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Title: Der Kriegsfreiwillige Author: Mühlenfels, Hedwig von Language: German As this book started as an ASCII text book there are no pictures available. *** Start of this LibraryBlog Digital Book "Der Kriegsfreiwillige" *** images of public domain material from the Google Books project.) #################################################################### Anmerkungen zur Transkription Der vorliegende Text wurde anhand der 1915 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche sowie inkonsistente Schreibweisen wurden beibehalten, insbesondere wenn diese in der damaligen Zeit üblich waren oder im Text mehrfach auftreten. Die Buchversion wurde in Frakturschrift gedruckt. Die von der Normalschrift abweichenden Schriftschnitte wurden in der vorliegenden Fassung mit den folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet: fett: =Gleichheitszeichen= gesperrt: +Pluszeichen+ Antiqua: ~Tilden~ #################################################################### Der Kriegsfreiwillige Dritte Auflage Bei +Egon Fleischel & Co.+ erschienen folgende Werke von +Helene von Mühlau+ Beichte einer reinen Törin Sie sind gewandert hin und her Das Witwenhaus Liviana Saltern-Santos Eine irrende Seele Nach dem dritten Kind Das Kätzchen Hamtiegel Die zweite Generation Ehefrauen Der Kriegsfreiwillige Roman von Helene von Mühlau [Illustration] Egon Fleischel & Co. / Berlin 1915 Alle Rechte vorbehalten ~Amerikanisches Copyright 1915 by Egon Fleischel & Co., Berlin~ Zeichnung für den Umschlag und den Dieses mit bangem Herzen geschriebene Büchlein widmet ihrem verehrten Freunde +Herrn Hermann Sudermann+ in Dankbarkeit die Verfasserin Leise und zögernd zog der Abend nach dem langen, heißen Sommertag ins Zimmer. Die Umrisse der Möbel wurden unbestimmt, die Bilder an den Wänden zerflossen in Schatten, auf dem Teppich schlich noch ein Stückchen Tageslicht hin wie eine wellig gekrümmte, fast farblose Schlange. Alles war weich und mild und lind geworden, und die Großmutter sagte mit ungewohnt sanftem Ton: „Komm einmal her zu mir, Maria.“ Und Maria, die, ganz in sich zusammengesunken, in einem riesengroßen, altväterischen Sessel gesessen hatte, erhob sich leise und ging zur Großmutter hin. Sie sagte ‚Großmutter‘ zu der alten Frau, obwohl sie ihre Schwiegermutter war. Maria war am frühen Morgen von Berlin abgefahren; erst sechs Stunden mit der Bahn, dann, vom Großvater abgeholt, noch zwei Stunden Wagenfahrt. Sie war müde angekommen, und die Großmutter hatte ihr ein paar Stunden Ruhe gegönnt und sie erst gegen fünf Uhr zum Tee rufen lassen. Die Großmutter wohnte in einem kleinen, hübschen Villenort; sie hatte mit Großvater den unteren Stock eines netten Landhauses inne und sah gesund und zufrieden aus. Großvater war nicht zu Hause; er stand freiwillig auf Brunnenwache, denn irgend jemand im Orte hatte erzählt, daß die Russen durchziehen und die Brunnen vergiften würden. Da hatte Großmutter zu ihrem Manne gesagt: „Selbstverständlich wachst du mit“, und Großvater hatte sich auch freiwillig zur Verfügung gestellt und erfüllte trotz seiner zweiundsiebzig Jahre aufs gewissenhafteste die übernommene Pflicht. Die Großmutter zog Maria zu sich aufs Sofa nieder und legte den Arm um ihre Schultern. „So, nun erzähl’ vom Jungen!“ Auf dem runden Tisch vor ihnen lag ein Stoß Zeitungen, und die Großmutter war damit beschäftigt gewesen, einige Artikel auszuschneiden. „Für den Jungen!“ sagte sie. „Der wird jetzt keine Zeit zum Zeitunglesen haben; aber später wird er froh sein, daß Großmutter an ihn gedacht hat.“ „Ich habe auch schon für ihn gesammelt!“ sagte Maria, nicht ohne leisen Trotz in der Stimme. Die Großmutter faltete plötzlich ihre Hände und rief laut: „Lieber, lieber Gott, warum hast du dieses namenlose Leid über uns gesandt? Siehst du, Maria, du weißt, daß ich fromm bin und ohne meinen Gott nicht leben konnte! Aber seit er all dies Furchtbare geschehen läßt, ist es mir jeden Morgen von neuem, als ob ich mit ihm hadern müßte. Ich kann nicht ruhig mehr sagen: Vater unser, der du bist im Himmel. Geheiligt werde dein Name! Nein, das kommt mir nicht mehr glatt von den Lippen, und das ist für eine alte Frau, die eigentlich keinen andern Halt mehr hat, sehr hart, wenn sie an ihrem Lebensende mit ihrem Gott in Zwietracht geraten muß!“ „Du hast doch Großvater,“ antwortete Maria, und die alte Frau nickte. „Ja, und er ist ein guter Mann und hat mich nicht enttäuscht.“ Das bestätigte die Großmutter sehr kräftig, fast herausfordernd; denn es war ihr im Laufe der Zeit allerlei zu Ohren gekommen, was man über ihre späte Heirat gesagt hatte. „Ich halte es mit dem alten Fritz: Jeder nach seiner Fasson! Es mag alte Frauen in Fülle geben, die das Alleinsein nicht empfinden, oder die in Kaffeeklatschen Befriedigung suchen oder irgendwo bei Verwandten unterkriechen. Das genügte mir nicht. Ich muß jemanden haben, für den ich sorgen kann. Wärest du nach Alfreds Tod mit dem Jungen zu mir gekommen, oder hättest du wieder geheiratet und mir den Jungen überlassen, dann hätte ich eben Großvater nicht genommen. Da dir aber nicht beizukommen war, handelte ich, wie ich es für gut hielt.“ „Du sagst das immer so, als ob ich etwas gegen deine Heirat gehabt hätte, Großmutter,“ meinte Maria. „Das würde dir auch wenig genutzt haben,“ rief die Großmutter und sah einen Augenblick triumphierend aus, aber dann wurde ihr Gesicht wieder weich. „Ich hatte einmal in einem Buch gelesen, Maria, daß eine Ehe zwischen alten Leuten, die des Lebens Stürme hinter sich haben, unendlich gut und schön sein müßte. Das ist mir nicht aus dem Sinn gegangen, und als ob es so hätte sein sollen, mußte der Großvater, der sich ebensosehr vor der Einsamkeit wie ich fürchtete, mir in den Weg laufen. Schickung! Und ich muß gestehen, nachdem er seine großen Eigenheiten, die er anfänglich durchsetzen wollte, abgelegt hat, sind wir recht glücklich zusammen. Er tut, was ich will, und hat keinerlei Launen mehr. Das ist eine große Kunst für eine Frau, sich den Mann so zu ziehen, wie sie ihn haben will, eine Kunst, von der du nicht viel verstehst, Maria. Du würdest dich in den ersten zwei Wochen unterkriegen lassen.“ „Darum habe ich ja auch nicht wieder geheiratet, Großmutter.“ „Schlimm genug für dich und den Jungen, der ohne Vater aufwachsen mußte.“ „Ist denn der Junge nicht sehr gut groß geworden? Du tust mir wirklich oft Unrecht, Großmutter.“ Aber dann kam der wilde Schmerz all dieser Tage wieder in ihr auf; sie warf den Kopf in die Arme und weinte. „Vielleicht ist alles zwecklos gewesen, alles umsonst!“ Großmutter ließ sie eine Weile so liegen, dann hob sie ihr den Kopf in die Höhe. „Das Weinen hat gar keinen Zweck, Maria. Damit änderst du absolut nichts und machst nur dich selbst elend.“ Sie war sehr gut und weich in diesen Augenblicken und zog den Kopf der Schwiegertochter an ihre Brust. „Wir sind sehr verschieden, Maria,“ sagte sie, „und werden wohl nie ganz zueinander hinkönnen; aber wenn du um das Jungchen weinst, habe ich dich lieb, denn dann fühle ich, daß du doch zu uns gehörst.“ Es war nun ganz dunkel im Zimmer geworden, und die Großmutter sprach leise, aber nicht ohne Heftigkeit: „Siehst du nun ein, daß es eine Dummheit ist, wenn eine Frau, die noch jung ist, den Wahn hat, allein bleiben zu müssen. Man kann sich den Mann nicht malen, ganz besonders nicht, wenn man so wenig Mittel hat wie du. Aber, da hat man, wenn ein braver, solider Mann mit reellen Absichten kommt, gleich große Schlagreden bei der Hand: ‚Ich muß verstanden sein, muß seelische Gemeinschaft, gleiche Interessen haben!‘ Der lautere Blödsinn, Maria, den sich meinethalben eine Millionärin erlauben kann. Aber für dich paßte sich das absolut nicht! Nun, wo Gott dies furchtbare Strafgericht in die Welt geschickt hat, stehst du gottverlassen da und wärest vielleicht froh, wenn einer käme und dir Sicherheit böte.“ „Nein, das wäre ich auch heute noch nicht, wenn ich ihn nicht lieben könnte!“ Der Kopf hob sich von der Brust der Großmutter, und die alte Kluft war wieder da. „Dann weine auch nicht! Der Hochmütige darf nicht weich werden.“ Der Großvater trat ins Zimmer. „Warum denn so im Dunkeln?“ fragte er und ließ den Kronleuchter aufblitzen. Die Großmutter ward ärgerlich. „Du weißt, daß ich diese plötzliche Beleuchtung nicht vertrage!“ Und der alte Herr schaltete, mit einem feinen Lächeln um den Mund, die Krone aus und drehte eine kleine, gelbverschleierte Lampe an. Er hielt Zeitungen in der Hand und machte ein bedeutendes Gesicht. „Kann ich noch eine Tasse Tee haben?“ fragte er; aber als Maria aufspringen wollte, hielt Großmutter sie fest. „Geh, Alterchen, und klingle der Müller! Sie wird dir schon irgendwas Trinkbares bringen.“ Die Müller, eine ältliche Frau, die bei den zwei alten Leuten wohnte und sie bediente, kam schon von selbst mit einer Tasse Tee, und der Großvater richtete ein paar freundlich scherzende Worte an sie. „Was Neues?“ fragte die Großmutter; und er las den Hauptartikel aus der Zeitung vor. „Also mit Belgien werden sie bald durch sein. Rat Mertens behauptet, in drei Wochen wären sie in Paris.“ „Rat Mertens soll besser seinen Mund halten,“ schalt die Großmutter. „In drei Wochen sind wir nicht in Paris, das sagt mir mein klarer Verstand. Die Franzosen, wenn sie nur einigermaßen ihre fünf Sinne beisammen haben, werden ihr Paris diesmal zu verschanzen wissen!“ Großvater lenkte ab und wandte sich an die Schwiegertochter: „Nun, hast du den ersehnten Brief vom Jungen vorgefunden?“ Und Großmutter bat: „Nun erzähl’ endlich, Maria! Aber ein bißchen folgerichtig, nicht so sprunghaft, Maria. Aus euren paar Briefen und Karten konnte man so gut wie nichts entnehmen. Also fang’ nur gleich mit eurer Abreise von Norderney an! Nein, wie ich Gott gedankt habe, daß ihr die verrückte Idee, in ein belgisches Seebad zu fahren, nicht ausgeführt habt. Wenn schon einer so viel übrig hat, daß er in ein Bad fahren kann, dann soll er sein Geld doch lieber im Lande lassen, statt es den Ausländern in den Rachen zu werfen. Man sieht ja nun, wie sie es mit uns meinen. ‚Bleib’ im Lande und nähre dich redlich.‘ Dieser Spruch wird von jetzt an mit Gottes Hilfe wieder zur Geltung kommen.“ Großvater sagte: „Ich meine, Maria sollte erzählen.“ Großmutter ließ sich nicht gern maßregeln und blickte ärgerlich auf. „Notabene,“ nahm Großvater wieder das Wort, „Mertens und Hieronymus wollen heute abend wieder kommen, und vielleicht spricht auch Hauptmann Prell vor.“ „Aber hoffentlich nicht zum Essen,“ rief Großmutter auffahrend. „Nein, ganz solide zum Glas Wein nach Tisch.“ Großmutter sagte zu Maria: „Wenn du doch noch je einmal heiraten solltest, Kind, so mache es deinem Manne gleich zu Anfang klar, daß er dir nicht ungefragt Leute ins Haus bringt, die auf ein warmes Abendbrot warten. Du weißt nicht, in welch eine Verlegenheit eine Hausfrau bei solchen Veranlassungen kommen kann.“ „Ich würde Maria gleich ein ganzes Erziehungssystem für den Fall ihrer Wiederverheiratung aufschreiben,“ schmunzelte der alte Herr. Und Großmutter fuhr ärgerlich dazwischen: „Du und Maria, ihr seid immer eins. Aber nun erzähl’, Kind! Wenn die Herren nach Tisch kommen, müssen wir zeitig essen. Also in Norderney erfuhret ihr das erste vom Krieg und packtet eure Koffer. Die Reise dauerte eine Ewigkeit, das weiß ich aus euren Karten, und dann fuhret ihr nach Berlin. Aber was kam dann? Vor allem interessiert mich’s, zu wissen, wie der Junge die ganze Sache aufnahm. Hat er gleich von Anfang an mitgewollt?“ „Erst freute er sich mal, daß es ein Notabitur gab,“ begann Maria. „Ja ja, das Notabitur. Das kann ich mir denken. Da hat er uns gleich am nächsten Morgen telegraphiert: ‚Glänzend bestanden‘, weil ich ihm fünfhundert Mark für den Fall des Bestehens ausgesetzt hatte.“ „Die du dem armen Kerl aber nicht in bar, sondern in einem jetzt unverkäuflichen Papier ausgezahlt hast,“ fügte Großvater ein. „Was soll der Junge jetzt mit so viel barem Geld?“ erwiderte die alte Frau gereizt. „Übrigens laß Maria endlich zu Worte kommen!“ Draußen klingelte es, und irgendjemand begehrte mit Großvater zu sprechen. „Wenn er denn gar keine Ruhe hat, dann erzähl’ mir nur allein, Maria! Also Montags früh bekam er die Nachricht aus der Schule, daß er sich am Abend einzufinden habe! Was hat er da wohl für ein Gesicht gemacht? Das hätte ich sehen mögen.“ „Erstmal traf er sich mit drei Freunden, und da erzählte er mir, daß sie vor allem die Kleiderfrage erörtert hätten. Sie hatten sich doch einen Gesellschaftsrock zum Abitur bauen lassen wollen. Nun waren bei uns nicht mal die Koffer zur Stelle, und er mußte im grauen Sommeranzug gehen.“ „Glaubst du, daß ihm das hart war?“ „Vielleicht für einen Augenblick, aber das verflog doch schnell neben allem andern. Den ganzen Tag gab es Extrablätter; um Mittag waren wir Unter den Linden, da hatten sie gerade zwei Spione aufgefangen. Er wäre gern mit mir in ein Café gegangen, aber natürlich war nirgendwo ein Platz. So stand man denn und wartete und sah und hörte. Du machst dir keinen Begriff, wie das in diesen Tagen in Berlin zuging.“ „Das kann ich mir denken und, Maria, so sehr ich mich gräme, daß in unseren vorgeschrittenen Zeiten solche Barbarei noch gut möglich ist, ich mußte mir doch immer sagen, daß es für einen jungen Menschen mit gesunden Gliedern und hellem Verstand gar nichts Wundervolleres geben kann, als in solch einer Zeit miteingreifen zu dürfen. War er denn sehr begeistert?“ „Du weißt, daß er sich wenig über alles, was in ihm vorgeht, äußert, Großmutter.“ „Leider Gottes, und sein Lehrer, der ihn schon jetzt ‚Professor‘ nannte, hat eigentlich recht. Da hatte sein Vater einen ganz anderen Schneid.“ In Marias Gesicht kam ein ablehnender Zug. „Also weiter, dann ging’s zur Schule?“ „Ja, und da soll es dann sehr feierlich gewesen sein, der Direktor begeistert und bis zu Tränen gerührt, und die Lehrer hätten sich wie die Kameraden gegeben.“ „Das kann man sich denken.“ „Erst bekamen sie ein Sextanerthema zu ihrem Aufsatz: ‚Begeisterung ist die Quelle zu großen Taten‘, und da hätten sie dann einen heillosen Blödsinn zusammengeschrieben.“ „Du hast doch hoffentlich seinen Aufsatz aufgehoben? Ich würde jetzt alles von ihm aufheben, Maria. Du kannst nicht wissen, wie es kommt, und nachher hast du dann doch wenigstens ein paar Andenken an seine letzte Zeit.“ „So sollst du nicht sprechen, Großmutter. Ich will nicht denken, daß ihm etwas passiert.“ „Besser, man macht sich mit so etwas vertraut, Maria, als wenn es einen ganz unerwartet trifft. Das war ja das Entsetzliche für mich bei Alfreds Tod, daß die Nachricht wie der Blitz aus heiterem Himmel kam.“ „Du wußtest aber doch, daß er herzleidend war, Großmutter.“ „Aber ich wußte auch, daß die Ärzte zu mir gesagt hatten, er könne sechzig Jahre alt werden trotz seines Leidens. Laß gut sein, Kind, wir wollen nicht die alten Geschichten aufrühren! Nur das eine kann ich dir sagen, Maria: Über den Tod eines Mannes kommt man hinweg, denn selbst wenn man einem Manne sehr gut ist, so kann man ihn doch nie mit solcher Liebe lieben wie das Kind, das man unter dem Herzen getragen hat.“ Maria war bleich geworden. „Aber nun erzähle weiter! Also der Aufsatz war Blödsinn und wurde doch für gut befunden. Gott, und gerade vor dem Aufsatz hatte er die größte Angst gehabt, weil sie da oft so verrückte Themata geben. Da sieht man mal wieder, daß der Mensch sich keine Sorge um das, was die Zukunft bringt, machen soll. Es kommt immer alles anders als man denkt, im Großen wie im Kleinen. Wurden sie denn in den andern Fächern überhaupt geprüft?“ „Ja, er sagte mir, in allem seien sie geprüft worden, aber, weißt du, so, daß die Lehrer selbst die Antwort gaben oder sie ihnen doch in den Mund legten. In der Geschichte fragte man ihn: ‚Wann starb die Königin Luise?‘ und gleich danach: ‚Sie wissen doch, vor zwei Jahren feierte man ihren hundertsten Todestag?‘“ „Großvater, das mußt du hören!“ rief Großmutter zum wiedereintretenden alten Herrn, „wie sie den Jungen in Geschichte geprüft haben!“ Großvater hörte liebenswürdig zu, entschuldigte sich aber gleich wieder. Er hatte von einem Extrablatt, das ausgegeben sein sollte, gehört und wollte es sich verschaffen, damit die Herren am Abend nicht den Triumph haben sollten, ihm mit Neuigkeiten zuvorzukommen. Großmutter war ärgerlich. „Du kannst mir glauben, Maria, seit diesem unseligen Krieg ist unser ganzes Zusammenleben zerstört. Großvater ist rein aus dem Häuschen und schert sich um keine Zeiteinteilung mehr. Es ist zum Verzweifeln.“ Großvater sagte ernst: „Wie kannst du klagen, da wir hier in unserer behaglichen Sicherheit leben!“ Und die alte Frau nickte: „Ist schon gut, Alterchen. Jetzt kommt er mit seinen Ostpreußen. Geh’ nur, aber sieh’, daß du zum Essen zeitig da bist!“ und dann wieder zu Maria gewandt: „Ja, stell’ dir vor, Maria, wenn ich ihm den Gefallen getan hätte und mit ihm in seine Heimat nach Ostpreußen gezogen wäre. Ich war nahe genug daran, aber ich weiß nicht, warum: ich hatte immer ein Grauen davor, so nahe an der Grenze zu wohnen. Nun denkt aber Großvater, er hätte ein Recht, mir bei jeder kleinsten Gelegenheit das Schicksal seiner armen Landsleute vorzuwerfen, statt daß er sich freut, hier in Ruhe zu sitzen.“ Maria sagte nachdenklich: „Es geht mir manchmal wie Großvater, ich schäme mich des Wohlergehens! Es klingt frivol, aber oft wünsche ich, man litte mehr unter dem Krieg, ich meine es jetzt rein äußerlich.“ Das verstand Großmutter nicht. „Du warst ja immer ein bißchen anders als andere Leute, Maria; aber nun erzähl’ weiter. Also die Lehrer legten ihm die Antwort beim Examen in den Mund! Das finde ich famos! Wie ging es denn mit der Mathematik?“ „Die haben sie ihm geschenkt, weil er darin immer besonders gut war. Übrigens hat er mir das gar nicht so ausführlich erzählt. Was ihnen allen imponierte, war, daß die Töchter des Schuldirektors ihnen Tee und Kuchen servierten, und daß alle Lehrer sich mit ihnen unterhielten, als seien sie völlig gleichgestellt. Zu Ernst hat einer gesagt: ‚Mensch, wenn Sie nicht trotz allem und allem das werden, was ich von Ihnen erwarte, dann pfeife ich auf alle meine Menschenkenntnis.‘“ „So, was erwartet er denn von ihm?“ fragte die Großmutter. „Du weißt doch, sie nannten ihn den Philosophen, weil er so gerne über alles mögliche nachgrübelt!“ „Ja, das muß ich gestehen, das ist’s, Maria, was mir am allermeisten mißfallen hat. Kein Schneid! Nenne mir einen Philosophen in der Welt, der das ergründet hat, was uns nun einmal verborgen bleiben soll! Gibt’s nicht! Und ich will dir sagen: Zwei- oder dreimal in meinem Leben habe ich in solche Bücher hereingeschaut und hab’ sie mit Abscheu wieder zugeschlagen. ‚Esel sind diese Kerle‘ habe ich mir gesagt. Wollen anderen Menschen weismachen, daß sie mehr wissen als sie, und führen einen nur irre und nehmen einem die Freude am Dasein. Nein, ich sehe es als eine Fügung Gottes an, daß der Junge nun doch Soldat werden muß. Wenn er dann nebenbei das Philosophieren nicht lassen kann, ~à la bonne heure~ -- aber nicht als Beruf, nicht als Broterwerb!“ „Man kann über so etwas nicht verfügen, Großmutter. Ich glaube, jeder Mensch muß doch einmal das werden, was in seiner Natur begründet liegt.“ Die Großmutter zuckte die Achseln. „Das sind die heutigen Ansichten. Am besten, man steckt einen Buben mit elf Jahren ins Kadettenkorps, dann lernt er nichts anderes kennen. Wie lange hat denn nun diese Abitursache an jenem Abend gedauert?“ „Um zehn Uhr kam er zurück -- gleich mit der Bescheinigung in der Tasche. Er hatte sich großartig ein Auto genommen und blieb nur eine Viertelstunde. Sie hatten sich zu einem Kneipabend verabredet.“ „So so!“ antwortete die Großmutter, und Maria würgte an irgend etwas. „Denk mal, Großmutter,“ sagte sie dann und stockte gleich wieder. „Nun, was denn?“ „Um halb ein Uhr kam er zurück; ich lag schon zu Bett, konnte aber natürlich nicht schlafen. Er war ganz blaß und aufgeregt, und dann erzählte er, sie seien da in eine Kneipe gegangen, und plötzlich habe einer von ihnen ein Mädchen an den Tisch gebracht, -- und dann seien immer mehr gekommen, und auf einmal hätte auch eine neben ihm gesessen.“ Die Großmutter blickte auf, und ein seltsamer Zug lag um ihren Mund: „Na -- und?“ „Ja, ich weiß nicht -- -- sie hat gesagt: ‚Sag’ doch ‚Hannchen‘ zu mir und hat ihn gefragt, ob er immer so ledern wäre, und ist ihm ganz nahegerückt.“ Nun lächelte die Großmutter: „Und weiter?“ „Ich weiß nicht,“ und Maria senkte den Kopf. „Er tat mir schrecklich leid an jenem Abend; ich glaube, er fühlte sich unglücklich!“ „Das ist Blödsinn, Maria. Ein Junge muß mal was erleben. Sieh mal, Alfred war doch schon mit siebzehneinhalb Jahren Leutnant, da konnte ich ihn doch auch nicht mehr am Rockzipfel haben!“ „Das ist es auch nicht; ich hatte nur das Gefühl, daß der Junge sich um etwas grämte, daß ein großer Zwiespalt in ihm war.“ „Laß gut sein, Kind, so was mußte einmal kommen, und vielleicht ist es ein Glück, daß ihm gerade jetzt noch die Augen geöffnet wurden. Wer weiß, was sie in den nächsten Monaten zu sehen bekommen.“ „Er ist noch so ein Kind, Großmutter. Du weißt gar nicht, wie sehr er noch Kind ist, trotz seiner Grübeleien.“ „Dann war es die höchste Zeit, daß er aus seiner Kindheit herausgerissen wurde!“ „Es tat mir aber weh. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als sei er wieder mein ganz kleines Kind, das ich gegen die Welt schützen müßte. Überhaupt, Großmutter -- immer in dieser schrecklichen Zeit, jetzt lebe ich wieder alles von früher durch -- wie er noch ganz mein war -- ganz hilflos -- ich kann dir das nicht so sagen -- aber es tut alles so entsetzlich weh -- so als ob einem scharfe Messer im Herzen wühlten.“ Großmutter streichelte Marias Haar. „Da mußt du dich nun drüber hinwegsetzen, Kind. Du darfst nicht egoistisch sein. Eine Mutter hat die Pflicht, ihr Kind unter Schmerzen und Wonne zu gebären, es großzuziehen und dann wieder herzugeben. So will es die Natur und alles Auflehnen hilft nichts!“ Großvater kam mit seinem Extrablatt. „Die Russen in Tilsit!“ Er war ganz bleich. Großmutter lenkte ab: „Laß eben Maria fertig erzählen! Also das Abitur hatte er, und dann?“ „Dann liefen sie von Kaserne zu Kaserne, um sich zu stellen. Zu Tausenden standen sie da herum, und er kam an den ersten beiden Tagen enttäuscht nach Hause. Am dritten aber mittags strahlte er und hatte einen Fahrschein nach der Altmark -- da sollten sie sich beim Husarenregiment melden!“ * * * * * Herr Hieronymus war ein schlankes, kleines Männchen mit eisgrauem Bart. Er kam als erster, und der Tisch war noch nicht abgeräumt. „Das nenne ich pünktlich!“ sagte die Großmutter und stellte ihre Schwiegertochter vor. „Große Freude, gnädige Frau! Hab’ schon oft von Ihnen gehört, die Frau Schwiegermutter spricht mit Vorliebe von Ihnen und dem famosen Jungen. War leider zwei Jahre abwesend, sonst würde ich wohl schon früher das Vergnügen gehabt haben, Sie zu sehen!“ Er hielt Marias Hand fest und sah ihr in die Augen. „Nun erzählen Sie aber auch gleich, teurer Herr Hieronymus, daß ich immer nur das Beste von meiner Maria rede!“ „Es wäre eine Kränkung, das besonders zu versichern,“ sagte das kleine Männlein, und bevor die Müller noch mit dem Abräumen fertig war, tat sich die Tür zum zweitenmale auf, und der behäbige Herr Rat Mertens trat ein. Den kannte Maria schon und gab ihm die Hand, die der Rat an seine Lippen zog. „Im Frühjahr sahen Sie blühender aus, liebe Frau Maria. Da sehen Sie geradezu beneidenswert gut aus. Jetzt sieht man Ihnen an, daß Sie gelitten haben! Schwere Zeiten, furchtbare Zeiten, die Gott uns gesandt hat. Heute reichen wir uns noch in Geborgenheit die Hand; wer aber weiß, wie nahe die Stunde bevorsteht, in der es auch für uns heißt: Verlaßt eure Heimat, flieht oder sterbt!“ „Na, na,“ sagte die Großmutter ärgerlich; und dann ließ die Müller den dritten Gast eintreten, den Hauptmann Prell, den Maria noch nicht im Hause ihrer Schwiegereltern gesehen hatte. Er kam langsam näher und schleppte den linken Fuß nach. Fein und leidend waren die Züge seines Gesichtes, die Augen in die Ferne blickend, so wie Menschen, die viel denken und grübeln, zu blicken pflegen. Ihm kam die Großmutter liebenswürdiger als den anderen Gästen entgegen. Sie hielt die Schwiegertochter im Arm und begann herzlich: „Hier ist meine Maria, Herr Hauptmann; wir haben ja neulich einen geschlagenen Nachmittag von ihr und ihrem Jungen gesprochen!“ Der Hauptmann beugte sich über die dargereichte Hand. „Ich bin sehr glücklich, gnädige Frau, Sie zu sehen. Ich bin wirklich sehr erfreut!“ wiederholte er, als die Großmutter sich zu den anderen Gästen wandte, und zog nun auch die andere Hand an die Lippen. „Sie haben Ihren Jungen hergegeben -- Ihren Einzigen?“ fragte er, „aber Sie haben es gern getan, nicht wahr?“ „Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Man will und will nicht; es ist ein schreckliches Chaos im Kopf und Herzen.“ „Also wo wünschen die Herren zu sitzen?“ rief die Großmutter. „Hier im Eßzimmer haben wir den Vorteil, alle zusammen am Tisch sitzen zu können. Gehen wir ins sogenannte Herrenzimmer, müssen sich die Parteien teilen.“ Der Großvater aber stimmte fürs Herrenzimmer, und die Müller erhielt einen Wink, Gläser und Flaschen dahin zu bringen. Hieronymus reichte der Großmutter den Arm, Rat Mertens sprach mit lauter Stimme auf Großvater ein und Prell ging neben Maria her. Der behäbige Rat blieb unter dem Kronleuchter stehen und sprach nun nicht mehr zu Großvater allein, sondern so, als habe er irgendein unbekanntes Publikum vor sich. „Unsagbar schwere Zeiten hat Gott über unser armes, tapferes Vaterland verhängt!“ rief er aus. „Gott ist allmächtig und allgütig und vor allem: Gott ist gerecht! Das muß man sich in dieser Zeit immer wieder sagen, denn sonst könnte man der Verzweiflung, die einem beim Lesen der furchtbaren Geschehnisse ergreift, nicht Herr werden! Ich nehme an, Gott will den Frevel und den Hochmut derer, die uns hassen, strafen. Wir sind das Werkzeug dazu, und wir dürfen nicht murren. Ja, wir müssen uns zum Gottesglauben zwingen! Das ist nicht ganz leicht in diesen Zeiten, in denen der, der über uns allen waltet, so Grauenhaftes geschehen läßt. Jammer, Jammer, Jammer! Wo ist ein Herz, das nicht von Gram verzehrt wurde? Wo ist der Mann, die Frau, die nicht täglich von neuem um ihr bißchen Lebensmut kämpfen muß? Wäre es uns nicht allen wohler, wenn wir uns jetzt zu einem Schlaf niederlegen könnten, aus dem es kein Erwachen mehr gibt?“ „Oho,“ sagte Großmutter, „das wäre ja wirklich sehr deutsch gehandelt. Nein, lieber Rat, nun erst recht nicht! Und wenn der Krieg zehn Jahre dauern würde, und wenn ich mit Krankheit geschlagen würde, ich möchte das Ende abwarten! Jetzt einschlafen, nein, das paßte mir nicht!“ „Sie haben diese wundervoll starken Nerven, gnädige Frau,“ entgegnete der Rat. „Aber nicht ein jeder hat die Kraft, so zu denken wie Sie. Unsere lieben Damen verfügen ja auch im allgemeinen über mehr Optimismus und Naivität als der denkende Mann.“ Großmutter räusperte sich. „Das sind schöne weibliche Eigenschaften!“ fuhr der Rat fort, „und kraft dieser Eigenschaften bleibt es ihnen erspart, den grauenhaften Ernst der gegenwärtigen Zeit in seinem vollsten Umfang zu erfassen.“ „Auch dagegen protestiere ich, Herr Rat!“ „Mit Ihnen ist nicht gut verhandeln,“ lachte Mertens etwas gereizt, „Frau Maria aber wird mir recht geben. Sagen Sie, gnädige Frau, haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie es sein wird, wenn wir nicht siegreich sein sollten? Wenn diese siebenfache Meute uns doch so zu packen kriegt, daß wir am Boden liegen -- daß das edle Blut unserer Söhne, Gatten, Väter und Brüder umsonst geflossen ist?“ Maria war bleich geworden: „Ich will mir das nicht vorstellen.“ „Sehen Sie, sagt’ ich es nicht? Sie will sich nicht vorstellen, sie macht die Augen zu. Das ist schön, das ist frauenhaft.“ „Blödsinn!“ rief die Großmutter. „Das ist gar nicht nur frauenhaft! Ein jeder, ob Mann oder Frau, sollte so denken: Siegen oder Untergehen! An Untergehen denkt man nicht gern, also weiß man, daß man siegen muß. Aber nun nehmen Sie Platz, meine Herren, und lassen Sie uns so fröhlich sein, wie man es in dieser Zeit sein kann!“ Mertens hob als erster sein Glas: „Ein Pereat auf das Land der Perfidie!“ Hieronymus zögerte ein wenig, bevor er sein Glas an das der anderen klingen ließ: „Das ist mir ein wenig zu pathetisch.“ „Pathetisch?“ ereiferte sich Mertens. „Ist diese Zeit denn nicht ganz und gar aufs Pathetische gestimmt, und verdienen es diese neidplatzenden Halunken nicht, daß man ihnen zu jeder Stunde des Tages einen Fluch nachschleudert?“ „Das nützt uns nur verdammt wenig, lieber Rat.“ „Aber es tut uns wenigstens wohl!“ Über das Gesicht des invaliden Hauptmanns flog ein sarkastisches Lächeln. „Man muß nicht alles so allgemein nehmen; man muß auch bei seinem Feinde die Motive suchen.“ „Teufel, ja,“ sagte der Rat, „die liegen doch bei England klar genug.“ Großmutter warf ein: „Nicht wieder die alten Sachen durchkauen, meine Herren! Jedes Kind weiß, daß England gemein an uns handelt; jedes Kind sagt ‚Pfui!‘, wenn es von England spricht. Ich sage auch ‚Pfui!‘ und habe gern in das Pereat auf das edle Britenreich miteingestimmt, aber damit wollen wir es auch für heute bewenden lassen. Sind Sie einverstanden, Rat?“ „Mir war es nur, als habe unser Hauptmann Prell etwas andere Ansichten über unsere englischen Feinde!“ meinte Mertens gereizt. „Wie meinen Sie das, Herr Hauptmann, wenn Sie sagten, man müsse über die Beweggründe jedes Landes nachdenken? Frankreich und Rußland verstehe ich -- ganz besonders Frankreich -- aber England hatte keinen Grund zu diesem namenlosen Haß. Bei England ist die Triebfeder zu diesem Krieg nichts als kalte, gemeine Habgier!“ „Das ist in diesen Tagen tausend- und abertausendmal bestätigt worden,“ sagte Prell kühl. „Nun also, warum betonten Sie denn, man müsse über Englands Beweggründe nachdenken?“ „Ich habe nicht behauptet: über Englands Beweggründe, sondern über jedes einzelnen Landes Beweggründe. Stellen Sie sich mal vor, es wären zehn Jahre vergangen, und man verlangte von Ihnen, daß Sie die Geschichte dieses Krieges schrieben. Würden Sie da auch nur so einfach von Englands Perfidie sprechen? Man muß sich doch auch fragen, was England von uns zu fürchten hätte, wenn unsere Industrie und unser Handel weiter in dem Maße aufblühen, wie sie es bisher getan. Heute noch ist England der Großkaufmann und der Bankier der ganzen Welt. Aber es fühlt, daß Deutschland ihm zu mächtig wird. Es fürchtet ganz einfach Deutschlands immer weiteres Emporsteigen.“ Der Großvater sagte bedächtig: „Nein, meine Herren, das ist es nicht. Es ist einzig unser Militarismus, den sie mit scheelen Augen ansehen.“ Die Großmutter warf ein: „Meine Herren, das sind doch alles Gemeinplätze, über die eine Debatte nicht lohnt! Reden wir doch lieber von dem, was der Tag gebracht hat. Also die Russen sind einmal wieder im Land!“ „Im Anmarsch auf Berlin!“ sagte der Rat Mertens schwer. Maria wandte sich etwas ängstlich an den Hauptmann Prell: „Ist das wahr, sind die Russen wirklich im Anmarsch auf Berlin?“ Der Hauptmann lächelte: „Wenn es nach dem dicken Rat Mertens ginge, stände unsere Hauptstadt längst in Flammen. Sind Sie sehr ängstlich, gnädige Frau?“ „Nicht für mich, aber all der Jammer, der jetzt in der ganzen Welt ist, macht so schwach und elend.“ „Und es wird doch gerade jetzt so viel von der starken deutschen Frau gesprochen und gesungen.“ „Dazu gehöre ich nicht,“ sagte Maria und neigte den Kopf. „Das ist schön, das ist gut, daß Sie das eingestehen. Wenn Sie stark sein müssen, dann können Sie es auch sein und Sie sind es doch schon im hohen Maße gewesen, ich habe einen Beweis dafür!“ „So?“ „Nun, zum Beispiel, daß Sie sich in all den Jahren dem Willen der Frau Schwiegermutter nicht untergeordnet haben. Das heißt doch was, gegen den Willen einer so praktischen, energischen Frau anzukämpfen. Sie hat mir vieles von Ihnen erzählt und kann es Ihnen heute noch nicht verzeihen, daß Sie nicht mit dem Jungen zu ihr gezogen sind, und daß Sie nicht wieder heirateten. Das nenne ich doch Stärke, denn solch ein Widerstand bedeutet doch alles andere als Schwäche!“ „Aber jetzt bin ich sehr müde und verzagt, und wenn Großmutter mir jetzt in dieser Stimmung sagte: ‚Du bleibst!‘ -- ich glaube, dann bliebe ich.“ „Sie fühlen sich verlassen, weil Sie den Jungen hergegeben haben, das ist natürlich furchtbar hart für Sie. Aber augenblicklich ist er doch noch in Sicherheit!“ Der Hauptmann sah Maria mit guten Augen an, während er sprach, und sie fühlte sich wohl in seiner Nähe. „Ist das wahr, Hauptmann,“ rief die Großmutter, „daß Sie sich noch gemeldet haben? Und wozu, wenn man fragen darf?“ „Wozu sie so einen Krüppel noch brauchen können,“ sagte er lächelnd, „aber ich fürchte, es ist wenig Aussicht vorhanden!“ „Und ich sage Ihnen, daß sie den letzten Mann im Deutschen Reich gebrauchen werden. Und reichen die Männer nicht mehr, dann kommen die Greise und Frauen daran!“ „Sie sind toll, Rat!“ rief die Großmutter. Der Rat stürzte ein Glas Wein hinunter. „Ist das in Belgien nicht auch der Fall?“ fragte er. „Teufel, ja, aber eine deutsche Frau schüttet keinem Soldaten heißes Wasser auf den Kopf. Dafür möchte ich mein Leben einsetzen!“ „Die Leidenschaft, die Wut erzeugt Bestien!“ schrie der erregte Mann, dessen Gesicht stark gerötet war. „Und ich sage und prophezeie Ihnen: In einem Jahr wird es nur noch Greise und Kinder im deutschen Vaterland geben. Wozu durch die rosige Brille sehen? Wozu sich selbst belügen? Und jene jungen Bürschchen, die jetzt in dieser wunderschönen Begeisterung als Kriegsfreiwillige in die Kasernen gezogen sind, ihr Blut wird in Strömen fließen.“ Maria deckte die Hand über die Augen, und der Hauptmann rief zu Mertens hin: „Nun möchte ich doch ernstlich mahnen -- --“ Aber wenn so ein Mann wie der Rat einmal im Zug war, gab es kein Bremsen mehr. „Schenk’ ihm doch nicht immer wieder ein,“ flüsterte die Großmutter zu ihrem Mann und legte die Hand um die Flasche. Der Hauptmann hatte Marias Hand ergriffen: „Er redet Blödsinn, er kann keinen Wein vertragen.“ Sie versuchte zu lächeln, aber es mißlang. „Nein und tausendmal nein, wir sollen uns nicht selbst betrügen. Wir müssen wissen, was uns bevorsteht. Der Zar soll geschworen haben: ‚Ich ruhe nicht, bis die Straßen Berlins mit Frauenköpfen gepflastert sind!‘ Und glaubt einer, daß die Kosaken, wenn sie in unsere Hauptstadt ziehen, dieses Wort nicht wahr machen?“ „Teufel noch mal,“ rief jetzt die Großmutter außer sich. „Sind Sie dazu hergekommen, Herr Rat, um uns so die Stimmung zu verderben? Ein Schwarzseher sind Sie, ein ganz trauriger Schwarzseher. Ich danke für alles Weitere. Komm, meine Maria! Du bist müde und siehst blaß aus. Die Herren werden uns entschuldigen. Gute Nacht!“ Sie legte ihren Arm um Marias Schulter und führte sie hinaus. Der Großvater lenkte die Sache ein, so gut wie es möglich war. Aber nach einer Viertelstunde hörte man die Türe klinken, und er schloß seinen Gästen die Gartenpforte auf. Die Großmutter hatte Maria in das kleine Fremdenstübchen geführt. „Es tut mir leid, Kind, daß die Müller die dunklen Vorhänge noch nicht angemacht hat. Aber da du müde bist, wirst du auch schlafen, wenn der Mond ein wenig hereinscheint.“ Das kleine Zimmer war ganz überflutet von weißem Mondlicht. Auf dem Teppich zitterte ein weißer, breiter Streifen und zog sich die Wand hinauf, an der ein fast lebensgroßes Porträt hing. Es war das Bild von Großmutters einzigem Sohn, Marias verstorbenem Manne. Gespensterhaft leuchtete es auf die beiden Frauen nieder. Die Großmutter wurde elegisch. „Daß er diese gewaltige Zeit nicht miterleben durfte!“ seufzte sie. Aber dann war sie mit ihren Gedanken gleich wieder im praktischen Leben. „Ich will eben noch einen Augenblick zu Großvater hinüber, denn wenn er sich nicht gleich legt, bekomme ich ihn vor Mitternacht nicht zu Bett. Leg’ du dich nur ruhig schon hin, Maria. Ich komme noch, dir ‚Gute Nacht‘ sagen.“ Im kleinen Zimmer war eine schwere Luft; die Müller hatte das Fenster zu früh geschlossen, und die kleinen weißen Ersatzgardinen waren so angebracht, daß sich auch nicht ein Spalt öffnen ließ. ‚Schrecklich,‘ dachte Maria und wußte, daß eine schlimme Nacht ihrer harrte. Schwere Luft und das große, helle Bild des Mannes! Das war zu viel für sie. Und dazu eines von Großmutters massiven Federbetten. Eine leise Verzweiflung begann in ihr wach zu werden. Während sie sich entkleidete, hörte sie Großmutter sagen: „Eine Unverschämtheit vom Rat, sich als Gast anzumelden und dann so loszulegen. Den brauchst du in der nächsten Zeit nicht mehr mitzubringen, Alterchen.“ Und er entgegnete liebenswürdig: „Wie du willst!“ Dann gab es noch einen kleinen Kampf zwischen den beiden, weil Großvater sich weigerte, sogleich zu Bett zu gehen; aber fünf Minuten später war er doch im Schlafzimmer, und eine kleine Weile darauf klopfte Großmutter bei Maria an und setzte sich zu ihr auf den Bettrand. Sie hielt etwas in der Hand und schien einen Augenblick lang um ein paar einleitende Worte verlegen zu sein. „Ich habe Großvater das Versprechen abgenommen, diesen Mertens nicht mehr ins Haus zu bringen! Das ist doch geradezu eine bodenlose Unverfrorenheit, einen so in Angst jagen zu wollen. Die Zeiten sind ohnehin grauenvoll genug, und ich hatte auf einen netten, behaglichen Abend gehofft. Und doch, Maria, trotzdem es eine Taktlosigkeit vom Rat war, solche Dinge auszusprechen -- das muß ich dir sagen, daß auch mir schon ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen sind. Kann denn ein Mensch wissen, was Gott in seinem unerforschlichen Ratschluß bestimmt hat? Und wenn er das Furchtbare geschehen läßt, wenn die russische Meute bis zu unserer Hauptstadt dringt, dann bleibt auch vielleicht das nicht aus, was der Zar gesagt haben soll. Auf jeden Fall ist dann über uns Frauen das Urteil gefällt! Ich glaube nicht daran und will nicht daran glauben, aber sollte es so kommen -- dann, Maria, heißt es für uns: Schnell ein Ende machen, ehe wir uns auf bestialische Weise abschlachten lassen! Einen Revolver aber hat man nicht immer zur Hand oder ist vielleicht zu nervös, ihn im rechten Augenblick abzudrücken. Aber ein kleines Pulver in der höchsten Not herunterschlucken, das kann jeder! Sieh mal, was ich hier habe, das soll im selben Augenblick, wo man es nimmt, wirken. Herzschlag und aus! Woher ich’s habe, verrate ich nicht. Aber es reicht für dich und mich. Ich hab’s für dich in dieses kleine Medaillon, das ich dir längst schon geben wollte, gefüllt. Am besten tust du, du hängst es um den Hals, dann hast du es immer zur Hand.“ Maria sah erstaunt zur Großmutter auf. Sprach sie im Ernst? Aber das alte, frische Gesicht war wirklich bekümmert; sie hob Marias Kopf empor und hing ihr das kleine Amulett um. „Nun wollen wir zu beten versuchen, Maria!“ Und sie schlang ihre Hände um die der Schwiegertochter und begann: „Herrgott, himmlischer Vater, der du alle Macht in Händen hast -- --“, schluchzte dann auf und rief: „Nein, nein, ich finde keinen Weg mehr zu dem da droben. Mein Herz will sich auflehnen. Sieh du, Maria, ob du noch zum Glauben zurückfindest!“ und küßte ihr Stirn und Augen, zog ihr die Decke über die Schultern und ging hinaus. Marias Augen irrten im Zimmer umher und blieben auf dem hellen Bild ihres Mannes hängen. Der war nun schon fünfzehn Jahre tot, und es war doch noch nichts vergessen von all dem, was sich in den paar kurzen Ehejahren ereignet hatte. Ein armer, herzkranker Mensch war er gewesen, der sich als junger Offizier sein Leiden geholt und keine Genesung mehr gefunden hatte. Nein, nicht die Vergangenheit heraufbeschwören, nicht daran rühren! Sie warf sich zur Seite, so daß sie zur Wand blickte. Aber an dieser Wand hingen unzählige kleine, ovale Bildchen im schwarzen Rahmen, so wie man sie in großmütterlichen Einrichtungen noch findet. Es waren zumeist Kinderbilder von dem Mann da oben an der Wand; liebe, gute, kluge Gesichtchen -- dunkle, träumerische Augen, so wie auch der Junge, der jetzt in der Altmark in der Kaserne lag, sie hatte. Sie nahm eines von den Bildchen in die Hand und küßte es. Da klapperte es an dem Amulett, das Großmutter ihr umgehängt hatte, und die Gedanken kehrten zur Gegenwart zurück. Die Kosaken nach Berlin! Aber das wollte ihr Verstand nicht aufnehmen; dagegen lehnte sich irgend etwas in ihr auf. Wenn sie doch schlafen könnte! Sie hing das kleine Bild wieder an die Wand und zog die Decke übers Gesicht. Aber das ging nicht, es herrschte ohnehin eine unerträgliche Hitze im Zimmer. Auf dem Teppich tanzte der Mondstreif immer heller, immer quälender. Sie schloß die Augen. Da sah sie das häßliche, braunrote Gesicht des Rates Mertens vor sich. ‚Und all die jungen Kriegsfreiwilligen in den Kasernen -- ihr Blut wird in Strömen fließen!‘ Entsetzlich, entsetzlich! Sie setzte sich aufrecht hin. Die Müller hatte vergessen, ihr Streichhölzchen hinzulegen, und beim Mondlicht konnte man nicht lesen. Wieder zog das große, weiße Bild an der Wand ihre Blicke an, und wieder kamen traurige, quälende Erinnerungen. Nein, so mit dem Bilde an der Wand konnte sie kein Auge zutun in dieser Nacht. Ihre Gedanken arbeiteten schon jetzt fieberhaft; die Schläfen schmerzten, der Puls raste -- das Herz schlug zum Zerspringen. „Jungchen -- mein Jungchen!“ und sie dachte an das Kind, an den zarten, blutjungen Kerl, den sie hergegeben hatte -- der so froh, so selbstverständlich von ihr gegangen war. Der lag nun mit fünfunddreißig anderen in irgendeinem öden Raum auf einem Strohsack. Der war vielleicht krank und sie wußte es nicht, der hatte Heimweh und war zu stolz, davon zu schreiben. Wo hatten diese jungen, verwöhnten Kerle nur plötzlich die Entschlossenheit und Größe hergenommen? All diese Jungchen, die zu Hause so gern gemäkelt hatten, denen nichts gut und bequem genug gewesen war! Ihre Hände spielten mit dem Medaillon, das die Großmutter ihr umgehängt hatte -- und die Gedanken, die sich ihrem Willen schon nicht mehr unterordneten, flogen wieder zu dem, was draußen in der Welt vor sich ging. Sie dachte an all das Grauenerregende, was sie vor zwei Jahren vom serbisch-bulgarischen Krieg gelesen hatte. All diese greulichen Metzeleien von Frauen und Kindern. War es möglich, daß Gott auch vielleicht das zuließ? Ihre Blicke flogen wieder zu dem Bilde ihres Mannes empor! Das Chaos in ihrem Kopf war riesengroß geworden. Ein Gedanke jagte den anderen -- ein Gedanke raste über den nächsten hinweg. „Ich kann es nicht mehr sehen!“ stöhnte sie, und suchte nach irgendeinem Gegenstand, um es zu verdecken. Auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers lag eine dunkle Plüschdecke. -- -- -- Die nahm sie, aber ihre Hände zitterten. Sie stieg auf einen Stuhl und versuchte, die Enden der Decke an den Bilderhaken zu befestigen -- -- die Bilderhaken rutschten aus der Wand, das Bild glitt hinab, lag am Boden, und irgend jemand in der Wohnung schrie auf. Das war die Großmutter, und einen Augenblick später klopfte sie an und starrte entsetzt auf das Bild. „Das bedeutet nichts Gutes, wenn ein Bild von der Wand herunterfällt!“ sagte sie tonlos. „Komm’, wir lehnen es an die Wand. Armes Ding, hast dich erschrocken, was? Warum hab’ ich auch erlaubt, daß Großvater so ein großes Bild allein aufhing?“ Maria vermochte nicht zu sprechen; die Nerven zitterten in ihr. „So leg’ dich hin, mein Schäfchen!“ Und die Großmutter streichelte sie. „Du machst dir Sorgen wegen der dummen Prophezeiungen des Mertens, ja? Das ist natürlich Blödsinn! So, ich bleib’ ein wenig bei dir, ich kann auch nicht schlafen!“ Und Großmutter, in einen ganz hellen Morgenrock gehüllt, saß jetzt auf dem Sofa und sah wie mit Silber übergossen aus. „Weißt du, Maria, wenn ich so im Mondschein sitze, muß ich an frühere Zeiten denken. Da hatten wir zu Haus eine alte Magd, die uns im Mondschein die Karten legte. Mit Gott finde ich mich jetzt doch nicht zurecht, und da die Welt doch einmal auf dem Kopf steht, werd’ ich mal ein Spiel holen und probieren, ob’s noch geht. Dazu mußt du aber aufstehen und dich zu mir in den Mondschein setzen.“ Die Großmutter lief hinaus, und Maria stand in weißem, langem Nachthemd mitten im glitzernden Lichtstreifen. Müd’ war sie, daß der Körper sich kaum aufrecht halten konnte -- aber die Nerven waren zugespitzt, als hätte jeder tausend Leben in sich. Dann kam die Großmutter mit ihrem Spiel, und die Karten flogen. Die Großmutter zählte, schob, legte über- und untereinander und sah mit dem herabhängenden weißen Haar, dem hellen Gewand und den flink fliegenden Fingern wie ein Wesen aus einer anderen Welt aus. „Also dem Jungchen passiert nichts. Das Kind soll dir erhalten bleiben!“ sagte sie, „aber für dich selbst finde ich nichts Gutes, Maria. Da ist wohl der Herzenskönig, der zu dir hin will, aber dazwischen liegt die schwarze Karte, und wie ich’s auch mische und schiebe, sie kommt immer wieder!“ Und plötzlich sah die Großmutter grade zu Maria auf: „Du hältst es doch nicht mit einem, der dich nicht heiraten will, Maria? Daß du deshalb vielleicht an keinen anderen denkst? Das wäre ein furchtbares Unglück!“ „Blödsinn, Großmutter!“ sagte Maria ärgerlich, „und ich kann so etwas wie dies Kartenlegen nicht vertragen!“ „Du zitterst ja!“ rief Großmutter. „Was fehlt dir denn?“ „Es ist so entsetzlich schwül im Zimmer und so hell.“ „Dann machen wir eben das Fenster auf; es geht ja zum Garten, und niemand kann hineinsehen. Warte, ich hole noch den großen Wandschirm, den rücken wir vors Bett! Nun meinst du -- -- Herrgott, Kind, es ist ja auch zum Weinen und Jammern. Der Mann tot, der Junge in der Kaserne und die ganze Welt voll Greuel. Ich bringe dir noch den Baldrian, der macht ruhig!“ Und wieder glitt sie über den hellen Lichtstreif hinweg zur Tür hinaus, kam mit ihrer Baldrianflasche wieder und ruhte nicht, bis Maria ein getränktes Stück Zucker geschluckt hatte. „So, nun schlaf’!“ Sie rückte den Wandschirm dicht vors Bett. „Du kannst morgen so lange liegen, wie du Lust hast. -- Gute Nacht, mein Kind!“ Durchs offene Fenster strömte die milde Sommerluft, ein Raunen und Weben ging durchs stille Zimmer. Eine Weile noch quälte sich der arme Kopf, eine Weile noch hüpften und irrlichterten die Gedanken, dann aber war es still. Marias Hände hatten das goldene Medaillon umschlossen -- und es war, als ob Ruhe und Friede aus diesem kleinen Amulett ausströmten. Der Rat Mertens, die Kosaken, die Großmutter, das Jungchen in der Kaserne flogen immer matter durch ihre Gedanken. ‚Dem Jungchen passiert nichts; das Kind soll dir erhalten bleiben!‘ hörte sie die Großmutter noch sagen, und dann kam der Schlaf doch noch -- ein tiefer, guter, traumloser, langer Schlaf. Großmutter meinte am späten Morgen zur Müller: „Nein, nicht wecken!“ und wartete geduldig, bis der Mittag nahe war. * * * * * Einen Tag später fragte Maria mit etwas ängstlichem Herzen: „Erlaubst du, daß ich abreise, Großmutter?“ Und Großmutter sagte kurz: „Ich halte niemanden, der nicht gerne bei mir ist!“ „Nein, so sollst du nicht sprechen!“ bat Maria. „Du weißt nicht, welche Unruhe in mir ist. Heute habe ich wieder keinen Brief von Ernst bekommen.“ „Das kannst du auch nicht verlangen, daß er dir täglich schreibt!“ „Läßt du mich reisen, Großmutter? Ich meine, läßt du mich reisen, ohne böse zu sein?“ Da küßte die Großmutter sie herzlich. „Ich halte dich nicht, Maria, aber wenn es dich einmal zu mir drängt, so weißt du, daß dir bei niemand weiter die Türen offen stehen als bei Großvater und mir.“ „Du bist sehr lieb, Großmutter.“ Sie schmiegte sich ganz eng an sie an und ließ sich streicheln. „So für zwei oder drei Tage geht es immer ganz gut mit uns beiden,“ scherzte die alte Frau, „und es ist eigentlich das Vernünftigste, daß wir uns zu keinem längeren Zusammensein zwingen. Also dann sprich nun mit Großvater; der wird dir wahrscheinlich sagen können, ob und wann Züge gehen.“ Der Großvater wußte in der Tat genau Bescheid, aber er riet, wieder einen Wagen zu nehmen und zur nächsten Station, von der aus ein Schnellzug ging, zu fahren. Die Großmutter protestierte ein wenig wegen der Kosten und weil man schon um fünf Uhr in der Frühe abfahren mußte, aber schließlich fügte sie sich. „Aber nicht den Jungen besuchen und ihm das Herz schwer machen, Maria. Der führt jetzt sein Leben für sich und hat fürs erste mit der Mutter nichts mehr zu tun. Schicke ihm jede Woche ein vernünftiges Paket, das wird ihm lieber sein als alles andere.“ Am nächsten Morgen, als der Großvater mit Maria durch den Vorgarten schritt, hatte er ein ganz jungenhaft vergnügtes Gesicht. Die alte Frau winkte ihnen vom Fenster aus zu und rief: „Das Medaillon hast du doch um den Hals hängen, ja?“ „Natürlich, Großmutter.“ Maria setzte sich auf den hohen Sitz neben Großvater; der nahm die Peitsche zur Hand, grüßte noch einmal zur Großmutter hin und schnalzte mit der Zunge. -- „Hast du eigentlich Sinn für Natur, Kind?“ fragte er, sowie sie aus der kleinen Stadt heraus waren, und ließ die Pferde in langsamerer Gangart fahren. „Du siehst manchmal so ins Weite, daß man gar nicht weiß, wo deine Gedanken eigentlich sind. Aber wenn du die Natur liebst, dann muß dieser frühe Sommermorgen ein Genuß für dich sein. Draußen in der Welt toben die Schlachten, Grauen und Entsetzen, und hier dieser stille Friede! Sieh mal, ich habe jeden Morgen, wenn Großmutter noch schläft, meine schwache Stunde. Wer selbst im Krieg gestanden hat, nur der kann sich ein klares Bild von dem, was jetzt in der Welt vorgeht, machen. Und dann bin ich auch zu alt, um mich ganz und gar der frohen Zuversicht: Wir werden und wir müssen siegen! hinzugeben. Es ist eine zu gewaltige Übermacht, gegen die wir kämpfen. Aber angenommen, wir siegen doch, selbst dann kann man nicht mehr froh und glücklich werden. Ein Mensch, der wie ich am Ende seiner Tage steht, der glaubt, selbst ein wenn auch noch so winziges Teil zur Kultur beigetragen zu haben, möchte die Augen schließen bei dem Gedanken, daß so etwas noch möglich war. Wir sind um fünf Jahrzehnte zurückgeworfen, Maria; wir Alten können ruhig von uns sagen: wir haben umsonst gelebt!“ „Ich glaube es dir, Großvater,“ sagte Maria. „Aber es ist jetzt für niemand schön in der Welt. Die, die schon gelebt haben, sehen ihre Arbeit vernichtet, und die, vor denen noch ein Stück Wegs liegt, haben die Lust verloren, ihn weiter zu gehen. Beneidenswert sind vielleicht nur die ganz Jungen, die sich besinnungslos hineinstürzen und gar nicht zum Denken kommen.“ Großvater wies mit dem Peitschenstiel in die Ferne: „Sieh mal, wie schön dort drüben.“ Da war der junge Himmel wunderbar zartblau, und eine leise Wellenlinie von Hügeln hob sich leicht davon ab. Dunkel ragte ein Stück Wald auf, und grüne Wiesen dehnten sich bis zum Fahrweg hin. „Diesen Weg ging ich so manchesmal in diesen letzten Wochen genau zur selben Stunde wie jetzt. Großmutter ist ärgerlich darüber, weil sie denkt, das sei zwar ganz nett, wenn junge Leute Frühaufsteher wären; den alten Mann aber möchte sie in den weichen Kissen halten. So gut sie es aber auch meint, grade in dieser Morgenstunde ertrag ich’s nicht, daß ein Mensch neben mir so behaglich und gesund schläft, und dann nehme ich Reißaus und komme froh und stark genug zurück, um meine Strafrede in Empfang zu nehmen!“ „Warum hast du eigentlich noch einmal geheiratet, Großvater?“ fragte Maria. Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er: „Weil sie so wundervoll gesund ist, Kind! Nichts ist wohltuender und erfrischender für einen Menschen, der zeitlebens im Kampf mit tausend Erwägungen, Grübeleien und Zweifeln gelegen hat, als neben solch robuster und dabei liebevoller Gesundheit zu leben. Sie ist wirklich eine gute, vernünftige Frau, Maria! Hat vielleicht ein bißchen was von der Frau aus dem Volke an sich, aber das schadet nichts. Ich habe mich an sie gewöhnen müssen, aber jetzt möchte ich sie nicht mehr entbehren. Je älter man wird, um so mehr lernt man das Einfach-Gute im Menschen schätzen. Ich habe zwanzig Jahre allein gelebt und während der ganzen Zeit immer auf die sogenannte verstehende Seele gewartet; die wollte mir aber nicht begegnen. Dafür kam dann Großmutter und ließ mich nicht mehr locker. Heut weiß ich, daß es vielleicht ein größeres Glück ist, wenn der stark innerlich lebende Mensch sich an den, der praktisch und gesund ist, bindet, als wenn zwei grübelnde, ewig-suchende, selbstquälerische Menschen sich paaren. Das muß ich dir, grade dir klar zu machen suchen, Maria, da ich immer mehr sehe und fühle, daß auch du so eine arme, grübelnde Seele bist. Damit kommst du nicht weiter. Es bleibt immer beim alten, man verlernt das Lachen und bohrt sich tiefer und tiefer in seine fruchtlosen Betrachtungen hinein. Du solltest es machen, wie ich’s gemacht habe: einfach mit einem gewaltigen Ruck alles abstreifen und einen gesunden Menschen suchen, der dich täglich von neuem in die Wirklichkeit zurückzwingt!“ „Nun kommst auch du mit Heiratsprojekten, Großvater!“ Er lächelte. „Weil du mir leid tust, Kind. Vielleicht aber bringt es diese Zeit zustande, die Menschen einfacher und gesünder zu machen. Wenn man aus der überverfeinerten Kultur so mit Gewalt ins Urwesen der Menschheit zurückgeschleudert wird, kann natürlich die Rückwirkung auf die Denk- und Anschauungsweise des einzelnen nicht ausbleiben.“ Sie kamen durch ein Dorf, durch das ein silbernes Bächlein floß. Frauen mit aufgeschürzten Röcken standen am Wasser und spülten Wäsche aus; barfüßige Kinder liefen umher oder saßen in den niederen Türen der Häuschen und Hütten. Gänse schnatterten und Hühner gackerten. „Magst du das leiden?“ fragte Großvater. „Ja, sehr, ich möchte auch so ein Weib sein, das am Brunnen seine Wäsche wäscht und nichts dabei denkt. Ist es nicht eigentlich lächerlich, daß man immer den Wunsch hat, zum Primitiven, Ursprünglichen zurückzukehren? Wozu ist der ganze Ballast von Wissenschaft, Kunst und allem, was nicht zur einfachen, reinen Natur gehört, überhaupt da?“ „Ich weiß es nicht,“ antwortete Großvater. „Und wenn du so alt bist wie ich, wirst du es auch nicht wissen. Sieh nur zu, daß du deinen Jungen von seinem grüblerischen Wesen abbringst! Laß ihn ruhig Soldat bleiben, wenn er gesund aus dem Kriege herauskommt. Er ist jetzt schon so ein blasser Denkermensch, und Großmutter hat nicht Unrecht, wenn sie sich Sorgen um ihn macht.“ „Ich kann ja jetzt gar nichts mehr an ihm tun,“ sagte Maria beklommen und ließ den Kopf hängen. Aber wie sie dann zwischen schwerbehangenen Obstbäumen dahinfuhren, war der alte Mann fast kindlich froh. „Sieh diesen Reichtum rund um uns, das tut so wohl, solche Fruchtbarkeit zu sehen. Ein jeder Baum scheint zuzurufen: Überfluß ist im Lande und aushungern können sie uns nicht. Der verfluchte Brite!“ Großvater hatte ein feingeschnittenes Gesicht, das ein bißchen weichlich wirkte. Aber wie er nun dreimal hintereinander ausrief: „Der verfluchte Brite!“, da wuchs er aus sich selbst heraus. „Wenn man nur noch mittun könnte,“ seufzte er. „Der Kopf ist noch so klar und nur der Körper wird gebrechlich. Besser sind heute jene daran, bei denen der Körper blüht und die Gedanken nachlassen.“ Maria schmiegte sich an ihn an, weil er so bekümmert aussah. „Großväterchen,“ sagte sie zärtlich, und er strich ihr mit der freien Hand übers Gesicht. In der Stadt, von der aus der Schnellzug gehen sollte, fuhr Großvater vor einem netten kleinen Hotel vor und ließ ausspannen. „Hier wollen wir frühstücken, und dann bringe ich dich zum Bahnhof. Nachher habe ich noch eine Menge Besorgungen für Großmutter zu erledigen und fahre am Nachmittag heim.“ Maria trug einen Brief in der Tasche, den sie am letzten Abend erhalten und wohl hundert Male schon gelesen hatte: „Ich bin wider Erwarten schon jetzt in mein altes Regiment eingezogen worden; muß am Freitag früh zur Stelle sein. Ist ein Wiedersehen möglich?“ Der Brief war mit Verspätung angekommen. Heute war schon Donnerstag, und die Züge fuhren immer noch völlig unregelmäßig und mit stundenlanger Verspätung. Sie war in großer Unruhe; sie wußte nicht, ob sie dem alten Großvater trauen durfte, ob er ganz richtig beraten war. Sie wollte bitten: „Bleib du hier und laß mich allein zum Bahnhof gehen!“ Aber als sie zögernd ihr Anliegen vorbrachte, lachte der alte Mann sie aus. „So alt bin ich noch nicht, Kind, daß man sich nicht auf mich verlassen kann. Soweit überhaupt mit Bestimmtheit Züge gehen, soll der deine um neun Uhr abfahren. Jetzt ist es also noch nicht acht; was willst du also während all dieser Zeit am Bahnhof?“ Er ließ Tee und allerlei kleine Delikatessen kommen. „Iß, Maria, denn kein Mensch kann wissen, wann du in Berlin ankommst.“ Der Wirt des Hotels trat zu ihnen und begrüßte den Großvater herzlich. „Haben Sie schon von den neuen Greueln in Ostpreußen gelesen?“ Und als Großvater erschrocken verneinte, begann er zu berichten, entpuppte sich als ähnlicher Schwarzseher wie Rat Mertens und erzählte und prophezeite so lange, bis der alte Herr Messer und Gabel fallen ließ und dann unglücklich sagte: „Und unsereins sitzt hier und läßt sich ein üppiges Frühstück schmecken!“ Worauf der Wirt freundlichere Zukunftsaussichten eröffnete, aber den Druck, den er auf die Seele seiner Gäste gewälzt hatte, nicht mehr wegnehmen konnte. „Komm, Kind, wir gehen zur Bahn.“ Dem Wirt winkte er zu: „Ich komme zu Mittag wieder,“ schob seinen Arm in den der Schwiegertochter und schritt langsam mit ihr die Straße hinab. Er war zerknirscht; das Schicksal seiner Landsleute in Ostpreußen krampfte ihm das Herz zusammen. „Es ist scheußlich, Maria, solange man nicht mit brutaler Gewalt aus seinem Behagen herausgerissen wird, nimmt man die Sache immer noch auf die leichte Achsel, feiert Feste und verschafft sich Leckerbissen. Nachher kommen zwar Selbstvorwürfe, aber bei nächster Gelegenheit macht man es wieder genau so. Scheußlich!“ Sie sagte ihm etwas Liebes, Herzliches, aber seine Stimmung blieb düster. „Wenn man pathetisch wäre, müßte man von sich selbst sagen: Du bist nicht wert, in dieser großen, gewaltigen Zeit zu leben!“ „Wir wollen aber nicht pathetisch sein, Großväterchen!“ Da er ziemlich willenlos an ihrem Arm hing, gab sie der großen Unruhe, die in ihr wogte, nach und beschleunigte die Schritte. Ein heißer Tag zog herauf. Schon jetzt glühte die Sonne auf dem Asphalt. Großvater nahm den Hut ab und trocknete sich die Stirn. Am Bahnhofsplatz waren Truppen aufmarschiert. Große Menschenmengen standen um sie herum. „Die sollen alle über Berlin nach dem Westen,“ hörten sie erzählen, und irgend jemand sagte: „Zivilpersonen werden heute überhaupt nicht befördert.“ „So?“ fragte Großvater aufgeregt, erhielt aber keine Antwort mehr. Maria war bleich geworden. „Das kann nicht sein,“ rief sie außer sich. „Es scheint aber doch so zu sein, Kind, und du hättest wirklich besser getan, während dieser aufgeregten Zeit ruhig bei uns zu bleiben. Es ist ein Glück, daß wir den Wagen haben, und wenn es auch eine kleine Gardinenpredigt von Großmutter setzt, so kommen wir doch wenigstens sicher zurück!“ „Nein, nein, Großvater, ich muß fahren, komm mit!“ Und sie drängte in die Bahnhofshalle hinein und hörte, daß der Neunuhrzug in der Tat keine Zivilpersonen beförderte. Sie war wie betäubt, so, als habe sie einen Schlag vor den Kopf erhalten, und lehnte an einer Wand. Großvater redete auf sie ein. „Sei doch vernünftig, Kind. Du siehst doch, es ist keine Möglichkeit, mitzukommen,“ und sprach gut und eindringlich weiter zu tauben Ohren. „Es hängt doch bei dir auch nichts davon ab, ob du einen Tag früher oder später kommst. Dein Junge ist in der Kaserne, und sonst wartet niemand auf dich.“ „Großvater, -- es wartet doch einer auf mich! Großvater, du verstehst mich doch, du bist doch von meiner Art! Ich bitte dich, Großvater, hilf mir, daß ich fahren kann. Ich weiß, daß Ausnahmen gemacht werden, wenn man sagt, daß man zu Angehörigen fährt, die man noch sprechen muß. Und ich muß nach Berlin, Großvater, ich muß!“ „Maria!“ sagte er staunend und sah sie mit einem großen Blick, in dem Vorwurf und Mitleid lag, an. „Also doch, Maria, also hat Großmutter doch recht!“ „Nicht fragen, Großvater, hilf mir!“ Und da gab Großvater sich einen Ruck, warf die Müdigkeit ab und war der liebenswürdige, ehrwürdige, alte Herr, dem so leicht niemand das Gehör verweigerte. „Der Zug hat Verspätung, er fährt erst um zwölf Uhr,“ sagte man ihm und wies ihn von einer Behörde zur anderen, um seinen Wunsch anzubringen. Er ließ sich die Mühe nicht verdrießen. Irgendeine tiefe Verwandtschaft, die er schon längst mit seiner Schwiegertochter gefühlt hatte, machte ihm jetzt das Herz heiß und die Zunge geläufig. Er wollte ihr einen großen Schmerz ersparen, denn er hatte aus diesen Augen gelesen, daß Unsägliches von dem Ja oder Nein, das er ihr bringen würde, abhinge. Sie saß auf irgendeiner Bank, zu der der Großvater sie geführt hatte, sie sah ins Leere -- sie sah in eine dunkle, in eine trostlose Welt. Die zwei Menschen, um die ihr Leben sich gedreht hatte, rissen sich von ihr los; die zwei feinen, zarten, liebevollen Menschen, die ihr ganzes Glück bedeutet hatten, gingen hin und zeigten, daß sie Männer waren, daß sie fähig waren, alles zu vergessen, alles von sich abzuwerfen, was ihnen lieb und teuer gewesen war. Schwer mochte ihnen das ankommen -- und doch und doch! Wie waren sie gewachsen, diese beiden -- der ganz junge, der sich schon über dem Leben stehend geglaubt hatte, und der andere, dem die Haare leicht ergrauten, und dessen Herz noch so unsäglich leidensfähig war. Sie griff wieder nach dem Brief, den er ihr geschrieben: „Ist ein Wiedersehen möglich?“ Das konnte ein jeder dem anderen schreiben, das war eine einfache Frage, die keine Dringlichkeit verriet, und war doch wie ein Schrei, war wie eine Verzweiflung. „Laß mich so nicht gehen! Komm, komm, um Gotteswillen, komm!“ Scharen von Menschen drängten an ihr vorüber, eifriges Reden, Schluchzen, verhaltenes Weinen und tröstende Männerstimmen. Schmerz und Jammer in der ganzen Welt. Alles, was fest bestanden hatte, war aufgelöst -- alles zerrissen -- jedes Herz verwundet -- unzählige Existenzen vernichtet! Man las all das ja täglich in den Zeitungen! Aber beim Lesen drang es nicht ins tiefste Herz hinein. An einen Bahnhof muß man gehen, um Leid und Schmerz in ihrer wahren, herzzerreißenden Gestalt zu sehen. „Laß mich, laß mich!“ hörte sie in ihrer Nähe rufen, sah, wie ein kräftiger Mann eine ganz haltlos gewordene Frau von sich schob und fortraste. Nun stand dies arme Geschöpf mit starren Augen, aus denen Entsetzen sprach, da -- totenbleich, dem Umfallen nahe. „Setzen Sie sich!“ sagte Maria und zog sie auf die Bank nieder. Und die Frau setzte sich, blieb aber starr und verständnislos; ein weher, hilfloser Jammer, der noch nicht zum Ausbruch gelangen konnte. „Wenn ein Erdbeben gekommen wäre und hätte die halbe Welt verschluckt, oder ein Feuerregen oder sonst etwas, was allem mit einem Schlage ein Ende gemacht hätte -- es wäre nichts gewesen. Aber dieses Abschiednehmen, dieses Stillsitzenmüssen, dieses wahnsinnige Bangen und Warten, das nun bevorsteht, dieses Verzweifeln und immer wieder von neuem Hoffen, das ist wohl das Furchtbarste, was dem Menschen geschehen kann.“ Das hörte Maria aus dem Munde irgendeiner weinenden Frau, die zu einer anderen sprach. „Wir Zurückbleibenden sind am schlimmsten daran. Wir kosten das Elend zehn- und hundertfach durch!“ Da war Großvater plötzlich an Marias Seite, ganz aufgeregt -- das liebe, alte Gesicht heiß und gerötet. „Also hier ist deine Karte, Maria. Du mußt dir aber gleich einen Platz sichern. Ich hab’ das Billett bekommen, weil ich sagte, du hättest dringende Rücksprache mit einem ausziehenden Angehörigen zu nehmen. Anders ging es nicht. Aber unvernünftig ist es von dir, im höchsten Grade unvernünftig. Großmutter darf nicht ahnen, daß der alte, törichte Mann dir dazu verholfen hat!“ „Großvater, das vergesse ich dir nie, nie im Leben!“ Und sie dankte ihm innig. Er war ein bißchen verlegen und blickte um sich, aber niemand, der hier in der Halle war, hatte Zeit, sich um das Gebaren des anderen zu kümmern. Und so schmunzelte Großvater und sagte leise: „Und doch sind die zarten, feinnervigen Frauen die einzigen, um die sich’s zu leben verlohnt!“ Sah einen Augenblick aus, als habe er ein Paradies verloren, und brachte die Schwiegertochter bis zum Bahnsteig. „Ich darf nicht mit hindurch, also sieh, daß du einen leidlichen Platz bekommst, und sei glücklich, Kind -- sei sehr, sehr glücklich!“ „Danke, Großvater!“ Und sie war im Gedränge verschwunden. Der alte Mann blieb minutenlang sinnend stehen, dann trottete er zur Stadt zurück. Nein, die Großmutter brüstete sich vergebens, eine Menschenkennerin zu sein, die hatte keine Ahnung von dieser hier! Um zwölf Uhr fuhr der Zug ab -- -- fuhr durch sonnendurchglühte Landschaft, fuhr durch lachende, jauchzende Landschaft. Grüne, saftige Wiesen mit weidendem Vieh, Bäume, die ihre Früchtelast kaum zu tragen vermochten. Blumen, silbernes Wasser, tiefblauer Himmel und Sonne, Sonne, Sonne! Im engen, überfüllten Abteil eine Luft, in der man nicht zu atmen vermochte. Schulter an Schulter mit den Soldaten, die kleine Pfeifen rauchten, saß Maria, sengende Sonnenstrahlen auf den Schläfen -- Angst im Herzen. „Junge Frau, was wollen Sie im Zug? Der gehört doch uns!“ Sie versuchte zu lachen. „Wollen Sie auch ins Feld ziehen?“ „Wenn ich könnte!“ „Na, besser nicht!“ Dann fragte einer: „Haben Sie auch jemand dabei?“ und sah Maria an. „Ja,“ sagte sie und fühlte die Tränen aufsteigen, stützte den Kopf in die Hand und war mit allen Gedanken, allen Nerven bei dem, der in diesen letzten Stunden vor dem Abschied auf sie wartete. Quälende Stunden in marternder Hitze. Ewiges Anhalten, schneckengleiches Vorwärtsschleichen und wieder Halten. Wann würde man in Berlin sein? Die mit ihr fuhren, waren aus dem Osten gekommen, die hatten schon eine Nacht auf Bretterbänken hinter sich. Denen war es auch gleichgültig, wie lange sie sich hier noch schütteln ließen, ob sie einen, zwei oder drei Tage fuhren. Und da fühlte sie wieder die ganze Jämmerlichkeit ihres Schmerzes! Die um sie herum fuhren hinaus mit der fast sicheren Aussicht, nicht zurückzukehren, und lachten und scherzten. War das nicht erbärmlich, nur mit einem Gedanken an sich und ans eigene Leid zu denken? Nun sprach einer der Soldaten dasselbe aus, was sie schon in der Bahnhofshalle aus irgendeinem Munde gehört hatte: „Ich möchte jetzt keine Frau sein. Die haben’s am allerschlimmsten. Die sitzen allein und vergrämt da und müssen abwarten, was für sie kommt! Abwarten ist das allerschlimmste!“ Sie sah ihn dankbar an. „Jede Kugel trifft ja nicht!“ tröstete ein Soldat und gab ihr die Hand. Der Kopf tat ihr weh -- -- die Unruhe stieg. Die Sonne sengte nicht mehr, ganz leise wollte der Abend heraufziehen. -- Wann würde sie da sein? Sie dachte an Großvater, der bei Großmutter im stillen Zimmer saß und ihr irgend etwas erzählte, was nicht den Tatsachen entsprach. Und sie hörte, wie Großmutter ihr altes Klagelied vorbrachte: ‚Ihre ganze Jugend hat sie verplempert, und wer weiß, ob sie nun überhaupt einen Mann findet, wo doch so viele totgeschossen werden!‘ Sie sah Großmutter in ihrer strahlenden Gesundheit unter dem Kronleuchter stehen, und Großvater kam auf sie zu und küßte sie in ehrlicher Zärtlichkeit. Wie war das möglich, da er doch so ganz verschieden von ihr war? War er wirklich glücklich -- oder täuschte er sich wissentlich über sich selbst? Ihre Gedanken schweiften ab -- -- ihre Gedanken suchten Halt bei der Großmutter. Ach, auch so gesund, so selbstverständlich gesund und praktisch sein können! Aus einmal fuhr man durch ein Lichtermeer -- fuhr an Häusermassen vorbei -- -- -- Berlin! Da war alles fort -- -- -- Großmutter, Großvater, alles, was sie am langen, heißen Tag gehört und gesehen -- -- verschwunden. Nur die Angst, die verzweiflungsvolle Angst: ‚Ist es noch nicht zu spät?‘ Sie hatte telegraphiert, daß sie kommen würde, aber es war nicht anzunehmen, daß er hier am Bahnhof war. Bei dieser Unsicherheit, bei dieser Verspätung! Und stand doch da -- stand dicht an der Sperre, bleich und aufgeregt, und faßte sie ums Handgelenk. „Endlich!“ Was waren das für Augen, die sie anblickten! Abgehetzt, heiß, bang und doch herrisch! „Komm, ich hab’ ein Auto. Komm schnell!“ „Wann mußt du fort?“ „Morgen früh vier Uhr ausrücken aus der Kaserne. Ich hab’ drei Stunden am Bahnhof gewartet. Nun mußt du mit mir fahren; lies, was noch zu besorgen ist. Keine Satteltaschen in ganz Berlin aufzutreiben! Irgendein Kerl hat sich für Geld und gute Worte breitschlagen lassen, sie mir herzustellen. Dann den Revolver abholen, -- Schuster -- Apotheker! Einfach nichts zu haben!“ Und dann riß er sie an sich. „Oh, Maria, Maria, durch was für Höllen bin ich in diesen paar Tagen, in denen du fern warst und ich dich so nötig gehabt hätte, gewandelt! Was ist mir nicht alles klar geworden in diesen Tagen und Nächten! Ein Verrückter bin ich gewesen, daß ich dich so neben mir leben ließ, daß ich dich so leiden ließ! Immer die Ungewißheit in deinem Herzen: Meint er’s gut, meint er’s nicht gut? Warum war ich so, Maria, warum hab’ ich mich den allgemeinen Regeln entziehen wollen? War es Hochmut oder war es die angeborene Scheu vor jeder Fessel? Ich weiß es nicht, ich komme nicht zur Klarheit mit mir selbst. Nur das eine weiß ich, daß ich eine entsetzliche Grausamkeit an dir begangen habe.“ „Sprich jetzt nicht davon, sag’ mir das jetzt nicht!“ „Doch und doch und doch! Du weißt nicht, wie sich das plötzlich in mir geklärt hat; wie ich ganz plötzlich begreifen mußte, was du gelitten hast in all diesen Jahren. Jetzt ist es zu spät, jetzt kann ich nichts mehr gutmachen. Du warst so lange gut zu mir, nun sei es auch noch die paar lumpigen Stunden, die nicht einmal uns allein gehören!“ Das Auto raste durch die Straßen; sie lag an ihm, die Augen geschlossen, sein Mund an ihrem. „Wahnsinn, daß ich mich so von einer Idee beherrschen ließ!“ Irgendwo im hohen Norden wohnte der, der ihm die Satteltaschen versprochen. „Komm mit!“ Vier Treppen hoch; oben ein winziges Zimmer mit unerträglicher Luft -- und sie mußten warten -- eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. „Mensch, das ist eine Gemeinheit, daß Sie ihr Versprechen nicht gehalten haben!“ Er hielt sie bei der Hand. „Ich kann hier nicht fort, bis ich die Dinger habe! Es ist auf niemanden Verlaß! Komm!“ Und er zog sie in eine Nische des kleinen Zimmers. Sie bat noch einmal: „Quäle dich in dieser Stunde nicht! Ich habe gelitten, das ist wahr. Besonders des Jungen wegen hab’ ich gelitten, aber dafür hast du mir doch auch Stunden unsäglichen Glückes gegeben.“ „Armes, armes Herz du! Stunden unsäglichen Glückes sagst du! Das glaub’ ich wohl, aber doch nur, solange wir beisammen waren; sowie du allein warst, fing die Marter an, nicht wahr? Da hast du gekämpft und gelitten und gezweifelt. Sag’ nicht nein! Ich weiß jetzt alles. Eine Frau will Ruhe und Ordnung in ihrem Glück haben -- das ist so natürlich! Und du hast immer alles verbergen müssen, ich hab’ dich nie zur Ordnung in deinen Gefühlen, nie zur Ruhe kommen lassen; immer warst du gehetzt, immer bang, immer erregt! Ich sehe jetzt alles so deutlich, jetzt, da es zum Abschied geht; jetzt, da ich nicht mehr als ein paar armselige Stunden für dich habe, da ich, neben dir, an meine Stiefel, meinen Revolver und meine Koffer denken muß. Was macht denn der Junge, Kind? Auch den hast du hergeben müssen, alles, alles ist dir genommen worden!“ Das letzte sagte er in der guten, herzlichen Weise, die sie so oft an ihm bestrickt hatte. Der Mann auf dem Schemel erhob sich: „So, Herr!“ Er sah sich die Arbeit an. „Kostet?“ Ein unverschämter Preis wurde genannt. „Auch in solcher Zeit wird die Not ausgenützt!“ Er warf ihm das Geld auf den Tisch. Er nahm ihm die Tasche aus der Hand -- die Treppen hinunter und wieder ins Auto. „Immer habe ich gewünscht, es möchte einmal ein Ereignis kommen, daß alles in der Welt auf den Kopf stellt. Ich weiß nicht, warum. Ich muß wohl zu jenen unglückseligen Naturen gehören, die das Gleichmaß des Lebens nicht ertragen können, und hab’ mir eingeredet, auch dich könnte ich nicht für immer ertragen. Kind, warum hast du das so hingenommen? Warum hast du dich nicht aufgelehnt? Du hast mich mit einem Glorienschein umgeben, weil ich ein paar lesbare Bücher geschrieben habe. Daß ich als Mensch nichts anderes als ein grausamer Egoist war, das hast du dir nicht eingestehen wollen.“ „Ich hab’ dich geliebt und war glücklich durch dich, das wog mir das, was ich entbehren mußte, auf.“ Aber die Verzweiflung fraß an ihm. „Du bist so grenzenlos, so ganz unverantwortlich weich, Kind! Wie soll das werden, wenn du nun ganz einsam sein wirst? Wirst du das überhaupt ertragen, Maria?“ „Ja,“ sagte sie, und fühlte doch ihre Seele in namenloser Schwäche erschauern. „Komm, nicht mehr sprechen!“ Stopp! Irgendwo in einer stillen Straße hielten sie. Da war der Schuster, der noch die Stiefel übernommen hatte. „Bleib’ sitzen diesmal, Kind. Wenn ich warten muß, hol’ ich dich.“ Der Kopf schmerzte, die Schläfen hämmerten; das Herz schrie: ‚Ich kann es nicht ertragen -- kann nicht!‘ Die Stiefel in der Hand kam er zurück. „Gott sei Dank!“ Wieder eine andere Adresse. „Den Revolver muß ich noch haben; das andere lassen wir. Ein paar Medikamente bekommt man zur Not auch in der Kaserne.“ Er war blaß und nervös. „Sag’ jetzt gar nichts mehr, Maria! Alles Sprechen ist sinnlos! Nein, so geht’s auch nicht; ich muß noch vieles wissen. Wo wirst du leben, wenn du nun so ganz einsam bist? Ganz allein in der Wohnung, das geht nicht; bei Verwandten unterkriechen, liegt dir nicht. Also wo?“ „Ich weiß nicht. Laß! Das ist ja auch gleichgültig!“ „Aber es quält mich! Ich muß doch an dich denken können; ich meine, in einer bestimmten Umgebung muß ich mir dich denken können.“ Die Gedanken waren wieder bei einem anderen Punkt: „Wenn ich wiederkomme, Maria, bin ich ein anderer. Dann werfe ich alle meine Philosophie über Bord, dann bist du einfach meine Frau.“ Sie sagte nichts. Sie sah plötzlich die im Silberglanz des Mondes sitzende Großmutter vor sich, die die Karten durch ihre Hände gleiten ließ und ausrief: „Du hältst es doch nicht mit einem, Kind, der dich nicht heiraten will?“ Schrecklich, so etwas in banalen Worten von einem resoluten und praktischen Menschen, der nur gerade Wege kennt, aussprechen zu hören. Tiefes, bitteres Leid war in ihr. „Ich hab’ dich über alles in der Welt lieb,“ sagte sie, um sich selbst zu beruhigen. „Ich weiß, ich weiß!“ „Und ganz ohne Stolz, ganz ohne Klugheit -- so wie man es heute überhaupt nicht mehr findet.“ „Ach, wenn du doch wie andere Frauen ängstlich und berechnend gewesen wärest! Die Weltklugen siegen natürlich! Dich aber werden sie zertrampeln, wenn ich nicht wiederkomme!“ „Laß, laß! Ich bin nicht so schwach, wie du denkst.“ „Doch, entsetzlich schwach -- eben, weil du so namenlos lieben kannst. Ich weiß es -- weiß es besser als du selbst.“ Der Revolver war nicht fertig, das brachte ihn ganz außer sich. „Ich weiß nur einen Weg; ich muß zu Büttner gehen. Der zieht erst nächste Woche hinaus, der gibt mir seine Pistole. Aber die Zeit -- unsere paar armseligen Stunden schmelzen zusammen!“ Er sah auf die Uhr: „Halb elf schon, eine halbe Stunde geht darauf bis zu Büttner, der am anderen Ende der Welt wohnt; dann zur Kaserne, damit der Bursche packen kann, und dabei bin ich schwach vor Hunger.“ Er hielt sie im Arm und sagte nichts mehr. Um seinen Mund lief ein Zucken, die Augen sahen in die Ferne. „Ich wollte, es wäre morgen. Ich kann nicht mitansehen, wie du dir selbst etwas von Stärke und Mut vorlügst.“ Der Kamerad gab seinen Revolver ohne weiteres. „Nun hinaus zur Kaserne. Schofför, so schnell wie irgend möglich!“ Mitternacht nahe. „Bist du froh, daß das Jungchen mit will? Ich hätte es ihm nicht zugetraut. So eine schmale Brust und so ein Muttersöhnchen! Der soll in ein paar Wochen gegen die Russen gehen! Grüß ihn von mir! Sag’ ihm meine Hochachtung! Wie hat sich die Welt verändert in diesen paar Tagen! Man hat es ja immer gewünscht, daß die Luft rein wurde. Man hat auch geglaubt, in dem Augenblick, da es einmal eintrete, ganz Flamme, ganz Begeisterung zu sein, und bleibt dann doch an sich selber hängen, statt im Großen aufzugehen. Ich kann dir nicht sagen, wie ich mich um dich gräme!“ „Tue es nicht!“ Aber sie weinte an seiner Brust und sagte in jammervollem Ton: „Ich bin nicht schwach, ich bin wirklich nicht so schwach, wie du denkst.“ Die Kaserne war erreicht. „Hier mußt du nun eine gute Viertelstunde auf mich warten.“ Da sah sie alles um sich herum in krasser, entsetzlicher Trostlosigkeit. Die ganze Welt in furchtbarer Disharmonie; die ganze Welt voll blutender, zerrissener Herzen, Barbarei, Vernichtung, Greuel und Entsetzen; wo war das Große, das Erhebende, das der Krieg bringen sollte? Ach nein, nur die Nacht, nur der Abschied machten schwach und klein; sobald der bittere persönlichste Schmerz überwunden war, mußte eine jede sich zu der Größe aufraffen können, die diese blutige Zeit erfordert. Jetzt aber barg sie das Gesicht in den Händen, jetzt wollte der heiße Schmerz sie ersticken. Der Mann und der Junge! Die beiden Pole ihres Lebens! Dann war er wieder bei ihr und zog sie in seine Arme. „Zwei Stunden noch für uns! -- -- Komm, sei gut, sei gut! Sag’ mir noch einmal, daß du mich geliebt hast! Denk’, wir ständen beide vor der letzten Stunde unseres Lebens und wollten in diese Stunde noch einmal alles hineinpressen, was wir uns zu geben haben. -- --“ Als das erste zaghafte Morgenlicht mit der Dämmerung kämpfte, stand sie im grauen, endlosen Kasernenhof neben ihm. Steil ragten die Mauern in die Höhe -- beklemmend, düster, dräuend. Aus Türen und Toren quollen Menschen. Unermeßliche Scharen von Menschen. Schauernd stand sie an seiner Seite. Die grauen Massen ordneten sich zu Zügen. Kommandorufe erschallten! Abzählen -- aus der Ferne Pferdegetrappel. Von hinten her wurden gewaltige Munitionswagen sichtbar. Eine halbe Stunde verging, Namen wurden verlesen, Befehle ausgerufen; dann eine Ansprache -- kurz, wuchtig! Und Bewegung kam in die Reihen. „Leb’ wohl!“ Der ihr zur Seite gestanden hatte, preßte sie noch einmal in die Arme. Drüben wartete der Bursche und hielt ihm das Pferd. „Leb’ wohl!“ Er saß auf, winkte noch einmal und ritt denen, zu welchen er gehörte, zur Seite, zum großen Tor hinaus. Sie lehnte an einer Wand; sie sah die letzten Züge vorbeimarschieren -- die Furage- und Munitionswagen folgten -- ihnen schlich sie nach. Irgendwie fand sie zu der Wohnung, die sie mit ihrem Jungchen all die Jahre innegehabt hatte. Ging durch die leeren Zimmer und sah auf dem Schreibtisch eine Karte liegen, die die Portiersfrau hingelegt haben mochte. „Liebe Mutter! Wenn du mich hier besuchen willst, so komm, bitte. Ich habe ein wenig Heimweh nach dir.“ Da -- mit einem Schlag alles verblaßt, alles vorbei, was sie so tief erregt, was soeben noch heißer, brennender Schmerz gewesen war. Wie wenn eine leise, müde Musik von einem brausenden Orchester übertönt würde. Der Junge rief, der Junge brauchte sie! Ihr armer, kleiner, zarter Junge hatte Heimweh nach der Mutter. * * * * * Sie hatten ihn oft den Philosophen oder den Professor genannt; ob mit Recht oder mit Unrecht, das lag nicht klar. So ein Bub von sechzehn, siebzehn und achtzehn Jahren, der von Natur still und im Äußern noch wenig ansehnlich ist, vergräbt sich oft in sich selbst, nur weil er den rechten Ton zur Außenwelt nicht findet, weil er schüchtern ist und den Bann, der ihn umfangen hält, nicht zu brechen versteht. Und solch eine Jungenseele ist oft so feingestimmt wie das zarteste Saiteninstrument. Alles bewegt ihn -- beängstigt ihn -- bringt ihn aus der Fassung. Überall wittert er Mißachtung, Hochmut, Spott. Es braucht nur ein Erwachsener, ohne irgend etwas dabei zu denken, solch blutjungen, kindlich aussehenden Menschen bei der Unterhaltung zu übersehen -- irgend jemand kann vergessen, ihm beim Abschied die Hand zu reichen -- gleich ist der Aufruhr da, gleich sagt sich so ein aufbrausender Kopf: ‚Ich bin überflüssig -- ich bin ausgestoßen; es hat gar keinen Zweck, daß ich lebe. Ich werde ewig mir und anderen zur Last sein!‘ Und die Augen werden überernst, um den Mund kommt ein Zug, der etwas Überlegenes hat und doch nur ein kindlicher Schmerz und Trotz ist. So ein Bub mit schlechter Haltung, blassen Farben, tiefernsten Augen und leicht ironischem Lächeln wird dann von irgend jemand eintaxiert! Man will vielleicht der Mutter, weil man mit dem besten Willen von so einem armen, halbflüggen Kerl nicht sagen kann: ‚Welch reizender Junge,‘ einen Trost geben und sagt: ‚Ihr Junge hat was Bedeutendes -- ein Philosoph -- ein Professor! Sie werden sehen, es wird einmal etwas ganz Außergewöhnliches aus ihm werden!‘ Und die Mutter, die ein wenig verzweifelt über den unansehnlichen, in sich gekehrten, seinen Stimmungen unterworfenen Jungen ist, nimmt so eine Prophezeiung gierig und mit tausend Freuden in ihrem Herzen auf und redet sich ein: ‚Natürlich wird er etwas Außergewöhnliches werden!‘ und denkt an den Werdegang vieler großer, bedeutender Männer, die in ihrer Jugend bleicher, einförmiger und stiller gewesen sind, als ihre Kameraden. Wie dem auch sei, das Jungchen -- Ernst ward er genannt -- war wirklich etwas schwer und ernst und für seine Jahre zu trocken gewesen. Die Schule, der Zwang, sich zu einem Beruf zu entschließen, obwohl es von jedem einzelnen Beruf hieß, er sei überfüllt, und irgendein dunkles, unbewußtes Drängen und Sehnen in ihm mochten ihn niedergedrückt haben. Und das Schlußexamen, das Abiturium, das von Jahr zu Jahr schwerer gestaltet werden sollte, um nur die ganz Befähigten noch zum Studium durchzulassen, mochte ihn auch quälen. ‚Die Blödesten, die überhaupt nicht denken, die aber frech und gerissen sind, kommen natürlich immer durch,‘ hatte er einmal der Mutter gesagt und damit seine Angst verraten und sie selbst unsicher gemacht. Ja, wenn der Bub Pech haben sollte und sein Abitur nicht bestand, dann war wirklich alles verloren -- dann würde sie selbst nicht wissen, was sie aus ihm machen sollte. Sie lief zu seinem Lehrer, und der lachte sie aus. „Wenn ihr Junge nicht besteht, dann müßte die ganze Gesellschaft durchs Examen sausen!“ Das sagte sie ihm und sah ein freudiges Lächeln in seinem Gesicht, das ihn verschönte. Aber die Unsicherheit kehrte doch zu ihm zurück. „Und wenn ich’s wirklich glänzend bestehe, Mutter, so oft ich darüber nachdenke, wie alles in der Welt überfüllt ist, wie für jeden Beruf Tausende da sind, die einfach entbehrt werden könnten, dann will mir doch alles zwecklos erscheinen!“ Das verstand sie! Der arme Kerl litt darunter, das nicht irgendwo ein Platz war, von dem es hieß: hier gehörst du hin! hier braucht man dich! hier würde eine Lücke sein, wenn du sie nicht ausfülltest! Darunter litt die ganze heutige Jugend, sofern sie nicht keck und selbstbewußt oder mit reichen äußeren Mitteln ausgestattet war. Und wenn sie in bangen Stunden an seine Zukunft dachte, so war es ihr, als mache er den Versuch, auf winzigem Kahn zwischen großen, starken Schiffen hindurch ins weite Weltmeer hinauszusegeln, bis dann wieder die glücklichen Zeiten kamen, in denen sie überzeugt war, daß er ein Überflieger, ein Auserwählter war, der seinen ganz besonderen Weg machen würde. Der kleine, ernste, schmächtige Ernst von Hiller hatte sich wirklich mit etwas zu geringem Selbstvertrauen dem geheimnisvollen, großen Leben, in das er nun bald eintreten sollte, genähert. Bis dann plötzlich die Tore für ihn und alle, die seinesgleichen waren, sperrangelweit aufsprangen, bis mit einem Schlage die große, weite Welt in ganz anderer Beleuchtung vor ihm lag. Auf einmal hieß es in Deutschland: Wir brauchen euch alle! Wer nicht ganz schwach, nicht ganz unfähig ist, der komme und halte sich bereit, für Deutschlands Ehre zu kämpfen. Alle, die ihr gestern noch Kinder und Knaben war’t, heute müßt ihr Männer sein! Und so, wie es verlangt wurde, so war es. Wie ein zu eng gewordenes Kleid warfen sie die Kindheit ab, waren befreit aus dumpfem, haltlosem Irren, aus tausend Ängsten und Grübeleien. Man braucht uns, man braucht uns! Ein einziger Jubel im ganzen jungen deutschen Volke! Eine bebende Seligkeit, das jauchzende Bewußtsein, plötzlich aus der Überflüssigkeit zu etwas Notwendigem geworden zu sein. Und dann Schlag auf Schlag -- alles so brausend schnell, wie es die Jugend liebt. -- Heute von der Reise zurück -- morgen das Examen mit Rührung und Hochachtung von Seiten der bisher gefürchteten Vorgesetzten. Alles fiel einem in den Schoß. Segenswünsche -- überschwengliches Lob -- Bewunderung! Die Alten stellten die jüngste Jugend plötzlich auf ein hohes Podest und sahen zu ihr auf. „Ihr zieht aus! Ihr kämpft für uns! Gesegnete Jünglinge! Gottbegnadete Menschen, die ihr eure erste Jugend so glorreich betätigen dürft!“ Wie das weckte! Wie das emporriß! Wie so ein blasses, schüchternes Jungengesicht da Farbe und Feuer erhielt. Alles vergessen, was noch vor Tagen der Inhalt des Lebens gewesen war -- draußen, jenseits der Grenze wurden schon blutige Schlachten geschlagen -- und man war noch nicht dabei, man lief noch in seinen Zivilkleidern herum und suchte, suchte, suchte! Ernst Hiller lief mit zwei Freunden durch Berlin. Das Abiturientenzeugnis und die schriftliche Erlaubnis der Mutter, mittun zu dürfen, trug er in der Tasche. Von Kaserne zu Kaserne liefen sie. Ganz gleichgültig, bei welchem Regiment, gleichgültig, ob zu Fuß, ob zu Pferd. Nur schnell sollte es gehen -- schnell, schnell, schnell! Aber zu Tausenden standen sie auf den Kasernenhöfen umher -- Stunden und Stunden standen sie, um dann plötzlich zu hören, daß hier der Bedarf gedeckt sei. Weiter -- weiter! Und standen wieder unter Tausenden -- standen in sengender Sonnenhitze, standen mit leerem Magen und spürten den Hunger nicht. Nur genommen werden -- nur erst Sicherheit haben -- nur nicht nach Hause müssen und sagen: „Ich habe nichts erreicht!“ -- Sie dachten auch gar nicht daran, daß das gar nicht ging, daß das einfach ein Ding der Unmöglichkeit war, unter Tausenden und aber Tausenden gleich an erster Stelle herausgefischt zu werden. Gedrückt, müd’, enttäuscht kehrte Ernst am ersten Tag zur Mutter zurück. „Morgen wollen wir um fünf Uhr früh anfangen!“ sagte er. „Nur wer gleich zu Beginn da ist, hat Aussicht, daranzukommen!“ Er aß mit abwesenden Gedanken -- eine große bange Frage lag in seinen Augen. „Laß mich noch ausgehen, Mutter! Ich halt’s nicht aus!“ Und war fort, ehe sie ihn halten konnte, ehe sie fragen konnte, wohin. Am späten Abend rief er sie in sein Zimmer. Jacke und Weste ausgezogen, das Hemd von der Brust heruntergestreift. „Ob sie mich nehmen, Mutter? Sie suchen erst die Kräftigsten heraus. Hol’ ein Zentimetermaß, bitte, und miß, wieviel Brustweite ich habe!“ So ein schmales, zartes Kerlchen stand vor ihr. Zitternd legte er sich das Maß um den Rücken und zog es eng über der Brust zusammen. Dann atmete er tief. „So, nun miß noch einmal!“ Und dann strahlte das Gesicht. Es reichte -- -- er war stark genug -- sie durften ihn nicht abweisen. „Stell mir den Wecker neben das Bett, Mutter. Gute Nacht!“ Drehte sich um und war auch schon im tiefsten Schlaf. Wieviele Mütter mögen in jenen ersten Nächten am Bett ihres Jungen gesessen und fassungslos in das junge, weiche Gesicht geschaut haben. Und wieviel Kämpfe mögen da ausgefochten worden sein. Verzweifelte Kämpfe zwischen Stolz und namenloser Schwäche, zwischen hellem Ehrgeiz und tiefstem Jammer. Es war da plötzlich eine unsichtbare Macht in die Welt gekommen, die riß die, welche zusammengehörten, auseinander -- machte aus dem kindlichsten Buben einen Menschen, der ganz genau wußte, was er zu tun hatte, der nicht mehr nach rechts und nach links schaute, der im Fieber auf die Erfüllung des einen, großen, heiligen Wunsches wartete: „Nehmt mich! Nehmt mich! Stoßt mich nicht aus!“ Und der glühende Wunsch, der da im schlafenden Buben lebte, teilte sich der, die neben ihm saß, die durch ein einsames Leben mit dem Kind an der Hand gegangen war, mit und gab ihr Stolz und Kraft. „Mag dein Wunsch sich erfüllen -- mein Jung -- --“ und küßte die hohe, reine Stirn, die das Schönste an diesem schmalen Knabengesicht war. Dann noch ein Tag der Enttäuschung -- noch ein Tag, an dem die irre Angst in den dunklen Augen lebte. -- „Ich ertrag’ es nicht, wenn sie mich nicht nehmen!“ Und kein Trost, keine Ermutigung wollte helfen. Am dritten Tage aber kommt er heim, das Gesicht wie mit Glanz übergossen, holt einen Fahrschein, der ihm im Kriegsministerium ausgestellt worden ist, aus der Tasche und jubelt: „Morgen fahren wir. In der Altmark beim Husarenregiment brauchen sie Freiwillige, die nicht über hundertdreißig Pfund wiegen. Pack mir das Notwendigste ein, Mutter! Bevor ich eintrete, werde ich ja noch einmal zurückkommen!“ War das noch Ernst Hiller, der sich nichts zugetraut hatte? War das noch der ernste Junge, der Philosoph, der Professor, der Grübler, der jugendliche Weltverachter? Nein! Das ganze Leben, das vorangegangen war, war jetzt ein Blödsinn -- eine Wertlosigkeit -- oder wenn es schon einen Wert gehabt hatte, dann war es doch nur der, daß es vorbereitet hatte für das, was nun zu erfüllen war. -- Er hatte hundertzwanzig Mark in der Tasche, als er mit den zwei Freunden, die ebenso wie er nach der altmärkischen Garnisonstadt wollten, das Auto zum Bahnhof bestieg. Die Zeit war so gewaltig und riß die Menschen zu ungeahnten Höhen; und Ernst Hiller war auf einem großen Weg, war bereit, Blut und Leben für Deutschlands Ehre darzubieten -- -- aber die hundertundzwanzig Mark in seiner Tasche war doch etwas, was ihn ganz kolossal erhob und ihm eine ungeheure Zuversicht für das, was kommen würde, gab. „Leb’ wohl, Mutter! In zwei Tagen bin ich wieder da -- dann nehmen wir richtigen Abschied!“ Sprang die Treppe hinab, grüßte noch einmal herauf, und fort ging es. Am Bahnhof großes Durcheinander -- der siebente Mobilmachungstag, und die Beamten wissen nicht, wo ihnen der Kopf steht. Die drei Jungen aber haben ihren Fahrschein vom Kriegsministerium; man darf sie nicht zurückschieben. Sie haben sich zu stellen und müssen befördert werden. Und sie warten geduldig in der heißen Halle, warten Stunde auf Stunde, so wie sie die Tage zuvor in der Kaserne gewartet haben. Endlich dürfen sie durch -- die Menschen quellen durch die geöffnete Sperre, werden von Schutzleuten angehalten -- in Reihen gestellt und zu den Abteilen geführt. Die drei sitzen in der vierten Klasse -- sitzen und stehen in dem immer voller werdenden Raum. Aber keiner schimpft über das Gedränge, keines einzigen Miene verzieht sich in Ärger, wenn immer Neue hereinquellen. Sie lachen -- sie reißen Witze -- sie sind alle aufgeregt; ein jeder, der hier im Wagen sitzt, macht heute eine Fahrt, die man nur einmal im Leben macht. Der größte Teil der Fahrenden ist schon in feldgraue Uniform gekleidet; die anderen haben eine Binde um den Arm und einen Packen oder Karton an der Hand. Jeder weiß genau, wo seine Stelle ist. Und da sind so viel große und kräftige Gestalten, Männer mit gewaltigen Brustkasten und eisernen Fäusten und mächtigen Stimmen. Denn in dem Augenblick, in dem der Zug sich in Bewegung setzt, fangen sie an zu singen, alle wie auf Verabredung das eine Lied: Es braust ein Ruf wie Donnerhall -- Wie Schwertgeklirr und Wogenprall! ... ‚Die Wacht am Rhein!‘ Was anderes sollen sie singen, denn die Feldgrauen fahren direkt über den Rhein -- -- die anderen werden unterwegs in ihren Garnisonen abgesetzt. „Lieb Vaterland, magst ruhig sein!“ Und wie Ernst Hiller das Lied aus diesen mächtigen Kehlen schallen hört, wie er diese breiten Männer mit den gewaltigen Brustbreiten und den derben Fäusten rund um sich herum sieht, da kriecht wieder die zermalmende Angst an ihm in die Höhe und frißt sich in seine Seele ein: ‚Wenn sie mich nun doch nicht nehmen! Wenn ich doch zu schwach, zu schmal sein sollte?‘ Und es ist, als ob die Welt sich vor ihm verfinstere, als ob die Sonne, die heiß und leuchtend am Himmel steht, nur für die anderen da sei -- für ihn nicht -- denn, wenn er zu schwach befunden, wenn er nicht genommen wird, dann mag er nicht mehr leben -- dann hat das Leben keinen Sinn für ihn mehr. Die kindliche Freude an dem Vermögen, das er bei sich trägt, die Begeisterung, die jubelnde Zuversicht -- alles ist fort. Die Augen wieder tiefernst, um den Mund der alte überlegene Zug, der den Schmerz verbergen soll, und Ernst Hiller ist inmitten dieser lebensprühenden, heißen, beflügelten Reisegesellschaft wieder der, den sie den Philosophen, den Professor, den Grübler nannten. Aber nicht lange dauert diese Unterwerfung unter eine bange Vorstellung. Irgendein Feldgrauer, ein älterer schon, auf den man sich verlassen kann, hat an ihn und die zwei Freunde die Frage gerichtet: „Freiwillige, was? Wo wollen Sie sich stellen?“ Und die drei antworten wie aus einem Mund: „Bei den Husaren!“ Und Ernst Hiller fügt, ohne den Willen dazu zu haben, die Frage an: „Hat man Aussicht, angenommen zu werden?“ „Totsicher!“ sagte der Mann, „Sie sind ja gesunde, kräftige Menschen.“ Zum Donnerwetter, ja -- wer hatte ihm denn eigentlich zeit seines Lebens eingeredet, daß er zart und schwach sei? Die Mutter natürlich. So ein Blödsinn -- und weil sie das immer wiederholte, weil sie immerfort in Sorgen um seine Gesundheit gewesen war, hatte er es eben als Tatsache hingenommen, daß er ein zarter, schwächlicher Junge sei, der Schonung bedürfte. In diesem Augenblick war er ärgerlich auf die Mutter. Trotz aller ihrer Liebe und Fürsorge -- es wäre vielleicht besser gewesen, sie hätte auf Großmutter gehört und hätte ihn mit elf Jahren ins Kadettenkorps gesteckt, dann wäre er jetzt Offizier und stände schon irgendwo in der Front. War das eine Fahrerei heute! Schneckengleich kroch der Zug dahin und alle Viertelstunde eine Station oder auch nur Anhalten im freien Feld! Und das Herz schlug einen so schnellen Takt; man wollte so gern am Ziel sein -- so gern den Ort sehen, in dem das Schicksal sich entscheiden sollte. An den Bahnhöfen stürzten junge Mädchen mit großen weißen Schürzen an die Züge heran; sie trugen Körbe mit Brot und große Blechkannen mit Kaffee für die Soldaten. „Das sind alles feine junge Damen!“ sagte einer von Ernsts Freunden und reckt die Hand aus. „Fräulein -- wir sind auch Soldaten -- -- -- Hiller, laß dir auch was geben!“ Aber Ernst Hiller wandte sich ab, und sein Jungengesicht war rot geworden. „Ich bin ja noch kein Soldat!“ und die Angst wollte sich wieder regen. Jedoch Kaffee, Brot und Zigarren hatten eine frohe Stimmung in der Reisegesellschaft geweckt. Sie sangen wieder -- einer hatte eine Ziehharmonika und begleitete -- sie sangen ohne Aufhören, bis die Kehlen heiser waren, bis sie keine Lieder mehr wußten. „Heute sind wir die Herren der Welt!“ schrie ein Feldgrauer. „Heute tausche ich mit keinem Millionär!“ Der kleine Hiller sah bewundernd zu ihm auf. Wenn er doch auch erst so weit wäre! Übermorgen in Belgien! Bei ihnen kam, wenn sie wirklich angenommen wurden, erst noch der lange Drill, und wer weiß, wie weit der Krieg schon vorgeschritten war, wenn sie endlich ausrückten. Verdammt, daß er sich in den Kopf gesetzt hatte, zu studieren. Er stammte aus einer Soldatenfamilie und fühlte nun plötzlich, daß auch er Soldatenblut in sich trug. Offizier könnte er sein, wenn er’s gewollt hätte -- und mußte nun abwarten, ob sie ihn überhaupt als Freiwilligen nahmen. Flach und reizlos war die Landschaft, durch die sie fuhren; aber reich und fruchtbar war sie auch -- -- auf den grünen Weiden buntgeschecktes, mächtiges Vieh und an beiden Seiten der Wege Bäume, die sich unter der Last der Früchte beugten. Die Sonne sank glührot immer tiefer hinab. Wie ein feuriger Ball schwebte sie eine Weile dicht über der Erde; dann mit einmal war sie fort, und der Himmel, der sich wundervoll hoch und blau gewölbt hatte, schien auch näher zur Erde herabzukommen und ward grau und fahl, und die ganze Welt schien plötzlich stiller und trauriger zu werden. Es dunkelte, als die drei mit ihren Taschen sich zum Aussteigen rüsteten. „Glück auf!“ riefen ihnen die Soldaten aus dem Zug nach. „Auf Wiedersehen in Paris!“ Sie schwenkten ihre Mützen, „Hurrah!“ Und dann kam eine selige Freiheitsstimmung über die drei Kerle; kein Mensch in der Welt hatte ihnen jetzt etwas zu sagen. Sie standen hier auf dem Bahnhof einer fremden Stadt, hatten ein gefülltes Portemonnaie in der Tasche -- konnten tun und lassen, was sie wollten. Frei! Frei! Frei! Kein Pauker ging sie mehr was an. Nein -- sie waren mit einem Schlag viel mehr als ihre früheren Pauker geworden -- das hatten die ihnen ja selbst gesagt. Und alle Frauen vergötterten sie, alles faßte sie mit Glacéhandschuhen an. Wenn sie nur erst in ihrer Uniform steckten! „Da steht einer!“ Und sie sahen bewundernd auf einen graugelben Husaren, der, den Karabiner über der Schulter, unbeweglich dastand. „Na -- nu los!“ Und durchs Bahnhofgebäude durch auf den Vorplatz des Bahnhofs. Da stand eine Pferdebahn -- eine richtiggehende Pferdebahn, mit einem alten Klepper bespannt. Na, die Pferdebahn mochten sie nicht; sie nahmen sich einen Wagen. „Gasthof ‚Zum Schwan‘, das ist doch das beste Hotel am Ort?“ Der Kutscher winkte, und sie rasselten in die schon dunkel werdende Stadt hinein. Der ‚Schwan‘ lag an einem großen Platz; Rathaus und Kirche, zwei uralte Bauten, warfen riesenhafte Schatten. Man konnte die goldenen Lettern am Hotel kaum erkennen. „Ist das wirklich das beste Hotel am Ort?“ fragte einer von den drei noch einmal mißtrauisch zum Kutscher hinauf, und der nickte wieder. „Alle Herren Offiziere steigen hier ab.“ Und da sprangen denn auch die drei aus dem Wagen, zahlten und gingen durch die große Einfahrt des altmodischen Hauses bis zu einer kleinen Seitentreppe hin. Ein Kellner fragte nach ihrem Begehr. „Drei Zimmer!“ „Erster oder zweiter Stock?“ „Gleichgültig!“ Sie ließen sich drei geräumige Zimmer geben. Preis war Nebensache. Die Hände gewaschen und hinunter in den Speisesaal; sie waren hungrig geworden. Seltsam, das hätte man gar nicht denken sollen, daß in diesem von außen so altmodisch aussehenden Hotelchen ein so anständiger Speisesaal war. An zwei Wänden entlang ausgebaute Nischen, dicker Teppich auf dem Boden und erstklassige Beleuchtung. In ihren grauen und hellbraunen Sommeranzügen traten sie ein und sahen mit angenehmem Staunen ein buntes Bild. Gleich am ersten Tisch ein Infanterieoberst, der flüchtig aufblickte, als die drei eintraten. Und im übrigen fast nur graugelbe Husarenuniformen: zwei Offiziere, ein paar Junker und eine Anzahl Soldaten -- Freiwillige oder Einjährige. Der Kellner, der ihnen ihre Zimmer angewiesen hatte, führte sie zu einem Tisch und reichte ihnen die Speisekarte. Sie bestellten mit der Freude der ganz Jungen, denen ein Absteigen im Hotel noch etwas Fremdes ist. Sie bestellten das Beste, was sie auf der Karte entdecken konnten, und ließen eine Flasche Wein kommen. So oft ein junger Husar den Saal betrat, blieb er erst, die Hacken zusammengeklappt, am Tisch des Infanterieobersten stehen, dann bei den zwei Offizieren, grüßte die Fahnenjunker und verschwand im Hintergrund. Die drei, die heute noch freie Leute waren, fühlten sich ein wenig beklommen. Heute noch ging kein Mensch in der Welt sie was an; heute konnten sie ruhig hier in nächster Nähe des Obersten sitzen, ihre Mahlzeit verzehren und ihren Wein trinken, konnten lachen und sich unterhalten, wie es ihnen beliebte. In ein paar Tagen aber, wenn sie Glück hatten, wenn sie angenommen wurden, waren diese hier ihre Vorgesetzten, und sie würden sich wahrscheinlich wie die anderen Husaren ihren Platz in gemessener Entfernung suchen. Aber es war merkwürdig, auch jetzt fühlten sie sich schon gar nicht mehr ganz frei. Irgendwas lag wie ein leiser Druck auf ihnen. Sie sprachen mit gedämpfter Stimme und sprachen nur über Dinge, die jeder hören durfte. Eine Vorahnung kam in sie. Diese beiden Herren hier in der graugelben Husarenuniform waren vielleicht die, die morgen über sie zu entscheiden hatten, und Ernst Hiller senkte den Kopf und ward blutrot, als er bemerkte, daß einer der Offiziere scharf nach ihrem Tisch hinübersah. Der wußte natürlich längst, in welcher Eigenschaft sie in diese kleine Stadt und in dieses Hotel gekommen waren: ‚Freiwillige.‘ Wie anders sollten drei junge Burschen den Weg hierher gefunden haben? Sie waren sehr bescheiden geworden, sie aßen nicht ganz mit dem harmlos glücklichen Appetit, mit denen sie die guten Dinge, die ihnen gereicht wurden, vielleicht auf neutralerem Boden verzehrt haben würden. Sie tranken auch den Wein nur in zaghaften Zügen, zahlten und gingen hinaus, um draußen in der dunklen Einfahrt einen Seufzer der Erleichterung auszustoßen. Was nun? Erst neun Uhr! Da konnte man natürlich noch nicht zu Bett gehen. Also sah man sich das Nest, in das man gekommen war, mal an. Und mit dem Hochmut der geborenen Großstadtmenschen schlenderten sie über den Marktplatz mit seinen altmodischen Bauten, durch enge Gäßchen mit niedrigen bunten Häusern, um bald in die Hauptstraße, in der noch reges Leben herrschte, zu gelangen. Plakate und Extrablätter genau so wie in Berlin! Lüttich war genommen. Die Bonner Husaren hatten sich ausgezeichnet! Das war etwas für sie! Das trieb ihnen das Blut in die Wangen! Lüttich genommen! Wie das rasend schnell vorwärtsging! Vielleicht war in ein paar Wochen der ganze Krieg ausgefochten, und sie kamen überhaupt nicht mehr heraus. Ernst Hiller fühlte es wie Schmerz in sich aufsteigen. Die Straße zog sich lang und einförmig hin. „Verdammt langweilig, so ein Provinznest!“ Aber da drüben auf der anderen Seite stand an einem unansehnlichen Haus die Aufschrift: ‚Wiener Café‘, und durch große Fensterscheiben strahlte Licht. Also da hinein! Irgend etwas mußte man doch noch unternehmen! Einen einzigen leeren Tisch noch gab’s im ganzen Lokal, und der stand etwas abseits in einer Ecke. Sie steuerten drauflos und fühlten sich hier sicherer als im Hotel, in nächster Nähe der zukünftigen Vorgesetzten. Sie ließen Kaffee und Kuchen kommen; Kuchen mit Schlagsahne und einen Likör. Eine kleine Kapelle spielte Vaterlandslieder, und wenn die ‚Wacht am Rhein‘ oder ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ einsetzte, stand jeder von seinem Platz auf und sang mit. Es war heiß im Saal und die Luft vom Rauchen so dick, daß man auf zehn Schritte Entfernung niemandes Gesicht mehr unterscheiden konnte; aber es war schön. Das Blut geriet in Wallung -- man fühlte die große, gewaltige Zeit, in der man lebte. Die drei waren jetzt wieder ganz frei geworden. Donnerwetter, ja, wenn man bedachte, daß die Schule jetzt für immer überwunden war! Überhaupt kein Zwang mehr! Noch ein paar Wochen Drill und dann heraus! Donnerwetter! Ernst Hillers Gesicht leuchtete. Seit er hier in diesem verräucherten Lokal mit der lauten, hinreißenden Musik und den vielen begeisterten Menschen saß, seit er diese heißen, schönen Lieder im gewaltigen Chor erbrausen hörte, war er wieder ganz sicher geworden. Sie nahmen ihn selbstverständlich! Morgen oder übermorgen stak er in der graugrünen Uniform, und in ein paar Wochen stand er draußen im Felde. Irgendwo knallten Sektpfropfen, und ein Kellner war an ihren Tisch getreten. „Die Herren befehlen noch etwas?“ Und die drei sahen sich an, dachten an den blauen Schein, den sie in der Tasche trugen, einigten sich stumm und schnell; schon stand der Sektkübel vor ihnen und der Kellner drehte die Flasche mit kundiger Hand in den kleinen Eisstücken herum. Spät war es, als sie in den ‚Schwan‘ zurückkehrten, und die Köpfe waren nicht ganz frei. Einer von ihnen behauptete, trotz des Zigarrendunstes einen Husarenoffizier ganz in der Nähe ihres Tisches gesehen zu haben. Aber wenn auch -- heut waren sie ja noch frei; heute hatte kein Mensch auf der ganzen Welt ihnen was zu sagen. Und ausschlafen konnten sie auch! Für zwölf Uhr erst waren sie zur Untersuchung in die Kaserne befohlen. „Also Punkt zehneinhalb Uhr zum Katerfrühstück im Eßsaal! Gute Nacht!“ Sie reichten sich die Hände und verschwanden in ihre Zimmer, warfen dann noch die Stiefel hinaus und klappten die Türe zu. * * * * * Von der strahlenden Augustsonne überflutet, liegen die roten Gebäude der Husarenkaserne da. Wenn man aus der inneren Stadt heraus durchs alte, ehrwürdige Tor kommt, muß man noch eine lange, mit netten Villen bebaute Straße hingehen, oder man kann auch direkt aus der Stadt in die Anlagen und von da über den schwarzen Husarenweg gehen, dann sieht man sie schon von weitem liegen, die lang sich hinziehenden, roten Fronten der noch neuen Kaserne. Ringsherum sind Felder -- gegenüber ein Weg, der in ein Dorf führt, und geradeaus weiter eine Chaussee, deren Länge man nicht abzusehen vermag. In Scharen trotten die jungen Leute um die Mittagszeit über die heißen Straßen der Kaserne zu. Vom schwarzen Husarenweg wirbeln die Staubwolken so hoch auf, daß sie in Mund und Nasen der Wandernden eindringen. Immer Sonne, Sonne, Sonne! Seit vielen Tagen kein Tropfen Regen! Das ist gut für die, die schon draußen im Felde stehen, und darum muß man dankbar für die große Reihe schöner, sonnenheller, trockener Tage sein, wie wohl auch ein Regenguß den Feldern wohltun würde. Junge, aufgeregte Gesichter! Eifriges Reden! In manchen Augen etwas wie Angst! Ernst Hiller hat sich beim Aufstehen nicht recht wohl gefühlt. Jetzt aber hat er rote Farben im Gesicht und klare Augen. Sie haben ordentlich gefrühstückt, ein richtiges, anständiges Katerfrühstück -- dazu Südwein und einen kleinen Kognak. Das hat ihnen allen dreien wieder auf die Beine geholfen. Aber das Herz zittert; das Herz schlägt in ganz schnellen, kurzen Schlägen. Die niederträchtige Angst ist wieder da. Bang sieht er auf die große Schar, die alle denselben Weg gehen, den er mit seinen Freunden geht. Ob die sich alle als Freiwillige gemeldet haben? Prüfend fliegt sein Blick über sie hin? Sind das nicht alles ganz abnorm große Gestalten, oder hat er ein falsches Augenmaß? Sie erscheinen ihm wie Riesen und sie scheinen ihm alle sehr selbstsicher und stolz dahinzugehen. Er aber würgt wieder an seiner alten, scheußlichen Angst und kann ihrer nicht Herr werden. Je näher die Kaserne kommt, um so langsamer gehen sie. Es ist noch so früh; sie werden eine halbe Stunde warten müssen. Man könnte eigentlich noch ein Stück die Chaussee hinuntergehen; es hat ja keinen Zweck, sich so lang’ in irgendeinem Winkel herumzudrücken. Aber die Sonne meint es sehr gut und man ist müde. Der Südwein hat zwar den Kater vertrieben, aber in den Beinen ist man schwach. Und wie man die Kaserne erreicht hat, macht man ganz von selbst halt und geht den Weg, den all die anderen gehen. Der Posten der Kaserne läßt sich die Legitimation zeigen; man tritt durch das große Tor ein und hat im selben Augenblick ein merkwürdig zuckendes Gefühl im Herzen, so, als hätte man einen großen, schweren Abschied von irgend etwas genommen. Dann stehen sie zwischen den Bäumen, die den inneren Kasernenhof einfassen. Kein Mensch kümmert sich um sie; sie stehen da, als seien sie nicht bestellt, sondern als ständen sie auf irgendeinem allgemeinen, gleichgültigen Platz, als gäbe es hier keine Mission für sie zu erfüllen. Eine Stunde ist vergangen und eine zweite will auch vergehen. Aller Blicke sind auf die einzelnen Ausgänge der Gebäude, die hier in diesen Hof münden, gerichtet. Es muß doch irgend jemand kommen, der sich um sie kümmert. Ernst Hiller steht an einen Baum gelehnt. Gemeinheit, daß er gestern Sekt getrunken hat! Nun fühlt er sich elend, und die Hitze benimmt ihm den Kopf. Weh ist ihm zumute! Er fühlt sich wirklich nicht wohl -- hat Schmerzen im Hinterkopf und zittert mit den Beinen. Da endlich! „Stillgestanden!“ dröhnt es über den Platz, und die jungen Menschen, die noch gar keine Soldaten sind, stehen stramm wie die Rekruten da; es kommt Bewegung in die Sache. Die Papiere werden ihnen abgenommen. „Vorwärtstreten!“ Und sie gehen in Reihen -- immer zwei zu zwei auf eines der Gebäude zu, in einen Flur hinein, bis ein „Halt!“ sie zum Stehen bringt. Dann werden Namen verlesen, und immer drei zusammen werden in einen Raum eingelassen. Es dauert eine geraume Weile, bis sie zurückkommen. Man möchte in ihren Gesichtern lesen -- aber die sind von Stein, und sie gehen geradeaus an den noch Wartenden vorbei. Wie da Minuten zu Ewigkeiten werden! Wie das Herz in immer kürzeren Stößen arbeitet und der Schweiß auf der Stirne perlt! Wenn man nur wüßte, ob alle die, die aus der Tür zurückkommen, wirklich angenommen sind! Wenn man sie doch fragen könnte! Aber, obwohl kein Stillschweigen geboten ist, steht man doch stumm da, als wäre man in einer Kirche. Feierlich ist es -- schwer und feierlich! Doch wie es immer zu gehen pflegt, so auch bei Ernst Hiller. Ganz elend vom Warten fährt er staunend auf, als er plötzlich seinen Namen rufen hört -- fühlt, wie sich seine Muskeln spannen, wie der Kopf frei wird und das Zittern in den Knien aufhört. In dem Vorraum, in den sie getreten sind, müssen sie sich entkleiden, müssen alles von sich abwerfen und treten in das zweite Zimmer, in dem ein Arzt in Feldgrau und ein Schreiber sitzen. „Sie heißen?“ „Hiller.“ „Abiturient? Alter? Schwere Krankheiten gehabt? Irgendwelche schwere Krankheit in der Familie?“ Lungen und Herz werden abgehorcht. „Ein bißchen schnell der Herzschlag! Das ist wohl nur augenblickliche Erregung? Augen sind normal, ja? -- Gut -- angenommen!“ Wie ein Paukenschlag trifft ihn das Wort: „Angenommen!“ Einen Augenblick ist er wie geblendet -- vergißt, daß er hier, wie Gott ihn geschaffen hat, vor den Herren steht und taumelt dann fast ins Vorzimmer zurück. Er nimmt gar nicht teil am Ergehen seiner beiden Freunde, und als er ein paar Minuten später hört, daß einer von ihnen wegen zu starker Kurzsichtigkeit abgewiesen ist, ist er nicht fähig, das richtig in sich aufzunehmen. Nur das eine weiß er: Er ist angenommen! Man braucht ihn! Er wird mit hinausreiten gegen Deutschlands Feinde. Und er muß seine ganze Kraft zusammennehmen, um nicht aufzuschluchzen, um die Tränen, die plötzlich so brennen, zurückzuhalten. Nun geht er ebenso ernst und stumm wie die, die vor ihm aus der Stube herausgekommen sind, an den noch Wartenden vorüber; wohin, das weiß er nicht -- er ist nur froh, als er draußen im Hof steht, wo ein leiser Sommerwind ihm um die heißen Schläfen streicht. Um fünf Uhr sind sie frei -- das Häuflein derer, die zur Kaserne gewallfahrtet waren, ist ein wenig zusammengeschmolzen, und doch ist’s noch eine stattliche Schar, der man das Wort ‚Angenommen!‘ zugerufen hat und deren Gesichter glänzen, deren Augen leuchten. Sie haben ein paar Stunden Urlaub, um ihre Sachen zu holen. Das erste, was Ernst tut, ist, daß er ein Telegramm an die Mutter aufsetzt. „Angenommen!“ Wie ein Jubelruf ist das! Was wird sie dazu sagen? Natürlich freut sie sich, muß sich freuen! Aber daß er gleich hierbleiben muß, nicht für einen einzigen Tag noch aus der Kaserne herausdarf, um ihr Lebewohl zu sagen, das wird ihr ein wenig hart sein. Aber schadet nicht! Es geht ja allen Müttern so. Krieg ist Krieg, und man darf nicht weich werden. Um sieben Uhr stehen sie alle zum ersten Appell versammelt im Kasernenhof. Die Befehle für den kommenden Tag werden verlesen: „Viereinhalb Uhr aufstehen -- Stube reinigen -- fünf Uhr Einkleidung“ -- weiter hört er nichts. Sein Kopf ist wieder benommen -- mechanisch folgt er dem Unteroffizier, der ihnen ihre Stuben anweist. Je fünfunddreißig Mann in einer Kammer. Eiserne Betten übereinander wie in Schiffskabinen. Strohsäcke und eine wollene Decke. Was dann noch kommt, geht wie im Traum an ihm vorüber. Erregt ist er und müde. Nur das eine kann er noch denken: ‚Nun hat sie das Telegramm!‘ Dreht sich noch mal auf seinem Strohsack um und schläft, ehe noch die große Lampe, die in der Mitte der Stube hängt, ausgelöscht ist -- -- Ein glücklicher Schlaf, den der kleine Hiller schläft. Traumbilder ziehen an seiner Seele vorüber. Er trägt schon die Uniform des Regiments, auf dem Kopf den hohen Kolpak. Auf einem feurigen Roß sitzt er -- -- herrlich greift das Tier aus. Um ihn herum Kanonendonner -- Kugelregen -- blitzende Lanzen -- gezogene Säbel. -- Nichts ficht ihn an. -- Für ihn gibt’s keine Kugel -- -- und alles um ihn herum staunte. Was will der? Mitten in den Feind rein -- -- und das Roß fliegt -- die Erde schwindet unter ihm -- -- irgend etwas Unsichtbares trägt ihn -- trägt ihn hoch, immer höher, bis in die Wolken hinein. -- Da -- Trompetenklang -- herrlich, wie er gen Himmel fährt -- wie die Erde unter ihm versinkt -- wie alles grau und fahl unter ihm wird, während er in überirdischen Glanz hineinreitet. „Der Kerl schläft wie ein Murmeltier. He, du da, es hat zum drittenmal geblasen!“ Zwei stehen vor seinem Bett und rütteln ihn an der Schulter. „Menschenkind, in zehn Minuten mußt du antreten!“ Erste Morgendämmerung fällt durchs Fenster in die kahle Stube. Hiller reibt sich die Augen. Wo ist er? „Raus, Mensch!“ Und da fährt er vom Strohsack auf -- in die Kleider hinein -- schnell in den Waschsaal. Gesicht und Hände gewaschen und hinunter in den Hof. Sonntag ist es. Wieder so ein Tag, der in Glanz und Glorie heraufzuziehen beginnt. In ihren Zivilkleidern stehen sie da -- manche noch verschlafen, die Haare flüchtig gekämmt, die Krawatten in Eile umgeknotet, und warten. Fremd und ängstlich stehen sie da -- wissen nicht, was sie tun sollen, und sind froh, als ein paar sogenannte ‚alte Leute‘ sich ihrer annehmen. Die weisen ihnen den Weg zur Mannschaftskantine, wo sie sich Kaffee geben lassen können, dann warten sie wieder, bis endlich der große Augenblick kommt: Befehl zur Kleiderkammer. „Vortreten!“ Wieder treten sie zwei zu zwei ein. „Arme ausstrecken!“ Und ein Rock wird an der Länge der Arme gemessen. Reithose ebenso -- eine Mütze aufgestülpt! Fertig. Noch ein Hemd, eine Unterhose, ein Drillichanzug -- eine schwarze Halsbinde. „Fertig! -- Abtreten! -- Die Nächsten!“ Die mit dem Packen auf dem Arm gehen zur Stiefelkammer und proben. Zwei Paar Stiefel pro Mann. Ein Paar hohe Reitstiefel und ein Paar braune Kommißstiefel. „Fertig, ab!“ Sonntag ist es -- also noch kein richtiger Dienst. In ihre Stuben müssen sie zurück und das Zivil in den Koffer packen. Der Kammersergeant hält eine Rede über das Instandhalten der Sachen. Alle acht Tage Revision, und wehe, wenn nicht alles in Ordnung ist! Wem das Zeug nicht paßt, der muß es sich passend machen. Um zwölf Uhr Appell in voller Uniform. Und die Haare herunter. Scheitel und Tollen gibt es nicht beim Militär. Um zwölf Uhr steht eine ganz andere Gesellschaft unten im Hof. Graugelbe Husaren, in die fünfte Garnitur gekleidet. Ganz wenige, die schon etwas vom Soldaten an sich haben, die sich schon wohl fühlen. Ein ganzer Teil sieht aus wie Jungen, die zu Weihnachten eine Soldatenuniform erhalten haben. Aber gleichgültig! Mit dem Akt der Einkleidung ist es endgültig besiegelt. Sie sind angenommen! Sie haben ihren Platz gefunden, und in ein paar Wochen -- schlimmstenfalls in zwei Monaten, geht’s hinaus in den herrlichen Kampf! Ernst Hiller hat eine Uniform, die ihm um die Brust schlottert und im Rücken tiefe Falten schlägt. Der Kragen niedrig und viel zu weit -- und die lederbesetzte Reithose hängt wie ein Rock um ihn. Er weiß das nicht -- er fühlt das nicht! Er trägt des Königs Rock -- er ist Soldat -- angenommen -- und mit dem Wort ‚Angenommen!‘ ist’s besiegelt worden, daß er ein gesunder Kerl ist, dem man was zutrauen kann. Nun steht er mit glattgeschorenem Haar, die Mütze tief in die Stirn gezogen, bei den anderen -- -- -- nun schlägt das Herz nicht mehr in zitternden Stößen. Ruhe ist in ihm -- Sicherheit ist über ihn gekommen -- -- nein -- mehr -- stolz ist er geworden, und die Brust dehnt sich -- die Haltung verliert das Hilflose -- Schlappe -- -- Er ist wert befunden worden, des Königs Rock zu tragen -- ist also nicht um einen Deut weniger als all die anderen, die mit ihm angenommen worden sind. Nach dem Appell das Mittagessen -- sie dürfen nicht aus der Kaserne heraus, weil am Nachmittag Besichtigung sein soll. Also Mannschaftsessen! Für fünfundachtzig Pfennige gibt’s einen Napf zu kaufen -- Gabel und Löffel je zehn Pfennig -- Messer tragen sie in der Tasche. Durch die Mannschaftskantine gehen sie zur Küche, darin zwei riesige Kessel auf dem Herd stehen, und zwei Mann daneben. Jeder der Husaren tritt mit seinem Napf an. Sonntag ist’s, da gibt’s Braten. Kräftiger Geruch steigt ihnen in die Nase. Jeder erhält von einem der beiden Küchenunteroffiziere drei Scheiben Fleisch, vom anderen ein paar Kellen Kartoffel und Tunke darüber, bis alles schwimmt. Im Mannschaftszimmer sitzen sie auf den hölzernen Bänken an langen Tischen und leeren ihren Napf. Für Ernst Hiller ist es ein bißchen reichlich, und es fällt ihm, wie manch anderem seinesgleichen, nicht ganz leicht, so aus dem Napf heraus zu essen. Aber keiner läßt etwas stehen. Nein, im Gegenteil, ein paar von ihnen treten zum zweitenmal den Weg zur Küche an und lassen sich eine zweite Portion verabreichen. Er ißt mit Todesverachtung. Es schmeckt wirklich gut -- vielleicht ein wenig stärker gewürzt als bei Mutter, aber das schadet nichts! Dann gehen sie, ihren geleerten Napf in der Hand, hinaus in den Hof und spülen ihn am Brunnen ab -- haben dann ein paar Stunden für sich, und Ernst Hiller benutzt gleich die erste halbe Stunde, um einen begeisterten Brief an seine Mutter zu schreiben. Der Himmel hängt ihm voller Geigen -- -- die Brust ist ihm geschwellt. Wie ist die Welt so ganz anders für ihn geworden. Alles Dumpfe, Bange, das sonst seine Seele belastet hatte, verflogen! Die Schule überwunden -- für immer! -- Donnerwetter! Das kann man wirklich immer noch nicht fassen, daß dieser Lebensabschnitt tatsächlich überwunden sein soll! Frei ist man, zieht in den Krieg und bleibt dann wahrscheinlich Offizier. Soldat ist der einzige Beruf, der wirklich Zweck hat! Das hat er auch schon der Mutter geschrieben und hat ihr einen ganz kleinen Vorwurf darüber, daß sie ihn von Kind auf zu sehr verpäppelt hat, nicht erspart. Aber schadet nichts; sie hat’s gut gemeint! Es hat ihm eben der Vater gefehlt! Wenn er einen Vater gehabt hätte, wäre natürlich manches anders gewesen. Aber das ist nun nicht zu ändern. Hauptsache, daß er trotz allem und allem angenommen worden ist, und sein Blick gleitet mit Stolz und mit Zärtlichkeit immer wieder über die verbrauchte, um seinen Körper herumhängende Uniform herab. An diesem Tag tritt noch etwas Neues in sein Leben. Sie machen nähere Bekanntschaft mit den ‚alten Leuten‘. Das sind die, die im letzten Monat ihrer Dienstzeit sind und bald ausrücken werden. Viele sind schon feldgrau, und sie machen sich über das Aussehen der Neueingestellten lustig und machen ihnen vor allem klar, daß sie sich selbstverständlich eine Extrauniform anschaffen müssen, denn so wie sie jetzt aussehen, können sie sich auf Urlaub in der Stadt nicht blicken lassen. Natürlich hat’s keinen Zweck, sich für die paar Wochen, die sie hier in der Kaserne sein werden, vom Schneider eine teure Uniform machen zu lassen. Das wäre Blödsinn. Aber ihnen, den alten Leuten, können sie ihre Gebrauchsuniform abkaufen -- für ein Spottgeld. Den Jungen leuchtet das ein. Die fünfte Garnitur, die man ihnen verabreicht hat, ist wirklich nichts weniger als schön. Es werden große Geschäfte gemacht. Die ‚alten Leute‘ haben im Handumdrehen heraus, wer von den Neueingestellten mit dem Nötigen in bar ausgestattet ist, und wissen, an der Eitelkeit zu packen. Ernst Hiller hat längst durchblicken lassen, daß er nicht unerhebliche Mittel bei sich trägt. Es hat sich auch einer von den Gedienten gefunden, der eine ganz ähnliche Figur wie er selber hat, und nach einer knappen halben Stunde ist er im Besitz einer wirklich wie neu aussehenden Uniform. Ein Paar Stiefel, die von Lackleder sein sollen, und deren Ursprungspreis auf neunzig Mark angegeben wurde -- denn sie rühren von einem Offizier her -- gleiten ihm glatt über den hohen Spann, und eine anständige Mütze sitzt ihm vernünftig auf dem Kopf. Für den ganzen Rummel hat er fünfundsechzig Mark gegeben -- ein Spottpreis, wenn man berechnet, was das ‚neu‘ gekostet hätte, und ein Spottpreis, wenn man die strahlenden, seligen Augen des kleinen Hiller in Betracht zieht. Er ist in einem Taumel von Glück und Begeisterung an diesem Tag. Um fünf Uhr müssen sie in Reih’ und Glied stehen, und ein Wachtmeister mit donnernder Stimme hält ihnen einen Vortrag über militärischen Gehorsam: „Die Zeiten sind hart, das Vaterland braucht seine Männer -- -- ein jeder hat also heute die doppelte und dreifache Pflicht, sich einzufügen und den Vorgesetzten die schwere Arbeit zu erleichtern.“ Dann die Verlesung des Dienstes für den nächsten Tag: halb fünf Uhr Wecken -- fünf Uhr Stalldienst -- halb acht Uhr Verteilung der Pferde -- --. Weiter hörte Hiller nicht. Morgen wird er also vielleicht schon auf einem Gaul sitzen. Und er ist doch und doch ein Soldatenkind und hat Soldatenblut in sich -- -- und wenn ihn die ganze Welt zum Philosophen oder Professor verdammt hat! Er pfeift auf alle Wissenschaft und Gelehrsamkeit in der Welt! Er ist Husar, er wird morgen auf einem Gaul sitzen, und in ein paar Wochen über Schlachtfelder reiten. Er ist es nicht allein, der sich auf den ersten Ritt freut. All die, die wie er aus der Schule ins Soldatentum gesprungen sind, haben einen freudigen Ruck im Herzen gespürt, als es hieß: halb acht Uhr Reiten! Der Sonntag geht glorreich zu Ende. Abends sitzen sie mit den alten Leuten in der Unteroffizierskantine, haben sich Butterbrote mit Würstchen und Kartoffelsalat geben lassen. Ernst Hiller bezahlt für den, der ihm die Uniform so billig verkaufte, mit. Auch seine Freunde halten ein paar alte Leute frei. Sie sind ja Kameraden. Wer etwas hat, gibt, und wer nichts hat, läßt sich geben. Hiller schmeißt ein paar Runden Bier, und die alten Leute erzählen tausend Dinge, die für die Neuen wichtig und interessant sind. Sie erfahren am ersten Abend von jedem einzelnen Vorgesetzten, wes Geistes Kind er ist und was man von ihm zu erwarten hat. Sie erhalten dann allerlei Winke. Auch hören sie zu ihrer Freude, daß sie gar nicht verpflichtet sind, Mannschaftsessen zu nehmen. Wer Geld hat, kann für eine Mark in der Unteroffizierskantine ein anständiges Mittagessen kriegen -- er kann auch in ein Restaurant, das der Kaserne gegenüberliegt, gehen. -- Überhaupt, wer den nötigen Mammon hat, kann sich die Sache prachtvoll deichseln. Geld ist die Hauptsache. In Ernsts Augen kommt ein kleiner Schatten. Gewiß, die Mutter wird ihm Geld geben -- sie hat ihm gesagt, er solle sich nichts versagen. Und Großmutter läßt ihn auch nicht im Stich. Aber dennoch, ein ganz kleiner Schwindel überfällt ihn, als er daran denkt, wie seine Barschaft in diesen zwei Tagen zusammengeschmolzen ist. Von den hundertundzwanzig Mark keine dreißig mehr übrig -- und er hatte geglaubt, mit hundertundzwanzig Mark wenigstens einen Monat durchzuhalten. Es wird ihm schwer fallen, die Mutter schon in den nächsten Tagen um Geld zu bitten. Aber schließlich, es waren ja lauter besondere Ausgaben, die er jetzt hatte. Alles Ausgaben, die sich nicht wiederholen; und er weiß auch, daß die Mutter ihm gern gibt, was er braucht. Der Schatten aus den Augen ist fort. Die Kameraden trinken ihm zu, Witze werden erzählt. Draußen auf dem Hof hat jemand eine Flöte und bläst darauf, und in die Kantine hinein klingt das wehmütig-lustige Lied: ‚Was nützt mir denn ein schönes Mädchen, wenn andre mit spazierengehn?‘ Da setzen die, die den Text kennen, mit ein, und schließlich singt auch der kleine Hiller mit, singt mit derselben Begeisterung wie die anderen: „Was nützt mir denn ein schönes Mädchen?“ und weiß nicht warum, aber er denkt plötzlich an das Mädchen, das an jenem Kneipabend nach dem Abitur so dicht neben ihm gesessen und zu ihm gesagt hat: ‚Sag’ Hannchen zu mir!‘ Sie trinken und singen, und ihre Augen leuchten! Wie herrlich ist die Welt -- -- -- wie wunderbar, daß Deutschland im Kampf mit seinen Feinden liegt, daß Deutschland alles aufruft, was bereit ist, zu helfen -- und daß sie mitdürfen -- sie, die vor einer Woche noch bang und zweifelnd dem Leben gegenübergestanden haben. Ernst Hiller fühlt ein Jauchzen in seiner Brust, das er kaum zu verschließen vermag. Jeden einzelnen, der ihm in den Weg kommt, hätte er umarmen mögen -- -- -- der ‚alte Mann‘, der ihm die Kleider verkauft hat, hat einen guten Tag. Da! Trompetensignale! Neun Uhr. -- -- In einer Viertelstunde müssen sie auf ihren Strohsäcken liegen. Ernst zahlt, trottet mit den anderen über den Hof, sucht seine Stube, und kaum hat er die wollene Decke über sich gezogen, ist er auch schon wieder mitten im festen Schlaf drin. * * * * * Am nächsten Morgen beginnt der erste, stramme Dienst! Jetzt erst begreifen sie, was das heißt: aus dem Bett aufspringen und eine knappe halbe Stunde später unten im Stall sein. Wer sich beim ersten Wecken noch einmal auf die Seite wirft und weiterschläft, der kann’s überhaupt nicht leisten. Am besten ist: gleich beim ersten Trompetenstoß raus -- in die Kleider fahren und rein in den Waschsaal. Man kann überhaupt noch von Glück sagen, daß es hier einen Waschsaal mit fließendem Wasser gibt. In Hunderten von Kasernen müssen sie herunter in den Hof an den Brunnen. Hier haben sie fließendes Wasser und können sich anständig waschen. Dann den Strohsack aufrütteln und das Bett ordentlich zudecken -- Stiefel reinigen -- nein, das soll schon am Abend geschehen -- Stube fegen, und wenn’s geht, noch einen Becher Kaffee erobern. Für Hiller sorgt an diesem ersten Morgen der ‚alte Mann‘, dem er die Uniform abgekauft hat. Punkt fünf Uhr stehen sie im Hof. Ein Wachtmeister und zwei Unteroffiziere sind zur Stelle. Eine kurze Instruktion. Sie alle zusammen bilden zwei Schwadronen; jede Schwadron wird in Beritte eingeteilt; zu einem Beritt gehören fünfzehn Mann, und jeder Beritt hat seinen besonderen Führer. Die Namen werden aufgerufen -- sie werden verteilt. Je fünfzehn finden sich zusammen -- Einjährige und Gemeine -- es ist alles gleich in dieser Zeit. Kriegsfreiwillige sind sie alle, und einen Unterschied gibt es jetzt nicht. Und dann in den Stall hinein! Draußen ist schon heller Tag, aber in den Ställen brennen noch die kleinen Öllaternen und verbreiten ein trübes Licht. Ein seltsamer Geruch schlägt ihnen entgegen, ein Geruch, geschwängert mit Ammoniak und dem aus den warmen Tierkörpern ausströmenden Dunst. Aber es ist ein Geruch, den man gern atmet, an den man sich im Augenblick gewöhnt. Jedes Pferd steht in seinem Verschlag, und an dem Pfosten, der je zwei Verschläge trennt, hängen Sattelzeug und Zaumzeug. Die jungen Freiwilligen folgen ihrem Berittführer, der sie der Reihe nach zu den Pferden herantreten läßt und anfängt, zu erklären. Bei der Kavallerie heißt es: erst das Pferd und dann der Mann! Das wird ihnen sehr eindringlich gemacht, wird mehrmals bei dieser ersten Bekanntschaft mit ihren Tieren wiederholt. Dann wird ihnen gesagt, was ‚Putzen‘ heißt. Der Striegel wird ihnen vorgeführt, und einer, der schon gedient hat, muß ihnen zeigen, wie ein Pferd gestriegelt wird. Acht Strich auf jeder Seite und nach jedem Strich der Striegel ausgeklopft. Das gibt einen weißen Streifen auf dem Boden; ein Strich muß neben den andern gelegt werden. Man kann also genau kontrollieren, ob vorschriftsmäßig gestriegelt wird. Jeder tritt dann vor den Verschlag, in dem das Pferd, das ihm angewiesen ist, steht, und hört mit brennendem Interesse zu. Das Sattel- und Zaumzeug wird ihnen erklärt; sie erfahren, wie der Sattel angelegt werden muß. Das ist alles sehr leicht zu fassen, und die Unteroffiziere haben entschieden eine einfachere Art, etwas begreiflich zu machen, als die Professoren des Gymnasiums. Dann hören sie, wie eine Streu zu machen ist. Aus der alten Streu muß der Mist ausgeschüttet werden. Mit dem noch trockenen Stroh wird aufgeschüttet, frisches Stroh darübergeworfen, und dann wird ‚angerollt‘; denn das ist die Hauptsache bei einer guten Streu, daß in schnurgerader Linie das Stroh an den Seiten festgerollt wird. „Verstanden?“ „Ja.“ Es wird ihnen noch das Anlegen des Zaumzeuges gezeigt, was sehr einfach erscheint. Viele von ihnen sind übrigens Burschen vom Land, die schon mit einem Pferd umzugehen verstehen. Hiller steht neben einem frischen, etwas korpulenten Jungen. Gestern abend in der Kantine haben sie schon miteinander geredet, und da sie in derselben Stube schlafen, werden sie auch wohl Freunde werden. Der Dicke, dessen Name Hipp ist, der auch aus Berlin stammt und, wie Hiller, wundervoll glatt durch ein Notabitur gerutscht ist, hat noch ein ausgeprägtes Kindergesicht: blaue, sehr gutmütige Augen, eine kurze Nase und runde, rote Backen. Ihm würde niemand den Großstadtmenschen ansehen. Der Drillichanzug, der an Hillers leichter Gestalt herumschlottert, sitzt ihm fest und prall um den Körper; er stößt Hiller in die Seite, denn alles, was er hier hört und sieht, kommt ihm sehr lustig vor. Das Pferd, an dem das Anlegen des Zaumzeuges gezeigt worden ist, wird wieder abgeschirrt -- der Wachtmeister tritt einen Schritt vor, und das Kommando erschallt: „An die Pferde!“ Jeder geht in sein Abteil und begibt sich an die Streu. Der Wachtmeister schreitet auf und nieder, beobachtet, weist zurecht, tadelt, wenn es zu langsam geht; er scheint aber zufrieden. Beim Putzen greift er, wenn es nötig ist, selbst mit an, zeigt, wie der Striegel gefaßt werden muß, wie man sich neben das Tier zu stellen hat, und erklärt weiter, wie es sich gerade ergibt. Es ist ungewohnte Arbeit für die, die aus der Stadt kommen. Aber gerade das Ungewohnte mag sie reizen. Sie sind mit Feuereifer bei der Sache, sie wundern sich über sich selbst, daß man so selbstverständlich an einem Tier herumhantiert, daß man keine Angst hat, getreten zu werden, und daß alles, was sie hier zu tun haben, so prachtvoll und einfach und leicht ist. Die Zeit fliegt hin, die Sonne steht schon längst am Himmel, als der Wachtmeister „Abtreten!“ kommandiert, und sie eilen in ihre Stuben, um den Drillich mit dem Reitanzug zu vertauschen. Hillers Gedanken fliegen ab und zu einen Augenblick zu seiner Mutter hin. Was würde sie sagen, wenn sie ihn so sähe? Schade, daß er sie nicht einmal sprechen konnte, er ist gewohnt, ihr alles, was ihm begegnet, zu erzählen. Schreiben kann man das natürlich nicht alles -- schade -- -- -- Aber zum Nachdenken ist keine Zeit. Sie fahren in die ledernen Reithosen -- quälen sich in die ungewohnten, hohen Stiefel. Sie haben Eile, denn der Reitunterricht würde bis Mittag dauern, und man muß sehen, daß man noch einen Augenblick in die Kantine kann, um etwas zu frühstücken. Man hat hier andauernd ein Hungergefühl. Hipp geht neben Hiller und erzählt, daß er noch keine Extrauniform gefunden habe, weil sie ihm alle zu eng seien. Er wird aber mal an seinen alten Herrn schreiben, ob der ihm eine ‚neue‘ zubilligt. Der alte Herr ist Fabrikant und kann etwas springen lassen, wird es auch totsicher tun. „Seit der Krieg ausgebrochen ist, haben die Väter eine prachtvoll freigebige Art ihren Söhnen gegenüber. Deiner doch auch?“ „Ich habe keinen Vater mehr,“ sagt Hiller -- sagt es aber ganz heiter, so daß Hipp nicht nötig hat, sein lustiges Gesicht zum Ernst zu zwingen. Sie essen wieder Würstchen mit Kartoffelsalat, denn das ist am praktischsten, weil man es schnell herunterschlingen kann und wenigstens für einen Augenblick satt wird, wenn man sich zwei Paar geben läßt. Dann geht’s los. Der Wachtmeister steht schon wieder vor dem Stall. „Satteln!“ ertönt das Kommando. „Trense anlegen, Kandare fortbleiben!“ Sie greifen zum Zaumzeug und legen es an, so gut es gehen will. Die Sonne glitzert lustig über den Reitplatz, als sie endlich, erhitzt und aufgeregt, ihr Pferd am Zügel, aus den Ställen heraustreten. Der Reitplatz ist ein gewaltiger, viereckiger Hof. Einige Beritte sind schon aus den Ställen heraus. „Aufsitzen!“ schallt das Kommando. „Rechts und links am Zwiesel anfassen und aufschwingen!“ Die Zwiesel, die vorn und hinten am Sattel liegen, werden umspannt, ein mächtiger Schwung -- und ein ganzer Teil von den Fünfzehn sitzt glücklich oben. Andere aber strampeln mit den Beinen -- rutschen mit dem Bauch in die Höhe und bekommen das Bein nicht hinüber. Hiller ist nicht ganz korrekt heraufgekommen, aber er sitzt doch oben und weiß selbst nicht, wie das zugegangen ist. In diesen Augenblicken empfindet er nichts von dem großen Glück, von dem er geträumt hat, wenn er zuerst auf einem Gaul säße. Er möchte sich an irgend etwas festhalten -- möchte dem Tier in die Mähne greifen, um Sicherheit zu haben -- es ist ihm sehr unbehaglich zumute. Und zehn Schritte von ihm entfernt steht der Berittführer mit dunkelrotem Kopf und schreit und brüllt, was das Zeug hält: „Kerls, wollt ihr ewig in der Luft rumangeln? Marsch rauf! Was, es will nicht gehen! Teufel noch mal! Du Mehlsack!“ Er ist an Hipp herangetreten, der nun als einziger noch vergeblich sucht, seinen wohlgenährten Körper auf das geduldig dastehende Tier zu schwingen. Ein ‚alter Mann‘ hat ihnen gestern erzählt, daß es bei jedem Beritt einen Unglückswurm gibt, der die Sache nie begreifen lernt, der nie ohne Schwierigkeit auf sein Tier heraufkommen wird. Hier in diesem Beritt ist der gute, dicke Hipp der Unglückswurm, denn er strampelt immer noch mit den Beinen, kommt ein Stück in die Höhe und rutscht wieder hinab. Der Wachtmeister steht dicht bei ihm und brüllt: „Kerl, sein Pferd ist doch keine Rutschbahn -- du bist doch hier nicht auf einem Jahrmarkt -- los -- wirf doch das Bein über!“ Und wie es gar nicht gelingen will, packt der Wachtmeister mit wuchtigem Griff in die Reithose des Dicken hinein und schiebt ihn hinauf. Nun sitzt Hipp oben und hat ein viel vergnügteres Gesicht als die, die sich mit eigener Anstrengung heraufgebracht haben. Die Sonne brennt lustig vom Himmel herab und verspricht einen heißen Tag, und der Wachtmeister, der sich beruhigt hat, steht vor ihnen und hält ihnen einen langen Vortrag über den richtigen Sitz, über Körperhaltung und die verschiedenen Gangarten der Pferde. Dann das Kommando: „Abstand!“ und der Spitzenreiter der schon ein halbes Jahr gedient hat, führt an -- der Zug der anderen nach. Sie sitzen ängstlich, windschief und vorgebeugt auf ihren Tieren. „Na, nu mal richtig los! Eskadron in langsamem Arbeitstempo -- Te -- -- rab!“ Die Gäule gehen los; der schon erfahrene Spitzenreiter sitzt wundervoll gerade und korrekt da. Die anderen wackeln hinter ihm her. Aus vielen Gesichtern spricht die bleiche Angst -- -- die Hände greifen in die Mähnen -- die Beine machen unsichere Bewegungen. Hipp hängt auf einer Seite seines Gauls, er ist im Fallen begriffen -- man sieht es deutlich, daß er sich nicht halten wird. Aber er fällt langsam. Glied für Glied rutscht hinab, und das lustige Gesicht hat einen Ausdruck leiser Verzweiflung; scheußlich, diese Ungewißheit, ob man im nächsten Augenblick wieder oben ist oder herunter muß. Aber die Lage wird immer bedenklicher -- der Körper rutscht mehr und mehr nach links -- und da faßt Hipp einen kurzen Entschluß, läßt das Bein, das noch oben ist, heruntergleiten, und fliegt ab in den weichen Sand. Verletzt hat er sich nicht, aber er ist doch sehr verdutzt. Es ging plötzlicher, als er gedacht hatte. Das Pferd bleibt still und treu bei ihm stehen und sieht sich nach ihm um. Der Wachtmeister ist dicht zu ihm herangetreten und sagt zunächst gar nichts. Schweigend und höhnisch sieht er auf ihn nieder, und Hipp, wie ein von der Schlange hypnotisierter Vogel, bleibt bewegungslos im Sand liegen und sieht seinem Vorgesetzten treuherzig ins Gesicht. Endlich löst sich des Wachtmeisters Schweigen. Gar nicht unfreundlich sagt er: „Mensch, hast du vor, dich hier gleich begraben zu lassen?“ Und da erhebt sich denn Hipp, und obwohl er sich nicht den geringsten Schaden zugefügt hat, geht er humpelnd und hinkend zu seinem Pferde zurück. „Na -- nun werden wir mal einen Galopp versuchen!“ Da nehmen die Gesichter einen aufgeregten Ausdruck an, und einige werden bleich wie Linnen. Der Wachtmeister aber kommandiert: „Ganze Eskadron te -- rab -- Galopp!“ Die Pferde fallen in Galopp, und die jungen Reiter sind angenehm überrascht, weil Galopp nicht halb so unangenehm ist als der verfluchte Trapp. Auch Hipp bleibt oben; er schwankt ein bißchen bedenklich hin und her, hält sich aber und hat wieder sein lustigstes Gesicht. Der Wachtmeister steht in der Mitte und scheint zufrieden. Er kommandiert: „Schritt und Halt!“ Und dann sagt er sehr leutselig und gutmütig zu seinen Jungen: „Bloß keine Angst haben! Es wird sich schon alles machen! Ihr könnt auch ruhig mal in die Zwiesel greifen!“ Dann haben sie einen Augenblick Ruhe, und Hiller fängt nun doch an, etwas von dem erträumten Glück zu verspüren. Nachher aber folgen zwei schwere Stunden, in denen sie Schritt reiten müssen und in denen die freudige Begeisterung erheblich abflaut. Hoch steht die Sonne am Himmel, und der ganzen Gesellschaft perlt der Schweiß auf der Stirn, als es endlich heißt: „Absitzen!“ Sie führen die Gäule in den Stall, nehmen Sattel und Zaumzeug herunter und reiben mit großen Strohwischen das Fell der erhitzten Tiere ab. Dann müssen sie wieder heraus, und der Wachtmeister sieht zu, wie sie die Hufe auskratzen und waschen. Bei dieser Arbeit läßt Hipp nichts zu wünschen übrig. Und auch das Striegeln geht ihm glatt von der Hand. Der Wachtmeister ist immer dicht an seiner Seite und ist vielleicht enttäuscht, keine Gelegenheit zum Losbrüllen zu finden. Schweigend, den Mund im leichten Hohn verzogen, steht er da, und manchmal trifft ihn ein guter, vertrauensvoller Blick von Hipp, der sich über den Wassereimer beugt. „Einjähriger?“ fragt er ihn, und Hipp sagt leuchtenden Auges: „Zu Befehl, Herr Wachtmeister, Abiturient!“ Der sagt nichts und wendet sich um zu denen, die die Futterkarren heranschieben. Das Futter wird jedem einzelnen zugemessen; sie füllen ihre Eimer mit Wasser zum Tränken und dann sind sie frei. Hillers Pferd hat den Namen ‚Arbeiter‘. Er hat schon Sympathie für sein Pferd gefaßt und klopft ihm den Hals. Hipp sagt: „Das verfluchte Biest, das sie mir zugeschustert haben, heißt ‚Anton‘“, und er versetzt ihm einen Schlag aufs Hinterteil, der schon keine Liebkosung mehr ist. Dann hängt er sich an Hillers Arm und sagt: „Mensch, du hast doch nicht die Absicht, den Mannschaftsfraß zu essen? Zum wenigsten gehen wir doch in die Unteroffizierskantine, wo man von Tellern ißt.“ Hiller zögert einen Augenblick, denn er möchte wirklich nicht gern zu schnell um neues Geld bitten. Aber mit einem Ruck wirft er die Bedenken beiseite. „Gut, gehen wir in die Unteroffizierskantine.“ Und dort wird ihnen für eine Mark ein sehr anständiges und reichliches Essen serviert, das sie durch eine Berliner Weiße noch verbessern. Hipp holt dann noch zwei Stück Pflaumenkuchen zum Nachtisch. Ein paar alte Leute treten zu ihnen und werden zum Glas Bier eingeladen, und dafür kramen die wieder allerlei Erfahrungen und gute Lehren aus und versichern vor allem, daß nur die ersten Tage schlimm und anstrengend sind. Nachher spürt man es gar nicht mehr, daß man vom Morgen bis zum Abend auf den Beinen ist. Das ist besonders für den kleinen Hiller eine tröstliche Aussicht. Denn er fühlt sich schon jetzt scheußlich schlapp, alle Knochen tun ihm weh und noch liegt der lange Nachmittag vor ihm. Am liebsten möchte er jetzt die Augen zufallen lassen und eine Stunde schlafen. Aber erstlich weiß er nicht wo, denn hier auf dem Holzstuhl der Unteroffizierskantine kann er den Kopf nicht hintenüber lehnen, und dann hat er eine heiße Angst, man könnte ihn vielleicht nachträglich noch als zu schwach erkennen und ihn wieder heimschicken. Er hat sein Leben lang immer alles gekonnt, was er wirklich gewollt hat, und so wird er auch jetzt das bißchen Müdigkeit und Hüftweh überwinden. Hipp holt sich eine Tasse Kaffee, weil die wieder lebendig macht, und Hiller folgt seinem Beispiel. Der Kaffee tut seine Schuldigkeit: sie werden wieder mobil und sind völlig frisch, als sie um halb drei Uhr zum Fußdienst antreten. Der Fußdienst ist heute nur eine Vorbereitung für das, was später kommen soll. Sie erhalten Unterricht im militärischen Grüßen und Verhalten den Vorgesetzten gegenüber, und ganz besonders wird ihnen noch einmal ein Vortrag über militärischen Gehorsam gehalten. Der späte Nachmittag trifft sie wieder im Stall. Ein jeder hat sich in der Kantine einen Beutel mit Putzzeug kaufen müssen, und sie putzen und reiben an Sattel- und Zaumzeug herum. Hipp erzählt Berliner Witze und vor allem von einem kleinen blonden Mädchen, das ihm versprochen hat, jeden Tag einen Brief zu schreiben. Na, er wird ja nachher beim Appell sehen, ob sie Wort hält. Beim Abschied hat sie sich fast die Augen ausgeweint, denn sie kennen sich seit einem halben Jahr und wollen sich treu bleiben. Hiller schwankt einen Augenblick. Seine Gedanken fliegen zu Hannchen, aber er bringt es nicht fertig, auch seinerseits etwas über Hannchen zum besten zu geben. Gegen Abend tritt einer, den er erst vom Ansehen kennt, zu ihm heran und zieht ihn in eine Ecke. „Mensch, können Sie mir die Gefälligkeit erweisen und mir mit fünf Mark aushelfen? Ich bin in Verlegenheit!“ Und Hiller, der noch nie jemand angepumpt hat, zieht prompt seinen Brustbeutel heraus und gibt ihm, nicht ganz leichten Herzens, das Verlangte. Nun muß er also doch die Mutter schon um Geld bitten. Beim Appell werden die Postsachen verteilt. Hipps Gesicht strahlt, denn sein Mädchen hat Wort gehalten und ihm einen Brief geschrieben. Aber auch Hiller geht nicht leer aus; es ist ein Paket und ein Brief für ihn da. Das Paket ist mit Eilpost gekommen und enthält all das, was er der Mutter schon in Berlin für den Fall seiner Annahme aufnotiert hatte, und im Brief, der dem Paket beiliegt, findet er einen Zwanzigmarkschein. Der andere Brief ist von Großmutter, und auch er enthält eine angenehme Einlage. „Famos!“ Und sein Gesicht strahlt mindestens so hell wie das des guten Hipp, der den Brief seines Mädchens zum drittenmal liest. * * * * * Der Krieg rauscht mit rasender Eile, mit nie geahntem Entsetzen, unsäglichen Greueln durchs belgische Nachbarland! Was ist nicht geschehen in diesem halben Monat, seit der Krieg begann! Ist man ins Mittelalter zurückgekehrt? Ist alles, was Jahrhunderte in eifrigem, rastlosem Fleiß an der Kultur gearbeitet haben, ganz umsonst gewesen? Wer ein leicht erregbar Herz hat in diesen Tagen des Entsetzens, der ist verloren. Wer so geartet ist, daß er sich dem Leid, dem Weh, das den Mitmenschen heimsucht, nicht verschließen kann und will, der weint Tränen in diesen Tagen, die schlimmer sind, als das Blut, das aus schmerzender, brennender Wunde fließt. Ein jeder leidet, ein jeder kämpft am Morgen, damit er den Tag und das Furchtbare, das er finden kann und wird, ertragen könne. Deutschland hat ein Ehrenband bekommen, das alle Herzen zusammenschmiedet, alles Kleinliche, alles Alltäglich-Gemeine ist über Bord geworfen, jetzt bei Beginn dieses grauenvollen Krieges. Ob es so bleiben wird, wer mag es wissen? Ob auch ein Krieg, ob Greuel und Tod und Mord zur Gewohnheit werden können, und einen nüchternen Alltag wieder aufkommen lassen, wer mag es wissen? Für den Augenblick zum wenigsten scheint alles zu schweigen; für den Augenblick hat auch der Armseligste vergessen, daß er ein Einzelwesen ist und kleine und große selbstische Wünsche im Herzen trägt. Jetzt spricht eine furchtbare Stimme zum deutschen Volke. Feind um Feind ist aufgestanden; die ganze Welt scheint sich verbunden zu haben, um das Land, das Volk, das niemandem etwas zuleide tat, das nichts weiter tat, als rastlos voranzustreben, zu vernichten. Kann Gott das geschehen lassen? Kann Gott, der Allgerechte und Allgütige, das wollen? ‚Nein, nein und tausendmal nein!‘ braust es von den Kanzeln herab. ‚Das kann Gott nicht wollen! Gott kann nicht zugeben, daß das einzig schuldlose, gerechte Volk einer Meute von gemeinen, habgierigen, verlogenen Feinden unterliegen soll.‘ Die Kirchen sind überfüllt in dieser Zeit. Nicht aus Angst, nicht aus kleinen Motiven sitzen auch die auf den Kirchenbänken, die sonst in Jahren das Gotteshaus nicht betreten haben. Es geht nicht anders; man muß heraus aus der gewohnten Umgebung -- man muß es laut und mit heißer, inbrünstiger Sicherheit verkünden hören: „Das kann Gott nicht wollen! Das darf und wird nicht sein, daß der Schuldlose vernichtet wird, und daß Neid und Mißgunst und schnöde Habsucht siegen werden!“ Die Welt ist in Aufruhr. Wer sich nie zuvor gesehen, spricht jetzt mit dem andern, als sei er seit Jahren sein Freund. Wer schon ein heißes Herzweh erfahren hat, schon Mann oder Kind hergeben mußte, der wird um seines Schmerzes willen geliebt und geehrt von jedem, der von seinem Unglück erfährt. Es ist unsäglich schwer und doch schön, in dieser Zeit zu leben! Mag sein, daß unsere Enkel uns dereinst beneiden, wenn wir ihnen die Geschichte des Krieges von 1914/15 erzählen -- mag sein, daß wir uns am Ende unserer Tage uns selbst segnen, in dieser Zeit gelebt zu haben -- jetzt aber blutet das Herz aus tausend Wunden, und wer eine tätige Phantasie hat, der hüte sich, ihr freie Zügel zu lassen. Wer kann noch ruhig und frohgemut an seinem Tisch sitzen und sein täglich Brot verzehren? Wer muß nicht derer gedenken, die Haus und Heimat verlassen mußten, die schon den Krieg in nächster, allernächster Nähe sahen? Glücklich -- gesegnet die, die draußen sind, die alles von sich abgeworfen haben und sterben oder siegen wollen! Sie brauchen nicht zu denken, sie haben nicht das quälende, bittere Gefühl der Zurückbleibenden, der Abwartenden, die unter der Sicherheit, in der sie noch leben, leiden, während die draußen Blut und Leben für sie hingeben. Und glücklich auch jene ganz Jungen, die in heller, heiliger Begeisterung ihren Einzug in die Kasernen gehalten haben -- jene allerbegeistertsten, die am liebsten von der Stelle weg in den Kampf gezogen wären, da, wo er am wildesten und blutigsten tobt! Seltsames haben sie erfahren in den Tagen, die nach Schulabschluß, nach der vermeintlichen Freiheit für sie kamen. Die Begeisterung ist so still geworden; die heiße Freude, mittun zu dürfen, ist gedämpft. Sie kommen überhaupt nicht mehr recht zum Denken. Die jungen, verwöhnten Körper müssen Unglaubliches leisten; die feinen Stadtjungen müssen so Ungewohntes hören, und der Schlaf ist so kurz bemessen. Aber schadet nichts, schadet nichts! Nur nicht schlapp werden, nur aushalten! Es geht ja auch, man muß nur wollen, mit aller, aller Kraft muß man wollen! Manchmal bekommt man ein Zeitungsblatt in die Hand und liest, was sich draußen in der Welt abspielt. Aber man faßt es nicht ganz. Man hat auch immer das Gefühl: ‚Ja, wenn ich erst dabei wäre!‘ Und es ist gut, daß sie so denken, denn wenn nicht ein jeder von sich selbst das Gefühl hätte, daß er riesenhafte, ganz unerhörte Kräfte in sich trägt, wie sollte dann der Krieg gegen die Übermacht geführt werden können? Einstweilen aber heißt es für diese Jüngsten im deutschen Reiche: ‚Drill -- Drill -- Drill!‘ und putzen und Stuben fegen und am Abend todmüde auf den Strohsack fallen. Der kleine Hiller kämpft in diesen ersten Tagen einen verzweifelten Kampf. Es ist scheußlich! -- Er fühlt, daß er den Willen, den er mit eiserner Kraft zügelt, nur einen Augenblick locker zu lassen braucht, dann ist’s aus. Jeder Knochen im ganzen Körper tut ihm weh! Todmüd’ fühlt er sich vom Morgen bis zum Abend. Die Hände sind vom ewigen Putzen aufgerieben, die Füße brennen, er hat das Gefühl furchtbarer Mattigkeit -- hat ewig das Gefühl, hungrig zu sein, aber wenn das Essen vor ihm steht, schmeckt es ihm nicht. Scheußlich! scheußlich! scheußlich! Einer von ihnen ist schon schlapp geworden und hat um Entlassung gebeten. Hinter dem haben sie alle hergelacht, und der Wachtmeister hat sein niederträchtigstes Gesicht aufgesetzt, als er ihm den Entlassungsschein gab. Dies höhnische Gesicht des Wachtmeisters hat sich in Hillers Herz wie mit blutiger Schrift eingegraben. Nein, eher sollen sie ihn halbtot vom Platze tragen, ehe er seiner Schwäche nachgibt. Hipp sagt eines Tages seelenruhig zu ihm: „Wenn mir die Sache zu toll wird, schwenke ich ab. Ich hab’ mich doch zum Teufel nicht als Kriegsfreiwilliger gemeldet, um Stuben aufzuwaschen und Sattelzeug zu putzen!“ Aber dabei lacht er und sieht wundervoll gesund aus. Doch es soll noch schlimmer kommen. Der Oberleutnant schreitet eines Tages durch die Ställe, und ein heiliges Kreuzdonnerwetter tost nach dem anderen herunter. „Was ist das für eine heillose Schweinerei! In den Ställen ist überhaupt kein Boden mehr zu sehen; halbfußhoch ist der Mist festgetreten, als ob seit drei Monaten hier nicht gesäubert worden wäre!“ Der Wachtmeister erklärt dem Oberleutnant die Ursache. Selbstverständlich sieht hier nicht alles so aus wie in anderen Jahren. Man hatte über all der Aufregung keine Zeit, die alte Ordnung und Reinlichkeit aufrechtzuerhalten. Aber was nutzt das alles? Die Ställe müssen wieder ordnungsmäßig aussehen. Also Freiwillige vor und ausmisten! Hiller hat wieder falschen Sitz gehabt und ist vom Bügelriemen gescheuert worden; das Bein ist ganz wund. Anderen ist’s viel schlimmer ergangen -- ja, einen, der einen Tritt vors Schienbein bekam, und der vor lauter Schmerz laut aufgeschrien hat, mußten sie unter einem Hagel von Flüchen ins Revier schaffen. Aber der kleine Hiller ist noch so furchtbar empfindlich. Wenn er den ganzen Morgen lang schlapp, faul und schläfrig gescholten wird, fängt er an, sich unglücklich zu fühlen. Einer von den Wachtmeistern, der es gut mit ihnen meint, hat ihnen in einer längeren Rede erklärt: „Selbstverständlich kann man euch nicht mit Kosenamen benennen, und wenn mal ein derbes Schimpfwort fliegt, dann müßt ihr das eben hinnehmen und euch sagen, daß eurem Wachtmeister auch mal die Galle überläuft!“ Diese Erklärung hat ihnen wohlgetan. Das wissen sie natürlich, daß beim Drillen geschimpft wird, das gehört einfach dazu. Aber dennoch: wenn der Wachtmeister sich einen einzelnen heraussucht und den einen ganzen Vormittag nicht wieder losläßt, und wenn dieser arme Teufel dazu ein empfindsames Gemüt hat, dann ist das doch eine sehr niederträchtige Sache. Dem armen kleinen Hiller ist’s zum Tode weh zumute. Soll er jetzt an Hipps Stelle treten und der Unglückswurm seines Beritts werden? Rot ist sein Kopf, und der Schweiß steht ihm in dicken Tropfen auf der Stirn, als es endlich ‚absitzen‘ heißt. „Eine Viertelstunde Mittagspause -- Kommando, in der Mannschaftskantine zu essen -- dann Drillichanzug anziehen und zum Ausmisten in den Stall antreten!“ Sie sind wütend; sie kommen sich gedemütigt vor -- diejenigen wenigstens, die von den hohen Schulen gekommen sind, um dem Vaterland zu dienen. Heißt das auch noch dem Vaterland dienen, wenn sie Ställe ausmisten? Hipp ist nur über den Zwang, den Mannschaftsfraß essen zu müssen, aufgebracht. Mit ihren Näpfen treten sie an. Weiße Bohnen und Speck gibt’s und duftet herrlich. Und -- Teufel, ja -- schmecken tut es großartig! Das müssen sie trotz ihrem Ärger zugeben. Hipp läßt sich seinen Napf zum zweitenmal füllen. Es geht in fliegender Eile. Hinauf in die Stuben, aus den Reithosen heraus und in den Drillich hinein. Hipp holt ein rosa Briefchen aus seiner Rocktasche: „Da, lies mal!“ Er gibt es Hiller. ‚Mein süßer, geliebter Schatz!‘ liest der und wirft den Brief Hipp wieder zurück. Was gehen ihn Hipps Liebesbriefe an? Es ist überhaupt gemein von dem, daß er sie in der Kaserne vorliest und sich damit brüstet. „Der blasse Neid,“ sagt Hipp, hält sich aber doch freundschaftlich an Hillers Seite. Unten steht schon der Wachtmeister und brüllt sie an: „Freiwilliger Hiller, wissen Sie nicht, daß Sie Stallwache haben?“ Hiller ist erstaunt, daß er mit ‚Sie‘ angeredet wird. „Zu Befehl, Herr Wachtmeister! Ich war nur zum Essen in der Kantine und habe den Reitanzug ausgezogen.“ „Wenn ich noch einmal einen, der Stallwache hat, nicht auf seinem Posten treffe, gebe ich Arrest!“ sagt der Wachtmeister und wendet sich ab. Es werden kleine, scharfe Harken an die Freiwilligen verteilt, denn der Mist ist so festgetreten, daß sie ihn losklopfen müssen. Der dicke Hipp kniet im Schweiße seines Angesichts da und klopft, ist aber nicht aus der Laune zu bringen und reißt Witze. Sobald der Wachtmeister außer Sicht ist, lachen sie alle mit ihm; er hat eine ungeheuer komische Art, seine Vorgesetzten nachzuahmen. Selbst Hiller kann nicht ernst bleiben, wenn Hipp seine Possen treibt. Dieser harmlos aussehende dicke Mensch hat es faustdick hinter den Ohren. Er ist frech und kühn, sobald der Wachtmeister den Rücken gekehrt hat, und sieht wie ein Gotteslamm aus, wenn er ihm gegenübersteht. Sein prachtvoller Humor und seine strotzende Gesundheit bringen ihn über alle Widerwärtigkeiten hinweg. Und an diesen beiden glücklichen Gaben fehlt es dem armen Hiller so sehr! Wohl hat er Verständnis für Humor; ja, in einem ganz kleinen Winkel seiner Seele sitzt etwas vom Schalk, der sich ganz selten einmal etwas hervorwagt, aber gleich ängstlich verschwindet, wenn ein Schatten auf den Weg seines Lebens fällt. Und mit seiner Gesundheit ist es auch eine eigene Sache. Krank ist er nicht -- -- -- aber auch nicht recht widerstandsfähig. Müd’ -- schlapp -- kaputt! Auch jetzt tut ihm der Rücken infam weh, das vielfach am Lederzeug aufgescheuerte Bein schmerzt und, was das Schlimmste ist, die große, schöne Begeisterung ist fort, ist einfach weggeflogen. Sehnsucht nach dem stillen geistigen Leben ist erwacht. Er gedenkt der Abende mit der Mutter. Sie haben zusammen auf dem Sofa gesessen, und entweder hat sie gelesen, oder er hat ihr erzählt, und sie waren beide stumm geblieben, und die Mutter hat ihm den Arm um die Schultern gelegt. Hipp erzählt nun doch wieder von seinem blonden Mädchen, und Hiller hört zu, ohne es zu wollen. Er erzählt sehr anschaulich -- er verrät kolossale Kenntnisse, die er freiwillig zum besten gibt. Dabei schaufeln sie Berge von Mist vor sich auf, und draußen rollen zwei Freiwillige Karren an, um den Mist zum Dunghaufen zu bringen. Hipp und die zwei anderen, die zusammen arbeiten, sagen: „Schaufeln her!“ Aber es sind keine Schaufeln da. „Hiller, du hast Stallwache, du mußt für Schaufeln sorgen!“ Hiller weiß wohl, daß er Stallwache hat, das heißt, daß er die ganze Nacht über mit einem anderen, der ihn alle zwei Stunden ablösen muß, im Stall zu bleiben hat, aber er sieht deshalb nicht ein, warum er es gerade sein soll, der für Schaufeln zu sorgen hat. „Geh du doch,“ sagt er zu Hipp; und Hipp geht auch, kommt aber mit leeren Händen zurück. „Tatsache, Hiller, du mußt gehen -- der Wachtmeister weiß auch, daß du Stallwache hast!“ Da macht sich Hiller zum Wachtmeister auf. Stramm, die Hacken zusammengeklappt, steht er vor ihm. „Verzeihung, Herr Wachtmeister, wir möchten um Schaufeln bitten!“ „Schon wieder einer! Kerls, was wollt ihr denn mit den Schaufeln?“ „Zu Befehl, Herr Wachtmeister, den Mist in die Karre laden!“ „Dämlack!“ schrie ihn der Wachtmeister an. „Wozu hat Gott euch denn eure natürlichen Schaufeln gegeben?“ Dreht sich um und läßt den kleinen Hiller abziehen. Sie werfen nun den Mist mit ihren Händen in die blauen Arbeitsschürzen, die sie tragen, und leeren ihn in die Karren. Die alten Leute, die vorübergehen und die nicht mitzutun brauchen, lachen sie aus. „Das schmeckt gut, was? Nach so einer Ausmisterei ist man für zwei Tage satt und braucht nichts zu essen!“ Es ist ihnen gleichgültig geworden. Auch dem dicken Hipp tut jetzt der Rücken weh -- aber der Wachtmeister treibt zur Eile an. „Bis zum Appell muß der Boden blank und glatt wie Parkett sein.“ Nein, sie wissen es nicht mehr, daß Deutschland gegen eine Welt von Feinden streitet, und daß sie mit so heißer Hingabe in die Kasernen gezogen sind, um in ein paar Wochen mitzutun. Sie knien vor ihrem Misthaufen und sind stumpf und müd’ geworden. Denken überhaupt nicht mehr an das Große, Gewaltige, das draußen in der Welt vor sich geht -- -- -- denken nur noch an sich selber und an ihre eigenen Leiden, an den schmerzende Rücken und an den Durst, den sie nicht löschen dürfen. Und der verärgerte Wachtmeister brüllt sich die Kehle wund, weil es nicht schnell genug geht. Die müden Hände hacken, Schürzen werden gefüllt, und die Karren rollen hin und her. Um sechs Uhr ist der letzte Karren weg. Nun Wasser holen -- zehn, zwanzig Eimer Wasser und schrubben, was das Zeug hält. Der Wachtmeister reißt Hiller seinen Besen aus der Hand. „Kerl, willst du mir einen Tango vortanzen?“ Und er macht ihm das Schrubben auf energische Weise vor. Nun geht es glatt weiter. Die Wasserplantscherei hat etwas Lustiges. Hipp läßt das schmutzige Wasser hoch gegen die anderen aufspritzen. „Das müßte mein Mädchen sehen!“ sagt er. Er denkt nichts anderes als sein Mädchen. Den ganzen Tag spricht er von ihr. Der Oberleutnant kommt zum Revidieren. Er ist zufrieden. „Antreten zum Appell!“ Hipp bekommt seinen erwarteten Brief und schmunzelt. Hiller geht leer aus. Er läßt den Kopf hängen und kehrt in den Stall zurück. Die anderen sind jetzt frei und können in die Kantine oder in die Stadt gehen. Er aber sitzt auf einer Futterkiste im Stall und sieht trübe vor sich hin. Der ‚alte Mann‘ der mit ihm die Wache hält, fragt: „Soll ich Essen holen?“ Das bedeutet natürlich, daß er auf Hillers Kosten für sie beide Essen holen will. Hiller zieht einen Taler aus seinem Brustbeutel heraus, und der andere kommt bald mit einem Arm voll Butterbroten, mit mehreren Paar Würstchen und zwei Flaschen Bier zurück. Sie essen gemeinsam auf ihrer Futterkiste und schwatzen, bis die Sonne sinkt. Um neun Uhr legt sich der ‚alte Mann‘ ins Stroh, zieht einen Woilach um sich, und Hiller bleibt allein. Regungslos bleibt er auf seiner Futterkiste sitzen. Der Rücken schmerzt, und ins arme Herz ist ein Leid gezogen, so schwer, so heiß, daß er’s kaum zu ertragen vermag. Die Öllaternen im Stall werfen trübe Lichter um sich. Die Halfterketten klirren -- der warme Dunst aus all den Tierleibern strömt stark und erregend zu ihm hin. Er muß an all das, was Hipp ihm die Tage über von seinem Mädchen erzählt, denken. In Hillers Kopf will es nicht hinein, daß man von einem Geschöpf, für das man Liebe und Verehrung empfindet, vor anderen sprechen kann. Im Anfang hat es ihn angewidert, wenn Hipp von dem Mädchen sprach; aber man kann schließlich die Ohren nicht zustopfen, wenn einer so ständig von derselben Sache erzählt. Und jetzt, in dieser halbdunklen Einsamkeit, in dieser tiefen Sehnsuchtsstimmung, in dieser warmen, von einem erregenden Duft erfüllten Luft steigt heiß und drängend im armen, kleinen Hiller ein bisher ungekanntes Verlangen auf. Tränen fließen ihm aus den Augen. Die Hände haben sich zu Fäusten geballt -- weh, furchtbar weh ist ihm ums Herz. Ein Pferd hat den Kopf aus dem Halfter gelöst und versucht auszubrechen. Er springt hin und bekommt es zu fassen, bevor es draußen ist. Das Tier schnuppert an ihm herum und läßt sich willig anketten. Er schleicht zu seiner Futterkiste zurück; er sitzt und seine Gedanken fliegen zur Mutter. Wo mag die sein? Ob sie allein zu Hause sitzt? Ob sie zur Großmutter gefahren ist? Er sieht sie vor sich, hört sie reden, sieht sie weinen. Natürlich weint sie um ihn. Die Trennung mag schwer auf ihr lasten. Bislang hat er noch nicht recht darüber nachgedacht, wie einsam es um sie sein muß. Nun aber kommt es plötzlich über ihn. Die traulichen Zimmer, in denen er mit ihr gelebt hat, sieht er vor sich. Die Bilder an den Wänden leuchten zu ihm herab. Er sitzt mit ihr in der halbdunklen Sofaecke, den Kopf an sie geschmiegt. Wie schön waren diese Abende mit ihr gewesen! Wie schön dies ganze stille, einfache Leben! So geborgen, so warm! Wenn man etwas auf dem Herzen gehabt, hat man’s abends der Mutter gesagt, und alles war gut gewesen. Und hat sich doch eigentlich immer nach was anderem gesehnt. Hat immer gerechnet, wieviel Vierteljahre man noch auf der Schulbank zu sitzen und abzuwarten hat, bis das eigentliche Leben kam. Und nun ist dies eigentliche Leben da -- nun ist man ganz plötzlich aus allem herausgeschleudert worden! Man ist Soldat geworden und will fürs Vaterland kämpfen. So stolz, so glücklich, so begeistert ist man gewesen. Warum nur? Für was nur? Man hört ja nichts mehr vom Krieg. Man tut ja nichts, gar nichts zur Sache. Den ganzen Tag wird man angeschnauzt -- Schimpfnamen fliegen einem um den Kopf. Man mistet Ställe aus und putzt seine Pferde. Das hat man doch nicht gewollt! Dafür ist man doch nicht hierher gekommen! Und der kleine Hiller, der sich jeden Tag von neuem freuen muß, wenn er überhaupt glücklich auf sein Pferd hinaufkommt und sich oben behaupten kann -- der kleine Hiller, den jedes Glied am ganzen Körper schmerzt, der einen geradezu verzweifelten Kampf gegen Schwäche und Schlappheit kämpft, hat in dieser stillen, todeinsamen Nachtstunde das Gefühl, daß ihm ein großes Unrecht geschieht, weil man ihn hier noch festhält, statt ihn in Kampf und Begeisterung ziehen zu lassen. Alles ist häßlich und traurig und verzerrt in dieser Nacht. Namenlos öd und einsam die ganze Welt! Unerträglich das Leid und die heiße Sehnsucht im Herzen! Die Sehnsucht nach irgend jemandem, der gut zu ihm ist, der warm und lieb zu ihm spricht -- -- der die Arme um ihn legt -- ihn küßt. Verteufelt! Schon wieder muß er an Hipps Mädchen denken, das ihm jeden Tag einen Brief schreibt. Warum hat er niemanden, der an ihn denkt, der ihm schreibt. Wieder hat ein Pferd sich losgelöst und sucht den Ausgang zu erreichen. Der ‚Arbeiter‘ ist es, sein eigenes Pferd. Er führt es zu seinem Platz zurück und klopft ihm den Kopf. Das Tier schmiegt sich an ihn, berührt ihn mit der warmen, nassen Schnauze. Da löst sich im armen Jungen der bittre, bittre Schmerz. Er weint laut auf. Mit beiden Armen umschlingt er den Hals des Tieres. „Mutter -- -- Mutter!“ Er schreit es fast. Ein grenzenloses Heimweh tobt in ihm. „Mutter -- -- Mutter!“ Und umklammert wie ein Verzweifelter den warmen Kopf, drückt das Gesicht in die Mähne hinein und schluchzt und wird gerüttelt und gestoßen von diesem plötzlichen, wilden, unerträglichen Jammer. Lang steht er so an seinen ‚Arbeiter‘ geschmiegt. ‚Nach Hause -- zur Mutter zurück!‘ Und er will ihr schreiben: ‚Ich kann es hier nicht länger ertragen, laß mich zu dir zurückkommen!‘ Er schleicht zur Futterkiste zurück -- zieht eine zerknitterte Feldpostkarte aus der Tasche. ‚Liebes Muttchen!‘ schreibt er -- besinnt sich einen Augenblick und kommt zur Vernunft. Ein ‚Zurück‘ gibt es nicht für ihn. Ausharren muß er, und wenn es noch tausendmal schlimmer kommt. Aber sehen will er sie, und da er nicht zu ihr kann, muß sie zu ihm kommen. Das geht -- daran kann niemand etwas finden. So schreibt er: ‚Wenn Du willst, so besuche mich, bitte. Ich habe ein wenig Heimweh nach Dir!‘ Nachdem er das geschrieben, ist ihm leichter ums Herz geworden. Er läuft über den Kasernenhof und bringt die Karte zum Kasten. Sternklar wölbt der Himmel sich draußen. Kühl ist die Nacht, denn der Herbst will ganz ganz langsam kommen. Tief atmet Hiller auf. Das Leid ist verflogen. Der furchtbare Druck ist von ihm genommen. Nun ist er nur noch müd’ -- hat nur noch Sehnsucht noch einem langen, tiefen Schlaf. Im Stall trifft er den ‚alten Mann‘, der ihn für zwei Stunden abzulösen hat, an. Der sieht ganz vergnügt aus. „Müde, was?“ und schaut lächelnd in das bleiche Knabenangesicht. „In zwei Stunden kommst du wieder dran, Mensch. Das lohnt kaum der Mühe, sich hinzulegen! Bleib man gleich auf, sonst wirst du nachher überhaupt nicht mehr munter. Man kennt das ja bei euch jungen Kerlen. Muttersöhnchen! Neulich habe ich für einen die ganze Nacht gewacht. Da hat er mir ’n Taler für geschenkt!“ Und sieht noch forschender, sieht eigentlich geradezu aufmunternd in Hillers Gesicht. Der hat schon die Hand am Brustbeutel. „Ich bin in der Tat sehr müde!“ Der ‚alte Mann‘ nimmt den Taler und läßt ihn in die Hosentasche gleiten. „Da hast du einen Woilach zum Drauflegen; in den andern wickelst du dich ein, und dann kannst du bis sieben Uhr pennen. Los -- mach’, daß du ins Stroh kommst!“ Und der kleine, müde Hiller häuft sich das Stroh, aus dem der ‚alte Mann‘ aufgestanden ist, frisch auf, legt den einen Woilach darauf, wickelt sich in den anderen ein, und bevor zwei Minuten vergangen sind, führt ihn sein tiefer, prachtvoller Jungenschlaf aus Leid und Not dieses Tages hinweg. Das bekümmerte Gesicht wird kindlich und froh. Die bleichen Wangen röten sich. Und als der ‚alte Mann‘ sich gegen Morgen einen Scherz macht und ihm mit dem nassen Pferdeschwamm über die Augen fährt, merkt er’s kaum, dreht sich um und schläft weiter, bis ihn zwei kräftige Arme an den Schultern packen und hochreißen. „Heraus, Mensch -- aufgestanden -- sieben Uhr -- ‚Vize‘ ist im Anzug!“ ‚Vize‘ ist der Vizewachtmeister Peters; und das Wort ‚Vize‘ genügt, um den kleinen Hiller im Nu hochfahren zu lassen -- Hände an die Hosennaht, Hacken zusammengeklappt. ‚Vize‘ ging schweigend und höhnisch an ihm vorüber. * * * * * Hiller ist dem ‚alten Mann‘ riesig dankbar, daß er ihm für den Taler die lange Nachtruhe verschafft hat. Die Taler fliegen ja erschrecklich glatt und leicht dahin, aber eigentlich kommt nie ein Brief ohne Einlage an ihn an. Die Mutter schickt -- Großmutter und Großvater schicken, und es gibt noch ein paar Onkel und Tanten, die nicht nur Worte und schöne Redensarten für den jungen Kriegsfreiwilligen übrig haben. Es ist eine ganze Menge, was so in immer neuen Auflagen in Hillers Brustbeutel zusammenkommt. Er braucht nicht zu knausern, und das ist gut, denn das Knausern liegt ihm nicht. Großmutter schrieb zwar: ‚Daß Du im Restaurant für teures Geld ißt, da Du das Mannschaftsessen umsonst haben kannst, ist aus zweierlei Gründen nicht richtig; denn erstens soll ein jeder in diesen schweren Zeiten sein Geld zusammenhalten oder es fürs allgemeine Wohl hingeben, und zweitens ist es besser, wenn Du Dich schon jetzt an das Kasernenessen gewöhnst, damit es Dir später im Feld nicht schwer wird!‘ Aber sie legt getreulich jedem Brief einen Schein bei, und darum kann Hiller die großmütterlichen Mahnreden nicht sehr ernst nehmen. Er ißt ja auch keineswegs im Restaurant, um sich Leckerbissen zu verschaffen. Nein, er würde ohne weiteres das Mannschaftsessen genommen haben, wenn das einfach so möglich gewesen wäre. Aber hier sitzt der Haken: er ist Einjähriger -- er bekommt Geld -- er ist also einfach verpflichtet, mit den finanziell Gutgestellten im Restaurant zu essen. Man würde ihn sonst nicht für voll angesehen haben. Und ebenso ist er verpflichtet, sich von den alten Leuten gegen gute Bezahlung Dienste leisten zu lassen und sie abends in der Kantine freizuhalten. Sie drängen sich an einen heran und können kolossale Erleichterungen bringen. So zum Beispiel dieser lange Schlaf in der letzten Nacht! Dafür ist ein Taler wirklich nicht zuviel gewesen. Er fühlt sich prachtvoll frisch -- die Welt lacht ihn an. Oben am Kasernenturm ist die Fahne hochgezogen; man feiert einen neuen Sieg. Jetzt weiß man wieder, daß Großes, Gewaltiges sich in Europa abspielt. -- -- -- Jetzt begreift man, daß man alle Kräfte zusammennehmen muß, um würdig befunden zu werden zum Mittun! Der Wachtmeister sagt: „Natürlich suchen wir zum Ausrücken nur die besten Reiter heraus, denn einer, der sein Pferd nicht beherrscht, kann im Kriege nichts leisten.“ Das ist eine sehr selbstverständliche Tatsache, und Hiller begreift an diesem sonnenhellen Morgen plötzlich, daß der strenge, nicht sehr geliebte ‚Vize‘ keinen leichten Standpunkt hat. Denn wie er selbst noch ganz und gar unsicher auf seinem Gaul sitzt, so ist es mit der Mehrzahl der anderen auch, und doch schimpft jeder von ihnen über den Drill und hat jeder einzelne den heftigen Wunsch: Hinaus! Hinaus! An diesem Morgen geschieht es, daß ‚Vize‘ sich am Ende der Reitstunde neben Hillers Pferd stellt und den Hals des Tieres klopft. „Reiten noch sehr mittelmäßig, Freiwilliger! Aber man hat doch heute wenigstens den guten Willen gespürt. Das ist schon etwas, und andere könnten sich da ein Beispiel dran nehmen!“ Dabei sieht er zu Hipp hinüber, der zweimal über den Kopf seines ‚Anton‘ hinweggesaust ist. Hillers Herz klopft in jäher Freude. ‚Vize‘ hat ihn gelobt -- ‚Vize‘ hat zum erstenmal nicht mit ihm gewütet. Die Hand, die den Zügel hält, zittert; er ist außer sich vor Glück. Keine Spur von Schlappheit mehr -- kein Schmerz mehr in den Knochen. Eine Riesenkraft fühlt er in sich erstehen, und heißer Mut beseelt ihn. Oh -- er kann -- er kann -- er kann! Immer in seinem ganzen Leben hat er noch gekonnt, was er wirklich und mit seinen ganzen Kräften gewollt hat! Auf einmal weiß er nun auch, daß er eines Tages Herr seines Pferdes sein wird. Ja -- daß er all die, die hier mit ihm reiten, überragen wird. Auch die Bauernjungen, die von Kindheit auf mit Gäulen zu tun gehabt haben. Er braucht nur zu wollen, nur wirklich und ernst zu wollen! Es wird ihm ordentlich schwer, das Lob des Wachtmeisters still hinzunehmen; gern hätte er ihm gedankt, ihm die Hand gereicht. Aber er bleibt still und bescheiden sitzen; nur das Herz schlägt heftig. Nach dem Reitunterricht ist ein Fest in der Kaserne, um den großen neuen Sieg zu feiern. Der Oberleutnant steht vor seinen Husaren und hält eine kurze, packende Ansprache, die im Kaiserhoch endigt. Als sie frei sind, sieht Hipp verächtlich zu Hiller hinüber. „Streber!“ Und der noch allzu empfindliche Hiller erbleicht vor Ärger, aber Hipp lacht im nächsten Augenblick und schiebt seinen Arm in den des Kameraden. „Morgen brüllt er dich doch wieder an. Man kennt diese Menschenschinder ja!“ Dennoch bleibt Hiller an diesem Tage in gesteigerter Stimmung. Nach dem eilig eingenommenen Mittagessen geht’s zur ersten Schießübung hinaus. Zwei Wachtmeister führen einen Trupp von vierzig Freiwilligen zum großen Schießplatz. Sie haben eine gute Stunde zu marschieren. Die Hitze ist glühend; die Sonne glitzert in ihren blanken Knöpfen und spielt mit den grellgelben Tressen auf den grauen Attilas. Der trockene Boden knirscht unter ihren Füßen, aber sie gehen wie beflügelt dahin. Mit Ungeduld haben sie auf diese erste Schießübung gewartet, denn bevor sie nicht schießen gelernt, können sie natürlich nicht ins Feld. Nun endlich soll es losgehen! Einer von den alten Leuten hatte ihnen gesagt: Zwei Wochen Schießübung -- zwei Wochen Lanzenfechten und Säbelstechen, dann ist die Sache gedeichselt, dann geht’s los! Dies also ist der eigentliche Anfang; es werden noch sechs Wochen vergehen, ehe sie herauskommen! Und draußen wird ein Sieg nach dem anderen erfochten! Wenn das so weitergeht, dann hat Deutschland ausgekämpft, ehe sie aus ihrem Drill heraus sind. Bald dehnt sich der Schießplatz vor ihren Blicken aus. Der Wachtmeister - es ist einer, mit dem sie bislang noch nichts zu tun gehabt haben -- lehrt sie in erster Linie den Karabiner richtig handhaben. Auch er brüllt; auch er schimpft wie ein Unsinniger. Wachtmeister müssen schimpfen und müssen beim Schimpfen einen puterroten Kopf bekommen, sonst wird’s nichts. Der kleine Hiller hat noch so zarte Hände; für ein paar Minuten hat es den Anschein, als sollte er hier den Sündenbock abgeben, denn der Wachtmeister tobt immer im Kreise um ihn herum. Aber es müssen wohl noch Ungeschicktere da sein, denn plötzlich ist er fort, und nun weiß Hiller auch ganz gut mit seinem Schießprügel umzugehen. Es wird ihnen ein Vortrag gehalten: Der Kavallerist muß in jeder Stellung schießen können. Er muß im Liegen, im Stehen und vom Pferd herabschießen können! Der Kavallerist muß überhaupt alles können, was der Infanterist kann! Das hat man ihnen nun schon oft gesagt, und sie wissen, daß sie doppelte Ausbildung haben werden. Dafür haben sie dann im Feld den Vorteil, auch dann noch kampffähig zu sein, wenn das Pferd ihnen weggeschossen wird. Als Ziel für ihre erste Übung dient ihnen eine Scheibe, die in zwölf Kreise geteilt und an ein kleines Steinhäuschen gestellt ist. Sie haben Platzpatronen bekommen und lernen zunächst den Karabiner in jeglicher Stellung handhaben. Der Wachtmeister erklärt ihnen umständlich die Scheibe und die Entfernung, und es vergeht eine gute Stunde mit den Vorbereitungen, ehe sie endlich zum Schießen kommen. Die wenigsten haben Glück; sie schießen aufs Geratewohl. Hipp lacht, trotzdem der Wachtmeister schimpft, leise vor sich hin, denn es belustigt ihn ungeheuer, daß er trotz alles Schimpfens mit keinem Schuß auf die Scheibe trifft. Auch Hillers Hand zittert plötzlich. Da er als Knabe viel nach der Scheibe geschossen hat, hat er das angenehme Gefühl gehabt, hier auf dem Schießplatz gut zu bestehen und sich womöglich wieder ein Lob des Vorgesetzten zu holen. Nun aber schleichen sich Angst und Aufregung an ihn heran. Es ist ihm schon oft im Leben so gegangen: wollte er zeigen, daß er eine Sache verstand, so mißlang sie erst recht. Der erste Schuß geht dann auch richtig daneben, und der Wachtmeister steht wieder drohend nahe dicht bei ihm. Er spürt den Atem des erregten Mannes, und sein Kopf wird heiß, und das Herz fängt an zu hämmern. „Kerl, bist du des Teufels?“ Der Wachtmeister richtet ihm den Karabiner in der Hand zurecht. Hipp sieht schadenfroh zu Hiller hinüber. Da geht ein Schuß los und trifft fast in die Mitte der Scheibe. „Das war Zufall,“ sagt der Vorgesetzte kühl und mit leisem Hohn in der Stimme. „Noch einmal!“ und dreht ihm den Karabiner wieder in der Hand zurecht. „Ganz gut,“ sagt er dann etwas weniger kühl. „Nun noch einmal, damit es sich herausstellt, ob es Dusel war oder nicht!“ Nun wird Hiller kühn und hat wieder das triumphierende Gefühl: ‚Ich kann, was ich will!‘ „Man wird ja später sehen, ob das so bleibt,“ sagt der Wachtmeister befriedigt, geht zu den anderen und ahnt nicht, in welchen Freudentaumel er den kleinen Freiwilligen mit dem Knabengesicht versetzt hat. Niemand außer Hipp hat an Hillers Schießversuchen Anteil genommen, niemand beachtet auch, wie die Augen des schmalen Husaren leuchten, wie er ganz verklärt dasteht. Das zweite Lob an einem Tage! Das macht ihn ganz toll. Zur Vesperzeit ladet er in der Kantine zwei alte Leute zum Kaffee ein und schenkt jedem eine Handvoll von den Zigarren, die Großvater ihm geschickt hat. Es geht ihm immer so: Hat er selbst eine Freude, dann muß er auch bei anderen frohe Gesichter sehen. Er spricht zu niemandem von dem, was ihn bewegt, aber es ist eine tiefe Liebe zu allem, was ihn hier umgibt, in ihm aufgekommen. Er weiß jetzt, daß er im Grund seines Herzens immer Soldat gewesen ist, daß er nur während der langen Schulzeit keine Gelegenheit gehabt hat, den militärischen Geist, der in ihm steckt, zu erkennen. Nun aber sieht er seine Zukunft klar und deutlich vor sich. Selbstverständlich wird er Offizier werden, und zwar Kavallerieoffizier. Wenn er Glück hat und in den Krieg kommt, ist er in einem halben Jahr Leutnant, und später wird die Beförderung in Windeseile weitergehen. Seine Phantasie baut ihm goldene Schlösser. Mit keinem Gedanken denkt er mehr an die noch gar nicht weit zurückliegende Zeit, in der er der Mutter mit herablassendem Lächeln erklärt hat: ‚Offizier? Nein, dafür sind andere da. Der Offiziersberuf kommt für mich gar nicht in Betracht.‘ Der kleine Hiller ist erst jetzt eigentlich jung geworden. Er war alt und klug und blasiert gewesen, bevor er wußte, was jung sein heißt. Man hatte ihm das so anerzogen, so aufgezwungen. Jetzt fällt es ihm wie Schleier von den Augen; jetzt, in dieser Zeit, in der Deutschland eine kraftvolle, gesunde Jugend braucht, soll auch er kraftvoll und gesund werden! Er ist so hin und her geworfen von all dem Neuen, das auf ihn eindringt; er liegt noch sehr im Kampf, in ganz unbewußtem Kampf mit dem, was noch vor ganz kurzer Zeit sein Wesen und Denken bedeutete. Heimweh wechselt mit Hochmut; Selbstbewußtsein ringt mit tiefer Niedergeschlagenheit. Heute aber hat Stolz und Freude über alles andere gesiegt. Um halb sieben Uhr wird zum Appell versammelt. Hiller strahlt immer noch und sieht frohbewegt zu der Fahne hin, die hoch über der Kaserne weht und an den großen Sieg des heutigen Tages erinnert. Ja, es ist heute für ganz Deutschland ein Freudentag. Man sieht heute nur wirklich frohe und zufriedene Gesichter; selbst die Wachtmeister scheinen guter Laune zu sein. Plötzlich hört er seinen Namen rufen: „Freiwilliger Hiller soll vortreten!“ Ein Wachtmeister winkt ihn zu sich heran und weist mit der Hand nach dem vorderen Kasernenhof. „Eine Dame,“ sagt er lakonisch, und Hiller versteht erst nicht recht, wird dann glühendrot und schreitet langsam, etwas beschämt, dem vorderen Kasernenhof zu. „Mutter!“ Wie er sie sieht, strömt ihm das Blut heiß zu Herzen, und er fällt ihr um den Hals -- ganz instinktiv einer jähen Aufwallung folgend. Aber im nächsten Augenblick sinken ihm die Arme schlaff herab. Er sieht scheu nach allen Seiten um sich. Ob jemand das beobachtet hat, ob jemand gesehen hat, wie er der Mutter um den Hals gefallen ist? Auch sie ist verwirrt. Groß und ungläubig sieht sie den Menschen, der da im schmutzigen Drillichanzug vor ihr steht, an. Ist das Ernst -- ihr kleiner Ernst -- ihr Junge? Dunkelgebräunt ist das Gesicht; die Mütze ist tief in die Stirn gezogen, und der graue Anzug, dem starker Stallgeruch entströmt, hängt in großen Falten an seinem Körper herum. Ein leiser Schmerz ist in ihr. Sie hat während der ganzen Fahrt hierher das Gefühl gehabt: ‚Das arme Jungchen ist krank, ist traurig, ist trostbedürftig!‘ Die zerknitterte Feldpostkarte mit den wenigen Worten: „Ich habe ein wenig Heimweh nach dir!“ hat sie erschüttert. Nun sieht sie den Jungen gesunder, als sie ihn je zuvor gesehen. Wie ein gewöhnlicher Soldat steht er vor ihr, und die Mütze verbirgt das Schönste, was er hat: die hohe, kluge Stirn. Sie muß sich erst an den Anblick gewöhnen, und so stehen sie sich sekundenlang beide in einem inneren Kampf gegenüber. Der Junge voll Unbehagen in dem Gedanken, daß irgend jemand ihn beobachten könnte, und die Mutter traurig und enttäuscht. Sie hat das wehe Gefühl, daß etwas Fremdes zwischen sie und ihr Kind gekommen ist, daß sich eine Kluft zwischen ihr und ihm auftun will. Hiller führt die Mutter in den Torweg eines der Gebäude, die am Kasernenhof liegen. „Warum hast du mir nicht erst geschrieben?“ fragt er zaghaft. Da kommen ihr die Tränen. „Du schriebst doch, daß du Heimweh hättest, Ernst!“ Er faßt ihre Hand, denn er kann sie nicht gut traurig sehen. „Das kommt mal so über einen, geht aber schnell vorüber,“ sagt er. „Wenn du mir wenigstens vom Bahnhof aus telephoniert hättest, daß du hier bist, Mutter. Hier in der Kaserne kannst du doch nicht bleiben!“ „Wohin hätte ich denn aber telephonieren sollen?“ „Nun natürlich nach der Kantine; das tun sie doch alle,“ sagt er sehr selbstverständlich, und sie ist wirklich fast beschämt, daß sie nicht an die Möglichkeit einer vorherigen telephonischen Verständigung gedacht hat. „Darfst du denn überhaupt aus der Kaserne heraus?“ fragt sie fast schüchtern. Der Junge besinnt sich. „Wenn ich Urlaub bekomme. Bleibst du denn über Nacht hier?“ Seine Art ist ihr ganz fremd. Der Schmerz in ihr wird immer bitterer. „Ich kann doch heute abend nicht mehr zurückfahren, Ernst.“ „Wo willst du denn hier wohnen?“ „Ich muß mir ein Hotel suchen, ich bin gleich vom Bahnhof hier herausgefahren.“ „Dann mußt du in den ‚Schwan‘ gehen,“ sagt er in freudiger Erinnerung. „Da habe ich auch die erste Nacht gewohnt, da ist es sehr nett.“ „Wirst du denn sicher Urlaub bekommen?“ fragt sie weitergehend, denn er führt sie zum Kasernentor hin. Er fühlt sich entsetzlich unfrei, und doch tut ihm die Mutter leid. Aber, was soll er hier mit ihr anfangen? „Ich muß jetzt wieder zurück, Mutter. Aber ich bekomme sicher Urlaub; denn die anderen haben sich auch schon oft Urlaub geben lassen. Ich telephoniere dir nach dem ‚Schwan‘. Auf Wiedersehn, Mutter!“ Und bevor sie noch beim Posten angelangt ist, ist er schon außer Sehweite. Sie geht ein Stück die Straße entlang und ist wie benommen. Eine Sekunde lang hat sie das Gefühl: ‚Das war er ja gar nicht! Dieser braungebrannte, nach Heu und Stall duftende Soldat war doch nicht Ernst -- der zarte, liebenswürdige, schüchterne Ernst!‘ Aber er war es doch, und sie muß wieder an Großmutters Worte denken: „Der Junge wird jetzt ein Mann, der hat fürs erste mit der Mutter nichts mehr zu tun.“ Sehr langsam geht sie weiter und kommt auf den schwarzen Husarenweg. Die Sonne ist fort, und flach und reizlos dehnt sich das Land vor ihr aus. Weit kann der Blick hier schweifen, aber vor ihren Augen ist ein Schleier. „Ernst -- Ernst!“ Sie fühlt wieder diese heiße, wehe, instinkthafte Liebe für ihn -- diese selbstverständliche Naturliebe, die auch ein Tier für sein Junges, das ihm entrissen werden soll, empfinden mag. Wer hat ein Recht, ihr den Jungen zu nehmen? Oft schon in dieser Zeit seit Ausbruch des Krieges hat es so in ihr getobt, hat eine Stimme in ihr geschrien: ‚Der Junge ist mein -- mein -- mein! Wer hat ein Recht, ihn mir zu nehmen?‘ Und hat dann, wenn der Aufruhr im armen, gepeinigten Herzen vorüber war, den Kopf geneigt und hat an die tausend und aber tausend Mütter im Deutschen Reich gedacht, die all dasselbe schwere Opfer darbringen. Und hat auch Zeiten gehabt, in denen sie ganz ruhig, ganz groß zu denken vermochte; in denen sie sich stolz und glücklich fühlte, weil ihr Sohn mittun durfte im gewaltigen Völkerringen, hat wundervolle Zeiten gehabt, in denen sie empfand, daß es schön und herrlich ist, dem bedrängten Vaterland das Beste und Einzige, was man besitzt, darzubringen. Jetzt, da sie im grauen Abenddämmer in der fremden Stadt auf dem schwarzen, staubigen Weg langsam dahingeht, ist aber all das Große und Schöne von ihr abgefallen. Sie ist hierhergekommen, um ein heimwehkrankes zartes, bekümmertes Kind ans Herz zu nehmen, und hat einem gesunden, fast derben Soldaten gegenübergestanden. Auch das tut weh, daß sie ihn so sehen mußte -- so wenig schön, so ungepflegt, so derb. Sie geht und geht und weiß nicht, wohin. Tiefer senken sich die Schatten; vor ihr liegt unbebautes Feld, und es ist sehr, sehr einsam. Kein Mensch ist in der Nähe, und leise Angst kommt in ihr auf. Sie geht denselben Weg, den sie kam, zurück. Staubwolken wirbeln, und ein Hirt kommt mit großer Schafherde durch den schwarzen Staub daher. Der Hirt strickt an einem Strumpf. Das hat sie noch nie gesehen; nur aus Erzählungen weiß sie, daß es strickende Hirten gibt. Aber friedlich mutet sie das Bild dieses graubärtig strickenden Mannes an. Friedlich auch der Zug der heimkehrenden Schafe und der beiden Hunde, die, ohne zu bellen, um die Herde herumkreisen. Wie ein Märchen so seltsam! Einen wunderbaren Kontrast bildet dies stille Bild zu all dem wilden Rasen draußen in der Welt. Ihr Herz ist ruhiger geworden. Aus der halben Dunkelheit ragt das alte Tor ehrwürdig und gigantisch vor ihr auf. Und dann ist sie plötzlich in einem lustigen Treiben mitten drin. Husaren in der graugelben Uniform, die auch ihr Ernst trägt, eilen durch die Straßen; auf hohen Heuwagen sieht sie die bunten Husaren sitzen, und auf Rädern fahren sie an ihr vorüber. Froher wird ihr zumute, und sie weiß nun auch, warum sie vorhin so sehr enttäuscht war. Der graue, schmutzige Drillichanzug mag sein Teil daran gehabt haben. Der Mensch hängt am Äußeren, und eine jede Mutter mag Schmerz empfinden, wenn sie ihr Kind so unschön und so nachlässig im Äußeren findet. Sie ist wieder ganz elastisch geworden. Ein kleiner Junge, dem sie ein Geldstück verspricht, führt sie zum ‚Schwan‘. Man weist ihr ein behagliches Zimmer an. Ernst meldet telephonisch, daß er Urlaub erhalten hat, und eine halbe Stunde später hört sie Sporengeklirr vor ihrer Tür. Da steht ihr Junge -- schmuck in der gutsitzenden Uniform und den hohen Reiterstiefeln mit der gelben Einfassung! Er wirft seine Mütze auf den Tisch und umarmt die Mutter jetzt ohne Scheu -- kindlich und zärtlich wie früher. „Jungchen -- mein Jungchen!“ Die Haare sind kurz abgeschoren, und auf der Oberlippe ist ein ganz leichter Flaum von dunkelblonden Härchen zu sehen. Viel männlicher ist er geworden! Stramm, mit leuchtenden Augen steht er da. „Wie gefalle ich dir, Mutter?“ Er tritt vor den großen Spiegel und staunt sich selbst an. Denn in der Kaserne hat er keine Gelegenheit, sein Bild in Lebensgröße zu sehen. Sie schaut ihn an und weiß nicht, was sie sagen soll; ihr Herz ist stolz und doch noch voll Schmerz. „Unten wartet ein Kamerad von mir,“ sagt er dann. „Er heißt Hipp und ließ mir keine Ruhe, bis ich ihn mitnahm. Wenn sein Vater ihn mal besucht, lädt er mich auch ein.“ Sie ist sehr enttäuscht. „Ach, Ernst, an diesem ersten Abend willst du nicht mit mir allein sein?“ „Das ging nicht anders, Mutter. Aber wir können uns ja auch so alles erzählen. Hipp ist ein ganz netter Kerl. Wir haben aber nur eine Stunde Urlaub, und wenn wir noch essen wollen, müssen wir hinuntergehen.“ Da kamen ihr schon wieder Großmutters Worte in den Sinn: ‚Der Junge muß jetzt ein Mann werden, der hat fürs erste mit der Mutter nichts mehr zu tun.‘ * * * * * Das fremde Hotelzimmer grinst sie höhnisch an, als sie es wieder betritt. Neun Uhr schlägt’s von der Kirche, die nur durch ein drei Meter breites Gäßchen vom ‚Schwan‘ getrennt ist. Eine kurze Stunde hat sie unten im Speisesaal mit den zwei gesessen -- ist nicht aus dem Staunen, aus dem Schmerzgefühl herausgekommen. Ihren Jungen hat sie angesehen, wie man einen Menschen, den man vor Jahren einmal genau kannte, und der einem dann irgendwo in sehr veränderter Gestalt entgegentritt, vielleicht anschauen würde. Der dicke, etwas gewöhnlich aussehende Hipp mit seinem gesunden, naseweisen Witz stößt sie ab; er stößt sie doppelt ab, weil sie sieht, wie ihr Junge ganz unwissentlich seine Art anzunehmen versucht. Ernst hat zu Hause selten einen Witz erzählt, und wenn er es tat, so wartete er den Erfolg nicht ab. An diesem Abend kommt viel ungereimtes Zeug aus seinem Munde. Es ist, als wolle er der Mutter zeigen: ‚Sieh, was aus mir geworden ist, seit ich von dir fort bin!‘ Es kann aber auch sein, daß er sich gar nichts denkt; es kann sein, daß er in ganz jungenhafter Weise dem Kameraden beweisen will, daß er kein Muttersöhnchen ist. Sie weiß an diesem Abend nicht, was sie aus ihm machen soll. Sie weiß nur, daß sie traurig ist. Die niedrigen Fensterchen ihres Zimmerchen stehen weit offen. Kühle Sommerabendluft strömt zu ihr hinein. Sie sitzt auf dem roten Samtsofa und stützt den Kopf in die Hand. Morgen will sie noch nicht reisen; für morgen hat er sich noch einmal Urlaub geben lassen. Übermorgen aber hat es schon keinen Zweck mehr für sie, hier in der fremden Stadt zu sitzen. Was dann? Wohin soll sie denn? Sie hat grenzenlose Angst vor der Einsamkeit in Berlin; sie hat Angst vor der Wohnung, in der alles an die so kurz verflossenen Zeiten erinnert. Wenn sie da in ihrem Zimmerchen sitzt, wird sie ewig auf Ernsts Schritte lauschen; bei jedem Klingeln wird sie zusammenschrecken. Sie kann zur Großmutter fahren; die hat ihr ja gesagt, daß niemand ihr die Türen weiter öffnen wird, als sie und Großvater es tun. Gott, sie kann schließlich auch zu anderen Freunden gehen -- wenn sie fühlt, daß sie unter Menschen sein muß. Aber sie denkt nur an die zwei, für die sie in all den Jahren gelebt hat, und die ihr so plötzlich genommen werden. Warum -- wodurch wurden sie ihr genommen? Man vergißt den großen, allgemeinen Schmerz immer wieder über dem eigenen Kummer -- man liest in den Zeitungen, man denkt an jene, die draußen im heißen Ringen liegen, und bringt es doch immer wieder fertig, zu sich selbst, zum eigenen kleinen Leid zurückzukehren. Erbärmlich, daß man so ist! Sie hebt den Kopf und fühlt sich freier; tritt zum Fenster und schaut auf den leeren Marktplatz, der vor ihr liegt. Groß und dunkel ragt die Kirche auf; davor ein Gebäude mit reichgeschmückter Fassade und zackigem Giebel. Das wird das Rathaus sein. Links davon eine Rolandsstatue, steif und hager; wirft einen langen, dünnen Schatten auf den von Gaslaternen erleuchteten Platz. Still ist’s, der Himmel wölbt sich hoch und feierlich. Hin und wieder treten Menschen vor ein großes, rotes Plakat, das in einem schwarzen Kasten hängt, stehen eine Weile und gehen wieder auseinander. Die Pferdebahn rasselt mit Schellengeklirr und Peitschenschlag über einen Schienenstrang, der mitten über den Platz hinweg in ein enges Gäßchen führt. Aus den Fenstern der Häuser wehen Fahnen -- große und kleine, und der Sommerwind bewegt sie, daß sie sich hoch aufbauschen und lautlos wieder in sich selbst zusammensinken. Der Tag eines großen Sieges! Wie das am frühen Morgen in die Höhe gerissen hatte, um doch einen so grauen Abend folgen zu lassen! Warum war der Abend grau? Warum ist das Herz zerrissen? Weil sie statt eines trostbedürftigen Kindes einen lustigen, gesunden Jungen vorgefunden hat! Weil der Junge es fertig gebracht hat, sich ohne weiteres in fremde Verhältnisse einzufügen, und anfängt, sich darin wohl zu befinden? Das muß doch so sein -- das ist doch wunderschön, daß es so ist! sagt ihr Verstand, aber das Herz zuckt. Der Junge will fürs Vaterland kämpfen -- muß also ein Mann werden und ist auf dem besten Wege dazu. Er war vor Wochen noch weich und schmiegsam wie ein Kind, und heute hat sie gefühlt, daß sich etwas in ihm zu härten beginnt. Was kann sie Besseres wollen? Warum aber um alles in der Welt hat er ihr denn die wehmütige Karte geschrieben? Warum um ihren Besuch gebeten? Darauf findet sie keine rechte Antwort. Er sah doch an diesem Abend wirklich nicht aus, als habe er vor ganz kurzer Zeit eine schwache, heimwehkranke Stimmung gehabt! Er hat von seinem Pferd erzählt wie von einem guten, lieben alten Freund; er hat die Wachtmeister nachgeahmt und von seinen Schießerfolgen berichtet. Dabei haben seine Augen geleuchtet, und er hat mit einem Bärenhunger gegessen. Soll das alles nicht wahr sein? Soll das alles nur etwas Angenommenes, Aufgezwungenes sein? Und hinter der Maske steckt vielleicht doch noch ihr kleiner, zarter, zum Grübeln geneigter Junge -- ihr weicher Ernst? Tiefer wird das Dunkel draußen; vom Kirchturm hallen dunkle, schwere Glockenschläge. In diesem kleinen Städtchen kommt die Nacht früher als im großen Berlin. Im ganzen Hotel ist Totenstille, in allen Häusern rund um den Marktplatz sind die Lichter erloschen. Aus ihrem Herzen will das Weh nicht heraus. Sie ist auch nicht fähig, sich zur Größe aufzuraffen. Es ist ihr, als lebe sie in der Vergangenheit, als habe sie in einem Buch von den Geschehnissen eines großen, furchtbaren Krieges gelesen. Daß es jetzt -- in diesen Augenblicken, während dieser stillen Nacht draußen in der Welt tobt, kann sie heute nicht mehr fassen. Der Besuch bei der Großmutter -- die aufgeregte Rückfahrt, die bange, furchtbare Nacht, die folgte, der Abschied im grauen Kasernenhof, die abziehenden Massen, die Musik, die Rede, Ernsts Karte und die Fahrt hierher, das Wiedersehen mit ihm -- all das fließt jetzt in ihrem milden Kopf zu einer einzigen, schweren, traurigen Melodie zusammen. -- -- Am nächsten Morgen kommt Ernst um die Mittagszeit zur Mutter. Er hat ohne viel Umstände drei Stunden Urlaub erhalten, trägt wieder die Extrauniform und sieht auch heute wohl und männlich aus. Und doch, es ist etwas an ihm, was sie gestern vermißt hat. Eine ganz kleine Unsicherheit -- etwas Hilfloses -- so, als ob er gern über eine Sache sprechen möchte und könnte die Worte nicht finden. Er ist auch viel natürlicher und zärtlicher heute. Sie sitzen nebeneinander auf dem roten Samtsofa, und Ernsts Hand hat die der Mutter umspannt. Die Attila mit dem hohen Kragen zwingt ihn zu guter Haltung. Sein Kopf lehnt an ihrer Schulter. „Es geht dir also wirklich gut, Ernst?“ fragt sie und sieht ihm in die Augen, die auszuweichen versuchen. Er hat an diesem Morgen Unglück gehabt, ist zweimal über den Kopf seines Pferdes hinausgeflogen, und ‚Vize‘ Peters hat ihn eine volle Stunde nicht locker gelassen. Die Siegerstimmung vom gestrigen Tag ist also verflogen. Er hat geglaubt, alle Hindernisse überwunden zu haben, und ist in die Misere der ersten Tage zurückgeschleudert worden. Das frißt an ihm -- das hat seinen so hochgewachsenen Stolz verletzt. „Ja, es gefällt mir gut!“ sagt er zur Mutter. „Es ist natürlich eine furchtbare Schinderei; aber sonst ist es wirklich schön!“ Aber wie er so neben der Mutter sitzt -- ganz allein mit ihr -- und wie sie ihm mit der Hand übers glatt geschorene Haar fährt und ihn auf die Stirn küßt, wird ihm weh zumute. Es ist so rauh und laut da draußen in der Kaserne. Man ist gar kein Mensch für sich -- man ist eine Nummer. Alles Gute muß man sich für Geld erkaufen. Schmiert man die alten Leute, so sind sie hilfreich und freundlich. Gibt man ihnen nichts, so fangen sie an, zu schikanieren. Man hat auch gar keine Zeit zum Denken oder Lesen; man verdummt ordentlich. Nicht einmal die Kriegsberichte erfährt man -- höchstens, wenn ein großer Sieg ist. Nein -- nein -- nein! Ernst will nicht klagen. Ernst ist zur Mutter gekommen mit dem festen Vorsatz, ihr alles in rosigen Farben zu schildern. Er fühlt sich ja auch gar nicht unglücklich; um keinen Preis der Welt würde er dies Leben aufgeben. Aber er ist’s nun einmal gewohnt, der Mutter alles, was ihn bewegt, zu sagen. Es kommt einfach von selbst aus seinem Mund. Er weiß selbst nicht, was er sagt. Die Mutter küßt ihn, und er legt ihr die Arme um den Hals. In ihr Herz zieht ein Glücksgefühl. Er ist also doch noch ihr Junge, dieser kleine Soldat in der bunten Uniform mit dem steifen Kragen und den hohen Reiterstiefeln! „Übrigens handelt sich’s ja nur um Wochen, die wir hier in der Kaserne auszuhalten haben!“ sagte er dann viel froher und richtet sich auf. „Wenn wir erst im Feld sind -- -- hat die Schinderei von selbst ein Ende.“ Da kommt ihr das ganze Furchtbare der heutigen Zeit wieder zum Bewußtsein. Diese blutjungen Menschen, die sich hier drillen lassen, haben die höchste Mission, die ein Mensch haben kann -- sie werden mit all den Abertausenden, die schon draußen sind, fürs bedrängte Vaterland kämpfen, sie ziehen hinaus, um Blut und Leben hinzugeben, um sich vielleicht zum Krüppel schießen zu lassen. Sie sieht ihren kleinen Ernst an. Weiß so ein Junge wohl, was er zu tun im Begriffe ist? Weiß er, was seiner harren kann? Sie weint plötzlich auf. „Was hast du, Mutter?“ Er ist ganz außer sich, er glaubt ihr durch seine Klagen das Herz schwer gemacht zu haben. „Es ist wirklich nicht schlimm, Mutter. Im Gegenteil, es ist eigentlich sehr schön. Man muß nur erst sicher auf seinem Gaul sein. Ich hab’ doch auch noch nie zuvor auf einem Pferd gesessen.“ „Es ist nicht deshalb, Ernst.“ „Was denn sonst?“ Er legt ihr den Arm um die Schulter und ist gut und zärtlich, wie er es früher gewesen ist. „Ich möchte bei dir bleiben. Die paar Wochen, die du noch hier bist, möchte ich in deiner Nähe sein!“ „Das geht nicht!“ sagte er fast hart, denkt dann einen Augenblick nach, und das Mitleid steigt in ihm auf. „Ich bekomme ja gar nicht so viel Urlaub, und von der Kaserne ist’s eine halbe Stunde bis zum Hotel.“ Sie sagt nichts mehr. Vom Kirchturm schlägt die Glocke. Ein Uhr. Der kleine Husar ist hungrig. Früher hat er sich gern ein paarmal zum Essen rufen lassen; jetzt ist er es, der drängt, in den Speisesaal zu gehen. Am ersten Tisch sitzt der alte Infanterieoberst, den Hiller nun schon kennt; vor dem macht er Front -- grüßt noch nach zwei anderen Tischen hin und sitzt dann mit der Mutter in einer Nische. Nun ist er wieder der, der ihr in den paar kurzen Wochen völlig entwachsen ist, von dem sie sich gar nicht vorstellen kann, daß er noch vor ganz kurzer Zeit mit seinen Büchern unterm Arm zur Schule schob. Ein ganz fertiger Mensch ist er, wie er so hier in seiner Uniform bei ihr sitzt. Er ißt mit demselben famosen Appetit, mit dem er gestern abend gegessen hat, und erzählt lauter lustige Dinge. Sie sucht sich ihm anzupassen, auf seine Scherze einzugehen, aber das Weh im Herzen will nicht weichen. Heute abend oder morgen früh fährt sie fort von ihm. Er wird es kaum empfinden. Vielleicht, wenn wieder einmal eine schwache Stunde über ihn kommt, wird er ihr ein wenig zärtlich schreiben, wird um ihren Besuch bitten. Wie furchtbar schnell wird eine Mutter überflüssig für ihr Kind! Sie denkt an die eigene Vergangenheit. Hat sie’s anders gemacht? Hat sie an der Mutter Trauer gedacht, als sie dem Mann, dem man sie nur ungern gab, folgte? Das Herz rebelliert. Ihre Mutter hatte damals doch noch andere Kinder und hatte den Mann; hatte den großen Haushalt, in den sie hineingehörte! Sie hat aber nichts außer dem Jungen -- sie hat alles hergeben müssen, was sie besaß. „Iß doch, Mutter!“ sagt er, als er sieht, daß sie nichts anrührt. Er trinkt den Wein, den sie kommen ließ, und sie staunt wieder. Ist er immer so gewesen? So sicher in seinen Bewegungen? So groß? So selbstbewußt -- -- oder macht das alles nur die Uniform? Sie hat das Gefühl, ihn zu langweilen, weil sie nichts zu sprechen vermag. Sie kommt aus dem inneren Staunen, aus der Erschütterung nicht heraus. Bleich sitzt sie und denkt an das „Morgen“, das wie eine große, graue Wüste vor ihr liegt. Gleich nach Tisch wird der Junge von Unruhe gepackt, er will doch lieber einmal zur Kaserne zurück. Er hat zwar den bescheinigten Urlaub, aber er möchte doch nichts versäumen. „Du bleibst doch heute abend noch, Mutter!“ Und sie nickt, ohne an eine bestimmte Antwort zu denken. Um fünf Uhr ist er wieder bei ihr und hat den belebten Zug im Gesicht, der ihm zu eigen ist, wenn er etwas Gutes zu künden hat. „In acht Tagen müssen wir den Fahneneid leisten. Dazu kommen viele Eltern angereist, und weil du doch sagtest, daß du gern bleiben möchtest, habe ich einen Plan!“ Es war seltsam, wie sehr sie in der kurzen Zeit der Ereignisse ihre Rollen getauscht hatten. Bisher war sie es gewesen, die ihm mit irgendeinem Vorschlag eine Freude zu bereiten pflegte; heute lag es in seiner Hand, sie froh oder traurig zu machen. „Nämlich den Plan, Mutter, daß du vielleicht doch bleiben könntest. Es hat nur keinen Zweck, daß du so weit von der Kaserne entfernt wohnst. Hipp hat gesagt, gleich gegenüber bei uns vermieten ein paar Frauen an Einjährige, und die hätten ihre Zimmer jetzt leerstehen.“ Er hat wenig Zeit, er will einen schnellen Entschluß. „Wenn du also willst, kannst du da wohnen.“ Sie begreift das nicht so schnell, aber er drängt. „Es soll wirklich ganz nett da sein, also komm! Ich hab’ nicht viel Zeit!“ Dann gehen sie durchs Tor heraus die lange Straße hin, die zur Kaserne führt, und Ernst erzählt, mit welchen Gefühlen er diesen Weg zum erstenmal gegangen ist. Und wie er sich diese Angst von damals zurückruft, fühlt er wieder Stolz und Freude über das, was bis jetzt schon gewonnen ist, in sich aufsteigen. Kurz vor der Kaserne verabschiedet er sich von der Mutter, zeigt ihr das Haus, in dem die Wohnungen zu haben sein sollen, macht vor einem Vorgesetzten Front und biegt schlank und elastisch am Posten vorbei ins Kasernentor ein. Die Mutter blickt ihm nach; jetzt ist er wieder das, was sie noch nicht begreifen kann! Es ist ihr wieder, als sei das gar nicht ihr Junge, als sei die ganze Welt, so wie sie jetzt ist, eine Unwahrscheinlichkeit, ein Traum. Wenn man aus diesem schweren Schlaf erwacht, wird die alte Wirklichkeit wieder da sein. In Gedanken verloren betritt sie das Haus, das der Junge ihr gezeigt hat, geht durch einen schmalen Steinflur, eine graue Steintreppe hinauf und wird von einem kleinen, zotteligen, grauweißen Köter heftig angebellt. „Mirza,“ ruft eine Frauenstimme, „Mirza, bist du denn ganz des Teufels!“ Eine Frau tritt aus einer der braungestrichenen Türen, die in den kleinen Flur münden, heraus. Sie sieht die fremde Dame erstaunt an, und die fragt fast schüchtern, ob es richtig sei, daß hier Zimmer vermietet würden. Die Frau antwortet nicht gleich, und aus der Tür tritt eine zweite weibliche Person -- nach der Ähnlichkeit zu urteilen, die Tochter. Aber sie ist schlank und von angenehmem Äußeren. „Zu gewöhnlichen Zeiten vermieten wir an Einjährige!“ sagt die Frau. „Aber jetzt ist ja alles auf den Kopf gestellt. Für wen suchen Sie denn Wohnung?“ „Ich möchte selbst ein paar Tage hier draußen wohnen. Mein Junge ist drüben in der Kaserne.“ „Ein paar Tage?“ Die Frau denkt nach. „Für ein paar Tage, das lohnt ja gar nicht, was soll ich Ihnen da berechnen?“ „Es kann ja auch etwas länger werden. Sagen wir, ich bezahle Ihnen für vierzehn Tage, ist Ihnen das recht?“ Die Tochter ist rot geworden. „Natürlich,“ sagt sie mit einer gewissen scheuen Liebenswürdigkeit. „Es geht auch für ein paar Tage.“ Und die beiden Frauen nehmen sie in die Mitte und führen sie in ein nettes Wohnzimmer, an das sich ein Schlafzimmerchen anschließt. Die Nachmittagssonne fällt durch die steifen Falten der dunkelgelben Gardine und läßt alles sehr einladend erscheinen. „Diese zwei Zimmer gehören zusammen; die können sie haben!“ Über den Preis ist man schnell einig; die Tochter ist sehr freundlich und schmiegsam und hat im Augenblick das Herz der Frau, die recht heimatlos hierhergekommen ist, gewonnen. Sie erbietet sich auch, die Sachen aus dem Hotel zu holen, und ihre Mutter steht indes mit in die Hüfte gestützten Händen in der Tür und sieht sich die unerwartete Hausgenossin an. „Schwere Zeiten!“ sagt sie dann und tritt an den Tisch heran. „Sonst, wenn ein Mieter kam, wußte man: der bleibt nun für ein ganzes Jahr! Jetzt nimmt man, was man bekommen kann, nur damit am Ersten die Miete vollzählig ist. Aber über solche Kleinigkeiten darf man in dieser Zeit ja gar nicht reden. Man hört jetzt jeden Tag so viel Entsetzliches. Drüben beim Regimentssattler ist schon ein Sohn gefallen, und die Mutter, die ein Herzleiden hat, weiß es noch gar nicht. Und oben beim Stabstrompeter ist die Frau guter Hoffnung und hat noch keine Nachricht vom Mann, seitdem er ausgerückt ist!“ Die Frau geht hinaus und läßt die neue Bewohnerin allein, und die sitzt nun am Fenster und schaut hinüber auf die langgestreckten, roten Gebäude der Husarenkaserne, in denen sich ihres Jungen Leben abspielt. Es tut ihr wohl, so nahe bei ihm weilen zu dürfen, auch wenn er nicht oft bei ihr sein kann. In dem Zimmer, in dem sie sitzt, ist alles etwas kleinbürgerlich aufgeputzt. In Berlin hat sich selbst der, der über keine großen Mittel verfügt, von allen Geschmacklosigkeiten freigemacht. Man lebt lieber in einer Umgebung ohne Schmuck, als zwischen billigem Tand. Aber die kleinen, unzähligen Figuren, die hier auf dem Vertiko stehen, die Porzellan-, Glas- und Metallsachen, die Vasen, auf der Spiegelkonsole, die grellgrüne Samtdecke auf dem Tisch, all das tut hier dem Auge nicht weh. Es ist unsäglich behaglich -- es ist treu und gut in diesem Zimmer, man fühlt, daß man bei Menschen ist, die ein Herz haben, die einen nicht in ganz trostlose Einsamkeit versinken lassen werden. Mirza, der wüste kleine Hund, drängt sich an die Kleider der neuen Bewohnerin; er sieht sie aus feuchten, dunklen Augen an, und sie fühlt, daß sie auch Mirza gern dulden wird. Die Frau bringt ungefragt eine Tasse Kaffee herein, und draußen zieht ein leiser Dämmer nach dem anderen vom Himmel herab. Die liebenswürdige Tochter kommt zurück und fängt an, das Schlafzimmer für die Nacht vorzubereiten. Frau Hiller ist es, als sei all das, was hier um sie herum ist, nichts Neues, als sei es etwas längst Bekanntes. Es gibt Menschen, denen man gut sein kann, ohne zu wissen, was sie sind und wie sie sind. Man braucht keine Brücken zu ihnen, man kennt sie gleich und fühlt sich wohl bei ihnen. Diese sympathische Tochter und die mitteilsame Mutter können nicht anders als gut und wohlwollend und hilfsbereit sein. Man fühlt das und ist glücklich und dankbar. Am Abend kommt der kleine Husar, um zu sehen, ob die Mutter wirklich gemietet hat. Er schaut sie ganz erstaunt an, weil sie schon so behaglich dasitzt. Die Frau und die Tochter kommen herein und sehen sich den jungen Freiwilligen an. „Noch ein bißchen schmal über der Brust! Aber das macht nichts. Wenn ein Jahr vorüber ist, wird er ganz anders aussehen.“ Dann fällt ihr plötzlich wieder ein, daß man nicht in normalen Zeiten lebt, und sie schlägt sich mit der Hand vor die Stirn. „Man vergißt immer wieder, daß Krieg ist, daß alles ganz anders geworden ist,“ sagt sie trostlos. „Das kommt, weil wir ja sonst gewohnt sind, die jungen Leute für ein ganzes Jahr zu haben. Jetzt mag man sich gar nicht ausdenken, was über ein Jahr sein wird.“ Der kleine Hiller sieht ihr belustigt nach, als sie geht. „Glaubst du, daß es dir hier gefallen wird?“ fragt er die Mutter. „Ja,“ sagt sie, und sagt es aus sehr freiem und frohem Herzen. Das Gefühl der Heimatlosigkeit ist fort; sie wird ein paar gute Tage hier haben, bevor die große, dumpfe Einsamkeit kommt. Der Junge setzt sich dicht zu ihr heran und erzählt allerlei aus der Kaserne. Fräulein Else, die Tochter, deckt den Tisch, denn die beiden Frauen haben sich entschlossen, ihren Gast in volle Pension zu nehmen. Mutter und Sohn sitzen an diesem Abend genau so traulich beisammen, wie sie es all die Jahre hindurch in Berlin gewohnt waren. * * * * * Die Großmutter schreibt einen Brief: ‚Das solltest Du nicht tun, Maria, Dich zu dem Jungen in die Garnison setzen. Das ist eine unnötige Qual für Euch beide. Auseinander müßt Ihr doch, so wie jede Familie jetzt auseinandergerissen wird. Also, wozu dies Hängen und Würgen! Sei vernünftig und laß den Jungen sich entwickeln, wie er sich entwickeln muß. Groß sind die Zeiten, und groß müssen die Menschen, die in ihr leben, sein. Also sei mutig -- mach’ Dein Herz stark und nimm Abschied von ihm, wie tausend und aber tausend Mütter es jetzt tun.‘ Der Brief tut weh, denn er zerreißt eine schöne, gute Stimmung. Sie haben sich wieder ganz ineinander gefunden, die beiden, die sich nie voneinander getrennt hatten. Die Natur, das Blut reden eine starke Stimme. Der Junge sagte kurzweg: ‚Ach, gräm’ dich nicht! Es ist schön und gut, daß du hier bist!‘ Er sagt das lieb und herzlich, sieht aber dabei nicht ganz gerade in der Mutter Gesicht. Sie schiebt den Brief beiseite und genießt einen guten Abend. Arm in Arm geht sie mit ihrem Jungen einen schmalen, dunklen Weg entlang, der gleich hinter der Kaserne herführt. Er hat ihr den Arm geboten und führt sie gut und behutsam. Vom Himmel leuchten zahllose Sterne; warm ist die Luft und geschwängert von einem süßen Duft, der aus großen Gartenanlagen herüberströmt. Sie gehen langsam über weichen Sand. Zur Linken fließt der Fluß, nicht breiter als ein kleiner Bach; er fließt flink und plätschernd, und man hört in der Stille ein leises Glucksen. Hoch und dunkel ragen die Pappeln, die zur Seite stehen, auf. Zur Rechten sind weite Felder. Alles still und traulich. So ein namenloser Friede liegt hier ausgebreitet, daß man seine Gedanken mit Gewalt dazu bringen muß, an die furchtbare Disharmonie draußen in der Welt zu glauben. Pärchen huschen an ihnen vorbei; grau-gelbe Husaren, in deren Arm sich ein Mädchen schmiegt. Der kleine Hiller stutzt jedesmal, wenn er eines sieht, und geht mit seiner Mutter dahin, als seien sie selbst ein glückliches Paar. Es ist so eine zärtliche Stimmung in der Natur. Vom Himmel zittert ein Mondstreif auf die Erde herab. Der Herbst steht vor der Tür und war schon einmal durchgebrochen. An diesem Abend aber ist’s wieder Sommer. Warm und schmeichelnd streicht die Luft übers Gesicht der beiden. Der kleine Hiller hat für jeden Abend einen ganzen Sack von kleinen und großen Neuigkeiten, die der Tag brachte, für die Mutter bereit. Ihm ist die Erlaubnis erteilt worden, die Abende bis neun Uhr außerhalb der Kaserne zu sein; und obwohl die Kameraden und besonders Hipp ihn ein klein wenig mit dem Besuch der Mutter necken, sitzt er Abend für Abend bei ihr in der netten, kleinen Wohnung, die die Wachtmeisterswitwe Böhler ihr vermietet hat. Es tut wohl, sich in einer richtigen Stube aufzuhalten, wenn man den ganzen Tag im Stall, im Kasernenhof und draußen auf dem Exerzierplatz gewesen ist. Solange er dies Behagen nicht haben konnte, hat er’s nicht entbehrt. Nun, da es ihm geboten ist, genießt er es mit großer Freude. Er fühlt es nicht, daß ihm ein wenig von dem Schneid, der im Anfang über ihn gekommen war, verloren ging. In die Augen ist wieder das Dunkelträumerische gekommen. Am Tag beim Dienst ist er bei der Sache, aber ‚Vize‘ Peters hat ihm nie wieder ein Lob zuteil werden lassen. Seine Seele hat allerlei durchzumachen in dieser Zeit. Er schwankt zwischen der Selbständigkeit und Unabhängigkeit und dem jungenhaften Sichgehenlassen bei der Mutter. Dazu kommen allerlei Wünsche und Gedanken, von denen er früher nichts wußte. Sieht er die Liebespärchen am dunklen Flußweg an sich vorüberwandern, so wird ihm süßweh ums Herz. Ganz unwillkürlich drückt er dann den Arm der Mutter fester an sich und erschrickt dabei. Nie im Leben hat er so viel von Liebe und Mädchen und Küssen singen und reden hören, als seit diesen paar Wochen in der Kaserne. Hipp kennt überhaupt kein anderes Gesprächsthema; aber der spricht nicht mehr von der kleinen Blonden in Berlin, der er treu bleiben wollte, sondern der hat entdeckt, daß es auch hier in der kleinen altmärkischen Garnison hübsche, zutunliche Mädchen gibt, und schwankt zwischen zweien, die er auf seinem Sonntagsurlaub kennenlernte. Für den kleinen Hiller aber sind die Mädchen immer noch wie Blumen, die in einem fernen Garten blühen, den man nicht betreten darf. Er denkt wohl an das Hannchen vom Abiturientenkneipabend, und er ist traurig, wenn er daran denkt. Damals hatte eine Blume sich ihm zugeneigt, und er ist erschrocken davor geflohen. Heute hat er die dunkle Sehnsucht, die ihn quält, von der er an jenem Abend noch nichts wußte. Er kann von allem zur Mutter reden, aber von dem, was seine Seele jetzt am meisten belastet, kann er nichts sagen. Sie gehen stumm nebeneinander her, immer den stillen Pappelweg am Fluß auf und nieder. Die Mutter sieht ins Weite. Ihre Gedanken gehören jetzt nicht dem Jungen, an dessen Arm sie geht. Ihre Gedanken irren in fremdes, unbekanntes Land. Sie suchen und suchen vergebens! Auch ihre Seele ist belastet. Sie möchte sich befreien und vermag es nicht. Seit Jahren ist ihr Blick getrübt; seit Jahren geht sie einen Weg, der in die Irre führt. Sie hat auch immer das volle Bewußtsein davon gehabt, hat sich in Irren und Wirrnissen befunden, hat gekämpft und mit sich selbst gerungen. Aber ihr Leben ist einsam. Sie weiß, daß es für sie nur durch die zwei Menschen, die jetzt vom Vaterland gefordert werden, Inhalt und Zweck gehabt hat. Sie weiß, daß sie in einer Woche oder zwei nach Berlin zurückkehren muß. Sie schmiegt sich eng in den Arm ihres Jungen -- sie sucht Schutz und Halt bei ihm. Der kleine Husar sieht ihr ins Gesicht. Er sagt und fragt nichts, aber er drückt ihre Hand, so als wollte er ihr durch dies stumme Zeichen sagen: „Ich verstehe dich -- ich weiß alles, aber ich kann dir nicht helfen!“ Dann fängt er vom heutigen Reiten zu erzählen an. Hipp ist natürlich wieder ein paar Male vom Pferd gesaust, und ‚Vize‘ hat ihm gesagt, er solle sich zur Infanterie scheren. Mit einem Gaul würde er doch nie fertig, und sein Buckel sei breit genug, um einen Tornister zu tragen. Hipp aber habe natürlich sein unschuldigstes Gesicht gemacht und nachher dem wütenden ‚Vize‘ nachgeäfft. Und wie er so recht ins Erzählen über Hipp gekommen ist, stutzt er plötzlich und muss sich Gewalt antun, um einen Schrei zu unterdrücken. Drüben, auf der anderen Seite des Pappelweges, gehen zwei im Dunkeln. Aber der Mond ist doch hell genug, um die Umrisse ihrer Gestalten erkennbar zu machen. Das kann kein Anderer als Hipp sein, der da, eng an ein Mädchen geschmiegt, im Dunkeln hinwandelt. Jetzt bleiben sie stehen, und Hipp küßt das weiße Gesicht, das vom bleichen Mondschein beleuchtet wird. Wie entgeistert sieht Hiller zu den beiden hin. In seinem Herzen beginnt es zu toben. Er fühlt plötzlich einen Haß gegen Hipp. Wie kommt es, daß dem das Glück in den Schoß fällt, während er sich mit seiner Sehnsucht plagt? Er hat oft gelesen, daß es unschöne Menschen gibt, die ihres guten und vornehmen Wesens wegen vom weiblichen Geschlecht weit höher eingeschätzt werden als die gut aussehenden. Aber Hipps Charakter ist nichts weniger als gut und vornehm. Er ist ein echter Berliner Junge, der sich die Butter nicht vom Brot nehmen läßt. Er hat einen reichen Vater und weiß den Wert des Geldes zu schätzen. Er ist nur da freigebig, wo er sich einen Vorteil davon verspricht. Er ist dumm, in allem, was Wissenschaft anbetrifft, aber daneben ist er das, was der Berliner ‚hell‘ nennt, in höchstem Maße. Er hält die Leute zum besten; er spielt mit ihnen und macht sich über sie lustig. Nein, Hipp ist kein guter, ist nicht einmal ein anständiger Mensch, und Hiller kann und kann es nicht begreifen, daß ein Mädchen Liebe für Hipp empfindet. Er kämpft mit sich, denn er hat das Gefühl, zu den beiden hinüberlaufen, das Mädchen aus Hipps Armen reißen und ihr sagen zu müssen: ‚Glaub’ ihm nicht! Er spielt nur mit dir, und morgen in der Kaserne wird er über dich ulken, so wie er es über die, die in Berlin sitzt und ihm jeden Tag einen Brief schreibt, tut!‘ In Hiller kommt ganz plötzlich der Kavalier zum Vorschein; er muß das Mädchen schützen. Es verträgt sich nicht mit seiner Ehre, wenn er es geschehen läßt, daß Hipp diesem armen Geschöpf etwas vorlügt. Es packt ihn wie ein Krampf. Die Hand, die er frei hat, umspannt den Säbel. Ganz instinktiv tut sie das; er möchte den Kerl da drüben niederstechen. Die Mutter fühlt erst jetzt, daß irgend etwas in ihrem Jungen vorgeht. Sie weiß nicht, warum, aber ihre Hand umfaßt sein Handgelenk. „Hast du irgend etwas, Ernst?“ Da fällt ihm die Hand schlaff herab. Er sieht sehr bleich aus und kann nicht antworten. Sein Gesicht ist wie verzerrt. Die Mutter blickt um sich. Was kann es sein, was ihren Jungen erschreckt hat? Still und einsam ist es um sie her; die Wasser glucksen auf, und ein ganz leiser Wind streicht durch die Pappeln. Drüben im Dunkeln gewahrt sie die Umrisse eines Pärchens. „Komm weiter!“ sagt der kleine Husar, und nach einer kleinen Weile atmet er erleichtert auf. Nun ist es vorüber. Der Zorn über Hipp ist schon verraucht -- nur ein kleiner Neid sitzt ihm noch im Herzen. Dann erzählt er der Mutter im alten, kindlichen Vertrauen, was er von Hipp und dessen Liebesgeschichten weiß. Ohne es zu wollen, spricht er gereizt, spricht er so, wie einer, dem Schmerz und Eifersucht am Herzen fressen. Die Mutter erschrickt. Das hat sie nicht geahnt, daß so etwas in die junge Seele Einzug gehalten hat. So spricht nur einer, der das Leben einmal furchtbar ernst nehmen wird, dem das, was den anderen zur Unterhaltung und zum Vergnügen dient, eine Quelle des Schmerzes werden wird. In seinen Augen glimmt es von Leidenschaft. Er leidet um das Weib, ehe er ihm nahe gekommen ist. Er wird suchen, was nicht zu finden ist. Er trägt schon jetzt das Ideal eines Weibes im Herzen, und vom erstbesten Mädchen, das ihm einmal in den Weg läuft, wird er das verlangen, was nur eine Frau, die selbst von seiner Art ist, zu geben vermag. Er tut ihr leid; sie fühlt sich schuldig ihm gegenüber. Wenn er ein Herz hat, das durch große Qualen gehen, das namenlosen Jammer in sich tragen wird, so hat er es von ihr. Das ist ein trauriges Vermächtnis, das ist schlimmer, als wenn er die heftige, aber tatkräftige Art vom Vater geerbt hätte. Dann fährt Hiller sich mit der Hand über die Stirn, als ob er etwas fortstreichen möchte, und wie ein ganz Gereifter spricht er jetzt: „Es ist Blödsinn, ja, es ist frivol, jetzt so viel an sich selbst zu denken. Sieh mal, wer weiß denn, wie es in ein paar Monaten aussieht! Gerade Hipp sagt jeden Tag: ‚Pass’ mal auf, ich werde zuerst ins Gras beißen müssen, weil ich eine so große Angriffsfläche biete.‘ Und wenn man die Sache so auffaßt, hat er ja eigentlich nicht unrecht, wenn er sein Leben jetzt noch genießt. Man sollte überhaupt nicht so viel nachdenken. Wer zuviel denkt, kann nicht forsch sein. Und forsch sein, bedeutet doch heute alles. Überhaupt, Mutter, ich will dir sagen, seit dieser Krieg ausgebrochen ist, pfeife ich eigentlich auf alles, was sie uns all die Jahre in der Schule beigebracht haben. All das, was sie Kultur nennen, ist ja doch nur leerer Tand, wenn eine solche Zeit wie die jetzige kommt. Jetzt sind wir doch wieder genau so weit, wie es die Menschen vor ein paar Jahrhunderten waren. Nun heißt’s: Wer kann dreinhauen? Wer hat am meisten Courage und am wenigsten Gemüt, denn mit Gemüt und Herz kann man keine Schlachten schlagen. Und wenn ich jetzt über Großmutter nachdenke, die immer gepredigt hat: ‚Tu ihn ins Kadettenkorps; Offizier ist der einzig wirkliche Beruf!‘ dann kann ich ihr im Grunde nicht mehr so unrecht geben. Von mir sagt ‚Vize‘ fast jeden Tag: ‚Mensch, du bist auch einer von denen, die das Verrückteste und Verstiegenste begreifen würden, aber was Vernünftiges, Klares und Einfaches kriegst du nicht in deinen Döskopp!‘ Und das ist ganz richtig von ihm ausgedrückt. Das Einfache hat einen überhaupt nicht mehr interessiert; ein Buch, das einem keine Rätsel aufgab, legte man zur Seite. Und wenn so ein Wachtmeister einem heut in der einfachsten Weise was klar machen will, dann muß man den Kopf ordentlich zwingen, das so aufzufassen, wie es gemeint ist, und nicht irgendeinen verborgenen Sinn dahinter zu suchen. Ich wünsche mir jetzt oft, ich hätte nicht mehr als das Allernötigste gelernt; ich wünsche, ich wäre einer von den Bauernjungen aus unserer Stube, die überhaupt über nichts nachdenken!“ Er bringt all das in heftigem Ton hervor, so, als wolle er mit Gewalt etwas, was ihn quälte, übertönen. „Hipp ist nicht anständig und aufrichtig!“ sagt er noch. „Er erzählt in der Kaserne von einem Mädchen in Berlin und läuft hier mit einer anderen herum. Ich begreife so etwas nicht!“ Die Welt ist plötzlich dunkel geworden. Der Mond ist von Wolken überdeckt. Das Pärchen auf der anderen Seite ist von der Dunkelheit verschlungen. Durch das Laub der Pappelbäume fährt ein rauher Wind, und das leise, friedliche Glucksen des Flusses wird übertönt. Auch in die Seele der Mutter des Jungen ist ein Windstoß gefahren. Sie kann jetzt auf das, was er ihr noch sagt, nichts erwidern. Stumm, fast willenlos, geht sie an seinem Arm dahin -- und der kleine Husar kommt weiter ins Philosophieren hinein. „Aber schließlich, wenn die ganze Welt sich als roh und egoistisch erweist, warum soll da der einzelne anders sein? Geradezu lächerlich! Wer anders ist als Hipp und seinesgleichen, ist ein Narr!“ Das letzte stößt er leidenschaftlich, fast bös heraus. „Ich will nicht zu den Narren gehören!“ Er stampft mit dem Fuß auf und will zu neuer verbitterter Rede ausholen, da trägt der Wind einen lustigen Klang zu ihnen herüber. Von der Kaserne her tönt ein Trompetensignal. Hiller beschleunigt die Schritte. „Du bist so still, Mutter. Du bist mir doch nicht böse?“ fragt er sanft und sucht ihr ins Gesicht zu blicken. „Ich ärgere mich nur immer so furchtbar, Mutter, wenn ich sehe, wie andere ihr Leben genießen und überall zugreifen, wo es was zu holen gibt. Nicht darüber, daß die sich das Leben schön und vergnügt machen, ärgere ich mich, sondern darüber, daß ich ein Esel bin, daß ich nicht auch so sein kann, wie sie!“ „Du wirst noch vieles lernen, Ernst!“ sagt sie. „Und du wirst auch lernen, daß nicht die, die überall zugreifen, die wirklich Glücklichen sind!“ Sie kommen auf die breite Chaussee, an der die Kaserne liegt, zurück. Hier ist es hell, und die Husaren strömen dem Kasernentor zu. Hiller bringt seine Mutter noch bis in den Flur ihres Hauses, küßt sie und sagt, um das Vorangegangene gutzumachen: „Es war ja alles Blödsinn, was ich da gesagt habe, Mutter!“ Küßt sie noch einmal und läßt die Tür hinter sich zufliegen. Frau Hiller geht langsam über den grauen Steinflur. Stufe um Stufe geht sie die Treppe hinan wie eine alte Frau, der das Gehen schwer fällt. Ist sie plötzlich alt geworden? Es ist ihr, als habe ihr jemand eine Last aufgebürdet, die zu schwer für ihre Schultern ist. Oben im Flur steht das sympathische Fräulein Else und spielt mit Mirza, dem wenig appetitlich aussehenden Pintscher. Sie spricht zu ihm, wie eine Mutter zu ihrem kleinen Kind sprechen würde: „Lieb sein, Mirzachen! Da, geh’ zu Frauchen; die ist gut!“ Der Hund springt an Frau Hiller in die Höhe, und seine nasse Schnauze berührt ihre Hand. Das ist ihr nicht angenehm, aber sie bringt es nicht über sich, das Mädchen, das den Hund so zärtlich liebt, zu kränken. Sie streicht ihm übers Fell und geht mit Fräulein Else in die Küche. Auf einem kleinen Schrank stehen die Lampen, die in die einzelnen Zimmer gehören, und Fräulein Else nimmt den Schirm von der größten herab und läßt ein Streichholz aufflammen. Da kommt die Wachtmeisterswitwe durch den Flur, und ein Geräusch dringt in die Küche, halb Seufzen, halb Schluchzen. Das Streichholz fällt Fräulein Else aus der Hand und sie läuft der Mutter entgegen. Frau Hiller bleibt allein in der durch ein winziges Lämpchen beleuchteten Küche, die mehr Wohnzimmer als Küche ist, zurück. Dem großen, altmodischen Herd gegenüber steht ein mächtiges, braunrotes Sofa, auf dem gut drei erwachsene Personen Platz haben. Davor ein ovaler Tisch mit rotgewürfelter Decke darauf. Neben dem Küchenschrank eine altmodische Kommode mit hohem Pfeilerspiegel darüber, und in einer Ecke ein Schaukelstuhl aus Rohr. Aus dem Herd, dem eine Grude angebaut ist, strömt ein lieblicher Duft von gebratenen Äpfeln. Es ist sehr traulich in der halbdunklen Küche, und Frau Hiller, die sich nicht auf den Flur, auf dem die beiden Frauen stehen, herauswagt, schaut in die Glut der verglimmenden Kohlen. Draußen hört sie nun viele Stimmen. Die Frauen vom Nebenflur und die von oben und unten aus dem Hause sind im schmalen, dunklen Flur hier zusammengeströmt. Sie sprechen erregt. Man kann ihre Worte nicht verstehen; nur so viel hört man, daß etwas Entsetzliches sich zugetragen haben muß. Dann dringen sie in die Küche ein und scharen sich um Frau Hiller. Natürlich wissen sie alle längst alles, was über den neuen Hausgast zu erfahren war. Bisher sind sie ihr ein wenig scheu aus dem Wege gegangen; nun aber stehen sie plötzlich um sie herum, als seien sie alte, gute Bekannte. Die Wachtmeisterswitwe sagt unter Schluchzen: „Nun ist die Gewißheit da, gnädige Frau. Der Trompeter von oben ist tot. Und nicht mal richtig gefallen soll er sein, sondern in Belgien meuchlings ermordet!“ Fräulein Else hat die große Lampe angezündet, und die Augen all der Frauen sehen in Frau Hillers Gesicht. Die hat eine Sekunde lang die Hand über die Augen gelegt. Fräulein Else liegt in einer Ecke des Sofas und hat den Kopf in die Arme geworfen. Sie weint laut und schmerzlich auf -- sie weint so, wie nur eine weinen kann, die selbst um jemand bangt! „Und oben liegt die Frau und erwartet jeden Tag das Kind. Wer bringt ihr nur das bei?“ Die Wachtmeisterswitwe sagt in bestimmtem Ton: „Laßt erst das Kind da sein; vorher erfährt sie’s nicht!“ Die Frauen schweigen dazu und sind einverstanden. Frau Hiller steht neben dem weinenden Mädchen und möchte am liebsten mit ihr weinen. Sie streicht ihr übers Haar, und die Frauen um sie herum beginnen wieder zu sprechen. Fräulein Else weint und kann sich nicht beruhigen; die leidet wirklich und leidet furchtbar schwer. Frau Hiller möchte wissen, um wen sie leidet, aber sie mag sie nicht fragen. Leise gleitet sie aus dem Kreis der Frauen hinaus; in ihrem netten Wohnzimmer zittert ein Mondstrahl über Boden und Wand. Drüben liegt schwer und dunkel die Kaserne und wirft große, schwarze Schatten um sich. Die Wachtmeistersfrau tritt mit der großen Lampe zu ihr ins Zimmer, und Frau Hiller fragt, ohne es eigentlich zu wollen: „Warum weint Ihre Tochter so sehr? Ist sie verlobt?“ Die Frau sieht sie groß an. „Nein -- die ist nicht verlobt. Es ist der Jammer im allgemeinen, um den sie weint! Sie ist immer ein bißchen empfindlich gewesen; viel empfindlicher, als sich’s für unseren Stand paßt!“ Die Lampe steht auf dem Tisch und wirft einen großen, runden Kreis über Tisch und Boden. Die Wachtmeisterswitwe steht noch ein paar Minuten in der Tür; sie wartet, ob die Frau, die am Fenster lehnt, noch Lust hat, mit ihr zu schwatzen. Aber die fragt nichts, sondern schaut stumm auf die dunkle Straße hinunter. „Ja, ein jeder hat sein Päckchen zu tragen. Gute Nacht, gnädige Frau!“ „Gute Nacht!“ sagt Frau Hiller freundlich, lehnt dann wieder am Fenster und blickt zur Kaserne. * * * * * All die Tage über hat die Sonne ihren Glanz über die Erde ausgegossen -- September ist es geworden, ein ganzer Monat seit Ausbruch des furchtbaren Krieges vergangen. Was hat der Mensch in diesen dreißig Tagen alles fassen müssen! Welche Umwälzungen sind im Gehirn des einzelnen vorgegangen! Der Stumpfeste ist aufgerüttelt worden. Jeder hat einen Schmerz, ein Leid oder auch nur eine Enttäuschung erfahren. Viele, die klein und armselig waren, sind groß geworden in dieser kurzen Zeit. Deutschland ist von Sieg zu Sieg gegangen. Jubel ist durch die Lande gezogen. Viel Blut ist geflossen -- viel Entsetzliches ist geschehen. Aber die Sonne hat dazu geleuchtet -- warme Lüfte haben geweht, und die Abende sind kühl und wonnig gewesen. Wie aber wird es werden, wenn die Stürme brausen, wenn der Regen unaufhörlich niederströmt, wenn der Himmel grau und düster über der Erde liegt? Ein Septembersonntag ist es, der solch bange Ahnungen aufsteigen läßt. Zum ersten Male seit Wochen treiben schwere, schwarze Wolken am Himmel; die Straßen sind naß vom Regen der Nacht, und jeden Augenblick kann das Prasseln von neuem einsetzen. Die Landwirte haben sich’s gewünscht, daß es so kommen möchte, aber das Herz des Menschen ist bang und schwer. Man braucht die Sonne, um die Schwere der Zeit tragen zu können. Im Hof der Husarenkaserne haben sich die jungen Freiwilligen versammelt. Sie tragen Dienstanzug: die lederne Reithose und ihren gewöhnlichen Uniformrock mit den verblaßten Tressen. Aber die Knöpfe blitzen; die haben sie frisch geputzt. Auf dem Kopf die hohe Husarenpelzmütze mit der roten Zunge, die zur Seite herabfällt. Es ist der Tag, an dem sie den Eid auf die Fahne ablegen sollen. Vor der Kaserne stehen scharenweise Zivilpersonen. Väter und Mütter, die angereist kamen, um dem feierlichen Akt beizuwohnen, und junge Mädelchen aus dem Ort, die durchs Gitter, das die Kaserne von der Straße trennt, blicken. In Reih’ und Glied stehen sie da; die Wachtmeister gehen vor ihnen hin und her, und dann kommt das Kommando: „In Reihen antreten!“ Sie marschieren die lange Straße hin, biegen am Husarenweg ein. „Achtung, Augen links!“ kommandiert der Unteroffizier, und der Infanterieoberst, der im ‚Schwan‘ wohnt, geht an ihnen vorüber. Die kleine altmärkische Stadt ist weitläufig gebaut, sie hat schöne, altertümliche Plätze und eine gutgepflegte Promenade, die sich wie ein Ring rund um die Stadt zieht. Zwei große protestantische Kirchen recken ihre Türme hoch über sie hin; die eine ist die alte Marienkirche, die andere nennt man den Dom. Er liegt an einem freien Platz. Kastanienbäume breiten ihre Laubdächer aus. Die Wolken treiben noch immer am Himmel, und die Luft ist schwer und beklemmend. Auf einer Holzbank im Seitenschiff, an eine Säule gedrückt, sitzt Frau Hiller. Die Wachtmeistersfrau hat ihr geraten, zeitig zu gehen, denn zum Fahneneid läuft heute jeder in den Dom herunter. In der ganzen Stadt mag es kaum eine Seele geben, die nicht ein Interesse an der heutigen Feier hätte. Neben ihr sitzt eine andere Mutter -- auch aus Berlin -- auch hierhergekommen, um dieser feierlichen Handlung beizuwohnen. Sie sitzen eine gute Stunde dicht nebeneinander auf der Holzbank, ohne ein Wort zu sprechen. Es hat etwas Beklemmendes, bei grauem Wetter eine Stunde lang in einem leeren protestantischen Gotteshaus zu sitzen. Wohl wölbt sich das Dach hoch, von starken Säulen getragen, über dem Haupt. Man kann nicht das Gefühl haben, das den empfindsamen Menschen bei grauem Wetter in enger, niedriger Stube leicht überfällt, das Gefühl, daß Wände und Decken auf ihn niederzudrücken beginnen. Der Blick hat genügend Spielraum. Über die langen Reihen der leeren Bänke hinweg kann er zum Altar fliehen -- kann an den weißen Spitzen der Altardecke haften bleiben, zum Kreuz, das den Erlöser trägt, kann er fliehen. Oder zur Kanzel hinauf oder noch höher hin zu den herrlichen, großen, bunten Glasfenstern, die das Schönste und Kostbarste an diesem alten Bauwerk sein sollen. Und Frau Hillers Blicke irren von einem Ende der Kirche zum anderen; aber nirgends ein Ruhepunkt. Auch das Bild des gekreuzigten Heilands hält sie nicht. Warum ist er gestorben? Warum hat er geduldet? Warum hat er eine Welt erlöst, die doch immer wieder in Zwietracht und Finsternis versinken muß? Bang und verzagt sitzt sie an ihrer Säule. Alles Traurige und Schmerzliche aus ihrem Leben taucht vor ihr auf; Kindererinnerungen! Auch da schon bitteres Leid ohne äußeren Grund, auch da schon Schmerzen, für die es keinen Namen gab. Und von der Kindheit in eine Jugend, die wiederum Nöte und Kämpfe brachte. Eine Ehe, aus heißer Liebe geschlossen und vom Tod gelöst, nachdem ein mühseliger Weg des Leidens gemeinsam zurückgelegt war. „Die Menschen von heutzutage sind nicht mehr einfach genug zum Glücklichsein!“ sagt die Großmutter. „Zum Glücklichsein gehört Einfachheit des Gemüts, und wer diese Einfachheit nicht von der Natur bekommen hat, der soll sie sich erwerben!“ Die Großmutter sagt viel, und man hört leicht über sie hinweg. Aber nie hat Frau Hiller so oft an die alte Frau und ihre Aussprüche denken müssen als jetzt in dieser Zeit, die von jedem Menschen Einfachheit und Stärke fordert. Sie sitzt an ihrer Säule und sieht in den leeren, weiten Kirchenraum. Ein einziges Glück hat sie in ihrem Leben gehabt, das ihr treu geblieben ist, und dies Glück fing an mit dem Tag, an dem das Kind geboren wurde. Das Kind war das einzig Wirkliche und Große in all dem Gewoge in ihrer Seele geblieben. Das Kind war wie eine Melodie, die sie ihr ganzes Leben lang begleitet hat, oft überbraust von wilderen, rauschenderen Klängen, aber nie verstummt! Das Kind, der Junge, ist auch heute noch ihr einziges Glück. Aber wenn sie an ihr Kind denkt, dann ist sie mit ihm in Berlin in ihren Zimmern; dann ist er der anschmiegende, zarte, feine Junge mit den Träumeraugen! Der Husar, der jetzt hier in der altmärkischen Garnison lebt und der im Kampf zwischen Kind und Mann liegt, ist ihr noch zu fremd. Auch die Frau, die neben ihr sitzt, ist versunken; auch deren Augen blicken starr und still vor sich hin. -- Die Bänke in den Seitenschiffen beginnen sich zu füllen. Die Glocken setzen ein -- mächtig hallt ihr Ton in der großen Kirche wieder. Zwei große Kerzen zu Seiten des Gekreuzigten sind entzündet worden. Ihr flackernder Schein tanzt um die Leidensgestalt. Schritte hallen draußen im Vorraum -- eine Bewegung -- ein Rauschen. Voran der Küster, der die Plätze anweist, und im Augenblick ist die Kirche gefüllt von den graugelben Uniformen. Die Köpfe derer, die in den Seitenschiffen sitzen, recken sich. Ein jeder möchte den, um dessentwillen er hierherkam, sehen. Lange sucht Frau Hiller nach ihrem Jungen. Sie sehen alle gleich aus, die glattgeschorenen Köpfe über den bunten Kragen. Ein kleines Grauen ist in ihr, während sie ihn sucht. So verschwunden in der Masse ist er; einer ist soviel wert wie der andere! Sie sind nicht mehr Menschen für sich; sie gehören einer großen Einheit an, die keine Unterschiede duldet. Schließlich erkennt sie Ernst an der hohen Stirn und an der Haltung des Kopfes. Er hat ihr auch fast unmerklich zugenickt; aber dann sieht er nicht mehr zu ihr hin, sitzt ernst und feierlich zwischen den anderen. Die Glocken verhallen, und die Orgel setzt ein. „Ein’ feste Burg ist unser Gott!“ Ein vielgesungenes Lied in dieser Zeit. Man braucht das alte Lutherlied jetzt nötiger als sonst. Man versteht erst jetzt eigentlich so ganz den tiefen Sinn. Mächtig rauscht der Chor durch die Kirche; ergreifend für die, die in den Seitenschiffen sitzen, die in so enger Beziehung zu den jungen Sängern stehen. „Und wenn die Welt voll Teufel wär’!“ -- Es ist herrlich, mit welcher Kraft sie das herausstoßen! Die Welt ist voller Teufel -- aber wenn man diesen Gesang hört, hat man keine Angst vor ihnen. Frau Hiller kann den Blick nicht von der hohen, reinen Stirn ihres Jungen loslösen. Er ist jetzt ganz der Sache hingegeben, denkt nicht mehr an die Mutter. Der Geistliche ist vor den Altar getreten und spricht ein Gebet. Die Husaren stehen mit geneigten Köpfen; der Regen schlägt an die hohen Fenster, und ein rauher Wind heult um die Ecken der Kirche. Die Orgel setzt wieder ein; das Singen übertönt das Unwetter, das draußen tobt, und der Pfarrer steigt auf die Kanzel. „Liebe junge Freunde!“ sagt er. „In anderen Jahren, wenn es galt, den Eid der Treue an dieser Stätte zu leisten, geschah es bei aufgerollter Fahne. Heute ist unsere Fahne in Feindesland -- heute gilt es einen Eid zu leisten, der sogleich in allen Punkten Erfüllung heischen wird!“ Die Worte klingen schwer und wuchtig und werden von den Wänden der Kirche zurückgeworfen. „In eine große, ernste und doch herrliche Zeit tretet ihr, die ihr noch an der Schwelle des Lebens steht, ein! Beneidenswerte Jugend, die ihr eure ersten, frischesten Kräfte dem bedrängten Vaterlande weihen dürft!“ Die Gesichter der Husaren blicken zur Kanzel empor. Blutjunge Gesichter sind es zumeist -- ernst, voll tiefer Begeisterung sehen sie zu dem, der zu ihnen spricht, empor. Aus den Seitenschiffen klingt es wie leises Schluchzen. Tücher werden an die Augen geführt. Mutterherzen bluten; Mutterherzen wollen sich auflehnen gegen das Gewaltige, das von ihnen gefordert wird. Der oben auf der Kanzel steht, spricht unendlich gütig und liebevoll zu denen, die heute den Schwur der Treue leisten wollen. Er spricht von Deutschlands Feinden, die, von Neid, Haß und niedrigen Instinkten getrieben, den Willen haben, das Deutsche Reich zu zerstückeln, zu vernichten. All die unerhörten Ereignisse, die diese Wochen bewegten, läßt er von der Kanzel herab an den jungen Menschen, die gewillt sind, ihr Vaterland zu schützen, vorüberziehen. Ein jeder, der in der großen Kirche sitzt, hat alles das, was da aufgezählt wird, noch frisch im Gedächtnis. Und doch -- wie es hier aneinandergereiht wird, wie man es förmlich wie die Glieder einer Kette vor sich erstehen sieht -- da glaubt man wieder, ein Stück aus ferner Vergangenheit tolle sich hier auf. Eine jede Mutter, die im Seitenschiff der Kirche sitzt, wird ihre Seele erschauern fühlen, eine jede wird in furchtbarem Zwiespalt mit sich selbst sein. Hat sie dafür ihr Kind geboren, daß es, kaum ins Leben eingetreten, sich schon opfern soll. Hat sie ihr Kind geboren, damit es in einem Kriege, der tückischer, bestialischer geführt wird als je ein Krieg aus der Vorzeit, nicht einmal von offener Kugel getroffen, sondern vielleicht hingeschlachtet werden soll? Unausdenkbar! Grauenvoll! Oh, wie zucken, wie bluten die armen, wehen Herzen im Seitenschiff, während die, an die die Rede gerichtet ist, froh und begeistert zur Kanzel aufschauen. Dem, der da oben steht und zu der jungen Schar künftiger Helden spricht, ist eine herrliche Redegabe verliehen. Mag sein, daß die Größe der Zeit ihren Teil daran hat; aber es ist, als sei ein Gottgesandter hier in diesem Raume erschienen -- einer, der das Wort des Herrn mit der ganzen Gewalt und Inbrunst, die es besitzt, wiedergibt. Wilder wütet der Sturm ums Gotteshaus; es ist, als höre man Kriegslärm; es ist, als solle man hier drinnen im Frieden des heiligen Hauses besonders eindringlich an all das Böse und Wilde, das draußen in der Welt vor sich geht, erinnert werden. Ein Gebet wird gesprochen -- ein stilles, gutes, inbrünstiges Gebet zu dem, der die Geschicke lenkt, der dem Recht zum Sieg verhelfen und das Unrecht bestrafen muß! Oh, wer so einfach glauben und zu Gott vertrauen kann! Die Husaren stehen mit geneigten Köpfen, die Orgel intoniert eine leise Melodie, und an Stelle des Geistlichen tritt nun ein junger Offizier vor die Soldaten hin. Hellgrau ist seine Attila und mit silbernen Tressen besetzt. In voller Gala, mit Bandelier und Schärpe steht er da. Die Orgel spielt ganz leise, so daß es wie ein geheimes Wogen durch die Kirche geht. Er liest den Fahneneid: „Ich schwöre zu Gott, dem Allwissenden und Allmächtigen, einen leiblichen Eid, daß ich Seiner Majestät dem König von Preußen, Wilhelm dem Zweiten, meinem allergnädigsten Landesherrn, in allen und jeden Vorfällen, zu Lande und zu Wasser, in Kriegs- und Friedenszeiten und an welchen Orten es immer sei, getreulich und redlich dienen, Allerhöchst dero Nutzen und Bestes befördern, Schaden und Nachteil aber abwenden, die mir vorgelesenen Kriegsartikel und die mir erteilten Vorschriften und Befehle genau befolgen und mich so betragen will, wie es sich für einen rechtschaffenen und ehrliebenden Soldaten eignet und gebührt. So wahr mir Gott helfe durch Jesum Christum und sein heiliges Evangelium.“ Die Husaren haben sich erhoben. Der Offizier weist noch einmal auf den tiefen, erschütternden Ernst des Augenblicks hin, dann tritt er erst zu jenen, die anderen Bundesstaaten angehören, und nimmt ihnen den Schwur ab. Er spricht die einzelnen Worte vor, und der Schwörende spricht sie -- die Eidfinger erhoben -- nach. Seltsam, fast wie ein Mißklang tönen die klaren, schweren Worte zum leisen, tragenden Spiel der Orgel. Nur wenn die Schlußworte kommen, wenn sie sagen: „So wahr mir Gott helfe durch Jesum Christum und sein heiliges Evangelium!“ klingt beides, die gesprochenen Worte und das leise Orgelrauschen, wie ein hohes, hehres Lied zusammen. Einer nach dem andern schwört mit ernster, fester Stimme sein Leben dem Vaterlande zu. Ein jeder will bluten, will sterben! Ein jeder will mit tausend Freuden sein junges Leben dem Vaterland hingeben. Warum weinen da so viele von den Frauen, die in den Seitenschiffen sitzen? Warum jauchzen sie nicht? Warum schwillt ihr Herz nicht in Stolz und Seligkeit darüber, daß sie Söhne geboren haben, die sich der großen Zeit würdig erweisen? Ach, immer mag es so im Leben sein: Wer zu großer Tat von den Seinen wegzieht, dem wird der Abschied nicht schwer. Der ganze furchtbare, überwältigende Schmerz rast in den Herzen derer, die geben müssen, die zum Abwarten verdammt sind. Wer bringt dem Vaterland das größere Opfer: der junge, begeisterte Soldat, der, von tausend Hoffnungen beseelt, hinauszieht -- oder die, die ihn geboren hat, und die in diesen Augenblicken, da ihr Kind von einer anderen, größeren Macht gefordert wird, alle Wonnen, alle Schmerzen, das ganze Leben dieses Kindes von jener Zeit an, da sie es noch unter dem Herzen trug, wieder durchkosten muß. „Groß sind die Zeiten, und groß sollen auch die Menschen sein!“ Frau Hiller denkt an diese Worte der Großmutter, und doch ist ihr, als müsse sie aufschreien. Ihr Junge hat mit all den anderen, die preußische Staatsangehörige sind, die Schwurfinger erhoben. Im Chor mit ihnen spricht er die Worte, die der Offizier in der hellgrauen Attila ihnen vorsagt. Die Orgel spielt -- der Regen peitscht gegen die Fenster -- der Sturm ist zum Orkan geworden; er heult und schreit und winselt ums Gotteshaus. Die Lichter am Altar flackern um das stille Kreuz des Dulders: „So wahr mir Gott helfe durch Jesum Christum und sein heiliges Evangelium!“ Ihr Kopf lehnt an der Säule; schwarz ist ihr vor Augen. Eine rohe Faust martert ihr Herz. Um sie herum ist das Schluchzen der anderen Mütter. Leiden die alle dasselbe wie sie? Sind sie in diesen Augenblicken genau wie sie durch Höllen gewandert? Sie fühlt ihre Hand von der ihrer Nachbarin umschlossen. Eine zitternde Hand ist es, die die ihre umfaßt, aber es tut wohl. Alle Mütter in der ganzen Welt, die ihre Söhne dahingeben -- müssen sich verbunden fühlen in dieser Zeit -- -- -- die höchste und die niederste müssen sich lieben, denn was ist Rang und Geld und Würde neben diesem bitterheißen, gewaltigen, heiligen Schmerz, den sie alle, alle durchkosten müssen? Der kleine Hiller sucht die Blicke der Mutter und nickt ihr ernst und kindlich stolz zu. Viel warmes Leben, viel Freude ist in diesem Blick. Sie staunt darüber, aber sie fühlt, wie das Blut ihr wieder wärmer zum Herzen strömt. Die Orgel spielt lauter -- das Haus wird erfüllt von den mächtigen Klängen. Das Gefühl des Unheimlichen, das Gefühl des Schauerns ist vorüber. Helleres Licht bricht durch die Fenster -- die Seele wird emporgetragen. Vor ein paar Augenblicken, als die jungen Menschen die schwer feierlichen Worte sprachen, waren die armen Seelen in einem dunklen Raum gewesen. Eine jede Mutter mochte da wohl ihren Sohn schon verloren gegeben haben. Nun aber erhält sie ihn wieder. Der Pfarrer steht auf der Kanzel; er spricht die einzelnen Strophen des wundervollen Liedes: ‚Wir treten zum Beten vor Gott, den Gerechten!‘ Und die Orgel jauchzt -- die Stimmen setzen ein und schwellen an -- keine Mutter schluchzt jetzt mehr; kein Herz ist mehr dunkel und verzagt. „Herr, mach’ uns frei!“ braust es durchs Gotteshaus. „+Herr, mach’ uns frei!+“ Und die Wände werfen es zurück -- die Orgel spielt ein hohes Feierlied. Alle Herzen sind frei geworden; alle bangen Herzen sind stolz und froh geworden. Der Pfarrer ist wieder vor den Altar getreten; er breitet die Hände aus: „Der Herr segne und beschütze dich. Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir! Der Herr gebe dir seinen Frieden. Amen!“ Die Husaren verlassen reihenweise die Bänke und versammeln sich um ihre Führer; die aus den Seitenschiffen strömen dem Ausgang zu. Draußen auf dem Platz vor der Kirche sehen sie sich wieder. Das Unwetter hat ausgetobt -- -- durch die grünen Kastaniendächer bricht leise die Sonne durch. Die Mütter möchten zu ihren Söhnen eilen und sie ans Herz drücken; aber die stehen in Reih’ und Glied, und der Offizier hält eine Ansprache an sie -- eine kurze, knappe, begeisterte Ansprache, die in einem Kaiserhoch endet. Die Unteroffiziere kommandieren, die Husaren schwenken in Reihen ab -- kehren zur Kaserne zurück. -- Am Mittag ist lustige Tafel im ‚Schwan‘. Die Husaren haben ihre Extrauniform angezogen. Die Gesichter glänzen, als sie an die gedeckten Tische treten, denn sie sind hungrig. Der Oberkellner hat Frau Hiller zu einem Tisch geführt, an dem schon ein Elternpaar mit einem Husaren sitzt. Man ist im Augenblick befreundet, und die beiden jungen Freiwilligen rücken mit Kasernenwitzen heraus. Die Unterhaltung geht im ganzen Saal von Tisch zu Tisch. Es wird sehr lustig. Die Eltern lassen Sekt auffahren. Es ist ein Freuden-, ein Ehrentag heute; die Jugend, die in ein paar Wochen für Deutschlands Ehre kämpfen will, muß gefeiert werden. Sie läßt sich’s gern gefallen. Der kleine Hiller hat heute nichts vom Philosophen an sich. Glücklicher und lebensfroher können keine Augen strahlen, als die seinen es tun. Hipp kommt nach dem Dessert mit seinem Vater, dem reichen Fabrikanten, an den Tisch und setzt sich neben Hiller. Die beiden lachen und schwatzen miteinander, und Frau Hiller muß an den Abend am Pappelweg denken, an dem ihr Ernst so schwermütig und ablehnend über die Welt und auch über Hipp geurteilt hat. Heute weiß er nichts mehr davon. Heute ist er Hipps Kamerad -- heute ist er Soldat und nichts weiter. Die Mutter ersehnt den Augenblick, an dem sie den Jungen für sich haben wird. Sie denkt an den Konfirmationstag zurück. Diesem Tag waren eine ganze Zahl schwerer Wochen voraufgegangen, denn der junge Philosoph hatte Gewissensnöte gehabt. Er wollte nicht an den Tisch des Herrn treten, denn sein Verstand lehnte sich gegen das Gelübde des Glaubens, das er ablegen sollte, auf. Die Großmutter, die auf Ordnung hielt, hatte ihn damals zur Vernunft gebracht. Aber den ganzen, schweren Tag über hatte der Junge damals auf den Augenblick gewartet, an dem er die Mutter für sich haben würde, und die Mutter hatte aus einer unbestimmten Angst vor diesem Alleinsein die Großmutter nicht von ihrer Seite gelassen. Heute tritt das Umgekehrte ein. Heute ersehnt sie die stille Stunde einer Aussprache, und der Junge weicht ihr aus. Sie wollen alle zum Photographen; sie müssen natürlich eine Erinnerung an diesen Tag haben. Und um fünf Uhr müssen sie zur Pferdetränke in der Kaserne sein. Am Abend aber hat Hiller auf Wache zu ziehen. Keine Minute also für die Mutter, und das ist gut. Er will Mann sein; er will stark und lustig sein! Der Mutter tut das Herz weh, das weiß er. Aber sie soll es ihm nicht sagen. Es nutzt ja nichts. Hinaus will er und muß er. Wozu da noch Worte und Tränen? Der Sekt schmeckt ihm; der reiche Fabrikant hat noch eine Flasche bestellt und gießt ein. Die Stimmung wird übermütig. Im Saal ist’s heiß; sie haben gut gegessen -- nun trinken sie und rauchen gute Zigarren. In den Hof des Hotels zieht eine Musikerbande. Orgel, Pfeife und Klarinette: „Die Vöglein im Walde, sie singen so wunder-wunderschön: In der Heimat -- in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn!“ Die Sangeslust erwacht. Irgendwo an einem Tisch setzt eine Stimme ein. Vorgesetzte sind nicht im Saal. In die eine Stimme fallen die andern, draußen orgeln und blasen sie, und drinnen singen sie in all ihrer jungen Lebensfreude: „Die Vöglein im Walde, sie singen so wunder-wunderschön: In der Heimat -- in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn!“ Die Zeit fliegt dahin; halb fünf Uhr. Die Husaren stehen von den Tischen auf. „Wiedersehn, Mutter!“ sagt der kleine Hiller -- schnallt den Säbel um, setzt die hohe Mütze auf den Kopf, geht an Hipps Seite davon und läßt die Mutter unter den fremden Menschen im Hotel zurück. * * * * * Der Eid der Treue ist geleistet, nun gibt es kein Zurück mehr. Am nächsten Tag geht die Sache verteufelt stramm los! Es nützt kein Fackeln! Wer weiß, wie bald Deutschland auch seine jüngsten Kräfte braucht! Man hofft es nicht, und es ist auch kein Grund zum Schwarzsehen vorhanden. Aber der Feind ist mächtig; der Feind wird gepeitscht vom elenden Briten. Deutschland soll und muß vernichtet werden! Aber Deutschland läßt sich nicht vernichten! Deutschlands Jugend jubelt: ‚Noch sind wir da, sie sollen nur kommen!‘ Die Begeisterung ist groß, ist riesengroß. Jeder von ihnen wird ein Held sein, wenn er dem Feind gegenübersteht! Aber Begeisterung ist etwas, was ewig von neuem geschürt werden will. Begeisterung muß immer neue Nahrung haben -- genau wie ein Feuer im Kamin -- sonst erlischt sie. Der Drill ist aber eintönig, und das ewige Putzen an Pferden, Sattel- und Zaumzeug und an den Uniformen erst recht! Wo soll da die Begeisterung herkommen? Und doch und doch und doch! Sie vergessen es nicht und dürfen es nicht vergessen, daß dieser Drill dem Dreinhauen vorangehen muß. Alles in der Welt will gelernt sein -- auch das Dreinhauen, das so einfach scheint. Neben ‚Vize‘, der zwar sehr stramm, aber auch sehr gerecht ist, haben sie einen zweiten Wachtmeister bekommen, mit dem im Dienst nicht gut Kirschen essen ist. Er ist groß im Androhen von schweren Strafen, aber er ist auch groß im Verzeihen. Und wenn er guten Willen bemerkt, läßt er sich herab, seine Anerkennung nicht zu versagen; in der Kantine beim Glas Bier kommt es vor, daß er außerordentlich gemütlich wird; aber wenn sein Zorn gereizt wird, kann er rasend werden. Er hat die echtesten Kavalleriebeine und reitet tadellos; und da er sich rühmt, einen jeden, auch den störrischsten Gaul zu bemeistern, verlangt er dasselbe von seinen Schülern. Er ist entsetzt, daß sie in all der Zeit, die sie nun schon hier sind, noch so wenig gelernt haben. Ein paar unter ihnen kommen immer noch nicht glatt durch den Sprunggarten. Das ist ein starkes Stück, aber er wird ihnen beikommen! Er kann entsetzlich schreien; die Ohren sausen dem, in dessen Nähe er steht und der seine Ungnade erworben hat. Für den kleinen Hiller, dem man zum drittenmal ein neues Pferd gegeben hat, ist das, welches er jetzt erhalten, ein wenig zu hoch. Es ist verteufelt schwer, sich in den Sattel zu schwingen. Das Tier heißt wegen seines Benehmens ‚Verbrecher‘; es beißt und keilt aus. Hillers Schienbein hat eine starke Anschwellung, die von einem Tritt herrührt. Er hätte sich daraufhin krank melden können, haben ihm seine Kameraden gesagt. Aber er mag nicht ins Lazarett, denn er hat das sichere Gefühl, daß sich irgend etwas Großes in der Welt ereignen wird, wenn er nicht zugegen ist. Und wenn er sich ausdenkt, daß er eines schmerzenden Schienbeins wegen im Bett liegt und die anderen vielleicht gerade dann ausrücken, vergehen die Schmerzen ganz von selbst. Er ist keine Memme und kann schon was ertragen. Der neue Wachtmeister braucht eine sehr erhebliche Zeit, bis er einen vom andern unterscheiden lernt. Er kennt niemand beim Namen und weiß nicht, wer Einjähriger und wer Dreijähriger ist. ‚Vize‘ hatte darin ein viel feineres Unterscheidungsvermögen. Zu Hiller sagt er eines Tages: „Zeig’ mal her, du Aas, wie du deine Sporen sitzen hast!“ Und als es nichts zu tadeln gibt, fragt er: „Wie heißt du?“ Hiller, ohne es zu wollen, reckt sich, und sein Gesicht nimmt einen hochmütigen Ausdruck an. Er nennt seinen Namen, und der Wachtmeister sagt: „Ach so, ’n feines Aas also! Aber hier bist du ein Rekrut wie alle anderen, merk’ dir das!“ Hiller hat auf den Lippen, zu erwidern: „Sie irren, Herr Wachtmeister, ich bin Kriegsfreiwilliger!“ Aber er ist schon zu sehr Soldat -- zu sehr ist ihm Gehorsam und Disziplin schon ins Blut übergegangen. „Zu Befehl, Herr Wachtmeister!“ sagt er und läßt das ‚Aas‘ auf sich sitzen. Abends unterhält sich der Wachtmeister sehr freundschaftlich mit ihm und fragt ihn nach seinen näheren Verhältnissen aus. „So -- der Vater ist schon lange tot! Hm -- und er ist das einzige Kind! Schwer für die Mutter!“ Er wird gerührt und ist wirklich nett und herzlich zum kleinen Hiller. Der benutzt die gute Gelegenheit, ganz bescheiden zu erwähnen, daß sein neues Pferd, der ‚Verbrecher‘, zu hoch für ihn sei und dazu gemein ausschlage; aber mit diesem Anliegen hat er kein Glück. Der Wachtmeister reißt den Mund weit auf und läßt gleich wieder die große Kluft, die den Vorgesetzten vom Untergebenen scheidet, entstehen. „Mensch, denkst du, daß du dir im Feld einen Gaul aussuchen kannst? Wenn dir da dein Tier unter dem Leib weggeschossen wird, glaubst du, daß da gleich ein Dutzend um dich herumwiehern, damit du dir das bequemste aussuchen kannst? Nee, gibt’s nicht, mein Junge. Und wenn ein Pferd so hoch ist wie ein Turm, raufkommen muß einer, der sich Kavallerist schimpft. Sollst mal sehen, was ich von jetzt an für ein Auge auf dich haben werde, und in spätestens einer Woche kommst du mit Eleganz auf dein Tier rauf, das schwöre ich dir!“ Teufel, ja -- da hatte Hiller sich was eingebrockt. Der Wachtmeister ließ ihn nicht mehr aus den Fingern. Fünfmal hintereinander: „Rauf aufs Pferd und wieder runter!“ Beim fünftenmal ging es gewöhnlich. „Draußen im Feld wirst du deinem Wachtmeister danken! Da wirst du dir vielleicht mal sagen: ‚Donnerwetter, der Kerl hat’s gut mit mir gemeint!‘ Denn das hat schon manchem im Feld das Leben gerettet, wenn er tadellos auf jeden Gaul hinaufkann. Das kannst du dir da drüben auch merken, du Sonntagsreiter du! Häng’ mal mit deinen zweihundert Pfund nicht wie ein Mehlsack auf dem armen Biest!“ Hipp, an den die Worte gerichtet sind, sieht den Wachtmeister in der gewohnt-treuherzigen Art an. „Zu Befehl, Herr Wachtmeister, ich wiege nur hundertvierzig Pfund!“ wagte er zu sagen. „Schnauze halten!“ schreit der Wachtmeister wütend. „Wenn ich sage, daß du zweihundert Pfund wiegst, dann wiegst du eben zweihundert Pfund. Im übrigen werde ich auch dich mal im Auge behalten, dann wird dir das Antwortgeben bald vergehen!“ Hipp und Hiller werden, ohne daß ein besonderer Grund dazu vorliegt, von allen Kameraden und auch von dem Wachtmeister für etwas Zusammengehöriges angesehen. Sie haben weder im Äußeren noch in ihrem Wesen irgendwelche Ähnlichkeit, und auch ihre Leistungen sind sehr verschieden. Aber sie sitzen oft beieinander, und wenn Hipps Vater in die Garnison angereist kommt -- und das tut er häufig -- ladet er den jungen Hiller jedesmal mit ein. Weil die Umgebung sie zu Freunden gestempelt hat, sind sie’s auch in der Tat geworden. Hiller hat jetzt absolut keine Zeit zum Grübeln und zum Kritisieren, und da Hipp umgänglich und zutunlich ist, nimmt er ihn, wie er ist. Der neue Wachtmeister hat sich die beiden in der Tat zu besonderen Freunden auserkoren. Er brüllt sie im Dienst an und ist väterlich freundlich zu ihnen, wenn er sie in der Kantine trifft. Das muß man ihm lassen: er hat ein eigenes Talent, den Vorgesetzten mit dem Freund zu vereinen. Hat er Vorgesetzter zu sein, so ist er es ganz und gar; und kann er Freund sein, so weiß man nichts mehr vom Vorgesetzten in ihm. Sie haben ihn gern und fürchten ihn, und das ist das Idealste, was ein Wachtmeister von seinen Rekruten verlangen kann. Hiller hat sein Pferd, den ‚Verbrecher‘, allmählich liebgewonnen. Er hat sich mit ihm quälen müssen und ist dann Herr über seine Tücken geworden; das freut ihn, und er klopft das Tier am Hals und gibt ihm Zucker. Aber nun, da er endlich zur Freundschaft mit ihm gelangt ist, muß das eintreffen, was er im Anfang so oft gewünscht hat. Der ‚Verbrecher‘ läßt den Kopf hängen und frißt und sauft nicht. Hiller redet ihm gut zu, denn das Tier kennt seine Stimme, und in gesunden Tagen hat es den Kopf ihm zugewandt, sobald es seinen jungen Herrn kommen hörte. Jetzt bleibt es teilnahmslos, und Hipp sagt: „Sei froh, das Biest krepiert!“ Hiller macht dem Wachtmeister Meldung über das Befinden des Tieres, und der sieht sich den Gaul von rechts und links an, tastet ihm die Glieder entlang und entdeckt eine Geschwulst. Er läßt ein paar Donnerwetter los und schickt Hiller zum Veterinär. Eine Stunde später steht der kleine Husar sehr bleich beim Arzt im Krankenstall und hält ein Bein des Pferdes hoch. Der Veterinär hat einen tiefen Schnitt in die Geschwulst gemacht und fährt mit Instrumenten in der wehen Stelle herum. Das Tier schreit und das Bein zuckt in Hillers Händen. Alles Blut ist ihm vom Gehirn zurückgewichen; kalte Schauer rieseln ihm über den Rücken, und die Hände, die das Bein halten, zittern. Er kämpft mit einer Ohnmacht und fühlt, wie ihn etwas zu Boden reißen will. Auch der Magen revoltiert, und der Arzt wirft einen prüfenden Blick auf ihn, fährt aber ruhig in seiner Beschäftigung fort. Das Tier stöhnt und wirft den Kopf von einer Seite auf die andere. Die nasse Schnauze streift Hillers Wange, und ihm bricht der Schweiß aus. Die Kniee wanken unter ihm, und vor den Augen tanzen schwarze Punkte... Der Arzt räuspert sich: „Ich bitte, das Bein höher halten!“ Hiller möchte aufschreien. Der Arzt kommt ihm wie ein Schlächter vor. Das Tier ist halb wahnsinnig vor Schmerz, und er hält das Bein, ohne noch zu wissen, daß er es hält. Dabei sieht er nach dem Stallausgang. Wenn doch ein Mensch vorbeikäme, den er anrufen könnte. Aber niemand kommt. Nun fängt auch das Herz an zu klopfen; bis zum Hals hinauf hämmert es. Er fühlt, daß das Bein des Tieres ihm entgleiten will, und hat noch gerade das Bewußtsein, sich zu sagen, daß es schmachvoll für ihn sein wird, wenn er nicht standhält. Sein Wille arbeitet mit letzter Kraft. Draußen im Feld wird er Schlimmeres sehen müssen, sagt er sich. Und wenn er hier nicht standhält, wenn der Arzt vielleicht seinen Wachtmeistern erzählt: ‚Teufel, da habt ihr aber einen netten Helden als Freiwilligen! Der wird ja Deutschlands Jugend glorreich vertreten, wenn er hinauskommt!‘ Wenn dieser Mann mit der breiten Stirn und dem energischen Mund das von ihm erzählt, dann ist’s um ihn geschehen, dann läßt man ihn nie und nimmer hinaus. Er weiß nicht mehr, sind es Minuten oder sind es Stunden, die vergehen, während er hier steht und gegen seine Schwäche ankämpft. Aber der Arzt fängt nun leise an zu pfeifen bei seiner Arbeit, und das Tier wird ruhiger. „Sie können das Bein fallen lassen!“ hört Hiller sagen, und hart läßt er den Huf auf die Erde aufschlagen. „Holen Sie Wasser!“ Hiller kommt aus der dumpfen Stalluft ins Freie, eilt an den Brunnen und kühlt sich das matte Gesicht. Der Körper ist noch schwach und zittrig, aber der Kopf kann schon wieder klar denken. Er hat standgehalten, und niemand wird etwas Kränkendes über ihn sagen können. Der Arzt spricht, während er sich die Hände wäscht, sehr freundlich mit ihm. „Freiwilliger, was? Das war ein gemeines Stück Arbeit an der armen Kreatur! Verloren ist sie doch, aber es ist genau wie beim Menschen: Man muß es bis zum letzten versuchen. Und wenn es wirklich zu heilen ist, so gibt es doch kein Kriegspferd mehr. Sie können sich gleich ein neues von Ihrem Wachtmeister verschreiben lassen. War ja auch eigentlich viel zu hoch für Sie, dieser Gaul! Wie sind Sie denn da überhaupt raufgekommen?“ Hillers Augen strahlen den Arzt an. „Es ging ganz gut!“ sagt er nicht ohne Stolz, und der Arzt lacht. „Um so besser für Sie! Draußen wird es Ihnen zugute kommen, wenn Sie auf jeden Bock hinaufkönnen!“ Zwei Tage später wird der ‚Verbrecher‘ erschossen und in einem Karren zum Abdecker gebracht. Hiller hat Mühe, seines Schmerzes Herr zu werden. Am Abend hat er Stallwache und sitzt auf der Futterkiste. Da kommen ihm fast die Tränen. Er hat jetzt ein Pferd, das besser zu ihm paßt: einen hübschen, schlanken Fuchs; aber er kann sich noch nicht darüber freuen. Mit der ganzen Leidensfähigkeit der Jugend durchlebt er immer wieder die qualvolle Stunde, die das arme Tier vergebens durchkosten mußte. Der Philosoph wird wieder in ihm geweckt. Er begreift nicht, warum Gott oder das Schicksal, oder auch nur die unsichtbare Macht, die über uns waltet, so viel unnötige Qualen in die Welt schickt. Und von der unnötigen Qual, die das Tier erdulden mußte, kommt er auf das Leid der Menschheit zurück -- auf diesen entsetzlichen Krieg, der Millionen und Millionen in Elend und Trauer versetzt. Wer ist es, der alles das zuläßt? Geht all das wirklich von dem aus, der die Geschicke der Welten in seiner Hand halten solle, und der der Allgütige, der Allbarmherzige genannt wird? Zu Hillers Glück gesellt sich ein Kamerad zu ihm, bevor sein Geist sich ganz von den düsteren Grübeleien einfangen läßt. „Donnerwetter,“ sagt der und streichelt das neue Pferd. „Du bist ein Glückspilz. Du hast jetzt den besten Gaul vom ganzen Beritt. Sag’ mal, hast du vielleicht noch Moneten, dann könnten wir uns einen ‚alten Mann‘ zum Wachen kaufen und gehen in die Kantine.“ Ja, Hiller hat Geld, und der ‚alte Mann‘ ist schnell zur Stelle; aus dem dunstig-warmen, trübselig erleuchteten Stall kommen sie in den lustigen Kantinenraum. In der Kantine vergißt man das Denken und Grübeln ganz von selbst. Hier duftet’s nach kräftigem Essen, Zigarren und Alkohol; hier wird gelacht und gesungen und politisiert. Hiller ißt und trinkt mit den anderen. Das Schicksal des armen ‚Verbrechers‘ ist vergessen, und da man ihm von allen Seiten zu seinem Fuchs gratuliert, fängt er an, sich über das feine, schnittige Tier zu freuen. -- Am nächsten Tag soll das erste Nachtgefecht stattfinden. Am Tag haben sie schon ein paarmal diese kriegerischen Übungen gemacht, und es war schön und interessant, weil man dabei eine blasse Vorahnung vom Krieg bekam. Nun sollte es zum erstenmal in der Dunkelheit geprobt werden. ‚Vize‘ liest am Morgen die allgemeine Kriegslage vor: Zwei Parteien werden gebildet, wovon die eine den Freund, die andere den Feind darstellt. Der Feind trägt die hohe Pelzmütze, der Freund die kleine Dienstmütze. Es gilt die Bahn zwischen der altmärkischen Garnison, in der sie sich befinden, und der Nachbarstation gegen feindliche Angriffe zu schützen. Mehrere kleine Posten werden in Abständen von je hundert Metern aufgestellt, und Patrouillen sollen ausgeschickt werden, um Fühlung mit dem Feind zu halten. Der Feind hat die Aufgabe, die Bahn zu zerstören; das soll durch einen Schuß, der direkt vor dem in der Nacht durchfahrenden ~D~-Zug abzugeben ist, markiert werden. Diejenige der beiden Parteien, die zuerst zur Bahn gelangt und den Schuß abfeuert, geht als Sieger hervor. Die Husaren werden verteilt, und jeder bekommt seinen Auftrag. Der Wachtmeister sucht sich natürlich wieder Hipp und Hiller aus und dazu einen ‚alten Mann‘, der ihm beim Rekognoszieren helfen soll. Die beiden Freiwilligen haben nichts weiter zu tun, als sich seinen Anordnungen zu fügen und sich gut zu Pferde zu halten. Um sieben Uhr, als gerade die Dämmerung anfängt, in Dunkelheit überzugehen, reiten sie zu den Kasernentoren heraus: Karabiner über der Schulter -- die Lanzen im Arm. Der Feind reitet nach rechts -- die mit den Dienstmützen nach links. Der zweite Wachtmeister macht ein ernstes, würdiges Gesicht und läßt einen flotten Trab annehmen. Über den großen Exerzierplatz hinweg geht’s durch einen dunklen Wald. Hiller ist zwar mit Leichtigkeit auf seinen neuen Gaul, den Fuchs, hinaufgekommen. Aber nun er oben ist, büßt er sehr schnell sein Behagen ein, denn das Tier ist sehr temperamentvoll und nervös; bei jedem unbekannten Geräusch zuckt es zusammen und scheut. Im Wald müssen sie über unzählige Hindernisse, und der Wachtmeister mit dem ‚alten Mann‘ fliegen dahin, als ritten sie über glatten Boden. Hipp rutscht zweimal von seinem Gaul herab und schimpft und flucht, und Hiller bearbeitet seinen Fuchs mit Schenkeln und Sporen. Nur mit größter Not halten sie sich in Sehweite des Wachtmeisters. „Voran!“ brüllt er ihnen zu, und der ‚alte Mann‘ muß zu ihnen zurückreiten, um ihren Tieren das nötige Tempo beizubringen. Hipp schreit ein paarmal laut auf und weiß selbst nicht, wie es ihm gelingt, sich oben zu halten. Aus dem Wald heraus fliegen sie über eine lange Chaussee hin. Irgendwo in der Nähe ist Pferdegetrappel zu hören, das müssen die feindlichen Patrouillen sein. In zehn Minuten kommt der Zug, auf den sie schießen sollen, vorbei. An einer gedeckten Stelle, ganz nahe der Bahn, läßt der Wachtmeister halten und lauscht. Das Pferdegetrappel ist ganz nahe, man kann nur nicht unterscheiden, ob es unmittelbar an der Bahn oder mehr nach dem Wald zu ist. Flüsternd befiehlt der Wachtmeister: „Absteigen!“ Hipp und Hiller bekommen außer den eigenen Tieren und Lanzen noch die des Wachtmeisters und des ‚alten Mannes‘ zu halten. Der Wachtmeister, vom ‚alten Mann‘ gefolgt, schleicht in gebückter Stellung dem Bahndamm zu. Schweigend stehen Hipp und Hiller einander gegenüber. Stockdunkel ist es um sie her, und der eine kann das Gesicht des andern nicht erkennen. Gegen den ausdrücklichen Befehl holt Hipp eine kleine Stallaterne aus der Tasche, hängt sie in die Schnüre seiner Attila ein und läßt das Licht aufflammen. Der Fuchs ist unruhig und zwingt Hiller, sich rund im Kreis mit ihm zu bewegen. Hipp muß die drei anderen Gäule am Zügel halten. Vom Wald her reiten jetzt ganze Kolonnen nach dem Bahndamm zu; von ferne hört man das Schnauben und Rasseln des heraneilenden Zuges, ein Schuß ertönt und noch einer, und Hiller schreit laut auf. Der Fuchs ist hoch in die Höhe gestiegen und hat sich mit mächtigem Ruck losgerissen. Nun fliegt er in rasender Schnelligkeit dahin. „Hipp, hilf!“ schreit Hiller und rennt hinter dem Fuchs her, und Hipp, selbst auf das äußerste erschreckt, vergißt seine drei Pferde und rast hinter Hiller her, an ihnen vorbei die freigelassenen Gäule. „Mensch, sei kein Döskopf!“ Hipp kann kaum mehr Luft bekommen, ist über einen Baumstamm gefallen und flucht und schimpft. „Laß doch die verteufelten Biester laufen, wohin sie wollen; oder glaubst du, du holst deinen Fuchs noch ein?“ Und Hiller bleibt mit hochklopfendem Herzen stehen. Hipp hat recht; es ist natürlich ein Blödsinn, den Gäulen nachzulaufen. Aber was nun? Schweigend gehen sie zu den Lanzen, die sie im Boden aufgespießt haben, zurück. Hiller hat das Gefühl, ein Verbrechen begangen zu haben, und auch Hipp ist verlegen. „Die Schuld hast du,“ sagt er zu Hiller. „Du hast den Fuchs nicht gehalten! Na, aber laß gut sein, ich petze nicht. Schön werden die nächsten Viertelstunden ja nicht werden, aber den Kopf kann er uns auch nicht abreißen. Pst! Da kommt er schon!“ Der Wachtmeister sieht die zwei mit den neben ihnen aufgespießten Lanzen stehen und ahnt sogleich, was sich ereignet hat. Im Grunde ist er guter Laune gewesen, weil er den Sieg errungen hat; aber die beiden armen Sünder, die hier vor ihm stehen, lassen die gemütliche Stimmung schnell verfliegen. „Wo habt ihr die Pferde?“ brüllt er sie an. Hiller will eine Erklärung abgeben, aber Hipp schreit in seiner Angst in die Dunkelheit hinein: „Durchgegangen, Herr Wachtmeister! Und da kann kein Mensch was für bei dieser Schießerei! Ich habe sie mächtig festgehalten, aber so viel Kraft hat kein Mensch, daß er gegen vier wildgewordene Gäule ankommt!“ „Schnauze halten, ihr Himmelshunde! -- Schlappe Kanaillen! Was denkt ihr euch nun, was nun werden soll, wie ich nach Hause kommen soll? Meint ihr, ich hucke die Lanze auf, ich laufe zu Fuß durch den Wald?“ Hipp und Hiller nehmen je zwei Lanzen auf den Arm, und unter fortwährendem Schimpfen und Fluchen des Wachtmeisters geht es ein Stück Weg entlang. Mit so lieblichen Namen wie in dieser Nacht haben die beiden Berliner Bürschchen sich noch nicht nennen hören. Sie lassen den Wald links liegen und gehen auf großem Umweg durch ein Dorf. Der Wachtmeister hält plötzlich in seinem Fluchen inne; von einem Seitenweg kommt jemand auf sie zugeritten. Ein Unteroffizier, mit zwei Pferden. Es ist Hillers Fuchs und das Pferd des ‚alten Mannes‘. Die sind unterwegs von der feindlichen Partei aufgefangen worden. Donner, ja! Jetzt ist der Wachtmeister auf einmal rosigster Laune -- steigt auf -- heißt auch den ‚alten Mann‘ aufsitzen und heidi -- fort. Hipp und Hiller mit ihren vier Lanzen sehen sich erst eine Weile ungläubig an. Hiller zieht eine Generalstabskarte heraus und studiert, wie lange sie zu laufen haben. Durch den Wald können sie nicht gehen, also immer rund herum um den Wald -- das bedeutet statt einer und einer halben Stunde drei Stunden Weges. Es ist halb elf Uhr, und da sie keine Zeit hatten, vor dem Ausrücken etwas zu essen, sind sie hungrig. Im Dorf, durch das sie kommen, sehen sie ein erleuchtetes Wirtshaus. Hiller will erst nichts davon wissen; sein Gewissen quält ihn, er will auf schnellstem Wege dahin, wo er hingehört. Aber Hipp wird böse: „Mensch, sei doch kein Frosch! Wer kann uns beweisen, daß wir uns nicht verirrt haben? Immer rin! Wenn man im Feld Hunger leiden muß, dann geschieht das fürs Vaterland und man ist ein Held; wenn man aber Hunger hat und kommt an einem Wirtshaus vorbei und geht nicht rein, dann ist man ein Esel!“ Hipp hat etwas Fortreißendes, wenn er mit seiner Philosophie hervorrückt. Hillers Bedenken fallen demgegenüber immer wie ein Kartenhaus zusammen. Sie gehen durch einen kleinen, engen Flur ins Gastzimmer, in dem noch ein paar Bauern beim Kartenspiel sitzen. Ein gutmütig aussehendes Weib kommt ihnen entgegen und läßt sich ihre Geschichte erzählen. Sie ist sehr freundlich zu den Freiwilligen; hat sie doch auch einen Sohn in der Husarenkaserne. „I wo, das kann Ihnen keiner übel nehmen, wenn Sie nicht in der Stockdunkelheit den Weg machen. Man wird doch jetzt noch nicht seine Gesundheit aufs Spiel setzen, da man sie doch später im Felde so notwendig hat.“ Die Bauern drehen sich nach den Husaren um und fragen sie aus. Es sind zwei liederliche Kerle, die hier mit schmutzigen Karten um Geld spielen. Schlechte Zeiten! Man muß sich zerstreuen! Sie laden die beiden jungen Menschen ein, an ihren Tisch zu kommen, und Hipp steuert sogleich hinüber. Die Wirtin ist in der Küche verschwunden und kommt nach einer guten Viertelstunde mit gebackenen Eiern, Schinken, Wurst, Brot und Butter wieder. Hipp und Hiller essen mit freudigem Appetit und trinken ein paar Flaschen Bier. Die Bauern haben Steinhäger vor sich stehen, und Hipp läßt eine Runde für sie alle auffahren. Aus einer Ecke heraus fängt ein Grammophon mit rasselndem Ton und krähendem Beiklang an zu tönen. Irgendeine leichte Walzermelodie -- schrecklich für das musikalisch gebildete Ohr Hillers, aber höchst anregend für alle anderen. Hipp kennt ein feines Kartenspiel zu Vieren, höchst einfach; das lernen selbst die Bauern im Handumdrehen. Aus dem Brustbeutel holen sie, was sie an Nickel bei sich haben. Die Augen der Bauern beginnen zu glänzen. Hipp sieht genau aus wie sein reicher Vater, wenn er eine Pulle Sekt spendiert, und Hiller ist in seinem Bann. Er tut mechanisch mit, was die anderen tun. Ganz dumpf empfindet er dabei ein Unbehagen. Mitternacht geht vorüber. Irgendwo hat eine Uhr klirrend geschlagen. Hiller will gehen, aber Hipp lacht ihn aus: „Mensch, sei kein Frosch!“ Sie sitzen bis ein Uhr und sitzen bis zwei Uhr! Die Brustbeutel werden leerer. Die Bauern lassen sich von den zwei jungen, reichen Herren traktieren. Die Köpfe sind rot -- Witze werden erzählt; die Luft in der kleinen Stube ist zum Ersticken, und die Petroleumlampe will plötzlich erlöschen. Über Hiller kommt es plötzlich wie eine Krankheit; er fühlt sich namenlos unglücklich. Sein Kopf ist nicht mehr ganz frei, aber so viel begreift er doch noch, daß er sich in einer scheußlichen Umgebung befindet. Die Bauern haben kleine, ekelhaft verschwommene Augen bekommen; ihre rohen Gesichter glänzen wie Speck. Sie erzählen gemeine Witze. Hipp lacht und spielt sich als großen Herrn auf. Plötzlich springt Hiller in die Höhe. „Ich gehe!“ sagt er mit einer Bestimmtheit, gegen die Hipp sich nicht mehr aufzulehnen vermag. Die Bauern bieten gegen entsprechende Vergütung ihre Begleitung an, und man muß sie annehmen, weil man sich allein doch nicht zurechtfinden würde. Jeder nimmt eine fahnengeschmückte Lanze in den Arm, und schwankend treten sie in die Nachtluft hinaus. Hiller trottet ein paar Schritte hinter den anderen her. Er ist in einem scheußlichen Zustand. Es ist ihm nicht ganz klar vor Augen, und doch ist eine Stimme in ihm wach, die immer dasselbe sagt: ‚Pfui Teufel -- pfui Teufel!‘ Sein Blut lehnt sich auf gegen die Gemeinschaft mit solchen Menschen. Die schmutzigen Witze, über die Hipp gelacht hat, haben ihn aufs tiefste verletzt. ‚Pfui Teufel -- pfui Teufel!‘ Hier in der Wirtsstube haben sie gesessen und um Geld gespielt, und haben sich von gemeinen Bauernschädeln auf gemeine Weise unterhalten lassen, und draußen in der Welt fließen Ströme von Blut; draußen in der Welt spielt sich die größte Tragödie, die je in einer Zeit gewesen ist, ab. „Katzenjammer!“ sagt Hipp und lacht. „Mensch, du bist der unheilbarste Esel, den ich je gesehen habe!“ Sie gehen drei volle Stunden; ganz leise wird die Dunkelheit zur Dämmerung, als sie die kleine Stadt erreichen. Die Bauern lassen sich ablohnen und überreichen die Lanzen. Die Kasernentore standen schon offen, als Hipp und Hiller antreten. Sie eilen zum Stall und finden die ausgerückten Pferde auf ihrem Platz stehen. Hipp haut dem seinen einen tüchtigen Riemenschlag übers Hinterteil. „Kanaille!“ Dann laufen sie in den Waschsaal, kühlen sich die erhitzten Gesichter und sind pünktlich mit allen anderen zum Stalldienst zur Stelle. Der Wachtmeister würdigt sie keines Wortes, behandelt sie aber während des ganzen, langen Reitunterrichtes nicht gerade besonders sanft. Hillers Kopf bleibt benommen; erst am Abend wird ihm wohler. Hipp steht im Stall neben ihm und erzählt Geschichten von kleinen Mädchen. Hiller tut teilnahmslos, und Hipp nennt ihn wieder: „Esel!“ Am späteren Abend in der Kantine erst findet er seinen Frohsinn wieder. Der Wachtmeister hat ihn angeredet und ist weich geworden. „Nimm dir das nicht zu Herzen!“ sagt er väterlich. „Jedem kann natürlich mal sein Gaul durchgehen. Im übrigen macht sich die Sache mit dir!“ Da wird er ganz froh, fast ausgelassen und läßt trotz der Ebbe in seiner Börse eine Runde auffahren. * * * * * Die Wochen vergehen; der Oktober ist gekommen. Die Zeit der wilden Stürme ist da. Sie brausen übers märkische Land; sie heulen und klagen über die weiten Ebenen dahin. Eine wilde, schwere Nacht hat in der altmärkischen Stadt furchtbare Verwüstungen angerichtet. Am Flußweg sind zwei große Pappeln ums Leben gebracht. Wie Tote liegen sie lang über den Weg ausgestreckt. Ein Baugerüst ist umgefallen und hat einen unter sich begraben, und in jeder Promenade liegen ein paar gefällte Bäume und ausgerissene Sträucher. Noch ein paar andere Menschen sind zu Schaden gekommen. Einer Frau ist die Schulter gequetscht worden, und die ganze Stadt ist voll von dem Unglück dieser einzelnen. Ein Trunkener, der unter einem Baum gelagert hat, hat ein Auge eingebüßt. Auch sein Schicksal erregt Mitleid. Ein Landstürmer sagt wütend: „Wenn unsereins draußen zu Haufen niedergeschossen wird, dann ist das nichts Besonderes. Aber hier flennt man um ein altes Weib und einen Trunkenbold!“ Da der Oktober so schwer und wild einsetzt, prophezeien die Leute einen furchtbaren Winter. Die Leute müssen was zu schwatzen haben; sie müssen sich vor etwas gruseln machen. Die Ereignisse schreiten jetzt langsamer voran. Nach dem raschen Siegeszug durchs belgische Land ist ein Stillstand eingetreten. Großes soll sich vorbereiten! flüstert man. Eine Schlacht, wie sie die Weltgeschichte noch nicht gesehen, soll geschlagen werden in nächster, allernächster Zeit. Die jungen Freiwilligen in der Kaserne werden von Ungeduld verzehrt. Warum hält man sie noch? Die Infanterie ist schon in Scharen hinausgezogen; sie aber hält man fest und drillt und drillt. Sie kennen doch nun wirklich alles, was sie zu kennen brauchen. Auf ihren Pferden sitzen sie so sicher wie auf einem Stuhl; das Lanzenbohren, das sie an Strohpuppen gelernt haben, ist ein Kinderspiel. Nun fiebern sie, an den Feind zu kommen. Aber es ist noch gar und gar keine Aussicht fürs baldige Ausrücken da. Nicht mal die feldgraue Uniform haben sie erhalten. Einer von den alten Leuten, der hier Garnisondienst tut, hat gesagt: „Paßt mal auf, Weihnachten sitzt ihr auch noch hier! In diesem Krieg braucht man die Kavallerie kaum noch. Was früher der Kavallerist erkunden mußte, tut heute der Flieger, und außerdem hat man Autos und Räder!“ Das klingt so begreiflich; das ist ihnen in die Knochen gefahren! Herrgott, wenn man sie nun überhaupt nicht brauchte. Wenn man sie eines Tages nach Hause schickte: ‚Deutschland hat genug Kämpfer! Es bedarf eurer nicht!‘ Es ist eine Flauheit in die Stimmung gekommen. Man wartet allenthalben auf etwas Großes, etwas Unerhörtes. Die Pfarrer predigen von der Kanzel herab: Geduld -- Geduld und wieder Geduld. -- -- Ach, man merkt erst jetzt so recht den Krieg. Damals, vor zweieinhalb Monaten, als er begann -- mitten im Sommer, damals, als es so toll und rasend schnell ging --, da war der Krieg ein einziger Jubel -- ein einziger Triumph! Nun aber, da die Blätter fallen, da die Nächte kalt und rauh werden -- nun, da die Natur ihre Schönheit abwirft, und der Winter wie ein böser, dunkler Geist vor der Tür steht, nun lassen die Schwachen, die Armseligen ihre Köpfe hängen und beginnen zu klagen und zu jammern: Warum machen sie nicht vorwärts? Warum schlägt man sich nicht? Wozu das Herumliegen in den Schützengräben? In der altmärkischen Garnison werden draußen im freien Feld, dicht an den Exerzierplätzen, Stacheldrähte gezogen. Kolossale Flächen werden eingefaßt. Die Leute fragen und erkunden: Warum? Wozu? Erst ist es ein Geheimnis -- aber dann geht’s von Mund zu Mund: Russen kommen hierher; Tausende von gefangenen Russen und Kosaken sollen hierhergebracht werden. Die Leute erschrecken: Herrgott, Tausende von Russen so nahe bei der Stadt! Die Frauen, deren Männer und Söhne ausgezogen sind, erzittern. Wenn die nun in der Nacht ausbrechen und über die wehrlosen Leute in der Stadt herfallen? Gott, o Gott, was man nicht alles erleben muß! Es vergeht eine Woche und noch eine. Die Stachelverhaue sind längst fertig, noch nicht ein einziger Russe wohnt darin. Dann war es wohl doch nur ein Märchen -- und die Herzen beruhigen sich wieder. Frau Hiller wohnt noch immer im kleinen Städtchen; sie ist wie festgebannt hier. Sie will nicht schwach werden und ist es doch. Sie fürchtet sich so namenlos vor der Einsamkeit in ihrer kleinen Wohnung in Berlin. Hier, in den zwei Zimmern bei der Wachtmeisterswitwe, ist ihr Herz ruhiger; von hier aus sieht sie das Leben ihres Jungen sich abspielen. Sie will ihn nicht stören und in nichts beschränken, das hat sie ihm versprochen. Er soll gar nicht denken, daß sie hier ist. Nur wenn ihn die Sehnsucht einmal treibt, soll er zu ihr kommen. Der kleine Husar ist erstaunt, er begreift gar nicht, warum seine Mutter sich hier wohlfühlt, da sie es in Berlin doch so viel eleganter und abwechslungsreicher hat. Er selbst kann ihr ja wirklich nichts sein. Der Dienst ist stramm, und man sieht es nicht gern, wenn sie viel außerhalb der Kaserne sind. Aber wenn sie es absolut will, so ist es ihm natürlich recht -- sogar sehr recht, denn oft freut er sich auf eine Stunde des Alleinseins mit ihr. Sie darf dann nur nicht traurig aussehen, das verträgt er nicht. In Berlin sind die Frauen rastlos tätig in der Pflege und in unzähligen Vereinen für Wohltätigkeit. Ein jeder will sein Scherflein beitragen. Der Andrang ist so groß, daß gehemmt werden muß. In den Zeitungen wird gemahnt, der große Eifer solle eingedämmt werden. Auch Frau Hiller sehnt sich nach einer Arbeit, die sie ausfüllt, die ihre Gedanken ablenkt vom eigenen Schmerz. Kein Mensch in der Welt hat in dieser Zeit das Recht, an den eigenen Kummer zu denken. Alles, was im gewöhnlichen Leben selbstverständlich und gut und berechtigt ist, wird klein und zwecklos und unbedeutend durch den Krieg. Jeder Schmerz, der im Herzen des einen wohnt, lebt im Herzen von Tausenden und aber Tausenden. Wenn jeder ihm nachgeben wollte, so wäre es drin in der Heimat, für die gekämpft wird, schlimmer und trostloser als draußen auf dem Schlachtfelde. Aber der Schmerz ist wie ein Pilz; jede Nacht wuchert er von neuem in die Höhe; jeden Morgen muß er von neuem ausgerissen werden aus dem armen, bangen Herzen. Hier, in der kleinen Altmärker Garnison, kann sie sich am allgemeinen Wohltätigkeitswerk nicht beteiligen. Verwundete sind noch nicht da, und wenn sie eines Tages eintreffen, werden mehr Hände da sein, als gebraucht werden können. Das einzige, was sie hier tun kann, ist das, was jetzt alle Welt tut. Sie strickt für die, die draußen im Felde sind, und für die, die erst hinausziehen. Die Wachtmeistersfrau hat es ihr wieder beibringen müssen, wie ein Strumpf gestrickt wird. Sie hat dabei an die Kinderjahre denken müssen -- an die tote Mutter und das ganze, längst versunkene Jugendland. So ein Zurückschauen ist schön und traurig zugleich. Welche Fülle von Leid ohne eigentliche Ursache! Und so wie ein Schmerz überwunden ist, begreift man nicht mehr, daß man so namenlos darunter leiden konnte. Jedes überwundene Leid hat seinen Glorienschein; man möchte es nicht missen. Aber jedes neue erscheint unerträglich -- unfaßbar! Das Kreuz, das man zu tragen hat, wird schwerer, je weiter der Weg geht. Man sagt: Die Jugend hat die größte Leidensfähigkeit. Aber dafür hat die Jugend auch die größte Elastizität. Und überhaupt: Wo hört die Jugend auf, und wo fängt das Alter an? Gibt es eine Regel dafür? Der eine fühlt sich mit dreißig alt, der andere ist mit fünfzig jung. Die Großmutter ist zweiundsiebzig Jahre alt und hat noch das junge, lebendige Herz! Aber nie hat Frau Hiller so sehr gewünscht, sich alt und ruhig zu fühlen, als jetzt in dieser großen Zeit, in der die Jugend vor dem Alter zu Grabe getragen wird. In den vergangenen Wochen, als die Luft noch mild war, als der Regen noch nicht so unablässig fiel und alle Wege grundlos machte, ist sie oft stundenlang durch die angrenzenden Dörfer und Felder gewandert. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Man kann es kaum wagen, durch eine der Promenaden in die Stadt zu gehen, und ist dann froh, wenn man wieder im Warmen sitzt. Kein Mensch ahnt wie lang die Tage sich dehnen; kein Mensch ahnt, was für Leidenswege ein armes Herz an solch langen Tagen zurücklegt. Oft flieht sie zu den Wachtmeistersleuten in die Küche. Da ist es immer traulich, da hört man immer etwas Neues. Die alte Frau sitzt an der Maschine und näht bunte Hemden fürs Rote Kreuz. Das ist Heimarbeit und wird schlecht bezahlt. Aber man tut es gern. Fräulein Else näht Knopflöcher, oder sie steht am Plättbrett und plättet. Dabei singt sie. Sie hat eine hübsche, sympathische Stimme und, was die Hauptsache ist, sie hat echtes Gefühl. Wenn sie singt, wird man von einer guten, wohltuenden Traulichkeit ergriffen, denn sie singt natürlich mit Vorliebe wehmütige Lieder vom Scheiden und Sterben und Verlassensein. Wäre sie eine Tochter aus vermögendem Hause, so wäre wahrscheinlich an diese warme, angenehme Stimme etwas gewandt worden, und sie würde kunstvoll singen. So aber ist sie wie der Vogel im Wald, der sein Lied singt, wie es ihm gegeben ist. Und das ist das Wohltuende an ihrem Gesang. Daß diese Menschen, die alte Frau sowohl wie die Tochter, keine Damen sind, daß sie ganz wundervoll einfach sind, das zieht Frau Hiller so mächtig zu ihnen hin. Die beiden Frauen bringen es fertig, sie für Stunden ganz gesund, ganz froh zu machen. Im Anfang hat sie nur gewagt, hin und wieder eine halbe Stunde auf dem großen, rotbraunen Sofa in der Küche zu sitzen. Sie wollte nicht stören; sie glaubte, man lege sich ihretwegen irgendeinen Zwang auf. Und sie hat wohl auch das törichte Gefühl gehabt, sich herabzulassen, wenn sie bei den Leuten in der Küche säße. Genau wie ihr Junge mag sie gefühlt haben, der es im Anfang nicht begreifen konnte, daß er sich hier mit den Jungen aus dem Volk, mit den Bauernsöhnen und Handwerkern eins fühlen sollte. Wie schnell hat er seine Vorurteile über Bord geworfen, wie schnell ist ihm alles klein und lächerlich erschienen, was ihm angeboren, anerzogen war. Heute sind alle Menschen einander gleich, ein jeder von den wehrfähigen Männern hat denselben Wert fürs Vaterland -- ein jeder von ihnen will sein Blut geben, und eine jede Frau, ob aus hohem Stand oder aus einfachem, zittert und leidet um dasselbe. Um fünf Uhr, zur Kaffeezeit, liegt das altmärkische ‚Intelligenz- und Leseblatt‘ in der gemütlichen Küche der Wachtmeisterswitwe, und um fünf Uhr steht auch die große Kaffeekanne auf dem geblümten Tischtuch, und Frau Hiller sitzt auf dem Sofa, neben ihr die alte Frau, und auf dem Stuhl ihr gegenüber Fräulein Else. Das altmärkische ‚Intelligenzblatt‘ bringt gewöhnlich dasselbe, was schon am Morgen in einer Berliner Zeitung gestanden hat. Die offiziellen Nachrichten sind genau die gleichen. Aber das, was so ein Provinzblatt sonst noch bringt, ist ihr neu und scheint ihr eigentümlich. Sie liest den beiden Frauen vor, die, bis die Dunkelheit völlig einbricht, ihre Arbeit wieder aufnehmen. Die Herdtür steht offen, die Kohlen glühen und werfen den roten Schein auf den Boden. Wenn die Wachtmeistersfrau zum Nähen nicht mehr genug sehen kann, strickt sie im Dunkeln an einem Strumpf, und Fräulein Else plättet, ohne das, was sie plättet, noch erkennen zu können. Das Petroleum ist knapp geworden; man darf die Lampen erst anzünden, wenn man die Hand vor den Augen nicht mehr sehen kann. Der Mangel an Petroleum ist unangenehm, aber er ist doch nichts eigentlich Schlimmes, worunter man wirklich leidet. Doch genügt diese erste Einschränkung, die dem Land auferlegt wird, um den Krieg auch denen, die noch in Sicherheit, ohne jegliche Entbehrung dahinleben, ein wenig näherzurücken. Im Nachbarhaus haben sie davon gesprochen, das Mehl könne ausgehen; wenn der Krieg bis Weihnachten nicht zu Ende sei, habe man kein Brot mehr. Im Nachbarhaus wohnen Schwarzseher, das ist bekannt. Aber dennoch! Fast jeder Krieg führt Hunger und Krankheit im Gefolge. Wer weiß, was noch kommen wird! Wer weiß, wie der einzelne dastehen wird, wenn dieses furchtbare Ringen zwischen den Völkern einmal vorüber ist! Die drei Frauen in der warmen, dunklen Küche haben oft das niederdrückende Gefühl, daß sie sich das Leben zu leicht und bequem machen. Man heizt die Öfen und ißt sich satt -- genau wie in Friedenszeiten. Man singt und erzählt sich Geschichten, und draußen frieren und hungern und bluten sie. Gewiß, man näht, man strickt; aber man möchte mehr tun! Man möchte, möchte! Aber wo soll man angreifen? Einmal kommt ein junger Arzt zur Wachtmeisterswitwe in die Küche und trinkt den Kaffee mit den drei Frauen. Er erzählt von einem Verwundetentransport, der in den nächsten Tagen eintreffen soll. Die Lazarette stehen zum Empfang bereit; hilfreiche Hände sind zwanzigfach mehr, als Bedarf ist, zur Stelle. Das ist entmutigend. Frau Hiller hat früher den Samariterkurs durchgemacht. O, wenn sie helfen könnte! Nicht im großen Berlin, wo so unzählige auf ihre Berufung warten! Aber hier, im kleinen Altmärker Städtchen, hier, wo ihr Junge lebt, wo sie das gute Heim gefunden hat. Sie weiß genau: Sobald sie großes, wirkliches Unglück sieht, wird das Leid des eigenen Herzens überwunden sein! Aber der Arzt bleibt dabei: An Ärzten ist Mangel, an Pflegerinnen Überfluß. Die Wachtmeistersfrau seufzt: „Es müßte einmal einen Frauenkrieg geben!“ und lächelt dabei; aber sie rührt in Frau Hillers Herzen an eine wehe Stelle. Es leben so viele, die überflüssig sind, und es leben so viele, die jede Stunde gern bereit wären, den großen Weg ins Nichts zu gehen. Draußen lassen die Besten des Volkes ihr Leben, und im Lande, für das gekämpft wird, leiden und stöhnen Tausende von Überzähligen weiter. Oben die Trompetersfrau hat seit drei Tagen ein kleines Mädchen; die Geburt hat ihr fast das Leben gekostet. Ach, wäre es zu Ende gegangen mit ihr, bevor das Kind die Augen aufschlug! Nun liegt sie bleich und müd’ und fragt nach ihrem Mann. Wer wird den Mut haben, ihr die grausige Wahrheit zu sagen? Wer wird es über sich bringen, ihr zu sagen: ‚Du bist Witwe und dein kleines Mädchen war Waise, noch ehe es geboren war!‘ -- Aber ein Unglück überholt das andere. Auch hier im Altmärker Städtchen. Allein in den paar Häusern, die hier auf einem Block zusammen stehen, ist Trauer und bitterer Schmerz in eine ganze Reihe von Familien eingezogen. Eine junge Braut harrt Woche um Woche auf eine Nachricht von dem, der in der Zeitung unter den ‚Vermißten‘ stand. Die Ärmste, die mit ihren Gedanken in der weiten Welt herumirren muß, die von einer Möglichkeit zu anderen tastet, die heute hofft und morgen in die tiefste Verzweiflung sinkt, sie hat Schlimmeres durchzufechten als die, der eine bittere, furchtbare Tatsache mitgeteilt wird. Frau Hillers Mitleid aber gehört der Frau des Trompeters. Das Schlafzimmer der Wöchnerin liegt über dem ihren. In der Nacht hört sie das kleine Geschöpfchen schreien. Lange hat sie kein kleines Kind schreien hören; lange ist es her, seit sie bei einer jungen Mutter geweilt hat. Wenn sie in der Nacht nicht schlafen kann, hat sie den Wunsch, oben im Zimmer bei der armen Frau und dem neugeborenen Kind sein zu dürfen. Eine alte Person aus des Trompeters Verwandtschaft ist zur Pflege da. Sie schlurft durch die Zimmer, und man hat das Gefühl, das ihr die Pflege vielleicht zu viel wird, daß sie oft verdrossen ist. Jede Nacht träumt Frau Hiller, daß sie das Kind im Arm hält und am Bett der Mutter sitzt. Es wäre etwas so Einfaches und Natürliches, daß sie hinaufginge und ihre Hilfe anböte. Aber jeden Morgen ist sie verzagt und weiß nicht, wie sie eine Verbindung finden soll. Die junge Wöchnerin kann sich nicht erholen. In den Fluren des Hauses stehen die Frauen und reden und reden. Die Ärmste fragt unablässig nach ihrem Mann. Warum schreibt er nicht? Das geht doch nicht mit natürlichen Dingen zu, daß er nicht schreibt! Die Qual des Wartens reibt sie auf; auch das Kindchen leidet unter der Pein der Mutter. Die Frauen aus dem Haus sind jetzt übereingekommen, daß man ihr die Augen öffnen muß. Ewig kann man sie nicht in der Lüge erhalten, und wenn sie erst auf ist, kann sie es durch irgendeinen Zufall erfahren. Aber wer fühlt sich berufen, die Nachricht zu überbringen? Die Wachtmeistersfrau sieht eines Tages Frau Hiller mit forschenden Augen an, dann sagt sie: „Am besten ist’s, eine ganz Fremde geht zu ihr! Alle im Haus haben Angst, es ihr zu sagen!“ Und die Augen der alten Frau sprechen eine Bitte aus: ‚Wollen Sie es übernehmen‘? Man sieht ihr neugierig nach, als sie die Treppe hinaufgeht. Es ist Krieg -- ist Ausnahmezustand: warum soll da nicht die fremde Frau zu der armen Witwe gehen und ihr das Traurige melden? Die wird am ersten die richtigen Worte finden. Ach, aber Frau Hillers Träume hatten sie doch wohl irregeführt. Sie hat sich gedacht, gleich eine Verbindung von Herz zu Herz zu finden; doch wie sie oben im halbdunklen Schlafzimmer steht, kommt es wie Verzagtheit über sie. Die blasse Frau im Bett fühlt sich verlegen und beginnt, sich wegen der Einfachheit, in der sie lebt, zu entschuldigen. Das Kind schreit, und die alte Pflegerin steht in der Mitte vom Raum und macht keine Miene, zu gehen. Frau Hiller hat ein paar Leckerbissen und Blumen mitgebracht; sie gibt es der Kranken, und die dankt mit viel zu viel Worten. Die Pflegerin fragt, ob sie der gnädigen Frau Kaffee bringen dürfe, und weicht nicht von der Stelle. Frau Hiller rückt sich einen Stuhl neben das Bett und fragt nach allerlei Dingen. Sie hofft, die Kranke müsse von dem, was sie bewegt, sprechen. Aber das tut sie nicht, denn sie spricht nur vom Krieg im allgemeinen, von der Verwirrung im ganzen Städtchen, von den Umzügen, von dem Alarm drüben in der Kaserne in den ersten Tagen. Die arme Frau glaubt, ihren Gast unterhalten zu müssen; es hat etwas Erschütterndes, wie sie darauf bedacht ist, über den eigenen Kummer zu schweigen. Die Pflegerin beugt sich über die Kranke und flüstert ihr etwas ins Ohr. Das Kindchen muß Nahrung haben, und man sieht den Besuch ängstlich fragend an. Frau Hiller nimmt das Kind aus dem Arm der alten Frau und legt es an die Brust der Mutter. Nun sind sie sich um vieles nähergerückt. Die Frau lächelt sie dankbar an, und wie sie nun in den Kissen liegt, sieht Frau Hiller erst, wie jung und lieblich dies Gesicht ist. Große, ausdrucksvolle, dunkle Augen hat sie, und einen schönen, vollen Mund. Die Pflegerin muß zu Einkäufen in die Stadt fahren. Soll sie warten, bis das Kleine gestillt ist, oder wird die Dame noch eine kleine Stunde bleiben? Frau Hiller ist glücklich, daß sie bleiben darf. Sie sieht, wie das feine Mündchen des Kindes sich in die Brust der Mutter eingräbt; sie fährt mit der Hand über das weiche Köpfchen. So hat sie einst ihren Ernst gehalten; so wie dies ganz kleine Kindchen hier zur Mutter gehört, hat ihr Junge einst ihr gehört! Unausdenkbar, daß man so eins war, daß so ein Kindchen einmal nichts anderes als ein Stück von der Mutter war. Weh wird ihr ums Herz, als sie dies stille, traurige Glück sieht. Das Kindchen schläft ein; das Mündchen läßt die Brust fahren, und Frau Hiller trägt das kleine Geschöpf zu seinem Korb zurück. Die Frau bleibt wie erschöpft in den Kissen liegen; sie wirkt wie ein Bild, von einem alten Maler gemalt. Solch ein tiefes Leiden in den zarten Zügen! Frau Hiller nimmt eine der blassen Hände in die ihren. Ihr ist’s, als sei diese Frau ihre Schwester, als gehöre sie ganz eng zu ihr. Ihr Herz ist von überquellender Liebe, voll tiefem, tiefstem Mitleiden. Aus ihrer Hand geht der Strom heißen Fühlens ins Herz der anderen über. Sie hat jetzt vergessen, daß die Frau, die an ihrem Bett sitzt, eine Fremde ist. Der matten Hand tut der warme Druck wohl. Die Seele wird weich und mitteilsam. Und sie macht der, die zu ihr gekommen ist, ihr das Bittere mitzuteilen, ihr Amt leicht. „Wenn man weiß, daß einer tot ist, daß es nichts mehr zu hoffen gibt, dann kommt wenigstens Ruhe in den Kopf!“ klagt sie. Frau Hillers Hand umschließt die der Kranken fester. Ihr Herz ist erregt, es schlägt so laut, daß es ihr ist, als müßte man den lauten Schlag im Zimmer hören. „Jede Nacht höre ich ihn rufen! Jede Nacht sehe ich ihn irgendwo liegen und höre ihn stöhnen!“ Sie wendet das Gesicht zur Seite, die matte Hand zuckt in Frau Hillers Händen. „So viele von uns müssen jetzt dasselbe leiden!“ kommt es zaghaft aus deren Mund. Das ist immer ein matter Trost; weiß sie doch von sich selbst, daß ein Schmerz nicht weniger bitter wird, wenn man sich sagt, daß viele dasselbe zu leiden haben. Die Frau im Bett richtet sich auf. Ihr Gesicht hat sich verändert; die Augen starren in eine Ecke, um den Mund liegt ein harten Zug. „Ich habe alles verloren, seit ich nicht mehr weiß, wo er ist! Ich kann nicht mehr beten -- ich kann mich nicht an dem Kind freuen. Ich weiß nur eines: wenn ich nicht bald Gewißheit habe, verliere ich den Verstand, und ehe ich den Verstand verliere, mache ich ein Ende -- auch mit dem armen Wurm da!“ Wie sie das vor sich hinspricht -- ohne Bewegung im Gesicht -- ohne Ton in der Stimme, fühlt Frau Hiller, daß dies arme Weib wirklich am Ende seiner Kraft ist, fühlt, daß dieser Kopf nicht viel mehr ertragen wird. Sie drückt den noch schwachen Körper in die Kissen zurück. Sie beugt sich so dicht zum Gesicht der jungen Mutter, daß sie es fast mit dem ihren berührt. „Und wenn Sie nun die Gewißheit hätten! Wenn jemand ihnen mit Bestimmtheit sagte: Er lebt nicht mehr! Er hat den schönsten Tod, den ein Mensch finden kann, erlitten!“ sagt sie unsicher und erregt. Die Frau sieht sie ungläubig an; das blasse Gesicht verzerrt sich. Aber dann geht eine Veränderung mit ihr vor. Sie weiß nun auf einmal, warum die fremde Frau zu ihr herausgekommen ist in ihr armes Stübchen. Sie begreift mit einem Male alles. Die aus dem Hause haben es längst gewußt und haben nicht den Mut gehabt, ihr die Wahrheit zu sagen. Da haben sie die Fremde hier heraufgeschickt. Sie zweifelt keinen Augenblick mehr. Der Mann ist tot. Sie ist Witwe, das Kind ist Waise. Ein einziges Jahr des Glückes -- dann aus! Sie sagt nichts mehr. Übers bleiche Gesicht strömen Tränen. Sie läßt ihre Hand in Frau Hillers Händen. Still ist’s um die beiden -- fast dunkel im Zimmer. Aus dem Nebenraum tönt das Ticken einer Uhr. Tiefer Frieden hier drinnen. Aber draußen in der Welt tobt die Wut der Völker weiter; was gilt der einzelne Mensch, der unter den Millionen, die sich in wildem Haß bekämpfen, steht? Fällt er, so fällt er; sein ist die Ruhe. Aber jeder, der da draußen sein Leben läßt, stirbt nicht für sich allein. Jede Wunde, die auf dem heißen Felde geschlagen wird, reißt schlimmere Wunden bei denen, die zurückblieben, die sich im Alltag weiterschlagen müssen! Wer ist schlimmer daran? Wer hat das größere Leid getragen? Der arme Trompeter ist als Held gestorben, ist erlöst! Wenn man es noch fertigbringt, an eine Gerechtigkeit jenseits dieser unharmonischen Welt zu glauben, wird er zu ewiger Glückseligkeit gelangt sein. Die Frau aber mit dem Kind hat ein langes, schweres, graues Leben vor sich. Frau Hiller fühlt, wie die Hand in der ihren schlaff wird. Sie beugt sich über das weiße Gesicht. Die Augen sind geschlossen. Ruhige Atemzüge -- ein guter, friedlicher Zug um den Mund. Sie schläft. Durchs Nebenzimmer schlurft die alte Pflegerin und kommt ans Bett. Frau Hiller löst ihre Hand von der der Schlafenden. „Haben Sie ihr’s gesagt?“ fragt die Frau und atmet erleichtert auf. Sie bringt Frau Hiller bis zur Treppe. „Na, nun wird’s ja bald gut werden. Der Mensch kann alles aushalten -- nur Ungewißheit nicht!“ Unten im Flur springt Mirza an ihr hoch. Der kleine Husar steht in der Küche bei den Wachtmeistersleuten, denn er hat eine freie Stunde und will mit der Mutter zu Nacht essen. Strahlend erzählt er, daß sie gegen Typhus geimpft wurden. „Eine ganze Menge ist schlapp geworden!“ erzählt er. „Nun weiß man doch wenigstens, daß die Sache in Gang gebracht wird -- daß man in absehbarer Zeit hinauskommt!“ Im dritten Monat sind sie in der Kaserne; das soll einer aushalten. Man putzt Pferde und Knöpfe und Sattelzeug fürs Vaterland, und bei den anderen Regimentern haben die Freiwilligen schon große Schlachten mitgeschlagen und Eiserne Kreuze erworben. * * * * * Nun kommen die Russen also doch ins Altmärkische Städtchen. Die Wasserleitung ist bis zu den großen, durch doppelten Stacheldraht eingezäunten Plätzen hinausgelegt worden. Hohe elektrische Bogenlampen bestrahlen die weiten Flächen, auf denen jetzt Tag und Nacht gearbeitet wird. Baracken sind notdürftig aufgebaut, eine große Küche ist eingerichtet worden. Kaufleute aus der Stadt erzählen von gewaltigen Aufträgen, die sie zur Verpflegung des Russenlagers erhalten haben. Alle Welt spricht nur noch von den Russen! Wie mögen sie aussehen? Man freut sich und fühlt doch ein leichtes Grauen. Fünfzehntausend Mann sollen gebracht werden! Eine ganze Horde Feinde in allernächster Nähe! Eines Tages, als die Freiwilligen sich zum Abendapell versammeln, bekommen sie einen Befehl, der sie mit Freude erfüllt. Sie haben ihre Pferde zu satteln, werden zum Bahnhof reiten, um die Russen, die am späten Abend eingeliefert werden sollen, in Empfang zu nehmen. Das Gesicht der jungen Menschen leuchtet auf. Endlich etwas Kriegerisches! Endlich mal einen Auftrag, der unmittelbar mit dem Krieg zusammenhängt! Aber der Wachtmeister legt ihnen einen Dämpfer auf. Ernst und würdig müssen sie den Feind empfangen. Keiner darf reden -- keiner irgendwelche Teilnahme bezeigen. Mit gefällter Lanze und geladenem Karabiner haben sie auf ihrem Pferd zu sitzen und langsam den Zug zu begleiten. Geschieht etwas Unerwartetes, geht die Sache nicht glatt von sich, so haben sie auf Befehl von der Waffe Gebrauch zu machen. Die Russen kommen also doch. Tag und Stunde der Ankunft sollte Geheimnis bleiben im Städtchen. Aber man hat es doch erfahren. In einer kleinen Stadt erfährt man eben alles. Wozu sollten die Absperrungsmaßregeln am Güterbahnhof getroffen worden sein, wenn nicht für die Ankunft des Feindes? Die Russen kommen! -- die die Russen kommen!! -- jedes Kind weiß es. Aber alles Interessante in dieser Zeit geschieht bei Nacht; Mannschaften und Pferde, die ins Feld ziehen, alles wird bei Nacht transportiert. Vor kurzem sollen fünfhundert gefangene Franzosen durchgekommen sein und am Bahnhof eine Stunde gelagert haben. Auch in der Nacht! Kein Mensch hat etwas von ihnen gesehen! Aber die gefangenen Russen wird man sehen, denn die bleiben ja nun für lange Zeit am Ort. Solange der Krieg dauert, bleiben die hier, und der Krieg kann noch lange dauern. Kein Mensch glaubt mehr daran, daß Weihnachten Friede ist. Die Deutschen wollen jetzt gar keinen schnellen Frieden mehr! Sie wollen bis zum Äußersten durchhalten! Was England dem Deutschen Reich anzutun gedachte, das werden die Deutschen nun den edlen Briten zufügen! Der Haß gegen die Engländer lebt bis ins kleinste Kinderherz des ganzen deutschen Vaterlandes hinein. Man freut sich, wenn Russen oder Franzosen Niederlagen erleiden und große Verluste haben. Der kleinste Triumph aber über England löst ungeheuren Jubel aus. So feig ist der Brite, hat seine Flotte in die Irische See gebracht und wagt sich zu keinem Angriff vor. Deutschland soll angreifen, soll sich preisgeben, soll plump hereinfallen. England lebt nur noch von Lüge und Betrug. Die erste Nation der Welt hat sich die Lüge zur Politik gemacht. Ob die Welt das duldet? Ob England sein Ansehen unter den Völkern behaupten wird, wenn dieser gewaltige, unselige Krieg einmal zu Ende ist? Die Kinder im Städtchen, die auf den Plätzen und in den Anlagen Krieg spielen und die Rollen der Feinde untereinander verteilen, geben sich gern dazu her, Franzosen, Russen oder Belgier zu sein. Den Engländer aber will keiner abgeben; wer im Spiel Engländer sein muß, der schämt sich und verlangt dafür, daß er beim nächsten Spiel Deutscher sein muß. Frau Hiller steht mit Fräulein Else in der Tür des Hauses, als die Freiwilligen aus dem Kasernentor herausreiten. Wie ihr kleiner Ernst nun schon sicher auf dem Pferd sitzt! Er nickt der Mutter zu, und der große Zug schmucker Husaren, den Karabiner über der Schulter, die Lanze im Arm, bewegt sich die lange Straße hinab, dem Bahnhof zu. Fräulein Else hat den lebhaften Wunsch, sich die Sache anzusehen. Am Bahnhof ist natürlich alles abgesperrt, da kann man nicht durch. Aber wenn man mutig ist, geht man zum Lager selbst hinaus. Es ist ja nicht gefährlich, denn der Mond scheint, und draußen beim Lager brennen die hohen Bogenlampen. Aus der Kaserne kommt der junge Arzt, der die Wachtmeistersleute hin und wieder besucht und mit ihnen in der Küche Kaffee trinkt. Fräulein Else läuft ihm entgegen und bringt ihr Anliegen vor. Der Arzt ist selbst auf dem Wege zum Exerzierplatz. Er hat das Amt, nach den leichtverwundeten Russen, die schon am Morgen ankamen und im großen Saal eines Bierrestaurants, dicht beim Lager, untergebracht sind, zu sehen. Er begrüßt Frau Hiller und erklärt sich bereit, die Damen zu begleiten. Mirza läuft mit ihnen. Es ist eine kühle, sternklare Nacht, und sie biegen gleich links von der Kaserne in einen schmalen Weg ein. Rings um sie herum sind Felder; ein Bächlein rieselt da durch, der Mond gießt weiches Licht auf die Erde, und der Arzt erzählt von den Einrichtungen, die für die Russen getroffen worden sind. Am Bahnhof, in einem Lazarett, liegt eine Anzahl Schwerverwundeter. Ein paar von ihnen werden in allernächster Zeit ihren Wunden erliegen. Entsetzliche Verletzungen haben sie davongetragen. Arme Teufel! Es ist eine Grausamkeit, daß man sie leiden läßt, daß man sie nicht erlösen darf, da man doch genau weiß, daß sie in ein paar Stunden oder Tagen unter namenlosen Qualen sterben müssen. Frau Hiller hat sich in Fräulein Elses Arm gehängt, denn sie gehen über Stoppeln, und das Mondlicht tanzt unsicher auf dem holprigen Boden. Es ist ein weiter Weg bis zum Russenlager hinaus; alles totenstill um sie her, kein Mensch begegnet ihnen, nur Mirza bellt hin und wieder, wenn er irgendwo etwas Lebendiges wittert. Dem Russenlager gegenüber erhebt sich ein kleiner Hügel; wenn man da hinaufsteigt, überschaut man den ganzen, weiten Platz wie ein Theater. Der junge Arzt zieht die Uhr. „Die Damen werden noch eine gute Stunde warten müssen,“ sagt er. „Sind Sie nicht ängstlich?“ Nein, ängstlich sind sie nicht! Wer soll ihnen etwas tun, sie haben ja auch Mirza bei sich, und wenn er auch nicht viel ausrichten kann, so würde er doch wenigstens bellen, wenn sich etwas Verdächtiges zeigte. „Aber es ist kalt, und es wird Ihnen noch etwas langweilig werden, so lange dem leeren Platz gegenüberzustehen. Wenn Sie Lust und Mut haben, so kommen Sie mit mir und schauen sich an, wo wir unsere leichtverletzten Feinde untergebracht haben!“ Fräulein Else kämpft mit einem leisen Unbehagen, aber Frau Hiller ist freudig überrascht. Nicht Neugierde drängt sie, aber in der Nacht denkt sie oft über das Schicksal der Gefangenen, die krank ins Land ihrer Feinde kommen, nach. „Wenn ich nur einen Blick in den Saal werfen darf!“ Sie nimmt dankbar das Anerbieten des jungen Arztes an. Er führt sie ein Stück Weges zurück durch einen Garten, in dem den Sommer über Tische und Bänke standen, und wo sich lustiges Leben abzuspielen pflegte. Jetzt ist alles dunkel und einsam. Ein paar Stufen führen zum Eingang des Hauses hinan; man geht durch den Restaurationsraum, in dem ganz wenige Gäste sitzen, und kommt in den großen Tanzsaal. Starker Karbolgeruch dringt ihnen entgegen, und Fräulein Else hält sich die Nase zu. „Hu, wie das riecht!“ Der Arzt geht voran, und die beiden Frauen bleiben am Eingang an einer Säule stehen. Von der Decke herab hängen große Lampen, die weißes Licht ausstrahlen. An der Erde, auf Matratzen, die eilig hierhergeschafft wurden, weil man nicht auf so viele Kranke gerechnet hatte, liegen die Verletzten; in voller Uniform liegen sie da, und einige haben sogar die Mütze auf dem Kopf. Seltsam mutet dies Bild an -- traurig -- öd -- unfreundlich! Die Lazarette, die in der Stadt sind, haben weiße Betten und weiße Möbel, alles wirkt da hell und freundlich, so daß man das sichere Gefühl hat: der hier liegt, muß gute und friedliche Gedanken bekommen. Dieser Saal aber, der so hastig hergerichtet werden mußte, hat etwas Beklemmendes. Aber sie liegen zum wenigsten warm. Sie haben Pflege und reichliches Essen. Gott mag wissen, ob es den Unseren, die als Gefangene in ihr Land kommen, ebenso gut ergehen mag. Der Arzt tritt an einen Tisch, an dem zwei junge Leute mit dem Abzeichen des Roten Kreuzes auf dem Arm stehen. Er läßt sich Bericht erstatten und geht dann von Bett zu Bett. Die meisten der Gefangenen sprechen deutsch, und einige von ihnen sehen intelligent aus. Auf der Matratze eines Schlafenden sitzt ein junger Mensch, der den Kopf in die Hand gestützt hat. Von ihm kann Frau Hiller ihre Blicke nicht lösen, denn etwas unsäglich Trauriges geht von ihm aus. Man soll kein Mitleid mit den Feinden haben! Man soll an die Greueltaten, die sie schon in unserer Heimat angerichtet haben, denken. Was wollen sie denn mehr als das, was man ihnen hier bietet: ein warmes Lager, Essen und Trinken und die nötige Pflege? Geht es uns etwas an, ob sie sonst noch leiden, ob sie Heimweh haben, ob ihre Seele belastet ist? Der junge, energische Arzt tritt an das Bett des Schlafenden und rüttelt den, der wie weltentrückt dasitzt, an der Schulter. Der fährt auf und sieht den Arzt erschrocken an. Er hat nur einen Streifschuß an der Hüfte und ist schon fast ganz wiederhergestellt. In einem Tag oder zwei wird er zu den anderen ins Lager kommen. Der Schlafende scheint doch aber eher zu den Schwerverletzten zu gehören; der hat einen Lungenschuß und sein Atem geht röchelnd. Der Arzt sieht ihn an und läßt ihn schlafen, dann tritt er zu den Frauen Er erklärt Frau Hiller die einzelnen Fälle. Der junge Mensch, der wieder in seiner versunkenen Stellung, den Kopf in die Hände vergraben, dasitzt, ist der Bruder des Schlafenden. Der Arzt hat sich am Morgen mit ihm unterhalten, denn er spricht deutsch ebenso geläufig wie russisch, und hat ihm mitgeteilt, daß er ganz nahe der Grenze zu Hause sei. „Wollen Sie sich mal von ihm selbst seine Geschichte erzählen lassen?“ Fräulein Else machte entsetzte Augen, und auch Frau Hiller möchte abwinken. Aber der Arzt ist schon zu dem jungen Menschen hingegangen und kehrt mit ihm zu den zwei Frauen zurück. Er hat ein sympathisches Gesicht, und man sieht sogleich, daß er kein gewöhnlicher Mensch ist. Er sieht jetzt auch gar nicht mehr so schwermütig aus und erzählt fließend und anscheinend gern, wie er in den Krieg gekommen ist. Er und sein Bruder, der hier liegt, waren Beamte auf einem großen Gut, hatten Urlaub bekommen und waren gerade im Begriff, zu Eltern und Geschwistern in die Stadt zu fahren. Da heißt es: „Großes Manöver!“ Man rüstet sich und denkt: In drei Tagen ist man frei! Da steht man auch schon dem Feind gegenüber. Entsetzlich! Kein Mensch hat ihnen etwas vom Krieg gesagt! Wochenlang liegen sie hinter Wällen -- immer er mit dem Bruder zusammen -- schlechtes Essen -- trübe Nächte, und die Deutschen schießen wie die Verrückten! Ende September haben sie sich ergeben -- der Bruder mit einem Schuß in den Rücken, er mit der Hüftwunde, die schon fast ganz ausgeheilt ist. Mit dem Bruder war es anfänglich auch nicht so schlimm; er konnte noch ganz gut gehen und sitzen, aber der lange Transport hat ihm geschadet -- nun muß er vielleicht sterben! Da nimmt das Gesicht wieder den schwermütigen Ausdruck an. Die Angst um den Bruder mag ihm das Herz zuschnüren, denn man sieht und fühlt aus allem, daß er den Bruder zärtlich liebt. Er ist noch blutjung und hat ein kluges Gesicht. Nun erfährt er nichts mehr vom Krieg, wird nicht hören, wie es um sein Land steht, und wie lange die Gefangenschaft dauert! „Danke,“ sagt der Arzt in dem Augenblick, in dem der junge Mensch anfängt von seinen Gefühlen zu reden. Das klingt schroff, und Frau Hiller und Fräulein Else sehen ihn vorwurfsvoll an. Kein Mitleid mit den Feinden! Frauen aber können sich schwer dem Mitleid verschließen! Der junge Mensch sitzt wieder ganz versunken am Lager des Bruders. Was mag er nun gegen die empfinden, denen er Rede stehen mußte über das, was sie hören wollten, und auf deren Gebot er schweigen mußte, als das, was er zu sagen hatte, ihnen nicht mehr paßte? Frau Hiller sieht zu ihm hin und stellt sich vor, daß ihr Junge eines Tages so im fremden Land sitzt, den Kopf in die Hand gestützt, das Herz voll Verzweiflung, und daß er vielleicht vorgerufen wird und Frauen aus Feindesland Rede stehen muß und fortgeschickt wird, sobald ihre Neugierde befriedigt ist. Sie schämt sich und hat das Gefühl, zum Leid eines armen Menschen noch Haß und Verbitterung gesellt zu haben. Der Arzt zieht seine Uhr. Er hat in dieser Nacht hier nichts mehr zu tun und greift zu Hut und Mantel. „In einer Viertelstunde kann übrigens der Transport beim Lager ankommen, also gehen wir!“ Draußen atmen sie tief auf. Eine klare Nachtluft empfängt sie und kühlt den erhitzten Kopf. Mirza, der im Gastzimmer geblieben war, springt hoch an Fräulein Else in die Höhe. Die Sterne funkeln, und der Mond macht die Erde silbern. Es ist eine köstliche Spätherbstnacht! Sie steigen auf den Hügel und sehen die Welt wie ein Märchen vor sich liegen. Weit dehnen sich die vom Drahtzaun eingefaßten Flächen vor ihnen aus, und die Bogenlampen werfen ein geisterhaftes Licht darüber. Zu allen Seiten sind weite Felder, und der Blick kann in die Unendlichkeiten schweifen. Nirgends ein Hemmnis, denn öd und flach ist das altmärkische Land! Frau Hiller wendet sich der Seite zu, wo die Stadt mit ihren Kirchtürmen liegt. Ganz verschleiert nur sieht man die Umrisse. Es ist beklemmend still oben auf dem kleinen Hügel; keiner von den dreien spricht ein Wort, und Fräulein Else hat den frierenden Hund auf die Arme genommen. Ein leiser Wind raunt durch die letzten Blätter der Bäume, und hin und wieder schwirrt ein Vogel durch die Luft. Frau Hiller ist es, als beginne ihre Seele zu fliegen -- sie sieht Dinge, die noch kein Mensch gesehen; sie weiß und versteht Dinge, die niemand auf Erden begreifen kann. Ihr ist, als öffnen sich Tore vor ihr, die sich erst dem erschließen, der sein irdisches Leben abgeworfen hat. So oft in diesen unseligen Zeiten, seit der Krieg begann, hat sie an allem, was sonst ihre Zuflucht gewesen, zu zweifeln begonnen: an dem Gott, der die Geschicke der Menschen in der Hand hält, der über Recht und Unrecht entscheidet. In dieser Nacht aber wird ihr ein Gnadengeschenk. Der Himmel öffnet sich ihr, und sie sieht in Pracht und Herrlichkeit hinein. Sie sieht mit den Augen eines Kindes, dem ein Märchen erzählt wird. Sie sieht Gott mit dem milden Antlitz und dem Glorienschein ums Haupt, wie ihn fromme Kinder sich vorstellen. „Wer sein Leben unschuldig hingibt, der wird hier oben bei mir die Seligkeit erlangen!“ hört sie ihn sagen. Da weiß sie wieder, daß das, was man sie in der Jugend lehrte, doch wahr ist. Die paar Jahre, die der Mensch hier unten auf der Erde hinzuwandern hat, die sind also nichts anderes als die Vorbereitung für die Ewigkeit da oben! Alle Menschen bekommen das in ihrer Kindheit gesagt, aber sie vergessen es, oder sie wachsen darüber hinaus. Und weil jeder nur an das eine Leben hier unten denkt, kommt so viel Böses und Hartes und Schlimmes in den Herzen auf, -- darum auch ist der Neid und der Haß unter den Völkern so groß geworden -- darum schlachten sich die Menschen jetzt hin! Jeder will für dies eine Leben, an das er glaubt, alles für sich zusammenraffen -- keiner denkt an die Herrlichkeit da oben und darum will keiner arm und bescheiden und gut bleiben. Wie verblendet sind die Menschen geworden! Der Arzt faßt Frau Hiller leise am Arm, und im selben Augenblick ist die Traumwelt versunken. Vom Dom und von der Marienkirche schallen Glockentöne: es ist Mitternacht. Der Arzt deutet mit der Hand nach der großen Straße hin, die vom Tor hier heraus zu den Exerzierplätzen führt. In weiter Ferne hört man Pferdegetrappel, hört die Marschschritte der Gefangenen. „Sie kommen! Sie kommen!“ ruft Fräulein Else und läßt Mirza aus ihren Armen gleiten. Das Auge kann erst allmählich unterscheiden; man sieht etwas wie eine graue Schlange heranziehen. Es kommt näher und näher. Das Pferdegetrappel schlägt jetzt schon ganz deutlich ans Ohr, man kann die Umrisse der Reiter erkennen. Ein Schauer geht durch die beiden Frauen. Der Krieg ist ihnen mit einmal ganz nahe gerückt! Der Feind, der Deutschland in Stücke zerhauen will, kommt als Gefangener ins Land! Man hat all die Tage gar nicht darüber nachgedacht, was das eigentlich so recht bedeutet. Auch vorhin bei den armen Verwundeten hatte man nicht das Gefühl eines Triumphes. Nun aber, da der Trupp näher und näher kommt, erschauert man unter der Größe des Augenblicks. Sie sind schon ganz nahe! Zwei Vorreiter sind am Stachelzaun angelangt. Eine Tür wird geöffnet -- eine Anzahl Soldaten bilden Spalier -- die Husaren verteilen sich rund um den weiten Platz herum, und die ersten Russen betreten das Lager. Still alles ringsumher, nur das Marschieren der Truppen und das Aufschlagen der Pferdehufe ist hörbar. Die Russen tragen braune Mäntel, die sich kaum vom Erdboden unterscheiden; sie fließen durch die schmale Tür auf den weiten Platz wie eine Masse, die eine Form füllen soll. Unabsehbar dehnt sich der Zug der Anmarschierenden hin; man hat gar nicht mehr die Empfindung, daß diese wogende Menge, die hier einzieht, aus einzelnen Menschen besteht. Man sieht nur noch das Ganze, das durch die enge Tür quillt, das anschwillt, das wie ein Meer auf und nieder wogt! Werden sie alle Platz haben? Wird ein jeder ein kleines Stück Boden für sich finden, wo er sich zur Nacht ausstrecken kann? In Baracken und Zelten ist Stroh aufgeschüttet worden. Gegen Sturm und Kälte sind sie also genügend geschützt. „Viel zu human,“ sagt der Arzt, der zwischen den beiden Frauen steht. „Wer weiß, wie sie mit den Unseren umgehen, die in ihr Land kommen?“ Es ist gut für Frau Hiller, daß ihr Mitleid eingedämmt wird, daß sie es immer wieder hört: „Wie werden die Deutschen, die in Feindesland kommen, aufgenommen werden?“ Dann denkt sie an ihren Ernst -- und das Herz wird hart gegen Deutschlands Feinde. Aber immer wieder bricht der Schmerz und der Jammer um all das Leid, das in die Welt gekommen ist, in ihrer Seele hervor. Wer hat diesen furchtbaren Krieg gewollt? Wer hat die Brandfackel in die Welt geschleudert? Welcher verruchte Kopf ist es, der die Massen aufwiegelte -- wessen Seele wird einst Verantwortung tragen müssen für das namenlose Leid, für den grenzenlosen Jammer, der jeden einzelnen, der doch nichts anderes als ein armes Werkzeug ist, trifft? Die Husaren auf ihren Pferden stellen sich rund ums Lager auf, immer noch mit gefällter Lanze, immer noch zum Angriff bereit. Aber die Gefangenen gehen friedlich, wie Vieh, das in den heimatlichen Stall zieht, in ihr Lager hinein. Von der Stadt her kommt der Landsturm angezogen; der hat die Wache zu übernehmen. Die Nacht ist vorgeschritten; ein Frösteln geht durch die, die oben auf dem Hügel stehen. Der Wind, der bislang wie ein Raunen durch die Kronen der Bäume gezogen ist, wird stärker. Am Himmel treiben Wolken, die Sterne sind verschwunden, und der Mond ist fahl geworden. Nun ist der letzte Russe ins Lager eingezogen; die Tür schließt sich. Zwei Wachtmeister kommandieren die Husaren, die sich zu Reihen ordnen. Frau Hiller schaut auf den Zug, der sich zur Stadt bewegt. Da kommt wieder das große Staunen in ihre Seele. Das Kind, das bislang ihr eigen war, ihr kleiner Ernst, ist einer von den Husaren, die hier eine so ernste, feierliche Mission verrichtet haben. Welcher mag es sein? Jeder einzelne wird ein paar Sekunden lang von dem hellen Licht der Bogenlampen bestrahlt; aber sie hat ihren Jungen nicht erkannt! Stolz und Schmerz kämpfen wieder gegeneinander. Der Stolz sagt: ‚Freue dich, daß du dem Vaterland einen Sohn zu geben hast!‘ Aber der eigennützige Schmerz sagt: ‚Ich habe ihn geboren -- ich habe ihn groß gezogen, und nun, da ich einen guten Kameraden an ihm hatte, muß ich ihn hingeben!‘ Sie stehen noch eine Weile auf ihrem Hügel; sie sehen, wie der Landsturm sich rings ums Lager verteilt. Drinnen, innerhalb des Drahtzaunes, wogen die Massen auf und nieder -- Tausende von einzelnen Leben, die nun zu einem großen Ganzen verschmolzen sind! Tausende von Köpfen und Herzen, die hier leiden werden! Und zu diesen Tausenden, die hier in der Fremde die Gefangenschaft erdulden müssen, gehören wieder Tausende in der Heimat, die mit ihnen leiden -- deren Seelen dunkel und verzagt sind. Die ganze Welt ein einziger Jammer -- ein einziger Weheschrei! Wer hat diesen unseligen Krieg heraufbeschworen? Wer trägt die Schuld, daß die Welt in solche Finsternis geraten konnte? Der junge Arzt mahnt zur Heimkehr. Das Schauspiel ist vorüber; das, was man jetzt sieht, wird man durch Wochen -- durch Monate -- vielleicht noch ein ganzes Jahr hindurch sehen können, denn der Krieg hat noch lange, lange nicht ausgetobt! * * * * * Die Großmutter hat sich zur Reise ins Altmärker Städtchen aufgemacht. Das ist ein großer Entschluß für sie gewesen, denn mit zweiundsiebzig Jahren reist man nicht mehr ganz leichten Herzens wie in der Jugend, durch die Welt. Und ganz besonders in diesen Zeiten nicht, in denen man noch gar nicht auf regelmäßige Beförderung rechnen kann; in denen noch immer Überraschungen an der Tagesordnung sind: Truppenverschiebungen, Gefangenentransporte oder erweiterter Güterverkehr, der die Personenbeförderung einschränkt. Großvater ist gar nicht damit einverstanden, daß die alte Frau die Fahrt, die noch dazu sehr umständlich ist, wagen will. Da sie aber hartnäckig ist, hat er ihr seine Begleitung angeboten. Doch sie will nicht, daß die Wohnung ohne männlichen Beschützer bleibt. Sie hat so ihre Ahnungen, die sie selten täuschen; sie ist sicher, daß sich irgend etwas Schreckliches ereignen wird, wenn sie beide ihr Heim verlassen, und sie würde keinen Augenblick der Ruhe haben. Eine ganze Woche kämpft sie mit sich selbst. Es fällt ihr wirklich nicht leicht, sich zu der Fahrt zu entschließen, aber der Wunsch, den Enkel in Uniform zu sehen, der Wunsch, den Sohn ihres Sohnes noch einmal, bevor der große Abschied kommt, ans Herz zu drücken, ist zu brennend geworden. Den ganzen Tag, Stunde für Stunde, muß sie an den Jungen denken. Sie hat immer gehofft, er würde mal ein paar Tage Urlaub erhalten und sie besuchen; aber die Freiwilligen bekommen nur dann Urlaub, wenn ganz zwingende Gründe vorliegen, und die Sehnsucht einer Großmutter, ihren Enkel wiederzusehen, ist kein zwingender Grund. Wenn sie also den drängenden Wunsch ihres Herzens befriedigen will, muß sie sich zur Reise entschließen, und zwar bald, denn der Winter steht dicht vor der Tür, und man muß von Tag zu Tag auf Schneestürme und Frostwetter vorbereitet sein. Sie rüstet sich, als habe sie eine Reise von Wochen vor. Natürlich kann sie nicht mit leeren Händen kommen. Die Müller hat ihr helfen müssen, ein paar Eßpakete zu packen; außerdem hat sie einen ganzen Berg von Wollsachen, den sie und die Müller gestrickt haben. Das kann der Junge natürlich nicht alles selbst brauchen und soll er auch nicht. Sie hat nicht für den Enkel, sondern fürs Vaterland gestrickt; also mag er ärmere Kameraden, die noch nicht im Besitz des Nötigen sind, mit dem, was sie und die Dienerin verfertigt haben, beglücken. Der Großvater sitzt neben ihr, als sie im geschlossenen Wagen zur nächsten Bahnstation fährt. Das Herz ist ihr furchtbar schwer. Es ist vielleicht doch eine Torheit, daß sie die Reise wagt. Sie legt ihren Arm in den ihres Mannes und schmiegt ihr Gesicht an seine Schulter. Wie ein ganz junges Paar sitzen sie eng aneinandergelehnt im Wagen. Großvater hat ihr genau aufgeschrieben, wo sie umzusteigen hat; aber am Bahnhof wiederholt er die Reisestrecke noch zwei-, dreimal. Beim Abschied muß sie weinen und fühlt sich ganz schwach -- aber sobald der Zug sich in Bewegung setzt, ist alles gut. Es wird sogar ganz lustig; sie hat nette Reisegesellschaft, hört allerlei kleine Geschichten erzählen, und ihre Augen beginnen zu leuchten. Die alte Lebenslust ist wieder da. Sie hat das Gefühl, daß sie sich wohl zu sehr einkapselt, darum vorzeitig alt wird und die rechte Verbindung mit der Welt verliert. Das Umsteigen geht sehr glatt; es ist überhaupt während der ganzen Reise alles wie zu normalen Zeiten. Nur, daß an Brücken und Tunnels Wachen stehen, und daß im Wagen ein Plakat angebracht ist: ‚Reisende, helft unsere Brücken und Tunnels schützen!‘ erinnert an den Krieg. Der Zug kommt auf die Minute pünktlich im Altmärker Städtchen an; die Schwiegertochter ist am Bahnhof, und ein Wagen, der sie zur Kaserne hinausbringt, ist zur Stelle. Frau Hiller ist im ersten Augenblick, als sie die alte Frau sieht, ein wenig benommen. ‚Wie ein Bild, das aus seinem Rahmen genommen würde!‘ muß sie denken; denn sie hat die Großmutter eigentlich immer nur in der zu ihr gehörenden Umgebung und nie an einem fremden Ort gesehen. Großmutter hält während der ganzen Wagenfahrt die Hand ihrer Maria in der ihren und läßt sich erzählen. Dabei schaut sie zu den Fenstern hinaus, findet, daß die Stadt eigentlich ziemlich reizlos sei, und staunt über den weiten Weg. Sie begegnen einem Trupp graugelber Husaren, aber Ernst ist nicht darunter. Die Wachtmeistersfrau und deren liebenswürdige Tochter begrüßt die Großmutter mit einer gewissen Herablassung, sieht sich prüfend in den beiden Zimmern, die ihre Maria hier innehat, um, tritt ans Fenster und schaut auf die langgestreckten Gebäude der roten Kaserne. Dabei schüttelt sie den Kopf. „Daß gerade du es so lange hier aushältst, Kind, wundert mich. Du bist doch eine Naturschwärmerin und hast auch einen gewissen Luxus in deiner Umgebung nie gut entbehren können!“ Dabei schaut sie ein wenig hochmütig auf all das, was hier herumsteht und an den Wänden hängt. „Ist es nicht hübsch und behaglich hier?“ fragt Maria erstaunt, denn sie hat das Gefühl, nie im Leben sich so wohl gefühlt zu haben als hier in den zwei einfachen, traulichen Zimmerchen. Die Großmutter läßt sich aus all ihren vielen Umhüllungen auswickeln; Fräulein Else bringt den Kaffee, und nun wird auch die alte Frau warm und gemütlich. Sie freut sich, daß ihre Maria strickt und näht, und läßt sich vom Jungen erzählen. Plötzlich tut sich die Tür auf -- Sporen klirren, die Großmutter springt mit einem leisen Schrei auf und hält den Enkel am Herzen und weint und schluchzt dabei. Der Junge ist ein wenig verlegen, streichelt ihr die Schulter und sagt: „Aber Großmutter -- Großmutter!“ Er duftet nach Pferdestall, denn er hat Stallwache. Die alte Frau schiebt ihn ein wenig von sich ab, legt ihm beide Hände auf die Schultern und schaut ihn an. Kerzengerade -- schlank und rank steht er vor ihr -- auf den Lippen den Flaum eines Bärtchens -- die Wangen rot und die Augen klar und voll Lebenslust. Eine heiße Freude kommt im Herzen der Großmutter auf. Also wird er doch ein Mann werden -- kein Träumer -- kein Weltverächter. Blut von ihrem Blut. Der rechte Sohn ihres Sohnes! „Siehst du, Maria, daß ich recht hatte! Ein Junge will von Männerhänden angefaßt sein. Ich kann dir den Vorwurf nicht ersparen. Du hättest ihn früher hergeben müssen -- -- aber schadet nichts! Das, was ich immer für ihn ersehnt habe, ist ja nun doch noch gekommen. Er ist auf dem besten Wege, ein Mann zu werden! Und wie ihn die Uniform kleidet! Genau wie bei seinem Vater! Zog der Zivil an, dann war er nicht wiederzuerkennen. Also, Junge, nun bleibst du bei der Stange! Offizier ist der einzig wirkliche Beruf. Und sollst mal sehen, was das für ein Avancement gibt, wenn der Krieg vorüber ist. Dann braucht Deutschland erst seine Offiziere. Und wenn du brav und schneidig bist, dann wird Großmutter auch ein übriges tun; dann sollst du über die Zulage nicht zu klagen haben!“ Ihr Gesicht ist heiß vor Erregung; sie hält den jungen Menschen immer noch an beiden Schultern fest, küßt ihn wieder auf beide Wangen und lacht dann. „Bringt er immer so einen angenehmen Duft aus der Kaserne mit, Maria? Aber nun setz’ dich, mein Junge!“ Und sie zieht ihn neben sich aufs Sofa und bittet die Schwiegertochter: „Pack’ mal das kleinere der beiden Pakete aus, da ist der Kuchen drin!“ Die Müller hat köstlichen Kuchen gebacken -- dreierlei Sorten. Kein Luxuskuchen, sondern einen echten, rechten Soldatenkuchen -- kräftig und gewürzig, mit viel Mandeln und Zitronat, wie ihn der kleine Ernst immer geliebt hat. Die Großmutter häuft ihm den Teller voll. „Ein Soldat muß immer hungrig sein!“ Ihre Hände zittern, und in den Augen stehen schon wieder die Tränen. Der Sohn ihres Sohnes! -- So wie dieser jetzt hier sitzt, hat sie das eigene Kind im Gedächtnis behalten. An den, der so früh dahinsiechte, der das schwere Leiden in sich trug, denkt sie nicht gern; alles Kranke, Traurige hat sie immer in ihrem ganzen Leben von sich abgeschoben. Das alte, junge Gesicht ist wie verklärt, während der Enkel mit Behagen seinen Kuchen verzehrt. Das Kind ihres Kindes! Heiße Liebe wallt in ihrem Herzen auf. Und die auf der anderen Seite neben ihr sitzt, ist die Mutter ihres Enkels -- die Frau ihres toten Sohnes. Ach, mögen ihre Naturen verschieden sein, mag diese Maria ihren Kopf für sich haben, was liegt daran? Sie gehört ganz eng zu dem lieben, lieben Jungen da -- und Großmutter, übermannt von den großen, guten, weichen Gefühlen, schlingt den einen Arm um den Enkel, den anderen um die Schwiegertochter und küßt den einen und küßt die andere. „Meine lieben, geliebten Kinder -- meine guten, herzigen Kinder!“ Der Junge fängt an zu erzählen. „Du hast einen schlechten Tag zum Besuch ausgewählt, Großmutter. Heut abend kann ich keinen Urlaub bekommen. Einfach unmöglich; ich muß im Stall bleiben!“ Frau Hiller denkt daran, einen Besuch beim Oberleutnant zu machen und für den Jungen um ein paar freie Stunden zu bitten. Aber davon will die Großmutter nichts wissen. Der Dienst geht vor und morgen ist auch noch ein Tag. Sie streichelt die braune, derbgewordene Hand des Husaren und kann sich nicht satt an ihm sehen. Wie frisch und lebendig er erzählt! Wie ganz anders als früher er in die Welt schaut -- wie ihm die Augen leuchten! Die Rührung will ihr immer wieder aufsteigen, die Tränen rollen ganz von selbst aus den Augen. Nach einer kurzen halben Stunde springt der Junge auf; er muß hinüber -- es ist höchste Zeit. ‚Jammerkapaun‘, der Wachtmeister, den sie so nennen, weil er eine komische Art zu jammern und dazu etwas von einem stelzenden Vogel hat, hat heute ohnehin seinen bösen Tag. Stramm steht er vor Großmutter -- die Hacken zusammengeschlagen -- Hände an der Hosennaht. „Bis morgen!“ Da jauchzt ihr Herz. Mit demselben schalkhaften Zug um den Mund hat auch ihr Junge sie immer angesehen. Fleisch von seinem Fleisch! Geist von seinem Geist! „Geh mit Gott, mein Junge!“ Und sie umarmt ihn so inbrünstig, als sollte das die letzte Umarmung, die sie ihm geben kann, sein. Vom Fenster aus sieht sie ihm nach. Wie er elastisch dahingeht! Wie er den Kopf hält! O, daß sie das erleben durfte, ihn so zu sehen! Daß sie die Gewißheit mit nach Hause nehmen darf, daß er ein echter deutscher Mann und kein Träumer und Philosoph geworden ist! Aber damit ist auch ihre Spannkraft erschöpft. Nun fühlt sie plötzlich wieder, daß sie zweiundsiebzig Jahre alt ist und einen anstrengenden Tag hinter sich hat. Sie legt sich in eine Sofaecke; aber das ist ihr nicht bequem genug. Sie hat das Verlangen, sich auszustrecken, und geht gern auf Marias Vorschlag, sich schon jetzt zu Bett zu legen, ein. „Alte Leute sollten wirklich nicht mehr reisen!“ seufzt sie, als sie in den Kissen liegt. Auch das Bett tut ihr nicht wohl. Sie ist ihre weichen Federbetten gewohnt und liegt hier auf einer steifen Matratze. „Komm, setz’ dich zu mir, Kind. Sprich mit mir; meine Seele ist bang geworden!“ Die alte Hand zittert und die Stimme klingt nicht so voll wie sonst. Oben schreit das kleine Kind der Trompetersfrau, und Frau Hiller erzählt der Großmutter die traurige Geschichte dieser Leute; erzählt, wie sie hinaufgegangen ist zu der armen Witwe und ihr das Schreckliche beigebracht hat, und erzählt weiter, daß die Frau nun schon wieder ganz ruhig ist, ja geradezu erstaunlich ruhig und gefaßt ist, und daß es sie eigentlich enttäuscht hat, daß ein so furchtbarer Schmerz so bald überwunden werden konnte. Die Großmutter denkt anders darin. „Solche Frauen brauchen wir heute, Kind, die sich mit dem Leben abfinden können, das ist jetzt die Hauptsache. Tatsachen hinnehmen und sich sagen: Vorwärts! Nur nicht zurückschauen -- nicht grübeln -- nicht ändern wollen, was nicht zu ändern ist. Das solltest du auch lernen, Maria! „Seit deinem letzten Besuch bei mir ist es mir zur Gewißheit geworden, daß etwas an dir nagt, daß du mir vieles verbirgst. Du trägst eine Liebe im Herzen, Maria, die du vor der Welt verheimlichen mußt. Ich weiß nicht, warum! Ich will es auch nicht wissen. Du bist alt und selbständig genug, um selbst über dein Leben zu verfügen; das aber glaube mir, solange ein Mensch sich nicht mit sich selbst im klaren ist, solange kann er sich auch in der Welt nicht wohl fühlen. „Du denkst von mir: die Großmutter ist eine derbe, praktische Frau, die mich nicht versteht. Zugegeben, Maria, daß ich derber und praktischer bin als du! Aber ein heißes Herz hab’ auch ich gehabt und hab’ es heute noch; und ich weiß auch, was es heißt, eine hoffnungslose Liebe in sich tragen. Keine Krankheit des Körpers kann solche Qualen verursachen, wie ein krankes, gemartertes Herz. Ich weiß das alles. Aber ich weiß auch, daß der Mensch dagegen an kann, wenn er es mit aller Kraft will. „Man kann sich in einen Schmerz hineinsteigern oder man kann suchen, eines Schmerzes Herr zu werden! „Man kann erwachsene Kinder haben und noch sehr jung sein. Ich bin um ein Menschenleben älter als du und brauchte doch auch noch einen Menschen, dem ich gut sein kann. „Eine heiße, wilde Liebe ist dazu nicht nötig. Die großen Leidenschaften gehören der ganz jungen Jugend. Was dir fehlt, Maria, das ist ein guter, lieber Gefährte, der es treu und einfach mit dir meint. Alles Einfache ist von Bestand. Alles, was sich zu weit von der Natur entfernt, ist halt- und wurzellos. „Sieh’ zu, daß du einfach wirst; sieh’ zu, daß du frei wirst! Und wenn der Junge heut oder morgen von dir fortzieht, wenn ganz dunkle Zeiten für dich kommen, dann denke, daß du eine Zuflucht bei der Großmutter hast. Dann lasse dich von deiner derben, praktischen Großmutter gesund machen. „So, und nun bin ich müd’, Kind! und will dir was sagen: Laß mich gleich morgen früh wieder abreisen. Den Jungen habe ich gesehen, und das Bild, das ich jetzt von ihm mitnehme, ist ein so liebes und schönes, das ich in gar nichts verändert haben möchte. Und dir hab’ ich gesagt, was ich auf dem Herzen hatte, damit ist genug. „Großvater hat mir die Züge, mit denen ich fahren kann, genau aufgeschrieben; sorge du, daß ein Wagen zur Stelle ist und sei nicht böse, daß ich so schnell wieder abreise. Mit zweiundsiebzig Jahren kann der Mensch sein Heim nicht mehr lange missen! Gute Nacht, mein Kind -- mein liebes, gutes Kind!“ Und sie küßte die Frau ihres Sohnes, als sei sie das eigene Kind, küßte sie wieder und wieder. Der kleine Hiller ist erstaunt, die Großmutter nicht mehr vorzufinden, als er am nächsten Mittag herüberkommt. Schadet aber nichts, denn er hat wieder kaum eine halbe Stunde Zeit! Am Mittag soll’s nach Magdeburg gehen; in Magdeburg aus der Kaserne rücken die Freiwilligen schon aus und brauchen Pferde. Da müssen die graugelben Husaren die ihren hergeben. Dreißig Mann sind kommandiert, um neunzig Pferde nach dort zu bringen. Sein Gesicht strahlt. Famos, daß man einmal aus der Kaserne herauskommt! Die Großmutter hat einen Schein für ihn zurückgelassen. Den steckt er schmunzelnd in seinen Brustbeutel, ißt hastig zu Mittag und eilt zur Kaserne zurück. Eine halbe Stunde später reiten sie los; dreißig junge Kerle -- jeder auf einem Pferd, einen Stock in der Hand und zwei Pferde am Halfter führend. Die Pferde tanzen um die Reiter herum; bei der scharfen Biegung um die Ecke stiegen einige von ihnen kerzengerade in die Höhe. Gefährlich sieht das aus, und Frau Hiller, die oben am Fenster steht, fühlt ihr Herz erbeben. Wie sollen die ans Ziel kommen, wenn das hier schon so wild angeht! Der Wachtmeister schreit sich heiser; es will keine Ordnung in den Zug kommen. „Teufel noch mal, seid ihr nicht Herr über die paar unschuldigen, eingerittenen Gäule? Und wollt bereit sein, ins Feld zu ziehen?“ Die Stöcke sausen über die Rücken der widerspenstigen Tiere; die Hand, die die Zügel führt, wird eisern. Man wird doch drei Pferde regieren können! „Los!“ Und nun geht’s auf einmal. Der kleine Hiller nickt zum Fenster hinauf. Er hat neben dem Zügel eine Blume in der Hand. Eine feuerrote Rose! „Von wem mag er die haben?“ Die Wachtmeistersfrau lacht vergnügt: „Von wem soll ein junger Husar wohl eine Blume zum Geschenk erhalten? Die Wachtmeister pflegen ihren Rekruten keine roten Rosen zu schenken!“ Frau Hiller fühlt, wie ihr das Blut ins Gesicht steigt. Sie denkt an die Pärchen, die abends am Fluß entlang wandern; sie denkt an jenen Abend, an dem ihr Ernst so hart über Hipp geurteilt hat. Die rote Rose will nicht aus ihren Gedanken heraus. Ernst, ihr kleiner Ernst, will wirklich ein ganzer Mann werden. Darum ist sie auch so erschüttert, als sie am Abend einen Brief in der Hand hält, der wie mit Blut geschrieben erscheint. Darum erschauert sie vor sich selbst, möchte sich vor sich selbst verbergen! Gelten diese heißen, inbrünstigen Worte ihr, der Mutter Ernsts? Und darf sie das lesen, immer wieder lesen? Darf ihr Herz so heiß schlagen? Darf sie dieser wehen, großen Sehnsucht, die heut in ihr aufsteigt, nachgeben? Während dieser ganzen Monate, die sie nun hier weilt, und während deren ihr Junge dies harte, stramme Leben in der Kaserne lebt, liegt sie im ewigen Kampf mit sich selbst. Sie will nur noch Mutter sein -- sie will alt -- will ruhig sein. Sie hat kein Recht mehr, wie die ganz Jungen zu fühlen! Aber das Herz rebelliert -- das Herz läßt sich nicht mit Vernunftgründen zur Ruhe bringen. Wochen hat es gegeben, in denen sie glaubte, gesiegt und überwunden zu haben -- und gerade heute, als der kleine Husar die rote Rose, das Pfand der ersten Liebe, in der Hand hielt, ist es wie ein Blitz durch sie gefahren: ‚Nun ist er an der Reihe -- nun muß dein Herz still und alt und ruhig werden!‘ Der Brief brennt in ihrer Hand. Der Brief sagt Dinge, die sie erschauern machen. Tiefer, heißer und beredter kann kein Mensch zum andern von einer großen, übermächtigen Liebe sprechen, als er es hier tut. Der Körper ist gesund und unversehrt, schreibt er, aber das Herz ist krank und jammert nach ihr. Sie steht am Fenster und lehnt den Kopf an die Scheiben. Draußen ist dunkle Nacht. „Ernst -- Ernst!“ ruft sie. Sie weiß es plötzlich mit tödlicher Gewißheit, daß der, der ihr diesen Brief geschrieben, ihr nie ein guter, lieber Lebensgefährte werden, daß er ewig unzufrieden mit sich und dem Leben bleiben wird. Kein Mensch kann über sich selbst hinaus! Sie sieht wieder die rote Rose in Ernsts Hand und sieht die kalte Einsamkeit an sich herankriechen. Sie hat niemand -- das Kind entgleitet ihr, und dieser Mann wird ihr nie ein stiller, treuer Gefährte sein. * * * * * Der nächste Tag ist ein Sonntag, der letzte des Oktobers. Die Sonne scheint, und es ist warm. Wehmütige Spätherbstschönheit liegt in der Natur. Ernst hat der Mutter eine lustige Karte aus einem kleinen Dorf, auf halbem Weg nach Magdeburg, geschrieben. Da haben sie Nachtruhe gemacht, und mit dem dicken Hipp hat er Unterkunft in einem Bauernhaus gefunden. ‚Bürgerquartier -- aber großartig!‘ schreibt er. In zwei Tagen werden sie wieder in der Altmärker Garnison sein, und dann wird er was zu erzählen haben. Vor Frau Hiller liegt der schöne, sonnenhelle Sonntag wie eine Ewigkeit! Sie fürchtet sich vor der Länge des stillen Tages. Sie weiß, daß die Gedanken sie wieder rückwärts führen werden, daß, während sie näht und strickt, das Leid der Vergangenheit und all die Unruhe und Not, die das Auf- und Niederwogen der Geschehnisse dieser großen, schweren Zeit in jedem Menschen erzeugt, sie überwältigen werden. Fräulein Else kommt zu ihr ins Zimmer. Die hat am frühen Morgen schon ein ganzes Tagewerk hinter sich, hat Stuben gereinigt und Stiefel geputzt, hat das Feuer im Herd und in den Öfen entzündet, hat das Frühstück bereitet und Flur und Treppen gekehrt. Nun wird sie hier in Frau Hillers Zimmer weiterarbeiten. Die Mutter sitzt schon seit Stunden in der Küche an der Maschine. Bis zum ersten November hat sie einen ganzen Stapel von Hemden ans Rote Kreuz abzuliefern, da muß die Tochter alles, was sonst die Mutter besorgt, mit verrichten. Aber heute soll sie einen freien Nachmittag haben. Sie sieht bleich aus, und die Wachtmeisterswitwe sorgt sich um das schmale, überschlanke Mädchen. Fräulein Else hat keine Freundin und hat keinen Liebsten in der Stadt. Wohin soll sie gehen? Einsame Spaziergänge sind keine Freude! Am liebsten pilgert sie noch zum Russenlager hinaus und schaut auf das große Volk von Gefangenen; dabei können die Gedanken in die weite Welt fliegen und dabei kann man sich tausend Geschichten zusammenreimen. Daß Fräulein Else kein gewöhnliches Mädchen ist, hat Frau Hiller gleich in den ersten Tagen ihres Hierseins gewußt. Beide -- Mutter und Tochter -- die durch die Verhältnisse, in denen sie leben, klein gehalten wurden, könnten ebensowohl Damen der Gesellschaft sein. Sie denken und urteilen tief und richtig über alles, was sie sehen und hören; und sie haben einen Takt, den manch einer, der Rang und Würden trägt, nicht besitzt. An diesem Sonntag, der von draußen so hell und leuchtend durch die Fenster blickt, und der doch so trostlos vor der Mutter des kleinen Husaren liegt, empfindet sie fast etwas wie Zärtlichkeit für das gute, liebe Mädchen, das sie bedient, und das jeden Tag von neuem besorgt ist, ihr das Wohnen hier in den beiden Zimmern angenehm und behaglich zu machen. Sie erinnert sich, daß Fräulein Else vor kurzem einen Wunsch geäußert hat. Sie hat ihr erzählt, daß sie seit Jahren nicht aus ihrer kleinen Heimatstadt herausgekommen ist, auch nicht in die allernächste Umgebung. Und möchte es doch so gern -- möchte nur einmal einen einzigen Sonntag draußen sein! Nur einmal etwas anderes sehen als diese Straßen, in denen sie jedes einzelne Haus malen könnte, so genau kennt sie alles hier. Den ganzen Sommer über hat sie umsonst gehofft, daß ihr Wunsch sich erfüllen möge; nun steht der Winter vor der Tür, und sie wird wieder auf den nächsten Sommer hoffen müssen. Frau Hiller steht auf und geht zu Else hin. „Die Sonne scheint so schön -- vielleicht zum letztenmal in diesem Jahr! Haben Sie Lust, mit mir zu wandern, Fräulein Else?“ Sie wird rot vor verlegener Freude. „Wenn die Mutter es erlaubt,“ sagt sie leise, und sie gehen zusammen zur Wachtmeistersfrau in die Küche, die gern die Erlaubnis gibt. „Wenn Sie schon aus der Stadt heraus wollen, dann sollten Sie sich Tangermünde ansehen, gnädige Frau. Das muß man gesehen haben, wenn man so lange in der Altmark gewesen ist.“ Als Fräulein Else neben Frau Hiller zum Bahnhof geht, unterscheidet sie sich in nichts von einem jungen Mädchen aus besten Kreisen. Ihr Gesicht ist leicht gerötet und sieht sehr lieblich aus -- vielleicht ein wenig zu schmal. Ihre Stimme ist klangvoll, und ihre Bewegungen sind ruhig und fein. Sie gehen den Weg am Fluß entlang, an dem die Liebespärchen bei Dunkelheit zu wandern pflegen. In der Stadt selbst ist es sehr lebendig. Auf den freien Plätzen werden die Infanteristen einexerziert; ein Zug Husaren, der zum Pferdekommando nach der Mark gekommen ist, marschiert singend an ihnen vorüber. Am Bahnhof werden durchziehende Truppen gespeist, und ein Samariterzug ist gerade eingelaufen. Es ist sehr kriegerisch geworden in der kleinen Altmärker Stadt; auf freien Feldern werden Infanteriesignale geübt, und überall steht der Landsturm als Wache. Seit die Russen hier angekommen sind, ist der ganze Ort zu einem großen Kriegslager geworden. Nach Tangermünde führt eine Kleinbahn, die klingelnd durch die stille Altmärker Landschaft fährt. Noch sind die Weiden grün, und das schöne, kräftige Vieh grast in großen Scharen darauf. Der strickende Hirt mit der Schafherde zieht seine Straße hin, und sonntäglich gekleidete Frauen und Kinder sieht man vor den Häuschen der Dörfer, durch die man fährt. Je weiter man sich von der Garnisonstadt entfernt, um so schöner und stiller wird es: Keine Uniformen mehr -- keine laute Musik -- keine militärischen Kommandos -- Eine leise, süße Friedensahnung zieht durch die Seele. Frau Hiller hat viel von Tangermünde reden hören; sie weiß, daß die Leute aus den umliegenden Städten am Sonntag hier gern herauspilgern, und daß es schöne, altertümliche Bauten in Tangermünde gibt. Da sie schon so viel von der Welt gesehen hat, ist nie der Wunsch in ihr aufgekommen, gerade dieses Städtchen kennen zu lernen. Von dem Augenblick an aber, da sie aus dem Bahnhof herausgetreten sind, fühlt sie ihre Seele ganz eigentümlich berührt. Ihr ist, während sie neben dem lieben Mädchen dahingeht, als sei sie in eine andere Welt eingetreten. Etwas Fremdes, Neues und doch schon Vertrautes empfängt sie. Sie geht durch die Straßen mit ihren kleinen, niederen Häusern und hat das Gefühl, ein Stück Mittelalter zu erleben. Die vorragenden Giebel, die Inschriften in den Türen, die niederen, von rotem, herbstlichem Wein umrankten Fenster, all das wirkt so seltsam auf sie. Und Sonntagsstimmung, wie man sie in anderen Städten nie verspürt; Ruhe und Frieden überall! Die Menschen hier haben Gesichter, als wäre noch kein Wort vom Krieg bis zu ihnen hingekommen, alles geht behaglich, bürgerlich, wundervoll zufrieden daher. Die engen Straßen steigen an und fallen ab, und herbstliche Gärten liegen vor und hinter den Häusern. An den Kaufläden sind die Fenster verhangen, und auf der Einfassung eines Brunnens sitzen halbflügge Mädchen still und feierlich in schwarzen Kleidern. Sie sind am Morgen eingesegnet worden -- die ganze Stadt sieht aus, als wäre sie am Morgen eingesegnet worden. Die beiden Frauen sprechen kaum miteinander, weil sie beide von etwas Gutem, Großem, Geheimnisvollem ergriffen sind. Sie gehen planlos durch die Straßen, so wie man zuerst durch einen fremden Ort zu gehen pflegt. Am Markt liegt das Rathaus, ein uralter Bau, hoch und imposant gegen all die kleinen, niederen Häuser rund umher, und dahinter das große, schwere Tor, das die Stadt abschließt. Die Sonne leuchtet, und kein Lüftchen weht. Die Natur will sterben und will vor ihrem Heimgang noch einmal auferstehen, will noch einmal alle Schönheit, die ihr zur Verfügung steht, zusammenraffen. Es ist eine traurige, stille, wonnige Herbstschönheit! In einer engen Straße liegt ein Gasthof, der den Namen ‚Zur Königin Luise‘ trägt. Ausgetretene Steinstufen führen zum Flur hinauf, und die Sonne läßt die Inschrift an der Tür aufblitzen. Hier hat einst die Königin Luise eine Nacht verbracht -- eine traurige Nacht -- sagt man. Es klingt so wundervoll mit dem Charakter dieses kleinen Städtchens zusammen, daß gerade diese Frau hier geweilt, hier gelitten hat. Man kann es sich so gut vorstellen, wie sie hier durch die stillen Straßen geschwebt ist. Wie sie im altväterischen kleinen Gasthof in irgendeinem der niederen Stübchen gedacht und gelitten haben mag. Kein Name in der Welt hätte sich harmonischer in das Bild, das diese kleine, weltvergessene Stadt heute bietet, eingefügt, als der dieser zarten, guten und doch starken Fürstin. Frau Hiller und Fräulein Else sind von einem unbekannten Hochgefühl getragen; sie sitzen im kleinen Speisesaal und nehmen ein einfaches Essen. Von draußen lacht die Sonne herein, läßt die Bilder an den Wänden plastisch hervortreten und spiegelt sich am Fußboden. Frau Hiller hat das Gefühl: ‚Wenn du einmal ganz zerrissen, ganz krank und elend bist, dann möchtest du in diesem lieben Haus, in dieser kleinen Stadt Zuflucht suchen!‘ Die beiden fühlen sich so wohl und behaglich in dem kleinen, uralten Gasthof, daß sie sich gar nicht davon trennen möchten. Aber sie haben ja das Eigentliche, weswegen sie hergekommen sind, noch nicht gesehen, und Fräulein Else drängt zum Aufbruch. Die Tage sind kurz, und die Sonne hat in dieser vorgerückten Herbstzeit früh ihre Bahn vollendet. Langsam wandern sie aus der Stadt hinaus, und eine mit Kastanienbäumen bepflanzte Allee führt sie zum Schloß hinauf. Das Laub ist gelb und dunkelrot, aber es bildet ein fast noch lückenloses Dach, wiewohl der Fuß durch raschelnde Blätter schreitet. Die Luft ist rein und abgeklärt und regt zum Sinnen an. Ach, die Natur ist wie der Mensch -- der Frühling ist die schwere, sehnsuchtsvolle, ungebärdige Jugend; der heiße Sommer ist der reif gewordene Mensch, der ebensowohl jauchzen wie tief leiden kann, und der Herbst ist das herannahende Alter, das die Stürme überwunden hat, das rein und still und klar geworden ist. Aber die meisten Menschen wollen, solange sie jung sind, nichts vom Alter wissen, die meisten Menschen wollen länger, als die Natur es vorgeschrieben hat, in der Jugend verharren. Warum nur? Nein, die Jugend ist nicht das Schönste und Begehrenswerteste. -- Jugend bedeutet für den tiefen und ernsten Menschen oft nur Leiden. Jugend bedeutet oft nur Sturm. Erst wenn man aus der Ferne auf sie zurückschaut, wird auch die Jugend schön und gut und harmonisch. In jedem Jahr geht es Frau Hiller so. Erlebt sie den Frühling mit seinem Stürmen und Brausen, so wirft er sie nieder -- schaut sie aber, wie heute, aus einem stillen, abgeklärten Herbsttag auf die wilde Auferstehungszeit in der Natur zurück, so hat sie die Angst und Not jener Tage vergessen, und nur das Jauchzende, Herzerfreuende ist in ihrer Erinnerung geblieben. Der Weg führt sie bergan; und aus der Allee ist allmählich ein Park geworden. Ein Farbenrausch vom hellsten Gelb bis zum tiefsten Braunrot umgibt sie, und die Sonne leuchtet darüber. -- Die Sonne ist wie ein mildes, segnendes Antlitz, aus dem tiefer, stiller Friede ausstrahlt. ‚Ist es wahr,‘ muß Frau Hiller denken, ‚ist es wahr, daß Krieg in der Welt ist?‘ Unbegreiflich will ihr das hier erscheinen -- unausdenkbar! Je weiter sie gehen, um so herrlicher wird es; man wandelt wie durch einen wundervollen Saal: das raschelnde Laub ist der Teppich -- die Kronen der Bäume sind die Decke, und die Sonne ist der große, gewaltige Kronleuchter, der ein fast magisches Licht verbreitet. Sie gehen langsam; sie gehen, wie wenn sie durch eine Kirche schreiten. O stille, schöne, geweihte Welt! Dann sind sie plötzlich an einer großen, weißen Terrasse angekommen; zwei Denkmäler aus der Zeit der Kurfürsten erheben sich da. Und der Kopf geht so willig auch in diese Vergangenheit mit. Man ist ja ohnehin schon längst aus der Gegenwart heraus; man hat vorhin mit der Königin Luise gelebt, nun geht man ein Stückchen weiter zurück und lebt mit den Kurfürsten. Hat man wirklich nur durch Bücher und Schulstunden etwas von der Kurfürstenzeit gehört? -- Oder hat man da schon gelebt? Man kennt doch diese Gestalten, die da oben in Stein gehauen stehen, so genau, man hat sie doch von Angesicht zu Angesicht gesehen, hat sie sprechen hören! Gibt es nicht Stunden, in denen der Mensch es nicht begreifen will, daß er nicht von Anbeginn der Welt an gelebt hat? Daß er nicht alles, was je in der Welt vor sich gegangen ist, mit eigenen Augen geschaut, mit leiblichen Ohren gehört haben soll? Stunden, in denen man es gar nicht fassen will, daß jedem Menschen nur eine kurz bemessene Frist zum Leben gegeben ist, und daß alles, was er von der Vergangenheit weiß, nur gelernt, nur durch Bücher oder Erzählungen übermittelt worden ist! Frau Hiller schaut wie gebannt zu den Denkmälern hinauf, bis plötzlich andere Menschen aus dem Weg, aus dem sie gekommen sind, auftauchen, miteinander sprechen und sie aus ihren tiefen Sinnen aufrütteln. Sie wendet sich Fräulein Else zu, geht ein Stück weiter durchs raschelnde Laub und sieht dann etwas, was sie mit Staunen und Jubel erfüllt. Die Elbe sieht sie, die wie ein silbernes Band durch die stille Landschaft fließt. Kähne und Flöße ziehen ihren Weg dahin; eine Fähre führt zum gegenüberliegenden Ufer, und der Blick schweift weit -- schweift in Unendlichkeiten, wie überall in diesem flachen, altmärkischen Land, das so viel feine Reize besitzt. Im Gasthof ‚Zur Königin Luise‘ hat man ihnen geraten, über die Elbe zu fahren und zum Dorf Fischbeck zu gehen. Das ist der Lieblingsort der Tangermünder, zu dem sie an schönen Sonntagen in großen Scharen wallfahrten. Auch heute drängen sie sich unten an die Fähre, und die paar Bänke, die an beiden Seiten des Fahrzeuges angebracht sind, sind schnell gefüllt. Frau Hiller und Fräulein Else müssen froh sein, noch ein bescheidenes Plätzchen unter all den Menschen zu finden. Sie gleiten über das stille Wasser und schauen weit dem Flüßchen nach, das hier so klein und bescheiden noch ist und weiter unten zu so gewaltigem Strome anschwillt. Immer noch leuchtet die Sonne, immer noch streicht die Luft mild und leis ums Gesicht. Am anderen Ufer verteilen sich die Menschen und beeilen sich, um zu ihrem Kaffee zu kommen. Fräulein Else aber bleibt stehen und stößt einen Schrei des Entzückens aus, denn sie sieht das herrliche Bild, das vor ihr liegt, und ist wie benommen. Tangermünde, vom gegenüberliegenden Ufer aus gesehen, mit seinem Schloß, seinen Denkmälern und Kirchtürmen! Tangermünde in letzter Herbstschönheit, von leuchtender Sonne übergossen! Der Anblick hat etwas Ergreifendes, etwas Hohes; er trägt über das armselige Leben mit seinen Leiden und Nöten hinweg. -- Trotzig wie eine Feste liegt dieses wundersame Bild da, und doch so mild, so voll überwältigender Schönheit. Frau Hiller, die viel Großes und Wunderbares in der weiten Welt gesehen hat, kann den Jubel des armen Mädchens, das nie aus seinem Heimatsort herauskam, wohl begreifen. Auch ihr ist es, als habe sie nie in tiefere, ergreifendere Schönheit geblickt als an diesem Tage. Sie können sich gar nicht entschließen, ins Dorf hineinzugehen; sie wollen keine Menschen sehen, wollen allein hier am Ufer weilen und das glitzernde Wasser und die alte, schöne Stadt mit Schloß und Türmen vor sich haben. Fräulein Else sagt mit leiser, zitternder Stimme: „Nun werde ich für Wochen zufrieden und glücklich sein! Nun habe ich etwas, woran ich denken kann, wenn ich traurig bin!“ Dieses Mädchen ist sechsundzwanzig Jahre alt und ist nie aus dem Heimatort, nie von der Mutter fortgekommen. Eine zarte, empfindsame Seele hat sie und ist einsam, immer einsam gewesen, wird vielleicht immer einsam bleiben müssen, und fügt sich so still darein, ist nie verbittert, nie unwillig! Frau Hiller hat oft das Gefühl, als müßte sie sich vor der Größe dieses Mädchens neigen. Sie gehen dann doch ins Dorf. Fräulein Else sieht so blaß aus und hat sich vielleicht auf den Kaffee gefreut. Im warmen Gastzimmer sitzen sie unter vielen lebhaften Menschen, und da fällt auch manches Wort vom Krieg; aber man vergißt es sogleich, wenn man wieder draußen ist. Die beiden wandern auf einsamen Feldwegen zur Stadt zurück; die Dämmerung zieht nieder, und man spürt nun doch, daß es Herbst ist. Die Luft ist kühl geworden -- der Himmel wölbt sich blau und klar, Sterne leuchten auf, und eine blasse Mondsichel zieht ihre Bahn dahin. Als sie wieder am Ufer der Elbe stehen, ist es dunkel geworden. Tangermünde hebt sich in schwarzen Umrissen vom Himmel ab -- viel ernster und schwerer als zuvor in der Sonne. Ein Schiffer bietet seinen Kahn an und bringt sie hinüber. Und sie wandern wieder durch die engen Gassen und sind wieder in Schweigen versunken. Wozu reden, wenn jeder über so vieles, was in ihm vorgeht, hinwegzukommen hat? Wozu reden, wenn so Schönes und Großes in die Seele gedrungen ist? Sie haben ein Stück tiefen Friedens mitten im Krieg genossen -- letzte, wonnige Herbstschönheit hat sich ihnen offenbart. Wenn der Winter sehr dunkel und trostlos sein wird, haben sie eine Zuflucht, indem sie an diesen Tag voll friedlicher Schönheit zurückdenken. Die Seele ist stärker und ruhiger geworden, und man hat wenigstens nicht für Stunden das quälende Gefühl gehabt, daß alles, was in der Welt fest sein sollte, ins Schwanken geraten ist. Die Natur hat ihre reine, starke Sprache geredet; man sagt sich: ‚Sollte der Krieg wirklich alles Äußere nehmen, sollten wir in Armut und Elend geworfen werden, aber Gott läßt uns die Fähigkeit, die Schönheit seiner Natur in uns aufzunehmen, so können wir nie ganz in Finsternis geraten, nie ganz in Verzweiflung versinken!‘ Es ist Nacht geworden, als sie am Bahnhof ihrer Garnisonstadt angelangt sind. Ein Verwundetentransport ist angekommen, und die Beamten vom Roten Kreuz sind in eifriger Tätigkeit. Ein paar Bahren werden herangetragen, denn der Zug soll weitergehen, und nur die hoffnungslos Daliegenden werden hier im Bahnhofslazarett untergebracht. Die freigewordenen Seelen der beiden fühlen, wie etwas vom alten Druck wieder in sie hineinwill. Drin in der Stadt ist reges Leben. Urlaubstag! Die Straßen sind voll von Uniformen aller Art. Die Pferdebahn rasselt mit Glockengeläut und Peitschenknall ihren Weg; es wird gesungen und gelacht. Fräulein Else hatte geraten, die weite Strecke bis zur Kaserne nicht zwischen den stillen Feldern zurückzulegen, sondern durch die belebte Stadt zu gehen; auf den Feldern kann man Betrunkenen begegnen oder sonst etwas Unangenehmes erleben. So folgen sie dem großen, lauten Treiben bis zum dunklen Tor hin, aber da biegen sie, ohne sich weiter darüber zu verständigen, doch in die einsame Kastanienallee ein, von der aus man zum stillen, poetischen Flußweg kommt. Sie wollen in ihrer guten Stimmung bleiben. Mag morgen kommen, was will -- heute wollen sie in dem Wahn bleiben, daß die Welt voll Schönheit und Frieden ist. Die Pärchen, die in großer Zahl herumwandeln, stören sie nicht; im Gegenteil, so ein Stück lieber Romantik paßt zu dem, was der schöne, ernste Tag ihnen gebracht hat. Mag die Welt voll Zorn und Wut und Haß sein -- solange es noch Herzen gibt, die in Zärtlichkeit und Liebe zueinander hindrängen, solange ist das Gute im Menschen noch nicht ausgetilgt, solange ist die Hoffnung, daß eine große Versöhnung, ein wahrer, echter Friede dem wilden Hader folgen wird, noch nicht verloren. * * * * * Der kleine Hiller hat Hauptwache. Das Gewehr über der Schulter, die hohe Pelzmütze auf dem Kopf, mit einem aus der Kleiderkammer gelieferten Militärmantel, der bis zur Erde reicht, angetan, wandert er vor dem Schilderhaus auf und nieder. Es ist noch kein Jahr her, daß Frau Hiller die letzten Bleisoldaten, das letzte Schilderhaus ihres Jungen an die Kinder des Portiers geschenkt hat. Natürlich hat er seit seinem vierzehnten Jahr die Soldaten nicht mehr angerührt, aber er hatte sich doch auch nicht entschließen können, sie herzugeben. Nun, da sie ihn selbst als Soldat vor der Kaserne auf und nieder wandern sieht, muß sie sich an die Stirn fassen. Ist alles, was sie jetzt erlebt, Wahrheit, oder ist es nur ein Spiel? Ist das ihr Junge aus Fleisch und Blut, der da hin und her wandert, oder ist es ein Bleisoldat? Sie sitzt am Fenster, von der Gardine verborgen, und schaut auf ihn hin. Er darf nicht wissen, daß sie am Fenster sitzt, denn er will nicht, daß seine Kameraden viel von der Mutter sehen oder hören. Sein Gesicht ist ernst, und in dem langen, weiten Mantel sieht er sehr männlich aus. Kommt ein Vorgesetzter vorbei, dann salutiert er, und will eine Zivilperson in die Kaserne, so hält er sie an. Der kleine, weiche Ernst hat das Recht, Menschen anzuhalten und abzuweisen. Das ist für die Mutter ein so seltsames Gefühl -- das kann sie noch gar nicht fassen. Und dies hier ist doch nur ein ganz kleines, ganz unbedeutendes Vorspiel für das, was kommen soll -- was in allernächster Zeit schon kommen kann. Solch ein Kind geht mit gegen Deutschlands Feinde. So ein weicher Junge wird vielleicht Menschen erschießen, wird die Lanze in Feindes Brust bohren, wird hungern und frieren und wird vielleicht eines Tages irgendwo in einem Winkel liegen: verwundet, elend, vom bittersten Heimweh geplagt -- -- -- Sie darf sich das nicht ausdenken -- es ist ihr, als müsse sie den Verstand darüber verlieren. Tausend Messer wühlen in ihrem Herzen, und das Blut weicht vom Gehirn zurück. -- Ach, groß sein können! Stark sein können! Sich sagen: ‚Mag kommen, was will! Stirbt er, so stirbt er fürs Vaterland! Leidet er Hunger und Durst und andere Schmerzen, so leidet er sie fürs Vaterland!‘ Aber sie ist klein -- sie ist schwach! Ihr Herz blutet aus unzähligen Wunden. Sie hat es früher nicht gewußt, daß sie den Jungen so verzehrend, so tierisch liebt, daß es Tage gibt, an denen die ganze, heilige Mission, die er zu verrichten hat, ihr klein erscheint gegen das ungeheure Opfer, das sie zu bringen gezwungen ist! Alle zwei Stunden erhält der Posten seine Ablösung. Dann kann er in die warme Wachtstube gehen und sich vom Kalfaktor etwas zu essen und trinken besorgen lassen. In der Wachtstube ist es sehr gemütlich, hat er ihr erzählt. Wenn sie einen netten Unteroffizier haben, klopfen sie Karten oder spielen Würfel; sie lesen und schlafen und essen und trinken. Es ist wirklich tadellos; gar kein Grund zum Bedauern oder Mitleid ist da. Die Mutter versucht ihren Gedanken eine heiterere Richtung zu geben, aber es gelingt ihr nicht recht. -- -- Um die Kaffeezeit kommt die Wachtmeisterswitwe in Hut und Mantel und sagt: „Ich gehe zur Russenbeerdigung, gnädige Frau. Heute sollen doch die vier Russen, die hier gestorben sind, beigesetzt werden. Kommen Sie mit? So etwas sieht man vielleicht nur einmal im Leben.“ Frau Hiller ist ihrer guten Wirtin für diese Ablenkung dankbar. Sie legt ihr Strickzeug hin und kleidet sich zum Ausgehen an. Draußen weht ein scharfer, kalter Wind, der Himmel ist grau verhangen. Richtige Novemberstimmung! Die vier Russen, die hier ihren Wunden erlegen sind, sollen ein gemeinsames Grab bekommen und mit allen militärischen Ehren zur letzten Ruhe getragen werden. Unzählige aus der kleinen Garnison wandern hinaus, um sich dies Schauspiel anzusehen. Die Wachtmeisterswitwe hat die Hemden fürs Rote Kreuz abgeliefert und kann sich einmal ein paar freie Stunden gönnen. Sie hat noch gar nichts von den Russen gesehen, und da alle Welt vom Gefangenenlager spricht, schämt sie sich fast, daß sie noch keine Ahnung hat, wie es da draußen aussieht. Aber für weichherzige Menschen ist es an solchem grauen Tag keine Freude, da hinauszupilgern. Der Anblick des doppelten Stacheldrahtverhaues hat etwas Erschütterndes -- die grauen Massen, die auf und nieder wogen, der schwere Himmel, der kalte, rauhe Novemberwind, all das wirkt so unsäglich beklemmend und niederdrückend. Die Wachtmeistersfrau ist nebenbei auch noch enttäuscht, denn man bekommt gar keinen richtigen Eindruck von dem Ganzen. Man darf jetzt nur noch von einer ziemlich beträchtlichen Entfernung aus das Lager überblicken und sieht nichts anderes als eine gewaltige, wogende, graue Masse. Der einzelne Mensch ist gar nicht zu unterscheiden. Stumm und feierlich zieht in einer Entfernung von je zwanzig Metern die große Zahl der Wachthabenden rings ums Lager her. Nein, sie wollen hier nicht lange verweilen -- sie wollen sich den grauen, schwermütigen Tag nicht noch düsterer machen. Aber die Russenbeerdigung will sich die Wachtmeistersfrau nicht entgehen lassen. Man hat nun einmal zu diesem Zweck den weiten Weg hierher gemacht und kann doch nicht unverrichteter Sache wieder nach Hause gehen. An der Stelle, an der die vier Toten beigesetzt werden sollen, hat sich schon eine Menschenmenge gesammelt, und man kann nur noch mit Mühe ein Plätzchen erobern, von dem aus man einen freien Ausblick hat. Eine große Gruft ist aufgeschaufelt, denn die vier Särge sollen nebeneinander Platz finden. Viele von den Menschen stehen da, als warteten sie auf etwas Freudiges, Sensationelles. Die wenigen Offiziere, die noch in der Garnison sind, kommen angefahren. Eine Anzahl Husaren und Infanteristen rücken heran, und von der Richtung des Lagers wird ein Zug sichtbar. Russen in ihren lehmgrauen Mänteln tragen ihre toten Brüder. Nun sieht man doch einmal, wie der entsetzliche Feind, der Deutschland vernichten will, der schon ein Stück von Deutschland mit Mord und Brand heimgesucht hat, aussieht! -- Aber der Feind, der da mit den Särgen anrückt, sieht nicht wild und furchtbar aus. Trauer malt sich auf den Gesichtern, die Köpfe sind geneigt und ernst und würdevoll verrichten sie ihr düsteres Geschäft. Der Militärgeistliche, der so wundervoll zu reden versteht, der den jungen Freiwilligen im Dom den Fahneneid abgenommen hat, tritt an die Särge heran und breitet die Hand zum Segen, spricht ein Gebet -- und drückt den Trägern die Hand. Die Särge werden in die Gruft versenkt, und der junge Russe, dessen Bruder sich unter den Toten befindet, schluchzt auf; die anderen stehen mit finsteren, undurchdringlichen Gesichtern. Der Pfarrer hält eine kurze, herzliche Rede. Er spricht das aus, was wohl jeder, der hier am großen Grabe steht, in diesen Augenblicken empfinden mag. „Ob Freund, ob Feind,“ sagt er, „der Tod macht uns alle gleich. Über den Tod hinaus gibt es keine Feindschaft. Die hier liegen, haben ihrem Vaterlande ebenso treu und redlich gedient, wie jeder von den Unseren das tut. Sie haben ihre Heimat nicht wiedergesehen, sie haben Schweres gelitten und den Tod im Felde gefunden. Darum Ehre ihrem Andenken! Gott mag ihnen lohnen, was sie für ihr Vaterland getan haben!“ Tiefe Stille. -- Die Russen sind ergriffen. Vielleicht sind sie alle der deutschen Sprache mächtig und haben verstanden, was der Geistliche ihren toten Brüdern sagte. Vielleicht auch haben sie nur aus Stimme und Gebärde entnommen, daß hier gute, freundliche Worte gesprochen wurden. Sie werfen ihren gefallenen Kameraden ein paar Schaufeln Erde nach und falten die Hände zum Gebet. Dann aber sind sie wieder Deutschlands Gefangene und werden von zwei Posten mit geladenem Karabiner zum Lager zurückgeleitet. Die Menge zerstreut sich. Man hat etwas gesehen, was man nicht oft im Leben sieht -- man hat gesehen, daß auch der Feind ein fühlender Mensch ist, und diejenigen, die einen Mann, einen Sohn oder Bruder fern im Osten stehen haben, werden vielleicht einen kleinen Trost mit nach Hause nehmen. Wenn der Feind hört, wie wir seine Gefangenen halten, seine Toten ehren, wird auch er gegen die Unsrigen nicht ganz barbarisch sein! Der Regen rauscht stärker, und bis zur Kaserne ist ein gutes Stück Weg; da tut man besser, man geht durchs Tor in die Stadt hinein und wartet irgendwo bei einer Tasse Kaffee, ob das Wetter nicht freundlicher werden will, denn man ist schon jetzt durchnäßt und durchfroren. Die Wachtmeisterswitwe ist von der Wirtin vom Schützenhaus angesprochen worden, und die bittet sie, sich doch das Lazarett, das in ihren Gasträumen eingerichtet worden ist, anzuschauen. Heut und morgen kann man es noch sehen, in drei Tagen aber sollen schon die ersten Verwundeten eintreffen. Sie bittet auch Frau Hiller mitzukommen, und die willigt gern ein. Die beiden Frauen nehmen sie in ihre Mitte, und wie sie so zwischen den zwei guten, freundlichen Bürgerinnen dieser Altmärker Garnison dahinwandert, ist ihr ganz traut und heimatlich zumute. In Berlin bleibt man immer fremd, und wenn man zwanzig Jahre da wohnt; hier im kleinen Ort aber schlägt man schnell Wurzel und fühlt sich wohl. Der große Tanzsaal des Schützenhauses ist zum Lazarett eingerichtet worden. Weißgestrichene Betten mit weißen Decken und Kissen stehen in langen Reihen da; weiche, helle Teppiche bedecken den Fußboden, auf kleinen Tischen stehen Vasen mit gelben Herbstblumen, und die drei Frauen schreiten auf Zehenspitzen zwischen den weißen Betten einher. Es ist schön und fromm und feierlich in diesen stillen, hohen Räumen; man möchte weinen -- man möchte beten. Hier werden sie nun ruhen und genesen nach all dem Schrecklichen, was sie sehen mußten! Hier werden die armen Körper heilen und die wunden Seelen wieder Ruhe und Frieden finden! Von draußen schlägt der Regen an die Fenster -- draußen toben die ersten, ganz wilden Novemberstürme; aber die, die in zwei oder drei Tagen in diesen weißen Betten liegen sollen, werden von Liebe, Güte und Herzenswärme umgeben sein, und die Stürme, die da draußen tosen, können ihnen nichts mehr anhaben. Die Wachtmeisterswitwe hat Tränen in den Augen; sie fühlt sich bedrückt und verängstigt, wiewohl sie keinen hat, der ihr nahesteht, und der ins Feld hinausmußte. Sie denkt an alle, und sie leidet für alle, und das, was sie am heutigen Tage von Kummer und Herzeleid gesehen hat, ist fast zu viel für sie. Da ist es wirklich besser, man sitzt still zu Hause an der Maschine und näht die Hemden fürs Rote Kreuz. Sie bleiben dann noch eine Weile in dem vorderen Gastzimmer und trinken Kaffee, den die Schützenwirtin ihnen bringt. Sie wollen warten, ob sich das Wetter nicht ändern will; aber je länger sie sitzen, um so wilder toben die Stürme, und um so prasselnder fällt der Regen nieder. Es nützt also nichts; ewig kann man nicht bleiben, und man stirbt ja auch nicht gleich, wenn man eine halbe Stunde durch Wind und Regen läuft. Man braucht nur an die Armen, die Tage und Nächte draußen in den Schützengräben, in Sturm und Unwetter ausharren müssen, zu denken, dann wird alles, was sonst als schwer und unerträglich empfunden wird, auf einmal ganz leicht. Als sie an der Kaserne angelangt sind, machen sie einen Augenblick Halt und schauen in die erhellte Wachtstube hinein. Der kleine Hiller sitzt mit seinen Kameraden am Tisch und verzehrt sein Abendbrot. Er hat jetzt ein paar Stunden der Ruhe, aber in der Nacht muß er wieder zur Stelle sein. Frau Hiller ist an diesem Abend gezwungen, bei den Wachtmeistersleuten in der Küche zu bleiben, denn Fräulein Else hat nirgendwo auch nur ein halbes Liter Petroleum aufbringen können. So hat man in der ganzen Wohnung nur eine einzige gefüllte Lampe, und die steht auf dem runden Tisch in der Küche vor dem braunroten Sofa. Fräulein Else hat Tee gekocht und Butterbrötchen bereitet; in der Grude schmoren Äpfel, und die Herdtür steht offen und läßt die Glut der Kohlen herausleuchten. Auch der junge Arzt ist gekommen und lehnt schon behaglich in einer Sofaecke. Nach dem Essen sitzen die drei Frauen strickend da, und um neun Uhr kommt noch ein Fahnenjunker, der vor dem Krieg ein paar Monate bei den Wachtmeistersleuten gewohnt hat. Er ist schon im Feld gewesen und als Leichtverwundeter hier in einem Lazarett untergebracht worden. Die Kugel, die ihm in der Hüfte gesessen hat, trägt er jetzt in der Tasche und holt sie voll Stolz hervor. Dann erzählt er von den blutigen Kämpfen bei Dixmuiden. Aber wie er so warm und lebendig hier in der traulichen Küche sitzt und sich die geschmorten Äpfel schmecken läßt, hat man das Gefühl, daß er Geschichten aus längst vergangenen Zeiten erzähle und nicht Episoden aus diesem unseligen Krieg, der immer noch weitertobt und dessen Ende nicht abzusehen ist. Nachdem er gegangen, liest der Doktor noch ein paar Artikel aus dem ‚Altmärker Intelligenzblatt‘ vor; die Wachtmeisterswitwe richtet Frau Hiller die Ferse einer Socke ein, der Regen prasselt gegen die Scheiben, und das Petroleum in der Lampe sinkt tiefer und tiefer. Und da man nicht weiß, ob man am nächsten Tag noch Glück haben und ein wenig von diesem kostbar gewordenen Stoff erhalten wird, muß die behagliche Sitzung abgebrochen werden. Die elfte Stunde ist übrigens da, aber man verplaudert sich so leicht, wenn man warm und gemütlich sitzt. Oft wird es Mitternacht, bis man endlich zu Bett findet. Drüben vor der Kaserne brennen zwei Laternen, und der kleine Hiller im langen Mantel ist wieder auf Posten und trottet, die Hände in den weiten Manteltaschen, vor seinem Schilderhaus auf und ab. Die Mutter setzt sich ans Fenster und blickt zu ihm hinüber. Ob er wohl friert? Ob er sehr müde ist? Sich unbehaglich fühlt? Sie kann sein Gesicht nicht erkennen, sie sieht nur die schlanke Gestalt. Sie hat große Lust, zu ihm hinüberzugehen und ihm ein liebes, warmes Wort zu sagen -- aber das darf sie nicht. Ihr Sohn ist ja nicht mehr ihr Kind wie früher! Ihr Sohn ist ein Stück von Deutschland geworden, und die Liebe und das Mitleid einer Mutter dürfen ihn nicht stören, wenn er seines Amtes waltet. Aber sie vermag es nicht, sich zu Bett zu legen, während der Junge da draußen im Unwetter hin und her marschiert. Sie bleibt am Fenster sitzen und denkt an ihn. Vielleicht geht ein Strom von ihrem warmen Fühlen in sein Herz hinüber -- vielleicht tut es ihm unbewußt wohl, daß die Mutter hier am Fenster sitzt und an ihn denkt! Es soll ja eine solche Macht des Gefühls geben, die die Menschen unsichtbar miteinander verbindet. Am nächsten Mittag kommt der kleine Husar mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen ins Wohnzimmer zur Mutter. Er, der die stramme Nacht in Sturm und Regen hinter sich hat, ist froh und wohlgemut. Sie aber ist ein wenig blaß und müd’ vom vielen Denken und Grübeln. Hiller trägt seine Dienstuniform über dem Arm. „Morgen ist Kleiderbesichtigung,“ erzählt er, „da muß alles tadellos imstande sein. Du machst mir doch die Flecken raus, nicht wahr, und wäschst die Tasche!“ Dann wirft er sich in den Schaukelstuhl und sieht fast übermütig aus. „Jetzt endlich hört man doch einmal einen Ton vom Ausrücken!“ sagt er. „Es sind hundert feldgraue Uniformen bestellt, und die Regimentsschuster arbeiten fieberhaft an den gelben Reiterstiefeln für draußen. Man kann jetzt jede Woche auf das Kommando gefaßt sein.“ Der Mutter zuckt das Herz, wie er so strahlenden Auges berichtet. Denkt er gar nicht an sie? Fühlt er nicht den leisesten Schmerz, wenn er an den Abschied von ihr denkt? Ist der Gedanke, draußen mittun zu dürfen, so groß, so lockend, daß gar kein anderes Gefühl dagegen aufkommt? Ach, ein Kind geht gar leichten Herzens von der Mutter fort -- das weiß sie ja noch von sich selbst. Sie bringt den Uniformrock ins Nebenzimmer, um nur einen Augenblick allein zu sein, denn die Tränen liegen ihr schwer auf der Brust, und sie mag ihm nicht zeigen, wie schwach sie ist. Am Nachmittag steht sie und reibt an der sehr verbrauchten Uniform. Die Tressen sind verschabt, und das Tuch ist ganz ohne Glanz. Sie reibt alles, so gut es geht, und leert dann die Taschen aus, um das Futter zu waschen. Was so ein Junge nicht alles in der Tasche trägt: Loses Geld und Bleistifte -- Notizbücher und Zigaretten -- Heftpflaster und Schokolade -- drei, vier Taschentücher, die man nur behutsam zwischen zwei Fingern anfassen kann, denn hier dienen die Taschentücher augenscheinlich vielen Zwecken, sonst wäre die tiefgraue Färbung nicht erklärlich. Dann noch ein paar beschriebene Zettel, wovon einer auf die Erde fliegt, und als Frau Hiller ihn aufhebt, sieht sie, daß Verse darauf geschrieben sind, Verse, in denen Worte, in denen ganze Zeilen ausgestrichen und von neuem geschrieben sind. So pflegt ein Anfänger eigene Dichtungen aufzukritzeln. Frau Hillers Neugierde erwacht und sie liest und liest immer wieder: „Kalt ist die Nacht, Ich bin allein, Ich steh’ auf Wacht Ich denke dein! Deutschland in Not, Vom Feind umstellt, Deutschland bedroht Von einer Welt. Da kam die Liebe An mich heran. Ich sagte zur Liebe: ‚Faß mich nicht an! Ich will keine Liebe! Mein Land ist in Not! Viel süßer als Liebe Ist heut der Tod!‘ Da neigt sich zu mir Ihr blondes Gesicht: ‚Heut bist du noch hier, Heut kämpfst du noch nicht Heut kannst du knüpfen Mit mir ein Band. Und später kämpfst du Fürs Vaterland!‘“ Sie läßt den Rock aus dem Arm fallen, sie muß lächeln und fühlt auch etwas Wehes dabei. Ihr kleiner Ernst hat also wirklich seine erste Liebe gefunden. Nun ist er ihr ganz verloren -- das Vaterland und ein fremdes Mädchen haben Besitz von ihm ergriffen. Das letzte ist so natürlich -- ist der Welt Lauf! Warum freut sie sich nicht? Warum gönnt sie ihm das nicht? Warum will sie anders sein als andere Mütter und den Hauptanteil am Sohn für sich behalten? Kein Mensch kann gegen die Natur an. Das hat die Großmutter so oft gepredigt. * * * * * Der kleine Hiller ist zu seiner ersten Liebe ganz gegen seinen Willen, zum wenigsten ganz ohne sein eigenes gekommen. Das Mädchen, das sein Herz betört hat, ist weder sonderlich schön noch klug, hat weder Geist noch Vornehmheit. Sie steht weit unter jenen ganz jungen, weiblichen Geschöpfchen, die Ernst vor einem Jahr in der Tanzstunde in Berlin in großer Zahl kennen lernte, und die er durchweg als unglaublich albern bezeichnete. Das Mädchen, das ihm durch seinen Freund Hipp zugeführt wurde, hat irgendeinen kleinen Posten als Stickerin in der Stadt inne. Am Abend um sechs Uhr, ist sie frei und kann spazieren gehen. Sie hat liebe, blaue Augen und ein keckes Näschen, blonde Haare, die als Schnecken über den Ohren liegen, und ein entzückendes, schlankes Körperchen. Sie sieht wundervoll appetitlich aus und kann über jede Kleinigkeit lachen und jubeln. Hätte Hipp nicht selbst ein sehr annehmbares Mädchen für sich, so würde er den kleinen Hiller nicht so großmütig bedacht haben. Aber da das Mädchen die beste Freundin seiner Freundin ist, muß er für sie sorgen und empfiehlt sie an Hiller. Der will erst nicht. „Blödsinn, was soll man mit so einer sprechen!“ Hipp jedoch läßt nicht locker und schleppt ihn mit zum Flußweg. Da ist es jetzt nicht mehr wie zur Sommerszeit, da wehen rauhe Winde, die Pappeln stehen kahl und leer. Der Fluß hat schlammiges Wasser, und der Boden ist aufgeweicht vom vielen Regen. Man ist froh, wenn man sein Mädchen getroffen hat, und geht mit ihr in irgendein Gartenlokal, wo es einsam ist, und wo man in einer geheizten Stube sitzt. Oder man wandert mit ihr in die Stadt, in ein Kaffeehaus -- oder geht den Weg zum Bahnhof hinunter -- -- es ist alles gleichgültig. Hauptsache ist, daß man sich überhaupt sieht, und Hipp macht Hiller klar, daß für ihn das harte Leben, das sie jetzt führen, erst dadurch erträglich wird, daß er sich auf den Abend freuen kann. Hiller bringt der Aufforderung seines Freundes erst wenig Verständnis entgegen. Es liegt ihm so gar nicht, als galanter Kavalier aufzutreten, und er ist auch sehr überzeugt davon, daß keine ihn lieben wird. Er stemmt sich dagegen auf und hat das sichere Gefühl, daß er außerordentlich schwerfällig sein wird, wenn er so einem lustigen Mädelchen gegenübersteht. Er wird kaum zu sprechen vermögen, wird verlegen sein, und Hipp wird ihn auslachen. Also schlägt er erst rundweg ab. Aber Hipp ist nicht derjenige, der so schnell locker läßt, wenn er sich etwas vorgenommen hat. „Du bist ein Esel, Hiller. Du verscherzt dir eine prachtvolle Sache. Sie ist geradezu entzückend. Sieh sie dir zum wenigsten doch mal an. Ich hab’ ihr auch schon von dir erzählt und hab’ ihr versprochen, dich mitzubringen. Ich kann doch wegen deiner Eselei nicht wortbrüchig werden!“ Hiller schwankt und schwankt! Gewiß, er ist um vieles lebendiger und lustiger geworden, seit er in der Kaserne ist; er nimmt das Leben nicht mehr so unsinnig schwer wie früher, ja, er kann zuzeiten geradezu ausgelassen sein. Aber vor dieser Begegnung mit einem wildfremden Mädchen sträubt sich doch etwas in ihm. Doch Hipp ist der Satan in Person und bohrt und bohrt an Hiller herum; greift ihn bei seiner Ehre an, nennt ihn eine Memme, und es kommt fast zum Streit zwischen den beiden. Aber schließlich siegt er; Hiller hat sich gegen die ausdrückliche Versicherung, daß diese Begegnung zu gar nichts verpflichte, breitschlagen lassen, zieht seine Extrauniform an, spricht ganz kurz bei der Mutter vor, sagt ihr, daß er heute keine Zeit für sie habe und geht hochklopfenden Herzens an Hipps Seite zum Flußweg. Irgendwo lösen sich aus dem Schatten zwei schlanke Gestalten: die eine, dunkel gekleidet, reicht Hipp die Hand, die andere, im weißen, wollenen gestrickten Mantel, bleibt etwas abseits stehen. Man kann nicht viel sehen. In einiger Entfernung brennt eine Laterne und verbreitet ein unsicheres Licht, und am Himmel zieht eine schwache, umflorte Mondscheibe hin. Hipp stellt seinen Freund als Herrn von Hiller aus Berlin vor; und das blonde Mädchen im weißen Mantel reicht ihm die Hand und sieht ihn aus etwas ängstlichen blauen Augen an. Der blutjunge Hipp, der aber jungen Damen gegenüber schon vollkommen die Haltung eines erfahrenen Mannes hat, hilft über jede Steifheit hinweg. „Also, Kinder, wie verteilen wir uns? Es regnet nicht, und die Kälte ist auch nicht unerträglich. Ich für meine Person bin nicht abgeneigt, den Spaziergang hier am Fluß fortzusetzen -- aber darum bist du, lieber Hiller, absolut nicht gezwungen, unserem Beispiel zu folgen. Ich möchte dir sogar vorschlagen, einen andern Weg zu nehmen. Vor neun Uhr treffen wir uns dann hier an dieser selben Stelle wieder!“ Er reicht seiner Freundin den Arm. Die Kleine, Weißgekleidete hängt sich bei Hiller ein, und während Hipp geradeaus geht, biegt das jüngste Liebespaar in den schmalen, dunklen Feldweg, der zum Bahnhof führt, ein. Sie gehen schweigend. Leicht wie eine Feder hängt das schlanke Persönchen am Arm des kleinen Husaren, und doch ist durch sie eine schwere Last in seine Seele gekommen. Er fühlt sich sehr unbehaglich; seine etwas schwierige Art, mit Menschen, die ihm nicht sehr von sich aus entgegenkommen, eine Verbindung zu finden, lastet auf ihm. Er sinnt nach einem Scherzwort und findet keines. Er will ihr irgend etwas Gleichgültiges erzählen, aber es fallen ihm nur traurige oder pathetische Sachen ein. Er ärgert sich über sich selbst -- ist sehr uneins mit sich selbst, denn er fühlt einmal wieder, daß er anders ist als andere Menschen, daß er nicht zum Fröhlichsein, zum Genießen geschaffen ist. Er schämt sich und wird immer unbeholfener. Was mag das arme Mädchen, das sich gewiß auf einen fröhlichen Abend gefreut hat, von ihm denken? Er fühlt, wie sie ihn von der Seite anschaut und auf etwas zu warten scheint. Teufel auch, fällt ihm denn gar und gar nichts ein, was er ihr sagen kann? Sie kommen aus dem schmalen Feldweg auf eine breite Straße -- da sagt die Kleine endlich ein Wort: „Durch diese Straße möchte ich nicht gehen!“ bittet sie. „Warum nicht?“ fragt Hiller und biegt wieder nach dem dunklen Feldweg ein. „Weil man mich da sehen wird!“ Dabei überzieht sich ihr Gesichtchen mit dunklem Rot -- aber nun ist wenigstens doch das lastende Schweigen gebrochen. Das Mädchen erzählt seine Lebensgeschichte. Sie wohnt bei einer Tante, die sie erzogen hat; ihre Mutter lebt auch noch, aber nicht hier, und hat noch fünf andere Kinder. Da hat die Tante sie zu sich genommen und sie Stickerei erlernen lassen. Sie stickt in einem Geschäft und bekommt fünfzig Mark im Monat, die sie ihrer Tante gibt. Die Tante ist gut, doch streng. Sie darf von nichts wissen -- und das Köpfchen schmiegt sich an Hillers Schulter, und wie ein elektrischer Funke fliegt’s in dessen Herz. Mit einem Schlage ist alle Unbeholfenheit, alle Schwerfälligkeit verflogen; heiß wogt’s durch ihn -- ein Gemisch von Mitleid und Zärtlichkeit. Er hat noch nie aus sich selbst ein Mädchen geküßt, ist noch nie mit einem Mädchen auf einsamen Wegen gegangen. Nie hat eine ihm von ihrem Leben erzählt -- nie hat eine sich an ihn geschmiegt -- denn die Sache mit Hannchen vom Abiturientenabend war doch nur eine große Neckerei! Im selben Moment aber, da die Rolle des verstehenden, tröstenden Liebhabers von ihm verlangt wird, beherrscht er sie auch ganz und gar -- beherrscht sie mit einer Sicherheit und Sanftheit, die ihn selbst mit Staunen erfüllt. Er greift mit der Hand unter ihr Kinn, hebt ihr das Gesicht in die Höhe, sieht in die blauen Augen, sieht den Mund, der ein wenig geöffnet ist, und tut das Selbstverständlichste und Einzige, was er in dieser Lage tun kann: er küßt sie. Und er fühlt dabei etwas, was ihm fast die Besinnung benimmt. Sie stehen irgendwo in völliger Dunkelheit; sie hat ihm die Arme um den Hals gelegt, küßt ihn wieder und schmiegt sich immer enger an ihn an. Dem kleinen Hiller ist’s, als sei er von der Erde fort in flammende Herrlichkeit getragen, er weiß nicht mehr, was er ist und was er tut. Ein fremder Geist ist in ihn gefahren, der für ihn handelt, der die zärtlichen Worte, die er hervorbringt, für ihn spricht, der das süße Geschöpf in die Höhe hebt und immer wieder den roten Mund, die Stirn und die lieben Augen küßt. Er ist wie trunken; er denkt nicht daran, daß jemand des Weges kommen und ihn sehen könnte. Raum und Zeit sind für ihn verschwunden -- er fühlt nur ein namenloses, unfaßbares Glück. Für das kleine Mädchen aber hat diese wild und elementar hervorbrechende Liebe etwas Beängstigendes. Er hat ihr die Mütze verschoben, und ihre Haare beginnen sich zu lösen; er hält sie so fest an sich gepreßt, daß sie kaum Atem holen kann. Er tut ihr weh -- er ist wie ein Unsinniger -- nein, das hat sie nicht gewollt. Vor dem Krieg ist sie auch mit einem jungen Einjährigen umhergegangen und hat sich küssen lassen; aber der ist doch vernünftig geblieben. Hier aber hat sie Angst, und da er sie auf ihre Bitten nicht losläßt, stemmt sie die Hände gegen seine Schultern und macht sich mit Gewalt frei. Einen Augenblick blitzen ihre Augen ihn böse an, aber als sie in sein gutes und betroffenes Gesicht blickt, ist der Zorn wieder verflogen. „Wie du mich zugerichtet hast!“ sagt sie und nestelt an ihrem Haar und setzt die Mütze wieder ordentlich auf den Kopf. „So kann ich mich ja nirgends sehen lassen!“ Sie lacht aber schon wieder und hängt sich von neuem in seinen Arm. „Nun wollen wir vernünftig zusammen gehen!“ Dem kleinen Hiller gehen plötzlich die Augen auf. Er ist von seinen Himmeln auf die Erde zurückgekommen und kämpft wieder mit Verlegenheit. Das kleine Fräulein ist sehr zutraulich geworden, plaudert über alles Mögliche und verrät schließlich, daß sie eine Konditorei weiß, wo man gut eine halbe Stunde sitzen kann. Da kommt ihm auch das zum Bewußtsein, daß er ganz vergessen hat, sie mit irgend etwas zu erfreuen. Er weiß von Hipp, daß man eine Freundin zu Kaffee und Kuchen einlädt und ihr kleine Geschenke macht. Und nachdem die Rolle des heißen Liebhabers ausgespielt ist, nachdem sein Herz anfängt, ruhiger zu schlagen und sein Kopf wieder Herrschaft über die erregten Sinne gewinnt, findet er sich auch in der Rolle des Kavaliers zurecht, geht mit ihr ins Café, das sie ihm genannt hat, und bewirtet sie mit Schokolade, Schlagsahne und Kuchen. Dabei sieht er erst, wie niedlich sie ist, und kann es jetzt, da sie in vollem Licht bei ihm sitzt, gar nicht mehr begreifen, daß er den Mut gehabt hat, sie zu küssen. Jetzt wird er nicht mehr wagen, auch nur ihre Fingerspitzen an seine Lippen zu ziehen. Mit Gewalt muß er sich das zurückrufen, wie er vor einer Viertelstunde mit ihr am Feldweg gestanden hat. Es ist wie ein Traum, wie eine Unwahrscheinlichkeit. Kurz vor neun sind sie am Flußweg an der Stelle, an der sie sich zuerst gesehen. Hipp mit seiner Freundin hat sich schon eingefunden -- lächelnd und prüfend sieht er Hiller und die kleine Blondine an. Er ist Menschenkenner und weiß sofort, daß alles nach Wunsch gegangen ist zwischen den beiden. Sie verabreden eine Zusammenkunft. Die zwei Freundinnen eilen der Stadt zu, und die beiden Husaren wandern zur Kaserne. -- Von diesem Abend an träumt Hiller oft mit wachen Augen. Die Welt hat sich für ihn geändert -- etwas Neues und Unsagbares ist in sein Leben gekommen. Sein Herz ist erfüllt von etwas Hohem, Heiligem; er geht wie auf Wolken. Freilich, wenn er dem kleinen, blonden Mädchen gegenübersteht, wenn er sie lachen und plaudern hört, muß er ein wenig heruntersteigen. Er weiß es nicht, daß nicht sie -- nicht ihre Person es ist, die er liebt, sondern daß er sich ein Phantasiegebilde geschaffen hat, das im tiefsten Grunde mit dem Mädchen selbst nicht das Geringste zu tun hat. Die Liebe mit all den Wonnen und Leiden, die sie dem tiefgründigen, ernsten Menschen bringt, ist in sein Leben gekommen, und da sie keinen anderen Gegenstand hat, kreist sie um das nette Mädchen mit dem kecken Näschen und dem schlanken Figürchen. Seine Gefühle und Gedanken wogen ins Uferlose hinein. Sein Auge blickt in weite, goldene Fernen -- er dichtet und träumt -- er leidet und jubelt -- -- aber heimlich, nur in der Einsamkeit. Denn nur wenn er sie nicht sieht, ist das große Glück da; sobald er sie greifbar vor sich hat, ist sowohl er wie sie völlig verwandelt. Aber gleichgültig -- er liebt! Die Mutter rückt für ihn immer weiter in den Hintergrund. Die Mutter ist etwas Gutes, Wohltuendes, was man nicht missen möchte. -- -- -- Doch das alte Kindervertrauen, die alte Kinderoffenheit ist fort. Von dem, was jetzt in seiner Seele lebt, kann er trotz aller Liebe und Herzlichkeit zur Mutter nicht reden. Hipp sagt: „Mensch, du setzt dir doch wohl nichts in den Kopf? Seit du mit der Kleinen gehst, bist du wie hypnotisiert! Solche Mädchen sind zum Amüsieren da -- zu weiter nichts!“ Hiller nickt und ist blaß geworden, denn er fühlt sich oft sehr beschwert und ist unglücklich. Es wäre vielleicht doch besser gewesen, er hätte sie gerade in dieser Zeit nicht kennen gelernt! -- -- Auch der November neigt sich dem Ende zu, und von einem bestimmten Termin zum Ausrücken ist immer noch nicht die Rede. Die feldgrauen Uniformen sind fertig; Schuster und Sattler haben wie im Fieber gearbeitet, es ist alles bereit, man könnte jeden Tag ausrücken, aber der Befehl von oben fehlt noch. Statt dessen geht der Drill fort -- man zieht auf Wache und wartet, wartet, wartet! Es tut weh, daß das Vaterland sie noch nicht braucht! Sie lernen jetzt Schützengräben aufwerfen -- werden mehr und mehr zu Infanteriediensten herangezogen. Der Krieg hat sich ganz anders gestaltet, als man zu Anfang geglaubt hat; es kann sich noch lange, sehr lange hinziehen. Die Vorgesetzten jedoch sagen den ungeduldigen, jungen Kriegern: „Ihr kommt noch alle an die Reihe! Keiner wird in der Kaserne sitzen bleiben!“ Das ist zwar ein Trost, aber man hätte doch gern gleich von Anfang an mitgefochten. Aus den Infanteriekasernen sind sie längst schon ausgezogen und haben sich ehrenvolle Wunden oder das Eiserne Kreuz oder den Heldentod geholt! Das Abwarten ist hart, und der Dienst ist eintönig! Man kann doch längst alles, was man zu können braucht! Die Großmutter staunt auch und schreibt Briefe, aus denen fast etwas wie Enttäuschung klingt: „Ja, kommt denn der Junge überhaupt nicht ins Feld?“ Es will der alten, tatkräftigen Frau nicht behagen, daß ihr Enkel noch nicht gegen Deutschlands Feinde kämpft. Der alte Hieronymus und der alte Rat Mertens, dem sie seine Schwarzseherei abgewöhnt hat, fragen bei jedem Besuch nach dem Jungen, und der Rat hat ihr gesagt, daß man die Kavallerie fast gar nicht verwenden kann in diesem modernen Krieg. Das paßt ihr nicht! Ihr starkes Herz will, daß der Enkel in dieser Zeit zum Helden wird; sie hat viel ehrgeizige Wünsche für ihn. Der Sohn, der so früh und traurig dahinsiechte, hat ihre stolzen Träume nicht befriedigt; nun erhofft sie vom Kind ihres Kindes etwas Großes, hofft, daß der Name starken, neuen, schönen Klang durch ihn bekommt. Dem Jungen aber tut es weh, als er den Brief der Großmutter liest. Ist es seine Schuld, daß sie hier noch immer festgehalten werden? Sehnt er sich nicht mit allen Fasern seines Herzens danach, hinauszukommen? Und doppelt und dreifach sehnt er sich danach, seit dieses blonde Mädchen in sein Leben gekommen ist. Das Mädchen, das ihn ablenkt, das ihn beunruhigt; das ihn oft vergessen läßt, zu welchem Zweck er hier in der Kaserne eingerückt ist! Er leidet unter ihr, er hat das Gefühl, gegen seinen Willen an sie gekettet zu sein. Er möchte sich von ihr losreißen und vermag es nicht mehr. Im Gegenteil, je öfter er sie sieht, um so mehr zieht es ihn zu ihr hin. Und ist ihm doch innerlich so ganz und gar fremd, hat doch keine Ahnung von all dem, was in ihm vorgeht, was sie in seiner Seele ausgelöst hat. Alles muß er vor ihr verbergen, immer muß er ängstlich bedacht sein, sie gut und oberflächlich zu unterhalten, nur ja nichts von dem, was so heiß und heilig in ihm wogt, erkennen zu lassen. Denn wenn sie ahnte, wie er wirklich ist, dann würde sie über ihn lachen -- und der Gedanke, daß sie über ihn lachen könnte, ist ihm unerträglich. So also ist Liebe! Schön und doch quälend! Entsetzlich quälend! Der kleine Hiller sieht oft sehr betrübt und bleich aus, wenn er bei seiner Mutter im Wohnzimmerchen sitzt. Das Herz ist ihm übervoll, und er weiß, daß er sich erleichtert fühlen würde, wenn er sich ihr offenbarte. Aber es geht -- geht nicht. Er kann die erlösenden Worte nicht finden! Die Mutter ist in dieser Zeit noch viel liebevoller als sonst zu ihm; sie ahnt, daß der Junge jetzt viel durchzukämpfen hat. Sie leidet für ihn und mit ihm. Er ist Blut von ihrem Blute. Die Liebe wird ihm nie reiner Genuß sein; schon dieser erste, unschuldige Anfang belastet seine Seele. Über diese kleine Episode hier in der Altmärker Garnison wird er zwar hinwegkommen, sowie Größeres ihn in Anspruch nimmt; aber sie fürchtet für das, was die Zukunft ihm bringen kann. Welche Frau es auch sei, die in sein Leben tritt -- er wird unter ihr leiden, denn seine Seele ist tief und wird voll ungelöster Rätsel, voll von Wünschen sein, die nur Ausnahmemenschen zu befriedigen imstande sind. Armer, armer, kleiner Husar! Aber darf man so über die heutige Jugend, gerade über diese Generation, von der so Kolossales gefordert wird, nachdenken? Wird nicht das ungeheure Drama, darin sie mitwirken sollen, sie vielleicht von Grund auf ändern? Wird es nicht die Macht haben, die Seelen ganz einfach, ganz klar zu machen? Sie weiß es nicht, aber es ist möglich. In der ersten Begeisterung war ja jeder wie umgewandelt -- hatte jeder von seinem eigentlichen Ich Abschied genommen, um in der großen Allgemeinheit aufzugehen. Die erste Begeisterung aber ist ruhiger geworden! Die ersten großen Gefühlserregungen sind auch von dieser ganz jungen Jugend, die erst zu Taten ausziehen will, überwunden worden! Der Krieg ist ihnen etwas fernergerückt als im Anfang. Man läßt sie zu lange warten, man hat ihnen den großen, heiligen Glauben an sich selbst und die eigene Kraft dadurch ein wenig geschmälert. Aber auch ihr Tag wird kommen; und das, was den kleinen Ernst jetzt bewegt und quält, wird in seiner Seele erlöschen, als wäre es nie darin gewesen. Und dennoch leidet die Mutter unter den Leiden ihres Jungen; aber nicht allein darunter. Eines Abends erzählt Fräulein Else mit lachenden Augen, daß sie den Jungen mit seiner Freundin am Tor gesehen habe. Am alten, dunklen Tor pflegen zur Winterszeit die Mädelchen aus der Stadt auf ihre Liebsten aus der Kaserne zu warten. Frau Hiller möchte Fräulein Else nach manchem ausfragen, aber sie vermag es nicht. Sie will nicht aus anderem Munde erfahren, wie die, der die erste Neigung ihres Jungen gehört, aussieht. Und doch muß sie oft an das kleine Mädchen, das dem Husaren jetzt nähersteht als die eigene Mutter, denken; möchte sie gern sehen, so gern ein Wort mit ihr sprechen. Nein, sprechen nicht, das ist nicht nötig. Nur wissen, wie sie aussieht, ob sie gut, ob sie ihres Jungen würdig ist. In der Nacht kommen ihr oft so bange Gedanken, dann malt sie sich aus, daß der Junge, der so wenig Weltklugheit besitzt, vielleicht an eine geraten ist, die nicht mehr rein, nicht mehr gut ist. Ach, sie weiß, daß ein Mensch vieles erleben und dennoch gut und rein bleiben kann. Sie möchte ja auch gar nicht wissen, woher dieses Mädchen stammt, was sie vielleicht schon erlebt hat. Nur in die Augen möchte sie ihr schauen und das Gesicht einmal sehen -- dann weiß sie genug! Sie richtet es nun manchmal so ein, daß sie am Abend noch, wenn es schon dunkel ist, eine Besorgung in der Stadt hat, und auf dem Rückweg weilt sie dann an einer verborgenen Stelle, von der aus sie die nächste Umgebung des Tores überschauen kann. Aber sie hat kein Glück; sie sieht wohl kleine, wartende Mädchen, aber unter denen, die sich zu ihnen gesellen, ist ihr Ernst noch nie gewesen. Bis sie eines Abends mit Fräulein Else von einem Gang zu der Stadt zurückkommt. Die flüstert ihr zu: „Diese hier, gnädige Frau!“ Und Frau Hiller sieht in ein liebes, nettes Gesicht mit keckem Näschen und guten, blauen Augen -- sieht in ein Gesicht, das nicht sehr viel sagt, und dessen größte Schönheit seine Jugend ist. Sie ist enttäuscht und auch beruhigt! Dieses Mädchen ist nicht schlecht und verdorben, ist auch nicht tiefgründig und verlangt keine schweren Gefühle. Es ist eins von jenen Mädchen, die so recht eigentlich dazu geschaffen sind, die erste Liebe eines jungen Menschen zu sein; wie Blumen sind sie, die einen süßen Duft haben und vergessen sind, sobald man sie nicht mehr sieht. Sie ist ruhig und versucht sich zu freuen, daß der Junge, bevor das Große, Gewaltige in sein Leben kommt, ein liebes, heimliches Glück gefunden hat -- sie will sich freuen, wie eine Mutter sich über das Glück ihrer Kinder freuen soll; sie will nur noch Mutter sein. Der Weg vom Stadttor nach der Kaserne hinaus dünkt ihr an diesem Abend eine Ewigkeit zu sein: ihre Seele ist in Aufruhr -- in ihr ist ein alter, heißer, wilder Schmerz, eine verzweifelte Sehnsucht wieder eingezogen. Müde schleppt sie sich neben Fräulein Else her. Im Hause steigt sie langsam die Treppe hinan. Oben in der Küche steht die große Lampe auf dem Tisch vor dem Sofa; das Abendbrot ist bereitet, und der junge Arzt hat sich auch eingefunden. Aber heute abend kann sie keinen Menschen mehr um sich haben. Heute abend ist es zu dunkel, zu trostlos in ihrer Seele. Fräulein Else entzündet ihr das kleine, in Öl schwimmende Nachtlicht in ihrem Schlafzimmerchen und fragt, ob sie etwas zu essen bringen darf. Nein, nichts -- gar nichts -- nur Ruhe -- nur Stille -- nur Dunkelheit. Alles tut ihr weh, jedes Geräusch, jeder Lichtschein, jeder Nerv schmerzt sie. So hat der Schmerz sie noch nie übermannt; so schwach, so elend und klein ist sie noch nicht ein einzigesmal gewesen, seit der große Aufruhr in die Welt kam. Der müde Kopf liegt in den Kissen; die Dunkelheit, die große Stille tun ihr gutes Werk. Gott wird sie nicht ganz verlassen -- -- er wird ihr die beiden, die sie liebt, die so eng mit ihr verbunden sind, zurückschicken! Aber Gott läßt so viel Furchtbares geschehen in dieser Zeit -- -- so viel tausend Frauen haben hergeben müssen, was ihr eigen war -- -- --. Ihre Hand spielt mit dem kleinen goldenen Amulett, das die Großmutter ihr bei Beginn des Krieges um den Hals gehängt hat, und ein dunkler Gedanke flieht durch ihre Seele. -- Der Inhalt dieses Amuletts sollte sie, wenn es ganz schlimm kam, vor der Bestialität der Russen, die in Deutschlands Hauptstadt einzudringen beabsichtigten, schützen. Das aber hatte Gott abgelenkt. Nach menschlicher Berechnung würde nun nicht einer von den vielen Feinden bis ins Herz des Deutschen Reiches eindringen! Nach menschlicher Berechnung mußte Deutschland trotz dieser Welt von Feinden doch noch den Sieg erreichen. Viel Blut floß -- viele Opfer mußten gebracht werden! Keiner durfte zagen -- keiner durfte klein werden! Man lebt nicht mehr für sich selbst, man lebt für das Land, in dem man geboren ward, für das Land, das man jetzt, da es bedroht ist, mit so viel tieferer, heißerer Liebe als in der Zeit des langen Friedens liebt. Ihre Hand läßt das Amulett fallen; ihr Kopf ist wieder ruhig -- die Gedanken nehmen eine andere Richtung. Nicht klein, nicht schwach, nicht selbstisch sein! Was sie leidet, ist das Leiden einer ganzen Welt -- was sie hergeben muß, geben Millionen in allen Ländern her. Soll sie kleiner, verzagter, armseliger sein als all diese Millionen? -- -- -- * * * * * Die Husaren haben Freiturnen im Kasernenhof. Es ist kalt, und ein rauher Wind weht, aber sie merken es nicht. Nachdem sie eine Stunde lang Lanzenschwingen und Säbelfechten geübt haben, ist zum Springen kommandiert worden. Der Oberleutnant kommt aus dem Dienstgebäude und spricht mit dem Wachtmeister, und man weiß nicht, ob er nur gekommen ist, um sich die Sache einmal anzusehen, oder ob etwas Besonderes vorliegt. Man wartet ja täglich, stündlich auf das Große, das doch nun endlich, endlich kommen muß. Aber nachdem die Unterredung beendet ist, läßt der Wachtmeister ruhig weiterturnen, und der Oberleutnant sieht zu. Die Freiwilligen sind enttäuscht, und das Springen geht wirklich etwas mangelhafter als sonst vor sich. Dann aber kommandiert der Oberleutnant plötzlich: „Halt!“ und sagt zum Wachtmeister: „Wachtmeister, lassen Sie mal die fünfzig Besten vortreten -- aber, bitte, nicht die, die hier so miserabel geturnt haben!“ Die Freiwilligen horchen auf. Was ist das? Was bedeutet das? Geht es hinaus? Aber nein, das ist nicht möglich, denn vor einer Woche sind wieder hundert von ihren Pferden nach Halberstadt verschickt worden, und die, die jetzt noch hier im Stalle stehen, sind zum großen Teil nicht kriegstauglich. Der Oberleutnant sieht sich die fünfzig Leute, die herausgerufen worden sind, an. „Gut,“ sagt er. „Also, Sie, Wachtmeister, und zwei Unteroffiziere werden die Reise anführen. Mit dem Herrn Oberst treffen Sie in Budapest zusammen. Wir haben jetzt vier Uhr; um fünf Uhr geht der Zug. Es ist also Eile nötig!“ Die Freiwilligen, die herausgerufen worden sind, haben rote Köpfe bekommen. Nach Ungarn zum Pferdekauf! Das geht unmittelbar dem Ausrücken voran! Bevor der Landsturm und die alten Leute ins Feld rückten, sind sie auch nach Ungarn gefahren, um Pferde zu holen. Das Herz schlägt ihnen hoch. Endlich, endlich! Der Wachtmeister ist auch plötzlich rosigster Laune. Der Turnunterricht wird abgebrochen; die, die nicht ausgewählt wurden, haben eine freie Stunde, und die anderen werden kommandiert, um Futterbeutel und Tränkeimer in Empfang zu nehmen. Hillers Herz klopft zum Zerspringen. Er benutzt die kurze Viertelstunde, die ihnen zum Umziehen gelassen wird, um ganz schnell zur Mutter hinüberzulaufen. Mit heißen Wangen und leuchtenden Augen steht er vor ihr. „Wir fahren nach Ungarn, Mutter. Pferde holen -- dann geht’s ins Feld, Hurra!“ Er weiß gar nicht, was er sagt; er sieht auch nicht, wie bleich die Mutter wird; sie hat ihn gar nicht richtig verstanden und glaubt im ersten Augenblick, daß er schon jetzt den großen Abschied nehmen will. Aber darüber beruhigt er sie. „Nein, nein. Vorerst nur nach Ungarn, die Pferde holen. Dann müssen sie doch ein paar Tage lang eingeritten werden. Man kann doch nicht auf ganz fremden Gäulen ins Feld. Unsinn -- Mutter, du brauchst nicht zu erschrecken. Wir kommen ganz sicher wieder zurück. Zehn oder zwölf Tage bleiben wir aus. Aber das ist doch famos! So eine schöne Reise!“ Sie will ihm Kaffee bringen lassen, aber er wehrt ab: „Nein, Mutter, ich hab’ nicht einen Augenblick Zeit. Ich muß gleich wieder drüben sein. Lebewohl, Mutter; was willst du denn während der Zeit tun?“ Diese letzte Frage richtet er noch im Hinausgehen an sie, wartet aber die Antwort gar nicht mehr ab. Unten vor der Kaserne steht Hipp und hält triumphierend einen Futterbeutel und Tränkeimer in der Hand. „Teufel,“ sagt Hiller erstaunt, „du warst doch gar nicht unter den Fünfzig!“ Hipp lacht. „Man muß so was zu deichseln verstehen. Ein armer Bauernlümmel ist krank geworden; ich habe ihm zehn Mark zur Erholung geschenkt; da hat er mich als Vertretung vorgeschlagen. Ich werde mir doch so was wie eine Gratisreise nach Ungarn nicht entgehen lassen!“ -- Er hängt sich in Hillers Arm: „Hast du Mammon? Sonst kann ich dir aushelfen!“ Aber Hiller hat, was er braucht; Großmutter sorgt immer gut für ihn, und die Mutter gibt auch. Sie gehen in die Stube und ziehen den Reitanzug an. Dann noch schnell in die Kantine, um eine Weiße und ein paar Butterbrote zu verzehren. Für alle Fälle; denn man kann nicht wissen, wo man zuerst etwas zu futtern bekommt. Im Hof steht der Wachtmeister mit den zwei Unteroffizieren: „Antreten! -- Zu Reihen gliedern! -- Marsch!“ Und fort geht’s zum Bahnhof. Vorerst mal in den Zug nach Magdeburg. -- Dritter Güte -- das ist anständig; jeder hat seinen Platz, und der Wachtmeister ist fortgesetzt in rosigster Laune. „Wenn ihr Lust habt, könnt ihr singen!“ Hipp hat eine Mundharmonika und setzt sie sogleich an. ‚Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod!‘ Sie singen es mit leuchtenden Augen -- der Wachtmeister und die Unteroffiziere auch. Was das für ein Gefühl ist -- mal endlich aus der Kaserne raus! „Unsere Damen werden heut’ abend große Augen machen!“ flüstert Hipp, zu Hiller gewandt. „Schad’t aber nichts; sie müssen sich jetzt langsam von uns abgewöhnen.“ Über Hillers Gesicht fliegt ein Schatten. Daran hat er in seiner Aufregung noch gar nicht gedacht, und das Mädchen tut ihm furchtbar leid. Was mag die denken, daß er sie so einfach im Stich läßt! Hipp sagt: „Siehst du nun ein, daß es blödsinnig ist, bei so einer Sache etwas zu fühlen? Immer frei bleiben! Das ist die Hauptsache! Wenn ein Mädchen flennt und Liebesschmerz hat, was ist dabei? Sie haben ja sonst nicht viel zu tun. Aber unsereins muß frei bleiben. Ist ja auch nicht der Mühe wert, oder glaubst du, daß deine Kleine länger als einen Tag um dich weint, wenn sie vielleicht mal hören soll, daß du gefallen bist? Nur keine Illusionen!“ Und es ist gut für Hiller, daß Hipp ihn immer wieder aus seiner Phantasiewelt herausreißt, denn er gehört zur Klasse der reinen Toren, die überall nur Gutes und Wahres und Reines sehen. Sie singen ein Lied nach dem andern, und der Zug läuft in Magdeburg ein, bevor man’s gedacht hat. Am Bahnhof steht ein Trupp Ulanen mit Wachtmeister und Unteroffizier. Der Vorgesetzte der Husaren tritt zu dem Kameraden vom Ulanenregiment hin und verständigt sich mit ihm. Sie haben Befehl, die Reise gemeinsam zu machen. Eine Stunde Aufenthalt in Magdeburg -- dann weiter nach Dresden, wo die erste Nachtrast sein soll. Die Freiwilligen -- Ulanen und Husaren -- bekommen Stadturlaub; in einer Stunde haben sie wieder am Bahnhof zu sein. Sie zerstreuen sich in Trupps und suchen die dem Bahnhof zunächst liegenden Kneipen auf. Man kommt sich schnell näher. Die Ulanen sind noch ebenso unsicher wie die Husaren, ob es nach dieser Ungarnreise nun wirklich hinausgeht. Man weiß ja wahrhaftig nicht, wozu man noch in der Kaserne sitzt, man begreift es nicht, daß man solche Mengen von gutem Soldatenmaterial noch in der Kaserne läßt. Hipp ist mit Hiller und ein paar Ulanen in einer richtigen Muschkokneipe gelandet. Man sieht nichts anderes als buntes Tuch und atmet einen üblen Geruch ein. Schadet aber nichts -- man ist wenigstens mal aus dem ewigen Einerlei heraus! Die Fahrt nach Dresden ist schon ein wenig ungemütlicher als die vorherige. Sie sind jetzt neunzig Mann und werden vierter Klasse verstaut. Wer Glück hat, kann sitzen, die anderen stehen. Sangeslust ist nicht mehr vorhanden, und um die neunte Stunde, um die man sonst auf seinen Strohsack zu fallen pflegt, lassen die meisten ihre Köpfe hängen. Macht der Gewohnheit. -- Um neun Uhr meldet sich der Schlaf! Und ein paar von denen, die einen Sitzplatz haben, fangen an zu schnarchen. Um Mitternacht sind sie in Dresden; da ist noch reges Leben am Bahnhof. Das Rote Kreuz hat einen großen Raum für Verwundete und durchreisende Krieger eingerichtet, und labt nun auch die Husaren und Ulanen mit gutem, heißem Kaffee, Butterbrot und Zigarren. Da die Nacht vorgeschritten ist, kann man nicht mehr zu einer Kaserne hinaus, um Quartier zu bekommen; man muß am Bahnhof bleiben, zum wenigsten die, die auf Regimentskosten schlafen wollen. Wer Geld hat, kann sich in der Stadt ein Unterkommen suchen. Um elf Uhr am nächsten Morgen hat man sich wieder am Bahnhof einzufinden. Eine ganze Menge von ihnen verfügt über das nötige Kleingeld und zieht in die Stadt. Schade, daß man so hundemüde ist; man hat jetzt wirklich nur noch das eine Verlangen, sich auszustrecken, und zwar sobald als möglich. Hipp und Hiller und zwei Mann, die sie als ihresgleichen erkannt haben, betreten ein sehr feines Hotel. Warum soll man nicht für eine einzige Nacht üppig sein? Ein Vermögen wird’s nicht kosten. Und man schläft dann wenigstens mal wieder in einem anständigen Bett und bekommt am Morgen etwas Ordentliches zu frühstücken. Der Oberkellner sieht die vier Soldaten etwas kritisch an, aber der weltkundige Hipp hat ihn bald da, wo er ihn haben will. Er versteht es prachtvoll, jemanden mit drei Worten klarzumachen, wer er ist, und was er zu beanspruchen hat. Sie erhalten je zu zweien ein sehr anständiges Zimmer mit Heizung und elektrischer Beleuchtung; aber sie genießen nicht mehr viel von diesen Bequemlichkeiten. Kaum, daß sie den Uniformrock und die lederne Reithose ausgezogen haben, sind sie schon im Schlaf drin und schlafen nicht schlechter und nicht besser als in ihrer Altmärker Kaserne auf dem Strohsack. Aber am nächsten Morgen läßt sich die Sache schon anders an, da kann man sich erst noch diverse Male umdrehen, ehe man ans Aufstehen denkt, und sitzt dann unten im Frühstückszimmer vor einem famosen Frühstück, das durch Hipps Anordnungen noch um vieles delikater gemacht wird. Die Rechnung ist dann auch einigermaßen erstaunlich, und Hipp läßt beim Bezahlen seines Anteils die Bemerkung einfließen, daß man in diesem Hotel nicht sehr patriotisch gesinnt zu sein scheine, denn sonst würde man freiwilligen Kriegern, die in kurzer Zeit ihr Leben fürs Vaterland einsetzen wollen, nicht solche Summen abnehmen. Der Oberkellner bleibt kühl und würdevoll und läßt Hipps Bemerkung an seinem Ohr vorbeigehen, als ob er sie nicht gehört oder verstanden habe. Macht nichts! Man ist acht Mark losgeworden, aber man hat doch auch etwas dafür gehabt. Weiterhin wird man ja keine Gelegenheit zu großen Ausgaben mehr haben! Nun läßt sich die Sache wirklich anders an -- viel ernster und dienstlicher! Wieder werden sie in Wagen vierter Klasse untergebracht und fahren in sehr gemäßigtem Tempo der österreichischen Kaiserstadt zu. In Prag ist längerer Aufenthalt, und am Bahnhof sind Speisehallen aufgeschlagen. Jeder tritt mit seinem Napf an und bekommt ein Stück Fleisch, auf das eine heiße, kräftigriechende Suppe gefüllt wird. Es schmeckt gut, denn sie sind hungrig -- sie können gut und gern die doppelte Portion vertragen; aber es dauert eine geraume Zeit, bis alle neunzig Mann gespeist sind, und man muß sich sogar beeilen, seinen Napf auszulöffeln. Die Dunkelheit bricht an, als sie sich Wien nähern. Hiller ist in freudiger Erregung. Das war schon längst sein Wunsch, das schöne, alte Wien zu sehen! Und es kommt ihm fast unwahrscheinlich vor, daß dieser Wunsch sich nun so plötzlich erfüllen soll. Am liebsten wäre er gleich vom Bahnhof mit Hipp und den zwei Mann in die Stadt gelaufen, denn höchstwahrscheinlich werden sie wieder Nachturlaub erhalten. Aber am Bahnhof heißt’s: „In Reihen gliedern! -- Marsch!“ Und es geht durch eine Reihe grauer Straßen immer in Reih und Glied. Man darf den Kopf nicht nach rechts oder links wenden. Wohin führt man sie? Was hat man mit ihnen vor? Ah, nun kommen sie in belebte Gegenden. Die Leute schauen nach ihnen und bleiben stehen. „Heil -- Hurra -- Deutschland!“ ertönt’s von allen Seiten. Man bringt ihnen Ovationen dar -- man feiert sie. „Deutschland, Deutschland über alles!“ erschallt es, und Menschenscharen schließen sich ihnen an. „Deutsche Husaren und Ulanen. Hurra! Hoch die Verbündeten! Heil dir im Siegerkranz! Hoch Kaiser Wilhelm! Hoch -- hoch -- hoch!“ Die Köpfe der jungen Menschen werden heiß. Das Blut wallt ihnen zum Herzen. Sie wissen, daß der Jubel nicht ihnen selbst, nicht ihrer Person, sondern dem Lande, das sie hier vertreten, gilt. Und sie fühlen es mit Wonne und Glück: Wir sind Deutsche! Wir sind in Freundesland. Man liebt uns. Ach, endlich einmal wieder Begeisterung und Hoch und Hurra und heiße, flammende Freude! Endlich einmal wieder kommt es einem zum Bewußtsein, daß man in dieser gewaltigsten aller Zeiten lebt, daß man zu Hohem, Heiligem berufen ist. Sie singen es mit ihren Bundesbrüdern -- sie singen es aus jubelndem, heißem Herzen heraus: „Deutschland, Deutschland über alles!“ Aber von Wien bekommen sie nichts zu sehen; man hat sie nur von dem einen Bahnhof, auf dem sie ankamen, zu einem anderen geführt, und da steht schon der Zug bereit, der sie weiter, der sie direkt nach Budapest bringen soll. Vorher große Abspeisung und Hurra und herzliches Willkommen. Die hübschen jungen Mädchen stecken ihnen Liebesgaben zu: Schokolade, Zigarren, Postkarten, und überall hallt es: „Hoch Deutschland! -- Hoch die Verbündeten! Deutsche Ulanen und Husaren -- Hurra -- Hoch!“ Die Österreicher haben ihren Waffenbrüdern einen komfortablen Zug zur Verfügung gestellt: ~D~-Zug, nur mit Wagen zweiter Klasse. Die Österreicher sind ein höfliches Volk, sie wissen, wie man seine Freunde ehrt. Jeder hat viel Platz, und sie sitzen sehr bequem auf ihren Samtpolstern. Hiller hat noch einen Augenblick mit seiner Enttäuschung zu kämpfen, als die Lokomotive anzieht. Sie gleiten am nächtlichen Wien vorüber -- ohne etwas anderes als ein paar Straßen gesehen zu haben. Schade -- -- aber dann ist’s auch schon überwunden. Wenn man gesund aus dem Kriege kommt, wird man Wien schon noch einmal zu sehen bekommen. Am nächsten Morgen ist Budapest erreicht und gleich Urlaub bis zum Mittag. Großartig! Und man steht an der Donau und sieht die herrliche Stadt mit ihren wundervollen Bauten vor sich liegen. Die Sonne scheint und glitzert auf den Wellen des Stromes. Wirklich famos! Und Hipp wird in der ihm noch ganz fremden Stadt gleich zum Führer, schreitet mit Hiller und den zwei Husaren über die Brücke, so als ob er schon hundertmal dahergegangen wäre, und macht auch gleich ein Lokal ausfindig, in dem es etwas Anständiges zu frühstücken gibt, denn am Bahnhof haben sie ihnen im Wartesaal einen miserablen Kaffee und Knoblauchwürstchen angeboten. Beides Dinge, die man vielleicht in höchster Not, wenn der Hunger einen schon mächtig plagt, annehmen würde. Aber jetzt hatte man das noch nicht nötig! Die Menschen hier in der schönen Stadt sind überaus freundlich. Überall begrüßt man sie aufs herzlichste, und alle paar Schritte werden sie angehalten: „Was seid’s für Landsleut? Wer seid’s?“ „~Német~ Husar!“ antwortet Hipp stolz, und: „~Német~ Husar! Hoch ~Német~ Husar!“ tönt es ihnen von allen Seiten entgegen. Ha, die Ungarn wissen, was für Bundesgenossen sie an den Deutschen haben. Es ist eine Freude, hier durch die schöne Stadt zu ziehen und sich anstaunen und feiern zu lassen. Überall steckt man ihnen Zigarren und Postkarten zu, und junge Mädchen bringen ihnen Blumen. „Hoch ~Német~ Husar! Heil deutsche Waffenbrüder!“ Zu Mittag speist man gut und teuer. Schadet nichts, man ist nur einmal als Husar in Budapest -- und dann wieder Versammlung am Bahnhof. Wieder ~D~-Zug mit Wagen zweiter Klasse, und vorbei geht’s an der schönen, blauen Donau, dann durch flaches Steppenland, bis man an die Ufer der Theiß gelangt. Szegedin! Es ist Nacht geworden. Die Wachtmeister von beiden Regimentern werden von zwei ungarischen Männern, die ein Mittelding zwischen Bauer und besserem Gutsbesitzer sind, begrüßt. Das sind die Pferdehändler, die morgen ihr Geschäft machen wollen, und die für den heutigen Abend die ganze Schar zum warmen Abendbrot und rotem Ungarwein einladen. Große, gedeckte Tische stehen im Bahnhofsgebäude bereit; es gibt Suppe, schöne, zarte Schnitzel, Gemüse und Käse! Alles umsonst -- und in verschwenderischer Fülle. Die Freiwilligen haben einen Bärenhunger, und der Wein tut ihnen wohl. Aber die Wachtmeister wollen zur Ruhe kommen. Kaum hat man den letzten Bissen gegessen, heißt es schon: „Antreten!“ und man zieht durch dunkle Straßen zur 46. Infanteriekaserne hinaus. Da ist Nachtquartier angesagt. Urlaub gibt’s nicht. Alle zur Kaserne -- gleichgültig, ob man Geld für eigene Unterkunft hat oder nicht. In der 46. Infanteriekaserne spricht man gebrochen deutsch. Ein Unteroffizier empfängt sie und weist ihnen drei große Stuben an -- jeder bekommt eine Matratze mit Decken. Zum Kopfkissen rollt man den Mantel zusammen, und die deutschen Wachtmeister teilen ihren Freiwilligen noch mit, daß der Oberst, der schon in Szegedin weilt, für den nächsten Tag bis zum Mittag Urlaub gewährt hat. Dann: Lampe aus -- die Decke über die Schultern und Augen zu! Aus ihren Reithosen kommen sie fürs erste nicht heraus. Am nächsten Mittag beginnt der Pferdekauf. Vorher haben sie sich die Stadt angesehen, haben gegessen und getrunken und haben sich feiern lassen. Famos! Auf diese Weise haben sie ein schönes Stück Welt gesehen! Der Pferdekauf findet in einem Gutshof, der nicht weit von der Kaserne abliegt, statt. Die Wachtmeister nehmen jeder ihre Freiwilligen zusammen, und während die Ulanen in den Gutshof hineingehen, müssen die Husaren draußen warten. Es regnet, und es ist kalt; die Straßen sind aufgeweicht, und die Freiwilligen frieren trotz der warmen Mäntel, die sie tragen. Die ungarischen Bauern führen dem deutschen Oberst ihre Pferde vor. Der besieht sich jedes einzelne von allen Seiten, läßt Trab und Galopp laufen und diktiert dann dem Schreiber Alter, Farbe und Geschlecht des Tieres, und für welche Truppengattung es bestimmt werden soll. Die Ulanen nehmen die Pferde in Empfang und bringen sie zu den Husaren hinaus. Es sind durchweg temperamentvolle Tiere, die nicht ruhig stehen wollen. Hipp und Hiller, von denen jeder zwei Gäule hat, gehen im Kreise mit ihnen herum. Es ist wirklich keine Kleinigkeit, eine Stunde mit zwei fremden Gäulen herumzulaufen. Aber mit den zwei ist es noch nicht abgetan. Die Ulanen bringen immer neue Tiere heraus. Teufel auch! Mehr als drei kann man doch aber nicht handhaben, besonders wenn die Biester anfangen, kerzengerade in die Höhe zu steigen. Da -- nun hat Hipp schon wieder ein neues. Vier Stück, zum Donnerwetter, das kann gut werden! Auch Hiller bekommt das vierte, und reißt sich doch schon mit den dreien wie ein Toller herum. Dazu prasselt der Regen nieder, und die Gäule stampfen in die Pfützen, daß einem der Kot bis ins Gesicht spritzt. Gott sei Dank, nun kommt der Oberst heraus -- setzt sich in sein Auto und fährt davon. Die Freiwilligen sind wie in einer Schlacht. Jeder zerrt an den sich aufbäumenden Tieren, und die Wachtmeister schimpfen um sie herum. Das Schlimmste kommt aber noch. Die Tiere müssen gestempelt werden, und in dem Augenblick, da sie das heiße Eisen an ihrem Hals fühlen, sind sie ganz des Teufels. Hipp fliegt hoch in die Luft, so wirft sich einer von seinen Gäulen zurück. Er hat das Gefühl, als sei ihm der Arm aus der Kugel gedreht, und macht ein ganz verzweifeltes Gesicht. Andern geht’s nicht besser; einer hat die Zügel einfach fahren lassen und muß sehen, wie seine Tiere in den Gutshof zurückrasen. Unter Toben und Schreien, Hü und Hott, setzt sich dann der Zug in Bewegung zum Bahnhof hin. Da stehen die langen Züge mit Viehwagen, und nun heißt’s aufpassen, daß keiner seine Gäule locker läßt. Die Pferde scheuen vor den dunklen Wagen zurück. Sie bleiben am Eingang stehen und sind durch nichts weiterzubringen. Zurufe, Schreien, Stockhiebe -- alles nutzt nichts. Man muß sich gegen das Hinterteil stemmen und schieben, bis sie glücklich drin sind. Stunden vergehen -- es ist später Nachmittag geworden, bis die Tiere endlich verladen und gefüttert sind; aber dafür ist dann auch der Rest des Tages und der Abend frei. Erst um Mitternacht hat man sich wieder am Bahnhof einzufinden. Dann soll’s weitergehen bis dicht an die serbische Grenze heran; der Oberst kauft Hunderte und Hunderte von Pferden, und den Freiwilligen wird es immer banger zumute. Wie sollen sie das bewältigen? Aber erst mal haben sie jetzt einen freien Abend vor sich, und den wollen sie sich nicht verkümmern lassen. Mag nachher kommen, was will. Fürs erste lacht die goldene Freiheit sie an. Die Straßen der Stadt sind grundlos; bis über die Knöchel waten sie im Morast. Wohin geht man nun? Wer hat eine Ahnung, wo man hier etwas Besonderes sehen kann? Ein Vorübergehender, der sie anspricht und herzlich begrüßt, hat ihnen in holperigem Deutsch vorgeschlagen, sich mal die Theißanlagen anzusehen, und das tun sie denn auch pflichtgetreu, trotz des stetig fallenden Regens und der einbrechenden Dunkelheit. Aber so recht steht ihnen heute ihr Sinn eigentlich nicht mehr danach, Naturschönheiten zu bewundern. Sie frieren, sind durchnäßt und wollen etwas Vernünftiges in den Magen bekommen. Die ersten Husaren, die vorbeikommen, werden angehalten. „Sagt uns ein gutes Lokal!“ Die empfehlen das Stammlokal der Szegediner Einjährigen und weisen ihnen den Weg. Ja, das war eine gute Weisung. Heiße, ungarische Musik schlägt ihnen entgegen, noch bevor sie in den hellen, warmen Saal eingetreten sind. Musik, von einer kleinen ungarischen Kapelle ausgeführt -- feiner Zigarrenduft und heitere, angeregte Menschen -- Essen und Trinken -- was wollen sie mehr! „Vorerst einmal Kaffee!“ rät Hipp. Inzwischen wird man die Speisekarte studieren und sich ein feines Nationalgericht bestellen. Hipp ist wirklich der geborene Lebemann. Die anderen würden gleich drauflosgegessen und getrunken haben, aber Hipp weiß ganz genau, daß ein etwas vernachlässigter Magen erst durch etwas Anregendes gereizt werden muß. Wenn der Kaffee sie erwärmt und aufgefrischt hat, werden sie nachher mit viel größerem Genuß speisen können. Man tut ohne weiteres, was Hipp will, und überläßt ihm auch gern, für alles Weitere an diesem Abend zu sorgen. Die Stimmung ist schon sehr angeregt. Ganze Scharen von den deutschen Husaren und Ulanen haben den Weg in dies famose Lokal gefunden, und die Ungarn trinken und jubeln ihnen zu: „Hoch ~Német~ Husar! Hoch ~Német~ Ulan!“ Der Kellner bringt eine würzige Suppe von pikantem Geschmack und weißen Ungarwein zu vier Kronen die Flasche. Hipp schenkt vorsichtig ein. „Nur nicht gleich drauflossaufen, dann ist es um den feinen Genuß geschehen!“ Dann ein Fischgericht. Ein Fisch, der am Morgen noch in der Theiß schwamm. Teufel, ja, das muß man den ungarischen Bundesbrüdern lassen; sie haben eine feine, aparte Küche! Hipp ißt langsam nach Art der Feinschmecker und trinkt den Wein in kleinen Schlückchen. Zum Schluß ein ungarisches Schnitzel, Butter und Käse und etwas Süßes! Das läßt man sich gefallen! Nicht zu viel und nicht zu wenig! Man ist nicht überfüttert, sondern in eine prachtvoll behagliche Stimmung gekommen und hat noch die Fähigkeit, der Musik zu lauschen und die Umgebung zu beobachten. Nahe bei dem Orchester sitzt ein junger, verwundeter Offizier, um den Kopf eine Binde, einen Orden auf der Brust; der hat sich schon mit den Serben geschlagen. Sie schauen ihn bewundernd an, wie er vor seiner Flasche Sekt sitzt und den Kopf zu den Tönen der Musik bewegt. Wenn ein Lied gespielt wird, singt er mit -- laut und dröhnend -- er hat eine prachtvolle Stimme und viel Temperament. Eigentlich zu viel Temperament für einen verwundeten Krieger. Wippt mit den Beinen und schlägt mit beiden Händen den Takt. „Beschwiemelt,“ sagt Hipp, „total beschwiemelt,“ und die anderen blicken neugierig zu dem ordengeschmückten Helden hin. Dieser winkt dem Kellner und sagt ihm etwas; der Kellner scheint ihn nicht zu verstehen. Klatsch -- fliegt ein Glas Sekt an den Boden. Im Augenblick steht ein neues da. Nun fängt er mit dem Kapellmeister an -- ruft ihm etwas zu und springt von seinem Sitz auf. Die Augen funkeln ihm; er reißt ihm die Geige aus der Hand. Teufel, kaum kann er sich noch auf den Beinen halten -- aber spielen kann er...! Da ist der Kapellmeister nichts dagegen. Er spielt, und der ganze Saal lauscht ihm -- er torkelt umher und spielt herzzerreißend schön, spielt, daß man laut aufheulen möchte vor Glück und Schmerz; dann ein Knacks -- eine Saite entzwei -- die Geige fliegt in eine Ecke -- der Verwundete fällt auf einen Stuhl -- stützt den verwundeten Kopf in die Hand und starrt vor sich hin. Weint er? Ist sein armer Geist verwirrt? Hat er so Entsetzliches gesehen und gehört, daß er nicht mehr Herr seiner Sinne ist? Daß er trinken muß, um Grauenvolles zu vergessen? Wer weiß es? Wer kann sagen, ob er nur ein liederlicher Kumpan, oder ob er ein Unglücklicher, ein vom Krieg Erschütterter ist? Zwei junge Honvedoffiziere kommen an seinen Tisch und reden auf ihn ein. Er ist wie ein Kind und läßt sich willig fortführen. Ein paar Minuten bleibt’s still im Saal -- man ist erstaunt und erschreckt. Dann hebt der Kapellmeister die Geige vom Boden -- zieht eine neue Saite auf, und die neueinsetzende Musik läßt den kleinen Zwischenfall vergessen. Aber an anderen Tischen wird’s nun auch lebendig; der Ungarwein beginnt seine Wirkung zu tun. Auch deutsche Husaren und Ulanen haben rote Köpfe bekommen, fangen an zu singen und zu krakehlen. Die wilde Musik stachelt auf -- die Begeisterung der Ungarn für ihre deutschen Bundesgenossen steigt; die Luft ist heiß. Und die Begeisterung flammt immer höher auf. Die Stunden fliegen, aber Hipp, der Feinschmecker, hält seine Gesellschaft im Zügel. Auch ihre Köpfe sind nicht ganz frei -- doch denken können sie noch; sie wissen noch, wo sie sind, und als die zehnte Stunde vorüber ist, steht Hipp auf, winkt den Kellner heran, um die Rechnung für sich und die drei Tischgenossen zu begleichen. Der begeisterte Wirt aber will von einer Bezahlung nichts hören und freut sich, ihnen, als seinen Bundesgenossen, einen schönen Abend bereitet zu haben. Durch den tiefen Morast der Szegediner Straßen tasten sie sich zum Bahnhof hin. Von allen Seiten kommen sie angetrottet -- in ganzen Reihen und auch allein; singend und fluchend und lallend -- manch einer total besinnungslos, auf ein paar Kameraden gestützt. Die Wachtmeister stehen am Bahnhof und sind wütend, ein Ulan ist am Umfallen und schwatzt ungereimtes Zeug. „Kerl, Sie sind ja total betrunken!“ schreit der Wachtmeister ihn an. „Sie werden Kasten bekommen -- verstehen Sie?“ „Gut -- Herr Wachtmeister!“ „Halten Sie die Schnauze, Kerl!“ „Jawohl, Herr Wachtmeister -- mach’ ich schon! Aber ich bin nicht betrunken! Sicher nicht!“ „Halt’ die Schnauze, Kerl!“ „Ich sag’ ja schon nichts mehr, aber betrunken bin ich nicht, Herr Wachtmeister!“ Der packt ihn mit festem Griff und wirft ihn in ein Abteil. Der Ulan fällt aufs weiche Polster und bleibt bewegungslos liegen. Sie kommen alle nicht ganz so glatt hinein -- und als der Zug endlich anzieht, hört man schon manchen schnarchen in den einzelnen Abteilungen. Ein paar Stunden darauf sind sie in Mako. Dunkelheit lagert noch über dem Ort, es ist fünf Uhr früh. Es stürmt und regnet! Eine Kaserne gibt’s hier nicht. Also wohin? Dem Wachtmeister wird ein Wirtshaus genannt, das große Säle hat, da wird man sie aufnehmen. Also los! Die Stiefel bleiben im Schmutze stecken -- der Regen peitscht ihnen ums Gesicht -- sie sind todmüde und schlapp. Im Gasthof sieht man sie staunend an. Wer ist das? Eine verschlafene Magd kreischt auf und will sich mit dem Besen gegen den eindringenden Feind wehren. Wirt und Wirtin erscheinen. „Wer seid’s? Ist das der Serb -- der Feind?“ -- „Nein, ~Német~ Husar und Ulan, deutsche Waffenbrüder!“ Da leuchten die Gesichter! „Aber gewiß! Tretet’s ein!“ und man ist traurig, daß man keine Betten hat. Schad’t nichts. Wer so hundemüde ist, schläft auch ohne Betten! Sie verteilen sich auf die Bänke, die an der Wand stehen, und wer keine Bank findet, legt sich auf den Boden; es ist ganz gleichgültig. Die Magd schürt das Feuer im großen Ofen; man hat eine warme Stube und einen Platz, um sich auszustrecken, mehr will er nicht. Die Wachtmeister lassen ihre Soldaten schlafen, bis der Morgen schon erheblich vorgeschritten ist; der Herr Oberst hat sich erst für elf Uhr angesagt. Der ungarische Gasthofbesitzer und seine Frau sorgen für ein ordentliches Frühstück. Die neunzig Mann stehen ein wenig verkatert auf, haben aber wieder einen freien Kopf bekommen. Sie trinken Kaffee, essen Bratkartoffeln und Brot und Schinken. Aus weiter Ferne hört man dumpfes Dröhnen. Serbischer Kanonendonner! Ganz nah’ beim Krieg -- ganz nah bei einer tosenden Schlacht sind sie! Wie lang’ noch, dann sind auch sie mitten drin im Kugelregen! Die Stiefel sind schwer vom dicken Schmutz, aber es lohnt sich nicht, sie zu reinigen, denn hier in Mako sind die Wege noch grundloser als in Szegedin. Und wieder fängt der Pferdekauf an! Wieder werden die Tiere unter Geschrei und Getose am Bahnhof verladen, und weiter geht’s in drei, vier andere Orte, immer weiter nach Serbien zu. Immer deutlicher hört man den Kanonendonner. In diesen kleinen Nestern ist’s öd und langweilig -- man hat viel Arbeit und schlechtes Nachtlager. Von Gutshof geht’s zu Gutshof, bis endlich der Bedarf an Pferden gedeckt ist. Nun zurück nach Deutschland; eine volle Woche sind sie schon unterwegs und seit sieben Tagen nicht aus den Kleidern herausgekommen. In Kiskörös werden die Pferde endgültig verladen; immer sechs in einem Wagen, und in der Mitte liegt eine Schicht Heu, die das Futter für die Gäule und zugleich auch das Nachtlager für den Soldaten, der bei den Pferden schläft, sein soll. Hipp hat dafür gesorgt, daß er in nächster Nachbarschaft mit seinem Freund Hiller bleibt. Aber diese Nachbarschaft nützt ihnen wenig; wenn sie miteinander sprechen wollen, müssen sie sich die Worte durch die kleinen Fenster ihres Wagens zurufen. Da schläft man lieber, wenn man Zeit zum Schlafen hat. Alle paar Stationen muß man hinaus, um im Tränkeimer Wasser für die Pferde zu holen oder für sich selbst etwas in Empfang zu nehmen. Die übrige Zeit liegt man auf dem Heu ausgestreckt und schläft oder träumt vor sich hin. Am ersten und am zweiten Tag ist das Heulager im Wagen ganz weich und mollig, aber je mehr die Gäule verfüttert bekommen, um so spärlicher und unbehaglicher wird es; und mit der Ernährung ist’s auch eine eigene Sache. Das letzte Gulasch, das man an der ungarischen Grenze bekam, war so verpfeffert, daß man den ganzen Tag das Durstgefühl nicht loswurde. Da hat man am Abend auf eine zweite Portion lieber verzichtet. Der kleine Hiller ist ein wenig abgemattet, mag es sich aber nicht eingestehen. Er liegt die beiden letzten Tage der Fahrt Stunde um Stunde auf der immer dünner werdenden Heuschicht zwischen seinen Pferden, denkt über tausend Dinge nach, grübelt und philosophiert -- denkt an das blonde Mädchen in der Garnison, das nichts weiter als Lustigkeit und kleine Aufmerksamkeiten von ihm verlangt -- denkt auch an die Mutter, die gewiß ungeduldig auf ihn wartet -- und denkt an das, was nun sehr nahe bevorsteht: ans endliche Ausrücken nach Frankreich oder Rußland! Oft hat die Großmutter in einer guten, trauten Stunde zu ihrer Maria gesagt: „Das Leben für uns Frauen ist nur dann schön und lebenswert, wenn wir einen lieben Menschen haben, den wir mit unserer Liebe umgeben und für den wir sorgen können; wenn wir einen Menschen haben, der ganz und gar zu uns gehört. Wir Frauen sind nun einmal nicht für die Einsamkeit geschaffen!“ Und wenn Maria, die immer Heiratspläne von seiten der alten Frau witterte, etwas ablehnend erwiderte: „Ich bin ja nicht allein -- ich habe ja mein Kind!“ dann hat die Großmutter immer und immer wiederholt: „Nein, das Kind hast du nicht, das Kind gehört nicht dir -- das gehört sich selbst! Du mußt einen Menschen haben, der so lange dein ist, bis Gott einmal anders darüber entscheidet!“ Und daß die Frau ihres Sohnes sich ihr in diesem Punkt so ganz und gar verschloß, daß sie kalt und hart wurde, sobald die alte Frau dieses ihr Lieblingsthema berührte, das war der Grund zu dem langjährigen Mißverständnis zwischen beiden gewesen. Die Jugend, die sich stark und selbständig fühlt, mag sich vom Alter nicht belehren lassen; die Jugend ist hochmütig und lächelt gern über die Weisheitssprüche der Alten. Ein jeder will sein eigenes Leben haben -- sein eigenes Glück -- seinen eigenen Schmerz! Nun ist der Tag gekommen, an dem Maria vom bittersten Schmerz ganz niedergeworfen, im kleinen Wohnzimmer der Wachtmeistersleute sitzt. Die alte, fleißige Frau und ihre Tochter sind in der warmen Küche beim Nähen, und der Junge ist von seiner ungarischen Reise noch nicht zurück. Es ist still um sie her -- nur eine Uhr tickt, und Mirza, der zusammengerollt auf dem Teppich liegt, schnurrt leise vor sich hin. Bange, unruhige Tage und Nächte des vergeblichen Wartens auf eine Nachricht liegen hinter ihr; entsetzlich wache Nächte, in denen ihre Augen Grauenvolles, Unfaßbares gesehen haben, in denen sich auf ihre Seele der Jammer und das Leid einer ganzen Welt gewälzt hat. In diesen Nächten hat sie es schon gewußt, daß das Schicksal für sie entschieden hatte -- in diesen Nächten hat sie unbeschreibliche Martern und Qualen durchgekostet, hat sich mit aller Kraft aufgerafft und sich gesagt: ‚Was Tausende im Deutschen Reiche dulden müssen, das werde auch ich ertragen können!‘ Und ist dann doch in der Stunde, in der, was ihre Seele schon gewußt, äußerlich bestätigt vor ihr liegt, da sie seinen letzten Brief mit der kurzen Notiz eines Kameraden: ‚Am 20. Oktober bei Cambray gefallen!‘ in der Hand hält, nicht fähig, der Verzweiflung, die sie erfassen will, Herr zu werden. Ganz klein, ganz gebrochen, ganz elend sitzt sie da und starrt vor sich hin. Und hat es doch viel früher schon, als dieser Krieg ausbrach, gewußt, daß sie ihn nie besitzen würde, hat es mit tödlicher Sicherheit gewußt, daß ihre heißen Wünsche nie Erfüllung finden würden. Sie hat immer -- ihr ganzes Leben lang -- eine so rege Phantasie gehabt -- hat sich alles, was die Wirklichkeit ihr versagte, immer durch die Kraft der Phantasie ersetzen können. Aber dieses ist ihr nie gelungen: nie hat sie sich vorstellen können, daß einmal eine wirklich glückliche, friedvolle Zeit für sie und ihn kommen würde -- daß aus der großen Wirrnis dieser schmerzvollen Liebe je ein klarer, guter, fester Bund fürs Leben erstehen sollte! Hat alles geahnt, hat alles gewußt, und kann und will es nun doch nicht fassen -- kann sich nicht vorstellen, daß sie ihn nie wiedersehen soll, daß jene Nachtstunden, da sie im Auto durch Berlin rasten -- um Satteltasche, Stiefel und Revolver zusammenzuholen, die letzten gewesen sein sollten! Jene Nachtstunden, in denen er plötzlich so gut, so weich und so verstehend geworden war! Ihr ist in diesen furchtbar dunklen, einsamen Stunden, als sei ihr der Boden unter den Füßen fortgerissen, als gebe es in der ganzen Welt nichts mehr, was noch zu ihr gehört und ihr Weiterleben möglich macht. Sie hat das Gefühl, eine furchtbare Ungerechtigkeit erfahren zu haben; hat das Gefühl, gegen das Schicksal, das ihr immer -- so lange sie denken kann -- feindlich gesonnen war, anwüten zu müssen. Die große Zeit hat sie noch nicht groß und hart genug gemacht! In den Zeitungen liest man oft von den Heldenfrauen und Heldenmüttern, die sich nicht beugen lassen -- denen das Vaterland so hoch steht, daß sie das eigene Ich darüber vergessen; ja, die sich glücklich preisen, daß sie schmerzhafte Opfer bringen dürfen! Wo mögen sie die Kraft herhaben? Wer mag ihnen diese Stärke verleihen? Der Kopf sinkt ihr tiefer und tiefer auf die Brust. Im kleinen Zimmer ist es dunkler geworden; draußen in der Küche singt Fräulein Else, Mirza schnurrt im Schlaf und die Uhr tickt. Maria denkt an die Großmutter und hat Sehnsucht nach ihr. Sie hat den Wunsch, Großmutter möchte jetzt bei ihr sein, ihr die Hand auf die Stirn legen, zu ihr sprechen und sie aus der schrecklichen Finsternis, in die sie immer tiefer hineinsinkt, erlösen. Stunde um Stunde sitzt sie so in sich zusammengesunken, regungslos im dunklen Zimmer, bis es denen draußen in der Küche unheimlich wird. Fräulein Else klopft leise an die Tür und fragt, ob sie die Lampe bringen darf. Aber Frau Hiller, die erst ein paar Augenblicke braucht, um sich in die Gegenwart zurückzufinden, will kein Licht; auch kein Essen; sie mag auch nicht wie sonst zu einem gemütlichen Abend zu den zwei Frauen in die Küche hinauskommen. Sie fühlt sich sehr krank und schwach, und im Kopf toben und wüten die Gedanken, gegen die sie gar nicht mehr ankommen kann. Sie ist wie ein armes Kind, das darauf wartet, daß irgend jemand sich seiner annimmt. Aber die Wachtmeistersleute sind viel zu bescheiden, um sich aufzudrängen. Fräulein Else richtet schweigend das Schlafzimmer her, entzündet das winzige Öllichtchen, das nun ins Dunkle hineinblinzelt, und geht wieder hinaus. Um Mitternacht wird Pferdegetrappel draußen auf der Straße hörbar -- laute Zurufe, Befehle, Schreien und Gewieher, und Frau Hiller, die noch immer bewegungslos in ihrem Stuhl liegt, schreckt empor. ‚Ernst!‘ zuckt es durch ihre Gedanken, und das Herz schlägt schnell und laut. Das können nur die Freiwilligen sein, die von ihrer Ungarnreise zurückkehren! Sie tritt ans Fenster und sieht im Schein der Laterne, die von der Kaserne herüberleuchtet, den langen Zug der jungen Husaren und Ulanen, die mit großer Anstrengung, mit lautem Zurufen und Schreien die fremden, noch sehr ungebärdigen Pferde zu meistern suchen. Viele von den Tieren bäumen sich hoch auf, wenn sie in den Kasernenhof hinein sollen, reißen ihre jungen Führer in die Höhe oder ziehen sie im Kreis mit sich herum. Erschreckend, fast schauerlich sieht dieser Kampf zwischen Tier und Mensch in der matten, flackernden Laternenbeleuchtung aus; jedesmal, wenn so ein armer, junger Kerl sich mit seinen Tieren durchs weit geöffnete Kasernentor durchschlagen will, hat man das bange Gefühl, daß ein Unglück geschehen könne, daß die wilden, aufgeregten Gäule ihn zu Boden werfen und zerstampfen könnten. Wie Frau Hiller so steht und mit bangem Herzen sieht, wie einer nach dem anderen von den Husaren seiner schweren Aufgabe Herr wird, wie sie dann auch ihren Jungen erkennt, der mit fester Hand seine Tiere regiert, wie sie seine Stimme hört und seine schlanke Gestalt im weiten, dunklen Kasernenhof verschwinden sieht, da fühlt sie, wie der starre Schmerz, der sie umfangen hält, weicher wird, und fühlt auch nicht mehr diese leere Trostlosigkeit um sich herum. In dem Augenblick, da der Junge wieder in ihrer Nähe ist, weiß sie, daß sie doch nicht überflüssig auf der Welt ist -- ja, daß ihr Leben vielleicht niemals notwendiger gewesen ist als jetzt. Draußen in der Küche rasselt immer noch die Maschine. Die Wachtmeistersleute haben wieder ganze Stapel von Wäschelieferungen für Lazarette fertigzustellen, und sie sind unermüdlich, wenn sie so etwas übernommen haben; sie bringen es dann ohne weiteres fertig, ein paar Nächte lang ihren Schlaf zu opfern. Frau Hiller hat plötzlich den Wunsch, mit ihnen zu sprechen; sie geht hinaus und sieht die Blicke der beiden Frauen staunend und fragend auf sich gerichtet. „Die Freiwilligen sind soeben von Ungarn zurückgekommen!“ erzählt sie, und während sie das sagt, hört sie von der Straße her: „Mutter!“ rufen. Das Herz schlägt ihr ganz laut; sie läuft mit Fräulein Else die Treppe hinab, und der Junge steht vor ihr -- ein wenig bleich, aber voll guter Laune. „Wir haben nämlich für diese Nacht Urlaub!“ erzählt er. „Wer ein Unterkommen in der Stadt hat, kann bis morgen früh dortbleiben.“ Er ist müde und hungrig, und hat vor allem Verlangen nach reiner Wäsche, denn seit zehn Tagen ist er nicht aus den Kleidern herausgekommen. Nun wird die Näherei in der Küche beiseite geschoben; der hungrige, müde Husar geht vor. In der Grude ist heißes Wasser genug, um ein notdürftiges Bad herzurichten; Frau Hiller sucht reine Wäsche hervor, und Fräulein Else kocht Tee und bäckt Eier -- schneidet Brot und legt Aufschnitt zurecht. Der kleine müde Husar wird von allen Seiten umsorgt. Eine halbe Stunde später liegt er satt und wohlig in der Mutter Bett ausgestreckt; er kann es gar nicht sagen, wie gut die weichen Kissen und Decken dem müden Körper tun, versucht noch etwas Zusammenhängendes von der schönen Reise zu berichten, aber die Augen fallen während des Erzählens zu. Die Hand in der Mutter Hand, schläft er ein, und das weiche, junge Gesicht sieht zufrieden und glücklich aus. Frau Hiller bleibt still und von einem großen Gefühl überwältigt bei ihm sitzen. Es ist seit langem das erste Mal wieder, daß sie am Bett ihres schlafenden Jungen sitzt, und durch ihren Kopf ziehen Erinnerungen, -- weit zurückliegende Ereignisse fallen ihr ein. Sie denkt an des kleinen Ernst Vater und an die Jahre der Einsamkeit, die seinem Tod folgten; an die große Angst, die so oft über sie kam, weil der Junge allzu früh anfing, schwer und ernst zu denken und zu grübeln, weil er so selten lachte und jedem Vergnügen aus dem Wege ging. Sie denkt daran, wie sie selbst so traurig durchs Leben ging, bis sich der Freund zu ihr gefunden hatte, der ihr und des Jungen Leben in so vieler Beziehung umgestaltete. Auch dem Jungen ist er Freund gewesen -- ja, ihm ist er eigentlich viel tiefer und ehrlicher Freund und Berater gewesen, als ihr. Und der kleine Ernst hat diese Freundschaft des älteren und bedeutenden Mannes mit so heißer, kindlicher Inbrunst erwidert. Wenn er erfährt, daß dieser beste Freund ihm genommen ist, wird auch in seine Seele tiefer Schmerz einziehen. Ihr Leid ist nun wieder von neuem erwacht -- der Kopf neigt sich, und heiße Tränen fallen auf Ernsts Hand. Man kann nicht in einer Nacht hart werden -- kann nicht in einer Nacht über den Tod eines Menschen hinwegkommen, und all die Liebe und Freundschaft, die ihm gehörte, auf einen anderen übertragen. Eine Frau aber kann sehr wohl zu gleicher Zeit zwei Menschen mit aller Inbrunst ihrer Seele lieben, und besonders zwei so verschiedene Menschen, wie diesen etwas harten, aber hoch über dem Alltag stehenden Mann, der nun irgendwo in der weiten Welt sein Grab gefunden hat -- und den kleinen, zarten, weichen Ernst. Sie fühlt, während sie die warme Hand des schlafenden Jungen in der ihren hält, daß dieses liebe, geliebte Kind ihr den Toten doch nicht ganz ersetzen kann, und wieder muß sie an Großmutter und deren immer wiederholte Mahnung denken: „Der Junge gehört nicht dir, der will sein Leben für sich haben!“ Die Großmutter steht in dieser Nacht so leibhaftig vor ihr -- wie eine Prophetin -- streng, unbestechlich hart und im Grunde doch gut und gerecht. Wenn doch die Großmutter in dieser Nacht bei ihr wäre! Sie ist hilflos; sie hält die Hand ihres Jungen, und ganz verzweifelte Gedanken gehen durch ihren Kopf. Der Krieg will noch so viele Opfer haben. Von allen Seiten wüten die Feinde immer noch gegen Deutschland an, von allen Seiten wollen sie über das Deutsche Reich herfallen, um es zu zerstückeln, zu vernichten! Ungeheure Kräfte gehören dazu, um gegen diese Übermacht anzukommen. Ach, und das Herz ist so oft ruhig und lässig geworden in dieser letzten Zeit, denn da die jungen Freiwilligen bis heute noch nicht eingefordert sind, hat man sich gesagt: ‚Vielleicht werden sie diese Allerjüngsten doch nicht brauchen!‘ und hat sich in Behagen und Sicherheit gewiegt. In dieser Nacht aber sieht Frau Hiller die Dinge, wie sie wirklich sind; in dieser Nacht drängt es sich ihr mit bitterer Klarheit auf, daß sie auch den Jungen hergeben muß, daß alle, alle, die wehrfähig sind, nötig sein werden, um die furchtbaren Pläne der Feinde Deutschlands zu vereiteln, um das Vaterland nicht untergehen zu lassen. Die Hand des Jungen zuckt in der ihren, er wendet das Gesicht ihr zu, schlägt einen Augenblick die Augen auf, sagt ein leises, erstauntes: „Ach, Mutter!“ und schläft weiter. Sie sinkt vor dem Bett ihres Kindes auf die Kniee, lehnt das heiße Gesicht an des Jungen kühle Stirn und streicht leise über das kurz geschorene Haar. Am nächsten Morgen staunt der kleine Husar, als er sich in der Mutter Bett findet. Bis neun Uhr haben sie Urlaub, um sich von den Anstrengungen der Reise auszuruhen. Die Mutter bringt ihm das Frühstück ans Bett und läßt sich nun alles erzählen; sie sorgt für warmes Wasser zum Waschen, und umgibt ihn mit viel kleinen Aufmerksamkeiten, an die er nicht mehr gewöhnt ist. Das tut ihm wohl, und er möchte sich gern noch länger umsorgen lassen, aber die Zeit drängt, der Dienst ruft, und die Wachtmeister haben ihnen angedroht: ‚Wer sich in dieser Zeit etwas zuschulden kommen läßt, der zieht in den Kasten und nicht in den Krieg.‘ Im Osten wird in diesen Wochen heiß gestritten; man sagt, daß eine große Entscheidung nahe bevorstehe. Die Russen haben alle Kräfte auf eine Stelle geworfen; sie versuchen immer wieder neue Durchbrüche, und die jungen Freiwilligen fiebern vor Ungeduld. Ob auch dieser Entscheidungskampf wieder ohne sie ausgefochten werden soll? Es geht hier in der Kaserne alles seinen alten Gang: Man putzt und exerziert, man turnt und reitet die neuen Pferde ein -- alles wie sonst! Eine Woche vergeht und noch eine, und es wird sogar ein großer Teil von den ungarischen Gäulen in andere Garnisonen verschickt. Man ist ganz niedergeschlagen, und der dicke Hipp hat einen Brief an seinen Vater verfaßt, in dem er ihm kurz und bündig erklärt: ‚Ich tue hier nicht mehr lange mit; es ist geradezu lächerlich, daß man uns hier festhält. Lieber gehe ich zur Infanterie, denn die braucht man doch wenigstens!‘ Und dann kommt ein Sonntag, der genau so anfängt wie alle anderen Sonntage: Stalldienst -- Kirchgang -- Briefappell -- und die verlängerte Mittagspause! Um vier Uhr hat man wieder zur Stelle zu sein, um zu hören, was für den nächsten Tag bestimmt ist. Hipp und Hiller haben ihre Freundinnen für sechs Uhr ans Tor bestellt und sind schon in Extrauniform. Hiller will aber zuvor noch eine Stunde mit der Mutter spazieren gehen, denn wenn er sich ihr am Nachmittag widmet, kann er sie am Abend mit ruhigerem Gewissen allein lassen. In Reih’ und Glied stehen sie auf dem Kasernenhof und staunen, daß außer dem Wachtmeister auch einer von den Offizieren anwesend ist. Sie sehen sich an und wissen nicht, was sie davon halten sollen; es liegt überhaupt irgend etwas Besonderes in der Luft -- man hat auf einmal das ganz sichere Gefühl, daß heute noch etwas Großes, Bedeutsames geschehen wird. Und es kommt wirklich! Es kommt -- längst erwartet und ersehnt -- und wirkt doch wie ein Blitz aus heiterem Himmel. „Also, Freiwillige, nun ist auch für euch der große Tag gekommen!“ ruft der Offizier aus, und die Herzen der Freiwilligen zucken in jäher Freude auf. „Im Osten sind Verstärkungen nötig. Unter unserem großen Feldmarschall werdet ihr kämpfen!“ Da schallt es aus den jungen Kehlen: „Bravo! -- Bravo! -- Hurra! -- Hoch!“ Die Vorgesetzten lassen den Sturm der Begeisterung zur Ruhe kommen. „Wer nicht mit will, der trete vor!“ Aber keiner von den Hundertfünfzig, die hier auf dem Platz stehen, tritt vor. „Also, alle wollt ihr mit!“ Und es wird abgezählt und die Namen werden verlesen. „So, nun habt ihr eine halbe Stunde für euch frei! Dann antreten, um eure Ausrüstung in Empfang zu nehmen!“ Sie sind wie die Tollen; ein jeder stürmt, um den Seinen das große Ereignis mitzuteilen. Diejenigen, die in der Stadt wohnen, laufen zu den Eltern hin; die anderen setzen Depeschen auf. Hipp läßt sich’s etwas kosten. Seine Depesche wird so lang wie ein Brief. Hiller ist zur Mutter ins Zimmer gestürmt und kann kaum sprechen. „Mutter, Mutter -- übermorgen geht’s ins Feld!“ Und liegt an ihrem Hals und küßt sie. „Nicht weinen! Es ist doch so wunderschön, daß es endlich losgeht! Bitte, nicht weinen! Du hast’s doch gewußt, daß es einmal kommen würde!“ Aus der Küche stürzt die Wachtmeistersfrau mit ihrer Tochter herein: „Ja, ist es denn wahr, was die Leute unten erzählen -- ziehen Sie denn nun wirklich los?“ Alles ist aufgeregt; die Leute stehen auf der Straße zusammen, und an der Kaserne versammeln sich immer mehr Menschen. Die Freiwilligen stehen in großen Haufen beieinander, und ihre Gesichter strahlen. Endlich! Endlich! In den Kleiderkammern liegen die feldgrauen Uniformen bereit; und es geht alles prachtvoll glatt. Ein paar Unteroffiziere sind zur Hilfe herankommandiert, und nach Verlauf einer guten Stunde stehen sie alle in der neuen Ausrüstung da. Nun: Antreten zum Kirchgang -- zum Dom! Gottesdienst und heiliges Abendmahl! Hipp stößt Hiller an. „Verteufelt, unsere Mädchen unten am Stadttor!“ Ach, in der kleinen Garnison wird heute wohl gar manches Mädchenherz bluten; natürlich wissen sie längst Bescheid -- denn die ganze Stadt weiß ja schon von der großen Neuigkeit. Von nun an geht alles wie ein Rausch an ihnen vorüber: die Kirche und das Abendmahl und die eindringliche Mahnung des Geistlichen: „Vergeßt das Beten nicht!“ Dann wieder zur Kaserne zurück -- man erhält wieder Instruktionen -- ein kurzer Urlaub, und der Tag ist zu Ende. Sie sind alle wie von einem Taumel ergriffen; keiner fragt nach Vater und Mutter! Ihr Herz ist so leicht und froh und begeistert! Diese Jüngsten, die hinausziehen, um’s bedrängte Vaterland zu schützen, sie sind wirklich die einzig Beneidenswerten! Keine Sorge drückt sie -- keine Verantwortung lastet auf ihnen -- sie haben den wundervollen Mut und die große Siegessicherheit, die eben nur die ganz junge Jugend haben kann! Für sie gibt’s nur zwei Möglichkeiten: Sieggekrönt nach Hause kommen oder sterben! An anderes denken sie nicht! Am nächsten Tag werden sie vom Morgen bis zum Abend furchtbar stramm herangenommen: Instruktionen -- Probekochen -- Reiten in voller Ausrüstung -- Verteilung von Karabinern, Munition, Satteltaschen und Futtereimern! Dann Packen und die Schränke in den Stuben der Kaserne ausräumen! Sie kommen gar nicht zur Besinnung. Von überallher sind Väter und Mütter angereist gekommen. Die kaufen in der Stadt an Lebensmitteln zusammen, was nur aufzutreiben ist, denn die jungen Freiwilligen müssen sich für eine ganze Reihe von Tagen verproviantieren. Und warme Kleidungsstücke kaufen sie ein; die Mütter sind alle so entsetzt, daß es nun doch nach Rußland geht! -- mitten im Winter nach Russland! Frau Hiller hat für ihren Jungen eine Pelzweste und Pelzschuhe zum Unterziehen gekauft; aber er will nichts davon wissen. „Blödsinn, das ist doch Überfluß -- besonders die Pelzschuhe!“ und er will die Dinger gar nicht anprobieren. Die Mutter kniet vor ihm, wie sie vor ihm gekniet hat, als er noch ein kleines Kind war; wenn sie ihm da Schuhe kaufte, wollte er auch nicht anprobieren, und sie mußte ihn immer erst mit guten Worten dazu bringen. Hipp kommt gerade dazu, als der kleine Kampf zwischen Mutter und Sohn stattfindet. „Mensch, sei doch kein Frosch!“ sagt er. „Wenn deine alte Dame dir so teures Zeug kauft, dann nimm es doch mit Dankbarkeit an. Ich habe übrigens auch solche Dinger!“ Daraufhin gibt Hiller sich zufrieden. Die letzte Nacht in der Kaserne! Die Jungen schlafen wie die Bären. Viele von ihnen haben mit den Eltern im ‚Schwan‘ großartig zu Nacht gespeist und fallen nun todmüde auf ihre Strohmatratzen. Ob Mütter weinen, ob Väter mit schwer bedrückter Seele in dieser Nacht kein Auge zutun, was wissen sie davon? Sie wissen nur das eine: „Wir kämpfen mit -- wir helfen eine große Entscheidung herbeiführen!“ Dann der letzte Tag! Die Instruktionen nehmen kein Ende. Man bekommt noch die eiserne Ration geliefert: einen Beutel Zwieback, Erbswurst, eine Büchse mit Fleischkonserven, Salz und ein Päckchen gemahlenen Kaffee. Das ist für den äußersten Notfall, wenn der Hunger schon sehr stark plagt; eher darf man diesen Bestand nicht anrühren. Die Stunden fliegen dahin; für zwei Uhr ist der Extrazug bestellt. Hiller läuft ab und zu einen Augenblick zur Mutter hinüber und läßt sich erklären, wie sie die Sachen in den Satteltaschen und einer Extratasche verstaut hat; -- sie ist sehr bleich, ihre Hände zittern, aber sie weint nicht. Gott sei Dank, daß sie nicht weint! Hiller hat vor nichts auf der Welt mehr Angst als vor den Tränen der Mutter. Die Wachtmeistersfrau hat ein Beefsteak gebraten und ein paar Eier darüber geschlagen, aber der kleine Husar ist zu aufgeregt, er hat gar keine Lust zum Essen. Fräulein Else redet ihm zu, die Wachtmeistersfrau füttert ihn fast, und die Mutter steht am Fenster und sieht mit starren Augen auf die Gruppe. Teufel, wie die Zeit verfliegt! In zwei Minuten muß er fix und fertig sein. Der schwergefütterte graue Mantel, der mächtige Falten schlägt, macht aus dem schlanken Jungen eine Kolossalfigur. Der Ledergurt mit Säbel, Patronentasche und Revolver ist so eng, daß er nur mit Mühe geschlossen werden kann. Nun noch der Karabiner auf den Rücken und die Lanze über den Arm! Neben die Kokarde der mit feldgrauem Tuch überzogenen Pelzmütze hat Fräulein Else einen Maiglöckchenstrauß gesteckt. Der kleine Ernst lacht -- er lacht sein goldenes, liebes Kinderlachen. Nimmt die Hände der Mutter und sieht ihr strahlend in die Augen. „Wie gefalle ich dir, Mutter?“ Sie kann nicht sprechen, aber sie will auch nicht weinen. Ihr Gesicht verzieht sich nur. „Lebe wohl, Mutter! Nachher kann ich dir doch nicht mehr richtig Lebe wohl! sagen.“ Er hält sie einen Augenblick in den Armen und küßt sie ein paarmal. „Leb wohl, Mutter, und sei nicht traurig!“ Dabei strahlen die Augen immer heller, und der Mund lacht. Sie beißt sich in die Lippen, und er hängt noch einmal an ihrem Hals, dann reißt er sich los. „Leb wohl, wir sehen uns ja drüben noch!“ Er stürmt hinaus; Fräulein Else bringt nun auch für Frau Hiller Hut und Mantel, und sie gehen alle drei zur Kaserne hinüber. Da gibt’s jetzt in den großen Höfen fast mehr Zivilpersonen als Militär. Die Freiwilligen haben sich zu Reihen geordnet, und die Wachtmeister und ein paar Offiziere stehen vor ihnen. Überall hört man Schluchzen, sieht verweinte Frauengesichter, und die Väter gehen mit ernsten Augen auf und nieder. Die Namen werden noch einmal aufgerufen. Keiner fehlt -- alle sind sie zur Stelle. Kopf an Kopf stehen sie da, feierlich, in der grauen Uniform, und bieten doch ein heiteres Bild, weil ihre Gesichter strahlen, und weil ein jeder Blumenschmuck an der Mütze oder im Knopfloch trägt. „Kameraden,“ beginnt der Rittmeister seine Rede, „nun ist die Stunde des Abschieds gekommen; nun verlaßt ihr eure Heimat, eure Eltern, um im gewaltigen Ringen der Völker mitzutun. Unser großer Feldmarschall im Osten hat euch gerufen. Zeigt euch dieses Rufes würdig! Noch hat der Krieg keine endgültige Entscheidung gebracht, aber +die+ Gewißheit ist uns doch schon geworden, daß der Feind trotz seiner Übermacht unser teures Vaterland nicht vernichten wird. Seid tapfer und todesmutig! Seid ebenbürtig euren Vorfahren -- jenen großen Freiwilligen von 1813! Zieht hinaus mit Gottes Segen, begleitet von den Wünschen derer, die euch ausbildeten, begleitet von der Liebe und Sorge eurer Eltern! Kämpft für das teure Vaterland und kämpft für den, der an der Spitze des Deutschen Reiches steht: für unseren großen, geliebten Kaiser! Kaiser Wilhelm der Zweite -- unser oberster Kriegsherr -- er lebe hoch -- hoch -- hoch!!“ Heiß schallt der Ruf aus den Kehlen der jungen Freiwilligen und derer, die zu ihnen gehören. Dann: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall!“ Über den Hof schallen die Kommandos und in festem Schritt geht es aus dem Kasernentor hinaus. Draußen stehen die Leute vor den Häusern und winken und rufen: „Hoch, hurra -- lebt wohl, auf Wiedersehen!“ Kleine Mädchen reichen ihren Liebsten zum letzten Male die Hand. Zu Hiller drängt sich die kleine Blonde mit den blauen Augen und dem kecken Näschen; sie gibt ihm eine Blume und drückt ihm die Hand, steht dann in einem Torweg ganz nahe bei Frau Hiller und schluchzt laut auf, schluchzt weh und schmerzlich, und Frau Hiller fühlt eine namenlose Zärtlichkeit für dieses junge Geschöpf, das um ihren Ernst weint. Sie legt ihr die Arme um den Hals und zieht sie an sich. „Du Herziges, du -- du erste Liebe meines Jungen!“ Und das Mädchen hält einen Augenblick stand, schluchzt noch einmal am Herzen der fremden Frau auf und läuft scheu davon. -- -- -- Vorbei! Der Zug ist zu Ende! „Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus!“ verklingt es um die Ecke. Fräulein Else faßt Frau Hiller am Arm. „Sehen Sie, wie alle mit zum Bahnhof hinausziehen! Wollen wir nicht auch mit?“ Und wie im Traum wandert sie mit all den anderen den singenden Truppen nach -- erst den Flußweg entlang, dann über die Felder -- noch über ein paar Straßen hin und durchs Bahnhofsgebäude durch. Der Extrazug nach dem Osten steht schon bereit. „Einsteigen!“ kommandieren die Wachtmeister, und Ulanen und Husaren schwirren durcheinander. Im Nu sind alle Wagen gefüllt. Der kleine Hiller will noch einmal zu seiner Mutter, die an einer Säule gelehnt steht, herauskommen; aber es geht nicht. Die Türen werden zugeschlagen, und Soldaten drängen mit ihren Karabinern das Publikum, das bis dicht an den Zug herangekommen ist, zurück. Noch ein Zurufen -- ein Winken -- dann zieht die Lokomotive an, und langsam, langsam gleitet der Zug hinaus. Weiße Tücher flattern in der Luft. Verlorene Klänge eines Marschliedes dringen noch zu den Ohren der Zurückbleibenden, dann nichts mehr! Der Zug hat die große Schwenkung nach rechts gemacht! -- -- Öd und flach liegt das Altmärkische Land, und man sieht in Unendlichkeiten hinein. „Nur nicht weinen -- nicht wehklagen! Hart sein -- deutsch sein! Sich freuen, daß man solche Söhne hat!“ Irgend jemand sagt das dicht an Frau Hillers Seite zu einer Frau, die ganz haltlos schluchzt. Sie geht wie im Traum neben Fräulein Else zum Bahnhof hinaus, und da es regnet, nehmen sie einen Wagen, der sie zur Kaserne bringt. Bei der Wachtmeistersfrau in der Küche sitzen ein paar Leute, und einer schreit auf: „Wahnwitzig ist die Welt geworden! Verflucht und tausendmal verflucht jene ruchlosen Köpfe, in deren Hirn der teuflische Gedanke entstand, die Völker gegeneinander aufzuwiegeln!“ Und heißes, verzweifeltes Weinen dringt heraus. -- Wildes, unbändiges Weinen, das schon mehr Schreien ist. Frau Hiller schleicht an der offen stehenden Küchentür vorbei. Sie mag das nicht sehen und hören; sie will ruhig sein und will sich freuen, daß sie einen Sohn hat, der dem Vaterlande dient. Sie setzt sich ans Fenster des kleinen Wohnzimmers und schaut zur Kaserne hinüber, wie sie das so oft, so oft getan hat in all diesen vielen Wochen und Monaten. Das Herz zuckt, aber sie will sich dem Schmerz nicht hingeben. -- -- Zwei Tage später wartet Großvater an der Station, in der der Schnellzug aus der Altmark einlaufen soll, im Wagen auf die Schwiegertochter. Er ist viel zu früh gekommen und schaut immer wieder auf seine Uhr, denn es ist kalt, und trotz des Pelzmantels, den er trägt, fröstelt ihn. Großmutter hat nicht gewollt, daß er selbst herausfuhr, aber er hat sich nicht abreden lassen. Endlich kommt sie -- ein wenig bleich, aber doch viel gefasster, als er erwartet hatte. Sie sagt ganz fest und laut: „Guten Tag, Großvater!“ Er drückt ihr beide Hände und sagt zweimal: „Das ist recht, Maria, das du den Kopf nicht hängen läßt! Der Junge steht in Gottes Hand!“ Er hilft ihr einsteigen und läßt das Gepäck aufschnallen, und während der Fahrt erzählt er von allen möglichen Dingen, um sie abzulenken. Erst ganz zuletzt, als sie schon fast am Ziel sind, bringt er sehr schüchtern die Frage, die ihm schon lange auf den Lippen gelegen hat, vor: „Und dein Freund, Maria -- wie geht es ihm?“ Aber da sie nicht antwortet, weiß er genug, nimmt ihre Hand in die seine, streichelt sie und sieht sehr bekümmert, sehr traurig aus. Großmutter steht in der Tür des Hauses. Mit ausgebreiteten Armen kommt sie auf die Mutter ihres Enkels zu. Ihre Augen sind voll Tränen, und auch sie sagt: „Der Junge steht jetzt in Gottes Hand! Sei willkommen, Maria!“ und zieht die Schwiegertochter ins Haus hinein. Am Abend sitzt sie neben ihr auf dem Rand des Bettes. Die Müller hat das Sommerwohnzimmer, das im Winter wenig benutzt wird, zum Schlafraum hergerichtet. Schöne, alte, behagliche Möbel stehen darin, und durchs Fenster hat man einen weiten Blick auf Fluß und Berge. „Nun sollst du bei uns erst ganz gesund werden, Maria. Denn wenn du dir auch Mühe gibst, stark zu sein, so sieht man doch, daß dich’s sehr mitgenommen hat, und das ist ja auch nur natürlich. Du mußt aber ganz fest und gesund werden, denn wenn der Junge dich ruft, wenn Gott es so fügt, daß er krank oder verwundet wird und dich braucht, dann will er natürlich eine starke Mutter haben, und darum warten wir noch ein bißchen mit dem Pflegen in den Lazaretten, von dem du sprachst; denn den Kranken wohltun kann nur ein ganz gesunder und nervenstarker Mensch, und das bist du jetzt noch nicht! Es ist jetzt alles dunkel um dich her, das weiß ich wohl, aber es wird auch wieder schön und hell werden. Sieh, ich bin auch durch große Finsternisse gewandert, Kind, -- ich war an allem, was mir sonst heilig war, irre geworden! Nun habe ich mich aber wieder zurechtgefunden und sage mir: Gott wird wissen, warum er dieses Strafgericht in die Welt geschickt hat -- aber er wird die Gerechten nicht untergehen lassen. Bis heute ist er ja so herrlich mit uns gewesen und hat die ruchlosen Pläne unserer Feinde, die unser Land in Stücke schlagen wollten, zu schanden gemacht. Weißt du noch, wie wir im Anfang davor zitterten, daß die Russen bis nach Berlin vordringen würden?“ Während sie das sagt, löst sie leise das Medaillon, das sie damals ihrer Schwiegertochter für den Fall der äußersten Not gab, von deren Hals und läßt es in ihre Tasche gleiten. „Das brauchst du nun nicht mehr, Maria. Komm, wir wollen beten! Ich habe meinen Gott wiedergefunden.“ Und sie schlingt die Hände um die Marias und betet laut und inbrünstig, wie sie immer zu beten pflegte: „Vater unser, der du bist im Himmel. -- So, nun schlaf, mein Kind, und hier hab’ ich dir die Baldrianflasche hingestellt für den Fall, daß du Herzklopfen hast, und auch ein Buch zum Lesen. Ich bin ja sonst nicht für das Lesen bei Kerzenlicht, aber es ist immerhin noch besser, als trüben Gedanken nachhängen. Gute Nacht, Maria, gute Nacht, mein liebes Kind, und wenn es dir schwer ums Herz wird, dann denke immer: Der Junge steht in Gottes Hand.“ Draußen sagt sie zur Müller: „Morgen früh müssen Sie ganz leise sein beim Reinemachen, Müller. Sie soll sich ausschlafen, denn sie ist doch sehr mitgenommen.“ Im Zimmer aber muß sie den Kopf an Großvaters Schulter legen; ihr Herz ist sehr schwach geworden, und sie weint bitterlich. Großvater streichelt und tröstet sie, aber auch er ist sehr niedergeschlagen. Er liebt den Enkel, wiewohl es gar nicht sein richtiger Enkel ist; er liebt ihn seines guten treuen Wesens wegen und liebt ihn ganz besonders, weil er trotz des zarten Körpers standgehalten hat und nun stark genug ist, um gegen Deutschlands Feinde zu ziehen. Er streichelt das Gesicht der alten, weinenden Großmutter und sagt mit zitternder Stimme: „Nicht weinen! Der Junge steht in Gottes Hand!“ Verlag von +Egon Fleischel & Co.+ / Berlin W 9 Die Werke von Helene von Mühlau Nach dem dritten Kind Aus dem Tagebuch einer Offiziersfrau Preis: geh. M. 3,--; geb. M. 4,-- =Fedor von Zobeltitz= in einem Feuilleton der =Hamburger Nachrichten=: ... Ich wünsche diesem Werke weiteste Verbreitung: „Nicht nur, weil es grausame Wahrheit in eine Sprache schlichter Empfindung kleidet, sondern weil es ohne Aufdringlichkeit zu den Enterbten des Glückes redet, die da vermeinen, das Elend der Armut wohne nur bei ihnen, zwischen den kahlen Wänden des Proletariats. Ich glaube, daß niemand diese einfache Geschichte ohne tiefe Erschütterung lesen wird; sie ist wie +ein Schrei aus tiefster Not -- ein Schrei, der gehört werden müßte+.“ Hamtiegel Eine Geschichte aus den Kolonien. Preis: geh. M. 3,50; geb. M. 4,-- =Kölnische Zeitung=: ... Ein reizvoll humoristisches Buch. Die von uns wiederholt anerkannte Schriftstellerin erzählt uns von einem in mittlern Lebensjahren stehenden Hauptmann und Stationschef in einer afrikanischen Kolonie, der ursprünglich entschiedener Ehefeind war, aber in der Einsamkeit seiner Kolonie und bei der schlechten leiblichen Versorgung langsam auf den Gedanken gerät, die Ehe möchte für ihn doch der bessere Teil sein. Das Buch steht ganz erheblich über der Stufe einer gewöhnlichen lustigen Humoreske dadurch, daß in diesem komischen Hauptmann und Stationschef mit tieferm psychologischen Blick ein echt deutscher Männercharakter gezeichnet wird, wobei über dem Ganzen der Hauch eines hinter aller Komik deutlich durchleuchtenden warmen Gemütslebens sich angenehm erkennbar macht. Man lacht nicht einfach über die lustige Geschichte, sondern man hat auch den Genuß, daß hier mit gutem Geschmack deutsches Wesen nach der drolligen Seite lebensecht beleuchtet wird. Die zweite Generation Roman. Preis: geh. M 5,--; geb. M. 6,50 =Doris Wittner= in der =Vossischen Zeitung=: ... Das Buch der Helene v. Mühlau ist mehr als nur ein Buch der Unterhaltung oder künstlerischen Anregung; es ist ein Buch sozialer Erkenntnis, ein Dokument geschlossener Weltanschauung. Ein Frauenbuch im besten Sinne, denn es schenkt Menschheitswerte. Sie sind gewandert hin und her Roman. Preis: geh. M. 3,50; geb. M. 5,-- =Allgemeine Zeitung= (München): Es hält uns in den Bekenntnissen der jungen Frau ein warmer Gemütston in seinem Bann. Die Schilderungen chilenischen Lebens und Treibens verleihen dem Roman einen besonderen Wert. Sie zeugen von einer feinen Beobachtungsgabe und gehören in ihrer Anschaulichkeit und Gründlichkeit zum Besten, was wir über die südamerikanische Republik gelesen haben. Liviana Saltern-Santos Ein chilenischer Roman. Preis: geh. M. 5,--; geb. M. 6,50 Das =Echo=: In „Sie sind gewandert hin und her“ hat die nun schon bekannte und beliebte Verfasserin ein Bild des chilenischen Lebens geliefert, wie es sich im Auge des Zugewanderten malt, und sie hat mit diesem tiefempfundenen Buche an viele Herzen zu rühren gewußt. In dem vorliegenden Roman ist es nicht mehr die Fremde, die -- fremd im fremden Lande -- die vielgestaltige Neuheit einer eigenartigen Kultur auf sich wirken läßt, es ist vielmehr der Roman dieser Kultur selbst am Wendepunkt ihrer Entwicklung. Beichte einer reinen Törin Roman. Preis: geh. M. 3,50; geb. M. 5,-- =Arbeiter-Zeitung= (Dortmund): (Inhalt)... Das ist das Thema des Buches, das uns viele intime Einblicke in der Frau tiefstes Seelenleben tun läßt, das zwar mit rücksichtsloser, jeder Prüderie abholder Wahrheitsliebe, zugleich aber auch mit großer Feinheit und echter Dezenz die Aufgabe löst, die es sich gestellt hat. Das Kätzchen Roman. Preis: geh. M. 3,50; geb. M. 5,-- =Rheinisch-Westfälische Zeitung=: Helene von Mühlau hat mit gewohnter Sicherheit diese „Fabel“ in eine vornehm geschilderte Umgebung gestellt; sie wägt das Künstlermilieu fein gegen die Gesellschaftswelt der Offiziersehen ab und dringt zur reinen Menschlichkeit vor, wenn sie zeigt, was Maske ist und Maske bleiben muß. Das Frauenhafte an dem Buch ist vor allem das Glücksstreben, das die Künstlerin schließlich als Lebensinhalt empfindet, während der Mann doch das Wirken über das Glück stellt. =Neue Freie Presse=: Das Porträt dieser Frau ist mit aller psychologischen Feinfühligkeit, die man an Helene von Mühlau kennt, gezeichnet. Eine irrende Seele Roman. Preis: geh. M. 5,--; geb. M. 6,50 =Leipziger Illustrierte Zeitung=: Von den vielen neueren Romanen, die dieses Thema (die unverstandene Frau) ausführlich behandeln oder doch streifen, erscheint mir „+Eine irrende Seele+“, bei weitem als der echteste und glücklichste, weil er bei der Feinheit der psychologischen Zeichnung absolut keine Verteidigung dieses unglücklichen Frauentypus darstellt, sondern im Titel wie in der Handlung klar die tragische Schuld der Heldin in sich selbst legt. Es ist ein trauriges Buch, aber eines, das man voll innerer Läuterung aus der Hand legt. Ein Buch, das einen solche Frauen verstehen lehrt, uns aber auch die Krankheit ihrer Seelen nicht beschönigt. (Inhalt.) Alles in allem ist das Werk seiner ehrlichen Wahrhaftigkeit und des Erkennens einer Zeitkrankheit wegen ein ungewöhnlich gutes und lobenswertes Buch. Das Witwenhaus Roman. Preis: geh. M. 5,--; geb. M. 6,50 =Frankfurter Zeitung=: Mit einer ungewöhnlichen Sicherheit in der Charakteristik führt uns die Schriftstellerin all diese Weiblein, ihre Schicksale und Intrigen vor. Mit einer ungewöhnlichen Sicherheit schlingt sie alle Fäden ihrer Erzählung durch dies Haus, das wie ein lebendiges Wesen wird. Dabei begegnen wir überall jener tüchtigen Realistik in der Schilderung des Zuständlichen wie des Psychischen, wie sie gerade schreibenden Frauen von epischem Talent eigen ist. Ehefrauen Novellen. Preis: geh. M. 3,--; geb. M. 4,-- =Saale-Zeitung=: Wenn doch dieses Buch Mode würde! Wieviel künftiges Eheunglück könnte vermieden, wieviel gegenwärtiges geklärt und so vielleicht gemildert oder ganz geheilt werden! Denn diese Novellen zwingen jeden Leser zum Nachdenken. Gesetzgeber sollten verpflichtet sein, Helene von Mühlaus „Ehefrauen“ eingehend zu studieren, alle anderen Erwachsenen aber sollten wenigstens das Bedürfnis haben, diese Novellen zu lesen. Sie nützen sich damit viel, sehr viel. +F. E. Haag+, Melle i. H. *** End of this LibraryBlog Digital Book "Der Kriegsfreiwillige" *** Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.