wider die Natur der Seele. Sie selbst, Sie selbst, die die Natur mit
der zärtlichsten von weiblichen Seelen beglückt, Sie würden sich blos
selbst hintergehen, wenn Sie das als eine gemachte Erfahrung ansähen.
-- Soll die Leidenschaft niemals zum Grundsatze, zur Gesinnung werden?
-- Alsdann ist sie unnütz und gefährlich. Das stürmende Meer kann nur
Schiffbruch und Untergang verursachen, wenn es ohne Aufhören wüthet.
Aber wenn der heftige Sturm zu einer noch lebhaften aber ruhigern
Bewegung gemäßigt wird, dann bringt er das Schiff mit vollen Segeln in
den Hafen. -- Soll die Seele immer nur von einem einzigem Gegenstande
erfüllt seyn, wie es die Seele des Liebhabers ist? -- Dann verschlingt
und vernichtet dieser Gegenstand alle Kräfte derselben, er verbraucht
alle ihre Fähigkeiten, und läßt für alle ihre übrigen Pflichten und
Geschäfte nichts, als matte, unwillige und kraftlose Bestrebungen.

Aber wie muß die Liebe seyn, auf deren Flügeln der Geist erhoben, und
seiner Bestimmung und seinem Schöpfer näher gebracht wird? Die Seele,
deren ganze Neigungen und Fähigkeiten sich in einem einzigen würdigen
Gegenstande koncentrirt hat, muß sich von ihm aus auf alles, was gut,
schön und vortrefflich ist, verbreiten. Er muß das Band seyn, welches
die Seele an alle ihre Pflichten verknüpft, und sie mit Freuden an
die Sachen anzieht, die sie sonst aus andern Bewegungsgründen nur mit
Widerwillen, oder doch ohne Vergnügen würde gethan haben. Das Feuer der
Liebe muß sich in eine gleiche und fortdauernde Wärme verwandeln, die
jeder andern gutthätigen Neigung zum keimen hilft, jede tugendhafte
Handlung empor treibt, und jeden Widerstand aus dem Wege stößt. --
Noch ein Mal: der Liebhaber und die Geliebte wollen nichts, als sich
sehen, sich umarmen und sich genießen. Der Ehemann und seine Gattin
wollen sich und die Welt glücklich machen, und diesen Zwecken zu Ehren
entbehren sie jene Vergnügungen ohne Murren u. s. w.



Ein und dreyßigster Brief.


-- -- Ich bin außerordentlich vergnügt darüber, daß Sie meinen
Brief vollkommen nach den Gesinnungen erklärt haben, in denen ich
ihn geschrieben hatte. Sie haben mir eine große Probe abgelegt. Ich
fürchtete nicht, daß Sie über meine Freymüthigkeit böse werden würden;
aber ich erwartete doch eine kleine Empfindlichkeit über einen so
beherzten Widerspruch. Bey jedem andern Frauenzimmer, als bey einer
solchen Philosophin, wie Sie sind, wäre meine Erwartung ganz gewiß
eingetroffen. -- Diese Materie ist jetzo erschöpft, oder ich will sie
doch wenigstens dafür ansehen. Wenn Sie nur wahrhaftig glücklich sind,
so will ich es Ihnen verzeihen, wenn Sie es auch zum Theil durch ein
Vorurtheil wären. -- Ich habe diese Woche eine ganze Gesellschaft
von Leuten gesehen, die es noch durch ein weit handgreiflicheres
Vorurtheil sind, oder wenigstens vorgeben es zu seyn.

Ich bin mit einer großen Gesellschaft von Frauenzimmern in einem
Nonnenkloster gewesen, und zwar bey denen, die barmherzige Schwestern
heißen, und sich mit der Wartung armer Kranken beschäftigen. Ein
wirklich verehrungswürdiger Orden, der großen und beschwerlichen
Dienste wegen, die seine Mitglieder der Gesellschaft leisten. Sie
sind dabey arm; und da die Anzahl reicher Katholiken bey uns in B***
immer mehr abnimmt, und die eignen Kapitalien des Klosters nicht nur
an sich klein, sondern auch jetzt ohne Nutzen für sie sind, weil sie
bey einem Hause ausgeliehen stehen, das im Begriff ist, banquerout
zu machen (ehemals einem Besitzer von 500000 Thalern), so müssen die
21 geistlichen Jungfrauen, aus denen das Kloster besteht, sich auf
das äußerste einschränken, weil sie nicht nur sich, sondern auch ihre
Kranken zu ernähren haben, und noch dazu Aerzte und Arzeneyen bezahlen
müssen. Meine Mutter und verschiedene unsrer Bekannten, die ihnen
deswegen von Zeit zu Zeit eine kleine Beysteuer schicken, werden in dem
Kloster als große Wohlthäter angesehen. So sehr ist die Dürftigkeit
auch für kleine Erleichterungen empfindlich.

Wir wurden also sehr wohl aufgenommen. Wir tranken in der Apotheke,
wohin auch Mannspersonen kommen dürfen, in Gesellschaft der artigsten
und vernünftigsten Schwestern, Kaffee. Die Frauenzimmer wurden hierauf
im ganzen Kloster, ich nur in der Kirche und im Krankenzimmer, herum
geführt. -- Sie können nicht glauben, wie sehr mich diese Leute für
sich interessirt haben. -- Es giebt Personen von den besten Familien,
von gutem Verstande und von einer wirklichen Schönheit darunter.
Besonders ist die würdige Mutter eine höchst vernünftige, gesetzte und
von dem klösterlichen Wesen ziemlich freye Person. Ausser ihr zieht
ein Fräulein Mucius, eine ehemalige Bekannte einer Dame aus unsrer
Gesellschaft, die auch deswegen von der Superiorin die Erlaubniß
erhielt, bey uns zu bleiben, die Augen auf sich. Ungeachtet sie schon
16 Jahre im Kloster ist, so hat sie doch noch alle Züge von Schönheit.
Ein feuriges und schönes Auge, das durch die Kopfbinde ihres Habits
halb verdeckt, und auf eine gewisse Weise schmachtend und zugleich
einnehmend gemacht wird; -- in ihrem Betragen eine gewisse stille und
ruhige Zufriedenheit mit ihrem Zustande, die man bey den glücklichsten
Personen so selten antrifft; eine Stimme, die sehr angenehm und sanft
ist; -- und wenn man sich dieses noch junge Frauenzimmer denkt (deren
Vater ein reicher und vornehmer Mann ist), in einem sehr schlechten
Kleide (ob es sie gleich nicht verstellt), allen Bequemlichkeiten
des Lebens und der Gesellschaft entzogen, zum strengsten Gehorsam
verpflichtet, und oft mit den niedrigsten, beschwerlichsten und
ekelhaftesten Dienstleistungen der Kranken beschäftigt: so muß man
Hochachtung und Mitleid für sie zugleich haben u. s. w.



Zwey und dreyßigster Brief.


    Den 9. Januar 1768.

Für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre freundschaftliche Sorgfalt, mir
Vergnügen zu machen, und es mir an dem Tage[B] zu machen, wo ich durch
tausend andre angenehme Eindrücke mehr als gewöhnlich vorbereitet
bin es zu genießen; dafür danke ich Ihnen aufs verbindlichste. Meine
Mutter hat Ihren Willen sehr genau befolgt. Ich erfuhr Dienstags
nichts davon, daß Briefe angekommen wären, und ich dachte also gewiß,
Sie wollten Ihren Posttag verlegen, und würden von nun an Donnerstags
schreiben. Diese Vermuthung machte, daß ich selbst nicht schrieb, und
dabey blieb ich also ganz ruhig, bis des Donnerstags Morgens, indem
wir alle beysammen waren, meine Mutter, die sich einen Augenblick
entfernt hatte, mit einer sehr feyerlichen Miene, einem großen
Kuchen in der Hand, auf dem Ihr Brief lag, und einem noch größern
Glückwünschungs-Komplimente, das sie, wie sie sagte, von Ihnen
auszurichten hätte, zurück kam. Die Sache war mir so unerwartet, daß
sie mir Anfangs ein Räthsel zu seyn schien. Ich öffnete endlich Ihren
Brief, die Schwierigkeiten wurden durch meine Mutter gehoben, und meine
erste Ueberraschung endigte sich mit einer stillen und angenehmen
Fröhlichkeit.

So viel war auch nöthig, wenn ich an einem Tage heiter seyn sollte, wo
ich mich von einem heftigen Schnupfen, oder wovon es sonst war, so übel
befand, daß ich eine ernsthafte Krankheit hätte befürchten können. Ich
schob deswegen eine kleine Solennität, die auf diesen Tag bestimmt war,
bis auf den folgenden auf. Gestern also habe ich mir das Vegnügen, ein
Koncert bey mir zu machen, zum zweyten Male erlaubt. Meine Mitspieler
waren noch besser, als das erste Mal. Die Gesellschaft war, außer
meines Onkels Familie, der Hauptmann R*** mit seiner Frau; er ein sehr
geschickter und verständiger Mann, jetzo der Ober-Bau-Inspektor von
B****; sie, eine Sachsin von Geburt, aus Chemnitz, das beste Herz und
die liebreichste, zärtlichste Ehegattin; endlich eine gewisse Fräulein
von W****, ein Frauenzimmer von sehr guter Erziehung und Lebensart,
und von vielem Verstande. Ihr Bruder, bey dem sie lebt, steht in
eben dem Posten, wie mein Onkel, ist ein angenehmer und allenthalben
willkommener Gesellschafter, und verdient um desto mehr Hochachtung,
weil er sich aus einem Stande der Dürftigkeit, in dem er und seine
Schwester, ihres Standes ungeachtet, ihre Jugend zugebracht haben,
durch seine Geschicklichkeit, seinen Fleiß und seine gute Wirthschaft
hat wissen heraus zu ziehen, und sich also die bequeme und artige
Weise, mit der er jetzo lebt, ganz allein schuldig ist. So viel von
unsrer Gesellschaft.

Unter der Musik nahmen sich die Sachen von einem gewissen Schobert,
dem, der in Paris an Champignons gestorben ist, sehr vorzüglich aus.
Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich mit Ihnen schon davon geredet
habe; aber gesetzt, das wäre auch geschehen, so kann ich es, zum Dank
für das Vergnügen, was mir des Mannes Arbeit gemacht hat, nicht oft
genug wiederholen, daß es die schönsten Sachen sind, die jemals aufs
Klavier sind gesetzt worden; insbesondre die Duetts, Trios und Koncerte
von ihm. Man kann nichts Neueres und zugleich Schöneres hören. Alle
Ideen des ganzen Stücks sind original, und zuweilen so außerordentlich
frappirend, daß sie den unverständigsten Zuhörer treffen müssen. Sie
erfordern aber viel Uebung. Er selbst (denn wenn eine Nachricht wahr
ist, die hier herum geht, so habe ich den Schobert selbst hier auf
meiner Stube mehr als ein Mal vor langen Zeiten spielen hören, er ist
sogar einen halben Monat, oder so etwas, mein Lehrmeister gewesen),
er selbst also, vorausgesetzt, daß es dieser ist, hat die allergrößte
Flüchtigkeit der Hände, die ich jemals gesehen habe. Er setzt also
seine Stücke so, wie sie für seine eignen Finger am besten sind. Aber
sie thun eine unbeschreibliche Wirkung, wenn sie auch nur mittelmäßig
vorgetragen werden. Seine Stücke sind selten, und ich würde sie ohne
die Gütigkeit eines Freundes niemals zu Gesichte bekommen haben.

So brachten wir also den gestrigen Tag ziemlich vergnügt zu.
Demungeachtet befinde ich mich heute noch nicht ganz wohl. Ich schreibe
deswegen auch nicht so viel, als ich mir vorgenommen hatte. Meine
Mutter wird durch andre Hindernisse in einem ähnlichen Vergnügen
gestört. Ihre Nahrung erfordert um diese Zeit viele Rechnungen, die
sehr beschwerlich sind, und für jede andre Frau beynahe unmöglich
wären. Aber sie verrichtet das alles mit einer Genauigkeit und
Akkuratesse, deren ich gar nicht fähig wäre. Sie wird überdieß von
einem Flusse im Ohre beschwert, und hört deswegen schlecht.

Ich erinnere mich, daß Sie vor langer Zeit einen Plan zur Erziehung
Ihrer Wilhelmine verlangten. -- Zu einem solchen Plane habe ich weder
Geschicklichkeit noch Geduld genug. Aber zerstreute Anmerkungen,
wenn Sie die haben wollen, wenn Sie sich die Mühe geben wollen, sie
so gut zu verbinden, als sie selbst es werden zulassen, wenn Sie mir
versprechen, die Lücken durch ihre eignen Bemerkungen auszufüllen, die
sollen Sie von mir bekommen. Flößen Sie Ihrer Wilhelmine, wenn Sie
können, etwas von Freundschaft gegen einen Menschen ein, den Sie selbst
mit so vieler beehren. Lassen Sie sie wissen, daß ich eher für sie gute
Wünsche gethan habe, als sie selbst etwas wünschen konnte u. s. w.


Fußnote:

[B] Garvens Geburtstag fällt auf den siebenten Januar.



Drey und dreyßigster Brief.


Das ist wirklich eine Feyer meines Geburtstages, auf die ich mir etwas
zu gute thue. Wenn ein Freund an mich denkt, und diese Erinnerung ihm
Vergnügen macht; wenn er mir so viel Einfluß auf sein Herz zugesteht,
daß ich es zuweilen ruhiger, freudiger, mit sich und mit andern
zufriedener machen kann, das ist die größte Befriedigung, die meine
Liebe und meine Eitelkeit verlangt. Sie, liebe Freundin, verstehen
die Kunst, sich zu vergnügen, schon recht gut. Ihre Hoffnungen darauf
werden Ihnen weit seltner fehlschlagen, wenn Sie es, so wie Sie es
gethan haben, ohne viele Vorbereitungen bey sich selbst suchen.

Aber wenn Sie nur die Kunst, sich zu quälen, nicht zuweilen eben so gut
verstünden. O, liebe Freundin, beynahe liegt noch das ganze Jahr mit
allen seinen Tagen und Stunden vor Ihnen. Es scheint nun noch völlig
in Ihrer Gewalt zu seyn, was Sie daraus machen wollen. Aber eilen Sie,
eilen Sie, jede, schon die gegenwärtige Minute für die Glückseligkeit
aufzuwenden. Das Vergnügen und die Tugend sind nicht blos als Wirkung
und Ursache, sondern als zwey verschwisterte Eigenschaften der Seele
mit einander verwandt, die gemeiniglich nicht ohne einander zu finden
sind. -- Die Unzufriedenheit und das Mißvergnügen ist immer unthätig
oder in Verwirrung; das Vergnügen ist zugleich ruhig und wirksam.
Die Aufmerksamkeit der Seele ist dann jedes Mal bey dem Gegenstande
zusammen, den sie vor hat, und ihre Kraft ist also ungetheilt, das,
was sie thut, aufs beste zu thun. Das Vergnügen ist für die Seele,
was die Gesundheit für den Körper ist; es macht sie zu allen ihren
Verrichtungen aufgelegter und geschickter.

Das alles ist nun recht schön und vortrefflich. Aber die Frage ist,
was für eine Art von Diät muß man der Seele vorschreiben, um sie bey
diesem Wohlbefinden zu erhalten? Eine Regel dazu ist uralt, aber sie
ist wahr: man soll mit seinen Wünschen sich in der Natur der Dinge
einschränken, und nichts begehren, was diese nicht zuläßt. Ich weiß
nicht, ob ich Ihnen deutlich genug werde sagen können, was ich denke.
Aber das weiß ich, in meinem Leben und in dem Leben meiner Freunde
sehe ich den größten Theil ihres Verdrusses aus betrogenen Wünschen
und Erwartungen entstehen, die nur deswegen betrogen wurden, weil sie
selbst auf einen Irrthum gegründet waren. Sie z. B. (um meiner Absicht
näher zu kommen) haben bey einem eingezogenen und ruhigen Leben, bey
einem gutgearteten und rechtschaffenen Herzen, bey einem wohlgebildeten
Geiste, und bey dem Genusse der vornehmsten Bequemlichkeiten des
Lebens, wenig andre Ursachen, unzufrieden zu seyn, als die Besorgnisse,
daß Sie von Personen, deren Liebe Sie über alles schätzen, nicht genug
geliebt, nicht genug hochgeachtet werden. Da diese Leidenschaft, in der
That unter den übrigen die edelste, bey Ihnen die stärkste ist, so muß
auch natürlicher Weise aus dieser Quelle die meiste Unzufriedenheit bey
Ihnen entstehen.

Aber wenn Sie doch nun mit mir ruhig untersuchten, welches wohl
zuweilen die Merkmale sind, aus denen Sie diesen Mangel der
Zärtlichkeit schließen. Ohne Zweifel sind es Unterlassungen von
Handlungen, die Sie als die unausbleiblichen Wirkungen einer solchen
Neigung ansehen. -- Aber wie? sind sie dieses auch wirklich? Ist der
Schluß von diesen Aeußerungen auf die Sache selbst unfehlbar, und
können sie umgekehrt nicht ausbleiben, ohne die Gesinnung selbst
zweifelhaft zu machen? Sie werden dieses selbst nicht denken, --
wie würde es Ihnen sonst möglich seyn, wieder ruhig zu werden? Aber
gehen Sie in Ihrer Untersuchung noch einen Schritt weiter. Ist es
der Natur der Dinge und des Menschen nach möglich, daß sich die
stärkste, die eingewurzeltste, die mit dem Wesen der Seele selbst
verwebte Leidenschaft (ich will Ihnen zu gefallen es so nennen) immer
durch einerley Beweise zu erkennen giebt? Um davon nur ein frappantes
Beyspiel anzuführen, ob es gleich nicht vollkommen auf den Fall paßt:
ist es möglich, oder wenn es möglich wäre, würde es anständig seyn,
daß sich die Zuneigung eines Greises auf eben die Art und durch eben
die kleinen Beweise zu erkennen gäbe, wie die Zuneigung eines jungen
Menschen? Hier ist der Unterschied handgreiflich, und die ganze Welt
kommt überein, den einen alten Gecken zu nennen, der selbst rechtmäßige
Neigungen auf eine zu seinem Alter und seinen Umständen unschickliche
Art an den Tag legt. Aber kann es nicht im menschlichen Leben eben
solche andre Unterschiede geben, die nicht eben so in die Augen fallen,
aber doch eben so wirklich sind? -- Und sollte es also nicht eine
Forderung unmöglicher Dinge seyn, wenn man, allen diesen Unterschieden
zuwider, von demselben Menschen unter den verschiedensten Umständen
doch immer einerley Zeichen seiner Liebe verlangte? -- Ich gebe es zu,
daß Ihr lieber Gatte Sie jetzo so liebt, wie damals, da er Bräutigam
war. -- Aber wenn Sie verlangten, daß er Sie davon alle Augenblicke
aufs neue mit aller der Eilfertigkeit und dem Empressement versichern
sollte, als wenn er es Ihnen zum ersten Male sagte; wenn Sie eine
beständige Wiederholung aller der kleinen Zeichen der Zärtlichkeit
forderten, die bey einem Liebhaber oft nur den Mangel an Gelegenheit
zu größern Proben ersetzen: so forderten Sie etwas, was der Natur der
Dinge, und wo nicht dieser, doch gewiß Ihrer Ruhe und der Ruhe Ihres
Mannes zuwider wäre.

Sehen Sie, das ist der Inhalt meiner ehemaligen Theorie, und gewiß
meine Absicht ist Ihre Glückseligkeit. Also verlange ich keine
Abnahme der Liebe, keine Kälte, sondern nur in ihrem Ausdrucke mehr
Ernsthaftigkeit und weniger Spielwerk. -- Wenn die Leidenschaft vor der
Heyrath blos Leidenschaft ist, sagen Sie, so wird sie niemals Gesinnung
werden. Vollkommen richtig! wenn Vorurtheil und sinnliche Lust die Wahl
anstellen. Aber lassen Sie die Leidenschaft des Liebhabers auf alle
Vollkommenheiten des Geistes und Herzens gegründet seyn: so wäre doch
dieß die einzige Sache in der ganzen Natur, wo die erste Bekanntschaft
mit einem gewissen Gut und der fortgesetzte Genuß desselben vollkommen
einerley Wirkungen hätte. -- Wie? wenn Mann und Frau sich nicht
wie Liebhaber und Geliebte gegen einander betragen, wenn sie die
vertrautesten, die zärtlichsten Freunde von einander werden, so sollten
sie sich keine Gefälligkeiten mehr thun können, so sollten sie sich
einander blos nicht beleidigen? Und das wäre doch Freundschaft? -- Ich
verstehe Sie nicht, liebe Freundin. -- Sie sagen, wenn Sie alle diese
Dinge (diese +kleinen+ Zärtlichkeiten, Bemühungen und Opfer) wegnehmen,
so hat die Ehe keinen wesentlichen Reiz mehr. Wie? so sollte die Ehe,
die ehrwürdigste und heiligste Verbindung, ihren Reiz verlieren, wenn
sich die beyden Eheleute nicht alle Augenblicke sagten, daß sie sich
lieben; wenn sie sich nicht die Hände drückten; wenn nicht eins dem
andern nachsähe, so oft es auf zwey Minuten von ihm geht; wenn es ihm
nicht entgegen käme; wenn es ihm nicht auf der Stelle und mit aller
geflissentlichen Aufmerksamkeit jede Liebkosung erwiederte, die ihm von
dem andern gemacht worden?

Ich sehe, da ich dieses noch ein Mal durchlese, nur die vertrauteste
Freundschaft kann die Freymüthigkeit entschuldigen, mit der ich Ihnen
geschrieben habe. Aber ich müßte Sie nicht so sehr lieben, wenn ich Sie
nicht von Vorurtheilen frey zu machen suchte, die sonst das Elend Ihres
Lebens seyn könnten u. s. w.



Vier und dreyßigster Brief.


    Den 24. Januar.

Ihr letzter Brief ist schön, und das Gedicht, was Sie mir abgeschrieben
haben, recht vortrefflich. Es ist gewiß eine Ihrer besten Arbeiten von
dieser Art. Ihr Herz ist bey dem Gegenstande gewesen, und das Herz
führt immer den Verstand und das Genie sehr glücklich.

Aber warum gehen Sie nicht nach Halle, wenn Sie schon in Crellwitz
sind? Ich wünschte doch, daß Sie einen Ort, wo ich zwey Jahre sehr
übel zugebracht habe, und wo ich vielleicht noch viele andre, aber
besser, werde zubringen müssen, kennten. Der erste Anblick ist widrig,
das gebe ich zu; aber das ist doch eben so ausgemacht, daß das Auge
die prächtigsten Häuser und die elendesten Leimhütten gleich gut
gewohnt wird, und daß alsdann der Verdruß über die Häßlichkeit, und das
Vergnügen an der Schönheit, beynahe zu einer gleichen Empfindung der
Gleichgültigkeit herunter gestimmt werden. O besetzen Sie die Hütten
mit Freunden, die ich liebe und die ich verehre, und sie werden mir
schöner vorkommen als Palläste. Doch auch diese habe ich in Halle noch
nicht. Unterdessen kenne ich doch Leute, die vielleicht aufgelegt dazu
wären es zu werden.

Auf oder nach Ostern, den Tag weiß ich nicht, komme ich mit Gottes
Hülfe nach Leipzig. Ein Brief von Gellert, voll von Gütigkeit und
Freundschaft, hat mich erst vor fünf Tagen dazu eingeladen. Dieser
Mann ist wahrhaftig mein Freund. -- Ist mir nun ein kleiner Stolz
nicht zu verzeihen? -- Ich bringe hier meinen Winter sehr vergnügt zu.
Am Freytage war ich in dem Hause eines Hrn. v. P***, dessen Fräulein
Tochter, eine sehr gute und sehr angenehme Freundin von meiner Mutter
und von uns allen, ein kleines Koncert machte. Sie spielt sehr gut auf
dem Flügel. Ich spielte einige Sachen von Schobert τῷ πάνυ; lassen Sie
sich Reizen dieses erklären. Wir waren bis um 11 Uhr recht vergnügt. --
Gestern kam wieder eine kleine Wolke. -- Aber kurz ich bin vergnügt,
und bin u. s. w.



Fünf und dreyßigster Brief.


So schmeichelhaft es mir ist, daß Sie meine Ankunft wünschen, und so
angenehm mir also auch die Hoffnung ist, solche Freunde wieder zu
sehen; so muß ich doch sagen, daß mich die Vorstellung des Abschieds
erschreckt. Eine Menge alter, und einige neue Freunde, die ich hier
besitze, machen mir meinen Aufenthalt sehr angenehm, und die Trennung
fürchterlich. Vor allem aber ist es meine Mutter, die mir bange
macht. Ich hinterlasse sie zwar unter einer Menge von Personen, die
sie hochachten; aber doch kaum bey einer einzigen, die ihre vertraute
Freundin wäre; und selbst vor dieser würde doch ihre mütterliche
Zärtlichkeit meiner Gesellschaft noch einen Vorzug geben. Die Umstände
unsers Landes und die häuslichen, die davon abhängen, werden immer
trauriger; und es ist schwer zu bestimmen, wo dieser Fortgang vom
Bösen zum Schlimmern still stehen wird. Meine Mutter empfindet dieses
bey einem ziemlich weitläufigen Hauswesen, das ganz allein von ihrer
Sorgfalt in Ordnung gehalten werden muß, weit mehr, als ein jedes andre
Frauenzimmer. Ueberdieß ist sie oft kränklich, und braucht von einer
andern Seite eine kleine Aufmunterung, wenn die Schwachheit ihres
Körpers und ihre Umstände sie niederschlagen. Ich bedaure also beynahe
zuweilen, daß ich meinen Plan nicht so angelegt habe, daß ich zwischen
dem praktischen und dem akademischen Leben hätte wählen können. Meine
Freunde hier würden für mich viel gethan haben. Nach meiner jetzigen
Aussicht kann ihre Liebe mein Leben nur angenehmer, nicht mein
Fortkommen leichter machen. -- Doch ich will alle diese unangenehmen
Ideen mit freudigern abwechseln lassen.

Ich habe diese Woche ein sehr empfindliches Vergnügen gehabt; das
Vergnügen, ein neues Verdienst kennen zu lernen. An unsern D. Tralles
war aus Lausanne von dem berühmten Tissot eine gewisse Frau von
Wyllamons empfohlen worden, die hier durch, nach Polen, in das Haus
des Fürsten Czartorinsky als Hofdame ging. Der Herr Tralles bat mich
und einige Andre beyde Mal zu sich, als er sie bey sich hatte. Wenig
Frauenzimmer habe ich in meinem Leben gesehen, die mich durch die Größe
ihres Geistes, die Richtigkeit und die Tiefe ihres Raisonnements,
die Genauigkeit und Schönheit des Ausdrucks, und eine gewisse
unbeschreibliche Annehmlichkeit, mit der sie dieß alles begleitete, so
beym ersten Besuche für sich eingenommen hätten. Sie war weder sehr
jung, noch sehr schön, aber die Anmuth selbst. Augen, welche redeten,
und deren Bewegungen alles, was sie sagte, unterstützten; ihre ganze
Aktion war damit übereinstimmend; und ohne die geringste Achtsamkeit
auf sich selbst zu zeigen, that sie doch alle Mal das, was die
strengste Aufmerksamkeit hätte fordern können. Sie redete Französisch
und Englisch gleich gut, das erste in einem Grade von Vortrefflichkeit,
der auch bey Franzosen selten seyn mag; ihre Ausdrücke waren alle
Mal edel, gewählt, beynahe philosophisch richtig, und doch so frey
und so ungezwungen, als es zum Gespräche nothwendig ist. -- Ich habe
wenig Stunden angenehmer zugebracht, als die, welche ich mit ihr in
Gesellschaft war. Sie hatte viel gelesen, und urtheilte darüber nicht
blos richtig, sondern auch fein. -- Jedermann wurde von ihr bezaubert.

Alles das schreibe ich Ihnen, weil ein genossenes Vergnügen seinem
Freunde mittheilen ein zweytes Vergnügen ist u. s. w.



Sechs und dreyßigster Brief.


    Den 24. Februar.

Auf der empfindlichsten Seite hätte mein Brief Sie angegriffen?
Wahrhaftig, das war nicht die Absicht seines Schreibers. Selbst nicht
einmal die kleine Bosheit, die doch noch so gut mit der Freundschaft
bestehen kann, eine Art von Eifersucht zu erregen, um sich von neuem
von der Liebe des Andern zu versichern. Meine Absicht war noch weit
einfältiger und mein Bewegungsgrund noch weit unschuldiger. Ich glaubte
nicht, daß ich an der Frau von Wyllamons Vollkommenheiten lobte, die
Ihnen fehlten. Ich dachte blos, Ihnen ein Vergnügen durch die Erzählung
des meinigen zu machen. Sie wissen, die Eindrücke, die das Gute oder
das Böse von Personen oder Sachen auf uns macht, stehen nicht in unsrer
Gewalt. Die, welche die Frau von Wyllamons gemacht hatte, waren alle
für sie günstig. Ich schrieb diese in der Einfalt meines Herzens
nieder, um sie in Ihnen, wenn ich könnte, auf eine schwächere Art zu
erregen (Sie sagen selbst, Eindrücke von der Art sind angenehm). Ich
glaubte dabey um desto weniger Behutsamkeit zu bedürfen, je ähnlicher
diese Empfindungen denjenigen waren, die Ihre erste Bekanntschaft
bey mir erregte. Sie konnten es wahrscheinlicher Weise nicht einmal
wünschen, daß ich die Vorzüge, auf die sich zuerst meine Freundschaft
und meine Hochachtung für sie gründete, bey einer andern verkennen
oder gering schätzen sollte. -- Aber deswegen sind diese Frau und Sie
nicht auf gleichem Fuße mit mir. Die erste ist eine bloße Bekannte, die
ich ihrer Talente wegen hochschätzen muß, deren Herz ich noch nicht
kenne, und von der ich bisher nichts als Vergnügen und Höflichkeiten
erhalten habe. Sie sind meine Freundin, deren Herz ich geprüft habe,
von deren Freundschaft ich gewiß bin, und deren Einsichten mir nicht
blos zu dem flüchtigen Vergnügen eines Abends, sondern zu dem Glücke
meines Lebens gereichen. Ihr heutiger Brief selbst ist voll von den
freundschaftlichen Gesinnungen, die Ihr Herz von andern Herzen so sehr
unterscheiden.

Lassen Sie sich also die neuen Freunde nicht beunruhigen. Sie würden
auch die Ihrigen werden, wenn Sie sie kennten. Wollten Sie wohl
Jemanden zu Ihrem Freunde haben, den die ganze übrige Welt verschmähte?
Und würden Sie sich nicht Ihrer Neigung schämen müssen, wenn der
Gegenstand derselben unfähig wäre, irgend einem Andern eine ähnliche
Neigung einzuflößen? -- Ich kenne den Werth alter Freunde, und ich
empfinde den Vorzug, den eine bestätigte Liebe vor einer blos flüchtig
bezeigten Gefälligkeit haben muß. Alles also, was ich noch ins Künftige
von dem Vergnügen sagen werde, was mir meine hiesigen Freunde machen,
-- sehen Sie es niemals anders, als wie eine Aufforderung an Sie an,
an diesem Vergnügen Theil zu nehmen, und wie ein stillschweigendes
Versprechen, daß ich eben dieses Vergnügen, wenn es noch mit einer
mehr gründlichen, wesentlichen Glückseligkeit verbunden ist, noch weit
stärker empfinden werde.

Meine Mutter -- wissen Sie das? -- ist auch eifersüchtig. Sie wollen
nicht, daß ich mich vor meinem Abschiede fürchten soll? Wie kann ich
das, wenn es nicht blos um meine eigne Glückseligkeit zu thun ist,
sondern auch um meiner Mutter ihre? Sie müßten mich nicht für fähig
halten, ein guter Freund zu seyn, wenn ich ein schlechter Sohn seyn
könnte. Und wäre ich das nicht, wenn ich eine solche Mutter, wie die
meinige, gern verlassen könnte? u. s. w.



Sieben und dreyßigster Brief.


    Den 19. März.

Wenn ich jetzt nicht mehr als gewöhnlich beschäftigt wäre, und wenn
ich nicht den Zeitpunkt immer näher kommen sähe, in dem ich Sie wieder
sehen soll: so würde ich mir es selbst nicht vergeben, daß ich Sie
zuweilen auf meine Briefe einen Posttag länger warten lasse, als es
unserm ersten Vertrage gemäß ist. Ich könnte zwar sagen, es wäre Rache.
Aber ich finde nichts davon in meinem Herzen; und wenn Sie mir auch
noch seltnere und noch kürzere Briefe schrieben, so würde mich doch
mein eignes Vergnügen nöthigen, an Sie zu schreiben. Es ist also nicht
Vorsatz, sondern Unvermögen, wenn ich mir dieses Vergnügen zuweilen
versage. Ein Unvermögen, welches (erlauben Sie mir, das zu sagen) ich
bey Ihnen nicht voraus setzen kann, da Sie mir selbst versichern, daß
Ihr Umgang eingeschränkter als jemals ist, und Ihre Geschäfte sich
doch nicht häufen können.

Aber um Ihnen eine Probe von meiner Uneigennützigkeit zu geben: so
muß ich Ihnen gestehen, daß, wenn ich gleich zuweilen dadurch eines
Theils Ihres Andenkens, ja sogar Ihres persönlichen oder schriftlichen
Umganges (nur nicht Ihrer Freundschaft) beraubt seyn sollte; ich Ihnen
doch einen etwas ausgebreitetern Umgang wünschte, und zwar vornehmlich
unter Ihrem eignen Geschlechte. --

„Unter meinem eignen Geschlechte? Wie können Sie mir etwas wünschen,
wovon ich Ihnen so oft gesagt habe, daß ich es nicht zu meiner
Glückseligkeit rechnen würde, wenn ich es hätte?“

Aber wollten Sie mir wohl noch einmal die Ursachen wiederholen, warum
Sie es nicht darunter rechnen?

„Was habe ich nöthig, Ihnen das erst zu sagen? Sollten Sie nicht
wissen, wie leer der Umgang mit den mehresten Frauenzimmern ist; wie
wenig sich mit --“

ihnen anfangen läßt, wollen Sie sagen. Zum Unglück wahr genug!
Aber warum wollen Sie nicht daran arbeiten helfen, daß ihr Umgang
lehrreicher werde, daß sich mehr mit ihnen anfangen lasse? Was würde
aus dem niedrigern Theile unsers Geschlechts, oder des menschlichen
Geschlechts überhaupt werden, wenn sich der edlere Theil demselben
entziehen wollte, und ihm mit seinem Umgange zugleich die Mittel
benähme, ihm ähnlich zu werden?

„Aber ich habe nicht eben den Beruf, und auch nicht das Vermögen, eine
Verbesserin zu seyn. -- Ueberdieß, wozu bedarf ich den Umgang? Ich habe
meinen Gatten, den liebe ich; und die Stunden, die er nicht bey mir
ist, sind gut genug mit der Erwartung von ihm ausgefüllt; wenn noch ein
kleines unbefriedigtes Verlangen in meinem Herzen übrig wäre, so würde
die Freundschaft von zwey oder drey Freunden meines Mannes es doch ganz
ausfüllen. Und endlich --“

Und was endlich?

„Sie wissen, ich liebe meinen Mann über alles -- ich wünsche, daß er
mich über alles liebt --“

Und was denn also --?

„Ich würde es nicht leiden können, wenn eine meiner Freundinnen ihm
eben so gut gefiele, daß ich nicht mehr gewiß genug seyn könnte, daß
seine Frau ihm noch besser gefiele.“

Mich dünkt, Sie würden (wenn Sie mir meine Freymüthigkeit vergeben
wollen) diesen Bewegungsgrund nicht zuletzt angeführt haben, wenn Sie
den stärksten hätten zuerst anführen wollen.

„Gut! lassen Sie es seyn, daß es der stärkste ist. Ja, ich bin
eifersüchtig; und man kann gar nicht lieben, ohne eifersüchtig zu seyn.
-- Ich kann sogar keine Freundschaft für echt halten, die ihren Freund
so ruhig mit Vielen theilen kann. Hüten Sie sich, daß nicht Ihr Rath,
meinen Umgang zu erweitern, mich argwohnen läßt, daß Sie ihn nicht mehr
so eifrig für sich selbst wünschen.“

Das können Sie im Ernste nicht denken; -- noch viel weniger, wenn Sie
meine Gründe hören.

„Und diese Gründe?“

Nur noch einen Augenblick Geduld! Sagen Sie mir, haben Sie nicht
gehört, daß die Natur mit jeder Neigung, die sie uns giebt, oder mit
jedem Vergnügen, das Sie uns genießen läßt, eine andre Absicht habe,
als dieß Vergnügen selbst?

„Ums Himmels willen! so weit müssen Sie ausholen? Sie werden doch
nimmermehr die halbe Metaphysik abschreiben müssen, um mich zu bewegen,
daß ich ein halb Dutzend Karkassen in meiner Stube zusammen bringe.“

Nun gut also, wenn ich Sie nicht mit der Ueberzeugung überraschen kann,
so will ich sehen, ob ich mit offenbarer Gewalt gewinne. -- Sie sind
eine Ehegattin, aber auch zugleich ein Frauenzimmer und eine Mutter.

„Ja, eine Mutter! Und eben deswegen, weil ich diesen süßen, ehrwürdigen
Namen trage, brauche ich weniger als jemals eine Gesellschaft, die mir
blos die Zeit vertreiben soll. Meine Wilhelmine und mein Mann werden
mir bald die Stelle der ganzen Welt ersetzen. Aber ein Frauenzimmer
auch, sagten Sie, wäre ich; was soll das zur Sache?“

Als Frauenzimmer müssen Sie nothwendig die allervertrauteste
Freundschaft, die möglich ist, nur mit einem Frauenzimmer haben können.

„Und die Ursache davon?“

O hätten Sie nur erst diese Ihnen verwandte Seele unter Ihrem eignen
Geschlechte gefunden; kennten Sie nur erst das Frauenzimmer, das würdig
wäre, Ihre Freundin zu seyn: dann würden Sie mir die Frage selbst
beantworten. O wie glücklich würde ich seyn! Ihre Vertraute würde auch
meine Freundin seyn. -- Sie kennen Julie und Claire; Clarissa und Howe.
Sagen Sie mir, wäre es möglich, daß eine von beyden an die Stelle ihrer
Freundin einen Freund gesetzt hätte, ohne daß doch das Wesen ihrer
Freundschaft zerstört worden wäre?

„Wie? also giebts gar keine Freundschaft unter den beyden
Geschlechtern? Also sind Sie nicht mehr mein Freund?“

Nicht so hitzig, liebste Freundin! Ich denke nicht, daß ich unsre
Freundschaft herunter setze, wenn ich sage, daß es noch eine höhere
giebt, -- aber keine höhere, wenn die Wahl wieder auf eine Mannsperson
fällt. -- Wenn ich aber einem Frauenzimmer den Vorrang gebe, so denke
ich, ich bin blos großmüthig, nicht kaltsinnig.

„Gut! Eine Freundin ließ ich mir gefallen, eine ganz vertraute
Freundin, wenn ich sie hätte. Aber wozu der Umgang mit Vielen?“

Um diese Eine darunter zu finden. Muß man nicht erst wählen können, ehe
man sich entschließt?

„Und dann -- als Mutter, sagten Sie auch, müßte ich mit Frauenzimmern
Umgang haben. -- Eine beständige Zerstreuung ist wohl also ein gutes
Mittel, seine mütterliche Pflicht zu erfüllen?“

Nein, die größte Hinderniß, glaube ich. Aber nicht aller Umgang ist
eine Zerstreuung, die schädlich wäre.

„Aber sagen Sie mir doch den Nutzen, den mein Kind davon haben könnte.“

Ich muß Ihnen gestehen, ich bilde mir ein, zur Erziehung eines jungen
Frauenzimmers ist der Umgang mit Personen ihres Alters und ihres
Geschlechts nicht blos nützlich, sondern nothwendig. -- Es wird sonst
nicht Frauenzimmer genug; es verliert etwas von dem Charakter, und
also auch von den Annehmlichkeiten seines Geschlechts; es nähert sich
dem unsrigen, ohne doch dadurch mehr zu gefallen. Wie kann aber eine
Mutter ihrer Tochter eine Gesellschaft von ihrem Alter und Geschlecht
verschaffen, wenn sie selbst keine hat?

„Meine Tochter soll in meiner Gesellschaft lieber seyn, als in der
Gesellschaft der ganzen übrigen Welt. Mein Umgang muß ihr, wenn ich
anders es verstehe, eine Mutter zu seyn, den sehr leicht ersetzen, den
ich ihr nicht werde schaffen können. Und ich hoffe, mein und meiner
Freunde Unterricht wird sie alles das lehren, was Sie sie aus dem
Umgange wollten lernen lassen.“

O liebste Freundin, wer wollte wohl daran zweifeln, daß Sie nicht
die beste Mutter seyn würden, der Sie kennt? Ich wollte auch Ihrer
Tochter keinen andern Lehrer zugestehen, als Sie. Aber um seine Sitten
zu bilden; um den Menschen mit einer gewissen Dreistigkeit unter die
Augen sehen zu können; um von allen seinen guten Eigenschaften in
der Welt Gebrauch machen zu können, deren man sich in seinem Kabinet
bewußt ist: dazu gehört, daß man die Menschen bey Zeiten kennen lerne;
daß man viele Muster vor sich habe; daß man weiß, was für ein Grad
von Vollkommenheit in der Welt gemeiniglich angetroffen und gefordert
werde; und daß man -- soll ich es sagen? -- das Zutrauen auf sich
selbst durch die öftern Beweise von den Schwachheiten Andrer vermehre.

„Also sehe ich wohl, meine Wilhelmine wird eine Herumläuferin werden
müssen, wenn sie Ihnen gefallen soll.“

Nicht so ganz und gar. Sie verstehen mich besser, liebste Freundin, als
Sie mir es gestehen wollen. -- Müßte ich nicht entweder Sie hochachten,
oder sehr eigennützig seyn, wenn ich nicht einer Person, der ich
Verdienste zuschreibe, so vielen Einfluß auf Andre, eine so große
Sphäre ihrer Wirksamkeit, als möglich ist, wünschen sollte?

Da haben Sie eine kleine Probe von einem der Gedanken-Gespräche, mit
denen ich meine Entfernung von Ihnen zu vergessen suche. Wenn es Ihnen
nicht ganz mißfällt, so will ich mich öfter unterstehen, Ihnen die
Unterredungen zu erzählen, die ich ohne Ihr Wissen und Willen mit Ihnen
gehalten habe.

Gellerts Bild habe ich durch Hubern sechs Mal bekommen, und unter meine
guten Freunde ausgetheilt. Danken Sie dem Herrn Bause dafür, wenn Sie
ihn sehen. Er wird unser zweyter Wille werden. Und nun möchte ich doch
wissen, ob Herr M. Reiz noch unter den Lebendigen ist. Ich glaube,
daß ich meine Freunde öfterer aus meinem Grabe, wenn ich gestorben
wäre, besuchen würde, als er aus seinem Kabinet es thut. -- Lesen Sie
doch: +Vergleichung des Zustandes und der Kräfte der Menschen mit dem
Zustande und den Kräften der Thiere+ u. s. w.



Acht und dreyßigster Brief.


Ich bin in der That über das Ausbleiben Ihrer Briefe ein wenig unruhig
gewesen. Das kann Ihnen M. Reiz aus dem Briefe sagen, den ich an ihn
beygelegt habe. In einer solchen Verfassung war es wirklich grausam, --
doch Ihr Brief selbst ist so voll von Freundschaft und Güte, daß ich
nicht mehr daran denken kann, wie sauer ich mir ihn verdient habe.

Gellert hat den Ausspruch gethan. Ich weiß, Sie werden es selbst
billigen, daß ich ihm diese Entscheidung übertragen, oder daß er so
entschieden hat, sobald Sie sich in meine Verfassung setzen. Stellen
Sie sich einen Menschen vor, der nach zwey verschiedenen Gegenden
zugleich getrieben wird. Vor sich sieht er ein Ziel, welches er gern
erreichen möchte, und nach welchem zu laufen er von alten Athleten,
die seine Stärke oder Geschwindigkeit besser als er selbst zu kennen
glauben, aufgemuntert wird. Schon ist seine Seele, schon sind seine
Muskeln in einer Bewegung, die er noch seinen Füßen nicht hat geben
können; er steht zitternd und unruhig, und erwartet das Zeichen des
Aufbruchs. An beyden Seiten der Schranken sieht er Freunde, die ihm
zurufen, ihn aufmuntern, und ihm auf alle Fälle ihre Glückwünsche oder
ihr Mitleid versprechen. Auf der entgegengesetzten Seite sieht man
Mutter, Onkel, alle natürlichen Freunde des jungen Kämpfers, mit einem
ganzen Kreise von erworbenen Freunden, die sich immer weiter und weiter
von der Laufbahn entfernen, und ihm zurufen, zu ihnen zu kommen, und
noch für immer, oder für eine Weile, mit ihnen zu gehen. Der junge
Mensch ist unentschlossen, verwirrt, ängstlich. Unterdessen geht
die Zeit immer fort. Der Augenblick, wo das Zeichen zum Lauf gegeben
werden soll, nähert sich; seine Freunde entfernen sich immer weiter
und vermehren ihre Zurufungen. Was kann natürlicher Weise der junge
Mensch thun? Nachdem er eine Zeit lang beydes zu vereinigen gesucht,
bald sich nach dem Ziele ausgestreckt, bald seine Freunde zurück zu
halten gesucht hat; und durch entgegengesetzte Bewegungen, die einander
wechselsweise aufheben, in eine Art von Unthätigkeit und Leblosigkeit
gekommen ist; wird er nicht alsdann einen alten Kämpfer, besonders
den, der ihn zuerst ermuntert hat, sich in die Schranken zu stellen,
fragen, wie lange noch Zeit zum Aufbruche sey, und wie weit er noch die
Seinigen begleiten könne? -- Und werden die gütigen Freunde, die ihn an
den Schranken erwarten, wohl unwillig seyn, wenn er diesem Ausspruche
folgt, und sich aus einer solchen Verlegenheit reißt?

Meine Allegorie ist viel zu lang, denn sie hat mir zwey Drittheile
von dem Platze genommen, den ich noch zu ganz andern Sachen bestimmt
hatte. -- Wenn ich nicht jetzo über meiner Disputation arbeitete, so
würde mich nichts hindern, den zweiten und den dritten Bogen zu nehmen.
Aber jetzo muß ich wirklich ein Wirthschafter mit meiner Zeit seyn.
In drey Wochen, so viel ich jetzo voraus sehe, denke ich abzureisen.
Erfreuen Sie mich unterdessen oft mit Ihren Briefen, und machen Sie
mir, oder bestätigen Sie mir vielmehr die Hoffnung, daß ich Sie nicht
nur so freundschaftlich, so zärtlich, wie Sie immer gewesen sind,
sondern auch gesund, munter und fröhlich antreffen werde u. s. w.





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