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Title: Lebenswende
Author: Molo, Walter von
Language: German
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  | Anmerkungen zur Transkription                                    |
  |                                                                  |
  | Gesperrter Text ist als _gesperrt_ dargestellt, Antiqua-Schrift  |
  | als ~Antiqua~.                                                   |
  | Eine Liste der Änderungen befindet sich am Ende des Buchs.       |
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                               ~KRONEN
                                BÜCHER~

                            [Illustration]

                     Romane erster Schriftsteller



                              Lebenswende

                                 Roman
                                  von
                            Walter v. Molo

                            [Illustration]

                            ~RUDOLF MOSSE~
                           (~KRONEN-VERLAG~)
                            ~BERLIN SW 68~


      Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung, vorbehalten
                          Nachdruck verboten
            ~Copyright 1918 by Rudolf Mosse, Berlin SW 19~


Lebenswende

  erschien im Jahre 1908 unter dem Titel »Klaus Tiedemann, der
  Kaufmann«; vorliegende Ausgabe ist vom Autor neu durchgesehen und
  in mancher Hinsicht verändert worden.



»Willst du noch ein Butterbrot?« fragte zum zweitenmal Hilde Tiedemann
ihren jüngeren Bruder Leo und sah über den Frühstückstisch.

Als wieder keine Antwort kam, stellte sie klirrend die Tasse nieder,
die sie in der Hand gehalten hatte, und trat zu dem Knaben, der mit
starren Augen vor sich niedersah. »Leo!« Sie rüttelte die schwächliche
Gestalt, daß die beinahe vornüber fiel, und strich ihm das seidenweiche
Haar aus der Stirn. »Was ist mit dir?«

Langsam richtete sich der kränkliche Achtzehnjährige auf; er kniff
mißmutig die Brauen zusammen: »Ich mag nichts, hab' ich gesagt!« Es
klang verhaltener Aerger aus der lügenden Stimme.

»Du hast _nichts_ gesagt,« antwortete sie und sah zu der Uhr, die über
dem Kamin in bedächtigem Gang ihr Pendel schwang. »Du solltest schon
lange in der Schule sein!«

Leo zog ärgerlich die Schultern: »Laß das _meine_ Sorge sein und
kümmer' dich um andere!« Seine Augen gewannen an Glanz, weil er eine
Waffe gegen seine Schwester gefunden zu haben meinte: »Zum Beispiel um
deinen Hansen, der ist gewiß jetzt noch im Bett.« Er lachte, und die
Schadenfreude saß um seinen blassen Mund.

Hilde war rot geworden und gab keine Antwort, nur mit dem Löffel
stocherte sie in der Tasse, trotzdem der Zucker schon lange vergangen
war. Dann stand sie jäh auf, mit plötzlichem Entschluß. »Stichle,
solange du willst, es ist mir gleich,« sagte sie, hochatmend holte sie
Luft, »aber das eine muß ich dir sagen, wenn du so weiter machst, Leo,
dann nimmt es ein schlechtes Ende mit dir!«

Leo hatte sich im Sessel zurückgelehnt und sah mit einem Blick,
der unbefangen sein sollte, aber doch widerwilliges, ängstliches
Eingestehen zeigte, auf seine Schwester. Er versuchte ein verlegenes
Lächeln: »_Was_ wird ein schlechtes Ende nehmen, bei mir oder bei dir?«
sagte er.

»_Du!_« ihr Fuß stampfte entrüstet auf, »du weißt ganz gut, was ich
meine! Sei nicht so häßlich mit mir!« Unwillig warf er die Serviette
auf den Tisch:

»Ich bin kein kleiner Bub, der dir über alles Rechenschaft geben muß.«

»Das will ich auch nicht, aber schonen sollst du dich und deine
Gesundheit; mußt du denn _jetzt_ schon alles mitmachen, immer dein
Erwachsenen-Spielen! Du hast doch das _ganze_ Leben vor dir? Wenn Papa
wüßte, wann du _heute_ nacht wieder nach Hause gekommen bist!«

Erschreckt blickte er sie an. »Du wirst es doch nicht sagen?« fragte er
hastig.

»Nein, gewiß nicht, aber du solltest Vernunft annehmen.«

»Was heißt Vernunft annehmen! -- Das ist ein blödes Wort für euch
Mädels, für uns kann das Leben nicht früh genug anfangen.« Seine
bleichen Wangen bekamen Farbe; er erhob sich. »Erzählte Papa nicht
selbst, wie er schon als kleiner Bub alles mitgemacht hat, wie er mit
achtzehn Jahren allein in die Welt hinauszog? Und ich soll immer hinter
dem Ofen hocken?«

»Das war ein anderes Leben, Leo, von dem Papa spricht! Das war Arbeit,
und nicht Vergnügen wie bei dir.«

Er ließ die Hand heftig auf den Tisch fallen »Herrgott ja, aber soll
ich mich plagen, wenn ich es nicht notwendig habe? Papa war arm und
mußte arbeiten, wir aber sind, Gott sei Dank, reich.«

»Wie du daherredest,« ihre Stimme zitterte in Erregung: »Arbeiten muß
jeder Mensch.«

»Ja, tu' ich ja auch! Ich habe Kopfweh!«

Sie faßte seine schmale Hand: »Wenn dir nicht gut ist, lege dich ins
Bett, aber geh nicht so viel lumpen, du bist noch zu jung!«

Er fuhr zornig auf: »Kommst du schon wieder mit dem Alter, als ob alles
davon abhinge! Der eine ist eben früher reif, der andere später -- das
verstehst du nicht!« Er drehte ihr den Rücken zu und begann vor sich
hin zu pfeifen. Dann sagte er leichthin über die Schulter: »Görnemann
war vorhin da und suchte Fred.«

»Wo ist Fred?«

»Weiß ich's?«

Sie sah wieder zur Uhr und schüttelte den Kopf: »Neun, und er ist noch
nicht auf!«

»Aufgestanden ist er schon lange, aber er ist gleich weggefahren.
Sie probieren heute bei der Morgenarbeit den ‚Franklin’,« sagte Leo
wichtig, dessen älterer Bruder einen Rennstall hielt, und unterdrückte
ein Gähnen.

Als Hilde keine Antwort gab, sondern den Tisch abzuräumen begann,
setzte er sich auf den Diwan und sah ihr zu: Hilde Tiedemann war
mit ihren zwanzig Jahren ein hübsches Mädchen, das gestand sich ihr
Bruder jetzt, wie schon oft, wohlgefällig zu, und sein Blick, der ihre
schlanken Formen und flinken Bewegungen verfolgte, wurde freundlicher.
»Du solltest, Hilde, nicht alles selbst tun! Wozu haben wir denn unsere
Dienstboten?«

Hilde hielt in der Arbeit inne:

»Warum soll ich das nicht tun? Das schadet doch nichts?«

»Schadet nicht, aber die Leute bekommen eine falsche Meinung von uns.
Sie müssen sehen und spüren, daß wir die Herren sind.«

»Das merken sie viel eher, wenn man aus freien Stücken mitarbeitet, als
wenn man sie, wie ihr es liebt, allein schalten und walten läßt und
dabei alles verkommt.«

»Du bist köstlich, als ob bei uns so etwas vorkommen würde!«

Hilde strich die letzten Brotkrumen vom Tisch und erwiderte: »Ich
kann's als Mädel nicht ändern.«

Leo rückte unruhig herum: »Lächerlich, einfach lächerlich! Wenn es nach
dir ginge, dürfte man sich überhaupt keine Freude gönnen! Du siehst in
einem fort Gespenster! Papa, Fred und ich sind lustig und guter Dinge,
du predigst immer Gefahr. Ich möchte nur wissen, woher eine solche für
uns kommen sollte?«

Hilde Tiedemann schüttelte den Kopf; sie sagte: »Das ist es ja, Leo,
daß ihr alle so sicher seid und mich mit meinen Sorgen auslacht! Ihr
glaubt, weil wir Geld haben, kann uns nichts geschehen. Schau, Leo,«
sie trat ganz nahe zu ihm und dämpfte, in eindringlicher Liebe, ihre
Stimme: »Du arbeitest viel zu wenig für deine Schlußprüfung, du verläßt
dich ganz auf das Schwindeln mit dem Schuldiener -- wenn's nun nicht
gelingt?«

Er lachte selbstsicher: »Er bekommt genug Geld, es _wird_ gelingen.«

»Du _kannst_ es nicht wissen. Und selbst, wenn es gelingt; schämst du
dich denn nicht vor deinen Mitschülern, die sich ehrlich plagen müssen?
Weißt du, ich verstehe ja nichts davon, aber ich -- wenn ich an deiner
Stelle wäre -- ich würde lieber durchfallen, aber ehrlich arbeiten, als
durch Betrug Erfolg haben zu wollen.«

Leo bekam vor Aerger wieder rote Wangen: »Du redest so gut, wie du es
verstehst -- du bist furchtbar unpraktisch,« er nahm einen überlegenen
Ton an: »merk' dir, Hilde, was man erreichen kann, soll man erreichen,
die Mittel dazu sind gleich -- wenn man es sich bequemer machen kann,
dann soll man's erst recht tun -- alles andere ist Unsinn ...« Er hielt
inne und sah mit plötzlich belebtem Blick auf das Stubenmädchen, das
eingetreten war und meldete: »Herr Görnemann ist da!«

Hilde ging lebhaft zur Tür; sie fragte: »Warum kommt er denn nicht
herein?« Sie rief: »Herr Görnemann! Herr Görnemann, kommen Sie doch zu
uns herein!«

Die magere, peinlich gekleidete, lange Gestalt des Prokuristen, mit
weißem Kopf und rosigen Wangen, schob sich in die Türöffnung; sie sagte
bescheiden:

»Guten Morgen, Fräulein Hilde, ich wollte nicht stören. Ist Herr Fred
schon da?«

Belustigt reichte ihm Hilde die Hand. »Wie formell Sie geworden sind!
Sie wollten nicht ‚stören’? Wen denn?«

Er hüstelte und sah hinter den weißen Wimpern scharf auf sie. »Der
junge Herr hat dem Personal verboten, in die Privatwohnung zu kommen.«

»Das gilt aber doch nicht für _Sie_!«

»Mein liebes Fräulein, die Zeiten ändern sich. Es ist besser, man
gewöhnt sich daran.« Er bemerkte Leo und nickte ihm freundlich zu.
»Guten Morgen, Herr Leo!« Der gab keine Antwort, so daß dem alten Mann
das Blut ins Gesicht stieg.

»Brauchen Sie meinen Bruder notwendig, Herr Görnemann?« fragte Hilde
und nestelte mit nervösen Fingern an ihrer Bluse.

»Ja -- es sind Briefe zu unterschreiben und Wechsel für Frau von Lecart
zu unterfertigen.« Seine Stimme war unsicher.

»Für Clo?«

»Ja, Ihre Frau Schwester hat schon zweimal hergeschickt, ich kann die
Wechsel aber nicht allein hinausgeben, weil die Summe zu hoch ist.« Er
machte eine rasche Wendung, als brenne plötzlich der Boden unter seinen
Füßen: »Ich werde eben noch warten und dann wieder heraufsehen,« sagte
er hastig. »Guten Morgen, Fräulein Hilde!«

Hilde wollte den alten Mann versöhnen, darum fragte sie noch rasch.
»Wie geht es Ihnen immer, Herr Görnemann?«

Der stand schon auf der Schwelle. »Gut, ich danke.«

Als der Prokurist die Tür lautlos hinter sich zugezogen hatte, fragte
Hilde vorwurfsvoll ihren Bruder: »Warum hast du ihm nicht gedankt, als
er dich grüßte?«

»Laß mich in Ruhe! Er könnt' sich 'mal auch schon angewöhnen, zu mir
_Herr Tiedemann_ zu sagen, statt mich, wie ein Kind, ewig mit dem
Vornamen anzusprechen!«

»Gegen ihn bist du doch auch ein Kind! Du solltest ihn überhaupt zuerst
grüßen.«

»Er ist doch nur ein Angestellter von Papa?!«

»Seit mehr als vierzig Jahren! Er hat Papa gekannt, als der noch arm
war und hat ihm geholfen, sein Geld zu verdienen.«

»Dafür hat er sein Gehalt bekommen.«

Sie wollte heftig widersprechen, doch sie schwieg und horchte auf den
festen Tritt, der von dem Schlafzimmer ihres Vaters herüberkam und vor
der Tür zögerte. Dann klang die Türschnalle. »Guten Morgen, Kinder!«

Klaus Tiedemann küßte seine Tochter auf den Mund und trat zu Leo, der
langsam aufgestanden war und lässig sagte: »Morgen, Pa!« Leo schloß
für einen Augenblick die Lider und beugte sich herab, damit ihn seines
Vaters Mund erreichen konnte. Der küßte ihn auf die Stirn:

»Frisch beisammen und ausgeschlafen, mein Junge?« fragte Klaus
Tiedemann.

»Ja, Pa!« Leo suchte seiner Stimme Klang zu geben. »Mir ist wieder ganz
gut.«

»Kein Kopfweh mehr?«

»Nein, ganz wenig.«

»So ist's recht, und nun Hilde: meinen Tee!« Er trat zum Fenster
und sah aufs Thermometer, während Leo sich an Hilde heranmachte und
flüsterte:

»Nichts sagen, du hast es mir versprochen!«

Sie schüttelte unwillig den Kopf.

Klaus Tiedemann ließ sich schwer in den gepolsterten Sessel fallen und
sah seinen Jüngsten an. »Ein wenig blaß bist du doch noch! Gehe heute
lieber nicht in die Schule!« sagte er.

»Meinst du, Papa?«

»Was du da drinnen versäumst, kannst du noch hundertmal einholen,
bleib' daheim!«

»Danke, Pa!« Leo schaute triumphierend zu seiner Schwester hinüber.
»Dann lege ich mich aber noch ein wenig hin, denn ich bin recht müde;
jetzt kann ich's ja sagen!«

»Tue das!«

»Servus! Kommst du ein bißchen zu mir hinauf, damit wir plaudern
können?«

»Gewiß, mein Kind!«

Es lag väterlicher Stolz und Liebe in dem Ton der Worte und dem Blick,
den Klaus Tiedemann der hoch aufgeschossenen Gestalt seines Sohnes
nachsandte, bis sie verschwunden war. Dann meinte er zu Hilde mit
einer entschuldigenden Färbung in der Stimme: »Die Schulmeister täten
mir den Buben ganz ruinieren, wenn ich nicht hier und da einen Riegel
vorschieben würde.«

»Ja,« antwortete sie; und ihr kamen die Worte nur schwer aus der Kehle,
weil sie an den ewigen Irrtum und die allzu große Nachsicht ihres
Vaters denken mußte, »aber Leo sollte sich auch _selbst_ mehr schonen!«

»Das tut er so Hilde; sieh darauf, daß er immer Wein trinkt!«

Er faltete die Zeitung auseinander; aus alter Gewohnheit begann er
zuerst mit dem rückwärtigen, volkswirtschaftlichen Teil. Dadurch schien
er an das Geschäft und mit diesem an Fred erinnert zu werden. »Ist Fred
schon dagewesen?« fragte er.

»Nein, Papa!« Hilde wartete vergeblich auf Antwort. Nur die Zeitung
knisterte.

Sie schüttelte den Kopf: daß er Fred so blind vertraute! Er hatte doch
eigentlich keinen Grund dazu! Der Aelteste hatte nie viel Lust für das
Werk seines Vaters empfunden und ging oft nur ins Kontor, weil ihn
sein Vater dazu zwang. Als Fred vom Militär zurückgekommen war -- am
liebsten wäre er dabei geblieben --, hatte sein Vater darauf bestanden,
daß er in die Firma eintrat. Es war ein harter Kampf gewesen, doch
Klaus Tiedemann hatte gesiegt! Da es die Sicherung seines Lebenswerkes,
seines Hauses galt, war er ein anderer als sonst: er gab nicht nach!
Fred fügte sich seufzend in sein Schicksal, um das ihn Millionen
Aufstrebender beneidet hätten. Doch von der Zeit an schien sein Vater
jede Lust zum Geschäfte verloren zu haben; er sehnte sich plötzlich
nach Ruhe: Wenn Fred schon Kaufmann sein mußte, so sollte er auch
_Chef_ sein. Als Fred Lust am Geschäft zu finden schien, trat sein
Vater zurück. Er war schließlich 70 Jahre alt, da kam die Jugend ins
Recht!

Hilde saß mit hängenden Armen und wartete, ob der Vater etwas benötigen
sollte.

Es vergingen stille Minuten.

In der Ruhe, die sie umgab, schlichen ihre Gedanken wieder in die
Ferne. Sie dachte: ihre Mutter -- vor Jahresfrist war sie gestorben! --
sie trugen noch die Trauergewänder für sie -- war eine Frau gewesen,
die sich nicht viel um die Kinder bekümmerte, die ihr halbes Leben auf
der Chaiselongue verbrachte, mit Kopfweh und Nervenzuständen. Klaus
Tiedemann mochte nicht der richtige Mann für sie gewesen sein, etwas zu
selbstherrlich und zu gewaltsam, wenigstens die ersten Jahre der Ehe.
Das schien mit der Zeit von ihm gefallen zu sein. Hilde erinnerte sich
mancher garstiger Szene zwischen den Eltern in früheren Jahren. Mama
sprach stets mit gewisser Rückhaltung von Papa, der eben aus _anderen_
Kreisen stammte als sie, die Tochter des Konsuls. Das hörte ihr Vater
nicht gern, denn er versuchte seine Vergangenheit zu vergessen,
obgleich sie ihm aus eigener Kraft zu Ansehen und Reichtum verholfen
hatte. Schon seiner Kinder wegen wollte er nicht daran erinnert werden;
sie hatten ihn stets nur als einen reichen und -- nach Klaus Tiedemanns
Meinung -- daher vornehmen Mann gekannt, und er war ängstlich bemüht,
sie dabei zu lassen.

Der Kinder wegen war ihm nichts zu viel, an denen hing er mit rührender
Liebe: weniger an den Töchtern, über die Frauen hatte er überhaupt
seine eigene Meinung, die auch zu seiner Ehe geführt und seine ältere
Tochter Clotilde, heute Clo Baronin Lecart, zu ihrer Wahl geleitet
hatte. Aber seine Söhne waren ihm alles; diese eleganten jungen Leute,
denen jeder Salon offen stand, konnten alles von ihm haben. Willig
ordnete er sich ihnen unter. Hilde fuhr zusammen und sah auf: Vater
hatte mit hastigem Ruck ein Blatt der Zeitung umgeschlagen. Ohne daß
sie hinblickte, wußte sie, daß es die Kunst- und Theaternachrichten
waren. Ihr Denken erhielt eine neue Richtung: Warum spielte Leo
stets auf Hansen, seinen früheren Lehrer, an, wenn er sie kränken
oder in Verlegenheit bringen wollte? Glaubte er, daß sie für den
Karikaturenzeichner Sympathie empfände? Und wenn, was ging das ihn an?
Sie bewegte trotzig den Kopf: was ging das ihn an? Vater merkte nichts,
sonst hätte er gesprochen, der hatte andere Pläne mit ihr, das wußte
Hilde! Klaus Tiedemanns Schwiegersöhne mußten Namen von Klang haben und
in der Gesellschaft etwas gelten; das war beides bei J. A. Hansen nicht
der Fall. Der hatte nur eine alte Mutter und seine freche Hand, die den
Menschen an der schwächsten Seite zu packen wußte -- an der Eitelkeit.
Das vergab ihm niemand. Hilde seufzte: Es mußte wohl so im Leben sein,
daß manchem sein Können schadete und ihm Feinde schuf! War nicht auch
Gerhard unbeliebt, trotzdem er, wie Vater selbst zugab, dem Geschäft in
einem kurzen Jahr unentbehrlich geworden war? Gerhard stammte aus ihres
Vaters _erster_ Ehe.

Es mußten unangenehme Erinnerungen sein, die Klaus Tiedemann an diese
Zeit im Herzen trug, denn nie sprach er davon. Seine erste Frau war
früh gestorben und Gerhard war in fremden Händen aufgewachsen. Erst
nach dem Tode seiner zweiten Frau hatte sich der Vater an seinen Sohn
aus erster Ehe erinnert. Des Konsuls Tochter hätte es nicht zugegeben,
und Klaus Tiedemann hatte durch seiner Frau Widerstand einen ihm lieben
Entschuldigungsgrund gefunden, sein Kind nicht wiederzusehen. So war
Gerhard spät in seines Vaters fremdes Haus gekommen.

Draußen schellte die Glocke und tönten Stimmen, Säbelklirren und
Sporenklang.

Hastig faltete Klaus Tiedemann die Zeitung zusammen. »Es ist Fred,«
sagte er hochachtungsvoll. »Er bringt jemanden mit,« in sorgender Eile
überflog sein Blick den gedeckten Tisch, »nimm die Eierschalen weg
und gib die Zuckerzange her.« Er fuhr herum: die Tür ging auf, Freds
Hand wurde sichtbar, die den Flügel hielt, um dem Gast den Vortritt zu
lassen: ein Offizier; er schlug die Sporen zusammen, verneigte sich und
sagte: »Die Herrschaften verzeihen meinen Ueberfall!«

Klaus Tiedemann hob devot die Hand. »Bitte, bitte recht sehr, doch
einzutreten.«

»Freiherr von Olthoff« stellte sich der Gast vor und verneigte sich.
Hilde sah einen tadellosen Scheitel, der sich nach hinten im spärlichen
Haar verlor, das schwarz und fett auf dem Kopfe haftete; leises
Unbehagen beschlich sie, als er ihre Hand zum Munde führte. Sein langer
Blick überflog sie.

»Servus, Fred,« im Vorübergehen klopfte der alte Tiedemann seinem
Sohne liebkosend auf den Arm, dann riß er die Portiere zur Seite:
»Bitte hier in den Salon!«

»Der Dame den Vortritt.« Olthoff ließ Hilde vorangehen und musterte in
Eile die schweren eichenen Möbelstücke, die von dem sezessionistischen
Tand der übrigen Einrichtung sonderbar abstachen. »Ich sehe, man liebt
hier das Neue.« Klaus Tiedemann hörte gern das Lob seiner Bemühungen,
er war angenehm berührt von des anderen Art.

»Man geht mit dem Fortschritt! Uebrigens das ist Freds Verdienst.«

»Also _du_ bist der Künstler?« Olthoff wendete sich für einen
Augenblick zu Fred, der sich eine Zigarette anzündete, dann
entschuldigte er sich neuerlich: »Ich mache mir wirklich Vorwürfe, daß
ich so ohne weiteres die Herrschaften inkommodiere, aber wir waren so
lustig zusammen, weil ‚Franklin’ so gut bestanden hatte, daß ich mich
leicht überreden ließ.«

»Mache doch keine Umstände,« Fred Tiedemann sprach mit hoher, gesucht
vertraulicher Stimme, »meine Leute freuen sich, dich kennenzulernen,
nachdem ich ihnen schon viel von dir erzählt habe!«

»Gewiß, Herr Baron, wir sind Fred sehr verbunden, daß er uns Ihre werte
Bekanntschaft vermittelte,« sagte Klaus Tiedemann schnell.

Olthoff verneigte sich, daß die Sporen klangen. »Sehr angenehm.«

»Wollen Herr Baron nicht eine Erfrischung zu sich nehmen?«

»Nein, danke, wir haben reichlich gefrühstückt.«

»Vielleicht könntest du, Hilde, ein Glas Wein an ...« Hilde war langsam
aufgestanden, doch schon versperrte ihr Olthoff den Weg:

»Sehr liebenswürdig, aber ich danke wirklich! Bitte doch Platz zu
behalten. Bitte!« Als sie wieder saßen, nickte er Hilde zu: »Gnädiges
Fräulein müssen die Stelle der Hausfrau vertreten?«

Seine Reden klangen konventionell und gezwungen, ein leichter Hauch von
der Ueberlegenheit des Mannes war darin und: Oberflächlichkeit. Hilde
merkte mit scharfen Sinnen: das war einer, der ihr gegenüber die Art
ihrer Leute hatte, nun begriff sie Freds Sympathie!

Der suchte stets Bekanntschaften, die ihm in der Gesellschaft durch
Namen oder Aehnliches nützen konnten! Sie zuckte die Achseln und sagte:
»Natürlich!«

»Gnädiges Fräulein haben noch einen zweiten Bruder?«

»Ja!« Klaus Tiedemann, der mit Zigarrenkistchen im Arm vorüberging,
streichelte ihr die Wangen; seine Worte kamen oft verspätet:

»Nur nicht zu bescheiden sein, Mädel!« Hilde zuckte zusammen, ihr tat
die gutgemeinte Berührung in Gegenwart des Fremden weh. Der wendete
sich zu Klaus Tiedemann:

»Ein herber Verlust, wenn den Kindern die Mutter entrissen wird; auch
meine Mama starb früh.«

Klaus Tiedemann nickte. »Es ist übermorgen ein Jahr; meine arme Frau;
sie war eine Geborene _von_ Wesenheim.«

Olthoffs verwittertes Gesicht überflog für eine Zehntelsekunde ein
Lächeln, das sein gelbes Antlitz unter dem schwarzen Schnurrbart
häßlich verzog. »Sie haben einen guten Ersatz,« er sah mit kecken Augen
auf Hilde, die befangen vor sich niederblickte.

»Darüber ließe sich streiten,« warf Fred Tiedemann ein.

»Nicht doch, Hilde hilft uns in vielem.«

Fred lenkte ab, ihm mochte die Wendung des Gespräches nicht behagen:
»Also, Olthoff, sage mal, du als Kavallerist, ob ‚Franklin’ nicht
wirklich Chancen hat? -- Papa glaubt's nämlich nicht.«

Wie elektrisiert fuhr der Angesprochene herum. »Ich sage Ihnen, nur
der, der _ihn_ schlägt, gewinnt das Rennen.«

»Na also,« lachte Fred Tiedemann wegwerfend.

»Mich soll es freuen, wenn du mit deinen Rennfarben gleich von Anfang
an Glück hast,« sprach bedächtig Klaus Tiedemann.

»Uebrigens, Papa: wir haben außerdem einen anderen famosen Gaul in
Aussicht!«

»Du willst schon wieder ein Pferd kaufen?« Des alten Tiedemanns Stimme
erhielt etwas Kleinlich-nörgelndes. »Du mußt ja schon ein Dutzend
beisammen haben?«

»Sogar mehr!«

Olthoff mischte sich ins Gespräch: »Ihr Herr Sohn fängt die Sache mit
Geschick an: man würde gar nicht glauben, daß er der erste ist, der in
der Familie diese Passion hat.«

»Ich habe nie besonders dafür geschwärmt,« beeilte sich der Alte zu
sagen und faltete nervös die Hände zusammen, »doch ihr Jungen seid uns
ja heute in allem über.«

»Du hattest keine Zeit dazu!« Hildes Stimme klang heiser und
kampfbereit: glaubte Papa wirklich, daß seine Söhne höher stünden? Fred
winkte ihr mißbilligend ab: »Warum hätte Papa keine Zeit haben sollen?«
sagte er. »Wir Kinder haben ihn nicht gehindert: und das Geschäft läuft
von selbst weiter.«

Es klopfte jemand an die Tür. Fred rief: »Herein.«

Eine breite, muskelkräftige Gestalt, mittelgroß, die unverkennbare
Aehnlichkeit mit dem alten Tiedemann trug, trat über die Schwelle;
eine sichere Stimme sagte kurz: »Guten Morgen.« Die Aussprache hatte
englischen Akzent. Gerhard Tiedemann ging mit schweren Schritten auf
seinen Stiefbruder zu und sagte sachlich:

»Wir brauchen dich drunten im Kontor, zum Unterschreiben, wir können
die Sachen nicht länger liegen lassen.«

Unwillig hatte sich Fred im Sessel herumgeworfen. Nun galt es, den Chef
zu zeigen. Er zog die Stirn in Falten. »Ich komme; so lange wird es
wohl noch Zeit haben!?«

Gerhards energisches Gesicht blieb ruhig. »Ich habe die Sachen
mitgebracht; sie liegen nebenan.«

Klaus Tiedemann wackelte vergeblich mit dem Kopfe, um der peinlichen
Szene -- doppelt unangenehm, weil sie vor einem Fremden stattfand --
ein Ende zu machen. Auch in ihm war Aerger über Gerhards eigenwilliges
Benehmen. Was mußte sich Olthoff denken?

Als Fred keine Antwort gab, klang abermals Gerhards Stimme: »Es handelt
sich vor allem um die Wechsel für Lecart, deren dieser dringend
benötigt.«

Fred war aufgesprungen und maß den Sprecher von Kopf bis zu den Füßen,
dann ging er voraus ins Herrenzimmer.

Klaus Tiedemann sah seinen Kindern nach, von denen er das, welches die
Art seiner eigenen Jugend trug, nicht liebte. Wie derb und gewöhnlich
war dessen Gestalt gegen die elegante Figur Freds!

Es vergingen verlegene Minuten.

Schnell und unvermittelt, um der Situation Herr zu werden, frug
Tiedemann:

»Sind Herr Baron schon lange hier in Garnison?«

Olthoff lächelte, daß kleine Fältchen um seine Augen aufsprangen: »Erst
wenige Monate; ich bin Jahre in der Provinz gewesen.«

»Ich denke mir das Leben dort nicht so unangenehm?«

»Es ist fad.«

»Dafür gilt aber der Offizier dortselbst mehr als hier in der
Großstadt. Besonders bei der Damenwelt. Nicht?«

Olthoffs Stimme wurde interessiert: »In der Provinz sind meist nur
verheiratete Damen. Die sind gewiß für uns Junggesellen _sehr_
angenehm; aber in einer Kleinstadt läßt sich so etwas nicht ausnutzen.«

»Ich verstehe.« Klaus Tiedemann lachte in der ihm eigenen bedächtigen
Art und sah fragend nach Hilde hinüber: ob die zimperlich sei?

Olthoff bemerkte den Blick und sagte: »Gnädiges Fräulein verzeihen, daß
ich so sprach?«

»Bitte!« Sie erhob sich jäh; auch er stand. »Nun habe ich lange genug
gestört.«

»Nicht im geringsten,« sagte Klaus Tiedemann, vor Hilde tretend, »ich
werde sofort Fred rufen lassen. Ich weiß nicht, warum er so lange
fortbleibt.«

Olthoff legte Klaus Tiedemann die Hand auf den Arm; er sagte
verbindlich »Bitte, ihn herzlich von mir zu grüßen, und nochmals
Verzeihung für mein Stören!«

»Aber ich bitte!«

»Sie müssen es auf Kosten Ihrer Liebenswürdigkeit setzen.«

Klaus Tiedemann verneigte sich: »Kommen Sie recht oft und recht bald
wieder, Herr Baron!«

»Wenn Sie gestatten, mit größtem Vergnügen!« Olthoff schlug die Hacken
zusammen. »Bitte Fred zu sagen, er soll mich antelephonieren. Er will
ein Auto kaufen, und da möchte ich ihm gern fachmännisch raten,« fügte
er erläuternd hinzu.

»Herr Baron sind sehr liebenswürdig!«

Olthoff sandte noch einen Blick zu Hilde, die unmerklich den Kopf
neigte. Dann ging er. Der alte Tiedemann begleitete ihn.

Hilde stand auf und seufzte:

Ein Tag war begonnen in alter Art.


Nach Tisch gab es eine erregte Szene: Fred aß nicht mit den Seinen, weil
er sich nicht, wie er sagte, bei seinen mannigfaltigen Obliegenheiten
an eine feste Eßstunde binden konnte. Heute war er jedoch auf ein paar
Minuten gekommen, um seinem Vater die letzten Abmachungen für die
morgige Eröffnung des Industriehauses mitzuteilen. Darüber war Klaus
Tiedemann in Aerger und Aufregung geraten. Er sollte den Minister mit
einer kurzen Ansprache begrüßen. Solange zu arbeiten gewesen und zu
raten, hatte man auf ihn bauen können, jetzt sollte man ihm seine Ruhe
lassen.

»Ich tu's nicht,« sagte er mißmutig und sah ärgerlich zu Boden.

»Du mußt; es bleibt dir nichts anderes übrig, willst du uns nicht alle
bloßstellen.«

»Wen? Alle?«

»Du bist Obmann des Aktionskomitees und hast als solcher die Pflicht,
zu sprechen.«

Klaus Tiedemann gab voll Grimm keine Antwort.

Hätte man ihn nicht hineingejagt in das Ganze, wäre alles gut; die
Geschichte mit dem Industriehaus ging jetzt schon über vier Jahre! Die
Vereinigung der Großindustriellen hatte sich nach langem Herumstreiten
zum Bau eines Vereinshauses entschlossen, und Tiedemanns verstorbene
Frau hatte es verstanden, dafür zu sorgen, daß ihr Mann dem Werke
in leitender Stelle gegenüberstand. Er hatte sich gefügt, in einer
Anwandlung befriedigten Stolzes, daß man zu ihm gekommen war.

Die anderen Mitglieder des Ausschusses waren damit zufrieden,
ihre Namen so oft als möglich in die Zeitungen, anläßlich der
Sitzungsberichte, zu lancieren. Klaus Tiedemann hatte gestützt
auf seine reichen Erfahrungen, sich voll in den Dienst der Sache
gestellt und gearbeitet. Sein Aerger, über die Aufforderung und seine
Unfähigkeit, ihr zu entsprechen, waren desto größer, als er wußte, daß
es ihm eigentlich im wahrsten Sinne des Wortes zustand, das Haus zu
eröffnen.

Aber er war zu befangen! Woher auch in der Geschwindigkeit eine Rede
nehmen? Er war keiner von denen, die für das, was sie empfanden, gleich
die richtigen Worte fanden.

Das sagte er Fred.

Doch der lachte: »Sei nicht so schwerfällig -- so ein paar leere Worte
sind doch bald beisammen.«

»Meinst du?«

Ueber den alten Mann kam ein leises Zittern der Freude; es würde
ihn doch eigentlich freuen, wenn er den Minister begrüßen könnte.
Unverwischbar waren die Vorurteile des niederen Standes, in dem er
geboren. »Du könntest mir eigentlich ein paar Worte aufsetzen,« sagte
er gepreßt zu Fred und sah angelegentlich auf seine Fingernägel, die
breit und gewölbt waren. »Ja?«

»Ich?« Fred Tiedemann fuhr ärgerlich auf, »was fällt dir denn ein? Ich
kann doch nicht stumm daneben stehen, wenn du _meine_ Worte redest!«

Klaus Tiedemann hing den Kopf.

»Fred! _Den_ Gefallen mußt du Papa tun!« sagte Hilde.

»Was weißt denn du! Wenn Papa spricht, soll er sich die Sätze auch
selbst zusammenstellen.«

»Du bist häßlich.«

»Laß nur, Hilde,« ihr Vater drückte sie auf den Sessel nieder, »ich
werde es schon allein machen.« Er atmete schwer; es war ihm nicht
leicht gefallen, seinen Sohn darum zu ersuchen; er ging zur Tür hinaus.

»Du hast Papa weh getan,« sagte Hilde vorwurfsvoll.

Schnell war Leo in die Höhe:

»_Ich_ werde Papas Rede aufsetzen,« rief er und lief zur Tür, »du bist
ein Esel, Fred.«

»Wird hübsch werden«, rief ihm Fred nach. Er trommelte auf die
Tischplatte: »So ein Frechling!«

»Ich versteh' dich nicht.« Hilde schüttelte den Kopf. »Du mußt doch
gesehen haben, Fred, wie viel Papa daran lag, daß du ihm behilflich
bist. Was hat er für dich getan!«

»Wär' ich der Vater, so hätt' ich's auch getan.«

Sie sah ihn mit langem Blicke bittend an[.] »Setze ihm die Rede auf,
Fred! Nachmittags lernt er sie auswendig, und alles ist recht.«

»Nein! Ich seh' nicht ein, warum man ihn in seiner Schwäche
unterstützen soll. Er hat oft genug davon gesprochen, was er für ein
tüchtiger Kaufmann gewesen ist; er wird das auch zusammenbringen.«

Sie gab keine Antwort.


In reichem Schmucke prangte das Industriehausvestibül. Die Herren im
Frack streckten die Hälse, vorsichtig balancierten sie die Zylinder.
Draußen, nur durch Glas und Eisen getrennt, klatschte der Regen auf die
breiten Granitstufen, welche das Vestibül gegen die Straße abschlossen.
Jeden Augenblick mußte der Minister vorfahren.

Klaus Tiedemann stand mit leise murmelnden Lippen neben der gleißenden
Statue Merkurs. »... festhalten in Treue am zünftigen Beruf ...« Er
konnte sich Leos Worte nicht merken, es war zuviel jugendlicher Schwung
darin. Der Schweiß war auf seiner Stirn, polternd fiel der Zylinder
zu Boden. Er hob ihn auf und ließ das Konzept fallen. Die Umstehenden
sahen ihn an: »Das konnte gut werden!« Es waren meist Altersgenossen
Freds, mit deren Vätern er gearbeitet hatte. Sie empfanden keinen
Zusammenhang mit dem alten Mann.

»Er kommt.«

Ein Wagen fuhr vor, die mächtigen Torflügel öffneten sich, brausend
sprang der Wind von der Straße in die Topfpflanzen, welche des
Landesherrn Büste schmückten.

Alles verneigte sich vor dem Minister und drängte vorwärts.

Klaus Tiedemann fühlte sich gestoßen, in den Vordergrund geschoben;
unordentlich saß der Frack auf seiner vierschrötigen Gestalt. Jedes
Wort war ihm entfallen; die Knie zitterten. Er sah gebeugte Rücken.
Lackschuhe schliffen auf den Fließen.

Die Vorstellung der Herren war schon im besten Gang.

Instinktiv suchte Klaus Tiedemann einen Ausweg aus der Menge; er
drängte der Tür zu. Sein Herz hob an, in schweren Schlägen zu pochen.

Er sah, wie sich die Köpfe nach ihm wendeten. Plötzlich war Fred an
seiner Seite. Wie ein Ertrinkender griff Klaus Tiedemann nach dessen
Arm:

»Ich kann nicht reden.«

»Warum?«

Klaus Tiedemann rang nach Luft. »Mir ist nicht gut; ich glaube, mich
trifft der Schlag«, er zwängte die weißbehandschuhte Rechte in seinen
Hemdkragen. »Hilf mir!«

»Ich will dich vertreten.«

Die Worte waren rasch hin und her geflogen; vor beiden öffnete sich
eine Gasse. Die Herren sahen erwartungsvoll auf Klaus Tiedemann.

Mit schnellem Schritt trat Fred vor und verneigte den wohlfrisierten
Kopf; seine Gestalt deckte die seines Vaters. »Eure Exzellenz.
Hochbeglückt sieht der Verein der Großindustriellen unseres geliebten
Heimatlandes seit langem dem heutigen Tage entgegen, der uns ein Heim
geben soll für dauernde Zeiten ...«

In leichtem Tone flossen wohlgesetzte Worte an Klaus Tiedemanns Ohren
vorbei, daß er freudig den Kopf hob und zur Seite trat, um in Freds
Gesicht Ausblick zu gewinnen.

»... Euerer Exzellenz Gegenwart gibt uns die frohe Zuversicht, daß
unser Bestreben von maßgebender Seite gewürdigt und unterstützt wird
...«

Er war stolz auf seinen Sohn!

Der sprach zu Ende:

Er pries den Kaufmannsstand, dem die ganze Welt offen stünde, er
sprach davon, wie verfehlt es sei, wenn die Gewerbetreibenden ihre
Söhne die Mittelschule nur zu dem Zwecke besuchen ließen, um sie die
Beamtenkarriere oder einen der gelehrten Berufe ergreifen zu lassen:
»... Der Kaufmannsstand selbst bedarf tüchtiger, gebildeter Kräfte, die
ins Leben hinausziehen, den Ruhm unseres Vaterlandes zu mehren.«

Er schloß unter allgemeinem Beifall mit einem Hoch auf die Person des
hohen Gastes ...

Sie umdrängten Fred Tiedemann, dem der Minister die Hand schüttelte.
Dann sprach auch der ein paar Worte; seine Rede klang aus in ein Hoch
auf den Landesherrn.

Dann begann der Rundgang.

Klaus Tiedemann wollte seinem Sohne danken, doch er konnte ihn nicht
erreichen; vergebens sah er sich nach ihm um. Fred ging ganz vorn, an
der Spitze des Zuges.

Tafeln hingen an den Wänden und zeigten die Zunahme des Exportes.
Steile Kurven klommen an den Mauern hinan; sie wiesen die enorme
Entwicklung einzelner Branchen.

Durch den Festsaal und das Stenographenzimmer ging es zu den
Fremdenappartements. Dann kamen die ausgedehnten Bureaus, die Schreib-
und Lesezimmer, die ausgewählte Fachwerke enthielten über sämtliche
Handelsgebiete. Klaus Tiedemann drängte sich vor. -- Sie waren in das
Informationszimmer getreten, eine Neueinrichtung, zu der er geraten
hatte. Die Nächststehenden wehrten ihm den Ausblick; dunkle Röte stieg
in sein Gesicht.

Er hörte, wie sein Sohn die Erklärung gab, wie er die Schemas zeigte,
nach denen die einschlägigen Adressen und sonstigen Informationen
schnell zu finden waren. Klaus Tiedemann hatte hier die Erfahrungen
seines arbeitsreichen Lebens niedergelegt. Jeder Interessent konnte
sich hier über alles Wissenswerte unterrichten; sämtliche Länder der
Erde waren vertreten. Klaus Tiedemann hörte lobende Stimmen, die seinem
Werke galten; ihn selbst beachtete niemand. Er drehte sich um; hinter
ihm stand der Architekt, der das Gebäude geschaffen hatte, der Wochen
und Monate mit ihm gearbeitet hatte, derweil die anderen sich um
nichts bekümmerten. Auch der lächelte bitter. Sie verstanden sich ...

Der Zug ging weiter, dem nächsten Stockwerk zu; wie eine lange Schlange
wand er sich durch die Räume.

Klaus Tiedemann senkte den Kopf; er ging als letzter.


Sie saßen am nächsten Tage, nach dem Abendessen beisammen. Klaus
Tiedemann hatte einen großen Bogen weißen Papiers vor sich liegen.

»Ich bin auf jeden Fall _dagegen_!« sagte Fred und streifte die Asche
von seiner Zigarre.

»Ich auch.«

»Ihr wollt Görnemann diesmal nicht einladen?« Hilde sah erstaunt von
ihrer Stickerei in die Höhe. »Warum denn?«

Klaus Tiedemann ließ seinem Sohn das Wort. Er sah ihn erwartungsvoll
und ermunternd an. Fred sprach:

»Mit den alten Gewohnheiten muß endlich einmal gebrochen werden. Jetzt,
wo wir nach Mamas Tod das erste Souper geben, ist die beste Gelegenheit
dazu. Was soll Görnemann in dieser Umgebung? Unser Bekanntenkreis ist,
Gott sei Dank, mit der Zeit ein anderer geworden. Einen Fürsten Solt
und eine Baronin Wolny können wir nicht mit Herrn Sebastian Görnemann
zusammenbringen. Da gibt es doch gar nichts zu reden, und auch Olthoff
würde sich für eine solche Bekanntschaft bedanken.«

Er nahm seinem Vater den Bleistift aus der Hand und zog einen dicken
Strich durch den Namen seines ersten Angestellten.

»Ganz richtig«, sagte Leo, den es gar nichts anging. Hilde schwieg und
beugte sich tief über ihre Arbeit.

»Es wird ihm selbst so lieber sein«, tröstete der alte Tiedemann eine
Regung in seinem Innern. Dann atmete er gleich wieder schwer: »Das ist
bei Gerhard etwas ganz anderes, der trägt unseren Namen.«

»Du willst Gerhard bei uns haben?« Aus Freds Frage klang Ueberraschung
und Ungeduld. »Ja, sage mir nur, aus welchem Grunde?«

»Ich denke wohl? Was würden denn die Leute sagen, wenn ich es nicht
täte; sie tratschen ohnehin genug, daß er nicht bei uns wohnt! Er ist
doch mein Sohn.«

»Nun ja; aber eben -- aus deiner ersten Ehe!«

Unsicher blickte der Alte um sich. Scheue und herannahender Unwille
kämpften in ihm. Er spreizte die Daumen gegeneinander und sah mit
schiefem Kopf zu Fred hinüber; in ihm war die Erinnerung an gestern:
»Laß das«, grollte es aus ihm. »Genug, daß er mein Kind ist. Er hat das
Recht, dasselbe zu verlangen wie ihr.«

»Du sprichst doch nicht im Ernst, Papa?«

Fred lief mit langen Schritten im Zimmer herum.

»Setze dich her!« des alten Tiedemanns Stimme gewann Schärfe, »laß das
Räsonieren! Er ist mein Sohn und hat bis heute bei Gott noch nicht zu
viel Anspruch darauf erhoben! Ich habe ihn zwanzig Jahre nicht gesehen.
~Bon!~ Mutter hat er nicht gekannt ...« des alten Mannes Rede begann
zu hasten, »sie ist gleich nach seiner Geburt gestorben, und ich bin
herüber nach Europa und bin hier geblieben. Er hat von mir nur gewußt,
daß ich sein Vater sein muß, weil ich denselben Namen habe und ihm Geld
schicke. Er ist mir fremd, ich hab' euch lieber als ihn, aber er bleibt
mein Kind.«

»Gut!« Fred schlug mit zynischem Lächeln die Hand auf den Tisch. »Gut,
daß Mama tot ist.«

Die Zornesader schwoll auf des Alten Stirn.

»Fred«, sagte Hilde mahnend, und auch Leo, der von seinem üblichen
Halbschlummer aufgewacht war, winkte dem Bruder ab. Doch der war viel
zu zornig, um es zu bemerken:

»Da willst du Gerhard wohl auch einmal in die Firma aufnehmen, ihn
vielleicht gar zu meinem Mitchef machen?« fragte er herausfordernd.

»Und wen würde das kümmern?«

Für einen Augenblick zögerte Fred mit der Antwort: er kannte den Vater
von dieser Seite nicht; dann brach er los: »Nun, hörst du, Papa, das
übersteigt alles Erdenkliche! Das hätten Mama oder ihre Verwandten
erfahren sollen! Sie hätten nie eingewilligt, daß Gerhard zu uns kommt;
das sind die Folgen ...«

Eine tiefe Falte zog sich um des alten Tiedemanns Mund. »Wer hat
die Firma Klaus Tiedemann gegründet und hochgebracht?« fragte er.
»Deine Mutter oder ich? Wer hat mir dabei geholfen? Die Wesenheims
vielleicht? Die haben mir nicht das Leben vergönnt! Wie ein Hund hätte
ich zugrunde gehen können, sie hätten nicht die Hand gerührt. Erst als
ich ihnen Stück für Stück ihren Boden entrissen hatte und der Bankerott
unausbleiblich war, dann waren sie umgestimmt. _Dann_ durfte ich sogar
die Tochter heiraten ...« Fred stand auf.

»Papa! Kein Ehrenmann spricht so über seine Frau, am wenigsten vor
seinen Kindern. Wenn du so zu sprechen fortfährst, muß ich das Zimmer
verlassen.«

Erschreckt und verlegen hielt sein Vater inne. War er zu weit gegangen?
Die Unsicherheit seiner niederen Geburt nahm ihn oft gefangen seinem
eigenen Kinde gegenüber. Fred kannte sich in solchen Sachen aus! Gewiß
war ihm wieder der Zorn durchgegangen; er wollte ja niemandem unrecht
tun; gerade darum hatte er ja so gesprochen! Es war ja auch nur zur
Hälfte seine Ueberzeugung, was er über Gerhard gesagt hatte, aber es
war durch Freds Widerspruch etwas in ihm aufgerührt worden, das von
seiner hart durchlebten Jugend in ihm zurückgeblieben war als eiterndes
Geschwür. Er suchte einzulenken:

»Für diesmal müssen wir Gerhard wohl einladen. Wer weiß, ob er kommt,
und wegen dem anderen, Fred,« er blickte seinen Sohn begütigend an,
»laß dir keine grauen Haare wachsen, du kommst gewiß nicht zu kurz;
meinst du nicht selber?«

Fred nickte, er konnte nur schwer ein befriedigtes Lächeln verbergen:

»Machen wir weiter!«

Schnell griff der Alte nach der Liste; er sagte:

»Fürst Solt, den mußt du persönlich auffordern, Fred.«

»Ich treffe ihn heute im Klub.«

»Gut.«

»Baronin Wolny werde ich selbst morgen einladen. Ich fahre vormittags
zu ihr, vielleicht könnte man auch bei uns am gleichen Abend über das
Wohltätigkeitsfest einig werden -- so eine kleine Komiteesitzung ~entre
nous~ wäre nicht schlecht!«

»Und ihren Sohn soll sie auch mitbringen; vielleicht wird das ein
Verkehr für Leo!«

»Für mich?« fragte der erstaunt.

»Ich glaube nicht, Papa,« sagte Fred, »er ist ein hochmütiger,
überspannter Bursche. Kaum zu glauben, daß eine so natürliche Mutter
einen solchen Sohn hat.«

Hilde mischte sich ins Gespräch: »Sie ist Kunstreiterin gewesen? Der
Gesandte, ihr verstorbener Mann, mußte mit seiner Familie brechen, als
er sie heiratete?«

»Dummes Geschwätz,« fuhr Fred auf, »kein wahres Wort ist daran; sie ist
eine riesig gebildete, feine Frau, die in den ersten Kreisen der Stadt
verkehrt.«

»Hilde hat's ja auch nur von Hansen gehört,« lachte Leo, »und bei dem
muß man immer nur die Hälfte glauben mit seinem frechen Maul.«

»Leo,« in bitterer Verlegenheit preßte die Schwester die Lippen
zusammen, »du weißt wohl wieder nicht recht, was du daher redest?«

»Oh, ganz genau,« kam in streitseliger Behaglichkeit die Antwort, »es
ist so.«

»Apropos,« sagte Fred Tiedemann, »weil Hansen erwähnt wurde: den müssen
wir diesmal entschieden einladen!«

»Hansen? Nein! Warum den?« Der alte Tiedemann schien dem
Karikaturenzeichner wenig Sympathie entgegenzubringen, »den kann man
doch nicht mit Solt zusammenbringen.«

»Wir brauchen ihn für das Wohltätigkeitsfest! Laden wir ihn nicht ein,
macht er uns dann nicht den Narren -- und wir haben keinen anderen, der
so schnell arbeitet und uns die Sachen umsonst überläßt.«

»Aber die Geschichte mit den Solts!«

»Welche denn?«

»Na hörst du!«

»Ich weiß wirklich nicht.«

»Daß du das vergessen hast!«

»Was ist denn?«

»Als Hansen seine Karikaturen zum erstenmal gesammelt erscheinen ließ,
rückten die Solt-Hansen doch in die Zeitung die Notiz ein ...«

»Jetzt erinnere ich mich: daß sie mit dem Zeichner T. A. Hansen weder
verwandt noch irgendwie in Beziehung wären? Das meinst du Papa?« Fred
mußte lachen. »Grob war schon seine Antwort! Ich hätte mich allerdings
in ähnlichem Fall tödlich beleidigt gefühlt, aber: Fürst Solt verkehrt
mit den Solt-Hansen nicht, weil sie bürgerliche Frauen haben, und
er lachte über Hansens Erwiderung am nächsten Tage: ‚Der Zeichner
T. A. Hansen teilt mit, daß er mit der Familie Solt-Hansen, deren
jüngster Sohn kürzlich wegen betrügerischer Wechselschulden verurteilt
wurde, weder verwandt ist noch in irgendwelchen Beziehungen steht.’«

»Ein ganz famoser Bursche, der Hansen,« meinte Leo nachdenklich, »der
schert sich um niemanden als um sich selbst und ...«, er zwinkerte mit
den Augen zu seiner Schwester hinüber.

Die senkte den Kopf tief auf ihre Arbeit, während der Vater langsam,
widerwillig sagte: »Also den auch.« Und dann hörte sie, wie der
Bleistift bei Hansens Namen den Haken machte, der seine Einladung
sicherte. Sie mußte bitter lächeln, daß es gerade Fred war, der
ihn wieder zu ihnen ins Haus zog. Gerade der, der ihn am wenigsten
verstand, und dessen Art Hansen am heftigsten bekämpfte.

Fred sah auf die Uhr und sagte:

»In einer Viertelstunde muß ich fort, sonst treffe ich Lecart nicht
mehr im Klub.« Er griff nach der Adressenliste und durchflog die Namen.
»Der Karsten hat quittiert und ist Agent geworden, den natürlich
nicht«, er strich den Namen des ehemaligen Gardeoffiziers und las
flüchtig weiter ..., »die junge Büdener nicht, die hat einen armen
Teufel geheiratet, man sagt aus Liebe. Die kann sich kein ordentliches
Gesellschaftskleid kaufen.« Wieder kratzte der Bleistift und schied
eine junge Frau vom Hause Tiedemann ... Er las rasch: »Die anderen
stimmen so.« Er ließ das Papier fallen. »Richtig, was ich noch sagen
wollte: du mußt dir den Schneider kommen lassen, Papa, du brauchst
einen neuen Frackanzug.« Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf; doch sein
Sohn ließ ihm nicht das Wort: »Es ist die höchste Zeit für dich.«

»Schon wieder einen neuen Frack?« Der alte Tiedemann runzelte die
Stirn. »Ich habe nur ohnehin erst voriges Jahr einen machen lassen.«

Fred wurde ungeduldig:

»Man hat jetzt anderen Schnitt und einen Vorstoß an der Weste. Ich habe
mich gestern im Industriehaus geschämt, wie dein Gilet saß. Du kannst
als Hausherr nicht so aussehen! Ich versteh' dich wirklich nicht, Papa,
wie du in derart primitiven Anstandssachen anders denken kannst.«
Wieder sah er auf die Uhr: »Ich werde dir morgen die neuen Muster
schicken lassen.«

Der alte Mann fuhr sich müde über die Augen.

»Dann soll sich Leo aber auch etwas bestellen«, sagte er.

Der sah mit flinkem Blick auf: »Ich brauche schon lange wieder einen
Tennisanzug, Pa.«

Fred Tiedemann knöpfte eilig den Rock zu:

»Gute Nacht! Ich gehe. Bald hätte ich vergessen. Ich habe morgen
vormittag keine Zeit fürs Geschäft, muß zur Wolny usw. Bitte, Papa,
gehe morgen 'mal wieder hinunter. Es werden Berichte von drüben
gekommen sein, und auch Lecart hat bei uns zu tun. Sei so gut und
besprich dich mit Görnemann; aber den Gerhard laß aus dem Spiele, den
geht die Sache nichts an.« Fred schritt zur Tür. »Olthoff läßt sich dir
empfehlen, Hilde, er behauptet, noch nie ein so hübsches Mädchen als
dich gesehen zu haben, aber du seiest herb.« Er lachte. »Ist schon 'was
Wahres dran; na, das gibt sich! Addio.«

Klaus Tiedemann erhob sich, er hielt die Lider geschlossen, als
schmerzten sie ihn.

»Gehen wir schlafen!« sagte er.


Ueber den Spieltischen des Klubs hing dichter Rauch.

Fred Tiedemann hörte mit halbem Ohr seinem Schwager zu, der
eindringlich in ihn hineinredete. Seine Augen wanderten die Reihen der
Sitzenden entlang, ob er nicht einen Bekannten darunter fände, der ihm
Grund gab, sich der Umklammerung Lecarts zu entziehen.

Er hatte nicht Lust, jetzt von Geschäften zu sprechen; doch dem anderen
galt das heute alles: »Wenn ich meine Geschäftsinteressen euch gebe
und dafür schweres Geld zahle, so könnt ihr mir doch entgegenkommen!«
Lecart strich aufgeregt seinen pechschwarzen ~Henry quatre~ und sah
hochmütig nachdenkend vor sich nieder. »Das Bankhaus Tiedemann«, fuhr
er mit heiserer Stimme fort, »wird wohl nicht auf den Verdienst mit
seinen Verwandten angewiesen sein, und jetzt ist der richtigste Moment,
in dem ich mich rangieren und schweres Geld dabei verdienen kann.«

»Wenn man das sicher wüßte!«

»Erlaube,« Lecart machte eine hastige Bewegung, »ich hoffe, für das
Reelle der Unternehmung bürgt mein Name!«

»Natürlich, selbstverständlich; aber es handelt sich um große Summen,
da habe ich die Verpflichtung, vorsichtig ans Werk zu gehen!« Fred kam
sich unendlich wichtig vor, als er so sprach, trotzdem er gerade mit
seinen Gedanken bei Frau Maja Wolny war und sich die Worte überlegte,
mit welchen er sie morgen einladen wollte.

»Das ist mir klar. Aber die Hausse in Spiritus hält noch längere Zeit
an!«

»Ist das sicher?«

Lecart erwiderte mit lebhaften Worten:

»Daran ist doch nicht zu zweifeln. Die disponible Ware ist in festen
Händen und wird nicht abgegeben, weil die Eigner sich den Sommerbedarf
sichern wollen, die Zufuhr mangelt. Nach der letzten Notierung ist«, er
griff nach dem Börsenblatt und klemmte das Monokel ein, »jetzt bereits
gegen den niedrigsten Preisstand des Vorjahres eine Steigerung von
7,80 zu verzeichnen.« Auf Lecarts bleichem hageren Gesichte begannen
zwei rote Flecken zu brennen: »Wenn ich die Mansbergschen Fabriken
übernähme; in zwei Tagen habe ich sie in vollem Betrieb, dann schmeiß'
ich in kurzer Zeit so viel Ware auf den Markt, daß sie mir, bei den
hohen Preisen, enormen Gewinn bringen muß.«

»Du drückst dir aber dann doch selbst die Preise herunter durch
forcierte Abgaben!«

»Bis es so weit ist, habe ich meine Sache im Trocknen.« Immer
eindringlicher und überredender wurden Lecarts Worte: »Es muß dir
doch einleuchten, daß an der ~chose~ keine Gefahr, sondern nur Gewinn
zu finden ist!« Wieder stand der abweisende Zug um seinen schmalen
Mund, während sich seine hagere Gestalt weit vorneigte und die kalten
schmalen Finger nach Freds fleischiger Hand griffen: »Schlag ein, wir
haben beide Nutzen und die anderen haben das Nachsehen; sie sollen
spüren, daß mit den Lecarts und Tiedemanns nicht leicht zu kämpfen
ist ...« Er fuhr halb in die Höhe und grüßte einen vorübergehenden
Offizier: »Mein Kompliment Durchlaucht.«

Auch Fred war instinktiv aufgefahren und hatte sich verneigt. Dunkelrot
war er im Gesicht geworden.

»Kennst du ihn?« war seine Frage.

»Selbstverständlich: intim.«

»Du mußt mich vorstellen!«

»Gern! Schwager was ist's? Einverstanden?«

Freds Widerstand war gebrochen, Lecart hätte ihn für seine Pläne an
keiner Stelle so leicht gewinnen können wie hier im Klub, wo Fred
Tiedemann um Gleichberechtigung rang, die ihm nur schwer seines Vaters
Geld verschaffte. Er nickte und besah die spiegelnde Spitze seines
Lackschuhes:

»Jawohl, aber ich verlasse mich _ganz_ auf dich! Ich habe keine Zeit,
mich näher zu informieren. Du hast die Verantwortung.«

Fred stand auf, Lecart hielt ihn fest: »Treffe ich dich morgen im
Geschäft?«

»Nein!« Fred Tiedemann strebte den Spieltischen zu. Lecart riß aus
seinem Notizbuch einen Zettel und kratzte im flirrenden Licht, das
durch den Rauchnebel schien, ein paar Worte darauf: »Da unterschreib!«

Mit gleichgültigen Augen überflog Fred die zwei Zeilen, durch die er
das Bankhaus Klaus Tiedemann anwies, Herrn Baron Lecart beim Ankauf
der nachgelassenen Mansbergschen Spiritusfabriken bedingungslos zu
unterstützen. Mit seiner steilen Schrift setzte er seinen Namen
darunter. »Wir müssen aber die erste Hypothek haben, damit wir sicher
gehen!« sagte er.

»Ich bin der letzte, der euch schädigen will.«

Fürst Solt ging vorüber mit seinen langsamen, steifen Schritten und
seinem tadellos sitzenden Salonrock. Tief bückte sich Fred Tiedemann:

»Durchlaucht, dürfte ich um wenige Augenblicke Gehör ersuchen?«

Solt neigte den Kopf.

»Bitte!«

Fürst Solt trat näher, er übersah Lecart, der, während sein Schwager
in wohlgesetzter Rede die Einladung vorbrachte, den Zettel hastig
verwahrte, der ihm wieder für ein paar Monate Luft machte und Kredit
schuf.

Mit freudestrahlenden Augen sah Fred dem Fürsten nach: »Er hat
zugesagt, das Fest ist gesichert.«

»Hm,« Lecart schien müde und abgespannt, »was machst du jetzt?«

»Ich suche Olthoff und werde ein kleines Spielchen probieren.«

»Dort ist er!« Lecart wies auf den Näherkommenden. »Nimm dich vor ihm
in acht, er steht windschief und kann eine teuere Bekanntschaft werden.«

»Teuerer als du kann er nicht sein.«

In Lecarts Emigrantenaugen blitzte es feindselig auf. »Ich bin der Mann
deiner Schwester.«

»Weiß ich. Grüß' sie mir schön!«

Fred Tiedemann eilte seinem neuesten Freunde entgegen. Lecart, mit
seinen dreißig Ahnen, lehnte sich unwillig in dem Fauteuil zurück und
sann auf Geschäfte.

Drunten schlich durch den fallenden Regen Leo Tiedemann auf der Suche
nach Abenteuern.


Am nächsten Tage hatte sich der alte Tiedemann rasch angekleidet und
war mit unruhigen Schritten im Zimmer auf und ab gegangen, bis es
Frühstückszeit war. Mehr als ein Jahr hatte er sich geflissentlich vom
Geschäft zurückgehalten, um Fred nicht zu beeinflussen. Es war ihm
nicht leicht gefallen; doch er konnte sich recht gut zurückerinnern,
wie er eine Kontrolle vertragen hätte, daher glaubte er auch, es
müßte bei seinem Sohne das gleiche sein. Wohl war es ihm manchmal
vorgekommen, als ob Fred eine Einmischung seinerseits gar nicht ungern
sähe.

Langsam stieg er die Stufen hinunter, die er jahrelang gegangen war, in
tiefen Sorgen und Gedanken. Ein weihevolles Gefühl umfing ihn.

Er lächelte darüber und vermochte doch nicht, es abzuschütteln.

Er ging auf die große, eiserne Türe zu, die er versucht hatte zu
vergessen und die doch stets alte Wunden aufriß, wenn er sie sah -- es
war selten genug. Sie war vor dreißig Jahren, als er das Haus in seinen
Besitz gebracht hatte, rostig und zerschlagen gewesen. Er hatte sie
stets so gelassen. Nun glänzte sie in neuen Farben.

Mit raschen Schritten trat er ein.

Ein Diener kam geschäftig auf ihn zu; doch als er ihn erkannte, riß er
die Tür nach links hin auf.

Sein Blick flog über die langen Reihen der Schreibtische; er atmete
tief. Wieder einmal lag sein Leben vor ihm, das ihm hier Tag für Tag
vorübergeschlichen war in unablässigem Mühen und Sinnen.

Hier saßen die Buchhalter.

Er sah unter den bekannten Gesichtern neue -- wie stets, wenn er kam --
die erst der Nachbar aufmerksam machen mußte, wer er sei. Dann flogen
sie von den Drehstühlen in die Höhe und verneigten sich tief: »Ich habe
die Ehre, Herr von Tiedemann.«

Er kam sich fremd vor in dem langgestreckten Bureau, das um das
Doppelte vergrößert worden war. Sein Auge musterte mit schnellem Blick
die neue Einrichtung, von der Fred so viel zu ihm gesprochen hatte.
Alles war getäfelt, mit leichten, sanften Farben bedeckt. Es machte
einen vornehmen Eindruck und stach ihm doch unangenehm in die Augen.

Das Leben war fortgeschritten und verlangte andere Formen. Das war
stets so gewesen, und Fred stand voll in seiner Zeit: das war seine
Beruhigung.

Nun sah er den alten Görnemann, welcher gebeugt an seinem Stehpult
arbeitete, den weißen Kopf auf die linke Hand gestützt. So hatte er ihn
jahrzehntelang gesehen; nur die Haare waren damals noch braun gewesen.

Der Ton, mit dem er ihn anredete, war wärmer, als er eigentlich wollte:

»Grüß Gott, Görnemann!« Der fuhr herum, als hörte er ein Gespenst:

»Der Herr!« Er lief nach einem Sessel. »Das ist aber schön, daß
Sie wieder einmal nach uns sehen. Das ist sehr schön.« Er rieb
seine mageren Hände, daß sie knackten. Klaus Tiedemann machte eine
Kopfbewegung nach den Arbeitenden; er war verlegen, weil er nicht
gleich den richtigen Ton fand.

»Viel neue Leute darunter?«

»Viele«, der alte Prokurist räusperte sich.

»Hat sich viel geändert?«

»Oh, sehr.«

Etwas Fremdes lag zwischen den beiden Männern, die sich ein Leben lang
gekannt hatten. Der Ton des Salons ließ sich nicht hierher verpflanzen.

»Auf dem Platze vom Pfeiffer sitzt jetzt auch ein Junger.«

»Der Pfeiffer ist in Pension gegangen.« Wieder hüstelte Görnemann,
um nicht sagen zu müssen, daß es den alten Mann viel Tränen gekostet
habe, bis er seinen Sessel, den er dreißig Jahre gedrückt, hatte
verlassen müssen; aber mit dem jungen Chef ging es nimmer! Der nahm ihm
die Handkasse weg und degradierte ihn zum Schreiber. Das ertrug sein
Ehrgefühl nicht.

»Hat mein Sohn die Pensionsfrage gelöst?«

»Nein, es wird noch immer fallweise bestimmt, was jeder bekommt.«

»Aber er gibt jedem von meinen alten Mitarbeitern Pension?«

Leise Angst und Besorgnis klang in der Frage. »Ja, aber es ist sehr
wenig.«

»Das will ich nicht; da muß ich heute gleich mit Fred sprechen.«

Görnemann trat von einem Fuß auf den anderen; er schien in großer
Aufregung; dann sagte er stockend: »Ich habe schon oft daran gedacht,
mich zurückzuziehen,« wieder ließ er seine Gelenke krachen; »man hat
doch seine 68 Jahre auf dem Rücken, und da wird einem das Arbeiten
manchmal schwer.«

»Nichts da,« Klaus Tiedemann legte seinem ehemaligen Angestellten die
Hand auf die Schulter, »davon reden wir in ein paar Jahren, das gibt's
jetzt noch nicht.« Mit gutmütiger Barschheit suchte er dem anderen
seine Gedanken auszureden. »Ein Mann wie Sie, ohne Frau und Kind, was
soll denn der machen ohne Geschäft? Ist's _mir_ nicht leicht gefallen,
das Auf-der-faulen-Haut-liegen, was wollen denn erst _Sie_ anfangen?«

»Ist schon wahr, Herr Tiedemann, aber ein alter Kopf kann heutzutage
oft nimmer mit.«

»Papperlapapp, ein Kaufmann wie Sie! Wäre nicht übel.«

Hunderte von frohen Fältchen erschienen auf des Alten faltigem Gesicht,
als er seinen Herrn so reden hörte.

»Nein, da wird einstweilen nichts daraus!« Tiedemann schüttelte den
Kopf. Dann aber, als käme ihm ein anderer Gedanke, fügte er hinzu:
»Wenn Sie's aber einmal wirklich satt haben, Görnemann, dann lassen
Sie es _mich_ wissen. Ihre Pension soll meine Sache sein.« Er sprach
rasch weiter, um des anderen Dank zu entgehen. »Uebrigens, ich habe
Gerhard noch nicht gesehen.«

»Der ist im Chefzimmer; er studiert die überseeischen Berichte; der
junge Herr erlaubt nicht, daß sie heraus ins Kontor kommen,« sagte
Görnemann rasch ... »und für ihr Versprechen, sich meiner anzunehmen
...«

Er kam in seiner Dankrede nicht weiter, denn sein Herr fiel ihm ins
Wort: »Der Berichte wegen bin ich hier. Wie sind sie ausgefallen?«

»Schlecht, sehr schlecht.« Görnemann schüttelte bedauernd den Kopf:
»Ich kann mich nicht erinnern, je so schlechte gesehen zu haben.«

»So?« Tiedemanns Stimme klang, aus alter Gewohnheit, streng. »Wir
werden ja sehen. Wo geht es ins Privatbureau? Man kennt sich ja nimmer
aus in eurem neuen Kram.«

»Dort, gleich die nächste Tür,« Görnemann lief dienstbeflissen voraus,
»dort, am Ende vom Gang.«

»Was ist _das_?« Klaus Tiedemann hatte eine andere Tür geöffnet und sah
in ein Zimmer, das ebensogut als Damenboudoir hätte gelten können. »Das
sieht ja riesig mollig aus!«

Verlegen meinte Görnemann: »Das ist des jungen Herrn
Privatempfangszimmer.«

»So?« Der alte Tiedemann sagte weiter kein Wort, er nahm die Hand von
der Türschnalle und ging weiter.

»Guten Morgen, Vater!«

Gerhard Tiedemann stand hinter dem Tische auf, vor dem er gesessen
hatte, und schlug in seines Vaters Hand ein, die der ihm in plötzlicher
Wallung entgegenstreckte: »Fleißig bei der Arbeit?«

»Solche Arbeit macht nicht viel Freude.«

»Laß sehen!« Tiedemann schob ihn zur Seite und nahm die Papiere zur
Hand.

Gerhard zuckte die Achseln und blickte zu Görnemann hinüber, der den
Kopf in die Schultern zog, vor dem unaufhaltsamen Entrüstungssturm, der
nach seiner Erfahrung kommen mußte.

Mit unsicherer Stimme fragte der Alte:

»Von wem sind die Berichte?«

»Von Smithers Sons ...«

Nach einer Weile fragte Tiedemann: »Warum haben wir so unsinnig viel
Baumwolle abgegeben? Nun leiden wir selber Mangel daran.« Görnemann
trat einen Schritt näher, um zu antworten, doch der Alte fuhr ihn an:
»Ich brauch' keine Erklärung.«

Tief beugte er den Kopf herab, um seines Unwillens Herr zu werden. Fred
mußte da nicht viel nachgedacht haben, sonst wäre _dieser_ Verlust
hintanzuhalten gewesen. So ein grobes Versehen war Klaus Tiedemann
_nie_ unterlaufen. Das kam davon, wenn die jungen Leute stets zu Hause
bei Mama saßen und sich nicht in der Welt umsahen ...

Er horchte auf, eben sagte Gerhard:

»Das ist der Fehler bei uns; man will alles vom grünen Tische aus
regeln, ohne Erfahrung. Das muß man an Ort und Stelle beobachtet haben,
wenn man bei den Yankees nicht hineinfallen will.« Klaus Tiedemann
zwang sich zum Gegenteil:

»Das konnte niemand voraussehen. Das nächste Mal wird die Bilanz schon
besser sein.«

Der alte Görnemann hörte mit offenem Munde zu, Gerhard preßte die
Lippen aufeinander. Er merkte nur allzudeutlich, daß seines Vaters
Widerspruch seiner Person galt. Er warf trotzig den Kopf zurück.
Wenn die Stimmung gegen ihn anhielt, blieb er nicht länger hier. Man
wußte seine Arbeitskraft anderswo besser zu schätzen, ihm war um sein
Fortkommen nicht bange.

Klaus Tiedemann sah noch eine Weile auf die Buchstaben und Ziffern
nieder, ohne sie zu lesen. Ihm waren seine Worte leid, und doch glaubte
er nicht anders sprechen zu dürfen, wenn er Gerhard, Fred gegenüber,
untergeordnet halten wollte. Jemand trat ein:

»Hallo, du selbst, Schwiegerpapa?« Mit hastigen Schritten kam Lecart
auf Klaus Tiedemann zu. »Das trifft sich ja prächtig.« Sie sahen sich
in die Augen und schüttelten sich die Hände. »Clo ist draußen im Wagen,
die wird sich freuen; ich werde sie gleich holen.«

»Aber ich bitte, Herr Baron, sich nicht zu bemühen; das werde ich
besorgen!« Görnemann eilte davon.

Wieder wendete sich Lecart an seinen Schwiegervater: »Du wunderst dich
wohl, mich hier zu sehen?«

Klaus Tiedemann lächelte: »Ich glaube, wir sind beide seltene Gäste
hier unten.«

»Das wird sich bei mir ändern! Du mußt wissen, ich habe Großes vor.«
Lecart blickte zu Gerhard hinüber, unschlüssig, ob er in dessen
Gegenwart weitersprechen sollte. Er sagte zu ihm:

»Bitte, bereiten Sie mir einstweilen mein Konto vor; hier haben Sie
eine Bescheinigung des Chefs.«

»Ich hätte Sie ohnehin allein gelassen.« Gerhards Stimme klang in
überlegener Mißachtung: »Die Bescheinigung kann ich Herrn Görnemann
geben.«

Er ging mit gleichgültigen Schritten ab, den Kopf etwas
vornübergeneigt, wie es auch sein Vater zu tun pflegte.

In der Tür traf er mit Frau Clo zusammen.

Er trat zur Seite und sah in ihr feines, blasses Gesicht, auf dem Sorge
zu liegen schien.

»Grüß Gott, Papa!« Tiedemann drückte ihr einen Kuß auf die Stirn
und betrachtete sein schönes Kind vom Kopf bis zu den Füßen. Mit
gezwungenem Lächeln klopfte sie ihm auf die Wange: »Gut siehst du aus,
Papa!«

»Nicht wahr?« sagte Lecart, »man sieht, er hat keine Sorgen.«

»Gott sei dank, nein; ihr doch wohl auch nicht? Nun setzt euch aber!«

Frau Clo setzte sich auf den Diwan und schlug die Füße übereinander,
daß der feine Knöchel ihres Fußes sichtbar wurde. »Laßt euch nur
nicht aufhalten, wenn ihr Geschäftliches zu tun habt! Ich blättere
einstweilen in der Zeitung,« sagte sie. Dann schob sie den Schleier in
die Höhe.

Sie tat alles mit einer langsamen, eleganten Ruhe der Bewegung, die
über ihrem ganzen Wesen lag und alles Leben und unmittelbare Empfinden
verschleierte. So hatte es ihre Mutter gewollt, und so kam sie am
besten mit ihrem Manne aus. Der hatte ein fahriges Temperament und
steckte immer tief in eigenen Angelegenheiten, die ihm für sie wenig
Zeit ließen. Sie hatte sich einen Wall aus Ruhe und Takt gebildet, der
sie vor vielerlei schützte.

Lecart rieb die Hände:

»Ich habe jetzt furchtbar viel zu tun. Ueberall Unannehmlichkeiten. Die
Kerls streiken mir wieder zur Abwechslung. Der Betrieb in den Gruben
steht seit einer Woche still.«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Immer nur Forderungen und keine
Gegenleistung, das ist so recht neumodisch.«

»Nun, nein; die Leute haben ein Stück recht, aber,« Lecarts markiertes
Gesicht belebte sich, die eingefallenen Wangen bekamen Farbe, »warum
soll man ihnen das _zugeben_, wenn man selbst nur Schaden davon hat?«

»Wenn sie im Rechte sind, werden sie ihr Ziel erreichen«, sagte der
andere bedächtig.

»Wir werden sehen. Einstweilen haben wir uns organisiert und sie im
ganzen Bezirk ausgesperrt; es sind schon viele in der _einen_ Woche
mürbe geworden; mehr als ich brauchen kann. Wenn sie für Weib und Kind
nichts zu fressen haben, dann kriechen sie zu Kreuze. Am Montag fange
ich wieder mit vollem Betrieb an.«

»Du sagst doch, daß ihr sie ausgesperrt habt?«

»Ja, aber ich brauch' doch nur so lange mitzumachen, als ich will.«

Klaus Tiedemann schüttelte unwillig den Kopf: »Ihr müßt doch einig
sein, wenn ihr 'was erreichen wollt. Die anderen sind's auch.«

»Hat sich was mit der Einigkeit! Die Hauptsache ist, daß man kein Geld
verliert.«

»Hm, das weiß ich nicht.«

»Aber ich. Bitt' dich, wohin soll denn das führen? Ich muß jetzt schon
meine ganzen Akzepte hergeben und teuer verzinsen, wenn ich Geld haben
will. Das ist ein starker Verlust für mich, wo ich so immer sehr viel
mit Rimessen arbeite.« Er schwieg, als fürchte er, zuviel gesagt zu
haben. Unsicher sah der Alte auf:

»Gehen denn die Gruben schlecht? Du wirst doch nicht in Schwierigkeiten
kommen?«

»Davon ist keine Rede.« Lecart nahm einen leichtfertigen Ton an. »Wo
denkst du hin: Charles Lecart in Geldverlegenheiten?« Er lachte. Es
klang häßlich und gepreßt, daß Clo einen schnellen Blick herüberwarf.
»Im Gegenteil, ich denke jetzt die Mansbergschen Fabriken an mich zu
bringen und viel Nutzen daraus zu schlagen.«

»Das ist etwas anderes.« Erleichtert atmete Klaus Tiedemann auf.

»Jetzt werdet ihr auch bald den Zinsfuß herabsetzen müssen?« sagte
Lecart so nebenbei.

Der Alte schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht genau, da frage
den Görnemann, aber ich glaube nicht, denn das Geld hat nach der
amerikanischen Erdbebenkatastrophe wieder reichliche Verwendung.«

»Das kann doch nicht so viel ausmachen.« Lecart hielt einen Augenblick
nachdenklich inne, dann fuhr er lebhaft fort: »Uebrigens, ich werde
mich gleich erkundigen, ich habe so eine Menge mit Görnemann zu
besprechen. Du bist, wie ich sehe, nicht mehr auf dem Laufenden?«

»Ich habe mir zum Prinzip gemacht, mich von dem Augenblicke an, als
Fred an meine Stelle trat, um nichts mehr zu bekümmern.«

»Sehr klug. Ich glaube, Fred wäre auch nicht der Mann, der sich
hineinreden ließe.« Lecart trat in gemachter Zärtlichkeit zu seiner
Frau: »Servus, Clo; dein armer Mann muß jetzt arbeiten ... Dich sehe
ich noch, Papa,« fügte er in einer Art herablassender Höflichkeit
hinzu, die er seinem Schwiegervater gegenüber öfters zur Schau trug.
»Lecart ist ein Kavalier in jeder Bewegung,« hatte Clos Mutter gesagt,
wenn sie das Widerstreben der Tochter, ihrem jetzigen Manne gegenüber,
besiegen wollte. Lecart ging; Tiedemann und Clo waren allein.

Es blieb für einige Augenblicke still im Zimmer, als wollten die beiden
nicht an das Leben rühren, das sie selbst gezimmert hatten, dessen sie
nun nicht froh werden konnten.

Klaus Tiedemann setzte sich an seines Kindes Seite und schlang den Arm
um sie. »Nun, wie geht es, Clo?«

»Gut, Papa,« sie legte ihre mit Ringen bedeckte schmale Hand in die
klobige Rechte ihres Vaters und sah ihm unsicher in die Augen, die so
viel von Milde und ehemaliger Tatkraft sprachen.

»Dann ist's recht.« Er seufzte. »Du kamst mir vorhin verstimmt vor?«

»O nein!«

»Doch! Jeder Mensch hat etwas zu tragen.«

»Ich nicht.« Allzuschnell kam die Antwort.

»Doch Kind,« er wiegte den Kopf, daß das straffe, weiße Haar darauf
zu schwanken anhub; »ist es dies oder jenes, eines ist es gewiß.« Sie
schwieg; so redete er weiter: »Mutter ist schon ein Jahr tot.«

»Wirklich, ich bin schon bald zwei Jahre mit Charles verheiratet.«

Wieder saßen beide schweigend.

Dann fragte sie lebhaft:

»Sag', Papa, hat Fred eigentlich mit dir über Charles' Absichten
gesprochen?«

»Warum, Kind?«

»Es wäre mir eine Beruhigung gewesen!«

»Wenn es Wichtiges ist, so kommt Fred schon selbst. Er hängt viel zu
sehr an mir, um einen wichtigen Schritt -- wenn es eben einer wäre --
zu verschweigen.«

»Wirklich, Papa?« Ihre Stimme klang freier. »Wie geht es überhaupt
Fred? Hat er die neue Würde noch nicht satt?«

»Wo denkst du hin? Gut geht es ihm in jeder Beziehung, auch im
Geschäft. Ich glaube, vor allem hilft ihm dabei sein großer
Bekanntenkreis. Keine Woche vergeht, ohne daß er nicht in ein neues
Haus eingeladen wird! -- Er ist auch ein fescher Bursch«, fügte er
wohlgefällig hinzu und lachte in befriedigtem Vaterstolz. »Seine
neueste Errungenschaft ist die Wolny.«

»Die? So?«

»Kennst du sie?«

»Freilich, wir treffen sie öfters bei Behrens. Du,« sie legte die
Zeitung beiseite, »ist es wahr, daß Fred sich ankaufen und die Bank mit
der Zeit in eine Aktiengesellschaft umwandeln will?«

Ueber Klaus Tiedemanns Gesicht lief ein Schatten; er war bleich
geworden: »Wer hat das gesagt?«

»Ich habe es bei Behrens gehört.«

»Dummes Geschwätz.«

Es litt ihn nicht länger beim Sitzen; er legte die Hände auf den Rücken
und begann hin und her zu gehen mit hastigen Schritten.

»Sogar von einem Tiedemannschen Fideikommiß oder Aehnlichem sprachen
sie.«

Er blieb stehen und stampfte mit dem Fuße: »Da sieht man, wie die Leute
daherreden.«

»Das habe ich mir auch gedacht. Ich weiß doch, daß du stets dagegen
warst.«

»Deine Mutter hätte es schon gern durchgesetzt! Lassen wir das,«
unterbrach er sich; »es geschah ja auch von ihrer Seite nur aus Liebe,«
er hustete, »wenn sie auch manchmal die Mittel vergriff.« Er senkte
den Kopf und schwieg; sein Kind blickte ihn mit großen geängstigten
Augen an.

»Sag, Papa,« fuhr sie fort, »war das nicht der Grund, daß du dich
so schnell vom Geschäft zurückgezogen hast?« Er gab keine Antwort.
»Du wolltest nicht in der Arbeit überrumpelt werden und selbst Fred
überwachen, bis er aus Gewohnheit an nichts anderes mehr dachte und
dein Erbe gutwillig antrat?«

Er sah sie erstaunt an.

»Du bist eine gute Beobachterin geworden.«

»Das wird jede Frau.«

»Mag sein, deine Mutter war es gewiß. Das hab' ich merken müssen.« Er
lachte bitter.

»Sie war krank, Papa, und glaubte niemandem als uns Kindern trauen zu
können, sie hat uns in ihrer blinden Liebe alle überschätzt. Darum war
ja auch für uns Mädchen kein Mann recht! Wie das Leben so merkwürdig
ist.« Mit zitternden Fingern schob sie ihr Kleid zurecht.

»Ob Fred nicht nur so daherredet bei Behrens, um den Weibern zu
imponieren?« Langsam, schier unbewußt, hatte Klaus Tiedemann die Worte
gesagt.

»Aber, Papa, darüber sollst du gar nicht nachdenken,« sie streckte ihm
die Hand hin und lächelte, »das wird gesprochen und vergessen.«

»Hast recht -- übrigens kommen Behrens Sonnabend zu uns.«

»Es soll über das Wohltätigkeitsfest gesprochen werden?«

»Gewiß! Fred hat sich die Sache ganz gut ausgedacht. Vor dem Souper ist
eine kleine Komiteesitzung, in der sich die Leute besser kennenlernen.
Er will die Wolny zur Präsidentin haben.«

»Fred hat wirklich Geschick zu solchen Veranstaltungen: voriges Jahr
war es ein hübsches Reinerträgnis, das er erzielte.«

»Er hat eben Glück bei den Weibern, und die sind in solchen Dingen die
Hauptsache. _Ich_ habe es nie gehabt.« Der Siebzigjährige furchte die
Brauen, als grollte er heute noch dem Schicksal seiner Jugend.

»Uebrigens,« er lächelte schon wieder, »Leo fängt, glaube ich, auch
schon an.«

»Aber, Papa, das ist doch viel zu früh?«

»Das muß _er_ wissen, Kind.«

»Aber das ist Unsinn!«

»Das sagt Hilde auch.«

»Aber, Papa, wirklich, da solltest du besser auf ihn achtgeben.«

»Du sprichst wie eine kleine Mutter.« Er legte ihr liebkosend die Hand
auf die blasse Wange. »Dein Sohn möchte ich einmal nicht sein.«

Brennendes Rot lief wie Hauch über ihr Gesicht: »Ich glaube, Papa, wir
bekommen keine Kinder.«

»Na,« er lachte gutmütig, »abwarten ...«

Sie stand auf in jäher Bewegung:

»Jetzt möchte ich zu Hilde; ich habe sie eine Ewigkeit nicht mehr
gesehen.«

»Komm, Kind, sie wird sich gewiß freuen ...«


Leo lag auf dem Diwan und horchte den Stimmen, die aus dem Nebenzimmer
kamen.

Er hatte die Augen geschlossen in schwerer Mattigkeit. Der Kopf
schmerzte, und sein Puls ging schwer. Man gab ihm keine Ruhe: jetzt
mußte ihn auch Hilde bei Papa anschwärzen. Was wußte die von all dem,
was in ihm vorging? Für sie war er der Bub, der lernen sollte. Was
rechnete die mit seiner Eigenart? Schwerer Groll stieg in ihm gegen die
Schwester auf, die sein Bestes wollte.

Er fuhr wider Willen zusammen und stellte sich schlafend.

Die Tür war geöffnet worden.

Er fühlte den Blick seines Vaters auf sich ruhen und regte sich nicht.

Ein Stuhl wurde gerückt; nun mochte er sich wohl zu ihm gesetzt haben.
Da war einer Aussprache nicht mehr zu entgehen! Er wußte, daß Papa nun
warten würde, bis er aufwachte.

Langsam, blinzelnd schlug er die Augen auf und richtete sich
verschlafen in die Höhe.

»Bleib nur liegen, Bub!« Tiedemann betrachtete ihn mit forschenden
Blicken. »Du siehst elend aus, Leo.« Er furchte die Stirn.

»Aber Papa, das ist nur, weil ich Kopfweh habe, und die Tapete
hierinnen macht jeden grün! Du siehst auch schlecht aus.«

»Laß die Tapete in Ruhe und sag' mir lieber, wann du heute nach Hause
gekommen bist!«

»Nicht spät,« Leo brachte schnell zwei Stunden in Abzug, »es wird noch
nicht zwölf gewesen sein. Ich bin von Jan Wolny direkt hierher.«

»Ist das wahr?«

»Ja.« Aus gepreßter Brust kam die Antwort.

»Du lügst mich nicht an?«

»Aber Papa!« Wieder richtete er sich heftig auf.

»Bleib nur ruhig! Ich glaub' dir ja ...«

Mit unsicherem Blick sah Leo auf seinen Vater. Es war Scham in ihm, daß
er die Unwahrheit gesprochen, trotzdem ihm sein Vater vertraute, und
doch sah er keinen anderen Ausweg.

»... Es ist mir gleich, ob du gestern früh oder spät nach Hause
gekommen bist. Aber jedenfalls lumpst du zu viel. Deine Gesundheit
verträgt das nicht.« Tiedemann suchte seiner Stimme Strenge zu geben
und sich an Hildes und Clos Worte zu erinnern. »Du bist doch noch zu
jung und hast genug Zeit, später alles mitzumachen; wenn du aber jetzt
deine Nerven ruinierst, so leidest du dein ganzes Leben daran.«

»Ja, Papa, aber ...« Leo biß sich auf die Lippen und schwieg.

»Was ist denn? Rede, Leo; mit mir kannst du alles sprechen, wie mit
einem alten Freund!« Tiedemann drückte ihm die Hand. Leo lächelte ihm
dankbar zu. Dann sagte er mit schwerer Stimme:

»Du mußt mich für keinen Lumpen halten! Es ist etwas anderes ... Weißt
du,« brach er mit stockendem Atem los, »was es ist? _Das Leben!_ Es ist
so groß und so reich, daß man immer nur wenig davon haben kann, wie alt
man auch wird. Papa, wenn ich so denke, bekomme ich Riesenangst,« er
ballte die Faust, »daß ich zu kurz komme und daß ich es nicht richtig
anwende, und dann weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht.«

»Du lieber Bub.« Der alte Mann war aufgestanden und küßte ihn auf den
zuckenden Mund. »Das soll dir keine Sorge machen; das Leben wird einem
noch mehr als genug. Wenn du einmal so alt bist wie ich, dann wirst du
mir recht geben.«

»Wirklich, Papa?« Es klang wie freudige Angst aus den Worten.

»Gewiß, mein Kind.«

»Hast du _auch_ mal so empfunden, wie ich? Warst du auch so
ungeschickt, Papa?«

»Ja«, mit einem Seufzer kam die Antwort. Tiedemann nickte in Gedanken
versunken mit dem Kopfe vor sich hin. »Ich hab' auch geglaubt, jeder
Tag müßte mir ein Wunder bringen, und doch habe ich nie eines gesehen.
Die Menschen können nicht anders als gemein sein; sie können nichts
dafür. Wir sind es selber auch.« Er raffte sich zusammen ... »Das hat
jeder mehr oder weniger mitgemacht, der im Leben 'was erreichen wollte;
aber glaube mir, es gibt nur eines, was dagegen hilft, und auch nur
eines, was wirkliche Freude und Befriedigung gibt: die Arbeit.«

Leos Augen leuchteten auf, »Das hab' ich mir auch schon gedacht, aber
ich habe ja keine,« seine Stimme schlug um; »die Schule, das ist doch
keine Arbeit, wie du sie meinst, und sonst hab' ich keine!«

»Wird noch genug kommen.«

»Aber _wann_, Papa? _Jetzt_ möcht' ich sie haben, damit ich etwas
bin. Ich weiß nicht einmal, was ich werden soll und bin schon bald
neunzehn.« Tiedemann sah zu Boden:

»Ich weiß heute noch nicht, was ich geworden bin ...«

Leo überhörte in seiner Erregung den traurigen Klang in der Stimme
seines Vaters.

»Fred hat das Geschäft, Clo hat ihren Mann, Hilde wird auch bald einen
haben, und nur _ich_ weiß nicht, was aus mir wird -- _ich_ steh' ganz
allein.«

»Mancher Mensch ist am glücklichsten, wenn er allein ist.«

»Ihr anderen seid aber doch alle zufrieden?«

»Gewiß,« der alte Mann sah auf; er beeilte sich zu antworten, »aber wir
haben dabei jeder doch auch unsere Sorgen und unsere Wünsche, die wir
gern erfüllt sehen würden. Das Leben ist mal so, daß es nie alles gibt,
und _wenn_, dann nimmt es dir gleich darauf wieder, viel _mehr_, als es
dir gegeben hat.«

Mit großen Augen, in denen die Furcht vor dem Rätsel des Lebens stand,
sah der Knabe seinen Vater an, der als Resultat eines langen, wie es
ihn dünkte glücklichen Lebens keine anderen Worte fand. Leo benetzte
seine trockenen Lippen und fragte hastig:

»Es muß aber doch etwas geben, das uns an der Erde festhält, sonst
würden wir uns nicht so vorm Sterben fürchten? Erinnere dich nur, als
es Mama so schlecht ging -- wenige Stunden vor ihrem Tode -- wie hat
sie da geweint, daß sie fort müßte von uns allen und daß sie ihr Leben
nicht besser genützt hätte.« Tiedemann erhob sich; er legte Leo die
Hand auf die Schulter und sah ihm tief in die Augen:

»Der Mensch ist _feig_, Leo, das ist's.« Tiedemann strich ihm das Haar
aus der Stirn. »Darum glaubt er immer, es sei schade um ihn, wenn er
stirbt, und es sind doch so viele bessere da. Ich habe auch geglaubt,
ich sei fürs Geschäft unentbehrlich und habe manche Szene mit deiner
Mutter deswegen gehabt, weil sie wollte, daß ich Fred an meine Stelle
lasse; und schau, als ich es endlich getan hatte, da habe ich jeden
Tag auf das Unglück gewartet, das nun über unser Haus kommen würde, --
und es ist noch immer keines gekommen -- und das Geschäft geht ruhig
und gut weiter, gerade als ob ich es noch leiten würde.« Er senkte
den Kopf, als schämte er sich seines Eingeständnisses und fuhr fort:
»Nicht, daß ich es Fred gewünscht hätte, gewiß nicht; du weißt, wie
gern ich euch alle habe -- aber,« seine Stimme wurde heiser, »deiner
Mutter hätte ich es vergönnt, weil sie stets gegen mich recht zu haben
meinte -- sie hat es bisher noch immer gehabt.« Er legte die geballte
Faust auf das Knie und vergaß, daß er zu seinem _Kinde_ redete.

»Ich habe mich gegen eure Erziehung gesträubt, aus Leibeskräften. Ich
wollte euch einfacher haben; mehr Kinder, als »Söhne und Töchter«! Wäre
es nach mir gegangen, ihr wäret _nie_ in dem Gedanken aufgewachsen,
daß ihr reich seid. Eure Mutter hat es anders gewollt. Ich habe mich
gebangt und gesorgt um euch und ihr Vorstellungen gemacht. Sie hat mich
stets ausgelacht und gesagt: ‚Das verstehst du nicht -- und kannst es
auch nicht verstehen.’ Und sie hat _recht_ gehabt -- ich stand ja den
ganzen Tag im Geschäft.« Er schwieg und lächelte seinem Kinde hilflos,
ermunternd zu: »So ist's mal im Leben.«

»Papa,« Leo umfing seinen Vater und küßte ihn, »es ist ja nichts
Schlechtes aus uns geworden. Es ist eben jetzt eine andere Zeit.«

»Ja, schon recht,« hastig nahm Tiedemann seines Kindes Arm von seinem
Hals, »nur eines noch, und das merk' dir fürs Leben, weil wir gerade
darüber reden: heirate -- wenn du mal so weit bist -- nicht in eine
andere Gesellschaftsschicht hinein als in die, in welcher du geboren
bist.«

Mit fragenden Augen sah Leo ihn an.

»Alles läßt sich überbrücken und verwischen, nur das eine nicht! Du
hast es dann stets vor Augen, daß du ein anderer bist. Und wenn du
hundertmal das Haus erhältst und alles tust, du bleibst _doch_ immer
der Mindere. Da kommen die Verwandten und die Freunde deiner Frau und
sehen dich als weniger an -- selbst wenn sie selber Lumpen sind, du
scheinst ihnen doch minder.«

»Clo hat doch auch in eine andere Gesellschaftsklasse geheiratet?«

»O nein,« fuhr Tiedemann auf, »du verstehst mich falsch. Nicht
bürgerlich und adelig habe ich gemeint, sondern arm und reich. Ich bin
von armen Leuten, während deine Mutter aus vermögendem Hause stammte!
Darum paßten wir nicht zueinander. Lecart kommt aus vermögendem Hause
und Clo auch, darum werden sie nie viel Streit haben, sie haben von
Geburt dieselben Bedürfnisse. Darum muß Hilde auch so heiraten, wenn
sie vielleicht auch heute noch anders denkt.«

»Sie hat Hansen gern.«

»Das wird vorübergehen. Fred sagt, daß sich Olthoff für sie
interessierte; siehst du, Leo, der wäre mir als Schwiegersohn recht.«

»Er ist aber doch ganz anders als du, Papa.«

»Das ist gut, auch Lecart ist es!«

»Du denkst niedrig von der Frau.«

»Wie sie es verdient. Ich kann nicht anders reden, als wie es mich
das Leben gelehrt hat. Deine Mutter war eine feine Frau, eine Mutter,
wenigstens wollte sie stets das Beste mit euch, aber mir war sie
nichts. Oft, am Anfang unserer Ehe, kam ich zu ihr, um dies oder das zu
fragen, sie sollte mir einen Rat geben; wenn ich einen Freund brauchte,
der hätte sie mir sein sollen. Ich bin stets umsonst gekommen.« Er
atmete schwer. »Ihr war Toilette und Theater, kurz: alles wichtiger als
meine Sorgen; die sollte ich mit mir allein ausmachen.«

»Armer Papa,« Leo streichelte seine Wange, »und Gerhards Mutter?«

Die Brust des alten Mannes hob und senkte sich in stockenden Wellen.
»Die war anders ...« Er stand auf. »Ueber Tote rede ich nicht gern,«
sagte er barsch und vergaß im eigenen Kummer, weshalb er gekommen war,
»du,« er griff nach Leos Hand, »laß dir's gesagt sein, genieße das
Leben!«

»Das will ich tun, Papa.«

»Nehmt euch die Frauen, wo ihr sie findet, und macht euch keine
Gedanken, dann seid ihr glücklich; dann habt ihr keine Sorgen und seid
begehrenswert.«

»Ja,« mit leuchtenden Augen sah Leo auf, »das will ich tun, und Fred
macht es auch so.«

»Recht habt ihr.« Klaus Tiedemann nickte mit dem Kopfe und lachte. Mit
starren Augen stierte er auf den Boden. »Rächt mich!«

Leo blickte nachdenklich zu ihm, dann fragte er langsam: »Hat dein
Vater auch so zu dir gesprochen, Papa?«

»Mein Vater?« wieder lachte Klaus Tiedemann, »nein, der hat es nicht
getan.«

»Warum nicht?«

»Mein Vater? Der dachte nicht an so etwas. Für den gab es nur Geld und
Wut darüber, daß er keines hatte.«

»Was war Großvater?«

»Das ist's ja, Leo, von dem ich die ganze Zeit spreche -- er war arm --
und ging am Trunk zugrunde.«

»Da war er nicht gut mit dir?«

»Nein, Junge, aber darum bin ich es mit euch; ein Vater kann gar nicht
nachsichtig und lieb genug mit seinen Kindern sein.«

»Du Guter,« Leo küßte ihn auf den Mund, »aber schau, Papa,« sagte er
dann erinnernd, »wenn man nicht heiratet, dann hat man doch keine
richtigen Kinder, und du hast uns doch so gern?«

»Das ist wahr.«

»Siehst du ...«

Es war dunkel geworden, und die Laternen warfen flackernde Lichter
durch die Fenster. Von der Straße klang gedämpft der Lärm des
Menschenstromes herauf, der sich von dem Geschäftsviertel in die
äußeren Bezirke ergoß ...

Fred öffnete die Tür. »Aber, Papa, der Wagen steht bereits unten, und
du bist noch nicht einmal angezogen!«

»Ich habe ganz vergessen.« Tiedemann fuhr sich über die Stirn,
»wir haben ernst zusammen gesprochen und da ist die Zeit schnell
vergangen.« Leo kam in Bewegung:

»Mach rasch, Pa, damit wir nicht zu spät kommen, ich bin gleich fertig.«

Er sprang davon; sein Vater drehte sich schwerfällig um, er hätte
gern noch etwas gesagt, das seinem Kinde Halt geben sollte in seinen
Kämpfen. Doch die richtigen Worte hatte er nicht gleich gefunden, und
nun war es zu spät. Daß aber auch Leo das Konzert wichtiger war! ...

»So mach' doch weiter!« Freds Stimme hatte eine unwillige Färbung
angenommen. »Es sieht unangenehm aus, wenn man _jedesmal_ zu spät
kommt, gerade als ob man es sich so aussuchen würde, um fein zu sein.
Das haben wir nicht notwendig.« Er schob seinen Vater zur Tür hinaus
und fand nicht eher seine Ruhe wieder, als bis sie alle im Wagen saßen.
»Warum hast du keinen Schmuck genommen?« fragte er Hilde, als die
Pferde anzogen und ein vorüberfahrender Omnibus mit seinem Lichte ihm
diesen Fehler offenbarte.

»Du weißt, daß ich Schmuck nicht gern trage.«

Er sah unwillig zum Fenster hinaus und sagte: »Heute hättest du
_schon_ einen nehmen können, wo wir uns, seit mehr als Jahresfrist,
das erstemal wieder zeigen. Solange wir Trauer um Mama trugen, ließ
ich mir's gefallen, jetzt ist's Kaprize von dir!« Er ließ seine
prüfenden Blicke weiter wandern, die gleich darauf bei seinem Vater
eine schiefsitzende Krawatte entdeckten. Er richtete sie zurecht und
fand dabei, daß Papa noch immer das schwarze Band als Uhrkette trug.
Er griff hastig danach. »Das hättest du auch ablegen sollen; entweder
oder: wenn wir von heute ab offiziell keine Trauer mehr tragen, so
gehört sich das nicht mehr!«

»Ich werde es morgen weg tun, laß!« Klaus Tiedemann legte die Hand auf
den Wagenschlag und blickte zu Leo: »Nicht wahr, du beherzigst, was ich
dir sagte?«

»Ja,« mit verlorenen Augen sah Leo ihn einen Augenblick an, dann hielt
der Wagen. Ein Strom geschwätziger Menschen umgab sie.

Mit nonchalanter Geberde nahm Fred Tiedemann seiner Schwester den
Mantel ab und warf ihn dem Diener auf den Arm: »Sie warten beim
Ausgang!«

Der Riesensaal war voll Menschen, bis hinauf zu den schwarzen Galerien.
Auf dem Podium, das den Saal abschloß, stimmte das Orchester. Hunderte
von Armen waren in lebhafter Bewegung.

Hilde neigte den Kopf, wie mit Blut übergossen: T. A. Hansen stand
da und hatte sie gegrüßt. Für einen kurzen Augenblick hatten seine
beweglichen Augen ruhig in den ihren geruht, dann wanderten sie weiter,
über ihre Brüder hin, mit leichtem Spott.

Rechts und links grüßten Bekannte:

»Ich habe die Ehre, guten Abend,« und dazu lächelten alle Gesichter,
die in wenigen Sekunden sich in ernste Falten legten, weil es die Sitte
erforderte und man so über Kunst sprach ...

Der erste Bogenstrich!

Ruhe überflog den Saal, mit den ersten Tönen brach Beethovens Genius
die Kleinlichkeit der Menschen und nahm sie gefangen.

Mit eiserner Hand pochte an aller Herz der Kampf der Seele gegen
feindliche Gewalten und ließ sie zittern.

Das Glück lächelt und winkt, und das Schicksal wirft sich dazwischen.
In wilder Gewalt brüllten die Töne und flehten und baten in heißem
Sehnen.

Aufrichten, Hoffen, Verschwinden und Suchen waren des Menschen ewiges
Vermächtnis ...

Klaus Tiedemann verstand nichts von Kunst und hatte auch nie darauf
Anspruch erhoben, aber als die Töne auf ihn eindrangen, kam eine
sonderbare Stimmung über ihn: Vielleicht war er heute zugänglicher,
weil er in dem Gespräche mit Leo alte Erinnerungen geweckt, die er
lange schon tot gemeint hatte! Seine Kindheit stand plötzlich vor ihm:

Der trunkene Vater schalt sein abgehärmtes Weib, weil er das Geld nicht
geben wollte, das sie fürs Leben brauchten. Und daneben saß der Knabe,
in Lumpen, und träumte von Geld und Glück, denn ohne Geld konnte es
keines geben. Der Vater starb, der Sohn stemmte sich im wilden Trotz
dem Leben entgegen, in offenem Kampfe wollte er es bestehen; doch es
schlug ihm Wunden auf Wunden. Bald stand er allein. Dann schien Glück
zu lächeln, er fand ein Weib. Gemeinsam trugen sie die Mühen leichter.
Gerhard wurde geboren. Nun wußte er, _wofür_ er stritt ... Seine Kraft
verdoppelte sich. Erfolg kam auf Erfolg. Klaus Tiedemann stieg hoch.

Hornruf riß ihn empor.

Die Welt stand freudlos vor ihm, und die Instrumente schwiegen:

Er fuhr zusammen, als täten ihm all die Hände weh, die in die Stimmung
schlugen und damit Beifall zeugten.

Lange dröhnte der Applaus.

Mit matter Handbewegung klatschte Fred: »Die Behrens sind vorn in der
Loge«, sagte er nachlässig zu seinem Vater. »Du mußt sie grüßen.«

»Der erste Satz war prächtig,« Leo winkte mit dem Programm seiner
Schwester zu, »nur etwas zu langsam.«

Hilde nickte, kaum bewußt, daß man zu ihr gesprochen. Die Stimmen
schwirrten um sie und banden sie an die Wirklichkeit. Das Orchester
setzte ein. In wildem Rasen nahm das Kunstwerk sie weiter gefangen,
alles versank hinter ihr.

Der Taumel konnte betäuben, nicht täuschen über den Ernst! Das war es,
was sie oft empfand, daheim, wenn sich die Ihren anders gaben, als sie
waren. Bequem war es, doch es mußte sich rächen! Derbes Behagen und
Selbstzufriedenheit gaben nimmer Erfolg. Vater mußte die Fehler seiner
Söhne sehen und sich ihrer bewußt werden.

Ihre Blicke flogen zu ihm. Seine Gedanken gingen ähnlichen Gang:

Sollte das rastlose Suchen und Mühen nach dem Glück, das ihn zeitlebens
geleitet hatte, sein Ende finden in enger Begrenzung? So dachte er
damals, als er, zurückgekehrt auf Heimaterde, sein Werk, jetzt Freds
Werk, geschaffen hatte. Sollte er einsam bleiben, zufrieden mit dem
Besitz? Er sehnte sich wieder nach Heimat im wirbelnden Trubel des
Lebens, sein Herz verlangte Liebe, und die gab die _Familie_! Familie?
Er brauchte zu wählen. Wie klein waren die Menschen, die ihm nun ruhig
ihr Kind gaben, weil er reich geworden war! Die Kinder kamen, doch
nicht das erhoffte Glück. Als er es besessen hatte, in den wenigen,
kurzen Jahren seiner ersten Ehe, da hatte er sich nach dem lärmenden
Erfolg gesehnt; da war das Glück zerbrochen. Nun verließ ihn nicht mehr
der Erfolg, doch das Glück kam nimmer! Er wurde einsam in seiner großen
Familie.

Mit starren Augen blickte Tiedemann vor sich nieder. Warum? ... Warum?

Beifall hatte zweimal um ihn geklungen, er hatte sich nicht gerührt.
Seine Kinder sprachen, er gab keine Antwort:

Freude klang aus Instrumenten und Stimmen!

Freude war ihm nie beschieden gewesen.

Ob sie wohl seine Kinder fanden? Was in _seinen_ Kräften stand, gab er
hinzu. Sie sollten haben, was ihm das Leben verwehrte!

Die Instrumente jubelten, die Stimmen jauchzten. »... Deine Zauber
binden wieder, was die Mode streng geteilt ...«

Ein Riß ging durchs menschliche Sein, den nichts überbrückte. Wer
Großes wollte, wuchs aus seinem Kreis und nahm sich so die Kraft,
die ihm bestimmt war, die stets zu wenig wurde. Tiedemanns suchender
Blick blieb auf dem hageren, bleichen Gesicht eines Geigers hängen,
einer kleinen, verkrüppelten Gestalt, an der nur die Augen lebten und
flackerten. Er war glücklich in den Tönen, um, wenn das graue Einerlei
ihn wieder umfing, noch unglücklicher zu sein. So war es auch Klaus
Tiedemann ergangen:

Das Leben hatte ihn gehoben und ihm den Boden des Volkes geraubt, aus
dem er gewachsen war. Und nun stand er zwischen zwei Schichten und
gehörte keiner an: Sein Streben galt dem, was sein erbittertster Gegner
gewesen, solange er jung war. Er stand vor verschlossenen Türen und
wollte den Weg zurück nicht mehr gehen, weil er allzu steinig war, da
er ihn wanderte, den Blick nach der Höhe gerichtet. Und die Türen vor
ihm blieben verschlossen. Sein Leben ging zu Ende. Noch immer suchte er
dessen Rätsel zu lösen. Gab Gott den Menschen die Erde, um glücklich zu
sein? ...

»Komm Papa! Ich möchte dich noch der Baronin Wolny vorstellen.«

Fred Tiedemann rüttelte seinen Vater, der bewegungslos geblieben, als
das Konzert zu Ende war, der noch immer so saß im halbleeren Saal.
Tiedemann seufzte und stand auf. Eine alte Dame trocknete sich die
Augen, in welche die Erinnerung ihres Lebens Tränen getrieben hatte.
Sie gingen dem Ausgang zu. Hansen mußte schon weg sein. Hilde sah ihn
nicht mehr. »Jedes Wort, das man nachher spricht, ist Entweihung«,
hatte er einmal zu ihr gesagt.

»Oh, die Herrschaften gehen wieder in Gesellschaft?« Eine schöne Frau
grüßte mit bezauberndem Lächeln: Brunn-Bennigsen, die Klaviervirtuosin,
hatte der Tiedemanns Fernbleiben von ihren Veranstaltungen, durch vier
leere Plätze in der ersten Reihe gut im Gedächtnis. »Aber übermorgen
kommen Sie doch in mein Konzert?«

»Selbstverständlich.« Klaus Tiedemann verneigte sich, trotzdem sein
Inneres anders sprach. Er wendete sich an seinen Sohn: »Fred, du mußt
dich morgen gleich um Karten umsehen. Hoffentlich bekommen wir noch
welche.«

»Ich denke schon!«

Ein öder Abend, der ihm nichts gab, stieg vor Tiedemann auf, in dem
er Beifall klatschen mußte, weil es die anderen taten. Mechanisch
verbeugte er sich bei der Verabschiedung, während Fred mißmutig zum
Ausgang sah:

»Nun haben wir die Wolny verpaßt.«


Hilde und Leo empfingen in den vorderen Räumlichkeiten die letzten
Gäste. Dann geleiteten sie diese in den Musiksalon. »Wenn es Sie
interessiert, wir wollen eben über das Wohltätigkeitsfest schlüssig
werden.« Leise Verbeugungen, diskretes Lächeln und Händedrücke ließen
die Wissenden erkennen.

Lachen und Bravorufe klangen von der Schmalseite, wo sich die Herren
drängten. Frau Baronin Wolny stand auf, von neuerlichem Beifall
begrüßt. Sie lächelte dankend und sprach geziert:

»Meine Herrschaften!«

Sesselrücken ging der allgemeinen Ruhe voraus, welche knarrende Stiefel
unangenehm unterbrachen, die auf dem spiegelnden Parkett hin und her
gingen. »Wer ist das?« Ein fragendes Lächeln hinter dem Fächer, leise
Antwort:

»Ueberbleibsel aus alter Zeit, man sagt, ein Verwandter.«

Zwei Augenpaare nickten sich zu, über Gerhard Tiedemann hatten zwei
Damen der Gesellschaft den Stab gebrochen.

»Meine Herrschaften! Vor allem danke ich Ihnen für ihr Vertrauen«,
sprach die Wolny. »Ich weiß nicht, ob ich es verdiene,« die rotblonde
Frau lächelte verbindlich, »aber wenn ich tatsächlich die Ehre haben
werde, dem Feste zu präsidieren, so können Sie versichert sein, daß
ich zu dessen Gelingen alles tun will, was in meinen schwachen Kräften
steht.«

T. A. Hansen zog die Unterlippe ein, während ein Beifallssturm den
Worten der begehrenswerten Frau folgte; dann klatschte auch er in die
Hände: »Bravo!« Seine Stimme hatte sonderbare Färbung.

»... Und noch eines möchte ich bitten, heute zu besprechen. Mit
Rücksicht auf den praktischen und humanitären Zweck müssen wir
möglichst _billig_ arbeiten. Wollen die Herrschaften also im Laufe des
heutigen Abends, der uns gewiß allen recht angenehm vergehen wird, sich
zwanglos über Gruppen, Kostüme usw. besprechen und es dann mich oder
Herrn Fred Tiedemann wissen lassen, der die Freundlichkeit hatte, in
das engere Komitee einzutreten ...«

Sie setzte sich; Fred beugte sich leicht zu ihr hinüber, daß er den
warmen Hauch ihres Körpers atmete: »Bitte Frau Baronin, das Wort für
mich.«

»Herr Fred Tiedemann hat das Wort.«

»Ich möchte nur auf eines hinweisen,« der kerzengerade Fred lächelte
rundum, »wir brauchen einen gewissen Betriebsfonds, um arbeiten zu
können! Die Vorbereitungen hat wohl die gnädige Frau Baronin in
selbstlosester Weise gefördert.«

»_Sie_ doch _auch!_« Frau Majas volle Lippen lächelten.

»Es müssen Einladungen besorgt werden, kurz und gut,« er warf den Kopf
humoristisch hin und her, »wir brauchen Geld, wie überall auf der Welt!«

»Der Weisheit Schluß!«

»Kollekte veranstalten!«

»Absammeln!«

»Bitte,« Fürst Solt legte eine Riesennote vor Frau Maja Wolny und trat
mit einer Verbeugung zurück. Fred Tiedemann sah darauf hin und ärgerte
sich: es war mehr, als er hatte zeichnen wollen.

Er sah fragend zu seinem Vater hinüber:

Der hatte die Situation und den Befehl begriffen. Mit hastigen
Schritten und vor Erregung rotem Kopf, daß er nun vor so vielen
Menschen sprechen müßte, die er alle als über sich stehend ansah, trat
er vor und gab die doppelte Summe in Frau Majas Hände: »Von unserem
Hause.«

»Meinen herzlichsten Dank, im Namen der Sache.«

Klaus Tiedemann verneigte sich, wie er es bei dem Fürsten gesehen
hatte. »Das soll nur der Anfang sein.«

Fürst Solt trat in die Fensternische.

Nun kamen alle anderen, an der Spitze Lecart und Behrens. Klaus
Tiedemann sah mit scharfen Augen zu: Behrens mußte viel geben, der zog
den armen Leuten die Haut über die Ohren ... Die beiden Männer nickten
sich steif zu; sie konnten es noch immer nicht vergessen, daß sie in
der Jugend Konkurrenten gewesen waren. Und dann -- die Behrens hatten
wohl auch reichlich Geld erworben, aber ihre Art hatte sich nicht
verfeinert und war derb geblieben, wie am Anfang, da Heinz Behrens
am Getreideeck als kleiner Makler begonnen hatte! Behrens sagte zu
Tiedemann:

»Wie soll der Schwindel heißen?«

»Das wissen wir selbst noch nicht; ursprünglich wollten wir ein
orientalisches Fest, aber die Kostüme kommen zu teuer; das drückt den
Reingewinn.«

»Mhm,« Heinz Behrens zog den Mund breit, »das ist wahr.«

»Nennen Sie's doch ‚ein Wohltätigkeitsfest auf dem Mond’, meine
Herrschaften,« rief Hansens helle Stimme in das Gewisper und Geflüster,
das die rotblonde Präsidentin ratend umgab, »da kann man jedes Kostüm
brauchen.«

Sie wandten alle die Köpfe; Hildes Augen suchten den Boden.

Klaus Tiedemann wußte nicht recht, ob die Worte im Scherz oder im Ernst
gesprochen waren.

»Das ist eine Idee.«

Fred Tiedemann hatte zu Hansens Verständnis, in solchen Dingen,
unbedingtes Vertrauen:

»Ausgezeichnet, meine Herrschaften, wenn niemand etwas dagegen hat, so
feiern wir ein Fest auf dem Mond?«

»Bravo, famos!«, es hatte niemand etwas dagegen; nur Heinz Behrens
schüttelte den struppigen Kopf, er fand sich nicht gleich zurecht in
solchen Dingen: was sollte er auf dem Monde machen?

»Ein großartiger Gedanke, gnädiges Fräulein«, sagte Olthoff und zog
sich ein Taburett zu Hildes Füßen. »Ist es erlaubt?«

»Bitte.«

Er ließ sich nieder. »Ich hätte eine große Bitte an Sie, gnädiges
Fräulein?«

»Die wäre?«

Er seufzte und sah sie lächelnd an: »Eine sehr, sehr große und
unverschämte Bitte.«

»Nun?« Nervös blickte sie nach der Stelle, wo Hansen sein mußte. Er
folgte der Richtung; fragend sah er sie an:

»Befehlen?«

»Nichts,« sie wendete den Kopf, »Ihre Bitte?«

»Fred und ich wollen eine Gruppe bilden.«

»Und? ...«

»Bitte, machen Sie mit!«

»Wenn Papa dadurch nicht allein ist, gern.«

»Das ist lieb von Ihnen.« Er küßte ihr die Hand und sprach eifrig
weiter: »Wir denken uns so eine nette, intime Gruppe, lauter Leute, die
sich gegenseitig sympathisch sind.« Sein Blick tauchte fragend in den
ihren, ohne daß ihm dieser die gewünschte Antwort gab. »Bis jetzt wäre
es Ihre werte Familie, die Wolnys und meine Wenigkeit -- viele werden
nimmer dazukommen, höchstens noch eine junge Dame für Jan Wolny; für
Ihren jüngeren Herrn Bruder haben wir an Fräulein Behrens gedacht.«

Hilde gab einsilbige Antworten.

Hansen ging vorüber, im Gespräch mit Leo; sein Blick streifte sie,
flüchtig und zufällig; es tat ihr weh. Abseits stand Fürst Solt und
redete mit Jan Wolny. Die schmale Gestalt Wolnys hing vornüber, der
kleingestutzte, schwarze Schnurrbart gab dem Gesicht einen älteren
Ausdruck.

»Sie wollen sich jedenfalls, wie Ihr seliger Herr Papa, dem
öffentlichen Dienste widmen?«

»Vielleicht, Durchlaucht, -- einstweilen studiere ich
Rechtswissenschaft.«

»Und interessiert Sie Ihr Fach?«

Jan Wolny zog die dunklen Brauen zusammen. Er antwortete langsam:

»Gewiß, Durchlaucht, es hat für mich etwas sehr Ansprechendes, aus
erster Quelle das kennenzulernen, nach dem die gesamte Menschheit
sich richten muß. Sie fügt sich seit Jahrtausenden, und doch ist es
auch nur menschlicher Wille, vor dem sie sich beugt. Man schuf sich
eine Richtschnur, weil man sich der eigenen Schwäche bewußt war. Wer
heutzutage stärker wäre und nach eigenem Gesetz handelte, er wäre der
erste, der nach dem Mittel der Schwäche seiner Vorfahren gerichtet
würde. Das ist das Rätselhafte am menschlichen Recht und Gesetz.«

Mit langem Blick sah ihn Fürst Solt an.

Olthoff segelte steuerlos hin und her, um ein Gespräch dauernd im Gange
zu halten:

»Sagen Sie, Fräulein Hilde, zu wessen Gunsten wird eigentlich das
Reinerträgnis verwendet?«

»Für Angehörige von Säufern und für die Erziehung ihrer Kinder.«

»Da wird Ihr Herr Schwager eifrig beisteuern müssen.«

»Wieso?«

»Jetzt, wo die Spiritus- und Schnapsbrennereien ihm gehören, ist er ja
einer, der am meisten mit solchen Leuten zu tun hat.«

Sie lächelte gezwungen: »Ach so ...«

Fred kam auf sie zu und sagte befehlend: »Olthoff führt dich zu Tisch;
neben dir ist Fürst Solt mit Clo.«

Sie nickte gehorsam und stand auf. Sie legte ihren Arm in den Olthoffs
...

In scharf überlegter und abgezirkelter Tischordnung saßen sie:

Ganz unten Gerhard und Hansen; auch der alte Behrens hatte es
verstanden, sich dahin zu schmuggeln; da aß man ungenierter! Seine Frau
und Tochter sollten ruhig oben bleiben. Heinz Behrens erwog in seinem
geschäftigen Sinn eine endgültige Versöhnung der Häuser Behrens und
Tiedemann, durch Heirat ihrer Kinder. Leo war seiner Tochter Tischherr.
Dann konnte man die überseeische Filiale auflassen, die nur Geld
kostete, die, der Tiedemanns wegen, einstweilen notwendig war ...

Frauenrecht und Kinderschutz waren das Gesprächsthema. Frau Baronin
Wolny hob ihr Glas Liebfrauenmilch und lächelte Fred Tiedemann zu:
»Mein treuer Adjutant.« Dann fragte sie nach links, seinen Vater,
der sofort mit dem Essen innehielt: »Sagen Sie, wird nicht stark
übertrieben, wenn man immer von der traurigen Lage der Arbeiterschaft
spricht?«

»Durchaus nicht, Frau Baronin --« Tiedemann wischte sich mit der
Serviette eifrig den Mund. »Durchaus nicht, die Leute sind wirklich
gezwungen, ein Leben wie die Hunde zu führen.«

»Also doch, das ist mir interessant zu hören!«

Klaus Tiedemann kam in Hitze:

»Das ist das fürchterliche, daß die meisten gar nicht wissen, wie
schlecht es ihren Arbeitern geht!« Lecart hob den Kopf. »Nicht genug
daß die Eltern verkommen und sich dem Trunk ergeben, die Kinder, für
die sonst jeder alles tut, werden krank und leiden daran ihr Leben lang
...« Er rückte zur Seite, um »Sole d'Ostende à la Joinville« servieren
zu lassen, dann fuhr er fort, die eigene Kindheit ward in ihm rege:

»Man muß wissen, wie die Kinder untergebracht sind: mit den Eltern oft
zu fünft und noch mehr in einem kleinen, schlecht gelüfteten Raum,
der auf einen engen Lichthof mündet, in den nicht mal die elende
Großstadtluft dringen kann.« Er nickte aufgeregt mit dem Kopfe.
»Was sie da sehen und hören, wenn sie älter werden und der Vater
betrunken nach Hause kommt!! Dann wundert man sich über die moralische
Verkommenheit. Mein Gott, was man von klein auf gesehen und mitgemacht
hat, wird einem zur Gewohnheit. Ich kann darüber sprechen, denn ich
...« Fred Tiedemann sah seinen Vater fest an, dem ging stets das Herz
in solchen Dingen über, »... denn ich«, fuhr Tiedemann unsicher fort
... »habe mich stets um meine Arbeiter gekümmert.«

Er schwieg, Lecart sagte zu Brunn-Bennigsen, seiner Nachbarin: »So arg
ist's nicht, mein Schwiegerpapa übertreibt gern.«

Jan Wolny, der neben Clo saß, schüttelte den Kopf. »Wenn es wirklich so
ist, dann sollten wir uns schämen und, statt ein Fest zu veranstalten,
das ganze Geld den Armen geben.«

»Es kommt ohnehin auf eins heraus.« Clo wendete ihm den Kopf zu, daß
die Brillanten farbige Pfeile schossen. »Wenn wir eine Unterhaltung
geben, so haben wir _und_ die Armen etwas davon und sonst nur die
allein.«

Jan gab keine Antwort.

Das Mahl ging weiter, Gang folgte auf Gang. Beim Champagner, Lecart
hatte mit Vergnügen zu seinem Gegenüber »G. H. Mumm extra dry« bemerkt,
erhob sich Fred, zu kurzer Rede:

Er sprach auf die Präsidentin und auf das Gelingen des Festes und
fand den üblichen Beifall des Gastgebers. »Ein reizender Mensch, Ihr
Herr Sohn«, hatte Baronin Wolny zu Klaus Tiedemann gesagt; der nickte
vor sich hin. Er konnte das Lächeln des Vaterstolzes nicht verbergen.
In solchen Momenten vergaß er alles, aus Freude darüber, daß seinem
Sohne gelang, was er Zeit seines Lebens nicht erreicht hatte -- das
Wohlgefallen der Gesellschaft.

Nach dem »Crème à la Glace« warf Olthoff, der bereits sämtliche
Manövergeschichten erschöpft hatte, abermals die Frage auf, was die
Gruppe darstellen sollte. Er dachte an Mondkavallerie in exotischem
Kostüm, die Frau Luna umschwärmt. Hilde sollte Frau Luna sein!

»Recht verrückte Adjustierung, Löffel und Gabel in Riesendimensionen
als Waffen -- Hände und Gesicht dunkel gefärbt; das wird ein
Hauptspaß.« Er lachte. »Doch die Damen werden mit dem Färben, des
Teints wegen, nicht einverstanden sein?«

»Das ist mir gleich, wenn es die anderen tun, mache ich es auch.«

»Sehr liebenswürdig, wenn nur alle Damen so uneigennützig sind.«

Fürst Solt mischte sich ins Gespräch: »Da wüßte ich ein Mittel, das
großartig wirkt.« Er legte den Handrücken nachdenklich an die Stirn.
»Nun ist mir der Name entfallen. Ich habe seinerzeit in Indien gesehen,
wie sich die Eingeborenen bei ihren Festen damit färben.« Wieder hielt
er inne. »Daß ich aber auch den Namen vergessen habe! Es war die Frucht
einer Akazienart, glaube ich.«

»Es wird Bablah gewesen sein.«

»Ganz richtig, gewiß.« Fürst Solt neigte dankend den Kopf nach dem
Tischende. Er schien sich mit Freuden früherer Zeiten zu erinnern.
»Sehr richtig, ich meinte Bablah; aber woher kennen Sie den Namen, wenn
ich fragen darf?«

Gerhard Tiedemann gab kurz die Antwort: »Ich war einige Jahre im
Lande.«

»Das trifft sich herrlich.« Der sonst so schweigsame Fürst wurde
lebhaft. »Da müssen wir darüber sprechen, alte Erinnerungen
auffrischen; da bitte ich dann um eine Plauderviertelstunde.«

»Bitte.«

Er wendete sich lächelnd zu Klaus Tiedemann: »Nun bin ich Ihnen für
Ihre liebenswürdige Einladung noch mehr verbunden. Ich hätte mir nie
träumen lassen, bei Ihnen heute über Indien, das Land meiner Sehnsucht,
sprechen zu können.«

In Klaus Tiedemann regte sich abermals Vaterstolz; doch seine Umgebung
ließ ihn dessen nicht froh werden, etwas wie beleidigte Eitelkeit klang
in seiner Antwort: »Auch ich, Durchlaucht, kenne das Land, doch bin ich
nur auf kürzere Zeit hingekommen.«

»Köstlich.« Mit leisen Worten wendete sich Fürst Solt an Hilde: »Wer
ist der Herr, der mir vorhin zu Hilfe kam?«

Einen Augenblick zögerte sie mit der Antwort; sie schien auch von der
allgemeinen Scheu ihrer Familie, Gerhard zu ihnen rechnen zu müssen,
ergriffen; dann warf sie den Kopf unwillig zurück: »Es ist mein
Stiefbruder, Durchlaucht, meines Vaters Sohn aus erster Ehe«, sagte sie.

»Ihr Herr Vater war zweimal verheiratet? Das wußte ich nicht.«
Interessiert sah Solt auf Gerhard. »Es ist große Aehnlichkeit zwischen
ihm und seinem Vater, viel mehr, als Sie alle mit ihm haben.«

»Ich weiß.«

Klaus Tiedemann hatte mit scharfen Ohren das leise geführte Gespräch
vernommen; er senkte den Kopf. Es kränkte ihn, daß seine Kinder aus
zweiter Ehe ihm so wenig ähnlich waren; das Wesenheimsche Blut war
stärker gewesen als sein eigenes. Er preßte die Zähne aufeinander;
sie hatten ihm seine Art zerbrochen und ihn zu ihrem willfährigen
Diener gemacht, der Geld verdiente. Das vergaß er ihnen nicht! Er
zwang sich zu anderem Denken: Wozu holte er dies alles wieder aus der
Vergessenheit hervor, wo ihn seine Kinder doch liebten und an ihm
hingen in Treue? Nun war doch alles gut.

Leo strich an Hilde vorüber und flüsterte:

»Fred läßt dir sagen, du solltest endlich die Tafel aufheben.« Fred
Tiedemann taugte das Gespräch nicht; wenn Papa und dieser Plebejer, der
sich sein Bruder nennen durfte, zu sprechen anfingen, war es besser,
Schluß zu machen; sonst konnten unangenehme Enthüllungen vorkommen. Was
ging die Leute die Geschichte Tiedemanns an?

Hilde stand jäh auf.

»Mahlzeit!«

Olthoff wich nicht von ihrer Seite. Ungezwungene Gruppen bildeten sich,
Brunn-Bennigsen trat ans Klavier. Wieder legten die Gesichter sich in
ernste Falten.

Die ersten Töne erklangen.

In der Stille hallte Gerhards Stimme desto lauter, alle Blicke wendeten
sich zu ihm: er störte die Kunst, das war Sakrileg. Fred Tiedemann
knirschte mit den Zähnen, das hatte Papa davon! Brunn-Bennigsen tat
einen bösen Seitenblick.

»... Bombay ist stark zurückgegangen, durch Cholera und andauernde
Mißernten ...«

Elektrische Spannung lag in der Luft und mußte sich über Gerhard
entladen. Doch als Fürst Solt nun, von den Erinnerungen seiner Jugend
getrieben, ebenfalls laut antwortete, zerfloß alles in Wohlgefallen:
dem konnte niemand Taktlosigkeit vorwerfen!

»... Ich glaube, auch die Bevölkerung ist stark dezimiert.«

»Gewiß.«

»Wo hatten Sie eigentlich Ihren Sitz?«

»Auf Old Womans Island; im letzten Jahre gleich daneben, auf Kolaba.«

»Das ist die Halbinsel? Nicht? ...«

Das Fortissimo übertönte die Stimmen.

Reicher Beifall erklang, Fred überreichte ein Rosenbukett. Dann
geleitete er die Künstlerin zu ihrem Sitz:

»Ich war machtlos, die beiden Herren müssen sich rein vergessen haben.
Fürst Solt war dabei!«

Sie lächelte ihm zu: »Das hat nichts auf sich ...«

Nun durften die Herren rauchen.

Bei den Zigarrenkistchen, in denen die Spezialitäten mit den breiten
Bauchbinden lagen, traf man sich.

Lecart wählte mit Kennermiene; sein Blick kreuzte sich mit dem
Olthoffs. Sie verstanden sich.

»~C'est la guerre~«, lächelte Olthoff.

Roller, der Modemaler, nahm gleich von mehreren Sorten; er kam stets,
wenn wenig Leute bei den Rauchsachen waren, auf seine Kosten.

Auch Leo holte sich eine schwere Havanna ...

»Wollen wir nicht ein wenig plaudern?« fragte Hilde Tiedemann.

»Wenn ich Ihnen nicht zu langweilig bin? ...« Hilde ließ sich in einer
lauschigen Ecke nieder; T. A. Hansen saß ihr gegenüber und sperrte ihr
den Ausblick. »Es ist lange, daß wir uns das letztemal sprachen.«

Sie nickte: »Wie geht es Ihrer Mutter?«

»Gut, wie es eben einer alten Frau gehen kann, die mich zum Sohn hat.«

Hilde wurde verlegen:

»Sie machen sich noch immer gern schlecht.«

Er lächelte:

»Ich bin kein Heiliger; fragen Sie nur die da hinten,« er machte eine
geringschätzige Kopfbewegung nach der übrigen Gesellschaft, »wofür mich
die halten!« Hansens überlegene Ruhe, die er sonst stets zur Schau
trug, war einer bitteren Stimmung gewichen.

»Das kann Ihnen doch ganz gleich sein.«

»Ja und nein; auf die Dauer wird es einem ekelhaft. Es gehört
eine verflucht gute Laune dazu, stets als das ausgestoßene Schaf
herumzulaufen.«

»Das muß Ihnen gleichgültig sein.« Sie sah ihn mit forschenden Augen
an. »Sie sagten doch immer: ‚nie hat die Menge recht’.«

Sein Blick wurde wärmer. »Ja, Fräulein Hilde, und doch tut es mir von
mancher Seite weh, so behandelt zu werden; ich bin für viele nur der
Lump. Ich gelte bei so manchen nur als Spötter, als minderwertiger
Charakter, weil ich mein Vergnügen daran finde, den Leuten ihre
schlechte Seite vorzuhalten, und doch hat alles andere weniger Wert.«
Er senkte den Kopf im Weitersprechen. »Was heißt charakterisieren?
Die Züge des Betreffenden sammeln und dieselben wieder vereinigen,
zu einem Gesamtbild. Wenn man das tut, so ist's Karikatur, und als
solche minderwertig; wenn man's nicht tut, wird es ein Bild ohne
Fleisch und Blut, denn nur durch karikaturenhafte Züge unterscheiden
sich gegenseitig die Menschen; so seh' ich es eben und bleib' drinnen
stecken.« Er lächelte bitter. »Mit der Zeit werden Sie schon auch noch
anders von mir denken, und Sie haben recht, wenn Sie's tun.«

»Warum ich?«

»Weil ich nichts leiste, weil ich heute noch immer derselbe bin, als
der ich vor fünf Jahren in Ihr Haus kam: der Vielversprechende, der
nichts hält.«

»So dürfen Sie nicht sprechen, Hansen, nicht in meiner Gegenwart.« Er
sah auf und erschrak. In Hildes Augen standen Tränen. Gewaltsam drängte
sie diese zurück.

»Verzeihen Sie nur!«, sagte er und streckte ihr die Hand hin, in die
sie ihre eiskalten Finger legte. »Ich habe mich gehen lassen, weil ich
mich vorhin über Leo ärgerte.«

»Was war's?«

»Nichts! Eigentlich nicht der Rede wert: er war heute anders mit mir
als sonst. Geschraubt und hochmütig, als wäre es eine Auszeichnung,
wenn er überhaupt mit mir spricht.«

»Da kann Leo nichts dafür ...« Sie schwieg in heißer Verlegenheit.

»Ich weiß,« er suchte ihr die unangenehme Antwort abzunehmen, »ich
weiß, daß er nichts dafür kann, aber trotzdem: er war einer, der
an mich glaubte, wenn er auch noch ein Kind war; es tut immer weh,
Anhänger zu verlieren, wenn man wenige hat.« Er sah ihr fest in die
Augen. »Ueberhaupt, es ist so vieles bei Ihnen anders geworden.«

»Sie dürfen von Papa nicht schlecht denken.«

»Das tue ich nicht, Fräulein Hilde; sonst würde ich nicht darüber
sprechen; aber leid ist mir um ihn, daß er sich so beeinflussen
läßt und nicht sieht, wohin das führt. Warum zieht er solche Leute
ins Haus,« seine Stimme klang aufgeregt, »wie den Olthoff, dem die
Spekulation auf Sie ins Gesicht geschrieben steht, die Wolny, die
stadtbekannt ist wegen ihres Lebens, und noch viele andere?«

Sie war blutrot geworden: »Was sollen die Leute schaden, wenn nur wir
stark bleiben?«

Er sah sie mit forschenden Blicken an: »Wenn! Wir? Wer sagt, daß Sie's
bleiben? Ihre Schwester hat Lecart geheiratet, trotzdem ich jemanden
kenne, der heute noch für sie stirbt.« Sie lenkte ab.

»Sie verkehren noch mit Gröden?«

»Wir sind jeden Tag beisammen; er hat Karriere gemacht und hat es noch
immer nicht vergessen, daß er Klaus Tiedemanns Schwiegersohn nicht
werden konnte, weil er ein armer Architekt war.«

Hilde seufzte. »Daran war Mama schuld.«

Sie schwiegen.

Ihre Blicke hingen ineinander.

Dann sagte Hilde: »Was macht Ihre große Arbeit?« Er senkte den Kopf
und gab keine Antwort. Sie sprach weiter: »Sie haben mir versprochen,
damals, als wir das erstemal uns näher traten: Sie wollten ein Werk
schaffen, das zeigen sollte, daß Sie mehr könnten als die anderen.«
In herber Enttäuschung schüttelte sie den Kopf. »Ich habe so darauf
gewartet, von Tag zu Tag, und nun? ...« Ihre Stimme verhallte.

T. A. Hansen saß regungslos; dann sah er auf. In seinen grauen Augen
glimmte ein Funke. »Ich hab' nicht gewußt, daß _Sie_ darauf warten.«
Seine Stimme gewann an Festigkeit. »Sie dürfen nicht schlecht von mir
denken, Hilde, nur das nicht. Ich kann eben kein Beamter der Kunst
sein. Es wird so viel geschaffen, um das sich niemand kümmert, daß
es einem um sein Werk leid sein kann. Die Handwerker in meinem Fach
sind im Vorteil. Sie malen Porträts von reichen Leuten und leiten
davon ihr Selbstvertrauen her; sie werden dadurch »bekannt«. Ich habe
durchgekämpfte Stunden künstlerischen Zweifels, die anderen haben Geld
und Konnexionen. Was gilt in den Augen der Welt mehr?«

»In meinen Augen -- das Ihre.«

Er atmete aus voller Brust und bohrte den Blick in ihr erregtes
Gesicht, als müsse er sich dort Mut holen.

Dann sagte er: »So will ich's wagen -- aber Sie dürfen mir nichts
verschweigen, Hilde, ja, nichts? Sonst ist's Verrat an mir selbst.«

»Ich habe nichts zu verschweigen. Ich habe nur den Willen, daß Sie mit
Ihren reichen Mitteln den anderen zeigen, was Sie können, dann bin ich
belohnt.«

Seine Hand umspannte krampfhaft die ihre; mit fester Stimme sagte er:
»Sie sollen nicht getäuscht werden, aber ich muß voll an Sie glauben
und muß von Ihnen das Recht haben, zu jeder Stunde meiner Arbeit an Sie
denken zu dürfen. Darf ich das, Hilde?«

Sie nickte mit feuchtem Blick: »Ja, Hansen, das dürfen Sie, und ich
will's auch tun.«

»Nun hab' ich Riesenkraft ...«

Er sah sich um: mit unsicherem Schritt kam Roller auf sie zu; er trug
auf einer Tablette mehrere gefüllte Kognakgläser.

»Gefällig?«

»Danke.«

»Ich danke«, sagte auch Hilde.

»Bleibt mir mehr!«

Er goß hintereinander den Inhalt mehrerer Gläser hinunter, mit stieren
Augen klopfte er wohlwollend Hansen auf die Schulter; er fühlte sich
dem Karikaturenzeichner weit überlegen: »Junger Mann, Sie haben kein
Ideal, suchen Sie sich eines, ein Künstler muß ein Ideal haben ...«

»... Und wenig saufen«, es war Hansens unverschämtester Blick, der
dem verblüfften Modemaler ins Gesicht lächelte, »sonst wird die Hand
unsicher ...«

»... Na Kinders, wie geht's,« Heinz Behrens klopfte sein Töchterchen
derb auf die Wange, »macht der junge Herr seine Sache gut?«

Leo Tiedemann war wütend: daß nette Mädchen stets solche Väter haben
mußten! Er hustete und sah mißvergnügt gegen das Klavier, wo Lecart
eben Frau Brunn-Bennigsen auf den vollen Arm küßte. Klaus Tiedemann saß
müde in einer Ecke und lächelte verbindlich, wenn er angesprochen wurde.

Er war schläfrig und sehnte sich nach Ruhe.

Jan Wolny strich an der Nische vorüber, in der sich seine Mutter mit
Fred Tiedemann unterhielt:

Er kannte das hungrige Lachen, er hatte es schon einmal gehört, kurz
bevor sein Vater in den Tod gegangen war.


Die nächsten Tage eilten vorüber. Fred Tiedemann hatte eine Unmasse zu
tun. Wenn die Wohltätigkeitsveranstaltung gelingen sollte, benötigte
sie viel Arbeit. Drei Herren im Bureau hatten die beiden letzten
Wochen nur für sie zu arbeiten, zum unaussprechlichen Aerger des alten
Görnemann. Gerhard zuckte die Achseln und dachte der Worte, die Fürst
Solt zu ihm gesprochen hatte:

»Ich glaube, unseren meisten reichen Kaufherrensöhnen fehlt
die Erfahrung harter Arbeit. Darum sind sie nur Nutznießer des
väterlichen Erbes. Sie gehen in unseren Kreisen auf. Statt in die Welt
hinauszuziehen und sich dort ihre eigene Erfahrung zu sammeln ...«

Klaus Tiedemann war schwer verstimmt. Er saß Stunden allein zu Hause
und grübelte vor sich hin.

Er hatte Angst um Leo.

Fast täglich kam der Arzt.

Hilde war nach der Gesellschaft, die bis in den frühen Morgen gedauert
hatte, hinübergegangen in das Zimmer ihres jüngeren Bruders um ihm, wie
es ihre Art war, neue Wäsche für Sonntag herzurichten.

Sie hatte ihn wie leblos auf dem Boden liegend gefunden.

Wohl war er bald wieder zu sich gekommen und hatte sie gebeten, Papa
und den anderen nichts zu sagen. Doch Hilde hatte nicht nachgegeben und
darauf bestanden, daß der Arzt zu Rate gezogen würde.

Der schüttelte den Kopf und sagte zu Klaus Tiedemann, welcher mit
ängstlichem Gesicht neben ihm stand: »Der Bursche ist rasch gewachsen
und frühreif. Von Geburt aus ist er auch nicht der Stärkste, also ist
Vorsicht am Platze. Vor allem halten Sie ihn zu Hause, und sehen Sie
darauf, daß er genug Ruhe hat. Ich glaube, er hat schon zu viel an die
Weiber gedacht.«

Klaus Tiedemann tat einen Blick auf die Straße, auf der gerade Gerhard
in strotzender Gesundheit daherkam, und ging mit einem leichten Gefühl
des Hasses zu Leo hinüber, um ihm seine Entschlüsse mitzuteilen.

Erstens: blieb von jetzt ab die Schlafzimmertür zu ihm offen, damit er
alles hörte, was neben ihm vorging; darauf hatte ihn Hilde gebracht!
Zweitens durfte Leo heuer nicht mehr abends ausgehen, weder in ein
Theater noch in ein Konzert; natürlich war auch das Fest nächsten
Sonnabend mit inbegriffen! Drittens: bat er ihn mit innigen Worten,
verläßlich zu sein und sich zu schonen, auch nichts hinter seinem
Rücken anzufangen, was seiner Gesundheit schaden könnte; dann gab er
ihm einen Kuß und ging, um für ihn in der Stadt eine Ueberraschung zu
kaufen.

Hilde war nicht so schnell beruhigt, weil sie Leos Art besser kannte
und seinen wilden Trotz, der gerade das unternahm, was ihm am meisten
widerraten wurde. Vor allem suchte sie zu erfahren, ob Leo schon öfter
solche Schwächeanfälle gehabt hatte.

Erst hatte er lebhaft widersprochen; doch als er sah, daß diesmal sein
Vater fest blieb und das Fest unwiderruflich für ihn verloren sei, gab
er zu, bereits seit Monaten ähnliche Anfälle gehabt zu haben. Er hatte
es verschwiegen, um sich seiner Freiheit nicht selbst zu berauben,
und anderseits hatte er geglaubt, es würde von selbst vorübergehen.
Sein Vater saß Stunden bei ihm, während er im Halbschlummer seiner
Nervenschwäche vor sich hin stierte. Dieses Beisammensein erfuhr
häßliche Unterbrechung, als das Schulzeugnis kam; es war mehr als
schlecht und stellte überhaupt in Frage, ob Leo zur Schulprüfung
zugelassen würde. In der kurzen Zeit bis zum Schulschluß ließ sich
nicht mehr alles einholen, und jetzt, wo Leo wirklich der Ruhe
bedurfte, war überhaupt nicht daran zu denken. Ein Jahr war lang und
Klaus Tiedemann war schwer in seinem Sohne getroffen. Auch Fred war
nicht glatt durch die Klippen des Mittelschulstudiums gekommen, aber
Leo verlor nun schon das zweite Jahr. Was sollte man den Leuten sagen
als Entschuldigung?

Die Professoren! Leo griff nach diesem Rettungsanker. Er wußte, daß
Vater auf die Schulmeister, wie er sie nannte, nicht gut zu sprechen
war; so erzählte er denn von Scheußlichkeiten und Verbrechen, die sie
an der Jugend begangen haben sollten. Sogar erschossen hatte sich
einer seiner Mitschüler.

Mit starren Augen hörte sein Vater zu, der seinerzeit nur die
allernotwendigste Schulbildung genossen hatte; alles andere hatte er
sich selbst im Leben angeeignet. So trug er begreifliche Mißachtung
gegen zünftiges Lehrertum. Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf und gab
seinem Sohne recht. Mein Gott, ein Jahr, was war das; wenn ihm der
Bursche nur wieder gesund wurde!

Er griff, um sein Kind zu beruhigen, zu dem gefährlichsten Mittel, das
er für sich selbst nie und nimmer angewendet hätte: er stellte ihm vor,
daß er reich sei, einmal soundso viel Vermögen bekäme, also wirklich
keinen Grund hätte, sich zu kränken und zu härmen.


Es war wenige Stunden vor Beginn des Festes. Fred Tiedemann stand in
seinem Zimmer und ordnete seine Maskerade. Leo saß rittlings auf einem
Sessel und sah mißmutig auf einen Haufen in die Mitte des Zimmers
geworfener Kleider. »Zu blöde,« er schüttelte den Kopf, »daß ich nicht
mit kann!« Als Fred, der vor dem Spiegel in die Betrachtung seines
Selbst versunken war, keine Antwort gab, stieß er ihn unsanft an: »Du,
hörst du?«

Aergerlich fuhr Fred, Kamm und Bürste in Händen, herum: »Jetzt schau'
meinen Scheitel an; nun kann ich nochmals anfangen.«

»Du hast doch Zeit.«

»Wieso denn?« Fred sah rasch nach der Uhr. »Ich muß auch noch Papa und
Hilde antreiben, daß sie fertig werden ...«

»Glaubst du, daß sie Olthoff mag?«

»Einstweilen ist's noch zum Aushalten, aber er wird sie schon kirre
machen. Er versteht, mit Weibern umzugehen.«

Nachdenklich sah Leo zur halbdunklen Zimmerecke: »Ob sie nicht zu fest
an Hansen hängt?«

»Der wäre der Richtige!« Fred Tiedemann lachte. »Damit wir noch so
einen in die Familie bekommen wie den Gerhard! Na,« er zog die Krawatte
zu, »das Geld würde dem schon passen, das haben ‚Künstler’ gern.« Er
lachte geringschätzig.

Lebhaft widersprach Leo: »Nein, Fred, wenn ich alles von Hansen glaube,
darauf gibt er nichts.«

»Na, nichts Gewisses weiß man nicht.« Fred strich den Schnurrbart. »Ich
habe gegen solche biederen Gestalten Mißtrauen ...«

Leo schüttelte den Kopf und schwieg. -- Nach einer Weile sagte er: »Du,
Fred, beinahe hätte ich es vergessen: Gerhard war vor einer Stunde
hier, um mit Papa zu sprechen.«

»So? Worüber? Was hat Papa gesagt?« Der andere hielt in seiner Toilette
inne und wartete gespannt auf Antwort.

»Er hätte jetzt keine Zeit, er sollte morgen vormittag kommen.«

»Aha,« Fred pfiff das Signal: »das Ganze halt!« vor sich hin, er
mußte es ja kennen als Reserveoffizier der Husaren, dann meinte er
nachdenklich: »Hoffentlich schmeißt ihn Papa jetzt endlich 'raus.«

»Was hat es denn gegeben?«

»Frech war er wieder: er redet überall hinein, wo es ihn nichts angeht!
Lecart nimmt unsere Firma jetzt stark in Anspruch, weil er in größere
Unternehmungen verwickelt ist, und das paßt dem Kerl nicht. Immer ist
er derjenige, der warnt und lieber fremden Leuten als unseren eigenen
Verwandten borgen möchte. Und es geht ihn doch wirklich nichts an!« Er
hielt inne und polierte die Nägel. »Aber ich weiß schon, hinter ihm
steckt der Görnemann, das alte Weib, das sich nichts zu unternehmen
getraut; der hetzt ihn und schickt ihn ins Vordertreffen.«

»Warum läßt du dir's gefallen?«

»Du hast leicht reden. Ich muß doch jemanden haben, auf den ich mich
verlassen kann: ich werde mich doch nicht selbst jeden Tag ins Geschäft
setzen, dazu bin ich mir zu gut, und verlassen kann man sich auf die
zwei, das ist ja wahr!« Fred ließ die Nagelschere auf die Marmorplatte
des Waschtisches fallen. »Ueberdies, ich kenne auch niemanden von den
Angestellten, ich bin dazu zu wenig im Bureau, so daß ich den Alten
zumindest noch ein Jahr brauche.«

»Wenn er es nicht merkt?«

»Das ist's eben. Auch der andere spürt, daß er der einzige mit
überseeischen Erfahrungen ist: denn Görnemann kann man heute darin
nicht mehr rechnen. Darum nimmt er sich so viel heraus.«

»Ist er wirklich so unverschämt?« Leo dehnte sich und gähnte. »Was habt
ihr denn mitsammen gehabt?«

Freds Stimme klang in der Erinnerung des vormittägigen Auftritts lauter
als sonst: »Er will mir vorschreiben, wem ich Pensionen zahlen soll.
Da ist so ein Skontist bei uns, seit zirka zehn Jahren; der ist jetzt
tuberkulös und soll nach dem Süden. Ja, mein Gott, wenn ich's nicht
habe, dann kann ich's halt nicht machen! Ich habe ihm einen Monat
Urlaub geben wollen. Natürlich, wenn er nicht arbeitet, bekommt er auch
kein Gehalt, das ist doch klar -- das ist überall so; dann könnte er
nicht gehen, hat er gesagt, also soll er dableiben. Kommt der Gerhard
herein und stellt mich wie ein kleines Kind zur Rede, ob ich wüßte,
was ich tue; zählt mir auf, daß der andere Weib und Kind hat, daß er
in kurzem tot ist, wenn er sich jetzt nicht schonen kann, redet von
Zusammengehörigkeitsgefühl, das Chef und Personal verbinden muß, und so
weiter,« Fred ließ die Hand schwer auf den Tisch fallen, »kurz, putzt
mich zusammen, als ob ich sein letzter Kommis wäre.«

»Nun, und du? ...«

»Na, ich hab's ihm gegeben,« Fred schüttelte mit befriedigter Miene
den Kopf, »so schnell kommt mir der nimmer.« Wieder übermannte ihn
der Aerger der letzten Stunden. »Weißt du, was er noch gesagt hat?
Ich würfe das Geld im großen hinaus und wolle im kleinen sparen, ich
hätte keine Ahnung von modernem Geschäftsgeist; es sei besser, einem
Skontisten, der sich für mich geplagt habe, etwas zu schenken, als das
Geld für Wohltätigkeitsschwindel auszugeben, von dem so niemand was
habe.«

»Das mußt du Papa erzählen.«

»Wird geschehen: es soll ihm nichts erspart werden ...«

Fred Tiedemann machte eine rasche Wendung. »Na, wie bin ich?« Er
pflanzte sich breit vor seinem Bruder auf, als Marsritter, der zu Frau
Luna werben kam. Baronin Wolny war die Luna!

Leo verschlang ihn mit neidischen Blicken: »Famos, warte,« er richtete
ihm eine silberne Schnalle zurecht, »nun bist du fertig.«

»Ist es dir leid, daß du nicht mit kannst?«

»Zu dumm.« Ernster Aerger war in dem bleichen Gesicht des Gefragten.
»Was hätte es mir schaden sollen? Papa ist kindisch, aber ich weiß
schon,« Leo ballte die Fäuste, »daran ist die Hilde schuld!«

»Es wird heute fesch werden; ich bin sehr gespannt auf die Wolny.«

Leo atmete schwer; er bekam rote Wangen: »Sie ist rassig.«

»Was weißt denn du von ihr? Das kann ein anderer als ich gar nicht
beurteilen.«

»Du hast ein Mohrenglück.«

»Stimmt, morgen nach dem Rennen bin ich zu ihr geladen, da soll ich mir
ihre Directoire-Toilette ansehen; sie möchte sich darin photographieren
lassen, aber ihr Sohn erlaubt es nicht, weil sie zu stark dekolletiert
sein soll.«

Leo Tiedemann schluckte: »Das ist ein fader Kerl, der Jan.«

»Uns geniert er nicht viel.« Fred lachte; »er hockt den ganzen Tag über
den Büchern.«

»Ich mag ihn nicht.«

»Warum? Er ist ganz unschädlich.«

»Und was tust du, wenn er dich mit seiner Mutter überrascht? Er ist zu
allem fähig.«

Fred Tiedemann reckte sich: »Dann schieß' ich den Burschen wie einen
Hasen zusammen.« Leo atmete schwer; ein Schauer überlief ihn.

»Als ich das letztemal dort war, um für heute abend abzusagen, hat er
mich von oben herab behandelt, als wäre ich ein kleines Kind«, sagte er.

»Das sieht ihm ähnlich.«

»Ich hätte wahrscheinlich immer still sein und mit Hochachtung auf sein
Geschwätz hören sollen, weil er um ein paar Jahre älter und nicht mehr
im Gymnasium ist wie ich; da kann er lange warten.«

»Hast recht, er wird schon anders denken lernen.«

»Er ist mehr als stolz.«

»Worauf denn? Die Wolnys sind materiell nicht so gestellt, daß er ein
Recht hätte, auf dich herunterzuschauen. Er soll froh sein, wenn die
Tiedemanns mit ihm verkehren. Das laß ihn das nächstemal fühlen; dann
wird er dich anders behandeln.«

»Da irrst du dich, Fred. Er sieht uns als nicht ebenbürtig an. Weißt
du, was er zu mir sagte? Er verstünde uns nicht, vor allem dich und
mich, daß wir nicht einsähen, daß wir als Söhne unseres Papas ernste
Pflichten der Gesamtheit gegenüber hätten. Wir sollten die Kunst,
geistige und menschliche Interessen fördern, und nicht in Schichten
eindringen wollen, die uns fremd sind. Einen Rennstall halten, er
meinte dich damit, sei keine soziale Tat: höchstens trage es dazu
bei, sein Geld zu verlieren, mit dem man anders den Armen viel Gutes
erweisen könnte. Aber er wüßte schon, warum wir es täten. Es sei die
Angst des Proletariers, voll genommen zu werden, darum sei uns kein
Opfer zu groß, um zeigen zu können, daß wir dieselben Passionen hätten
wie sie ...«

»Hör' auf«, Fred Tiedemann stampfte den Boden, »ich habe keine Lust,
das dumme Geschwätz von dem unreifen Laffen, der uns um unser Geld
neidisch ist, anzuhören.« In großer Wut warf er die halbgerauchte
Zigarette in die Zimmerecke. »Er ist viel zu dumm, um das Leben
richtig zu verstehen.« Leo sah mit weit aufgerissenen Augen auf seinen
ärgerlichen Bruder und schüttelte nachdenklich den Kopf:

»Es hat doch etwas für sich.«

Fred Tiedemann fuhr schnell herum: »Du bist wohl verrückt? Auf dich
macht alles, was du noch nicht gehört hast, einen Eindruck.«

»O nein, aber weißt du, das, was er über den Kaufmannsstand im
allgemeinen sagte, ist nicht so dumm. Er meinte, er stellte sich
deinen Beruf so schön und edel vor; in seinen Augen gäbe es nichts
Größeres, als internationaler Mittler zu sein zwischen Konsumenten und
Produzenten.« Leo legte in Sinnen verloren den rechten Zeigefinger an
die Unterlippe. Nach einer Weile, die Fred mit Räuspern und Husten
gefüllt hatte, fuhr er leise fort:

»Es muß schon schön sein, das Ererbte zu mehren und sich seiner Mission
bewußt zu sein, die man in der modernen Kultur zu erfüllen hat. Das
habe ich mir oft selber gedacht.«

Fred Tiedemann lachte:

»Du bist ein überspannter Kerl. Ich möchte dir wünschen, dich mit
Gerhard herumstreiten zu müssen und auf die Börsenberichte wie auf
eine Offenbarung Gottes zu warten, du würdest bald anders von der
‚Kulturmission’ denken, wie du es nennst.«

»Wirklich?« Es schien eine Last von Leo zu fallen. »Glaubst du, ich
hab' unrecht?«

»Darüber gibt es doch nichts zu reden.«

Aus Fred Tiedemanns Worten klang starkes Selbstbewußtsein.

»Dann ist der Jan ein dummer Kerl?«

»Da zweifelst du noch?«

Nun lachten beide.

»Was willst du denn den ganzen Abend allein machen?«

Leo sah den Fragenden prüfend an: »Verrätst du mich nicht?«

»Bin ich Hilde?«

»Ich will auch weg.«

Fred Tiedemann lachte von Herzen: »Das habe ich mir gedacht, du wärst
sonst nicht mein Bruder.«

»Ja,« Leo dämpfte seine Stimme und sah scheu gegen die Tür, »ich will
auch was vom Leben haben: weiße Frauenleiber, die ein Bacchanal feiern,
aber Papa darf nichts wissen; er ist so gut mit mir!«

»Ich verrate dich nicht, schau nur, daß du zu Hause bist, wenn wir
heimkommen.«

»Wann glaubst du denn, daß das sein wird?«

»Sehr spät, wahrscheinlich erst in der Frühe.«

»Da lieg' ich schon im Bett.« Leo fuhr mit der schmalen Hand über die
weiße Stirn. »Vielleicht wird mein Kopfweh besser, wenn ich mich ein
wenig zerstreue.« Er stand matt auf und ging zur Tür. »Jetzt müssen wir
aber hinuntersehen zu den anderen.«

»Jawohl,« antwortete Fred Tiedemann und folgte mit Sporenklirren seinem
Bruder.


»Immer nur hereinspaziert, meine Herrschaften, in die gute Stube.«
T. A. Hansen ließ die Schellen klingen, seine Stimme war von Stunde zu
Stunde lustiger geworden. »Wer zahlt, wird gemalt, wer nicht zahlt,
wird angemalt.«

Lachende Menschen wogten vorüber und riefen zu ihm in der
Schalksnarrentracht Scherzworte hinauf. Jeder kannte ihn und
seine Zeichnungen, die allwöchentlich beim Erscheinen Lach- und
Aergernisausbrüche nach sich zogen. Lohgeruch war in der Luft und ließ
das Licht, das sich in tausendfältigen Strahlen brach, trübrötlich
erscheinen.

Beim Riesenportal fuhren noch immer Wagen vor: Gäste, die erst in
Gesellschaft gewesen und nun kamen, trotzdem es draußen bereits zu
dämmern begann.

Jan Wolny, der sich unfreiwillig komisch mit seinen ernsten Bewegungen
im Phantasiekostüm eines »Milchstraßenkehrers« ausnahm, ließ sich müde
auf einen Sessel vor Hansens Bude fallen: »Jetzt hätt' ich den Unsinn
bald genug.«

Hansen sah prüfend über die kauflustige Menge, die sich noch immer
zwischen dem Musikpavillon und den Verkaufsständen drängte und schob.
Er schüttelte den Kopf. »Bevor die nicht alles gesehen und betastet
haben, ist an ein Ende nicht zu denken.« Er zuckte die Achseln. »Ein
Händedruck von einer Dame der Gesellschaft um teueres Geld kommt den
Leuten als überirdisch vor, das müssen Sie bedenken Herr Baron.«

Jan Wolny seufzte. »Mir ist das alles ekelhaft.«

Hansen sah den Sprechenden scharf an:

»Wirklich? Dann müssen Sie mir die Hand geben ...« Hansen fuhr herum;
seine Schulter war berührt worden. Es war Hilde Tiedemann.

»Wie geht es?« Aufrichtige Freude über die paar Minuten, die sie nun
beisammen sein konnten, sprach aus ihrem schönen Gesicht. »Was macht
Ihre Arbeit?«

Hansen drückte die kleine Hand, welche in sein Leben eingegriffen
hatte: »Es geht vorwärts!«

Ihre leuchtenden Blicke trafen sich ...

Jan Wolny hatte sich diskret entfernt und war die Avenue
hinuntergebummelt, an seiner Mutter vorüber, die hier mit Fred
Tiedemann die Honneurs machte. Seitwärts stand das Mondschifflein,
auf dem Frau Luna am Festzug teilgenommen hatte. Fred Tiedemann war
der Anführer der reisigen Schar gewesen, die sie beschützte. Mit
forschendem Blicke hinter den gesenkten Wimpern beobachtete Jan seine
Mutter und den anderen, der so selbstverständlich tat. Er preßte die
Zähne aufeinander und ging weiter. Wenige Schritte später traf er Fürst
Solt. Der war im Frack, mit einem Riesenorden, welcher die ganze Brust
bedeckte, als Monddiplomat. Sie grüßten sich und sprachen ein paar
verbindliche Worte.

Klaus Tiedemann sah Clo zu, wie sie die wenigen noch durstigen Herren
bediente; in den Zwischenräumen, wenn der Champagnerpavillon leer war,
plauderten sie. Jetzt, als sie Jan Wolny anrief, schloß er die vom
Staube entzündeten Augen, die ihn schmerzten, und lehnte sich bequem
in den Rohrsessel zurück: All die entblößten Frauenschultern, die
runden Arme und zierlichen Füßchen in durchbrochenen Strümpfen und
verschwiegenem Spitzengeräusch waren eingetreten für die Armut des
Nächsten. Gab es größere Aufopferung? Brunn-Bennigsens Mann saß zu
Hause bei den drei Kindern; den Tag über plagte er sich im Bureau. Er
war klein und häßlich; sie gingen nie gemeinsam in Gesellschaft. Klaus
Tiedemann hatte ähnliches ertragen. In ohnmächtigem Aerger hatten oft
seine Zähne aufeinandergeknirscht, wenn sein jähes Temperament Liebe
verlangte. Nicht umsonst trugen die Kinder sein heißes Blut in ihren
Adern. Es waren lange Kämpfe gewesen, bis er mit sich ins reine kam und
durch _Arbeit_ zur Ruhe zu kommen suchte. Davon war der Haß geblieben
gegen das Weib. Die Jahre ebbten alles, und die Männlichkeit schwand.
Er seufzte und hatte Sehnsucht nach Ruhe.

Leo hatte vielleicht das beste Los unfreiwillig gezogen, der hatte
jetzt schon bald ausgeschlafen.

Klaus Tiedemann dachte an ihn. Er lachte in Gedanken: wie warm die
kleine Behrens sich um ihn erkundigt hatte, und _die_ Enttäuschung,
als sie hörte, daß er überhaupt nicht kam! In dem alten Manne war ein
eigentümliches Gefühl gewesen, als er so sein jüngstes Kind auch schon
vollwertig eingetreten fand in die Arena der menschlichen Instinkte. Es
freute als Vater und kränkte als Mann.

Als Hilde Tiedemann von Hansens Bude zu ihrer Schwester herübereilen
wollte, stand plötzlich Olthoff vor ihr.

Er schien auf sie gewartet zu haben.

Sie gingen zusammen der Fontäne zu, die in tausend Farben schillerte,
-- es war mit der Zeit leer um sie geworden.

In Hildes Seele war noch der Widerschein des anderen.

Ihre Stimme klang freier als sonst, und ihre Augen sahen lebhafter.

Das dünkte Olthoff ein gutes Zeichen.

Leise zog er ihren Arm fester an sich.

Sie widerstrebte; er sah sie an:

»Jetzt sagen sie, Fräulein Hilde, ist das Leben nicht schön?«

»O ja,« lächelte sie.

»Vor wenigen Wochen haben wir uns noch gar nicht gekannt -- und nun
...«, er beugte sich herab und sah ihr tief in die Augen.

Sie suchte den Arm zu lösen:

»Mir ist schwül, ich möchte hinaus ins Freie,« stammelte sie und
blickte sich suchend um. Doch sie sah nur Lecart, der mit einer
Bretteldiva plänkelte. Er fragte eben, wie teuer ein Kuß sei zu so
vorgerückter Stunde, und aus Barmherzigkeit für die Armen, so konnte er
Hildes Blicke nicht sehen!

Die laue Nachtluft strich herein und kühlte ihre heißen Schläfen.

Olthoff preßte die Lippen zusammen.

Sein ganzes Leben war ein Kampf gewesen, um sich über Wasser zu halten.
Er hatte stets nur verschämte Armut und diesen verwischenden Hochmut
sein eigen genannt.

Nun winkte ihm Rettung, er fand die Gedanken seiner Erziehung: In
diesem Bürgerhause war alles, was er ersehnte -- Geld.

Alles andere würde sich schon finden.

An Liebe glaubte er nicht; er hatte sie selbst von klein auf vergebens
gesucht. Hilde wich seinen Blicken aus. Leise sagte er:

»Hilde!« Sie gab keine Antwort. Die ganze Verzweiflung seiner Lage
und der Aerger über die lächerliche Komödie, die er hier zu spielen
gezwungen war, überkamen ihn. »Sagen Sie, Fräulein Hilde, merken Sie
nicht meine ehrliche Sympathie?«

Sie schüttelte den Kopf und fand keine Antwort, nur ihr Arm schmerzte,
den Olthoff nicht freigab.

»Nun?« Mit funkelnden Augen sah er sie an. Den ganzen Abend hatte er
auf diesen Augenblick gewartet, er mußte bald zum Ende kommen, sonst
hieß es den bunten Rock ausziehen, der ekligen Gläubiger wegen. Er war
nicht der Mann, der mit sich spaßen ließ; die anderen Tiedemanns wußte
er hinter sich. Sein Name wog viel auf. Dies schwache Geschöpf sollte
seine Pläne nicht mutwillig kreuzen.

»Antworten Sie mir doch!« seine Stimme, wider Willen, klang roh, sein
verlebtes Gesicht bekam einen brutalen Ausdruck. »Können Sie mich denn
nicht ein wenig gern haben?« Der Inhalt der Worte stach hart ab von dem
drohenden Ton, in dem er zu ihr sprach.

Hilde warf den Kopf zurück; sie war bleich bis in die Lippen geworden:
»Nun haben Sie ihre Art gezeigt«, sagte sie stolz.

»Verzeihung, ich bin überreizt, und Sie taten mir bitter unrecht.«
Seine Stimme klang hastig, als wollte er kein Mittel unversucht lassen.

Sie gab nimmer Antwort.

»Fräulein Hilde!« Wut und Verzweiflung klangen zusammen. Sie wandte
sich ab, Jan Wolny zu: »Bitte, führen Sie mich zu meiner Schwester,
Herr Baron!« Jan Wolny verneigte sich und bot ihr wortlos den Arm.

Olthoff blieb stehen.

Nun war die Schlacht verloren.

Er knirschte mit den Zähnen.

Er hatte zu rasch geschlagen; doch seine Reserven waren erschöpft
gewesen, und Wein und Stimmung hatten den Rest verdorben.

Er sah zu Behrens hinüber, die sich zum Aufbruch rüsteten. Vielleicht
dort?! ...

Fahles Morgenlicht fiel durch offene Türen.

Sie waren eben vom Feste nach Hause gekommen.

Als Klaus Tiedemann, vor Leos Tür, keine Antwort bekam, überfiel ihn
plötzlich harte Angst -- er wußte nicht warum. Er riß die Tür auf und
blieb starr stehen:

Leos Bett war unberührt, das Zimmer leer. Leo hatte sein Vertrauen
mißbraucht, war heimlich weg, trotzdem er wußte, wie schlecht es
ihm bekommen konnte. Vielleicht war ihm etwas zugestoßen? Die Füße
versagten dem alten Manne den Dienst. Er ließ sich auf den Sessel neben
der Tür fallen.

So saß er eine Weile und wartete, daß seine Gedanken ruhigere Formen
annahmen.

Er hörte Hildes Stimme nicht, die aus dem Gang zweimal seinen Namen
rief, er sah ihr Erschrecken beim Eintritt und ließ den Kopf auf die
Brust sinken. Wo war sein Kind?

Mit zitternder Hand drängte ihn Hilde zur Tür: »Er wird schon
ausgegangen sein, Papa.«

Hoffnungslos sah er sie an und schüttelte den Kopf: »Er hat ja gar
nicht geschlafen.«

Sie gab keine Antwort, und dunkle Vorahnung ließ sie schaudern.

Fred saß im Speisezimmer und aß kaltes Fleisch. »Wo steckt ihr denn so
lange?« rief er ihnen zu. »Eßt mit, und dann legen wir uns schlafen.«

»Leo ist nicht zu Hause!«

»So?« Er kaute den Bissen zu Ende. »Er wird nachts ausgewesen sein; er
wird gleich kommen.«

Mit scheuem Blick, der sich noch nicht zu hoffen getraute, sah ihn sein
Vater an:

»Meinst du?«

»Natürlich, was soll denn sonst sein?«

»Wenn ihm nur nichts zugestoßen ist?«

»Laß dich nicht auslachen!«

Fred wollte dem Mädchen läuten; doch der alte Mann legte abwehrend die
Hand auf den elektrischen Taster:

»Nicht,« bat er, »ich kann jetzt niemanden sehen.«

Hilde zündete die Flamme unter dem Teekessel an.

Sie warteten.

Die Sonne stieg höher. In den Parkanlagen vor dem Hause stimmten Amseln
ihre Stimmen.

Leute im Sonntagsstaat gingen vorüber.

Glockengeläute schwamm über die vielen Dächer; sie läuteten die
Wandlung ein.

»Ich werde zur Polizei fahren, meint ihr nicht?« Klaus Tiedemann war
halb aufgestanden und sah forschend auf Fred.

»Aber laß dich nicht auslachen, Papa, daß es die Leute gleich an die
große Glocke hängen: Dem Klaus Tiedemann sein Jüngster ist heute nacht
nicht nach Hause gekommen. Warte nur ruhig; er wird schon kommen, und
dann schimpf' ihn zusammen!« Er gähnte. »Ich leg' mich jetzt schlafen.«

Die beiden anderen blieben.

In dem festlichen Aufzug, die verwelkten Blumen vor der Brust,
fröstelte sie.

Jeder Laut, der von der Straße heraufklang, tat ihnen weh.

So verging die Zeit.

Es läutete.

Sie fuhren zusammen und horchten.

In scheuer Erwartung sahen sie sich nicht an.

Es war Gerhard Tiedemann, der kam, von seinem Vater den Abschied zu
verlangen.

Die beiden Männer standen sich gegenüber, wortlos und stumm.

Dann brach der Jüngere das Schweigen:

»Du weißt, Vater, warum ich hier bin?« Klaus Tiedemann nickte. »Es geht
nicht länger zusammen mit Fred. Du hast ihm die Macht gegeben. Was soll
ich? Du hast andere Kinder, die du liebst. Ich bin dir nur Pflicht. Du
schämst dich meiner. Darum laß mich gehen; man kann brieflich leichter
Vater und Sohn sein als im Leben nebeneinander.«

Klaus Tiedemann hörte mit halben Ohren.

Gestern hätte er noch die Antwort gewußt, jetzt schwieg er.

»... Fred ist kein Kaufmann und schämt sich seines Berufes. Er tut
mehr für seine teuren Verwandten als für die Firma; er stärkt das
ökonomisch, was er bekämpfen sollte ...«

Gerhard schwieg und sah auf seinen Vater, der totenblaß geworden war:

Drunten fuhr ein Wagen vor. Er stürzte zum Fenster. »Sie bringen ihn«,
keuchte er. Er wankte zur Tür.

Gerhard warf den Kopf zurück; er sah durchs Fenster:

Von einer Schar Neugieriger umgeben, stand unten ein Rettungswagen.

Sie hatten Leo auf sein Zimmer gebracht. Er war bei Bewußtsein.

Klaus Tiedemann reichte dem Ambulanzarzt, der von der Hilfsstation
mitgekommen war, die Hand.

»Ich danke Ihnen!« Scheu senkte er den Blick, unsicher mit sich selbst,
ob er nicht unrecht gehandelt, daß er ihm nichts anderes als seinen
Dank geboten. Er war ja gewöhnt, jeden Schritt, der für ihn geschah, zu
bezahlen!

»Die Sache wird vorübergehen. Wie viele haben nicht schon in der
Jugend einen Blutsturz gehabt und sind heute die stärksten Leute?«
Der Arzt, der erst vor wenigen Monaten absolviert hatte und als armer
Bauernsohn froh war, sich beim Rettungskorps seine Praxis holen zu
dürfen, nickte ihm freundlich zu. »Dem Hausarzt, bitte, sagen Sie
meine Beobachtungen.« Er verbeugte sich linkisch, der reichen Umgebung
ungewohnt, und ging. Er hatte es nicht über sich gebracht, dem alten
Manne zu sagen, bei wem und in was für einem Hause er seinen Sohn
aufgefunden hatte.

Fred Tiedemann kam mit verschlafenen Augen aus seinem Zimmer und fragte
ungehalten: »Was gibt's?«

Sein Vater gab keine Antwort.

Er sah an ihm vorbei zur Stiege, über welche der Hausarzt kam.

Der untersuchte lange und gründlich, dann schüttelte er dem Vater, der
in tausend Aengsten vor der Tür gewartet hatte, die Hand: »Kopf hoch,
Herr Tiedemann, es wird wieder werden! Der Junge hätte nicht lumpen
sollen, ich habe es Ihnen ja gesagt. Er schläft jetzt, lassen Sie ihn
ruhig. Ich sehe gegen Abend wieder her.« Er wendete sich zu Hilde:
»Na, Fräulein, jetzt spielen Sie ein wenig Krankenschwester, wird
Ihnen verflucht gut stehen.« Der alte Junggeselle lachte. »Nur nicht
so verzagte Augen -- ein Lump ist er halt, der Herr Bruder. Adieu!«
Bei der Tür wendete er sich nochmals um: »Niemanden ins Zimmer lassen!
Ja? Er muß ganz ruhig liegen bleiben, eine zweite Blutung verträgt er
nicht.«

Hilde umfing ihren Vater.

»Ich nehme mich schon zusammen,« Tiedemann schluckte die Tränen
hinunter und sah zu Leos Zimmer, »sieh nur, daß alles in Ordnung ist!«

»Ja, Papa ...«

Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf. »Daß der Bub mir hat das antun
müssen!« Er stützte den Kopf in die Hand und grübelte. Er kam aus den
Sorgen nicht heraus:

Die Frau gestorben! Von dem, was vorausgegangen, wollte er nicht
sprechen! Nun Leo, alles in einem kurzen Jahre!

Gerhard kam ihm wieder in den Sinn. Man hatte ihn nicht richtig
behandelt. Es war zu viel für seinen alten Kopf. Er konnte die
Unterschiede seiner Kinder nicht versöhnen, die er selbst geschaffen
hatte ...

Er seufzte. Von unten klang das Rasseln eines Automobils herauf. Hastig
schloß er die Fenster; wie leicht konnte Leo aufwachen!

Fred trat über die Schwelle in tadellosem Salonanzug. Er zog die
Handschuhe über:

»Gott sei Dank, Papa; Hilde erzählte mir, der Arzt sagte, es hätte
keine unmittelbare Gefahr; nur äußerste Ruhe sei notwendig?« Er sah
seinen Vater fragend an: »Ich habe doch recht verstanden?«

Klaus Tiedemann nickte mit schiefem Kopfe:

»Ja, wir wollen es hoffen.«

»Adieu, Papa, ich muß weg, weil ich Roller versprochen habe, ihn
abzuholen; dafür malt er mir den ‚Franklin’, wenn er heute gewinnt.«

»Du fährst zum Rennen,« Klaus Tiedemann sah seinem Sohne ernst in die
Augen, »wo Leo so krank ist?«

»Du bist komisch, Papa; soll ich mich auch vor ihn hin setzen und
ihn anschauen? Reden dürfen wir mit ihm so nichts. Was soll ich also
daheim?«

»Du hast recht.« Beinahe eilig reichte Klaus Tiedemann ihm die Hand.
»Geh und unterhalte dich gut!«

Er schien froh, als sich die Tür hinter Fred schloß.

Er hatte immer geglaubt, mit den Seinen ein festes Ganzes zu bilden;
nun, das erstemal, da er die Probe machte, stand er allein.

Bitterkeit überkam ihn.

Es gab nichts, was Menschen auf ewig verband. Es war alles Trug! Die
Ehe, die Liebe, die Freundschaft. Sie hielten nur zusammen, solange
alles glatt ging; beim leisesten Windhauch floh das eine und ließ das
andere allein. Wenn ihm sein Kind starb? Wer trug die Schuld? Die
Eltern, die es ins Leben gesetzt? Er, der er zu schwach gewesen mit
ihm? Oder niemand, und war alles nur blinder Zufall?

Er war schon über die Fünfzig, als Leo geboren wurde. Vielleicht hatte
er ihm zu wenig Kraft gegeben? Ein hartes Leben lag hinter ihm; doch
Klaus Tiedemann hatte stets seine Kinder zu stärken gesucht. Er hatte
Individualitäten in ihnen gefunden, gleich, ob sie vorhanden gewesen
waren oder nicht. Sie ließen sich nicht künstlich züchten. Dem Weibe
hatte er die Eigenart geleugnet und gerade das schien sie zu haben:
Hilde blieb bei ihm als Gefährte der ängstlichen Stunden ...

Sie saß ihm zur Seite und horchte mit ihm auf das kurze, schnelle Atmen
Leos, das durch die angelehnte Tür drang.

Und wenn der Kranke sich drin bewegte, dann legte sie ihm die kühle
Hand auf und streifte mit ihren heißen Lippen seine faltige Stirn, ehe
sie nachsehen ging.

Der Sonntagnachmittag strich vorüber, still und lang; noch immer war
Leo nicht aufgewacht.

In leisem Gespräche saßen Vater und Tochter:

»Dann muß er gleich nach dem Süden, auf längere Zeit, Papa! Mit dir;
das wird dir auch gut tun.«

»Ich kann von hier nicht weg! Du mußt mit ihm gehen, Hilde.«

»Aber Papa, was hast du denn hier zu tun?«

Klaus Tiedemann lächelte traurig:

»Nichts.« Er näherte seinen Mund ihrem Ohr. »Ich kann Fred nicht allein
lassen.«

»Warum?«

»Das weiß ich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Mir ist angst, Hilde.«
Er legte seinen Kopf am ihre Schulter. »Ich glaube immer, nun fängt das
Unglück an. Das Leben ist auf unsere Ruhe eifersüchtig geworden -- nun
müssen wir es büßen.«

»Was du dir für trübe Gedanken machst!« Hilde hatte für ihren Vater
noch nie einen so herzlichen Ton gefunden. »Im Gegenteil, das ist jetzt
nur eine vorübergehende Trübung, damit wir uns nachher desto mehr
freuen können.«

»Worauf denn?«

»Na, hörst du, Papa, auf viel! Jetzt wird Fred und später Leo dir eine
liebe Tochter ins Haus bringen, dann wirst du Großpapa und hast ganz
kleine, süße, winzige Enkelkinder.« Hilde schmiegte sich an ihren
Vater; von ihrer Rede, die sie begonnen hatte, um ihn zu zerstreuen,
floß langsam der Inhalt auf sie über und nahm sie gefangen in
ungeahnter Seligkeit. Sie legte den Kopf an ihn; er streichelte sie.

»Du bist gut, Hilde!« Klaus Tiedemann empfand die Weihe dieser Stunde,
die ihm ein Kind zu eigen gab.

Sie saßen eng aneinandergelehnt und schwiegen.

Dann, als schämten sie sich ihrer Stimmung, begannen sie vom Feste zu
reden, von diesem und jenem, das ihnen aufgefallen war. Als Hansens
Name fiel, wurde sie schweigsam. Immer wieder kam Klaus Tiedemann auf
Olthoff zurück. Er erhielt nur spärliche Antworten.

Schon dunkelte es, da klang eine schwache Stimme aus dem Nebenzimmer:
»Papa?« Etwas Fremdes griff Klaus Tiedemann nach dem Herzen. Sein Kind
verlangte nach ihm, mit dem ersten Laute des wiedererlangten Lebens. Er
ging auf den Zehenspitzen zur Tür. »Vorsicht, Papa!« Hilde hielt den
Finger auf den Mund. Er nickte und trat ein.

Die Dämmerung lag in den Ecken des Zimmers und ließ Leos Gestalt in den
weißen Kissen undeutlich erkennen.

»Verzeih! mir, Pa!«

»Kind, bleib ruhig und sprich nicht viel.«

Er küßte den Sohn auf die eiskalte Stirn, auf der Schweißtropfen
standen.

»Nicht fortgehen, Pa!«

»Nein, Kind, ich bleib' bei dir.«

Er ließ sich am Fußende des Bettes nieder und nahm Leos schmale Hand.
Sie saßen minutenlang schweigend, und aus dem dunklen Fleck, den Leos
Gesicht in der beginnenden Dunkelheit gab, leuchteten in fremder Kraft
seine Augen. Dann begann er wieder: »Verzeih' mir; ich weiß, ich hab'
dich betrogen.«

Ein Zittern lief durch seine Gestalt.

»Laß doch, Kind!«

»Nein, Pa, ich muß dir das noch sagen: du hast mir immer zu viel
nachgegeben, drum bin ich auf solche Gedanken gekommen. Du hast immer
auf mich Rücksicht genommen und ich gar nicht auf dich! Du bist
zu gut zu mir gewesen, du hättest mit mir nicht über alles reden
sollen. Ich habe bis heute nacht«, ein Schauer schüttelte ihn, »an
gar nichts geglaubt, vor gar nichts Achtung gehabt, -- nun«, seine
Stimme nahm hohle Färbung an, »verstehe ich das Leben.« Er suchte sich
aufzurichten: »Nur das Leben in uns hat Wert, nicht das Gefühl, gelebt
zu haben.«

Erschöpft hielt er inne, Klaus Tiedemann regte sich nicht. In seinem
Kopfe hämmerten die Pulse. Sein Kind sprach Worte, die er vergebens
gesucht hatte ein Leben lang: Aeußerlichkeiten des Lebens, Reichtum und
Stellung waren Ereignisse untergeordneter Wichtigkeit gegen das, was
im Menschen lebte und ihn führen konnte zu innerem Glück. Das _innere_
Glück!

Klaus Tiedemann stand langsam auf:

Leo war aus Ermattung wieder in Schlaf gefallen. Klaus Tiedemann
horchte: Unruhig ging Leos Atem; abgerissene Worte kamen auf seine
Lippen. Herbe Angst befiel den alten Mann; er tastete sich zur Tür:
»Man muß zum Arzt, Leo gefällt mir gar nicht, er fängt zu phantasieren
an!«

Schon war Hilde in die Höhe.

Klaus Tiedemann horchte wieder:

Ein kalter Hauch lief ihm über den Rücken.

Hatte er sich getäuscht?

Hatte Leo geröchelt?

Er zwängte seinen Kopf in die Türspalte. Er hörte nichts.

Hatte er zu atmen aufgehört?

Er machte ein paar leise Schritte vorwärts und brach in die Knie:

Leos Gestalt hing vornüber aus dem Bette, vor dem das Blut mit dunklem
Flecke stand. Leos Augen waren glasig aufgerissen -- er war tot.

Von unten klang die Hupe eines Automobils; Fred Tiedemann kam mißmutig
vom Rennen zurück; »Franklin« war geschlagen worden.


Gleich nach Leos Begräbnis hatte Klaus Tiedemann sein Landhaus bezogen.

Es litt ihn nicht länger in der Stadt. Die vielen Menschen taten ihm
weh.

Stundenlang saß er allein am Waldrand, von dem der Blick
hinüberschweifen konnte über Täler und Höhen nach der Stelle, wo sein
Kind ruhte.

Ein starrer Zug stand auf seinem Gesichte, und die Augen sahen einwärts
in verzehrendem Feuer.

Nie sprach er das in Worten aus, was in ihm vorging. Nur hier und da
nickte er aus solchen Stimmungen heraus Hilde zu. Es war ein stummes
Trostsprechen, daß er wieder anders werden wollte; man sollte ihm nur
Zeit lassen, sich zurechtzufinden.

Dann gingen sie stumm nebeneinander durch den träumenden Wald nach
Hause.

Das Zimmer, das Leo in den Ferien stets bewohnt hatte, betrat er nicht.

Zu lebhaft standen noch die Erinnerungen der letzten Wochen im
Vordergrund.

Oft preßte er die Hände an die Ohren, damit endlich daraus der Klang
der polternden Schollen weiche, die auf Leos Sarg hämmerten und seine
Ruhe störten. Noch immer hörte er Heinz Behrens' ungeschlachte Stimme:

»Du tust mir leid, Tiedemann, du hast Unglück in deiner Familie; er
war ein lieber Mensch, und meine Kleine kann sich kaum trösten.« Dann
hatte er mit seiner groben Hand die Tränen aus den buschigen Wimpern
gewischt und war gegangen.

Jan Wolny hatte stumm daneben gestanden mit zusammengepreßten
Lippen, den Kopf gesenkt. Nur als Hilde aufschluchzte in bitterem
Schmerze, hatte er aufgesehen, und sein Blick war zu Fred Tiedemann
hinübergeflogen, fragend und mahnend.

Fürst Solt hatte ein paar Worte gesprochen, eckig und schlicht, wie der
Mensch so schwach sei und einen nach dem anderen fallen sehen müßte,
bis er selbst daran käme. Er war der letzte seiner Familie und ihm
traten die Tränen in die Augen.

Ueber den Zinskasernen stand rot die untergehende Sonne, als sie
zurückfuhren in ihr stillgewordenes Heim ...

Immer wieder zogen die Bilder an Klaus Tiedemann vorbei.

Tief gebeugt trug er den Kopf.

Wenn der Mond aufstieg, saß er bis in die Nacht hinein und horchte
dem Lispeln der Birken, die mit ihren langsam wandelnden Schatten
Zwiesprache hielten.

Sternschnuppen fielen durch die Nacht.

Wohl blieben ihm noch drei Kinder. Gerhard hatte nach Leos Tod nicht
mehr vom Weggehen gesprochen; doch die Schuld blieb auch.

Immer wieder grübelte Klaus Tiedemann nach, ob es Bestimmung sei, die
Leo so früh abberufen, oder ob, in anderer Umgebung aufgewachsen, er zu
halten gewesen wäre.

Hatte Hilde recht gehabt mit ihren Warnungen?

Nichts gab Antwort!

Hilde war ihm nähergetreten seit jenem stillen Nachmittag, an dem sie
sich in Angst um Leo fanden.

Sie war die einzige, deren Gegenwart er ertrug.

Sie ging stundenlang stumm neben ihm her und spann ihre eigenen
Gedanken, die von denen ihres Vaters nicht allzusehr verschieden waren.

Sie folgte seiner gebeugten Gestalt; er schritt mit den Händen auf dem
Rücken querfeldein über die Ackerschollen; sein weißes Haar flog im
Abendwinde.

Um sie war die Ruhe des sinkenden Tages.

Schon saßen die Schatten in den Waldecken und färbten sie bläulich.
Langsam zog der Rauch von den Bauerngehöften.

Er blieb stehen.

Dann fragte er mit schweren Worten ganz unvermittelt:

»Glaubst du, daß es Hansen ehrlich meint?«

Ehe sie noch Antwort geben konnte, ging er weiter, den Kopf gesenkt,
als sei er sich nicht bewußt, gesprochen zu haben.

Als sie die Höhe erreicht hatten, sah er sie fragend an:

»Nun?«

In seinem zermarterten Gesicht war die Sorge, die ihn zerfraß.

»Ja, du kannst ihm vertrauen.«

Er wiegte den Kopf hin und her:

»Er hat so aufrichtig darein gesehen an Leos Grab. ‚Wer weiß, ob das
Leben nicht nur Vorbereitung ist auf den Tod, das wahre menschenwürdige
Sein, das dann erst beginnt; darum wollen wir ihm die Ruhe gönnen’, so
hat er gesagt, Hilde, damals. Ich weiß es Wort für Wort!«

Er hielt inne, um seines Schmerzes Herr zu werden, der bei der
Erinnerung vorbrach. Dann begann er wieder in ferner Gedankenqual:
»Es ist so schwer, das Rechte im Leben zu treffen, jedes Wort ist
so verantwortungsvoll; ich hab' immer das Beste gewollt ...« Ein
stockender Seufzer schwellte seine Brust: »Leo ist tot, Clo muß auch
nicht glücklich sein: sie hat so geweint am Grabe und mich gebeten, ihr
beizustehen, wenn's mal so weit mit ihr ist.« Er nickte ein-, zweimal:
»So hat es kommen müssen.«

Ueber das Wolkengrau im Westen lief ein fahler Schein. Ferner Donner
grollte über die Felder, auf denen die Grillen sangen.

Hilde legte sich tröstend an den Mann, dem sein Lebensabend so unfroh
geworden war.

»Hab' Vertrauen, Vater, es kommen wieder fröhliche Tage.«

Er machte sich los und sah ihr tief in die Augen; dann fragte er:
»Liebst du Hansen?«

Sie zuckte zusammen.

Wie mußte es Vater aufnehmen, wenn sie ihn auch verlassen wollte?
Doch vielleicht war jetzt die richtige Stunde, seinen Widerstand zu
besiegen. Seine Augen ruhten ernst auf ihr, beinahe ängstlich, als
hoffte er auf ein Wort, das ihm wieder Glauben leihen sollte fürs
Leben. Sie sah nach dem roten Fleck jenseits der Berge, wo die Sonne
gestorben war, und richtete sich auf:

»Ja«, sagte sie mit festem Wort.

Eine Weile stand er regungslos. Dann sagte er heiser: »Hilde, so ein
Wort bindet auf ewig und ist doch zu leicht gesprochen. Du mußt ihn
lieber haben als dein eigenes Leben, mußt es freudig für ihn geben!
Kannst du das?« Angst redete aus seinen Worten.

Sie nickte.

»Du mußt nur an ihn denken! Jede seiner Sorgen ist eine doppelte für
dich. Du mußt auf alles verzichten können für ihn.«

»Das kann ich.«

Er sah sie an mit flackernden Blicken. In seinen Augen kämpften fremde
Gewalten. Sie gewannen die Oberhand. »Das hat noch jede gesagt,« seine
Finger griffen erregt durch die Luft, die heiß wie Brodem über die
Felder strich, »noch jede!« Er lachte, daß die Laute schneidend Hilde
ins Ohr gellten, »in Schwüren gelobt und nie gehalten. Das Weib ist
schwach und elend!« Er richtete sich auf: »Daß du mir nimmer davon
sprichst! Du bist ein töricht Kind. Das einzige, was Bestand hat, ist
Geld, und das hat Hansen nicht.«

»Vater!« In heißer Entrüstung flammten Hildes Augen.

»Schweig!« Klaus Tiedemann wendete den Schritt: »Das Wetter zieht
näher; wir wollen nach Hause gehen.«


Als der Hochsommer kam, war Klaus Tiedemann ein anderer geworden.

Er dachte ruhiger über Leos Tod.

Die zähe Lebenskraft hielt ihn am Leben fest.

Fred Tiedemann kam selten; er konnte die Großstadt nicht missen mit
ihren Vergnügungen und Zerstreuungen. Oder wenn: Vor wenigen Tagen
hatte er sich verabschiedet; er gedachte zu seiner Erholung eine
längere Automobiltour zu unternehmen. Baronin Wolny würde ihn dabei
begleiten.

Als Klaus Tiedemann darüber den Kopf schüttelte, lachte er überlegen:

»Papa, du bist ein Philister. Das ist heute allgemein üblich, daß man
gemeinsam Reisen macht.«

»Sie hat doch einen erwachsenen Sohn?«

»Eben deswegen, -- der braucht sie gewiß nicht mehr. Weißt du,« fuhr
Fred fort, »wenn ein Mann den Weibern gefällt, so kann er alles mit
ihnen machen, gleich wer die Frau ist; natürlich« -- sein Blick umfaßte
seines Vaters Konturen -- »muß er tadellos gebaut sein und ruhende
Kräfte in sich tragen, sonst ist's besser, er läßt es bleiben.«

Der Alte preßte die Lippen zusammen und gab keine Antwort.

Fred wußte wenig Neues zu berichten:

Klagen über Gerhard und Görnemann, die zu ängstlich wären und keinen
Geschäftsgeist besäßen.

Es ergaben sich oft lange Pausen in der Unterhaltung.

Fred war zweiter Vizepräsident des Automobilklubs geworden; auch in das
Renndirektorium war er gewählt worden.

Das gab mannigfache Arbeit und viele Verpflichtungen, von denen Vater
und Schwester keine Ahnung hatten.

Beim Fortgehen kramte er noch eine Neuigkeit aus:

Olthoff hatte sich mit Heinz Behrens' Jüngster verlobt. Klaus Tiedemann
sah rasch und ängstlich nach Hildes Gesicht. Doch das blieb ruhig, sie
sagte:

»Da ist mir das Mädchen leid.«

»Mir höchstens um die Wechsel leid, die ich für ihn giriert habe! Na,
die wird sein Schwiegervater einlösen, und schließlich bin ich durch
ihn in den Rennklub gekommen.« Fred wendete sich zu seinem Vater. »Was
sagst du zu Behrens? Der alte Lümmel sucht es uns nachzumachen.«

Klaus Tiedemann seufzte.

Dann küßten und umarmten sie sich. Fred bat den Vater, während seiner
Abwesenheit ein wenig auf das Geschäft zu achten. Man könnte dem Alten
und Gerhard doch nicht ganz trauen.

Nun fuhr Klaus Tiedemann jede Woche einmal zur Stadt.

Wenn er zurückkam, war er in aufgeräumter Stimmung.

Es drängte ihn zu sprechen.

Er erzählte Hilde von seiner Jugendzeit, von den überseeischen Ländern,
die er kennengelernt hatte, von den Sitten der Leute. Er suchte die
alten Erinnerungen hervor, als wollte er sich die Vergangenheit wieder
ins Leben rufen, um damit die Gegenwart zu füllen.

Er sprach davon, wie er zwei Tage nichts zu essen gehabt hatte und
an Selbstmord dachte, wie er auf der Kaimauer zu New York über den
gurgelnden Wassern gestanden, während das Schiff wieder auslief,
das ihn gebracht hatte und das nun andere holte, die auch das Glück
suchten. Schwer lag die Rußfahne des Rauchfanges auf der hochgehenden
See.

Er wurde Kellner, um sein Leben zu fristen. Durch einen Zufall fand er
eine Stelle.

Vom ersten Tage an legte er zurück; lieber darbte er, um die Summe
sparen zu können, die er sich vorgenommen hatte.

Wenn die Firma sich mit Hunderttausenden beteiligte, tat er es mit
seinem Hungergeld: so waren beider Interessen eng verknüpft.

Man wurde aufmerksam auf ihn; er verlor nie, sein scharfer Blick
behielt stets recht; seinem Wort nicht folgen war gleichbedeutend mit
Verlust.

Er gewann schnell Einfluß; sein Name wurde bekannt. Einmal folgten sie
ihm nicht; die Firma geriet in Zahlungsschwierigkeiten. Es war der
große Tabakkrach, der ihn auf eigene Füße stellte.

Nun ging es auf _seine_ Gefahr!

Stets kam er den anderen zuvor. Oft war es ein wildes Wagen. Die Wangen
röteten sich, wenn er so sprach.

So hatte Hilde ihren Vater nie gesehen.

Von Görnemann erzählte er, und daß er selbst nie Autorität besessen
hätte; der letzte Lehrjunge war ihm so viel wie seine besten Kunden.
Damals hatte sich in ihm der Glaube befestigt, daß nur die Jugend
Fortschritt gäbe; das hob ihn über die anderen.

Mit leisen Worten redete er davon, wie man die Mühen schnell vergesse,
wie hinter jedem Tage der vergangenen Zeit unsägliche Qual gewesen.

Hilde sann nach, wie Schwäche und Kraft in ihrem Vater eng beisammen
standen.

Auch an Hansen dachte sie, an dem sie Aehnliches bemerkte.

Was mochte der treiben? Ging sein Werk vorwärts?

Nur hier und da schrieb sie ihm ein paar Zeilen.

Antwort erhielt sie nie: es war ihres Vaters wegen, der die Post immer
zuerst in die Hand bekam, nicht möglich.

Auf das Gespräch an jenem Gewitterabend waren beide nicht mehr
zurückgekommen.

Es war am Morgen eines schwülen Sommertages.

Hilde Tiedemann ordnete den Frühstückstisch, der auf der Terrasse
stand, vor welcher der Wald lag, in dichten, grünen Beständen.

Sie horchte dem Kuckucksruf und zählte in lächelndem Widerwillen den
Laut.

Achtmal war er erklungen. Wenn der Volksmund recht behielt!

Sie fuhr sich über die Augen und seufzte.

Der Sommer ging in wenigen Wochen zu Ende, und das alte Leben begann
vom neuen.

Ihr Vater hatte sich geändert; er war ruhiger und gerechter geworden,
wie stets, wenn er allein war, ohne fremden Einfluß.

Hilde war sich bewußt, in der Stadt den Verlust Leos mehr zu empfinden
als hier draußen. Sie sah keinen Ausweg, ihre Familie von dem
eingeschlagenen Wege abzubringen. Dazu gehörte eine starke Hand, und
die hatte von allen nur Gerhard, der nicht zu Worte kam.

Mit ihrem Stiefbruder mußte sich die Sache klären. Des öfteren sprach
ihr Vater nun von dessen großen Fähigkeiten. Wie würde das Fred
aufnehmen?

So spann sie im Warten ihre Gedanken. Ihre Blicke folgten unabsichtlich
den Fliegen, die auf der weißen Wand herumeilten und dann als schwarze
Punkte unverrückbar in der Sonne festhielten, daß ihre Flügel seidig
glänzten.

Wieder hob der Kuckuck an.

Sie warf den Kopf herum. Die Gartenpforte hatte geklungen.

Noch verdeckten die Büsche den Kommenden.

Nun wurde er frei. Es war ein Mann, hager und gebeugt; mit großen,
stolpernden Schritten kam er durch den Garten direkt auf das Haus zu.

Sie erschrak, ohne sich bewußt zu werden, warum.

Er sah auf; es war Görnemann. An der Art, wie er den Hut zog, erkannte
sie ihn.

Sie ging ihm über die Stufen entgegen.

Sein faltiges Gesicht war heftig gerötet, und seine Augen sahen
unsicher; sie suchten den Boden in Aufregung und Verwirrung.

»Wo ist ihr Herr Vater?«

»Er ist noch im Hause; er muß jeden Augenblick kommen. Aber was ...?«

»Ich muß ihn sofort sprechen.« Er zog ein blaugeblümtes Taschentuch und
wischte sich die Stirn. Dann stieg er rasch die Stufen hinan.

»Es ist doch nichts Schlimmes vorgefallen?« Hilde legte in Angst die
Hand auf seinen Arm. »Sagen Sie doch!«

»Nein, nichts Schlechtes.« Er suchte sich frei zu machen. »Aber Ihren
Herrn Vater muß ich sprechen!« Er trat eilig ein, im selben Augenblick,
als Klaus Tiedemann von der anderen Seite kam:

»Sie hier?« Tiedemann zögerte und blieb betreten stehen.

»Ja,« Sebastian Görnemann schien in großer Verwirrung, »ich bin gleich
herausgefahren, Sie müssen es wissen.« Er sah mit halber Wendung nach
Hilde, dann sagte er mit plötzlichem Entschluß und hob den Kopf: »Herr
Tiedemann, ich muß Sie unter vier Augen sprechen.«

»Kommen Sie,« der Angeredete öffnete die Tür ins Schlafzimmer, dessen
Fenster auf die Terrasse gingen, »hier sind wir allein.« Er wendete
sich. »Und du, Hilde, richte das Frühstück auch für Herrn Görnemann« --
der hob abwehrend die Hand -- »wir kommen gleich.«

Er schob dem anderen einen Sessel zurecht:

»Was gibt es?«

Der alte Mann keuchte, und seine Hand zitterte, als sie nach der Tasche
fuhr. Er legte ein Telegramm auf den Tisch: »Es ist ein großes Unglück
auf Herrn Lecarts Freundschaftszeche geschehen. Mehr als hundert Leute
sind verunglückt. Die Arbeiter revoltieren; Frau Clo ist in Gefahr.«

Klaus Tiedemann riß den Zettel an sich und las mit gierigen Augen.

Es blieb still um die beiden Männer; nur von draußen rief der Kuckuck.

Klaus Tiedemann preßte die Lippen zusammen: auf der Stirn lag Falte an
Falte.

Die Augen belebten sich. Er stand auf.

»Ich fahre!« Er sah auf die Uhr. »In wenigen Minuten geht mein Zug; Sie
schicken mir sofort Gerhard nach; ich muß jemanden um mich haben, auf
den ich mich verlassen kann!« Er setzte den Hut auf. »Sie bleiben in
der Stadt, Görnemann, das Weitere telegraphiere ich.«

Görnemann sah auf: Es war die Stimme und die Art zu sprechen, wie sie
sein Herr geübt -- vor langen Jahren.

Klaus Tiedemann tat einen Blick durchs Fenster:

Hilde hatte auf der Terrasse die Zeitung entfaltet und las mit
lachenden Augen. Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf. Sie las vom Bilde
T. A. Hansens, das so viel Aufsehen erregte, und das ihn in die erste
Reihe stellte; er hatte sein Wort gehalten. Es waren nur wenige Zeilen,
die ihr neues Leben gaben. »Erdgeist« hatte er sein Werk genannt. -- --
--

... Als der Zug in der Bergwerksstation hielt, stand Klaus Tiedemann
bereits auf dem Trittbrett des Waggons.

Der kleine Perron war voll von Menschen, die schrien und gestikulierten.

Es wollte Abend werden. Schon brannten die rußigen Lampen auf dem
Bahnsteig.

Feuerwehrmänner und Knappen von anderen Gewerkschaften umgaben ihn.

Mit starkem Arm trennte er die Menge.

Der leichte Jagdwagen wartete.

Neben dem Kutscher saß der Jäger, das Gewehr auf den Knien.

»Damit die Hunde Respekt haben; die Gendarmenverstärkung kommt erst in
der Frühe.«

Klaus Tiedemann drängte zwei halbnackte Buben auseinander, die ihm
pfeifend den Weg verstellten; der eine spuckte nach seinen Stiefeln.

»Vorwärts!«

Die Pferde zogen an.

Klaus Tiedemann war im Wagen aufrecht stehen geblieben und hörte der
beiden Männer Bericht.

Heute früh, bald nachdem die Tagschicht eingefahren, war das Unglück
geschehen. Es mußten sich giftige Gase entzündet haben. Bis vor kurzem
war an ein Einfahren der Rettungsmannschaft noch nicht zu denken
gewesen.

Klaus Tiedemann hob den Kopf nach rechts, wo sich in der abendlichen
Dämmerung über den Getreidefeldern mächtige Rauchwolken schoben.

»Dort?«

»Nein, das ist die Maximilianszeche, die brennt seit 30 Jahren. Die
Zeche 2 liegt da links drüben!«

Sie bogen in die Dorfstraße ein.

In dichten Wolken wehte der Staub.

Die niederen, aus Lehm gebauten Häuser schienen verlassen.

Alt und jung mochte an der Unglücksstelle weilen.

Ein paar Steine flogen den Pferden zwischen die Beine.

Sie stiegen, daß sie der Kutscher kaum halten konnte.

In rasender Eile ging es an dem Parkgitter vorbei.

Der Mond stand bleich mit seiner Scheibe auf dem Himmel.

Der Wagen hielt vor der Freitreppe.

Klaus Tiedemann eilte die Stufen hinan.

Niemand öffnete ihm; er hastete von Zimmer zu Zimmer; die Angst
beflügelte seine Schritte.

»Mein Kind.« Er riß Clo an sich und bedeckte ihr bleiches Gesicht mit
Küssen. »Mein armes Kind.«

Ein krampfartiges Zucken überlief sie, dann hing sie wie leblos in
seinen Armen.

Er bettete sie vor das Fenster, durch das der kühle Abendwind strich.

Sie gab seine Hand nicht frei.

So saßen sie schweigend, nur der Herzschlag hämmerte durch die Stille.

Hier und da klang vom Schacht ein Klingelsignal oder halbverwehtes
Rufen herüber.

Mit milden Worten sprach Klaus Tiedemann seinem Kinde Mut zu. Daß sich
alles im Leben gäbe -- ganz von selbst --, was vordem unerträglich
geschienen! Man wisse nicht, wie das Unglück entstanden sei. Niemand
trage die Schuld. Es seien ja alles bisher nur Mutmaßungen.

Mit irren Blicken sah sie im Zimmer herum; bei jedem Laut schauerte sie
zusammen:

»Er hat seine Arbeiter betrogen, ich hab' drum gewußt.« Sie bedeckte
mit den zuckenden Händen das Gesicht und warf sich in krampfhaftem
Schluchzen in die Kissen.

Klaus Tiedemann griff eine kalte Faust an den Rücken:

»Weißt du, was du redest?« Er dämpfte die Stimme. »Du kannst deinen
Mann ins Zuchthaus bringen mit solchen Worten.«

»Sei's drum.« Leidenschaftlich richtete sie sich in die Höhe. »Er hat
es hundertfach verdient; ich hasse ihn und alle seinesgleichen. Oh, wie
ich ihn hasse!« Sie glitt zu Boden und schlug schwer mit dem Kopfe auf
die Dielen.

Mit zitternden Händen hob er sie auf.

Nun lag sie ruhig; nur von Zeit zu Zeit erschütterte ihr Körper in
tränenlosem Schluchzen.

Mit dem Nachtzuge kam Gerhard.

Er sprach wenige Worte und begab sich an die Unfallstelle.

Die paar Beamten, die Lecart hielt, durften sich nicht blicken lassen.

Ihr Leben war in Gefahr.

Lecart war vor wenigen Tagen zu einem seiner Freunde auf die Jagd
gereist. Der Streik war ja beendet gewesen!

Die Arbeiter hatten wegen angeblich schlechter Ventilation der Gruben
die Einfahrt verweigert.

Hielt dies noch ein paar Tage an, versiegten ihm die letzten
Hilfsquellen. Er wendete sich an die Bergbehörde. Er legte Pläne
und Karten vor; es war alles in Ordnung, das hätte die Untersuchung
gezeigt, sagte man den Leuten.

Was blieb ihnen übrig? Die Ihren verlangten Brot.

Nun war das Unglück geschehen!

Weiber und Kinder umgaben den Schachteingang.

Der Mond goß sein kaltes Licht über die vielköpfige Menge.

Drohendes Murmeln lief durch die Reihen, als verlangten sie ihre Männer
von der Erde zurück, der sie so lange ungestraft ihre Kinder entrissen
hatten.

Hier und da klang scharf eine Explosion herauf.

Leute, die unten gewesen, erzählten, daß man helle Flammen sähe.

Der Brand dauerte an, und damit sank die letzte Hoffnung.

Die Rettungsmannschaft war endlich eingefahren. Man hatte auf den
Zechen Lecarts nur ungenügende Schutzapparate.

So waren Stunden vergangen, bis sie von fremden Zechen kamen.

Und jede Sekunde konnte über das Leben entscheiden.

Neuer Haß war dadurch entstanden, der sich in häßlichen Ausrufen Luft
machte.

Nur die Hoffnung, noch Lebende da unten zu finden, dämmte die
Erbitterung, welche in den Augen der Leute glimmte.

Ein Funken konnte zünden und die Massen zu blindwütigem Vorgehen
veranlassen.

Ein Klingelzeichen aus der Tiefe!

Atemlos lauschen die zerlumpten Gestalten.

Die bleichen Gesichter drängen sich an das rostige Schachtgitter.

Es öffnete sich mit schütterndem Klirren:

»Glück auf!«

Zwei Leichen, verunstaltet und halb verkohlt, werden aus den Karren
gehoben.

Tote!

Kein Wort wird laut.

Der Fahrstuhl verschwindet; die Grubenlichter versinken:

»Glück auf!«

Schluchzen erschüttert die Luft, leidenschaftliche Anklagen werden laut
und machen sich in gellenden Schreien Luft.

Wieder kommen Tote.

Eine reiche Ernte! Lauter stille Gestalten, oft unkenntlich, mit
verzerrten Gliedern.

Warum ist das Schicksal so erbarmungslos?

Warum?

Die Menge findet die Antwort. In Haß leuchten die Augen dem Herrenhause
zu, von dem nur wenige Fenster licht scheinen.

Schlafen sie schon, während sie hier ihre Toten beweinen?

Ein Ton grenzenlosen Schmerzes klingt über die Fläche.

Ein Wortführer stellt sich an die Spitze.

Lange Zungen über das Blachfeld vorausschickend, wälzt sich die wütende
Menge gegen Lecarts festes Haus.

Weiber und Kinder voran.

Prügel werden geschwungen; hier und da blitzt ein Messer.

Das Mondlicht zeichnet bleiche Schatten.

Klaus Tiedemann hört das Toben der Menge; ein zäher Widerstand
bemächtigt sich seiner: er wird ausharren bis zum Ende.

Mit Augen, in denen der Wahnwitz flackert, sieht sein Kind zu ihm auf:

»Was wollen sie, Vater?«

»Ich weiß nicht.«

Er läßt das Haus schließen, das Parkgitter bietet Widerstand.

Es wird zum Aeußersten kommen!

Knurrend schnuppern die zwei riesigen Neufundländer an dem Gitter.

»Vater!«

»Was ist?« Er beugt sich zu ihr nieder und küßt sie auf die Stirn. »Was
willst du?«

»Nimm mich weg,« stammeln ihre weißen Lippen, »nimm mich weg; wenn du
mich hier läßt, geh' ich zugrunde.«

In tiefer Bewegung preßt er sie an sich:

»Ich bin ja bei dir, Kind, es kann dir nichts geschehen.«

Sie schüttelte den Kopf:

»Nicht jetzt, -- die fürcht' ich nicht. Dann, wenn er wieder da ist ...«

»Du meinst deinen Mann?«

Ihre Finger beben. »Nimm mich fort, er ist so roh; seinen Blick ertrag'
ich nicht, Vater!« schreit sie auf und wirft sich ihm an die Brust.
»Dort hat er gesessen und vor sich hin gestiert, dann hat er's getan.«

Der alte Mann beißt die Zähne zusammen; er kann's nicht glauben. Das
Leben kann nicht alles stürzen, was er gebaut hat.

»Du siehst schwarz, Kind, -- deine Nerven sind übermüdet. -- Lecart hat
dich gern wie ich.«

»Meinst du?« Sie bricht in gellendes Lachen aus. »Gern, das habt ihr
mir damals gesagt, als ich eurem Willen widerstrebte. Lieber in Armut
gestorben, als noch einmal so ein Leben! Gröden war nichts für mich,
den habe ich nicht haben dürfen, weil er nichts hatte, kein Vermögen
und keinen Namen, -- und Lecart hatte beides in euren Augen.«

In bitterer Verzweiflung klingt ihre Stimme: »Nun habt ihr euren
Willen, habt eure Familie rein gehalten, so rein, daß der Schlechteste
da draußen zu gut für euch ist.« Ihre Worte fallen wie klingender Stahl
durch das Halbdunkel der Mondnacht, und ihr Vater beugt das Haupt,
als nun die Anklage laut wird, die er nicht zu Worte kommen lassen
wollte, aus verfehlter Liebe zu seinen Kindern. »Bei den Armen, da ist
es Berechnung eines verfehlten Lebens, wenn er nach dem Gelde greift,
ohne Liebe, bei uns ist es ein Verbrechen, wie die Sonne kein ärgeres
bescheint, wenn wir dem Herzen nicht seine Stimme lassen, sondern
schachern, noch immer nicht froh unseres Besitzes.« Ihre Hand klagt
ihren Vater an. »Du, du ganz allein hättest auftreten können, hättest
mir mein Recht wahren sollen, das einzige, das schönste, das wir
besitzen. Du hast dich gebeugt und hast geschwiegen, als meine Mutter
ihren Plänen folgte. Schritt für Schritt mit der Unermüdlichkeit
eines kranken Willens. Sie sah die Welt vom Krankenbett und in den
engen Grenzen ihrer einseitigen Erziehung. Du aber hast dich selbst
durchgerungen, bist in der Welt herumgekommen wie kaum einer, und hast
doch nicht den Mut der eigenen Ueberzeugung gehabt! Vater, Vater, du
weißt nicht, was ich gelitten!! Vom ersten Tage der Ehe an war es ein
Kampf! Ich ließ mich betören von euren Reden, ihr wolltet ja stets
keine Verantwortung übernehmen, das war euch das Wichtigste. Ich
glaubte eueren Vorstellungen, ihr spieltet ja so breit euere Erfahrung
auf, und ich war ein unerfahrenes Kind, das kaum wußte, was Liebe sei.
So bin ich euch gefolgt! Ich war meinem Manne stets nur ein Mittel
seiner Leidenschaft und seiner Berechnung. Deinem Schwiegersohne
öffneten sich viele Türen, die vordem verschlossen gewesen! Oft
hab' ich innerlich geschäumt, wenn er gegen dich den Hochgeborenen
herausdrehte und du es dir bieten ließest in deiner Schwäche. Vater,
weißt du, was es heißt, an einen Menschen gekettet sein, den man haßt?«
Ihre Augen sprühen Blitze. »Nächtelang bin ich neben ihm gelegen und
habe geflucht: ihm und mir. Vor dem Altar, als er uns auf ewig verband,
hat der Priester Gottes Worte gesprochen: ‚Wenn mich zwei Menschen
in der Liebe um etwas bitten, es soll ihnen gewährt sein.’« Wieder
schüttert ihr schrilles Lachen. »Ja, ich habe gebetet -- aber nicht um
ein Kind, nein, um unser beider Tod!«

Sie tritt näher. Wie eine Mahnung klingen ihre Worte:

»Du bist auf falschen Wegen mit all den Deinen! Es ist die letzte
Stunde, Vater, kehr' um, ehe es zu spät ist. Leo ist tot. Wer wird der
Nächste sein? Willst du die ungeheure Schuld tragen, mit starrem Sinn
ins Unglück rennen? Hör' nicht auf Fred, hör' auf niemanden, hör' nur
auf dich allein!« Sie faßt mit schlagenden Armen ihres Vaters Rechte.
»Laß Hilde mir nicht nachfolgen, laß es genug sein an mir!«

Sie hebt den Kopf in atemloser Spannung.

Die Hunde vor dem Hause schlagen an; die rauhen Stimmen zerreißen die
Stille der Nacht.

Ihr fällt der Kopf nach rückwärts. Klaus Tiedemann horcht, sein Kind in
den Armen.

Wüste Rufe kommen näher.

Er sieht in Clos starre Augen, die tief in ihren Höhlen liegen. Sein
Kopf ist dumpf, ein eiserner Druck hält ihn gefangen.

Das ist die Frucht seines Lebens!

Tief beugt er sich herab: ihre Blicke hängen ineinander. Nicht Vater
und Kind sind es, die nun rechten, es ist Mann und Weib.

»Höre mich!« Schwer kämpft sich Tiedemanns Stimme aus der Brust.
»Ich bin aus niederem Stande und hab' vieles erst im späten Leben
kennengelernt, was euch als Kinder schon geläufig war. Ich hab' lange
Jahre nur den Gedanken gehabt, Geld zu verdienen und dadurch etwas in
der Welt zu werden.«

Er stockt und will schweigen, doch die lauten Rufe lösen ihm die Zunge;
sie prallen an die Wände und hallen in langen Wellen. Wer weiß, ob er
überhaupt in wenigen Minuten es noch wird sagen können? Das Geheimnis
seines Lebens!

Mit heiserer Stimme, den Blick scheu um sich werfend, keucht er:
»Ich war auch ein Mensch von Fleisch und Blut und hab' geglaubt an
den Inhalt der Welt! Ich hab' mir ein Weib genommen aus niederem
Stande, wie ich es selbst war, drüben über dem Wasser. Sie sollte mir
beistehen, sollte mir die trüben Gedanken scheuchen, wenn ich müde nach
Hause kam. Und sie hat es getan -- ein paar Jahre lang. Da hab' ich
den Grundstein gelegt. Da hab' ich Riesenkräfte gehabt. Dann haben wir
ein Kind bekommen -- Gerhard. Nun hab' ich erst recht gewußt, wofür
ich arbeite. Wochenlang hab' ich keinen anderen Gedanken gehabt als
Geschäft und Geld! Nicht aus Habsucht, nein; für meine Familie! Ich
hab' wenig Zeit gehabt: Da hab' ich's nicht merken können -- in meinem
eigenen Haus!«

Die Stimme überschlägt sich. Unten heulen die Hunde gegen das Gitter.

»Sie hat mich betrogen, ist mit einem anderen davon, hat mich allein
gelassen mit meinem Kinde. Damals«, Klaus Tiedemanns Stimme hob sich,
»hab' ich den Glauben abgeschworen, hab' ich alles von mir getan. Keine
Plage war mir zu viel gewesen; jede Erniedrigung hab' ich ertragen für
mein Weib, das war mein Lohn! Mich hat es drüben nicht mehr gelitten,
ich bin herüber, hab' mein Kind im Stich gelassen und alles andere. Vom
Anfang hab' ich wieder begonnen. War es früher Ehrgeiz, der mich trieb,
so war es nun Haß! Ich bin schwindelnd gestiegen; sie sollte von mir
hören da draußen irgendwo in der Welt, sollte sich eingestehen müssen,
daß sie einen schlechten Tausch getan ... So bin ich einsam geblieben
lange Jahre; dann hat mich wieder die alte Sehnsucht gefaßt, ich wollte
Frau und Kind haben. Doch nun wollte ich der Herr sein, darum hab' ich
mir ein Weib gekauft -- deine Mutter! Es war Wahnsinn, aber Wahnsinn
aus bitterer Seelennot. Ich erwartete nichts mehr, sie gab mir nichts.
Ich wollte nur euch, auf euch hab' ich alles übertragen, was die andern
von mir nicht nehmen wollten -- meine Liebe. Ich war stets unscheinbar,
meine Geburt hing an mir mit eisernen Ketten, -- so wollte ich mir
in euch jemanden ziehen, der an mich glaubte. Ich hab' eure Mutter
unterschätzt. Sie entriß mir Stück um Stück. Da hab' ich zum Schluß in
alles gewilligt; mein Leben war im unnützen Kampfe vertan.« Mit starren
Augen sah er zur Erde. »Einst hab' ich an Liebe geglaubt, da ward' ich
betrogen; da ich anders dachte, erst recht!« Er bricht jäh ab; die Tür
fliegt auf: Gerhard steht auf der Schwelle. »Sie sind da!«

Ein Hagel von Steinen zerschellt die Fenster. Dumpfes Geheul, das
durch die zerbrochenen Scheiben sich doppelt und dreifach verstärkt,
übertäubt das Todesgewinsel der niedergeschlagenen Hunde.

Ein Schuß fällt aus dem unteren Stockwerk.

»Der Jäger.« Clo Lecart zerrauft sich das Haar; ihre schrillen Schreie
erschüttern Vater und Sohn, ihre bebenden Lippen stammeln irre Laute.

Scheiben klirren, Steine fliegen.

»Hilfe!« Clo krallt sich in ihres Vaters Kleider. »Hilf, Vater! Dein
ist die Macht, und dein ist die Herrlichkeit, dein Wille geschehe auf
Erden, vergib uns unsere Schulden.« Ihre Augen flackern.

Klaus Tiedemann steht regungslos und horcht dem donnernden Toben der
Menge, das näher dringt und näher.

»Da!« Mit zitternden Händen preßt ihm sein Kind die Waffe in die
Hand. »Ich hab' sie lange getragen, ich war zu feig dazu; rette mich
Vater, rette mich! Das Leben ist so schön, und ich bin noch so jung.«
Wimmernd kriecht sie auf dem Boden und schlägt sich die Brust. »Zu uns
komme dein Reich. Unser täglich Brot gib uns heute.«

Klaus Tiedemann hebt den Kopf. Die Waffe klirrt zu Boden.

Gerhard reißt sie an sich. Wieder steht er regungslos.

Sein Vater hat die Tür geöffnet und ist auf den Balkon getreten.

Tobendes Brüllen und Geschrei empfangen ihn; Steine prasseln.

Der Garten wimmelt von Menschen.

»Leute!« ...

Sie heben die Köpfe; noch zweimal wiederholt er den Ruf.

Seine Stimme übertönt die Menge und hallt weit über die Fläche.

Sie stoßen sich an; murrend faßt die Hand fester den Stein.

»... Seid ihr Menschen oder seid ihr wilde Tiere? Seid ihr Vater und
Mutter, habt ihr Weib und Kind, oder seid ihr tolle Hunde? Habt ihr all
eure Vernunft vergessen, daß ihr nicht des Morgens denkt? Wollt ihr ein
Leben lang im Kerker sitzen? Seid ihr Mörder oder Arbeiter? ...«

Mit donnerndem Prall fährt seine Stimme über die Menge.

»... Ihr seid betrogen und belogen. Wen sucht ihr? Lecart ist nicht
hier! Ein großes Unglück ist geschehen; doch wir sind alle Menschen,
und jeder Augenblick kann uns den Tod bringen. Wenn jemand die Schuld
trägt an eurem Unglück, es soll gesühnt werden. Lecart wird seiner
Strafe nicht entgehen. Das sage ich euch, Klaus Tiedemann, der so
arm war wie ihr, der sich aus eigener Kraft herausgerungen hat, ohne
deswegen glücklicher zu werden. Jede Witwe und jede Waise, jeder, der
Einbuße an seiner Gesundheit litt, soll reichlich entschädigt werden.
Dafür habt ihr mein Wort! Wir wollen gemeinsam trauern und die Toten
begraben. Was kann der Mensch anderes tun? Was wollt ihr sonst? Wollt
ihr das Weib, das weinend drin auf dem Boden liegt und die Gemeinschaft
mit ihrem Manne verflucht? Wollt ihr meinen Sohn morden, der mit euch
die Toten bergen half, der denkt wie ihr, der mit demselben glühenden
Haß gegen mich ausgerüstet ist wie ihr? Mich?« Klaus Tiedemanns Stimme
wird leise. »Mich? Wenn ihr wollt, so tut es, mir ist nicht leid um
mein Leben; ich hab' Schweres erlitten und meine Kinder nicht glücklich
gemacht.« Wieder hebt er den Kopf; er sieht Hunderte von Augen auf sich
gerichtet, sie geben ihm alte Kraft. »Aber _eines_ müßt ihr bedenken!
Ich zahle das Geld, das euere Witwen und Waisen erhalten soll, Lecart
tut es nicht, kann es nicht! Wollt ihr die Eueren bestehlen? Was bleibt
euch? In wenigen Stunden werden die Gendarmen hier sein; schon sind sie
unterwegs. Sie werden schrecklich Gericht halten, und ihr werdet noch
mehr zu beweinen haben als jetzt. Kehrt ihr in Ruhe zurück, so soll
keinem ein Haar gekrümmt werden, ich selbst will Fürbitte einlegen. Der
Lohn soll erhöht werden. Ihr könnt euere Bitten vorbringen, von heut
ab bin ich euer Herr! Nicht vergessen will ich, daß ihr Menschen seid!
Seht nach eueren Toten! Ich komme zu euch. Ich werd' euch helfen, die
schwere Last zu tragen.« Klaus Tiedemann beugt das schneeige Haupt
hinab; sein Blick überfliegt die Reihen, die in tiefer Stille stehen;
polternd fallen ein paar Steine zu Boden. »Und glaubt mir, nicht Geld
macht glücklich; ich war es mehr, als ich arm war und als ich lebte wie
ihr. Laßt Haß und Neid beiseite, da drüben liegen die Toten! Wer weiß,
wie die jetzt reden würden ...«

Er schweigt.

Von unter klingt gedämpftes Flüstern und Scharren vieler Füße.

Die Gruppen lösen sich.

Klaus Tiedemann tritt zurück.

Durch das ungewisse Mondlicht glänzen ihm Gerhards Augen entgegen.


Gleich am nächsten Tage war Clo Lecart zu ihrer Schwester gereist. Nur
weg vom Besitze Lecarts!

Es war ein stummes Wiedersehen.

Sie sprachen wenig.

Hilde war erst besorgt gewesen, ihre Schwester die schrecklichen
Stunden, die sie mitgemacht hatte, vergessen zu lassen. Doch zu allen
Versuchen schüttelte Clo traurig den Kopf:

»Laß gut sein, Hilde, das wird für mich nimmer anders.«

Nach solchen Worten sah sie wieder mit starren Augen in das Grün des
Waldes, der sich mit herbstlichen Farben zu schmücken begann.

In Hilde war frohe Zuversicht, seitdem sie von Hansens Werk wußte.

Sie hoffte auf die Zukunft mit allen Nerven des liebenden Weibes.

Auch Vater mußte nun einsehen, daß er sich in ihm getäuscht hatte, daß
seine Ansichten irrige gewesen.

Klaus Tiedemann hatte wenig Zeit für seine Kinder.

Es gab viel zu tun durch Lecarts Zusammenbruch.

Als sie sich das erstemal wieder gegenüberstanden, hatte Lecart den
alten Ton versucht. Doch Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf:

»Jetzt reden wir anders.«

Lecart wollte nicht einsehen, daß er seine Rolle ausgespielt hatte.
Mein Gott, dachte er, die Zeche, die ließ sich wieder in Betrieb
setzen, die Geldgeber warteten schon, wenn Klaus Tiedemann hinter ihm
stand. Der würde doch nicht den Skandal vor aller Augen wollen, und
überhaupt was sagte Clo zu all diesem?

Als er Tiedemanns Antwort erhielt, senkte er den Kopf, um eine Nuance
bleicher:

»Das sind Ausgeburten kranker Nerven; ich verstehe dich nicht, wie du,
ein klar und nüchtern denkender Mensch, so etwas glauben kannst.«

Klaus Tiedemann schüttelte den Kopf:

»Sie ist ein armes, durch uns beide ruiniertes Geschöpf.«

Lecart kannte seinen Schwiegervater nur mehr in wenigen Zügen. Er war
ein anderer geworden seit jener Schreckensnacht.

Es schien, als sei er sich seines Menschenwertes erst klar geworden,
als er allein gegen die Masse stand, und doch obsiegte.

Nun trug er den Kopf aufrecht und brach mit manchem, das er früher
geduldet hatte.

Ein neuer Hauch war in sein Haus eingezogen.

Gerhard und er saßen oft bis in die Nacht hinein: sie besprachen die
Zukunft des Lecartschen Besitzes.

Auch die Mansbergschen Fabriken standen still.

Bei der zuständigen Bergbehörde war Anzeige gegen Lecart
erstattet worden wegen Fahrlässigkeit in den Ventilations- und
Sicherheitseinrichtungen. Es hieß, er hätte alle Vorschriften außer
acht gelassen, um nur möglichst viel aus seinen Gruben herausschlagen
zu können.

Mehr als neunzig Menschen hatten bei dem Raubbau ihr Leben gelassen.

Lecart lachte über die Anklagen. Gegen welchen Herrn waren die Arbeiter
nicht? Doch es war ein häßliches, gezwungenes Lachen.

Auch über die Spiritusfabriken wußte er keine rechte Auskunft zu geben.

Es war eben eine verunglückte Spekulation. Die Baisse war allzuschnell
gekommen; da war es klüger, man ließ den Betrieb ruhen.

Fred Tiedemann hätte mit ein paar Worten Aufklärung geben können,
doch er kam erst in zwei Wochen zurück. Er schrieb begeisterte
Ansichtskarten von seiner Tour. Auch zum Dichten hatte er sich
aufgeschwungen:

»Man wird ein anderer Mensch in der freien Natur, das sieht man an
jedem Bauernbua ...«

Die Karte trug der Wolny Unterschrift.

Fred beteiligte sich noch an einer Tourenkonkurrenz, bevor er
heimkehrte:

Der Automobilklub des Nachbarstaates unternahm einen Besuch in die
befreundete Hauptstadt.

Mehr als hundert Herren der ersten Gesellschaftskreise galten als
Teilnehmer. Auch ein Prinz des kaiserlichen Hauses hatte gemeldet. Da
durfte Fred Tiedemann nicht fehlen.

In einer Nachschrift schrieb er, daß er von Lecarts Mißgeschick in
einer Zeitung gelesen hätte und daß er hoffte, daß dies Unglück weiter
keine unangenehmen Folgen haben würde.

Mit lauten Worten sprach Hilde ihren Aerger über Freds Art aus, doch
Klaus Tiedemann riet zur Mäßigung.

Er begann sich wieder ins Geschäft einzuleben. Keiner hielt strenger
die Arbeitsstunden ein als er.

Vieles war zu erledigen und zu besprechen.

Die Gläubiger Lecarts drängten auf Klärung seiner Lage, sie wollten
ihre Schritte danach einrichten. Wenn ihn sein Schwiegervater nicht
hielt, war er verloren.

Klaus Tiedemann wollte alles möglichst rasch zu Ende bringen, schon um
Clos willen, die von Tag zu Tag nervöser wurde.

Die Ehegatten hatten sich seit Lecarts unfreiwilliger Rückkehr nicht
gesprochen.

Keiner der beiden Teile verlangte danach. Die Abrechnung kam ...


Klaus Tiedemann sah abermals zur Tür und horchte.

»Lecart ist noch immer nicht da.«

Gerhard saß ihm gegenüber und nickte.

Görnemann hatte eine zweistündige Besprechung mit seinem alten Chef
gehabt.

Es war ihm nun leichter ums Herz, er hatte sich alles Drückende von der
Seele geredet.

Klaus Tiedemann grübelte und blätterte in den Papieren, die den Tisch
in hohem Stoß bedeckten.

Große Summen standen auf dem Spiel:

»Ich verstehe nicht, wieso Fred die Fabriken so stark belehnen konnte;
es ist ja mehr, als sie überhaupt wert sind!«

»Das war stets unser Streit, Vater; ich hätte keinen Heller gegeben.«

Klaus Tiedemann seufzte:

»Wenn wir sie übernehmen, ist der Verdienst von ein paar Jahren hin.«

»Und doch werden wir es tun müssen.«

Wieder schwiegen beide.

Gerhard hatte einen Bleistift ergriffen und rechnete auf einem Blatt
Papier herum.

Es war ganz still; nur vom Vorraum hörte man das Klingeln des Telephons.

Dann hob Gerhard den Blick:

»Wir sind die Hauptgläubiger; wenn wir alles aufgeben, verlieren wir
zuviel! In ein paar Jahren kann man wieder anfangen zu verdienen; wir
haben ja manches Etablissement, das passiv ist.«

Nachdenklich sagte sein Vater:

»Nur sehe ich kein Mittel, wie man das Ganze wieder hoch bringen kann.«

»Doch, Vater, du mußt bedenken, daß er alles hat verkommen lassen, daß
er von der Fabrikation nichts versteht. Er hat die Fabriken doch nur
gekauft, um seinen Gläubigern damit die Augen auszuwischen -- alles
andere war ihm gleich. Wenn man geschickt arbeitet und die Schnaps- und
Branntweinproduktion auf ein bescheidenes Maß einschränkt, so läßt sich
viel erreichen. Ich würde das Hauptgewicht auf die Spiritusfabrikation
legen. Spiritus kann heutzutage die Konkurrenz mit allen flüssigen
Brennstoffen aufnehmen. Der Nutzeffekt ist glänzend, die Herstellung
nicht allzu teuer und die Preise nicht schlecht. Da läßt sich schon
etwas machen. Als Ersatz für Benzin und Petroleum hat er große Vorzüge.
Bei unserer ausgedehnten Landwirtschaft können Spiritusmotoren als
Lokomobilen ausgezeichnete Verwendung finden. Natürlich müßte man
die Kartoffeln soviel als möglich selbst bauen. Zum Beispiel in den
Kohlenrevieren; statt daß man Getreide baut oder Wiesenland läßt,
müßte man alles in Kartoffeläcker umwandeln. Das Klima und der Boden
sind günstig die Fracht ist billig -- auf die Art könnte man beide
Unternehmungen gewissermaßen vereinigen.«

Klaus Tiedemann nickte:

»Hätte man das vor Jahresfrist getan, so stünde die Sache anders.« Er
trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch und seufzte. »Na, wer weiß,
wozu die Sache gut ist! ...«

Er sprach nicht weiter, denn Lecart trat ein:

»Guten Tag!«

Er sah schlechter aus als sonst.

Als ob nichts geschehen wäre, bot er Tiedemann die Hand; Gerhard
ignorierte er in alter Gewohnheit.

Er reichte seinem Schwiegervater das Tabatiere, das voll von Zigaretten
war:

»Willst du dir nicht nehmen? Ich habe sie erst heute frisch bekommen!«

Als er keine Antwort erhielt, zündete er sich selbst eine Zigarette an
und legte die Beine übereinander, daß das magere Bein im schottischen
Strumpfe sichtbar wurde. Den Rauch vor sich hin blasend, sagte er dann:

»Also machen wir die Sache rasch ab!«

Klaus Tiedemann nickte.

»Ich würde am liebsten _allein_ mit dir sprechen«, sagte Lecart.

»Gerhard bleibt!«

»Bitte«, mit nachlässiger Bewegung warf sich Lecart in den Sessel
zurück und sah nach dem Plafond.

Das hatte er denn doch nicht notwendig, sich von den Pfeffersäcken
etwas gefallen zu lassen!

Es war gerade genug, daß er ihnen Rede stand!

Tiedemann wich Gerhards Blicken aus.

Er ordnete die Papiere und legte sie vor Lecart:

»Hier hast du die Schuldverschreibungen und alles bezüglich der
Mansbergischen Liegenschaften.«

Lecart tat einen kurzen Blick:

»Das kenn' ich. Was weiter?« Er warf die Lippen auf und schob die Hand
in die Tasche.

Aerger überkam Klaus Tiedemann über des anderen Art, doch er zwang sich
zur Ruhe:

»Du mußt dich jedenfalls äußern, wie du dir die Zukunft denkst.«

Lecart lachte spöttisch. »Das ist gerade so, als wenn die Henker des
Delinquenten Pläne für sein späteres Leben anhören. Die Vorschläge mußt
wohl du machen.«

Der Alte schüttelte den Kopf:

»Es ist dein Besitz, um den es sich handelt.«

»Auf dem Papier!«

»Da hast du leider recht.« Tiedemanns Stimme ward lauter. »Wäre es nach
mir gegangen, wir hätten diesen traurigen Ruhm nicht. Du mußt großen
Einfluß auf meinen Sohn ausgeübt haben, daß er dich so unterstützte.«

Lecart lachte höhnisch: »Einfluß? -- Ich bin schließlich sein Schwager,
und«, er sah verächtlich auf die beiden vor ihm Sitzenden, »der einzige
in der Familie, der ihn versteht und ihn unterstützt, in bessere
Kreise zu kommen.«

»Mit meinem Geld!«

Drohend sah ihn der Alte an; überrascht wendete Lecart den Kopf: Was
war das für ein Ton? »Du sprichst, so gut du es eben verstehst,« sagte
er hochtrabend, »das entschuldigt dich.«

Des Alten Stirn färbte sich dunkelrot: »So wirst du bei mir nichts
ausrichten; entweder du redest vernünftig mit mir, oder ich übergebe
alles deinen Gläubigern; die sollen dann machen, was sie wollen.«

»Parbleu, das wäre das Rechte,« die Zigarette entfiel des anderen
Hand, »das ist dein Ernst doch nicht?« Er sah erschreckt auf seinen
Schwiegervater.

»Mein _voller_ Ernst!«

Lecart litt es nicht länger auf dem Sessel; mit langen Schritten
durchmaß er das Zimmer; sein Blick blieb auf Gerhard haften. In Haß
blitzten seine dunklen Augen:

»Ich habe dir schon vorhin gesagt, ich spreche nur mit dir allein!«
schrie er.

Als keine Antwort kam, wiederholte er die Worte:

»... Hast du verstanden?«

»Gerhard bleibt!«

Charles Lecart stampfte den Boden:

»Dann bringst du kein Wort aus mir heraus.«

»Es ist nur dein Schade.«

Sie saßen schweigend.

Nach geraumer Weile fragte Klaus Tiedemann:

»Kannst du nicht Clos Mitgift zur Deckung verwenden?«

»Clos Mitgift? Die ist lange hin.«

Klaus Tiedemann legte den Kopf in die eiskalte Hand. Jeder Nerv zuckte
an ihm; doch es galt diesen Kampf mit starkem Willen zu Ende zu führen
-- seines Kindes wegen.

Clos Mitgift war eine hohe Summe gewesen, mit deren Zinsen beide in
Ruhe hätten ihr Leben verbringen können.

»Wie ist das zugegangen?« fragte er.

»Wie das zugegangen ist? Sehr einfach: Wir haben vom Kapital gelebt.
Meine Frau ist nicht die billigste; sie ist mit merkwürdig hohen
Ansprüchen in die Ehe getreten. Woher sie das hat, weiß ich nicht, von
dir gewiß nicht!«

»Alles zugegeben.« Klaus Tiedemann überhörte geflissentlich des anderen
Ausfälle. »Aber in so kurzer Zeit?«

»Ich hab' Schulden zu bezahlen gehabt, dann die Reisen und die
Repräsentationspflichten. Sah Clo einen Schmuck, so mußte sie ihn
haben. Oft mußten wir dreifache Wohnung bezahlen; hier in der Stadt, in
irgendeiner Pension und auf dem Lande. Clo hat nichts vom Wirtschaften
verstanden; sie ist wie eine Prinzessin aufgewachsen.«

»Clo hat gewiß nicht die Hauptschuld, du hast hoch gespielt.«

»Wer sagt das?«

»Ich weiß es!«

»Hat es meine Frau gesagt?« Er bekam keine Antwort. »Natürlich weißt
du es von ihr! Ich sollte wahrscheinlich wie ein Hund leben, wenn ihr
die Herren spieltet? Bitter genug, daß ich von euch das Almosen nehmen
mußte.«

»Vielleicht wäre es für beide Teile besser, du hättest es nicht getan.«
Klaus Tiedemann warf die Papiere durcheinander. »Lassen wir das
Streiten, wir kommen damit zu keinem Ende. Wir werden die Mansbergschen
Fabriken übernehmen und die übrigen Gläubiger befriedigen.«

Lecart schöpfte neue Hoffnung: »Das ist gar nicht nötig«, sagte er
schnell.

»Es ist besser so.«

»Bitte.«

Klaus Tiedemann neigte sich vor; er sah ihn erwartungsvoll an: »Und was
ist mit den Gruben?«

Lecart war erstaunt: »Ja, wollt ihr mir denn alles abnehmen?«

»Das wird sich erst zeigen.«

»Wieso?«

»Du weißt, daß gegen dich Anzeige erstattet ist.«

»Was weiter?«

Klaus Tiedemann blickte ernst: »Du mußt wissen, ob 'was Wahres daran
ist. Davon hängt alles ab.«

Ueber Lecarts hageres Gesicht lief ein nervöses Zucken: »Was meinst du?«

Durchdringend ruhten des alten Mannes Augen auf ihm: »Du verstehst
mich ganz gut. Ob eine Schuld deinerseits vorliegt oder nicht?«

»Das fehlte gerade noch.« Lecart ließ die Hand auf den Tisch fallen.
»Woher hast du den Unsinn? Was soll ich für eine Schuld haben?«

»Clo hat davon gesprochen.«

»Clo?« Lecart lachte trocken und netzte die Lippen. »Wovon?«

»Du sollst die Vorschriften außer acht gelassen haben.«

»Albern; die hält nicht einer von uns genau ein.«

»Darum handelt es sich jetzt nicht; ich muß wissen, ob ich mit
ehrlichem Gewissen für dich, das heißt für Clo, eintreten kann oder
nicht.« Klaus Tiedemann sah sinnend vor sich nieder. »Ich habe
Beziehungen, welche dir eventuell nützen könnten, um das Gerede zum
Schweigen zu bringen.«

»Das wäre mir sehr recht.« Lecarts Stimme wurde geschmeidig. »Dafür
wäre ich dir sehr dankbar. Wer sind die Herren, die mir behilflich sein
können?«

»Das wird sich finden.« Nachdenklich strich sich Klaus Tiedemann die
faltige Wange; die Hand, die auf der Tischplatte lag, zitterte: »Also,
ich kann dir glauben?«

»Ja.«

»Laß, Vater!« Gerhard Tiedemann machte eine jähe Bewegung; er hatte
bisher regungslos gesessen. Sein Blick traf Lecart: »Sie lügen!« sagte
er ruhig.

Lecarts Augen wurden klein; sie funkelten wie die eines Raubtieres.
Auch Klaus Tiedemann war zusammengefahren, in seiner erkünstelten Ruhe
jäh gestört. Hastig, fragend flogen seine Blicke von einem zum anderen.

»Sie werden das zu beweisen haben«, kreischte Lecart und trat einen
Schritt näher.

»Ich spreche nichts, das ich nicht schwarz auf weiß vor mir habe.«

Gerhard wich dem Blick des anderen nicht aus; seine grauen Augensterne
hielten ihn im Schach. Mit unsicherer Stimme, aus der verhaltene Wut
klang, fragte Lecart: »Wo sind die Beweise?«

»Sie werden Ihnen nicht unbekannt sein.« Ein roter Fleck begann auf
Lecarts gelber Wange zu brennen. »Waren die Ventilationsschächte in
Ordnung?«

Lecart preßte die schmalen Lippen zusammen: »Ja.«

»Sind Sie dessen sicher?«

»Die Kommission hat es bestätigt.«

»Das heißt gar nichts. Sie haben als Grubenbesitzer allzuviel Einfluß
auf deren Zusammensetzung, und überdies kann sich die Kommission
getäuscht haben.«

Lecart war bleich geworden: »Das kommt nicht vor.«

»So sagen wir, sie ist getäuscht worden!«

Lecart streckte den Kopf weit vor, seine Augen waren drohend
aufgerissen, die Adern am mageren Hals schwollen an unter dem
stürmischen Herzschlag:

»Wer gibt Ihnen das Recht, so mit mir zu sprechen?« keuchte er.

Gerhard stand auf und faltete ein Papier auseinander; er sah zu seinem
Vater hinüber: »Die Kommission hat richtig entschieden. Sie haben
recht. Auf den ihr vorgelegten Plänen und Rissen sind die Luftschächte
vollkommen entsprechend eingezeichnet, aber«, er hob die Stimme, »die
Kommission konnte nicht wissen, daß in Wirklichkeit seit Monaten der
wichtigste Luftweg verschüttet sei; so hat man sie und die Arbeiter,
die gehorchen mußten, betrogen!«

Mit kreidebleichem Gesicht fuhr Lecart an des anderen Gurgel. »Du
sollst es büßen, mir so etwas gesagt zu haben.«

Mit starken Händen fing Gerhard die schlagenden Arme. Er warf Lecart
zurück. Mit zuckenden Lippen sagte er: »Hier hast du, Vater, deine
Familie!«

Der alte Mann regte kein Glied; er starrte vor sich nieder.

Minuten vergingen.

Lecart ordnete seine Kleider; sein hastiges Atmen klang laut durch die
Stille. Wie die Augen einer Katze, die auf der Lauer liegt, glimmten
seine Pupillen. So standen sie eine Weile sich gegenüber.

Dann klang ein stöhnender Laut -- sie sahen nach dem alten Mann.

Klaus Tiedemann richtete sich auf.

Ein harter, erbarmungsloser Zug war um seinen Mund.

»Die Gruben gehen in unseren Besitz über,« sagte er, »du hast mit allem
nichts mehr zu schaffen. Was du getan hast, trennt dich auf ewig von
mir. Einen Betrüger beherbergt meine Familie nicht.«

Lecart wollte auffahren. Drohend trat der alte Mann vor ihn; seine
kleine Gestalt schien zu wachsen:

»Clo wird mit sich ins reine kommen müssen. Ebenso du! Nur drängt für
dich die Zeit, du kannst nach alldem nicht verlangen, daß ich für dich
aussage. Gerhard und Clo haben von dem furchtbaren Betrug gesprochen.
Ich hab' es nicht geglaubt, trotzdem die Beweise nur allzu klar lagen.
Ich habe noch immer an einen Irrtum gedacht.« Er schüttelte den Kopf
und ballte die Faust. »Ich hätte dich gehalten, so schwer mir's
auch gewesen wäre, hättest du dein Unrecht eingestanden; du hast es
nicht getan.« Er maß Lecart von Kopf zu Füßen. »Ich bin zwar nur ein
Kaufmann, der schlichte Manieren hat; so kann ich weiter nicht raten,
aber Sie werden, Baron Lecart, Mittel und Wege finden müssen, sich vor
dem Kerker zu schützen, in den Sie gehören. Das wird Ihnen ja nicht
so schwer fallen, Sie sind stets findig gewesen.« Er wandte ihm den
Rücken. »Ich glaube, wir sind fertig.«

Mit festen Schritten ging Klaus Tiedemann zur Tür; die Tränen standen
in seinen Augen.


Schon am nächsten Tage schrieb Lecart. Das Kuvert trug seiner Familie
Wappen. Er schrieb in knappen Worten, daß er nach dem, was vorgefallen
sei, es als selbstverständlich ansähe, das Haus nicht mehr zu betreten,
in welchen er derartigen Invektiven ausgesetzt sei. Er bedauerte
nur, daß ihm keine anderen Mittel als seine Verachtung zur Verfügung
stünden. Den Rechtsweg wolle er mit Rücksicht auf seine arme Frau
und die Gesellschaft nicht betreten. Zum geschäftlichen Teile seines
Briefes übergehend, teile er mit, daß er alle Angelegenheiten seinem
Rechtsfreund übergeben hätte, da der gestrige rohe Auftritt seinen
ohnehin alterierten Nerven den Rest gegeben hätte. Er zöge sich
auf unbestimmte Zeit in ein Sanatorium zurück, um seine Gesundheit
womöglich wiederherzustellen, deren schlechter Zustand ihn auch bewogen
hätte, sich auf einige Zeit seines freien Verfügungsrechtes zu begeben.
Er habe seinen Advokaten zu seinem Kurator bestellt und ersuche, sich
in allen Dingen an diesen allein zu wenden, da er nunmehr vollkommen
ausgeschaltet sei. Mit Rücksicht darauf werde auch die gegen ihn
schwebende Klage hinfällig.

Noch am selben Nachmittag fuhr Klaus Tiedemann zu seiner Tochter.

Es war ein schwerer Weg, und doch ging er aufrechten Hauptes durch den
hochstämmigen Laubwald, durch welchen der Weg von der Bahnstation aus
führte.

Die Buchen rauschten um ihn, und er atmete in tiefen Zügen, als wolle
er all den Dunst und die Häßlichkeit der Stadt aus seinem Innern
vertreiben.

Ruhe lag über dem herbstlichen Grün und senkte sich über sein Wesen mit
lindem Hauch.

Ein alter Bauer, das Gewehr auf der Schulter, kam ihm entgegen. Ein
großer Hund trottete hinter ihm drein, sie sahen beide zufrieden aus.

Kinderstimmen hallten zwischen den hohen Stämmen des Waldes. Sie
gehörten Ausflüglern an, die für wenige Stunden der lärmenden Großstadt
entflohen waren.

In schwerem Fluge schwang eine Krähe sich über die Lichtung; noch lange
klang ihr rostiger Schrei.

Bald war Tiedemann am Ziel.

Er öffnete die Gartenpforte.

Auf dem Vorplatz war ein Ruhesessel in die Sonne gerückt. Clo ruhte
darauf; Hilde saß daneben und las aus einem Buche vor.

Als sie seinen Schritt auf dem Kies hörte, stand sie rasch auf; auch
Clo hob den Kopf.

»Bleibt sitzen!« Er winkte ihnen zu und kam näher.

Clo war bleich, ihr Gesicht trug einen leidenden Zug; trotz der warmen
Herbstsonne hatte sie eine Decke über die Knie gezogen.

Sie sprachen von gleichgültigen Dingen, von den wenigen Neuigkeiten,
die sich in den letzten Tagen zugetragen hatten:

Gestern nachmittag hatte es gewittert; darauf war die Temperatur
plötzlich stark gefallen. Heute früh war es kühl gewesen. Die Schwalben
sammelten sich bereits zum Flug.

Sie sprachen mit leiser Stimme und sahen aneinander vorbei.

Klaus Tiedemann hatte auf seinem Wege gefällte Stämme bemerkt; nun
redete er davon.

Clo gab rasche Antwort: man baute einen Fahrweg durch den Wald zur
neuen Anstalt.

Klaus Tiedemann fragte, welchem Zweck der Neubau dienen werde. Hilde
gab keine Antwort; sie machte hinter seinem Rücken ihrer Schwester
Zeichen, zu schweigen. Die bemerkte es nicht.

»Für Lungenkranke im ersten Stadium.«

Besorgt sah Hilde auf ihren Vater, sie mied jedes Wort, das ihn an Leos
frühes Ende erinnern konnte.

Doch sie schien sich getäuscht zu haben. Mit ruhigen Worten sprach er
weiter.

Dann legte er die schwere Hand auf die Armstütze von Clos Sessel:

»Hat dir Lecart geschrieben?«

»Nein«, ihre Lippen wurden schmal.

»Da lies«, er reichte ihr den Brief und sah zu Boden, auf dem Ameisen
hin und her krochen.

Mit leisen Schritten ging Hilde davon.

Er nickte ihr zu, dann sah er in scheuer Erwartung zu Clo.

Sie hatte den Mund halb geöffnet. Röte erschien auf ihren schlaffen
Wangen.

Noch einmal überflog sie die wenigen Zeilen, dann ließ sie das Blatt
sinken:

»Siehst du Papa? ...«

»Ja Kind!« Er stützte den Kopf in die Hand: »Was soll nun werden?«

Sie zuckte die Achseln.

Ein leiser Hauch ging über die Bäume, ein paar dürre Blätter wehten
über ihre schmale Hand.

Dann trat ein trotziger Zug um den feinen Mund:

»Ich laufe ihm nicht nach.«

»Nicht so!« Klaus Tiedemann rückte näher, sein eigenes Leben stand ihm
vor Augen: das ließ ihn milde Worte finden: »Du mußt gerecht sein; es
ist so viel zu gleicher Zeit auf ihn eingestürmt, daß er Nachsicht
verdient.«

»An mich hätte er denken können.«

»Gewiß, Kind, aber ...«

Sie warf den Kopf zurück:

»Nichts, Papa, glaube mir, nichts, er war stets so.«

Wieder schwiegen beide.

»Und sage mir, Papa: er hat nicht zu widersprechen versucht, hat nicht
den Willen gehabt, aus eigener Kraft das Unglück gutzumachen?«

»Nein!«

Sie richtete sich auf: »So sind wir fertig!«

»Nicht so,« bat er mit sich selbst im Widerstreit.

Heftig widersprach sie:

»Was soll sonst werden? Soll ich an seiner Seite weiter leben, da er
sich in seiner ganzen Erbärmlichkeit gezeigt hat? Das kann ich nicht!«

»Das verlangt auch niemand von dir.«

»Und auch später nicht, nie mehr!« Ein nervöses Zucken lief über
ihr Antlitz: »Hätte er alles eingestanden und mich gebeten,
ihm beizustehen, ich hätte es getan. Nichts hätte mich davon
zurückgehalten. Aber so, da er sich feige allem entzieht, nein das kann
ich nicht! ...«

Klaus Tiedemann senkte den Kopf. Er fand keine Widerrede. Es war sein
eigenes Denken.

Sein Fuß zeichnete Kreise auf Kreise in den Kies.

Tiefe Stille war um die beiden.

Mit fliegendem Atem begann sie wieder:

»Du kannst dich, Papa, in meine Lage nicht hineindenken; du weißt
nicht, was es mich für eine Ueberwindung kostete, ihn nicht schon
früher zu verlassen. Doch ich war feig und dachte eng. Hier draußen
ist es mir klar geworden, wie nichtig und lächerlich eigentlich alles
an ihm war, vom Anfang an. Erst flößte mir seine hochtrabende Art, mit
der er jedermann behandelte, Achtung ein, dann nahm ich sie selbst an:
warum weiß ich nicht. Es mag wohl unser Blut gewesen sein. Doch bald
kam die Ernüchterung. Aber nicht einmal mir selbst gestand ich sie zu.
Warum sollten zwei Menschen nicht auch gleichgültig nebeneinander leben
können!«

Klaus Tiedemann nickte.

»Wir ritten gemeinsam spazieren, wir gingen zusammen in Gesellschaften
und aßen vom selben Tisch.« Sie lachte gepreßt. »Wie viele machen es
nicht so, ihr ganzes Leben lang! Auch du und Mama lebtet ähnlich. Das
hielt ich mir stets vor Augen -- warum sollte es bei mir nicht auch so
gehen? Manchmal wollte ich ihn verlassen, nach irgendeiner Szene, von
denen es so viele gab -- doch ich schreckte zurück, aus Angst vor der
Meinung der anderen; es war mir ja so von klein auf eingeimpft worden.«
Sie hob die Hand und betrachtete die Ringe, die feine Rillen in die
Haut zogen: »Erst im Gespräch mit Hilde, erst in den letzten Tagen habe
ich anders denken gelernt. Vater,« sie neigte sich vor, in ihren Augen
war wieder das nervöse Zucken, »steh nicht wider Hilde auf, sie liebt
aus vollem Herzen, zertritt das bißchen Glück nicht, das unsere Familie
noch hat ...«

Er gab keine Antwort, er saß mit hängenden Armen.

Noch immer haftete Vorurteil an ihm. Ein langes Leben waren seine
Gedanken anderen Weg gegangen. Zu weit lag die Jugend zurück:

»Wir wollen nicht von Hilde, wir wollen von dir reden«, sagte er
ausweichend.

»Nun gut.« Sie sah mit forschenden Blicken auf ihn. »Wie denkst du dir
meine Zukunft?«

Er seufzte:

»Du wirst vielleicht anders denken lernen -- milder ...«

»Glaubst du daran?«

Er gab keine Antwort.

»Du glaubst es selbst nicht.« Frei sahen ihre Augen. »Warum sollen wir
nicht einmal nur an uns denken und nicht an die anderen? Er hat mir die
Jugend gestohlen und dir schwere Verlegenheit bereitet. Warum sollen
wir das nicht ändern, wenn es in unserer Kraft ist?«

Erstaunt sah er auf sein Kind.

Sie empfand seinen Blick:

»Ja, Papa, ich bin eine andere geworden -- Gott sei Dank! -- in letzter
Stunde. Der Mensch hat nur kurze Zeit auf Erden, jeder Tag ist ein
unersetzlicher Verlust, den er nicht lebt nach eigenem Gutdünken, und
ich soll mein ganzes Leben verlieren? Nein,« sie stand auf, »Lecart ist
für mich tot!«

»Kind,« stammelte er, »Kind, überlege es dir gut!«

»Da ist nichts zu überlegen! Schau, Papa!« sie faßte seine Hand.
»Was kann ein Mädchen einem Manne mehr geben, als ich getan? Freudig
hätte ich alles gelitten, hätte er nur an mich geglaubt. Du bist ja
selbst meiner Meinung,« sie legte ihren Kopf an den ihres Vaters, »du
glaubst nur, du hättest die Pflicht, mich zurückzuhalten, doch du bist
im Irrtum. Er hat unseren ehrlichen Namen gebrandmarkt, er ist nicht
besser als ein Dieb, da er dich um dein Geld betrog.«

In schwerem Groll schloß Klaus Tiedemann die Faust: »Da hast du recht.«

»Siehst du, Papa, willst du weiter mit ihm verkehren?«

Verwundert sah er auf, seine Augenlider waren rot gerändert. »Ich? Ich
bin mit ihm fertig!«

»Und ich soll mit ihm weiterleben?«

Die alte Hilflosigkeit überkam ihn:

»Ich wollte nur alles versuchen, weil ich eben keinen anderen Ausweg
sehe.«

Sie küßte seine faltige Stirn. »Der Ausweg«, sie hob die Hand zu dem
blauen Himmel, auf dem weiße Wölkchen segelten, »dort ist er -- die
Freiheit!«

Mit ängstlichen Augen sah er sie an. Eine Art Schwindel befiel ihn.
Die Ahnung fremder Welten, die er noch nicht kannte. Doch er stand am
Eingang. Er ließ den Blick rundumgehen, von einem Baum zum anderen,
vom Efeu, der sich eigenwillig emporrankte, zum Springbrunnen, dessen
Wasser in schimmernde Tropfen zerfiel: »Eine geschiedene Frau ist
Freiwild -- ihr Leben ist unstet, von den Reden der Leute vergiftet.«

»Besser als eine morsche Ehe.« Sie faßte seinen Arm, lebhaft wurde ihr
Blick. »Heute hab' ich Gröden getroffen.«

»Hat er dich erkannt?«

Sie lachte: »Wir sprachen fast eine Stunde. Er fand mich sehr
verändert.«

Klaus Tiedemann stand auf und ging der Terrasse zu. Er schüttelte den
Kopf.

Clo war an seiner Seite; sie sprach weiter von Gröden:

»Denk' dir, Papa, er baut hier die neue Anstalt! Ist das nicht ein
Zufall?«

Er nickte, dann sah er sich scheu um:

»Du hast zu Hilde nicht gesprochen?«

Verständnislos blickte sie ihn an:

»Wovon?«

Er schluckte und sah zu Boden:

»Von dem, was ich dir von meiner ersten Ehe erzählt habe, damals ...«

»Nein; wenn du willst, sag' ich's auch niemandem.«

»Ich bitte dich drum,« er atmete auf, »es ist mir zwar ganz gleich,
aber lieber ist's mir doch so ...«

»Gewiß, Papa.«

Er nickte: »Sprich weiter -- ich hätte es nur sonst vergessen!«

»Armer Papa!«

Er wich ihrer Hand aus. »Da ist Gröden wohl öfters hier?« sagte er.

»Jeden dritten Tag! Das nächste Mal will er mir die Pläne zeigen; er
war ganz Feuer und Flamme darüber. Er hat die notwendigen Studien in
England gemacht.«

»Von mir sprach er nichts?«

»Nein, aber von Lecarts Unglück wußte er.«

Sie standen vor dem Haus.

Er ließ sie über die Stufen vorangehen und sah sich noch einmal um.

Dürre Blätter fielen zu Boden, Herbstzeitlosen sproßten daraus empor.


Wenige Tage später kam Fred. Er hatte die Tourenfahrt vorzeitig
abbrechen müssen und war mißmutig nach Hause gefahren, da ihm kein
Preis mehr winkte: Gleich nach dem Start hatte er ein Bauernfuhrwerk
überfahren und war, einige Stunden später, derart bei einer
Straßenkrümmung an einen Baum gerannt, daß er mit Achsen- und
Federbruch ~en panne~ saß.

Auch Baronin Wolny war mit ihm zurückgekehrt.

Mit Clo sprach er ein paar verbindliche Worte, wie man es mit jedem
Fremden tut. Der Name Lecart war ebensoschnell aus seinem Gedächtnis
geschwunden wie der Olthoffs und vieler anderer vordem. Man lernte sich
kennen, schloß Freundschaft und vergaß sich, wenn die beiderseitigen
Interessen erschöpft waren.

Klaus Tiedemann wußte nicht zu entscheiden, ob Fred stets so gewesen
war oder ob ihm sein Wesen jetzt nur mehr auffiel. Nie war ihm seines
Sohnes hochfahrende Art so zum Bewußtsein gekommen als nun, da er
Familie und Geschäft vernachlässigte, um seiner Liebhaberei willen, zu
denen in erster Linie Frau Wolnys üppige Gestalt zählte.

Fast jeden Abend weilte er bei ihr. Es drohte ein offener Skandal zu
werden.

Hatte früher Klaus Tiedemann sich über derartige Eroberungen seiner
Söhne -- wie er es nannte -- gefreut, so waren sie ihm nun unangenehm,
weil das Schicksal seinen Sinn wieder auf die ernste Seite des Lebens
geleitet hatte.

Er sah jetzt nur Kraft- und Zeitverschwendung, worin er früher
Anerkennung seiner Kinder erblickt hatte.

Zwischen Klaus Tiedemann und seinem Sohne war noch nicht viel über
Lecarts Geldoperationen gesprochen worden, jeder mied das Thema. Klaus
Tiedemann wollte nicht gern erinnert werden, daß er es gewesen war, der
als erster, bei Clos Heirat, Lecarts teurer Verwandtschaft Vorschub
geleistet hatte. Als Fred erfuhr, daß die Ordnung der Angelegenheit in
Gerhards Händen läge, da lachte er spöttisch:

»Gib ihm doch gleich das ganze Geschäft, dann hat die arme Seele ihre
Ruhe.« Freds Aerger hielt nicht lange an; in dem Augenblicke, da er der
Wolny weiche Arme wieder an seinem Halse spürte, versank alles für ihn.
Er lag hilflos in ihren Banden, und die routinierte Frau freute sich
ihres vollkommenen Sieges: er war Naturbursche in der Liebe, und das
naive Zugreifen und Genießen schuf dem Weibe, das durch vieler Männer
Hände gegangen war, neue Abwechslung.

Sie lebte noch einmal die Genüsse ihrer Jugend und vergaß so alles
andere.

Jan Wolny stand zähneknirschend vor dem Zimmer seiner Mutter; doch
nie fand er den Mut, sie zu einer Aussprache zu zwingen. Er verstand
seinen Vater, der aus dem Leben gegangen war, weil die feine Art des
Edelmannes sich auflehnte gegen die Mißachtung der eigenen Frau.

Doch Jan Wolny trug beider Blut in seinen Adern: das verwegene
Zirkusreiterblut und das der polnischen Könige. Noch ging er mit
geballten Händen und fand nicht den Entschluß des Handelns ...

Leos Geburtstag war herangekommen.

Hilde wollte ihrem Vater die Aufregung ersparen, und bat Fred, einen
Kranz auf dem Grabe seines Bruders niederzulegen.

Es waren die ersten Worte, welche die beiden, seit Freds Rückkehr,
mitsammen sprachen.

Er zeigte auf die farbige Weste, die er trug, und sah in unverhohlenem
Erstaunen drein:

»Ich? Was geht denn das mich an?«

Sie maß ihn von Kopf zu Füßen.

»Es ist Leo! Dein Bruder!«

»Das weiß ich ohnehin, mein Fräulein! Aber ich hab' keine Zeit. Ich
weiß nicht einmal genau, wo das Grab liegt: ich glaube, ich würde es
gar nicht finden.«

»Das sind Ausreden.«

»Also, so sind's Ausreden! Ich mag einfach nicht. Mein Gott, was hat er
denn von dem Kranz? Hätt' ihn Papa vernünftiger erzogen und ihm nicht
so viel Freiheit gelassen, so wär' er vielleicht noch am Leben -- mich
laßt mit solchen Dingen in Ruhe.« --

Am Nachmittag fuhren Klaus Tiedemann und Hilde zu Leos frühem Grab.

Ein Riesenobelisk krönte dasselbe; die Trauerweiden hatten dürres Laub.

Mit starren Fingern richtete Klaus Tiedemann den Efeu, der sich im
Gitter verflochten hatte. Mit liebevoller Hand strich er über den
Rasen. In den Gruftlaternen flackerten die Lichter.

Der Gärtner hatte sie angezündet, er stand abseits und wartete auf sein
Trinkgeld; man gab an solcher Stätte gern. Als er es erhalten hatte,
schlenderte er davon, die langen Reihen hinunter, eine Blume hinter dem
Ohr. Leise pfiff er vor sich hin -- er war jung und dachte nicht ans
Sterben.

Klaus Tiedemann hielt die Hände verschlungen und sah mit starrem Blick
die eingemeißelten Buchstaben: »Da liegt der arme Bub.«

Die fallende Ruhe des Herbstes umgab sie: ein leises Singen war in der
Luft, wenn der Wind durch die Zypressen und um die Grabkreuze strich.

Sie schmiegten sich eng aneinander.

Ein paar Fuß unter der Erde, ganz nahe bei ihnen, lag alles, was noch
von Leo übrig war.

Alles ließ sich erzwingen, der Widerstand gegen den Tod nicht.

Die heißeste Sehnsucht nach Liebe und Genuß, halbfertige Jugend und
verfehlte Leidenschaft, Kindlichkeit und werdende Eigenart -- all das
lag still da drunten und zerfiel in nichts.

Klaus Tiedemann seufzte, seine Augen waren naß. Mächtig kam die
Erinnerung über ihn.

Wofür hatte er gerungen, wenn das das Ende war? Wenn er selbst in
seinen Kindern starb und nicht weiterlebte? Was blieb als Lebenswerk?
Ein Quell des Verdienstes! Und auch der konnte versiegen, verlangte
man allzuviel von ihm. Er dachte Freds.

Gleich da, rechts drüben, lag seine Frau. Wo mochte Gerhards Mutter
ausruhen von ihrer Irrfahrt? Lebte sie noch -- wie kam es, daß zwei
Menschen überhaupt sich fremd sein konnten?

Im Grabe mußte alles verstummen, und doch ruhte der Kampf nie.

Schwere Zweifel faßten den alten Mann, er legte den Arm um Hilde.
»Hätt' ich dir doch gefolgt!«

Aus großen, erschreckten Augen sah sie auf. Sie schüttelte den Kopf.
»Nicht daran denken, Vater!«

Er seufzte. »Wie wird die Zukunft werden?«

Ihre Blicke glitten über die Friedhofsmauer, auf stahlharten Schienen
jagte ein Zug vorbei.

Dann begann er wieder:

»Mir ist es manchmal, als hätt' ich schon einmal gelebt und wäre
gestorben gewesen, lange Zeit. So manchen Gedanken, der mir jetzt
kommt, hab' ich schon einmal gedacht, vor vielen Jahren. Ist er
damals richtig gewesen? Ist er es heut? Es ist so schwer für etwas zu
entscheiden, noch schwerer gegen etwas. Jedes Ding hat zwei Seiten.
Ich war Leo ein zu schwacher Vater, vielleicht kann ich für Fred ein
zu harter werden?« In inniger Liebe sah er sein Kind an. »Du mußt mir
beistehen, Hilde; du bist die einzige, die wirklich zu mir hält --
willst du?«

»Vater!« Sie warf sich an seinen Hals, ihre Lippen fanden sich; mit
tastenden Fingern richtete er ihren Kopf in die Höhe; forschend sah er
in ihre Augen: »Bin ich jetzt auf rechtem Weg?«

Sie nickte.

Noch einmal zog er sie an sich:

»Leo wird nicht allzu lange auf mich warten müssen.«

Er brach eine Ranke und verwahrte sie in der Tasche.

Dann winkte er dem Hügel zu:

»Leb' wohl!«

Langsam näherten sie sich dem Ausgang.

Im Heimfahren sprachen sie von Fred. Noch immer hoffte der Vater auf
Besserung. Er wartete auf irgendein Ereignis, das ihn zum Handeln
zwingen würde; das Schicksal mußte eingreifen -- allein fand er nicht
die Kraft dazu! Was sollte auch werden, wenn es so weiter blieb?

Als sie in bekannte Straßen bogen, drückte er Hildes Hand. »Ich danke
dir ...«

Sie merkte, daß er noch etwas sagen wollte, seine Rede floß wirr und
krumm weiter. Er redete vom Erfolg, und wie man sich im Menschen
täuschen könnte. Dann kam er auf Clo und Gröden zu sprechen. Dann auf
Hildes freudlose Zeit, die er so gern ihr besser gestalten wolle.

Sie verstand ihn nicht.

Der Umschweife überdrüssig, fragte er plötzlich ganz unvermittelt:

»Würde dich Hansens Bild interessieren?«

Das war es! Sie nickte; die Aufregung benahm ihr die Stimme.

»So gehen wir!«

Er öffnete eilig den Schlag des Wagens.


Gleich beim Eingang der Gemäldeausstellung hatten sie Hansen getroffen.

Es war ein glücklicher Zufall.

In freudiger Erregung geleitete er die beiden durch die ersten Säle,
durch die dichten Gruppen der Besucher, welche sich vor einzelnen
Bildern stauten.

Für einen kurzen Augenblick fand er Hildes Hand. Sein Blick ging
fragend zu ihrem Vater.

Sie zuckte mit den Achseln und lächelte glücklich.

Einzelne erkannten Hansen und grüßten; mechanisch lüftete Klaus
Tiedemann den Hut, er wußte nicht recht, wem der Gruß galt.

Hansen lenkte rechts; Klaus Tiedemann ging geradeaus weiter.

»Hier, Papa!« Hilde nahm ihn beim Arm und blieb eingehängt.

In einem zurückspringenden Seitensaal ist Hansens Werk, die schmale
Wand allein einnehmend.

In ruhigem Lichte sieht es ernst herab.

Seitwärts von seinem Fauteuil erhebt sich eine kleine, alte Frau,
sie macht einen Knicks und hält krampfhaft die Enden ihrer Mantille
übereinander.

Mit ruhiger Bewegung schiebt Hansen sie in den Vordergrund und stellt
vor:

»Meine Mutter!«

Ihre kleinen, zittrigen Augen bleiben, als sie den Namen der beiden
hört, an Hilde hängen. Aengstlich, forschend und flehend! Hansen mag
wohl zu Hause gesprochen haben. Sie nickt ihr zu.

Fliegende Röte jagt über Hildes Gesicht.

Ihr Blick geht über die Köpfe der Leute zu dem Bild.

»Erdgeist.«

Ein blasser Bursch, halb Knabe, halb Mann, beugt sich zurück; er ist
im Gesellschaftsanzug, eine verwelkte Blume zierte das Knopfloch.
Mattigkeit und Erschöpfung liegen über der sitzenden Gestalt, ein
Schauder scheint ihn zu fassen. Die Augen sehen müde, verträumt
in fiebrigem Schimmer in die Höhe nach dem Gesicht der üppigen
Frauengestalt, die, tief dekolletiert, sich über ihn neigt. Die Sphinx,
die die weibliche Form des Welträtsels birgt! Alle Sinnlichkeit ist
in dem Weibe konzentriert; beklemmender Geruch scheint ihren dünnen
Gewändern zu entsteigen. Ihre Augen sind untermalt, in brennendem Rot
schimmern ihre vollen Lippen. Wie ein leichter Hauch scheinen Linien
durch, wie eine Silhouette aus einer anderen Welt zeichnet sich hinter
den vollen Wangen die Kontur des Totenschädels.

Hilde tritt zurück; Leos Züge sehen ihr entgegen, verallgemeinert, doch
unverkennbar.

Sie atmet tief und streckt die Hand nach Hansen.

Der steht abseits mit gesenktem Kopf.

Seine Mutter hat Hildes Bewegung bemerkt:

»Du!«

Er fährt zusammen und sieht Tränen in Hildes Augen.

»Sie sind ein großer Künstler!«

Hand in Hand stehen die beiden.

Klaus Tiedemann hat die Arme über der Brust gekreuzt. In ihm ist ein
Singen und Klingen: er sieht zwei Gestalten, deren intime Details er
mit seinen stumpfen Nerven nur zum Teil erkennt und bemerkt, und doch
packt ihn unbewußt des Bildes Kraft; schnell verfliegt der Gedanke, ob
Hansen wohl einen Käufer hat.

Er sieht den Mann, den das Weib quält und der doch nicht von ihm
lassen kann. Das ist sein Leben, und das versteht er! Das ist auch
das Leben Leos gewesen und ist auch vielleicht jenes von Fred. Wieder
flattert die Erinnerung seiner ungestümen Jugend empor. Er ist wieder
der arme Kontorschreiber, der mit scheuem Blick am Sonntag die breiten
Hauptstraßen durchquert, in die er unter der Woche nie kommt. Er sieht
die eleganten Damen der Gesellschaft, hört Spitzen rascheln und sieht
Formen, wie sie die Weiber des Volkes, durch schwere Arbeit gedrückt,
nur selten haben. Die Gier, reich zu sein, kettet ihn; kein Blick
haftet auf seiner unschönen Gestalt in den dürftigen Kleidern, die
abseits steht und mit brennenden Augen der strahlenden Menge folgt.
Ist sein Aeußeres unausgeglichen und inkonsequent, so reihen sich doch
die Gedanken in spiegelnder Kette aneinander. Zähneknirschend kehrt
er in die schmutzigen Hafenstraßen zurück und setzt sich zur Arbeit;
er will sie durch Kraft und Zähigkeit zwingen, ihm zu Willen zu sein.
Ein bitteres Lächeln geht über Klaus Tiedemanns Züge. Keiner der
Umstehenden, auch sein eigenes Kind nicht, wissen, daß er nun der zwei
unglücklichen Ehen gedenkt, die sein Leben vergifteten.

Schwer holt er Atem.

Er kann es nicht überwinden, daß sie nur seinen Erfolg liebten und
nicht ihn.

Er starrt in Leos Züge.

Auch der ist unterlegen, er konnte ihn nicht schützen.

Der Wolny Züge nimmt das Weib an der Wand an, und Fred sitzt auf dem
Sessel.

Seine Umgebung vergessend, stampft er mit dem Fuße auf, daß er seine
Art den Kindern vererben mußte! Was will er tun, wenn sie dafür
Rechenschaft fordern? ...

Er wendet sich; mit gesenktem Kopfe fragt er Hansen nachdenklich und
ernst: »Sie meinen das ganz allgemein, das Weib dem Manne gegenüber?«
Er zeigt nach dem Bilde. »Der dort kann jeder von uns sein?«

Unsicher sieht Hansens Mutter drein.

Als er die Antwort erhält, blickt er ernst zu Boden; dann streckt er
Hansen die Hand hin:

»Sie haben recht.« Er nickt der alten Frau zu. »Er versteht das Leben.«

Sie macht einen eiligen Knicks.

»Gewiß, Herr Kommerzienrat, gewiß,« sagt sie und denkt an ihren Mann,
der ihr elterliches Erbteil verspielt hat und den sie erhalten mußte
die letzten Jahre durch ihrer Hände Arbeit.

Dann gehen sie weiter durch die übrigen Räume. Hilde weiß nicht recht,
warum; doch Klaus Tiedemann will wohl nicht zeigen, daß sie nur Hansens
wegen gekommen sind.

Er sieht gleichgültig über die farbigen Flecken an den Wänden.

Beim Ausgang schüttelt er Hansen nochmals die Hand und sagt: »Besuchen
Sie uns doch wieder einmal; wir sind seit Leos Tod fast immer zu
Hause.« Er bewegt den Kopf auf dem gedrungenen Halse hin und her, als
beengte ihn der Kragen; dann fügt er in alter Art hinzu: »Wir werden
uns freuen, Sie begrüßen zu können.«

Die alte Frau nickt ununterbrochen in ihrer Verlegenheit; mit sicherer
Bewegung faßt sie ihr Sohn beim Arm: »Ich werde es mir demnächst
erlauben.« Er verneigt sich und grüßt Hilde mit den Augen: »Leb' wohl!«

Er sieht dem davoneilenden Wagen nach und beugt sich zu der alten Frau
hinab:

»Nun, Mutter?«

»Sie hat dich gern.«

Sie lächelt glücklich und denkt nicht, daß sie nun ihr Kind wird teilen
müssen mit einer anderen.


Als sie nach Hause kamen, wartet Gerhard im Herrenzimmer auf den Vater.
Mit großen Schritten geht er hin und her.

Als Klaus Tiedemann eintritt, bleibt er stehen.

»Was gibt es?«

»Ich weiß nicht, Vater, ob ich es dir sagen soll.«

»Wieder was Unangenehmes?« Klaus Tiedemann hat in seines Sohnes Hand
ein Zeitungsblatt entdeckt, hastig greift er danach:

»Gib her!«

Nur widerwillig läßt es Gerhard, er beobachtet seinen Vater mit
forschenden Blicken.

Der liest mit zusammengezogenen Brauen:

Es ist ein Artikel, »Moderne Industrie« überschrieben, in dem das
sozialistische Organ sich in heftigen Ausdrücken Luft macht über die
Einstellung der Untersuchung gegen Charles Lecart, den Bluthund der
»Freundschaftszechen« -- wie sie ihn nennen. Sein Privatleben ist
aufgedeckt, entstellt geschildert; niemand kann nach den bestimmt
gegebenen Daten an der Richtigkeit der Angaben zweifeln. Doch nicht
genug damit! ... Klaus Tiedemann spürt einen Stich im Herzen: auch
sein Name ist genannt, mit heftigen Anklagen überschüttet: er soll um
das schwindelhafte Unternehmen gewußt, wissentlich dem Betrug Vorschub
geleistet haben. Warum wären sonst die Liegenschaften in den alleinigen
Besitz der Firma übergegangen? Es ist abgekartetes Spiel! Sein Mitleid
mit den Arbeitern und die schweren Opfer seines Kindes wegen werden so
verstanden!

Fester faßt er das dünne Blatt, die Augen werden groß und starr.

Hier steht mit erbarmungslosen Buchstaben die Beschuldigung, daß
Fred Tiedemann, der jetzige Chef der Firma, der nur in Kreisen des
Hochadels verkehrt, bedeutende Summen, es ist eine enorm hohe Zahl
genannt, angeblich zu Wohltätigkeitszwecken, gespendet hätte, die in
Wirklichkeit nur dazu dienen sollten, ihm den Adel zu verschaffen.
Heftige Anklagen gegen die Regierung sind eingeflochten, die einen
solchen Kuhhandel förderte; in flammenden Worten ist das Unrecht
verwiesen, das den Armen angetan würde durch solche Schädlinge der
Industrie, die eigentlich in den Kerker gehörten. Auch die Firma als
solche ist beschuldigt. Wie könnte man von einem derartig geleiteten
Institut Garantien verlangen, wenn das »Hungergeld der Armen« dazu
benutzt würde, Hochstapler in ihrem strafwürdigen Beginnen zu
unterstützen? Jedermann wird aufgefordert, sich die Depots ausfolgen
zu lassen und diese in sicheren Instituten anzulegen. Der Prospekt
einer Firma, deren Chef der Bruder eines Parteimannes ist, liegt
bei. Auch ist auf eine Interpellation verwiesen, welche jener bei
der übermorgigen Parlamentssitzung einbringen wird. Man wird kein
Mittel unversucht lassen, um dem arbeitenden Manne zu seinem Rechte zu
verhelfen, die Machinationen der Lecart-Tiedemannschen Sippschaft an
den Pranger zu stellen! Es folgen längere Erörterungen, daß man aus dem
vorstehend gekennzeichneten Spezialfall schließen könnte, wie geradezu
unerläßlich das Verlangen der Bergarbeiter nach Grubeninspektoren aus
ihren eigenen Reihen wäre.

Klaus Tiedemann läßt das Blatt mit zitternder Hand sinken. »Nur gut,
daß sie weit übers Ziel schießen und sich so ins Unrecht setzen«, sagt
Gerhard.

Tiedemann gibt keine Antwort.

Nun fassen sie sein letztes, seinen ehrlichen Namen, sein Geschäft an!

Sinnlos vor Wut zerreißt er den Fetzen Papier und tritt ihn mit Füßen:

»Es kann nicht sein!«

Gerhard zuckt die Achseln.

Dieser schweigende Widerspruch reizt den alten Mann, sein Aerger sucht
Ableitung. Daß Gerhard über Fred schlecht denkt, ist nur natürlich,
aber er als Vater muß gerecht sein.

Er pflanzt sich vor Gerhard hin und schreit:

»Daß du es weißt! Daran ist kein wahres Wort!«

»Dann ist's gut, Vater.«

»Ich sag' es dir,« schreit Klaus Tiedemann in der Angst seines Herzens,
»ich, dein Vater!«

Schweigend sieht ihm Gerhard in die Augen; Klaus Tiedemann senkt den
Blick.

Gerhard wendet sich zur Tür; Mitleid in seiner Stimme: »Bezüglich
des geschäftlichen Angriffes werde ich heute noch eine Berichtigung
einrücken lassen.«

Er geht.

Klaus Tiedemann läßt den Kopf nach vorn fallen; er weint wie ein Kind.

Nun greifen sie an sein Lebenswerk.

Sein ehrlicher Name ist gebrandmarkt, in den Schmutz gezogen. Er hat
von jeher Angst vor der Oeffentlichkeit empfunden. Dem Hause, das
er gründete, drohen schwere Krisen. Die Uebernahme der Lecartschen
Verpflichtungen hat Opfer gefordert; Freds teure Lebensführung ist
nicht dazu angetan, der Tiedemanns Besitz zu mehren. Wenn er wirklich
so ungeheure Summen dem Phantom, adelig zu werden, geopfert hat, bedarf
es nur eines größeren Verlustes, wie er oft in Kauf genommen werden
muß, um die Firma in Schwierigkeiten zu bringen!

Klaus Tiedemann stöhnt auf; dann kommt die Aktiengesellschaft, dann
verschwindet der individuelle Zug, die Kunde wird zur Nummer.

Er knirscht mit den Zähnen.

Was bleibt ihm anderes übrig, wenn die Depositensumme sinkt? Damit
fällt des Hauses Macht. Unreelle Firmen und Betrüger hatten das
Publikum in den letzten Jahren nervös gemacht, altangesehene Firmen
waren zusammengebrochen. Wenn die Einleger, auf die alarmierende
Nachricht hin, Sturm liefen? Klaus Tiedemann zweifelt als erfahrener
Kaufmann nicht daran. Wenn sie die Spreu nicht vom Weizen zu sondern
wußten, was dann? Schon lange bestand Argwohn gegen den Stand der
Privatbankiers: die Kunden gingen lieber zu den großen Banken mit ihrem
Riesenaktienkapital, das ihnen mehr Garantie zu bieten schien. Ein
hartes Gesetz stand seit Jahren gegen den kleinen Mann und förderte den
großen, trotzdem man es geschaffen hatte gegen das Großkapital. Die
Aktiengesellschaft griff vom Anfang ihres Entstehens an mit reichen
Geldmitteln in die Konkurrenz. In langen Jahren bittersten Kampfes
hatte Klaus Tiedemann sein Kapital errungen. Seine Person war den
Kunden Bürgschaft, seine offene Geschäftsführung verhalf ihm zu seinem
Erfolg.

Er ballt die Faust. Wenn es Fred wirklich getan hat!

Stunden vergehen in grübelndem Sinnen.

Hilde kommt, ihn zum Abendessen zu holen; er gibt keine Antwort.
Krampfhaft die Tränen zurückhaltend, geht sie wieder.

Schatten fallen ein, kaum daß die Sonne gelächelt.

Er hört Clo im Nebenzimmer sprechen; auch Hilde sagt ein paar Worte.

Sie wünschen sich gegenseitig »Gute Nacht«.

Er rührt sich nicht. Er muß Fred sprechen, heute noch. Er muß die
Gewißheit haben, daß alles erlogen ist.

In stummer Verzweiflung wartet er.

Wo er so lange weilt? Er ist seit früh nicht zu Hause gewesen!

Auf jeden Ton hört er, der durch die Nacht dringt.

Die Zeit verstreicht.

Er denkt an Leo und an Lecart: die Scheidung ist eingeleitet.

Was wird Clo tun? Oft spricht sie von Gröden?

Was will Fred gegen die Angriffe unternehmen?

-- -- -- Nun ist er einundsiebzig; noch immer findet er keine Ruhe!

Hansens Bild steht vor ihm, wieder trägt das Weib Frau Wolnys Züge. --
-- -- »Wo ist Fred?«

Er sieht Jan Wolnys Augen, sie leuchten durch das Dunkel.

-- -- -- Er fährt auf. Er muß geschlafen haben. Es ist dunkel um ihn
geworden.

Er hört Schritte.

Die Tür geht auf. Fred steht vor ihm.

In dem ungewissen Dämmerlicht, das von der Straße kommt, sieht er
totenblaß aus.

Als er seinen Vater erkennt, fährt er zusammen. »Was tust du hier?«

Sie stehen sich gegenüber.

Schwer hebt sich Klaus Tiedemanns Brust; der scheue Blick seines Sohnes
scheint ihm schreckliche Gewißheit zu geben: »Hast du's getan?« keucht
er.

Der andere tritt einen Schritt zurück, die Schultern zieht er ein:
»Was?«

In übereilenden Worten, die Rechte in seines Sohnes Rock gekrampft, daß
er ihm nicht entkommen kann, schildert Klaus Tiedemann, was vorgefallen
ist. Mit bebender Stimme bittet er um Gewißheit. In seinen unruhigen
Augen flackern Angst und Wut.

Fred Tiedemann hält die Faust geballt, scheu läuft sein Blick im Zimmer
rundum: Nun muß auch das kommen!

»Rede!« Sein Vater schüttelt ihn. Er hat ihn vorn an der Brust gefaßt
und knirscht mit den Zähnen, sinnlos vor Wut. Mit hastigem Ruck befreit
sich Fred. Er findet seine Art wieder:

»Hast du zu viel getrunken?« Sein Blick sticht dem alten Mann in die
blutgeröteten Augen. »Du mußt doch einsehen, daß du mir unrecht tust,
schon die ganze letzte Zeit, mit deinem ewigen Mißtrauen! Alles, was du
hörst, hat nur einen Grund: sie sind uns neidisch, sonst nichts. Das
ist auch jetzt wieder so. Ich werde morgen beim Minister vorsprechen,
ihn informieren: es ist der ganzen Sache damit die Spitze abgebrochen.«
Klaus Tiedemann scheint seinen Worten Glauben zu schenken. »Doch jetzt
laß uns schlafen gehen, ich bin redlich müde« fügt Fred hinzu.

»Es ist also nichts?« Zitternd vor Freude, die tiefster Seelenangst
entsprungen ist, kommt Klaus Tiedemann seinem Kinde näher.

»Nichts.«

»Verzeih!« Wieder schlägt Klaus Tiedemann um, er sieht nicht des
anderen verstörtes Wesen, nicht den sonst so glatten Scheitel, der
unordentlich unter den Haaren verschwindet. Sein Sohn kann nicht unwahr
sprechen, mag er auch sonst Fehler haben, er ist doch ein guter Mensch.
Er drückt den Widerstrebenden an sich: »Ich habe solche Angst gehabt.«

Mit leerem Blick, in dem Unruhe lauert, sieht Fred Tiedemann über
seines Vaters schneeigen Kopf, der an seiner Brust ruht.

Er scheint unangenehmen Gedanken nachzuhängen.

Er preßt die Lippen zusammen und klopft dem alten Mann mechanisch auf
die Schulter: »Laß gut sein, es ist alles recht.«

Er macht eine schnelle Wendung, damit sein Vater den blutroten Streifen
nicht sieht, der quer über die linke Wange läuft in hochgeschwollenem
Zuge.

Er gähnt.

Noch viel will Klaus Tiedemann wissen, doch Fred gibt nur einsilbige
Antworten.

Mitternacht ist vorbei, als sie zur Ruhe gehen.

Mit langem Blick sieht Klaus Tiedemann seinem Sohn über den Gang nach.

Für einen Augenblick beschleicht ihn ein unangenehmes Gefühl; des
anderen Haltung ist gebeugt; fast vorsichtig ängstlich klingt sein
Schritt gegen die sonst geübte selbstsichere Art. Doch Klaus Tiedemann
lächelt: Gewiß kommt er von der Wolny.

»Ich hab' ihm unrecht getan«, sagt er leise vor sich hin, und
ohnmächtige Wut gegen die Verleumder beschleicht ihn.


Zwei Tage später. -- Es ist in der Reitschule der Husaren, bei denen
Fred Tiedemann in der Reserve steht.

Ein kalter Herbstwind wirft dürre Blätter an die schmutzigen
Fensterscheiben.

Jan Wolny sitzt auf der Fensterbrüstung mit übereinandergeschlagenen
Beinen. Weste und Kragen hat er abgelegt, den Rock nachlässig über die
Schultern geworfen.

Man sieht ihm nicht an, daß er auf den Tod wartet.

Seine Augen blicken starr in stählerner Härte gegen die Tür, durch die
Fred Tiedemann kommen muß.

Fürst Solt zieht langsam die Uhr und schüttelt den Kopf. »Fünf Minuten
über die Zeit.« Ein feines Lächeln kräuselt für einen Augenblick seine
Lippen. Die Blicke des alten Aristokraten und des jungen Mannes treffen
sich verständnisvoll -- es muß im Blute liegen! In solchen Augenblicken
drängt sich alte Ueberlieferung der Nerven in den Vordergrund.

Die beiden Aerzte stehen bei ihren Instrumenten; sie sind in lebhafter
Debatte, ob ein Schuß in die Lunge, bei der soundsovielten Rippe,
tödlich sein muß oder nicht?

Laut tönen ihre Stimmen.

Jan Wolny zündet sich eine Zigarette nach der anderen an; kaum daß er
ein paar Züge getan hat, läßt er sie wieder in die Lohe fallen.

Drüben, auf der anderen Seite, geht sporenklingend der Husar auf und
ab, den das Regiment bestimmte, Fred Tiedemann zu sekundieren. Ungern
hat er dem Befehl Folge geleistet: das waren die Kehrseiten, wenn man
derlei Einjährige hatte. Doch das Regiment hielt dadurch seinen Ruf als
erstes der großen Garnison. Die Reserveoffiziere von reichen Eltern
fanden manchmal Spaß daran, ritterliche Tugenden zu üben.

Jan Wolnys Blick geht nach dem Pistolenkasten, auf dem hier und da die
Herbstsonne spielt, wenn sie durch die dichten Wolken dringt:

Wieder sieht er seine Mutter in des anderen Arm, als er die Tür
aufreißt.

»Du hast gehorcht?« fährt sie auf.

»Ja!« stöhnt er und reißt den Riemen von der Wand. »Da hast du, Hund«,
er schlägt ihn Fred Tiedemann ins Gesicht.

Dann stehen sie Aug' in Auge.

Alles, was die heutige Ordnung zum Glück verlangt, ist auf des anderen
Seite, auf seiner nur tote Ueberlieferung und entwürdigtes Andenken.
Warum muß der andere ihm das letzte rauben, die Illusion, daß seine
Mutter ehrlich sei?

Ihr Leib hat Unglück über die Wolnys gebracht von dem Tage an, da
Wladimir Wolny sie aus der Manege an seine Seite zog.

Sie schlägt die Tür zu und läßt sie allein.

Mit stoßender Hand hält er Fred Tiedemann zurück; er soll es teuer
zahlen, das Spiel mit der Ebenbürtigkeit!

Er ist ja Kavalier, nun soll er ihm Rechenschaft geben!

Fürst Solt muß ihm helfen; der alte Edelmann ist noch keinen Strich
gewichen von alter Art. Er fragt nicht viel, er hat schon so viel
Aehnliches gesehen. Er verneigt sich und nimmt an.

Dunkle Flecken brennen um Jan Wolnys flackernde Augen; die zwei letzten
Tage haben ihn alt gemacht.

Er hält die schmale Hand wagerecht vor sich hin, sie ist ruhig und
zittert nicht.

Wieder repetiert Fürst Solt seinen Chronometer.

Er schüttelt den Kopf:

Vor fünfundzwanzig Jahren erschoß sich Fürst Grobow, weil die
Sekundanten ihn vom Zweikampf ausschlossen, da er um wenige Minuten zu
spät kam. Und damals handelte es sich um weniger! Das Weib eines jeden
ist vogelfrei, kann es der Mann nicht hüten, aber schweigend muß er sie
besitzen und sich dem anderen stellen Aug' in Auge, das ist uraltes
Herrenrecht!

Eine Viertelstunde ist vorüber.

Es ist Zeit zum Handeln:

Er tritt zu Jan Wolny, der gibt ihm freie Hand. Seine Augen erlöschen,
müde Resignation legt sich über die Lider. Ein dumpfes Leben steht vor
ihm, in zerrissenen Fesseln, die desto fester binden.

Blutrot ist der Husar:

»Ich werde sofort meinen Mandanten aufsuchen, es muß ihm etwas
zugestoßen sein ...«

Fürst Solt verneigt sich. »Wenn Sie ihn treffen; ich lege Wert darauf,
daß er darüber nicht im Zweifel ist: wir sind trotz allem jederzeit zur
Austragung bereit.«

Der andere grüßt: »Gewiß,« er macht rasch eine Wendung, doch der Fürst
hält ihn zurück, »erst wollen wir ein Protokoll aufnehmen, wenn es
angenehm ist, es kann später wertvolle Dienste leisten.«


Unruhig ging Hilde Tiedemann umher, von einem Zimmer ins andere. Die
Angst vor etwas Ungewissem war in ihr.

Bald mußte ihr Vater heimkommen von der Sitzung, in der sie seinen
Namen an den Pranger stellten.

Er hatte es sich nicht nehmen lassen, der Parlamentseröffnung
beizuwohnen.

Unerkannt wollte er auf der Galerie sitzen und das hören, was sie gegen
ihn vorbrachten.

Mittag war vorbei.

Mit gesenktem Kopfe war er die letzten Tage herumgegangen; einsilbig im
Gespräch, murmelte er halblaut vor sich hin.

Er glaubte Freds Worten, daß alles nur von der Konkurrenz aufgegriffen
worden sei, um ihnen zu schaden, und doch fand er keine Ruhe.

Der belastende Artikel hatte seine Schuldigkeit getan. Die Einleger
drängten sich stündlich vor den Schaltern; sie verlangten ihr Geld
zurück.

Das war ein schwerer Schaden, und nur mit Seufzern und zögernden Händen
folgte Görnemann die Depots aus. Mit feindseligem Blick streifte er die
Menschenreihen, die vor ihm standen.

Nach schlafloser Nacht hatte sich Klaus Tiedemann angekleidet und war
frühzeitig vom Hause weggegangen. Er mußte allein sein mit seinen
Gedanken.

Bis zum Sitzungsbeginn war er in den hallenden Gängen auf und ab
geschlichen, scheu an die Mauer gedrückt, als müßte jedermann ihn
erkennen, ihn, der sich ein langes Leben vergebens gemüht hat.

Wenn er ihm das getan hätte!

Sie wußten ja alle nicht, was für ihn auf dem Spiele stand; sie kannten
nicht seinen Gedankenkreis, der in strenger Ehrlichkeit die schreiende
Oeffentlichkeit mied. Und nun war alles dahin.

Er hatte gestern die Bücher einer genauen Revision unterzogen. So gut
es in der Eile ging, hatte er das Fehlen großer Beträge konstatiert.
Aber Fred war tagsüber nicht zu Hause gewesen -- wie oft in letzter
Zeit -- und bei dem ausgedehnten Geschäft durfte man nicht gleich
Schlechtes denken. Noch immer wollte er sein Kind nicht fallen lassen,
wenn er auch in schwerer Sorge an die Zukunft dachte.

-- -- -- Hilde Tiedemann geht an die Tür ihrer Schwester und horcht.
Als sie Stimmen hört, drückt sie auf die Klinke. Die Tür ist gesperrt.

»Was ist?« ruft Clo.

»Nichts.« Hilde Tiedemann erinnert sich, daß bei ihrer Schwester die
Friseurin ist; sie geht wieder zurück in den Salon.

Es läutet.

Sie läuft zur Tür und horcht.

Verständnislos sieht sie auf die Visitenkarte, die ihr das Mädchen
reicht. Sie kennt den Namen nicht:

»Ich lasse bitten!«

Ihres Bruders Sekundant steht in der Tür.

Er verneigt sich.

Hilde erkennt die Farbe des Regiments: »Papa ist nicht zu Hause«, sagt
sie zitternd.

Der andere bleibt bei der Tür.

Für einen Augenblick fallen in seinem Gesicht die konventionellen
Falten, als er Hildes Erscheinung sieht, doch gleich wieder preßt
er den Säbelkorb an die Brust: »Könnte ich Herrn Fred Tiedemann
sprechen?« Seine Stimme ist aufgeregt.

Hilde zuckt zusammen, dunkle Vorahnung bemächtigt sich ihrer. »Mein
Bruder ist auch nicht hier.«

»Nicht zu Hause?« wiederholt der Husar und fängt die Unterlippe mit den
Zähnen. »Dürfte ich mir die Frage erlauben, wann Ihr Herr Bruder von
hier wegging?«

»Das weiß ich nicht, ich habe ihn seit gestern mittag nicht mehr
gesehen, er hat oft auswärts zu tun.« In schweren Schlägen klopft
dem Mädchen das Herz. Nervös zuckt die Hand und preßt krampfhaft das
Taschentuch zusammen, um Ruhe zu finden.

Unschlüssig steht der Husar: »Gnädiges Fräulein wissen also nicht, wo
Ihr Herr Bruder sich befindet?«

»Nein.« Sie legt die zitternde Hand auf die Stirn. »Vielleicht ist er
mit Papa im Abgeordnetenhaus.«

Er schüttelt verneinend den Kopf: »Dort ist er nicht!« Er rafft sich
zusammen; seine Augen sehen starr und abweisend. »Dann ist meine
Mission erfüllt.«

Er schlägt die Füße zusammen, daß die Sporen klingen. »Bitte zu
entschuldigen!«

Mit schnellen Schritten kommt Hilde näher, flehend sehen ihre Augen,
ihr Mund ist geöffnet. »Was ist mit Fred? Es ist ihm doch nichts
zugestoßen?«

»Nein, gnädiges Fräulein können beruhigt sein.« Eiserne Disziplin ist
in seinen Augen. »Es ist ihm nichts geschehen.«

Er neigt den Kopf und zieht die Tür hinter sich zu.

Hilde Tiedemann preßt die Handflächen gegeneinander. Nun weiß sie, daß
sich wieder Unheil vorbereitet, vielleicht bereits vollzogen hat.

Sie lehnt die heiße Stirn an die eiskalten Fensterscheiben.

Ein rauher Sturm fegt durch die Straßen.

Nun sieht sie Freds scheues Wesen in den letzten Tagen mit anderen
Augen; nun gewinnt sein unruhiges Kommen und Gehen unheilvolle
Bedeutung.

Kam das Haus wirklich in Schwierigkeiten? Stand der Bankerott vor der
Tür? Sie hatte es vorausgesehen und vergebens gewarnt.

Doch sie will jetzt nicht daran denken, sie will arbeiten und ihrem
Vater zur Seite stehen.

Doch das kann es nicht sein, da wäre der Offizier nicht hier gewesen.

Sie läuft in Freds Zimmer, es ist bereits aufgeräumt; sie weiß nicht,
daß das Bett die letzte Nacht leer geblieben ist.

Sie fragt das Stubenmädchen; doch Fred Tiedemann ist oft Nächte außer
Hause gewesen. Das ist kein Beweis!

Wieder steht sie beim Fenster.

Der Himmel hat sich mit einförmigem Grau überzogen.

Die Fensterscheibe bläht sich im anprallenden Wind. Im Kreise tanzen
unten auf dem Platz die dürren Blätter.

Sie ist einsam, und ihre Gedanken flattern ohne Ordnung.

An die Scheiben schlägt es mit leisem Ton; kleine weiße Nadeln bringt
der Sturm vom Meer herüber -- den ersten Schnee.

Sie schaudert und sieht auf die verlassenen Parkanlagen vor dem
Fenster, wo sich zwei Krähen streiten.

Die Leute schlagen die Kragen hoch, der Schnee überzieht sie mit weißen
Strichen.

Quer über den Platz kommt T. A. Hansen, schon von weitem zieht er den
Hut.

Sie preßt die Rechte ans Herz und atmet schwer.

Nun kommt die Entscheidung.

In banger Stunde muß sie sich ihm geben ...

Schon hört sie seinen Schritt.

Er drückt ihre Hand; in seinem Gesicht ist große, leuchtende Freude.

Scheue liegt über ihr und heißt sie schweigen.

Er spricht von seinem Werte, von froher Hoffnung auf die Zukunft.

Eine blutrote Rose steckt er ihr an die Brust, von seiner Mutter.

Sie bebt im schwarzen Kleide und horcht mit todtraurigen Augen.

Er will arbeiten und schaffen, Gedanken und Pläne wirft er hin mit
wenigen Worten für ein ganzes Leben. Er spricht von den letzten
Monaten, in denen er sein Werk den Augen der anderen preisgab; fast
schien es ihm Entweihung. Sie hätte es als erste sehen sollen! Und dann
die Urteile: Erst glaubten sie etwas zum Aussetzen finden zu müssen,
war er doch ein Neuer, ein Junger. Dann aber verstummten diese Stimmen
immer mehr. Anerkennung wurde ihm zuteil, daß er sich manchmal selbst
fragte, ob er sie denn auch wirklich verdiente, ob er die anderen
wirklich so viel überragte.

Nur mit halbem Ohr hört Hilde; jedes Geräusch von der Straße läßt sie
zusammenfahren.

In seiner frohen Erregung hat es Hansen nicht bemerkt; doch jetzt
stutzt er und tritt näher: »Was ist?«

»Nichts.« In dem Mädchen kämpft Willenskraft und Sorge mit der Liebe
des sich unterwerfenden Weibes. »Wirklich nichts!« Sie versucht ein
Lächeln.

Er legt den Arm um sie; Schauer rieseln über ihren Leib: »Nicht«, wehrt
sie mit schwachem Widerstreben.

Er sieht ihr in die Augen: kleine, braune Punkte, die ängstlich auf
ihn starren. Sie legt den Kopf zurück und atmet schwer. Seine Lippen
berühren ihre Stirn.

»Nicht!« haucht sie noch einmal; dann wirft sie sich ihm an die Brust
in zitterndem Schluchzen.

»Ich hab' dich so lieb!«

Er hebt ihren Kopf und küßt sie auf beide Augen.

Sie klammert sich fest; nun verläßt sie die Kraft, da sie sich geborgen
weiß. Mit hastigen Worten redet sie von ihrer Angst, nun muß sie nicht
mehr schweigen. Sie will kein Geheimnis vor ihm haben.

Mit milden Worten beruhigt er sie; er läßt sie an seiner Brust sich
ausweinen, und wilder Haß gegen Fred befällt ihn. Unter Tränen lächelnd
sieht sie zu ihm auf: »Nun lassen wir uns nimmer!«

»Nein, mein Lieb!«

»Es ist doch nichts Schlechtes,« fragt sie in rührender Hilflosigkeit,
»daß ich es dir jetzt gesagt habe?«

»Aber, Kind!«

»Nun ja!« Sie legte den Kopf an seine Schulter und schmiegt ihre Wange
mit glücklichem Lächeln fest an die seine. »Ich hab's auch nicht länger
verschweigen können.«

Er preßt seinen Mund auf ihre roten Lippen; ein Zittern geht durch ihre
Gestalt.

Dann reißt sie sich aus seinen Armen. Klaus Tiedemann steht in der Tür.

Auch T. A. Hansen ist zurückgewichen.

Der da vor ihm scheint kein Lebender! Der Kopf ist ihm auf die Brust
gesunken, schlaff hängen die Arme.

Mit irrem Blick sieht er um sich: »Ist Alfred hier?«

Hilde will antworten, doch wie gelähmt hält sie inne.

Mit hastigem Ruck hat ihr Vater den Kopf gehoben; seine Augen schießen
Blitze, er steht vor Hansen:

»Nun malen Sie das Bild: ein Tiedemann als Betrüger. Sie treffen derlei
Sachen, Herr!« Er lacht schneidend und wirft sich in einen Fauteuil,
den Kopf in den Händen vergraben.

Der beiden Blicke finden sich, über des alten Mannes gebeugter Gestalt
halten sie schweigende Zwiesprache.

Dann greift Hansen nach dem Hut, einen stummen Gruß winkt er Hilde zu
und geht.

Die sitzt regungslos neben ihrem Vater und horcht auf dessen keuchenden
Atem.

Mitten im Glück!

Doch nur Mitleid findet sie als Antwort; sie fährt mit leichter Hand
über des alten Mannes Scheitel.

Stöhnend steht er auf: »Was wollte Hansen?« fragt er.

»Ich weiß nicht,« im Sprechen findet sie Mut; »er hat mich gern, Vater!«

Er sieht sie verständnislos an und murmelt: »Betrüger sind alle, die
um solches wissen und schweigen.« Dann legt er wieder den Kopf in die
zuckenden Finger.

So sitzt er stundenlang, nur hier und da fragt er nach Fred.

Sein Denken macht Sprung auf Sprung.

Er hört den Beifall, welcher den Worten gilt, die ihn und Fred treffen;
aus dem Klatschen der Hände springt ihn die Feindschaft der Masse an.
Keiner steht für ihn ein, keiner tritt an seine Seite; die einen
schweigen, die anderen hassen!

Draußen fällt der Schnee, die Kälte kriecht aus den Ecken hervor und
greift nach der beiden einsamen Menschen Herz.

Vergebens spricht Hilde, er gibt keine Antwort.

Als es dunkelt, geht er hinunter; er muß Görnemann fragen, ob er um
Freds Ausbleiben weiß.

Er _muß_ ihn haben, muß Aug' in Auge stehen mit ihm ...

Schon ist es Sperrstundenzeit, noch immer stehen Leute vor den Kassen.

Sie wollen ihr Geld zurück.

Morgen ist Sonntag, und wer weiß, was übermorgen ist!

Klaus Tiedemann ist nicht mehr sicher! Die Zeitungen haben's
geschrieben, die Konkurrenz hat's gesagt.

Ein irres Lächeln spielt um des alten Mannes Züge:

Des Lebens Wertung!

Er sieht Gerhard bei den Kassen; er hantiert mit ruhigen, gleichmäßigen
Bewegungen.

Das gibt Klaus Tiedemann wieder Kraft.

Er muß Görnemann haben.

Quer durch die Schreibzimmer eilt er; gedrückte Stimmung liegt auf den
Gesichtern der Leute: es geht ums tägliche Brot.

Die Tür des Privatkontors ist offen, er tritt ein.

Görnemann steht vor dem eisernen Tresor; als er ihn sieht, läßt er die
Papiere fallen, die er hält.

Er stürzt auf Klaus Tiedemann zu, die Knie versagen ihm den Dienst, er
faltet die zitternden Hände und schreit: »Herr, ich kann nichts dafür,
ich bin unschuldig!«

Wie eine giftige Schlange zucken die Worte an Tiedemanns Ohr. »Was?«

»Es fehlt Geld!« Görnemann reißt die Bücher auf den Tisch; mit
zitternden Händen weist er die langen Kolonnen. Starr steht Klaus
Tiedemann; für einen Augenblick schließt er die Augen, um zu vergessen.

»Es hat alles gestimmt auf Heller und Pfennig,« beteuert Görnemann,
»noch gestern; jetzt fehlt eine Menge, aber die Kasse ist in Ordnung.«
Er fährt mit unruhigen Händen in seinen grauen Haaren herum. »Wir
müssen seit zwei Stunden die Reserven angreifen.«

Klaus Tiedemann wirft die Anweisungen und Schecks durcheinander mit
bebenden Fingern; er hält inne und tritt zum Tisch, er schlägt eine
Seite des Buches auf, dann sagt er: »Rechnen Sie hier noch einmal nach!«

Görnemann gehorcht, trotzdem er es schon ein halbes dutzendmal getan
hat und weiß, daß _hier_ kein Fehler sein kann; mit langem Bleistift
folgt er den einzelnen Posten. Einen scheuen Blick wirft Klaus
Tiedemann auf den Arbeitenden und macht einen lautlosen Schritt zur
Kasse.

Er reißt das Kuvert an sich, das er vorhin hat liegen sehen; es trägt
Freds Schrift.

Er verbirgt das Schreiben über dem klopfenden Herzen.

Görnemann hat nichts gefunden. --

Noch ein paar Worte wechseln sie; es ist draußen leer geworden. Es ist
Feierabend.

Gerhard kommt herein: »Es wird sich alles aufklären,« sagt er in seiner
ruhigen Art.

Görnemann läuft verzweifelt von einem Regal zum anderen. Planlos
schlägt er Skonti auf und wieder zu.

»Lassen Sie's, Görnemann,« sagt Gerhard, »so kommen Sie nicht darauf.
Unsere Aufzeichnungen sind richtig.« Sein Blick geht zu seinem Vater
hinüber. »Wo ist Fred?«

»Er muß bald kommen.« Klaus Tiedemann verträgt seines Sohnes Blick
nicht.

»Bevor er nicht hier ist, läßt sich überhaupt nichts machen!«

»Es muß heute nacht geschehen sein,« sagt Görnemann mit großen Augen.

Klaus Tiedemann drängt zur Ruhe: »Man muß warten, bis Fred hier ist.«
Er stellt sich, als wüßte er um dessen Ausbleiben.

Er wird auf ihn warten.

Die beiden anderen sollen ruhig nach Hause gehen, morgen früh wird sich
alles geklärt haben.

Sie folgen mit leisem Widerstreben, weil sie merken, daß er allein sein
will.

Mit traurigen Augen mißt ihn Görnemann.

»Soll ich nicht doch bei dir bleiben?« fragt Gerhard.

»Nein!« Er drückte beiden die Hände. »Geht nach Hause, es ist besser
so!«

Die Tür fällt zu, die Schritte verhallen: Gerhard geht hinauf zu Hilde.
Er wird die Nacht über aufbleiben; wenn sie jemandes benötigt, soll sie
nach ihm schicken.

Zum erstenmal sprechen Bruder und Schwester.

Als er geht, kommt Hansen.


Es ist dunkel um Klaus Tiedemann geworden. Stunden sind vorüber. -- Der
Lärm der Straße ist verstummt. Straßenbahn und Stellwagen verkehren
nicht mehr.

Nur hier und da hallen Schritte; sie klingen gedämpft durch die
herabgelassenen Rollbalken.

Er sitzt in den Sessel zurückgelehnt, den Kopf gesenkt.

Der Schnee, der draußen fällt, wirft einen weißen Reflex durch die
Oberlichte.

Er hat die Augen geschlossen; ihn fröstelt.

So saß er in vergangenen Nächten, wenn die Frau in Gesellschaft war und
oben die Kinder schliefen.

Die anderen lernten solche Stunden fürchten.

Mit müdem Lächeln sah er seine Erfolge.

Er wurde ihrer nicht froh.

Nur die Schultern hingen tiefer und plumper wurde sein Gang. Das war's,
was seine Frau von seiner Arbeit merkte.

Er griff hart zu in allzu großer Liebe und seine Lippen waren rauh.

Ein qualvolles Lachen stößt er aus.

Nun hat er ihre Liebe errungen!

Die suchenden Finger zucken; ein Blatt knistert unter ihnen auf; als
wäre es Gift, fährt er zurück.

Der Abschiedsbrief seines Sohnes!

Er hat ihn gelesen, Wort für Wort; er will ganz sicher gehen, wenn er
sein Kind von sich stößt.

Er sieht Lecarts spöttische Augen; nun ist's ein Tiedemann selbst!

Sein Erbteil hat er sich aus Eigenem genommen und ist in die Fremde
geflohen, ohne Wort, ohne Abschied! Ein Tiedemann feig!

Nun hat Klaus Tiedemann die Antwort, warum er in jener Nacht so scheu
vor ihm zurückgewichen, warum sein Auge den Boden gesucht.

Er billigt nicht die konstruierten Ehrbegriffe der Gesellschaft, aber
er haßt die Feigheit. Nun werden sie mit Fingern auf ihn weisen, den
Verkehr abbrechen, um den er Jahre gekämpft hat.

Das Regiment muß Fred Tiedemann ausstoßen als Ehrlosen; in den
Zeitungen steht morgen sein Name als der eines kindisch eitlen
Bestechers.

Unsummen hat er geopfert, mit denen er Tausende von Tränen hätte
stillen können. Klaus Tiedemann zweifelt nicht mehr, daß er es getan
hat. Nicht genug war ihm der ehrliche Name seines Vaters.

Er mußte etwas Häßliches bergen, daß alle von ihm abfielen!

Fred hatte keine Lust mehr am Geschäft. Seine Stellung ist nach der
Interpellation -- so schreibt er -- ohnehin im öffentlichen Leben
geschädigt; so legt er alles zurück, er will fortan nur seinen
Passionen leben -- das sei die erste Pflicht des Menschen! In der
Hauptstadt des Nachbarreiches gedenke er sich niederzulassen, da sei
ein Wiedersehen leicht.

Kein Wort der Reue und keines der Liebe, sonst keine Silbe! Wie ein
Fremder ist er von ihm gegangen.

Klaus Tiedemann stöhnt auf, die Wände rücken näher.

Als Leo starb, da war ihm leichter; er gab ein Kind der Erde zurück,
das allzu schwach gewesen war, sie länger zu ertragen. Wäre Fred
gefallen, wäre er ermordet worden vom beleidigten Sohn, er hätte
geweint und die Gesellschaft angeklagt, so aber fällt alles auf seines
Kindes eigenes Haupt. Er weiß nicht Bescheid in den Ehrbegriffen
Jan Wolnys, aber er kennt trotzdem die Ehre, die er sein Leben lang
besessen hat. Er kennt nicht den Mut, den Fred zeigen sollte, aber er
kennt den Mut, einstehen zu müssen für seine Handlungen. Immer wieder
legt sich Klaus Tiedemann die Lage klar:

Fred hat Geld genommen, große Summen, die jetzt nötig wären. Heimlich
hat sein Kind sie entwendet, daß andere nicht um sein Handeln wußten.
Das ist nicht besser als ein Dieb! Wohl ist sein Erbteil, das er mal
erhalten wird, größer, aber das Geld steht ihm jetzt noch nicht zu,
solange sein Vater lebt.

Feig hat er alles im Stiche gelassen und die Firma auf schlechte Wege
geführt. Seine Flucht wird bekannt werden, die Gegner werden sie für
ihre Zwecke ausnützen.

Schwer ringt Klaus Tiedemann mit seinen Gedanken, die ihn fesseln und
umstricken.

Er sieht keinen Ausweg.

Immer wieder kommt er zum selben Punkt zurück.

Streng war er mit sich Zeit seines Lebens gewesen, allzu streng. Er hat
seine Gedanken stets gezwungen, darum sah er nicht der anderen Fehler.

Wie Schuppen ist's ihm nun von den Augen gefallen, da er Fred nicht
mehr hier weiß. Nun erst ist seine zweite Frau wirklich gestorben.
Klaus Tiedemann findet die Gedanken seiner Jugend.

Er steht auf, dumpf klingen seine Schritte durch den schweigenden Raum.

Abgeschieden von den anderen, muß er sich entscheiden: nun gibt es
keine andere Lösung mehr.

Er hört den schweren Schritt des Wächters vorüberstampfen, von Stunde
zu Stunde leiser; der fallende Schnee dämpft den Hall.

Dann wieder ist's Ruhe.

Fred kommt nicht mehr, die Firma braucht eine starke Hand, besonders
jetzt!

Clo und Hilde sehen auf ihn, sie wollen Rat und Hilfe.

Er muß sich entscheiden!

Starrsinn ist in ihm, mit allem zu brechen, was er für richtig gehalten
hat.

Er legt den Kopf auf die Tischplatte in bleierner Müdigkeit, doch er
darf nicht ruhen.

Er dreht das Licht auf und geht zur Kasse.

Aus einem geheimen Fach nimmt er seine Schatulle; sie ist alt und
abgegriffen.

Er hält inne und horcht:

Leichte, schnelle Schritte gehen ganz nahe am Fenster vorbei, sie
machen halt und gehen hartklingend wieder zurück.

Ein bitteres Lächeln ist auf seinen Lippen: es mag wohl eine sein, die
auch um Liebe geht.

Kalt scheint das Licht der Glühlampe auf sein zermartertes Gesicht, als
er nun den Deckel hebt. Briefe fallen ihm entgegen.

Es ist die Schrift von Gerhards Mutter: alte, vergilbte, eckige
Federzüge.

Sie floh und brach die Liebe um anderer Liebe willen!

Dürre Blätter liegen, halb zerrieben, zwischen den Papieren; Klaus
Tiedemann weiß nicht, woher sie stammen. Er mag sie wohl von einem
Spaziergang nach Hause gebracht haben, derweil die Frau an einen
anderen dachte.

Zeitungsausschnitte mit rot und blau unterstrichenen Stellen
zeigen Klaus Tiedemanns Erfolge; mit gierigem Blick liest er die
nebensächlichen Berichte, daß ein Klaus Tiedemann in der Union-Street
sein Geschäft vergrößert, daß er die Vertretung der European Company
übernommen hat. Es sind Anzeigen, die er einst selbst bezahlte. Heute,
in der schweren Stunde, müssen sie ihm Zeuge sein, daß ihn die Welt
anerkannt hat. Daran klammert er sich fest ....

Ein schweres Kuvert mit dem Monogramm auf pergamentartigem Papier zeigt
die Vermählung des Bankiers Klaus Tiedemann mit Fräulein von Wesenheim,
Tochter des Konsuls Ernst von Wesenheim, Kammerrat, Börsenrat usw., in
würdevollen Worten an.

Dann kommen mannigfaltige Erinnerungen an die Zeit der Kinder:

Hilde und Clo haben einen Wunsch aufgesagt; in zierlichen Worten
ist er hier niedergeschrieben; man merkt nicht die vielen Püffe der
Erzieherin, bis endlich die kleinen Köpfe die Worte faßten. Klaus
Tiedemann war stets tief gerührt und hatte in seiner bescheidenen,
scheuen Art die Leistungen weit überschätzt.

Unbeholfene Zeichnungen aus Fetzen Papieres finden seine tastenden
Hände: Indianer zu Pferde und Engel mit schlagenden Flügeln! Der kleine
Fred hat sie gezeichnet. Ein weher Laut zittert von seinen Lippen.
Klaus Tiedemann legt den Kopf auf die Tischplatte; endlich kommen die
erlösenden Tränen:

Warum ist das Leben so hart?

Sie waren alle so liebe, so herzige Kinder, die von den Häßlichkeiten
der Welt nichts wußten. Und nun ein Betrüger!

»Er ist es.« Laut ruft Klaus Tiedemann die Worte, daß er selbst scheu
zusammenfährt.

Warum wäre er sonst geflohen? Warum hat er Geld unterschlagen? Warum
hat er nicht seiner Geschwister gedacht?

Das Kind seiner Zeit!

Rücksichtslos, Altes verachtend, nur dem Genuß lebend, das Leben
sich leicht machend, das Geld als Hauptmittel ansehend, um etwas zu
erreichen. Schwer stöhnt Klaus Tiedemann auf:

Er selbst hat ihm den Weg gewiesen, hat aus Liebe und Nachgiebigkeit
die häßlichen Züge nicht im Keime erstickt. Das Geld hat höhere Werte
als die der Bequemlichkeit. Es legt Verpflichtungen auf, die schwer
zu erfüllen sind. Nur der Erwerb bringt Freude, nicht der Besitz. Der
Mensch muß weiter streben, darf nicht halten und nicht rasten! _Ganz_
soll er leben! Nicht scheu nach anderen fragen; aufrechten Blickes
gehen; soll das aussprechen, was er denkt, nicht das, was andere wollen!

So war er als Kaufmann gewesen, nicht so als Mensch! Klaus Tiedemann
hat sich nach der Meinung der Leute gerichtet, um deren Liebe zu
erwerben.

Das ist der schwere Irrtum seines Lebens.

Er läßt sich auf den Sessel fallen; seine Augen stieren durch das
Dunkel. Ihm kommen schwere Gedanken.

Wenn Fred recht hätte? Wenn es die erste Pflicht des Menschen wäre, nur
sich zuliebe zu leben? Vielleicht ist seines Sohnes Art die richtige?

Sorgenlos ging dann die Zeit an einem vorbei. Aber das war nur möglich,
wenn andere nicht so dachten? Das konnte das Rechte nicht sein. Doch
alles ist in der Welt; sie schreitet fort nach oben -- in harter
Selbstsucht.

Warum sollte das Leben nicht doch darin bestehen?

Er hatte anders gedacht und war unglücklich gewesen. In froher Laune
floß das Leben Freds.

Aus tiefer Qual stöhnt er auf. Zu spät kommt ihm die Erkenntnis: er hat
seine Zeit verlebt.

Ein Zittern befällt ihn, eine furchtbare Angst vor dem Ungewissen,
Ungenützten, vor dem Zuspät!

Totenstille ist um ihn.

Dann hätten die recht, die von selber gingen?

Dann wäre es Pflicht, das Kind zu tilgen, ehe es geboren?

Wofür die langen Qualen, wenn ein Fingerdruck Ruhe gab auf ewig?

Ein paar Schritte, und es ist getan!

Klaus Tiedemann weiß die Waffe im Kasten, die er als junger Mann bei
sich getragen hat; er braucht nur einige Schritte zu machen, dann
starrt ihn die schwarze Mündung an: ein Druck, und es ist vorbei.
Während er stürzt, dreht sich die Kammer weiter, zum nächsten Schuß.

Wie leicht findet der Mensch seine Ruhe!

Schon einmal hat Klaus Tiedemann an den Selbstmord gedacht, als er
hungerte; doch nur Schwäche glaubte er damals darin zu sehen.

Nun dünkt er ihm Erlösung.

Fahrige Eile kommt über ihn: wie wohlig muß es sein, ausruhen zu dürfen
nach langer Qual!

Wilder Haß ist in ihm; er knirscht mit den Zähnen. Niemand liebt ihn,
er war einsam, und einsam will er sterben. Sie sollen machen, was sie
wollen, ihm ist alles gleich, er will endlich Ruhe finden. Er tastet
sich in die Höhe und geht dem Kasten zu; ein irres Lachen ist auf
seinen Lippen. Des Lebens Krone!

Die Faust schlägt an die kalte Mauer; ohnmächtige Anklagen wirft die
lallende Zunge durch die ruhende Nacht. Schwarze Hände streifen seine
Stirn, ein Fallen ist um ihn, ein Drehen und Winden. Er glaubt Arme zu
spüren, die sich nach ihm strecken, ihn festhalten wollen. In rasenden
Schlägen teilt er die Luft, er will sterben! Er will Leo folgen, dem
einzigen, der ihn geliebt hat.

Sein Kind wird ihn verstehen.

Aus dem Dunkel leuchten ihm gespenstige Augen entgegen: er hört des
Toten Stimme:

»Das Leben hat keinen Wert.«

Hansens Bild zerfließt mit dem Gebilde seiner erregten Phantasie zu
einem Ganzen.

Er tut einen wilden Schrei. Ein furchtbarer Druck raubt ihm plötzlich
den Atem. Er bäumt sich auf; schwarz wie ein Grab umgeben ihn die
finsteren Wände.

Ist das der Tod?

Sein Herz macht schwere, unregelmäßige Schläge. Er merkt, wie ihm das
Blut durch die Adern schnellt; er sinkt nach rückwärts. Kraftlos fallen
die Glieder herab; weit treten die Augen hervor und starren entsetzt in
das Dunkel.

Schwerer Druck lastet auf seiner Brust; in seinen Ohren ist ein
heulendes Sausen und Brausen. Wie gelähmt liegt die Zunge im Munde.
Kein Glied kann er rühren. Kalter Schweiß rinnt über sein Gesicht.

Der Kopf fällt vornüber.

Hart, erbarmungslos starr stehen die Wände.

Regungslos liegt Klaus Tiedemann; nur die Uhr in seiner Tasche tickt
weiter. -- -- --

Fred Tiedemann, auf seiner Flucht, in dem Hotelzimmer, wacht auf und
wirft sich von einer Seite auf die andere; doch den Schlaf findet er
nimmer.

Nach langen Sekunden tut Klaus Tiedemann einen tiefen Atemzug und zieht
die eiskalten Beine an sich.

Er will nicht sterben!

Langsam kriecht das Blut wieder durch die Adern; schwer und
ungleichmäßig fängt der Puls zu arbeiten an. Er hebt den Kopf mit
fieberheißen Augen.

Nun ist er neben ihm gestanden. Der Segenspender!

Mühsam richtet er sich auf und atmet schwer.

Die erste Mahnung.

Er schauert zusammen.

Sie hätten ihn finden müssen, in wenigen Stunden; schon hebt leise der
Verkehr auf den Straßen an.

Er hat sein Haus nicht bestellt.

Zitternd läßt er sich in den Sessel fallen.

Sein Herz hat ihn aufgerüttelt, geschwächt durch die furchtbaren
Erregungen der letzten Tage.

Es können noch Jahre sein, die er als alter Mann zu leben hat, es
können vielleicht aber auch nur Stunden sein.

Nun weiß er, daß er alt ist, was seine Pflicht ist!

Die Hand auf die Brust gepreßt, geht er hin und wider.

Hier und da bleibt er stehen und horcht den Schritten, die leise vom
oberen Stockwerk durch die Decke klingen.

Es mag wohl Hilde sein, die wacht.

Manch Fenster in Tiedemanns Haus war hell erleuchtet geblieben; die
Sorge fuhr durch das Dunkel und schlug mit ihren Gewändern.

Klaus Tiedemann streckt mit glücklichem Lächeln die Arme; unendliche
Liebe zu den Menschen erfaßt ihn. Noch lebt er!

Er will die Tage nützen, seinen Kindern lang entbehrte Gerechtigkeit
geben.

Kein Baum ist so gut, daß er nicht schlechte Zweige hätte.

Von selbst ist Fred gegangen.

Doch andere warten im Vertrauen; bei ihnen muß Glück wohnen.

Er will zur Tür; auf halbem Wege kehrt er wieder um.

Noch ist er mit sich nicht im reinen.

Er hört den Lärm auf der Straße. Fahl fällt das Winterlicht durch die
Fenster.

Zu neuem Leben drängt die Welt.

In tiefen Gedanken steht Klaus Tiedemann, die Augen sehen einwärts,
mechanisch fahren die Hände den Sessel entlang.

Er hört eine Tür gehen und eilige Schritte, dann drückt eine Hand auf
die versperrte Schnalle: »Herr Tiedemann!«

»Ich komme.«

In dem Türrahmen steht Görnemann, hektische Röte auf den Wangen: »Gott
sei Dank!«

Die beiden Greise sehen sich lange in die Augen.

»Und nun holen Sie mir meine Kinder!«

»Ja!« Görnemann rafft sich auf, noch immer zucken ihm die Knie: nicht
lebend glaubte er seinen Herrn wieder zu finden. »Auch Gerhard?« fragt
er unsicher.

Klaus Tiedemann nickt ernst:

»Auch Gerhard; der ist der wichtigsten einer.«

Er bleibt beim Tische stehen, aufrecht und fest.

Hilde stürzt auf ihn zu.

In tränenlosem Schluchzen liegt sie an seiner Brust. Klaus Tiedemann
preßt sein Kind an sich; seine Lippen streifen ihre Stirn:

»Und dann laß Hansen holen!«

Durch Tränen lächelnd sieht sie zu ihm auf: »Du Lieber, du Guter!«

Mit schmerzlichem Zucken um den Mund sagt er:

»Er gehört nun auch zu uns, Hilde; er muß mich glauben machen, daß das
Leben noch Glück für uns hat.«

Er hebt den Kopf, er hört der anderen Schritte; schon steht Gerhard in
der Tür.

Er streckt ihm die Hände entgegen.

»Laß gut sein, Vater,« sagt der, »ich will's den anderen schon
auswischen, du sollst nicht umsonst gelebt haben!«

Es ist der Blick des alten Tiedemann, der ihm aus den jungen Augen
seines Sohnes entgegenkommt, in Liebe und Kraft.


  Buchdruckerei
  Rudolf Mosse
  Berlin SW



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  | Anmerkungen zur Transkription                                |
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  | Inkonsistenzen wurden beibehalten, wenn beide Schreibweisen  |
  | gebräuchlich waren, wie:                                     |
  |                                                              |
  | anderen -- andern                                            |
  | ausnützen -- ausnutzen                                       |
  | euere -- eure                                                |
  | heut -- heute                                                |
  | Mansbergischen -- Mansbergschen                              |
  | Papieres -- Papiers                                          |
  | teuere -- teure                                              |
  |                                                              |
  | Interpunktion wurde ohne Erwähnung korrigiert.               |
  | Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen:              |
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  | S. 29 »mußtt« in »mußt« geändert.                            |
  | S. 32 »zitteten« in »zitterten« geändert.                    |
  | S. 40 »Ist treffe« in »Ich treffe« geändert.                 |
  | S. 57 »vorübergeneigt« in »vornübergeneigt« geändert.        |
  | S. 65 »Pulz« in »Puls« geändert.                             |
  | S. 70 »ermuntend« in »ermunternd« geändert.                  |
  | S. 83 »Lipppen« in »Lippen« geändert.                        |
  | S. 89 »Crême« in »Crème« geändert.                           |
  | S. 104 »Betrachttung« in »Betrachtung« geändert.             |
  | S. 108 »Directoir-Toilette« in »Directoire-Toilette«         |
  |        geändert.                                             |
  | S. 110 »hat« in »hast« geändert.                             |
  | S. 117 »Bamherzigkeit« in »Barmherzigkeit« geändert.         |
  | S. 141 »Kukuck« in »Kuckuck« geändert.                       |
  | S. 153 »schrille« in »schrillen« geändert.                   |
  | S. 153 »horscht« in »horcht« geändert.                       |
  | S. 158 »Schwiegevater« in »Schwiegervater« geändert.         |
  | S. 161 »Beistift« in »Bleistift« geändert.                   |
  | S. 179 »Gröben« in »Gröden« geändert.                        |
  | S. 188 »Kontor« in »Kontur« geändert.                        |
  | S. 197 »Fred Tiedemann scheint ...« in                       |
  |        »Klaus Tiedemann scheint ...« geändert.               |
  | S. 204 »Bite« in »Bitte« geändert.                           |
  | S. 214 »daß« in »das« geändert.                              |
  | S. 215 »Gerhardts« in »Gerhards« geändert.                   |
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