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Title: Aus meinem Jugendland
Author: Kurz, Isolde
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Aus meinem Jugendland" ***


  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1918 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung
    und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend
    korrigiert. Ungewöhnliche sowie inkonsistente Schreibweisen,
    insbesondere Dialektausdrücke, wurden nicht verändert. Passagen in
    Kursivschrift wurden mit _Unterstrichen_ hervorgehoben.

    Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter eingefügt.

  ####################################################################



                            [Illustration]

                         AUS MEINEM JUGENDLAND



                                  AUS
                           MEINEM JUGENDLAND

                              ISOLDE KURZ


               Rainer Wunderlich Verlag (Hermann Leins)
                               Tübingen



        Printed in Germany. Druck von H. Laupp jr in Tübingen.
        Copyright 1918 by Deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart



                           Dem Lebensfreund
                und Teilhaber meiner Jugenderinnerungen
                            Ernst von Mohl



Inhaltsverzeichnis.

                                                                   Seite
    Vorwort.                                                           7
    Lebensmorgen.                                                      9
    Tante Berta und die Schwabenstreiche.                             51
    Umzug nach Kirchheim.                                             62
    Das alte Tübingen.                                                74
    Die Heidenkinder.                                                 96
    Ein Fluchtversuch.                                               107
    Von Ihr. Nachklänge des „tollen“ Jahres. Das rote Album.         119
    1866.                                                            147
    Die Geburt der Tragödie.                                         157
    Vorfrühling.                                                     173
    Ein Nothelfer. Russische Freunde.                                200
    Ein französischer Revolutionär. Jugendeseleien.                  228
    1870.                                                            245
    Rigi Regina.                                                     256
    Besuch in Frankreich.                                            268
    Bedrängnisse.                                                    287
    Der Brand und die Flamme. Hat der Mann ein Seelenleben?          302
    Der 10. Oktober.                                                 311
    Wieder bei den Griechen.                                         326
    Unzeitgemäßes und was es für Folgen hatte.                       336
    München.                                                         351
    Letzte Tage in der Heimat.                                       375



Vorwort.


Das vorliegende Buch bildet gewissermaßen eine Fortsetzung und
Ergänzung der Lebensgeschichte meines Vaters und die Überleitung zu
den „Florentinischen Erinnerungen“, in denen ich die Charakterbilder
meiner verstorbenen Brüder einzeln gezeichnet habe. Da ich bei der
Niederschrift der genannten Bücher nicht daran dachte, auch einmal
die eigene Entwicklung zu erzählen, sind in beiden gelegentlich Dinge
vorweggenommen, die hier mit größerer Ausführlichkeit behandelt
sein wollten. Doch bin ich hierin nur dem Gesetz des Gedächtnisses
gefolgt, das gleichfalls die Ereignisse nicht am langen Faden aufreiht,
sondern das Zusammengehörige, auch wenn es zeitlich getrennt ist,
aneinanderknüpft.

Natürlich kann das Bild, das ich von meiner damaligen Umwelt gebe,
kein vollständiges sein. Es haben wertvolle Menschen meinen Jugendweg
gekreuzt, deren hier keine oder nur flüchtige Erwähnung geschieht. Die
Wahl der eingeführten Personen bestimmt sich einzig nach ihrem Einfluß
auf meinen Werdegang. Und ein solcher Einfluß hängt ja weit weniger von
der wirklichen Bedeutung einer Persönlichkeit ab als von dem Zeitpunkt,
wo unsere Lebenswege sich schneiden.

Auch wundere man sich nicht, wenn man in meinen Erinnerungen Größtes
und Kleinstes, Völkergeschicke und Jugendeseleien, große Männer und
kleine Mädchen bunt beisammen findet. In meinem Jugendgarten wuchsen
alle Gewächse Gottes, große und kleine, einheimische und fremde, wild
durcheinander. Da gab es himmelstrebende Zedern, wundersame Orchideen,
seltene Rosenarten, daneben lustige Bauernblumen und allerhand
blühendes Unkraut. Ich pflücke mit vollen Händen, was ich noch erraffen
kann. Freilich mußte ich manche lockende Blume nachträglich wieder
aus dem Strauß werfen, weil mir persönliche Rücksichten Zurückhaltung
auferlegen. Und was die großen Männer betrifft, so nehmen sie die Nähe
der kleinen Mädchen nicht übel; ja sie hätten, als sie lebten, die Welt
ohne diese Nähe um vieles weniger anziehend gefunden.

    Isolde Kurz.



Lebensmorgen.


Es hat einen tiefen Reiz für das geistige Ich seinen eigenen Anfängen
nachzuspüren. Wann und wie ist von diesem Bewußtsein, das später die
ganze Welt des Seienden, des Gewesenen und gar noch des Künftigen
umspannen möchte, der erste Funke aufgedämmert? Die tägliche Umgebung,
in die wir hineingeboren wurden, läßt kaum einen bewußten Eindruck
zurück, sie ist uns das Selbstverständliche gewesen, auch sind es nicht
Personen, sondern Dinge, die uns zuerst die Vorstellung der Außenwelt
als mit uns im Gegensatz befindlich geben.

Am Anfang meiner Erinnerungen steht ein Rad. Diese früheste
Gedächtnisspur hat sich mir in meinem achtzehnten Lebensmonat
eingegraben. Es war ein mit grünem Schlamm behangenes, verwittertes
Mühlrad, das sich in einem eilenden Schwarzwaldbach drehte. Ich
hielt es für den großen Garnhaspel unserer Josephine, woraus ich
schließen muß, daß mir dieser schon eine ganz geläufige Vorstellung
war, aber wann ich seiner bewußt wurde, weiß ich nicht. Das Rad
war also nicht das erste, ich müßte vielleicht sagen: im Anfang
war der Haspel; allein nun stutze ich wie der Doktor Faust bei der
Bibelübersetzung: ich kann den Haspel so hoch unmöglich schätzen. Es
müssen noch andere Erkenntnisse in Menge vor und mit dem Haspel gewesen
sein, jedoch sind sie auf ewig unter die Schwelle meines Bewußtseins
hinabgetaucht, und das Mühlrad steht als erster sicherer Meilenstein
auf meiner Lebensstraße. Ich zappelte also vom Arm des Kindermädchens
herunter, um den vermeintlichen Haspel aus dem Wasser zu langen -- die
Größenverhältnisse waren mir noch nicht aufgegangen -- und ich setzte
durch diese Absicht das Mädchen in berechtigtes Erstaunen, denn sie
trug mich schleunig hinweg, wobei ich meine Mißbilligung durch Schreien
und Treten aufs lebhafteste äußerte. Dieses Mädchen hieß Justine, sie
war bei der gleichnamigen Heldin des „Weihnachtsfundes“, den mein
Vater um jene Zeit schrieb, Pate gestanden, und der Auftritt spielte
auf einer moosbewachsenen Steinbrücke in dem kleinen Schwarzwaldbad
Liebenzell, wo meine Eltern den Sommer verbrachten.

Dieselbe Justine, die, beiläufig gesagt, erst vierzehn Jahre alt war,
mir aber als eine sehr ehrwürdige Persönlichkeit erschien, trug mich
einmal in eine Schmiede, wo rußige Männer tief innen um loderndes
Feuer hantierten. Ich sah sie mit unbeschreiblichem Entsetzen und
hielt sie für Teufel. Wie aber kam der Teufel, von dem ich nie gehört
hatte, in meine Vorstellung? Ich weiß es nicht und kann nur annehmen,
daß der Teufel zu den angeborenen Begriffen gehört. Ich schrie und
sträubte mich gewaltig, als es in diese Hölle ging, und als gar
einer der Schwarzen -- es war, wie ich später erfuhr, der Vater des
Mädchens -- sich mir verbindlich nähern wollte, ließ ich jenes im
ganzen Ort bekannte Geschrei ertönen, woran mich der Nachtwächter
straßenweit zu erkennen pflegte, daß das Mädchen eiligst mit mir
das Weite suchte. Ich konnte mich übrigens damals schon ganz gut
verständlich machen, denn ich sprach, wie man mir erzählte, schon im
ersten Lebensjahr zusammenhängend. Mein um elf Monate älteres, sonst
sehr begabtes Brüderchen Edgar lernte es erst an meinem Beispiel. Aber
wahrscheinlich hätte er es ebenso früh wie ich gekonnt und ließ sich
nur durch irgendein inneres Hemmnis die Zunge binden, denn er war ein
wunderliches, äußerst schwierig veranlagtes kleines Menschenkind, dem
meine größere Unbefangenheit ebenso nützlich war wie mir sein schon
entwickelterer Verstand.

Mein nächster bleibender Eindruck war ein frischgefallener Schnee in
den Straßen von Stuttgart, den ich mit inniger Freude für Streuzucker
ansah. Dann aber kam eine Stunde unvergeßlichen Jammers. Unsere
Josephine, das geliebte Erbstück aus dem großväterlichen Hause, hatte
mich im Wägelchen auf den Schloßplatz geführt und war unter der
sogenannten Ehrensäule, die auf einem, wie mir schien, himmelhohen
Unterbau eine Gruppe von Steinfiguren trägt, mit mir angefahren. In
einer dieser Gestalten glaubte ich unsere Mutter zu erkennen und rief
sie erschrocken an herabzukommen. Da sie sich nicht regte, schrie ich
immer ängstlicher und flehender mein „Mamele, komm lunter“. Dieses
starre, steinerne Dastehen flößte mir eine bange Furcht, ein wachsendes
Grauen ein, ich begann zu ahnen, daß es ein Entrücktsein geben könne,
wo kein Ruf die geliebte Seele mehr erreicht. In meinen Jammer mischte
sich noch ein dunkles Schuldgefühl, als ob dieses Unglück die Strafe
für irgendeine von mir begangene Unbotmäßigkeit wäre, ich brach in ein
fürchterliches Wehgeschrei aus und blieb für alle Tröstungen taub,
während man mich schreiend die ganze Königstraße entlang nach Hause
führte, wo erst der lebendige Anblick der für verloren Beweinten mir
den Frieden wiedergab.

Und dann sehe ich in eben dieser Königstraße eine braune einflügelige
Eichentür mit messingener Klinke, die so niedrig stand, daß ich sie
mit einiger Mühe gerade erreichen und aufdrücken konnte. Sie führte in
einen Bäckerladen, den wir Kinder täglich auf unserem Spaziergang mit
Josephine besuchten. Dort durfte jedes von uns sich ein schmackhaftes
Backwerk, eine sogenannte „Seele“, selber vom Tisch langen. Eines
Tages kam Edgar mit seiner Wahl nicht zustande. Welche Seele man
ihm anbot, es war immer nicht die rechte. Er wurde darüber sehr
schwermütig und erklärte immerzu: ’s Herzele will was und ’s Herzele
kriegt nix. Als Josephine nach vielen vergeblichen Versuchen, ihn zu
befriedigen, endlich mit uns den Laden verließ, verwandelte sich sein
Gram in lauten Jammer, und während wir anderen freudig unsere Seelen
verzehrten, erfuhr es die ganze Königstraße hinab jeder Vorübergehende,
daß das Herzele etwas wollte und nichts bekam. Daheim ergoß sich der
Enttäuschungsschmerz in einen Strom von Tränen, bis Josephine ihren
Liebling still beiseite nahm und ihm die heimlich eingesteckte Seele
reichte. Er verzehrte sie befriedigt und sagte dann: ’s Herzele will
noch mehr.

In mein drittes Lebensjahr fällt die erste Bekanntschaft mit dem
Dichter Ludwig Pfau, der als politischer Flüchtling in Paris lebte
und nun zu heimlichem Besuche nach Stuttgart gekommen war. Es
verkehrten zwar viele Freunde in meinem Elternhause, aber sie alle
tauchen in meinem Gedächtnis erst viel später auf. Aus jener frühen
Stuttgarter Zeit blicken mich nur Ludwig Pfaus vorstehende blaue
Augen aus einem rötlich umrahmten Gesicht strafend an. Das ging so
zu: Pfau hielt sich acht Tage in unserem Hause verborgen und pflegte
während der Arbeitsstunden meines Vaters bei meiner Mutter zu sitzen,
mit deren Anschauungen er sich besonders gut verstand. Mich konnte
er nicht ausstehen, und diese Gesinnung war gegenseitig, denn wir
waren einander im Wege. Ich war durchaus nicht gewohnt, daß die Mama,
die ich sonst nur mit den Brüdern zu teilen hatte, sich so viel und
andauernd mit einer fremden Person beschäftigte. Wenn die beiden also
politisierend in dem großen Besuchszimmer auf und ab gingen, drängte
ich mich gewaltsam zwischen die mütterlichen Knie, daß ihr der Schritt
gesperrt wurde, und der Gast ärgerte sich heftig, ohne daß er bei der
abgöttischen Liebe, die meine Mutter für ihre Kleinen hatte, es wagen
durfte, mich vor die Tür zu setzen. Er wollte sich daher in Güte mit
mir einigen, und nachdem er sich eines Tages doch zu einem Ausgang
entschlossen hatte, brachte er eine Tüte voll Zuckerwerk mit, dem er
den mir noch unbekannten Namen Bonbons gab. Dieses unschöne Wort für
einen so schönen Gegenstand mißfiel mir sehr: in dem nasalen O und
in der Verdoppelung der Silbe fühlte ich dunkel etwas Groblüsternes
und Unwürdiges. Wie mich ein neues Wort, das meinen Ohren schön oder
geheimnisvoll klang, in einen stillen Rausch versetzen konnte, auch
wenn ich seinen Sinn gar nicht verstand, ja dann erst recht, so daß
ich damit umherging wie mit dem schönsten Geschenk, so gab es andere,
die mir einen Widerwillen einflößten und die ich einfach nicht in den
Mund nahm. Ich wurde nun auf den breiten hölzernen Tritt gesetzt,
der das halbe Zimmer ausfüllte, und unter dem Beding, mich für eine
Weile ruhig zu verhalten, erhielt ich ein rundes bernsteinfarbiges
Zuckerchen, das ich alsbald in Arbeit nahm. Aber es rutschte mir glatt
den Hals hinunter, mich um den Genuß betrügend. Sogleich brach ich den
Frieden, indem ich wie Quecksilber auffuhr und mich miauend zwischen
die Knie der Mutter klemmte, in der Hoffnung, eine Entschädigung zu
erlangen. Fordern mochte ich sie nicht, weil ich nicht wußte, wie das
Ding benamsen, da mir das widerwärtige Wort, das ich ganz leicht
hätte aussprechen können, nicht von der Zunge wollte. Ich antwortete
also auf die erschreckte Frage, was mir geschehen sei, nur, ich hätte
„das Ding“ verschluckt. Was für ein Ding? fragte sie, schon an allen
Gliedern zitternd, denn sie dachte an irgendeinen spitzigen oder gar
giftigen Gegenstand. Das Ding! Das Ding! rief ich geängstigt, daß man
mich nicht verstand, und nun erst recht entschlossen, das verhaßte
Wort keinenfalls auszusprechen. Mama war schon aus der Tür gestürzt,
um den Arzt zu rufen, aber der Gast hatte die Geistesgegenwart, mich
besser ins Verhör zu nehmen: Wie sah denn das Ding aus? -- Es war rund
und gelb und ganz süß, sagte ich schnell, erleichtert, daß ich nun
endlich den Weg sah, mich verständlich zu machen. Du dummes Kind, das
war ja dein Bonbon, konntest du das nicht gleich sagen? hieß es nun.
Mama wurde zurückgerufen, die mich jubelnd als eine Gerettete in die
Arme schloß, ich erhielt ein zweites Bonbon, das ich trotz dem widrigen
Namen vergnügt in Empfang nahm, und das Zwiegespräch konnte endlich
seinen Fortgang nehmen. Aber diesen Zwischenfall hat mir Pfau nie
vergessen. Er versicherte mir später oft, ich sei das unausstehlichste
Kind gewesen, was ich ihm von seinem Standpunkt aus gerne zugeben will.

Frühzeitig schlich sich auch die Nachtseite des Lebens in meine
Innenwelt. Die Mißgestalten des Struwwelpeters arbeiteten zum Nachteil
meines Seelenfriedens in meiner Phantasie, die genötigt war, im Traum
noch mehr solcher Ungeheuer zu erzeugen. Eins der schrecklichsten
war der Häkelmann, eine Gestalt, die mich jahrelang verfolgte. Er
war lang und mager mit grasgrünem Frack und roten Beinkleidern und
fuhr blitzschnell durch alle Zimmer, indem er mit einem langen
Haken die Kinder, die sich vor ihm verkrochen, unter Tischen und
Betten hervorzuhäkeln suchte. Wann er erschien, brachte er das
ganze Haus um den Schlaf, so furchtbar war mein Angstgeschrei. Wie
bei Nacht vor dem Häkelmann, so fürchtete ich mich wachend vor der
Lichtputzschere, die damals noch im Gebrauche war. Ich hatte nämlich
auf einem Bilderbogen eine solche gesehen, die ein kleines Mädchen
einschnappte, und glaubte mich seitdem zum gleichen Schicksal bestimmt.
Wenn es dämmerte und die Kerzen angezündet wurden, so blinzelte ich
immer mit tiefem Mißtrauen nach der messingenen Putzschere, und so
oft sie in Tätigkeit trat, fürchtete ich, in dem gähnenden schwarzen
Rachen verschwinden zu müssen, denn so frühreif ich in allem anderen
war, die Größenverhältnisse waren mir noch immer nicht aufgegangen.
Desgleichen gab es im Hause einen Bilderkalender mit einer Karikatur,
aus der ich schreckliche Ängste sog: das waren die Kränzelesfrauen.
Mit großgeblumten Kleidern im Biedermeierstil, Kaffeekannen und Tassen
in der Hand saßen sie um einen runden Tisch; sie hatten grausige
Drachenköpfe auf langen, schlangenartigen Hälsen und auf den Köpfen
große nickende Hauben, und sie neigten diese unheimlichen Köpfe
geifernd und schnatternd gegeneinander. Ein längeres Gedicht mit
Aufzählung ihrer Untaten war beigegeben, wovon jeder Vers mit dem
Kehrreim schloß: Hütet euch vor den Kränzelesfrauen. Ich nahm mir
natürlich vor, mich vor diesen Ungetümen zu hüten, doch hat mir das im
Leben wenig genutzt, denn als ich ihnen später leibhaftig begegnete,
da hatten sie leider keine Drachenköpfe noch Schlangenhälse, woran
ich sie zu erkennen vermocht hätte; sie schnatterten mir auch nicht
entgegen, sondern küßten mich auf beide Wangen, und erst wenn ich den
Rücken gedreht hatte, spritzten sie ihr Gift. Da wußte ich nun, weshalb
sie mir in den frühesten Kinderjahren den tödlichen Abscheu eingeflößt
hatten.

Meine erste Bekanntschaft mit den Kränzelesfrauen fällt übrigens schon
nicht mehr in meine illiterate Zeit, denn ich erinnere mich, besagtes
Gedicht zu wiederholten Malen selbst gelesen zu haben. Allerdings
hatte ich diese Kunst schon im dritten Jahr, dem älteren Bruder zur
Gesellschaft, unter mütterlicher Leitung zu erlernen begonnen. Auch in
die klassische Literatur wurde ich bereits eingeführt, denn Mama ließ
mich als erstes das Uhlandsche Gedicht vom „Wirte wundermild“ schreiben
und auswendig hersagen; und etwas später, es mag zwischen meinem
vierten und fünften Lebensjahr gewesen sein, las sie mir Schillersche
Balladen vor, die mich sehr entzückten, mit Ausnahme der „Bürgschaft“,
die ich als einen unzarten Angriff auf meine Tränendrüsen empfand und
verstimmt abgleiten ließ. Der scheinbare Kaltsinn empörte mein rasches
Mütterlein, sie schalt mich einen Eisklotz und hielt mir zur Rüge vor,
daß mein von mir sehr bewunderter Bruder Edgar beim Vorlesen in Tränen
zerflossen sei. Aber es half nichts, ich konnte über „die Bürgschaft“
nicht weinen, und es war gerade die frühreife Empfänglichkeit, die
mich gegen das gröbere Pathos störrisch machte. „Die Bürgschaft“ ist
auch zeitlebens für mich auf dem Index geblieben, ein Beweis für die
vollkommene Unveränderlichkeit unserer angeborenen Innenwelt.

Hier ziehe ich einen Siebenmeilenschuh an und stapfe ohne weiteres in
unsere Obereßlinger Tage hinüber. Da ich aber alle äußere Szenerie
sowie die Fülle der teils rührenden, teils wunderlichen Käuze, die
unsere Kinderstube umgaben, schon in meiner Hermann-Kurz-Biographie
ausführlich geschildert habe, werde ich auch hier fortfahren, nur
von den inneren Erlebnissen zu reden, an denen das kleine Menschlein
allmählich zum Menschen ward.

Das nächste, was sich mir eingeprägt hat, war eine erste Liebe -- o daß
sie ewig grünend bliebe! Aber sie nahm leider ein Ende mit Schrecken.
Ich war jetzt fünf Jahre alt, und er hieß Dr. Adolf Bacmeister. Er trug
einen braunen Vollbart nebst Brille und war Präzeptor. Daß er nebenbei
auch ein Poet und ein feiner Erforscher sprachlicher Altertümer war,
wußte ich damals noch nicht. Wenn er ins Haus kam, galt seine erste
Frage dem kleinen Fräulein, ich wurde dann allein aus der ganzen
Kinderschar herausgerufen, damit er mir Geschichten erzählen und mit
mir spielen konnte. Er beteuerte, mich unendlich zu lieben, und warb
eifrig um meine Gegenliebe, die ich ihm nicht versagte. Auch hörte
ich es nicht ungern, daß er mich sein Bräutchen nannte. Nur küssen
durfte er mich nicht, weil der Bart kratzte. Durch keine Bitte noch
Versprechung, auch nicht durch elterliches Zureden, ja nicht einmal
durch Gewalt war es ihm je gelungen, einen Kuß von mir zu erlangen.
Aber die Eifersucht brachte es eines Tages dahin. Ich hatte mir nie
vorgestellt, daß eine andere sich zwischen mich und meinen Freund
schieben könnte, den ich für mein ausschließliches, unveräußerliches
Besitztum hielt. Daher fuhr es mir wie ein Strahl in die Glieder, als
ich eines Tages aus den Reden der Eltern, die ihn sehr hoch hielten,
entnahm, daß sie damit umgingen, ihn mit der Tochter eines nahen
Freundes zu verheiraten. An diese Gefahr hatte ich nie gedacht, denn
das liebenswürdige Mädchen, das etwa siebzehn Jahre alt sein mochte,
erschien mir wie eine Matrone. Ich begriff meine Mutter nicht, die
um einer Fremden willen ihre eigene Tochter benachteiligte. Als mein
Verehrer wiederkam, ließ ich mich auf den Schoß nehmen und trotz dem
größten inneren Widerstreben von den bärtigen Lippen küssen. Wir waren
eben allein im Zimmer neben dem gedeckten Mittagstisch. Da sagte das
Ungeheuer: Weißt du auch, warum ich dich so lieb habe? Weil du ein so
zartes festes weißes Fleisch hast; das schmeckt fein zu französischem
Senf. So kleine Mädchen esse ich am allerliebsten. Dabei blinzelte er
nach einem langen Messer, das neben dem Senftopf lag, und ich entwich
mit einem gräßlichen Schrei. Da in diesem Augenblick die Eltern
hereinkamen, verkroch ich mich bebend unter dem Kanapee. Nach einiger
Zeit wurde mein Verschwinden bemerkt, und man rief nach mir, aber ich
hielt mich ganz still. Tränen liefen mir über das Gesicht, und alle
Pulse klopften. Das Untier! Die gemeine Seele! Darum hatte er mir
geschmeichelt und mich angelockt. Ich sah auf einmal in seinem Gesicht
die ganze Scheusäligkeit des Kannibalen. Furcht hatte ich keine, denn
daß mein guter Papa ihm nicht gestatten würde, seine Leckerhaftigkeit
zu befriedigen, war mir klar. Zorn, Haß, Verachtung und die Beschämung
verratener Liebe arbeiteten in dem kleinen Seelchen. Der Oger saß
inzwischen ruhig essend und plaudernd am Tisch, ohne Ahnung von des
Kindes grimmigem Schmerz, denn er hielt mich für viel zu verständig,
um den groben Spaß zu glauben. Er reiste ab und hat die Kälte, mit der
ich ihn später bei seinen seltenen Besuchen empfing, gewiß nicht auf
Rechnung seines Kannibalentums gesetzt. Mir selber ist es rätselhaft,
wie neben meiner überschnellen geistigen Entwicklung so viel kindlicher
Schwachsinn fortbestehen konnte. Aber ich nahm mir diese Erfahrung zur
Lehre, daß man mit Kindern im Spassen nicht zu weit gehen darf, auch
wenn man sie für kluge Kinder hält. Und seltsam, es blieb etwas von
jenem Eindruck hängen; ich konnte auch, als ich heranwuchs und mein
ehemaliger Freund mir mancherlei liebenswürdige Aufmerksamkeit erwies,
kein herzliches Gefühl mehr für diesen Gegenstand meiner ersten Liebe
erschwingen, so gewaltsam hatte ich ihn aus meiner Seele gerissen.

Obgleich das bißchen Lernen in Gesellschaft des Bruders mühelos und mit
Riesenschritten vor sich ging -- Lesen, Rechtschreiben, das Einmaleins,
die Mythologie, die Anfänge der Geschichte glitten uns wie von selber
zu --, so wurde ich doch in bezug auf die Leichtgläubigkeit noch lange
nicht gescheiter. Was man mir sagte, nahm ich ohne weiteres für wahr
und schmückte es noch durch die Einbildung aus. Im Kämmerchen unserer
Josephine befanden sich drei ungebrauchte kaufmännische Rechnungsbücher
von einem Umfang, der mir, an meiner eigenen Größe gemessen, riesenhaft
erschien. Auf eines dieser Bücher richteten wir zwei älteren Kinder
unser Begehr, um es mit den Erzeugnissen unserer Zeichenkunst zu
füllen. Fina, die Gute, widerstand lange, endlich überließ sie uns
eines, und als es vollgeschmiert war, auch das zweite. Wir zeichneten
unser selbsterfundenes Märchen vom Schnuffeltier und Buffeltier hinein,
von dem wir jeden Tag ein neues Begebnis ersannen. Fina sah uns zu,
aber immer von Zeit zu Zeit seufzte sie: Ach, was wird Herr Sch.
sagen, der mir diese Bücher zum Aufheben gegeben hat! (Herr Sch. war
ein Jugendbekannter Mamas, dessen Namen wir oft gehört hatten.) Gewiß
wird er einmal kommen und nach den Büchern fragen. Und wenn er sie in
diesem Zustand findet, dann setzt er mir den Kopf zwischen die Ohren.

Diese Reden ängstigten mich unaussprechlich. Ich hielt das
Kopf-zwischen-die-Ohren-Setzen für eine grausige Marter, und es
war fürchterlich, daß unserer treuen Pflegerin diese Gefahr um
unseretwillen drohte. Gleichwohl half ich auch das nächste Buch
beschmieren, aber immer dachte ich an den gefürchteten Herrn Sch.
und ob er nicht komme. An einem Spätnachmittag trat ein elegant
gekleideter Herr in senfgelbem Überzieher in unser Haus und fragte
nach Mama. Augenblicklich durchzuckte es mich: Das ist er! Und er war
es in der Tat, wie ich aus Josephinens Begrüßung ersah. Sie wies ihn
die Treppe hinauf und kehrte heldenhaft in ihre Küche zurück, gefaßt,
wie mir schien, das äußerste zu leiden. Ich wäre am liebsten jammernd
in den Garten entwichen, aber ein kategorischer Imperativ zwang mich,
wiewohl an allen Gliedern schlotternd, dem Furchtbaren die Treppe
hinauf nachzuschleichen, ob ich nichts zur Rettung unserer Geliebten
zu unternehmen vermöchte. Was ich nun am Schlüsselloch sah und hörte,
war so merkwürdig, daß ich auf einmal alle Angst vergaß und nur Augen
und Ohren aufsperrte. Der fremde Herr saß ganz vertraulich neben
meiner Mutter und hatte eine Anzahl messingener und zinnener Röhren
auf dem geschliffenen Sofatisch ausgebreitet, das zerlegte Modell
einer Erfindung, durch die er jeden Krieg siegreich, aber unblutig
beenden zu können vermeinte. Es war, wenn meine Mutter, von der ich
diese Erklärung habe, ihn richtig verstand, ein Geschütz, durch das
ganze Heere mittels abgeschossener feiner Ketten umspannt und wehrlos
gemacht werden sollten, und der phantasievolle Erfinder hatte die
Absicht, damit nach Paris zu reisen und das Modell an Napoleon III.
zu verkaufen. Meine sonst so geistvolle Mutter verstand von Mechanik
nicht viel mehr als ihr Töchterlein am Schlüsselloch und war fast
ebenso leichtgläubig. -- Was, an den Tyrannen? hörte ich sie entrüstet
sagen. Du solltest dich schämen, der Reaktion zu dienen. Ich hoffe, daß
du dich anders besinnst und mit dem Modell nach Italien zu Garibaldi
fährst, damit er es zum Heil der Freiheit verwende.

Der Besucher packte seine Röhren zusammen und antwortete, er werde
jetzt, wie geplant, nach Paris reisen und sein Geheimnis um zwei
Millionen dem Franzosenkaiser verkaufen, weil er das Geld brauche.
Hernach aber wolle er jenen um den Vorteil bringen, indem er ein
zweites Modell Garibaldi unentgeltlich zur Verfügung stelle. Er ging
auch in die Küche und sprach vertraulich mit Josephine, und als er fort
war, überzeugte ich mich, daß ihr Kopf auf dem alten Flecke stand. Ich
wagte endlich wegen der Bücher zu forschen, da gestand sie, mich nur
geneckt zu haben. Die Bücher waren ihr Eigentum, über das sie frei
verfügen konnte. Der Herr, dessen sinnreiche Einfälle übrigens bekannt
waren, hatte einmal mit seiner Frau als Gast bei meiner damals noch
unverheirateten Mutter gewohnt, und da er eben nicht bei Kasse war,
Josephine jene unbenützten Bücher statt eines anderen Entgelts für ihre
Dienste hinterlassen.

Die vielen bei Tage ausgestandenen Ängste, die ich meist aus
unüberlegten Reden der Erwachsenen schöpfte -- auch die Furcht, eines
meiner Lieben zu verlieren, gehörte dazu, obwohl ich vom Tode noch
nichts wußte --, kehrten bei Nacht in abenteuerlichen Vermummungen
wieder und machten mir oft genug den Schlaf zu einer ganz bedenklichen
Angelegenheit. Das ging bis zu Sinnestäuschungen im vermeintlich wachen
Zustand. So sah ich eines Nachts im Mondschein ganz deutlich meine
Mutter im langen weißen Hemd vom Lager steigen, sich neben meinem
Bettchen einen Strumpf knüpfen, und als ich erwartete, daß sie sich
jetzt über mich beugen werde, lautlos hinter den Ofen gleiten. Als sie
gar nicht zurückkommen wollte, kroch ich nach längerem Warten ängstlich
aus dem Bett und sah den Raum hinter dem Ofen leer. Eine schreckliche
Unruhe befiel mich, aber als ich nun vor ihr Lager schlich, lag sie in
festem Schlafe. Eine solche kindliche Halluzination hätte vielleicht
im Mittelalter genügt, eine unglückliche Frau der Hexerei und der
Schornsteinfahrt zu überführen.

Aber diesen Kinderleiden, von denen die Erwachsenen nichts zu ahnen
pflegen, hielt eine unermeßliche Kinderseligkeit die Waage. Solche
Fest- und Wonnetage wie unsere Geburtstage konnte das spätere Leben
aus all seinem Reichtum nicht mehr hervorbringen. Der feierlichste war
der meinige, der Thomastag; da er in die Weihnachtswoche fiel, wurde
an diesem Abend der Baum angezündet und die Bescherung gehalten. Schon
viele Tage vorher hantierte unsere Josephine mit köstlichen süßen
Teigen und stach mit den hochehrwürdigen alten Modeln, die ich immer
irgendwie mit unseren altgermanischen Göttern in Zusammenhang bringen
mußte -- vielleicht hatte unser Vater einmal die Bemerkung gemacht,
daß die „Springerlein“ Wodans Roß bedeuten --, das herrlichste
Backwerk aus. Es wurde in überschwenglichen Mengen hergestellt und mit
den Freundeshäusern korbweise als Geschenk getauscht. Mama saß mit
befreundeten Damen und „dockelte“ heimlich, d. h. sie nähte aus bunten
Seidenlappen die schönsten Puppenkleider. Immer hing da und dort ein
goldener Faden, der diese feenhafte Tätigkeit verriet. Die übrigen
Lappen hütete ich in einer Pappschachtel, sie waren mir als Stoff zu
künftiger Gestaltung fast noch werter als die fertigen Kleidchen. Die
Großen begriffen nicht, warum diese Schachtel jede Nacht an meinem
Bett stehen mußte, aber ich wußte recht wohl, was ich tat, denn
wer hätte sie sonst gerettet, falls des Nachts ein Brand ausbrach?
Ich hatte schon den Griff eingeübt, womit ich sie fassen wollte,
während ich im anderen Arm die Puppen hielt, um durch die Flammen zu
springen. Man sage noch, daß kleine Kinder keine Voraussicht hätten!
-- Wenn dann nach einer herzklopfenden Erwartung endlich die Tür des
Weihnachtszimmers aufging und der Duft und Glanz des mit goldenen
Nüssen behangenen Baums uns entgegenströmte, dann war mit dem ersten
seligen Aufatmen auch der Höhepunkt des Glückes überschritten. So
herrlich Puppenstube, Küche, Kaufladen mit ihrem Inhalt waren, der
Gedanke, daß auch dieser Abend unaufhaltsam zu Ende gehen mußte wie
jeder andere, machte den Besitz im voraus zunichte. Das Schönste an dem
Fest war jedesmal der letzte Augenblick der Erwartung.

An den Geburtstagen der Brüder wurden immer alle Geschwister
mitbeschenkt. Man erwachte früh bei noch geschlossenen Läden voll
Hoffnung und Ungeduld, stellte sich aber schlafend und blinzelte nur
nach den Dingen, die da kommen sollten, während mütterliche Hände
ganz leise vor jedes Kinderbett ein Tischchen rückten. Da standen
dann im Morgenlicht bezaubernde Dinge wie Farbenschachteln, bunte
Bleistifte, goldgeränderte Tassen, für mich eine Glasschachtel mit
goldenen, silbernen und farbigen Perlen zum Sticken und Anreihen, und
was mich immer am höchsten beglückte: ein blühendes Rosenstöckchen mit
vielen Knospen, das ich selber pflegen durfte. Vor dem Geburtstagskind
aber brannten die Jahreskerzen über dem Kuchen. -- Wenn ich meine
seligen Obereßlinger Erinnerungen gegen die Briefe meiner Mutter aus
jener für sie so schweren und düsteren Zeit halte, so kann ich erst
ganz die Größe dieser unendlichen Liebe ermessen, die den Himmel
über unseren jungen Häuptern so rein und blau erhielt. Obereßlingen
war die Sandbank, auf die politische Verfemung und literarisches
Nichtverstandensein meinen Vater geworfen hatten. Sein Genius büßte
dort in der Enge des Daseins und der Eintönigkeit der Landschaft, die
dabei nichts Großartiges hatte, die Schwungkraft ein. Aber das Kind sah
anders. Ihm war die bloße Berührung des ungepflasterten Erdbodens und
seine grüne Nähe Glückes genug, der Hopfsche Garten, wo man Stachel-
und Johannisbeeren pflücken und der Henne ins Nest gucken durfte, das
Paradies. Ein ungewöhnlich entwickeltes Geruchsvermögen machte mir auch
all die hundert Kräutlein im Grase zu lauter kleinen Persönlichkeiten,
mit denen ich in Beziehung trat.

Edgar und ich hielten in der Kinderschar am engsten zusammen, weil wir
zuerst vor allen anderen dagewesen waren und uns eine gemeinsame Welt
erbaut hatten. Daß ich aber auch noch als Sechsjährige am liebsten
mit ihm von einem Teller aß und in einem Bettchen schlief, wobei wir
bis zum Einschlafen zusammen Verse verfertigten, weiß ich nicht mehr
aus eigener Erinnerung, sondern aus Briefen der Mutter. Und daß an
diesen Versen, wie sie schrieb, nichts Gutes war als die Leichtigkeit
des Reims, ist nicht zu verwundern. Unseren Spielen hatten sich bald
zwei andere Brüder, Alfred und Erwin, gesellt, ohne daß sich mir der
Zeitpunkt ihres ersten Erscheinens eingeprägt hätte. Mit Bewußtsein
erlebte ich nur die Geburt des Jüngsten, der im Jahre 1860 zur Welt
kam und nach Mamas Lieblingshelden Garibaldi genannt wurde. Im
Familienkreise hieß er nie anders als Balde. Ich brachte ihm zunächst
keine große Begeisterung entgegen, denn ich hatte aus unvorsichtigen
Reden Erwachsener entnommen, daß seine bevorstehende Ankunft häusliche
Sorgen bereitete, und das machte mich zunächst ein wenig zuhaltend.
Daß ich, statt wie bisher die wilden Spiele der Brüder im sommerlichen
Garten zu teilen, jetzt nachmittagelang sitzen und seinen Schlaf hüten
sollte, stimmte mich auch nicht froher. Aber als ich eines Tages eine
Fliege in den offenen Mund des Kindes kriechen sah und alle Mühe hatte,
sie herauszubringen, ohne ihn zu wecken, da wurde mir seine ganze
Hilflosigkeit klar; von Stunde an liebte ich ihn zärtlich und widmete
ihm auch gerne meine Zeit.

Es mag in jenem Jahre oder auch etwas früher gewesen sein, daß ich
zum erstenmal meine eigene Bekanntschaft machte. Im großen Zimmer in
Obereßlingen waren zwischen den Fenstern zwei lange schmale Wandspiegel
eingelassen, die auf einem niedrigen, rings umlaufenden Sockel ruhten.
Eines Tages, ob es nun Wirkung der Beleuchtung oder sonst ein Zufall
war, blieb ich plötzlich betroffen mitten im Zimmer stehen und starrte
in einen dieser Spiegel, der mir mein eigenes Bild entgegenhielt.
Ein leiser Schauder überlief mich, und ich dachte einen niegedachten
Gedanken: Also das bin ich! Zwischen Scheu und Wißbegier trat ich ganz
nahe hinzu und musterte das schmale, durchscheinende Kindergesicht,
das fast nur aus Augen bestand, aus großen, erstaunten Augen, die mich
rätselhaft und forschend anblickten, wie ich sie: Also das sind meine
Augen, meine Stirn, mein Mund! Mit diesem Gesicht, mit diesen Gliedern
muß ich nun immer beisammen sein und alles mit ihnen gemeinsam erleben!
-- Dieser Frater Corpus, der „Bruder Leib“, den ich da plötzlich vor
mir sah, schien mir aber keineswegs mein Ich zu sein, sondern ein eben
auf mich zugetretener Weggenosse, mit dem ich jetzt weiterzupilgern
hätte. Und es kam mir vor, als wäre eine Zeit gewesen, wo wir zwei uns
noch gar nichts angingen. Bisher war mir nämlich meine Körperlichkeit
nur bewußt geworden, wenn ich mir eine Beule an die Stirn rannte
oder mit der großen Zehe gegen einen Stein stieß. Es war auch bloß
ein kurzer Augenblick der Befremdung, in dem mich dieses unfaßbare
Zweisein berührte. Die frühe Kindheit mag solchen halb metaphysischen
Empfindungen zugänglicher sein als die reifgewordene Jugend, die im
unbändigen Stolz ihrer physischen Kraft und Herrlichkeit vielmehr den
Bruder Leib für den eigentlichen Menschen ansieht.

In die gleiche Zeit fiel eine andere erschütterndere Entdeckung. Ich
sah eines Tages durchs Fenster eine Schar schwarzgekleideter Männer
vorübergehen und einen mit schwarzem Tuch verhüllten Gegenstand tragen,
der mir wie ein großer Koffer erschien. Der Anblick berührte mich
peinlich, und Christine, unser neues Kindermädchen, das seit kurzem
im Hause war, sagte auf meine Frage, das sei eine Leiche, mit der die
Leute auf den Kirchhof gingen. -- Was ist eine Leiche? fragte ich mit
Widerwillen, denn ich hatte das Wort noch nie gehört, und es klang
mir fremd und unheimlich. Sie antwortete, das sei ein toter Mensch.
Ich wunderte mich, daß auch Menschen sterben sollten, denn ich hatte
gemeint, das sei ein übler Zufall, der nur Vögel, Hunde, Katzen und
solches Getier betreffe. Christine wollte mich auf andere Gedanken
bringen, aber nun ließ ich nicht mehr los, sondern stürzte zur Mutter:
Ist es wahr, daß Menschen sterben? -- Wer hat dir das gesagt? -- Die
Christine. -- Ich sah gleich, daß die Christine ein Verbot übertreten
hatte. -- Armes Kind, sagte mein Mütterlein, du hättest es noch lange
nicht erfahren sollen. Aber jetzt ist es heraus. Ja, es ist wahr, die
Menschen sterben. -- Aber doch nicht alle, Mama? -- Ja, Kind, alle. --
Sie hielt mich im Arme, wie um mich zu schützen und zu trösten, ich war
aber mit dem Gedanken noch lange nicht so weit. -- Aber doch du nicht,
Mama? -- Ich auch, Kind. Alle. -- Aber der Papa doch nicht? -- Auch der
Papa. -- Also vielleicht auch ich? -- Auch du, aber erst in langer,
langer Zeit. Wir alle erst in langer Zeit. -- Und man kann gar nichts
dagegen tun? Es muß kommen? -- Gar nichts, Kind, es muß kommen, aber
jetzt noch lange nicht.

Das war mir durchaus kein Trost. Die lange Zeit, von der sie sprach,
war in diesem Augenblick schon vorüber. Ein schwarzer, furchtbarer
Abgrund ging auf, der alles verschluckte. Ja, wenn es doch kommen
mußte, dann lieber gleich, als diese lange dunkle Erwartung. Ein
plötzlich eintretender Zufall schien mir lange nicht so schauerlich wie
dieses unausweichliche „Später“. Dennoch wirkte die Mitteilung nicht
eigentlich überraschend. Es war mir, als hörte ich da etwas, das ich
zuvor schon gewußt, aber wieder vergessen hätte. Ich dachte fortan oft
über das Sterben nach, und die Unerbittlichkeit des Vorausbestimmten
erfüllte mich mit immer neuem Grausen: Also einmal muß es sein, jeder
Tag bringt mich dem letzten Ziele näher. Und wenn ich mich unter das
Kleid der Mama verkröche, es würde mir doch nichts nützen. Und wenn ich
sogar zum Papa ginge, auch er könnte mir nicht helfen. Niemand, niemand
kann mir helfen, ganz allein stehe ich dem Furchtbaren gegenüber --
dem Tod! Dabei war mir zumute, als befände ich mich in einem langen,
engen Gang, wo kein Entrinnen, keine Umkehr möglich, und am Ende des
Ganges, da warte es auf mich, das Rätselhafte, Unbegreifliche; ich
aber müsse immer weiter, so gerne ich stehenbliebe, unaufhaltsam,
Schritt für Schritt bis zum gefürchteten Ausgang. Natürlich wurde
trotz dem unheimlichen „Später“ fortgerollt, als wäre alles wie zuvor,
und niemand erfuhr, was in dem kleinen Seelchen vorging. Aber mitten
im Spielen schlug es zuweilen herein: Trotz alledem -- es wird doch
einmal ein Tag kommen, wo ich kalt und starr daliege, wo ich selber
eine Leiche bin. Das Wort behielt mir auf lange hinaus etwas unsäglich
Widriges und Abscheuliches, es haftete ihm schon ein Geruch wie von
Verwesung an.

Auch das gehört für mich zu den Rätseln der Kinderseele, daß mir
die Entdeckung des Todes als des allgemeinen Schicksals so neu und
überwältigend war, während ich doch ganz frühe schon das mannigfachste
Lesefutter, und gewiß nicht immer auf das dunkle Geheimnis hin
gesichtet, in die Hände bekam. So las ich seit langem in einem
Bande „Pfennigmagazin“, der in der Kinderstube lag, Geschichten und
Abhandlungen über alle möglichen Dinge wahllos durcheinander; die
Tatsache des Sterbenmüssens hatte ich schlechterdings übersehen.
Wahrscheinlich ist der kindliche Geist nicht imstande, die
Erscheinungen zu verknüpfen und zu verallgemeinern. Es gibt ja
auch Negerstämme, die jeden Todesfall immer wieder als dämonischen
Einzelvorgang betrachten, auf den sie mit Teufelsaustreibung antworten,
damit er sich inskünftig nicht mehr wiederhole.

Im Lernen konnte unser gutes Mütterlein, das selber einen nie zu
stillenden Wissenstrieb besaß, uns zwei Älteste nicht schnell genug
vorwärts bringen. Einzig für das Rechnen, das ihr selber nicht allzu
geläufig war, wurde ein junger Hilfslehrer aus Eßlingen angestellt,
ein bäurischer Mensch, der den unachtsamen Alfred etwas derb mit
dem schweren Taschenmesser auf die Fingerknöchel klopfte und sich
sogar einmal gegen Edgars junge Majestät verging, so daß Mama ihn
entrüstet wieder entließ. Davon hatte ich den Schaden, weil ich gerade
im Bruchrechnen stehen blieb, das die Brüder später in der Schule
fortsetzen konnten, während ich in der ganzen Arithmetik, für die
ich zuerst eine gute Fassungskraft gezeigt hatte, nicht mehr weiter
unterrichtet wurde und somit in den Zahlen für immer schwach blieb.
Alle anderen Fächer übernahm sie selber, und wir machten ihr das Lehren
leicht. Sie besaß kein wirkliches Lehrtalent, weil alles Methodische
ihrer Natur aufs tiefste widerstrebte, wie ich auch glaube, daß diese
Apostelseele für keines der vielen irdischen Geschäfte, denen sie
sich allen willig unterzog, so recht eigentlich geboren war. Ihr
natürliches Amt war einzig, höheres Leben entzünden, wachhalten und
verbreiten. Keine Mühe war ihr dafür zu groß: neben unserem Unterricht
und den häuslichen Geschäften führte sie noch begabte Dorfmädchen ins
Französische und in die Literatur ein. Schon hatte sie auch die Anfänge
des Lateinischen in unsere Stunden aufgenommen. Ihre eigenen in der
Jugend erworbenen Kenntnisse kamen ihr dabei zustatten, und wir holten
sie allmählich munter ein. Über grammatische Schwierigkeiten halfen
beiden Teilen die lustigen Reimregeln weg:

    Was man nicht deklinieren kann,
    Das sieht man als ein Neutrum an, usw.

So blieb das Lernen immer ein Spiel unter anderen Spielen. Wir
übersetzten kleine Übungsstückchen aus dem „Middendorf“, lasen eine
Seite in L’Hommonds „Viri Illustres“ und verfertigten sogar gereimte
Knittelverschen in unserem Suppenlatein, alles mit dem gleichen
Vergnügen, mit dem wir die uns überlassenen Rabatten anpflanzten, auf
hohen Erntewagen fuhren, den ländlichen Pferden und Ochsen auf den
Rücken kletterten, den Nachbarinnen beim Ausgraben der Kartoffeln
halfen oder auf langen Spaziergängen, wobei man barfuß in kleinen
Seen und Pfützen quatschen durfte, für Edgars Aquarium Salamander und
Kaulquappen fingen. Das schönste aber war, im offenen Neckar zu baden,
an seinen Weidenufern die ausgeworfenen Muschelschalen zu sammeln,
in denen man sich die Farben anrieb, oder seine niedere Furt unter
Josephinens Führung mit hochgeschürzten Kleidern zu durchwaten, um
dann jenseits im Sirnauer Wäldchen sich auszutollen. Der eigentümliche
Geruch des fließenden Süßwassers, der an den Neckarufern besonders
stark war, hat sich mir aufs tiefste eingeprägt und erregt mir, wo
ich ihm begegne, ein unbeschreibliches Jugend- und Heimatgefühl.
In dem sonnbestrahlten, silbern rieselnden Neckar verehrte ich ein
beseeltes höheres Wesen. Ich warf ihm ab und zu ein paar Blumen oder
eine Handvoll glitzernder Perlen aus meiner Perlenschachtel hinein, und
wenn ein Fisch aufhüpfte, schien mir das irgendwie ein gutes Zeichen.
Er hatte aber auch noch ein anderes dämonisch wildes Gesicht, das
ich schaudernd noch mehr liebte: dort an der nach Eßlingen führenden
bedeckten Brücke, die wir das Wasserhaus nannten, verbreiterte
sich sein Lauf für mein Auge ins Unermeßliche. Unter den Pfeilern
schüttelte er wilde braune Locken, schnaubte und rüttelte an dem Bau,
daß ich wie gebannt stand und kaum von der Brücke wegzubringen war.
Am geheimnisvollsten aber erschien er mir in Eßlingen selber, wohin
wir oft durch das alte Wolfstor pilgerten. Dort stand ich in dem
befreundeten Haus die ganze Zeit am Fenster und sah auf die stille Flut
hinunter, die die Rückseite des Gebäudes unmittelbar bespülte. Ich
war dann, während die Mütter auf dem Sofa saßen und Kaffee tranken,
in Venedig, sah schwarzgeschnäbelte Gondeln, die ich aus Abbildungen
kannte, und Marmorpaläste in feierlicher Pracht.

In meiner Vorstellung ist es in Obereßlingen immer Sommer gewesen.
Wie es möglich war, uns während der langen Wintermonate in den engen
Räumen zu halten, ist mir nicht erinnerlich. Unsere Lebhaftigkeit mag
die dichterischen Gebilde, mit denen sich unser Vater trug, schwer
genug beeinträchtigt haben und war die Ursache, daß er den Tag über
nur selten das Kinderzimmer betrat, ja nicht einmal die Mahlzeiten
mit der Familie teilte. Deshalb tritt auch seine Gestalt in meinen
frühen Erinnerungen wenig hervor; sie wandelt nur manchmal ernst und
hoheitsvoll über den Hintergrund.

O die Sommerseligkeit, als man selber noch nicht höher war als die
reifen sonneduftenden Ähren, zwischen denen man sich durchwand, um
die blauen Kornblumen und die flammend roten Mohnrosen herauszuholen.
Wenn ich noch einmal nachempfinden könnte, was das Kinderohr bei den
Schillerschen Versen:

    Windet zum Kranze die goldenen Ähren,
    Flechtet auch blaue Zyanen hinein --

an Fülle des Seins genoß! Die güldenen Halme, das satte Blau und Rot
der Blumen sahen mich daraus noch schöner an, durch einen tiefen
Goldton aus der Farbenschale der Poesie verklärt. Damals waren die
Worte der Sprache keine rein geistige Sache, es haftete ihnen noch
eine köstliche Stofflichkeit von den Dingen, die sie bezeichnen, an.
Ich lebte und webte um jene Zeit in den Schillerschen Balladen. „Die
Götter Griechenlands“, „Die Klage der Ceres“, „Kassandra“ und vor
allem „Das Siegesfest“ waren mir die liebsten. Ihr glockenartiger
Klang bezauberte mich, während ihre Gegenstände meine innere Welt
bevölkerten. Selbst ein rein philosophisch gerichtetes Gedicht wie
„Das Ideal“ und „Das Leben“ war mir schon in meiner Frühzeit völlig
geläufig und sogar ganz besonders teuer. Das Gedankliche darin, das ich
noch nicht mitdenken konnte, empfand ich als ein dunkles prophetisches
Raunen von höheren Dingen, und es wirkte poetisch, eben weil ich es
nicht verstand. Zugleich hatte es auch eine erhebende Macht, wie ein
unverstandenes, aber gläubig verehrtes Stück Sittengesetz. Ich hütete
mich überhaupt, ein Gedicht zu zergliedern oder auch nur einem Worte
nachzuforschen, dessen Sinn mir dunkel war. Denn das höhere Ahnen
labte mich viel mehr als irgendeine tatsächliche Erkenntnis. Indem
mir solche Verse im Heranwachsen immer gegenwärtig blieben, bemerkte
ich es selber nicht, wie ich allmählich in das richtige Verständnis
hinüberglitt. Ich glaube, daß unsere Mutter richtig geleitet war, als
sie uns die Schillerschen Gedichte in einem so frühen Lebensalter in
die Hände gab. Denn sie verbreiten neben einem reichen sachlichen
Inhalt die hohe und reine Luft, worauf es doch für die Kindheit vor
allem ankommt. Hernach mag sich das reifende künstlerische Bedürfnis
seine Weide suchen, wo ihm am wohlsten ist. Daß meine erste Welt eine
so schöne und weihevolle war, verdanke ich diesem Dichter vorzugsweise
mit, obgleich er nicht ihr eigentlicher Schöpfer, sondern nur ihr
Vermehrer und Erhalter gewesen ist. Die frühesten Eindrücke kamen mir
aus den Homerischen Gesängen, die uns Mama, sobald wir nur geläufig
lesen konnten, zunächst in prosaischer Bearbeitung, in die Hände
gegeben hatte. Die griechische Götter- und Heldensage verband sich
blitzschnell und unauflöslich mit unserer Vorstellung. Der Olymp mit
allen seinen Insassen thronte leibhaftig in unserem Garten. Wir selber
übten uns fleißig im Speerwerfen und Bogenschießen. In dem quatschigen
gelben Obereßlinger Lehm bis an die Ellbogen wühlend, bauten wir
die heilige Troja auf, schleppten aus dem Röhrenbrunnen zahllose
Wassereimer herbei, um die Windungen des Skamanderbettes zu füllen.
Dann verwandelten wir uns selbst in Helden und Götter, und um die
Mauern Trojas wurde mit Macht gerungen. Ich trug wie die Brüder Helm
und Schild und Lanze aus Pappdeckel und Goldpapier sowie ein mit dem
Medusenhaupt geschmücktes Panzerhemd und warf den dicken Alfred, wenn
er als Ares anstürmte, im Nahkampf nieder, wobei er vorschriftsmäßig
brüllte „wie zehntausend Männer“. Dieser schöne Knabe, der sich selber
Butzel nannte, war nach der Schilderung meiner Mutter bis ins zweite
Lebensjahr das putzigste und liebenswürdigste Kerlchen gewesen; nach
einer Kinderkrankheit aber hatte ihn plötzlich eine nicht zu bändigende
Wildheit und Unart befallen. Von Feld und Wiesen brachte er aus dem
Schatz der Bauernsprache nie gehörte schnöde Redensarten heim, die
unseren Ohren ganz barbarisch klangen und bei denen man sich, da er sie
nur verstümmelt und dem Klang nach auffaßte, nicht einmal etwas denken
konnte.

Zuweilen kam ein Kind aus befreundetem Hause mit seinen Eltern von
Stuttgart herüber und mengte sich zitternd zwischen Lust und Grausen in
unser wildes Spiel. Es war ein zartes, kleines, äußerst wohlerzogenes
Mädchen, dessen kühnster Traum war, einmal mit uns „dreckeln“ zu
dürfen: so nannte man das Schaffen in dem feuchten Lehm, wonach man
immer von Kopf zu Füßen frisch gewaschen werden mußte. Daß wir die
heilige Troja bauten, war ihr zwar noch nicht aufgegangen, aber die
Sache hatte auch so einen dämonischen Reiz. Bevor sie kam, unterzog
Papa den rauhen Butzel einer strengen Ermahnung, das kleine Mädchen
ja nicht umzuwerfen und ihr auch sonst keinen Schaden zu tun. Dies
hinderte den Wildfang nicht, sich mit schreckhafter Miene vor ihr
aufzupflanzen und drei peinliche Fragen an sie zu stellen: Emy, kannst
du griechisch? (Er hielt nämlich die dialektfreiere Aussprache unseres
Hauses dafür.) -- Kannst du mit dem Fuß an den Ohren kratzen? -- Sie
bebte, denn sie hatte beides noch nicht versucht. Aber nun kam schnell
die dritte Frage: Kannst du grunzen wie ein Schwein? Dabei wartete er
die Antwort nicht ab, sondern gab alsbald selber den bezeichneten Ton
von sich und mit solcher Stärke, daß die arme Kleine fast vor Schreck
in die Bohnen fiel.

Bei solcher Gemütsart konnte ihm nichts besser passen als den Ares
zu spielen. Ein andermal aber mußte er Hektor sein und sich von
Edgar-Achilleus fällen lassen. Daß ihm bei unseren Spielen jedesmal
die Rolle eines Unterliegenden zufiel, wurde mit ein Grund zu seiner
immer wühlenden heimlichen Erbitterung gegen den älteren Bruder und die
Schwester, vor der ich mich im Heranwachsen hüten mußte, da er mich oft
unversehens mit seinem dicken Kopf anzurennen und umzuwerfen suchte.
Edgar, der Bastler, verfertigte einen richtigen antiken Kriegswagen,
an dem er vorhatte, den Hektor zu schleifen, allein die zwei Räder
wollten nie so recht rollen, da sie vom Drechsler als massive, in
der Mitte durchbohrte Scheiben geliefert wurden. Dagegen überspannte
er mit Erfolg alte Zigarrenschachteln mit Darmsaiten und verfertigte
Leiern daraus, auf denen die junge Götterschar fleißig klimperte. Der
vierjährige Erwin fiel aber zuweilen aus der Rolle, indem er kleine
Stecklein vom Boden aufhob und in den Mund steckte, um zu paffen;
das ärgerte die reiferen Götter, und wenn er sich gar nicht belehren
lassen wollte, daß ein griechischer Gott keine Zigarren raucht, wurde
er für eine Weile vom Spiel ausgeschlossen. Nie aber wären uns Götter
und Helden so vertraut geworden, hätten wir nicht auch ihre leiblichen
Züge aus den vielen in des Vaters Studierzimmer liegenden Stichen
und aus Mamas Gipsgüssen gekannt. Ich zeichnete sie unermüdlich nach
und erweckte dadurch in meinen Eltern die lange genährte Hoffnung,
daß ich ein hervorragendes Talent für bildende Kunst besäße, was
sich dann erst in dem jüngeren Erwin verwirklichen sollte. Als wir
älter wurden, erhielten wir die Voßsche Iliasübersetzung, in deren
markigem, altertümlichem Deutsch sich die homerischen Gestalten noch
schöner verkörperten. Häufig entspann sich nun im Rate der Götter
ein Streit, wer denn eigentlich edler sei, Hektor oder Achilleus,
wobei Mama und Josephine dazu neigten, dem tapferen und unglücklichen
Verteidiger von Herd und Heimat den Preis zu geben. Dies erregte meinen
stärksten Widerspruch, denn die höhere Natur des zarten und furchtbaren
Griechenhelden war mir unwiderstehlich aufgegangen; sein frühes
vorbestimmtes Sterbenmüssen erfüllte mich mit unsäglicher Tragik, in
der schon der Schmerz um das kurze Dasein alles Schönen lag. Wogegen
mir der Untergang Hektors nicht ungerechter schien, als daß der Mond
verbleichen muß, wenn die Sonne aufgeht.

In einem Winkel des Obstgartens hatten wir aus herumliegenden
Steinbrocken den großen Himmlischen einen Altar errichtet, und ich nahm
dieses Spiel im stillen ernst wie alle unsere Spiele. Mama hatte in
der Jugend viel von religiösen Zweifeln gelitten, bis die angeborene
philosophische Richtung über den gleichfalls vorhandenen mystischen
Hang den Sieg davontrug. Besonders aus Anlaß der Konfirmation und der
ersten Kommunion hatte sie schwere innere Kämpfe zu bestehen gehabt.
Um unseren zarten Jahren ähnliche Qualen zu ersparen, war sie auf den
Ausweg verfallen, uns die religiösen Begriffe gänzlich fernzuhalten,
ebenso wie sie es mit dem Tode gemacht hatte. Aber die Empfindung
eines Göttlichen liegt doch von Hause aus in der Seele, wenigstens lag
sie in der meinigen. Also glaubte ich an die Götter Griechenlands.
Ich schlich mich öfter in der Morgenstille zu unserem Steinaltar, um
Opfer in Gestalt von Blumen oder Kornähren darzubringen und mich in
die Betrachtung eines großen erhabenen Seins zu versenken. Natürlich
nahm ich die junge Götterschar, deren Rollen wir selber spielten,
nicht allzu ernsthaft, aber ihr Oberhaupt erweckte meine Ehrfurcht.
Ein Weltenvater, Erschaffer und Erhalter alles Seins, war mir schon
von der Schichtung der Familie her eine natürliche und notwendige
Vorstellung. Ihm galt meine Andacht. Meine persönlichen Angelegenheiten
brachte ich nicht vor ihn, dafür stand er mir zu hoch. Diese trug
ich ja nicht einmal zu meinem irdischen Vater, mit dem der Verkehr
gleichfalls ein höherer, geistigerer war; sie gingen einzig und allein
die Mutter an. Diese stillen Erbauungsstunden waren mein tiefstes
Geheimnis, im übrigen aber war unser Götterwesen ruchbar geworden, und
im Dorfe hatte sich das Gerücht verbreitet, hinter unserer Gartenmauer
würde Abgötterei getrieben. Ein elfjähriges Bauernmädchen aus dem
Nachbarhaus, das uns die Milch brachte, fragte mich eines Tages, ob
wir denn nie etwas von unserem Herrn Christus gehört hätten. Ich
verneinte voller Wißbegier. Nun lud sie uns ein, uns nachmittags auf
dem Mäuerlein, das unsere Gärten trennte, einzufinden; sie werde uns
einen Korb voll ihrer feinsten Birnen, Gaishirtlein genannt, mitbringen
unter dem Beding, daß wir aufmerksam anhören wollten, was sie uns zu
erzählen habe; unserer Josephine dürften wir nichts davon sagen,
weil sie eine Heidin sei wie wir. Sehr erwartungsvoll kamen wir zur
Stelle, wo unser kleiner Apostel uns nun voll rührenden Eifers, aber
mit sehr unzulänglichen Kräften zunächst in die Schöpfungsgeschichte
einführte. Das vertrug sich noch so ziemlich mit unserer griechischen
Vorstellung. Als sie dann aber auch die Mysterien der Menschwerdung und
der Welterlösung erklären wollte, versagte ihr geistliches Rüstzeug.
Wir konnten uns Göttliches nur im höchsten Glanze denken. -- Warum,
warum ließ er sich das alles gefallen? -- Geohrfeigt, gepeitscht! Ein
Gott! Warum holte er keinen Blitz vom Himmel? Unmöglich! Nein, dagegen
empörte sich unser Gefühl.

Der gläubige Amerikaner Ralph Waldo Trine stellt in seinem „Neubau des
Lebens“ die Frage auf, was wohl ein natürlicher, sonst wohlgebildeter
Mensch, der, wenn solches möglich, ganz ohne Kenntnis religiöser
Lehrsätze aufgewachsen wäre, bei seiner ersten Berührung mit dem
Christentum empfände. Und er kommt zu dem Schluß, daß der gemarterte,
geschändete Heiland ihm nur das tiefste Befremden erregen könnte.
Wir waren damals in diesem schier nicht auszudenkenden Fall, und die
arme Rike kam arg ins Gedränge, als sie uns das Unfaßliche faßlich
machen wollte. Sie schalt, wir schalten wieder, und es entspann sich
eine richtige Disputation, die unser Vierjähriger durch die Frage
unterbrach: Ja, weißt du denn nicht, daß wir die griechischen Götter
sind? Da griff sie entsetzt nach ihrem leer gewordenen Korb und glitt
die Mauer hinab, wir aber ließen uns von der anderen Seite erschöpft
ins Gras fallen. Allein das Gehörte begann doch in mir zu wühlen, ich
ging wie gewöhnlich zur Mutter und verlangte Rechenschaft über den
gekreuzigten Gott. Sie antwortete, ich sei für solche Fragen noch zu
jung, ich solle ruhig weiterspielen; wenn ich einmal älter sei, werde
sie über das alles mit mir reden.

Ich möchte ja nun die Ansicht meiner Mutter über diese Erziehungsfrage
nicht ohne weiteres gutheißen. Schon weil man einem Kinde das künftige
Leben nicht leichter macht, wenn man es so streng von der Außenwelt
absperrt, daß es nicht einmal die religiösen Vorstellungen seiner
Zeitgenossen kennt. Aber _ein_ Gutes war doch dabei: daß mir später die
unbegreifliche Gestalt des Menschensohnes so ursprünglich und unberührt
von Phrase und Herkommen aus den Evangelien entgegentrat, wie ihn die
frühen christlichen Jahrhunderte gekannt haben.

Die Rike aber hatte sich über uns im Dorfe beklagt, und eines Tages
rückte die ländliche Jugend mit Stecken und Steinen bewaffnet vor
unsere Gartentür und forderte unsere Heidenschaft zum Kampf. Wir sahen
von der Gartenmauer, daß sie uns an Zahl und Körpergröße sehr überlegen
waren. Dafür aber waren wir Götter und Helden, sie nur Bauernjungen.
Schnell wurden die Rüstungen angelegt, und als wir hinter dem Pförtchen
aufgestellt waren, drückte Edgar, der den Oberbefehl hatte, auf die
Klinke, wir anderen stießen mit unseren goldenen Speeren die Tür
vollends auf. Die Rotte stand einen Augenblick sprachlos vor soviel
Goldpapier, und wir glaubten schon Sieger zu sein. Da prasselte ein
Regen von Steinen und Kastanien auf uns, ein langer Lümmel ging mit
einem großen Stecken auf unseren schmächtigen, aber tapferen Führer
los; sowohl der dicke Ares wie Pallas Athene wollten ihm zu Hilfe
kommen, da wurde letztere von hinten am Arm zurückgezogen, denn die
gute Josephine war auf den Lärm herzugestürzt. Sie verscheuchte mit
Drohungen die Gassenbengel und führte Götter und Helden ins Haus
zurück.



Tante Berta und die Schwabenstreiche.


In jenen Tagen gingen auch die guten Holden noch leibhaft auf
Erden. Ich meine jenes jetzt untergegangene Geschlecht freiwilliger
Helferinnen, das, als man von organisierter sozialer Arbeit noch nichts
wußte, mit seiner Fürsorge jeden kinderreichen Haushalt umschwebte.
Es waren einsame, vom Glück vergessene Frauen, die ihr Muttergefühl
antrieb, fremde Kinder zu betreuen und in der Anhänglichkeit an fremde
Familien Ersatz für die versagte eigene zu suchen. In Obereßlingen
saßen ihrer gleich mehrere beisammen. Sie kamen, wenn eine Krankheit im
Hause war, und pflegten; sie stellten sich bei der großen Monatwäsche
ein und machten, indem sie sich der Kinder annahmen, häusliche
Kräfte frei, sie halfen in den Weihnachtstagen beim Backen und beim
„Dockeln“ (Puppenkleidernähen). Die Welt wäre ein gut Teil unwohnlicher
gewesen ohne ihre Nähe. Sie begehrten und erhielten auch wie die
richtigen Feen keinen Dank, als daß sie das nächste Mal wiederkommen
durften. Wir nannten sie Tanten und verehrten durch ihre häufig etwas
fragwürdige Leiblichkeit hindurch die innere Feennatur.

Die edelste unter ihnen war die Besitzerin eines benachbarten
Kramlädchens, unsere geliebte „Tante Berta“, der ich schon in der
Lebensgeschichte meines Vaters ein kleines Gedächtnismal gesetzt
habe. Sie ist aus meinen Jugenderinnerungen schlechterdings nicht
wegzudenken. Wie oft kam sie und holte uns Kinder zu langen
Spaziergängen ab, um unsere getreue Josephine zu entlasten und meinem
von ihr still verehrten Vater ein paar Stunden völliger Ungestörtheit
zu verschaffen. Sie strickte von früh bis spät, im Stehen und Gehen,
denn jeden Abend mußte ein Paar Strümpfe fertig sein, womit sie ihren
ganzen Bekanntenkreis beglückte. Sie sprach ein gebildetes, aber stark
dialektisch gefärbtes Hochdeutsch, in dem sich viele altertümliche
Wörter und Wendungen umtrieben, deren ich verschiedene später mit
großem Vergnügen in Grimmelshausens Simplizissimus wiederfand. Für
Stecknadeln gebrauchte sie stets das schöne, ausdrucksvolle Wort
„Glufen“, das ich ihr zwar nicht nachsagte, weil es mir seltsam
veraltet und zugleich erniedrigt klang, das ich aber ungemein gerne
hörte. Ich dachte dabei immer an eine schöne altertümliche Fibula,
obwohl das Wort jede Art von Stecknadeln bezeichnete.

Auf unseren Spaziergängen erzählte uns Tante Berta uralte Geschichten
und Anekdoten, die von Geschlecht zu Geschlecht gingen und vielleicht
niemals aufgezeichnet worden sind. So von der Bauersfrau, die im
Sterben lag, aber gern noch abgewartet hätte, wie der „Gockeler“
(Turmhahn), der ausgebessert werden sollte, glücklich von dem hohen
Kirchturm heruntergebracht würde. Als es gar zu lange dauerte, faßte
sie sich in Ergebung und sagte nur noch: Deant mir’s au nom verbiada
(laßt mich’s hinüber wissen), wenn wieder ebber (jemand) stirbt,
wia’s vollends gangen ischt. Oder von dem Gastwirt, der seine in den
letzten Zügen liegende Frau pflegte, und als er durch das Klingeln
der Gäste abgerufen wurde, ihr gemütlich die Hand gab mit den Worten:
So, jetzt komm halt vollends gut ’nüber! Ferner von der Witwe des
Musikanten, die der Leiche ihres Gatten folgte und plötzlich unter dem
Wirtshaus, das der Schauplatz seiner künstlerischen Leistungen gewesen,
in den lauten Klagegesang ausbrach: O, wie oft hast du da drinnen:
Dideldum, dideldum, dideldum! (Dabei ging der Gesang in die Gebärde des
Fiedelstreichens und Hüpfens über.)

In jener älteren Zeit, aus der ihre Geschichten stammten, scheint
im Schwabenvolk überhaupt noch ein Nachklang der alten Totenklage
erhalten gewesen zu sein, denn sie erzählte auch von einer Mutter,
die ihrem Sohne ins Grab die fast homerische Klage nachrief: O du mei
liebs Knechtle (für Kind), du Zuckerstengel, du siebenhemmeticher (der
sieben Hemden besitzt), drei hosch g’het und viere hätt i dir no mache
lau. Mit Vorliebe spielten ihre Geschichten auf dem Gottesacker, und
sie liebte es, ihnen, auch wenn sie noch so schnurrig waren, etwas
Schauriges beizumischen. Außerdem wußte sie aber auch eine Reihe
richtiger Schwabenstreiche, von denen ich hier einige möglichst mit
ihren Worten dingfest machen will, weil sie mir nirgends noch gedruckt
begegnet sind:


Wie’s gemacht wird.

Herzog Karl von Württemberg war ein großer Jagdfreund, wie auch in
„Schillers Heimatjahren“ zu lesen ist, und das Landvolk litt unter
seiner Regierung schwer vom Wildschaden, gegen den es sich nicht
wehren durfte, denn es war streng verboten, Wild abzuschießen. Ein
Bäuerlein aber, dem wiederholt seine Rüben- und Krautäcker abgefressen
wurden, wußte sich zu helfen und legte in seinem Hof eine Hasenfalle
an, die so kunstreich mit einer Glockenschnur verbunden war, daß, so
oft einer vom Geschlecht Lampe sich fing, die Glocke von selbst das
Zeichen gab. Dann ging das Bäuerlein hinaus und holte sich einen fetten
Braten für die Küche. Der Mann aber hatte Feinde, und die verrieten dem
Revierförster seine schöne Einrichtung.

Begibt sich der Revierförster zu dem Übeltäter: Hanspeter, ich habe
gehört, daß du dir eine Hasenfalle angelegt hast. -- Jawohl, Herr
Revierförster, antwortet der Bauer treuherzig. -- Ja, weißt du nicht,
daß du einen Diebstahl an unserem Herrn Herzog begehst und daß du
in Strafe verfallen bist? -- Ha, sell wär’! sagt der Hanspeter und
versichert, daß er von keiner einschlägigen Verordnung wisse. Das
scheint dem Förster sehr unglaubhaft und er setzt dem Erstaunten
auseinander, daß Unkenntnis des Gesetzes auch gar nicht vor Strafe
schütze. Während sie noch reden, klingelt es vom Hofe her und beide
schauen auf.

Hören Sie’s, Herr Revierförster? sagt der Hanspeter mit seinem
dummschlausten Gesicht. Da sitzt schon wieder einer und zeigt sich
an. Jetzt kommen Sie nur mit, dann sehen Sie gleich selber, wie’s
gemacht wird. Der Förster lacht sich ins Fäustchen, daß er nun beide
zugleich in der Falle hat, den Hasen und den Bauern. Er folgt dem
Mann in den Hof, verwundert über ein solches Maß von Dummheit. Dort
zieht der Bauer Herrn Lampe bei den Löffeln aus der Falle, hält ihn
vor sich und überschüttet ihn mit Schimpfreden: Meinst du, ich pflanz’
meine Krautköpf’ und meine Rüben für dich, du elender S..hund! Wart,
ich will dir Respekt einbläuen, daß du das Wiederkommen vergißt! Dies
sagend, gerbt er dem Hasen das Fell, schüttelt ihn dann noch einmal an
den Löffeln und sagt: So, jetzt lauf heim, sag’s dei’m Weib und deiner
Freundschaft, was es da zu schmarotzen gibt. Damit läßt er ihn los, und
mit einem Sprung ist der Hase verschwunden.

Sehen Sie, Herr Revierförster, sagt jetzt der Hanspeter profitlich, so
wirds gemacht. Der kommt nimmer und er sagt’s auch den andern. Und der
Herr Revierförster mußte mit langer Nase abziehen.


Herzog Ulrichs Löffel.

Ein andermal führte sie uns noch tiefer in Württembergs Vergangenheit
zurück.

Als der vertriebene Herzog Ulrich flüchtig und unerkannt sein Land
durchirrte, hielt er sich eine Zeitlang in der Nähe seiner guten
Stadt Tübingen auf. Dort geriet er einmal um die Mittagszeit in einen
Weinberg, wo eben ein Tübinger Wingerter (Weingärtner) mit seinen
Leuten sich eine Schüssel voll Erbsenbrei schmecken ließ. Der Herr, der
sehr hungrig war, trat bescheiden hinzu und grüßte den Mann in gutem
Gôgendeutsch (Gôg, Spitzname der Tübinger Weingärtner). Der gab ihm
den Gruß zurück und fragte leutselig: Witt mithalten?, was der Herzog
dankend annahm. Na, so lang zu. -- Aber der Herzog sah sich fragend um:
die beiden hatten Löffel, er hatte keinen. Da lacht ihn der Weingärtner
aus, daß er nicht weiß, wie man einen Löffel macht, und sagt: Wart, i
mach d’r ein! Schneidet also das „Knäusle“ (Anschnitt) vom Brotlaib ab,
höhlt es aus und gibt’s dem Herzog: So, dô hoscht en Löffel. Der Herzog
taucht den Löffel, der gut ausgibt, in die gemeinsame Schüssel und
sättigt sich, ißt danach auch den Löffel auf. Währenddessen fragt und
erfährt er allerlei, unter anderem auch den Namen seines Gastgebers und
daß er z’ Dibenga (Tübingen) in der Froschgass’ wohnt.

Als nun später Ulrich in seine Herrschaft wieder eingesetzt war, da
geschah es eines Abends, als er sich zu Tische begab, daß ihm der
Löffel fehlte. Was der Mundschenk für einen Rüffel bekam, weiß ich
nicht. Aber dem Herzog fiel plötzlich jener lange vergessene Mittag
in dem Weinberg bei Tübingen ein, wo ihm gleichfalls der Löffel
gefehlt hatte, und zugleich auch wieder Name und Wohnung des braven
Weingärtners. Und er schickte des andern Tags einen Boten nach Tübingen
in die Froschgass’ mit dem Befehl, ihm den Mann herzubringen, wie er
stehe und gehe. Als der fürstliche Wagen in der schmutzigen Froschgasse
erschien, gab es dort einen mächtigen Schrecken, und die Frau des
Weingärtners, als sie hörte, ihr Mann müsse zum Herzog, unverzüglich,
wie er stehe und gehe, da rang sie die Hände und jammerte: O Ma’, was
hoscht du don? Zum Herzich muescht -- ’s gôht um dein Kopf.

Der Mann beteuerte, daß er von gar nichts wisse, und bat, man möchte
ihm wenigstens Zeit lassen, daß er sein besseres Häs (Gewand) anziehe,
aber er wurde ohne weiteres in den Wagen gesetzt und rollte in heißer
Angst gen Stuttgart. Dort führte man ihn gleich vor den Herzog, der an
der Tafel saß und der ihn auf dem leeren Stuhl an seiner Seite Platz
nehmen und zugreifen hieß. Jener zauderte: alle waren mit Löffeln
versehen, nur er nicht. Warum ißt du nicht? fragte der Herzog streng.
Der Mann bekannte, was ihm fehlte.

Weißt du nicht, wie man einen Löffel macht? herrschte der Herzog den
Erschrockenen an und machte dazu ganz besondere Augen. So will ich
dir’s zeigen.

Bricht das Knäuschen vom Brot, höhlt es aus und reicht’s ihm: So, jetzt
lang zu und iß.

Der Mann konnte nichts sagen als: Oh, Herr Herzich, send Ihr’s g’wä?

Er wurde fürstlich mit Speise und Trank bewirtet und dann in Gnaden zu
seiner Frau entlassen, nachdem der Herzog zuvor noch ihm und seinen
Nachkommen Steuerfreiheit zugesagt hatte für alle Zeiten.

                                   *

Unerschöpflichen Stoff boten ihr die schwäbischen Landpfarrer, unter
denen damals noch die Sonderlinge in Menge gediehen. Einem, der ein
grundgelehrter Theologe und ein stiller Weiser, dabei aber sehr
unpraktisch war, wurde jede Nacht von seinen selbstgezogenen Gurken
und Rettichen im Pfarrgarten gestohlen. Er fragte einen Kollegen, was
er an seiner Stelle tun würde. Entweder die Diebe verklagen oder eine
Falle aufstellen, meinte dieser. Der Pfarrer antwortete nach einigem
Besinnen: Ich will sie lieber mit geistigen Waffen schlagen. Und er
legte ein Blättchen zu den Gurken ins Beet:

    Wer Rettich stiehlt und Gurken,
    Den rechn’ ich zu den Schurken.

Weil seine Frau ihn jedoch erinnerte, daß die Diebstähle des Nachts
stattfänden und das Blättchen somit seinen Zweck verfehlen müßte,
stellte der treffliche Mann im Vertrauen auf die Macht der Dichtkunst
eine Laterne dazu, die hernach den Dieben das Geschäft erleichterte.

Auch manches Stücklein altschwäbischen Aberglaubens wurde uns durch
Tante Berta überliefert, die zwar selber aufgeklärt war, aber die Liebe
zum Volkskundlichen bewahrte. So die schöne Geschichte von dem Mann in
Dußlingen, der mehr konnte als Brot essen. Wenn irgendwo in der Nähe
ein schwerer Diebstahl vorgefallen war, so wandte man sich an ihn. Dann
erschien er mit seinem Rädchen im Hause des Bestohlenen und setzte das
Zauberrad -- es war eines von der Art, wie es die Messerschleifer mit
sich führen -- in Bewegung. Und wie das Rädchen lief, so mußte der Dieb
laufen, bald langsamer, bald schneller. Erst war die Geschwindigkeit
beträchtlich, dann hieß es: Jetzt geht’s den Berg hinauf, da wollen
wir sachte tun, daß er nicht so arg schnaufen muß. So, jetzt ist er
oben -- nun sauste das Rädchen wieder los, und der Dieb sauste bergab,
bis er im Tälchen war. -- Halt, jetzt muß er über den Bach, der keinen
Steg hat -- das Rädchen deutete vorsichtig die Steine an, auf die er zu
treten hatte, und ließ ihn dann wieder Galopp laufen. -- Jetzt ist er
schon in der Stadt -- eben kommt er die Straße heruntergerannt -- da
ist er am Haus! -- Man hörte draußen ein Aufschlagen und das Rädchen
stand still. Nach einer kleinen Pause ging der Zauberer hinaus und
brachte den außen abgeworfenen Gegenstand.



Umzug nach Kirchheim.


In unser letztes Obereßlinger Jahr fiel die Aufregung über einen
unheimlichen Fund in der Nachbarschaft. In einem eben erst erworbenen
Schuppen grub der neue Besitzer zwei menschliche Gerippe, ein großes
und ein kleineres, aus der Erde. Alles eilte hin, sie zu sehen, wir
Kinder natürlich auch. Sachverständige erklärten, daß die Knochen einem
etwa vierzigjährigen Mann und einem dreizehn- bis vierzehnjährigen
Mädchen angehörten, und daß sie jahrzehntelang in der Erde gelegen
hätten. Ältere Leute erinnerten sich auch eines Mannes, der vor vierzig
oder mehr Jahren mit seinem Töchterchen aus Eßlingen verschwunden
war und den man in Amerika geglaubt hatte. Der frühere Besitzer des
Schuppens, ein alter, reicher, als Menschenfeind verschriener Bauer,
der sich lange Zeit gegen den Verkauf dieses vom Nachbar begehrten
Grundstücks gesträubt haben sollte, wurde gleich nach der Entdeckung
vom Schlage gerührt. Dunkle Vermutungen spannen sich um diese
Begebenheiten, ohne Gestalt zu gewinnen, denn das Verbrechen war
verjährt, somit wurde ihm nicht weiter nachgeforscht. Aber nun tauchten
auf einmal andere unheimliche Geschichten auf, die uns Tante Berta
und Josephine an den langen Abenden mit raunender Stimme erzählten.
Ich begann in jedem fremdartig oder finster aussehenden Menschen, ob
er nun schielte oder sonst fehlgeschaffen war, den geheimen Täter
irgendeiner grauenvollen, unaufgedeckten Tat zu ahnen. Die guten
Holden zeigten da ihr Doppelgesicht der wohltätigen Fee und der
düsteren Schicksalsschwester, indem sie immer mehr Grauen in meine
Nächte trugen. Sogar die alte Mär vom Krokodil von Eßlingen erwachte
wieder, das sich in einen Keller verirrt hatte und die zum Weinzapfen
hinuntergesandten Mägde rumpf und stumpf auffraß, ein leibhaftiger
Nachkomme der alten Tatzelwürmer. Vielleicht lag es jetzt eben in
dem unsrigen und sperrte den Rachen gegen Josephine auf, denn solche
Ungetüme leben bekanntlich ewig. Mit der Vernunft machte ich mich zwar
äußerlich über den Aberglauben lustig, aber die Unvernunft glaubte
heimlich doch. Meine Schutzherrin Pallas Athene hatte mir leider nur
ihre Tapferkeit, aber nichts von ihrer Weisheit einflößen können. Und
auch die Tapferkeit verlieh sie mir nur für die kurzen Stunden, wo ich
mit ihrem Wahrzeichen, Eulenhelm und Gorgonenschild, bewehrt im Garten
tollte. So abgeschlossen hatte man mich gehalten, daß ich nicht einmal
ohne Furcht allein durch die Dorfgassen ging. Man konnte da einem
langen, strohgelben Idioten begegnen, der zwar niemand ein Leides tat,
der aber ein so seltsam leeres Gesicht hatte, daß es war, als ob ein
seelenloser Gegenstand auf zwei Beinen daherkäme und einen anschaute
gegen alles Naturgesetz. Wenn ein solcher Blick mich traf, begann ich
zu zittern und drückte mich scheu an die Wand oder lief wie ein Häslein.

-- -- Nun sehe ich mich selbst mit Mutter und Geschwistern zusamt
Josephinen (der Vater war vorausgereist) in einen mit Kissen und
anderem Bedarf gefüllten, geschlossenen Wagen verpackt über ein
flaches, hochgelegenes Wiesenland hinrollen, das sich für meine Augen
in eine steppenhafte Unendlichkeit verlor mit einem einsamen Schäfer
nebst Herde und rotgestrichenem Pferchkarren als unvergeßlichem
Beiwerk. Es war unser Auszug aus dem geliebten Obereßlingen, wo
Freund Hopf sein Haus, den Schauplatz unseres Jugendparadieses,
verkauft hatte. Wie wir in Kirchheim unter Teck in einer öden
Stadtwohnung landeten, wo wir Kinder wie eingesperrte Vögel im
Käfig umherflatterten und unser Mütterlein sich für uns und mit uns
unglücklich fühlte, weiß ich mehr aus den Berichten anderer. Wohl
erinnere ich mich, wie ich in der Dämmerstunde zuweilen ausbrach und zu
einem rauschenden Wehr hinrannte, um mich durch überlautes Schreien und
Singen in wilden Rhythmen, die niemand hörte, von dem eingeschlossenen
Drang zu entlasten. Das altertümliche, damals noch sehr stilvolle
Stadtbild verhaftete sich, nicht mit klargesehenen Einzelheiten, aber
als Stimmungszauber in meiner Seele und wurde später, als ich in der
Fremde lebte, ein lieber Hintergrund meiner Heimatträume, in denen
meist die beiden Flüßchen von Kirchheim, die Lauter und die Lindach,
plätscherten. Die eine rauschte rasch und trübe daher, die andere aber
rechtfertigte ihren Namen, denn sie war lind und rieselnd wie dieser,
und in beiden konnte man baden.

Bald danach sehe ich uns wieder in einer ländlichen Wohnung vor der
Stadt auf dem Wege nach der Teck, die mit ihren Albgeschwistern
einladend niedersieht, inmitten eines von der Lauter durchflossenen
Gartens mit Laube und Gartenhaus. Die Brüder gehen zur Schule, ich
werde allein zu Hause unterrichtet, aber der Lerneifer hat merklich
nachgelassen, weil der gewohnte Wettlauf mit Edgar abgestellt ist.
Dieser wurde nun schon ein ganz gelehrtes kleines Haus und pflegte
mich wegen meiner greulichen Fehler im lateinischen Argument weidlich
auszulachen, aber er gab mir von seiner jungen Weisheit nichts
ab. Mein gutes Mütterlein studierte seine lateinischen Schulhefte
nach, um mir daraus vorwärts zu helfen. Mehr Freude machten mir die
lebenden Sprachen, das Französische und das Italienische, das sie mir
so nebenher beibrachte, ich weiß selbst nicht wie. Aber ich hatte
gar keinen Ehrgeiz mehr und verträumte am liebsten meine Zeit im
Garten. Eine zahme Elster war meine Spielkameradin, die mich überall
hin begleitete und mir die Haarnadeln vom Kopfe und meine kleinen
Schmucksachen vom Halse stahl. Gelesen wurde über die Maßen viel, mit
ausgesprochenem Für und Wider, Eindrücke, für die das Kind natürlich
keine Erklärung hatte, die sich aber beim späteren Lesen immer
wiederholten. So entzückte mich vor allem die Turandot, diese reizende
Vereinigung von großem Schillerschem Faltenwurf mit leichtbeweglicher
italienischer Grazie. Die Vorstellungswelten, die ich in den Büchern
fand, waren mir alle schon geläufig. Unsere Mutter lebte und webte in
Hellas und hatte daneben einen starken Zug zur romanischen Kultur. Der
Vater wies auf deutsches Volkstum hin und huldigte auf Sparziergängen
dem Genius loci, indem er von den Sagen der Schwäbischen Alb erzählte.
Da er aber meist ebenso still und wortkarg wie die Mutter lebhaft und
mitteilsam war, geriet das Deutschtum zunächst in Nachteil. Nur mit
den altgermanischen Göttern waren wir von klein auf vertraut und sie
bildeten bei ihrer nahen Verwandtschaft mit den griechischen eine
tiefsinnige Ergänzung zu diesen.

Die Kirchheimer Zeit ist für meine Eltern wohl die schwerste ihrer
Ehe gewesen; die Lebensaussicht war eine Zeitlang nach allen Seiten
verbaut. Meine Mutter fühlte sich dort tödlich vereinsamt; sie vermißte
nun auch die treue Hopfsche Familie, bei der sie doch immer die ihr
so nötige Ansprache gefunden hatte. Sie arbeitete sich ab, um neben
den häuslichen Geschäften die Höschen und Jäckchen ihrer vier Buben
aus alten Männerkleidern zurechtzuschneidern, eine Kunst, für die das
Freifräulein von Brunnow nicht erzogen war. Für mich sorgten zarte
Feenhände, daß ich fast immer niedlich gekleidet ging und ihr auch von
dieser Seite keine Mühe machte. Des Abends las sie uns den Herodot
vor; ihre ungeheure Spannkraft schnellte gleich wieder auf, wenn sie
bei ihren Griechen war. Nebenher erschwang sie noch die Zeit, sich
mitten im Kinderlärm schriftstellerisch zu betätigen; sie hatte keine
Spur von literarischem Ehrgeiz und wollte nur zum Erwerb ein kleines
Scherflein beitragen. So entstand ein Band Märchen, teils in Prosa,
teils in Versen, der einige Jahre später bei Schober in Stuttgart
erschien. Sie seien um einen Ton zu hoch gegriffen, sagte mein Vater,
der übrigens seinen Segen dazu gab, nachdem sie die Scheu, ihm ihre
Sachen zu zeigen, überwunden hatte. Die Erzählungen in Versen gelangen
ihr besser, weil ihr die metrische Sprache natürlicher und einfacher
lag als der Prosaton. Da wir wie Geschwister zusammenlebten, ließ sie
mich Neunjährige in eine auf Island spielende Geschichte auch ein paar
gereimte Zeilen hineinpfuschen. Als das fertige Gedicht, das am Ende
eine gewisse Hast verriet, meinem Vater vorgelegt wurde, schrieb er
neckend im gleichen Versmaß darunter:

    Und zappelnd und verzweifelnd eilen
    Zum letzten Zug die letzten Zeilen.

So etwas kränkte sie nicht nur nicht, sondern sie freute sich, dem
ernsten, stillen Mann, neben dem sie immer wie ein überlebendiges Kind
erschien, einen Strahl seines alten Humors entlockt zu haben. Auch
eine Erzählung aus dem Dreißigjährigen Krieg hatte sie damals unter
der Feder, die später gleichfalls gedruckt wurde. Da die Verfasserin
Menschen und Dinge wenig kannte und mehr in der Idee als in der
Anschauung lebte, blieben ihre Gestalten etwas abstrakt und farblos.
Sie war sich darüber vollständig klar, ja sie unterschätzte ihre
Begabung weit, da sie auch ihre Verse, zu denen ein inneres Bedürfnis
sie von klein auf trieb, nicht als wirkliche poetische Erzeugnisse,
sondern nur als unentbehrliche innere Entlastung gelten ließ. Mein
Vater äußerte sich damals in seiner bildlichen Redeweise zu mir über
ihre dichterischen Versuche:

Ihre Muse ist ein ganz hübsches Kind, aber sie hat zerrissene Strümpfe
an.

Als ich dieses Urteil einmal ganz spät am Ende ihrer Tage der
inzwischen achtzigjährig Gewordenen erzählte, antwortete sie lächelnd:
Ich habe sie seitdem geflickt. Es hatte seine Richtigkeit. Ihre Gabe,
sich poetisch auszudrücken, entwickelte sich mit den Jahren immer mehr,
wie überhaupt ihre ganze Persönlichkeit bestimmt war, erst im höchsten
Greisenalter, das bei ihr noch immer quellende Jugend war, eine süße
duftende Reife zu erlangen wie eine alleredelste Weinsorte. Damals war
sie noch brausender Most und gärte mit ihren Kindern um die Wette.

Was übrigens die zerrissenen Strümpfe betrifft, so gab es deren im
Hause nur allzuviele; das mochte meinem Vater das Bild nahegelegt
haben. Wenn Mama und Josephine sie nicht mehr bewältigen konnten,
so wurde ein großer Pack daraus gemacht und an das geliebte
„Waldfegerlein“ gesandt, Rudolf Kauslers[1] Nichte, so genannt nach
meines Vaters gleichnamigem, ihr gewidmeten Gedicht. Sie war die
Holdeste von den guten Holden, die unsere Kindheit betreuen halfen,
auch äußerlich zart und leicht wie eine Elfe. Sie stopfte die Strümpfe
mit Hingebung und mit dem Maschenstich, wonach sie wie neu wurden, und
wenn der Pack zurückkam, fiel immer etwas Beglückendes für uns Kleine
mit heraus. Die Eltern aber erquickten sich an ihren geistvollen und
eigenartigen Briefen, die ganz in der Stille blühten, doch mancher
berühmten Briefsammlung nicht an künstlerischem Reiz nachstanden.

Überhaupt, was gab es damals für Freundschaften auf der Welt, und wie
lebten sie sich in Briefen aus, verschwenderisch und überschwenglich
mit den inneren Gütern schaltend. Um jedes edle Herz stand eine
Schutzmauer von Liebe. Die Erde mit all ihren Kümmernissen wäre ja
gar nicht bewohnbar gewesen ohne den Engel der Freundschaft, der
zwischen den Menschen hin und her ging. Man krittelte und zergliederte
auch noch gar nicht, sondern nahm sich gegenseitig so wie man war
schlechthin als Ganzes, und liebte sich ohne viel zu tüfteln und zu
deuteln. Die psychologische Neugier, die nicht ruhen kann, bis sie
einen Charakter in seine Einzelheiten zerlegt hat, kam erst in der
jüngeren Geschlechtsreihe auf, und man dünkte sich wunder wie klug, als
man zu zerfasern begann. Es fragt sich aber sehr, ob nicht jene die
Klügeren waren, die das Leben ganz unbefangen lebten und, vom bloßen
Ahnungsvermögen geleitet, gewiß nicht öfter fehlgriffen als die Jungen
mit ihrer Weisheit.

Wenn ich an Kirchheim denke, steigt noch ein blasses, aber
unverwischbares Bild vor mir auf: eine grüne Festwiese mit Bänken und
Tischen, an denen getafelt wurde, und einem sich drehenden Karussell,
dem Höchsten von irdischer Seligkeit, was ich damals kannte! Dann
ein langer Zug von kleinen weißgekleideten Mädchen, die meisten von
meinem Alter, mit Kränzen um die Stirn, je zwei und zwei sich bei
der Hand haltend, während von der Wiese her die Musik tönte. Ich war
ebenfalls weiß und festlich gekleidet und trug den schönsten Kranz
von Maienblumen im Haar, aber ich ging nicht mit im Zug, der aus den
Schulkindern gebildet war, sondern stand abseits an der Hand der
Mutter, um zuzusehen. Die Brüder waren eingereiht und schritten jeder
mit seiner Klasse. An mir aber ging der Zug vorüber, der grünen Wiese,
dem Paradiesgarten, dem Feste der ewigen Freude zu. Da überkam es mich
plötzlich, was es heißt, „nicht dabei zu sein“. Es war ein maßloser
Schmerz wie ein erzwungener ewiger Verzicht auf alle Freuden dieser
grünen Erde. Und Mama begriff ihr dummes kleines Mädel nicht, das
nur mit Mühe unter Aufbietung allen Stolzes den Tränen wehrte. Kann
aber ein Erwachsenes, auch das liebevollste, nachfühlen, was jenes
Nichtdabeisein dem Kinde bedeutete?

Und nun läuten auf einmal in meiner Erinnerung Osterglocken. Aus
München, wohin mein Vater sich auf ein paar Wochen zu seinem Freund
Paul Heyse begeben hatte, kam die Heilsbotschaft, daß wir alle
binnen kurzem nach der großen bayrischen Kunstresidenz übersiedeln
würden, wo uns endlich ein freies, ein wahrhaft menschenwürdiges
Leben erwartete. Dort würden die Eltern einen gleichgesinnten, fein
gebildeten Freundeskreis finden, die Buben Mittel zum Studieren, ich
die Gelegenheit, das Kunsttalent, das man mir zuschrieb, weil ich
noch immer eifrig für mich zeichnete, auszubilden. Die Mutter ging
in einem beständigen Glücksrausch umher. Aber das Verheißungsland
versank, wie es aufgetaucht war; wie und warum, steht in meines
Vaters Lebensgeschichte. Es war der höchste Wellenberg der Hoffnung,
den unser Schifflein je erkletterte, und nun schoß es jäh in einen
trostlosen Abgrund hinunter, in dem mein rasches Mütterlein schon den
Untergang sah. Doch es tauchte wieder auf und schwamm einem nicht so
verlockenden, aber sicheren Hafen zu, dem alten Tübingen, wo unser
Vater vor Jahresschluß einen Bibliothekarsposten an der Universität
antrat.


[1] Jugendfreund meines Vaters und gleichfalls Dichter, von ihm unter
dem Namen Ruwald in der Novelle „Das Wirtshaus gegenüber“ eingeführt.
Damals Pfarrer in Klein-Eislingen.



Das alte Tübingen.


Den Ort, an den mich jetzt meine Erinnerung führt, würde man heute auf
Erden vergeblich suchen. Zwar hat sich mein altes Tübingen äußerlich
nicht allzuviel verändert. Seine Gestalt ist durch den hügeligen Boden,
der es trägt, und durch die geschlossenen Linien des mittelalterlichen
Städtebaus für alle Zeiten festgelegt. Noch immer spiegelt sich die
hohe und steile Giebelreihe der Neckarfront mit dem aus der Asche von
1875 wiedererstandenen Hölderlinsturm in dem still ziehenden Fluß, und
unverrückt steht auf der höchsten Hügelkuppe Schloß Hohentübingen mit
seiner gestreckten Masse und den stumpfen Türmen, die noch die Spuren
Turennes und Melacs am Leibe tragen. Und die beherrschende Stiftskirche
auf einem steilen, hochgemauerten Vorsprung reckt sich trotzig wie
ein gewappneter Erzengel im Stadtinnern empor. Solche Züge sind
unverwischbar. Aber was diesen Zügen in den sechziger und siebziger
Jahren ihren ureigenen geistigen Ausdruck gab, die mittelalterliche
Romantik, ist für immer daraus verschwunden. Das Studentenleben hat
sich in die häßlichen Korporationshäuser auf den Anhöhen zurückgezogen,
die für die weichen, niederen Hügel viel zu groß sind und laut aus der
Harmonie des Ganzen herausfallen. Damals spielte sich dieses Leben
noch in den krummen und steilen Straßen ab, wo das Treiben und Tollen
niemals ruhte. Zwar seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Trunk, lag der
Musensohn, mit Ausnahme der beliebten „Naturkneipereien“ auf dem Wöhrd
oder dem Schänzle, auch damals im geschlossenen Raume ob, aber die
Folgen tobten sich im Freien aus. Es sang und klang straßenauf und -ab,
noch öfter brüllte und grölte es. Dann gab es die Anrempelungen mit
nachfolgender „Kontrahage“ nach dem berühmten Muster: Geschah das mit
Vorsatz? -- Nein, mit dem Absatz -- und solche Scherze mehr. Ferner die
Keilereien zwischen Farben, die sich nicht leiden mochten, und endlich
die ganz großen Studentenschlachten, wo die gesamte Studentenschaft
einmütig gegen die Obrigkeit oder das Philisterium, oder was sonst in
ihre Vorrechte eingegriffen hatte, zu Felde zog.

Gleichfalls ein Augenblick vollkommener Eintracht war es, wenn die
Schwarzwaldflößer an Tübingen vorüberfuhren. Sobald flußaufwärts die
Spitze eines Floßes erschien, füllte sich die Neckarbrücke und der alte
Hirschauer Steg mit Studenten, die der Anblick wie mit Besessenheit
ergriff. Und so lange sich unten der vielgliedrige Wurm, von mächtigen
Gestalten in hohen Flößerstiefeln gesteuert, vorüberschob, brüllte
es oben von den Brücken und aus den Fenstern der Neckarhalde in
langgezogenen Tönen: „Jockele, sp-e-e-e-err!“ und dann schneller:
„Jockele sperr, ’s geit en Aileboga!“ (Ellbogen). Entferntere hingen,
um nicht unbeteiligt zu bleiben, gewaltige Schaftstiefel zu den
Neckarfenstern heraus, was die Flößer gleichfalls zu erbosen pflegte.
Der Jockele war für seine saftige Grobheit in Schwarzwälder Mundart
berühmt, zu meiner Zeit aber war er es schon müde geworden, auf den
jahrhundertealten Ruf zu antworten. Schweigend, in philosophischer
Ruhe steuerten die Riesen mit langen Stangen ihre Flöße zwischen den
Pfeilern der Neckarbrücke durch, noch eine lange Strecke verfolgt von
dem Gebrüll, in das auch die Gassenjugend einstimmte.

Ein anderer löblicher Brauch war, des Nachts die Laternen zu löschen
und zu zerschlagen oder das Brennholz, die sogenannte „Scheiterbeig“,
die nach Urvätergewohnheit vor den Häusern aufgestapelt lag, zu
verschleppen. Kam der Nachtwächter oder ein Polizeidiener hinzu, so
gab es tausend Mittel, ihn an der Haftbarmachung der Schuldigen zu
verhindern. Es war der Geist der süßen Zwecklosigkeit, der die Jugend
von dazumal beseelte und ihr als höchster Lebenswert erschien. Immer
blieb der Mann der Ordnung der Geprellte, und der Philister selbst,
obgleich der Schabernack sich gegen ihn richtete, stand mit seiner
geheimen Sympathie auf seiten der Studenten. Die Menschheit zerfiel
damals in zwei Hauptgattungen, die zugleich ihre äußersten Pole
darstellten: Student und Philister. Aber beide brauchten einander,
waren in jahrhundertelangen Reibereien einer um des anderen willen
da. Als eine der ältesten und kleinsten Universitäten, dazu ganz
abseits der größeren Verkehrswege gelegen, hatte Tübingen noch gewisse
studentische Überlieferungen, die weit ins Mittelalter zurückgingen; im
Untergrund des studentischen Bewußtseins lebte noch ein Rest vom Geiste
der Fahrenden, dem auch gelegentliches „Schießen“ (Stehlen) zum Schaden
der Philister nicht für unehrenhaft galt. So schwärmte eines Tages eine
Schar Musensöhne über die Wiesen nach Lustnau aus und fand unterwegs in
einem Wässerlein zwölf wohlgenährte Enten lustig schwimmend. Nur eine
davon sah der Besitzer wieder. Sie trug einen Zettel am Hals mit den
Worten:

    Wir armen zwölf Enten
    Sind gefallen unter die Studenten,
    Ich zwölfte komm zurück allein
    Und bring’ von elf den Totenschein.

Die Geschichte stammt allerdings aus einer älteren Zeit, wäre aber in
jenen Tagen noch ebensogut möglich gewesen. Auch hochverehrte Lehrer
wurden nicht geschont. So hatte einmal der berühmte Kliniker Niemeier,
einer der wenigen norddeutschen Professoren, die es in Tübingen zu
großer Volkstümlichkeit brachten, in der Neujahrsnacht, wo der Spuk
am wildesten tobte, ein fettes Gänslein am Küchenfenster hängen, das
beim morgigen Festschmaus prangen sollte. Da wurde er in der Nacht
herausgeschellt, und als sein Kopf am Fenster erschien, rief eine
näselnde Stimme hinauf: Prosit Neujahr, Herr Professor, und geben
Sie acht auf Ihre Gans, daß sie nicht gestohlen wird. Der Angerufene
verstand und machte gute Miene. Prosit, Herr Kepler, rief er zurück,
ich habe Sie an der Stimme erkannt. Lassen Sie sich die Gans gut
schmecken, aber stören Sie die Leute lieber nicht im Schlaf.

Dieser selbe Kepler, der auch in meinem Elternhaus verkehrte und später
als Arzt nach Venedig ging, führte überhaupt ein bewegtes Leben. Er
war der Held einer Anekdote, die in Tübingen unvergeßlich bleibt.
Als er einmal nahe der Neckarbrücke mit ein paar Freunden im Freien
badete, erschien die Polizei, beschlagnahmte die Kleider und wollte die
Übeltäter verhaften. Diese entsprangen und rannten splitternackt das
Ufer entlang bis nach Kirchentellinsfurt, wo sie endlich festgenommen
wurden. Da es aber keinen Paragraphen gegen das Nacktgehen gab,
so verdonnerte sie eine weise Behörde „wegen Vermummung bis zur
Unkenntlichkeit“.

Zum Charakterbild des alten Tübingen gehört aber noch eine dritte dort
lebende Menschengattung von urtümlichster Beschaffenheit, die weder
dem Studenten noch dem Philister hold war, die man sich aber aus dem
dortigen Leben nicht wegdenken kann: nämlich die in den malerischen
Schmutzwinkeln der Unteren Stadt oder „Gôgerei“ wohnenden „Wingerter“
(Weingärtner), auch „Gôgen“ oder „Raupen“ genannt. Woher diese
beiden Bezeichnungen kommen, weiß niemand, eine theologisch gefärbte
Etymologie will die Gôgen auf das biblische Gog und Magog zurückführen.
Was die Raupen betrifft, so soll der Name gar eine Verketzerung des
lateinischen Wortes Pauper sein, womit man in der gelehrten Musenstadt
die am Freitagmorgen von Tür zu Tür singenden Volksschüler bezeichnet.
Wie dem auch sei, beide Namen, Gôgen wie Raupen, wurden von ihren
Trägern ungern gehört und pflegten eine tätliche Abwehr nach sich zu
ziehen. Die Gôgen unterschieden sich nach ihrer ganzen Wesensart,
vor allem aber nach den eigentümlichen Kehllauten ihrer Aussprache
und einer gedehnten Betonung, die etwas Mürrisch-Verbissenes an sich
hatte, so stark von den übrigen Einwohnern, daß manche sie geradezu für
Nachkommen eines zugewanderten Fremdvolkes hielten und daß es zwischen
der oberen und der unteren Stadt wie ein unsichtbarer Stachelzaun lag.
Als tüchtige Taglöhner unentbehrlich, machten sich diese Mitbürger
durch ihre eingeborene tiefe Abneigung gegen die Höhergestellten und
ihren ausgeprägten Sinn für den eigenen Vorteil, mehr noch durch ihren
wortkargen, aber äußerst schlagenden Mutterwitz, der nicht immer von
der reinlichsten Art war, gefürchtet. Auf eine Gôgenrede konnte niemand
mehr einen Trumpf setzen, außer ein anderer Gôg. Unzählige Gôgenworte
und -witze waren und sind in Tübingen im Schwang. Am berühmtesten ist
das einsilbige Zwiegespräch zwischen Vater und Sohn, wie sie zusammen
die steilen Weinberghalden des Österberges hinansteigen und dem Jungen
ein herrenloser Schubkarren auf einem Nachbargrundstück in die Augen
sticht, auf den er den Vater durch einen stummen Wink aufmerksam macht.
Worauf der Alte nur die zwei lakonischen Worte erwidert: Im Ra! (Im
Herabsteigen!) Oder die zungenschnelle Frage des Berliner Studenten an
den pfeifenrauchenden Weingärtner: Kann ich von Ihnen Feuer haben, ja?
Und die nachdrücklich-langsame Antwort des alten Gôgen: Airscht (erst),
wenn i ja sag’.

Das Straßenbild von Tübingen beherrschte der Couleurstudent,
besonders der Angehörige der paukenden Korporationen. Diese standen
bei den Ausritten und Aufzügen im studentischen Wichs, bei den
Tanzvergnügungen, den glänzenden Fackelzügen und überhaupt im
gesellschaftlichen und öffentlichen Leben obenan. Ihre Iliaden und
Odysseen füllten die ungeschriebenen Annalen der Stadt. Jedes Kind
wußte, was für Mensuren in laufender Woche ausgefochten wurden,
welches Dorfwirtshaus, welches Gehölz dazu ausersehen war, wie viele
Abfuhren es gab, mit wieviel Nadeln der jeweils Zerhackte vom Paukarzt
genäht wurde. Wenn es den Paukanten gelang, den armen Pedell, der
sie abzufassen hatte und der zu diesem Zweck den weiten Weg atemlos
auf Schusters Rappen angaloppiert kam, durch ihre ausgestellten
Fuchsenwachen irrezuführen und das unterbrochene Opferfest an einer
anderen Stelle des Waldes fortzusetzen, so war es ein Triumph der guten
Sache, woran die ganze Stadt teilnahm. Unsterblich war die immer wieder
auftauchende Geschichte von der abgehauenen Nasenspitze, die der Hund
gefressen hatte. Die vererbten Feindseligkeiten oder vorübergehenden
Spannungen zwischen gewissen Farben wurden mit der gleichen Wichtigkeit
behandelt, wie heute die Beziehungen der Großstaaten untereinander.
Sogar die jungen Mädchen nahmen Partei, je nachdem ihre Brüder oder
bevorzugten Verehrer der oder jener Couleur angehörten. Der historische
Gegensatz zwischen Korps und Burschenschaften, der längst kein
grundsätzlicher mehr war, aber noch als Abneigung fortbestand, mußte
auch gesellschaftlich stets berücksichtigt werden.

Getrunken wurde, wie ich niemals wieder habe trinken sehen. Größere
Helden des Suffs finden sich auch im „Gösta Berling“ nicht. Die
Zahl der Schoppen, die für eine Fuchsentaufe nötig sein sollte,
wage ich nicht zu nennen; über die bei diesem Vorgang angewandten
Zwangsmaßregeln gingen gruselige Gerüchte. Selbst bei Tanzvergnügungen
konnte es vorkommen, daß ein Partner plötzlich nicht mehr salonfähig
war und daß aus den Reihen der Kommilitonen ein Ersatzmann gestellt
werden mußte. Schande war keine dabei, sie behaupteten ihr Ansehen auch
noch in diesem Zustand. Nur wer sich im Schnaps berauschte, wie es den
Norddeutschen bisweilen einfiel, statt im landesüblichen Gerstensaft
oder Wein, der galt für wirklich lasterhaft.

Dabei sprach es doch für die Gutartigkeit dieser ausgelassenen
Jugend, daß tätliche Ausschreitungen gegen die Nebenmenschen äußerst
selten waren. Unser Haus am Marktplatz hatte nach damaliger Sitte
keine Korridortüren auf den einzelnen Stockwerken, aber obwohl im
Untergeschoß ein Studentencafé lag und die Haustür deshalb fast die
ganze Nacht offen stand, fühlte man sich doch in seinem Zimmer völlig
sicher. Nur eines Abends kam unsere schon betagte Josephine voller
Unwillen aus ihrer Dachkammer zurückgestürzt, denn sie hatte in ihrem
Bett einen unbekannten Schläfer gefunden. Es war ein Student, der in
tiefer Verdunkelung die fremden Treppen als seine eigenen erstiegen und
sich ohne weiteres zur Ruhe gelegt hatte. Meine Brüder, damals schon
selber Studenten, hatten alle Not, den Unerwecklichen wieder die lange
Treppe hinunter und ins Freie zu schaffen.

Abseits von dieser Burschenherrlichkeit trieben die „Stiftler“
ihr halbklösterliches, eigenbrötlerisches Wesen. Es waren dies
Stipendiaten, die, von klein auf zur theologischen Laufbahn bestimmt,
erst in den niederen Seminarien, dann im Tübinger evangelischen Stift,
einem ehemaligen Augustinerkloster, für ihren Beruf herangebildet
wurden. Obgleich sie durch ihre Halbklausur und vielfache
Beschränkungen, denen sie unterworfen waren, gesellschaftlich hinter
den glücklicheren Stadtburschen zurückstanden, bildeten sie unter ihrem
unscheinbaren und häufig ungeleckten Äußeren so etwas wie eine geistige
Auslese des Landes und trugen viel zu der besonderen Physiognomie
der Tübinger Universität bei. Kein Auswärtiger kann zur Kultur des
Schwabenlandes und zu seinen großen Söhnen in ein näheres Verhältnis
treten, wenn er sich nicht eingehend mit dem Geiste des Tübinger Stifts
und seinen Einrichtungen vertraut gemacht hat. Aus dieser Anstalt ging
ja bekanntlich die größte Zahl der führenden Geister Alt-Württembergs
hervor. Und zwar pflegte entsprechend der Doppelbegabung des Stammes
ein guter Jahrgang je einen Dichter und einen Philosophen gleichzeitig
zu bringen: Hölderlin und Hegel, Mörike und Strauß, meinen Vater und
Ed. Zeller. Gelegentlich wuchsen die großen Geister im Stift sogar
büschelweise wie in der sogenannten „Geniepromotion“, der auch
Friedrich Vischer angehörte. Der Mehrzahl der Stiftler ging aber
die einseitige Erziehung lebenslang nach. Mit einem äußerst prall
gestopften Schulsack verbanden sie häufig die größte Unkenntnis des
wirklichen Lebens und jenes linkische Ungeschick der äußeren Welt
gegenüber, das man in Schwaben mit dem Wort „stiftlermäßig“ bezeichnet.
Bei den schematischeren Köpfen gesellte sich noch leicht eine geistige
Selbstsicherheit hinzu, die alles, was nicht auf ihrem eigenen Boden
gewachsen und ihnen darum fremdartig war, als minderwertig betrachtete.
Mancher der Besten hielt es nicht bis zum Ende aus und entwand sich so
oder so dem Zwange. Ehemalige Stiftler trugen deutsche Wissenschaft in
alle Lande und waren als Lehrer wie als Erzieher gleich sehr gesucht.
Die Daheimgebliebenen nahmen späterhin hervorragende Kirchen- und
Schulämter ein, sie verewigten den Stiftlerschlag, indem sie ihn
weiterzüchteten, und gaben dem ganzen schwäbischen Geist etwas von
ihrem Gepräge ab. Durch sie vor allem kam in die hohe geistige Kultur
des Schwabenlandes jene unausfüllbare Kluft zwischen der Weite und
Tiefe des inneren Lebens und der äußeren Formlosigkeit, die nicht
selten bis zur bewußten Verachtung des Schönen ging.

In dem ehrwürdigen Klosterbau an der oberen Neckarhalde mit seinen
Kreuzgängen, Höfen und Gärtchen hauste dieser besondere Menschenschlag
beisammen. Dort studierten, aßen, schliefen sie, ständig überwacht, in
Zimmern, die ihre altvererbten Namen und die überlieferten Erinnerungen
an die früheren Bewohner festhielten. In meines Vaters Nachlaß fand
ich eine von unbekannter Hand in Versen geschriebene Szenenfolge,
die eine nächtliche Entweichung des sonst so fügsamen Mörike aus dem
Stift unter dem Beistand dunkler Mächte dramatisch darstellt. Man
pflegte sich, wenn man die Nacht außerhalb des Stiftes verbringen
wollte, an einem langen Seil in den „Bärengraben“ hinabzulassen,
um auf der anderen Seite durch einen befreundeten Stadtburschen
hochgezogen zu werden. Wurde die Abwesenheit entdeckt, so stand auf
der unerlaubten „Abnoktation“ eine Note. Eine gewisse Zahl solcher
Noten bedingte die Ausschließung von der Anstalt. Zu meiner Zeit aber
war die Verweltlichung schon so weit gediehen, daß die Stiftler sogar
farbentragenden Verbindungen angehören konnten, soweit diese nicht dem
verpönten Paukkomment huldigten. Auch waren sie auf allen Bällen unter
den eifrigsten und bescheidensten, wenn schon nicht immer unter den
gewandtesten Tänzern.

Noch einen Schritt weiter abseits vom studentischen Treiben standen die
Zöglinge des katholischen Seminars, die Konviktoren, auch „Haierle“
(Herrlein) genannt, meist Bauernsöhne aus dem schwäbischen Oberland,
die schon durch ihr langes schwarzes Gewand, aber mehr noch durch ihre
oberschwäbische Mundart und ihr ganzes weltfremdes Auftreten von der
übrigen akademischen Jugend abstachen. Auch aus dieser Anstalt sind
bedeutende Persönlichkeiten hervorgegangen.

Neben dem „Stift“ und mit ihm verbunden lag die „Hölle“, das einstige
Wohnhaus des „Höllen-Baur“, jenes berühmten, um seiner Bibelkritik
willen viel angefochtenen Theologen. Er hatte zu den Lehrern meines
Vaters gehört, war aber um die Zeit, von der hier die Rede ist, schon
gestorben. Der Spitzname enthielt keine Spitze gegen seinen Träger.
Die Professoren waren der Mehrzahl nach mit solchen versehen, und
manche weitgefeierte Leuchte der Wissenschaft ging in der kleinen
Stadt unter irgendeiner närrischen, zuweilen auch wirklich witzigen
Bezeichnung einher. Was gab es aber auch für Originale unter diesen
Professoren! Grundgelehrte Herren, jedoch im Äußeren nicht selten
sehr vernachlässigt und mit den seltsamsten Gewohnheiten behaftet.
Zu diesen fragwürdigen Gestalten gehörte der Germanist Holland, der
Herausgeber von Uhlands Nachlaß, der auch über italienische Sprache
und Literatur las. Bekannt war die Ermahnung, mit der er seine Schüler
zu entlassen pflegte, sie möchten vor allem danach trachten, ins
Konversationslexikon zu kommen, denn wer es dahin gebracht habe, der
sei geborgen und brauche nichts mehr zu studieren. Er hatte häufig nur
_einen_ Hörer im Kolleg, der zu höflich war, ihn mit den vier Wänden
allein zu lassen. Diesen ließ er einmal in die Heimlichkeiten seines
Junggesellenhaushalts blicken. Wissen Sie, Herr M..., sagte er zu
ihm, die Wäscherinnen sind so unsauber (er drückte sich drastischer
aus), man kann ihnen die Wäsche nicht anvertrauen. Ich schlafe deshalb
seit zehn Jahren auf dem Schwäbischen Merkur. Als dieser Dante- und
Boccaccioausleger uns in viel späteren Jahren einmal in der Heimat
Dantes und Boccaccios besuchte, da war Holland in Not, denn das
Italienisch, das er jahrzehntelang an der württembergischen Alma mater
gelehrt hatte, wurde an Ort und Stelle von niemand verstanden.

Noch viel wunderlicher klangen aber die Anekdoten, die von
verschwundenen Generationen übrig waren. Ein älterer Landgeistlicher,
Verwandter meines Vaters, der ein hinreißendes mimisches Talent besaß,
pflegte uns Kindern solche Geschichten aus seiner eigenen Studienzeit
zu Dutzenden zu erzählen und vorzuspielen. In welche verschollene
Biedermeierwelt sah man hinein, wenn man hörte, daß ein Professor
der Philosophie seinen psychologischen Vortrag mit näselndem Ton und
in mühsamem Hochdeutsch, durch das der Dialekt schimmerte, also zu
beginnen pflegte: Jengleng, wenn dich die Liebe plagt, so klage es
(hier wurden die Finger in Bewegung gesetzt): a) den Sternen; so deren
keine da sind, b) den Wiesen; so auch deren keine gefonden werden, c)
den Waldbächen. Denn das Rieseln ond Rauschen der Waldbäche lendert
und mendert den physischen ond psychischen Schmerz einer moralisch
niedergedrückten Seele.

Auch in der jungen Generation schossen die Sonderlinge ins Kraut,
obgleich sie nun doch schon einen viel weltmännischeren Anstrich
bekamen. Wer erinnert sich nicht aus den siebziger Jahren an die
Gestalt des Dr. Euting, der als jüngster Kollege meines Vaters an der
Universitätsbibliothek amtete und sich später von Straßburg aus als
Orientreisender einen Namen machte? Er war weit unter Rekrutenmaß,
hatte aber sehr breite Schultern und einen sportlich entwickelten
Körper, der sich in den straffen, schnellenden Bewegungen verriet.
Euting war damals schon im Orient gewesen und gehabte sich seitdem als
Türke. Seine Beweglichkeit, seine schwarzen, umherspringenden Augen,
ein seltsam gerunzeltes, aber doch junges Gesicht, das aussah wie von
heißerer Sonne gedörrt, gaben ihm ein völlig fremdartiges Ansehen.
Den gewesenen Stiftler merkte man ihm nicht mehr an, er lehrte jetzt
semitische Sprachen, besonders das Arabische. Als außerordentlich
mutiger Mensch, der er war, hauste er mutterseelenallein in dem
unheimlichen „Haspelturm“ hinter dem Schlosse. Da bei Einbruch der
Dunkelheit die nach dem Schloßhof führende Pforte geschlossen wurde,
war er bei Nacht in seinem Turm von allen Lebenden geschieden. Er
hatte es durchgesetzt, in diesem ehemaligen Gefängnis der zum Tode
Verurteilten, dessen durch keine Treppe erreichbares Verließ noch
Menschenknochen bergen sollte, sich ein paar Zimmer einrichten
zu lassen, denen er durch orientalische Teppiche und Decken ein
einigermaßen wohnliches Ansehen gab. Dort saß er mit untergeschlagenen
Beinen, den roten Fes auf dem Kopf, am Boden, aus mächtiger
Wasserpfeife rauchend, und bewirtete seine Besucher und Besucherinnen
mit selbstgebrautem türkischem Kaffee in winzigen Schälchen, alles echt
und stilgerecht. Dabei erzählte er von Wüstenritten, Haremsbesuchen
und dergleichen. Er war ein lebhafter Verehrer der Damenwelt, doch war
ihm seine Kleinheit beim weiblichen Geschlechte hinderlich, mehr noch
sein bekannter Ausspruch, daß er hoffe, dermaleinst mit zwölf jungen
Eutings über die Neckarbrücke zu spazieren, alle vom gleichen Wuchs und
gleicher Schneidigkeit wie er. Ihm war es gegeben, seine Eigenheiten
noch über den Tod hinaus fortzusetzen. Er baute sich zu Lebzeiten
mitten unter den freien Schwarzwaldtannen des Ruhsteins sein Grab und
bestimmte, daß einmal im Jahr, an seinem Geburtstag, jeder Besucher an
dieser Stätte mit einer Tasse Kaffee gelabt werden sollte. Erst die
Kaffeeknappheit des Weltkriegs hat diesen schönen Brauch in Abgang
gebracht. Doch wir müssen dieses späte Bild verwischen, um wieder zu
den Sonderlingen des alten Tübingen zurückzukehren.

Da war unter anderen der Ewige Student, ein Mensch, der bis zu seinem
Tode auf der Universität verblieb und der mit der Zeit mehr als vierzig
Semester auf den Rücken bekam. Er hatte sehr ansehnliche Stipendien,
die ihm solange ausbezahlt wurden, als er studierte; diesen zuliebe
studierte er immer weiter, Chemie und Naturwissenschaften, ohne je
ein Examen zu machen. Mit der Zeit hatte er es doch zu ganz tüchtigen
Kenntnissen gebracht, die ihm gestatteten, andere Studenten aufs Examen
vorzubereiten. Als diese dann mit der Zeit Professoren wurden, hörte
er selber wieder bei ihnen Kolleg. Mein Bruder Alfred fragte ihn als
Student einmal, wie er doch nur bei seinen eigenen ehemaligen Schülern
im Hörsaal sitzen und so eifrig nachschreiben möge. O, antwortete er,
da ist jedes Wort Gold, es kommt ja alles von mir selber.

Von einem anderen Mediziner wurde erzählt, daß er als verbummelter
Student mit sehr geringen Kenntnissen nach Amerika durchgebrannt sei
und sich während des Sezessionskrieges den Nordstaaten als Arzt zur
Verfügung gestellt habe. Dort stieg er bis zum Generalarzt auf. Aber
nach Friedensschluß wurde ihm doch wegen seiner Stellung bange, er
kehrte mit dem erworbenen Titel nach Tübingen zurück, hörte wieder
Kolleg, und die Professoren, denen sein Auftreten Eindruck machte,
ließen ihn denn auch glimpflich im Examen durchschlüpfen.

Unter den Kleinbürgern gab es ebenfalls ganz merkwürdige Gestalten,
die von der Jugend mit Vorliebe aufgesucht wurden und die sich die
studentische Gesellschaft zur besonderen Ehre schätzten. Eine der
bekanntesten war der alte Hornung, ein uralter Veteran von 1813. Er
saß jeden Abend im Wirtshaus und spielte Karten; dabei war er als sehr
geizig bekannt. Edgar setzte sich in seiner Studentenzeit gern zu ihm
und malte ihm, während er spielte, einen Kreuzer auf den Tisch. Da er
nicht mehr gut sah und gern mogelte, griff er danach: Der ist auch noch
mein! und wollte ihn einstreichen. Das nächstemal wurde ein Kreuzer
an eine andere Stelle gemalt, und er griff abermals danach. Auf den
alten Hornung wurden in Tübingen die bekannten Napoleonanekdoten aus
der Schlacht von Leipzig übertragen. Eine aber hörte mein Bruder aus
seinem eigenen Munde: Ein französischer Sergeant hatte als Vorgesetzter
den Mann viel drangsaliert. Als sie nun eines Tages Seite an Seite über
einen Graben setzen, fällt der Franzose und ruft um Hilfe. Der Hornung
aber reitet weiter, indem er mit Nachdruck spricht: Wer reit’t, der
reit’t, und wer leit, der leit (liegt).

Die ganze bunte Tübinger Romantik gehörte nun aber einzig und
allein dem Studenten. Daneben lebte und webte Tür an Tür das engste
Spießbürgertum. Die Geselligkeit war durch strengen Kastengeist
geregelt und entbehrte der Anmut. Die Frau als gesellschaftliche Macht
versagte ganz. Man sah aller Enden hübsche junge Mädchen, aber äußerst
selten eine hübsche junge Frau. Sobald sich die damaligen Schwäbinnen
verheirateten, hielten sie nichts mehr auf ihre Person. Nach Pflege
des Geistes und Körpers zu streben, galt für „Emanzipiertheit“ und
Eitelkeit und war überdies ein Zeichen mangelnder Hausfrauentugend.
Es konnte vorkommen, daß der Mann hohe akademische Würden innehatte
und daß die Frau Magddienste verrichtete. Nicht aus Not, sondern weil
sie keine höheren Ziele kannte. So vermochte der ganze Lebensstil
sich nicht zu erheben. Auch der Student lernte nur die Reize des
Studentenlebens, nicht die einer höheren Geselligkeit kennen.
Und wie phantastisch er’s getrieben haben mochte, am Schluß der
Universitätsjahre mußte auch er unterducken, sich der lähmenden Enge
einreihen, wenn er im Lande sein Auskommen finden wollte. Darum klang
auch so wehmütig der Sang der Abziehenden: Muß selber nun Philister
sein, ade!

Um die aus den Tübinger Verhältnissen hervorgehende Einseitigkeit
oder Verwilderung zu bekämpfen, war Friedrich Vischer, solange er in
Tübingen lebte und lehrte, bemüht, die Verlegung der Universität in die
Landeshauptstadt durchzusetzen. Damit wäre freilich zugleich aller Reiz
der Überlieferung aus dem studentischen Leben geschwunden. Er fand aber
mit diesem Lieblingsgedanken keinen Anklang und konnte nur für seine
eigene Person die Wahl treffen, indem er endgültig das Stuttgarter
Polytechnikum dem Tübinger Lehrstuhl vorzog und so die Universität
eines ihrer größten Namen beraubte.

Wieviel man gegen das alte Tübingen auf dem Herzen haben mochte, die
reizvolle, wunderliche Stadt mit dem kühnen Profil und der entzückenden
Lage hat es noch allen angetan, die dort gewesen. Und so oft ich
späterhin aus Italien wiederkehrte, ganz durchtränkt von der Schönheit
des Südens, wenn ich wieder einmal auf dem „Schänzle“ stand und
die Blicke von der lachenden Neckarseite mit der fernen Alb in das
schwermütige Ammertal wandern ließ, wo, wie einmal eine gefühlvolle
Tübingerin zu Friedrich Vischer sagte, „das Herz seinen verlorenen
Schmerz wiederfindet“ immer habe ich den Zauber meiner Jugendstadt aufs
neue verspürt.



Die Heidenkinder.


Innerhalb des Tübinger Spießbürgertums stand nun unser Haus wie eine
einsame Insel. Schon beim Eintritt hatte unsere Mutter die üblichen
Antrittsbesuche unterlassen. Mein Vater war eigens ein paar Wochen
früher eingerückt und hatte alles, was die Etikette vorschreibt,
erledigt, um ihr diese Prüfung nicht aufzuerlegen, denn er sah voraus,
daß sie sich in ihrer freien, der Zeit vorangeeilten Weltanschauung
ebenso abgestoßen fühlen würde wie in ihrer aristokratischen
Empfindungsweise, die mit der ultraradikalen Gesinnung ganz gut
zusammenging. Er wußte auch, daß die Abstoßung gegenseitig gewesen
wäre, denn es gab damals in Tübingen nur wenig Frauen, die das Zeug
hatten, eine so ungewöhnliche Natur wie meine Mutter zu verstehen.
Außerdem war bei ihrem ganz auf die Familie beschränkten Dasein ihre
Garderobe nicht im besten Stand, und jede Ausgabe für sich selber ging
ihr lebenslang gegen das Gewissen. Außer mit der Witwe Uhland und mit
den Töchtern des alten Dichters Karl Mayer, der ihr feuriger Verehrer
war, wollte sie überhaupt keinen Frauenumgang. Es läßt sich denken,
welchen Anstoß wir Kinder, auf die bisher fast nichts als die Natur
und der Geist der Eltern eingewirkt hatten, jetzt in der Tübinger
Umwelt erregten. Die „Heidenkinder“ nannten sie uns auch dort. Meine
Brüder wurden oftmals auf dem Schulwege von anderen Jungen tätlich
angegriffen, und es entspann sich dann eine gewaltige Schlägerei;
die Heiden standen zusammen und wehrten sich mannhaft, wodurch sie
ihren Widersachern allmählich die Lust zu solchen Unternehmungen
verleideten. Mir aber, die ich allein und unbeschützt war, erregte
es ein schmerzliches Erstaunen, wenn mir mein ungewöhnlicher Rufname
in einer häßlichen Verketzerung nachgeschrien wurde, oder wenn gar
ein Stein aus dem Hinterhalt geflogen kam. Ich ging daher als Kind
nur sehr ungern durch die Straßen und trieb mich lieber in der Nähe
unserer damaligen, außerhalb der Stadt gelegenen Wohnung an den
Steinlachufern oder auf dem großen Turn- und Schießplatz umher, in
einsame Phantasien versponnen. Für alle Zeit bleibt mir ein Sonntag in
die Seele geschrieben, an dem ich ganz allein eine Forschungsreise in
die Gôgerei unternahm. Man hatte mir mein schönstes weißes Mullkleid
mit blauer Gürtelschleife angetan, in das lange offene Haar, auf dessen
Goldfarbe die Mutter so stolz war, hatte sie mir ein blauseidenes Band
geschlungen, und so zog ich unternehmend meines Weges. Als ich nun
von der Langen Gass’ in das seitliche Gewinkel eindrang, flog mir ein
kleines Gôgenkind mit Jubelgeschrei entgegen und wollte in meine Arme
stürzen, denn es sah mich augenscheinlich in meinem Putz für einen
Weihnachtsengel an. Da kam eine ältere Schwester aus dem Haus gerannt
und riß entsetzt die Kleine vor mir weg. Erst als sie sich hinter einem
niederen Zaun geborgen sah, drehte sie sich noch einmal um und sagte,
mit dem Ausdruck tiefsten Grauens auf mich weisend: So sehen die Heiden
aus!

Dies waren die Anfänge von dem zwölfjährigen Kriege Philistäas gegen
ein kleines Mädchen. Und ich mußte gute Miene zum bösen Spiel machen,
sonst hätte Mama mich noch gescholten oder ausgelacht. Sie hatte selbst
in ihrer Jugend sich über alle Meinungen und Vorurteile der Menschen
weggesetzt, um nach ihren selbsterwählten Grundsätzen zu leben;
ihre Tochter sollte nicht schwächer sein als sie. Allein ihr war es
hingegangen: sie war die in ihrem Dorfe verehrte Baronesse gewesen, die
auch in ihren Kreisen als die erste herrschte. Selbst als sie im Jahre
48 zwischen sich und dem Stand, in dem sie geboren war, das Tischtuch
zerschnitt, trugen ihr die Jugendfreunde und Verehrer ihre Abkehr nicht
nach, sondern wahrten ihr, ob sie wollte oder nicht, eine ritterliche
Anhänglichkeit; die Thumbs und Rantzaus und wie sie hießen, suchten sie
immer wieder auf und ließen ihren Radikalismus ruhig über sich ergehen.
Auch ihre entfernteren Verwandten -- die nahen waren schon alle tot
-- hatten nicht mit ihr gebrochen, sondern sie mit ihnen, weil einer
davon, ein junger Leutnant, bei Niederwerfung des badischen Aufstands
im feudalen Übermut einen gefangenen Freischärler an sein Pferd
gebunden hatte. Sie besaß eine ungeheure Macht über die Gemüter, wie es
nur einem Menschen gegeben ist, der gar nichts für sich selber bedarf.
Denn er allein ist der ganz Starke; die Genießenden und Bedürfenden
sind immer die Schwächeren.

Aber das kleine Mädchen, das an ihrer Seite aufwuchs, genoß nicht
dieselben Vorteile. Ich hatte keinen Umgang als die Brüder, zur
Schule wurde ich nicht geschickt und bei Maienfesten hatte ich wie
in Kirchheim das Zusehen. Dabei erfüllte mich doch der glühende
Wunsch, auch einmal dabei zu sein, dazu zu gehören. Nur einmal
unter den Schulkindern mitspielen zu dürfen, es hätte mich selig
gemacht! Aber wenn ich je mit anderen Mädchen zusammengebracht wurde,
so merkte ich bald, daß ich ihnen unheimlich war, und auch ich
wußte nichts mit ihnen anzufangen, denn statt mich „dabei sein“ zu
lassen, umstanden sie mich neugierig und forschten mich aus: ob es
wahr sei, daß ich das Lateinische triebe und daß ich Goethe gelesen
hätte. Bei der ersten und einzigen Kindergesellschaft, die ich
mitmachte, bedrängten sie mich, ihnen ein Gedicht aufzusagen. Schnell
überschlug ich im Geiste, was ich auswendig wußte, aber weder „Die
Götter Griechenlands“ noch „Der Gott und die Bajadere“, noch sonst
einer meiner Lieblinge wollte sich für den Anlaß schicken. Von den
himmelblauen und rosenroten Backfischgedichtchen, mit denen damals die
weibliche Jugend aufgepäppelt wurde, führte keine Brücke zu meinen
Dichtern hinüber. Ich flehte, mir die Pein zu erlassen, versicherte,
kein einziges Gedicht zu kennen und sagte der Poesie das Schlimmste
nach. Umsonst, meine Quälgeister ließen nicht locker. Da sagte ich
ihnen, heimlich knirschend, den ersten Vers von „Schleswig-Holstein,
meerumschlungen“ auf, einem Lied, das damals durch alle Gassen lief,
aber schon ganz abgenützt war, machte dann Schluß und erklärte meinen
Vorrat für erschöpft. Von da an begehrte ich niemals wieder nach einer
Kindergesellschaft.

Zu den aus meiner Erziehung fließenden Bedrängnissen, die mir den
Umgang erschwerten, gesellten sich noch solche in meiner eigenen
Brust. Dazu gehörte ganz besonders das Wörtchen Sie. Ich weiß nicht,
ob es jemals anderen ähnlich ergangen ist, ich konnte das Wörtlein
nicht aussprechen. Meinem natürlichen Sprachgefühl widerstrebte
es aufs heftigste, eine anwesende Einzelperson als eine abwesende
Mehrzahl zu behandeln. Die nahen Freunde der Eltern verkehrten wie
Blutsverwandte im Hause, da verstand es sich von selbst, daß man ihnen
das Du zurückgab. Aber jetzt wuchs man heran und fand sich unter lauter
Fremden, wo sich das alte homerische Du nicht mehr schicken sollte. Und
mit dem Sie war es doch so eine vertrackte Sache. Ich bekrittelte den
Zopf ja nicht bei den Erwachsenen, mochten sie es nach ihrer Etikette
halten, aber ich als Kind glaubte mich berechtigt, so lange wie möglich
jeder Unnatur ferne zu bleiben. Es schien mir, als ginge ich auf
Stelzen, wenn ich Sie sagen sollte, ich vermied es, Respektspersonen
überhaupt anzureden, und drückte mich auf lauter Umwegen um das Sie
herum, bis der Kampf dadurch entschieden ward, daß die Menschen
mich selber mit Sie anzureden begannen, was bei meiner täuschenden
Körpergröße viel zu früh geschah. Da war mir zumute, als sei mir das
Tor des Kinderparadieses schmerzhaft auf die Ferse gefallen.

Man weiß, wie Goethe über das alte edle Ihr dachte, von dem er sich
so schwer trennte und in das er in seinen späteren Jahren gerne
zurückfiel. Ich möchte jedoch zu den schon genannten Schäden des „Sie“
noch einen nennen. Es übt im Umgang, verglichen mit dem Vous und You,
eine erkältende, entfremdende Wirkung, vor der die ganze Sprache zu
erstarren scheint. Ich konnte es späterhin im Auslande nicht fertig
bringen, mit französisch oder englisch redenden Freunden, wenn sie mir
einmal nähergetreten waren, meine eigene Muttersprache zu sprechen,
auch wenn ich darum gebeten wurde, denn ich hatte das peinliche Gefühl,
mit dem gespreizten Sie auf einmal eine Scheidewand aufzurichten.
Die ganze sprachliche Einstellung sträubte sich, aus einem
freundschaftlichen Vous in das starre, unpersönliche Sie überzugehen.
Das Sie erschwert auch den Ausländern die deutsche Satzbildung
(Skandinavier schreiben in deutschen Briefen meistens „Sie hat“) und
ist dadurch der Ausbreitung unserer Sprache hinderlich.

Auch in Tübingen fuhr Mama fort, mich selber zu unterrichten, doch
handelte sich’s dabei mehr um die lebendige Anregung als um eigentliche
Übermittlung des Lehrstoffs, und es blieben viele Lücken, die ich
später allein ausfüllen mußte. Für den schlechten Ausfall des Arguments
entschädigte ich sie dadurch, daß ich den „Guten Kameraden“ von A
bis Z in lateinische Verse brachte, wobei allerdings an einer gar zu
wackligen Stelle der Papa eine Zeile einflickte, die sich ausnahm
wie ein Lappen feines Tuch auf einem verschlissenen Kittel. Aber das
gute, leicht befriedigte Mütterchen war hoch erbaut und sang fortan
das Uhlandsche Lied am liebsten in meiner Lesart: Habebam commilitonem
etc. Daß ich für die lateinische Grammatik noch immer keine
Begeisterung zeigte, schrieb sie der Unvollkommenheit ihrer eigenen
Kenntnisse zu und sah sich nun nach einem Lehrer für mich um, den sie
in Gestalt eines blutjungen katholischen Theologen aus dem Konvikt
gefunden zu haben glaubte. Allein dieser hielt mich meiner Größe
nach für erwachsen, behandelte mich barsch, um sich der fremdartigen
Schülerin gegenüber eine Haltung zu geben, und verbot mir sogar, ihn
anzublicken. Gleich nach der ersten Stunde erklärte er meiner Mutter,
daß das Lehramt bei einem jungen Fräulein mit seinem künftigen Beruf
unvereinbar sei, und kündigte den Unterricht auf. Aber das ist ja gar
kein Fräulein, sagte meine Mutter verblüfft, das ist ein Kind von elf
Jahren. Allein er blieb bei seiner Weigerung, und damit fiel das
Latein für längere Zeit ganz zu Boden. Die Anfänge der neueren Sprachen
brachte sie mir auf dem lebendigen Wege bei, auf dem sie selbst sie
von ihren ausländischen Gouvernanten empfangen hatte, während meinen
Brüdern auf der Schule auch das Französische und das Englische zu toten
Sprachen gemacht wurden. Dies war der einzige Punkt, auf dem meine so
sehr erschwerte Ausbildung sich den Brüdern gegenüber im Vorteil befand.

Da mein Tag durch keinen festen Plan gebunden war, schwelgte und praßte
ich in einer Fülle von Zeit, von der der erwachsene Mensch sich keine
Vorstellung mehr machen kann. Zu allem, was mir einfiel, hatte ich
die Muße. Meine liebste, heimlichste Beschäftigung war, in ein mir
von der Mama zu diesem Zwecke schon in Kirchheim geschenktes Büchlein
eigene Verse zu schreiben. Denn seit sie mir jenes Mal erlaubt hatte,
an einer ihrer metrischen Arbeiten teilzunehmen, war in mir der Trieb
zu ähnlichen Versuchen erwacht. Mit dem ersten machte ich freilich
eine erschütternde Erfahrung, denn der Geist war zur Unzeit über mich
gekommen, als ich gerade an einem lateinischen Übungsstück aus dem
Middendorf saß, worin ein Begebnis aus dem Leben Alexanders erzählt
war. Da ergab der erste Satz ganz von selbst ein gereimtes, wenn
auch äußerst prosaisches Zeilenpaar, und um mich von der Langeweile
der Grammatik zu erholen, fuhr ich fort und brachte das ganze Stück
in ähnlich hölzerne Verse. Damit weihte ich voller Freude mein
neues Büchelchen ein. Aber alsbald wurde mir dieses von den Brüdern
entrissen, und die trockene Ernsthaftigkeit des Erzeugnisses erregte
ein nicht endendes Gelächter. Weil der lateinische Text mit sine dubio
begann, hatte auch ich meinen Gesang mit „Ohne Zweifel“ angehoben, was
von unwiderstehlicher Wirkung war. Alle lernten ihn auswendig, um mich
zu peinigen, und sobald nur jemand fortan die Worte „ohne Zweifel“
aussprach, wurde ich rot und blaß aus Furcht, daß Alfred sie als
Stichwort aufnehmen und sogleich die ganze Litanei abschnurren werde.
Trotz diesem schrecklichen Fiasko setzte ich aber meine Versuche fort,
indem ich mich nun zu einem höheren Flug nach dem Muster Schillerscher
Balladen erhob. Die Muse besuchte mich nur des Nachts, wenn alles
still im Bette lag. Dann wachte ich unter schaurig süßem Herzklopfen,
bis auch der letzte widerstrebende Reim sich einfügte, und wenn am
Morgen noch alle Verse beisammen waren, daß ich in irgendeinem sicheren
Versteck das Ganze meinem Büchlein einverleiben konnte, so genoß ich
die vollkommenste irdische Glückseligkeit. Aber nicht auf lange, denn
bei unserem engen Zusammenwohnen ließ sich der Schatz nicht für die
Dauer verbergen. Die Gedichte wurden hinter meinem Rücken herumgezeigt,
Erwachsene redeten mich darauf an und versetzten das kleine Seelchen
in bittere Pein, denn das Lob, das mir unangebrachterweise gespendet
wurde, vermochte mich nicht über die gewaltsame Entweihung zu trösten.



Ein Fluchtversuch.


Als einziges Mädchen zwischen vier Brüdern hatte ich trotz dem
Vorzug, den ich beim Vater genoß, einen schweren Stand, denn ich
war so zwischen die wilde Schar hineingeschneit, daß ich weder auf
das Ansehen einer ältesten noch auf die Begünstigung einer jüngsten
Schwester Anspruch hatte. Edgar war wegen seiner ehemals zarten
Gesundheit an viele Rücksichten gewöhnt worden und nahm jetzt durch
das Recht der Erstgeburt und seine hervorragende geistige Begabung
eine Sonderstellung ein, die er als ein Naturrecht behauptete. Aber
der derbe, urgesunde Alfred erkannte sein Übergewicht nicht an, für
ihn galt nur das Recht des Stärkeren, und das neigte sich auf seine
Seite. Daher brandete um den gebietenden Erstgeborenen ein beständiger
Aufruhr, von dem alle Geschwister mitzuleiden hatten, und es
wiederholte sich im kleinen das Drama, das ein ganzes Volk erschüttert,
wenn zwei gleich kraftvolle, aber ungleich geartete Stämme im
Hochgefühl ihrer Sonderart um die Vormacht ringen. Meine Mutter konnte
die gewaltsamen Geister nicht bändigen, und den Vater, der drei Viertel
des Tages auf der Schloßbibliothek mit amtlichen und literarischen
Arbeiten beschäftigt war, verschonte man, wenn er spät nach Hause kam,
soviel wie möglich mit der Chronik des Bruderzwistes.

Ich habe das spätere Leben dieser beiden Brüder, ihr segensreiches
ärztliches Wirken in Italien und ihr treues Zusammenstehen bis
zu ihrem vorzeitigen Tode anderwärts erzählt[2], und in meiner
Hermann-Kurz-Biographie ist auch ihr frühes Knabenbildnis
zusammenfassend gezeichnet, so daß mir hier nur wenig nachzuholen
bleibt. Wenn sie nun auf diesen Blättern manchmal weniger liebenswürdig
erscheinen werden, als in den ihnen eigens gewidmeten Aufzeichnungen,
so erklärt sich das von selbst aus ihrer damaligen Unreife und aus
der Beleuchtung des häuslichen Alltags. Besonders Alfred, der kleine,
trotzige „Butzel“, hatte eine harte Schale abzulegen, ehe seine
frühere Wildheit sich als die unwiderstehliche Lebensfülle kundtat,
die ihm später alle Herzen gewinnen sollte. Damals hielt er mit seinen
Entwicklungskrämpfen das ganze Haus in Atem. Seine Rauheit stach
dermaßen von Edgars vornehmem Anstand und des jüngeren Erwin zierlicher
Geschmeidigkeit ab, daß Mama entsetzt klagte, in diesem Sohne seien
alle Reutlinger Zinn- und Glockengießer wieder lebendig geworden. Aber
mein Vater sagte lächelnd: Laßt ihr Aristokraten mir meine Vorfahren
und meinen Butzel ungeschoren. Der wird noch der Beste von allen, wenn
er einmal seine Hörner abgelaufen hat.

Gegen das weibliche Geschlecht hatte der Trotzkopf einen dämonischen
Haß, den er schon als kleines Kind an den Dienstmädchen und den
weiblichen Gästen des Hauses zu betätigen suchte. In der Schule wurde
er in dieser Gesinnung noch bestärkt, denn die Mädchen standen da in
tiefer Mißachtung, und wenn ein „Bub“ mit einem „Mädle“ ging, so sangen
ihm die Kameraden seinen Namen in einem Spottvers nach:

    N. N. möcht’ ich gar nicht heißen,
    N. N. ist ein wüster Name,
    N. N. hat sich küssen lassen
    Von den Mädeln auf der Gassen.

Wenn dem wilden Alfred ein solcher Schimpf zugestoßen wäre, er hätte
sich vor beleidigtem Ehrgefühl zu Tode gekränkt. Ich war natürlich
die nächste, die seinen von ihm selber unverstandenen dumpfen Groll
zu spüren bekam. Trotz seiner unendlichen Gutherzigkeit hatte ich
mich jahrelang vor ihm zu hüten; es war ihm ein stetes Bedürfnis,
mich irgendwie zu peinigen. Auf der Straße kannte er mich überhaupt
nicht, denn er hielt es unter seiner Knabenwürde, eine Schwester zu
besitzen. Nicht einmal mit seiner Mutter, die er doch leidenschaftlich
liebte, ließ er sich gern öffentlich sehen, es schien ihm ein Makel,
vom Weibe geboren zu sein. Dabei wußte ich wohl, daß er für jedes
der Seinigen augenblicklich sein Leben gegeben hätte. An einem
Wintertage jedoch -- es war in meinem zehnten Jahre -- geschah
etwas Ungeheuerliches, das mich an ihm und an der ganzen Menschheit
irremachte. Ich hatte mir einmal ein Herz gefaßt und war trotz meiner
Furcht vor der bösen Straßenjugend am Vormittag, als eben die Schulen
zu Ende gingen, allein das Mühlgäßchen hinaufgewandert, das damals,
zwischen die hohe Stadtmauer und die brausende Ammer eingezwängt,
bedeutend enger und steiler war als heute. Aber an der steilsten
Steigung kam mir ein Trupp Schuljungen entgegen, die bei meinem
Anblick ein Indianergeheul ausstießen und mich mit Schneeklumpen
überschütteten, worein zum Teil sogar Steine geballt waren. Im Nu war
mein neues braunes Kastormäntelchen über und über weiß bestäubt, und
nirgends ein Entrinnen aus diesem langen, schlauchartigen Engpaß.
Und nun erkannte ich mitten unter der Meute meinen Alfred, der tat,
als hätte er mich nie gesehen und, statt mir zu Hilfe zu kommen,
sich bückte, um mich gleichfalls mit Schneeballen zu bewerfen. So
mag es Cäsar zumute gewesen sein, als er seinen Brutus unter den
Mördern sah. In der höchsten Not kam ein breiter Bierwagen den engen
Steilpaß herabgerasselt und drängte die bösen Buben gegen die Mauer,
daß ich unterdessen Zeit zur Flucht gewann. Ich sprach kein Wort über
den Vorfall, denn ich hatte allen Grund, häusliche Katastrophen zu
vermeiden -- es gab deren genug ohne mein Zutun --, aber es wollte
mit fast das Herz abdrücken, daß eine solche Treulosigkeit möglich
war. Nicht nur, daß ich mich auf der Straße von lauter Feindseligkeit
umgeben sah, deren Ursache mir dunkel blieb, nun gesellte sich auch
noch der eigene Bruder, der mich hätte schützen sollen, zu meinen
Widersachern! Es war einfach eine Tragödie. Hätte ich mich dem Vater
anvertraut, so würde er mir mit seiner Einsicht und Milde den großen
Schmerz ausgeredet und den Sünder mit einer Verwarnung entlassen haben.
Aber ich verachtete die Angeber und ging lieber in stummer Verwerfung
an dem Missetäter vorüber. Ich wußte nicht und erfuhr es erst in
seinen Mannesjahren von ihm selbst, daß der arme Junge lange Zeit das
Gefühl einer schweren Verschuldung herumtrug, deren er sich tödlich
schämte und die er doch bei der nächsten Gelegenheit abermals auf sich
geladen hätte. Für einen Bruder, so bekannte er mir, hätte er sich
gleich in Stücke hauen lassen, auch wenn er im übrigen mit ihm in Fehde
stand, aber sich zu seiner Schwester bekennen, nachdem er stets ihr
Dasein vor den Kameraden abgeleugnet hatte, das ging über seine Kraft.
Und das böse Gewissen machte, daß er sich nur immer mehr im Trotz gegen
mich versteifte.

Edgar, der Älteste, hatte keine Spur von Geschlechtshochmut, er war
vielmehr stolz auf den Besitz der Schwester, und was andere Jungen etwa
meinten und redeten, kümmerte ihn wenig. Aber er machte es mir auf
seine Weise ebenso schwer. Er geriet in den schmerzlichsten Zorn, wenn
ich anders wollte als er, und ohne sich davon Rechenschaft zu geben,
suchte er mir in allem sein Urteil und seinen Geschmack aufzuzwingen.
Wenn ich mich wehrte, war er tief unglücklich und empfand es als einen
Verrat an dem gemeinsamen Kinderland, durch das wir Hand in Hand in
inniger Eintracht gegangen waren. Wir litten dann beide und vermochten
die Kluft nicht zu füllen. Es gab aber auch ganz dunkle Tage, wo
sich alle gemeinsam gegen mich wandten und wo selbst unser kleiner
Balde, der Nestling, sein Blondköpfchen zwischen den Gitterstäben des
Bettchens vorstreckte, um mit lallender Kinderstimme zu sagen: Ein
Mädle, pfui! Ich tät’ mich schämen, wenn ich ein Mädle wär’. Ging
ich aus einer geschwisterlichen Auseinandersetzung zerzaust hervor,
so wurde ich meist noch von der Mutter gescholten, die, rasch, wie
sie war, nicht so genau zusah, auf welcher Seite sich das größere
Unrecht befand. Sie pflegte dann nur zu sagen, daß ich als Mädchen
durch Sanftmut die Gewalttätigkeit der Brüder entwaffnen müßte, wobei
sie aber nicht mit der menschlichen Natur rechnete. Denn wenn ich
mich nach diesem Rat einrichten wollte, war ich der wilden Schar erst
recht ausgeliefert und kam in die Lage, mich mit doppeltem Nachdruck
wehren zu müssen. Selig die Friedfertigen, aber nur, wenn alle Nachbarn
ringsum die gleiche Gesinnung hegen.

Allmählich bildete sich in mir die Überzeugung aus, daß ich ein
unglückliches Kind sei und daß ich am besten täte, auszuwandern.
Der jüngere Erwin, wegen seiner lichten Haare und seiner sonnigen
Gemütsart das Goldele genannt, befand sich im gleichen Falle,
auch er hielt sich für ein unglückliches Kind, denn er hatte dem
hochmögenden Ältesten unlängst auf mütterlichen Befehl ein empfangenes
Gastgeschenk überlassen müssen, das er nicht verschmerzen konnte.
Wir zwei Gekränkte besprachen uns miteinander und stellten fest, daß
wir die Parias im Hause wären, weil wir als die ungefährlichsten
(der Allerjüngste genoß das Vorrecht seines zarten Alters) bei jeder
Streitfrage Unrecht bekamen. Und wir beschlossen, das undankbare
Elternhaus zu verlassen, um auswärts unser Heil zu suchen. Beide
besaßen wir kleine Sparbüchsen, in die bald von den Eltern, bald von
Verwandten und Freunden ein kleiner Spargroschen für unsere kindlichen
Bedürfnisse gelegt wurde. Als ich zwölf ganze Gulden beisammen hatte
und Erwin, der seine Kasse zuweilen angriff, sechs bis sieben, schien
uns dieser Betrag ausreichend, um damit den Weg in die weite Welt
zu nehmen, die schöne weite Welt, in die alle Märchen hinauswiesen
und nach der ich schon damals ein brennendes Verlangen trug. An
einem Sonntagvormittag, tief im Winter, brachen wir auf. Ich zog dem
siebenjährigen Bruder noch zuvor sorglich die Pelzfäustlinge über, dann
wanderten wir zusammen über das nahe Bahngeleise in die wundervoll
schimmernde Schneelandschaft hinaus. Es war ein köstlicher Tag, die
kalte Sonnenluft schnitt mir in die Backen, daß sie brannten, ich
fühlte mich wohlgeborgen in dem hübschen braunen Kastormantel, und
der Schnee knarrte so angenehm unter meinen Stiefelchen. Ein Stück
von Hause nahm ich in der Person des Bruders mit, also war auch gegen
das Heimweh vorgesorgt. Mochten sie nun daheim zusehen, wie sie es
aushielten ohne uns zwei Verkannte. Wir ließen das „Waldhörnle“, wo
wir sonst mit den Eltern eingekehrt waren, links liegen und schritten
flott gegen Sebastiansweiler los, das die Grenze des uns bekannten
Erdteils war. Sebastiansweiler, der Name hatte mir’s angetan, obschon
oder weil ich sonst von dem Ort rein gar nichts wußte. So zog es mich
ganz von selbst in diese Richtung. Jenseits Sebastiansweiler begann
dann erst die eigentliche weite Welt, das große Unerforschte. Wir
waren schon am Bläsibad vorüber, da schrieb das Schicksal uns ein
warnendes Menetekel an den Weg. Mitten im Schnee der Straße lag eine
große schöne Elster vor meinen Füßen, die kraftlos die Flügel bewegte,
erstarrt vor Kälte, wie mir schien. Ich hob sie auf und suchte sie
unter dem Mantel zu erwärmen und ihr Lebenshauch einzublasen. Umsonst,
sie wurde nur immer „maudriger“, also nahm ich an, daß sie verhungert
sei. Die stumme Symbolik dieser Erscheinung ging mir zwar nicht auf,
aber ich wußte, daß es nirgends auf der Welt Wärme und Atzung gab als
am heimischen Herde, den wir verlassen hatten. Vergessen war mit
einem Male alles, was uns kränkte, vergessen die Lockung der schönen
weiten Welt jenseits Sebastiansweiler; wir dachten nur noch an die
Rettung des gefiederten Schützlings. Vielleicht war aber uns beiden der
Anlaß, unser Abenteuer zu beenden, auch unbewußt willkommen, denn die
Seele hat ihre Heimlichkeiten, von denen sie selbst nichts weiß. Wir
machten in stummem Einverständnis kehrt und liefen, was wir konnten,
den weiten Weg zurück nach Hause. Es war noch immer Vormittag, als
wir ankamen, und keine Seele hatte sich noch um unser Verschwinden
Sorge gemacht. Aber sobald Edgar der unterdessen verendeten Elster
ansichtig ward, die ich noch immer an die Brust gedrückt hielt in der
Hoffnung, sie am Ofen wieder aufleben zu sehen, da nahm er mir den
toten Vogel, um ihn ohne weiteres zu sezieren. Ich widersetzte mich,
denn ich wollte die arme Elster, wenn sie nicht mehr zum Leben gebracht
werden konnte, mit ihrem schillernden Gefieder ehrlich begraben. Sie
wurde mir jedoch abgesprochen und dem Seziermesser überwiesen. Edgar
war von klein auf gewöhnt, was in seine Hand kam, zu zerlegen und
auf seine innere Beschaffenheit hin zu untersuchen; doch hatte sich
dieser Hang bisher auf Erzeugnisse der Mechanik beschränkt, neuerdings
regte sich aber der künftige Anatom in ihm, und er begann nun auch
zu meinem unaussprechlichen Widerwillen tote Tiere zu zerschneiden.
Die gute Fina beeilte sich mit einer Ergebenheit, die ich verwerflich
fand, ihrem jungen Herrn und Gebieter ein ausgedientes Hackbrett und
ein ebensolches Vorlegmesser zu bringen, und ich sah mit Entsetzen,
wie das schöne Tier zersäbelt wurde und wie das Blut über die feinen
harten Knabenfinger lief. Er holte Herz und Lunge und Leber heraus
und betrachtete sie aufmerksam, während ich mich vor Abscheu weinend
im hintersten Winkel der gemeinsamen Stube verkroch. Ich konnte gar
nicht glauben, daß diese blutigen Hände noch die meines Bruders
seien, in denen die meinigen sonst so traulich gelegen hatten. Aber
ich wollte nicht mehr fort, die Wärme des Elternhauses umfing mich
nach der Eisesluft, in der heimatlose Vögel starben, mit unsäglichem
Wohlbehagen, und ich fühlte mich wieder in die leidenschaftliche
Liebeskraft eingeschlossen, mit der meine Mutter alle ihre Küchlein
umhegte. Allmählich dämmerte mir auch auf, welchen Schrecken ich
den zärtlichsten Eltern hatte bereiten wollen und wie gut es mein
Schutzgeist mit mir meinte, als er mich durch die sterbende Elster
so sänftlich zur Umkehr mahnte. Das nur drei Stunden entfernte
Sebastiansweiler aber habe ich während meines ganzen Tübinger
Aufenthalts niemals mit Augen gesehen, daher es noch heute im Lichte
der schönsten Romantik ohne jeden Zug ernüchternder Wirklichkeit vor
meiner Seele steht.


[2] Florentinische Erinnerungen



Von Ihr.

Nachklänge des „tollen“ Jahres.

Das rote Album.


Bevor ich weitergehe, muß ich hier einige Worte über die ureigene
Persönlichkeit meiner Mutter vorausschicken, weil ohne einen Blick auf
ihr Gesamtbild die einzelnen Züge ihres Wesens, wie sie bruchstückartig
aus diesen Blättern hervortreten, nimmermehr richtig verstanden werden
könnten. Sie wiederzugeben ganz so, wie sie war, ist ein Wagnis. Kein
Bild ist leichter zu verzeichnen als das ihre. So ausgeprägt sind ihre
Züge, so urpersönlich -- ein einziger zu stark gezogener Strich, eine
vergröbernde Linie, und das Edelste und Seltenste, was es gab, kann
zum Zerrbild werden. Und nicht nur die Hand, die das Bild zeichnet,
muß ganz leicht und sicher sein, es kommt auch auf das Auge an, das es
auffassen soll. Wer gewohnt ist, in Schablonen zu denken, findet für
das nur einmal Vorhandene keinen Platz in seiner Vorstellung. Es gab
Philisterseelen, die in diesem unbegreiflichen Wesen nichts sahen als
ein Wunderliches kleines Frauchen, das wenig auf seinen Anzug hielt und
keine „gute Hausfrau“ war. Für mich und alle, die sie wahrhaft kannten,
ist sie immer das außerordentlichste menschliche Ereignis gewesen.

Wir waren so fest verwachsen, daß mein Gedächtnis ihre eigene Kindheit
mit umschließt, als ob ich sie selbst erlebt hätte. Ich sehe sie, wie
sie als Oberstentöchterchen in Ludwigsburg aus ihrem großen Garten, der
an das Militärgefängnis stieß, das schönste Obst ihrer Bäume durch die
vergitterten Fenster heimlich den Sträflingen zuwarf, voll frühzeitiger
Empörung, daß es Menschen gab, die man der Freiheit beraubte. Wie die
Gefangenen erfinderisch lange Schnüre herabließen, woran die Kleine
ganze Würste, Kuchenstücke und was sie Gutes in Küche und Keller finden
konnte, festband und so die erste rebellische Freude genoß, Gedrückten
beizustehen. Ein andermal schwebt sie mir vor, wie sie ihre Ferientage
bei dem „Tantele“ zubringen durfte, der einzigen bürgerlichen
Verwandten, die sie besaß und in deren Hause ihr am wohlsten war,
weil es da ganz einfach zuging und sie tun und lassen durfte, was sie
wollte. Ihr erstes war dann, alle Hüllen von sich zu werfen und ihr
Sommerkleidchen auf den bloßen Leib anzuziehen, was ja viel kühler war,
denn sie sah nicht ein, warum der Mensch so viele Umstände mit seinen
Kleidern macht. In seligem Mutwillen zog sie die langen, ungeknüpften
„Kreuzbänder“ ihrer Schuhe durch den Straßenkot, glücklich, daß
keine Gouvernante da war, sie zur Ordnung zu rufen, und daß kein
Bedienter, der hinter ihr ging, sie an die Ungleichheit menschlicher
Lose erinnerte. In diesen kleinen Zügen waren schon die Grundlinien
ihres Wesens angedeutet: ihr tätiges Mitgefühl für die Bedrängten und
Schwachen, der angeborene kommunistische Zug und der Rousseausche Drang
nach Rückkehr zur allereinfachsten Natur. Wie sie dann im Jahre 1848
mit ihrer bevorrechteten Kaste brach, um auf die Seite des Volkes zu
treten, habe ich in meiner Hermann-Kurz-Biographie erzählt.

Die unbegreiflichsten Gegensätze waren in diesem Menschenbilde zu
einer so einfachen und bruchlosen Ganzheit zusammengeschweißt, daß
man sich in aller Welt vergeblich nach einer ähnlichen Erscheinung
umsehen würde. Von sehr altem Adel, mit allen Vorteilen einer
verfeinerten Erziehung ausgestattet und doch so ursprünglich in dunkler
Triebhaftigkeit! Diese Triebhaftigkeit aber gänzlich abgewandt vom
Ich, was doch der Natur des Trieblebens zu widersprechen scheint!
Was andere sich als sittlichen Sieg abringen müssen, der selbstlose
Entschluß, das war bei ihr das Angeborene und kam jeder Zeit als
Naturgewalt aus ihrem Innern. Wenn ich mich umsehe, wem ich sie
vergleichen könnte, so finde ich nur _eine_ Gestalt, die ihr ähnelt,
den Poverello von Assisi, der wie sie im Elemente des Liebesfeuers
lebte und die freiwillige Armut zu seiner Braut gewählt hatte. Sein
Sonnenhymnus hätte ganz ebenso jauchzend aus ihrer Seele brechen
können. Auch in dem starken tierischen Magnetismus, der von ihr
ausströmte, muß ihr der heilige Franziskus geglichen haben, denn um
beide drängte sich die Kreatur liebe- und hilfesuchend. Kinder und
Tiere waren nicht aus meines Mütterleins Nähe zu bringen. Auch das
Irrationale und Plötzliche, das zum Wesen der Heiligen mit gehört, war
ihr in oft erschreckendem Maße eigen.

Eine unerhört glückliche Körperbeschaffenheit kam ihren inneren Anlagen
zu Hilfe. Sie hatte nahezu gar keine Bedürfnisse; Hitze und Kälte,
Hunger und Durst wie auch der Mangel an Schlaf drangen ihr kaum ins
Bewußtsein. Sie aß kein Fleisch, außer in den sehr seltenen Fällen
eines plötzlichen Nachlasses, und auch dann nur einen Bissen, denn
das Schlachten der Tiere gehörte zu den Dingen, die ihr die schöne
Gotteserde verdüsterten. Mitunter lebte sie lange Zeit überhaupt nur
von ein wenig Milch mit Weißbrot. Ihr kleiner, immer in Bewegung
befindlicher Körper kannte keine Müdigkeit noch Erschlaffung. Fünf
Kinder hatte sie an der Brust genährt, alle weit über die übliche Zeit
hinaus, und ihre Kraft war dadurch nicht im mindesten geschwächt. Es
gab Zeiten übermenschlicher Leistung in ihrem Leben, als sie ihren
todkranken Jüngsten in seinen wiederkehrenden Leidenskrisen pflegte,
Zeiten, wo sie des Nachts nicht aus den Kleidern kam, ihm heitere
Märchen und Geschichten erzählte, auch frei erfand, mit der Todesnot
im Herzen, und doch am Tage ganz frisch wieder ins Geschirr ihrer
häuslichen Pflichten ging. Was auch die vielgequälte Seele leiden
mochte, der Körper nahm keinen Teil daran, er blieb schlechterdings
unverwüstlich. Dabei hatte sie die Gabe, an jedem Orte, zu jeder Zeit
und in jeder Stellung rasch ein wenig im voraus schlafen zu können;
waren es auch nur Minuten, so erwachte sie doch immer neugestärkt. Sie
rollte sich dabei ganz in sich zusammen und brauchte nicht mehr Raum
als ein fünfjähriges Kind. Aber sie schlief dann stets mit Willen; vom
Schlummer überwältigt habe ich sie nie gesehen. Ruhe und Gemächlichkeit
widerstrebten ihrer Natur, beim ersten Morgenschein fuhr sie aus dem
Bette und ging gleich an irgendeine Beschäftigung oder, wenn wir auf
dem Lande lebten, hinaus ins Freie, denn der Sonnenaufgang war ihre
Andachtsstunde. Bequem auf einem Stuhl zu sitzen, war ihr unerträglich.
Sie saß immer irgendwo schwebend auf einer Kante wie ein eben
herzugeflogener Vogel. Am liebsten aber kauerte sie, klein und leicht
wie sie war, auf einem Schemel oder am Boden.

Ihr Gesicht hatte, ohne schön zu sein, etwas unruhig Fesselndes bei
überstarkem Glanz der Augen, wozu auch das schimmernde Weiße viel
beitrug. Aber erst im höheren Alter bekamen ihre Züge die ergreifende
Harmonie und großartige Einfachheit, in der sich dann ihr gereiftes
Wesen wunderbar ausdrückte. Durch die Schnelligkeit ihres Ganges
fiel sie noch als Achtzigerin auf, dabei waren ihre Hände immer ein
wenig voraus, wie im steten Begriff zu helfen und zu geben. Alles
ging ihr zu langsam, beim Anziehen fuhr sie noch im höchsten Alter
immer mit beiden Armen zugleich ins Kleid. All diese äußere Hast war
aber frei von Nervosität und Zerfahrenheit. Man konnte sie bei der
ungeheuren Raschheit ihres Wesens einem jener hinjagenden Wirbelwinde
vergleichen, in deren Innerem eine vollkommene Windstille herrscht.
Ihre Gelassenheit war so groß, daß sie ihre unzähligen Briefe immer
im Tohuwabohu der Kinderstube schrieb. Auch wenn andere währenddessen
mit ihr sprachen, ließ sie sich nicht aus ihrem Gedankengang bringen.
Sie brauchte zum Schreiben nur eine Tischecke und eine von den Kindern
geliehene Feder. Denn sie besaß gar nichts Eigenes, nicht einmal
Schreibzeug. Und die Ströme Wassers, mit denen sie uns täglich abflößte
-- ein in bürgerlichen Häusern damals noch wenig gepflegter Brauch --,
waren die einzige Erinnerung an die aristokratische Lebenshaltung ihres
Elternhauses, die sie mit in die Ehe herübernahm.

Ihre Unempfindlichkeit gegen Geräusch hatte die Folge, daß sie von mir
denselben Gleichmut verlangte, und das war mir eine große Pein. Nicht
nur meine Lernaufgaben, sondern auch meine Übersetzungen, die schon in
den Druck gingen, mußte ich unter ganz ähnlichen Bedingungen an einer
Tischecke zuwege bringen, mit einer Feder, deren Alleinbesitz mir nicht
zustand. So oft ich mich mit Schreibgerät versorgte, immer verschwand
es in der Schultasche der Brüder, die ihrerseits auch nicht besser
gestellt waren, denn jegliches Ding ging von Hand zu Hand, und ein
jeder suchte immerzu das seinige oder was er dafür hielt; mit Ausnahme
des Erstgeborenen, dessen kleine Habe unantastbar war. Wären die Kinder
nicht alle gut geartet gewesen, so hätte es beständigen Streit um das
Mein und Dein geben müssen; so gab es nur ein beständiges ärgerliches
Suchen und Fragen bei großem Zeitverlust. Und ähnlich ging es mit
allen anderen beweglichen Gegenständen auch. Am meisten war mein armes
Mütterlein selbst geplagt, denn das Objekt, das sich von ihr allzutief
verachtet fühlte, verfolgte sie mit unersättlicher Rachgier, so daß sie
selbst, die gute Josephine und ich, die wir ihr beistanden, viel Kraft
in diesem sieglosen Kriege verschwendeten. Aber eine andere Hausordnung
einzuführen, bei der jegliches Ding an seinem Platz geblieben wäre,
widerstrebte ihr durchaus.

Ich erinnere mich, daß um jene Zeit in einer Kammer mehrere ganz
gewaltige Ballen feinster, handgewebter Leinwand lagen; sie stammten
noch von meiner Großmutter Brunnow, die sie jahraus, jahrein für den
Brautschatz ihrer Marie hatte weben lassen. Die schönen Tafeldamaste
und Bettlinnen wurden ebenso wie das kostbare Kristall vorzugsweise
zu Geschenken verwendet, wenn etwa eine der jüngeren Freundinnen sich
verlobte, oder zu Vergütungen für geleistete Dienste. Nun war es unter
den Geschwistern ganz üblich, daß, wenn einer des Morgens sein Handtuch
nicht fand, weil der andere es benützt und in den Winkel geworfen
hatte, der Geschädigte, statt um ein neues zu bitten, einfach zur
Schere griff, um sich von dem Leinwandballen ein beliebiges Stück
abzuschneiden, das er ohne Umstände in Gebrauch nahm. Mein Mütterlein
verwehrte es nicht, sie half wohl selber mit, wenn gerade der Schlüssel
zum Wäscheschrank verlegt war. Als ich ihr nun eines Tages den
Vorschlag machte, mich die abgeschnittenen Stücke einsäumen zu lassen,
wie ich es anderwärts gesehen hatte, weil es dann hübscher aussehen
und länger halten würde, ließ sie mich ärgerlich an, ich solle mein
Herz nicht an solchen Kleinkram hängen, sondern froh sein, daß ich mich
geistig beschäftigen dürfe. Zugeben muß ich heute, daß die Handtücher
jetzt doch zerrissen wären und daß die geistigen Werte, die sie uns
gab, festen Bestand hatten. Aber damals machte es mich oft traurig,
daß sich gar kein Austrag zwischen den höheren Aufgaben und der Welt
des Irdischen finden ließ. Und wenn ich gar einmal, von einem Besuch
bei auswärtigen Freunden heimkommend, eine dort gefundene Ordnung
oder Verbesserung im eigenen Hause einführen wollte, so konnte sie
ernstlich böse werden und mir drohen, sie würde mich niemals wieder
in fremde Häuser gehen lassen. Sie pflegte dann in ihrer drastischen
Weise zu klagen, daß ich meine Gaben nur hätte, um dümmer zu sein
als das dümmste Frauenzimmer. In solchen Fällen stieß ich sogar auf
den Widerstand Josephinens, die in ihrem eigenen Tun noch immer so
pünktlich und geordnet war, wie sie es im Brunnowschen Hause gelernt
hatte, die aber mit solcher Leidenschaft an ihrer Herrin hing, daß sie
nur mit ihren Augen sehen konnte. Ganz mit mir zufrieden wurde mein
gutes Mütterlein erst, wenn ich endlich, nach vergeblicher Bemühung,
Ordnung zu stiften, entmutigt die Arme sinken ließ. Dann saß man
wieder inmitten des häuslichen Durcheinanders, das einen nichts mehr
anging, weltentrückt wie die indischen Weisen unter ihrem Urwaldbaum,
und sie redete zu mir über das Woher und Wohin, vor allem über das
Warum des Lebens. Denn in dieses zuckende, rastlose Flämmchen war ein
ganz stiller, einsamer Denker eingeschlossen, der immerzu über die
letzten Geheimnisse grübeln mußte. Die materialistische Weltauffassung,
die damals der Philosophie den Boden wegnahm, befriedigte sie im
Innern keineswegs. Das Rätsel des Todes machte ihr lebenslang zu
schaffen. Sie prüfte unablässig alles Für und Wider der Gründe für
ein Fortleben. Natürlich kam sie niemals zu einem Schluß, und es hing
ganz von ihrer augenblicklichen inneren Verfassung ab, ob sie mehr
dem Ja oder dem Nein zuneigte. Daß sie glühend das Ja ersehnte, um
ihre Liebe noch über das Erdenleben hinaus zu betätigen, war für sie
doch kein Grund, ihr Denken nach ihren Wünschen einzustellen. Sie
erzählte mir oft, daß sie sich einmal mit einer Bekannten, Frau H. aus
Eßlingen, das Wort gegeben hatte, welche vor der anderen stürbe, die
wolle der Überlebenden ein Zeichen geben. Frau H. starb, und in einer
der nächsten Nächte sah meine Mutter sie am Ende eines langen Ganges
vorübergehen und ihr zunicken. Sie verstand gleich, was das Nicken
bedeute, aber beim Erwachen erwachte auch der Zweifel. Weshalb sollte
mir Frau H. erscheinen, sagte sie, und meine Mutter nicht, die mich
so unendlich geliebt hat? Denn auch ihre Mutter hatte ihr ein solches
Versprechen gegeben, und sie hatte nach ihrem Tode bestimmt auf eine
Erscheinung gewartet. Als sie in der Nacht an ihrem Bette plötzlich ein
Licht aufblitzen sah, dachte sie: das ist sie! Und lag mit klopfendem
Herzen regungslos, um das Licht nicht zu verscheuchen, das immer um sie
blieb und bald da, bald dort erschien. Aber am Morgen sah sie einen
toten Leuchtkäfer auf dem Gesimse liegen und wartete fortan nicht
mehr. Seit dieser Enttäuschung lehnte sie alle Mystik entschieden
ab, wiewohl ein mystischer Zug unter dem Grunde ihres Bewußtseins
lag. Sie hatte auch prophetische Träume, die sich seltsamerweise
meist auf Nebensächliches bezogen, wie verlegte Gegenstände, deren
Versteck ihr der Traum zeigte. Bisweilen hatten aber diese Träume auch
bedeutenderen Inhalt, und einen davon werde ich an einer späteren
Stelle erzählen. Es gab übrigens noch einen anderen geheimnisvollen
Punkt in ihrem Seelenleben, über den sie sich nur selten und mit
größter Zurückhaltung äußerte. Sie sagte mir nämlich wiederholt auf
ganz verschiedenen Altersstufen, daß sie ein Dämonium wie das des
Sokrates habe, das mitunter sehr nachdrücklich und stets in abmahnender
oder mißbilligender Weise zu ihr spreche. Mehr erfuhr ich nicht und
fragte auch nicht weiter, um eine solche Gabe, die bei ihrem Ungestüm
gewiß wohltätig war, nicht durch Beschreien zu stören. Ich weiß aber,
daß sie sich auch zu anderen andeutungsweise über die Sache geäußert
hat.

Ich hatte damals für ihre immer wiederkehrende faustische Klage, „daß
wir nichts wissen können“, wenig Sinn. Die Tatsache unseres Hierseins
war mir noch so neu und merkwürdig, daß ich nicht nach dem Woher und
Wohin und am allerwenigsten nach dem Warum fragte. Dagegen liebte ich
es, ihre Philosophie durch ganz spitzfindige Fragen zu bedrängen, wie
diese: „Gesetzt, Papa hätte eine andere Frau genommen und besäße von
ihr eine Tochter, du aber hättest einen anderen Mann und gleichfalls
eine Tochter von ihm, welche von den beiden Töchtern wäre dann ich?“
-- Närrchen, dann wärest du eben überhaupt nicht vorhanden. -- Das war
mir nicht vorstellbar. -- Vielleicht wäre ich zweimal da, jedesmal mit
einer falschen Hälfte verbunden? -- Aber Kind, du redest ja den reinen
Unsinn. -- Oder wären die zwei vielleicht meine Schwestern? -- Das
wollte sie eher gelten lassen. -- Aber Mama, wenn ich gar nicht bin,
wie kann ich dann Schwestern haben?! -- Die philosophische Untersuchung
endigte zuletzt, wie philosophische Untersuchungen immer enden sollten,
mit einem Lachen.

Gänzlich unberührt vom häuslichen Wirrwarr lag des Vaters
Studierzimmer. Dort waltete ich in seiner Abwesenheit ganz allein als
Hüterin des Tempelfriedens. Schon in seinen frühen Ehejahren hatte
er sich’s ausbedungen, daß keine Hand in häuslicher Absicht sein
Schreibpult berühre (er arbeitete immer stehend), bis seine Tochter
daran heraufgewachsen sei. Sobald meine Größe es erlaubte, trat ich
mein tägliches Amt an, das Pult zu säubern und die Studierlampe in
Ordnung zu halten. Es war dies so ziemlich die einzige häusliche
Verrichtung, zu der ich überhaupt zugelassen wurde. Die wenigen Male,
die ich sie gedankenlos versäumte, blieben mir schwer auf der Seele,
denn daß er beim Nachhausekommen schweigend und ohne ein Wort des
Vorwurfs nach dem Petroleumkännchen griff, hinterließ mir einen viel
tieferen Eindruck, als es der schärfste Tadel vermocht hätte.

Wer nun aber aus der Gleichgültigkeit meiner Mutter gegen die äußeren
Lebensbedingungen schließen wollte, sie sei meinem Vater auch eine
schlechte Geldverwalterin gewesen, der würde gröblich irren. Fast
ohne Mittel fünf Kinder aufzuziehen, zu ernähren, zu kleiden, war
oft eine nahezu unlösbare Aufgabe; sie hat sie dennoch gelöst,
still, selbstverständlich, in höchster Würde, und, was mehr ist: in
unerschöpflicher Freudigkeit. Das Glück, an seiner Seite zu leben,
vergütete ihr jede Beschwerde. Ich erinnere mich nicht, daß es uns
Kindern je am Nötigen gefehlt hätte. Auch kleine Freuden und Erholungen
wurden uns nie versagt; wer zu kurz kam, war immer nur sie selbst.
Daneben hatte sie die offenste Hand für alle Bedürftigen; sie wartete
nie ab, daß ein Armer sie auf der Straße ansprach, sondern schlich
ihm nach, bis sie ihm unbeobachtet geben konnte. Ein Apotheker in
Tübingen erzählte mir, daß er oft als Kind am väterlichen Ladentisch
mitangesehen habe, wie sie sich leise an irgendeine arme Frau
herandrängte, um ihr verstohlen ein Geldstück in die Hand zu stecken,
was niemand wahrnahm als der Dreikäsehoch, der die Welt von unten sah.
Und sie hatte wahrlich nichts übrig, jede Gabe mußte durch vermehrtes
Sparen ausgeglichen werden. Auch war sie immerzu häuslich tätig.
Während sie dem einen Knaben die Hose flickte, nahm sie mit dem anderen
seine Schulaufgaben durch, und wenn es nottat, griff sie im Haushalt
auch beim Gröbsten zu, denn sie hielt dafür, daß keine Art von Arbeit
schände. Nur die Hände ihrer Tochter sollten kein gemeines Geschäft
verrichten; hier hatte der Demokratismus eine Lücke. Nicht einmal einen
Kochlöffel zu berühren war mir erlaubt, so sehr ich bat, mich in der
Küche mitbetätigen zu dürfen, denn ich trug immer eine ungestillte
Sehnsucht nach Beschäftigung mit stofflichen Dingen in mir herum.

Am hellsten glänzten die Wirtschaftskünste meiner Mutter, wenn
plötzlich unerwartete Gäste erschienen, was bei der noch allgemein
verbreiteten altschwäbischen Gastlichkeit leicht geschah. Unser
Raum war so beschränkt, daß kaum die Familie selber Platz hatte,
von Gastzimmer mit Gastbett keine Rede. Aber im Nu war ein Lager
bereit, der Tisch wurde gedeckt, Josephine buk und brotzelte in der
Küche, und es herrschte eitel Freude im Hause. Wie gut es den Gästen
gefiel, bewiesen sie dadurch, daß sie häufig wochenlang blieben. Dies
ging zumeist auf meine Kosten, denn ich mußte, da die Knaben nicht
in der Ordnung gestört werden durften, alsdann mein Bett mit allen
Bequemlichkeiten opfern. Mitunter fand ich nicht einmal mehr auf
einem Kanapee Zuflucht, sondern mußte mich mit zusammengestellten
Stühlen begnügen, die, wenn man sich bewegte, auseinanderfuhren und
die daraufgelegten Kissen zu Boden gleiten ließen. Es kam selten vor,
daß ich einmal längere Zeit im ungestörten Besitze meines Bettes
blieb. Darüber durfte kein Wort verloren werden, Mama gab ja auch das
ihrige her. Freilich war auch der Gewinn auf meiner Seite, denn die
Besuche, besonders die von weither zugereisten, brachten neues Leben
und Weltweite mit, wonach ich dürstete. In solchen Zeiten hatte dann
das Lernen und alle geregelte Tätigkeit ein Ende: der Brauch verlangte,
daß wenigstens die weiblichen Glieder des Hauses sich völlig den Gästen
widmeten.

Unter den kometenartigen Erscheinungen, die vorübergehend in unserem
Hause auftauchten, strahlte besonders Frau Hedwig Wilhelmi, eine
Freundin meiner beiden Eltern, die in Granada lebte. Sie war eine
blendende, geistig angeregte Persönlichkeit von sehr freiem und
rauschendem Auftreten, leidenschaftlich der materialistischen Richtung
eines Vogt und Büchner ergeben, daneben auch literarisch angehaucht,
kurz nach ihrem ganzen Wesen eine in der damaligen Frauenwelt unerhörte
Ausnahme. In ihren späteren Lebensjahren machte sie sich in Deutschland
und Amerika durch sozialistische Propaganda bekannt, stieß mit den
Ausnahmegesetzen zusammen und erlitt Gefängnis, Verfolgung und Ungemach
aller Art, wodurch ihr Wesen herber und ihre Haltung schroffer wurde.
Aber gern rufe ich mir ihr Bild zurück, wie sie in meine Kindheit trat,
die bewegliche Gestalt, den feinen, etwas hart geschnittenen Kopf mit
den sprechenden Augen, von kurzen braunen Locken kühn umflattert, die
unvermeidliche Zigarre zwischen den Zähnen. Das Rauchen war an einer
Frau damals noch etwas sehr Auffallendes, doch es ging ihr so hin,
weil man in Deutschland glaubte, sie habe das in Spanien gelernt, die
Spanier dagegen es für einen deutschen Brauch hielten. Ich kann sie mir
gar nicht anders vorstellen als in einem Kreise von Herren sitzend,
deren sie immer eine Anzahl um sich haben mußte, rauchend, trinkend,
disputierend.

Bei ihrem ersten Besuch in Tübingen, bald nach unserem Einzug,
brachte sie auch ihr etwa sechsjähriges Töchterchen Berta mit, einen
bildschönen, ganz andalusisch aussehenden Krauskopf mit Quecksilber
in den Adern. Wie die dunkeläugige Kleine im spanischen Zigeuneranzug
ihren Fandango tanzte und kastagnettenklappernd durch die Zimmer
raste, glaubte man sich unmittelbar in den Süden versetzt. Als die
spanischen Gäste zum erstenmal im Hause schliefen, wartete ihrer eine
Überraschung, an die man sich später oft mit Heiterkeit erinnerte.
Mitten in der Nacht fuhr Hedwig laut schreiend aus dem Bette, weil
sich etwas Eiskaltes, Glattes unter der Decke um ihre Glieder gewunden
hatte. Es waren Edgars Ringelnattern, die sich auch an dem festlichen
Ereignis beteiligen wollten und auf unerklärliche Weise aus ihrem
Behältnis entwichen waren, um den Gast nächtlicherweile zu umstricken.
Doch Hedwig war eine starkgeistige Frau und gab sich nach Feststellung
der Tatsache schnell zufrieden; sie hatte in ihrem Leben gefährlichere
Abenteuer bestanden als dieses. Ich hörte immer selig zu, wenn sie
von ihren kühnen Ritten in der Sierra Nevada oder von stürmischen
Meerfahrten im Golf von Biscaya erzählte, denn das waren Dinge, die ich
auch für mich selber ersehnte.

Hedwig war sich einer besonderen Macht über junge Menschenherzen
bewußt und übte sie auch gern an Kindern. Wir hingen alle mit
leidenschaftlicher Bewunderung an ihr. Ich war stolz, wenn ich an
ihrer Seite ausgehen durfte, denn wer hatte einen so schönen Gast
wie wir! Es gefiel mir unendlich, daß sie sich im Gegensatz zu den
schwäbischen Frauen so jugendlich und elegant kleidete. Jene schlangen,
sobald sie verheiratet waren, ein grobfädiges, schwarzseidenes Netz um
die Haare, trugen um die Schultern einen ins Dreieck gelegten Schal
und gaben damit zu verstehen, daß sie fortan auf jeden Männerblick
verzichteten. Hedwig brachte jedesmal einen Koffer voll Pariser Kleider
mit. Ihr damaliges Bild schwebt mir mit einer Riesenkrinoline vor, in
grasgrünem Kleid vom neuesten Schnitt nebst Pariser Hütchen, worauf ein
grüner Papagei thronte, von einem langen, ebenso grünen Kreppschleier
umflattert. Ein kleines grünseidenes Knickschirmchen gab dieser
Schöpfung in Grün die letzte Weihe. Ob die grüne Pracht mir heute noch
ebensogut gefallen würde, weiß ich nicht, damals schien sie mir der
Gipfel des Geschmacks und der Schönheit, und ich wünschte mir lebhaft,
dermaleinst, wenn ich groß sein würde, einen ebenso langen und ebenso
grünen Schleier auf dem Hute zu tragen.

Als die spanischen Gäste wieder abgereist waren, kamen Hedwigs
Briefe, kleine Manuskripte, an Mama. Die Post traf gewöhnlich des
Morgens ein, um die Stunde, wo ich auf einem der gelbdamastenen
Empirehockerchen saß und Mama mir die Haare kämmte, deren Länge und
Fülle ihr täglich viel Zeit wegnahm und von dem Kinde selber nicht
bewältigt werden konnte. Also ließ sie sich von mir während dieses
Geschäftes die eingelaufenen Briefe vorlesen. Das waren natürlich für
mich sehr spannende Augenblicke. Mein Mütterlein war die treueste,
zuverlässigste Freundin ihrer Freundinnen. Alle Verwicklungen fanden
bei ihr Verständnis und Teilnahme -- unsere Josephine pflegte sie
schon in ihren Mädchenjahren Frau Minnetrost zu nennen, nach der Fee
in Fouqués Zauberring -- und nie kam ein Wort von dem, was sie wußte,
gegen andere aus ihrem Munde. Nur vor mir hielt sie nicht leicht etwas
geheim. Ich war ihre Vertraute und kleine Sekretärin, ihr anderes
Ich. Sie konnte meiner Verschwiegenheit und Zurückhaltung gewiß sein;
wie ich hernach das Vernommene meiner Innenwelt eingliederte, war
meine Sache. Meine Mutter hatte ein rührendes, selbstverständliches
Vertrauen, daß nichts diese Kindesseele zu schädigen vermöge. Man
nahm sich damals überhaupt Kindern gegenüber viel weniger in acht;
trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, blieben die Kinder länger
in der Unschuld. Ich habe mich auch überzeugt, daß eine junge Seele
aus dem Leben wie aus Büchern doch nur aufnimmt, was ihr verwandt ist;
das Ungleichartige bleibt wie ein Fremdkörper liegen. Nur verlernte
ich frühzeitig die Neugier und jedes Verwundern über Menschliches,
Allzumenschliches, denn es war alles schon dagewesen. Die Briefe
Hedwigs lasen sich wie kleine Romane in Fortsetzungen. So erinnere
ich mich, einmal lange Zeit die Geschicke eines gewissen Pablo --
ich lernte ihn nur mit dem Vornamen kennen -- mit brennender Neugier
verfolgt zu haben, eines reichen spanischen Lebemannes, der, nachdem
er eine Reihe von Ehen im Stil des Don Juan Tenorio zerrüttet hatte,
spät noch ein schönes, sehr geliebtes Mädchen heimführte, um sich
dann am eigenen Herde von ihr sagen zu lassen, sie werde ihm niemals
angehören, weil sie einen anderen liebe, was er als Sühne für seine
früheren Verschuldungen hinnehmen mußte. Eigentlich war jedoch die
Stunde des Kämmens zugleich die des Unterrichts, zu dem die Briefe nur
ein schmackhaftes Beigericht bildeten. Mama hatte frühzeitig begonnen,
mich in fremde Literaturen einzuführen, aber nicht an der Hand eines
Lehrbuchs -- eine Literaturgeschichte gab es im ganzen Hause nicht --,
sondern indem sie französische und italienische Dichter mit mir in der
Ursprache las. Von den Franzosen genoß Voltaire ihre große Vorliebe,
er gehörte zu ihrem täglichen Umgang, denn der Geist der französischen
Aufklärung war ja der Mutterboden der Revolutionsideale. Kritisch waren
wir alle beide nicht, so genossen wir zunächst die Voltaireschen Dramen
der Reihe nach. Wir freuten uns, die geliebten Züge der griechischen
Mythe hier wiederzufinden, und nahmen den schematischen Aufbau, die
schattenhaften Gestalten und die gestelzten Alexandriner als das
Gegebene in den Kauf. Nachdem die Tragödien Voltaires erledigt waren,
ging es unter beiderseitigem Ergötzen an seine Romane. Wiederum ein
etwas fragwürdiger Lesestoff für eine Zwölfjährige, der mit anderen
Fragwürdigkeiten so hinuntergeschlungen wurde. Als ich einmal erwachsen
den „Candide“ wieder las, besann ich mich vergeblich, wie sich wohl
damals die Abenteuer der Mademoiselle Cunégonde und die Betrachtungen
des Doktors Pangloß in meinem Kinderkopfe dargestellt haben mögen.
Wodurch hatte es dieser Schriftsteller, der dem großen Friedrich
der schönste Geist aller Zeiten deuchte, auch meiner Mutter so sehr
angetan? Sie muß wohl in der erhabenen Einfalt seines „Candide“,
seines „Ingénu“ ein Stück von sich selber wiedergefunden haben. Daß
die Anstößigkeiten nicht plump und deutlich im Raume stehen, sondern
nur als sprachliche Schöpfungen vorhanden sind, nahm ihnen für
sie alles Bedenkliches. Sie gab sich aber von ihrem literarischen
Geschmack keine Rechenschaft, sie folgte nur ihrer angeborenen feinen
Witterung. Voltaires unerreichter Prosastil, die geniale Art, wie er
das Zeitwort verwendet, diesen springenden Muskel der Sprache, der
so viel sinnfälliges Leben gibt, die feine Komik seiner homerischen
Wiederholungen und der drollige Gebrauch, den er von der französischen
Vorliebe für die Antithese macht, das alles genoß ich dann doch
erst in späteren Jahren beim Wiederlesen mit vollem Bewußtsein. Man
beschäftigte sich übrigens nicht allein mit französischer Literatur,
auch die Komödien Goldonis wurden auf diese Weise durchgenommen,
die freilich beim Lesen nicht zu ihrem Rechte kommen. Ein andermal
verlegten wir uns auf Huttens „Epistolae virorum obscurorum“, denn von
irgendeinem geregelten Lehrplan war gar keine Rede. Während ich las,
bearbeitete Mama mit einem großzahnigen Striegel meine Mähne, wobei sie
mit ihrem gewohnten Ungestüm verfuhr und mir manchen Schmerzensschrei
entlockte. Wenn zufällig mein Vater ins Zimmer trat, so suchte er ihr
klarzumachen, wie man den Schopf mit der einen Hand fassen und mit der
anderen schonend den Kamm durchziehen müsse. Aber die Ungeduld lief
immer gleich wieder mit ihr davon.

Zur Begütigung erlaubte sie mir zuweilen, ihre schöne
messingbeschlagene Schatulle herbeizuholen und in den alten
Liebesbriefen zu wühlen, die ihr in Jugendtagen geschrieben worden
waren. Da erbauten mich vor allem die Episteln eines 48er Flüchtlings
namens Elias, dessen leidenschaftliche Überspanntheit ganz nahe an
Geistesstörung grenzte. Einmal schrieb er, wenn sie je der Sache der
Freiheit untreu würde, um einen Standesgenossen zu heiraten, so würde
er das Exil brechen, um sie mit eigener Hand zu erdolchen. Dieser
arme Elias mit dem so gut zu dem Namen passenden Prophetenton wurde
zu einer heiteren Märchengestalt meiner Jugend, und oft schilderte
ich ihn meiner Mutter, wie er auf feurigem Wagen rotdurchleuchtet und
flammenhaarig daherkam, um sie zu holen. Einer seiner letzten Briefe
schloß mit den Worten: „Legt’s Haupt heldenhaft hin, Ehre gibt’s
nur drüben überm Tode. Hinweg den Blick!“ Wenn ich diese Stelle mit
possenhaftem Pathos vorlas, so riß mich mein Mütterlein wohl entrüstet
am Zopf, den sie eben flocht, aber sie konnte sich doch nicht erwehren,
mitzulachen.

Besagte Schatulle verbarg außer den Briefen noch andere Kostbarkeiten,
wovon uns Kindern keine so merkwürdig war wie das Rote Album, der
tollste Nachklang des Jahres 1848.

Ein Zeitgenosse weist darauf hin, daß das „tolle Jahr“ sich in der
überlebenden Vorstellung als ein Zeitpunkt lustigen Wahns festgesetzt
habe und daß diese falsche Auffassung aus dem geraden Gegenteil einer
heiteren Täuschung, aus der hoffnungslosen Selbstironie der besten und
tapfersten Achtundvierziger entsprungen sei. Von diesem Galgenhumor
der Revolution gab es vielleicht kein schlagenderes Beweisstück als
das Rote Album meiner Mutter. Mit seinem grellroten Einband und noch
röteren Inhalt, mit roter Tinte auf rotes Papier geschrieben, war es
der „Bürgerin Brunnow“ im Jahr 1849 als ein Angebinde der Demokratie
überreicht worden. Die verschiedenen Handschriften und die zum Teil
ganz unorthographische Schreibweise sollten den Eindruck erwecken,
als ob Parteigenossen von allen Bildungsstufen sich an der Widmung
beteiligt hätten. In Wahrheit hatte das Büchlein nur einen Verfasser,
den begabten Philologen Adolf Bacmeister, denselben, dem einst mein
fünfjähriges Herz gehört hatte. Er war einer von den tiefgründigen
Schwabensöhnen, die anderwärts als Zierde eines Stammes geehrt
würden, für die aber das enge Heimatland keine Verwendung fand. Seine
achtundvierziger Vergangenheit verschloß ihm die akademische Laufbahn,
zu der er geboren war, und er konnte lange Zeit nicht einmal die
bescheidenste Anstellung im Schulfach finden. Nahe an den Dreißigen
erhielt er endlich das armselige Amt eines „Kollaborators“ (vom Volke
Kohlenbrater benannt) in einer Kleinstadt, schleppte sich dann zehn
Jahre lang mit einem Präzeptorat, bis ihn ein Ruf an die Augsburger
Allgemeine Zeitung aus der Acht erlöste. Durch seine Übersetzungen
mittelhochdeutscher Dichtungen und seine „Allemannischen Wanderungen“,
eine geistreiche Studie über die Herkunft deutscher Ortsnamen, hat er
sich auch literarisch bekannt gemacht.

In dem Roten Album nun war die phantastische Zeitstimmung mit den
Einzelheiten und den Anspielungen, die damals jedermann verstand,
in Vers und Prosa niedergeschlagen. Da tönte die alte, in unseren
Jugendtagen schon verschollene Weise:

    Wenn die Fürsten fragen:
    Lebt der Hecker noch?
    Sollt ihr ihnen sagen:
    Hecker, der lebt hoch!
    Aber nicht am Galgen,
    Nicht an einem Strick,
    Sondern an der Spitze
    Deutscher Republik.

Ein Proletarier schrieb:

Weil das Freilein es gewollen hapent, daß ich in den Alpus schreiben
soll, so will ich es eben dun:

    I ka’ keine Versle mache,
    I verstand et selle Sache,
    Drum ruf i mit wildem Blick:
    Hurra hoch die Rebolik.

Ein Pennäler, der als „Uldimus in der 2ten Glaß“ zeichnet, verewigte
sich durch den kurzen Spruch:

    Hecker, Struwe, Ziz und Blum,
    Kommt und bringt die Breißen um!

Übrigens wird auch die eigene Partei nicht geschont. Da spricht ein
Tübinger Referendar vom Balkon der Aula herab zu der Volksversammlung:
Aus jedem Tropfen Blute Robert Blums muß ein Märtyrer für die Freiheit
erstehen. Ich bin ein solcher Tropf. Seid ihr auch solche Tropfen?
(Schwäbisch für Tröpfe gebraucht.) Chor der Bürger und Studenten: Ja!

Auch vor der Empfängerin selbst macht der tolle Humor nicht halt. In
mannigfaltigen Zeichnungen wird sie dargestellt, bald in rasendem
Tanz um den Freiheitsbaum, bald als Amazone in Wehr und Waffen, bald
im blutroten Rock, von den Truthähnen des Dorfes verfolgt. In einem
Roman „Die Königin und der Ipsergeselle“ erscheint sie als Hauptperson,
und in der blutrünstigen Tragödie „Der Tyrann“ stirbt sie als
freiheitliebende Prinzessin Billburalia an der Seite des geliebten
Handwerksburschen auf der Barrikade.

Das Rote Album war vor allem das Entzücken meiner Brüder, die es
auswendig wußten und stets im Munde führten. Edgar verfaßte noch in
Mannesjahren, als wir in Florenz lebten, einmal zu Mamas Geburtstag ein
Seitenstück dazu, das zwar an Geist und komischer Kraft das erste bei
weitem übertraf, aber gleichwohl keinen solchen Erfolg mehr erzielen
konnte, weil es nur persönliches Erzeugnis und nicht, wie jenes, der
Ausdruck einer Zeitstimmung war.



1866.


Wenn die alten Achtundvierziger zusammenkamen, so lag eine Verklärung
auf ihren Gesichtern, sie sagten: Weißt du noch -- der Völkerfrühling!
Und zauberten durch ihre bloßen Mienen für die Nachgeborenen das
Bild einer kurzen, unbeschreiblich schönen Zeit herauf, wo das Glück
leibhaft auf Erden gewandelt und wo alle Menschen Brüder gewesen. Bis
die Reaktion mit eisigem Hauch vom Nord all diese Wunderblüten knickte
und den Völkermai in Eis und Schnee begrub. Unsere realistischere
Josephine erzählte freilich auch Anekdoten aus dem Völkerfrühling, die
zeigten, daß der Freiheitskampf nicht von allen Seiten gleich ideal
aufgefaßt wurde, wie das Stücklein von jener Nachbarsfrau, die jubelnd
sagte: Teile wellet se, teile! -- und ihrem ausziehenden Freischärler
nachrief: Daß du mir ja eine neue Matratze mitbringst! -- Meine
Eltern gehörten beide zu den alten Achtundvierzigern. Doch ging mein
gemäßigter, politisch viel tiefer blickender Vater darin lange nicht
so weit wie meine Mutter. Besonders teilte er ihr Vertrauen auf ein
selbstlos für anderer Völker Freiheit eintretendes Frankreich durchaus
nicht. Hatte er doch in seinem schönen „Vaterlandsgedicht“ von 1848 die
Stelle:

    Dem Erwecker in dem Westen
    Bleibe hold, er will nicht mehr,

nachträglich verändert in das warnende:

    Dem Erwecker in dem Westen
    Gib das Seine, gib nicht mehr.

Auch zeugt die im Freundeskreis oft erzählte Anekdote, daß er einmal
seinen unbotmäßigen Söhnen zurief: Ihr verdient es, preußisch zu
werden! doch mehr von seinem heimlichen Humor und von der väterlichen
Nachsicht als von der Schärfe seiner politischen Ansichten. Bei
meiner Mutter dagegen ging immer alles aus dem Vollen, da gab es
keine Abstufungen, keine Zweifel, sie mußte lieben oder hassen. Als
der sechsundsechziger Krieg heranrückte, wurde sie von einem wahren
Verzweiflungssturm erfaßt und ihre Erregung zitterte in unseren
Kinderherzen nach. Da sie des Italienischen mächtig war, schrieb sie
einen Brief an Garibaldi, worin sie ihn beschwor, diesem „freiheits-
und brudermörderischen“ Kampfe fernzubleiben. Sie glaubte in ihrem
Kindergemüt ernstlich, weltpolitische Entschließungen hingen von
Prinzipien ab. Andere waren noch naiver. Ein Gymnasialprofessor
schrieb an Bismarck und gab ihm politische Ratschläge nach
Platon und Thukydides. Daß Bismarck nicht auf seine Darlegungen
eingegangen, beklagte er noch später seinen Schülern gegenüber als
großen Fehler. Aber dicht neben dem Komischen lag die Tragik. Auf
dem Bläsiberg, einem Gut in der Nähe von Tübingen, das Professor
Weber, der Lehrer der Landwirtschaft an der Hochschule, Gatte der
nachmals als Frauenrechtlerin stark hervorgetretenen Mathilde Weber,
bewirtschaftete, hielt sich seit kurzem ein junger, aus England
gekommener Praktikant Namens Ferdinand Cohen auf. Er schrieb sich aber
Blind mit dem Namen seines Stiefvaters, des in London als Flüchtling
lebenden bekannten Achtundvierzigers. Meine Mutter hatte ihn bei
einem Besuch auf dem Bläsiberg kennengelernt. Sie schilderte ihn als
einen stillen, wohlerzogenen, aber sehr verschlossenen Menschen. Frau
Weber bemutterte ihn liebevoll. Eines Tages war er ganz plötzlich
verschwunden mit Hinterlassung eines Briefes, in dem er Abschied auf
immer nahm. Und gleich darauf brachten die Zeitungen die Nachricht,
daß ein Ferdinand Blind-Cohen in Berlin am hellen Tage auf Bismarck
geschossen und, da er ihn verfehlte, sich selbst entleibt habe. Tief
war der Eindruck des Attentats in allen Kreisen. Die einen hielten den
Täter für einen erhabenen Märtyrer, dessen Manen poetische Totenopfer
dargebracht wurden, die anderen fluchten ihm als einem verbrecherischen
Auswürfling. Darf man es Zufall nennen, was die Kugel des gewandten
Schützen ablenkte? Hätte er getroffen, so gäbe es heute kein Deutsches
Reich. Ich besitze noch eine Photographie von ihm aus dem Nachlaß
meiner Mutter, die mir immer etwas Unheimliches hatte: ein eleganter,
englisch gekleideter junger Mann, rittlings auf dem Stuhl sitzend, mit
düster fanatischen Augen, in denen eben der Entschluß zu seiner irren
Tat zu reifen scheint.

Als der Krieg ausbrach, schmiedeten sogar wir Kinder antipreußische
Gedichte. Einen echten Preußen aus Preußenland hatten wir zwar noch
nicht gesehen, aber wir nahmen an, daß ihm zu einem Unhold wenig fehlen
könne. Da kam eines Tages gerade um die Mittagszeit vom Hechingischen
her ein Leiterwagen vor unserem Hause angerasselt, der ganz mit
schwarz-weißen Fähnchen umsteckt und von preußischem Militär besetzt
war. Ich sah diese Fähnchen für ein sehr großes Unglück, für eine
unmittelbare Bedrohung unserer Freiheit an. Es schien mir Pflicht,
wenigstens einen Versuch zur Rettung meiner Heimat zu wagen. Wenn
es mir gelänge, eines der Fähnchen, vielleicht das äußerste an der
uns zugewandten Ecke, herabzuholen, dann hätte ich, wenn nicht der
Freiheit eine Gasse, so doch wenigstens der Unterdrückung eine Ecke
abgebrochen. Während ich aber auf den Augenblick zur Ausführung meines
Vorhabens lauerte, wurde ich zu Tisch gerufen, und jetzt war es
zunächst nicht möglich, sich heimlich zu entfernen. Als ich wieder ans
Fenster springen konnte, fuhr eben der Wagen in rasselndem Trab mit all
seinen Fähnchen davon. Ich starrte ihm unter gemischten Gefühlen nach:
es war nun doch nicht so übel, daß ich nicht in die Lage kam, gegen
die preußische Heeresmacht vorzugehen. Der Wagen rasselte über die
Neckarbrücke in die Stadt hinein und auf der Lustnauer Straße wieder
zur Stadt hinaus, und siehe, es blieb alles wie zuvor! Die Studenten
sangen die alten Lieder und tranken so viel Bier wie je, niemand war
versklavt worden, noch war irgendeiner Seele von den Preußen sonst ein
Leid geschehen. Die Erinnerung an den geplanten Fähnchenraub läßt es
mir ganz verständlich erscheinen, daß so oft im Kriege Kinder durch
leidenschaftliche Reden Erwachsener zu einer unsinnigen Tat veranlaßt
werden, die hernach vielleicht ein ganzes Haus in Gefahr bringt.

Im folgenden Jahre lernte ich dann einen wirklichen Preußen kennen,
und dazu einen der allermerkwürdigsten Menschen, die mir je begegnet
sind. Es war der Schriftsteller und Populärphilosoph Dr. Albert Dulk
aus Königsberg. Sein Leben ist ein Roman, den man nicht schreiben
kann, weil er als Erfindung viel zu unwahrscheinlich wäre. Er hatte
längere Zeit ganz einsam im steinigen Arabien gelebt, um dem Geist
des Urchristentums näherzukommen und die landschaftlichen Eindrücke
für sein Hauptwerk „Der Irrgang des Lebens Jesu“ zu gewinnen. Kühne
Abenteuerlust und suchende Philosophie lagen in ihm beisammen. Als
außerordentlicher Schwimmer und überhaupt körperlich hervorragend
begünstigter Mensch hatte er den Bodensee durchschwommen und ähnlicher
Stücke mehr geleistet. Jetzt lebte er in Stuttgart mit seinen drei
Frauen, die er gleichzeitig besaß und mit denen er im übrigen ein ganz
normales Familienleben führte. Er hatte sich im engsten Kreis einen
kleinen freireligiösen Anhang gegründet, für den er in seinem Hause
das Priesteramt versah. So hatte er sich auch nach selbstgeschaffenem
Ritus mit seinen zwei späteren Frauen selber getraut. Er konnte
diese dreifache Ehe in Stuttgart ganz öffentlich und unangefochten
durchführen, denn es wohnte damals in dem kleinen Schwabenland
die weitherzigste Romantik Tür an Tür mit dem beschränktesten
Spießertum. Trotz der ungewöhnlichen Familienverhältnisse herrschte
reger geselliger Verkehr im Dulkschen Hause, und es war keineswegs
Bohême, was dort ein- und ausging; Künstlerschaft, Schriftsteller,
Politiker ließen sich durch die dortige Eigenart nicht abschrecken.
Noch weit mehr aber zeugt es von der zwingenden Persönlichkeit dieses
Mannes, daß er die drei Frauen, die gleiche Rechte und gleiche Anrede
genossen, in Liebe und Eintracht zusammenhielt, soweit in menschlichen
Verhältnissen dauernde Liebe und Eintracht möglich sind. Sie gingen
immer völlig gleich gekleidet, vertrugen sich schwesterlich und
hingen mit schwärmerischer Verehrung an dem Manne. Mit der Zeit
verschob sich das häusliche Gleichgewicht ein wenig zugunsten der
Zuletztgekommenen, deren Ehe kinderlos blieb und die darum ihre ganze
Zeit der dienenden Liebe widmen konnte. Diese Liebe war eine Art
Gottesdienst in immerwährender stiller Verzückung. Frau Else durfte
ihn auch auf seinen nächtlichen Spaziergängen durch die nicht allzu
sicheren Wälder Stuttgarts begleiten. Nachdem sie ihm monatelang auf
den unheimlichen Nachtgängen, die er noch dazu unbewaffnet machte,
aus der Ferne nachgeschlichen war, um im Falle der Not beizuspringen
oder sein Los zu teilen, wurde sie, als er die treue Gefolgschaft
entdeckte, zu seiner Kameradin erhöht und genoß nun in diesen stillen
Nachtstunden das seltene Glück, ihn ungeteilt zu besitzen. Dulk hatte
eine Anzahl Dramen geschrieben, die in der Öffentlichkeit wenig Glück
machten. Am bekanntesten wurde „Jesus der Christ“, seine feurigste
und packendste Schöpfung, worin die Vermählung des Übersinnlichen mit
dem Rationalismus versucht ist und Joseph von Arimathia im Lichte
einer halbmystischen Vaterschaft erscheint. In der Auffassung Judas
Ischariots als des feurigen jüdischen Patrioten, der in Christus den
irdischen Erlöser sucht und sich enttäuscht von ihm abkehrt, ist er
anderen Dichtern, darunter auch Heyse, vorangegangen.

Jetzt kam Dulk nach Tübingen, um meinem Vater, den er bis dahin nicht
gekannt hatte, ein neuverfaßtes Lustspiel vorzulesen. Er brachte eine
seiner Frauen und seine Tochter Anna mit, die meine Altersgenossin war
und sich schnell an mich anschloß. Dulk war ein hochgewachsener schöner
Mann mit schwarzem Haar und Bart bei blauen Augen und klargeschnittenen
Zügen. Auffallend wirkten in der süddeutschen Luft sein scharfer
ostpreußischer Akzent und die straffen norddeutschen Bewegungen. Auch
sein ganzes Wesen war norddeutsch ernsthaft und immerzu feierlich
pathetisch; der Schwabenhumor blieb ihm und er dem Schwabenhumor
unverständlich. So hatte auch seine Anknüpfung mit meinem Vater kein
ersprießliches Ergebnis. Es war damals im Schwabenlande üblich, daß die
Männer alle ihre besonderen Angelegenheiten beim Glase abmachten, darum
„strebten“ auch die beiden an jenem warmen Sommernachmittag nach einem
kleinen Wirtsgärtlein in dem nahegelegenen Dorfe Derendingen. Allein
mein Vater konnte der erzwungenen Laune des Dulkschen Stückes keinen
Geschmack abgewinnen und kam ziemlich angegriffen von der Sitzung
nach Hause. Auf die Frage des Verfassers, was er davon halte, hatte
er geantwortet: Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Entweder hat
das Stück keinen Humor oder ich habe keinen. Jener aber verstand die
Meinung nicht und sagte beim Nachhausekommen zu meiner Mutter: Ich kann
nicht herausbringen, was Ihr Gemahl von dem Stücke hält, suchen Sie es
doch zu ergründen. -- Es fehlte seiner immerwachen Geistigkeit an dem
ergänzenden Gegenstück der Naturhaftigkeit, aus welcher gegensätzlichen
Verbindung erst der Humor entspringt; der reine Geistesmensch hat
keinen und der reine Naturmensch ebensowenig. Dulks Dichtungsart hatte
durchgängig etwas prinzipienmäßig Gedankliches, denn seine Begabung
war nicht trieb-, sondern willenhaft. Er gehörte zu den stärksten
Willensmenschen, die mir begegnet sind. Dieser starke Wille, auf das
gerichtet, was eigentlich außerhalb der Willenssphäre liegt, machte
ihn den Schwaben, denen die Poesie ein inneres Blühen des Menschen,
fast mehr nur einen Zustand als eine Tätigkeit bedeutete, einigermaßen
unheimlich, und er blieb immer ein Fremder unter ihnen, obwohl er
württembergischer Staatsbürger geworden war.

Die zarte, hochaufgeschossene Anna durfte ein paar Tage bei mir
bleiben, woraus sich eine dauernde Freundschaft entspann. Sie wurde
jedes Jahr auf ein paar Wochen unser Gast, und auch ich durfte sie in
Stuttgart besuchen. Einmal -- es war während des Siebziger Krieges
-- wohnte ich auch einer Sonntagsfeier im Dulkschen Hause bei, die
mit wechselnden Gesängen und Anrufungen an die Weltseele einen ganz
liturgischen Charakter hatte.



Die Geburt der Tragödie.


Wenn ich mein Lebensbuch zurückblättere, so kann ich seltsamerweise
keine inneren Wandlungen finden, vielmehr scheint es mir, als hätte ich
von der Stunde meiner Geburt an immer im gleichen geistigen Luftkreis
gelebt. Diesen Umstand weiß ich mir nur aus unserer häuslichen
Verfassung zu erklären. Eine abgesonderte Kinderstube hatte es bei
uns nicht gegeben, wir waren zwischen den Füßen der Großen und unter
ihren Gesprächen herangewachsen, ohne mit Bewußtsein aufzumerken.
Später schien es mir dann, als käme ich überall in bekannte Gegenden,
die ich mir jetzt nur etwas genauer anzuschauen brauchte. Ebenso
stand mir die elterliche Bücherei unbeschränkt zu Gebote. Niemand
fragte, was ich las. Die Eltern dachten jedenfalls, da man uns so
frühe das Reich des Höchsten und Schönsten im Schrifttum aller Zeiten
erschlossen hatte, da Goethe und Schiller, die Griechen, Shakespeare
und Cervantes immer auf unserem Wege lagen, so sei eine eigentliche
Leitung durch die Bücherwelt überflüssig. Aber sie hatten nicht an den
kindlichen Fürwitz gedacht. In meines Vaters Bücherschrank befanden
sich neben der Sagenkunde, die mein ganzes Entzücken war, auch
mittelalterliche Werke astrologischen und nekromantischen Inhalts,
alte schweinslederne Scharteken, von denen er gewiß nicht dachte, daß
Sie Kindern gefährlich werden könnten. Gerade diese holte sich der
kleine Büchermarder heraus, um sie unbeobachtet zu verschlingen. Und
die reine Luft unserer griechischen Götter- und Heroenwelt wurde durch
das scheußlichste Brockengesindel verseucht. Zwar bei Tage war ich
starkgeistig und lachte mit den Brüdern über das Gespensterwesen, aber
sobald die Sonne zu sinken begann, besonders an Winterabenden, wurde
mir beklemmt zumute, denn nun wuchs es unheimlich aus der Dämmerung
heraus und streckte hundert Arme nach mir. In Gegenwart der Erwachsenen
war ja zunächst noch Schutz, und besonders in die warme Nähe der
mütterlichen Röcke wagte sich nichts Gespenstisches heran, aber des
Nachts im Bett, sobald die Lichter gelöscht waren, gehörte die Welt den
Dämonen. Es gab dann fürchterliche Dinge, die keinen Namen hatten. Aus
den aufgehängten Kleidern kamen sie gekrochen, die Blumen der Tapete,
die in geheimnisvollem Zusammenhang mit der Unterwelt standen, ließen
sie aus ihren Kelchen schlüpfen, und das Handtuch war mit ihnen im
Bunde, denn es lieh ihnen die Körperlichkeit und den weißlichen Schein,
um mich zu schrecken. Den ganzen Raum rings um das Bett nahm das
Zwischenreich ein, dagegen gab es keinen Schutz, nur im Bette selber
war Sicherheit. Aber eine unter der Decke vorstehende Zehenspitze
wäre den Geistern unrettbar verfallen. Also mußte man sich eng
zusammenziehen, um jedes Glied des Leibes vor ihnen zu schützen, bis
ein erbarmender Schlummer das wildpochende Kinderherz beschwichtigte.
Dann aber kamen die Träume und machten die Angstgedanken zu wirklichen
Geschehnissen. In dieser qualvollen Gespensterfurcht scheint die
bedauernswerte Kindheit, wenn sie nicht gut überwacht wird, die dumpfe
Frühzeit des Menschengeschlechts wiederholen zu müssen. Aber kaum daß
der liebe Morgen mir den Spuk verjagte, so ergab ich mich im Schutz der
Sonne aufs neue dem Giftgenuß.

In Scheibles „Kloster“ hatten wir die Anleitung zu weißer und schwarzer
Magie gefunden, den Schlüssel Salomonis und Fausts Höllenzwang.
Wir studierten und rätselten an dem Schemhamphorasch und dem
geheimnisvollen Abrakadabra herum, das wir auf großen Papierbogen
kunstgerecht abwandelten. Wenn wir uns aber unbeobachtet wußten, so
versuchten wir uns am Höllenzwang. Wir malten alsdann mit Kreide einen
Zauberkreis auf den Fußboden, füllten ihn mit den vorgeschriebenen
Zeichen und Zahlen aus, stellten uns eng zusammengedrängt hinein, wobei
streng zu beachten war, daß auch kein Zipfel eines Kleidungsstückes
über den magischen Kreis hervorstehe, weil das sehr gefährlich gewesen
wäre, und befahlen den höllischen Herrschaften zu erscheinen. Daß sie
nicht gehorchten, war mir sehr angenehm; ich hätte auch nicht gewußt,
was von ihnen verlangen, denn ich trug weder nach Schätzen noch nach
übermenschlichem Wissen ein sonderliches Begehr. Aber des Nachts in
meinen Träumen erschienen sie doch und nahmen mir den Frieden. Wie die
andern sich zu den inneren Folgen unserer Höllenkünste stellten, weiß
ich nicht. Von Edgar kann ich annehmen, daß er seine Überlegenheit
wahrte, denn er verstand es, durch Willenskraft trotz starker
Phantasieanlage alle abergläubischen Regungen niederzuzwingen, wie ich
ihn überhaupt bei seiner zarten Körperbeschaffenheit niemals und vor
keiner Sache in Furcht gesehen habe. Wie gern hätte ich es ihm darin
gleichgetan! Im Scheible waren die alten Puppenspiele von Faust und
die Geschichte seines Famulus Christoph Wagner abgedruckt, worin der
letztere nach seines Meisters Höllenfahrt sich selber auf die Zauberei
verlegt und nach Ablauf der bedungenen Zeit von seinem höllischen
Diener, dem Auerhahn, zerrissen und in den Schwefelpfuhl abgeführt
wird. Auf dem Stich, der diese greuliche Begebenheit darstellte, waren
die Gebeine des unseligen Famulus zu sehen, wie sie der böse Geist
herumgestreut hat, schauerlicherweise abgenagt wie Küchenknochen. Diese
Abbildung grub sich mir mit unverlöschlichen Zügen ins Herz, und sobald
ich nachts die Augen schloß, stand sie vor mir, daß mich das Grauen
übermannte. Ich glaubte zwar kein Wort von der ganzen grauslichen
Geschichte und sah auch das Bild bei Tage mit überlegenem Lächeln an,
aber im Dunkeln wurde ich wehrlos. Erst als ich Goethes Faust kennen
lernte, schoben sich die reinen Gestalten der Dichtung vor jene Spuk-
und Zerrbilder, die durch sie entkräftet und gebannt wurden. Die
Angstträume aber dauerten meine ganze Jugend hindurch in veränderter
Gestalt fort und steigerten sich mitunter bis zur Halluzination. Das
Schlimmste war, so oft die Liebsten und Nächsten durch irgendein
rätselhaftes eigenes Verschulden im Traume verlieren zu müssen. Erst
wenn die Sonne wieder Macht bekam, auch solang sie sich noch unter dem
Horizont befand, fiel der Alpdruck ab. Welche Erlösung, wenn dann noch
in der Dämmerung von der Küche her, wo die treue Josephine waltete,
ein unterdrücktes Geräusch vernehmbar ward und mit einem Male sich
der Geruch frisch gemahlener Kaffeebohnen durch das Haus verbreitete.
Gottlob, die Lieben lebten noch, es gab noch einen Morgenkaffee auf
der Welt, und die sorgende Liebe wachte auch heute. Ich möchte doch
die Seligkeit meiner ersten Jugend nicht zurückhaben, wenn ich all die
Angst, das Schuldgefühl, die bösen Träume und was sonst die junge Seele
bedrängte, wieder in Kauf nehmen müßte.

Unterdessen hatte auch das Lesegift, womit ich mich durchtränkte,
allmählich aus sich selbst ein heilsames Gegengift erzeugt: ich
begann selber zu schreiben, was die Ängste wundersam beschwichtigte.
Der derbe, volkstümliche Stil des Faustschen Puppenspiels hatte
mir’s angetan und drängte mich, ein Drama in der gleichen Stilart
zu verfassen. Ich wählte mir einen Helden aus der vaterländischen
Geschichte, Herzog Ulrich von Württemberg, nicht als hochherzigen
Verbannten, wie ihn Hauff verherrlicht hat, sondern vor seinem Sturz
in der Tyrannenlaune. Woher ich das geschichtliche Rüstzeug erhielt,
weiß ich nicht mehr, vermutlich beschaffte es der gute Papa aus der
ihm unterstellten Universitätsbibliothek. Ulrichs Ehezwist mit der
zungenschnellen Sabine von Bayern und die Liebe zu der schönen, sanften
Ursula Thumbin, der Gemahlin seines Stallmeisters Hans von Hutten,
gab die Fabel des Stückes ab. Daß ein später Nachfahr des Thumbschen
Geschlechtes, der Baron Alfred Thumb, ein Jugendfreund und ehemaliger
Verehrer meiner Mutter, nach dem mein Bruder Alfred benannt war, uns
häufig besuchte und uns auf sein Schlößchen in Unterboihingen einlud,
hatte auf meine Muse begeisternd miteingewirkt. Natürlich durfte der
von der Fama umhergetragene Fußfall des stolzen Herzogs vor seinem
Vasallen, den er vergeblich mit ausgebreiteten Armen anflehte, zu
gestatten, „daß er seine eheliche Hausfrau liebhaben möge, denn er
könn’ und wöll’ und mög’s nit lassen“, in meinem Stück nicht fehlen.
Ich ließ sogar in meiner Einfalt den Landesvater einen Frauentausch
vorschlagen, der von dem Hutten mit Hohn zurückgewiesen wird.

Und da nun dieser, nachdem er den kitzligen Vorgang stadtkundig
gemacht, so unvorsichtig ist, dem tiefgekränkten Gebieter ungewappnet
zur Jagd im Schönbuch zu folgen, überfällt und erschlägt ihn der
Furchtbare im einsamen Forst und hängt höchsteigenhändig den Toten
an eine Eiche, wie in der Geschichte Württembergs mit kleinen
Abweichungen zu lesen. Am Schluß mußte noch Ulrich von Hutten als
Vetter des Erschlagenen und als Genius einer neuen Zeit auftreten und
dem Despoten seinen feierlichen Bannfluch zuschleudern: Tu Suevici
nominis macula! usw., was sich in dem Humanistenlatein sehr stilgemäß
ausnahm. Die Handlung ging Schlag auf Schlag und war durch eine
ungemein drastische Sprache noch mehr belebt; Herzog und Stallmeister
bewarfen sich mit Hohnreden wie die homerischen Helden. So kam es, daß
das Stück bei den sonst sehr kritischen Brüdern eine günstige Aufnahme
fand, und da man in den Weihnachtsferien war, wo sie Zeit hatten, sich
mit meiner Muse zu beschäftigen, wurde beschlossen, es aufzuführen. Die
gute Fina beschaffte einen Vorhang, durch den man einen Bühnenraum vom
Wohnzimmer abteilen konnte, der Weihnachtsbaum mußte symbolisch den
ganzen Schönbuch vorstellen und war zugleich bestimmt, als Eiche den
gehenkten Ritter zu tragen. Damit es nicht an einem Waldhintergrund
fehle, malte ich noch mit grüner Farbe einen Laubbaum von unbekannter
Familienzugehörigkeit auf die Rückwand unseres Kleiderschranks. Es
waren köstliche Tage der gespanntesten Erwartung. Aber schon bei der
Probe ereignete sich ein störender Zwischenfall. Edgar hatte den Herzog
übernommen, ich spielte den gehenkten Ritter, und in der ersten
Szene ging alles leidlich, als aber der bewußte Fußfall an die Reihe
kommen sollte, weigerte sich der Darsteller des Ulrich und fand die
vorgeschriebene Handlung unter seiner Würde. Wer ihn damals kannte,
den seltsamen, jedem Gefühlsausdruck widerstrebenden, gänzlich spröden
Knaben, der mußte einsehen, daß er nicht zum Schauspieler geboren war
und daß man ihm nicht zumuten durfte, vor der Schwester zu knien, auch
nicht, wenn sie in Rittertracht steckte. Merkwürdig war nur, daß er
sich nicht schon beim Lesen verwahrt hatte. Leider war die Verfasserin
dieser Einsicht noch nicht fähig; vom Feuer ihrer Schmiede glühend
wollte sie die Änderungen, die er vorschlug, nicht zugestehen, sie
schienen ihr nicht nur gegen die geschichtliche Echtheit, sondern
auch gegen die Psychologie zu streiten, denn wenn der Herzog keinen
Fußfall getan hatte, so brauchte er auch keine Selbsterniedrigung an
dem Vasallen zu rächen, dieser konnte keinen Vertrauensbruch begangen
haben und damit fiel zugleich sein verhängnisvoller Leichtsinn weg, dem
beleidigten Herrn allein ins Gehölze zu folgen. Da ich nicht nachgeben
zu können glaubte, bat er sich aus, wenigstens jetzt in der Probe
verschont zu bleiben; hernach bei der Aufführung wolle er schon alles
recht machen.

Der große Tag kam heran, vor dem Vorhang saßen erwartungsvoll die
Zuhörer, darunter mit bedenklicher Miene sogar das sonst bei unseren
Spielen selten anwesende Familienhaupt, augenscheinlich mit einer
bangen Ahnung kämpfend. Nicht ohne Grund, denn als der Vorhang aufgehen
sollte, erhob sich hinter der Szene ein Wortwechsel, der nicht zum
Stück gehörte und der bald in Weinen und Schluchzen überging. Edgar
hatte mir nämlich vor dem Heraustreten zugeflüstert: Daß du’s weißt,
ich tue den Fußfall doch nicht. Ich war in Verzweiflung; ich flehte ihn
an, mein Stück nicht durch seine Halsstarrigkeit zu Fall zu bringen,
ich wollte ja gern zehn Fußfälle vor ihm tun für diesen einen; umsonst,
er blieb bei seiner Weigerung. Die Aufführung mußte abgesagt werden;
die Kulissen wurden weggeräumt, und die Eltern hatten alle Mühe, zwei
fassungslose Kinder zu trösten, indem der Vater sein schluchzendes
Töchterlein, die Mutter den tief erschütterten Sohn in die Arme nahm.

Aber die tragische Muse, die nun einmal herabgestiegen war, ließ sich
so leicht nicht wieder verscheuchen, sie nahm vielmehr einen höheren
Schwung, indem sie die Prosarede und den Stil des Kasperltheaters
aufgab, um sich den klassischen Stoffen und dem heroischen Jambus
zuzuwenden. Zunächst machte ich Mama die Freude, Voltaires „Merope“,
die ihr unter seinen Dramen am besten gefiel, zu ihrem Geburtstag in
deutsche Blankverse zu übersetzen. Als ich mit der Arbeit fertig war,
gab mir die dabei erworbene metrische Gelenkigkeit die Lust zu einem
eigenen Versuche ein, denn warum sollte immer Mr. de Voltaire zwischen
mir und meinen Helden stehen? Dem ersten Messenischen Krieg, der gerade
in der Geschichtsstunde an der Reihe war, entnahm ich meinen Stoff: Die
Tochter des Aristodemus. Freilich ein etwas heikler Gegenstand für ein
zwölfjähriges Mädchen. Aber ich führte das Stück durch alle fünf Akte
hindurch glücklich zum Schluß, wobei ich über den verfänglichen Punkt
glatt hinwegkam, vermutlich hatte ich ihn selber nicht ganz verstanden.

Mama, die ich zur Vertrauten machte, jubelte über diese Leistung.
Mein messenischer Patriotismus und der gegen Sparta gerichtete
Groll, in dem sie so etwas wie eine antipreußische Spitze zu fühlen
glaubte, entzückten sie. Aber nun war es mit meinem Seelenfrieden
vorbei. Temperamentvoll, wie sie in allem war, bemächtigte sie sich
meines Schatzes und ließ ihn von Hand zu Hand gehen, ohne nach
meiner Empfindung zu fragen. Ich besaß keine verschließbare Lade,
in die ich ihn hätte retten können, wie der glücklichere Edgar,
an dessen heimlich geschmiedeten Versen sich niemand vergriff. Es
ging mir mit der Tragödie wie mit den Gedichten. In welche Schublade
ich das Heft verstecken mochte, es wurde immer wieder ausgegraben,
und der geschmeichelte Mutterstolz, die Neckereien der Brüder, die
neugierigen Fragen fremder Besucher schufen mir mein eigenes Machwerk
zum Plagedämon um. Denn ob Lob oder Tadel, man konnte mich nicht
tiefer kränken, als indem man überhaupt von seinem Dasein wußte. Und
keine Seele betrat das Haus, die nicht davon erfuhr. Ich stand wie
in einem Regenguß, der mich bis auf die Haut durchnäßte. Es gab dann
Tränen und Vorwürfe, die nicht das geringste fruchteten. Nur der Vater
verstand mich, er fuhr mir lächelnd mit der Hand über die Stirn und
sagte nichts; wie war ich ihm für sein Zartgefühl dankbar! Noch nach
Jahresfrist -- man weiß, was die Länge eines Kinderjahres besagen will
-- war die unglückliche Messenierin nicht vergessen. Ich erinnere
mich eines Vormittags, wo ein fremdes Ehepaar nach meinen Eltern
fragte. Gleich darauf kam mein Mütterlein hergeflogen (ihr Gehen war
immer wie ein Fliegen) und rief triumphierend zur Tür herein: Moritz
Hartmann ist da! Wir hatten diesen Namen oft von ihr gehört als den
eines Dichters und Freiheitsmannes, dem sie in ihrem Herzen einen
Altar errichtet hatte. Die Reimchronik des Pfaffen Maurizius führte
sie häufig im Munde. Auch von der sprichwörtlichen Liebenswürdigkeit
des österreichischen Poeten war schon die Rede gewesen. Alle teilten
ihre Freude, daß er so unerwartet nach Tübingen gekommen war. Nur mir
mit meiner griechischen Tragödie auf dem Gewissen schwante Arges.
Und richtig war noch keine Viertelstunde vergangen, so wurde ich ins
Besuchszimmer gerufen. Da stand der berühmte Gast schon im Aufbruch
vor dem Kanapee, ein Mann von wenig ansehnlichem Wuchs -- an der
Seite meines hochgewachsenen Vaters erschien er fast klein --, aber
gutgeschnittenem Gesicht mit schwarzem Bart und Haar; neben ihm eine
lächelnde Frau, deren Erscheinung einen Eindruck von stiller Harmonie
und Güte hinterließ. Und richtig galt sein erstes Begrüßungswort meinem
Trauerspiel. Er hatte aber nichts von der schulmeisterlichen oder
ironischen Überlegenheit, mit der sonst Erwachsene in solchen Fällen
Kinder behandeln; nur ein ganz kleiner Schalk ging durch seine Miene,
als er fragte:

Was ist denn der Titel des Stücks? Darf ich raten? Es heißt gewiß: Der
gemordete Backfisch.

Mein Mütterlein, das die Antwort nie abwarten konnte, rief schnell
dazwischen: Es heißt „Die Tochter des Aristodemus“.

Da ging ein liebenswürdiges Lächeln über das Gesicht des Dichters, daß
ich mit einem Ruck um Jahre gescheiter ward und ohne allen Unmut sagen
konnte: Sie haben es getroffen, es ist wirklich der gemordete Backfisch.

Dagegen griff es meiner Mutter ans Herz, daß ihr Parteifreund Ludwig
Pfau mir beim Lesen meiner Versuche kopfschüttelnd das Schicksal
der Wunderkinder prophezeite, die ihre verfrühten tauben Blüten mit
lebenslänglicher Unfruchtbarkeit büßen. Er war wohl der einzige
Mensch, der meine Mutter auf die Gefahr aufmerksam machte, in der sich
die Kinder des Genies befinden, wenn sie gleichsam im Mitbesitz der
väterlichen Gaben aufwachsen und ihnen von Eltern und nachsichtigen
Hausfreunden eine Anerkennung vorgeschossen wird, die sie hernach
nicht aus eigener Kraft abverdienen können. Solche psychologisch
wohlbegründeten Bedenken taten ihr weh und wollten ja auch wirklich
auf unser Haus nicht passen, wo die erste Voraussetzung dazu fehlte:
der väterliche Erfolg, die weiche Luft äußerer Ehren und Vorteile,
worin die Ansprüche wachsen und die Selbständigkeit verkümmert. Uns
Kindern war im Gegenteil das Leben außerordentlich schwierig gemacht.
Wir sahen des Vaters Größe unverstanden oder halbvergessen und litten
selbst für die Ideale unserer Eltern, ehe wir diese Ideale verstehen
konnten. Und da nicht nur die äußeren Verhältnisse an uns hämmerten,
sondern sich die Geschwister auch noch gegenseitig diesen Dienst
erwiesen, wurde die mütterliche Verwöhnung reichlich aufgewogen.

Als ich sah, daß meine Heimlichkeiten immer aufs neue entweiht wurden,
beschloß ich aus Zorn und Gram, die Eingebungen, die mir kamen,
künftig lieber gar nicht mehr aufzuschreiben, und nun versiegten sie
allmählich ganz. Ich war’s zufrieden, denn ich hoffte, durch dieses
Opfer mit dem Leben besser in Einklang zu kommen. _Eine_ Vorstellung
wirkte dabei besonders mit: Mamas Jugendgenosse Alfred von Thumb sagte
mir zuweilen, wenn er von seinem Unterboihingen herüberkam, warnend:
Nur kein Blaustrumpf werden! Ich stellte mir darunter ein unschönes,
körperlich vernachlässigtes und geistig verdrehtes Wesen mit kurzem
Haar und Brille vor und bäumte mich gegen den Gedanken auf, eine
ebensolche Vogelscheuche werden zu sollen. Das „Wunderkind“ machte also
die übereilten Erwartungen wie auch Besorgnisse zuschanden, denn der
verfrühte Trieb, der noch gar keinen Lebensstoff zum Gestalten hatte,
legte sich zu einem langen Gesundheitsschlaf nieder und ließ sich durch
keine mütterliche Ungeduld mehr aufrütteln.



Vorfrühling.


Noch in meinem elften Jahre war eine Gestalt in unseren Familienkreis
getreten, durch die allmählich mein inneres Leben ganz umgeschaltet
wurde und die am meisten dazu beitrug, daß die treibhausartige
geistige Entwicklung zum Stillstand kam. Eines Tages erschienen da
zwei unangemeldete Gäste, Mutter und Tochter, aus Mainz. Die hübsche,
sehr lebenslustige Mutter, eine Freundin der meinigen, stand im
Begriff zu Frau Wilhelmi nach Spanien zu reisen; ihr Töchterlein Lili
sollte unterdessen im Schutze meiner Eltern in Tübingen bleiben und
an meinem Unterricht teilnehmen. Lili war zwei Jahre älter als ich,
nicht größer, aber viel entwickelter, und trug auch schon halblange
Kleider, während die meinen nur bis an die Knie gingen. Sie war
ebenso wie ihre Mutter mit Geschmack und einer gewissen Koketterie
gekleidet, und die leichte rheinische Mundart stand ihr allerliebst.
Beim ersten Eintritt war sie, aus einer stillen, zierlichen
Damenwohnung kommend, ein wenig bestürzt über den wilden Umtrieb in
unserem Hause und zerdrückte, wie sie mir später gestand, heimlich ein
paar Tränen. Aber sie wußte sich taktvoll zu schicken. Ihr munteres
Mainzer Naturell fand schnell den rechten Ton, und als man uns beide
nach dem Nachtessen zu Bette schickte, war schon eine Freundschaft
fürs Leben geschlossen, deren Herzlichkeit niemals im Lauf der Jahre
durch einen Hauch getrübt werden sollte. Es ist etwas Eigenes und
Heiliges um solche Jugendfreundschaften, auch wenn sie gar nicht auf
der Grundlage des geistigen Verstehens aufgebaut sind. Wären wir uns
zehn Jahre später zum erstenmal begegnet, so hätten wir schwerlich eine
Brücke zueinander gefunden, aber jenes empfängliche Alter vermag auch
das Ungleichartigste aufzunehmen und festzuhalten, ja dies ist ihm
recht eigentlich zur Erweiterung des Gesichtskreises ein Bedürfnis.
Solche Jugendfreundschaften nehmen mit den Jahren ganz das Wesen der
Blutverwandtschaft an: man fährt fort sich zu lieben und fragt nicht
nach den abweichenden Lebensanschauungen, die bei neuen Bekanntschaften
ein so großes Hindernis bilden.

Der junge Gast teilte für diese Nacht mein Bett. Ich sah mit
scheuer Ehrfurcht auf die knospende Jungfräulichkeit, die aus den
halbkindlichen Hüllen stieg, und drückte mich nach der Wand, um der
Anmutvollen so viel Raum wie möglich zu lassen. Aber zugleich befiel
mich ein bohrender Schmerz, denn ich dachte an gewisse garstige Kinder
aus dem Hinterhof, die mich, wenn ich auf den großen aufgeschichteten
Zimmermannsbalken am Steinlachufer schaukelte, hinterrücks
herunterstießen, daß ich auf die Nase fiel, und mir Schimpfworte
nachriefen. An diese rohen Geschöpfe fürchtete ich meine angestaunte
Lili verlieren zu müssen, denn ich hatte schon die Erfahrung gemacht,
daß befreundeten Kindern, wenn es sich ums Spielen handelte, nicht
zu trauen war; sie liefen charakterlos der Unterhaltung nach, wo sie
sich zeigte. Ich faßte mir ein Herz und teilte Lili mit, in welchem
Kriegszustand ich mich mit dem Hinterhofe befand und daß man nicht
zugleich mit mir und jenen Freundschaft haben konnte.

Lili antwortete mit einer Bestimmtheit, die mich bei ihrem weichen
Wesen überraschte: Du kannst ganz ruhig sein, ich spiele nicht mit
den rohen Kindern. Ich spiele überhaupt nicht mehr mit Kindern --
und nun lüftete sie vor meinem staunenden Geiste den Zipfel eines
Vorhangs, durch den ich in ein neues Wunderland blickte, das Land
der Tanzstunden, der langen Kleider, der Verehrer! Ich wußte ja von
Herzensangelegenheiten weit mehr als sonst Kinder zu wissen pflegten,
da die Verhältnisse der Großen von jeher vor meinen Ohren verhandelt
worden waren, aber ich wußte es nur mit dem Verstand, es ging mich
in meinem Kinderlande nichts an, sondern lag weltenfern in einer
vierten Dimension! Durch Lilis Worte rückte das alles auf einmal
ganz nahe heran, daß es mir fast den Atem nahm. Aber es gefiel mir
außerordentlich, und ich entschlief unter dem Eindruck, plötzlich einen
großen Schritt im Leben vorwärts getan zu haben.

Des anderen Tages wurde Lili, weil bei uns kein Platz war, in einer
benachbarten Familie in Pension gegeben. Sie verbrachte aber die meiste
Zeit bei uns und gewöhnte sich schnell an unser Hauswesen. Sie war ein
ungemein liebliches Stück Natur, dessen Anmut nichts bloß Äußerliches
war, sondern aus einer anmutigen Seele floß. Es gab niemand, der an
ihrem gefälligen, schmiegsamen Wesen keine Freude gehabt hätte. Eine
gewisse Willenlosigkeit und Lässigkeit, die man an ihr bemerkte,
taten ihrem Liebreiz keinen Eintrag. Ich konnte mir später Goethes
bezaubernde Lili nie anders als unter dem Bilde der meinigen denken.
Wenn meine Lili auch keine so glänzende Schönheit und keine so große
verwöhnte Dame war, so erinnerte sie doch durch ihre spielerische
Schalkheit und natürliche Anziehungskraft an jene strahlendere
Gestalt. Die sehr wohlgeformten, obschon etwas großen Züge ihres
immer lächelnden Gesichts, die dunklen, entgegenkommenden Augen voll
Gutherzigkeit und Schelmerei unter dem reichen aschblonden Haar, ihre
mittelgroße, graziöse Gestalt hatten einen Reiz, den manche größere
Schönheit entbehrt. Wenn sie mit dem koketten Pelzmützchen auf ihren
immer schöngeordneten Haaren in der wippenden Krinoline daherkam, war
es unmöglich, ihr nicht gut zu sein.

Die Krinoline! Es sei mir gestattet, auch dieser Freundin und Feindin
meiner Kindheit einen kleinen Nachruf zu widmen. Wie wurde sie
verhöhnt, verlästert, selbst von denen, die sie trugen, und doch konnte
niemand sich ihrer Macht entziehen, denn der herrschende Kleiderschnitt
erforderte diese Stütze. Auch Kinder waren genötigt, sie zu tragen.
Das Auge hatte sich so an diese Mißform gewöhnt, daß, wer aus
Charakterstärke ohne Krinoline ging, wie gerupft aussah. Sie bestand
gewöhnlich in einem durch Bänder verbundenen Reifgestell aus vielen
Stockwerken, das erst unterhalb des schlankbleibenden Beckens leise
begann und sich in immer erweiterten Ringen allmählich zu gewaltigem
Umfang ausdehnte. Die Vielgeschmähte war jedoch nicht ganz vom Übel.
Meine Mutter, sonst so gleichgültig gegen die Mode, hatte eine Vorliebe
für diese Tracht, weil das leichte Gestell den Körper im Sommer hübsch
kühl hielt, jedem Wind erlaubte ihn zu fächeln und die Schnelligkeit
ihrer Bewegungen nicht beeinträchtigte. Wenn man aber damit über Zäune
sprang und vom Balken fiel, so zerbrachen die Reifen und es gab alsdann
häßlich vorstechende Ecken, was bei mir fast täglich vorkam. Diese
auszubessern erforderte eine gewandte Hand und viel Geduld, denn es
genügte nicht, die zerbrochenen Reifenden übereinander zu befestigen,
man mußte der Symmetrie halber das ganze Gestell durchgehends verengen,
ein Geschäft, in dem ich große Übung gewann, denn ich betreute nicht
nur meine, sondern auch Mamas Krinoline mit wachsamen Augen. Lili
zerbrach die ihrige nicht mehr, sie verstand die Kunst -- denn es war
eine solche --, sich immer schicklich und anmutig darin zu bewegen und
sie beim Sitzen elegant mit zwei Fingern niederzuhalten.

Lili wurde nun für einige Zeit mein bewundertes Vorbild und mein
stetes Denken. In meinen Olymp konnte ich sie nicht einführen, weil
ihr der Sinn für die Dichtkunst gebrach, aber ich kam zu ihr in ihre
Welt und fand da genug des Neuen, mich ganz Berauschenden. Lili hatte
schon Reisen gemacht, große Städte gesehen, hatte an Champagnerfesten
teilgenommen und kannte das Theater, was kein anderes Kind im weiten
Umkreis von sich rühmen konnte. Sie schien mir also einem Orden von
Eingeweihten anzugehören, zu dem ich andächtig emporblickte. Die
Phantasiewelten, in denen ich bis dahin gelebt hatte, versanken vor
dem Wunderbaren, was mich berührte, dem Leben. Ich verleugnete alle
meine Götter um ihretwillen. Von den Griechen, von der Edda, von dem
ganzen ungeheuren Lesestoff, den ich schon verschlungen hatte, sagte
ich kein Wort, um ihr nicht auch unheimlich zu werden wie den andern.
Ich verschloß das alles in einem Geheimfach meiner Seele, zu dem es ihr
nicht einfiel, den Schlüssel zu suchen. Es liegt etwas Rührendes in
dem Übergang vom Kinde zum jungen Mädchen, jener reizenden Pagenzeit,
die mit scheuer, huldigender Verehrung auf das Geschlecht blickt, dem
man selber noch nicht angehört, nun aber bald angehören soll. Lilis
Schmuck und Bänder, ihre reifenden Formen, die Wohlgerüche, die sie
an sich trug, ihr feines und doch freies Betragen machten mir den
tiefsten Eindruck. Verglichen mit der Tübinger Jugend, schien sie mir
aus einer andern Menschenrasse zu stammen. Ich liebte sie zärtlichst,
das gleiche tat Edgar, und sie hatte ein viel zu gutes Gemüt, um unsere
Zuneigung nicht von ganzem Herzen zu erwidern.

Als es aber ans gemeinsame Lernen ging, da zeigte sich’s, daß das
liebliche Köpfchen keinen Lernstoff irgendwelcher Art aufnehmen konnte.
Die Geschichte war ihr genau so gleichgültig wie die Geographie, und
die französischen Vokabeln hafteten nicht in ihrem Ohr. Sie dachte
nur an kindlichen Schabernack, und wir lachten jeden Augenblick wie
die Tollen: sie, weil ihr Babylonier und Assyrer, Meder und Perser
lächerlich vorkamen, ich, weil ich die Welt, in der es nun eine Lili
gab, so entzückend schön fand. Meine arme Mutter mühte sich, so sehr
sie konnte, aber ihr Unterricht, der aller Schulmäßigkeit entbehrte,
war nur auf die eigene Tochter eingestellt, an der Fremden scheiterte
er völlig.

Dieses Schöpfen ins Leere hatte schon einige Zeit mit der größten
Anstrengung von ihrer Seite gedauert, als sie der unachtsamen Schülerin
eines Tages, um sie im Deutschen zu üben, ein Aufsatzthema von der
einfachsten Art gab: sie sollte die Sehenswürdigkeiten von Tübingen
beschreiben. Die Aufgabe weckte bei Lili einen ungewohnten Eifer, und
sie lieferte eine Arbeit ab, die an treffender Knappheit ihresgleichen
suchte. Mit einem einzigen Satze waren die berühmte Stiftskirche
mit ihrem Chor nebst Lettner und Schloß Hohentübingen abgetan. Dann
wandte sich die Beschreibung dem Obergymnasium und seinen Insassen
zu, welch letztere als die größte Denkwürdigkeit Tübingens und als
die belangreichste Menschengattung überhaupt bezeichnet waren. Dieser
Aufsatz, vermutlich der einzige, den Lili je verfaßte, hatte einen
stürmischen Heiterkeitserfolg, und noch jahrelang pflegte man, wenn von
den Vorzügen Tübingens die Rede war, das in einem höchst alltäglichen
Bauwerk befindliche Obergymnasium an erster Stelle zu nennen.

Lili hatte allen Grund zu ihrer hohen Schätzung des Obergymnasiums.
Seit die reizende Mainzerin auf dem Plan erschienen war, umschwärmten
die gelben Mützen das Bahnhofgebäude, wo Lili wohnte, und die
naheliegenden Alleen; alle Primanerherzen waren mehr oder weniger
von ihrer Anmut entzündet. Aber diese gegenseitige Bewunderung, die
eine Folge der Tanzstunde war, hätte beinahe unserer Freundschaft
ein vorzeitiges Ende bereitet. Denn eines Tages machte mir Lili die
niederschmetternde Eröffnung, daß sie von nun an nicht mehr mit mir
in den Alleen spazierengehen könne. Du bist noch ein Kind, sagte sie,
und trägst kurze Röcke. Wenn mich die Obergymnasisten immer in deiner
Gesellschaft sehen, so denken sie am Ende, ich sei auch noch ein Kind,
und grüßen mich nicht mehr. Du weißt, ich bin dir gut, aber _das_
kannst du nicht von mir verlangen.

Diese Worte trafen mich wie ein Dolchstoß. Ich war so erschüttert und
beschämt, daß ich nicht antworten konnte. Aber ich sah alles ein.
Nicht mehr von den Tänzern gegrüßt werden! Solcher Schmach durfte
sich freilich Lili um meinetwillen nicht aussetzen! Ich gab mich
jedoch dem Schmerze nicht hin, sondern sann auf Abhilfe, denn Lilis
Umgang zu entbehren war mir unmöglich. Auf dem Speicher, in einem der
eisenbeschlagenen Riesenkoffer aus Urvätertagen, lag von aller Welt
vergessen ein schöner Rock aus schwarzem Wollstoff, den einmal Hedwig
Wilhelmi bei der Abreise nach Granada zurückgelassen hatte. Auf dieses
herrenlose Gewandstück setzte ich meine Hoffnung. Als ich heimlich
hineinschlüpfte, hatte es zwar eine Schleppe von nahezu einer Elle,
stand aber sonst rundum eine Handbreit vom Boden ab, denn um so viel
überragte ich bereits seine rechtmäßige Besitzerin. Allein ich hatte
schon mit kundigem Auge eine ausgebogte Sammetblende wahrgenommen,
die den unteren Rand verzierte und sich, falsch aufgesetzt, als
Verlängerung verwerten ließ. In derartigen Fertigkeiten war ich von
klein auf bewandert: Nähen, Zuschneiden, Häkeln, Stricken, alles,
was anderen kleinen Mädchen zu ihrer Pein auferlegt wurde, hatte für
mich den Reiz der verbotenen Frucht. Ich verbarg mich also mit Nadel
und Schere auf dem Speicher und arbeitete stundenlang voll Eifer und
Pünktlichkeit, bis der Rock meiner Länge angepaßt war. Dann warf ich
ihn alsbald über und stolzierte mit der gewaltigen Schleppe, die ich
noch mitverlängert hatte, durch Gang und Wohnräume. Ich machte mich
auf einen häuslichen Sturm gefaßt, aber niemand schien die Verwandlung
zu sehen. Mama lebte in den kargen Stunden, die sie der Pflege der
Kinder und dem Ärger über die Bismarcksche Politik entziehen konnte,
mit den Platonischen Ideen und kümmerte sich nicht um die Länge meiner
Röcke. Dem guten Vater war alles, was sein Töchterchen tat, wohlgetan,
und selbst die tadelsüchtigen Brüder, sonst meine strengsten Richter,
schwiegen mäuschenstille, weil sie ahnten, daß es Lili zuliebe geschah;
die Hexe spukte auch ihnen in den Köpfen. So hatte ich durch einen
kühnen Handstreich die Kluft der Jahre zwischen uns ausgefüllt. Wir
gingen wieder Arm in Arm in den Alleen, ich hatte sogar durch den
Schlepprock etwas vor Lili voraus; die gelben Mützen flogen vor uns
beiden in die Höhe, und die schöne Welt war wieder im Gleichgewicht.

Ohne Übergang war ich aus den kurzen Kinderröcken ins Schleppkleid
gefahren, und ebenso unbedenklich ließ ich nun auch mein Kinderland
hinter mir, um immer weiter in das neue Leben hineinzuschreiten. Die
Röcke blieben lang, wenn auch künftig ohne Schleppe. Und welch eine
Ehre! Auf der Schlittschuhbahn ließ ein fremder Student sich mir
vorstellen, nannte mich Fräulein, schnallte mir die Schlittschuhe an
und führte mich! Abgefallen war alles, was mir sonst den Verkehr mit
Menschen erschwert hatte: meine Fremdheit und Scheu, der Widerwille vor
dem „Sie“, ich hatte nur die eine Sorge, es den Menschen zu verbergen,
daß ich nach Leib und Seele noch ein Kind war, damit sich Lili meiner
nicht zu schämen habe.

Seit jener ersten Begegnung mit dem Frater Corpus vor dem Wandspiegel
in Obereßlingen hatte ich nicht wieder über mein Äußeres nachgedacht.
In Tübingen hing der Spiegel so hoch über dem Kanapee, daß ich mich
nicht darin sehen konnte. Eines Tages stieg ich nun wegen einer
aufgeschnappten schmeichelhaften Bemerkung hinauf und streckte mich,
um einen neugierigen Blick in das Glas zu werfen. Da sah ich, daß das
blasse, geisterhafte Kindergesicht verschwunden war, die Augen traten
nicht mehr als eine Gewalt für sich heraus, die Züge begannen sich
gefälliger zusammenzufügen, und es dünkte mir, daß ein heiterer Schein
davon ausginge. Von da an hüpfte ich des öfteren vom Kanapee in die
Höhe und beobachtete die allmähliche Verwandlung noch unpersönlich wie
das Wachstum meines Rosen- oder Myrtenstöckchens. Ich fühlte keinen
metaphysischen Schauder mehr, der Weggenosse wurde mir etwas Liebes,
Vertrautes, das mein Wesen rein zum Ausdruck brachte, und verwuchs
allmählich mit dem unsichtbaren Schmetterling zu einem einzigen Ich.
Mit Riesenschritten ging es jetzt in die Verweltlichung hinein. Auf
die Freuden der Schlittschuhbahn folgten die der Tanzstunde, die mit
Menuettverbeugungen und dem Auswärtsdrehen der Füße mittels Schienen
begannen. Da mir aber Lili schon die ersten Tanzschritte beigebracht
hatte, wurde ich bald in die höheren Grade aufgenommen und durfte
nun selber mit den Obergymnasisten durch den Saal wirbeln. Der Geist
Lilis schwebte immer mit, auch als sie Tübingen schon verlassen hatte,
und gab der nicht allzu stilgerechten Veranstaltung Anmut und Weihe.
In einem Nebenbau der Alten Aula, zu dem man von der Münzgasse auf
steinernen Stufen hinunterstieg, befand sich ein völlig schmuckloser
Saal mit grob gehobeltem Fußboden, worin die Tanzstunde abgehalten
wurde; das Stimmen der Geigen kündigte sie von weitem an. Diese
quietschenden, unschönen Töne hatten nichtsdestoweniger für das junge
Ohr einen zauberischen Wohllaut, der das Herz schneller schlagen
machte. Die sehr jugendlichen „Herren“, die auf der einen Seite des
Saales beisammen standen, holten sich mit der eben eingelernten
Verbeugung die „Damen“ aus der anderen, und nun galt es im Gedränge
der Paare sich ohne Anstoß um die Säulen winden. Zuweilen ließen
sich auch die Füchse der eleganten Studentenkorporationen zu dem
Lämmerhüpfen herbei; es war aber eine zweifelhafte Ehre, da diese
Herren augenscheinlich an uns Allzujungen die Artigkeiten einübten, die
sie hernach auf den Museumsbällen den reiferen Jahrgängen zu erweisen
hatten.

Lili war unterdessen von ihrer Mutter zurückgeholt worden, aber
ihr Einfluß dauerte fort. Auch erschien sie in kürzeren Abständen
immer wieder in Tübingen und verdrehte bei ihrem jedesmaligen
Aufenthalt viele junge Köpfe. Ihre Mutter wünschte, daß sie sich früh
verheirate, deshalb verlobte sie sich fünfzehnjährig zum erstenmal
mit einem jungen Mann, den sie in unserem Hause kennenlernte. Die
uns befreundete Familie empfing die reizende Braut mit offenen
Armen. Aber ihr Herz hatte nicht mitgesprochen, und bald danach trat
sie den Schwankendgewordenen, dem eine etwas ältere Freundin ein
leidenschaftliches Gefühl entgegenbrachte, bereitwillig an diese ab. Es
war kein Opfer, aber doch für sie bezeichnend, denn bei ihrer großen
Güte und Nachgiebigkeit wäre sie auch imstande gewesen, auf einen
geliebten Mann um einer anderen willen zu verzichten. Das Obergymnasium
war ihr jetzt keine Merkwürdigkeit mehr, wohl aber seine ehemaligen
Zöglinge, die man auf den Studentenbällen wiederfand. Sie hatte sich
ein Verzeichnis ihrer Verehrer angelegt, in dem sie fleißig blätterte,
um keinen zu vergessen. Je nach dem Rang, den der eine oder der andere
vorübergehend in ihrem Herzen einnahm, wurden durch Versetzen der
Namen die Plätze gewechselt, so daß sich ihr kleines Taschenbüchlein
mit den Aufzeichnungen in beständiger Wandlung befand. Nach jedem
Tanzvergnügen ging wieder eine Verschiebung vor sich, aus der sie mir
kein Hehl machte. Ihre kleinen Koketterien waren voll Unbewußtheit,
ohne eine Spur von Berechnung. Ihr gefiel ausnahmslos das ganze
männliche Geschlecht, und sie konnte es nicht begreifen, daß ich mir
schon damals die jungen Ritter sehr genau zu beschauen pflegte. Einem
so liebenswerten Geschlecht wieder zu gefallen, war ihr angeborenes,
innigstes Bestreben, und wem hätte Lili nicht gefallen sollen? Wie
die Ottilie der Wahlverwandtschaften mußte man sie eigens darauf
aufmerksam machen, daß es für ein junges Mädchen nicht schicklich sei,
jungen Männern einen fallengelassenen Gegenstand aufzuheben, denn
ihre unschuldige Verehrung für das stärkere Geschlecht trieb sie in
solchen Fällen, sich eiligst zu bücken oder gar einer weggewirbelten
Studentenmütze voll Eifer nachzuspringen, Dinge, die damals bei der
viel strengeren Etikette zwischen den Geschlechtern weit mehr auffielen
als heute, und die meine Eltern ihr sorgsam abgewöhnten, damit nicht
irgendein Frechling die harmlose Zuvorkommenheit des jungen Mädchens
mißdeute.

Mir bezeigte sie ihre Gegenliebe auf eine besondere Art, indem sie sich
der Stilisierung meines Äußeren bemächtigte. Die armdicken Flechten,
die ich damals noch einfach niederhängend oder mehrfach um den Kopf
geschlungen trug, waren ihr zu kindlich; sie selber ordnete ihr schönes
Haar zu modischen Phantasiegebäuden. Die gleiche Arbeit nahm sie
jetzt mit dem meinigen vor, indem sie bald „gesteckte Locken“, von
ährenartig geflochtenen sogenannten Kornzöpfen umrahmt, auf meinem
Scheitel auftürmte, bald mein Haar in griechische Knoten wand oder
gar neben einer steifen Turmfrisur rechts und links die modischen
„Schmachtlocken“ zurechtdrechselte. Lauter prächtige, aber für mein
Lebensalter zum mindesten stark verfrühte Dinge. Niemand wehrte der
Torheit. Mein Mütterlein, das niemals älter war als ich, ließ uns
beide völlig gewähren und hatte ihre helle Freude an den mit mir
vorgenommen Verwandlungskünsten. Mein Vater schüttelte zwar den Kopf,
aber sein Einspruch beschränkte sich auf die Bemerkung, wie er sein
Kind kenne, werde sie das alles künftig einfacher halten. Es versteht
sich, daß auch mein Anzug unter Lilis Einfluß geriet. Bisher war ich
gekleidet wie die Lilien auf dem Felde. Mein sparsames Mütterlein,
das noch in den ersten Tübinger Jahren die Knabenkleider alle selbst
verfertigte, hatte für Mädchensachen gar kein Geschick, und das war mir
lange Zeit zugute gekommen. Denn ihre Jugendfreundinnen ließen sich’s
nicht nehmen, jahraus, jahrein für ihr Töchterlein tätig zu sein. Da
kam immer von Zeit zu Zeit irgendein Pack mit den schönsten Dingen
für mich an, wie handgestickten russischen Hemden, goldverschnürten
Tuchspenzerchen und anderen Prunkstücken, die jedesmal großen Jubel
erregten. Wie ich nun der Kindheit entwuchs, wurden diese Sendungen
allmählich seltener, und was zu Hause ergänzt werden mußte, konnte vor
Lilis Augen nicht bestehen. Ich hatte sonach keine Wahl, als die eigene
Geschicklichkeit auszubilden, die mich mit der Zeit instand setzte,
den Tand, der jungen Mädchen zum Persönlichkeitsgefühl unerläßlich
ist, selber herzustellen. Aber der ungünstig gesinnten Umwelt konnte
ich es nun einmal auf keine Weise recht machen. Meine harmlosen
kleinen Kunstfertigkeiten, die nichts kosteten als ein bißchen Zeit
und Mühe, wurden mir als sträfliche Verschwendung ausgelegt und
genau so verdammt wie mein Heidentum und mein Latein. Um den wahren
Sinn solcher jugendlichen Putzsucht zu begreifen, muß man selbst
in jenen so unendlich einfachen Zeiten gelebt haben. Damals trugen
all die niedlichen Gegenstände, die man sich selbst erfinden und
zusammenstellen mußte, einen ganz persönlichen Stempel, sie gehörten
zu den wenigen Ausdrucksmöglichkeiten der unreifen suchenden Seele und
wurden auch von den Altersgenossen so aufgefaßt. Denn die Jugend sieht
in allen Dingen Symbole. Gesteht doch der strenge Rousseau, daß er in
jungen Jahren nicht den schönsten Mädchen huldigte, sondern denen,
die den meisten Putz und Schmuck besaßen. Als ich mir einmal in einem
bekannten Putzgeschäft unter all den wohlriechenden Gegenständen ein
weißes Frühlingshütchen mit einem taubehangenen Vergißmeinnichtkranz
aussuchen durfte, da ging ich mit einem erhöhten Lenzgefühl umher,
als trüge ich ein Eichendorffsches Frühlingslied auf dem Haupte. Mein
Mütterlein klagte oft, daß ich seit der Freundschaft mit Lili völlig
verdummt sei und nichts mehr im Kopf hätte als Backfischeitelkeiten. Es
war auch wahrlich kein kleiner Sturz: vor kurzem noch auf den höchsten
jambischen Stelzen, mit einer Gracchentragödie und einem Epos über den
Untergang Karthagos beschäftigt und jetzt nur noch mit Schmuck und
Tand. Ich mußte manches Scheltwort der Brüder hören, und als eines
Tages in der Kinderschule, wo unser Jüngster saß, bei den Sprüchen
Salomonis im Kreise herumgefragt wurde: Was ist eitel? hob unser
kleiner Balde als einziger sein Fingerlein und sagte: Meine Schwester!
-- -- --

Wie glänzt jetzt mein Jugendland aus der Tiefe der Zeiten herauf! Als
ich darin wandelte, war es voll von Kampf und Not, von Angst und Pein.
Meine Brüder füllten es zwar mit Reichtum und Leben, aber nicht minder
mit zuckender, immer brodelnder Unruhe. Die beiden Großen vertrugen
sich noch immer nicht, und es sah aus, als ob ihr häuslicher Krieg,
von dem wir andern mitbluteten, einer tiefen inneren Feindseligkeit
entspränge. Am liebsten machten sie den gedeckten Mittagstisch, dem
leider der Vater seiner Arbeit zuliebe fernblieb (er kam überhaupt erst
gegen Abend nach Hause), zum Zeugen ihrer Kämpfe. Kaum war die Suppe
aufgetragen, so begannen die Plänkeleien, dann fiel ein Stichwort und
plötzlich brach der Sturm los. Es war jedesmal wie ein Naturereignis,
gegen das die Vernunft machtlos war. Mama warf sich dazwischen, ich
desgleichen, und am Ende gingen alle Teile mehr oder minder aufgelöst
aus dem Ringen hervor. Wenn die Schlacht auf ihrem Höhepunkt war, so
erschien Josephine mit dem Kochlöffel unter der Tür, das schöne, ernste
Gesicht in tragische Falten gelegt, und sagte mit dumpfem Ton: Jetzt
hat es wieder den höchsten Grad erreicht. -- Aber nie konnte ich sie
bewegen, mir im Sturme beizustehen. Sie erschien mir in ihrer edlen,
schmerzvollen Haltung wie der Chor in der griechischen Tragödie, der
die Geschicke des Königshauses mit seinen Klagen begleitet, ohne jemals
handelnd einzugreifen. Hatten sich die Kämpfer endlich mit dem letzten
grollenden, aber schon nicht mehr ernst gemeinten: Wart, ich soll dich
vor dem Gymnasium treffen! getrennt, so blieben Josephine und ich
zurück, die tieferregte Mutter zu trösten und zu beschwichtigen. Es
war ja an sich gewiß nichts Unerhörtes, daß zwei halbwüchsige Jungen,
denen die Aufsicht des Vaters fehlte, sich in den Haaren lagen. Aber
Mama war selber ohne Brüder aufgewachsen und wußte nicht, daß das
Raufen zum Knabenleben mitgehört, wenn auch sonst nicht gerade das
Eßzimmer der übliche Schauplatz dafür ist. Ich glaube, sie stand mit
ihrer gewaltigen Phantasie im Bann der attischen Tragödie und bildete
sich ein, das thebanische Brüderpaar geboren zu haben. Josephine, statt
ihr die Übertreibungen der Angst auszureden, verfiel selbst darein und
wiederholte nur immer mit Grabesstimme: Oh, es wird schrecklich enden!
Und ich mit meiner nicht minder erregbaren Phantasie sah den tragischen
Ausgang, den beide weissagten, als schon eingetreten an. Hätte mein
Mütterlein damals in die Zukunft blicken können, wieviel qualvolle
Stunden wären ihr, wieviele Angstträume mir erspart geblieben. Sie
hätte nach dem knabenhaften Zwist ihre zwei Feuerbrände die Spitzen
gegeneinander neigen und vereint als eine schöne stille Fackel der
Bruderliebe fortbrennen sehen, wobei die inneren Verschiedenheiten nur
die Neigung nährten. Diese schöne Lösung war leider noch tief im Schoße
der Zukunft verborgen. Und ich grüßte jeden ersten Morgenstrahl mit dem
stillen Seufzer: Wäre nur auch dieser Tag schon glücklich vorüber und
wir wieder alle heil in unseren Betten.

Es lag in den Erziehungsgrundsätzen meiner Mutter ein edler Irrtum, der
auch in der neueren Pädagogik da und dort auftaucht, aber gleichwohl
ein Irrtum ist und bleibt. Sie wollte alles der eigenen Einsicht des
Kindes und dem guten Beispiel überlassen. Aber die Selbstentäußerung,
wie sie sie pflegte, die schweigende, als selbstverständlich geübte
Zurücksetzung des eigenen Ichs wird nur in den seltensten Fällen
unreife Seelen zur Nacheiferung anspornen. Und durch die bloße
Einsicht, wie klar sie bei gutbegabten Kindern sei, werden wilde Jungen
nicht dahin gebracht, die Urgewalt der Triebe, vor allem den Zorn, zu
bändigen, bevor die Hemmungsvorrichtung ausgebildet ist. Hierin hatte
es ihre Erziehung fehlen lassen. Dem Vater aber wurden alle aufregenden
Vorgänge in der Familie nach Kräften verheimlicht. So stemmten sich
die weiblichen Schultern allein und nutzlos gegen das Temperament der
Knaben und ihre Entwicklungsstürme. Eine glückliche Ablenkung brachten
von Zeit zu Zeit die Wohngäste, vor denen die feindlichen Brüder sich
in einer angeborenen Ritterlichkeit zusammennahmen, wie sie auch
öffentlich nie entzweit und hadernd gesehen wurden. Ein weiterer Grund
für mich, jeden Gast mit Freuden zu begrüßen. Ich wollte gern mein
Bett opfern, damit das Sorgengespenst mir eine Zeitlang fernblieb.
Nachträglich muß ich mich wundern, wie doch über all der Not die
Jugendlust mit so breitgestelltem Fittich schwebte. Vielleicht lernte
ich es gerade deshalb so gut, die Freude zu lieben und jede schöne
Stunde als Geschenk zu betrachten, weil nach dem tragischen Empfinden,
das sich mir im untersten Grund der Seele festsetzte, jeder Tag der
letzte sein konnte. Denn eine stille Angst ließ mich niemals los. Der
Bruderkrieg war nicht der einzige Anlaß. Die wiederkehrenden Anfälle
von Gelenkrheumatismus, die unsern Jüngsten in ihren Folgen zum frühen
Tode führen sollten, waren in ihrer Schwere damals noch nicht erkannt,
aber die Muttersorge lief der ärztlichen Prognose weit voraus, und die
Leidenschaft, mit der sie an ihren Kindern hing, ließ für den Fall,
daß ihr eines entrissen würde, das Schlimmste fürchten. Ohnehin redete
sie immer mit mir von ihrem Tode, denn schon in jungen Jahren glaubte
sie nunmehr so alt zu sein, daß es Anmaßung wäre, noch auf ein viel
längeres Leben zählen zu wollen. Darum hatte mir die Vorstellung von
dem schaurigen Frost, der die Herzen der Waisenkinder umgibt, schon
die frühen Kinderjahre verdüstert. Am Vorabend ihres vierzigsten
Geburtstags, der ihr als die Schwelle des Greisenalters erschien,
schrieb sie einen Abschiedsbrief an ihre Kinder, dessen Anfang ich
über ihre Schulter las und der mir fortan in alle Jugendfreuden einen
tiefen Schatten warf. Ich glaubte nun gleichfalls, daß man mit vierzig
nicht mehr lange leben könne. Sie verbarg ihn im Doppelboden ihrer
Schatulle, aber von dem schwarzen Faden, womit er gebunden war, hing
ein Endchen heraus, und danach mußte ich immer blinzeln, wenn ich
vorüberging. So feurig sie das Leben liebte, so bereit war sie, jeden
Augenblick ins Unbekannte zu gehen, mit dem ihr Geist sich stets
beschäftigte. Und an allem, was in ihr vorging, hatte ich von klein
auf mein Teil. Dabei ahnte sie gar nicht, was ich Grausames litt. Ich
befand mich ja in einem Lebensalter, wo die Seelenkräfte noch viel
schlafen sollten, um sich nicht vor der Zeit zu verzehren. Sie aber
hielt mich seltsamerweise für unempfindlich, weil ich unter all den
hemmungslosen Geistern frühe dazu gekommen war, mir Zwang anzutun,
um das Zünglein der Waage sein zu können. Auch hatte ich allmählich
begonnen, mich leise von ihrer Gedankenwelt, die bisher eine gemeinsame
gewesen war, abzulösen. Es schien mir, als ob ihre Ansichten, die sie
so feurig aussprach, mit der Welt, wie ich sie sah, nicht ganz stimmen
wollten. So einfach waren die Dinge doch wohl nicht, daß es genügte,
zu dieser oder jener Partei zu gehören, um ein Engel oder das gerade
Gegenteil zu sein. Auch das mit den Preußen konnte ich nicht mehr so
recht glauben, besonders nachdem es 1866 vor meinen Augen so glimpflich
abgelaufen war. Vielleicht steckten auch nicht in jedem Liebespaar,
dem der elterliche Segen fehlte, ein Romeo und eine Julia, für die man
unbedingt einstehen mußte. Je älter ich wurde, desto mehr breitete
sich nun der Widerspruch aus und griff allmählich in alle Gebiete des
Lebens über; es hieß aber behutsam sein, denn ihr Temperament war
unberechenbar. Das beste war, sie zum Lachen zu bringen. Wenn sie
zornig oder aufgeregt wurde, so drehte sie sich blitzschnell um sich
selber mit einer ganz südlichen Gebärdensprache, die ich neckend ihren
Kriegstanz nannte. Über einen solchen Scherz konnte sie plötzlich
hellauf lachen, dann war der Zorn verflogen. Sie lachte ja so gerne,
und am liebsten über sich selbst. Nie werde ich wieder ein sonnigeres,
sorgloseres Kinderlachen hören.

Auf ihr Wesen hatte bisher noch nie ein Mensch wirklichen Einfluß
gehabt, auch mein Vater nicht. Sie liebte ihn mit einer Liebe, die
Anbetung und Gottesdienst war. Sie stützte den Ringenden und ersetzte
dem Unverstandenen die gläubige Gemeinde. Diese tragende Kraft mußte
für den um dreizehn Jahre älteren Mann von unschätzbarem Werte sein.
Ich habe mich oft gefragt, wie es wohl gegangen wäre mit einer biederen
schwäbischen Hausfrau bürgerlichen Schlages, die ihm wohl seine
Wirtschaft peinlich genau geführt, ihm aber dafür mit Lebenssorgen in
den Ohren gelegen hätte. Meine Mutter hielt die irdischen Nöte von
vornherein für unzertrennlich vom Dichterlos und war stolz darauf,
sie mit ihm zu teilen. Sie vermittelte den Kindern die Geisteswelt
des schweigsam gewordenen Vaters und erzog uns so zur Verehrung für
ihn, daß selbst der wilde Alfred in seiner Gegenwart lammfromm war.
Aber in ihren Meinungen und Grundsätzen ließ sie sich auch durch
ihn nicht beeinflussen. Er war zu reif, zu ausgeglichen, um auf die
Immerwerdende, Nichtfertigwerdende zu wirken. Bei seiner Neigung, jeder
Persönlichkeit ihre Art zu lassen, hat er wohl auch nie ernsthaft
versucht, den Sinn für die Abstufungen in ihr zu wecken. Diese Aufgabe
fiel einem viel jüngeren, aus ihr selbst geborenen Wesen zu, das sich
an ihr und häufig gegen sie entwickelte und an dessen Entwicklung sie
selber weiterwuchs. Ihr beizubringen, daß es zwischen Schwarz und Weiß
unendliche Zwischentöne gibt, daß nicht jede Erkenntnis in jeder Seele
gute Früchte trägt, daß auch der besten Sache mit Schweigen zuweilen
besser gedient ist als mit Reden, solcherlei Ausgleichspolitik
beschäftigte meinen Kopf schon in einem Alter, wo andere noch mit der
Puppe spielen. So oft das häusliche Gleichgewicht schwankte, mußte ich
es einrenken. Und oft genug, wenn ich glaubte, recht geschickt eine
Klippe umsteuert zu haben, warf noch im letzten Augenblick ihr Ungestüm
meine ganze Berechnung um. Welch ein täglich erneutes Ringen, wieviel
Mißverständnisse und beiderseitiges Herzweh! Über mich ergossen sich
alle Gewitter ihres stürmischen Naturells. Je mehr Leid uns daraus
erwuchs, desto zärtlicher hingen wir zusammen. Aber oft empfand ich es
als eine besondere Härte des Schicksals, daß gerade ich berufen sein
sollte, nur immer Dämme aufzurichten, Grenzen zu ziehen, Vernunft zu
predigen, da doch Lebensalter und eigene Anlage mir nach meiner Meinung
vielmehr das Recht gegeben hätten, selber die Unvernünftige zu sein.



Ein Nothelfer.

Russische Freunde.


Unterdessen feierte auch Edgar seine vita nuova in einem
Freundschaftsverhältnis, das etwas von der Überschwenglichkeit einer
ersten Liebe an sich hatte.

In seiner Klasse, aber in einer höheren Abteilung, saß ein älterer
Mitschüler, Ernst Mohl, ein Pfarrerssohn aus Hildrizhausen, der den
zuerst ergriffenen Kaufmannsberuf gegen den Wunsch seiner Eltern
mit den Gymnasialstudien vertauscht hatte und so unter den jüngeren
Jahrgang geraten war. Diesem schloß sich Edgar mit seinem ganzen Feuer
an. Sie tauschten ihre literarischen und philosophischen Ansichten aus,
teilten sich gegenseitig ihre Gedichte mit, und der einfach erzogene
Pfarrerssohn, der bis dahin still vor sich hin gelebt und nur mit den
frömmsten Familien verkehrt hatte, sah sich plötzlich in einen Wirbel
geistiger Anregung hineingezogen. Auch ich wurde schon in den ersten
Tagen in den neuen Bund eingeschlossen. Denn als die beiden einmal
zusammen durch die Alleen schlenderten, begegnete ihnen ein Trupp
Kameraden, die einen Armvoll Rosen in einem Garten gebrochen hatten,
und man kam überein, die schönen Blumen einem Mädchen zu schicken.
Aber wem? -- Edgars Schwester, entschied Mohl. Er hatte schon vor
der Bekanntschaft mit dem Bruder eines Tages ein blondes Mägdlein
leichtfüßig über die Straße hüpfen sehen und war durch eine Tochter
Philistäas belehrt worden, daß dies das Kurzsche Heidenkind sei. Und
alsbald hatte er in seiner Seele für das Heidenkind und gegen Philistäa
Partei genommen. Die Kameraden stimmten zu, und er wurde beauftragt,
eine Widmung im Namen aller zu schreiben. Er zog sich zurück und
schmiedete alsbald ein formgerechtes, jugendlich überschwengliches
Sonett, in dem er jedoch der Kameraden nicht gedachte, sondern nur
seine eigene Sache vortrug. Blumen und Verse überbrachte mir Edgar. Ich
fühlte mich durch die gereimte Huldigung sehr gehoben; eine solche war
bis jetzt nicht einmal Lili zuteil geworden. Die Verse waren für mich,
was für den Knappen der Ritterschlag.

Wenige Tage später saß ich mit den Eltern in Schwärzloch, der lieben
alten Waldwirtschaft, wo Frau Lächler, die philosophische Wirtin,
uns ihre Sauermilch mit dem berühmten Schwarzbrot vorsetzte. Da
erschien Edgar mit seinem neuen Freund und stellte ihn vor, einen
großgewachsenen, aber noch sehr schüchternen Jüngling, dem mit seinen
siebzehn Jahren schon der Vollbart sproßte. Der Neuling war innerlich
sehr erschüttert von dem, was er getan hatte, und sah sein Unterfangen
nachträglich als eine Ungeheuerlichkeit an. Aber die Dreizehnjährige
dankte gesetzt und damenhaft für die Blumen und nahm die Begleitverse
als Formsache und Ritterstil auf, wonach die Befangenheit sich
allmählich löste. Wir waren damals gerade aus dem großen kalten Haus
an der Steinlach in die neue Wohnung in der inneren Stadt gezogen,
die mit ihrer sonnigen Vorderseite drei Stock hoch auf den schönen
altertümlichen Marktplatz hinuntersah und zugleich auf der Rückseite,
wo die Haustür lag, das zweite Stockwerk über der finsteren Kronengasse
bildete. Dort besuchte uns der neue Freund, nachdem er die erste
Beklommenheit überwunden hatte, bald fast täglich. Der zarte und doch
so schroffe Edgar mit dem leichtentzündlichen Geblüt und dem schmalen,
vergeistigten Gesicht, aus dem große blaue Augen weltfremd leuchteten,
sah in dem riesenstarken, immer gelassenen Freunde sein unentbehrliches
Widerspiel. Wenn dieser sich kaum verabschiedet hatte, so hielt er es
schon nicht mehr ohne ihn aus und griff zur Mütze, um ihm nachzueilen.
Als Ernst die Vakanz im väterlichen Pfarrhaus verbrachte, war der
leidenschaftliche Knabe so unglücklich über die Trennung, daß der
Freund auf den abenteuerlichsten Schleichwegen ohne Wissen seiner
Eltern, die an diesem Verkehr keine Freude hatten, ein Wiedersehen wie
ein verbotenes Liebesstelldichein bewerkstelligen mußte. Und weil das
kurze Beisammensein Edgars liebebedürftiger Seele kein Genüge tat, nahm
jener ihn gar als Gast in sein Pfarrhaus mit, freilich in heimlichen
Ängsten, wie seine Eltern sich zu der Überraschung stellen würden. Aber
so ein altschwäbisches Pfarrhaus wußte, was es dem Herkommen schuldig
war, und ließ sich nicht lumpen, wenn ein Gast erschien, ob er ihres
Geistes Kind war oder nicht. Man buk und schmorte, der Pfarrer holte
seinen klassischen Schulsack, die Pfarrerin ihren Mutterwitz hervor,
um die Unterhaltung zu würzen. Und da nun die Vakanz zu Ende ging,
wurde anderen Tags die bessere von den zwei Pfarrkutschen angespannt,
der „lederne Deckelwagen“, in dem nach bäuerlicher Ausdrucksweise vier
„Herrenkerle“ Platz haben, und die Gäste nach altem Brauch bis in die
Mitte des Schönbuchs zurückgeführt. Aber trotz der ihm erwiesenen Ehre
hatte das schwärmerische Knabengemüt keinen Augenblick Ruhe, solange
es den Freund mit andern teilen mußte. Ich hab’ den ganzen Tag über
Heimweh nach dir, klagte er, wenn sie einmal allein waren, und legte
seine zarte Wange an die bärtige des Freundes. Denn die Stärke seines
Innenlebens machte dem Friedelosen selbst das Glück zur Qual.

Ernst trat allmählich im Hause ganz in die Stellung eines Mitbruders
ein. Er half den jüngeren Knaben bei ihren Schulaufgaben, mich
begleitete er in die Tanzstunde hin und zurück, obgleich der Ort nur
über der Straße lag, und sah geduldig zu, bis ich des Herumhüpfens müde
war, wenn es auch noch so spät wurde, denn er selber tanzte nicht.
Er tat mir brüderlich zuliebe, was er nur konnte. Wenn Edgar seine
immer zuckende Reizbarkeit an mir auslassen wollte oder Alfred mir
seine Verachtung der Weiblichkeit allzu deutlich zu verstehen gab, so
stellte er sich dazwischen und schaffte mir Luft. Zum Dank für diese
Liebesdienste betreute ihn Mama mit ihrer ganzen überschwellenden Güte
und wurde eine zweite Mutter für ihn, wobei sie freilich in ihrer
stürmischen Art auch ab und zu in seine Lebenshaltung eingriff und
den Abstand zwischen der freiheitlichen Richtung des Sohnes und dem
bürgerlich hergebrachten Gesichtskreis der Eltern nach Kräften zu
erweitern suchte.

An dem jungen Freunde fand ich jetzt einen Nothelfer in den häuslichen
Stürmen, der mir bessere Dienste leistete als die Wohngäste, die doch
nur auf kurze Zeit erschienen. Mit der Zeit vergrößerte sich auch
der Kreis. Söhne befreundeter Familien, die zur Hochschule kamen,
wurden in unserem Hause eingeführt, darunter das Frohgemüt unseres
Eugen Stockmayer, der einer unserer Getreuesten werden sollte, und
der gleichnamige Enkel des alten Dichters Karl Mayer, eine feine
und eigenartige Erscheinung. Es fanden sich vorübergehend zwei
Träger großer Namen ein, der schöne junge Friedrich Strauß, von
seinem Vater dem meinigen empfohlen, und Robert Vischer, von dem
seinen persönlich bei uns eingeführt. Da war ferner der treue Arthur
Müllberger, der Theoretiker des Sozialismus und Schüler Proudhons,
nebst einem gleichgesinnten französischen Freunde, dem ich später
seiner Bedeutung wegen ein eigenes Kapitel widmen muß. Man machte
gemeinsame Ausflüge oder saß des Abends beisammen und spielte, und
ich durfte für Stunden ein gedankenloses junges Tierchen werden
wie andere. Eine unbeschreibliche Harmlosigkeit waltete damals im
Verkehr der Jugend. Man liebte noch die Gesellschaftsspiele, bei
denen Scharfsinn, Witz und Geistesschnelle geübt werden mußten. Auch
Rätselraten war eine beliebte Unterhaltung. Ernst Mohl verfaßte
komische Gedichte in allen möglichen fremdländischen Dichtweisen,
worin meine Tänzer durchgehechelt wurden. Edgar hatte eine frühe
Meisterschaft über Wort und Reim, die wahrhaft verblüffend war und die
ihm immer zu Gebote stand. Er wetteiferte nun mit Ernst in lustigen
Travestien bekannter Dichtungen, worin er auch unser Mütterlein mit
ihrer Garibaldischwärmerei und ihren republikanischen Freundschaften
nicht verschonte. Dazwischen gab es ernste Wortgefechte literarischer
und anderer Art, wobei man jedoch vorsichtig sein mußte, denn der
reizbare Edgar, der alles persönlich nahm, konnte bei solchen Anlässen
plötzlich in Brand geraten. Er pflegte je nach der augenblicklichen
Stimmung Dichter auf den Thron zu heben oder schmählich abzusetzen,
selbst die größten nicht ausgenommen. Da war es denn schwer, nicht zu
widersprechen, und widersprach ich, so prasselte er auf. Bei seiner
Unausgeglichenheit und seinem steten Auf und Ab hätte ihn nur eine
Windfahne befriedigen können, und eine solche hätte er von Grund aus
verachtet. Der ruhige Freund hatte immer zu begütigen und abzulenken.
Dafür wandte sich ein andermal der Groll gegen ihn, wenn er sich z.
B. einfallen ließ, eine Lanze für Platen zu brechen, den wir nicht
leiden konnten und wir anderer Meinung waren. In solchen Fällen schien
dem erregbaren Jünglingsknaben die abweichende Meinung geradezu einen
seelischen oder mindestens einen geistigen Mangel auszudrücken, und
er konnte so wild werden, daß man für die Freundschaft fürchten
mußte. Der große, gewichtige Freund aber hob dann den kleineren,
zarten vom Boden auf, schaukelte ihn auf seinen starken Armen hin und
her oder streichelte ihn mit seiner Riesenfaust die Backe, bis er
das Fauchen aufgab und wieder gut war. Mein Vater kam ab und zu von
seinem Arbeitsstübchen im Giebelstock herunter und warf ein paar Worte
ins Gespräch. Mama saß am liebsten auf einem Schemel, ganz in sich
zusammengerollt wie ein kleines Bündelchen, aus dem die Augen mit einem
fast unmöglichen diamantenartigen Glanze strahlten. Vor Schlafengehen
pflegte sie schnell noch aufzuspringen und die Treppen hinunter in die
Konditorei zu huschen. Von dort brachte sie jedem ein Brottörtchen
mit Schokoladenguß mit. Ja -- und du? hieß es dann. Sie behauptete
jedesmal, das ihrige schon im Laden verzehrt zu haben, aber alle
wußten, daß dem nicht so war! Sie liebte vom Gebäck nur das feinste,
und diese Törtchen waren besonders fein. Deshalb aß sie nie eins,
sondern gönnte sich den Genuß, der für sie ein größerer war, es andere
essen zu sehen.

Mein Latein war unterdessen da liegen geblieben, wo der allzu
gewissenhafte Haierle es gelassen hatte. Nun erbot sich Ernst Mohl als
angehender Philologe, den Unterricht wieder aufzunehmen. Es war auch
eine Eigentümlichkeit jener Tage, daß all die jungen Menschenkinder
sich immer gegenseitig aus Freundschaft unterrichteten. Die Mama
war entzückt von diesem Vorschlag, aber das Töchterlein keineswegs.
Ich bildete mir nämlich ein, daß einzig das Lateinische, das damals
bei Mädchen für eine Unnatur galt, an meinem Mißverhältnis zur
Welt schuldig sei. Zudem war mir das Römervolk mit seiner starren,
nüchternen Vernünftigkeit und seiner grausamen Zweckmäßigkeit
unerfreulich, somit liebte ich auch ihre Sprache nicht, deren schöne
Treffsicherheit und durchsichtige Klarheit ich noch nicht würdigen
konnte. Und gar auf ihre Literatur, die mir lauter Flickwerk schien,
sah ich von der Höhe meines Homer tief herunter. Um dieses Volkes, um
dieser Sprache willen sollte ich mich von Buben mit Steinen werfen
und von den Mädchen verklatschen lassen! Wären es noch die Griechen
gewesen! Die ganze Kinderei meiner jetzt erreichten vierzehn Jahre
kam über mich, und es gab für meine aufgeregte Einbildung keine
Grenzen mehr. Das Latein war der Vampyr, der mir am Leben fraß! Die
Römer hatten nur in der Welt herumgesiegt und Geschichte geschrieben,
damit ich in Tübingen ein unglücklicher Mensch würde! Und der Freund,
der sich mir zugeschworen hatte, gab sich zum Helfershelfer her! Es
war gräßlich. Ich versteckte mich auf dem Speicher bei den großen
Koffern. Dort standen zwei mannshohe Riesensäcke, von Josephine mit
unbenützten Bettstücken und anderem Hausrat vollgepfropft. Hinter
diesen suchte ich Sicherheit, bis die Gefahr vorüber wäre. Aber als
Mama auf der Suche nach mir den Speicher heraufgestürmt kam, da verriet
mich wie weiland den König Enzio ein Schopf, der zwischen den Säcken
hervorglänzte, und ich wurde an den Zöpfen die Treppe hinabgezerrt.
Ich schluchzte und grollte in mich hinein und nahm erst vor der Tür
wieder Haltung an, aber eine ungnädige. Doch der junge Lehrer verstand
es, mir des Tacitus Germania so schmackhaft zu machen, daß ich schon
auf der ersten Seite meinen Unmut fahren ließ. Ich fühlte mich
auch als Deutsche geschmeichelt, daß mir der alte Römer über meine
Vorfahren so viel Verbindliches zu sagen hatte, und fand danach sein
Volk minder abstoßend. Ich übersetzte die ganze Germania, schrieb
sie schön ins Reine und überreichte sie meiner Mutter, die nun wieder
ganz mit mir zufrieden war. Sie berichtete dem alten Freund Bacmeister
in Reutlingen meine Leistung, und dieser verehrte mir in kollegialer
Anerkennung je ein Druckstück seiner eben erschienenen Tacitus- und
Sallustübersetzungen.

Und zur Belohnung führte mich Mama auf den ersten Ball nach Niedernau.
Niedernau! Könnte ich dem Wort nur etwas von dem Zauber einhauchen,
den es in Mädchenohren besaß. Man denke sich ein bescheidenes,
lieblich-ernstes Schwarzwaldtal, von Tannen umstanden, von einem
Bächlein durchflossen; daselbst ein anspruchsloses Kurhaus mit einem
großen Tanzsaal, der an sich kein Schaustück war, der sich aber zur
Sommerzeit an den Nachmittagsstunden der Sonn- und Donnerstage in
ein Stück Jugendparadies verwandelte. Junge Mädchen in den duftigen
Sommerkleidern damaliger Mode aus Mull oder Jakonett, die den
Trägerinnen das Ansehen von Wiesenblumen gaben, Studenten in Couleur,
geduldige Mütter an den Wänden, Geigenschrillen, Tanzgewirbel; niemand
fragte, wie hoch das Thermometer stand. Der Kotillon ging meist in ein
förmliches Rasen aus, denn bei der Überzahl der Herren mußten viele
ohne Tänzerinnen bleiben und hielten sich dann beim Kehraus schadlos.
Jeder Tänzer hing seiner Dame einen Mooskranz um den Arm, und an der
Zahl der Kränze sah man, wie oft sie aus der Tour geholt worden war.
Die heimgeschleppten Kränze hing man dann zu Hause als Trophäen auf.
Kontertänze wurden zuweilen im Freien auf dem Rasen getanzt, was noch
hübscher war, und in der Zwischenzeit gingen die Paare auf den nahen
Waldwegen spazieren. Auf der Heimfahrt schlossen sich einzelne Tänzer
den Familien an, das waren solche, die im Trunk enthaltsam gewesen.
Die anderen vollführten im Eisenbahnwagen ein dämonisches Singen und
Grölen, was zwar nicht sehr rücksichtsvoll gegen die Damen war, aber
doch nicht als gröbliche Verletzung des Anstands aufgefaßt wurde, da
man von der studentischen Jugend an vieles gewöhnt war. Mein erster
Balltag in Niedernau fiel gerade auf Mamas Geburtstag. Als wir am Abend
kränzebeladen und freudensatt -- denn sie genoß meine Jugendfreuden
fast mehr als ich selber -- nach Hause fuhren, holten uns Ernst und
Edgar am Bahnhof ab. Sie hatten zuvor das Haus mit bunten Laternen
behängt und auf dem Geburtstagstisch lustige poetische Gaben eigenen
Erzeugnisses ausgebreitet, in denen die kindliche Seele der Empfängerin
schwelgte. Auch mir wurde ein Heldengedicht im Nibelungenstil
aus Ernsts Feder überreicht, das die ungeheuerlichen Reckentaten
bekannter studentischer Persönlichkeiten für ihre Ballschönen besang,
eine grotesk-heroische Fortsetzung eben genossener Ballfreuden, zum
Nachklang der Geigen in meinem Ohr gestimmt. Noch drolliger war ein
späteres Gedicht in Makamenform, das zwei Angehöriger feindlicher
Korporationen, in die Namen Kampfwart der Schöne und Siegwolf
durchsichtig vermummt, einen fürchterlichen Einzelkampf ausfechten
ließ, wobei der unbezwingliche Siegwolf mit der blauweißroten Schärpe
doch gefällt wurde und der schöne Kampfwart neben der wallenden
schwarzrotgoldenen Fahne als Sieger stand. Alle diese Helden führten
fortan neben ihrem wirklichen noch ein mythisches Dasein, denn der
Verfasser setzte seine Gesänge eine geraume Weile fort.

Die überschwengliche Freundschaft der beiden Jünglinge erstieg
allmählich einen Gipfel, auf dem sie sich nach dem Gesetz des Irdischen
nicht lange halten konnte. Ihre schönsten Stunden verlebten sie noch
auf einer Schwarzwaldreise, zu der sie sich in der nachfolgenden
Sommervakanz zusammenfanden. Der ältere Freund, der jetzt schon
Student war, hatte sich die Mittel dazu ganz insgeheim buchstäblich
am Munde abgespart, sonst wäre die Genehmigung seiner Eltern nicht zu
erlangen gewesen. Sie stiegen zuerst in dem uns befreundeten Hopfschen
Pfarrhaus in Pfalzgrafenweiler ab und wanderten anderen Tags der
Hornisgrinde zu. Bei sinkender Nacht an schwelenden Meilern vorüber,
an deren Glut, die er für Irrlichter hielt, Edgar sich hineinspringend
die Sohlen versengte, gerieten sie todmüde vor eine Waldherberge,
die ganz dem Hexenhaus des Märchens glich. Auf ihr Klopfen zog ein
altes Weib, das einsam dort hauste, nach vielen mißtrauischen Fragen
über ihre Zahl und Körpergröße die Falltür auf und ließ die zwei
jugendlichen Wanderer eintreten. Während sie ihnen beim Schein ihrer
Stallaterne einen herrlichen Pfannkuchen buk, mußten die beiden sich im
Dunkeln behelfen und wurden hernach ohne Umstände in eine unheimliche
Rumpelkammer hinaufgeführt, wo ein großes Bett stand, und dort wieder
im Dunkeln gelassen. Gerade über dem Bett befand sich eine breite
offene Luke, von der man nicht wußte, wohin sie ging: sie konnte
Räubern zum Einlaß dienen. Die Phantasie der beiden war so aufgeregt
von dem sonderbaren Empfang, daß sie mit jeder Möglichkeit rechneten.
Edgar, der unter dem Eindruck des Walthariliedes stand, sagte: Jetzt
sind wir in derselben Lage wie Walther und Hildegund am Wasgenstein.
Wir wollen es machen wie sie und uns in die Nachtwachen teilen,
damit uns kein Feind überrasche. Übernimm du die erste Nachtwache
und wecke mich, wenn es Zeit ist, damit ich die zweite halte. Der
andere versprach’s. Dann umschlangen sie sich kampf- und todbereit und
entschliefen beide auf der Stelle. Als der Morgen mit Vogelgesang und
Tannenduft durchs Fenster sah, erwachten sie ungemordet und rüsteten
sich zum Weitermarsch. Die Hexe labte sie mit köstlicher Milch und
Schwarzbrot. Den Tee, den mein besorgtes Mütterlein ihnen zum Frühstück
mitgegeben hatte, stellte die Alte als Salat zubereitet daneben mit
der verwunderten Bemerkung: Daß ihr schon am frühen Morgen dürres Gras
essen mögt! -- Dann brachen sie auf, erreichten unter großen Strapazen
am anderen Abend Kehl, wo sie nüchtern, wie sie noch vom Morgen her
waren, sich nicht einmal die Zeit ließen, zu rasten und sich zu
stärken, so unaufhaltsam zog sie’s nach Straßburg, der „wunderschönen
Stadt“. Allein beide hatten noch gar nicht gelernt, mit Nutzen zu
reisen, so durchrannten sie nur planlos die Straßen, staunten zum
Münster hinauf, erhielten auf ihr mühsam zusammengeleimtes Französisch
allenthalben zu ihrer Verwunderung deutsche Antworten und trugen von
dem kurzen Besuche nichts davon als das Bedauern, diese urdeutsche
Stadt in fremden Händen zu wissen. In der Dunkelheit kehrten sie über
die lange Rheinbrücke, die jetzt endlos schien, nach Kehl zurück;
der Rheinstrom rauschte dumpf, die Müdigkeit wurde entnervend, jeder
Begegnende, dessen Schritte ihnen im Finstern entgegenhallten, schien
Böses im Schilde zu führen, und der zarte Knabe sagte zu dem starken
Freund: Wenn man nicht ein Mann wäre, könnte man sich fürchten.

Auf dem Heimweg machten sie noch in Renchen Halt und erkundigten sich
im Auftrag unseres Vaters, der sich um jene Zeit wieder mit Studien
zum Simplizissimus beschäftigte, auf dem dortigen Friedhof nach dem
Grabe des Verfassers. Allein der Name Grimmelshausen war dort gänzlich
unbekannt. Sie waren aber trotz der geringen Ausbeute, die sie von
der Reise heimbrachten, doch beide sehr stolz auf die gemachten
Erfahrungen, wenn auch Edgar nach seiner Weise kein Wörtlein davon über
die Lippen brachte und selbst dem Freunde nicht gestattete, alles zu
erzählen. Und unser leichtblütiges Mütterlein sagte befriedigt: Ja,
jetzt habt ihr etwas erlebt, jetzt seid ihr Männer geworden.

Aber gerade auf dieser Reise war den Freunden doch die große innere
Verschiedenheit ihrer Naturen aufgegangen, und Edgar mit seinen oft
aus höchstem Seelenschwung entspringenden Eigenheiten hatte es
dem anderen nicht leicht gemacht. Ernst kleidete aus Hildrizhausen
seine Beschwerden in einen humoristischen Brief, der alle einzelnen
Vorkommnisse der Reise aufzählte und große Heiterkeit erregte. Auch
Freund Hopf, der bald danach aus seinem Pfalzgrafenweiler herüberkam,
half über die Reiseabenteuer lachen. An diesen Besuch knüpft sich
noch eine niedliche Erinnerung. Wir saßen dem Gaste zu Ehren alle bei
einer Flasche Wein in des Vaters Studierzimmer beisammen, was selten
geschah. Da erhob Edgar sein Glas gegen mich und sagte: Tibi, Illo!
-- Was, illo? rief Hopf strafend. Es kann nicht illo heißen, du bist
mir ein sauberer Lateiner. Der treffliche Mann war ein großer Freund
der Jugend, aber bei seiner ausgesprochen pädagogischen Anlage neigte
er sehr zum Bessern und zum Belehren. Dafür hatte ihm Edgar nun eine
kleine Falle gestellt. Der Vater blickte erwartungsvoll auf den Sohn,
dessen Latinität außer allem Zweifel stand. Illo ist kein Latein, sagte
dieser schmunzelnd. So nannte sich meine Schwester, als sie klein war
und ihren Namen noch nicht aussprechen konnte, und bei mir heißt sie
noch heute so. Es war der kindliche Kosename, den er mir gab, wenn er
gut aufgelegt war.

Die einseitige Leidenschaftlichkeit seines Wesens trieb es jetzt
in dem Freundschaftsbund, der sein Glück gewesen war, allmählich
zur Katastrophe. Mißverständnisse, störende Einmischungen Dritter
hatten schon den ersten Glanz getrübt. Er verstand es niemals,
sich seiner Freunde „schonend zu erfreuen“, denn er verlangte eine
Ausschließlichkeit und ein Ineinanderfließen, die nicht von dieser Welt
sind. Wenn das Bild, das er sich von dem andern machte, irgendwo mit
der Wirklichkeit nicht stimmen wollte, so zerriß es ihm das Herz. Bald
fand er sich in dem Freunde nicht mehr zurecht, der sich Menschen und
Dingen anpaßte, wie sie ihm in den Wurf kamen, und das Leben von der
guten Seite nahm. Nun kamen immer mehr Schmerzen und Enttäuschungen.
Ernst ließ sich beikommen, mit zwei älteren norddeutschen Studenten zu
verkehren, bei denen er in der Stammesverschiedenheit seinen geistigen
Gesichtskreis zu erweitern hoffte. Ob nun Eifersucht im Spiele war oder
Edgar gerade jene Persönlichkeiten des Freundes nicht würdig hielt, er
fühlte sich verletzt und forderte, daß Ernst den neuen Umgang aufgebe.
Das konnte dieser nicht gewähren und suchte sich durch gütliches
Zureden und ausweichenden Scherz aus der Klemme zu ziehen. Aber er
machte dadurch das Übel ärger, denn bei Edgar war es bitterer Ernst. Er
kam noch einmal auf sein Zimmer und ersuchte den Freund nachdrücklich,
zwischen ihm und jenen zu wählen. Als dieser erklärte, daß er nicht
wählen könne und wolle, antwortete er verzweiflungsvoll: Dann _hast_ du
gewählt! und ging mit einem vernichtenden Blick aus dem Zimmer.

Es war eine furchtbare Krisis in seinem Jünglingsleben. Obwohl völlig
im Unrecht, glaubte er doch ganz und gar im Rechte zu sein, weil
er sich der größeren Stärke seines Gefühls bewußt war. Der andere
sah nicht, was in dieser tiefernsten, immer aufs höchste gespannten
Seele vorging. Wir aber, die ihn besser kannten, verstanden es und
fürchteten für sein Gleichgewicht. In seinen ekstatisch blickenden und
doch so willensfesten Augen lag damals etwas Wertherisches. Es war
jene kritische Übergangszeit im Leben des begabten Jünglings, bevor
Frauenliebe ihn auf den Erdboden zurückholt. Mama hatte entdeckt, daß
er in einem verschlossenen Kästchen unter allerlei Heiligtümern ein
Fläschchen Morphium bewahrte, über das sie sich heftig ängstigte.
Es diente wohl nur zur Prüfung des Selbsterhaltungstriebs wie jener
Dolch, mit dem Goethe spielte. Ich weiß nicht mehr, auf welche Weise
es mir gelang, den Schrein heimlich zu öffnen; ich goß das Fläschchen
aus und füllte es mit einer ganz gleichgefärbten, aber unschuldigen
Flüssigkeit. Er merkte nichts und hat nie von dem Tausch erfahren. Die
Erschütterung ging auch bald vorüber, aber sie hatte auf sein ganzes
Leben eine Nachwirkung. Er verschloß fortan das Zärtlichkeitsbedürfnis,
dessen er sich schämte, in tiefster Brust und wurde in der Form so
schroff und herb, daß auch seine Angehörigen den Weg nicht mehr so
recht zu seinem Innern fanden. Er wollte fortan keinen Herzensfreund
mehr. Als er dann selber Student wurde, suchte er sich nur solche
Gefährten aus, unter denen er unbedingt herrschen konnte. Und er wählte
seinen Umgang nicht ohne eine gewisse Absicht so, daß es den ehemals
Geliebten verletzen mußte, weil dieser sich sagen durfte, daß er selber
mehr geboten hatte. Und nicht einmal in reifen Mannesjahren fanden sie
mehr den Weg zueinander, obschon sie beiderseits den Versuch einer
Wiederannäherung unternahmen und keiner dafür das Opfer einer weiten
Reise scheute. Die Zeit macht keine Mißverständnisse des Herzens gut;
sie häuft nur Massen darüber auf und verschüttet mit dem Groll auch die
Liebe.

Ich war es, die am meisten von Edgars Anlage zu leiden hatte, seitdem
der Freund nicht mehr als Blitzableiter dazwischen stand. Er verlangte
jetzt unter anderm plötzlich, daß ich nicht mehr tanze, weil der
Gedanke, daß der erste beste mit einer Verbeugung an seine Schwester
herantreten und mit ihr herumwirbeln könne, ihm unerträglich sei. Daß
ich die Sache nicht mit seinen Augen sehen wollte, schmerzte ihn tief,
und nun schrieb er eine Flugschrift gegen das Tanzen, die er drucken
ließ. Als er uns einmal in Niedernau abholen sollte, riß er mir beim
Heraustreten aus dem Ballsaal die Kränze vom Arm und warf sie vom
Brücklein in den Waldbach. Dabei standen ihm die Tränen in den Augen,
daß er mir trotz meines Unmuts leid tat. Aber ich konnte es nicht
hindern, daß wir uns innerlich voneinander entfernten. Ohne daß ich es
wußte und wollte, wurde er, der bisher stets die Hauptperson gewesen,
jetzt durch mich an die zweite Stelle gedrängt. Ich war mit vierzehn
Jahren nahezu ausgewachsen und wurde auch von den reiferen Männern
unseres Kreises für voll genommen, während er als fünfzehnjähriger
Gymnasiast noch kaum beachtet daneben stand. Das alles floß dem
Leichtverletzten zu einem unbestimmten Gefühl von Kränkung zusammen,
und er ging neben der Schwester, die sich ihm halb entwand und ihm
halb von den andern entzogen wurde, mit einer starken, aber heimlich
zürnenden Liebe her, deren Äußerungen alles eher als wohltuend waren.

Sein schmerzlicher Bruch mit Mohl wurde äußerlich durch die Familie
verkittet. Wenn dieser, nun gleichfalls im Herzen vereinsamt, Mama oder
mich am Fenster stehen sah, so zog es ihn, wie schroff er von Edgar
abgestoßen war, unausweichlich den alten Weg. Auch unsere Lateinstunden
gingen weiter. Wir lasen jetzt zusammen den Sallust, wobei ich mich
für die trotzige Verbrechergestalt des Catilina lebhaft erwärmte.
Das freute Edgar, der die gleiche Vorliebe hatte, und so fühlten wir
endlich wieder einmal unsere innere Ähnlichkeit. Wenn aber Lili in
Tübingen auftauchte, so vergaß ich Catilina und das ganze Römervolk
nebst seiner Grammatik und hatte wieder für nichts Sinn als für Tand
und Bälle und Studentenwesen. Einmal hatte sie mir einen allerliebsten
weißen Tarlatanhut mit schwarzen Samtbändchen mitgebracht, wie sie
selber einen trug. Dergleichen war aber in Tübingen noch nicht gesehen
worden und das Hütchen erweckte auf meinem Kopf wieder einen sittlichen
Unwillen. Als wir nun eines Tages mit unseren Tarlatanhüten und den
schwesterlich gleichen grün und weiß gestreiften Waschkleidchen
zusammen ausgingen und uns dabei sehr niedlich vorkamen, brach eine
Rotte Schuljungen, die eben den Schulberg herabkamen, heulend und
Steine werfend auf uns ein, daß wir die Pfleggasse hinauf uns in einen
Bäckerladen flüchteten, der schnell geschlossen werden mußte. Die
Gassenjugend bombardierte die Tür mit wütenden Steinwürfen, und wir
wurden wohl eine Viertelstunde lang von der wohlwollenden Bäckersfrau
in den hintersten Räumen versteckt gehalten, ehe wir uns wieder
hinaustrauen durften. Von da an gingen wir nur noch unter männlichem
Schutz in unseren Tarlatanhütchen aus, bis die Töchter Philistäas
anfingen, sie nachzumachen und die Mode sich verbreitete.

Auch Hedwig Wilhelmi wetterleuchtete wieder durch mein Leben. Sie
entzückte als maître de plaisir, indem sie Ausflüge und andere
Lustbarkeiten veranstaltete, wobei sie selber auch auf ihre Rechnung
kam, denn während die Jugend tanzte und tollte, gesellten sich die
älteren Studenten zu der reifen, fesselnden Frau, um mit ihr zu
rauchen und sich im Wortgefecht, das ihr Bedürfnis war, zu üben.
Es ging nach damaligem Brauch bei solchen Ausflügen sehr genügsam
zu: eine Sauermilch oder ein Glas Bier, bei Tanzvergnügungen ein
Stück Kuchen war alles, was man sich leistete; die Wirtshäuser waren
auf mehr kaum eingerichtet. Dann setzte man sich auf dem Heimweg
Glühwürmchen ins Haar, und mit dieser phantastisch leuchtenden Krone
wanderte man singend durch den Wald nach Hause. Die wilden jüngeren
Brüder betrugen sich, wenn sie dabei sein durften, tadellos. Nur
daß Erwin gelegentlich gegen eine verbotene Zigarre irgendeinem
aufschlußbedürftigen Studenten unser geheimgehaltenes Ausflugsziel
verriet, daher wir nie begriffen, weshalb gewisse Gesichter so häufig
da auftauchten, wo man sich ihrer nicht versehen konnte. Alfred, noch
immer unversöhnt mit dem weiblichen Geschlecht, mochte sich’s doch
nicht ganz versagen, dabei zu sein. Er folgte meist auf zwanzig Schritt
Entfernung durch die Straßen, und war so gezwungen alles einzusammeln,
was Philistäa gegen die beiden Tarlatanhüte, gegen Hedwigs Zigarre oder
Mamas nachlässigen Anzug einzuwenden hatten. Das warf er uns dann alles
beim Nachhausekommen mit triumphierendem Ingrimm an den Kopf.

Späterhin brachte Hedwig ihre Berta mit, die eine richtige südliche
Schönheit zu werden versprach. Die Kleine, die seit den Windeln
an gesellschaftliches Leben gewöhnt und an Weltkenntnis uns allen
überlegen war, bildete mit Lili und mir ein unzertrennliches Kleeblatt.
Sie weihte uns in die Regeln des Stiergefechts ein, und mir brachte
sie einmal nebst anderen Erzeugnissen Spaniens einen wunderbaren
grünseidenen Fächer mit, auf dessen Elfenbeinstäbchen die Bildnisse der
berühmtesten Stierkämpfer gemalt waren. Sie nannte alle mit Namen und
erzählte von ihren galanten Beziehungen zu der vornehmen Damenwelt von
Madrid und Granada. Wir drei Mädchen schlossen uns im Zimmer ein, um
mit Kastagnetten Fandango zu tanzen, und die Brüder hatten das Zusehen
-- aber nur durchs Schlüsselloch!

                                   *

Während die Ausbildung der Brüder völlig planmäßig vor sich ging,
wurde die meinige durch jeden Luftzug dahin oder dorthin geweht. Im
Gasthof zur Traube wohnte damals eine russische Dame, Frau Danjewsky
aus Kiew, die sich ihrer beiden Söhne wegen in der Universitätsstadt
aufhielt. Sie sah mich eines Tages über die Straße gehen, fand, daß
ich auffallend ihrem im gleichen Alter verstorbenen Töchterchen
gliche, und ließ mir sagen, daß sie mich gern kennen möchte. Und
wenn sie mich ein wenig im Russischen unterrichten dürfte, so wäre
ihr das eine besondere Freude, weil sie sich vorstellen könnte, ihre
Tochter sei wieder da. Ich mußte jede Gelegenheit, etwas lernen zu
können, als einen Glücksfall wahrnehmen, weil ja doch alle höheren
Bildungsstätten der Frau mit eisernen Riegeln versperrt waren; so
stellte ich mich erwartungsvoll und etwas beklommen von dieser Neuheit
im Gasthof ein. Ich fand eine ernste Frau in mittleren Jahren, die
mich sehr herzlich mit einem Veilchenstrauß begrüßte und die nun für
die nächste Zeit mein hauptsächlichster Umgang wurde. Sie brachte mir
zuerst die Buchstaben bei, die sich um vieles leichter erwiesen als
sie aussahen, und gleichzeitig ließ sie mich schon einen Kindervers
von Mischka, dem Bären, aufsagen, um meine Zunge an die Aussprache
zu gewöhnen. Dann tauchten wir, umqualmt vom Rauch ihrer Zigaretten,
in die unergründlichen Tiefen der russischen Grammatik, und als hier
nur die ersten Schwierigkeiten überwunden waren, ging sie schon dazu
über, mit mir ihren vielgeliebten Puschkin zu lesen, den sie für einen
ganz großen Unsterblichen hielt. Ich hütete mich ihr zu sagen, daß
mir die breit hinrollenden Verse etwas leer erschienen, und tat ihr
den Gefallen, die ganzen berühmten Eingangsstrophen zum „Kupfernen
Reiter“, bei denen das Russenherz höher schlägt, auswendig zu lernen.
Besonderes Vergnügen aber machte es ihr, daß ich mich gleich mit
meinem winzigen Wortschatz in die Unterhaltung wagte, wenn um mich her
russisch gesprochen wurde. Die arme Frau hatte viel häuslichen Kummer:
ihr älterer Sohn Wsjewolod, Wolodja genannt, befand sich zurzeit in der
Irrenanstalt von Kennenburg; der jüngere, Sergius oder Serjoscha, der
das Obergymnasium besuchte, ein frühreifes Großstadtkind, schien ihr
auch keine große Freude machen zu wollen. Der Unterricht, den sie mir
gab, gewährte ihr selber eine wohltätige Ablenkung. Sie befreundete
sich warm mit meiner Mutter und zog auch mehrere ihrer studierenden
Landsleute in unser Haus. Als sie Tübingen verließ, legte sie meinen
Unterricht in die Hände eines älteren baltischen Studenten, der mit
mir den russischen Geschichtschreiber Karamsin vornahm und mich damit
in die Urgeschichte Rußlands, beginnend bei den Warägern, einführte.
Scheidend trat er sein Amt einem des Sanskrit beflissenen Georgier aus
Tiflis ab, der unter der akademischen Jugend ein besonderes Ansehen
als Wagenlenker und Rossebändiger genoß, weil er als kleiner Junge
nach dem Brauch seines Landes halbe Nächte auf dem Rücken der Pferde
geschlafen hatte. Dieser Sohn der Wildnis mit dem blauschwarzen
Haar und dem asiatischen Lächeln wurde nun mein dritter Lehrer im
Russischen. Als auch er abreiste, trat er seine Stelle einem anderen
Georgier ab, der nur kurz geblieben sein muß, da mir sein Bild nicht
in der Erinnerung haftet. Nach dem Abgang dieses letzten war ich
glücklich so weit, mir selbst forthelfen zu können. Ich führte mit den
geschiedenen Freunden noch längere Zeit einen russischen Briefwechsel,
wobei ich ebenso unbedenklich wie im Sprechen und zunächst noch ohne
Hilfe eines Wörterbuchs (ein solches gestatteten mir meine Mittel
erst später) meine Sätze baute -- häufig zur großen Heiterkeit der
Empfänger. So hatte eine ganze Reihe von Menschen, um die ich nicht
das geringste Verdienst besaß, mir freiwillig ihre Zeit geopfert, um
mir zur Kenntnis einer Sprache zu verhelfen, die ich zunächst nur
zum Spiele trieb, die mir aber bald zugute kommen sollte, da ich mit
Übersetzungen aus dem Russischen ein Neuland anbrechen konnte. Dafür
blieben die russischen Studenten in unserem Hause gern gesehen, sie
hatten eine gewandte Art, sich anzupassen, und brachten etwas von der
Weite der Steppe und des Meeres mit. Daß sie sich auf Schritt und Tritt
von wirklichen oder angeblichen russischen Spitzeln verfolgt sahen
und daß sie, obwohl politisch völlig harmlos, doch der Angeberei sich
durch Geldopfer entziehen mußten, gab uns auch gleich ein Schmäcklein
von den russischen Zuständen. Einige Jahre später konnte ich dann
die russischen Studien noch einmal in einem mir befreundeten Hause
aufnehmen, wo das Familienhaupt, Direktor Dorn, der mit den Seinen
lange in Rußland gelebt hatte, mich und seine liebenswürdige Tochter
Elise, von uns das Dornröschen genannt, im Russischen übte.



Ein französischer Revolutionär.

Jugendeseleien.


Zu Ende der sechziger Jahre verkehrte bei uns ein Franzose, Dr.
Edouard Vaillant, der als späterer Minister der Kommune bestimmt
war, in der Geschichte seines Vaterlandes eine Rolle zu spielen. Daß
ich diesen Mann kannte, hat mir den Geist der großen französischen
Revolution näher gebracht als alle Geschichtsstudien: der starre
doktrinäre Robespierre und der tiefglühende, unheimliche Saint-Just
schienen in seiner Person beisammen, aber in veredelter Ausgabe.
1867 war er zum erstenmal nach Tübingen gekommen, um seine in Paris
betriebenen medizinischen Studien, denen technische vorangegangen
waren, zu vervollständigen, und hatte sich mit einer Empfehlung Ludwig
Pfaus, der ihn von Paris her kannte, bei uns eingeführt. Er war
damals siebenundzwanzig Jahre alt und hatte bereits promoviert. Schon
Vaillants Äußeres bezeichnete den ganzen Menschen: mittelgroße, hagere
Gestalt, bleiches Gesicht mit buschigem, schwarzem Haar, Züge, die
bis zur Verzerrung unharmonisch waren, und dunkle, flackernde Augen,
in denen der Fanatismus brannte. Im Betragen jedoch gewinnend durch
Bescheidenheit, feine Erziehung und persönliches Wohlwollen. Keine
Spur von gallischer Eitelkeit, aber auch nichts von der vielgerühmten
Grazie seiner Landsleute. Das Sprechen leidenschaftlich, aber abstrakt
und farblos. Ich ging ja noch in Kinderschuhen, als Vaillant unser Haus
zum erstenmal betrat, aber auch für Kinderaugen war diese Erscheinung
völlig durchsichtig, und ich glaube nicht, daß sein späteres Leben
an dem Bild, das ich von ihm bewahre, viel geändert hat. Aus dem
Städtchen Vierzon im Departement Cher gebürtig und selber jener
besitzenden Bourgeoisie, die er so sehr haßte, entstammend, widmete
Vaillant von früher Jugend seine Kräfte und Mittel der Sache des
Proletariats. Er gehörte der Blanquistischen Richtung an und hatte
schon im Jahre 1864 in London die erste Internationale mitbegründen
helfen. Vom Staatssozialismus, der nach Reformen strebt, wollte er
nichts wissen; sein A und O war der soziale Umsturz. Die Revolution
von 1793 hatte nach ihm ihr Werk nur halb getan: Sie sollte durch
das Proletariat erneuert und mit Niederhaltung der bevorrechteten
Klassen zum republikanischen Sozialstaat durchgeführt werden. Der
Proletarier war für ihn der einzig wahre Mensch; ich besitze noch ein
Jugendbild von ihm, worauf er selbst in der Arbeiterbluse dargestellt
ist. Auch die ausgebreiteten Kenntnisse, die er sich erwarb -- er
trieb neben seinem Fach auch deutsche Philosophie, besonders Hegel,
und sozialwirtschaftliche Studien --, hatten vor allem den Zweck, der
Partei zu dienen.

Meine Mutter nahm bei ihrer Hinneigung zu französischem Wesen und
ihrem feurigen Glauben an die drei magischen Formeln der Revolution
den stillen, ernsten Vaillant mit großer Herzlichkeit auf, und dieser
verbrachte manche Stunde in unserem Hause. Zumeist in Gesellschaft
seines Gesinnungs- und Studiengenossen, des geistig strebsamen,
charaktervollen Artur Mülberger, der zum eisernen Bestand unseres
kleinen Kreises mitgehörte. Es war ein äußerlich und innerlich sehr
ungleiches Freundespaar. Dem blonden, seelenruhigen Schwaben war der
Sozialismus eine wissenschaftliche Aufgabe, der heißblütige Franzose,
zu jedem Äußersten bereit, wartete nur auf den Augenblick zur Tat. Mein
Vater, dem sein Amt und die literarische Arbeit ohnehin wenig Zeit
für Geselligkeit ließen, schätzte in dem französischen Hausfreund
die Reinheit und geradezu katonische Ehrenhaftigkeit des Charakters,
aber innere Berührungspunkte hatte er keine mit ihm. Denn es gebrach
Vaillant bei völliger Abwesenheit der Phantasie an jeder Spur einer
künstlerischen Ader, die Welt des Schönen war ihm verschlossen, er sah
alle Dinge durch die Brille seiner radikalen Dogmatik an. Überhaupt
hing ein Schleier zwischen ihm und dem Leben. Einmal begegnete er
auf der Straße meinem Vater, als dieser gerade zu seinem herzkranken
Jüngsten heimging, und schüttelte ihm erfreut die Hand mit der
Mitteilung, daß er unmittelbar von einem Pockenkranken komme...

Für Deutschland hegte Vaillant damals eine Bewunderung ähnlich der
des Tacitus für unsere Voreltern. Die Einfachheit des äußeren Lebens
hatte es dem Bedürfnislosen angetan. Daß die Geselligkeit sich zumeist
in der freien Natur abspielte, gab ihm einen Schmack Rousseauscher
Ursprünglichkeit. Aber Jugendfreuden kannte er nicht. Auch auf den
Ausflügen blieb er immer ernst und gemessen. Er philosophierte mit
meiner Mutter oder spielte aus Gefälligkeit mit meinen jüngeren
Brüdern, doch er lachte nie. Einmal traf ihn bei solcher Gelegenheit
im Schwarzwaldbad Imnau der Balken einer Drehschaukel so schwer an
die Stirn, daß er ohnmächtig wurde und mit vielen Nadeln genäht
werden mußte. Da war der Röteste aller Jakobiner voller Zartheit nur
bemüht, meiner Mutter und mir den Anblick der Wunde zu entziehen. Ganz
besonders sagte ihm der freie und unschuldige Verkehr der Geschlechter
zu. Daß ein junges Mädchen ohne schützende Korridortür in einem
Hause wohnen konnte, dessen Unterstock ein die halbe Nacht hindurch
belebtes Studentencafé war, setzte ihn in das größte Erstaunen. Er
sprach mit bitterem Schmerz von der sittlichen Verkommenheit des
Empire, und auch über die Rasseeigenschaften seiner Landsleute äußerte
er sich ganz unumwunden. Ich erinnere mich, wie er einmal von ihrer
sinnlich-grausamen Anlage sagte, der Gallier habe statt des Blutes
Vitriol in den Adern.

Die große Verehrung, die er für meine Eltern empfand, gab ihm sogar
den Wunsch ein, sich der Familie noch näher zu verbinden, denn er
übertrug mit der Zeit sein Freundschaftsgefühl für die Mutter auch
auf die heranwachsende Tochter. Aber dem Kinde war seine düstere
Einseitigkeit zu fremd und unheimlich, auch hatte er bei aller Vorliebe
für das deutsche Leben nicht begriffen, daß in Deutschland der Weg
ins Herz der Tochter nicht über die Eltern geht. Seine humorlose
Überzeugungstreue, die ganz barocke Formen annehmen konnte, gab steten
Anlaß zu einem kleinen scherzhaften Kriege. So erheiterte er mich
einmal durch den Rat, nicht auf dem Pferd, sondern lieber auf dem Esel
zu reiten, weil das Pferd das Aristokratentier sei. Aber er hielt es
meiner Jugend zugute, daß ich für seine Theorien nicht zu gewinnen
war, und versicherte, ich sei dennoch très révolutionnaire, weil er
sah, wie mich das Spießbürgertum meiner freien Erziehung wegen aufs
Korn genommen hatte. Révolutionnaire war in seinem Munde das höchste
Lob. Er hetzte das arme Wort zu Tode, indem er es auf alle möglichen
und unmöglichen Dinge anwandte, daher wurde es für uns Jüngere ein
Neckwort, und sein Ringen mit der deutschen Sprache nannte ich la
grammaire révolutionnaire. Er beherrschte das Deutsche vollkommen, nur
Artikel und Aussprache blieben ihm unerringbar. Meinen so leichten
Vornamen lernte er niemals sprechen, sondern nannte mich immer auf
altfranzösisch: Mademoiselle Yseult.

Im folgenden Jahre kam auch seine Mutter nach Tübingen und schloß einen
Freundschaftsbund mit der meinigen trotz der Grundverschiedenheit
der Lebensauffassungen, die beiden nicht ins Bewußtsein trat. Die
treffliche Dame wurzelte mit all ihren Neigungen und Gewohnheiten in
dem wohlhabenden Bourgeoistum, dem der Sohn den Untergang geschworen
hatte. Aber aus vergötternder Mutterliebe zwang sie sich so zu
denken wie er dachte und alles zu bewundern, was ihm gefiel. Auch
dem einfachen Tübinger Leben suchte die an alle Verfeinerungen
gewöhnte Frau Geschmack abzugewinnen, so fern ihrem wahren Wesen die
Rousseauschen Ideale standen. Mir brachte sie die größte Herzlichkeit
entgegen und wollte mich gleich ganz unter ihre Fittiche nehmen. Bei
der Abreise drang sie in meine Eltern, mich ihr zur Ausbildung nach
Frankreich mitzugeben. Mein Vater sprach aber ein ganz entschiedenes
Nein, weil ich mit meinen vierzehn Jahren viel zu jung sei, um in so
fremde Verhältnisse einzutreten. Meine Mutter vertröstete sie auf ein
späteres Jahr. Und während der Sohn sich mit Mülberger nach Wien begab
um weiter zu studieren, wurde der Verkehr durch den Briefwechsel der
beiden Mütter aufrechterhalten.

Im Spätjahr 1869 kam Vaillant zum zweitenmal nach Tübingen. Er war
voller Hoffnung auf das Netz der revolutionären Propaganda, das
ganz Frankreich durchzog, und prophezeite den nahen Umsturz. Damals
gab es in Württemberg noch keine eigentliche Arbeiterbewegung,
aber der Sozialismus lag doch schon in der Luft. Ein kleiner Kreis
von Studierenden schloß sich um Vaillant zusammen; man hielt den
„Volksstaat“, wollte die soziale Frage lösen und sang in den
feuchteren Abendstunden die Marseillaise oder den Girondistenchor. Es
dauerte bei den meisten nicht lange, denn die deutsche Sozialdemokratie
hatte damals noch nicht so viel Geist, Talent und Bildung in sich
aufgesogen, daß es feineren oder vielseitigeren Naturen leicht auf
die Dauer dabei wohl sein konnte. Aber einen mittelbaren Einfluß auf
die spätere Gestaltung der Partei hat Vaillants Tübinger Aufenthalt
doch ausgeübt, da infolge persönlicher Beziehungen, die letzten Endes
auf ihn zurückgehen, Albert Dulk der Vorkämpfer der sozialistischen
Gedanken in Württemberg wurde. Seine Tochter Anna lernte nämlich in
dem Tübinger Kreise einen jungen österreichischen Sozialisten aus dem
besseren Arbeiterstand kennen, der in den Wiener Hochverratsprozeß
von Oberwinder und Genossen verwickelt gewesen, und verlobte sich
heimlich mit ihm. Ich kann sie noch sehen, wie sie eines Tages mit
ihren wallenden Locken und schwärmerischen Blauaugen vor mich trat,
in jeder Hand eine brennende Kerze, vielleicht um mich besser zu
erleuchten, und mir ihres Herzens Will’ und Meinung kundtat. Sie
begann auch alsbald mit ihrer höheren Bildung an dem jungen Mann zu
modeln und zu schleifen und hatte das bewegliche Wiener Blut schnell
so weit, daß sie ihn ihrem Vater zuführen konnte. Dieser sträubte
sich gewaltig, sowohl gegen die Heirat wie gegen die Partei, aber der
künftige Schwiegersohn überschüttete ihn mit sozialistischer Literatur,
und unter ihren endlosen Redekämpfen ereignete sich der seltsame
Fall, daß die beiden Streiter sich gegenseitig bekehrten: der junge
mäßigte seine Anschauungen und zog sich mehr von der Bewegung zurück,
der alte trat ihr mit dem ganzen Feuer seiner Natur bei und wurde der
Paulus der neuen Gemeinde, der er bis an sein Lebensende durch alle
Nöte, Anfechtungen und Verfolgungen treu blieb. An einer Blockhütte im
Schurwald bei Eßlingen, wo er in seinen letzten Lebensjahren wochenlang
tiefeinsam zu hausen pflegte, hat ihm die dankbare Partei sein Denkmal
errichtet.

In dem kleinen Tübinger Kreise wurden jetzt an Stelle der bisherigen
humanistischen Fragen mit Leidenschaft die Schriften von Proudhon,
Marx, Lasalle und Bebel erörtert. Als es einmal bei einer solchen
Sitzung ganz besonders jakobinisch zuging, fragte ich: Werden in dem
neuen Sozialstaat auch Frauen hingerichtet, wenn sie anderer Meinung
sind? Worauf die deutsche Jugend einstimmig antwortete: Die Frauen
werden stets verehrt, sie mögen denken, wie sie wollen. Vaillant
dagegen erklärte mit unerschütterlichem Ernst: Freilich müssen Frauen
hingerichtet werden; sie sind von allen Gegnern die gefährlichsten, --
was die mitanwesende Hedwig Wilhelmi zu stürmischem Beifall hinriß,
weil er unser Geschlecht doch höher zu stellen scheine als die andern.
Man fühlte ihm an, daß er imstande war, blutigen Ernst zu machen.

-- -- -- Inzwischen wurde trotz der Weltkatastrophe, die ich täglich
mit Feuerzungen ankündigen hörte, weiter getanzt und Schlittschuh
gelaufen und das Recht der Jugend auf Gedankenlosigkeit ausgenützt.
Den Ballstaat sandte Lili oder vielmehr ihre Mutter fix und fertig aus
dem geschmackvolleren Mainz. Da kamen in großen Pappschachteln Dinge,
die in Tübingen nicht zu haben waren: ein rosa Tarlatankleid von solch
hauchartiger Leichtigkeit, daß erst sechs Spinnwebröcke übereinander
den gewünschten Farbenton ergaben, der davon die durchsichtigste
Zartheit erhielt; dazu ein voller Rosenkranz für die Haare. Ein
andermal war es ein Kleid aus weißen Tarlatanwolken mit schmalem grünem
Atlasband durchzogen nebst einem Schilfzweig und Wasserrosen. Diese
Herrlichkeiten konnten nur eine Nacht leben und kosteten so gut wie
gar nichts. An den Ansprüchen des 20. Jahrhunderts gemessen, wären
sie bescheiden bis zur Armseligkeit, sie kleideten aber jugendliche
Gestalten feenhaft, und wenn man am Abend angezogen dastand, lief die
ganze Nachbarschaft zusammen, um das Wunder anzustaunen. Für minder
feierliche Anlässe trug man weiße Mullkleider mit Falbeln oder den so
gern gesehenen blumigen Jakonett, der gleichfalls der Jugend reizend
stand. Der Schnitt war der heutigen Mode sehr ähnlich, indem man den
Umfang der nunmehr verewigten Krinoline durch Weite des Rockes und
Fülle der Falten ersetzte.

Man muß das Leben in einer kleinen Universitätsstadt kennen, um zu
verstehen, unter welchen Himmelszeichen dort ein junges Mädchen
heranwuchs und was solche Festlichkeiten für sie bedeuteten. Keine
Prinzessin kann mehr verwöhnt werden. Tübingen besaß gegen tausend
Studenten, lauter junge Leute in der Lebenszeit, für die das andere
Geschlecht die größte Rolle spielt. Und all die in der kleinen
Stadt zusammengesperrten Jugendgefühle hatten sich auf wenige
Dutzend junger Mädchen zu verteilen, unter denen sich wieder eine
kleine Zahl Auserwählter befand. Diese lebten wie junge Göttinnen
in einem beständigen Gewölke zu ihnen aufsteigender Weihrauchdüfte:
Blumensendungen, Serenaden, geschriebene Huldigungen in Vers und Prosa
bildeten das Semester hindurch eine lange Kette und wiederholten
sich im nächsten von anderer Hand. Es brauchte entweder einen sehr
festen oder einen ganz alltäglichen Kopf, um nicht ein wenig aus dem
Gleichgewicht zu kommen, oder Brüder, die durch ihre Spottlust die
Eitelkeit niederhielten. Neben den wenigen befreundeten Gesichtern,
die man immer gern wiederfand, drängte sich auf jedem Ball ein Haufe
neuer Erscheinungen heran, die oft gar nicht mehr als einzelne, sondern
nur als Zahl wirkten. Die leichten weißen oder rosa Ballschühchen
waren meist schon zertanzt, bevor der Kotillon begann, daß man zu
dem mitgebrachten Ersatzpaar greifen mußte. So berauschend solche
Ballabende waren, darin aufgehen wie andere Mädchen konnte ich nicht.
Ich war ja stets die Jüngste, da meine Jahre mir eigentlich den
Ballbesuch noch gar nicht gestattet hätten. Gleichwohl war immer einer
in mir, der ganz gelassen zusah und die Sache als bloßes Schauspiel
betrachtete. Und mein Vater, der niemals mitging, aber alles richtig
sah, brachte die Gedanken dieses einen in Worte, indem er warnenden
Freunden sagte: Laßt sie, je früher sie die Torheiten mitmacht, je
eher wird sie damit fertig sein. Er behielt recht, denn als ich in das
eigentliche ballfähige Alter trat, lag die ganze süße Jugendeselei
schon hinter mir.

Von irgendeinem Zukunftsplan war keine Rede. Oft wurde ich von
Bekannten gefragt, warum ich nicht zur Bühne ginge, wohin mich äußere
Anlagen zu weisen schienen. Es war dies mein liebster, heimlichster
Traum. Aber alle Hilfsmittel fehlten; ich hatte noch nicht einmal
Gelegenheit gehabt, ein besseres Theater zu sehen als die Tübinger
Sommerschmiere. Und die ängstlichen Abmahnungen welterfahrener
Freunde fielen meinem Vater schwer aufs Herz, der wohl wußte, daß
ich nicht die hürnene Haut besaß, die stichfest macht im Ränkespiel
des Künstlerlebens. Eines Tages fand mich Edgar, wie ich auf den Rat
einer theaterkundigen Freundin bemüht war, mich zunächst im deutlichen
Sprechen zu üben, und da er glaubte, ich gedächte mit so übertriebener
Lautbildung vor die Zuschauer zu treten, überschüttete er mich nach
seiner Art mit Spott und Tadel und war durch keine Erklärung von
seinem Irrtum abzubringen. Unter seinen fortgesetzten Angriffen,
die teils dem besagten Mißverständnis, teils seinen wunderlichen
Launen entsprangen und gegen die mir niemand beistand, verlor ich
allmählich Lust und Mut. So fand ich bei der eigenen Hilflosigkeit
und der zersplitternden Vielspältigkeit unseres Daseins nicht einmal
mehr den rechten Willen, geschweige einen Weg, die ersten Schritte zu
tun. Zwischen Tanz und Eislauf hielten mich die Übersetzungen für
den „Ausländischen Novellenschatz“ beschäftigt, die mir die beiden
Herausgeber, mein Vater und Paul Heyse, anvertraut hatten. Da ich schon
vom zwölften Jahr an für den Druck übersetzte, war meine Feder sehr
geübt, und das Nadelgeld, das daraus floß, entlastete meine Eltern
von allen Sonderausgaben für die Tochter. Als mein Vater sah, daß er
mir auch kleine schonende Kürzungen und Übergänge, die gelegentlich
an den Texten nötig wurden, getrost überlassen konnte, war er sehr
zufrieden mit mir. Durch Heyses Vermittlung erhielt ich nun auch einen
zweibändigen italienischen Roman zum Verdeutschen und Zusammenziehen,
die prächtigen „Erinnerungen eines Achtzigjährigen“ von Ippolito Nievo.
Ich kam aber nur sehr langsam vorwärts, da ich noch lange keinen
eigenen Raum hatte und im gemeinsamen Familienzimmer schreiben mußte,
wo auch die Besuche empfangen wurden und wo ich häufig zwischen dem
Gespräch und der Arbeit geteilt saß. -- Meine größte Schwierigkeit aber
war und blieb das Verhältnis zu der abgöttisch geliebten Mutter. Ihre
damaligen Lebensanschauungen, ganz aus der Theorie geboren, schwebten
ja so hoch über der Erde, daß sie die Bedingungen unseres Planeten
übersahen: sie vertrugen sich weder mit dem natürlichen Gefühl eines
heranreifenden Mädchens noch mit deren Stellung zur Außenwelt. Sie
darauf hinweisen hieß den Zwiespalt verschärfen, denn ihre Kämpferseele
fand, daß man nicht frühe genug für seine Überzeugungen streiten und
leiden könne, und bedachte dabei nicht, daß es ja vielfach gar nicht
die meinigen waren.

So hatte ich glücklich das sechzehnte Jahr erreicht. Aber das große,
außerordentliche, jenes unfaßbare „Es“ wollte nicht kommen. Es blieb
nichts übrig, als in Phantasie und Dichtung nach dem Stoffe zu
suchen, den das eigene Leben nicht zu bieten hatte. Auch für andere
gab es in der Enge des Daseins keine rechte Grenze zwischen Wunsch
und Wirklichkeit. Als mir einmal eine bildhübsche Altersgenossin
geheimnisvoll anvertraute, daß ihr bei der Parade in Stuttgart ihr
Lieblingsdichter Theodor Körner erschienen und ihr zu Pferde bis an die
Haustür gefolgt sei, hütete ich mich wohl zu erwidern, es werde eben
ein Offizier der Garnison dem Sängerhelden ähnlich sehen, sondern ließ
die Sache dahingestellt, da ich ja doch täglich auch auf ein Wunder
wartete. Sollten denn nicht um der Sechzehnjährigen willen, wenn sie
gar so niedlich sind, die Längstverstorbenen aus den Gräbern steigen?
Was mich betrifft, so suchte ich mir meine Schwärmereien natürlich
unter den Griechen. Es war ja das Schöne, daß gar kein Bücherstaub
auf ihren Häuptern lag, weil Mama uns von klein auf gewöhnt hatte,
mit ihnen wie mit Lebendigen zu verkehren. Man ging in ihre Welt, wie
man in ein anderes Stockwerk tritt; so konnte man sie auch nach einer
Ballnacht gleich wieder finden. Mit der Zeitrechnung ließ ich mich
ohnehin nicht ein. Alles Vergangene war mir noch vorhanden und nur wie
zufällig abwesend. Wenn ich des Nachts im Bette noch mit dem Nachhall
der Tanzmusik in den Ohren ein Kapitel im Plutarch las, so war das
keine Literatur, sondern ein Wiedersehen mit alten Freunden. Vor allem
schien es mir, als hätte ich den Alkibiades persönlich gekannt. Denn
je weniger das Auge im damaligen Schwabenland durch Glanz und Grazie
der Persönlichkeit verwöhnt wurde, desto größeren Wert gewannen diese
Eigenschaften. Die Haltung und das Lächeln, womit in Platons Gastmahl
der bändergeschmückte Alkibiades in Begleitung der Flötenspielerin
über die Schwelle tritt, standen mir so deutlich vor Augen, daß ich
Jahre später vor der antiken Gruppe des auf den Ampelos gestützten
Dionysos in den Uffizien zu Florenz beinahe ausgerufen hätte: Das ist
er ja! Genau so angeheitert und mit so genialer Leichtfertigkeit sah
ich den Athener über jene Schwelle treten. Wenn ich nun von dieser
Gestalt sprach, geschah es mit einem Ausdruck allerpersönlichsten
Wohlgefallens, wodurch ich treue Freundesherzen, die mit dem
Alkibiades keine Ähnlichkeit hatten, sehr vor den Kopf stieß. Einer
von ihnen gestand mir noch nach vielen Jahren, daß er eine Zeitlang
bitter eifersüchtig auf den schönen Athener gewesen sei. Der Sinn
für die äußere Erscheinung war in meiner damaligen Umwelt sehr wenig
entwickelt. Über die Schönheit menschlicher Körperformen herrschte die
größte Unsicherheit; es fiel mir später in Italien sehr auf, wie genau
das südliche Volk darüber Bescheid weiß. Auch wurde nur die weibliche
Schönheit bewundert, bei Männern galt sie eher für einen Makel und
nahezu für unvereinbar mit mannhaften Eigenschaften. Vernachlässigung
des eigenen Körpers wurde mit Bewußtsein, wenn nicht gar mit sittlichem
Stolz geübt. Was Wunder, daß ich, die von den Griechen herkam, den
Wert der Schönheit noch übertrieb und Adel der Erscheinung für das
Allerwesentlichste ansah, für das Gefäß und Siegel der Vollkommenheit!



1870.


Wir befanden uns mitten im Sommer 70. In Niedernau wurde eifrig
getanzt. Hedwig Wilhelmi war mit ihrer jetzt zwölfjährigen Berta aus
Granada gekommen und bewohnte ein Haus in der Gartenstraße, verbrachte
aber fast ihre ganze Zeit mit uns. Auch Lili hielt sich unter den
Fittichen ihrer Mutter wieder in Tübingen auf. Sie stand jetzt im
achtzehnten Jahr und ihre Mädchentage waren gezählt, denn dies war
die äußerste Frist, die ihre Mutter ihr gestellt hatte, um ihre Wahl
fürs Leben zu treffen; die selbst noch schöne und begehrte Frau war
im Begriff sich wieder zu verheiraten und wollte zuvor die Tochter
glücklich versorgt wissen. Unter Lilis Verehrern war einer, der sich
schon in ihrem dreizehnten Jahr, als sie mit dem Pelzmützchen und der
wippenden Krinoline zur Schlittschuhbahn ging, in den Kopf gesetzt
hatte, die junge Grazie dereinst heimzuführen. Lili hatte sich
all die Jahre leise gewehrt, weil der Sanften, Willenlosen bei dem
starken Willen und der rücksichtslosen Tatkraft des Freiers etwas
bänglich zumute war, aber dieselben Eigenschaften gaben der Mutter
die Überzeugung, daß er der rechte sei, das Glück ihrer Tochter zu
bauen. So war Lili eines Tages Braut, ohne recht zu wissen, wie,
und die Hand, in die sie diesmal die ihre legte, faßte mit festem
Griffe zu, der nicht mehr losließ. Sie fand sich mit ihrer gelassenen
Liebenswürdigkeit auch in diese neue Lage. Bei der öffentlichen
Verlobung, die in der „Neckarmüllerei“ mit Champagner gefeiert wurde,
bat sie sich aus, noch einmal zwischen ihren zwei Herzensschwestern,
mir und der kleinen Berta, sitzen zu dürfen. Es war ein letztes
Anklammern an die Mädchenzeit, das der Bräutigam verstand und schonte.
Unter der festlichen Laube gab sie mir die letzte Anleitung in der
Lebenskunst. Champagnertrinken gehöre zur Weltbildung, hatte sie mir
öfters zu verstehen gegeben, das sei so recht das Tüpfelchen aufs i.
Ich schämte mich also, noch keinen getrunken zu haben. Aber nach dem
ersten Glas wurden mir zu meiner Verwunderung die Augendeckel schwer,
und als Lili mir zur Auffrischung das zweite eingoß, begannen die
Gegenstände zu verschwimmen. Die kleine Berta war im gleichen Fall,
daher Lili, die zugab, etwas Ähnliches zu empfinden, uns nunmehr eine
Gehprobe anriet. Wir zwei Jüngeren standen auf, die schöne Braut, die
sich den ganzen Tag nicht von uns trennen wollte, schloß sich an und
wir verließen unter dem Widerspruch der Herren das Fest, um vorsichtig
und würdevoll, nur auf unser Gleichgewicht bedacht, einen einsamen
Kiesweg abzuschreiten. Aber zur Fortsetzung des Banketts hatte keine
von den dreien Lust, wir entflatterten also dem Garten und suchten
Hedwigs nahe Wohnung auf, um die unerwartete Wirkung des Champagners zu
verschlafen. Die Mütter sandten uns Edgar zur Begleitung nach, der sich
diebisch freute, die drei Jungfräulein in diesem lasterhaften Zustand
zu sehen. Als er aber auch die Treppe mit ersteigen wollte, wurde er
von drei plötzlich verwandelten Mänaden mit Polstern, Kissen und was
uns in die Hände fiel, beworfen, daß er sich schleunigst zurückzog. Wir
lachten und tollten hinter ihm her, und der Ernst der Verlobungsfeier
dämmerte uns nur noch im fernen Hintergrund. Lili bewahrte auch in
dieser etwas fragwürdigen Verfassung ihre Anmut. Sie setzte sich ans
Klavier und hieß uns beide tanzen, als uns ein jählings aufgestiegenes
Sommergewitter, das wir nicht beachtet hatten, durchs offene Fenster
mit walnußgroßen Eisstücken überfiel. Ich warf noch zur Antwort und
Opferspende ein Trinkglas hinaus; danach aber fanden wir es rätlich,
eine jede einen stillen Schlummerwinkel aufzusuchen.

Der Abend sank bereits, als Lili frisch ausgeschlafen mich aus
den Kissen zog. Die Schöne war schon wieder schön gekämmt und
zurechtgemacht und hatte sich jetzt augenscheinlich mit der Bedeutung
des Tages abgefunden. Sie ordnete auch mir noch einmal die Haare
mit all der Liebe und Sorgfalt, die sie sonst darauf zu verwenden
pflegte. Dann kehrten wir, von den Müttern abgeholt, zu dem Brautfest
zurück, das unterdessen im gedeckten Raume ohne Braut weitergegangen
war. Der Bräutigam nahm endlich sein schönes Eigentum in Empfang und
entführte sie in die dämmernden Gartenwege am Neckar, die schon wieder
aufgetrocknet waren. Das Fest löste sich auf, neue Gäste kamen in die
Neckarmüllerei, die nicht zu den Geladenen gehörten. Wenn ich nicht
irre, war auch der ernste Vaillant darunter. An einem Nebentisch wurde
wieder politisiert. Einer erhob sich und sagte mit Emphase: Meine
Herren, das Jahr achtundvierzig pocht mit ehernem Finger an die Türe --
dabei klopfte er mit dem Fingerknöchel auf die Tischplatte -- ich sage:
das Jahr achtzehnhundertachtundvierzig -- aber an die Tür pochte etwas
völlig andres, denn gleich darauf verbreitete sich die Nachricht von
der Emser Depesche.

Lilis Brauttag beschloß auch für mich den Reigen der Jugendfeste,
in die wie ein Blitzstrahl die Kriegserklärung Frankreichs schlug.
Die männliche Jugend eilte zu den Fahnen. Unser französischer
Hausfreund war genötigt, Deutschland zu verlassen. Frau Wilhelmi
mit ihrem Töchterchen begleitete ihn nach Genf, wo er zunächst noch
weiterstudieren wollte. Auch die Andersdenkenden verfolgten seine
Wege mit Spannung. Vaillant zweifelte keinen Augenblick, daß nunmehr
die Stunden des Empire gezählt seien, denn er rechnete bestimmt auf
eine französische Niederlage. Aber er liebte dieses Frankreich ebenso
glühend, wie er seine Laster haßte, und es war Patriotismus, daß
er den deutschen Waffen den Sieg wünschte, weil sein Vaterland nur
durch schwere Schläge, durch eine harte Erziehung gesunden könne.
Napoleons Abdankung rief ihn auf französischen Boden. Allein die
Republik Gambettas war nicht die seinige. Während der Belagerung von
Paris half er mit Feuereifer die Erhebung vom 18. März vorbereiten und
wurde vom Zentralausschuß in die Kommune gewählt, die an gebildeten
Mitgliedern keinen Überfluß hatte. Von nun an war Vaillants Name
in allen europäischen Zeitungen zu finden. Er wurde zuerst an die
Spitze der inneren Angelegenheiten, dann an die des Unterrichtswesens
berufen. Welche Rolle er in der Kommune gespielt hat, ist aus
den widersprechenden Zeugnissen schwer zu erkennen. Daß er die
Erschießung der Geiseln und andere Gewalttaten guthieß, kann ich bei
seinem Fanatismus kaum bezweifeln. Er setzte mit einem Federstrich
dreiundzwanzig Beamte der Nationalbibliothek ab, mit deren gänzlicher
Neubildung er den ehrwürdigen Gelehrten Elie Reclus betraute; das
ist so ziemlich das einzige, was von seiner Verwaltungstätigkeit
berichtet wird. Seine Parteigenossen warfen ihm vor, daß ihm die
deutsche Philosophie den Tatsachensinn benebelt habe, und ich will
gern glauben, daß der Mann der Theorie sich als Organisator wenig
bewährte, aber Hegel war gewiß unschuldig daran. Übrigens waren die
Vorwürfe gegenseitig, denn er seinerseits nannte bei einer Abstimmung
die Kommune ein Parlament von Schwätzern, das heute zunichte mache,
was es gestern geschaffen. Gleichwohl hielt er es für seine Pflicht,
als einer ihrer Führer bis zum Ende auszuharren, und beim Einzug der
Versailler kämpfte er auf den Barrikaden mit. Als seine Sache verloren
war, gelang es ihm, durch die Einschließungslinie zu entkommen und sich
als Eseltreiber verkleidet über die Pyrenäen auf spanischen Boden zu
retten, von wo er nach England ging. In den Zeitungen hieß es mehrmals,
daß ein falscher Vaillant erschossen worden sei. Es wurde auch wirklich
einer, der ihm ähnlich sah, ergriffen und nach Versailles geschleppt,
aber durch die Dazwischenkunft A. Dumas’, der ihn kannte, gerettet. In
Frankreich war das Märchen verbreitet, die preußischen Truppen hätten
Vaillant freundwillig durchgelassen wegen seiner guten Beziehungen zu
Deutschland.

Die Weltereignisse trieben auch in unser abseits gelegenes Haus ihre
Wellen. Mein Vater war feurig deutsch gesinnt und hatte den Anschluß
an Preußen trotz 66 mit Begeisterung begrüßt; in der Gründung des
Reiches sah er eine lebenslange Sehnsucht erfüllt. Meine Mutter aber
konnte ihre Empfindungsweise nicht umschalten, sie beharrte mit
einseitiger Treue in der revolutionären Dogmatik ihrer Jugend. Mit dem
französischen Geist war sie ja ebenso durch ihre adlige Erziehung wie
durch ihre 48er Vergangenheit verwachsen. Ein Krieg gegen Frankreich,
das sie liebte und von dem sie als erstem die Verwirklichung ihrer
Freiheitsideale erhoffte, schien ihr eine Ungeheuerlichkeit. Niemand
hat gläubiger an dem Lehrsatz festgehalten, daß Frankreich der berufene
Soldat der Freiheit sei. Gegen Preußen bewahrte sie ihren alten Groll
und für Bismarcks Größe war sie ein für allemal unempfindlich. Diese
Dinge mit ihr zu erörtern wäre zwecklos gewesen, mein Vater wußte, daß
sie unbekehrbar war. Ihre tiefe Liebe und seine weise Mäßigung ließen
es zu keinem Zwiespalt kommen, doch über das, was die Allgemeinheit am
stärksten bewegte, konnte zwischen ihnen nicht gesprochen werden.

Edgar befand sich im Alter der höchsten Ideologie und stand unter
Vaillants und Mülbergers Einfluß. Das vaterländische Ideal war ihm
zu eng, er glaubte an die Marxsche Internationale. Der edle Irrtum,
der mit Überspringung der nächsten Stufe ein höheres ferneres
Ziel vorausnehmen und sich auf den vielleicht nach Jahrhunderten
eintretenden Zustand einer entwickelteren Menschheit einstellen
will, ist ja gerade für die deutsche Seele so bezeichnend. Die
Sozialdemokratie sah er nicht wie sie damals war, sondern wie er
hoffte, daß sie werden würde, und umgab sich mit Gestalten, die zu
seiner eigenen vornehm-zarten Persönlichkeit im stärksten Gegensatz
standen. In seiner Großmut verschlug es ihm nichts, daß er sich durch
seinen Anschluß an die Partei der Ausgestoßenen um die schönsten
Möglichkeiten seiner späteren Laufbahn brachte. Denn für die
bürgerlichen Kreise war damals die Sozialdemokratie der leibhaftige
Gottseibeiuns. Das erfuhr einer unserer jungen Freunde, den seine
Mutter, eine fromme Pfarrerswitwe, himmelhoch bat, doch während des
gewittrigen Sommers keinen „Volksstaat“ in der Wohnung aufzustapeln,
damit der Blitz nicht ins Haus schlage.

Bei der politischen Spaltung in der Familie war es gut, daß wenigstens
die Tochter ganz unpolitisch war und, indem sie zu keiner Seite neigte,
verbindend zwischen allen stand. Nur daß Straßburg wieder unser war,
die vom deutschen Volkslied immer festgehaltene Stadt, empfand ich mit
dem Vater als ausgleichende Gerechtigkeit, aber die ungeheure Bedeutung
des endlich geeinigten Vaterlandes ging mir noch nicht auf. Und gar
zu wissen, welches die beste Staatsform sei, konnte ich mir wirklich
nicht anmaßen. Hätten nur die Landsleute sich jetzt zu der höheren
Kulturform bekehren wollen, nach der meine Seele dürstete. Aber dazu
schien keine Hoffnung. Man hörte Stimmen, die zu der Bärenhaut des
Urteutonentums zurückverlangten. Daß die feine Kultur Frankreichs,
für die ich zur Ehrfurcht erzogen war, wenn ich auch nicht begehrte,
Bürgerin dieses Landes zu werden, von solchen geschmäht wurde, die sie
gar nicht kannten, verletzte mein Gefühl. Die „Wacht am Rhein“, von
bierheiseren Bürgerstimmen am sicheren Wirtshaustisch gesungen, war
ein Ohren- und ein Seelenschmerz. Ich konnte also nicht vaterländisch
empfinden. Deutschland stand ja gewaltig und siegreich da und bedurfte
nicht wie heute der Liebe aller seiner Kinder. Die deutsche Kultur
war mir die Welt Goethes, ein heilig gehaltenes, nirgends sichtbares
Ideal, das ich tief im Herzen trug und in die fernsten Fernen mitnehmen
konnte. Sie hatte mit dem, was mich umgab, nichts zu tun, sie bedeutete
höchstes Menschentum, an keine Scholle gebunden. Daher tat die Mutter
meinem Verständnis eine zu große Ehre an, wenn sie mich zuweilen in
der Hitze bismarckisch schalt. Noch weniger freilich hoffte ich für
mein Kulturideal von der Richtung, die Edgar eingeschlagen hatte; so
ging jedes im Hause seinen eigenen Weg. Weil nun aber unsere Mitbürger
sich von Anfang an gewöhnt hatten, alles, was ihnen an unserer
Familie mißliebig war, der Tochter anzukreiden, so wurde ich auch
für die politischen Ansichten von Mutter und Brüdern verantwortlich
gemacht, mit denen ich selber im Widerspruch stand, und es gab damals
in Tübingen erwachsene Leute, die allen Ernstes die Sechzehnjährige
für eine staatsgefährliche kleine Persönlichkeit ansahen, der man
geheimnisvolle politische Umtriebe zutraute. -- Nur einmal, beim
Friedensschluß, schlugen alle Herzen in der Familie zusammen und im
Einklang mit dem Allgemeinen: in der tannengeschmückten Straße durfte
auch ich meine Blumen in den festlichen Einzug der Krieger werfen.



Rigi Regina.


Eines schönen Sommertages wurde mir die beglückende Eröffnung gemacht,
daß ich in der Vakanz mit Edgar, der jetzt ein ganz grünes Studentlein
war, den Rigi besteigen dürfe. Ich war zwar dank meinem Zusammenlernen
mit Lili in der Geographie so schwach geblieben, daß ich nicht einmal
genau wußte, wo dieser Berg zu suchen sei, allein durch die Worte
Rigi Regina, die ich in irgendeinem Gedicht gelesen hatte, war er zu
einem Berg der Wunder geworden. Ich erschrak jedoch bis ins Herz,
als es sich enthüllte, daß mir noch ein anderer Begleiter zugedacht
war, ein reiferer Mann, dessen Werbung um die kaum Erwachsene zwar
dem Mutterstolz schmeichelte, aber bei der Tochter auf entschiedene
Abwehr stieß. Er sollte uns zwei Weltunerfahrenen als Mentor dienen und
dabei die Gelegenheit wahrnehmen, sich von seiner günstigsten Seite zu
zeigen. Ich begriff aber gleich, daß die gemeinsame Schweizerreise nur
als Vorspiel einer längeren, lebenslangen gedacht sei, und war sofort
bereit, unter diesen Bedingungen zu verzichten, so hart es mich ankam,
die schon sehnlich ausgebreiteten Flügel wieder zusammenzufalten. Ein
Sturm brach los, der erste ganz schwere, den ich mit meiner Mutter zu
bestehen hatte, und solche Stürme waren keine Kleinigkeit; aber ich
blieb fest und die Arme mußte mit Schmerzen das ganze Gewebe wieder
aufdröseln. Mich zur Strafe um die Reise zu bringen, vermochte sie
schließlich doch nicht, also ließ sie mich nach ein paar durchweinten
Tagen allein mit dem Bruder in die mit doppelt freudigem Aufatmen
begrüßte Freiheit ziehen. Daß ich mir das Reisegeld durch meine
Übersetzungen selbst erschrieben hatte, vermehrte das Hochgefühl. Rigi
Regina!

Den Reiseplan machte Edgar, und mit der ihm eigenen Herrsch- und
Eifersucht gestattete er mir kaum, einen Blick mit auf die Karte zu
werfen. Doch waren wir einig, vor allem möglichst weit zu kommen,
denn uns beide beherrschte derselbe Raumhunger. Nur hatten wir nicht
mit unserer eigenen Kinderei gerechnet. In früheren rauheren Zeiten
pflegten Eltern ihre Kinder bei denkwürdigen öffentlichen Ereignissen
durch eine plötzliche Ohrfeige zu überraschen, damit der Eindruck
unauslöschlich hafte. Nach demselben Gesetz der Mnemotechnik haben
sich mir die Etappen dieser ersten Ausfahrt in die Welt nur durch die
ausgestandenen Verdrießlichkeiten eingeprägt.

Sobald wir in der Bahn saßen, begann die Not. Ich hatte einige Zeit
das Englische getrieben und war so weit, daß ich mich unbefangen in
dieser Sprache ausdrücken konnte. Das fiel nun mit einemmal meinem
brüderlichen Beschützer schwer auf die Seele. Er meinte, sämtliche in
der Schweiz reisenden Söhne Albions warteten nur auf seine Schwester,
um sich ihr in den Weg zu stellen, und da er diese Nation nicht liebte,
verlangte er im voraus ein bindendes Versprechen, daß ich mit keinem
Engländer ein Wort reden würde. Ich sagte, ich hätte gehört, daß
Engländer auf der Reise niemals Unbekannte ansprechen, aber das genügte
ihm nicht, er bestand auf einem Ehrenwort, das ich zu seinem bitteren
Schmerz verweigerte. So vergällten wir uns die erste Reisestunde mit
dem ersten Zank.

Einige mitreisende Herren, die das blutjunge Pärchen beobachteten,
begannen nun mir überflüssige kleine Aufmerksamkeiten zu erweisen, die
Edgar schroff ablehnte, weil er selbst seiner Ritterpflicht genügte.
Das trieb die andern zu vermehrter Beflissenheit, und als er sich
einmal der Fahrscheine wegen aus dem Abteil entfernen mußte, machten
sich jene mit Neckereien ob des eifersüchtigen jungen Herrn an mich
heran. Ich antwortete mit so viel Würde, als meine Backfischjahre
erschwingen konnten, dieser junge Herr sei mein Bruder. Die aber
lachten noch anzüglicher und meinten, solche Brüder kenne man schon.
Nun war das Aufgebrachtsein an mir, und als wir allein weiterfuhren,
machte ich dem schon zuvor Verstimmten Vorstellungen über sein
Betragen. Daraus entspann sich der zweite Zank, der so bitter wurde,
daß das eine rechts, das andere links zum Fenster hinausblickte, ohne
die Landschaft in sich aufzunehmen, denn beiden fraß die vermeintlich
erlittene Unbill am Herzen. Und so ging es immer weiter. Luzern,
der Vierwaldstättersee mit Axenstein und Tellsplatte, das ganze
Seepanorama auf Hin- und Rückfahrt huschte nur wie ein Schattenspiel
vorüber. Dann begannen wir zu Fuße den Rigi zu erklimmen, denn die
Benützung der Bergbahn erschien uns als etwas unwürdig Weichliches.
Auf halber Höhe ließ ich mir jedoch von einem zurückkehrenden Treiber
ein Pferd aufreden, mehr aus Reitlust, als um mir den Weg zu ersparen;
Edgar, der mit seinem zarten und zähen Körperbau ein unermüdlicher
Fußgänger war, ging nebenher. Bei sinkender Dunkelheit kamen wir auf
dem lichterstrahlenden Kulm an, der mir wie ein Feenschloß in der
Bergeinsamkeit erschien. Ich weiß nicht, für wen man uns dort ansah.
Man gab uns prunkvolle Zimmer, groß wie Säle und strotzend von Samt
und Gold. Natürlich gefiel es uns da recht gut, und nach dem Preise zu
fragen, hielten wir für krämerhaft. Das Abendessen ließ gleichfalls
nichts zu wünschen übrig, das schönste aber war doch der Vorgenuß des
kommenden Tages. Rigi Regina, wie hast du uns betrogen! Um vier Uhr
weckte uns freilich das Alphorn, und wir eilten, hastig in Tücher
gewickelt, mit anderen bleichen Schemen nach einer Plattform, um die
Majestät der Sonne zu grüßen und die Reiche der Welt zu unseren Füßen
zu sehen. Aber da gab es nichts als ein graues wallendes Nebelmeer.
Die Erde schien noch gar nicht aus dem Chaos geboren und schaudernd
schlichen wir in unsere Betten zurück.

Da es nach dem Frühstück noch nicht besser war, verlor Edgar die
Geduld, und es hieß aufbrechen. Ich packte meine Sächelchen zusammen,
um sie in seine Reisetasche zu legen, da fand ich ihn eben im Begriff
ein prächtiges blaues Samtkissen mit reicher Goldstickerei zum Fenster
hinauszuwerfen, das auf einen grasigen Abhang ging. Nach dem Grunde
dieser Tätigkeit befragt, reichte er mir nur stumm die Rechnung. Diese
übertraf alle meine Befürchtungen: die eine Nacht hatte fast den ganzen
Rest des Reisegelds verschlungen.

Nur noch den silbernen Leuchter, sagte er, dann sind wir quitt. -- Ich
sah ihn stürzen, sinken, damit war das Gleichgewicht hergestellt, und
wir schritten stolz hinaus.

Inzwischen begann die Sonne doch noch Meister zu werden, und außen im
Freien stand eine Gesellschaft von angelsächsischem Ansehen beisammen,
die mit ihren Gläsern nach auftauchenden Bergspitzen fischte. Und wie
bestellt, um Edgars Mißmut zum Kochen zu bringen, trat einer der Herren
aus der Gruppe heraus und bot mir in englischer Sprache sein Fernglas
an, weil eben die Berner Alpen aus dem Nebel träten; ich selber besaß
nämlich keines. Bevor ich aber danach greifen oder Dank sagen konnte,
hatte mich mein erzürnter Gefährte gewaltsam weggerissen und lief,
mich an der Hand nachziehend, wie eine Dampfmaschine bergab. Natürlich
kam nun bei mir die Milch der frommen Denkart wieder stark ins Gären,
denn ich stellte mir das Lachen der Zurückgebliebenen vor. Ihm aber
saßen neben der Anglophobie vermutlich auch noch die weggeworfenen
Kostbarkeiten auf den Fersen, daß er so eilte. Der Wunderanblick, der
sich aus dem Nebel rang, führte dann wieder die Versöhnung herbei. Aber
nicht auf lange. Denn schon sehe ich die beiden Kindsköpfe wieder,
wie sie aufs neue beleidigt und stumm den langen Weg durch den
Straßenstaub der Ebene pilgern, er hüben und sie drüben.

Unsere Kasse, die Edgar führte, war so geschröpft, daß wir die nächste
Nacht nur noch in einer Kutscherkneipe verbringen konnten. Aber der
Vater hatte uns eingeschärft, uns nichts abgehen zu lassen, er habe
einen Bekannten in Zürich beauftragt, eine kleine Summe bereitzuhalten
für den Fall, daß uns auf der Rückreise das Geld ausgehen sollte. Wir
machten uns also keine Sorge, denn bis Zürich brauchten wir nur noch
die Fahrkarte, nachdem wir unsere Bedürfnisse schon sehr eingeschränkt
hatten.

Aber in Zürich, als der Zuschuß abgeholt werden sollte, erklärte Edgar,
daß ich den Gang allein tun müsse, denn er seinerseits finde solch
ein plötzliches Auftauchen und Geldheischen landstreichermäßig und
bettelhaft. Ich fiel aus den Wolken; von dieser Seite hatte ich die
Sache nie angesehen, obwohl auch mir bei dem Unternehmen nicht recht
wohl war. So ließ ich mich alsbald von der Verkehrtheit anstecken und
fühlte mich nur verletzt, daß mir etwas zugemutet werden sollte, was
er seiner unwürdig fand. Er rechnete mir nun vor, daß unser Geld zur
bloßen Heimreise gerade noch ausreichen würde, wir müßten uns aber
durch den heutigen und den ganzen folgenden Tag -- von Zürich bis
Tübingen -- durchhungern. Und das täte _er_, wenn er allein wäre,
um seine Würde zu wahren. Natürlich wollte ich nun nicht hinter
ihm zurückstehen und erklärte mich gleichfalls zu der Hungerprobe
bereit. Gehoben durch diesen Entschluß durchwanderten wir die Stadt,
betrachteten uns den See und wollten dann abends noch bis Schaffhausen
fahren. Mama hatte uns jedoch bei der Abreise aufgetragen, in Zürich
auch ihren Jugendfreund Johannes Scherr zu besuchen und ihm ihre Grüße
zu bestellen. Dieser Gang sollte also rasch noch erledigt werden. Aber
vor der Haustür fiel es meinem schon wieder verdrießlichen Gefährten
ein, daß er von Johannes Scherr ein Buch gelesen hatte, dessen
hanebüchene Derbheit ihm stark mißfiel. Und nun wollte er auch nicht
mehr zu Scherr. Aber diesmal bestand ich auf meinem Kopf. Wenn ich
mich recht erinnere, ließ ich ihn unten warten und stand allein vor
dem Berühmten. Ich richtete aber nur kurz die mütterlichen Grüße aus
und hatte es eilig, mich wieder zu empfehlen, weil ich des Bruders
siedende Ungeduld fürchtete. Dies half jedoch nichts, denn als es
sich auf dem Bahnhof zeigte, daß die Züge gar nicht mit dem Fahrplan
stimmten, war ich doch wieder die Schuldige. Er war gereizt, weil er
müde und hungrig war. Ich war aber gleichfalls müde und hungrig und
sah nicht ein, weshalb ich nun auch noch den ungerechten Mißmut des
anderen Teils über mich ergehen lassen sollte. Wer mir gesagt hätte,
daß es ein künftiger Helfer und Wohltäter seiner Mitmenschen war, der
in solche Launenhaftigkeit verkappt mir gegenübersaß! So schwiegen wir
abermals und sahen beleidigt zum Fenster hinaus. Erst die wilde Pracht
des Rheinfalls führte uns wieder zusammen. Und als wir im „Rappen“ zu
Schaffhausen um ein bescheidenes Nachtlager einig geworden waren und
dann entdeckten, daß unsere Mittel uns noch eine kleine Abendmahlzeit
gestatteten, war die Welt wieder einmal vollkommen.

In der Frühe bedurfte es einer Ausflucht, um dem uns angebotenen, ach
so verlockenden Morgenkaffee nebst Honigbrötchen zu entgehen, denn der
große Fasttag mußte jetzt wirklich beginnen. Aber auf den Hohentwiel,
der an unserem Wege lag, wollten wir doch nicht verzichten, schon des
Ekkehard wegen, den damals die deutsche Jugend mit Begier verschlang.
Wir stiegen also, nüchtern wie wir waren, in Singen aus und wanderten
durch den Wald, der uns mit so mancherlei Beeren erquickte, nach der
Felsenburg. Doch o weh, das Eingangstor war verschlossen und sollte
sich nur nach Erlegung von 25 Rappen für die Person öffnen. Solche
Summen hatten wir nicht mehr aufzuwenden. Wir schlugen uns in die
Büsche, überkletterten geschichtete Felsenplatten und sprangen über
die Mauer in den Hof hinab. Dabei machte ich die Erfahrung, wie es
denen zumute ist, die außerhalb des Gesetzes leben. In der Menge der
zahlenden Besucher verborgen sandten wir suchende Blicke nach dem
Bodensee, der sich nur schwach im Dunst abzeichnete; auch die Geister
Hadewigs und ihres verliebten Mönchs ließen sich nicht blicken. Und das
Herzklopfen, bis man endlich unter den Augen des Wächters glücklich
zum Tor hinausgeschritten war! In solchen Augenblicken bestraft
sich’s, wenn man nicht geübt ist, auf unrechten Wegen zu wandeln. --
Noch war ein langer Tag vor uns; um nichts zu versäumen, erklommen
wir unverdrossen auch noch den steilen Basaltkegel des Hohenkrähen,
der uns gleichfalls den Lohn unserer Mühen schuldig blieb. Jetzt aber
meldete sich der Hunger immer unwiderstehlicher. Darum beschlossen wir
von Singen bis zum nächsten Statiönchen zu Fuße zu wandern, um vom
Fahrgeld ein Stück Brot für jedes abzusparen. Wir marschierten wacker
zu, trotz Staub und Hitze und den zwei vorangegangenen Besteigungen
und fühlten uns an diesem Tage zum erstenmal vollkommen friedlich und
einig. Auf dem Bahnhof erkannten wir, daß uns noch Zeit genug zur
Ankunft des Schnellzugs blieb, und wir verständigten uns alsobald,
noch bis zur nächsten Station weiterzumarschieren, um durch unserer
Füße Arbeit zum Brot auch noch ein Stück Käse zu verdienen. Als dort
die Fahrkarten gelöst waren, konnte Edgar mir noch ein ganzes Häuflein
Münzen für meine Einkäufe in die Hand schütten, denn es gehörte auch
zu seinen Eigenheiten, daß er selber niemals einen Kaufladen betrat.
Ich trug zwei duftende Laibchen Weißbrot und eine stattliche Schnitte
Emmentaler davon. Mit Stolz brachte ich sie dem Bruder, der sich
abseits der Landstraße unter einem Birnbaum niedergelassen und einen
Haufen herrlicher Birnen vor sich aufgestapelt hatte. Ich fragte nicht,
mit welchem Rechte. Wir setzten uns in tiefer, freudiger Eintracht
nebeneinander und genossen die köstlichste Mahlzeit und das reinste
Glück, das uns auf der ganzen Reise beschert war.

Oh, und der Kalbsbraten, mit dem die gute Josephine uns abends in
Tübingen empfing. Es war, als ob sie alle unsere Leiden geahnt hätte,
die treue Seele. Der Vater sagte nur, als er uns so verhungert sah, mit
gerührtem Lächeln: Ihr dummen Kinder! Der bleibendste Wert dieser Reise
war vielleicht der, daß mein Kamerad in den drei Tagen so viel von
seinen knabenhaften Wunderlichkeiten ausgeschüttet hatte, daß er nun
allmählich zu werden begann, wofür er sich bisher mit Unrecht gehalten
hatte -- ein Mann.



Besuch in Frankreich.


Anderthalb Jahre nach dem Sturz der Kommune mahnte Mutter Vaillant
meine Eltern an ihr altes Versprechen. Sie lebte jetzt ganz allein in
Vierzon. Ihr fils adoré, wie sie ihn nannte, war verbannt und zum Tode
verurteilt, mit ihrer Tochter war sie zerfallen, weil diese sich von
dem Bruder seiner politischen Haltung wegen losgesagt hatte. Unter
solchen Umständen mochte mein Vater der einsamen Frau ihren alten
Wunsch nicht abschlagen. Ich selber war begierig, eine neue Welt
kennenzulernen, das Land der schönen Form und der verfeinerten Sitte.
So überwand er seine Bedenken und gab mir Urlaub. Unterwegs brachte ich
einen Tag in Straßburg bei der jung verheirateten Lili zu, mit der ich
das Münster bestieg und den Rhein begrüßte. Daß man zu einer Zeit, wo
noch ein deutsches Heer auf französischem Boden stand, ein blutjunges
deutsches Mädchen ohne Sorge allein in die Mitte Frankreichs reisen
lassen konnte, ist, in heutige französische Empfindung übersetzt, nicht
mehr vorstellbar. Damals ging alles glatt. War es Zufall oder gab es
zu jener Zeit wirklich eine französische Ritterlichkeit -- ich bekam
weder in Paris noch in der Provinz, noch auf der Reise selbst je ein
unfreundliches Gesicht zu sehen noch ein verletzendes Wort zu hören.
Die furchtbare Erbitterung des Bürgerkriegs schien den Groll gegen den
fremden Sieger verlöscht zu haben. Aber so viele Franzosen mit mir über
den Krieg sprachen, alle schlossen mit dem unausweichlichen Kehrreim:
Nous ne sommes pas vaincus, nous sommes vendus. Daß vor allem Bazaine
sie für ein Blutgeld verkauft habe, lag als tröstlicher Balsam auf der
Wunde des Selbstgefühls, deren Schmerz dem Durchschnittsfranzosen noch
gar nicht so tief ins Bewußtsein gedrungen war.

In Paris wurde ich im Hause eines französischen Offiziers a. D.,
der mit einer Stuttgarterin, einer Jugendfreundin meiner Mutter,
verheiratet war, mit offenen Armen aufgenommen. Die schon ältere Frau
flog mir auf der Treppe mit einem Freudenruf um den Hals, so sehr
überwältigte sie meine Ähnlichkeit mit der von ihr verehrten Großmutter
Brunnow. Die Familie lebte bescheiden in einer Art von Puppenstuben
mit Tapetentüren unter Möbeln, die der Hausherr selbst geschreinert
hatte, alles von der putzigsten Nettigkeit; das Orangenblütenwasser,
das mir jeden Abend ans Bett gestellt wurde, ist mir in duftender
Erinnerung. Der Herr des Hauses mit seinem Bändchen im Knopfloch führte
mich nach der Sitte des französischen Militärs ritterlich am linken
Arm spazieren. Er glich nach Aussehen und Denkart ganz dem Bilde,
das man sich von dem alten napoleonischen Soldaten macht, und da ich
mich im Invalidendom für Napoleon begeisterte, war er sehr zufrieden
mit mir. Ich besah mir die „Ruinen von Paris“, zusammengekehrte
Trümmerhaufen des Stadthauses, der Tuilerien, der Finanz usw., die
den letzten Verzweiflungskämpfen der Kommune zum Opfer gefallen
waren. Man erzählte mir von den Petroleusen, die wahrscheinlich als
historisches Seitenstück zu den Trikoteusen hexenartig im Hirn der
Pariser spukten. Diese Furien sollten die Häuser entlang gehuscht
sein und blitzschnell in jede Kellerluke ihr Petroleum gegossen und
Zündhölzer nachgeworfen haben, wodurch ganze Straßen ein Raub der
Flammen geworden seien. Wie viele unglückliche Frauen, die kein anderes
Verbrechen begangen hatten, als ihre Petroleumkanne heimzutragen,
mögen bei den Treibjagden der blinden Rachewut zum Opfer gefallen
sein! Greuel waren von der einen und von der anderen Seite geschehen,
vor denen die Bartholomäusnacht verbleicht, aber die Stadt strahlte
von Lebenslust und auf den Boulevards flutete eine heitere Menge in
dem eigenen leichten Schritt, der dort alles beflügelt; nur wenn bei
nichtigem Anlaß ein Zusammenrennen entstand, so war’s wie Nachzittern
vulkanischen Bodens. Als ich einmal fragte, wohin ein Trupp Soldaten
mit Trommelschlag so eilig marschiere, wurde mir geantwortet: Nach
der Ebene von Satory, es ist das Exekutionspeloton. Die Hinrichtungen
waren längst vorüber, aber in der Phantasie der Bevölkerung dauerten
sie noch fort. Von Deutschenhaß erlebte ich in Paris nur ein einziges
Beispiel an einem Halbdeutschen, dem vierzehnjährigen Kadetten, Sohn
meiner Gastfreunde, der mir mit funkelnden Augen ankündigte, er werde
bald in Berlin einziehen, um Rache für Sedan zu nehmen. Als er den
üblen Eindruck seiner Rede sah, versprach er großmütig, die Frauen und
Kinder zu schonen. Man zeigte mir einen Laib Belagerungsbrot, der zu
drei Vierteln aus gemahlenem Stroh und Sand bestehen sollte und der
sich anfühlte wie eine Versteinerung. Auch wurde davon gesprochen,
wie fein man in gewissen Garküchen verstanden habe, die Ratten
zuzubereiten. Das alles war nun längst Geschichte geworden bei dem
schnell lebenden Volke. Über die deutschen Soldaten hörte ich kaum eine
Klage; nur auf Mr. de Bismarck war man schlecht zu sprechen. Liest man
die französischen Schriftsteller der späteren Jahrzehnte, etwa die
feingemeißelten Geschichten Guy de Maupassants, so sieht man, mit welch
hoher Kunst dem französischen Volke das Gift des Hasses nachträglich
eingeimpft worden ist.

Mein erster Tag in Vierzon bleibt mir unvergeßlich. Ein Diener des
Hauses Vaillant, der alte Père Réguillard, holte mich mit meinem Gepäck
am Bahnhof ab. Ich war zwischen Paris und Vierzon, wo kein Schnellzug
ging, zweiter Klasse gefahren, und freute mich, mir für das ersparte
Reisegeld ein anderes Vergnügen zu gönnen. Nun erfuhr ich durch Frau
Vaillant, die der Diener gleich davon in Kenntnis setzte, daß dies ein
Mißgriff gewesen, der in Vierzon keinenfalls bekannt werden durfte,
und sie bat mich, über den dunklen Punkt Schweigen zu bewahren. Ich
versprach’s, denn ich nahm an, daß niemand so töricht sein werde,
mich zu fragen. Die dem Hause Vaillant befreundeten Damen hatten das
junge deutsche Mädchen mit brennender Neugier erwartet. So früh es der
Anstand erlaubte, erschienen Mesdames Poupardin, Mutter und Tochter,
mit einer Freundin, um mich in Augenschein zu nehmen; sie drehten
mich hin und her, schoben mich eine der anderen zu, prüften Haltung,
Haartracht und Anzug und entschieden über mich weg mit Verwunderung:
Mais elle est bien; elle est très bien -- bis doch schließlich eine
entdeckte, die Falbel meines Rockes könnte besser gezogen sein. Das
schmeichelhafte Endergebnis war, daß ich nichts Deutsches an mir hätte
und daß ich würdig wäre, eine Französin zu sein! Es war gut gemeint
und die höchste Ehre, die sie zu vergeben hatten. Als das vorüber war,
erfolgte die verhängnisvolle Frage: Vous êtes venue en première? Da
ich weder lügen noch der mütterlichen Freundin einen Schmerz antun
wollte, fiel ich darauf, mich zu stellen, als ob mein Französisch
auf diesem Punkt versage, und überließ es ihr zu antworten, daß ich
selbstverständlich Erster gereist sei.

Diesem Einstand entsprachen alle ferneren Eindrücke, die ich von dem
Leben in der französischen Provinz bekam.

Frau Vaillant bewohnte ein Landhaus mit schöngepflegtem Garten und
einem Anwesen, das der Küche Hühner, Kaninchen, Gemüse, Salat und ein
Obst von unerhörter Güte und Größe lieferte. Ihr die Riesenbirnen für
den Winter aufhängen zu helfen, war eine wahre Lust. Sie enthüllte sich
als eine vortreffliche und peinlich genaue Hausfrau, deren ganzes
Streben in der Wirtschaftlichkeit aufging, ohne daß es nach außen den
Anschein hatte. Nichts entging ihrem wachsamen Auge. Morgens um acht
Uhr stellte sie schon mit eigenen behandschuhten Händen den pot au feu
auf den Herd. Wenn er bis abends sechs Uhr, wo man zu Tische ging,
so leise fortbrodelte, gab es ein Gericht, für das jedes Wort zu arm
ist. Ich wurde in die mit heiligem Ernst behandelten Geheimnisse der
französischen Gaumenlust eingeweiht, sah ihr die Bereitung allerhand
schmackhafter Tunken ab, lernte, daß die Hammelkeule mit einer Ahnung
von Knoblauch in den Ofen gehen und stets in Begleitung von Bohnen auf
den Tisch kommen muß. Die zwei Mahlzeiten bildeten die wichtigsten
Ereignisse des Tages, auch wenn sie für uns beide allein aufgetragen
wurden. Wenn ich an das luftige französische Weißbrot zurückdenke, so
begreife ich die Klage der Franzosen über das unsrige, von der schon
Goethe weiß. Der Anstand forderte, daß man zu jedem Stück Fleisch ein
mindestens gleich großes Stück Brot zum Munde führte, das auf der Zunge
schmolz. Ich faßte eine ebenso tiefe Bewunderung für die französische
Küche, wie mich die Abwesenheit aller anderen Belange bei der
Gesellschaft in Erstaunen setzte. Die feinen Weine, die auf den Tisch
kamen, und das nie fehlende Gläschen Likör waren das einzig Geistige,
was es in Vierzon gab.

Die wenigen Familien, mit denen Frau Vaillant Verkehr pflog,
Gutsbesitzer, Fabrikanten und dergleichen, drückten offenbar über ihres
Sohnes politische Stellung ein Auge zu, trotz dem Todesurteil, das
über ihm hing; so stark wirken Besitz und Wohlstand auf die Gemüter.
Wenigstens kann ich nicht annehmen, daß sie alle im Herzen heimliche
„Communards“ waren. In wunderlich rührender Weise war das Mutterherz
bestrebt, ihm dieses Wohlwollen, nach dem er nicht fragte, zu erhalten.
Wenn ein Brief aus London kam, so erschienen die Damen voller Neugier,
dann las ihnen Frau Vaillant vor meinen staunenden Ohren Grüße und
Verbindlichkeiten vor, die eifrigst erwidert wurden, die aber nie aus
Vaillants streng wahrhaftiger Feder geflossen sein konnten. Waren dann
die Besucherinnen fort, so gab sie mir die Briefe in die Hand, und
es zeigte sich dann, daß die Grüße an ihren deutschen Gast gerichtet
waren. Sehr merkwürdig erschien es mir, daß Frau Vaillant ihr feines
Französisch nicht orthographisch schreiben konnte und sich daher ihre
Briefe von mir durchsehen und berichtigen ließ.

Die Zeit stand in Vierzon ganz still. Ich lebte hinter den verzauberten
Obst- und Blumenspalieren wie ein Dornröschen. Zu jedem Ausgang
über die Straße bedurfte es einer Begleitung, was mir das Ausgehen
ganz verleidete; ich habe daher von Vierzon-Ville fast gar keine,
von der äußerst reizvollen Landschaft mit dem stillen, umbuschten
Flüßchen, wo die Damen überraschenderweise im Freien badeten, nur eine
schwache Erinnerung bewahrt. In Vierzon-Village, wohin man häuslicher
Bestellungen halber fuhr, lernte ich auch die französischen Bauern mit
ihren ausgehöhlten Holzschuhen und ihren blütenweißen Betthimmeln, mit
ihrem breitem Wohlstand und ihrem engen Rechengeist kennen.

Die wohlwollende, mütterlich gesinnte Frau tat ihr möglichstes, wie
sie es ansah, um zwischen meinen von Hause mitgebrachten Begriffen
und denen ihrer Umgebung zu vermitteln. Wie schwer ihr dies innerlich
fallen mußte -- denn sie stand ja selber zumeist auf dem Standpunkt
ihrer Landsleute --, konnte ich damals kaum übersehen. Von einem
gewissen jungen Mädchen hieß es, daß man nicht mit ihr umgehen könne,
weil sie ihren Vater nach Italien begleitet und ein halbes Jahr in
Venedig und Rom gelebt habe, welche Städte für besonders sittenlos
galten, und ich hörte den Vater schwer tadeln, daß durch seinen
Unbedacht der Tochter für immer die Heiratsaussichten verbaut seien.
Mit einer lebhaften jung verheirateten Frau wurde mir gleichfalls der
Verkehr beschränkt im Hinweis auf ihre sittliche Vergangenheit. Ich
war nicht wenig erstaunt zu hören, worin dieser Makel bestand: sie
habe vor ihrer Ehe mit jungen Herren Briefe gewechselt, und diese
Verwirrung wirke noch ungünstig auf die ärztliche Praxis ihres jetzigen
Mannes nach. Auf meinen Einwand, daß ich ja gleichfalls mit den jungen
Freunden meiner Familie in Briefwechsel stehe und daß sie selbst mich
ermahne, ihrem Sohn nach London zu schreiben, wurde mir die einsichtige
Antwort, bei einer Deutschen sei es etwas anderes. Am schroffsten
spalteten sich die Meinungen bei einem tragischen Fall, der sich in der
Stadt ereignete. Ein junger Mann hatte in der Notwehr einen anderen
erstochen und wurde -- ungerechterweise, wie alle sagten -- zu dreißig
Jahren Kerker verurteilt. Jedoch die allgemeine Klage galt nicht seinem
Los, sondern dem seiner Schwester, die verlobt war und die nun einsam
verblühen müsse, weil ja doch dem Bräutigam unter diesen Umständen gar
nichts übrig bleibe, als sich zurückzuziehen. Was mich entsetzte, war
nicht die Handlungsweise des Verlobten, die in jedem Land vorkommen
konnte, sondern die felsenfeste Überzeugung der Gesellschaft, daß ein
anderes Verhalten überhaupt nicht möglich sei. Freilich bedachte ich
im jugendlichen Eifer nicht, daß in Frankreich Verlobungen unter ganz
anderen Voraussetzungen geschlossen werden als bei uns, daher jene mich
so wenig verstanden wie ich sie und über die unpraktischen Zumutungen
des deutschen Idealismus bedenklich die Köpfe schüttelten. Die Luft
wurde mir in Vierzon enger und enger. In einer deutschen Landstadt
vom gleichen Umfang wäre ja der Geist im ganzen auch kein freierer
gewesen, aber es hätte doch eine Reihe merkwürdiger, von der Umgebung
abstechender Sonderlinge die Eintönigkeit unterbrochen. Von diesen
Provinzlern entfernte sich keiner um Haaresbreite von der Linie des
Nachbarn. Das waren nun meine Erfahrungen mit der französischen Kultur.
Und so sah die Welt aus, der der revolutionäre, kommunistische Vaillant
entstammte.

Eine etwas frischere Luft kam durch den Besuch einer angenehmen
jungen Pariserin ins Haus, der Frau eines gleichfalls nach London
geflüchteten „Communards“. (Nebenbei gesagt war Communard ein halbes
Schimpfwort, sie selber nannten sich Communeux.) Madame Martin war
Modistin und machte sich durch Anfertigung allerliebster Hütchen
um die Hausbewohnerinnen verdient. Mutter Vaillant brachte den
Anschauungen des Sohnes das Opfer, daß sie die junge Frau ganz als
gleiche behandelte, und diese war auch an Takt und äußerer Bildung
den Damen von Vierzon mindestens ebenbürtig. Auf Ausgängen wurde ich
aber doch noch lieber einer ältlichen Engländerin anvertraut, einer
ehemaligen Gouvernante, die ihre Ferien im Hause verbrachte und mir
auf Frau Vaillants Wunsch ein wenig Klavierunterricht gab, -- es war
nämlich eine der Eigenheiten meiner Mutter, daß sie zu meinem größten
Schmerz die Musik gänzlich aus dem Lehrplan ausgeschlossen hatte. So
war ich der Miß dankbar, obgleich sie als Deutschenfeindin mir nicht
sonderlich wohlwollte. Viel lieber war ihr Mademoiselle Poupardin;
diese begleitete sie mit Hingebung auf dem Klavier, wenn sie des Abends
herüberkam und die damals sehr beliebte herzbrechende Romanze sang:

    On dit que l’on te marie,
    Tu sais que j’en vais mourir --

Diese Engländerin nun war mir zur Aufsicht beigegeben, und es
entbehrte nicht einer gewissen Komik, daß ich das feindliche Land
mutterseelenallein durchreist hatte und nun an Ort und Stelle den
Nachbarn zuliebe betreut werden mußte wie ein Kind. In der englischen
Gesellschaft konnte ich einen Besuch in dem nahen Bourges unternehmen.
Die Miß entledigte sich ihrer Aufgabe aber nicht in Frau Vaillants
Sinne, denn auf dem Weg vom Bahnhof ins Stadtinnere ließ sie mich
plötzlich stehen, um sich in einen Trupp vorbeiziehender Rekruten
zu stürzen, die sie mit feuriger Ansprache zur schleunigsten
Wiedereroberung von Elsaß-Lothringen aufforderte. Sie erweckte, soviel
ich sah, wenig Begeisterung, wahrscheinlich wurde ihr angelsächsisches
Französisch gar nicht recht verstanden. Die eingetretene Stauung
benützte ich, um in eine krumme Querstraße zu verschwinden. Ich fragte
mich allein nach der uralten Kathedrale durch, die ich mir vom Küster
zeigen ließ. Auch dort waren die Petroleusen gewesen und hatten, wie
der Mann erzählte, schon die ganzen Mauern mit Petroleum begossen,
nur der rasche Sturz der Kommune hinderte sie, ihr Streichholz
anzustecken. Zu schicklicher Besuchsstunde gab ich dann im Hause
eines jungverheirateten Arztes meine Einführungskarte ab, wo man Frau
Vaillants Bitte, mir die Stadt zu zeigen, sehr artig entgegenkam. Da
sich unter den Merkwürdigkeiten, die man mir aufgeschrieben hatte,
auch eine Militäranstalt befand, hielt es der Herr des Hauses geraten,
zuvor dort anfragen zu lassen, worauf die überraschende Gegenfrage
kam, wie das junge Fräulein aussehe. Auf die Antwort: groß, schlank,
blond, wurde die Erlaubnis verweigert, weil dies das Signalement der
verkleideten preußischen Offiziere sei. Als wir dann später in der
schönen Kastanienallee, die die Stadt umzieht, einem der Herren jener
Anstalt begegneten, konnte dieser nicht umhin, über die angewandte
Vorsicht zu lächeln und erbot sich, mir den Eintritt doch noch zu
erwirken. Aber ich lehnte dankend ab und habe somit nie erfahren, was
für Genüsse mich dort erwartet hätten.

Natürlich horchte ich immer hoch auf, wenn in Vierzon von den
Erinnerungen der Kommune die Rede war. Hatte man mir in Paris von
den Bluttaten der rasenden Menge erzählt, so hörte ich jetzt von
den zehnmal größeren Schrecken, die die regulären Truppen und der
elegante Pöbel verübten. Daß man die fünf Maitage, wo das Blut in einem
ununterbrochenen Strom aus der Kaserne Lobau in die Seine rann und
dort als roter Streifen weiterfloß, miterlebt haben und mit solcher
Seelenruhe über die geschehenen Dinge reden konnte, überraschte mich.
Sie waren nach vierzehn Monaten schon ferne Vergangenheit geworden.
Von den Communardprofilen, die da vor mir auftauchten, ist mir
besonders der verbummelte Student Raoul Rigault, Vaillants ehemaliger
Studiengenosse vom Quartier Latin, in Erinnerung geblieben, der böse
Geist der Kommune, der als Polizeipräfekt ihren Namen mit so viel Blut
besudelt hat. Nur sein mutiges Ende konnte zu seinen Gunsten gebucht
werden. Über den meisten dieser Gestalten hing neben der Tragik ein
eigentümlicher Zug von Leichtsinn, ganz entsprechend dem Charakter
eines Volkes, das leicht tötet und leicht stirbt. In einem Schubfach
fand ich die Visitenkarte des unglücklichen jungen Genieoffiziers Louis
Nathanael Rossel, der in mißglückter Nachahmung eines berühmten Musters
sich an die Spitze der Revolutionstruppen gestellt hatte und den kurzen
Traum seines Ehrgeizes unter den Kugeln seiner ehemaligen Kameraden
in der Ebene von Satory büßte. Frau Vaillant war nicht gut auf ihn zu
sprechen, sie konnte ihm seine reumütige Umkehr zu der alten Trikolore
nicht verzeihen, deren Wiedererscheinen auf den Mauern von Paris er mit
Jubel begrüßt haben wollte. Ich aber fühlte das tragische Geschick des
Soldaten mit, der sein eigenes Todesurteil als gerecht erkannte, und
erbat mir seine Karte zum Andenken.

Als meine Zeit in Vierzon zu Ende ging, war es bei aller
Erkenntlichkeit für die empfangene Güte doch ein Aufatmen. Abderas und
Schildas gibt es auch im lieben Deutschland, schrieb mir mein Vater
in seinem letzten Briefe nach Vierzon, und zwar, wie dir jetzt klar
ist, immer noch erträglichere. -- Es ist schwer, besonders für die
Jugend, die Eindrücke eines fremden Landes nicht zu verallgemeinern.
Da ich die geistigen Kreise gar nicht kennengelernt hatte, verließ ich
Frankreich mit der Überzeugung, daß in jedem französischen Hirn nur ein
einziger Gedanke in festgeprägter Form Platz habe: im gros bourgeois
die Freuden der Tafel, im Soldaten die Gloire, im Republikaner die
Republik. Diese Menschen schienen mir samt und sonders so eintönig, von
so widerspruchsloser innerer Logik wie die Charaktere im französischen
Drama, die am Ende glatt aufgehen wie ein Rechenexempel. Bei der
Abreise überreichte mir ein feiner alter Aristokrat, der mit der
Revolution liebäugelte, ein Gedicht, worin germanisches Goldhaar,
Tyrannenblut und Völkerverbrüderung auf eine nicht ganz klare Weise
zusammengebracht waren. Damit schied ich von Vierzon, diesmal natürlich
in der ersten Klasse. Ich hatte dann noch Gelegenheit, mich vierzehn
Tage bei Landsleuten in der bezaubernden Lichtstadt aufzuhalten, aber
mit der französischen Gesellschaft kam ich in keine Berührung mehr.

Persönlich habe ich Vaillant nicht wiedergesehen. Er kehrte später
infolge der Amnestie von 1880 nach Frankreich zurück und wurde zuerst
in den Pariser Gemeinderat und dann in die Deputiertenkammer gewählt.
Wir waren unterdessen nach Italien übergesiedelt. In Abständen,
die natürlich mit der Zeit immer länger wurden, tauschte er noch
Briefe mit meiner Mutter, und auch als die unmittelbaren Beziehungen
allmählich einschliefen, blieb das freundliche Andenken beiderseits
erhalten.

In Vaillants letzten Lebensjahren stand er Jaurès besonders
nahe. Beider Wirken ging ja darauf aus, durch die internationale
Arbeiterorganisation Kriege für immer unmöglich zu machen. Vaillant war
nunmehr der Patriarch der Partei, die, wie G. Hervè sich ausdrückte,
in Jaurès ihr denkendes Hirn, in dem andern ihr unsträfliches Gewissen
verehrte. Père Vaillant nannten ihn alle. Es soll ein ehrwürdiger
Anblick gewesen sein, wenn der alte Mann mit dem wehenden Silberbart
und -haar bei öffentlichen Arbeiterumzügen die Fahne vortrug. Im Jahre
1907 kam er noch einmal nach Deutschland und verließ es im Groll, weil
er auf dem Parteitag in Stuttgart die deutschen Sozialdemokraten nicht
für den Generalstreik und Aufstand im Kriegsfall gewinnen konnte. Als
der Weltbrand ausbrach, erwartete ich, daß er sich der nationalen
Erbitterung entgegenstemmen würde. Jedoch das Gegenteil geschah. Er
tat selber, was er seinen deutschen Parteifreunden so sehr verargte:
er stellte sich mit seinem ganzen Gewicht auf die Seite der Regierung.
Er ging aber noch viel weiter, denn er predigte den Völkerhaß. Die
Formel vom preußischen Militarismus beherrschte ihn ganz; er hatte ja
stets auf Formeln geschworen. Als er zum zweitenmal in seinem Leben
deutsche Heere auf Frankreichs Boden stehen sah, da trübte sich seine
geistige Verfassung. Er glaubte jede Ungeheuerlichkeit und war unter
denen, die immer am lautesten nach japanischer Hilfe riefen. Ja, er
ließ sich zu der irrsinnigen Anklage hinreißen, deutsche Sendlinge
hätten Jaurès ermordet. Ich schrieb ihm damals einen offenen Brief,
den ich ihm in vier Abschriften über neutrale Länder zusandte und der
später in deutscher und französischer Sprache gedruckt wurde. Ich nehme
an, daß er ihn erhalten hat. Antwort kam keine. Was sollte er auch
sagen? Mir war es vor allem darauf angekommen, ihm klarzumachen, daß
das deutsche Volk heute noch dasselbe ist, für das er einmal so warm
empfunden hatte, und ferner, daß die Hoffnungen unserer Feinde auf den
kleindeutschen Partikularismus von ehedem trüglich sind. Wenn Vaillant
einmal haßte, so war es bei ihm nur natürlich, daß sein Haß über alle
Grenzen ging. Es ist mir gleichwohl nicht möglich, des Toten anders
als mit Pietät zu gedenken. Leicht mag ihm seine neue Wendung auch
nicht geworden sein. Der Jammer über den Krieg unterwühlte sein Leben.
Man sah ihn in den Wandelgängen der Kammer hohläugig, abgezehrt, mit
stieren Augen umherschleichen, und im Dezember 1915 starb er zu Paris
herzgebrochen nach kurzer Krankheit.



Bedrängnisse.


Unter den jungen Leuten, die bei uns aus und ein gingen, hatte meine
Mutter einen, den ich mit seinem Vornamen Hartmuth nennen will, mit
ganz ungewöhnlicher Wärme ins Herz geschlossen, weil seine gediegenen
Charaktereigenschaften und eine tiefe und dauernde Neigung für mich
ihr mein Lebensglück zu verbürgen schienen. Und sie gestattete ihm,
sich als zukünftigen Schwiegersohn zu betrachten, ohne sich meiner
Zustimmung versichert zu haben. Das jubelnde Mutterherz fiel aus
allen Himmeln, als sie sah, daß wieder einmal unsere Empfindungen
meilenweit auseinandergingen. Und nun geschah das Merkwürdige und fast
Unglaubliche, daß die feurige Kämpferin für alle persönliche Freiheit
und Selbstbestimmung in die ihrer so heißgeliebten Tochter eingreifen
und gewaltsam über ihr Geschick bestimmen wollte. Das Wohlgefallen,
das dieser junge Mann ihr einflößte, brachte sie nämlich zu der
seltsamen Annahme, daß ich eigentlich seine Neigung erwiderte und es
nur nicht Wort haben wollte aus irgendeinem kindischen Eigensinn.
Niemals war sie zu überzeugen, daß sie sich täuschte. Ich konnte keine
Gründe für mein inneres Widerstreben anführen, und daß die Regungen
des Herzens keine Gründe brauchen, wollte die leidenschaftliche Frau
nicht einsehen. Daraus war ein peinvolles Ringen zwischen Mutter und
Tochter hervorgegangen, das über fünf Jahre unter dem größten Herzeleid
für beide Teile fortdauern sollte. Ich verargte es dem Manne, daß
er diese Not mit ansah und sich doch auf die Mutter stützte, statt
freiwillig zurückzutreten. Seine Entschuldigung war: er glaubte
gleichfalls, ich liebte ihn und wüßte es nicht! So fest hatte meine
Mutter, deren Suggestionskraft unwiderstehlich war, sich und ihm diese
Absonderlichkeit eingeredet. Und ich hatte Augenblicke, wo ich in ihrem
Banne nahe daran war, es selbst zu glauben. In seiner Abwesenheit,
brieflich, war ich ihm auch durchaus gewogen, nur seine persönliche
Gegenwart stellte mich jedesmal vor die Unmöglichkeit einer Annäherung.
In einer schwachen Stunde hatte sie mir aber das Versprechen entrungen,
wenigstens kein endgültiges Nein zu sagen, sondern die Entscheidung
in Anbetracht meiner allzugroßen Jugend der Zukunft zu überlassen.
Das war ja für den Augenblick das bequemere, da es mich vorübergehend
der Bedrängnis enthob. Und auch er war es zufrieden, denn jeder Teil
hoffte, der andere würde durch die Zeit zur Einsicht kommen. Aber die
Unklarheit rächte sich schwer an beiden: für mich verlängerte sie
den Kampf und verdarb mir die schönsten Jahre, für ihn hatte sie die
Folge, daß er ein schönes, ihm von anderer Seite entgegengebrachtes
Gefühl übersah und so sein wahres Lebensglück verfehlte. Daß er später
gleichwohl ohne Bitterkeit mir zugetan blieb, war das beste Zeugnis,
das er seinem inneren Wert ausstellen konnte.

Da Mama glaubte, daß der viele Verkehr mit männlicher Jugend mich
seelisch zersplittere und mich verhindere, eine Wahl zu treffen,
erlaubte sie mir keine Ballbesuche mehr und hielt jetzt solche jungen
Leute, die ihrem Schützling gefährlich werden konnten, vom Hause fern.
Hartmuth wollte und wollte nicht begreifen. Er tauchte auf, wo ich
ihn nicht erwarten konnte, und wenn ich mich auf eine Festlichkeit
freute, so fand ich ihn schon mir zum Ritter bestellt, daß das
Vergnügen zum Zwang wurde. Beim Vater hätte ich ja sogleich Schutz
gefunden, aber ihn durfte ich um seiner Ruhe willen nichts von diesen
Kämpfen ahnen lassen. Es wurden beständig kleine Verschwörungen gegen
mich angezettelt, an denen sich auch Dritte beteiligten. Um mich zu
bekehren, schrieb mir der schweigsame Ludwig Pfau einmal einen Brief
von sechzehn Seiten, voll der aufreizendsten Derbheiten, die natürlich
ihren Zweck erst recht verfehlten. Der revolutionäre Denker Pfau hielt
es auf diesem Punkte mit dem rückständigen Männerschlag, für den das
Weib nur als Geschlechtswesen vorhanden war und der ihr ein seelisches
und geistiges Eigenleben aus tiefster Überzeugung absprach. Ich meine
ihn noch zu hören, wie er mir einmal mit kopfschüttelnder Mißbilligung
in seinem breiten Dialekt sagte: Weiber, Weiber -- ihr send net für de
Geischt g’schaffe. Bei diesem Standpunkt erschien ihm das Zurückweichen
vor einer so treuen Neigung als Versündigung am ganzen männlichen
Geschlecht, die er nicht ungerügt lassen zu dürfen glaubte. Solche
rauheren Angriffe fanden mich stets gerüstet, aber der Schmerz meiner
vulkanischen Mutter, die Sorge beider Eltern um meine Zukunft, die ich
nicht erleichtern konnte, zerrissen mir das Herz. Und so oft Mutter,
Onkels, Tanten, Freunde und Freundinnen mich fragten: Warum kannst
du denn nicht? Hatte ich keine andere Antwort als: Ich kann nicht.
Wie hätte ich mich anderen verständlich machen sollen, da ich mich
selber nicht verstand. Hartmuth galt für einen stattlichen Mann, und
ich wußte manche, die stolz und glücklich an seiner Seite geschritten
wäre. Mir aber ging seine ganze Art und Weise wider den Strich. Es
waren nur Äußerlichkeiten, scheinbar ganz unwesentliche Dinge, die so
allverhindernd auf mich wirkten; daß sie der treffende körperliche
Ausdruck für eine der meinen gänzlich fremde Geistesrichtung waren,
empfand ich nur dunkel, ohne es in Worte fassen zu können. Es war dies
die einzige Form, wie mein guter Genius mich vor einem verhängnisvollen
Irrtum zu warnen vermochte, denn ich lebte noch viel zu unbewußt, um
mir selber klar zu sagen, daß die Welt Hartmuths nimmermehr die meine
sein konnte, und daß meine Entwicklung andere, weitere Kreise zu
durchlaufen hatte. Auch sein vieles Hofmeistern und daß er mir all die
Besonderheiten, die er an mir zu lieben glaubte, so schnell wie möglich
abgewöhnen wollte, um mich recht bürgerlich hausbacken zu haben, gab
meinem Bewußtsein nicht die sichere Waffe, die ich gebraucht hätte. Und
die Zusammenstöße mit der Mutter fürchtete ich mehr als alles auf der
Welt. Ich war also immer mehr auf der Flucht vor ihm, als daß ich mich
zu einer Entscheidung gestellt hätte, bei der alle gegen mich waren.
Diese seelische Unreife verursachte die Verschleppung, die ihm und mir
so nachteilig wurde.

Einmal befand ich mich in Stuttgart als Gast bei nahen Verwandten und
besuchte dort meine Freundin Anna Dulk, die sich in einer der meinigen
gerade entgegengesetzten Lage befand, da sie soeben ihre Verlobung
gegen den väterlichen Willen durchgesetzt hatte. Kaum war ich in ihrer
Wohnung in der Olgastraße angekommen, so fuhr ein Wagen vor, und
gleich darauf erscholl Hartmuths Stimme im Flur. Ich hatte gerade noch
Zeit, mit einem Sprung in den Garderoberaum zu verschwinden, da stand
er schon im Zimmer und teilte der verdutzten Anna mit, daß er nach
abgelegtem letztem Examen einen festlichen Tag in der Residenz feiern
wolle und daß er zu diesem Zweck einen Wagen gemietet habe, um mich
mit Zustimmung meiner Mutter zu einer längeren Spazierfahrt abzuholen.
Da er aber voraussehe, daß ich mich weigern würde, mit ihm allein
zu fahren, bitte er um ihre Begleitung und Beihilfe zu seinem Plan.
Er habe auch unterwegs meinen gleichfalls in Stuttgart befindlichen
Bruder Alfred aufgetrieben und in den Wagen gesetzt, damit mir gar kein
Vorwand bleibe, mich der Gesellschaft zu entziehen. -- Was beginnen?
Schlankweg heraustreten, ihm vor dieser Zeugin erklären, daß ich
nicht den Schein einer Fessel tragen wollte, die ich in Wirklichkeit
mir nicht anzulegen gesonnen war, dazu fehlte mir die nötige
Schroffheit. Ich stand hinter der halboffenen Tür, von dem Besucher
ungesehen, und hatte die erschrockene Anna im Gesicht, so daß ich sie
durch Zeichen bedeuten konnte, den Ankömmling so lange wie möglich
hier festzuhalten. Dann schlüpfte ich hinaus und im Flug die Treppe
hinunter, an dem vorgefahrenen Wagen vorbei, aus dem Alfred mich laut
begrüßen wollte. Ich legte den Finger auf den Mund und glitt wie ein
Schatten die Straße hinab. Mich zu verstecken, wagte ich nicht, denn
ich kannte Hartmuths Beharrlichkeit, der imstande war, sich vor der
Haustür meiner Verwandten aufzupflanzen und meine Rückkehr abzuwarten,
sollte es auch Stunden dauern. Ich fand also keinen besseren Rat als
heimzustürzen -- den weiten Weg nach der Silberburgstraße zu Fuß, denn
Fahrgelegenheiten gab es damals keine -- und schleunigst zu erkranken.
Annas Einverständnis ließ mich den nötigen Vorsprung erhoffen. Ich
kam auch richtig früher als der Zweispänner an, stürmte atemlos durch
das Familienzimmer nach dem Schlafgemach, warf die Kleider ab und
verkroch mich ins Bett. Bestürzt folgte mir die gute Tante, um zu
hören, was vorgehe, aber sie erfuhr nichts, als daß ich von einem
plötzlichen Unwohlsein mit Schlafsucht befallen sei und bäte, mich
ein paar Stunden ungestört schlummern zu lassen und unter keinen
Umständen zu wecken. Ich entschlief auch schon im Sprechen, und es war
höchste Zeit, denn eben klingelte es, und Anna erschien, um mich zu
der Spazierfahrt abzuholen. Mit dem Bescheid von meiner rätselhaften
Erkrankung zog sie ab, kehrte aber gleich darauf mit den beiden anderen
Insassen des Wagens zurück. Daß Alfred mir brüderliche Treue hielt und
schwieg, wurde ihm von mir hoch angerechnet. Der andere aber verlangte
in seiner doppelten Eigenschaft als Begünstigter der Mutter und als
angehender Arzt die Patientin zu sehen. Unter dem Druck der Tante
erschien diese im Familienzimmer, blaß und leidend und bereit, gleich
wieder einzuschlafen. Es war an meiner Unpäßlichkeit nicht zu zweifeln,
denn von dem anhaltenden Rasen ging der Puls in Sprüngen. Wäre aber
Hartmuth ein besserer Seelenkenner gewesen, so hätte er aus Annas
verwirrter Miene die Wahrheit ablesen müssen. Nach allerlei Vermutungen
zogen die drei sich endlich zurück und setzten ihre Lustfahrt ohne mich
fort. Sobald das Rollen des Wagens verhallt war, sprang ich genesen
auf und gestand den ganzen Hergang. Der gute Onkel, der eine heitere
poetische Ader hatte, verfaßte ein launiges Gedicht über die mißglückte
Entführung und sandte es Mama als Pflaster auf die Wunde.

Das schlimmste war, daß ich überhaupt nicht wußte, was ich mit mir
selber wollte. Unterkriechen wie die andern, geborgen sein um jeden
Preis oder als vermögensloses Mädchen allen Stürmen preisgegeben, mit
lauter brotlosen Künsten ausgestattet und gar nicht für den Lebenskampf
erzogen? -- Kein Wunder, daß es älteren Freunden um mich bange wurde.
Es gab damals für ein Mädchen keinen Weg ins Leben als durch die Ehe
und -- in wunderseltenen Fällen -- durch die Kunst. Aber die Gabe, an
deren verfrühte Äußerungen die Meinigen so feurig geglaubt hatten,
schien mir wieder entzogen zu sein. Wenn ich in das Meer nebelhafter
Bilder, das immer um mich wogte, hineingreifen wollte, um sie zu
formen, so faßte ich in Luft. Mein Mütterlein meinte, ich hätte nur
da weitermachen dürfen, wo ich nach Lilis Erscheinen stehengeblieben
war. Aber damals hatte ich in kindlichem Trieb Vorhandenes nachgemacht
und mit fremden Mitteln gewirtschaftet. Jetzt, wo ich aus Eigenem
gestalten wollte, stand ich mit leeren Händen da. Und der unstillbare
Drang nach starkem Erleben war zugleich auch der unbewußte Trieb, den
Schatten Lebensblut geben zu können. Immer deutlicher fühlte ich, daß
der Boden Tübingens mir überhaupt für meine Entwicklung nichts mehr
zu bieten hatte. Das weibliche Geschlecht war ja damals so gestellt,
daß es nur vom Leben selber lernen konnte. Meine Studien, ganz mir
selber überlassen, gingen die Zickzackwege des Zufalls. Gesellige
Freuden begannen schal zu schmecken, und ich war meist nur mit dem
Körper anwesend. Meine ganze Anlage zog eine Scheidewand zwischen
mir und der Außenwelt. Menschen und Dinge des Alltags hatten gar
keine Wesenhaftigkeit für mich, wenn ich mich nicht gerade an ihren
Ecken und Kanten stieß. Es quälte mich, wenn in meiner Gegenwart die
bürgerlichen Umstände anderer, ihre Verwandtschaften und dergleichen
erörtert wurden. Dauerte es lange, so meinte ich mich innerlich dabei
aufzulösen. Ich wußte am liebsten nicht einmal genau, wo unsere
Freunde wohnten, daß ihr Kommen und Gehen wie aus unbekannten Reichen
war. Diesen Zug hatte seltsamerweise auch mein Vater in seiner Jugend
gehabt, wie ich aus einer Niederschrift von ihm ersah. Aber es war
freilich schwer, ihn dem jungen Mädchen nicht für Lieblosigkeit
auszulegen, während er nur dem Triebe entsprang, die stillose Enge der
Umwelt durch die Vorstellung aufzuheben.

Ich weiß kein Volk, das ein Wort für Sehnsucht hätte, außer den
Deutschen. Das désir und desiderio der Romanen ist wohl stärker an
Leidenschaft, aber es hat nicht das Auflösende, Halbverschmachtete
unseres Sehnens. Sie alle kennen das Heimweh, aber von dem Weh nach
einer ungekannten schöneren Heimat wissen sie nichts. Woher sollte
den Südländern, die an Natur und Kunst besitzen, was jeden Wunsch zum
voraus erfüllt, die Sehnsucht nach einem schöneren Land, nach einem
Wunschland kommen? Des Deutschen ewige Sehnsucht ist nichts anderes
als seine unglückliche, nie gestillte Liebe zur Form. „Du bist Orplid,
mein Land, das _ferne_ leuchtet.“ Dieses Ungenügen an der Wirklichkeit
ist der Ursprung aller Romantik. Wo das Leben wie ein breiter Strom
zwischen schönen Ufern daherbraust, gibt es keine. Dann ist die
Wirklichkeit mächtiger als jeder Traum.

Mein liebes Schwabenland, von seinen Kindern nur das „Ländle“ genannt
(die Neigung des Schwaben zum Verkleinerungswort hat in der Gestalt
eben dieses Ländles ihre tiefe Begründung), ist ein Gebilde eigener
Art, gleichsam eine Musterkarte aller Länder. Es sieht aus, als hätte
der Schöpfer, bevor er die Erde entwarf, ein Modell davon im kleinen
hergestellt, worauf er jede Form andeutete, die er hernach im großen
ausführen wollte: Berge, Flußläufe, Ebenen, Wasserflächen, alles ist
vorhanden, aber in kleinerem Maßstab und in stetem Wechsel. Immer steht
man wieder vor einem anderen Bild. Diese Vielartigkeit hat nichts
Zwingendes, Stilgebendes wie einfache Größe von ausgesprochener Art,
die allein da ist und alles andere ausschließt. Vorstellungen werden
angeregt, aber nicht erfüllt. Daher lag und liegt vielen Schwaben die
Unruhe von Hause aus im Blut. Wer vom Gipfel des Hohenstaufen blickt,
der meint mit einem Male ein Stück mittelalterlicher Geschichte zu
verstehen: die Weite, die sich auftut, lockt über die niederen Kuppen
weg in fernere südliche Weiten, die Anmut der Landschaft erregt,
aber sie befriedigt nicht, sie erweckt ein unruhiges Verlangen nach
höherer, ernsterer Schönheit, den Drang gen Süden. Solch ein Drang
nach Ausdehnung und Erfüllung war auch in mir. Ich ersehnte mir die
große Linie und die herrschende Form: statt der Alb die Alpen, statt
kleiner Heidestrecken die Pußta oder die Savanne, statt dem Bodensee
den Ozean. Da war ferner ein Geist bürgerlicher Nutzbarkeit über
die ganze Natur verbreitet, gegen den ich mich innerlich auflehnte.
Diese reichen, aber in winzige Gütchen verteilten Kornfelder, diese
endlosen Fruchtbaumreihen, heute ein so rührender Anblick! ließen mich
unbefriedigt. Ich war krank nach dem Zwecklos Schönen, nach Wüste und
Urwald oder nach der strengen monumentalen Landschaft des Südens mit
architektonisch angelegten Gärten und Terrassen aufs Meer. Darum
bedrängte ich meinen guten Vater, mich in der Vakanz nur bis Venedig zu
führen. Ich glaubte, es müsse auch ihn glücklich machen, der doch so
ganz anders geartet war, der in der Jugend ein Unrecht an der Heimat zu
begehen meinte, wenn er nur ihre Grenzen verließ. Aber er konnte mir
keinen Wunsch abschlagen. Es wird mir nichts übrig bleiben, als dem
Kinde den Willen zu tun, sagte er ergeben zu meiner Mutter. -- Doch es
sollte nicht mehr so weit kommen, und schon die Geldverhältnisse hätten
es verwehrt.

Auch Mama begriff meine Abneigung gegen die heimische Enge nicht,
denn da sie die Schranken der Erde überhaupt nicht sah, war für sie
die Weite überall. Und mein beständiges Verlangen nach edler Form
begriff sie noch weniger. Sie genoß zwar den Anblick schöner Menschen
aufs innigste, wie sie sich auch der eigenen adligen Leibesform, die
niemals weder massig noch knöchern werden sollte, mit Behagen bewußt
war, aber die Formlosigkeit war ihr nicht wie mir ein Augenschmerz. Und
alle andern verstanden mich noch weniger; es schien niemand etwas zu
vermissen.

Doch einen gab es in Tübingen, der mich verstand und den ich oft in der
Stille besuchte, wenn wir auch nicht miteinander reden konnten. Sein
Denkmal stand im Botanischen Garten, es prahlte laut und stimmungslos
mit einem Genius, der einen blechernen Stern auf dem Haupte trug,
deshalb ging ich im Bogen daran vorüber nach dem Friedhof. Dort, nahe
der unteren Mauer, lag sein Grab. Man mußte die tief herabhängenden
Schleier der Trauerweide aufheben, dann war man in grüngoldener
Dämmerung mit dem Schläfer allein. Ein schmaler Stein stand schief
eingesunken an dem ungepflegten, damals halb vergessenen Ort. Er trug
den Namen Friedrich Hölderlin und auf der andern Seite den Vers:

    Im heiligsten der Stürme falle
    Zusammen meine Kerkerwand usw.

(Ein Vers, der noch aus seiner Frühzeit stammt, da er „wortreicher und
leerer war“. Man hätte Tieferes und Eigeneres für seine Grabschrift
finden können.)

Mit ihm redete ich von den Griechen. Nur seine immerwährende Schwermut
und Trauer um jene Lebendigen teilte ich nicht. Sie waren ja doch da,
wer konnte sie uns nehmen? Ich vergaß nur, daß für ihn die schwäbische,
ja die deutsche Heimat noch viel, viel enger gewesen, daß, je weiter
man zeitlich zurückging, desto größer die Formlosigkeit war und all die
Dinge, die sein schönheitverlangendes Gemüt so unsäglich beschwerten
und verletzten. Hätte er lachen können, ein befreiendes Lachen, er
wäre vielleicht nicht so frühe untergegangen. Aber er wäre auch nicht
jener Einzige geworden und seine Stimme käme nicht wie ein Klang aus
anderen Welten zu uns herüber.



Der Brand und die Flamme.

Hat der Mann ein Seelenleben?


Ich weiß nicht, ob die kleinen Episoden, die ich hier erzählen will,
nicht vielmehr in die Zeit nach meines Vaters Tode fallen. Mein
Gedächtnis schiebt sie an dieser Stelle ein, weil mir nachträglich
alles Heitere _vor_ jenem dunklen Tage zu liegen scheint.

In der Kronengasse, schrägüber von unserer Wohnung, lag eine
Studentenwirtschaft, die Flammerei genannt, wo Edgar und zuweilen auch
die jüngeren Brüder die Abende verbrachten. Daß es dabei munter und
witzig herging, mußte ich den Beteiligten glauben, als Unbeteiligte
sah ich aber immer nur den unfrohen Ausklang der fröhlichen Stunden.
Zwar trieben sie es gewiß nicht schlimmer als die andern Musensöhne
auch, nur daß jene der Mehrzahl nach nicht unter den Augen ihrer
Mütter lebten. Die meinige konnte sich an das Nachtschwärmen ihrer
Söhne nicht gewöhnen und wollte niemals schlafen gehen, bevor sie
alle daheim in ihren Betten wußte, wenn es auch noch so spät wurde.
Hatte ich sie endlich doch dahin gebracht, daß sie sich niederlegte,
so horchte sie schlaflos, bis sie Edgars Tritt auf der Treppe vernahm,
denn ihm, für den sie von klein auf am meisten gezittert hatte, galten
vor allem ihre Ängste. Im Nu war sie aus dem Bette und auf dem offenen
Gang, ich ebenso schnell, in einen Überwurf gehüllt, an ihrer Seite,
um den aufgrollenden Sturm zu beschwören. Dabei verdiente ich mir,
wie es den Friedensstiftern zu gehen pflegt, bei keinem der beiden
Teile Dank, da der eine nur den gestörten schönen Abend, der andere
nur die in Sorge durchwachten Stunden sehen wollte. Mamas Raschheit
endete gewöhnlich damit, daß der ebenso rasche Sohn alsbald wieder
in die Nacht hinausstürmte und erst zum Morgenkaffee nach Hause kam.
Mir lag es dann ob, das aufgeregte Mutterherz zu beschwichtigen, sie
ins Bett zurückzuführen und bei ihr zu sitzen, bis sie sich in Schlaf
gegrämt hatte. Die wunderbare Frau, die bei der Gedankentiefe eines
Philosophen nicht mehr weltliche Klugheit als ein Kind besaß, wollte
sich niemals überzeugen lassen, daß die Stunde, wo ein Student in
erhöhter Stimmung aus dem Wirtshaus kommt, nicht die geeignete ist,
ihn vom Wirtshausgehen zu bekehren. Leichter hatten es die jüngeren
Brüder, besonders Erwin, der die Kunstschule von Rottenburg besuchte
und in den studentischen Kreisen seiner Zeichenkünste und seines
heiteren mimischen Talentes wegen ein gern gesehener Gast war. Wenn
sich einmal die mütterlichen Vorwürfe über ihn ergossen, so nahm er die
kleine leichte Frau singend in den Arm und tanzte mit ihr, bis ihr Wort
und Atem ausgingen und ihr Unmut sich in Lachen löste.

Eines Tages bat er mich für einen Streich, den er vorhatte, um mein
hübsches hellgraues Straßenkleid. Ich half ihm selber in den Anzug,
bemühte mich, seine schlanke Länge mittels eingestopfter Taschentücher
etwas ins Weibliche zu runden, gab ihm noch Anleitung, gesittet in
den Röcken zu gehen und entließ ihn mit meinem Segen. Der Bengel
sah bildhübsch aus, begann aber auch gleich, seine Augen auf eine
Weise im Kopf zu drehen, daß mir Arges schwante. Edgar stellte ihn
in der Flammerei als eine von auswärts gekommene Base vor, niemand
erkannte ihn, und die schöne, geschmeidige Erscheinung erregte
natürlich das stärkste Aufsehen, denn es war unerhört, daß ein junges
Mädchen aus guter Familie des Abends unter den Studenten saß. Das
Dämchen kokettierte gewaltig, zechte, rauchte, ließ sich mit jedem
einzelnen heimlich ein und gab Betulichkeiten betulich zurück. Ein
hübscher, etwas leichtsinniger Philologe jedoch sah sich für den
Meistbegünstigten an und fing ernstlich Feuer. Seine Huldigungen wurden
so stürmisch, daß Edgar es geraten fand, die gefährliche Verwandte,
durch deren Betragen er sich nachgerade etwas bloßgestellt fühlte,
geräuschlos verschwinden zu lassen. Der erregte Anbeter stürzte ihr
auf die Straße nach und rannte die ganze Stadt nach dem Gegenstand
seiner Flamme ab, während der Schalk schon still daheim im Bette lag.
Er behielt jedoch meine Kleider und fuhr dann und wann wieder hinein,
um schnell irgendwo aufzutauchen und spurlos zu verschwinden, worüber
der Suchende in immer größere Leidenschaft geriet. Edgar warnte ihn
vor der Kokette, deren Besuch man ihrer unziemlichen Haltung wegen
habe abkürzen müssen; der andere behauptete dagegen, sie sei noch in
der Stadt und werde grausamerweise vor ihm, der es doch ehrlich meine,
versteckt. Edgar mußte schließlich dem Jammer ein Ende machen und
erklären, daß das schöne bacchantische Kind sein jüngerer Bruder sei.
Der Gefoppte kam wie von Sinnen, weinte, sprach vom Totschießen, fand
aber am Ende seinen Trost darin, das zierliche Bürschchen, das ihn an
der Nase geführt hatte, wärmstens ins Herz zu schließen. Ich erhielt
nun endlich auch mein Kleid zurück, mußte es aber wegschenken, denn
nachdem es solche Orgien gesehen hatte, mochte ich es nicht mehr an
meinem Leibe fühlen.

Die Zusammenkünfte in der Flammerei gingen immer weiter und die Ängste
meiner guten Mutter ebenfalls. Sie sah es deshalb gern, wenn auch
unsere jungen Hausfreunde die Flammerei besuchten, denn von jedem
hoffte sie, er würde einen günstigen Einfluß üben und die Sitzung
abkürzen. Aber jene verfielen alsobald dem Genius loci und blieben
ebenfalls sitzen. Darum entzog sie ihnen ihre Gunst und sah immer in
dem zuletztgekommenen Verführten den Verführer. Nicht anders ging
es unserem Freunde Ernst Mohl. Eines Abends, da die Wirkungen der
Flammerei an den jungen Herren gar zu deutlich hervortraten, schloß der
ältere Freund sich ihnen als getreuer Eckard auf dem Heimweg an, um
den häuslichen Zusammenstoß abzuschwächen. Als sie miteinander nicht
eben geräuschlos zur Tür hereinkamen, wollte Mama gleich mit Vorwürfen
gegen den vermeintlichen Anstifter losbrechen, aber ich kam zuvor,
indem ich selber das Strafgericht übernahm und schließlich den Reuigen
verurteilte, des anderen Morgens um neun Uhr mit einem Bußgedicht über
das Thema „Der Brand und die Flamme“ anzutreten.

Dadurch bekam der Auftritt unerwartet eine heitere Wendung. Während
jener bußfertig die Strafe auf sich nahm und das Gedicht im
Katzenjammer zu schmieden versprach, gewannen die Hauptschuldigen Muße,
sich friedlich in ihre Betten zu verziehen.

Richtig stellte sich der Gemaßregelte des anderen Tages zur bestimmten
Stunde ein und brachte sein Gedicht, das also lautete:


Der Brand und die Flamme

    Daß ich, dieweil ich in der Flamme
    Mir antrank einen kleinen Brand,
    Obgleich ich sehr noch auf dem Damme,
    Dir meine Schwäche eingestand,

    Das hat in dir des Zornes Flamme
    Zu solchem Übermaß entfacht,
    Daß du, Herzlose und Grausame,
    Mir eine Strafe zugedacht:

    Ich solle gleich nach Hause gehen,
    Ausschlafen von der Kneiperei,
    Und dann in Versen dir gestehen,
    Wie sehr ich zu verdammen sei.

    Ich werde -- ehrlich es zu sagen,
    Ist Rache ebenso wie Pflicht --
    Noch manchen aus der Flamme tragen:
    Die Ente läßt das Schwimmen nicht.

Freilich, die Ente am Schwimmen zu hindern, hätte es ein Wunder
gebraucht. Der Trunk galt damals noch beim deutschen Mann in viel
höherem Maß als heute für einen Ausweis von Männlichkeit und war
zugleich von einer Art Weihe umgeben, denn man glaubte noch das Weben
altgermanischen Heldengeistes beim Humpen zu verspüren. Dieses deutsche
Erbübel drückte dem ganzen Leben seinen Stempel auf und trug viel zu
der gesellschaftlichen Formlosigkeit bei, weil es die Geschlechter
trennte. Ältere Herren hielten es meist in Damengesellschaft nicht
aus; kam solch ein männlicher Gast in die Familie, so erging in kurzem
an den Hausherrn die Frage: Wollen wir _streben_? Darauf erhoben sie
sich und strebten -- natürlich nach dem Wirtshaus. Dort wurden erst
die tieferen Gespräche entbunden, die kein weibliches Ohr vernahm als
das der Kellnerin. Wie durfte man nun erwarten, brausende Jünglinge
von einer Sitte fernzuhalten, die von ihren Lehrern und Vorbildern mit
Inbrunst geübt und von den Dichtern als einer der höchsten Lebenswerte
besungen wurde? Auf diesem Punkte konnte man sich nie verstehen. Ich
war natürlich den Wirtshäusern, die mich so viele schlaflose Nächte
kosteten, spinnefeind, und wenn man auf gemeinsamen Spaziergängen in
eine Wirtschaft geriet, wo die männliche Jugend sich alsbald festhakte,
so saß ich nach kurzem wie auf Kohlen. Edgar klagte, daß ich den
Komment nicht erfaßt hätte, und suchte mich aus dem Hafis und Anakreon
von der Poesie der Schenke zu überzeugen. Aber vergeblich: auf einer
Holzbank vor dem Bierglas zu sitzen, gehörte für mich zu den schwersten
Geduldsproben, und selbst dem grünen Blätterdach der Roßkastanie
wurde ich gram, so schön seine lenzlichen Blütenkerzen waren, weil
dieser Baum sich in meiner Vorstellung mit dem Sonntagspublikum der
Wirtsgärten und dem Gegröl der Kegelbahn unzertrennlich verband. Da
gegen den germanischen Durst in keiner Weise aufzukommen war und ich
die Erfahrung machte, daß auch diejenigen unserer jungen Freunde,
die mir die ritterlichste Ergebenheit bezeigten, sobald sie zwischen
meiner Seelenruhe und dem Wirtshaus zu wählen hatten, dem Wirtshaus
den Vorzug gaben, und kein Vorsatz, kein Versprechen stark genug war,
sie zu binden, wurde ich allmählich am männlichen Geschlecht völlig
irre. Und in meiner Verzweiflung setzte ich mich eines Tages nieder,
um eine Untersuchung zu schreiben über die Frage: „Hat der Mann ein
Seelenleben? Oder ist er nur ein Gefäß zur Aufnahme von Flüssigkeit?“
Ich brachte es aber nicht weiter als bis zur Überschrift, denn ich kam
über das Für und Wider nicht ins klare.

Als ich einmal nach Jahrzehnten, kurz bevor Edgars arbeitsreiches Leben
vorzeitig schloß, mit ihm in Florenz beisammen saß und wir der alten
Zeiten gedachten, bekannte ich ihm, mit welchem literarischem Vorsatz
ich mich dazumal in Tübingen getragen hatte und wieso ich über die
Beweise für das Seelenleben des Mannes nicht schlüssig geworden war. Da
strich er sich schmunzelnd über den Bart und sagte: Ich glaube jetzt
die Frage dahin entscheiden zu können, daß der Mann unbestreitbar ein
Seelenleben hat, daß ihn aber dieses nicht hindert, auch ein Gefäß zur
Aufnahme von Flüssigkeit zu sein. -- Sprach’s und leerte mit Andacht
sein Glas Chianti.



Der 10. Oktober.


Während die Geister der Jugend im stärksten Brausen waren und noch kaum
irgendwo die Linien einer künftigen Entwicklung hervortraten, neigte
sich das Leben des Vaters still und unbemerkt zum plötzlichen Ende. Ich
sollte ihn verlieren, ohne der Schätze, die er zu geben hatte, anders
als durch die Luft, die ihn umwehte, teilhaft geworden zu sein. Einen
zärtlicheren Vater hat es nie gegeben. Er liebte alle seine Kinder mit
gleicher Stärke, ich aber war ihm mehr als bloß ein heißgeliebtes Kind,
er glänzte auf, wenn ich nur ins Zimmer trat, denn in der einzigen
Tochter sah seine abgöttische Zärtlichkeit die Harmonie der Dinge
selbst, den Beginn der Ordnung im Chaos. Bei seiner hohen Schätzung
des weiblichen Geschlechtes sprach er mit mir gar nicht wie der Vater
mit seinem Kinde, sondern wie ein Ritter mit der Dame seines Herzens.
Aber gerade das hatte zur Folge, daß ich geistig nicht so viel von
ihm empfangen konnte, wie es für beide Teile wohltuend gewesen wäre.
Bei ihm gesellte sich zu einer angeborenen Zurückhaltung, die der fast
mimosenhaften Zartheit seiner Seele entsprach, die Scheu, der inneren
Entwicklung vorzugreifen, daher ich meistens nur ahnte, aber es nicht
aus seinem Munde wußte, wie er selber die Dinge ansah. Diese Scheu
wirkte nun aber hemmend auf mich zurück, daß ich nicht wagte, ihm von
dem zu reden, was eigentlich in mir vorging. So fand ich auch nicht den
Mut, mit ihm über seine Werke zu sprechen, die mir doch längst vertraut
waren, und wie wohl hätte dem Unverstandenen diese Teilnahme getan!
Die Schweigsamkeit, die ich von jeher an ihm kannte, ließ mich den Weg
nicht finden, und den Brüdern ging es, wie sie mir später gestanden,
ebenso. Immer verschob ich, was ich ihm gerne sagen wollte, bis es
plötzlich zu spät war. Er selber war ja ohne Familie aufgewachsen und
hatte sich erst in vorgerückteren Jahren, nach einer Jugend voll Kampf
und Entbehrung, verheiratet; so trat er schwer mehr aus der inneren
Einsamkeit heraus. Und das drängende junge Wachstum überwucherte nun
fast den edlen Stamm. Vor allem stand der Altersunterschied von vierzig
Jahren einem so unmittelbaren Austausch wie mit der Mutter entgegen.
Manches Wort von ihm, das wie ein Lichtstrahl auf die Dinge fiel,
würde mir erst im späteren Leben richtig aufgegangen sein, hätte das
ungetreue Gedächtnis mehr davon bewahrt. So fragte ich ihn einmal über
das Hohelied: Was meint nur Salomo, wenn er sagt: Du bist schön wie der
Mond und schrecklich wie Heeresspitzen? Da lächelte der Dichter: Dem
Liebenden ist der Anblick der Geliebten immer furchterregend. Das klang
mir ganz sibyllinisch, weil ich die Macht, von der die Rede war, selber
noch nicht erfahren hatte.

Daß ich ihn verlieren könnte, trat mir nie so recht deutlich vor die
Seele, benommen, wie ich war, von der steten Sorge um die Mutter. Es
kamen ja jetzt die Tage, wo sie ganz in der Pflege ihres herzkranken
Jüngsten aufging, sich nicht mehr schlafen legte und niemals von ihrer
geliebten Pflicht abgelöst sein wollte. Sie alterte und wurde bleich
wie ein Schemen; freilich genügte dann ein Wort, das in ihrem Innern
zündete, sie augenblicks zu verwandeln und zu verjüngen. Der Vater
aber stand noch hoch und aufrecht, mit den ersten Schneeflocken in
Haar und Bart und dem immer wieder hervorbrechenden Glanz der Augen.
Der heiße Sommer 1873 brachte eine ängstigende Erscheinung. Geistige
Anstrengung und ein leichter Sonnenstich hatten eine Überreizung des
Gehirns verursacht, die ihn rastlos umtrieb. In diesem Zustand wollte
er nur mich um sich haben, weil er bei mir die Ruhe fand, die seinen
Nerven nottat. Täglich machten wir damals zusammen lange, stürmende
Gänge über Felder und Wiesen, die ihn zu erfrischen schienen. Dabei
erlebte ich einmal einen heftigen Schrecken, als auf dem Heimweg unter
dem Museum ein stark angetrunkener Korpsstudent mir mit glasigen Augen
allzu frech ins Gesicht starrte und mein Vater auf ihn zutrat, wie um
ihn zu zermalmen; zum Glück rissen die Kommilitonen den Berauschten
weg. Mit Eintritt der kühleren Jahreszeit schien sich das Leiden zu
bessern. Aber ich erinnere mich noch gut, daß die Bangigkeit nicht
mehr aus meiner Seele wich, Angstträume suchten mich heim, ich fühlte
in allen Nerven das Heranrücken eines Unglücks, wußte aber nicht, von
welcher Seite es erwarten, denn der Sorgen waren so viele. Da kam der
verhängnisvolle 10. Oktober, der uns den Vater unvorbereitet und ohne
Abschied hinwegnahm.

Ich weiß nicht, ob es Seelen gibt, die imstande sind, einen jähen,
unermeßlichen Verlust, besonders wenn es der erste ist, augenblicklich
mit seiner ganzen Schwere ins Bewußtsein aufzunehmen. Wenn ich
später Menschen in solchen Fällen sogleich in ein verzweifeltes
Weinen ausbrechen sah, so blieb es mir immer ungewiß, ob dies nicht
eher eine Abwehrbewegung gegen die Erkenntnis oder gar ein unbewußt
vollzogenes Herkommen sei. Ich jedenfalls konnte, auf der Straße von
der Schreckensbotschaft überrascht, das Geschehene im vollen Sinn
des Wortes nicht _fassen_, und dieses Unvermögen verursachte eine
schaurige Leere, die quälender war als der wildeste Schmerz. Beim
atemlosen Heimstürzen gingen die Stimmen des Tages weiter in meinem
Ohr, die jähe Lähmung des Gefühls war durch das Wort „tot“, das ich mir
innerlich zurief, ohne einen Sinn darin zu finden, nicht zu heben. Und
das friedevolle, aber zu Stein gewordene Haupt in den Kissen, leicht
zur Seite geneigt, als wollte es die Welt nicht mehr sehen, machte mir
das Rätsel des Todes nur noch rätselhafter. Ein Märtyrerantlitz, in
dem das tiefe Lebensleid durch überirdische Hoheit nicht ausgelöscht,
aber überwunden war. Kein Nachglanz einer Freude lag darauf, nur das
Erlösungswort: Es ist vollbracht. Ich lernte nun plötzlich sein Wesen,
das ich bisher nur bruchstückweise im Licht der Stunde gesehen hatte,
als ein Ganzes zu überschauen und begriff den nie ausgesprochenen
Schmerz um die unverstandenen Werke seines Genius und den noch größeren
um die nicht geschaffenen, die durch den Druck des Lebens in ihm
ertötet worden waren. Und sein Alleinstehen inmitten einer liebenden,
aber für ihn zu lauten Familie. Es fehlte die Seele, die nur für ihn
gelebt und ihm in wunschloser Hingabe durch ihr Eingehen vergütet
hätte. Seiner Gattin war unter den zerreibenden Mutterpflichten und
dem heroischen Kampfe gegen die Not die Zeit für ihn immer knapper
geworden. Ich war zu jung und von innen und außen zu sehr bedrängt für
das, was er bedurft hätte: ein stilles Hand in Hand durch feierliche
Abendlande Gehen. Und jetzt kam alles Erkennen zu spät. Wie oft hatte
ich schon geträumt, ich hätte eines meiner Lieben verloren, und als
der Morgen durchs Fenster sah, war alles wieder gut. Daß es jetzt nie
wieder gut werden konnte, mußte erst Tag für Tag neu erlebt werden.

In dieser jähen Wende lernte ich meine Mutter von einer völlig
neuen Seite kennen, die sie aber späterhin bei allen schweren
Schicksalsschlägen hervorgekehrt hat: die leidenschaftliche Frau, die
jedes Unglück Jahre voraus beweinte, stand jedesmal, wenn es wirklich
eintraf, in der erhabensten Fassung da. Am Morgen nach unseres Vaters
Tode fand ich sie, wie sie im Wohnzimmer, das sie sorglicher als sonst
aufgeräumt hatte, dem Kanarienvogel das Wasser wechselte. Du sollst
nicht mit uns leiden müssen, armes Tierchen, hörte ich sie sagen.
War’s heldenhafte Selbstüberwindung oder vermochte auch sie den Tod
nicht zu erfassen? Ich konnte es nie ergründen. Eine Gehobenheit lag
über ihrem ganzen Wesen, die mich den schwersten Rückschlag fürchten
ließ. Es kam keiner. Sie faßte sich ganz fest in die Zügel. Mit einem
Blick übersah sie unsere unsäglich schwierige Lage und ihre Pflicht,
das Ganze zusammenzuhalten. Jetzt zeigte sich erst recht die sittliche
Macht ihrer Natur in der Wirkung auf ihre Umgebung, da die wilden
Jungen trotz der Erziehungsfehler, die sie begangen hatte, nicht um
Haaresbreite von dem engen Wege abwichen, auf dem es nun weiterzugehen
galt. Die Jüngeren mußten im Heranwachsen auf all das verzichten, was
sie den Ältesten hatte genießen sehen. Sie taten es, ohne zu murren. Es
war ja das Selbstverständliche, aber das Selbstverständliche ist nicht
immer das, worauf man mit Sicherheit zählen kann.

Das Alltagsleben renkte sich wieder ein. Aber eine Stille lag jetzt
über dem Hause, in der die Stimme des Toten lauter zu den Seinigen
redete, als es je die des Lebenden getan hatte. Paul Heyse, der
ihm in seinem letzten Jahrzehnt nahe Verbundene, nahm sich mit
Freundestreue des geistigen Nachlasses, dem wir noch nicht gewachsen
waren, an und gab schon im folgenden Jahr die gesammelten Werke
heraus. Man hatte Korrekturen zu lesen, Texte zu vergleichen und
Stoff für die Lebensbeschreibung herbeizuschaffen. Im Sommer 1874
übersandte sein alter Freund Mörike nach einer ergreifenden Begegnung
mit mir in Stuttgart und einem darauffolgenden Besuch, den Mama
und ich ihm in Bebenhausen machten, unseres Vaters Jugendbriefe,
die zusammen mit denen Mörikes einen köstlichen, später von J.
Bächtold bei der Herausgabe nicht völlig gehobenen Schatz bildeten.
Dazwischen kamen neue Erschütterungen durch die wiederkehrenden
schweren Krankheitsanfälle, die unseren Jüngsten mit steigender Gefahr
heimsuchten. Die beiden Mediziner Edgar und Alfred konnten schon mit
ärztlicher Hilfe beispringen und teilten die Nachtwachen mit der
angstgequälten Mutter. Ich saß fast die ganze Zeit am zweiten Bande
meiner Nievoübersetzung. Über den Ertrag war im voraus bestimmt. Der
leere, schon einsinkende Hügel auf dem Friedhof, wo unsere Blumengrüße
von der Sonne gedörrt und vom Regen zerklatscht wurden, sah mich bei
jedem Besuch wie ein stiller Vorwurf an. Eine Zeitlang wartete ich, ob
sich nicht die Heimat jetzt ihres verkannten großen Sohnes erinnern
und ihm den späten Dank an seinem Grabe abtragen würde. Als aber alles
still blieb, trat ich selbst mit einem Bildhauer in Unterhandlung. Und
nun sollte das Denkmal auch so feierlich wie nur möglich sein, kein
bloßer behauener Stein, sondern ein Stück atmender Kunst. Man einigte
sich über die Kopie einer lebensgroßen antiken Muse in Sandstein
auf hohem Sockel. Der geforderte sehr hohe Preis stand außer allem
Verhältnis zu meiner Lebenslage, aber gerade das empfand ich wohltuend.
Solch ein Totenopfer für den Abgeschiedenen, der sich nicht mehr daran
freuen konnte, der mit einem Zehntel dieser Hingabe im Leben glücklich
gewesen wäre, mochte wohl einer kühlen Vernunft widerstreiten, aber
der erschütterten Seele war es ein Bedürfnis. Und auch die Vernunft
wollte sich der materialistischen Zeitströmung zum Trotz nicht völlig
überzeugen, daß zwischen dem Gestorbenen und uns kein Band mehr möglich
sei; aus Träumen kam es oft wie ein tröstliches Zeichen. Schritte
führten in das dunkle Land hinein, denen man einmal ruhig nachgehen
konnte. Vielleicht daß sich dann von drüben eine Hand entgegenstreckte,
deren Berührung wieder Schutz gab. Aber das, was hier noch übrig
war und da unten lag in der unendlichen Vereinsamung des Grabes,
ängstete die Vorstellung. Denn die Wohltat der Verbrennung, die er
sich ersehnt hatte, gestatteten die Satzungen seiner Zeit noch nicht.
Die Winterkälte der zufrierenden Erde wurde etwas Entsetzliches.
Jeder Schritt auf der Eisbahn, die sonst das Winterparadies gewesen,
schien fühllos über die verlassenen Toten wegzugleiten. Und jeder kalte
Windstoß fuhr mit einem schaurigen Griff ins Herz:

    Die weißen Flocken fallen dicht
    Auf Dach und Mauern;
    Ich drück ins’ Kissen mein Gesicht
    Mit Schauern.

    An einen Schläfer denk’ ich, hart
    Im steinigen Bette.
    Sein Pfühl ist kalt, von Eise starrt
    Die Stätte.

    Im engen Schreine hingestreckt,
    Ruht er verborgen,
    Kein Lichtstrahl wärmt ihn mehr, ihn weckt
    Kein Morgen.

    Und um sein kaltes Kissen, weh,
    Die Winde blasen,
    Mit weißem Linnen deckt der Schnee
    Den Rasen.

    Mich schauert und die Ruh’ ist fort
    In nächtiger Stunde,
    Denk’ ich an jenen Schläfer dort
    Im Grunde.

In der tiefen Stille jener Tage war plötzlich der unsichtbare Gefährte
meiner ersten Jugend zurückgekehrt. Er redete wieder vernehmbar
in den Nächten, und ich schrieb alles unbedenklich nach, was er
sagte. Ich nannte ihn bei mir den „Anderen“ und meinte mitunter
seine Nähe körperlich zu spüren. Es konnte vorkommen, daß ich des
Nachts bei plötzlichem Erwachen seine Stimme noch nachklingen hörte
mit irgendeiner Traumgabe, hinter der ich dann einen tieferen Sinn
suchte. Aber es blieb alles nur Selbstgespräch und verschönernde
Umgestaltung des eigenen Lebens. Wir Schwabenkinder wußten nicht, wie
man aus Poesie Literatur macht. Nur ein paar meiner Sachen fanden
durch Vermittlung unserer treuen Freunde Hemsen und Vollmer den Weg
in ich weiß nicht mehr welches Dichteralbum. Immerhin war es schon
ein Trost, den Schwerpunkt in sich selber zu fühlen, da jede neue
Verlockung, das Lebenssteuer bequem in andere Hände zu legen, an
einem neuen Nein des Herzens scheiterte. Da war einer, der mir in
sehr schwerer Zeit zart und hilfreich zur Seite gestanden und der
in der Stille sein Leben auf mich eingerichtet hatte. Da er mich
niemals bedrängte, glaubte ich eine wahre und tiefe Dankbarkeit für
ihn zu empfinden. Aber wie schnell nimmt sich das Herz sein Recht
zum Undank, wenn es entdeckt, daß mit den Liebesdiensten erworben
werden soll, was außer jedem Preise steht. So kam der Tag, wo ich zu
meinem eigenen Leid auch diese Erwartung vernichten und ein wertes
Band zerschneiden mußte. Es war immer derselbe gute Geist, der von
innen heraus unheilbare Mißgriffe verhindern wollte, aber er schuf
damit eine Leere um mich her, in der die junge Seele bisweilen an sich
selber irre ward. Der Kreis lebensfroher junger Menschen, der uns in
den letzten Jahren umgeben hatte, war in alle Winde zerstreut, denn in
einer Universitätsstadt wechseln die Gesichter schnell. Neue kamen und
glitten wie ein Schattenspiel vorüber. Dazu die dunkle Pein der Jugend,
keinen Zusammenhang in den Dingen zu sehen und von sich selber nichts
zu wissen. Gestriges war gleich verwischt, das Heute hatte nur eine
halbe Wirklichkeit und fiel jeden Abend wie welke Blätter zu Boden; da
war nur immerdar ein lockendes, versprechendes Morgen, das vor einem
herwich wie der Horizont.

Edgar lebte unter dessen mit Inbrunst den Tag, von dem er keine
Stunde verlieren wollte. Die inneren Hindernisse, die mir immer wieder
den Becher vom Munde zogen, begriff er nicht und sah mein Tun mit
Verwunderung. Er hatte es eilig mit dem Leben, eiliger als wir anderen,
als ahnte er, daß seine Zeit knapper bemessen sei. Doch hatte diese
Lebensgier nichts mit der schalen Genußsucht einer späteren Jugend
gemein: er wollte das Leben heroisch ausschöpfen; auch Kampf und Qual
waren ihm nur andere Formen der Freude und ebenso willkommen. Dabei
war sein Lebensgefühl von solcher Stärke, daß er mir einmal gestand,
so sehr er als Arzt die Erfahrung des Todes habe, könne er sie doch
nicht auf sich selber anwenden, ja er fühle die körperliche Gewißheit
in sich, daß er niemals sterben werde. Diese Worte, so wunderlich
sie klangen, waren mir ganz aus der Seele gesprochen. Dasselbe
unbezwingliche körperliche Hochgefühl der Jugend, dieses wie in einem
Siegestanze Dahingehen und sich als unzerstörbar empfinden war auch
in mir. Wir Geschwister standen uns in den Jahren zu nahe und waren
uns auf manchen Punkten zu ähnlich, um uns in der Dürre des Lebens zu
ersetzen, was beiden fehlte. Wie innig würde er ein kleines, hilfloses,
nur an seinen Augen hängendes Schwesterlein beschützt haben! Wie wohl
hätte mir die reife Männlichkeit eines viel älteren Bruders getan!
So pilgerten wir zwar immerdar nach demselben Mekka der Seele, aber
häufig, wie einst auf unserer Schweizer Fahrt, auf beiden Seiten der
Straße. Jedes gab dem andern die Schuld. Er fühlte seine Liebe als
die leidenschaftlichere und hielt sie deshalb für unerwidert, ohne zu
begreifen, wie schwer es bei seinen auf und ab zuckenden Stimmungen
und der Gewaltsamkeit seines Wesens war, ihn zu begleiten. Einmal
verglich ich uns beide in einem nur für mich bestimmten Gedicht mit dem
Geschwisterpaar der nordischen Sage, das den Reigen von Tag und Nacht
führt und sich bei aller Liebe nie begegnen kann. Mama steckte ihm das
Gedicht zu. Er nahm das Gleichnis auf in einer schmerzlichen Antwort,
worin die Worte standen:

    Weißt du denn, welche Geister in mir wohnen?
    Kennst du mich, der ein Leben durchgelebt?
    Nicht Schatten, nein, lebendige Dämonen
    Sind es, in deren Zwang mein Herz erbebt.

Er hatte recht, ich kannte ihn nicht und hielt auch diese Worte
nur für eine poetische Formel. In der Familie beobachtet man eine
allmähliche Wandlung am allerwenigsten. Für mich hatte er immer noch
viel von dem Jünglingsknaben, der mir in Niedernau im eifersüchtigen
Schmerz die Kränze vom Arm gerissen und mich auf dem Rigi durch seine
Wunderlichkeiten gepeinigt hatte, weil er jenem auch äußerlich noch so
ähnlich sah. Daß nach seinem Übergang von der Philologie zur Medizin
der schwärmerische Blick seiner Augen nach und nach einem Ausdruck
durchdringender Bestimmtheit wich, das vollzog sich zu langsam, um
in die Wahrnehmung zu fallen. Ich wußte auch vor allem nichts von
den Herzensstürmen, die schon über ihn hereingebraust waren, und wie
Frauenliebe an ihm gemodelt hatte. Und die dämonischen Plötzlichkeiten,
denen man ausweichen mußte, ließen den darunter verborgenen, straff
gespannten und stetigen Willen nicht in seiner wahren Bedeutung
erscheinen. An die Schnelligkeit seiner wissenschaftlichen Entwicklung
aber war man schon so gewöhnt, daß sich niemand groß verwunderte, ihn
mit einundzwanzig Jahren als Assistenzarzt an der geburtshilflichen
Klinik zu sehen, wo er seine Altersgenossen und zum Teil noch ältere
Studierende zu Schülern hatte.



Wieder bei den Griechen.


Im Jahr, das auf meines Vaters Tod folgte, kam Ernst Mohl von einer
Hofmeisterstelle in der Pfalz noch einmal zur Vollendung seiner Studien
auf kürzere Zeit nach Tübingen zurück. Und jetzt machte dieser Freund
meiner Jugend, der stets für die Bedürfnisse meiner Natur das meiste
Verständnis gezeigt und mich durch seinen Glauben gestützt hatte, mir
ein Geschenk, das mich auf alle Jahre meines Lebens bereichern und
erheben sollte: er unterrichtete mich im Griechischen.

Den Homer in der Ursprache zu lesen, war mein alter Wunsch, allein die
Zeit, die vor uns lag, war knapp, und ich zweifelte, ob es möglich sein
würde, in der Schnelligkeit so weit zu kommen. Der unternehmende Lehrer
aber war seiner Sache sicher. Wir begannen nach kurzer Vorbereitung
mit dem Xenophon, der mir durch seine immer wiederkehrenden Wendungen
schnell einen gewissen Wort- und Formenschatz übermittelte. Während
des Sommers wurden vier Bücher der Anabasis gelesen. Dann unterbrach
eine Reise nach Wien die Studien, die noch kaum zwei Monate gedauert
hatten. Als ich, erfüllt von den Eindrücken der Kaiserstadt, vom
Burgtheater mit der Wolter und Lewinsky und nicht am wenigsten vom
Wurstlprater, zurückkehrte, wurde das Griechische frisch aufgenommen.
Und zwar ging es jetzt ohne weiteres ans Ziel meiner Wünsche, die
Ilias, die mir von den beiden wunderbaren Gedichten immer das
unvergleichlich höhere war. Die Begeisterung für den Inhalt trieb uns
mit Sturmschritten vorwärts. Am ersten Tag wurden fünfundzwanzig Zeilen
gelesen, am nächsten fünfzig, am dritten hundert, und jeden Tag wurde
nun die Zahl verdoppelt, bis wir dahin kamen, in einer jeweiligen
Sitzung einen ganzen Gesang aufzuarbeiten, wenn es auch bis zum Abend
dauerte. Da der Umtrieb im gemeinsamen Wohnzimmer dabei zu störend
war und die sparsame Josephine in dem kalten Frühwinter kein zweites
Zimmer heizen wollte, brachte der eifrige Lehrer zuweilen ein paar
Scheiter aus seinem eigenen Vorrat unter dem Mantel mit, was dann doch
die Strenge der sorgenden Schaffnerin zum Schmelzen brachte, daß sie
uns ein ruhiges Lernstübchen wärmte. Unbeschreiblich war mein Entzücken
am Urtext meiner Lieblingsdichtung. Der treffliche alte Voß hatte
mir ja mit dem Inhalt wohl auch die Ehrwürdigkeit der homerischen
Sprache übermittelt, aber er konnte nur ihr Alter wiedergeben, nicht
ihre Jugend, weil ihm keine junge Sprache zur Verfügung stand. Wie
anders klang das alles nun im Griechischen! Aus jedem Wort und jedem
Partikelchen strömte Jugend herein, eine Jugend, wie es seitdem keine
mehr auf der Welt gegeben hat. Oft war es, wie wenn ein Kind in seiner
bilderhaften Unschuldsprache Dinge redet, in denen sich ein höherer
Sinn spiegelt. Da, wo Hektor die Warnung des ungünstigen Vogelflugs
zurückweist, läßt Voß den Helden antworten:

    _Ein_ Wahrzeichen nur gilt: fürs Vaterland tapfer zu kämpfen.

Wacker und gut. Aber wie lautete nun die Stelle bei Homer?

         Εἷς οἰωνὸς ἄριστος ἀμύνεσθαι περὶ πάτρης.
    (_Ein_ Vogel ist der beste: die Heimat beschirmen.)

Es war, als ob mitten in dem harten deutschen Frostwetter der schöne
griechische Vogel leibhaft zum Fenster hereingeflattert käme, daß ich
vor Überraschung einen Schrei ausstieß. In nicht mehr als dreißig Tagen
wurde die ganze Ilias mein, eine Meisterleistung des Lehrers, die
ihm später niemand glauben wollte. Die Brüder, die mindestens ihre
vier Jahre im Gymnasium hatten schanzen müssen, bevor sie überhaupt
an den Homer kamen, schüttelten ungläubig die Köpfe und ärgerten
sich doch zugleich ein wenig über die von ihnen verbrauchte Zeit;
besonders Alfred rächte sich am Lehrer und an der Schülerin durch
spöttische Bemerkungen. Allein wir ließen uns nicht stören. Wenn es
auch etwas holterpolter durch die Grammatik ging, so war doch der
Lehrer zu gewissenhaft, um meine Findigkeit im Erraten des Sinnes
durchgehen zu lassen; es mußte jede schwierige Form vorgenommen
und genauer untersucht werden, bevor er meine Ungeduld weitereilen
ließ. Daher mir trotz dem von den Brüdern bemängelten Laufschritt
der Geist der Sprache recht wohl aufging, wenn ich auch natürlich in
der Grammatik nicht sattelfest werden konnte wie sie. Aber ein wie
viel größerer Lebensgewinn floß mir aus den karg bemessenen Studien
zu, als ihnen die dauerhaftere Kenntnis der unregelmäßigen Verba und
der sichere Gebrauch des Aorists gewähren konnte. Meine glückseligen
Kindertage kamen mir noch einmal in verstärktem Glanze zurück. Da stand
wieder das unsterbliche Roß des Achilleus, wie es die wallende Mähne
trauernd durch das Joch senkt, während es dem Halbgott sein nahes
Ende verkündigt. Und ich verstand jetzt klarer, was mich am Bilde
dieses Helden von jeher so einzig gefesselt hatte: daß es keine höhere
Verkörperung des Idealismus durch die Poesie gibt als ihn. Sämtliche
Gestalten der Ilias sind nach dem Leben gebildet von dem vielredenden
Nestor bis zu dem rohen Draufgänger Diomedes, von Odysseus ganz zu
schweigen, aus dem der griechische Mensch mit seinem geschichtlichen
Charakter blickt. Achill allein ist nicht aus der Erfahrung, sondern
aus der Seele geholt. In ihm sehen wir, wie das adligste aller Völker
sich den adligsten aller Menschen _dachte_. Die griechische Geschichte
hat nur _einen_ hervorgebracht, der an ihn erinnert: Alexander, in dem
man mitunter die bewußte Angleichung zu spüren glaubt. Als Sohn der
zartesten Göttin verbindet der Heros das Feingefühl mit dem Dämonischen
und erscheint durchweg auf das Gemütsleben gerichtet. Nicht die Taten
des Achilleus will Homer singen, sondern seinen Zorn. Darum wird er
nur gegen das Ende kämpfend eingeführt, während man die andern immer
beim Totschlagen sieht. Indes jene würgen, sitzt er am Meer und spielt
die Leier, aber es ist dafür gesorgt, daß wir nicht vergessen, wie
ohne ihn nichts Rechtes geschehen kann. Jedes Lob der andern wird
eingeschränkt durch den Zusatz „nach dem tadellosen Achilleus“, wie
der König von jedem Zins den Löwenanteil empfängt; nur die Schlauheit
wird ihm abgesprochen: sie gehört der niederen Menschheit, nicht ihrem
Idealbilde an. Er allein von den Helden Homers ist über das Irdische
erhaben und dadurch den Göttern ähnlich. Er bedarf der Nahrung nicht,
wenn seine Seele in ihren Tiefen aufgestürmt ist, während Odysseus als
der hochbegabte, aber innerlich gemeine Mensch keinen Augenblick des
Leibes Notdurft vergißt. Alle die andern gieren als naive Naturmenschen
nach Gewinn, der Sohn der Thetis schätzt Beute und Sühnegeschenke
nur um der Ehre willen und nimmt auch hierin das spätere Ritterideal
voraus. So erscheint auch seine ganze Umgebung durch ihn veredelt,
indem sie sich ihm angleicht, und sie wirft ihren Adel auf ihn zurück.
Patroklos vor allen, „so sanftgesinnt und so tapfer“, ist wie die
schwächere Verdoppelung eines Regenbogens, ihm in allem ähnlich,
aber weniger als er. Für ihn allein geschehen Wunder: von seinem
unbeschützten Haupt lodert die Feuerflamme Athenes, das unsterbliche
Roß gewinnt Sprache, der kunstfertige Gott schmiedet ihm die Waffen im
Schweiße seines Angesichts. Aber all diese Vorrechte genießt er nur,
weil er das Leben, das ihm so hold ist, wegwirft, um seinem Herzen zu
genügen.

Wie weise der Dichter ihn vom Kampfe aufspart bis zuletzt; der Held
wäre gemein, wenn er jetzt nicht, um den Freund zu rächen, über
alle Schranken ginge, daß seine Taten mit denen der anderen in gar
keinen Vergleich mehr gebracht werden können. Sein Kampf mit dem
Stromgott ist ein Stück antiker Romantik inmitten der Sachlichkeit
Homers. Der tobende Ausbruch des Helden muß seine nachfolgende schöne
Menschlichkeit dem Gemüte desto lebendiger machen, während er doch
auch in seinen weichsten Augenblicken noch der Gefährliche bleibt und
selber vor dem Dämon, der ihn fortreißen könnte, warnt. Wie er mit dem
alten Priamos im Zelte sitzt und die zwei Todfeinde über den Jammer
des Kriegs, dessen Opfer sie beide sind und dem sie bei aller Macht
keinen Einhalt zu tun vermögen, zusammen weinen, das ist vielleicht das
Größte, was der Dichtung jemals gelang.

Auch die homerische Landschaft, die so wunderbar an das Raumgefühl
spricht, wirkte mächtig auf die Einbildung. Die Skamanderebene mit
den gemauerten Gruben für die troischen Wäscherinnen, wie ich deren
später in südlichen Landen viele sehen sollte, und dem ehrwürdigen
Male des Ilos, das in eine graue Zeitenferne zurückweist und
dadurch die dargestellte Gegenwart so jung und so lebendig macht,
das nahe Rauschen der Meerflut, aus der die Thetis steigt, die
geheimnisvolle südliche Nacht, die bei dem Schleichgang des Dolon um
die Griechenzelte webt: dies alles wurde zur persönlichen Nähe und
weckte ein unauslöschliches Verlangen nach dem Boden, aus dem jene
ewigen Gesänge gestiegen sind. Damals gaben Lehrer und Schülerin sich
das Wort, wenn einmal beide es im Leben zu etwas gebracht hätten,
zusammen Griechenland und die Inseln zu bereisen. Ein Menschenleben
mußte vergehen, bevor das Gelübde erfüllt werden konnte. Als es endlich
dahin kam, hielt der griechische Boden noch mehr, als er versprochen
hatte, und war zugleich so vertraut, als ob man eine lange vermißte
Heimat wiederfände: aus Landschaft und Kunst blickte mich wie durch
einen verschönernden Spiegel die deutsche Seele mit an. Vor den noch
erhaltenen Werken der großen Zeit ging mir ganz plötzlich das Geheimnis
der Griechenkunst auf: daß sie nicht um der Kunst willen da war,
sondern um der Religion und dem Vaterlande zu dienen und das Band der
Einheit fester zu schlingen. Der griechische Boden predigt mit tausend
Zungen, daß kein Mensch sich geistig außerhalb des eigenen Volkstums
stellen kann. Und die Hellenen, die mir so oft Lehrmeister gewesen
waren, lehrten mich auch, nach einem im Ausland verbrachten Leben
wieder Deutsche zu werden. --

Nach Beendigung der Ilias lasen wir noch in ähnlichem Zeitmaß die
Antigone und Bruchstücke aus den Lyrikern. Aber der „Agamemnon“ des
Äschylos, nach dem mich gleichfalls verlangte, entmutigte mich bald
durch seine Schwierigkeiten, und auch den begonnenen Aristophanischen
„Wolken“ zeigte sich meine Sprachkenntnis nicht gewachsen.

Um die Weihnachtszeit verließ uns Ernst, um nach Rußland zu gehen. Sein
Abschied war ein kleines Fest. Mama, die ihre Rührung nicht zeigen
wollte, zerdrückte ab und zu im Nebenzimmer eine Träne. Der Scheidende
wollte beim Aufbruch ein paar bewegte Worte sagen, aber seine Schülerin
schob ihm, als er den Mund öffnete, schnell ein Stück Kuchen hinein
und stopfte, während er damit rang, ein zweites nach, daß er zwischen
Lachen, Weinen und Kauen nicht mehr zum Sprechen kam. So schied dieser
treueste meiner Jugendfreunde auf Jahrzehnte aus meinem Leben.

Das Griechische wurde danach noch eine Zeitlang unter anderer Leitung,
aber mehr im philologischen Sinne fortgesetzt, wobei die Poesie
hinter der Grammatik zurücktrat. Dagegen gaben Edgar und ich uns das
Wort, inskünftige, solange wir noch beisammen wären, jedes Jahr
die„Antigone“ gemeinsam in der Ursprache zu lesen, wozu es jedoch
nur einmal und bruchstückweise kommen sollte. Mir aber waren und
blieben die Griechen mehr als bloße Wegweiser des Schönen; diese
herrlich strengen, jeder Willkür abholden Lehrmeister wurden mir auch
Erzieher fürs Leben. Sie bildeten mein seelisches Rückgrat, denn in
der unbegrenzten Freiheit, in der ich mir selber Maß und Gesetz suchen
mußte, wäre ich vielleicht ohne sie zerflattert. Sie warnten mich
auch, den Fuß nicht allzu fest auf die Erde zu setzen und das Auge nie
vor den schaurigen Abgründen zu verschließen, an denen die Blumen des
Lebens blühen.



Unzeitgemäßes und was es für Folgen hatte.


Noch einmal ging mir in der Heimat ein neues Leben auf, als ich meiner
guten Mutter die Erlaubnis abgedrungen hatte, die Reitschule der
Universität besuchen zu dürfen. Schon als Kind war ich auf jeden mir
erreichbaren Pferderücken gestiegen, und da sich der Hausarzt meinem
Wunsche anschloß, um mir bei dem seßhaft gewordenen Leben mehr Bewegung
zu verschaffen, wagte sie nicht nein zu sagen. Die Reitschule war als
akademische Anstalt nach damaligen Begriffen dem weiblichen Geschlechte
verschlossen, daher nie ein Frauenfuß die Reitbahn betrat. Auch wurde
mir eingewendet, daß die nur wenig zugerittenen Zuchthengste vom
Landesgestüt in Marbach, die dem studentischen Reitunterricht dienten,
nicht zu Damenpferden geeignet seien. Dies schreckte mich jedoch nicht
ab, und der damalige Universitätsstallmeister Baron Sternenfels, der
ein Mann von Welt war, kam meinen Wünschen aufs artigste entgegen. So
saß ich denn eines Tages im Sattel, und binnen kurzem war es so weit,
daß ich auf meinem friedlichen alten Ebor neben dem feurigen Othello
des Stallmeisters gen Lustnau trabte. Und da der Lehrer mir nicht auf
die Länge so viel Zeit allein widmen konnte, verband er von nun an
meinen Unterricht mit dem der Schüler. Einmal neckte er mich, indem
er mir am unteren Ende der Reitbahn den Platz anwies und dann einen
plötzlichen Kavalleriesturm gegen meine Stellung befahl. Als Roß und
Reiterin ruhig blieben, war er mit meinen Nerven zufrieden. Da sah man
denn des öfteren einen langen Reiterzug durch die Straßen stampfen mit
einem blonden Mägdlein an der Spitze neben dem Stallmeister, ein in
Tübingen nie dagewesener Anblick. Es tat mir leid, meinen Mitbürgern,
die ohnehin an dem Tone unseres Hauses so viel auszusetzen fanden, ein
erneutes Ärgernis geben zu müssen, allein ich konnte doch unmöglich
warten, bis ihre Anschauungen sich so weit gewandelt hatten, daß sie
an einer Dame zu Pferd keinen Anstoß mehr nahmen, was noch Jahrzehnte
dauern sollte. Es wäre auch zu schade gewesen. Jene Morgenfrühen, wo
es durch die schlafende Stadt hinausging in Felder und Wälder, die
noch im Tau funkelten, und wo die Pferde mit Freudengewieher den weit
aufgehenden Raum begrüßten, möchte ich nicht um vieles in meiner
Erinnerung missen; es war ein Gefühl wie von Herrschaft über die Erde.

Im Stall befand sich ein stattlicher Rapphengst, auf den ich wegen
seines schönen, rundgebogenen Halses mit der wallenden Mähne gleich
ein Auge geworfen hatte. Er hieß Shales, war englisches Halbblut mit
sehr gutem Stammbaum, aber persönlich ein launenhafter, tückischer
Gesell, dessen ungute Charaktereigenschaften sich auch auf alle seine
Nachkommen vererbten, daß im Landesgestüt noch lange danach die
Bosheiten des Shalesschen Geschlechts wohlbekannt blieben. Einmal
sperrte er mich, als ich ihm freundlich in seinen Stand ein Stück
Zucker brachte, ein, indem er mir mit den Hinterbeinen den Ausgang
verschloß. Kein Zureden half, auch die Reitknechte waren machtlos, erst
die Kommandostimme seines Gebieters bewog ihn, mich wieder freizugeben.
Ich war jedoch verliebt in den Shales und nahm ihm seine Unarten nicht
übel. Und ich lag immer aufs neue dem Stallmeister in den Ohren,
einmal den Shales für mich satteln zu lassen, was er als zu gefährlich
ablehnte.

Eines Morgens kam meine Mutter noch im Dunkeln an mein Bett und bat
mich dringend, nur heute nicht auszureiten: sie habe mich soeben
im Traum auf einem durchgegangenen schwarzen Pferde gesehen, in
wildem Galopp auf der Landstraße hinrasend. Ich beteuerte ihr, daß
sie völlig ruhig sein dürfe, weil der einzige Rappe, der in Betracht
käme, mir noch ganz kürzlich rundweg verweigert worden sei. Das
ängstliche Mutterherz wollte sich schwer zufriedengeben und blickte
mir vom Fenster nach, solange ich mit der Gerte in der Hand, das
lange Reitkleid über den Arm geschlagen -- man trug damals noch die
tief herabwallenden Reitkleider, die zwar sehr schön, aber auch sehr
gefährlich waren --, die Kronengasse hinunterschritt. Im Reitstall fand
ich einen der rotröckigen Knechte, der noch halbverschlafen zu meiner
höchsten Überraschung soeben dem Shales den Damensattel auflegte.
Er erzählte, in aller Frühe, noch beim Laternenschein, sei der Herr
Baron herübergekommen und habe ihm so befohlen. -- Heut können wir was
erleben, brummte der Mann, der mit sichtlichem Widerstreben gehorchte,
das Vieh ist hartmäulig und kommt ja fast immer ohne seinen Reiter
heim. Blitzschnell schoß mir Mamas Traum durch den Kopf, doch das
Wohlgefallen an dem stolzen Anblick des Tieres drängte das Bedenken
zurück. Beim Ausritt hieß der Stallmeister mich in der Nachhut bleiben,
allein der Shales setzte sich gewaltsam an die Spitze, und ich spürte
gleich, daß ich ihn nicht im Zügel hatte. Auf der Straße hielt er
sich noch gesittet, aber kaum waren wir in der Nähe des Waldhörnle
auf Wiesengrund gekommen, der auch die anderen Pferde aufregte, so
war es mit der Mäßigung des Shales vorbei, er brach quer über die
Wiese los, erflog die Böschung und rannte mit mir auf der Landstraße
unaufhaltsam gegen die Stadt zurück. Ich hörte noch den Befehl des
Stallmeisters: Alle zurückbleiben! dann war ich schon weit hinweg. Kein
Zügel wirkte das geringste, doch ich saß zum Glück fest und ließ den
Shales in Gottes Namen rennen. Es war jetzt genau das Bild, das meine
Mutter zwei Stunden zuvor im Traum gesehen hatte. Wir waren schon nahe
an den Bahnschranken, wo die Sache kritisch werden konnte, da hörte
ich endlich die Hufe des Othello hinter mir donnern, was den Shales
natürlich zu vermehrtem Laufe antrieb. Aber jetzt wurde er von einer
Männerfaust gepackt und in den Zügeln gerüttelt und bekam von dem
Gertenknauf des Barons einen Hieb um den andern auf seine arme Nase,
bis ihm das Blut herunterlief und er endlich Vernunft annahm. Zu Hause
schwieg ich von dem Vorfall, jedoch der Zügel hatte mir den dicken
Lederhandschuh buchstäblich durchgesägt und in die Hand eingeschnitten,
auch war mein linker Arm von der Anspannung so verschwollen, daß er
vierzehn Tage lang unbrauchbar blieb; so kam Mama allmählich doch
hinter die Sache. Es war nicht das einzige Mal, daß sie Dinge träumte,
die unmittelbar danach geschahen. Diese Anlage zu Wahrträumen hatte sie
auch auf mich vererbt, nur daß ihr der Traum den kommenden Vorgang klar
erzählte, während er ihn mir in ein mehr oder minder durchsichtiges
Symbol zu verschleiern liebte, das sich erst beim Erwachen enthüllte.

Bald nach dem Abenteuer mit dem Shales wurde zu meinem Leid Baron
Sternenfels von einem Herzschlag jählings hinweggenommen. Sein
Nachfolger, Rittmeister Haffner, war ein gemütlich derber alter
Schnauzbart, dessen Ton von dem ritterlich vornehmen seines Vorgängers
wesentlich abstach, der aber einen prächtigen eigenen Stall mitbrachte.
Er war außer sich über die unlenksamen Zuchthengste, die jedesmal in
den Frühjahrsmonaten bei ihrem eigentlichen Beruf auf den „Platten“
wieder ganz verwilderten, auf denen er daher den Studenten keine
feinere Reitkunst beibringen konnte. Seine Verzweiflung darüber pflegte
sich in drastischer Weise zu äußern. Diese Hunde von Hengsten, schrie
er einmal, blau vor Wut, als wieder alles durcheinander ging -- und die
Esel, die auf den Hunden sitzen, es ist eine Schweinewirtschaft!

Zoologie schwach, bemerkte ein neben mit reitender Mediziner.

Ich ritt nun die feingeschulten Tiere seines eigenen Stalles, was
freilich eine ganz andere Sache war. Er besaß zwei edle arabische
Hengste, den Schimmel Soliman, der für mich bestimmt wurde, und
Abdel Kerim, den Goldfuchsen, den er zuerst ganz allein ritt, weil
das Tier für schwierig galt und in der Tat unter seinem Herrn, den
es nicht zu lieben schien, immer unruhig ging. Es hatte ebensolchen
„Schwanenhals“ wie der Shales und dazu die feurige Anmut seiner edlen
Rasse. Mein Wunsch, auch einmal den Fuchsen besteigen zu dürfen, wurde
anfänglich als unerfüllbar abgelehnt. Aber schließlich geschah doch,
was ich wollte, und diesmal wurde mein Vertrauen nicht getäuscht.
Der Araber war ein ritterlicher Charakter und völlig verschieden von
dem undankbaren Shales. Er ging so gern unter der leichteren Last
und der weicheren Hand, daß er fortan mein Leibroß wurde und sich
willig auch von mir das Gebiß anlegen ließ. Das kluge Tier zeigte ein
sichtliches Verantwortlichkeitsgefühl, sobald der lange Reitrock an
ihm niederwallte, und machte niemals mit mir die geringsten Mätzchen.
Es horchte sogar auf unser Gespräch, denn wenn ich halblaut den
Stallmeister um die Erlaubnis zum Galoppieren bat, setzte es sich
sogleich, ohne die Hilfen abzuwarten, in Galopp. Immer willig trug mich
Abdel Kerim steile Waldeshänge hinauf und hinab bis in die Ausläufer
des Schwarzwalds hinüber, bald durch seichte Wasserläufe patschend,
bald über Wiesen hinfliegend, und wenn er sehr gut gelaunt war, so gab
er im Schritt eigentümliche summende Töne von sich, die wie Gesang
klangen. Wer nie die Welt von einem Pferderücken aus gesehen hat, der
weiß nichts von dem Rausch des Raums, der die Sinne ergreift und sich
mit dem aufsteigenden Dampf des Pferdekörpers zu einem halb göttlichen,
halb tierischen Wonnegefühl mischt. Mein neuer Lehrer ritt fast immer
mit mir allein, was mich in der Kunst sehr förderte. Er war stolz auf
seine einzige Schülerin und liebte es besonders, mich bei der Rückkehr
nach der Stadt in so kurzem Galopp ansprengen zu lassen, daß sein
Soliman daneben Schritt gehen konnte. Die Mähne meines prachtvollen
Tieres wehte dabei hochauf und flog wie Goldstaub durch die Luft, die
Hufe dröhnten und blitzten. Dieses Kunststück erschien den wackeren
Bürgersleuten als eine gewollte Herausforderung und trug mir das grimme
Mißfallen des damaligen Stadtoberhauptes ein. Unser Hauswirt, der
wackere Pole Genschowsky, der mein besonderer Freund war, hatte alle
Not, im Gemeinderat unsere Familie gegen die Maßregelungen in Schutz
zu nehmen, mit denen der Hochmögende mir von Amts wegen das Reiten
zu verleiden suchte. Die Gassenjugend war mir gleichfalls feindlich;
diese kleinen Unholde gehören ja immer zu den stärksten Verfechtern des
Vorurteils. Als ich später nach vieljähriger Abwesenheit wieder einmal
aus der Fremde kam, betrachtete ich mit einer Art von Rührung die
neuen, in der Straße spielenden Blondköpfe, weil von diesen wenigstens
keiner je mit Steinen nach mir geworfen hatte. Einen Seelentrost aber
trug ich davon, als eines Tages im Mühlgäßchen ein einfacher Mann
mich ansprach, um mir zu sagen, er sei ein alter Unteroffizier der
Kavallerie und er fühle sich gedrungen, mir wegen meiner Zügelführung
seine Hochachtung auszusprechen. Das fachmännische Lob tröstete mich
über viele Kränkungen.

Mein Griechischlernen hatte die Gemüter auch nicht milder gegen mich
gestimmt. Ich hätte diesen Schatz ja gerne als tiefstes Geheimnis
gehütet, wäre das bei dem Temperament meiner Mutter möglich gewesen.
Unwissenheit galt damals noch als besondere Zierde der deutschen
Jungfrau, die noch ganz unter dem Banne des Gretchenideals stand; an
keinerlei geistigen Dingen durfte sie irgendwelchen Anteil äußern,
und große Namen mußten ihr so ungeläufig sein, daß sie mit der Zunge
darüber stolperte. Schon Hamlet kannte den Pfiff: „Ihr stellt euch
aus Eitelkeit unwissend, gebt Gottes Ebenbildern verhunzte Namen.“
Wenn Frauenlyrik an die Öffentlichkeit trat, so mußte sie ganz zahm
und hausbacken sein oder in formlose Empfindelei zerfließen. Heyse
und Bodenstedt bemühten sich damals vergeblich, ein paar Gedichte von
mir in ich weiß nicht mehr welchen Almanach zu bringen. Der Verleger
verweigerte die Aufnahme, er fand die Sprache für ein junges Mädchen
zu kraftvoll. Da war es denn schließlich auch kein Wunder, wenn die
gute Stadt Tübingen sich dagegen auflehnte, daß es in ihren Mauern eine
Familie gab, die ihre einzige Tochter unter geistigen und körperlichen
Übungen aufwachsen ließ wie ein Fürstenkind der italienischen
Renaissance oder sagen wir schlechtweg: wie ein junges Mädchen des
damals noch ungeborenen 20. Jahrhunderts.

Ein Tropfen brachte endlich die Schale zum Überfließen. Wenn ich
in den heißen Sommern so Tag für Tag die Brüder zu dem großen
Schwimmbecken, genannt die Badschüssel, eilen sah, während die Damen
sich mit den engen Badehüttchen am Neckar begnügen mußten, ohne
Gelegenheit, das Schwimmen zu erlernen, stieg in mir nach und nach
der umstürzlerische Gedanke auf, den Senat zu bitten, daß wenigstens
an _einem_ Tag der Woche, und wäre es auch nur für _eine_ Stunde, das
Schwimmbad den Männern verschlossen und dem weiblichen Geschlecht
zur Verfügung gestellt werde. Der städtische Schwimm- und Turnlehrer
und eine liebenswürdige junge Professorsgattin von auswärts waren
meine Mitschuldigen. Den beiden schadete es in der öffentlichen
Meinung weiter nichts, die ganze Entrüstung wandte sich gegen mich
als die Anstifterin des unsittlichen Vorschlags. Wie, man wollte die
Phantasie der männlichen Jugend beim Baden durch die Vorstellung
vergiften, daß in diesem selben Wasserbecken sich kurz zuvor junge
Mädchenleiber getummelt hatten? Und wenn gar einer oder der andere
sich im Gebüsch verstecken würde, um heimlich dem Schwimmunterricht
der Damen zuzusehen? Der Untergang aller guten Sitten stand vor der
Tür, wenn mir gestattet wurde, dem Unwesen des Reitens, dem man nicht
hatte steuern können, das noch ärgere des Schwimmens hinzuzufügen.
Eine würdige Matrone übernahm es, mir im Namen sämtlicher Mütter und
sämtlicher Töchter ihr Quousque tandem, Catilina! -- zu deutsch: Wo
hinaus mit dir, du Schädling am Gemeinwesen? -- zuzurufen. Es war
einer der schicksalsvollen Augenblicke, wo ein kleiner Anstoß eine
lange verzögerte Absicht zum Durchbruch bringt. Sie hatte noch nicht
ausgesprochen, so stand in mir der Entschluß fest, nunmehr Tübingen auf
ganz zu verlassen.

Es war hohe und höchste Zeit, daß einmal ein entscheidender
Lebensschritt geschah, von dem bisher nur die Wärme des mütterlichen
Nestes den flügge gewordenen Vogel zurückgehalten hatte. Ein Puff war
dazu nötig, und ich danke es der wackeren Kleinstädterin von Herzen,
daß sie ihn mir gab. Ich hatte ja doch allerlei gelernt, Sprachen
und anderes, womit ich auswärts ebensogut und besser vorwärts kommen
konnte als daheim. Wohin ich wollte, wußte ich gleichfalls, denn ich
hatte schon bei wiederholten Besuchen in München den Boden abgetastet
und die Hoffnung geschöpft, dort Fuß fassen zu können. Daß Erwin mir
dorthin vorangegangen war als Zögling der Akademie der bildenden
Künste, erleichterte meiner Mutter die Trennung, denn sie konnte die
Geschwister eins in des anderen Obhut empfehlen. Auch ich riß mich
getrosten Mutes los, weil sie mich als Stütze in häuslichen Stürmen
nicht mehr brauchte. Es gab deren keine mehr. Edgar und Alfred,
die ehemals feindlichen Brüder, begannen jetzt in ihre lebenslange
Freundschaft hineinzuwachsen. Und an unseres Balde Krankenbett waren
die beiden Mediziner nützlicher als ich.

Der arme, so liebenswürdig angelegte Junge, der in der Pause zwischen
den Krankheitsstürmen ängstlich geschont und gehütet werden mußte,
hatte rein gar nichts von seinem jungen Leben als die aufopfernde Liebe
seiner Mutter. Diese nahm er mit der Naivität des Kranken ganz für sich
in Beschlag. Wenn er nicht selber lesen konnte, worin er unermüdlich
war, so mußte sie ihm Tage und halbe Nächte lang vorlesen oder
Geschichten erzählen. Zuweilen durfte ich sie ablösen. Ich vereinfachte
dann das Verfahren, indem ich das Buch, das er zu kennen verlangte,
rasch durchflog und ihm den Inhalt erzählte. Eines Tages wünschte er,
daß ich ihm Bret Hartes Goldene Träume, eine im „Novellenschatz des
Auslands“ erschienene Goldgräbergeschichte, vorlese. Da mir die Zeit
dazu gebrach, gab ich vor, das Buch schon zu kennen, und erzählte ihm
schlankweg ein Märchen von goldenen Träumen, das ich aus dem Stegreif
erfand. Dieses Märchen machte ihm so viel Vergnügen, daß ich es immer
aufs neue erzählen und schließlich mit denselben Worten für ihn
niederschreiben mußte. Es war das erstemal, daß ich in Prosa schrieb;
ich hatte bisher geglaubt, mich nur metrisch ausdrücken zu können. Ohne
des kranken Bruders innige Freude an den „Goldenen Träumen“, die den
Anfang meines späteren Märchenbuchs bildeten, wäre ich vielleicht nie
auf diesen Weg gekommen.

Auf dem Friedhof war unterdessen das Denkmal nach meinen Wünschen
aufgerichtet worden: inmitten einer schönen Tannengruppe stand auf
hohem Sockel die trauernde Muse, die mit ihrem Lorbeer so viel
Unverstandensein zu vergüten suchte. Auf der Vorderseite des Sockels
blieb zunächst noch ein Raum frei, den Erwin später, als er Bildhauer
geworden war, mit einem Reliefbildnis unseres Vaters in Terrakotta
ausfüllte. Das Denkmal hatte zusamt den Nebenausgaben die tausend
Gulden meines ersten großen Honorars verschlungen, und ich ging mit
leeren Händen, aber mit der unverwüstlichen Zuversicht der Jugend in
mein neues Leben hinein.

Einer der letzten Abende in Tübingen bleibt mir unvergeßlich. Eine
Freundin von auswärts, die ihr Herz an Edgar verloren hatte und,
vor einer entsagungsvollen Verlobung stehend, ihn noch einmal sehen
wollte, war mit dabei. Wir gingen zu dreien im Walde von Bebenhausen
spazieren. Von der Stimmung der beiden, die sich unter Scherzworten
Tieferes sagten, worauf ich nicht sonderlich achtete, ging eine
seltsame Verzauberung aus. Mich brachten sie durch Vorspiegelung von
einem unsagbar geheimnisvollen Etwas, das unter diesen Bäumen warte,
dahin, daß ich mit offenen Augen träumte und mich immer tiefer in den
Wald verschleppen ließ. Auf einer mondumflossenen Lichtung sollte mein
Lieblingsroß grasen, es würde sich, wenn ich käme, neigen, um mich
aufsteigen zu lassen und mich ins Reich der Wunder zu tragen. Eine
Stimmung wob durch die Blätter wie auf Böcklins Schweigen im Walde.
Rufe ihn, sagten sie. Abdel Kerim! Abdel Kerim! rief ich und eilte mit
ausgestreckten Armen vorwärts. Die beiden lachten hinter mir her wie
toll, ich glaube, sie küßten sich hinter meinem Rücken, die Schelme.



München.


Es waren freundliche Sterne, die das junge Mädchen nach München
führten. Ich fand von vornherein herzlichen Anschluß an zwei
Familien, die mich zuvor schon als Gast beherbergt hatten, die des
berühmten Rechtslehrers v. Brinz, eines köstlich frischen, tatfrohen
Österreichers, und seiner seelenvollen Gattin, die uns von Tübingen
her nahestanden, sowie an das Ludwig Bareißsche Haus, jenes Urbild
altschwäbischer Gastlichkeit, das um jene Zeit unsern alten Freund
Ludwig Pfau als Dauergast beherbergte. Dieser erwies mir nun den
Liebesdienst, mich in die Münchner Schriftsteller- und Künstlerkreise
einzuführen, vor allem in das Haus des Komponisten Robert v. Hornstein,
dessen entzückende Frau mich alsbald unter ihre Fittiche nahm. Baronin
Hornstein war eine feenhafte Persönlichkeit, in der sich Schönheit,
Anmut, Seelengüte, Mutterwitz mit dem leichtbeweglichen rheinischen
Naturell zu einer unvergleichlichen Mischung vereinigten. Wer diese
Frau gesehen hatte, der konnte desselben Tages nicht mehr traurig
sein; sie hielt immerdar ein unsichtbares Füllhorn in der Hand, aus
dem der Segen auf alles, was ihr nahetrat, strömte. Sie kam gleich, zu
sehen, wie ich untergebracht sei, und da ihr mein Ofen kein Zutrauen
einflößte, schickte sie mir einen aus ihrem eigenen Haushalt. Zuneigung
ist eine Sache, die sich auf magnetischem Wege mitteilt, sie füllt
die Luft und braucht nicht ausgesprochen zu werden. So ging es mir
mit Charlotte v. Hornstein. Ich wußte sogleich, daß ich dieser Frau
unbedingt vertrauen durfte und daß ich sie nie wieder aus meinem
Leben verlieren würde. Sie erwies mir die Auszeichnung, mich gleich
als ständigen Gast zu ihrem berühmten Sonntagskaffee einzuladen, wo
ich als einziges junges Mädchen unter lauter reiferen Frauen und den
Spitzen der Münchener Künstler- und Gelehrtenwelt saß. Der Hausherr
war äußerlich das völlige Widerspiel seiner eleganten, glänzenden
Gattin. Klein, unansehnlich, von wenig gepflegtem Anzug, schweigend,
wenn er nicht etwas Besonderes zu sagen hatte, zog er doch mit
seinem köstlichen Humor und seiner geistreichen Urwüchsigkeit stets
die Lacher auf seine Seite. Er schwäbelte ein wenig und hatte bei
seiner Abstammung von einem alten reichsfreiherrlichen Geschlecht
den allerdemokratischsten Hang im Blute, der ihn zwang, von Zeit zu
Zeit für ein paar Tage wie ein Handwerksbursch auf die Wanderung zu
gehen und sich unter dem Volke umherzutreiben. Solche Naturhaftigkeit
und Freude an allem Ursprünglichen bei altadeligem Geblüt und großer
seelischer Verfeinerung heimelte mich von meiner Mutter her an, und ich
schloß mit ihm noch eine Sonderfreundschaft, wie in der Folge mit allen
Gliedern seiner Familie.

Noch eine andere der gefeierten Münchner Frauen nahm sich des jungen,
alleinstehenden Mädchens mit Wärme an, die durch selbständiges Denken
und männliche Charaktereigenschaften sowie durch ihre strenge Schönheit
ausgezeichnete Rosalie Braun-Artaria, die mir auch einen ernsteren
geistigen Austausch bot und deren Freundschaft mich gleichfalls
durchs Leben begleiten sollte. Damit war der Eingang in die sonst so
abgeschlossene Münchner Gesellschaft gefunden, und manches glänzende
Haus öffnete mir seine gastlichen Pforten. Aber auch wenn es anders
gewesen wäre, der bloße Umstand, daß ich keinen kleinstädtischen
Mißverständnissen mehr ausgesetzt und nur noch für mein eigenes Tun
und Lassen verantwortlich war, ließ mich aufatmen. Nur was ich mir
von Kindheit an so innig ersehnt hatte, das volle „Dazugehören“,
fand ich auch in München nicht. War’s die Folge der langen Verkennung
und Anfeindung, war’s, daß ich mich jetzt als einzige Werdende unter
lauter Gereiften, Fertigen befand, oder war’s mir angeboren? Ich
konnte mich nur als liebevoll empfangenen Gast, nicht als Mitglied des
erlesenen Kreises empfinden, und das Gefühl des Fremdseins, das immer
und überall mit mir ging, verließ mich auch in München nicht. Was der
empfindsamen Kindesseele Leides zugefügt worden ist, das hinterläßt
eine Narbenschrift, die schwer verlöscht. Und ich brauchte auch noch
größeren Raum, um zu wachsen.

Daß Paul Heyses von edelstem künstlerischem Geschmack regiertes Haus,
wo die junge, sehr schöne, von ihm angebetete Frau anmutig thronte,
mir gleichfalls gastlich offen stand, ergab sich aus seiner engen
Freundschaft mit meinem verstorbenen Vater von selbst. Heyse, in seiner
lange bewahrten Jugendlichkeit selber noch ein schöner und gewinnend
liebenswürdiger Mann, herrschte widerspruchslos in der Gesellschaft
wie in der Literatur, wo sich ja sein Einfluß bis in die Schreibart
herunter bemerkbar machte. Als ein Meister der Rede hatte er mit
seiner hohen Kultur und seinem ganz norddeutsch gerichteten Witz,
der in hundert Fassetten funkelte und auch das Wortspiel bis herab
zum Kalauer nicht verschmähte, in jedem Gespräch die Oberhand, wobei
er doch nie die vornehme Verbindlichkeit außer acht ließ, die ihn zu
einer wahrhaft fürstlichen Erscheinung machte. Dieser spielerischen
Grazie, die das Wort als Selbstzweck behandelte, waren die süddeutschen
Zungen nicht gewachsen. Zwar im schlagenden Einfall war ihm Franz
Lenbach, im leichten gesellschaftlichen Geplänkel die Baronin Hornstein
ebenbürtig. Aber bei schärferen Redekämpfen fand sich niemand, der
ihm die Stange hielt, und es war ein Schauspiel, Heyse in solchen
Augenblicken zu sehen. Einer so bestechenden Dichterpersönlichkeit
konnte eine begeisterte weibliche Gemeinde nicht fehlen, die ihm stets
unbedingt beipflichtete und sich geistig ganz nach ihm gemodelt hatte.
An der Tochter seines Freundes, der er bisher aus der Ferne eine Art
literarischer Vormund gewesen war, fand er aber im persönlichen Verkehr
ein unlenksames Mündel. Zwar seinen Rat, keine Gedichte drucken zu
lassen, ehe ein ausgereifter Band beisammen wäre, habe ich weislich
befolgt und ihm zeitlebens gedankt. Im übrigen aber wehrte ich mich
gewaltig gegen sein Übergewicht. Was er meinem Vater gewesen, in
dessen verdüstertes Leben er den letzten tröstlichen Abendschimmer
goß, konnte mich nur mit tiefer Dankbarkeit erfüllen, und ich war
ja zur Verehrung für ihn geradezu erzogen worden. Auf beide Eltern
hatte er einen unerhörten, bestrickenden und sie selbst beglückenden
Zauber geübt: andere Freunde, die meine Mutter mit ihrem Überschwang
necken wollten, sprachen von ihm nur als von „Ihme“. Allein wenn
er mit meinem Vater zu Fuß durch die alten Städtlein und Dörflein
Württembergs wanderte, voll feurigen Eingehens auf den älteren Freund
und voll Freude an jeder Äußerung des Volkstums, so war er ein
anderer als in seiner eigenen Umwelt, die fast einem Hofe glich, wo
der Ton ein gedämpfterer war, wo alle Natur wie stilisiert erschien
und das Leben sich nur in einwandfreiester Gestalt zu zeigen wagte.
Heyse war ja zeitlebens auf den Höhen der Menschheit gewandelt, und
sein tiefes Ordnungs- und Schönheitsbedürfnis zwang ihn, von dem
dämonischen Untergrund alles Daseins, der Elend und Schuld gebiert,
die Augen abzuwenden, dem Vernunftwidrigen aus dem Wege zu gehen.
Er stand sogar solchen Verwicklungen, wie er sie in seinen Werken
darzustellen liebte, im bürgerlichen Leben schroff gegenüber, wie
mir übrigens ähnliches auch von Ibsen erzählt worden ist. Ging doch
sein Sinn für das Herkommen so weit, daß er es richtig fand, seine
eigenen Romane, die damals für sehr frei und den ganz Zurückgebliebenen
sogar für unmoralisch galten, jungen Mädchen lieber nicht in die
Hand zu geben. Von dem allem war der Geist, in dem ich aufgezogen
worden, fast das gerade Gegenteil, und unsere Gespräche endeten daher
meistens in ein kleines Scharmützel. So war ihm auch mein romantischer
Napoleonkultus höchlich zuwider, und er konnte sich bis zum Zorn, ja
bis zur Ableugnung der titanischen Größe dagegen ereifern. Zwischen
Gleichaltrigen hätten die Gegensätze zu einem fruchtbaren Austausch
geführt, allein meiner Jugend stand ein Fertiger gegenüber, der sich
die Welt auf seine Art ausgelegt und sein Weltbild der näheren und
ferneren Umgebung, ja man kann wohl sagen, einer ganzen literarischen
Epoche seines Vaterlandes aufgezwungen hatte. Ich fühlte es auch
bald selber, daß mein anfänglich ganz unbefangener Widerspruch wie
Undankbarkeit erscheinen konnte -- und beginnt nicht jede Entwicklung
mit einer Auflehnung und einem Undank? -- Darum hielt ich es nun,
wo ich nicht mitgehen konnte, für passender, zu schweigen, aber das
verletzliche Gewissen ließ mich dieses Verstummen als Unaufrichtigkeit
empfinden und machte mich alsdann beklommen. So hatte ich von seiner
Gegenwart häufig nicht den Vollgenuß, den mir sonst der Anblick einer
so sieghaften Persönlichkeit bereitet hätte. Ganz wundervoll war Heyses
Auftreten bei gesellschaftlichen Empfängen; ich dachte oft, daß hinter
dem Dichter eigentlich ein hoher Diplomat stecke, und wahrlich, wenn
solche nicht angelernte, sondern aus dem Innersten fließende Würde und
Höflichkeit in Deutschland eine verbreitetere wäre, so stände es besser
um das Ansehen der Deutschen in der Welt.

Grundverschieden von Heyse und doch ihm aufs innigste befreundet war
mein engerer Landsmann, der von allen geliebte Dichter Wilhelm Hertz.
Ein Stück edelsten Schwabentums, wurzelecht wie ein Erzschwabe, aber
ins Weltschwabentum erweitert und erhöht. Die Uhlandsche Geisteswelt
war in ihm wiedergeboren, nur ohne den Zug ins Altbürgerliche und ohne
politische Richtung, ganz aufs Schöne gewendet. Jene edle Grenzmark der
Poesie und Wissenschaft, in der man so tiefe, befreite Atemzüge tun
konnte. Wo er erschien, da strömte seine untersetzte Gestalt mit dem
keineswegs schönen, aber männlichen Gesicht eine Ruhe und Sicherheit
aus, die wie unmittelbar aus dem Erdboden kam; man mußte sich fragen,
ob er nicht in einem fernen Vorleben ein Baum gewesen sei, so einer mit
tiefen Wurzeln und breitem Wipfel, und ob er nicht dunkle Erinnerungen
an den Erdenschoß bewahre. In einer beglückenden wissenschaftlichen
und dichterischen Tätigkeit und einer ungemein harmonischen Ehe lebend,
erschien er als der Glückliche schlechtweg, bei dessen Anblick auch
andere zufrieden wurden. Er war zugleich ein künstlerischer Genießer
des Lebens, der aus jeder Gabe Gottes ihren vollen Wert zu ziehen
wußte und der einen edlen Tropfen Weins auf der Zunge zergehen ließ
wie einen Vers von Goethe. Wenn Hertz seine dunkle Stimme erhob, um
sein Wort langsam und nachdrücklich ohne alles persönliche Schimmern in
die Erörterung zu werfen, so war es, als hätten jetzt die Dinge selbst
gesprochen und ihr wahres Wesen enthüllt, so daß gar keine Zweifel
übrig blieben. Vor allem bewunderte ich den Gerechtigkeitssinn, mit dem
er sich dem so leicht einreißenden Spott über Abwesende widersetzte.
Er widersprach nur ungern und schonend; lieber erzählte er dann einen
rühmlichen Zug aus dem Leben des Betroffenen, der diesen über jeden
Angriff hinaushob. Hertz war mir ein glänzender Beweis, wieviel
mehr Geist dazu gehört, die Vorzüge der Menschen zu sehen als ihre
Fehler. Welch ein Meister der Geselligkeit er war, erfuhr ich freilich
erst bei meinen späteren Aufenthalten, wenn ich an den Hertzschen
Teenachmittagen teilnehmen durfte, die mir stets als Musterbeispiel
edelster geistiger Bewirtung vorschwebten. Da war kein Ungefähr im
Zusammenstellen der Gäste, alle verstanden und ergänzten sich, und nie
ging die Zahl über die klassischen Neune hinaus. Der Hausherr hielt das
Gespräch unmerklich in der Hand, daß es nicht zersplitterte und daß
jeder der Geladenen sich nach seiner persönlichen Art entfalten konnte,
während die Hausfrau ihn geräuschlos in den Pflichten des Wirtes
unterstützte. Da wurde die Luft so hell und rein, und die verschiedenen
Stimmen klangen wie ein Konzert ineinander, daß für einen Augenblick
die Welt ganz Harmonie war. Und das müßte ja der Zweck jeder edleren
Geselligkeit sein. Zum Schlusse erschien dann immer noch eine Flasche
Sekt, und die Gäste trennten sich auf dem Höhepunkt der Stimmung, die
noch tagelang nachklang.

Eine weitere sehr ausgeprägte Persönlichkeit war der nach allen
Seiten frondierende Maler, Poet und Artillerieoberst Heinrich Reder,
ein begabter, eigenwilliger Mann, der sich wegen gesellschaftlicher
Unstimmigkeiten von seiner ehemaligen Tafelrunde, dem
Heyse-Hornstein-Kreis, in einen Schmollwinkel zurückgezogen hatte, zu
dem ich aber wegen seiner Freundschaft mit unserer spanischen Freundin
den Zugang fand.

So war es also mit der gesellschaftlichen Anlehnung trefflich
bestellt, und im übrigen hieß es abwarten. Ich hatte nach einigen
Erfahrungen an Münchner Zimmervermieterinnen mit Erwin eine kleine
leere Wohnung zu ebener Erde an der Ecke der Karls- und Luisenstraße
bezogen, die wir selber einrichteten. Das Essen ließen wir uns aus
einer nahen Wirtschaft holen, es kostete damals nur fünfzig Pfennig
für die Person, war aber auch danach. Gelegentlich kam von Hause
eine Schachtel mit einem großen, von Josephine geschmorten Braten,
der uns auf mehrere Tage sättigte. Als ich mir in der Au eine durch
Frau von Hornstein empfohlene Zugeherin besorgen wollte, erlebte ich
gleich zum Einstand ein sehr bezeichnendes Stück Münchner Volkstum.
Im tiefen Schnee der Straße kam mir eine Jammergestalt laut klagend
entgegen, mit Schlappen an den Füßen, im allerdünnsten Kattunröckchen
und ebensolcher Bluse, Kopf und Hals bloß. Sie rief mich an, ob ich
kein Dienstmädchen brauchen könne, sie sei in schrecklicher Not und
wolle mir gewiß treu sein, wenn ich mich ihrer annehme. Ich konnte zwar
die Leidensgeschichte, die sie mir erzählte, nicht nachprüfen, nahm
aber an, daß es meine Pflicht sei, sie zu retten. Also ließ ich die
Gutempfohlene fahren und dingte die Zugelaufene, der ich außerdem noch
zehn Mark Vorschuß geben mußte, um ihren von der früheren Herrschaft
-- ich weiß nicht weshalb -- zurückbehaltenen Koffer auszulösen. Sie
schrieb mir ihren Namen auf einen Zettel, das war meine Sicherheit.
Natürlich wurde ich von den befreundeten Damen weidlich ausgelacht,
ich ließ mich jedoch nicht irremachen, und siehe, am bestimmten Tage
stellte sich das Mädchen, ein spindeldürres, scheinbar gelbsüchtiges
und auszehrendes Geschöpf, in anständiger Kleidung bei mir ein. Ich
brachte sie bei einer benachbarten Kramerin unter, die ihr gleichfalls
Arbeit gab, und sie bediente mich längere Zeit gewissenhaft und
anhänglich. Sie war jedoch eine geborene Streunerin und wurde des
trockenen Tones bald satt, also verschwand sie eines Nachts geräuschlos
durch das Fenster, um, wie die Kramerin sagte, „mit den Maurern zu
gehen“; sie hielt es scheint’s mit dieser ganzen Berufsklasse. Aber
scheidend hatte sie noch für mich gesorgt, indem sie den Bäcker, die
Milchfrau und andere Lieferanten beauftragte, mir morgens den Bedarf,
den sie sonst abholte, vor die Tür zu stellen, ein Charakterzug, der
mich mit ihrem Leichtsinn versöhnte.

In Erwartung meiner ersten Unterrichtsstunden brauchte ich nicht
müßig zu gehen, sondern übersetzte in buchhändlerischem Auftrag ein
französisches Werk. Allmählich fanden sich auch einige Schülerinnen
ein. Die erste war eine baltische Baronin, die ich im Italienischen
zu unterrichten hatte, eine Dame von sehr großem Stil, die deshalb
zu meinem Erstaunen von der Gesellschaft für eine bedeutende
Persönlichkeit angesehen wurde, nach deren häufigen Migränen man mich
stets mit eifrigem Anteil befragte. Da sie mich oft weit über die
Stunde hinaus festhielt, um sich über alles Erdenkliche auszusprechen,
sah ich unter den schönen Verkehrsformen in eine geistig ganz
unfruchtbare und schablonenhafte Natur hinein. Es war das erstemal, daß
mir dieses Mißverständnis der Gesellschaft begegnete, daher es meiner
Indianerseele als merkwürdig auffiel.

Bei weitem anziehender war eine geistig regsame und selbständige
Schwedin, die sich bei mir im Deutschen üben wollte und die mir den
Unterricht leicht machte, da ich mir nur von ihr den „Faust“ und
die „Iphigenie“ vorlesen zu lassen und mit ihr über das Gelesene zu
sprechen brauchte, wobei ich die Freude hatte, ihre Augen immer höher
aufglänzen zu sehen. Sie bat sich von vornherein aus, daß ich sie im
falschen Gebrauch der Artikel nicht stören dürfe, weil sie aus einer
Familie stamme, in der bei hohem Bildungsstand niemand je mit dem Der,
Die, Das zurechtgekommen sei. Ich war es zufrieden; die deutschen
Sprachschnitzer meiner Schülerinnen klangen mir immer so drollig,
daß es mir leid tat, sie schulmeisterlich berichtigen zu sollen.
Noch besser verstand ich mich mit einer gleichaltrigen Amerikanerin,
die sich ganz allein in Europa aufhielt, einem Geschöpf von kecker,
knabenhafter Anmut, jungfrisch und so voraussetzungslos, als wäre sie
eben aus dem Ozean gestiegen. Auch diese Liebenswürdige wollte, wie sie
mir anvertraute, nichts als „ein Gespräch höheren Stils in deutscher
Sprache führen lernen“, und der Unterricht bestand bei ihr wie bei der
Schwedin darin, daß sie auf meinem Kanapee saß, um über Literatur und
Verwandtes zu plaudern. Als sie entdeckte, daß auch ich ihre Lieblinge
Burns und Byron liebte, war ihre Freude groß. Ich lernte ebenso von ihr
wie sie von mir, denn ich horchte auf die Äußerungen amerikanischen
Seelenlebens, das mir noch nie zuvor so nahe getreten war. Ich hatte
dabei zum erstenmal den Eindruck, der sich mir bei späteren Beziehungen
zu Amerikanern stets wiederholte und vertiefte, daß der amerikanische
Denkapparat viel einfacher eingerichtet sei als der unsrige und unsere
verwickelteren Gedankengänge gar nicht mit uns gehen könne, daher
unsere halb scherzhaften Paradoxen und unsere übertragenen Wendungen
oft ganz naiv tatsächlich und buchstäblich genommen werden. Solch
ein amerikanisches Gehirn erschien mir als ein jungfräulicher Grund,
noch nicht durch die Denkarbeit früherer Geschlechter durchwühlt und
vorbereitet und deshalb im geistigen Verkehr mit der kulturälteren
deutschen Welt Mißverständnissen ausgesetzt.

Erwin, der die Malklasse besuchte, war mir ein guter Kamerad. Zwar
kam er gern des Abends etwas spät nach Hause, wobei ich ihn zu
erwarten pflegte, aber ich gönnte ihm die Freiheit und wußte ja auch
hinlänglich, daß Ermahnungen in solchen Fällen nichts fruchteten.
Dafür kam er auch einmal in die Lage, mich erwarten zu müssen, als ich
ohne Hausschlüssel ausblieb, was ihm ein großer Triumph war. Ich hatte
mich von Hornsteins überreden lassen, den Abend mit ihnen auf einem
weitentlegenen Keller zu verbringen, weil ich das Münchner Kellerleben
noch nicht kannte. Es wurde spät und später, ich konnte nicht mehr
allein nach Hause und mußte ausharren bis zum Schluß. Zwei Herren,
darunter Wilhelm Hertz, hatten denselben Heimweg, sie brachten mich
vor meine Tür, aber jetzt war guter Rat teuer; wie hineingelangen?
Hertz schlug mir einen Einbruch durch mein eigenes Fenster vor,
wofür er seinen Rücken als Aufsteigschemel anbot; er meinte, einer
geübten Reiterin müsse das Auskunftsmittel passen. Aber meine schönen
Milchtöpfe, die auf dem inneren Fensterbrett standen, schon halb
gestockt, die Hoffnung des morgigen Abends? Während ich noch zauderte,
wurden sie plötzlich von innen leise weggestellt, und Erwins Kopf
erschien, von allen mit Zuruf begrüßt. Es war der ganz unverhoffte
Fall eingetreten, daß der Bruder früher als die Schwester aus dem
Wirtshause gekommen war und einmal seinerseits auf die Heimkehr der
Nachtschwärmerin warten mußte.

Aber schöner als die schönste Geselligkeit war es doch, des Abends
ganz allein im stillen Zimmer zu sitzen. Da kam ein Besuch, der
von allen der willkommenste war, der unsichtbare „Andere“. Seit
meinem Märchen für den kranken Bruder traute ich mir nun wirklich
etwas zu, ich nahm also einen stärkeren Anlauf und versuchte es
mit einer Novelle. Eine romantische Liebesgeschichte mit Treue in
der Untreue nebst einer Anzahl nach der lebendigen Mustersammlung
gemalter Nebenfiguren war leicht erfunden, Zeit und Gegend, in die
ich sie verlegte, gaben Gelegenheit zu abenteuerlichen Begebnissen
und zu weiten Landschaftsbildern nach meinem Herzen. Im Feuer des
Gestaltens gönnte ich mir nicht einmal mehr die nötige Zeit zum Essen
und Schlafen, aus Furcht, ich könnte etwa über Nacht wegsterben und
mein Werk unvollendet hinterlassen. Jeden Morgen fühlte ich eine ganz
besondere Genugtuung, noch am Leben zu sein und mich sogleich wieder an
den Schreibtisch setzen zu können, um zu erfahren, wie die Geschichte
weiterging. Denn dies wußte ich selber nicht, ließ es mir vielmehr
von jenem Unsichtbaren gewissermaßen in die Feder diktieren. Es ging
mit Windeseile, ganze Stöße beschriebenes Papier türmten sich auf,
und wenn auf dem kleinen Tisch der Raum zu eng wurde, so schob ich,
ohne aufzusehen, die Blätter über den Rand hinunter auf den Boden, um
ja keine der kostbaren Minuten, wo die Esse glühte, zu verlieren. Im
Schreiben verliebte ich mich selber in meinen Helden, in dem ich ein
Stück dämonisches Übermenschentum hatte schildern wollen, und als er
tot und die Geschichte zu Ende war, legte ich den Kopf auf den Tisch
und weinte selige, befreite Tränen. Es war drei Uhr nachts am dritten
Tag, nachdem ich zu schreiben begonnen hatte. Nun konnte ich endlich
beruhigt zu Bette gehen.

Es ist schön, ein Geisteskind in die Welt zu setzen, aber wenn es
hernach da ist und seine Geschicke auf die unsern einzuwirken beginnen,
bekommt die Sache ein anderes Gesicht. Durch gewogene Freundesherzen,
denen ich mich anvertraut hatte und die an der hervorgesprudelten
Erzählung ein Wohlgefallen fanden, erfuhr Paul Heyse davon. Zu meinem
größten Schrecken erschien er gleich in meiner Wohnung und begehrte
als väterlicher Freund und Zensor, der über mein literarisches Heil
zu wachen habe, die Novelle zu lesen. Ich verweigerte sie, denn ich
wußte, daß ich von andern nichts lernen konnte, sondern abwarten mußte,
was mir das Leben selber zu sagen hatte. Aber schon war er auf dem
Schreibtisch der aufgestapelten Blätter ansichtig geworden, hatte sie
blitzschnell, bevor ich es hindern konnte, in die Tasche gesteckt und
suchte trotz meinem Widerspruch mit seinem Raub lachend das Weite.
Mir schwante Böses, als ich des andern Tags durch einen Zettel zu
ihm gerufen wurde, aber auf eine Strafpredigt wie die, womit ich
empfangen wurde, war ich nicht gefaßt. Hätte er mir doch lieber den Rat
gegeben, das Erzeugnis einzusiegeln und erst nach Jahresfrist wieder zu
eröffnen, gewiß wäre mir hernach seine Unreife von selber aufgegangen,
und die Handschrift wäre vermutlich ins Feuer gewandert. Allein er
griff mich von der moralischen Seite statt von der künstlerischen
an, indem er sich über die sittliche Anbrüchigkeit meines Helden wie
über eine wirkliche Person entrüstete und die Behauptung vertrat,
ein so gewissenloser Mann könne einer reinen Frauenseele keine
Leidenschaft einflößen, wovon sich leicht aus Geschichte und Leben
das Gegenteil erhärten ließ. Hier war gewiß der Brennpunkt all
unserer Meinungsverschiedenheiten: er sah das Leben vernunftgemäß an
und verlangte auch von der Dichtung widerspruchslose, gesetzmäßig
aufzulösende Charaktere, während für mich zur inneren Wahrheit die
Widersprüche mit gehörten. Niemand verstand es, wärmer und herzlicher
zu loben als Heyse, wo er innerlich einstimmte; umgekehrtenfalls
konnte er aber unverhältnismäßig schroff werden, wie ich ihn diesmal
sah. Wir stritten heftiger als je, und das kalte Sturzbad mitten in
die ersten Schöpferfreuden hinein griff mich mehr an, als ich zeigen
mochte. Aber heimlich dachte ich doch, erfundene Gestalten, die solchen
Sturm entfesselten, könnten nicht ganz talentlos gemacht sein. Und
nun geschah es in der Folge, daß die Novelle gedruckt wurde zu einer
Zeit, wo ich schon darüber hinausgewachsen war und ihre Schwächen
einsah, daß sie bei den Lesern mehr Anklang fand, als mir lieb war,
und zu meinem größten Verdruß während einiger Jahre bald da, bald
dort nachgedruckt wurde, ohne daß ich es zu hindern vermochte. Da ich
vor lauter Ernüchterung nicht einmal mehr die Korrekturbogen gelesen,
sondern sie schleunigst verkrümelt hatte, ging das Ding nun auch noch
mit den irrsinnigsten, Fehlern behaftet durch den Blätterwald. Nur
der Umstand, daß ich damals schon in Italien lebte und daß von all den
Menschen, die mir in den Straßen von Florenz begegneten, wohl niemand
die Mißgeburt gelesen hatte, tröstete mich über den unerwünschten
Erfolg.

Sobald die Münchner Sonne wärmer schien, war es mein erstes, mir zur
Lust und den Tübinger Moralbegriffen zum Trotz Schwimmunterricht
zu nehmen in der Würm. München besaß natürlich in dem durch einen
Stellwagen mit der Stadt verbundenen Ungererbad schon seine
Damenschwimmschule. Nach dreien Malen war es geschehen: ich konnte
meine Schwimmblasen wegwerfen und mich vom Wasser tragen lassen; welch
ein Hochgefühl! Aber noch ahnte ich nicht, wozu das binnen kurzem gut
sein sollte.

Eines Tages stand Edgar wie aus der Pistole geschossen vor mir: er kam,
von meinen Briefen angezogen, sich nach einem Wirkungskreis in München
umzusehen. Die leidigen Verhältnisse wiesen ihn, der durchaus für eine
glänzende wissenschaftliche Laufbahn geboren war, in die Praxis, aber
die Heimat hatte keine Verwendung für ihn. Stuttgart war überfüllt mit
Ärzten, zum Landarzt paßte er nicht, in eine Kleinstadt noch weniger;
auch legte man ihm seiner sozialistischen Gesinnung wegen überall
Schwierigkeiten in den Weg. Zwei Tage hielt er sich in München auf,
besuchte Kliniken und Ärzte, und ich gab mich schon der Hoffnung hin,
ihn gleichfalls festwachsen zu sehen. Aber der dritte Tag machte diese
Erwartung zunichte, er erklärte, daß München kein Platz für ihn sei. Ob
die Umstände wirklich so ungünstig lagen oder ob der Drang nach einem
ferneren, lockenderen Ziele ihn weitertrieb, weiß ich nicht. Edgar war
kein Mann von langsamen Entschlüssen: ehe ich mich’s versah, hatte er
sich schon verabschiedet und fuhr Italien zu.

Das war im Frühjahr gewesen. Bevor der Sommer ins Land kam, hatte er
sich ohne irgendwelchen Vorschub noch Gönnerschaft in Florenz eine
ärztliche Stellung gegründet, und es war bereits beschlossene Sache,
daß ihm Mama mit Balde, dem man durch ein südliches Klima das Leben zu
fristen hoffte, dorthin nachfolgen sollte. Die Sorge für den Kranken
hatte schon bestimmend auf die Wahl des Aufenthalts eingewirkt. Jetzt
verband er sich mit der Mutter, um auch mich zum Anschluß zu bewegen.
Dieser Vorschlag war wie ein Blitz, der in eine plötzlich erhellte
wundersame Gegend blicken läßt, und nahm mir fast den Atem. Es ging ja
gegen alle bürgerliche Vernunft, das wertvolle kaum Errungene schon
nach drei Vierteljahren um etwas völlig Unbekanntes zu vertauschen.
Allein die großen Entscheidungen des Lebens werden nicht durch die
Vernunft getroffen, sondern durch das Dämonische in uns, das unsere
Bedürfnisse besser kennt als wir selber. Ich habe sein Walten niemals
bereut. Es entzog mich der damaligen deutschen Kulturphase, die keine
schöne war, und ließ mich mein Weltbild ungetrübt aus dem eigenen
Innern gestalten. Freilich forderte es einen hohen Preis dafür,
indem es mich all der unberechenbaren Vorteile beraubte, die der
Zusammenschluß mit anderen gewährt. Ich hatte meinen künstlerischen
Weg nun ganz allein, ohne Vorschub noch Anlehnung irgendwelcher Art,
zu machen. Meine neuen Freunde schüttelten natürlich die Köpfe und
hielten mir alle Bedenken vor, die mir schon selber aufgestiegen
waren. Aber Edgar schrieb von den alten Palästen am Arno, von der
Etruskerstadt Fiesole und von Sommern an dem nahen Meere. Das war
es, was am stärksten zog; nicht die Kunst Italiens, von der ich noch
wenig wußte, nicht die herrlichen Städtebilder, die man ja nicht wie
heute schon aus ungezählten Abbildungen kannte, auch nicht im dunkeln
Laub die Goldorangen beherrschten so meine Träume wie das blaue,
unendliche Meer. Ich meinte, erst am Meere könne mein innerer Mensch
sich vollenden. Der Wunsch, wieder mit den Meinigen vereint zu sein,
und literarische Aufträge, die mich hoffen ließen, auch dort meine
Selbständigkeit begründen zu können, zogen die Waage vollends nach
dieser Seite herunter. Als ich der hoffenden und wartenden Mutter
mein Ja geschrieben hatte und den Brief in einen Briefkasten der
Briennerstraße werfen wollte, zuckte meine Hand noch einmal zurück. Ein
plötzlicher Zweifel hatte mich befallen, und ich beschloß, die Frage
noch einmal in die Hand des Schicksals zurückzulegen. Ich zählte die
Fenster des Hauses auf Ja und Nein. Der Spruch hieß ja, der Brief fiel
in den Kasten und ein großer Jubel erfüllte meine ganze Seele.

Bevor ich schied, erwarteten mich noch vierzehn köstliche Sommertage,
die ich bei Hornsteins in Ambach am Starnberger See verbringen durfte.
Des Morgens auf Feld und Wiesen entstanden kleine Lieder, die der
Hausherr alsbald in Musik setzte und die des Abends schon von der
gleichfalls als Gast anwesenden gefeierten Sängerin Aglaja Orgeniy
am Klavier gesungen wurden. Die ganze übrige Zeit lag ich im See und
genoß voraus die Wonne, daß ich künftig im Meere schwimmen würde! Ich
erinnere mich, wie einmal Ludwig II. in seiner glänzenden Karosse
schnell wie ein Traumgedanke an unserem Badestrand vorüberrollte und
wie die jungen Mädchen gleich Wasservögelchen in die Höhe fuhren, um
ihm aus den Fluten ihren Knicks zu machen. Eine selige Losgebundenheit
und überschwengliche Erwartung verzauberte mir die ganze Welt, und das
neue Glück, dem ich entgegenging, verschönte das gegenwärtige, das ich
verlassen sollte.



Letzte Tage in der Heimat.


Während meiner letzten Münchner Wochen rüstete sich Tübingen zur
Vierhundertjahrfeier der Gründung seiner Universität durch den Herzog
Eberhard von Württemberg, und die akademische Bürgerschaft plante einen
großen historischen Festzug, bei dem von vornherein auf meine Teilnahme
gerechnet war. Auf dem prunkvollsten der Wagen, der den Stifter der
Universität samt seinen Räten trug, sollte ganz vorn die Muse als
Lenkerin des Gespannes stehen, und dieser Teil des Festplans, der bei
den steilen, holprigen Gassen Tübingens zu anderen Eignungen auch
sportliche Sicherheit erforderte, war in der Tat ohne meine Mitwirkung
nicht auszuführen. Meine Mutter übermittelte mir brieflich die Bitte
der Professoren- und Studentenschaft, daß ich zu der Feier nach
Tübingen komme und die Rolle der Muse übernehme. Ich verspürte zuerst
wenig Neigung dazu, denn ich betrachtete meinen Abgang aus Tübingen
infolge der mißlungenen Werbearbeit für das Damenschwimmen doch als
eine Art Scherbengericht, und es wurde mir einigermaßen coriolanisch
zumute, daß mich nun die Vaterstadt in der Not durch meine Volumnia
zurückrief. Der plötzliche Entschluß, mit nach Italien zu übersiedeln,
machte jedoch meine vorherige Rückkehr nach Hause notwendig. Und kaum
war ich in Tübingen, so erschien im Auftrag des Ausschusses Professor
Leibniz, der akademische Zeichenlehrer, der, wie ich glaube, die
künstlerischen Entwürfe für den Festzug gemacht hatte, und stellte mir
vor, daß ich doch nicht die Unschuldigen mit den Schuldigen bestrafen
und um weniger Übelgesinnter willen den schönsten Teil des Festzuges
zunichte machen dürfe, bis ich mich umstimmen ließ und ja sagte.
Die Gewandung lieferte das Stuttgarter Hoftheater, das auch an dem
großen Tage eine Garderobiere herüberschickte, um mich anzukleiden.
Ihre Auffassung von einem griechischen Gewand war allerdings von der
meinigen so verschieden, daß mir die weiße Tunika noch am Leibe völlig
aufgetrennt und umgeheftet werden mußte. Der breite Messinggürtel mit
den künstlichen Edelsteinen hatte zu meinem bleichen Schrecken eine
lange Schnebbe! Da blieb nichts übrig, als ihn umzukehren und die
Schnebbe nach oben zu richten, was, wenn auch nicht einer antiken, doch
allenfalls einer Renaissancemuse ähnlich sah. Das geschah unter dem
Widerspruch der Garderobiere, die versicherte, alle Iphigenien trügen
einen Schnebbenleib. Ein langer blauer Peplos, der an den Schultern
befestigt wurde, verdeckte, was noch stilwidrig war, und die Haare
schmückte ein Kranz von Lorbeer. So angetan erstieg die Muse ihren
Vorderplatz auf dem hochgetürmten Wagen und ergriff die Rosenzügel.
Vier gewaltige Grauschimmel, von Pagen geführt, zogen das schwere
Fuhrwerk. Auf dem Hochsitz hinter mir thronte der Fürst mit seinem
Gefolge, eine jugendliche Schülergruppe kauerte zu meinen Füßen. Die
Muse war die einzige, die völlig frei stand, und es bedurfte in der
Tat aller Aufmerksamkeit, in der hügeligen Stadt das Gleichgewicht zu
bewahren, besonders als es die damals noch jäh abfallende Neckarstraße
hinunterging. So kam es, daß ich am Ende von dem berühmten Festzug,
an dem mir eine Hauptrolle zugefallen war, nichts gesehen hatte als
die Rücken meiner Apfelschimmel und die herzoglichen Herolde und
Bannerträger, die vor meinem Wagen ritten. Den Rest des Zuges mit
der Gruppe der drei Flüsse Tübingens und mit all den geschichtlichen
Persönlichkeiten, den Gelehrten, Schülern, Rittern, Pagen, Mönchen,
Landleuten, Flößern und so weiter lernte ich erst später aus
Beschreibungen und einer rohen Zeichnung kennen; Momentaufnahmen gab
es damals noch keine. Auch mitten im Festjubel blieb das Philistertum
sich selber gleich, denn kaum hatte ich den Fuß auf den Boden gesetzt,
so beeilten sich geschäftige Zungen, mir neue Bosheiten zuzutragen.
Aber am Nachmittag erschien die Ästhetik selbst in Gestalt Friedrich
Vischers, um mir ihren warmen Glückwunsch und Beifall zu überbringen.
Während draußen die Festfreude weiterlärmte, die gegen Abend in laute
Trunkenheit ausartete, saß er bei Mutter und Tochter und erzählte als
guter Kenner Italiens mit Begeisterung von den Dingen, die uns dort
erwarteten.

An dieser Stelle sei es mir gestattet, den Manen dieses
außerordentlichen Mannes für das herzliche Wohlwollen zu danken, das er
mir schon von meiner frühesten Jugend zuwandte. Was er seinen Deutschen
war, braucht von mir nicht gesagt zu werden. Was er _mir_ war, kann
ich ohne Ruhmredigkeit aussprechen, denn es war seine Güte, nicht
mein Verdienst, wenn er mich schon als Kind zu sich heranzog. Er lud
mich als Zwölfjährige mit der Mutter zum Kaffee, den er selbst braute
und einschenkte, ich mußte dann neben ihm auf dem Kanapee sitzen,
er ließ sich meine Zöpfe aufflechten und erzählte mir Geschichten,
unter andern das ganze Märchen von den Pfahlbauern, das er später dem
„Auch Einer“ einverleibt hat. Wäre er länger in Tübingen geblieben,
so hätte ich im Heranwachsen gegen die Anfeindungen des Philistertums
einen Halt und Trost gehabt. Aber ihn selber trieb die Kleinstädterei
von dannen, und er zog den Lehrstuhl an der Stuttgarter Technischen
Hochschule dem der Tübinger Universität vor, weil er dort freiere
Menschen, die sich in der Welt umgesehen hatten, fand. -- Als ich dann
in den frühen achtziger Jahren zum erstenmal aus Italien wiederkam und
ihn in Stuttgart besuchen wollte, stieß mir das peinliche Versehen
zu, daß ich mir die Vormittagsstunde desjenigen Wochentags, wo er
ganz ungestört bleiben wollte, um sein Kolleg vorzubereiten, in der
Eile als die für Besuche willkommenste aufschrieb. Erst als ich die
Klingel gezogen hatte und er selbst im Schlafrock mit einem Blatt
Papier in der Hand mir öffnete, erkannte ich mit jähem Schrecken den
Mißgriff. Er ließ mich aber durchaus nicht mehr entwischen, ich mußte
sogar viel länger, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte, in der bei
solchem Ruhme wahrhaft ergreifenden Einfachheit seiner Gelehrtenstube
ihm gegenübersitzen, und es schien ihn gar nichts zu stören als sein
Schlafrock, der ihm nicht schön genug war, denn er klagte wiederholt,
daß er einen viel schöneren bestellt habe und nun zu seinem Ärger vom
Schneider im Stich gelassen sei, wo er ihn doch so nötig hätte, um
„einen anständigen Eindruck zu machen“. -- Und jetzt reisen Sie ab, wo
der neue Rock fertig ist? sagte er ein paar Tage später vorwurfsvoll.
So rührend jugendlich im kleinsten wie im größten war und blieb er
bis ans Ende. Ein paar Jahre später hielt ich mich abermals einige
Winterwochen in Stuttgart auf, da ließ er sich in seiner ritterlichen
Zuvorkommenheit nicht abhalten, mich fast täglich, trotz Wind und
Wetter und trotz der nassen Füße, die der fast Achtzigjährige zu
scheuen hatte, in meiner Pension zu besuchen. Wenn man die kleine,
zarte, obschon zähe Gestalt sah, das geistig verfeinerte Gesicht mit
der übermächtigen Stirn und dem abgeblaßten Veilchenblau der Augen,
die noch gar nicht vertrocknete, fast rosige Haut, die sich fest um
die abgezehrten Wangen legte, so mahnte das ganze Bild des Mannes
ergreifend und beängstigend, daß dieses ausdauernde Gehäuse allmählich
doch zu dünnwandig wurde für den Geist, der es bewohnte. Ich wurde
schließlich so besorgt, daß ich ihm einen früheren Tag der Abreise
nannte und mich selber um die mir noch zugedachte Zeit brachte, die
nie mehr vergütet werden konnte, denn es war das letztemal, daß ich ihn
mit Augen sah.

Er hatte den höchsten faustischen Lebensgipfel erstiegen, von dem aus
sich die Verworrenheit der Dinge zu großen, übersichtlichen Gruppen
gliederte. Dabei wehte aber keine eisige Altersluft um ihn her, es gab
kein Versteifen ins Gewohnte, kein Wiederholen des längst Gedachten.
Seine Gedanken entstanden im Augenblick, wo er sie aussprach, das
Neueste war ihm ebenso lieb wie das Alte, wenn es einen tüchtigen
Boden hatte. Vischer war ein wundervolles Beispiel des ganz großen
Deutschen, der mit leidenschaftlicher Inbrunst an der Muttererde haftet
und zugleich mit dem Geist durch alle Länder schreitet. Und da er alle
Register in der Gewalt hatte, so quoll er auch bei den ernstesten
Gegenständen von Anekdoten, Witzen, Schnurren nur so über. Seine
feinhörige Sprachmeisterschaft fühlte man in jedem Wort. Er erklärte
mir auch seinen dritten Teil „Faust“ als aus dem unwiderstehlichen
Zwang entstanden, in den hüpfenden, gleitenden Reimen des zweiten
Teils weiterzuwirbeln; ein warnender Wink für solche, die den Urkeim
eines Gedichts immer in der Idee suchen. Er wollte jedoch nicht nur
geistreich sein, er wollte helfen, wirken. Er brachte Bücher, die
er liebte, beriet in literarischen Angelegenheiten. Und war dabei so
menschlich-vertraulich, als ob man ihm gar keine Ehrfurcht schulde.

Zu seinem achtzigsten Geburtstag sandte ich aus Florenz einen
Lorbeerkranz und eine eben aufgegangene Magnolienblüte aus dem eigenen
Garten, diese nach italienischer Sitte zusammengeschnürt, damit der
Duft nicht vor der Zeit entweiche. In einigen begleitenden Strophen
wurde der Kranz als Sinnbild der langen Ruhmesbahn, die Blume mit den
stark strömenden und verströmenden Düften als Ausdruck des höchsten
ausgeschöpften Augenblicks gedeutet. Er antwortete noch mit einem
Gedicht, das kurz vor seinem Tode geschrieben wurde und jedenfalls
zu seinen letzten gehört, wenn es nicht das allerletzte ist. Ich
weiß nicht, was ich mehr darin bewundern soll, die edle, in unserer
Zeit sagenhaft anmutende Bescheidenheit oder das Selbstgefühl des
seltenen Mannes, der sich bewußt ist, noch am äußersten Lebensziel alle
Möglichkeiten der Weiterentwicklung in sich zu tragen:

    Zur Blume, die des Duftes feinste Geister
    Im Kelche sammelt, spendend sie entläßt,
    Zum Kranze, der, ein Schmuck für größre Meister,
    Den Strebenden begrüßt am Greisesfest,
    Läßt du aus Dichterworten mich ersehen,
    In welche Tiefen deine Blicke gehen[3].

    Die dumpfen Seelen, die gedankenschiefen,
    Was wissen die von Ewigkeit und Zeit?
    Den Zeitmoment zur Ewigkeit vertiefen,
    Das ist es, ja, das gibt Unsterblichkeit.
    Dazu ward Leben, das bringt Rat und Licht,
    Bringt Reim ins ungereimte Weltgedicht.

Die letzte Zeile ist eine Anspielung auf den Schluß meines Gedichtes
„Weltgericht“:

    Das ungereimte Weltgedicht,
    Nehmt’s, wie es ist, und krittelt nicht.

Er hatte für dieses Gedicht eine besondere Vorliebe und pflegte es
gleich nach seinem Erscheinen mit sich in der Tasche zu tragen und in
Gesellschaften vorzulesen, wovon auch Ilse Frapan in ihren warmherzigen
Vischer-Erinnerungen spricht. Er nahm es in Schutz gegen die heftigen
Angriffe der Scheinfrommen, die nicht imstande waren, durch den Scherz
hindurch die innere Pietät zu erkennen, und er schrieb mir damals
nach Italien lange, launige Episteln im gleichen Versstil und mit
spaßhaften Erfindungen im Geiste des „Auch Einer“, die er mir als
Zusätze vorschlug. Er sprach auch noch von einer italienischen Reise
und dachte an ein Wiedersehen in Venedig, wo mir jetzt ein Bruder, der
uns nachgezogene Alfred, lebte. Statt dessen kam so rasch nach dem
Altersfeste die erschütternde Todesbotschaft. -- Nach seinem Hingang
schien die Welt um vieles kälter und leerer geworden, und ich mußte
lange dem Rätsel nachstaunen, wohin diese gesammelte, sich immer
ergießende und sich immer erneuernde Fülle und Wärme nun mit einem Male
gekommen war.

Jetzt noch einmal ins alte Tübingen zurück, wo ich Mama und Josephine
beim Packen und Ausräumen half. Alle leichtbewegliche Habe wie Bücher,
Bilder, Wäsche usw. sollte uns nach Italien begleiten, die schweren
Gegenstände blieben stehen, voran die wertvolle Biedermeiereinrichtung
aus dem Brunnowschen Hause, um von den zurückbleibenden Brüdern
Alfred und Erwin nach unserer Abreise versteigert zu werden. Meine
Mutter trennte sich ohne Schmerz von den alten Erbstücken, weil kein
äußerer Besitz ihr das geringste galt, mir aber war es ein Abschied
von lieben, unvergeßlichen Freunden meiner Jugend. Die auch in ihren
Beschädigungen noch köstliche Empirestanduhr mit dem schwarzen Adler,
der einen mit Goldbienen besäten blauen Mantel über dem goldenen
Zifferblatt mit dem Schnabel zusammenhielt, konnte ich nie ganz
verschmerzen. Wer kann wissen, wohin sie geraten ist? Alles ging zu
Schleuderpreisen weg, weil damals der Wert solcher Altertümer noch gar
nicht verstanden wurde. Dagegen erzielte ein weggeworfener Hut meiner
Mutter (wenn sie einen wegwarf, war wirklich nichts daran zu halten)
einen Liebhaberpreis: er wurde von einem „Parteigenossen“ erworben und
als Andenken im Triumph davongetragen, wie die Brüder später launig
nach Florenz berichteten.

Edgar war unterdessen erschienen, uns zu holen und von der Heimat
Abschied zu nehmen. In diese letzten Wochen fällt, wenn ich mich
recht erinnere, unser tolles Haschischabenteuer, an dem auch Berta
Wilhelmi teilnahm. Sie war noch einmal zu Besuch nach Tübingen
gekommen, jetzt ganz erwachsen und so bildschön, wie ihre Kindheit
versprochen hatte. Sämtliche Brüder verliebten sich bis auf den kranken
Jüngsten herunter, der sie in naivem Versgestammel feierte. Aber sie
hielten durch Eifersucht einer den andern in Schach, so blieb es bei
allseitiger guter Kameradschaft. Edgar war seit lange neugierig, die
oft geschilderten Wirkungen des indischen Hanfs kennen zu lernen, und
konnte sich als Arzt leicht eine Gabe Canabis indica verschreiben.
Aber es war ein Mißstand dabei: man wußte nicht, wie gut oder schlecht
das Präparat sich auf der langen Reise gehalten hatte, und davon hing
doch die Wirksamkeit ab. Nach ein paar Fehlversuchen bezog er nun eine
gewaltige Dosis frisch angekommenes Haschisch aus der Apotheke, und
wir bestimmten die folgende Nacht zu unserem Unternehmen. Edgar hatte
ein Zimmer in dem gerade leerstehenden unteren Stockwerk inne. Berta
und ich legten uns nur zum Schein schlafen; sobald alles stille war,
schlichen wir zu Edgar hinunter. Ich bekam zwei Pillen, Berta eine,
Alfred sollte nüchtern bleiben und die andern ärztlich überwachen;
da er aber nicht ganz leer ausgehen wollte, schluckte er, was nur
einem so jungen Menschen einfallen konnte, dafür eine Opiumpille,
die zum Glück gar nicht wirkte. Edgar aber nahm, überkühn, wie er
in allem war, die doppelte Höchstgabe Haschisch, um diesmal sicher
zu gehen. Ich erwartete, auf dem Teppich hockend; in die Wunder von
Tausendundeiner Nacht zu versinken, merkte aber nur, daß mein Denken
sich sehr verlangsamte, und dann stiegen mir ganz abstrakte jenseitige
Vorstellungen auf, wofür die Sprache keinen Ausdruck hat. Plötzlich
rüttelte mich Berta und flüsterte mir zu, daß sich Edgar in einem
unheimlichen Zustand befinde. Ich erhob mich völlig gelassen, als ginge
mich die Sache gar nichts an, und wunderte mich doch selber über diesen
Gleichmut. Edgar blickte seltsam verändert, und auf meine Frage, wie er
sich fühle, antwortete er: Ich bin transferiert. Dann ging er an den
Tisch und machte auf dem großen Papierbogen, auf dem er seine Symptome
verzeichnete, die Eintragung: Transferiert.

Jetzt kommt das Tragische, sagte er nach einer Weile mit hohler Stimme
und ganz entgeisterter Miene. Keine persönliche Tragik, erklärte
er, es ist das Tragische an sich, das Tragische im Abstrakten. --
Sein Gesicht hatte einen bläulichen Schein und seine braunen Haare
bäumten sich über der Stirn, daß es ganz schauerlich anzusehen war. Er
aber schrieb eifrig das neue Symptom nieder. Jählings wandelte sich
sein Zustand aufs neue, und er rief triumphierend: Die Schwerkraft
ist aufgehoben, ich kann mich ebenso leicht durch die Luft aufwärts
wie abwärts bewegen. -- Zur Bekräftigung sprang er auf einen Stuhl
und machte seltsame Arm- und Schulterbewegungen, wie um sich durch
Flügelkraft zu erheben. Als es aufwärts doch nicht ging, war er im
nächsten Augenblick am offenen Fenster, das hoch auf den Marktplatz
heruntersah, um es abwärts zu versuchen. Wir zwei Mädchen hingen uns
an seinen einen Rockflügel, der kräftige Alfred an den andern, und
als er Miene machte, sich des Rocks samt der Belastung zu entledigen,
bemächtigten wir uns seiner Arme. Allmählich beruhigte er sich und bat,
ihn freizulassen da er auf der Straße Erfrischung zu finden hoffe.
Alfred wurde ihm zur Begleitung aufgezwungen, der ihn nach einer
peinlichen Stunde zurückbrachte; sie waren bis nach Lustnau gerannt.
Ich machte inzwischen im oberen Stockwerk Mengen von Kaffee, indem
ich die Kaffeemühle unter dicken Bettdecken drehte, um Mama und Balde
nicht zu wecken. Haltet mich wach, laßt mich ja nicht einschlafen, war
des Patienten wiederholte Mahnung; Schlaf könnte dem Hirn gefährlich
werden. -- Der Gang durch die Nachtluft hatte jetzt gut getan, ein
Kaffee war fertig, der einen Toten erwecken konnte, wir hielten uns
alle vier vollständig wach bis zum Morgen. Aber siehe da, nach einer
kalten Waschung nahm Edgar seinen Hut und begab sich ohne weiteres ins
Klinikum, wo ein merkwürdiger Fall zu beobachten war, während Alfred
sich todmüde zum Schlafen niederwarf und auch wir beiden Mädchen uns
zur Ruhe legten.

Bei diesem letzten Tübinger Abenteuer ging auch Berta zum letztenmal
durch unser Leben. Unter den aufständischen Zuckungen, die damals
durch Spanien liefen, geschah es bald danach, daß in Granada an Stelle
des abgesetzten Gouverneurs das schönste Mädchen der Stadt bei einem
großen Stiergefechte den Vorsitz führen sollte. Die Wahl fiel auf
Berta. An diesem weithin sichtbaren Platze sah sie ein Angehöriger
des ältesten andalusischen Adels und verliebte sich so, daß er
augenblicklich um die junge Schönheit warb, die ihm denn auch die Hand
zu einem freilich nicht sehr beglückenden Ehebund reichte. Ich besitze
noch ihr Bild mit spanischem Schleier und Fächer, wie sie jenes Tages
das Los ihres Lebens zog, das sie für immer an Spanien fesselte.

Die letzten Tage in Tübingen rannen mir unaufhaltsam durch die Finger.
Die Stadt meiner Jugend war doch tiefer mit mir verwachsen, als ich
selber wußte. Sie hatte auch für alle Zeit richtunggebend auf mein
Stilgefühl eingewirkt. Noch heute, wenn ich mir eine ideale Stadt in
Gedanken baue, mit solchen kühnen Terrassen, solchen überschneidenden
Dächern, steinernen Treppen, Durchgängen, hängenden Gärten, steigt sie
nach einem stillen Fluß hinunter. Einen schwingenderen Rhythmus als die
Straßenzüge Tübingens habe ich nirgends gefunden. Dieses Anschwellen
und Absinken der gepflasterten Straßen, für mich sind es die Hebungen
und Senkungen und wunderbar gefühlte Zäsuren eines Gedichts. Wie
in der Neckarstraße hoch über unseren Häuptern sich der Umgang der
Stiftskirche, wo ihm der Raum zu eng wird, mit plötzlichem Entschlusse
leicht und frei über die Straße herausschwingt, wie das schmale
Mühlgäßchen sich zu jener Zeit noch mit steilem Gefäll zwischen die
stürzende Ammer und die hohe, modrige Stadtmauer zwängte, während der
Österberg seinen schön bebuschten Fuß bis in die Ammer herabstreckte
und ein anderer stiller Garten oben von der Mauer zum Gegengruße
heruntersah, das sind Züge, die nie im Geist verlöschen. Von der Mitte
der unvergeßlichen alten Neckarbrücke führte eine steile Holzstiege auf
den Wöhrd. An ihrem Fuße standen zwei mächtige Linden wie Schildwachen;
sie gehörten mit zum Letzten, was ich an Freundschaft zurückließ, und
ihnen galt mein letzter Abendgang. Wir hatten allerlei Heimlichkeiten
miteinander, die sie zu hüten versprachen, bis ich wiederkäme. Leider
konnten sie ihr Wort nicht halten, weil sie unterdessen gefällt worden
sind. Unter ihrem Schirmdach stehend, schrieb ich in der zum Schlusse
aufgestiegenen Wehmut noch ein paar Verse in mein Taschenbüchlein:

    O Heimat, Heimat, vielgescholten,
    Doch vielgeliebt und vielbeweint,
    Seit heut die letzte Sonne golden
    Für mich auf deine Hügel scheint.
    Nie wollt’ ich scheidend dich betrauern,
    So hatt’ ich trotzig oft geprahlt,
    Wie nun der Schmerz die düstern Mauern
    Schon mit der Sehnsucht Farben malt.

    - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

    So laß uns denn in Frieden scheiden,
    Von Groll bewahr’ ich keine Spur.
    Dein Bild soll ewig mich begleiten
    Und wecke teure Schatten nur.
    Und kehr’ ich einst mit müdem Flügel,
    Wenn meine Bahn ein Ende hat,
    Dann gönne bei des Vaters Hügel
    Der Tochter eine Ruhestatt.

Dann kam der Morgen, wo wir zu Fünfen in der Bahn saßen: Mama, Edgar,
Balde, die treue Josephine, die uns nie verließ, und ich, um einem
neuen, unbekannten Leben entgegenzufahren. Ich setzte mich rückwärts,
und meine Augen saugten sich so lange wie möglich an dem wohlbekannten
Stadtprofil fest. Der Kirchturm schwand als letzter um die Ecke. Die
Jugendstadt versank, und die Weite der Welt, die langersehnte, tat sich
auf.


[3] Für den Druck schöner verändert: Wie ganz wir uns aus Lebensgrund
verstehen.





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