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Title: Das zweite Gesicht - Eine Liebesgeschichte
Author: Löns, Hermann
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Das zweite Gesicht - Eine Liebesgeschichte" ***


    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text
    ist _so ausgezeichnet_.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



[Illustration]



    Hermann Löns

    [Illustration]

    Das zweite Gesicht

    Eine Liebesgeschichte

    Sechzehntes bis dreiundzwanzigstes Tausend

    Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1917



Vorspuk


Die Brennhexe lag im Moore und schlief. Da kam der Südostwind
angegangen und kitzelte sie mit einem Grashalm in der Nase, so daß sie
niesen mußte, und davon wachte sie auf.

Sie gähnte herzhaft, reckte sich, sprang auf, schüttelte ihre Röcke
zurecht, klopfte sich die Schürze glatt, bückte sich über eine
Torfkuhle, um zu sehen, ob ihr Haar noch in Ordnung sei und ob die
Haube nicht schief sitze, stemmte die Hände auf die strammen Lenden,
wiegte den Kopf hin und her, lächelte, summte eine frische Weise vor
sich hin und tanzte los.

Schön war das anzusehen, wie sie sich herumdrehte, daß der feuerrote
Rock, die knallgelbe Schürze und die schwarzen Bindebänder an der
goldenen Haube nur so flogen; so schön war das anzusehen, daß dem
dürren Moose, dem mürben Wollgrase und dem trockenen Haidkraute ganz
sonderbar zu Mute wurde, denn sie bekamen allerlei Hübsches zu sehen:
die Schleifenschuhe mit den roten Absätzen, die weißen Strümpfe mit
den grünen Zwickeln, die blauen Strumpfbänder und was es sonst noch
gab. Darum verliebte sich alles, über dem der rote Rock und das weiße
Hemd sich drehte, so sehr in sie, daß es auf einmal lichterloh brannte,
sogar der stumpfsinnige Torf; aber als er mit heißen Händen nach den
strammen Waden packte, juchte die Brennhexe auf und sprang ein Ende
weiter.

So ging es eine ganze Weile. Sie tanzte hier, sie tanzte da; aber
sobald die Flammen sie in die Beine kneifen wollten, wipps war sie
schon anderswo und drehte sich dort umher, und ging es da ebenso, wupps
war sie wieder fort, und die Flammen machten lange Hälse hinter ihr her.

Doch auf die Dauer wurde ihr das ledige Tanzen zu langweilig; sie blieb
stehen, daß das weiße Hemd über der runden Brust auf- und abging,
hielt die Hand über die Augen und sah über das Moor, das ganz weiß vom
Wollgrase war.

Mit einem Male erblickte sie dort, wo hinter den Birkenbüschen
Wasser blitzte, etwas Rotes, das hin- und hersprang, und das war
ein menschliches Angesicht, und es gehörte zu einem Manne im grünen
Rocke, der ein Schießgewehr auf dem Rücken trug, an dem Rucksacke drei
Birkhähne hängen hatte, und mit dem Springstocke über die Gräben und
Abstiche hinwegsetzte.

»Deubel auch!« sprach die Brennhexe und lachte; »das ist aber ein
glatter Danzeschatz für mich; der kommt mir gerade paßlich.« Sie ging
schneller, aber sie konnte den Mann nicht einholen. Sie hielt die Hände
um den Mund und rief: »He, du!«, aber der Jäger hörte sie nicht. Sie
versuchte zu flöten; doch damit hatte sie erst recht kein Glück.

So lief sie denn, was sie laufen konnte, blieb ab und zu stehen und
schrie: »He!« und »Holla!« oder »Teuf!«, bis der Mann, als sie schon
ganz außer Atem war, sich endlich umdrehte und nach ihr hinsah. Sie
winkte ihm zu, aber da merkte der Jäger, mit wem er es zu tun hatte,
setzte den Springstock ein und machte, daß er weiter kam.

»Du Flegel!« schimpfte die Brennhexe und lief wieder hinter ihm her, so
daß er hin- und herspringen mußte, denn sie kam ihm immer dichter auf
die Hacken. Als es gar nicht mehr anders ging, sprang er in einen alten
Abstich, warf Gewehr und Rucksack von sich, duckte sich so tief, daß
ihm das Wasser bis an die Brust ging und wartete, bis das verliebte
Frauenzimmer an ihm vorbeigerannt war.

Dann stieg er heraus, schüttelte sich, lachte, hängte den Drilling und
den Rucksack um, nahm den Stock wieder zur Hand und sprang nach der
anderen Seite hin über das schwelende Haidkraut, den glimmenden Torf,
an den knisternden Wachholderbüschen und den lichterloh brennenden
Krüppelkiefern vorüber, ab und zu hinter sich sehend, wo alles ein
Rauch und eine Glut war. Einmal blieb er stehen, verpustete sich und
zog ein Büschel Torfmoos aus, das er aus einem Graben riß; aber da
sah er auch schon das rote Gesicht der Hexe hinter sich und hörte die
gemeinen Schimpfworte, die sie ihm nachschrie, und so sprang er dahin,
wo der Bach an den Wiesen vorbeilief.

Erst als er den hinter sich hatte und an dem großen Weidenbaume
angekommen war, machte er Halt, ließ den Stock fallen, hängte die
Büchse an den Baum, legte den Rucksack ab, warf sich in das Gras,
lehnte den Rücken gegen den Stamm und atmete tief, dahin sehend, wo
die Brennhexe stand und ihm mit der Faust drohte, während um sie her
allerhand schwarze und graue Gesichter nach ihm hinglotzten, ihm
Fratzen schnitten, Ruß nach ihm spuckten, Rauch nach ihm pusteten und
ihm ihre roten Zungen ausstreckten. Er lachte sie aus, machte ihnen
eine lange Nase, steckte sich eine Pfeife an und blies dem Gelichter
den Dampf entgegen, mit kleinen Augen nach ihm hinsehend.

Die grauen Fratzen verzogen sich langsam, und auch die Brennhexe
war verschwunden; aber nun kam ein Mädchen über das ausgebrannte
Moor gegangen. Schlank war es und hatte einen stolzen Schritt; ihr
aschblondes Haar sah sanft aus, ihre Augen hatten einen zärtlichen
Glanz, und ihre Hände waren weiß und sehr klein. Sie nahm damit an
beiden Seiten ihr Kleid auf; das war von weißem Wollstoffe und so lose
geschnitten, daß es schöne Falten warf; der Halsausschnitt und die
halblangen, weiten Ärmel waren mit einer goldenen Borde besetzt.

Immer näher kam das Mädchen, ging gerade auf ihn zu und blickte ihn mit
freundlichen Augen an; die kamen ihm erst schwarz vor, dann meinte er,
sie wären braun, und schließlich sah er, daß sie blau waren, blau mit
goldenen Blumen darin. Da erkannte er das Mädchen, nickte ihm zu und
rief: »Swaantje, wie kommst du denn hierher?«

Davon wachte er auf und merkte, daß er eingeschlafen war und geträumt
hatte; aber er war über den Traum so erschrocken, daß ihm das Herz
bis in den Hals hinein schlug. Er stand auf, warf die Büchse über
den Rücken, stellte den Springstock in den Busch und sah sich nach
seinem Hute um, bis ihm einfiel, daß der ihm vom Kopfe geflogen war,
als er vor der Brennhexe fortlaufen mußte. Er lachte und ging langsam
dem Walde zu, in dem der wilde Täuber ihn bedauerte: »O du, du, du!«
rief er; aber der Häher lachte den Jäger aus, weil er so schwarz und
schmierig im Gesichte aussah und nichts davon wußte; er flog vor ihm
her und schrie in einem fort: »Ätsch, ätsch, ätsch!« Doch als der Jäger
ihm drohte und zum Spaß nach der Flinte griff, kreischte der bunte
Vogel laut auf: »Nein, nein!« schrie er und flog schnell in den tiefen
Wald hinein.

»Du lieber Himmel, Herr Hagenrieder«, rief die Wirtin vom Blauen Himmel
und schlug die Hände zusammen; »wie sehen Sie denn aus!« Als der Jäger
ein dummes Gesicht machte, drehte sie ihn an der Schulter um, daß er
in den Spiegel sehen mußte, und da lachte er, denn er war schwarz und
grau gestreift von Ruß und Schweiß. Die Wirtin hatte die Hände auf die
Hüften gestemmt und lachte, daß ihre Zähne blitzten.

»Auch noch auslachen!« rief der Jäger, faßte sie um und küßte sie so
lange, bis sie ebenso aussah, wie er, und ihn halb böse, halb verliebt
ansah; er aber lachte und sagte: »So, nun haben Sie nichts mehr vor
mir voraus, und jetzt muß ich für drei Taler Waschwasser und drei
Handtücher auf mein Zimmer haben, und wenn ich wieder herunterkomme,
ordentlich etwas zu essen und zu trinken, denn die Brennhexe hat mich
über das ganze Moor gejagt.« Da wurde die Frau ganz blaß und sagte:
»Und ich dachte, Sie hätten bloß ein bißchen beim Löschen geholfen.«

Er stieg die Treppe hinauf und ging in sein Zimmer, legte sein Zeug
ab, wusch sich von oben bis unten und zog einen städtischen Anzug
an. Als er vor dem Spiegel stand, die Halsbinde zur Schleife band
und die gleichfarbige Schärpe um den Leib knüpfte, mußte er wieder
an Swaantje denken. Er hatte sie einmal zu einem Ausfluge abgeholt,
und weil es sehr heiß war, kam er in weißer Bluse und mit gegürteten
Lenden, die Jacke auf dem Arme. »Reizend siehst du aus, Vetter Helmold,
ganz reizend«, hatte das Mädchen ausgerufen und vor Vergnügen in die
Hände geklatscht; »ich finde, Westen sind scheußlich, und warum die
Männer selbst bei dieser Hitze dreifaches Zeug anhaben, das verstehe
ich nicht. Und sieh bloß, wir sind ja ganz auf eine Melodie gestimmt:
beide in Weiß und Weinrot! Hast du dich vielleicht vorher bei Fride
erkundigt, was ich anziehen wollte?«

In der Eisenbahn saß ihm ein junges Mädchen gegenüber. Es war sehr
hübsch; aber da es eine bräunliche Hautfarbe, dunkle Augen und
schwarzes Haar hatte, so machte er sich aus den anerkennenden Blicken
nichts, mit denen es ihn musterte. Ab und zu, wenn er aus dem Fenster
sah, mußte er mit den Augen über es hingehen, und dann fiel es ihm
auf, welchen Gegensatz zu Swaantje es darstellte, mit den zackigen
Bewegungen, dem grellen Augenaufschlag, den rastlosen Händen, der
wirbelnden Stimme und dem klirrenden Lachen, denn es unterhielt sich
eifrig mit einem alten Herrn, in dessen Begleitung es fuhr.

Da hörte er Swaantjes milde Stimme und vernahm ihr weiches Lachen,
sah ihre abgemessenen Bewegungen und dachte an ihre kleinen, fast
zu kleinen Hände, die niemals hin- und hersprangen, sondern still
auf ihrem Schoße lagen oder bedächtig die Nadel führten, und ab und
zu schlug sie langsam die Augen auf und sah ihn mit schwesterlicher
Zärtlichkeit an. »Ich habe sie lange nicht mehr gesehen« dachte er.

Als er sein Haus aufschloß, fuhren ihm seine Hunde winselnd und
kläffend um die Beine, und eine lustige Frauenstimme rief: »Schon da?
Das ist ja prächtig!« Seine Frau kam ihm entgegen, frisch und fröhlich
wie immer; sie hielt ihm den lachenden Mund hin, und er küßte ihn
dreimal.

Sodann fragte sie ihn: »Wir haben Besuch; rate einmal, wer es ist?«
Er lachte: »Du weißt doch, Grete, der Verstand ist zum Glück meine
schwache Seite!« Aber da tat sich die Tür zum Eßzimmer auf und Swaantje
Swantenius stand vor ihm, genau so, wie er sie im Traume gesehen hatte,
in dem weißen losen Wollkleide mit der goldenen Borde am Halse und
unter den Ellenbeugen, goldene Blumen in den blauen Augen. Sie gab ihm
die Hand und sagte: »Willkommen, lieber Helmold! Wie schön, daß du so
früh kommst; da wird uns das Essen gleich dreimal so gut munden.«

Seine Augen freuten sich, als er sie so dastehen sah, und sein Herz
lachte, als er ihre Stimme hörte. Er nahm seine Frau in den rechten
Arm und ihre Base in den linken und sagte: »Das ist hübsch von dir,
Swaantje, daß du einmal wieder hergefunden hast; dafür bekommst du auch
ein Glas Sekt. Nicht wahr, Weibchen?«

Seine Frau nickte eifrig: »Natürlich, wenn eine so liebe Kusine da ist!«

»Kußine«, scherzte ihr Mann und gab erst seiner Frau und dann Swaantje
einen Kuß auf die Backe.



Die Sektflasche


Als die alte Kastenuhr auf dem Vorplatze zwölf Male geschlagen hatte,
kam etwas über die Straße getaumelt, wankte bald auf dem Fahrdamm,
bald auf dem Bürgersteige umher, rannte fast den Laternenpfahl um,
der vor Helmold Hagenrieders Hause stand, schob sich an der Mauer
entlang, kehrte nach einer Weile um, sah nach den Hausnummern und
Namenschildern, fand sich wieder zu dem Hause mit der Laterne vor
der Türe hin, tippte sich vor den Kopf, murmelte etwas, langte in
die Tasche, suchte mühsam darin umher, brachte einen Schlüssel zum
Vorschein, besah ihn genau, steckte ihn wieder ein, fand endlich den
richtigen, schloß die Haustür auf und trat ein.

Die Hunde im Gange knurrten, als es bei ihnen vorüberschlich, aber wach
wurden sie nicht. So konnte es mit dem Drücker, den es aus der Tasche
nahm, die Türe des Windfanges aufmachen. Es trat ein, klinkte die Türe
des Eßzimmers auf, schlug den Vorhang zum Nebenzimmer zurück, schlich
sich hinein, wobei es gegen eine Truhe anlief und sich das eine seiner
Beinchen so stieß, daß es zurückprallte, sich umdrehte und mit dem
dicken Bäuchlein, das gleich unter dem Halse anfing, gegen den Nähtisch
stieß, daß es krachte. Aber nun hatte es auch, was es wollte; denn es
zog die Schieblade auf und suchte so lange in den Fächern umher, bis es
ein Stück Kreide fand.

Damit malte es eine gewaltige Sektflasche auf die Flügeltür, holte ein
Messer aus der Tasche, klappte den Schampagnerhaken auf, setzte ihn an
den Stöpsel der Flasche, brach die Drahtverschlüsse auf, und buff flog
der Kork heraus. Schäumend stieg der heitere Trank aus der Mündung,
lief über, floß auf den Fußboden, quoll unter den Türen durch in die
Schlafzimmer, in die Küche, in das Kinderzimmer, auf die Veranda, über
den Vorplatz, tropfte die Treppenstufen hinunter, geriet in den Gang
und von da in den Garten, erfüllte die Malwerkstatt, die an dessen
Ende lag, kehrte wieder um, hüpfte die Treppe empor und krabbelte
sogar in die Mädchenkammer. Als nun das ganze Haus nach Sekt roch,
suchte der Eindringling mühsam den Pfropfen auf, quälte ihn ächzend
in den Flaschenhals hinein, band ihn mit zwei Kreidestrichen, die er
übereinanderbog, fest, löschte die Flasche von der Türe weg und stahl
sich kichernd wieder aus dem Hause heraus.

Um sechs Uhr in der Frühe sprang die hübsche Dienstmagd trällernd die
Treppe hinunter und ließ die Hunde auf die Straße, und die stellten
sich ganz übermütig an. Dann erschien das Kindermädchen und summte ein
fröhliches Liedchen vor sich hin. Um sieben kam die Hausfrau heiteren
Angesichts aus dem oberen Stocke und hinter ihr ihr Mann, eine kecke
Weise durch die Zähne flötend, und nun gab es im Kinderzimmer ein
großes Lachen und Quieken. Als dann die ganze Familie am Kaffeetische
saß, auf dem ein knallbunter Blumenstrauß stand, wurden die Vorhänge
aufgeschlagen, und mit einem Lächeln, so freundlich wie die Sonne,
die durch die offene Treppentür in die Veranda schien, trat Swaantje
in ihrem weißen Kleide ein, küßte die Hausfrau und die Kinder und gab
ihrem Vetter die Hand. Als der brummigen Gesichtes, aber mit lustigen
Augen sagte: »Mich auch Kuß haben!« bekam er einen auf die Backe,
sagte: »Ah!« strich sich den Magen, und alle lachten.

Es wurde viel gelacht bei Tische und nachher auch; denn als Swaantje
hinter Helmold, der ihr seine neuen Bilder zeigen wollte, die
Gartentreppe hinunterging, rief Frau Grete, die gesehen hatte, daß es
über Nacht schwer getaut hatte, ihr besorgt nach: »Mach dich nicht
naß!«, worauf das Mädchen sich entsetzt umsah und entrüstet ausrief:
»Aber Greete!« Nun hallte der ganze Garten von Gelächter, und Swaantje
nahm ihre Röcke zusammen und huschte in die Werkstatt. Dort aber vergaß
sie das Lachen; sie ließ die Hände an den Hüften herabhängen, hob sie
dann langsam wieder hoch, schlug sie vor der Brust ineinander, seufzte
tief auf, wandte sich nach ihrem Vetter hin und flüsterte: »O, das ist
ja wundervoll, lieber Helmold; das ist das Schönste, was du bisher
gemalt hast«. Sie nahm seine Hand in ihre beiden Hände, drückte sie und
sagte: »Ich danke dir viele Male, und ich bin sehr stolz auf dich!«

Der Maler betrachtete mit zugekniffenen Augen das Bild und lächelte.
Es war von gewaltigem Umfange und stellte mehrere hünenhafte,
unbekleidete Männer dar, die auf Tod und Leben mit bunten Tigertieren
rangen. Die hell und dunkel gestreiften Körper der Riesenkatzen, die
nackten Menschenleiber mit den bis auf das höchste angespannten, durch
helle Lichter und dumpfe Schatten betonten Muskeln, das zertretene
Gras, die wirbelnden Staubwolken, von schräg fallenden Sonnenstrahlen
geteilt, das war eine Menge von scharfen Gegensätzen, die eine reife
Anschauung durch einen starken Willen zu einer einheitlichen Wirkung
zusammengefügt hatte.

Swaantje hatte sich in den bequemen Ledersessel gleiten lassen, stützte
ihre schmalen Schuhe, über denen das weiße Kleid ein Stück der seidenen
Strümpfe sehen ließ, auf eine mächtige Elchschaufel, die als Fußbank
diente, und vergrub sich ganz in die Stimmung, die von dem Gemälde
ausging. Helmold stand am Fenster und freute sich über den stolzen
Schnitt ihres Gesichtes, über den bescheidenen Glanz, der auf ihrem
aschenblonden Haare lag, über die vornehme Sprache ihres Unterarmes
und fand, daß ihre Hände zu klein waren, und der unentschlossene Zug,
der sich darin ausprägte, paßte schlecht zu der ganzen Erscheinung des
Mädchens. Auch sah er, daß ihr Gesicht zu durchgeistigt war, und mit
Betrübnis entdeckte er hinter ihren Mundwinkeln eine Falte, die er dort
nicht haben wollte.

Aber da fing Swaantje zu sprechen an: »Weißt du, Helmold, was ich mir
bei dem Bilde denke? Ich ginge unter den Rabenbergen her, wenn die
Abendsonne darauf liegt. Dann sieht es dort genau so aus.« Ihr Vetter
machte ein ganz ernstes Gesicht. Dann zeigte er auf das Bild und
sagte: »Vorgestern war Frau Jucunda Othen-Othen hier, du weißt doch,
die berühmte Kunstgewerblerin, um nicht zu sagen, die berüchtigte
Eklektikerin, besser wohl Ekleptikerin. Sie rauschte mir hier mit
ihren gräßlichen seidenen Unterröcken herum; schauderhaft, dies
Seidenpapiergeraschel!, tat so, als interessiere sie sich für Kunst,
wollte natürlich nur Technik schinden und Motive klauen; na, und als
sie das Bild sah, steckte sie ihre Nase unter das Lorgnon, machte ihr
überlegenstes Gänsegesicht und fragte: ›Was soll denn das bedeuten,
Herr Hagenrieder?‹ ›Abendsonne auf der Haide, gnädige Frau,‹ sagte
ich. Die Miene, die sie da aufsteckte, war zum Heulen, sage ich dir.
Sie glaubte, ich wollte sie uzen. Na, das wollte ich ja auch wohl,
denn sonst hätte ich ihr nicht die blanke Wahrheit gesagt. Das ist in
manchen Fällen die höchste Raffiniertheit. Bismarck, der verstand sich
großartig darauf.«

Er warf die blonde Stirnlocke zurück. »Weißt du, die habe ich den Tag
erst klug und dann wieder dumm gequatscht. ›Ja,‹ sagte ich zu ihr,
›wenn man den Eindruck einer Landschaft gänzlich falsch wiedergeben
will, tut man am besten, sie zu porträtieren, vorausgesetzt, daß
sie stille sitzt und nicht alle fünf Bierminuten ein anderes
Beleuchtungsgesicht schneidet. Das tun die meisten sogenannten
Landschafter, oder besser gesagt, Landschaftsschuster, und darum
hängt überall so viel Schauderschund herum.‹ Sie machte ein Gesicht
wie eine Meerkatze, die niesen muß. ›Ja,‹ sagte ich dann, ›wenn man
das aber nicht will, dann muß man eben durch ganz etwas anderes sein
Ziel zu erreichen suchen, oder vielmehr, man muß warten, bis das von
selber kommt, denn mit Überlegung, Verstand und anderen billigen
Malmitteln kommt man doch zu nichts.‹ Mit einem Male fuhr sie mir
dazwischen: ›Danach müßten Sie ja einen Menschen durch eine Landschaft
wiedergeben!‹ Ich nickte und bewies ihr das so scharf, daß sie ganz
begossen dastand, und da fragte sie: ›Wie würden Sie denn den Eindruck
wiedergeben, den ich auf Sie mache?‹ Und da sagte ich zu ihr: ›Gnä'
Frau, Sie haben doch schon gesehen, wenn bei windstillem Wetter auf
einmal die Luft küsselt und Papier, Stroh, Blätter und Staub umeinander
dreht und mit nach Hause nimmt, eine der lieblichsten Erscheinungen in
der Natur, so flüchtig, so luftig, so entzückend vergänglich. So kommen
Sie mir vor.‹«

Er lachte unbändig und Swaantje ließ ihre Fröhlichkeit dazwischen
läuten. »Was hat sie denn darauf gesagt?« forschte sie. »Gar nichts,«
antwortete ihr Vetter. »Erst hat sie ein fuchtiges Gesicht gemacht und
mit einem Male wurde sie wie Margarine; ich konnte sie hinschmieren,
wo ich sie hinhaben wollte. Aber ich mache mir aus Kunstbutter nichts;
lieber schon Schmalz. Unsere Luise ist mir dreimal so lieb, als
diese Donnja. Sie macht in Kunstgewerbe, wie andere in Heringen oder
Flanell.« Er sah Swaantje an: »Weißt du, was ich malen würde, um den
Eindruck wiederzugeben, den du auf mich machst? Weiße Haide, aber
Sandhaide!«

Das Mädchen fuhr in die Höhe: »Aber weiße Haide bedeutet doch Unglück!
Wirke ich so auf dich?« Er schüttelte den Kopf: »Im Gegenteil! Und
warum bedeutet weiße Haide Unglück? Weil sie zu der Zeit, da unser
ureigenes Wesen von der wälsch-fränkischen Vergewaltigung noch nicht
vermanscht war, eine Glücksblume war, was sie in England heute noch
ist und ebenso in der Haide. Der Freitag war der Tag der Frigge, der
Friggetag, der Glückstag; an ihm wurden die Ehen geschlossen, und
unsere Haidbauern heiraten heute noch möglichst an diesem Tage. Die
Dreizehn war die heilige Zahl und die Sieben auch; unsere Ahnen liebten
nichts, was aufging, denn damit hörte es auf, ein Problem zu sein. Aber
die Taktik der karolingischen Mönche verkehrte alles das ins Gegenteil;
der brave Deutsche fiel darauf hinein und gab sein naturfreudiges Wesen
gegen eine asiatische Naturentfremdung auf. Und daher unser tiefes,
weites und hohes Unverständnis für alles, was Kunst heißt.«

Er schob das Bild, das auf einer Rollstaffelei stand, zur Seite und
sagte: »Bitte, setz dich einmal da hin, nein, da rechts von der Tür!«
Dann zog er den goldbraunen Vorhang zurück, der die Hinterwand des
Raumes verhüllte, und ein anderes Gemälde wurde sichtbar, doch nur in
seinen großen Umrissen, da das Oberlicht abgeblendet war, und auch
dem Seitenlichte war durch Vorhänge der Zutritt verwehrt. Das Mädchen
richtete sich in dem Sessel auf, beugte sich vor, öffnete ihre Augen
ganz weit und fragte verwundert: »Seit wann malst du denn Dolomiten,
Helmold? Du sagtest doch, bloß die Haide könne dir zur visionären
Erscheinung werden? Aber dieses Bild gibt ganz und gar die Geheimnisse
der Sellagruppe wieder. Das heißt, so ganz verstehe ich es doch nicht.«

Der Maler lächelte, zog erst die Vorhänge von dem Seitenlichte fort und
machte dann dem Oberlichte Platz, und da sprang Swaantje auf, brach
in ein helles Jubellachen aus und rief: »Nein, nein, Helmold, du bist
ja ein Zauberer! Das ist ja, ja das ist ja der Kreuzestod Christi!«
Sie schüttelte den Kopf, bewegte die Lippen, als wenn sie etwas sagen
wollte, und dann ließ sie sich wieder in den Sessel fallen, lehnte den
Kopf gegen die alte Stickerei, die darüber hing, blendete sich mit den
Händen das Ober- und das Seitenlicht ab und flüsterte: »Die Sella und
die Kreuzigung; wie geheimnisvoll! Helmold, wo ist die Lösung?«

»Ja, Swaantje,« antwortete er und ein bißchen Selbstverspottung lag
in seiner Stimme; »ja, ich sage: ich will dies, und hinter mir steht
wer und sagt: ›du sollst das!‹ Sieh mal, die Sellagruppe hat damals
auf mich den selben blödsinnigen Eindruck gemacht, wie auf dich, aber
mein bewußtes Ich sagte mir: du hast doch weiter nichts davon, als
daß du durch die Komplementärwirkung zu einem tieferen Verständnis
deiner Heimlandschaft kommst. Niemals habe ich daran gedacht, Dolomiten
zu malen. Als ich dann eines Abends bei Hennecke saß, kam die Rede
auf den Verlust der Überlieferung in der bildenden Kunst und auf das
Effekthaschen und Sensationsmachen in der Wahl der Stoffe, und da
sagte der Prinz: ›Der Staat müßte einmal zehn Jahre lang verbieten,
daß etwas anderes gemalt würde als Kreuzigungen; dann würde man bald
sehen, wer wirklich etwas kann.‹ Dieses Wort juckte mich so lange,
bis ich mir eines Tages sagte: So, jetzt wird eine Kreuzigung gemalt,
damit du endlich Ruhe hast! Ja Kuchen: Als ich den Schaden besah, stand
die schöne Frau Sella neben mir, machte mir eine lange Nase, knixte
und sagte: Schau, da hast du mich doch malen müssen, ätsch! Na, und
so war es; der lange schwarze Mann im Vordergrunde wirkt als tiefe
schmale Schlucht, die anderen Figuren und die Längsbalken der Kreuze
geben die senkrechten, die Querbalken und die Arme der Gerichteten
die wagerechten Linien der Sellaarchitektur wieder, und so hatte ich
Dolomiten gemalt und keinen Dunst davon gehabt. Ja, bei uns muß es wohl
heißen: suchet nicht, so werdet ihr finden.«

Das Mädchen nickte ernsthaft. »Ja,« meinte sie dann, »Kunst und Glaube
sind zweierlei.« Ihr Vetter schüttelte den Kopf. »Nein, Swaantje, sie
sind das selbe, und deshalb sind alle wahren Künstler gottlose Menschen
in landläufigem Sinne. Sie suchen Gott nicht; sie haben ihn in sich;
ihn oder den Ungott.«

Er drehte sich eine Zigarette, zündete sie an und blies den Rauch weit
von sich, schob das Bild zur Seite, verhüllte es und desgleichen das
andere Gemälde und machte die Tür zu dem Nebengemache auf. Das Mädchen
stieß einen Laut aus, halb Seufzer, halb Schrei und sprang auf, die
Hand auf dem Herzen und mit weit aufgerissenen Augen nach dem Gemälde
starrend, das hinter dem Türloche stand. Als der Maler, den ihr jähes
Erbleichen erschreckt hatte, neben sie trat, umklammerte sie seinen
Arm, und er fühlte, wie ihr Herz zitterte, und sah, wie ihr der Atem
hastig über die Lippen sprang. Er warf ebenfalls seine Augen auf das
Bild, und da erschrak auch er, denn einen so gemeinen Ausdruck hatte er
noch nie in den Augen des Weibes gesehen, das er da gemalt hatte.

»Chali,« flüsterte es an seiner Schulter, und er murmelte: »Das ist
es! Ich habe gedacht, es gibt keinen Namen dafür, aber du hast sofort
den einzig möglichen dafür gefunden. Das böse Prinzip des Weibes.« Sie
ließ sich, wie vor Erschöpfung, in den Sessel gleiten, und fragte,
immer das Bild anstarrend: »Wirst du es mir sagen?« Er nickte. »Ja,
Kind, gern, soweit es sich um den äußeren Anstoß dazu handelt. Du weißt
ja, wie der Prinz ist. Eines Tages kommt er hier angeautobt und stellt
mir eine kostbare Schüssel vor die Nase, in der auf bleichem Moose
dreißig unheimliche Blumen lagen und mich auf ganz hundsgemeine Weise
anschielten. Ich machte ein dummes Gesicht und fragte: ›Bist du auf dem
Mars gewesen?‹ Denn in meinem Leben hatte ich solche Satansblumen noch
nicht gesehen. Da lachte er und sagte, es wären Stapelien, Kusinen von
den Kakteen, und sie wären aus seinem Treibhause, und er kritzelt mir
eine argentinische Stapelienlandschaft in das Skizzenbuch.«

Er holte tief Atem und fuhr fort. »Den ganzen Tag war ich zu nichts
zu gebrauchen. Wie ein Affe saß ich da und sah diese niederträchtigen
Blumen an, diese Katerideen von Blumen, diese Antiblumen oder was weiß
ich. Ein Vierteljahr war ich ganz elend. Erst dachte ich, es wäre die
Grippe, nahm Dampfbäder, ließ mich massieren und trank Grog. Dann
hielt ich es für einen Darmkatarrh, trank Boonekamp und ließ mir heiße
Pottdeckel auf den Magen legen, wenn ich zu Bett ging. Dann wieder
schien es mir Nervenüberreizung zu sein; ich aß Sanatogen, schluckte
Hämatogen, verkniff mir den Tabak, den Kaffee und den Wein, trank
abends Fliedertee und morgens Brombeerblätteraufguß und wurde immer
elender, bis ich mich auf einmal benahm, wie ein Brunnendelphin, der
abends vorher zu viel Bier getrunken hat. Darauf schlief ich drei Tage,
und dann malte ich das Bild aus dem Handgelenk in acht Tagen und war
kreuzfidel, als ich es hinter mir hatte, denn mir fehlte gar nichts;
mir hatte nur das scheußliche Bild verquer im Leibe gesessen, ein Meter
vierzig zu eins zwanzig. Aber sieh es dir einmal genau an!«

Swaantje stand auf, doch sie zögerte noch. Sie sah den schweren,
klobigen, in den massigen Formen der sumerischen Bauweise gehaltenen,
reich geschnitzten, mit buntem Glasflusse ausgelegten und mit goldenen
und silbernen Ziernägeln beschlagenen Rahmen und dann das unheimliche
nackte Weib an, das vor einem unglaublich klaren und grundlosen Wasser,
das eine unbekannte Farbe hatte und von der Abendsonne eiterrote
Glanzlichter bekam, auf der Seite lag, die brutalen Knie gegen den
üppigen Leib gezogen, den stützenden Arm halb überschüttet von einem
Sturzbache straffen Haares von einer rohen roten Farbe, und das sie mit
seelenlosen Tigeraugen ansah, ebenso schrecklich, wie die unheimlichen
großen Blumen, die an den starren Stämmen hinter ihrem Rücken hingen,
aber auch ebenso schön, Chali, die Göttin des unblutigen Meuchelmordes,
das greuliche Geheimnis des bengalischen Bambusdickichts.

Langsam ging sie darauf zu und sah, daß das Weib keine Tigeraugen,
sondern Menschenaugen hatte, doch mit dem Blicke des Tigers, oder
vielmehr, mit gar keinem Blicke, aber dadurch wirkten sie gerade so
tigerhaft. Als sie noch näher kam, nahmen ihre Züge den Ausdruck
kindlicher Neugier und einer dummen Verwunderung an, denn das Bild
war auf Holz gemalt und der Leib des Weibes war nicht gemalt, sondern
ausgespart, so daß überall die Maserung und hier und da ein Astfleck zu
sehen war. Der Gesamteindruck war aber so mächtig, daß diese Dinge vor
ihm völlig zurückgingen.

Helmold, der hinter sie getreten war, nickte ihr zu und sagte: »Ja,
ja, es ist wunderlich, was man nicht alles macht, wenn man so dumm
dahertollpatscht. Warum habe ich das auf Holz gemalt und nicht auf
Leinwand? Im allgemeinen male ich nicht gern auf Holz, und wenn schon,
so kleine Bilder. Aber dieses mußte ich auf Holz malen, scheinbar,
weil das Brett gerade da stand, in Wirklichkeit aber, weil dieses
Weib nicht gemalt, sondern ausgespart werden mußte. Es verkörpert das
negative Prinzip des weiblichen Wesens, konnte also am besten durch
eine Negativität wiedergegeben werden. So ist es auch im Leben; das
Schlechte, das Unheimliche, das Gemeine: tritt dicht davor, und siehe,
es ist ein Nichts, es ist Holz, dumm gemasert und mit Kienstellen
durchsetzt. Ein wirkliches Weib, ein Weib von Herz und Gemüt, von
Fleisch und Blut, das hat nicht hier mitten auf dem Bauche einen
Leberfleck aus Kien und auf der Kalipygie eine Maserung, soweit meine
geringen Erfahrungen auf diesem interessanten, aber schwierigen Gebiete
reichen.«

Er zog den Vorhang zu, nahm Swaantje um die Mitte, führte sie zu dem
Ruhebett, stellte einen alten Bauernteller mit Äpfeln und eine Dose
mit Biskuit vor sie hin und nötigte zum Zulangen: »Iß, Mädchen, desto
eher wirst du elend! Und hier sind auch Nüsse.« Swaantje nahm eine,
steckte sie dem wunderlichen Nußknacker in das Maul, zerbrach sie und
rief dann: »O, ein Vielliebchen! Wer ißt es mit mir?« Ihr Vetter hielt
die Hand auf. »Dir zuliebe tue ich alles,« lachte er; »sonst esse ich
nur Nüsse, wenn sie mir einer kaut, aber das will keiner. Wenn man
nämlich nicht aufpaßt, kaut man acht Tage lang an einer Nuß herum.« Er
steckte die Nuß in den Mund, schluckte und sagte, indem er auf seine
Weste zeigte: »Es geht auch ohne die alte Kauerei.« Da lernte Swaantje
das Lachen wieder und vergaß das unheimliche Bild und den entsetzten
Blick, den Helmold darauf geworfen hatte. Dann zeigte er ihr einige
Porträts und eine Anzahl von den Studien, die er zu Hunderten in den
Schiebladen der großen Schränke liegen hatte, schwatzte Kraut und Rüben
durcheinander und hetzte einen Witz hinter dem anderen her, bis sie
vor Lachen nasse Augen bekam und ihn händeringend bat, aufzuhören:
»Denn ich habe nur ein Zwerchfell, Helmold, und das ist schon dreimal
gestopft!«

Sie kuschelte sich bequem auf das Ruhebett hin, biß in einen Apfel
und sah zu, wie er überall herumkramte, und ihr allerlei zeigte, das
bravste Gehörn von dem letzten Jahre, eine Pfeilspitze aus Feuerstein,
die er in der Haide gefunden hatte, eine alte Schnapsflasche mit einem
himmelblauen Vogel Phönix darauf und der Inschrift: »So wie der Fönix
der Flamme entspringt, so meine Liebe zu dir hin dringt« und ähnliche
Seltsamkeiten, die er bei seinen Jagdfahrten in den Dörfern aufgegabelt
hatte. Dann, als er eine Schieblade aus einem grell gestrichenen
Schranke zog, rief er: »Holla! Beinahe vergessen!« Er langte ein
Kästchen heraus, machte es auf, nahm etwas heraus und drückte es
dem Mädchen in die Hand. Es war eine Fibel aus dickem, gerieftem
Silberdraht, aus zwei engen Spiralen gebildet, deren jede einen
prachtvoll gebräunten Hirschhaken umschloß. »Da!« sagte er, »als Dank
für diesen schönen Morgen!«

Sie errötete und klatschte in die Hände: »Wie entzückend! So eine
fehlte mir gerade. Die hast du doch selbst entworfen? Und wie reizend
von dir, mir die zu schenken, mit den prachtvollen Kusen darin!«

Sie drehte das Schmuckstück hin und her, nahm die Pfeilspitze von
Flintstein von dem Tischchen, hielt beide Gegenstände aneinander und
sagte: »Die gehörten einmal zusammen, paß auf: der alte Oberpriester
war voller Wut, denn seine Tochter, Loide hieß sie, sah Wuni gern; aber
der war ihrem Vater ein Gräuel, weil er die Kunst, Waffen und Geräte
aus Metall zu schmieden, aus der Fremde mitgebracht hatte und deshalb
der Priesterschaft als gottloser Mensch galt. Nun war noch jemand da,
der die schöne Loide liebte; Ulahu hieß er, und war ihrem Vater genehm,
dieweil er ein Steinschmied war und jede Neuerung haßte. Aber Wuni war
stark und Ulahu schwach, und da sprach der Oberpriester, Krwo hieß er:
›Der Rabe jagt dem Adler den Fraß ab, obwohl dieser siebenmal so stark
ist.‹ Ulahu merkte sich diese Rede, und als er Loide einmal in das Haus
ihres Vaters eintreten sah, mit flammenden Augen, brennenden Wangen und
glühenden Lippen, und bemerkte, daß ihr Kleid vor der Brust mit einer
silbernen Fibel, in der zwei Hirschhaken befestigt waren, geschlossen
war, da ging er zu seiner Hütte, weinte, nahm den Eibenbogen und drei
Pfeile zur Hand und schlich Wuni nach, als er in der Frühe auf Jagd
ging, und schoß ihm den Pfeil von hinten durch das Herz, daß er sterben
mußte. Ulahu aber freite Loide, doch am Morgen nach der Hochzeit lag
er tot in seiner Hütte; Loide aber war verschwunden, und wenn die
Nachtschwalbe rief, sagten die Mädchen: ›Da schreit Loide nach Wuni.‹«

Während sie so sprach, verhärteten sich ihre Augen, so daß es Helmold,
der ihr anfangs mit vieler Freude zugehört hatte, erschien, sie hätten
ein wenig von dem, was die Augen der Chali aufwiesen, und sein Herz
kehrte sich um. Doch er jagte die graue Fledermaus, die auf ihn zuflog,
mit einer heftigen Bewegung fort, nickte, lächelte und sagte: »Das
ist sehr schön, Swaantje, und du wirst das aufschreiben und mir als
Gegengeschenk verehren. Du solltest überhaupt deine Gesichte zu Papier
bringen. Ich habe es schon oft gedacht: Du bist eine Künstlerin! Und
wem eine Gabe ward, der soll ihrer pflegen, sonst bleibt er unfroh sein
Leben lang.«

Doch als er das gesagt hatte, schüttelte er in sich darüber den Kopf,
denn er glaubte nicht an eine künstlerische Begabung des Weibes. Er
hatte, als er einst einer schönen Frau, die acht gesunde Kinder besaß,
einen Spruch in ihr Gästebuch schreiben sollte, folgendes eingetragen:
»Der größte Künstler ist klein gegen eine Mutter; denn er kann keinen
Menschen von Fleisch und Blut schaffen.«

Während er nun Swaantje freundlich ansah, besah er ihr Gesicht genau
und dachte: »Ihr ganzes Wesen ist weiblich, aber ihr Geist ist
männlicher Art. Am Ende ist sie kein völliges Weib; das wäre ein
Jammer, denn dann wird sie das wahre Glück nie kennen lernen. Denn die
Liebe ist alles, und das andere ist nichts.«

Da kam Swaan angelaufen und rief: »Väterchen und Muhme Swaantje,
ihr möchtet zum Essen kommen, aber schnell, sonst wird der Braten
kalt!« Stolz setzte er hinzu: »Es gibt Birkhahn, den Vater geschossen
hat.« Sweenechien aber, die hinter ihm hergetappelt war, rief: »Und
Flammerie! Hast du das auch geschossen?« Da lachte Swaan sie aus und
Helmold und Swaantje auch; unter viel Lachen und Scherzen ging es in
die Veranda, wo Frau Grete sie mit den Worten empfing: »Was ist das
bloß heute? Alles im Hause lacht in einem fort! Die Mädchen sind aus
Rand und Band und ihr auch. Der Sekt kann doch nicht nachspuken?«

Das schien aber doch so, denn es blieb bei dem Lachen. Helmold lachte,
wenn er zu Bett ging, und er lachte, wenn er aufstand. Die Arbeit
flog ihm nur so von der Hand, und während der Pinsel bald langsam und
vorsichtig, bald schnell und sorglos über die Leinwand ging, sang und
pfiff er, daß man es über den ganzen Garten bis in das Haus hören
konnte.

Wenn aber aus der Werkstatt kein Singen und Pfeifen kam, so wußte
Grete, daß Swaantje dort war. Die saß dann in einem der großen Sessel
und arbeitete an einer Stickerei oder lag auf dem Ruhebett, sah ihrem
Vetter zu und freute sich an seinen schnellen und doch so sicheren
Bewegungen, an seiner frohen Laune und seiner Urwüchsigkeit; denn wenn
er mitten in der Arbeit war, vergaß er alles um sich und konnte, fuhr
er einmal gegen einen Baum, mit den saftigsten Ausdrücken um sich
werfen, und Swaantje rief dann wehklagend: »Aber Herr Hagenrieder, ich
bin eine deutsche Jungfrau!« Wenn er dann sagte: »Leider! vergaßen sie
zu bemerken, mein allergnädigstes Fräulein«, dann lachte sie.

Einmal wäre ihm beinahe die Antwort entwischt: »An mir liegt es
wahrhaftig nicht«; doch er packte rechtzeitig den schlechten Witz noch
am Nackenfell, denn es war ihm wirklich nur Spaß damit gewesen.

Mehr als einmal sagte er zu seiner Frau: »Es ist nun an der Zeit, daß
Swaantje heiratet; sie bekommt sonst noch Druckstellen.«



Das Stapelienbild


Chali langweilte sich. Früher konnte sie fast den ganzen Tag mit dem
Maler sprechen; seitdem aber das junge Mädchen da war, war es aus
damit, denn Swaantje fürchtete sich vor ihr, und so hatte Helmold das
Bild in den Nebenraum gestellt, wo es weiter nichts gab als Bilder,
Rahmen, Kisten und Kasten, Töpfe und Kruken.

Aber wenn Chali auch nicht dort hätte sein müssen, sondern in der
Werkstätte hätte weilen dürfen, so hätte ihr das doch nichts genützt.
Holz und Stoffe boten ihren Blicken keinen Widerstand, und so mußte sie
es einen Tag wie den anderen mit ansehen, wie der Maler sich mit dem
blonden Mädchen unterhielt und ihm liebreiche Blicke zuwarf. Sie lag
da und starrte auf die Tür; ihre Augen wurden von Tag zu Tag böser und
leuchteten im Dunkeln grün.

Eines Abends, als Helmold und Swaantje in der Werkstätte waren, holte
der Maler sich aus der Vorratskammer ein frisches Malbrett, was er
immer tat, wenn er ein neues Bild begann, das ihm aus dem Herzen kam,
und da er an das Bild dachte, das er anfangen wollte, so ließ er in
Gedanken die Tür offen stehen. Er wollte nämlich Swaantje malen; er
hatte es schon bei Tage mehrfach versucht, war aber nie über den Anfang
hinweggekommen, bis ihm einfiel, daß er eine andere Beleuchtung haben
müsse, als das Tageslicht, und er hatte gefunden, daß das Mädchen im
Halbschatten sitzen müsse, während rings umher alles hell von Licht
war. So setzte Swaantje sich also an das große Fenster, vor dem die
Vorhänge zusammengezogen waren, und drehte der zweiten Tür den Nacken
zu.

»Heute wird es etwas, Swaantje,« rief Helmold; »das kommt wohl daher,
weil ich dich gestern eigentlich zum ersten Male in Erregung gesehen
habe. Du bist übrigens der einzige Mensch, mit dem ich Walzer tanzen
kann. Sonst liegt mir der Walzer nicht; mein Blut geht im Polkatakt.
Hamburger, Schwedische Quadrille, der Achtturige, Schardas, Kasatschka
und dergleichen, wobei man seine Knochen rühren und ordentlich trampeln
kann, das ist mein Fall. Aber sich wie ein Brummkreisel andauernd um
seine Perpendikulärachse zu drehen, das ist nichts für mich. Gestern
bin ich aber auf den Geschmack gekommen. So wie du den Walzer tanzst,
so glaube ich, tanzen die Nebelfrauen ihn auch. Ich will sie nächstens
mal fragen.«

Chalis Augen sprühten, als sie das mit anhören mußte, und sie stach mit
spitzen Blicken nach dem Nacken des Mädchens; jedesmal, wenn Helmold
hinzutrat und mit seiner Hand ihre Kopfhaltung ein wenig änderte,
fuhren grüne Blitze aus dem Nebenraume dahin, wo die aschenblonden
Nackenlocken auf der roten Stuhllehne schimmerten. Solange ihr Vetter
mit ihr plauderte, merkte Swaantje nichts von dem, was hinter ihr
vorging; aber nun fing Helmold an, eine neue Singweise zu suchen, indem
er ganz leise durch die Zähne pfiff, und das bedeutete, wie sie wußte,
daß er dem Reime zwischen Stoff und Form nahe war. Darum rührte sie
sich nicht, so gern sie das auch getan hätte.

Denn ihr war so merkwürdig schwach und hülflos zumute. Sie hatte ein
bißchen viel getanzt und gelacht und vielleicht auch ein Glas Sekt
mehr getrunken, als ihr gut war; aber es war so wunderschön auf dem
Frühlingsfeste gewesen; so viele hübsche, fröhliche Frauen und Mädchen,
und so viele nette, lustige Männer hatte sie noch nie beisammen
gesehen, und so hatte sie mit den anderen getollt und sich prachtvoll
vergnügt.

Jetzt aber fühlte sie sich müde; sie hatte einen peinlichen Druck in
der Herzgrube, und ihr war, als klemmte etwas ihre Herzschlagadern ein.
Am liebsten hätte sie ihrem Vetter nicht gesessen; aber sie wußte,
wie gern er sie malen wollte, und daß er endlich dazu kam; denn nun
pfiff er nicht mehr durch die Zähne und trat nicht fortwährend vor und
zurück, sondern er stand still, malte eifrig, summte erst eine Weise
vor sich hin, und dann sang er: »Rose Marie, Rose Marie, sieben Jahre
mein Herz nach dir schrie, Rose Marie, Rose Marie, aber du hörtest es
nie.« Er war in voller Fahrt.

Sie hielt still, obgleich ihr von Minute zu Minute hülfloser zumute
wurde; denn Chali ärgerte sich über die zärtlichen Blicke, die der
Maler fortwährend nach dem Mädchen warf, und über das Lied, das er
sang, während er malte, und so wandte sie ihre Meuchelmörderaugen nicht
einen Pulsschlag lang von dem Nacken Swaantjes.

»Erzähle was, Maus!« sagte Helmold, und Swaantje war froh; aber ihr
fiel nichts weiter ein, als das, wovon sie noch zu keinem Menschen
gesprochen hatte, und was sie auch keinem sagen wollte. Aber da dachte
sie an die Faschingsnacht in München, als ihr Vetter zwischen all dem
tollen Lärm zu ihr gesagt hatte: »Kleine, wenn du einmal etwas hast,
das dich drückt, und du magst es niemandem sagen, so sage es mir; wenn
ich dir irgend helfen kann, so tue ich es.«

Sie hatte ihm die Hand gereicht und gesagt: »Das werde ich, Helmold!«
Aber dann hatte sie lachen müssen; wie er so dasaß, vollkommen im
Ballanzuge, aber mit einem Radieschen im Knopfloch, mit gebrannten,
gepuderten Haaren, weißgeschminktem Gesicht und kohlschwarzem
Schnurrbart und dazu die vergoldeten Ohren, das hatte zu närrisch
ausgesehen, zumal seine blauen Augen so treuernst blickten.

Weil sie nun an diese Augen dachte, fing sie an: »Lieber Helmold, ich
muß dir jetzt etwas sagen, weil ich deinen Rat brauche: ich liebe einen
Mann.« Helmold blieb ganz ruhig und malte weiter; ihm war zumute, als
habe ihm jemand ganz heimlich sein Herz weggenommen und ihm nur den
Verstand gelassen. Darum fragte er, ohne daß seine Stimme anders klang
als sonst: »Weiß er es?« Swaantje sah gerade aus: »Nein; das glaube
ich nicht.« Ihr Vetter fragte weiter: »Ist er deiner würdig?« Sie
erwiderte: »Er ist viel besser als ich.« Er brummte: »Danach liebst du
ihn also; deine Behauptung bezweifele ich übrigens. Kenne ich ihn?«
Sie schüttelte den Kopf. »Darf ich wissen, wer es ist?« Sie nickte:
»Professor Groenewold; bei dem ich Literatur und Kunstgeschichte
hatte.« Er fragte weiter: »Wie alt ist er?« und als sie sagte:
»Fünfundvierzig,« brummte er, eifrig weiter malend: »Zu jung für eine
Backfischliebe! Verheiratet?« Swaantje sah ihn groß an: »Dann würde ich
ihn doch nicht lieben können!«

Er lächelte und dachte: »Heilige Einfalt!« Aber dann steckte er die
Pinsel in das Glas, legte das Malbrett hin und sagte: »So, nun rüttele
dich und schüttele dich, wirf aber nicht alle deine Blätter über mich,
sondern behalte noch ein paar für dich übrig. Wir wollen einmal eine
Pause machen; mich rauchert.«

Swaantje stand auf und reckte sich, und er holte sich eine Zigarre. Als
er sie angezündet hatte, sah er, daß die Tür nach dem Nebenraume offen
stand; Chalis Augen starrten ihn höhnisch an. Wütend warf er ihr das
Streichholz in das Gesicht und wunderte sich, daß es grüne Funken gab.

»Helmold, um Himmels willen, was machst du?« rief Swaantje, »dein
schönstes Bild.« Er zog die Tür zu, daß es krachte, und knurrte:
»Schönes Bild? Scheußliches Bild! Chali? Schon mehr Zyankali!«
Swaantje lachte und rief: »Das war aber ein echter Kalauer!« Er
schüttelte den Kopf: »Das ist noch gar nichts; wenn mir ganz schlecht
ist, setzt es nicht nur Kalauer, sondern sogar Kawärmer, wenn nicht
Kaheißer.« Das Mädchen hielt sich die Ohren zu: »Kommt das noch
schlimmer?« Dann lachten sie beide aus vollem Herzen, bis es Helmold
einfiel, daß er sein Herz irgendwo habe liegen lassen müssen; denn ihm
war so leer in der Brust und so schön leicht, als ob er tot wäre.

Aber er dachte doch mehr an das Mädchen als an sich und sprach: »Ja,
liebe Swaantje, das ist eine sehr traurige Sache. Du liebst ihn, und er
weiß es nicht. Du liebst ihn seit sieben Jahren, und er ahnt es nicht.
Entweder ist er blind, oder er liebt eine andere, oder aber, denn es
gibt solche Männer, so unglaublich das auch klingt,« und er lachte,
als er das sagte, »er hat kein Verlangen nach dem Weibe. Hier kann dir
niemand helfen, sogar ich nicht, der ich doch verdammt dem Teufel die
Zähne ausziehen würde, wenn ich dir damit einen Gefallen tun könnte.«

Er ging mit großen Schritten auf und ab. »Sieh mal, Swaantje,« fuhr
er dann fort, »alles, was ich von dem Manne gehört habe, spricht für
ihn. Er hat den Mut gehabt, eine Schrift herauszugeben, in der er den
Unwert der karolingischen Zivilisation für uns nachweist. Wir Stedinger
Blutsbrüder haben ihm damals ein Horüdhotelegramm geschickt und noch
eins, als ihm die hochwohllöbliche Behörde in ihrer Eselhaftigkeit den
Geschichtsunterricht abknöpfte, damit er nicht mehr in der Lage sei,
gegen die Verherrlichung des Schlachterkarls und seines edlen Filiusses
Louis des Frömmlers anzuarbeiten. Insofern freue ich mich, daß deine
Wahl gerade ihn getroffen hat, abgesehen von dem famosen farbigen
Namen, den du dir ausgesucht hast. Aber, wie gesagt, es ist nichts zu
machen. Hingehen und ihm sagen: ›Bitte, seien Sie so gütig und heiraten
Sie mich!‹ das kannst du nicht gut, und ich kann auch nicht zu ihm
gehen und ihm sagen: ›Heiraten Sie meine liebe Base, oder ich fordere
Sie auf dreimaligen Kugelwechsel ohne Binden und Bandagen!‹ Denn je
besser ein Mann ist, um so mehr Verlangen hat er danach, sich das Weib
seines Herzens zu erobern, und er wird sofort auf der Hinterhand Kehrt
machen, wenn der Fall sich umgekehrt entwickelt. Daß auch gerade dir so
etwas zustoßen muß! Wenn du dich wenigstens in mich verliebt hättest!
Ich hätte es schon gemerkt. Ich schlüge sofort mein Zelt in der Türkei
auf und betete zu Allah. Hol's der sogenannte Dieser und Jener!« Er
warf seine Zigarre gegen den Ofen, daß es ein kleines Feuerwerk gab,
und steckte sich eine Zigarette an.

Dann stellte er sich vor das angefangene Bild, auf dem Swaantjes
Kopf schon deutlich vor einem Haidberge zu erkennen war, aus dessen
rosiger Pracht ein Busch weißer Haide verschämt hervorschimmerte, und
als spräche er zu dem Bilde, fuhr er fort: »Dein Fall ist so gut wie
hoffnungslos, liebe Swaantje. Liebst du ihn wirklich so sehr?« Sie
nickte. »Als Schülerin oder als Weib?« Sie wurde rot. »Nicht nur als
Schülerin.« Er räusperte sich, und dann fragte er in trockenem Tone:
»Entschuldige, Swaantje, und wenn es dir nicht paßt, so antworte nicht:
Grete und ich glaubten bisher, du wüßtest noch nicht, daß du ein Weib
bist; das kommt oft sehr spät zum bewußten Ausdrucke. Du kamest mir
bisher gänzlich unsinnlich nach dieser Richtung hin vor. Für kalt
von Natur hielt ich dich nicht, aber für unaufgewacht. Du weißt, ich
spreche als Freund und Bruder, und darum darfst du mir diese Frage
nicht übel nehmen: Wie steht es damit?« Das Mädchen sah ihn mit klaren
Augen an. »Weißt du, Helmold, nach dem, was ich in den Büchern las und
von anderen jungen Mädchen hörte, glaubte ich, daß ich anders bin als
die anderen Menschen. Nur ein einziges Mal merkte ich, daß ich doch so
bin. Das war,« sie wurde blaß und stockte, fuhr aber dann fort. »Doch
das ist ja Nebensache!« Helmold runzelte die Stirn: »Leidest du sehr
unter deiner Neigung?« Sie nickte: »Sehr; ich glaube, ich gehe daran
zugrunde.«

Ihr Vetter sah sie böse an: »Möglich, das heißt, wenn du dieses
zwecklose, unbefriedigte Leben weiter führst. Sieh mal, ich kenne dich
ziemlich gut. Ich habe früher schon Grete aufgehetzt, sie solle Muhme
Gesina so lange zwiebeln, bis sie dich aus dem Käfig läßt. Grete hat
das auch getan; den Erfolg kennst du: es stellte sich glücklich der
so bequeme Herzkrampf ein, und dann sprach die gute Swaantien: ›Nein,
liebstes Tantchen, ich verlasse dich nicht!‹ Deine Muhme in Ehren;
wäre sie nicht gewesen, so könntest du dich vielleicht als Gouvernante
oder Gesellschafterin piesacken lassen; das weiß ich. Aber vielleicht
wäre das besser gewesen; denn was hast du von deinem vielen Gelde? Du
willst deinen Geist betätigen, möchtest schaffen; statt dessen mottet
Muhme Gese deinen Geist ein und zwingt dich, zu murksen. Lauter dumme
Arbeiten sind es, zu denen sie dich antriezt, und da keine davon dein
Denken ausfüllt, zerfetzt sich diese hoffnungslose Neigung völlig.
Daß deine Nervenschmerzen, die dich seit einigen Jahren quälen, einen
anderen Grund haben, als weil du dir einmal beim Schlittschuhlaufen
nasse Beine geholt hast, das ist mir und Grete schon lange klar.«

Er setzte sich in den Vierländer Bauernstuhl, nahm die Laute und begann
die Weise zu klimpern, die er vorhin gesungen hatte. »Sieben Jahre mein
Herz nach dir schrie,« flüsterte es in ihm und dann: »Mensch, weißt du
es denn nicht, daß du sie liebst! daß du sie zum Verrücktwerden liebst!
von dem Tage an liebst, als du sie zum ersten Male sahst, als sie ein
Backfisch und du ein glücklicher Bräutigam warst?« Sein Herz zuckte
zusammen; das war wahr, war wirklich wahr. Er mochte nicht aufsehen
und steckte sich aus Verlegenheit eine neue Zigarette an, denn wenn
er jetzt, in diesem Augenblicke, das Mädchen ansah, dann, das fühlte
er, lag er vor ihr, küßte ihre Hände und bettelte um einen Kuß von den
Lippen, die nach einem anderen Manne seufzten.

Er griff in die Saiten und spielte das frechste von allen Liedern, die
er kannte, und summte dabei halblaut die ersten beiden Verszeilen:
»Auf der Lüneburger Haide ging ich auf und ging ich unter,« und
dann setzte er das Singen durch Flöten fort. Als er in den Spiegel
blickte, erkannte er, daß er tiefe Schatten unter den Augen hatte.
»Swaantje,« rief er und legte die Laute fort; »hier gibt es nur ein
Mittel: eine Tätigkeit für dich, die dir Freude macht. Dieser Kram da
zu Hause, wo du nur die Rolle eines unmaßgeblichen Haushaltsreferendars
spielst und nie eine freie Stunde für dich hast, das ist Gift für
dich. Raus mußt du, auf einen verantwortungsreichen Posten, der dich
müde, aber nicht matt macht, und auf dem du die Hauptperson bist
und nicht bloß ein Tantenschwanz, der alles machen muß, aber nichts
zu sagen hat. Entweder du verabschiedest die Tante, aber dann würde
sie sich natürlich sofort einen ihr gut stehenden Sarg anmessen
lassen, oder du kündigst ihr und ziehst mit lautem Hörnerklang in
die Hinausferne, siehst dir die Welt einmal ohne die Tante an und
siehst zu, daß du eine Arbeit findest, als Krankenschwester, als
Redaktörin, meinetwegen auch als sozialdemokrätzige Agittattersche
oder Frauenbewegungspropagandame. Aber zu Hause sitzen, Strümpfe für
Niggerblagen stricken, Missionspredigten anhören, Traktätchen verteilen
und sonst die Einmacherei überwachen und die Eierproduktion des
Federviehs statistisch aufnehmen und den ganzen Tag die Tante auf den
Hacken zu haben mit ihrer kamigen Liebe, dafür halte ich mir keine so
hübsche Kusine!«

Da lachte Swaantje wieder, stand auf und schüttelte die Falten aus
ihrem Rocke, und wie ein Blitz schlug in Helmold eine Erinnerung ein.
Er war vor Jahren einmal mit ihr Rad gefahren, und zwar an einem Tage,
an dem seine Lippen abscheulich heißhungrig waren, denn er war seit
drei Wochen Strohwitwer und sah, ohne sich viel dabei zu denken, allem
nach, was Röcke trug und jung und hübsch war. Als er so mit Swaantje
dahinradelte und ihr allerlei dumme Witze zuwarf, paßte sie nicht auf,
fuhr gegen einen Stein und kippte um. Er sprang sofort ab, aber ehe er
bei ihr war, stand sie schon wieder auf den Füßen, lachte, faßte ihren
Rock und schüttelte ihn in der Aufregung so gehörig, daß er in die Höhe
flog und er ihre Hosen bis oben hin sah. Nun konnte er alles vertragen,
bloß keine weißen Mädchenhosen; aber das einzige Gefühl, das er damals
gehabt hatte, war: »Wenn sie es bloß nicht gemerkt hat, daß ich es
gesehen habe!«

Jetzt, wo sie mit der selben Bewegung, wie an jenem Maienmorgen,
ihre Röcke schüttelte, brannte ihn eine nesselnde Vorstellung. Ihm,
das wußte er, konnte sie nie gehören, und er wünschte ihr alles
Gute, und dazu gehört für ein Weib ein Mann; aber der Gedanke, daß
ein Mann einmal so vertraut mit ihr stehen würde, daß er sie in den
verschwiegensten Hüllen sehen durfte, diese Vorstellung flog ihm wie
Schwefeldampf in den Hals und klemmte ihm die Lunge zusammen. Doch
sobald er das Mädchen wieder ansah, wurde ihm leichter zumute, und
während er sie in das Wohnhaus geleitete, fielen ihm schon wieder ein
paar Schnurren ein, und lachend kam er mit ihr in das Wohnzimmer.

Sie gingen alle früh zu Bett, und er schlief auch bald ein; aber am
anderen Morgen sah er so wenig frisch aus, denn er hatte fast die ganze
Nacht die quersten Sachen geträumt, daß seine Frau ihn fragte, ob er
nicht wohl wäre.

Da erzählte er ihr von Swaantjes tauber Liebe zu Professor Groenewold,
und Grete, die den Mann kannte, meinte ernst: »Das ist eine ganz
dumme Geschichte; nun wollen wir doppelt so lieb zu ihr sein und sie
möglichst lange hier behalten.« Sie wunderte sich weiter nicht, daß
ihr Mann nicht mehr sang und pfiff, wenn er malte, und nicht mehr so
frisch und fröhlich aussah, außer wenn das Mädchen zugegen war, und
dann dachte sie: »Er nimmt sich ihr Schicksal sehr zu Herzen.« Deshalb
schickte sie die beiden möglichst oft allein aus und freute sich, wenn
sie mit blanken Augen und roten Backen zurückkamen, und sie machte sich
weiter keine Sorgen darüber, daß Helmold, wenn er im Garten bei den
Blumen beschäftigt war, meist einen trüben Zug um den Mund hatte.

Sie war nicht eifersüchtig veranlagt, hatte viel gelesen und scharf
beobachtet. Nachdem ihre beiderseitige Liebe nicht mehr so toll
schäumte, sondern ruhig weiterperlte, hätte sie ihrem Manne eine
kleine Grenzverletzung nicht weiter nachgetragen, wenigstens wäre ihr
das lieber gewesen, als wenn er sich mit einer unglücklichen Neigung
herumgeschleppt hätte. In einer rosenroten Stunde hatte sie einst
seinen Kopf an die Brust gezogen und ihm gesagt: »Du, ich glaube, den
meisten Männerchen fällt es sehr schwer, ihren Weiberchen treu zu
bleiben. Wenn es dir einmal so geht, und du richtest weiter kein Unheil
an, tu', was du willst, nur wissen möchte ich es nicht.« Da hatte er
hellauf gelacht und gesagt: »Bist du aber gemein! Damit hast du mir den
ganzen Ulk verdorben; denn wenn ich tun darf, was ich will, dann ist
das Beste davon weg.«

In den drei Jahren, da sie beide mit vielen Sorgen kämpften, und er
noch obendrein in der ihm gar nicht liegenden Stellung als Lehrer an
der Kunstgewerbeschule reichlich Ärger und Verdruß gehabt hatte, hatten
sie ein Dienstmädchen gehabt, ein bildhübsches Menschenkind, das ihnen
mit seinem Lächeln ein wahres Labsal gewesen war. Als sie den Dienst
verließ, um zu heiraten, seufzte Frau Hagenrieder lang und breit hinter
ihr her; ihr Mann aber sagte: »Du hast am allerwenigsten Ursache, so zu
seufzen. Danke Gott, daß sie fort ist; denn wenn sie noch lange hier
gewesen wäre, wahrhaftig, ich hätte es nicht ausgehalten: ich hätte sie
in den Arm nehmen und küssen müssen.« Seine Frau hatte ganz trocken
geantwortet: »Das hätte ich dir weiter gar nicht übel genommen, und ich
wundere mich bloß, daß du es nicht getan hast; denn du bist doch sonst
nicht so.« Aber Helmold schüttelte den Kopf: »Erstens war sie verlobt,
und zweitens mochte ich sie viel zu gern leiden, um sie in Verwirrung
zu bringen. Aber offen gestanden, einen Kuß hätte ich als Andenken ganz
gern behalten.«

Von Swaantje bekam er auch keinen Kuß zum Andenken. Früher hatte er
ihr immer einen gegeben, wenn sie kam oder ging. Dieses Mal war er
dazu nicht imstande und küßte ihr noch nicht einmal die Hand, als
sie in ihr Abteil stieg. Am Abend vorher hatte seine Frau nämlich
etwas gesagt, das ihm wie ein Dachziegel auf den Kopf gefallen war.
Er hatte sich alle Mühe gegeben, recht lustig zu sein, und wenn ihm
auch gar nicht so zumute war, so gelang es ihm doch; es wurde ein so
vergnügter Abend, daß seine Frau seufzend sagte: »Es ist ein Jammer,
Swaantje, daß du morgen abreisen mußt; wie schön wäre es, wenn du
immer bei uns bliebest. Helmold kann ganz gut zwei Frauen brauchen,
und du paßt eigentlich besser zu ihm, als ich. Außerdem habe ich mit
dem Haushalte und mit den Kindern so viel zu tun, daß ich mich um den
armen Mann so gut wie gar nicht kümmern kann. Überlege dir das einmal,
Swaantje! Ich bin dann seine Sonnenfrau, die für den Leib sorgt, und
du das Mondweiberchen, das seine Seele bescheint.« Das Mädchen hatte
gelacht und gesagt: »Wenn alle Stränge reißen, werde ich von deiner
freundlichen Erlaubnis Gebrauch machen!« Als aber Grete lachend fragte:
»Und du, Helmold, wie denkst da darüber?« da ging er nach der Türe und
ließ den Hund herein, obgleich der noch gar nicht gekratzt hatte.

In der Nacht aber tat er kein Auge zu und sah am Morgen grün aus. »Sieh
bloß, Swaantje, wie er sich grämt, daß du uns verläßt!« sagte Grete
beim Frühstück. Das Mädchen wollte ihn ansehen, aber er sagte, ohne
aufzusehen, denn er strich sich gerade ein Brötchen: »Ich freue mich
auf das Wiedersehen; Swaantje will uns ja bald wieder besuchen.« Die
nickte. »Ja, aber erst, wenn du bei uns gewesen bist. Nicht wahr, du
kommst recht bald, lieber Helmold?«

Das versprach er ihr; aber ein halbes Jahr verging, bis er sein Wort
einlöste. Zu seiner Frau, die ihn oft genug quälte, hinzureisen, denn
er gefiel ihr von Woche zu Woche weniger, sagte er, seine Pläne hielten
ihn an beiden Händen fest. Das schien auch so; denn er arbeitete wie
verrückt darauf los, und wenn er kaum über den Anfang bei einem Gemälde
hinaus war, dann redete er schon von einer anderen Vorstellung, die
er unter dem Herzen trüge, und seine Frau mußte ihm recht geben, wenn
er sagte: »Du kennst mich ja! Ich würde doch keine Ruhe haben. Mich
langweilt vorläufig alles, außer der Arbeit. Das kommt, weil ich mich
jetzt endlich als Meister fühle. Stoff und Farbe gehorchen auf den
Pfiff. Zudem fange ich an, berühmt zu werden, und ich muß das Publikum
schmieden, solange es warm ist. Ich werde fünfundvierzig Jahre alt, und
diese Jahre sind meine besten. Aber, du hast recht; ich habe zu viel
getan. Sobald dieses Bild fertig ist, schnüre ich meinen Wanderstab und
fahre los.«

Doch als er soweit war, bekam er einen Auftrag von dem Prinzen, der
endlich zu seiner größten Freude das Stapelienbild bekommen hatte,
das sein Freund ihm früher nicht verkaufen wollte. Als der Prinz ihm
den Gutschein gab, lachte Helmold und sagte: »Danke! Übrigens neulich
wollte ich es dir beinahe schenken, lieber Brüne. Leider kann ich mir
solche Scherze nicht leisten.« Der Prinz, der seine Augen nicht von dem
Bild losbrechen konnte, meinte: »Geschenkt hätte ich es nicht genommen,
und wenn ich armes Tier mehr Geld hätte, würde ich dafür bezahlen, was
es wert ist. Aber warum magst du es eigentlich nicht mehr?« Der Maler
sah das Bild böse an: »Weiß ich selber nicht; bin die Person leid
geworden! Liegt mir zu offenbarungseidmäßig da. Sieh dich übrigens mit
ihr etwas vor; sie hat den bösen Blick.«

Als Gegengift bestellte der Prinz dann ein Gegenstück dazu. Der Maler
sagte: »Pendants sind eigentlich Blödsinn, aber mir fällt zufällig eins
ein.« Vier Wochen darauf hatte der Prinz das Bild, und da gerade eine
alte Muhme ihm eine gehäufte Million und ein Gut hinterlassen hatte,
gab er Helmold zwanzig statt der vereinbarten zehn Tausendmarkscheine.

Das neue Bild zeigte in der selben Lage, aber als Spiegelbild, und in
einem ähnlichen, nur in den Einzelheiten anders gehaltenen Rahmen, ein
Mädchen, dessen Augen alle Süßigkeit, die vom Weibe kommt, ausdrücken.
Hier war nur der Leib gemalt und einiges an den Lilien und Rosen, die
den Hintergrund bildeten; die Landschaft als solche aber war aus dem
Holze herausgespart. Helmold fiel, als er das Bild malte, das ein, was
er zu Swaantje über das Aussparen des Aktes der Chali gesagt hatte, und
als er den letzten Pinselstrich tat, sagte er vor sich hin: »Die Liebe
ist alles; das andere ist nichts.«

Dann trat er vor den Spiegel und sah sich an. Grete hatte recht; er
sah elend aus und hatte unruhige Augen. Er hatte zu viel gearbeitet,
hatte gar keine Erholung gehabt als höchstens eine Abendstunde, wenn er
mit den Kindern spielte. Das taube Herumlaufen hatte er immer gehaßt,
und die Jagd reizte ihn augenblicklich nicht. Dazu aß er nicht genug,
schlief vor drei Uhr nicht ein, rauchte viel zu viel, konnte keine
Flasche Wein mehr vertragen; es war Zeit, daß er Schluß machte.

Der Arzt hatte ihm geraten, eine Kuranstalt aufzusuchen, aber dazu
hatte er keine Lust. »Geh zu Swaantje!« riet ihm seine Frau, »die
bügelt dich wieder auf!« Aber das mochte er auch nicht; denn er sagte,
die Muhme fiele ihm auf die Nerven. Er fuhr in die Alpen, kam aber
bald zurück: »Die aufgedonnerte Landschaft mit ihrer Eiskonditorei und
ihrer Fastnachtsstaffage macht mir Nesselfieber!« Er ging an die See
und war nach acht Tagen wieder da: »Tortenbacken aus Sand, dazu bin ich
denn doch schon zu ausgewachsen. Und dann das ewige Geschmatze von dem
Meere! Ehe es sich keine besseren Tischmanieren angewöhnt, lasse ich da
nicht mehr arbeiten!«

Da schrieb Ohm Ollig, daß es mit Swaantje gar nicht gut stände; sie
schliefe keine Nacht vor Schmerzen, sähe wie ein Kellertrieb aus
und mache ihm wirklich Sorgen. »Fahr hin, und muntere sie auf!«
sagte Frau Grete, und wenn es auch drei Tage dauerte, ehe er so weit
war, schließlich fuhr er doch los. »Daß du sie mir aber mitbringst,
Helmold,« rief ihm seine Frau noch nach, als er auf der Treppe war; »es
ist doch niemals schöner bei uns, als wenn wir drei zusammen sind.«

Er hätte nicht sagen können, was für Fahrtgesellschaft er gehabt hatte;
er sah auch kaum die Landschaft, die er sonst immer zur Unterhaltung
mitnahm. Er hörte nur, daß die Wagenräder fortwährend nach einer und
der selben Weise seiner Frau die Worte nachsangen: »Wir drei, wir drei,
und wir drei und wir drei,« und als er sich besann, fand er heraus, daß
es eine Singweise von ihm selber war, die nämliche, die er gefunden
hatte, als er Swaantje vor der weißen Haide malte, das Lied von Rose
Marie, zu dem ihm noch folgende Strophe eingefallen war: »Jedwede
Nacht, jedwede Nacht, hat mir im Traume dein Mund zugelacht; kam dann
der Tag, kam dann der Tag, wieder alleine ich lag.«

Er wollte etwas anderes denken, aber er konnte die Melodie nicht
abschütteln, solange er in der Eisenbahn saß. Als er dann in dem
Jagdwagen nach Swaanhof fuhr, rasselten auch die Räder des Wagens in
dem Takte des Liedes.

Der Mond aber stand hinter den hohen Pappeln und grinste.



Der Vollmond


Von allen Freunden, die Helmold hatte, war der Mond der älteste; ob
es sein bester war, das erschien ihm freilich fraglich, als er in dem
großen Himmelbette lag.

Treu und anhänglich war er zwar, aber er hatte die dumme Angewohnheit,
immer dann zu kommen, wenn es Helmold am wenigsten paßte. Jetzt zum
Beispiel hätte er gern geschlafen, um die Gedanken loszuwerden, die
ihn fortwährend bissen; doch es ging nicht. Schon dreimal war er
aufgestanden und hatte in den Park gesehen, der taghell vom Mondlichte
war, und immer hatte er sich wieder hingelegt und den Versuch gemacht
einzuschlafen. Schließlich gab er es auf; er lag mit offenen Augen da.
Der Rücken tat ihm weh, sein Herz ging bald laut, bald leise, eben war
ihm die Steppdecke zu schwer, dann wieder zu leicht. Und dann war diese
aufdringliche Erinnerung da mit ihrem abgegriffenen Bilderbuche.

»Helmke, schläfst du noch nicht?« fragte ihn seine Mutter. Er sah sie
vor sich mit ihren sanften Augen und vernahm ihre warme Stimme. Und er
hörte, wie er ihr entgegenquiekte: »Ach, Muttchen, der Mond und ich,
wir haben eben so prachtvoll zusammen gespielt.« Ja, der Vollmond,
der war an vielem schuld gewesen, auch daran, daß Harmtien Hilgenberg
auf einmal zu ihrer Muhme auf das Land mußte. Helmold lächelte.
Harmtien Hilgenberg! Wenn die Mädchen Wadenmessen spielten, war sie
immer die Beste gewesen. Als sie dann einmal im Kirschbaum saß mit
ihren weißen Strümpfen und ihren weißen Hosen, damit fing es an. Und
dann der Wassergang und der Schloßwall! Ach ja! Schön war es doch
gewesen, trotzdem es eine Kinderei war! Na, und schließlich kam der
alte Hilgenberg dahinter, und es gab einen großen Krach. Beinahe wäre
Helmold von der Lateinschule gejagt, und bei allen Müttern in der Stadt
galt er als ganz verdorbener Junge. Er lächelte. Dafür galt er bei den
Töchtern als gefährlicher Mensch, und das schadete ihm wenig.

Er seufzte. Das Bild an der Wand, das Swaantjes Mutter darstellte,
sah ihn freundlich an. Ob das Mädchen auch wohl wachte? Sie hatte
den ganzen Tag nicht gut ausgesehen; auch sie litt unter der
Zudringlichkeit des Mondes. Ob er ihr auch Dinge erzählte, an die
man sonst nicht denkt? »Kerl,« hatte der Mond oft zu Helmold gesagt,
»Kerl, weißt du, wie dein Leben sein müßte: ein Gedicht von rot in Rot;
rote Küsse auf rotem Blut! Die weite Haide, Kerl, ein blitzblanker
Rappe zwischen den Beinen, den Bogen auf dem Rücken, den Köcher an
der Seite, und in der Hand das Schwert, das mit dem damaszenischen
Stichblatt, Kerl! Und dann, Kerl, hinter dir tausend Kerle, so wie du,
Kerl, die dir alle auf den Pfiff gehorchen, Kerl, und dann der Feind!
Kerl, nichts sieht doch feiner aus, als rotes Blut auf einer mit Gold
ausgelegten Klinge! Und dann, Kerl, wenn die Wölfe sich um Männerköpfe
anknurren, Kerl, und du dich gebadet und umgezogen hast, dann Kerl,
das Haus am Berge, das weiße, du weißt doch, unter den Eichen, und die
beiden schönen Frauen, die dir entgegenwinken, Kerl, und dir geben, was
du haben mußt, laute und leise Küsse, und heiße und kühle, so viel du
willst. Was hältst du davon, Kerl?«

Helmold warf sich auf die andere Seite. Albernheit! Aber schön wäre es
doch. Damals, in München, hatte er jeden Tag zweierlei Küsse bekommen,
laute und leise, heiße und kühle. Wie Swaantje wohl küßte? Sicher
leise und kühl. Er schüttelte den Kopf und wischte sich die Lippen ab.
Würde sie ihn wohl küssen mögen, wenn sie wüßte? Die kleine sanfte
Schneiderin, was war sie weiblich. Miezi hieß sie. Und das dicke
heftige Tresl! Er wäre verhungert, hätte er die damals nicht gehabt.
Sie hatte sich ihm aufgedrängt, und er hatte sich ihre heißen Küsse
und ihre heißen Bockwürste gefallen lassen. Die Akademie hatte ihm
den ehrenvollen Abschied gegeben, Schneeschüppen brachte nicht sehr
viel ein, der Vormund schickte ihm kein Geld; eine schöne Patsche war
es, in der er saß. Keine Wohnung und ein Hunger, ein Hunger! Kalte
Pellkartoffeln hatte er einmal mit Wonne gegessen, zweiundzwanzig
Stück, und amerikanisches Schmalz dazu. Wenn er gewollt hätte, konnte
er damals Selchermeister werden, denn das Tresl hätte ihren Vater
dazu herumgekriegt. Beinahe war er schon so mürbe, aber da traf ihn
der Mond im englischen Garten: »Kerl, du wirst doch nicht? Bist wohl
verrückt, Kerl! Würstemachen? Ja, wenn es in der Haide wäre! Aber hier,
das hältst du nicht aus auf die Dauer. Komm mit, Kerl, ich will in die
Haide!«

Helmold trat die Steppdecke von sich, aber dann zog er sie wieder über
sich und streichelte sie; Swaantje hatte die Spitzenkante gehäkelt.
Swaantje! Er sprach den Namen leise vor sich hin. »Du hast dich
eigentlich noch so gut wie gar nicht erholt, lieber Vetter!«, hatte sie
ihm gesagt; »du mußt hier nicht an deine Bilder denken!« Verächtlich
verzog er den Mund. Seine Bilder! Die quälten ihn nicht. Ein Dutzend
hatte er im Kopfe fertig, ein ganzes Dutzend, in diesen vier Wochen,
seitdem er auf Swaanhof war. Und was für Bilder! Schulze in Firma
Schulze und Schultze würde sich alle seine zehn klebrigen Finger
danach lecken. Sechsmal hatte er ihm schon geschrieben und gefragt,
ob er nicht das nächste Bild haben könnte. Früher war das anders;
da mußte Helmold im Vorzimmer warten, bis ihm der Magen knurrte, und
nachher hieß es: »Herr Schulze ist leider abgerufen!« Jetzt konnte er
Herrn Schulze warten lassen, und der nahm es ihm nicht übel. »Ich habe
Zeit, verehrter Meister!« grinste er. Und Hennig Hennecke sagte ganz
ernst: »Malermeister, Herr Schulze, Malermeister!« Und Schulze lächelte
schlagsahnig: »Ein Witzbold, der Herr Redaktör, ein geistreicher Kopf!«

Ja, daß er und Hennig Freunde wurden, das hatte er auch wieder
dem Monde zu verdanken. Eigentlich war es zu dumm. Auf der großen
Frühjahrskitschausstellung hatte die Jury endlich ein Bild von ihm
angenommen und in die Ecke gehängt, wo das Tageslicht seine blendendste
Negativität entwickelte. Hennecke hatte sein Verzeichnis dort liegen
lassen und es abends geholt, und dabei hatte ihm der Vollmond
Hagenrieders Bild gezeigt. »Die Nebelfrauen« hieß es, aber der Mond
hatte Leberwürste aus den Elfen gemacht, und Hennecke hatte in seinem
Berichte also geschrieben. Helmold lachte. Wo er hinkam, hielt man ihm
die Zeitung unter die Nase. Fuchsteufelswild hatte er Hennecke auf eine
Postkarte gemalt, wie der abends über eine Moorwiese lief und sich vor
lauter gespenstigen Leberwürsten ängstigte, die ihre Mostricharme nach
ihm ausstreckten, und die hatte er ihm geschickt.

Am anderen Tage klingelte es: »Sind Sie Hagenrieder? Ich heiße
Hennecke! Wo pflegen Sie sich zu betrinken?« Nach einer Stunde waren
sie ebenso angeheitert wie angefreundet.

Ach ja! Wer so sein könnte, wie dieser Mann! So ruhig, so bäurisch, so
zielbewußt. Er hatte ihm das einmal gesagt. Hennig hatte gelacht, ein
Buch aus dem Schranke gelangt, eine Stelle aufgeschlagen und gelesen:
»Der wird nicht weit kommen, der von Anfang an weiß, wohin er geht.«
Dann hatte er gesagt: »Also sprach der Korse. Merke es dir, du Dussel,
und sei froh, daß du nicht diese verflucht übersichtliche Begabung
hast, wie ich. Konjak oder Schartrös?«

Helmold langte nach der Wasserflasche. In seinem Wohnzimmer hatte er
Konjak. Aber er wollte nicht trinken; nun gerade nicht. Jedesmal, wenn
er nicht hatte Maß halten können, war es bei Vollmond gewesen. Auch
damals, als ihm das Leben auf der Kunstgewerbeschule den Atem nahm. Der
Direktor, dieser Professor Römer, er meinte es ja gut, als er ihm eine
Schwungfeder nach der anderen auszog. Und dann kam der bewußte Abend.
»Nun noch die Schwanzfedern, dann der Professortitel und dann bin ich
so weit,« hatte Helmold gedacht und sich derartig unter Sekt gesetzt,
daß er drei Tage schwänzen mußte.

Er lachte, denn das Gesicht des Direktors war zu niedlich gewesen,
als der ihn gefragt hatte, warum er weggeblieben war, und die Antwort
bekam: »Ich hatte zu viel Sekt getrunken!« Na ja, und dann gab es
Krach, und es war Schluß. Grete hatte erst ein langes Gesicht gemacht,
sich aber bald sehr tapfer benommen. Tüchtiges Mädel! Schade nur, daß
sie ihn so gar nicht verstand. Oder vielmehr, daß sie zu sehr auf sich
gestellt war. Da war Swaantje anders. Die lehnte sich mehr an, gab sich
mehr hin, war weniger Mensch für sich, mehr Weib.

Der Goldrahmen an der Wand blitzte. Im Garten rief das Käuzchen.
Mehr Weib? Vielleicht schien das nur so. Wenn sie an einem anderen
Platze stände, würde sie vielleicht weniger weiblich-hülflos wirken;
körperlich wenigstens, oder vielmehr: leiblich.

Helmold nahm sein Tuch und trocknete sich die Stirne und die Brust.
Er sah sie neben sich, den Kopf auf seinem Arme, und er nahm sie und
küßte sie auf die Hände und den Mund und langte nach den Spitzen unter
ihrem Kinn; aber da war sie verschwunden. Er lachte bitter. So ging es
ihm immer; Hände und Mund, mehr bekam er von ihr nie, auch in Gedanken
nicht, und im Traume schon gar nicht. Seine Stirne bezog sich, seine
Augen stachen nach dem Bilde ihrer Mutter hin. »Wenn ein Mensch einen
anderen liebt, müßte er es doch merken«, hatte Swaantje neulich gesagt.
Professor Groenewold merkte es nicht, und Swaantje auch nicht.

»Vielleicht kommt das daher, weil ich sie gar nicht als Weib liebe«,
dachte er. »Wie aber? Als Bruder, als Vater, als Künstler?« Er seufzte
tief auf und fuhr sich über die Augen. Das ging nun Nacht für Nacht so;
die eine Nacht las er, die andere dachte er. Wenn Grete da wäre? Aber
nein! Liebte er sie noch? Düster sah er in die Falten der Vorhänge. Was
ist Liebe? Zusammenklang, aber kein Nebeneinanderklang. Ebu Zeidun, du
hattest recht, zu singen: ›Und wir brachen den Zweig der Liebe, und
wir rissen seine Blüten herunter.‹ Und Henry Beyle wußte es auch, als
er seiner Schwester schrieb: ›Wenn wirkliche Liebe in der Ehe besteht,
so ist sie ein Feuer, das erlischt, und zwar um so schneller erlischt,
je heller es gelodert hat. Die Natur läßt die Nerven nicht lange in
derselben Spannung, und jeder häufig wiederholte Eindruck wird geringer
und weniger fühlbar.‹ Als er jene Stelle zum ersten Male las, vor
sieben Jahren, hatte er an ihrer Wahrheit gezweifelt; aber es stimmte
schon.

Eine Mücke summte über ihn hin. »Wir drei, wir drei, wir drei«, summte
sie. Ganz deutlich war das zu hören. Eine Totenuhr klopfte: »Wir drei,
wir drei, wir drei«, klopfte sie. Die Turmuhr schlug: »Wir drei, wir
drei, wir drei«, schlug sie. Wieder rief das Käuzchen: »Wir drei,
wir drei, wir drei«, rief es. Die Wildenten schnatterten auf dem
Burggraben: »Wir drei, wir drei, wir drei«, schnatterten sie. Grete
oder Swaantje? Grete und Swaantje! Rot und grün! Laut und leise! Licht
und Schatten! Heiß und kühl! Komplemente! Das eine ohne das andere
nicht zu denken. Ergänzungen! Hälften! Nein, Drittel, erst ganz, wenn
es hieß: Gretehelmoldswaantje! Swaantjehelmoldgrete! »Wir drei, wir
drei, wir drei!«, klopfte sein Puls, schlug sein Herz, hauchte sein
Atem.

Vor seinen Augen jagten sich seine Bilder und sangen ihm die Lieder,
die er noch nicht kannte. Hier Wode, da Christus, der eine schwarz,
der andere weiß, und dazwischen als Mittelbild des Triptychons die
Hinrichtung der Sachsen, rot in Rot. Christus und Wode sahen sich über
das Bild an; Christus lächelte verlegen, Wode überlegen. Und das Bild
sang: »Rose weiß, Rose rot, wie süß ist doch dein Mund!«

Er sang die Weise vor sich hin. Weg war sie, und eine andere kam
angesummt, leise, wie eine Mücke. »Sie sangen ihm von Avalun, gelb
war sein Haar«, klang es. Und da war das Bild: schneeweiße Sandhügel
mit kohlschwarzen Schatten, die Sahara; davor tote Männer, Kabylen,
lang, mit edlen Gesichtern; der eine mit rotem Bart und blauen Augen,
der andere schwarz, Beni Benjamin, der Doktor. Und daneben mit
Zuhältergesichtern, grinsend, wie Mandrills, französische Offiziere,
Dirnen am Arm. Und dann Swaantje vor weißer Haide, und die Haide sang:
»Rose Marie, Rose Marie, sieben Jahre mein Herz nach dir schrie«. Und
noch ein Bild, furchtbar: Mönche vor einem Holzstoße, der brannte, und
in den Flammen Frigges, der Süßen süßes Gesicht. Und eine weinende
Stimme sang: »Dann blühen alle Blumen rot, so rot, so rosenrot.«

Frigge verschwand; Chali sah ihn an, doch sie hatte Gretes Augen,
traurige Augen! Aber nein, Swaantjes Augen waren es, bitterböse Augen.
Am Morgen war ihnen in der Stadt eine junge Frau begegnet; böse hatte
sie nach Swaantje hingesehen, und deren Augen wurden zu Eis. »Kennst
du die?« Swaantje nickte. »Du haßt sie?« Sie zuckte die Achseln. »Ich
glaube.« »Weshalb?« fragte er weiter. Sie hob abermals die Schultern.
»Ich weiß es nicht; ich glaube, sie haßt mich; das fühlt man.
Gesprochen habe ich nie mit ihr.«

Liebe und Haß, was ist das? Die Buddhisten glauben, daß mit dem Tode
die Seele zerreißt, und daß dann die Stücke neue Verbindungen eingehen,
glückliche und unglückliche; daher kommt alle Wonne in die Welt und
alles Weh, alle Liebe, aller Haß, jede Guttat, jede Bluttat. Ein
schöner Gedanke und ein schrecklicher! Swaantje, gib mir das Stück
meiner Seele, das du bekamst, als du geboren wurdest, und wenn du das
nicht kannst, gib dich mir ganz! Kannst du das? Am Ende bist du zum
Teil Mann! Unsinn! Aber nein: denn wenn eine Frau nicht etwas Mann
wäre, wie könnte sie dann Knaben gebären, und wenn ein Mann nicht etwas
vom weiblichen Wesen in sich hätte, wie wäre es ihm wohl möglich,
ein Mädchen zu zeugen? Es gibt keine Grenzen zwischen den Dingen;
sie werden gemacht! Es gibt keine Arten und Gattungen bei Pflanzen
und Tieren; wir denken das System in die Natur hinein! Eine dumme
Eselsbrücke ist das für uns einsichtsloses Pack. Man kann Umrisse
malen, aber wo sind sie in der Natur? Auch die Moral, auch die Gesetze,
sie sind künstliche Konturen. Wer sich in sie hineinbegeben kann, wohl
ihm; jeder kann es nicht.

Der Mond, der hinter den hohen Pappeln herschielte, schüttelte
mitleidig den Kopf, als er alles das mit ansehen mußte, was sein Freund
sich dachte. Er tippte ihm auf die Schulter und flüsterte ihm zu:
»Kerl, komm, wollen uns was erzählen! Kannst ja doch nicht schlafen.«
Listig grinsend setzte er hinzu: »Sie schläft auch nicht.« »Was geht
dich das an, alter Esel?« schnauzte der Maler, aber dann lachte er,
stand auf, holte sich seine Zigarettendose und setzte sich in den einen
Sessel, der in der tiefen Fensternische stand, und der Mond plumpste in
den anderen.

»Berühmt siehst du nicht aus, Kerl,« sagte der Mond; »regst dich viel
zu sehr auf. Mußt es machen wie ich, immer kühl bleiben, das setzt
an.« Dabei klopfte er sich auf die strammsitzende Weste. »Halt die
Schnauze, du dämlicher Affe,« fuhr ihn sein Freund an, aber dann fragte
er: »Schläft sie wirklich nicht?« Doch der Mond war beleidigt; er
antwortete nicht, und als Helmold ihm eine Zigarette anbot, dankte er;
er sei nur Russen gewohnt und möge keine Herzogowinas.

Helmold grinste heimtückisch und dachte: »Warte nur, alter
Kartoffelkopp, ich kriege dich schon! Ich packe dich bei deiner
Künstlereitelkeit; darauf fällt unsereins ja immer hinein.« Er blies
den Rauch der Zigarette so, daß er dem anderen in die Stubbsnase zog;
der atmete ihn verstohlen ein und schielte heimlich nach der Dose aus
Tulasilber, die aufgeklappt auf dem Fensterbörde lag.

Der Maler sah in den Park, wiegte wohlgefällig den Kopf, nickte,
sah den Mond an und sagte: »Kerl, so gut ist dir noch kein Gedicht
gelungen, wie dieses da; allerhand Hochachtung!« Er zeigte nach dem
Schloßgraben: »Köstlich, dieser trefflich gelungene Vergleich des
Wassers mit einer silbernen Brücke, einfach köstlich!« Er steckte sich
eine neue Zigarette an: »Du bist sonst sparsam mit Ausrufungszeichen,
Kerl; aber wie du da mit der Pappel die hochpathetische Stelle zu
betonen wußtest, das ist einfach Goethe!«

Er nickte und ließ seine Augen über den Park gehen: »Und wie famos,
daß du hier und da nicht das Letzte sagst, sondern dem denkenden Leser
Gelegenheit gibst, weiterzudichten, so dort bei der Epheustrophe;
erst alles ganz bestimmt und klar, und dann diese geheimnisvolle,
vielsagende, andeutende Dunkelheit.«

Dann setzte er hinzu: »Nur eine Kleinigkeit, Kerl, die stört mich. Der
an und für sich ganz prächtige Vergleich des witzigen Baumschattens auf
der Wand des Flügelgebäudes mit einem Wegweiser könnte fehlen; er ist
überflüssig, und das Überflüssige ist immer unkünstlerisch, ist das
Unkünstlerischste. Du kannst ja diese Stelle auch leicht streichen.«

Der Mond, der anscheinend gleichgültig, aber innerlich sehr
gestreichelt das Lob hingenommen hatte, lächelte spitzbübisch. Er faßte
erst in die eine, dann in die andere Tasche, machte ein ärgerliches
Gesicht und griff dann nach der Zigarettendose, indem er sagte: »Du
erlaubst? ich habe meine im Überzieher stecken lassen!« Er zündete sich
eine Zigarette an, ließ den Rauch aus den Lippen in die Nase steigen,
atmete ihn ein, ließ ihn in zwei Ketten winziger Kringel aus den
Mundwinkeln quellen, lächelte seinen Freund schelmisch an und sprach:
»Meinst du, daß der Vergleich so überflüssig ist? Du glaubst, ich hätte
ein einfaches Stimmungsgedicht geschrieben. Nimm einmal deine zwei
bis drei Sinne zusammen und lies es mit Verstand, so wirst du finden,
daß es ein zweites Gesicht hat. Weißt du, was es ist, Kerl?« Er sang
halblaut: »Ein Lied der Liebe, ein Sang der Sehnsucht, ein Gebet an die
guteste aller Göttinnen, an Frigge, die fröhliche Frau.«

Helmold zog die Augenbrauen hoch: »Das ist mir zu hoch, Kerl; das mußt
du mir verklaren!« Der Mond grinste: »Also du hast den Vergleich mit
einem Handweiser glücklich begriffen?« Der andere nickte. »Handweiser
pflegen zu weisen.« Wieder nickte Helmold. »Na also!« lachte der
andere, und als der Freund ihn dumm ansah, plinkte er ihm zu, und da
schlug der Maler sich vor die Stirn, denn der blaue Schatten auf der
weißen Wand zeigte nach dem Erker hin, hinter dem Swaantje schlief.

Bittend sah er den Freund an: »Du hast sie gesehen?« Der andere nickte
listig lächelnd. »Bitte, lieber Dicker, erzähle, erzähle; was tut
sie? schläft sie? Und wie geht es ihr? Geht es ihr gut, oder hat sie
wieder ihre Schmerzen? Ach, Kerl, du weißt doch! Los, erzähle! Ich tu
auch alles, was du willst. Soll ich dich in Öl malen oder in Pastell?
Halbakt oder ganz? Kniestück oder stehend? Voll oder halbvoll?«

Der Mond nahm sich eine neue Zigarette, zündete sie an dem Stümpfchen
der ausgerauchten an, blies den Rauch von sich, sah den Maler ernst
an und begann: »Sie ist jetzt eingeschlafen, jetzt eben. Sie hatte
Schmerzen, aber nicht sehr schlimme. Sie sah sehr schön aus. Ich
habe sie gesehen, als sie sich umzog. Na, du weißt, ich sehe nicht
mit Menschenblicken«, setzte er schnell hinzu, denn Helmolds Augen
bewölkten sich. »Sie zieht sich niemals bei Licht aus; sie ist vor sich
selber keusch.«

Er blies einen dicken Ring in den Park. »Sieh mal, Kerl, ich kenne alle
Frauen, die da waren, und sämtliche, die da sind. Ich sah noch wenige,
die diesem Mädchen glichen. Bis vor zwei Jahren war noch kein Gedanke
an einen Mann auf ihren Lippen zu sehen, ihre Brüste lebten still für
sich hin, ihre Lenden schliefen, und ihr Schoß wußte nichts von sich
selber. Das ist jetzt manchmal anders.«

Er runzelte die Stirn: »Ein sonderbares Menschenkind! Sonst weiß ich
stets, an wen eine denkt, hier nicht. Zu flüchtig ist die Schrift,
kaum zu lesen. Anfangs glaubte ich, so solle es heißen, aber dann sah
ich, daß ich mich geirrt hatte. Außerdem, was sie denkt, es ist so
wenig bewußt, daß schwer dahinter zu kommen ist, sehr schwer. Wenn
ein unberührtes Weib eines Mannes liebend gedenkt, wird sie seiner
gleichzeitig als Mutter, Schwester und Braut gedenken. Darum, lieber
Helmold, du weißt, wir haben uns Aufrichtigkeit gelobt: sie denkt an
dich.«

Der Maler sprang auf: »An mich?« Der andere drückte ihn in den Sessel
zurück. »Ja, aber in welcher Weise, das, mein Lieber, weiß ich nicht.«
Helmold keuchte: »Und der andere? Wie ist es damit?« Der Mond wiegte
den Kopf hin und her: »An den denkt sie auch noch, aber in verblaßter
Weise; an dich denkt sie mehr. Sie trägt Sorge um dich; sie denkt
immer an dich. Ob aber nicht nur als Schwester, oder in der Art, wie
eine Mutter ihres Kindes gedenkt, das kann ich dir wahrhaftig nicht
sagen. Ich weiß nur das eine: ich bin heilsfroh, daß ich kein Mensch
bin, denn sonst müßten wir uns auf krumme Säbel schlagen. Sie ist ohne
Fehl trotz ihrer Fehler. Deren hat sie mehrere an Leib und Geist.
Du weißt ja: ihre zu kleinen Hände, ihre allzugroße Nachgiebigkeit,
und die zu stark entwickelte Willensschwäche, und dieser gänzliche
Mangel an Selbstsucht. Und dann dieses allzu bewußte Vertiefen in
Philosophie, Geschichte, Kultur, Dichtkunst und andere Allotria. Das
ist mir zu unweiblich. Die Mitgift von Mannestum, die jedes Weib hat,
braucht sie für ihre Bildung, statt für ihr Leben. Sie ist ein Stück
Künstler, leider! Künstlertum verträgt sich nicht mit Vollweiblichkeit;
das Erzeugen ist euer Vorrecht. Frauen haben etwas anderes zu tun,
vielleicht besseres. Denn, wie du weißt: Kunst, was ist das? Ein
Notbehelf für das Leben.«

Er seufzte: »Keiner weiß das so gut wie ich. Alle meine Werke und
meinen ganzen Ruhm, ich gäbe das sofort hin für ein Stück gelebtes
Leben.« Er stand auf: »Und nun, Kerl, es wird Zeit; ich muß fort. Und
dir fallen ja die Augen zu. Bis morgen!«

Helmold stand müde auf. Er warf seine Zigarette in den Garten; wie eine
Sternschnuppe fiel sie im Bogen in das Buschwerk. Vier Jahre waren es
her, daß er mit Swaantje den sterbenden Sternen zusah. Sie hatte ihn
gefragt: »Was hast du dir gewünscht, lieber Helmold?« Er hatte sie
angelacht: »Ich wünsche nie etwas; ich will etwas. Aber was hast du dir
gewünscht?« Sie lächelte: »Nichts; ich dachte erst daran, als es zu
spät war.«

Ja, so war sie, wunschlos und unbegehrt. Und wenn er nur wüßte, ob
er selber sie begehrte! Er hatte vergessen, den Mond danach zu
fragen. Seine Seele begehrte ihre Seele. Das andere? Er prallte vor
dem Gedanken zurück. Seine Lippen flatterten nach ihrer Stirne, seine
Finger dachten an ihre Hände; aber scheu gingen sie an ihren Schultern
vorbei und mieden ihre Hüften gänzlich. Wie oft hatte er sie nicht im
Ballkleide gesehen! Niemals war sein Blut wärmer geworden, und sie war
doch so schön an Hals und Schultern, und ihre Arme waren herrlich.
Aber nie hatte sich die gemeine Habsucht neben ihn gestellt und mit
dem Kopfe nach ihr gewinkt. Sogar damals nicht in jener schlaflosen
Nacht, einer Nacht, voll von Rosenduft und Nachtigallenschlag, als er
in den Büchersaal ging, um sich den Angelus Silesius zu suchen, und sie
plötzlich vor ihm stand, im Nachtkleide, das Licht in der Hand, und der
Schatten der Palmblätter mit unverschämten Fingern über ihre Schultern
nach ihren Brüsten wies, die aus den Spitzen hervorsahen, die sie mit
der linken Hand schnell zusammenraffte, als ihr Vetter ihr plötzlich
gegenüberstand. Nur Schreck war es gewesen, was sie damals in seinen
Augen hätte lesen können, und vielleicht eine reine Freude an ihrer
Schönheit. Möglichenfalls hatte auf dem tiefsten Grunde seiner Seele
ein zaghafter Wunsch schüchterne Worte gestammelt; doch sie waren von
dem Willen überhört worden.

Nur wenn sie das weiche, lose Kleid aus weißer Wolle trug, hatten seine
Arme zärtliche Gedanken gehabt, denn so verlockend fraulich sah sie
darin aus. Einmal, als sie in rosenrot und weißgestreiftem, locker
gerafftem Kleide vor ihm her durch die blühende Wiese schritt, hatten
seine aktgeschulten Augen sich auf die Melodie ihres Leibes zu besinnen
versucht; bis zu dem Texte hatten sie sich aber nicht hingetraut.

Die Schleiereule flog an dem Fenster vorbei; die Turmuhr schlug
fünfmal; da legte er sich nieder. Aber noch zwei Viertelstunden mußte
er sich von seinen Gedanken stechen lassen, ehe sie fortflogen.

Die Amsel sang schon seit Stunden, da tat sich die Tür leise auf, und
Swaantje kam im Nachtkleid herein; unter dem weißen Gewande schoben
sich ihre nackten Füße verstohlen über den Teppich. Sie hielt mit der
einen Hand die Spitzen über ihrer Brust zusammen, die andere hatte
sie vor den Augen liegen, so daß das Morgensonnenlicht warm auf ihrem
gebogenen Arme spielte. Sie riegelte hinter sich die Tür ab, beugte ihr
Gesicht über ihn und ließ ihre Lippen seinem Munde entgegenschweben;
mit einem stummen Jauchzer legte er seinen Arm um Adda.

Denn Swaantje hatte sich verwandelt; Adda küßte ihn, Adda mußte er
liebkosen, Adda, die ihm nicht mehr war, als ein hübscher, kluger,
kaltherziger Mensch, der zufällig ein Weib war, mit dem kein einziger
seiner geheimen Gedanken sich je beschäftigt hatte. Wehrlos mußte er
sich der ungeliebten Frau hingeben, machtlos war er in ihren Armen,
ohne Widerstand duldete er ihre langweilige Leidenschaft.

Mit einem Seufzer, aus Lust und Ekel gemischt, fuhr er in die Höhe, sah
wirr um sich, sprang aus dem Bette, warf sein Nachtgewand von sich und
stieg in das Bad. Erst als er fertig angezogen vor dem Spiegel stand,
gelang es ihm, den Zug von Pein fortzuwischen, der um seinen Mund lag.

Aber als er genauer zusah, erblickte er hinter seinem Spiegelbilde
einen anderen Mann, von den Füßen bis zum Kopfe in Eisen gehüllt, der
ihn aus der Visierspalte mit herrischen Augen ansah, und als er sich
die Augen näher anschaute, erkannte er, daß es seine eigenen waren, und
er wunderte sich darüber.

Doch da war das zweite Spiegelbild auch schon verschwunden.
»Nervenüberreizung«, dachte er und ging in das gelbe Zimmer.



Der eiserne Ritter


Die Sonne spielte mit den Stäubchen Kriegen, als er durch das
Treppenhaus ging; sie fiel durch die grünen und roten Fensterrauten
und warf bunte Streifen durch den Raum, die als seltsame Flecke an den
Wänden hängen blieben.

Helmold ging auf dem Läufer; deshalb wunderte er sich, daß seine
Schritte klirrten, als habe er Reitstiefel an. Er drehte sich um, denn
er dachte, der Reitknecht sei hinter ihm; aber als er den Kopf wandte
und sein Blick in den Pfeilerspiegel fiel, sah er den eisernen Ritter
darin stehen und zu ihm herübernicken. »Kaltwasserheilanstalt!«, dachte
er.

Swaantje stand am Fenster, als er in das Frühstückszimmer trat; sie
hatte das gefährliche Kleid an. Als sie ihn anlächelte und ihm die
Hand bot, wurde ihm weh um das Herz, und ein bitterer Geschmack war
in seinem Munde. Er dankte stumm, als sie ihm in ihrer lautlosen Art
die Brotschnitten zurechtmachte und hinreichte, ihm den Tee eingoß
und freundlich sagte: »Nun iß, lieber Helmold, und erzähle mir, was
dir geträumt hat!« Er sah sie so entsetzt an, daß sie erst auflachen
wollte, aber dann neigte sie sich über den Tisch, griff seine Hand
und fragte: »Was hast du für einen traurigen Mund? Wieder schlecht
geschlafen? Du sollst hier nicht an deine Bilder denken; das hast du
mir doch versprochen.«

Ihr Vater und seine Schwester kamen; erleichtert atmete Helmold auf.
Der alte Herr sah die Post durch. Er machte ein böses Gesicht, und
Frau Gese fragte ihn besorgt: »Sind die Kurse wieder gefallen, liebster
Ollig? Ich habe es mir gleich gedacht, denn wir haben nun einmal kein
rechtes Glück; mein Los hat auch wieder eine Niete gehabt. Und denke
dir, Pinke hat sagen lassen, mehr als acht Pfennige gäbe er für die
Eier nicht mehr! Das ist doch wirklich stark. Swaantien, hast du schon
gefragt, wie viele heute da sind?« Das Mädchen nickte. »Und ob das
weiße Perlhuhn noch immer nicht da ist?« Das Mädchen antwortete durch
ein Kopfschütteln. »Vergiß ja nicht, Fenna zu sagen, daß sie nicht
wieder von der besten Butter für die Leuteküche nimmt, und Janna soll
keine Zeitungen mehr zum Feueranmachen nehmen, sondern Reisig. Das
Mädchen bringt mich noch um mit ihrer Verschwendungssucht!«

Sie wandte sich an Helmold: »Ich werde nach Adda schicken; die kann
heute nachmittag mit euch gehen, wenn ihr nach dem alten Heidengrabe
wollt. Denn so sagtest du doch gestern, lieber Helmold?« Er wollte
schon sagen: »Sehr angenehm!«, aber da sah er in dem Pfeilerspiegel den
Mann im Harnisch stehen und verächtlich lachend den Kopf schütteln, und
so antwortete er: »Ich verzichte; ist für Adda kein Genuß und für uns
erst recht nicht!«

Die Tante seufzte: »Sie tut es ja nur eurethalben.« Helmold sah
erstaunt auf: »Unserthalben? Uns liegt gar nichts daran daß sie neben
uns hertappelt und andauernd über die Gefahr stöhnt, der sie ihren
Teint aussetzt.« Die alte Dame machte ihre kummervollsten Augen: »Aber,
lieber Helmold, allein solltet ihr beiden nicht so viel ausgehen. Frau
Bergedorf machte neulich schon eine Bemerkung darüber!« Der eiserne
Ritter nickte; seine Augen funkelten höhnisch durch die Visierspalte.
»Bist du der selben Ansicht, liebe Muhme,« antwortete Helmold höflich,
»so füge ich mich durch Abreisen. Was die Gaffelzange vom Duttenhofe
sagt, ist mir gleich. Übrigens hat sie recht, übel von ihren
Mitmenschen zu denken; ihr Vorleben ist ja auch danach.«

Er sah in den Spiegel; der gepanzerte Mann nickte beifällig. Die Muhme
sank hinter der Kaffeemütze zusammen. Helmold warf leicht hin: »Na,
sie kann sich beruhigen, in zwei, höchstens drei Tagen muß ich fort;
ich habe ein Dutzend Bilder im Leibe. Aber heute und morgen will ich
Swaantje noch für mich haben. Also verschone mich mit Adda, bitte!
Kommst du mit in den Park, Swaantje?« Das Mädchen nickte und stand auf.

Im Hausflur schüttelte er sich wie ein nasser Hund und lachte:
»Muhme Geses Piepmatz ist bald schlachtereif; kommt sie mir noch
einmal so dumm, dann male ich sie als Göttin der alles aufweichenden
Philisterhaftigkeit und die Bergedorfen daneben als die der
kleinstädtischen Niedertracht, aber beide als Ganzakte, die eine als
Braten, die andere als Knochenbeilage. Und darunter schreibe ich: Hätt'
Eva so oder so ausgesehn, brauchte Adam nicht aus Eden zu gehn!«

Das Mädchen lächelte, aber dann flehte sie: »Bitte, Helmold, die Tante
ist so gut; und sie hat dich so gern. Gestern sagte sie es noch.«
Er knurrte: »Ich verzichte auf eine Liebe, die mir nicht bekommt;
Schwindel ist das. Bitte, laß mich ausreden! Deine Muhme, ich habe
dir das schon einmal in scherzhafter Weise gesagt, ist ein Ungetüm,
das inkognito reist, ein menschenfressendes, kannibalisches Geschöpf.
Gestern hat sie in einer Stunde achtzehn geschlagene Male gesagt:
›Swaantien, hast du dies getan? Swaantien, hast du auch daran gedacht?‹
Hätte sie es noch einmal getan, so hätte ich gesagt, die Krebssuppe
wäre nicht geraten oder sonst etwas bodenlos Ruchloses.«

Er zischte durch die Zähne: »Vierundzwanzig Jahre bist du alt,
und sie behandelt dich, als ob du vierzehn wärest. Jede Spur von
Selbständigkeit nöhlt sie dir fort. Sie hat es durchgesetzt, daß du
nicht nach Rom kamest; sie hat es vereitelt, daß du Krankenschwester
wurdest; sie hat dich glücklich so weit gebracht, daß du eine Art von
besserer Großmagd geworden bist. Du mußt stundenlang dabeistehen, wenn
die Renekloden oder irgendein sonstiges besseres Baumgemüse abgenommen
wird, damit die Mägde ja keine essen! Keine Stunde am Tage hast du für
dich. Der Deuwel soll darein schlagen!«

Er faßte sie an der Hand und zog sie in die Ebereschenlaube, die ganz
rot von den reifen Beeren war. »Sieh mal, liebes Kind, ich habe mich
allein durchgerungen; ich habe mir ein Wissen angeeignet, das sich
sehen lassen kann; ich habe vier Erdteile bereist, habe gehungert und
verschwendet, beides reichlich; habe geliebt und gehaßt, und nicht zu
knapp; habe mit Fürsten und Verbrechern an einem Tische gesessen; habe
die ganze Weltgeschichte in mich aufgenommen; alle philosophischen
Systeme durchgekaut; zu vielen Göttern gebetet und vielen entsagt;
mehr Wonne und Weh erlebt, als tausend Menschen, und deine Muhme
sieht von der Höhe ihres Unternivos auf mich herab, wie die Katze
auf dem Dach auf den Löwen; denn: Renekloden einmachen, das kann ich
freilich nicht so wie sie, und mir geht jedes tiefere Verständnis für
die metaphysische Bedeutung der Muskatnuß bei der Zubereitung des
Blumenkohls ab.«

Er holte eine Zigarre heraus. »Du erlaubst, Liebe? mit Dampf geht es
besser. Du hast wegen deiner Neuralgie zehn Ärzte gefragt und zwanzig
Kuren gebraucht. Ich werde dir etwas sagen: ich schlage Muhme Gese
tot, wir beerdigen sie mit Musik, lassen die vorschriftsmäßigen drei
Zähren auf ihr Grab tröpfeln, und ich wette: in vier Wochen bist du
nicht mehr Swaantien, die arme, verwaiste, hülflos betantete Nichte,
sondern Swaantje Swantenius, meine schöne, kluge und stolze Base. Bei
der Sonnenrune und dem heiligen Kreis, meine Geduld hat ein Ende! Ich
bin ja nur ein Schwippvetter, der hier nichts zu sagen hat, aber ich
werde, bevor ich abreise, einen solchen Höllenlärm schlagen, daß Muhme
Gesina drei Tage lang von Angst und Baldriantee lebt und alle ihre
Kommodenschiebladen nach Herzkrämpfen durchkramt. Und wenn sie mir
nicht bei den Manen ihres Mopses verspricht, dich auf zwei Jahre aus
dem Stalle zu lassen, dann erzähle ich es überall, ich hätte abreisen
müssen, weil Frau Gesina Stieghölter geborene Swanteniussen mir
andauernd schmutzige Anträge gemacht hätte.«

Swaantje mußte nun doch lachen; ihr Vetter aber fuhr fort, indem er
dabei wütend paffte: »Der Mensch hat an erster Stelle Pflichten gegen
sich selber. Deine Pflicht ist, aus dir das zu machen, wozu dich
das Schicksal bestimmt hat, aber dich nicht selber im Grundrisse zu
verzeichnen und in der Fassade zu verkorksen. Du mußt heraus aus deiner
Watteverpackung, mußt etwas erleben, Gutes und Schlimmes, aber nicht
dasitzen, bis du jenseits von Gut und Böse bist, dein Herz an einen
Mops hängst und drei Stunden darüber redest, daß der Gerichtsrat Meyer
seinen Lehnstuhl neu hat überziehen lassen. Ich mache mir aus deiner
Bibel nicht viel; sie liegt mir nicht, aber es steht doch manches
vernünftige Wort darin, so von dem Pfunde Sterling, mit dem man wuchern
soll. Glaubst du denn, ich weiß nicht, wie dir zumute ist? Nun bin ich
bald vier Wochen hier, und in der ganzen Zeit habe ich keine Nacht mehr
als drei Stunden geschlafen, und manche gar nicht. Heute war es halb
sechse, als ich einschlief! Du meinst, weil ich an meine Bilder denke?
Ich pfeife darauf! An dich habe ich gedacht, um dich mir Sorge gemacht;
denn ich kann es nicht ansehen, wie die Frau dich auf kaltem Wege
hinrichtet, und das tut sie. Aber ich kenne dich und weiß, bei dir hat
alles Reden keinen Zweck, weil du verbrecherisch selbstlos bist. Und
das macht mich so mutlos.«

Beim Mittagessen war er von blendender Kälte, denn der eiserne Mann
sah ihn fortwährend aus dem Spiegel an. Deshalb versalzte er der Muhme
die Suppe mit gleißenden Widersprüchen, verpfefferte ihr den Braten
mit funkelnden Vergleichen und übersüßte ihr den Schokoladenpudding
mit irrlichternden Witzen, bewies ihr auf das höflichste, daß sie eine
Gans in Großfolio sei, und überzeugte sie auf das verbindlichste, daß
sie am besten täte, nichts zu sagen. So aß sie denn kaum so viel, wie
die drei anderen zusammen, und war selig, sah Helmold sie einmal nicht
spöttisch an. Auch sagte sie nichts, als er nachher in weißer Bluse,
Kniehosen und langen Strümpfen, die Jacke auf dem Arme, herunterkam,
und sie seufzte noch nicht einmal, als er auf ihre Frage: »Wollt ihr
denn kein Butterbrot mitnehmen?« antwortete: »Im Gegenteil; einmal ist
das kleinbürgerlich, und dann wollen die Wirte auch leben.«

Es war ein Tag in Blau und Gold. Der Himmel war hoch, die Sonne lachte
über das ganze Gesicht, die Feuerbohnen, Sonnenblumen und Georginen
hinter den Zäunen freuten sich ihres Lebens. Und Helmold auch. Er
hatte den unbarmherzigen Zug um die Lippen verloren, und hinter dem
frohen Leuchten seiner Augen schimmerte eine geheime Zärtlichkeit,
wenn er Swaantje ansah, die ihr rosenrotes Kleid, ihr Morgenrotkleid,
wie er sagte, anhatte, und den weißen, weichen, mit einem rosenroten
Bande umwundenen Hut. Tausende von goldenen Gedanken blitzten vor ihm
über den Weg hin, und nur ab und zu summte ein schwarzer oder brauner
dazwischen herum. Hinter ihm her aber schritt der eiserne Ritter; das
Klirren seiner Sporen klang gut zu Swaantjes hellem Lachen, mit dem sie
Helmold für sein fröhliches Geplauder dankte.

Zwei Bauermädchen kamen ihnen entgegen und boten ihnen die Tageszeit.
Sie streiften ihn trotz seiner auffallenden Kleidung kaum mit
den Augen, sahen Swaantje aber voll andächtiger Bewunderung an.
»Merkwürdig!« dachte er; »alle Frauen sehen sie an, und jeder Mann
blickt an ihr vorbei! Woher das wohl kommt? Sie ist ihnen zu geistig,
zu hoch, zu unnahbar; ein goldenes Gitter von Reinheit ist vor ihr.«

Der Fußweg unter den Hängebirken war so schmal, daß Helmold hinter
ihr gehen mußte. Ein Fest war das für seine Augen, wie sie vor ihm
herschritt, umflossen von dem leichten Kleide, dessen lose Formen ihren
hochadeligen Wuchs geflissentlich hervorhoben. Der Ritter flüsterte ihm
über die Schulter zu: »Sie ist die Schönste, die Allerschönste: wer
sie lieben darf, den kann kein Himmel mehr lohnen und keine Hölle mehr
schrecken.« Aber Helmold zuckte die Achseln.

Eine Viertelstunde hatten seine Blicke nun schon die Locken ihres
Nackens geküßt, ohne daß ihre Wangen roter wurden, ohne daß sie sich
umwendete, und er wußte es: jedes Weib, dem er in den Nacken blickte,
drehte sich nach ihm um. Er sah sich nach dem Ritter um; der lächelte
und flüsterte: »Das Windröschen blüht in einer Stunde auf; die Rose
braucht mehr Zeit dazu.«

Aus den Zweigen der Birken lispelte die Hoffnung Helmold
verheißungsvolle Worte zu; aber da flog ihm ein dicker, schwarzer
Gedanke mitten in das Gesicht; er dachte an den Mann, den Swaantje
liebte. Doch dann wiegten sich seine Blicke wieder in den Falten ihres
Kleides, das über dem grauen Fußsteige schwebte wie Morgenröte über
einem Flusse.

Als sie vor dem Donnerkruge waren, setzte er die hohlen Hände vor den
Mund und schrie wie ein Haupthirsch vom zwölften Kopfe. Die hübsche
Wirtin schoß aus der Tür heraus, lachte, gab ihm die Hand und rief:
»Nein, haben Sie sich aber nüdlich gemacht, Herr Hagenrieder!« und dann
war sie fertig mit ihm und machte zu Swaantje die selben andächtigen
Augen wie vorhin die beiden Bauermädchen.

Sie deckte unter der Linde. Als sie den Kaffee herbeitrug, stellte sie
in einen alten Krug, auf dem ein springendes Pferd zu sehen war, einen
mächtigen Busch von Astern, Ringelblumen und Georginen auf den Tisch,
so daß Helmold ihr eine Kußhand zuwarf und rief: »Großartig, Frau Trui;
nun haben wir alles, was wir brauchen.«

Er hatte seine lichte Laune wieder. Seine Augen lachten, als Swaantje
ihm den Kaffee aus der bauchigen Zinnkanne eingoß, und er aß in einem
fort, nur um sich an den leisen Bewegungen ihrer Arme zu erfreuen, wenn
sie ihm vorlegte. Aber dann sah er ihre Hände an, und ein mütterliches
Mitleid stieg in ihm auf: »Arme, kleine, müde, entsagungsvolle Hände!«
dachte er, und ein bitterer Zug schloß seine Lippen; »Hände, deren
Seele nur gedacht und nie gelebt hat, die von Sehnsucht erzählen, aber
von keinem Wunsche; Hände, die im Schatten aufwuchsen!«

Doch da flüsterte der Ritter ihm etwas in das Ohr. Entsetzt prallte er
zurück und machte Kontrahieraugen; aber als er den eisernen Mann ansah
und merkte, daß der keinen häßlichen Spott mit ihm trieb, da nickte er
ihm verstohlen zu, gab ihm heimlich die Hand und war wieder der lustige
Kamerad. Fortwährend erklang Swaantjes fröhliches Lachen, so viel bunte
Witze und farbige Schnurren breitete er vor ihr aus, und die Falte der
Entsagung zwischen ihren Brauen war nicht mehr zu sehen.

Sie gingen dann die heiße Landstraße entlang, bogen zwischen den kühlen
Wallhecken ein, kamen über die sonnenbeschienene Haide und durch
Wiesen, glitzernd von Licht. Solange sie nebeneinander gingen, blieb
der Mann im Harnisch taktvoll zurück; wurde aber der Weg schmal oder
morastig, so daß das Mädchen vorangehen mußte, sofort war der Ritter
wieder neben Helmold und flüsterte ihm durch die Visierspalte zu:
»Vergiß nicht, was ich dir geraten habe!« und Helmold sah ihn an und
schüttelte den Kopf.

Ja, er wollte es wagen, mochte daraus entstehen, was da wollte! Eine
übermütige Lust überkam ihn. Mit schmetternder Stimme begann er ein
schalkhaftes Volkslied; in den Schlußreim aber legte er jedesmal alle
Süßigkeit der Sehnsucht. Er sprang von Hott zu Hüh und kam immer
wieder geschickt darauf zurück, daß Kunst, Wissenschaft, Religion und
Philosophie nichts seien gegen ein bißchen erlebtes Leben; aber das
beste an ihm sei und bleibe die Liebe zwischen Mann und Weib. Das
Mädchen hörte aufmerksam zu, doch ihre Wangen blühten nicht voller
auf, und ihr Atem ging seinen gewohnten Weg. Aber wenn er auf den
wundersamen Zusammenklang von Schatten und Licht, auf die Unter- und
Übertöne der Landschaft, auf den geheimen Sinn der Blumen und auf das
beredte Schweigen der Bäume hindeutete, dann schenkten ihm ihre Augen
zärtliche Blicke.

Kalt durchschauerte es ihn, wenn bei jedem ernstgemeinten Worte ihr
innerstes Wesen sich gegen seine Brust lehnte. Mit barschem Griffe
faßte er mitten in ihr religiöses Gefühl hinein, als sie von der
Seligkeit des Glaubens sprach. »Du verabscheust den Selbstmord,
liebe Swaantje,« begann er; »aber was ist denn Glauben anders als
Selbstmord? Wer glaubt, dem ist das Leben kein Problem. Er kann
sich getrost begraben lassen; für ihn gibt es keinen Kampf mehr.
Ich aber will kämpfen; sonst danke ich für das Leben. Wir Germanen
sind niemals gläubig gewesen. Religion hatten wir immer, aber eine
Diesseitsreligion; das Jenseits versparten wir uns für später. Mit
beiden Beinen standen wir auf dieser lieben Erde, lebten unser Leben
in Zucht und Sitte, berauschten uns nicht an Wollust und Grausamkeit
und brauchten daher auch nicht, wie die Asiaten, Opiate wie Reue und
Buße. Zu unsern Göttern standen wir wie zu unsern Fürsten; wir zahlten
ihnen pünktlich den Zins, machten Front, fuhren sie vorbei, und damit
holla! In unser persönliches Leben durften sie nicht hineinreden.
Ich habe mehr als einmal mit dem Tode Kugeln gewechselt; aber niemals
ist mir dabei der Gedanke gekommen, daß ich vorher erst ein reines
Hemd anziehen müsse, für den Fall, daß ich plötzlich vor jemand stehen
würde, der erst meine Wäsche ansähe, ehe er mir die Tür aufmachen
ließ. Wir sagen: wir sind Christen, aber wir sind es nicht; wir können
es auch nicht sein. Christentum und Stammesbewußtsein vertragen sich
ebensowenig, wie Sozialismus und Kultur. In der Theorie sind wir
Christen; aber sobald es an die Praxis geht, in Politik, Geschäft und
dergleichen, dann sind wir genau solche Heiden wie die Männer, die dort
schlafen gelegt wurden.«

Er zeigte nach dem Tödeloh hin, der sich vor ihnen über der
Kiefernhaide erhob, und von dem das verbuhlte Gurren eines
Ringeltäubers herüberklang. Die Sonne stand noch hoch, so daß die
gewaltigen Wachholderbüsche halb schwarz, halb goldig aussahen; aber
die Ferne war in dichten Duft gehüllt, und über dem Bachgrunde lag der
Nebel wie der Atem eines Hünen.

Der Fußweg war so schmal, daß Helmold die Gelegenheit benutzte, um
hinter der Heißgeliebten herzugehen. Er drehte sich um und nickte
seinem Hintermanne zu. Ja, er wollte es wagen! Sie sollte etwas
erleben! Er wollte sie umfassen und küssen und das Weib in ihr wecken;
der Föhn seines Atems sollte das Gletschereis von ihrer Seele schmelzen
und der Platzregen seiner Küsse den Staub von ihrem Herzen waschen.

Sie sollte sein werden, ehe die Sonne hinter dem Wahrbaume zu Boden
glitt. Er wollte jedes Gedenken an den anderen in ihr fällen, wollte
Feuer in ihre Vergangenheit werfen und das taube Gekräut totbrennen, um
Platz für die junge Saat zu schaffen.

Absichtlich blieb er hinter ihr, mit Fleiß ließ er sie vor sich
hergehen. Seine Lippen sollten dursten nach ihrem Munde und seine Hände
hungern nach ihrem Leibe; sinnlos sollten sie vor Liebe werden.

Er pflückte einen langen Halm und ließ dessen Spitze über ihre Wangen
gleiten; lässig strich sie mit der Hand nach der Stelle hin. Als er
zum dritten Male den Scherz machte, sah sie sich um und lächelte
ihm schalkhaft in die übermütig funkelnden Augen. Er sang leise und
mit aller Zärtlichkeit, die er in seine Stimme legen konnte, ein
verträumtes Liebeslied, das das Volk sich erdachte, und in dem das
Allerletzte zwischen Mann und Weib gesagt wird, aber als er endete:
»Denn deine Unschuld und die mußt du lassen bei dem Jäger auf der
Lüneburger Haid«, da blieb sie stehen, sah ihn mit leuchtenden Augen
an und sagte: »Das ist ja ein köstliches Lied; das habe ich noch nie
gehört!« Ein kalter Schauder lief ihm über das Herz; sie sah das
Kunstwerk in dem Liede und fühlte nichts dabei. Mutlos ließ er den Kopf
hängen und schritt hinter ihr her; ihm war, als müßte er sie schlagen.

Doch der Ritter flüsterte ihm zu: »Sie ist ein unberührtes Weib; wer
sie zuerst küßt, den wird sie lieben. Und du willst sie küssen, wirst
sie küssen, mußt sie küssen, schon ihretwegen, um sie zu erlösen, damit
sie sich herausringt aus dieser blutlosen Nonnenhaftigkeit, aus diesem
unmenschlichen Vegetieren, aus diesem geschlechtlosen Unleben. Das
willst du, das mußt du, und das wirst du!«

Der urzeitliche Friedhof lag in zufriedenem Schweigen da; der
Stechpalmen Korallenschmuck leuchtete heiß aus dem kalten Blattwerke,
das sich hinter dem grauen Seelenhause erhob. Swaantje nahm aus
dem bunten Strauße, den ihr Frau Heinemann mitgegeben hatte, eine
schneeweiße Aster, zwei blutrote Georginen und vier von den grellen
Ringelblumen, band sie mit einem blonden Halme zusammen und legte sie
vor die Tür der Urahnenkapelle hin. Dann ließ sie sich auf der Jacke
nieder, die Helmold für sie über das schimmernde Moos gelegt hatte, und
er setzte sich zu ihrer Linken.

Sie saß ein wenig unter ihm, so daß er sie mit den Augen umspannen
konnte. Wild schlug sein Herz und dann wieder zaghaft. Ein dumpfer
Druck lag auf seinem Gehirne, und seine Kehle war wie eingeschnürt.
Aber kein heißer Schauer lief ihm über die Brust, und keine süße
Erwartung fieberte in seinen Lippen; nur eine bleiche Furcht hockte
hinter ihm, und vor ihm kauerte die Hoffnungslosigkeit, von oben bis
unten in Spinneweben gekleidet.

Swaantje sah in die Sonne, die rot und rund über dem weiß atmenden
Bruche stand. Sie wandte sich nach Helmold, sah ihn zärtlich an und
sagte: »Vetter, wieviel Schönes habe ich dir doch zu verdanken; ich
hätte nicht geglaubt, daß der Herbst mir so viel bringen würde.« Ihre
Augen schimmerten feucht, als sie ihm die Hand gab; kühl lag sie in
seinen heißen Fingern, so kühl, daß er sie nicht festzuhalten vermochte.

Aber da flüsterte ihm der Ritter zu: »Jetzt sprich ihren Namen so
zärtlich aus, wie du kannst, und sieh ihr so bittend in die Augen, wie
du es vermagst, und dann nimm sie und küsse sie, bis ihre Seele in der
deinigen ertrinkt.«

Helmold nickte und sah das Mädchen an, das verträumt nach der Sonne
hinblickte, die sich immer schneller dem Wahrbaume näherte, dessen
schwarze Krone wie eine böse Rune über dem Milchsee stand.

»Swaantje,« begann er, und er erschrak, denn seine Stimme klang ganz
blaß. »Vetter?« antwortete es ihm, aber dabei sah Swaantje unverwandt
in die Sonne. »Liebe Swaantje«, begann er von neuem, und er spottete in
sich selber über die Farblosigkeit seiner Stimme; »du hast mir kürzlich
etwas gesagt; nun will ich dir auch etwas sagen: ich liebe dich.«

Er sah scheu zur Seite, denn da stand der Ritter, stampfte mit dem
Fuße, daß es klirrte, lachte verächtlich und fauchte durch das Visier:
»Dümmer konntest du es gar nicht anfangen!«

Swaantje war kaum zusammengezuckt; sie sah nach der Sonne, und Helmold
fuhr fort: »Ich liebe dich seit sieben Jahren. Ich habe dich vom ersten
Tage an geliebt. Ich habe dich schon geliebt, ehe daß ich dich kannte,
ehe daß du lebtest.«

Er seufzte tief auf: »Ich weiß das erst seit jenem Abend, als Grete
sagte: ›Du müßtest immer bei uns bleiben, Swaantje; ich dächte mir das
reizend, wenn wir drei immer zusammen blieben. Ich wäre dann deine
Sonnenfrau, Helmke, und Swaantje wäre dein Mondweiberchen‹.«

Das Gesicht des Mädchens war blutlos geworden; geisterhaft hob es sich
von dem dunklen Wachholderbusche ab; ihre Augen hingen fest an der
Sonne, die mit bösem Blicke über dem Wahrbaume stand.

Helmold half einem Käfer auf, der im Sande auf dem Rücken lag; dann
sprach er weiter: »Du weißt, daß Grete am anderen Morgen fragte: ›Ist
dir nicht gut?‹ Ich hatte in der Nacht kein Auge zugetan. Ich habe
seitdem überhaupt noch nicht wieder geschlafen. Es ist seither keine
Stunde gewesen, daß ich nicht an dich gedacht habe. Und deswegen kam
ich nicht zu euch. Aber schließlich sah ich ein, daß ich zugrunde ging,
wenn ich dich nicht wiedersah. Ich habe wie ein Verrückter gearbeitet;
sonst wäre ich irrsinnig geworden. Ich habe seitdem mehr gemalt, als
andere in zehn Jahren zuwege bringen. Aber ich habe es als totkranker
Mann gemalt. Schließlich mußte ich dich sehen und kam. Am Tage lebte
ich; in jeder Nacht starb ich. Du weißt, wie ich des Morgens aussehe,
und du weißt, wie anders mein Gesicht wird, wenn ich eine Viertelstunde
bei dir bin. Ich habe mich ganz genau daraufhin untersucht, wie ich
dich liebe, ob als Bruder, ob als Vater; aber ich liebe dich als Mann;
ich will dich. Und deshalb muß ich dir das alles sagen, denn sonst, ich
bin meiner nicht mehr sicher, und wenn ich dein Vertrauen verlöre, dann
müßte ich mein Leben fortwerfen. Denn das würde ich verlieren, hätte
ich das getan, was ich mir vorhin vorgenommen hatte: dich in den Arm zu
nehmen und in mein Herz hinein zu küssen.« Der Ritter schüttelte den
Kopf und ging langsam von dannen.

Helmold und Swaantje sahen nach dem Wahrbaume, dessen unheimliche
Zauberrune mit Gold unterlegt war. Dann sprach das Mädchen: »Helmold,
das ist furchtbar, das ist entsetzlich. Ich wollte, ich könnte dir
helfen, aber ich kann es nicht. Selbst wenn das nicht wäre, wovon ich
dir sprach, könnte ich dir nicht helfen. Ich bin sehr unglücklich
darüber, denn du tust mir so unsäglich leid. Und doch bin ich stolz
darauf, sehr stolz, und ich danke dir; du hast mir ein großes Leid
geschenkt, und eine große Freude. Wenn ich dir nur helfen könnte,
liebster Helmold! Aber du weißt es selbst, daß ich das nicht kann.
Nicht wahr?«

Sie sah ihn zum erstenmal wieder an; er nickte ihr mit ernstem Gesichte
zu, bückte sich und küßte ihre Hand, und sie zuckte merkbar zusammen,
denn sie fühlte, daß eine Träne darauf fiel. »Armer Helmold!« flüsterte
sie und sah dahin, wo die riesenhafte Rune stumpf und tot vor dem
rosenroten Himmel stand, während darüber ein Stern aufgehen wollte.

Der Ritter kam wieder herangeschlichen: »Noch ist es Zeit, noch ist es
nicht zu spät!«, raunte er heiser; »greif zu! Eine Stunde wie diese
kommt niemals wieder. Küsse sie! Mein Wort darauf, sie ist dein.«

Helmold sah ihn ungläubig an. Swaantje schauderte zusammen. »Steht
hier irgendwo Irrkraut?« fragte sie und drängte sich ganz dicht an ihn
heran, so dicht, daß ihre Backe an seiner Schulter lag und ihre Lende
seinen Schenkel berührte. »Nun oder nie!« zischte der Mann im Harnische
ihm zu, und Helmold näherte von hinten seine Hand, mit der er sich in
das Moos gestützt hatte, der Schulter des Mädchens; aber da sah sie ihm
ängstlich in die Augen und flüsterte: »Steht hier welches? Ich fürchte
mich!« Er gab ihr die Hand und half ihr auf. »Feigling, Dummkopf!« rief
ihm der Ritter zu und ging laut lachend durch den hohen Adlerfarn, daß
es rauschte.

Der Abendwind warf mit dem dunkelgrünen Geruche des zertretenen Krautes
um sich, und Swaantje schauderte abermals zusammen. »Schrecklich,
wie das Farnkraut riecht! Hast du keine Angst davor?« Er lächelte:
»Nein, ich habe vor nichts Angst!« Er legte ihr das Spitzentuch um die
Schultern, zog die Jacke an und reichte ihr den Arm; ohne Zögern legte
sie ihre Hand hinein und lehnte sich fest an ihn, wie er es liebte. Als
er sich umdrehte, stand der Ritter an einen Baum gelehnt und blickte
ihm höhnisch nach; er sah wie ein hoher, spitzer Wachholderbusch aus.

Krähen flogen über sie hinweg und schrieen sich heiser; schweigend
ruderte ein Reiher dem Flusse zu. Der Himmel sagte einen zweiten
Sonnentag an; hell stand der Liebesstern da.

Lange Zeit sprach Helmold nicht, dann begann er: »Du verstehst doch,
Swaantje, daß ich dir das alles sagen mußte?« Sie nickte ernsthaft.
»Und ich muß es auch Grete sagen.« Sie nickte abermals. »Und obzwar
ich mir dadurch, daß ich dir meine Liebe in dieser Weise offenbarte,
alle und jede Hoffnung genommen habe, ich bin doch froh darüber, daß
ich es tat. Und ich bin froh, daß es so gekommen ist. Ich hatte immer
die Angst, daß ich alt und kalt geworden wäre; wer liebt, ist nicht
alt. Ich weiß, daß ich noch jung bin und ein Herz habe; denn es blutet,
und das danke ich dir. Ich war so hoffnungslos. Grete und ich, wir
haben uns heiß geliebt. Das ist vorbei. Sie ist zu sehr selbsteigene
Persönlichkeit, um in mir aufgehen zu können; alles in ihr wehrt
sich gegen mich. Darum macht sie mir so oft, oder eigentlich immer,
Opposition. Das kann ich nicht vertragen, denn ich bin eine Herrennatur
und will keinen Widerspruch; von meinem Lebensgenossen wenigstens
nicht. Wer mir widerspricht, ist mein Feind. Die Frau aber soll der
beste Freund des Mannes sein. Grete kann mir das nicht sein; mein Wesen
und ihres stammen aus verschiedenen Ländern, meines aus Nord, ihres aus
Süd. Uns trennt eine Weltanschauung, eine Lebensauffassung. Ihr Wollen
drängt von sich zur Welt; mein Wille geht von dem, was da ist, zu dem,
was ich bin. Sie ist zentrifugal, ich bin zentripetal. Sie lebt; ich
schaffe. Wir haben aneinander keinen Teil.«

Er blieb stehen, zündete sich eine Zigarre an, und als er bemerkte, daß
das Mädchen totenblaß aussah, strich er ihm sanft über die Backen, gab
ihm den Arm und sprach im Weitergehen: »Trotzdem gehören Grete und ich
zusammen, denn sie liebt mich, und ich liebe sie; und dann haben wir
Kinder. Ich weiß, was du denkst, aber ich sage dir: trennte ich mich
von ihr, und liebtest du mich auch, so wie ich dich liebe, du kämest
dann erst recht nicht zu mir, und solange Grete meine Frau ist, habe
ich auch keine Hoffnung, daß du mein wirst. Das ist mir alles ganz
klar. Zudem: du liebst einen anderen.«

Der Arm des Mädchens zuckte in dem seinigen, und er fühlte, wie sie
sich fester gegen ihn lehnte. »Friert dich?« fragte er. Sie schüttelte
den Kopf, und er fuhr fort: »Wenn der, den du liebst, dich liebte,
und er brächte dir das Glück, dann könnte ich wieder ein froher Mann
sein.« Sie schauderte wiederum zusammen und lehnte sich noch fester an
ihn. »Du frierst doch wohl?« fragte er; »willst du meine Jacke haben?
Ich brauche sie nicht.« Sie wehrte ab und flüsterte, und süßer als je
zuvor, erschien ihm der Tonfall ihrer Worte: »Dann mußt du mich aber
sehr lieb haben, Helmold!« Er antwortete erst nicht, aber dann sprach
er mit ernster Stimme: »Mehr als meine Kunst.«

Der Ritter flüsterte hinter ihm: »Aber Mensch, sie will ja, daß du
sie küssest! Küsse sie! Sie liebt dich und nicht den anderen!« Doch
Helmold, der bemerkt hatte, daß Schauer auf Schauer das Mädchen
schüttelte, blieb stehen, zog seine Jacke aus und befahl: »So; kleine
Mädchen haben zu gehorchen!« und so verstand er nicht, was der Mann im
Harnisch ihm zuraunte. Er half Swaantje, die mit niedergeschlagenen
Augen dastand und beklommen atmete, in die Jacke, und dann sagte er:
»Nun wollen wir etwas schneller gehen«, und eine lustige Weise flötend,
schritt er, das Mädchen am Arm, an dem Ritter vorbei, der schwarz und
gespenstig auf der Haide zurückblieb.

Tief im Walde ließ der Kauz sein blutrotes Lied erschallen; vom Flusse
her heulte ein Dampfer; es klang fast genau so. Der Mond kam hinter den
Kiefern hervorgegangen; sie spannen lange Schatten über den weißen Weg.

Helmold lachte auf: »Hör, Swaantje, die beiden! Was sich liebt, das
neckt sich. Denk dir das Bild: Der Waldkauz balzt den Dampfer an!
Findet er Gehör, so gibt es ulkige Küken: kleine Dampferchen, die auf
die Mausjagd gehen, oder Ulenküken, die nach Steinkohlen piepen. Und
nun reden wir nicht mehr davon!« Er schwenkte ihren Arm auf und ab und
pfiff die Kasatschka.

»H' ach!« fing er dann an; »die möchte ich noch einmal tanzen. Das ist
ein Tanz, der nach roten Küssen und nach roten Messerklingen riecht!
Tanzen ist: trampeln, daß die Diele donnert, und die Mädchen hin- und
herschmeißen, bis sie windelweich sind, aber nicht diese betutige
Dreherei, wie sie jetzt in Mitteleuropa im Schwange ist. Überhaupt:
Ballschleppe und Tanzen! Das ist schon mehr Fesselballonbetrieb.
Etwas angetrunken muß man auch sein, und die, mit der man tanzt,
muß hinterher zu allem Ja sagen; sonst ist das einfach zuchtlos. In
der Ukranja habe ich mit einer getanzt, Marja hieß sie und war ganz
hellblond; aber sie hatte den Satan im Leibe!«

So prahlte er und erzählte Kasakenschwänke und Witze, die er in der
Herzegowina gehört hatte, und Schnäcke im Hamburger Ewerführerplatt
und Schnurren in pfälzischer und ostpreußischer, schlesischer und
bayerischer, münsterscher und berliner Mundart, eine immer toller als
die andere, so daß Swaantje mehr als einmal hell auflachen mußte. Er
blieb auch den ganzen Abend lustig und versöhnte Tante Gesina gänzlich
wieder, denn er machte gar keine kecken Witze, sondern blieb völlig in
der guten Weise des Marktfleckens.

Um elf Uhr ging er zu Bett und las bis zwölf Uhr im Herodot. Dann blies
er das Licht aus und sah gegen die Decke, die taghell vom Mondlichte
war. Um ihn summte ein neues Lied, erst leise dann laut, bis seine
Lippen die Weise nachsummten: »Am Himmel steht ein goldener Stern
dahinten über dem Walde«. Und ein neues Bild reimte sich darauf; ganz
kühl zog er es in den Vordergrund seines Bewußtseins: gelben Sand,
weißglühende Sonne, ein Trupp französischer Fremdenlegionäre, alle
blondbärtig und blauäugig, halb verrückt vor Durst durch den Sand
stolpernd; neben ihnen, zu Pferde, ihre Zigaretten rauchend, die
schwarzbärtigen Offiziere, darüber ein Aasgeier.

Plötzlich warf er sich auf das Gesicht, biß in das Kopfkissen, weinte,
daß es ihn schüttelte und flüsterte: »Swaantje, meine geliebte, süße
Swaantje!« Eine halbe Stunde lag er so da. Dann stand er auf, wusch
sich das Gesicht, trank die Wasserflasche fast leer, sah in den Park,
holte sich seine Zigarettendose und wollte sich damit vor das Fenster
setzen. Aber als er an dem Spiegel vorbeikam, prallte er zurück: der
Ritter stand da. Seine Rüstung blitzte weiß, das Visier hatte er
heruntergeklappt; er sah an ihm vorbei, wie an einem wortbrüchigen
Hallunken, und wies mit dem Finger nach dem Seelenhause im Tödeloh.

Helmold stellte die silberne Dose hin und legte sich nieder. »Elende
Hyperästhesie!« dachte er, als ihm die Augenlider zufielen.



Das Seelenhaus


Das gelbe Zimmer war voll von der Vormittagssonne, als Helmold eintrat;
zwei Sonnenblumen, die in einem blauen Zierkruge standen, starrten ihn
mit toten Augen an.

Swaantje kam herein; sie sah frisch und gehoben aus, erschrak aber
sichtlich, als sie ihren Vetter ansah, und als der in den Spiegel
blickte, erkannte er sich kaum wieder: er sah nicht angegriffen aus,
aber seine Augen waren welk und seine Lippen abgeblüht.

Er las die Briefe, die auf seinem Platze lagen, und reichte einen
nach dem anderen dem Mädchen. Das nickte ihm bei dem ersten fröhlich
zu, jubelte bei dem zweiten auf und klatschte bei dem dritten in die
Hände. »Wie freue ich mich, wie freue ich mich! Drei große Bilder so
gut verkauft, Aufträge über Aufträge, und nun noch erster Sieger in
einem internationalen Ausschreiben!« Ihre Stimme fiel herab, als sie
ihn ansah: »Aber freust du dich denn gar nicht ein bißchen, lieber
Helmold?« Er nötigte sich ein Lächeln ab und sagte gleichgültig:
»Natürlich; Berühmtheit ist bar Geld.« Sie sah ihn enttäuscht an.
»Lieber Helmold,« begann sie nach einer Weile schüchtern, »sei nicht
böse; heute kann ich dich nicht begleiten. Lies bitte!« Er nahm den
Brief und seufzte: »Was fange ich nun ohne dich an? Aber den Vormittag,
Swaantje, nicht wahr, den bekomme ich doch? Viel ist es ja nicht mehr.«

Sie gingen nach dem Ausgang des Parkes. Da stand unter zwei ungeheueren
Silberpappeln eine graue Steinbank; dort ließen sie sich nieder und
sahen über die Wiesen, von denen der Maikrautduft des Grummets herkam.
Beide waren still; Helmold war todmüde; es war schon hellichter Tag
gewesen, als seine Augen das Sehen vergaßen, und Swaantje war betrübt,
denn unter seinen Brauen her flogen nur kalte Blitze über das lachende
Land, und wenn er sprach, so hörte es sich an wie Herbstlaubgeraschel
im Winde. Er sah dahin, wo unter einem breiten Weißdornbusche die
Hütebude lag; mit ihren beiden kleinen Türen und ihrer stumpfen grauen
Farbe sah sie aus, wie das Seelenhaus in Tödeloh.

»In den Büchern steht, in den großen Steinkammern hätten unsere Urahnen
ihre Häuptlinge begraben,« fing Swaantje an; »glaubst du das?« Er
nickte: »Ja, das schon, aber diese Hünenbetten sind auch Seelenhäuser
gewesen, denn sie sind genau in der Art der Wohnhäuser erbaut. Alle
Jahre am Todestage ihrer Lieben legten unsere Urahnen dort Wildpret hin
und gossen Honigbier in die Schalen und zündeten ein Feuer darin an,
damit die Seelen sich erquicken und wärmen könnten, kehrten sie einmal
wieder zurück. Auch Blumen werden sie dort wohl niedergelegt haben.« Er
sah mit verlorenen Blicken nach der Hütebude, und sonderbar klang es,
als er fortfuhr: »Swaantje, wirst du mir auch Blumen bringen, damit ich
mich darüber freuen kann, wenn ich einmal wiederkomme?«

Das Mädchen sah ihn erschrocken an und faßte seine Hand: »Lieber
Helmold, wie kannst du mich so ängstigen! Das war nicht hübsch von
dir. Du bist überreizt, überarbeitet, nervös; du solltest einmal in
ein richtiges Pussiersanatorium gehen, wie damals, als du so herunter
warest.« Er sah sie spöttisch an: »Meinst du, daß mir heute noch
ein Flirt hilft? Das glaubst du doch selber nicht.« Das Mädchen sah
einem weißen Falter nach, der an ihr vorüber in die Wiese flog, die
Weidenröschen am Grabenrand umflatterte und ziellos weitertaumelte.
Dann sah sie die Hand ihres Vetters an, die auf seinem Knie lag;
gestern war sie noch männlich und straff gewesen, nun sah sie
weiberhaft aus und ermüdet. Verstohlen besah sie ihre eigene Hand;
beide Hände waren sich jetzt ähnlich; früher waren es Gegensätze
gewesen. Die braune, derbhäutige, großporige, haarige, in breiten,
harten Nägeln endende Hand des Mannes erinnerte sie an den Vorsteher
Groenhagen, hinter dessen derben Zügen, unter dessen harten Augen so
sehr viel unausgesprochener Kummer lebte.

»Ja, Swaantje, das ist nun so!« lachte Helmold und wies nach einem
hohen Riesenampferbusche, der mit seinen feuerroten Blättern unbändig
prahlte; »der rote Hinnerk da, so nennen die Bauern das Kraut, jeder
freut sich darüber, wie er so knietschrot dasteht; aber er ist welk,
ist tot. Ein Meister der Farbe ist er; aber sein grünes Herz ist
gestorben.« Er unterbrach sich, denn ihm war, als stände eine bleiche
Gestalt in dem Seelenhause und winkte ihn zu sich heran. Dann lächelte
er über sich; erstens war das kein Seelenhaus, sondern eine Hütte für
die Hütejungen, und die bleiche Gestalt, das war ein alter Lappen, der
da hing.

Er warf den Kopf in den Nacken: »Du magst recht haben, Swaantien!«
Sie lächelte ihn an, denn noch nie hatte er die Koseform ihres Namens
gebraucht. Er pfiff eine leichtsinnige Weise vor sich hin. »Ich bin
überarbeitet, habe mich dazu um dich zu viel gesorgt. Nun verschieße
ich mich noch dazu; das zieht in keinen hohlen Weidenbaum.« Er summte:
»Und kann es nicht die Lilie sein, so pflück ich mir ein Röselein.« Er
machte ein säuerliches Gesicht: »Mein Herz heil pussieren, das wird
schwer halten, aber als Heftpflaster hilft vielleicht so ein bißchen
Eintagsliebe. Man weiß nur nie, was man sich damit für Löcher ins
Gewissen läuft. Die andere hat sich vielleicht schon wer weiß wie lange
getröstet, und man denkt immer noch, sie wankt mit durchgescheuerter
Seele herum.«

Er scharrte mit der Fußspitze im Sande umher: »Na, die Hauptsache ist,
daß du dich heute nachmittag in eurem Geisteslackierklub gut vergnügst.
Wird Er auch da sein?« Swaantje wurde rot: »Ich glaube,« flüsterte sie,
aber es lag keine Freude in ihrer Stimme.

»Weißt du was, Zuckerchen,« fuhr es Helmold heraus, »eigentlich
müßte ich mit und dir dort in einer so feuergefährlichen Weise den
Hof schneiden, daß dem Professor das Brett vor dem Kopfe aufbrennt;
denn das hat er doch sicher dort, denn schließlich gönnt kein
rechtschaffener Mann eine einem anderen, und tritt man ihm auf die
Platzhirschhühneraugen, dann wetzt er sogleich die Kampfsprossen. Aber
die Bergedorfsche ist da samt ihren üblen Töchtern, und so wie ich mich
kenne, setzte es einen Heidenskandal, ginge ich mit. So will ich lieber
zusehen, daß ich den Bock in der Wittenriede bekomme.«

Nach dem Mittagessen bat er sich den Fuchs aus, hängte die Büchse
über und ritt in das Bruch. Dort stieg er ab, ließ das Pferd bei den
Hütejungen und waidwerkte zu Fuße weiter. Aber er spähte nicht nach dem
alten Bocke, der dort umging, er träumte mit kalten Augen über das Land
hin, das in der Sonne glitzerte. Schließlich setzte er sich bei dem
Seelenhause an, rauchte und brütete vor sich hin. Immer wieder gingen
seine Augen nach der Büchse. Er sah sich um: wenn er seinen einen Fuß
in die Brombeerranken wickelte und sich durch das Herz schoß, dann nahm
alle Welt ein Unglück an; denn daß ein Künstler an dem Tage, der ihm
den größten Auftrag seines Lebens gebracht hatte, Selbstmord verüben
könne, das glaubte kein Mensch. Ein Druck, und er konnte endlich einmal
wieder ausschlafen.

Aber dann fiel ihm ein Wort Hennigs ein: »Selbstmord wirkt niemals
tödlich«, hatte der einst gesagt und hinzugefügt: »denn es ist keine
organische Lösung.« Und dann waren die Kinder da, seine lieben Kinder
Swaan und Sweenechien, und Grete und Swaantje. Schon derentwegen durfte
er nicht Hand an sich legen; sie würde vor Gram zerbrechen. Außerdem:
er hatte den Auftrag vom Schicksal, seinem Volke viel Schönheit zu
bringen. »Nein,« sagte er zu sich, »nein, das tust du nicht!« Er
stand auf, entlud die Büchse, warf den Patronenrahmen in den Bachkolk
und ging nach der Wittenriede. Der starke Bock äste sich auf dem
Wiesenfleck; gleichgültig sah Helmold ihm zu. Ein dutzend Male war er
hinter ihm hergepürscht; aber selbst, wenn er jetzt eine Patrone gehabt
hätte, er hätte doch nicht schießen mögen. Ihm lag nichts mehr daran.
Ihm war an nichts mehr etwas gelegen. Ihm war alles gleichgültig. Ihn
langweilte sogar die Landschaft. Zu spitz dünkte ihm das Glitzern des
Stechpalmenbusches, zu frech seine roten Beeren, und albern kam ihm des
wilden Täubers Ruf vor. Er lag im Moose, auf der selben Stelle, auf der
er tags zuvor gesessen hatte, rauchte und starrte ohne Blick über die
Wiesen hin.

Er sah sein zukünftiges Leben vor sich: wie ein Brandmoor würde es
aussehen. Nur Nutzpflanzen würden darauf noch gedeihen: Moorkorn,
Hafer, Kartoffeln, aber keine rosige Blüte mehr. Mit Hand und Kopf
würde er große Werke schaffen, derweil sein Herz unter Ruß und Asche
lag. »Alles müssen wir bar bezahlen,« hatte Hennig gesagt; »alles!« So
war es; alles gab ihm das Leben und nahm ihm alles, weil es ihm das
eine nicht gab. Er versuchte, sich zum Weinen zu zwingen, indem er den
Namen der Geliebten vor sich hinflüsterte und die Stelle streichelte,
wo sie gesessen hatte; doch seine Augen lachten ihn aus.

Müde stand er auf, ging langsam dahin, wo der Fuchs war, schenkte
den Jungen eine Mark, saß auf und ritt die Landstraße entlang. In
Mecklenhusen stand die Wirtin vor der Türe und lachte ihn einladend an.
Er grüßte flüchtig und trabte weiter, obwohl ihn hungerte; aber er
mochte mit niemandem sprechen, der ihn kannte.

Deshalb schlug er die Straße nach Lütkenhusen ein und stieg beim
Taternkruge, wo er noch nie gewesen war, ab. Das war eine schmierige
Kneipe; aber das paßte ihm gerade. Er aß das Butterbrot, das
ihm die schlumpige Wirtin brachte, mit dem Genuß des Ekels. Ein
fünfzehnjähriges Zigeunermädchen mit hübschem Gesichte, bunt angezogen,
kam herein, bettelte ihn an und machte ihm verheißungsvolle Augen. Er
schenkte ihm ein blankes Markstück und einige Zigaretten, ging aber
nicht auf sein Sprechen ein. Dreimal drehte es sich noch nach ihm um,
als es dem Walde zuging, und als es unter den Kiefern stand, winkte es
ihm schnell mit den Augen und lächelte. Er merkte sich den Fluß der
Bewegungen und die ganze Erscheinung, aber nur mit den Augen; sein Blut
blieb kalt, so kalt, daß es ihn fror.

»Glas Grog!« befahl er. Die Wirtin sah ihn verwundert an, denn er
hatte sein Bier noch vor sich stehen. »Noch eins!« rief er, als er
es ausgetrunken hatte. Da wurde ihm besser. Farben und Töne brannten
und klangen in ihm durcheinander; er sah ein Bild in Moll vor sich
und hörte eine blaßrote Melodie. Er nahm sein Taschenbuch heraus und
schrieb ein Lied hin, las es durch, änderte eine Stelle, schrieb
ein zweites, ein drittes und noch eins. Eine Kiepenflickerfamilie,
die inzwischen eingetreten war, sah ihm neugierig zu, und zwei
Handwerksburschen machten heimlich ihre Witze über ihn. Er sah es,
kümmerte sich aber nicht darum. Ein Motorradfahrer kam herein,
schimpfte mörderlich, weil er vor einem Hunde so schnell hatte stoppen
müssen, daß er seine Maschine verdorben hatte, stampfte im Zimmer
auf und ab und versuchte, mit Helmold ins Gespräch zu kommen; der
antwortete nicht. Er trank noch zwei Gläser Grog und blieb sitzen, bis
die Uhr die siebente Stunde angab. Dann stand er auf, zahlte seine
Zeche und die der Handwerksburschen, die darüber ganz verlegen wurden,
und ritt fort.

Als er zu Tische kam, fielen seine Blicke sogleich auf Frau Adda. Sie
saß ihm gegenüber, machte ihre verwitwetsten Augen und sprach über
bildende Kunst. Er hielt sie in höflicher Form zum Narren, bewies
ihr, daß es gar keine bildende Kunst gäbe, sondern nur einzelne
Kunstwerke, aß wenig und schützte nach aufgehobener Tafel vor, er
müsse eilige Briefe schreiben. Er schrieb aber nur die vier Gedichte
ab, gab sie Swaantje, die er auf der Treppe traf, sagte ihr, er
wolle den Abend allein verbringen, und ging in den Ratskeller, wo er
sich in die dunkelste Nische setzte, den Vorhang zuzog, dem Kellner
verbot, Licht zu machen und irgend jemandem zu sagen, daß er da sei.
Er starrte vor sich hin, trank aber nur wenig von dem Rüdesheimer und
ließ seine Zigarre kohlen. »Ein toter Mann trinkt nicht, ein toter
Mann raucht nicht,« dachte er und sah das Seelenhaus vor sich, neben
dem er unter dem goldenen Moose lag, ein Häuflein Asche in einer
schwarzgebrannten Deckelurne. Und vor dem Seelenhause lagen Blumen,
weiße Rosen, Lilien, Astern, Maiblumen, wie die Jahreszeit sie bot, und
die glitzerten im Mondenlichte; aber nicht Tau war es, der in ihren
Kelchen schimmerte, Tränen, kalte Tränen der Reue. Er sah eine Gestalt
neben dem Seelenhause stehen, in braune Gewänder gehüllt, Schleier vor
dem Gesicht, einen Kranz von Ringelblumen im Haar. Sie winkte ihm und
breitete die Arme nach ihm aus und flüsterte: »Sanft will ich dich
betten, so sanft.«

Schal kam ihm seine Kunst vor: gemaltes Leben, weiter nichts.
Leinewand, stinkende Farbe, vom Keilrahmen gehalten, der sich feige
hinter dem Prunkrahmen verkroch, eine Lüge das Ganze! Und ein
jammervoller Notbehelf statt des Lebens, das ihm gebührte, eines
Lebens, das rot in Rot vor seinen Augen stand, hellrote Küsse auf
einem Hintergrunde von dunkelrotem Blute. Das Ende? Ein Pfeil in der
Brust, zwei Küsse auf den Lippen, und so, zwischen der Sonne und dem
Mond, zwischen der lauten und der leisen Geliebten, schnurstracks
nach Walhall, und da: Fortsetzung folgt! Aber sein Leben würde fortan
anders sein: Grau in Grau, hellgraue Sehnsucht auf dunkelgrauer
Hoffnungslosigkeit. Malen, malen, malen, der Professortitel, ein paar
Orden, eine Jubelfeier, wenn die nötige Knickebeinigkeit da ist, und
ein sanfter Strohtod mit viel Gezappel und Äthereinspritzungen. Hol's
der Teufel!

Straffe Männertritte näherten sich seiner Koje; der Vorhang flog zur
Seite, und vor ihm stand Beni Benjamin. Unbefangen gab er Helmold die
Hand; sein schmales Beduinengesicht leuchtete vor herzlicher Freude.
»Ich hörte von der Wirtin, daß Sie hier seien,« sagte er mit seinem
dunklen Basse, »und daß Sie allein sein wollten. Ich sah Sie heute vom
Kruge in Mecklenhusen aus, und Ihr Gesicht gefiel mir nicht. Deshalb
dachte ich: laß ihn grob werden, das ist sein Recht als Patient! Und
nun: Rüdesheimer verbiete ich Ihnen; wir trinken Sekt. Erstens ist mir
gestern ein Sohn geboren, und zweitens bekommt Ihnen das besser.«

Als der Sekt da war, hob er das Glas: »Auf das, was wir
lieben!« Helmolds Gesicht bekam Schlagschatten, und seine Augen
wetterleuchteten. Aber dann lachte er lebhaft. »Eine Gemeinheit ist der
anderen wert,« sagte er, zog sein Skizzenbuch hervor, riß ein Blatt
heraus, schrieb darunter: »H. H. s. l. B. B.« und gab es dem Arzte.
Der besah es genau; Lichter und Schatten flogen über sein Gesicht. Er
streckte dem Maler die Hand hin: »Dank, vielen Dank, Hagenrieder!«
Er stellte die Skizze gegen den Kühleimer und sah sie eine Weile an.
Dann flüsterte er, und seine Stimme klang noch dunkler: »Sie sind der
einzige Mensch, der mich erkannt hat. Durch und durch haben Sie mich
gesehen, lieber Freund, Sie, der Vollgermane, mich, den Ganzsemiten.
Wissen Sie warum: weil wir im Grunde ganz das selbe sind, Sie in Blond,
ich in Schwarz.« Er seufzte: »Die Leute glauben, ich bin glücklich.«
Er mauschelte: »Der raaiche Doktor Benjamin!« Er warf seine Zigarre
in den Kühleimer: »Na ja, so in epidermaler Hinsicht bin ich auch
glücklich, aber die Intestina denken anders. Jeden Tag, wenn ich mich
nach dem Essen lang mache und rauche, dann weiß ich, daß ich ganz wo
anders hingehöre, auf einen Pferderücken, oder ein Kameel, und um
mich ist die weite Wüste. In meinem Zelte aber, das bei einer Quelle
unter Palmen steht, ist nicht bloß eine Frau, die mich küßt, es sind
deren zweie, eine laute und eine leise.« Er trank sein Glas aus und
sah den Rauchringeln nach. »Eine für das Herz und eine für die Seele,«
flüsterte er nach einer Weile, und seine Augen bekamen einen hungrigen
Blick.

Der Kellner kam und machte ihm eine Meldung: »Gehen Sie mit?« fragte
er; »ich muß noch nach der Mühle hin; die Großmutter hat wieder einen
Anfall. Das beste für die gute Frau wäre ja Morphium, denn diese
Herzbeklemmungen sind schrecklich. Aber das dürfen wir ja nicht. Ist
das eine verlogene Welt heute! Einer hetzt den anderen unbedenklich mit
Geschäftspraktiken tot; aber ein elendes Geschöpf, das alle zwei Tage
stirbt, zu erlösen, das erlaubt die Moral nicht. Ja, die Moral!«

Sie gingen die mondhelle Landstraße entlang, die von den Schatten der
Kiefern gestreift war. Der Vollmond dichtete die Wacholderbüsche auf
der Haide zu bösartigen Gespenstern um. Helmold ließ den Arzt reden.
Er sah sich mit Swaantje am Arm durch die mondhelle Haide gehen; ein
kreischendes Verlangen von ihr sprechen zu können, überkam ihn. »Sie
kommen oft nach Swaanhof, Doktor?« fragte er den Arzt. Der nickte.
»Ja, ich tue so, als ob ich nach der alten Dame sähe, aber die junge
meine ich. Es ist ein Skandal, was aus der geworden ist! Von dem
bißchen Neuralgie ist sie nicht so herunter; das ganze lavendelduftende
Kommodenschubladenleben macht sie krank. Ist das ein Mädchen! Wissen
Sie, die in Schwarz, das wäre meine leise Frau; Blond liegt mir so fern
wie Ihnen meine Kulör. Aber in meiner ganzen Praxis ist kein Mensch,
um den ich mich so ängstige wie um sie. Gewalt! möchte man schreien,
wenn man zusehen muß, wie sie zugrunde gerichtet wird. Natürlich in der
besten Absicht. Ich kann reden, was ich will, immer heißt es: ›Lieber
Herr Doktor, das viele Lesen und Malen greift meine Nichte zu sehr
an‹, oder ›Sie hat doch alles, was ein junges Mädchen braucht!‹ Lieber
Hagenrieder, machen Sie doch einmal Krach; vor Ihnen hat die Alte einen
Heidendampf. So, und nun gehen Sie so lange in die Schenkstube. Ich
bin gleich wieder da und dann, wenn es Ihnen recht ist, trinken wir
noch eine dicke Flasche oder zwei. Wissen Sie, bei Vollmond muß ich
Bettschwere haben.«

Helmold setzte sich unter die Linde auf den breiten Stein; allein
mochte er nicht in der Schenke sein, weil er dort noch nie gewesen war
und eine alberne Schüchternheit ihn lähmte. Er lächelte vor sich hin:
»Solamen miseris«, dachte er. Aber ein mäßiger Trost, daß es dem Arzt
ebenso ging wie ihm! Und es ging ihm viel besser, denn der hatte seine
leise Frau noch nicht gefunden; er aber hatte sie gefunden und hatte
sie zur selben Stunde verloren.

Im Grunde hatte Benjamin vielleicht nicht so unrecht, als er ihm vorhin
sagte: »Frauenseele! ich glaube nicht daran; unsere heiligen Bücher
wissen davon nichts. Frauen sollen ihre Seele ihren Männern und ihren
Kindern geben; das ist ihr Zweck. Die das nicht können, sind mißlungen.«

Eine furchtbare Angst befiel ihn. Gretes Seele hatte sich ihm
entwunden, und Swaantjes Seele würde nie sein werden, wenn nicht
Swaantje sein würde. »Aber wie ist das möglich,« dachte er, »daß zwei
Seelen sich voneinander lösen, die einst eins waren, wie meine Seele
und die von Grete.« Denn das hatte er oft gefühlt, wenn sie in seinen
Armen zerschmolzen war, daß nicht nur ihr Leib ihm gehörte. Das war nun
vorbei; er war hier, und sie war da. Sie war ihm Lebenskampfkamerad,
Freund, ja; er wollte aber nicht gestützt sein, er wollte durchdrungen
sein. Mann und Frau mußten den heiligen Kreis bilden, mußten sein, wie
die beiden Dreiecke mit den fünf Spitzen, zwei und doch nur eins.

Die Semiten waren klüger, die gaben sich nicht mit Idealen ab; darum
war das Hexagramm ihr heiliger Kreis und nicht das Pentagramm, wie bei
den Ariern. Und deshalb waren die Juden glücklicher im Leben, scheinbar
wenigstens, denn schließlich: die besten unter ihnen schielten doch
aus dem Sechsstern zum Fünfstern, wie er von Grete nach Swaantje.
Warum: die eine ging in sich auf, war eine in sich geschlossene Natur,
die andere ein problematischer Charakter. Die eine satt, die andere
hungrig, unbewußt hungrig.

Eine Meteorkugel zog ein himmelblaues Band über den mondhellen Himmel
und fiel dahin, wo Swaanhof lag, oder wo das Tödeloh stand. Eine
reisende Drossel flog über die Linde und pfiff verlassen; unsichtbare
Brachvögel riefen trostlos. Helmold fror das Herz. Er stand auf und
wollte in das Haus; da kamen harte Schritte näher, und der Arzt stand
vor ihm. »Haben Sie eine Erscheinung gehabt?« fragte er, als er den
Maler ansah. Der lachte: »Nein, eine Gänsehaut!« Aber Benjamin sah ihn
besorgt von der Seite an. »Na,« meinte er dann, »die laute Janna und
die leise Manna sind gut dagegen. Übrigens anständige Mädchen und nicht
glücklich; ein und der selbe Mann hatte beiden die Ehe versprochen, und
nun lachen sie sich am liebsten ihren Kummer fort, denn sie lieben ihn
beide noch immer, trotzdem an dem Kerl nichts dran war.«

Helmold fühlte sich in der gemütlichen alten Wirtsstube, in der es
verstohlen nach Bratäpfeln roch, schnell heimisch. Er kam in die
Ofenecke in den breiten Ledersessel hinein; rechts von ihm saß Janna
und links Manna; sie sahen ihn mit Augen an, in denen eine mitfühlende
Freundlichkeit lag. »Nach Sekt,« scherzte der Arzt, »Schampagner am
besten schmeckt.« Er nahm die Laute von der Wand und klimperte darauf
herum, eine Weise dazu brummend, die nach Moschus und Ambra roch. Er
stieß mit allen an. »Funditus!« befahl er und schenkte wieder ein,
erzählte eine lustige Geschichte, füllte die Gläser abermals und bat
die Mädchen um ein Lied. Sie zierten sich nicht; Janna spielte, und
Manna sang dazu ein Lied, das wie Liebesgeflüster im Lindenlaubschatten
war, und noch eines, hell wie ein Aufquietschen hinter einer Haustüre
an einem dunklen Winterabend.

»Nun Sie,« bat der Arzt und reichte Helmold die Laute; »aber erst die
Gläser aus und eine neue Flasche; unsere Köpfe kühlen wir nachher im
Mondenschnee!« Helmold griff einige Akkorde und sang dann zu einer
verschüchterten Begleitung das heimliche Lied an den Abendstern. Die
Augen der Mädchen wichen nicht von seinen Lippen, und der Arzt sah
ihn mit besorgter Miene an. »Bitte noch eins,« bat Janna leise, und
Manna flüsterte: »Ach ja!« Helmold sang das Lied von dem goldlockigen
Jüngling, der auszog, Avalun, das schöne Land, ganz und gar von
Zuckerkand, zu suchen, und der es erreichte, als er unter dem Notlaken
lag. Unaufgefordert sang er das dritte Lied, das so zart war, wie
perlgraue, mit Rosenrot gesäumte Abendwolken, und als er schloß: »Sag
ja! dann ist das ferne, fremde Land so nah; dann singt der Vogel
nimmermehr von Tod und Not, dann blühen alle Blumen rot, so rot, so
rosenrot,« hatten beide Mädchen feuchte Augen, und auf der Stirne des
Arztes lag eine Falte, die wie ein Hufeisen aussah.

Die Mädchen baten stumm um ein viertes Lied. Helmold stellte erst die
Laute hin, nahm sie aber wieder auf, stürzte ein Glas Schampagner
hinunter und begann leise, aber mit jubelnder Stimme: »Rose weiß, Rose
rot, wie süß ist doch dein Mund, Rose rot, Rose weiß, dein denk ich
alle Stund.« Die Augen der Mädchen erhellten sich; aber als die Laute
einen wehen Ton gab, und es wie ein Weinen weiter klang: »alle Stund
bei Tag und Nacht, daß dein Mund mir zugelacht, dein roter Mund,« da
sahen sie ihn verängstigt an und atmeten beklommen. Jauchzend klang es
wieder: »Ein Vogel sang im Lindenbaum, ein süßes Lied er sang, Rose
weiß, Rose rot, das Herz im Leib mir sprang,« und abermals wimmerten
die Saiten und wie ein Schluchzen war es in des Sängers Stimme: »sprang
vor Freuden hin und her, als ob dein Lachen bei ihm wär, so süß es
klang.«

Die Uhr ging hart durch die Seufzer der Mädchen. Helmolds Stimme lachte
wieder: »Rose weiß, Rose rot« und dann zerklirrte sie, als er fortfuhr:
»Was wird aus dir und mir?« und schneidend, wie Glassplitter wurde ihr
Ton bei den Worten: »ich glaube gar, es fiel ein Schnee, dein Herz ist
nicht bei mir,« und es war bis auf das Geräusch der Uhr totenstill in
dem Gemache, als er endigte: »nicht bei mir, geht andern Gang, falsches
Lied der Vogel sang von mir und dir.«

Die Zwillingsschwestern waren ganz blaß, Benjamin schenkte stumm den
Rest ein, und der Maler sah mit einem bewußten Gefühle von Scham vor
sich hin. Der Arzt ging zuerst hinaus, dann folgte Helmold. Im Hausflur
drückten ihm die Schwestern die Hand, und eh' er es sich versah, nahm
ihn von jeder Seite eine in den Arm und küßte ihn schnell auf den Mund,
ohne daß sie sich vor dem Arzte scheuten. Der nickte ihnen freundlich
zu.

Der Mond stand mitten über der schneeweißen Straße; taghell war zu
beiden Seiten der Wald. Die Männer gingen schweigend nebeneinander
her, trocken klangen ihre Schritte. Helmold war todmüde, aber vor dem
Bette graute es ihn. »Von wem sind die Lieder?« fragte der Arzt. »Von
mir,« antwortete der andere, und seine Stimme hörte sich staubig an.
»Die Melodieen auch?« fragte Benjamin weiter. Der andere nickte, aber
er war schon wieder anderswo, denn der Wald trat angstvoll vor der
Haide zurück, so unheimlich sah sie im Mondenlichte aus. Helmold aber
schien sie süßer Heimlichkeiten voll zu sein; er sah über dem schmalen,
weißen Weg, der zwischen den schwarzen Wachholderbüschen den Hügel
emporschlich, ein morgenrotfarbiges Kleid, das einen schlanken Leib
umspielte, und in völliger Selbstvergessenheit summte er die Singweise
des Rosenliedes vor sich hin. Plötzlich blieb er stehen und horchte in
den Wind hinein, der in der Ferne sang; ein angstvolles, bitterliches,
wehes Weinen war darin, und zum streicheln deutlich sah er vor sich ein
weißes, tränenlos schluchzendes Gesicht und einen verwaisten Mund.

»Was ist Ihnen?« fragte sein Begleiter und schob ihm die Hand unter die
Achsel. »Sie fiebern ja! Drückt Sie etwas? Mir können Sie getrost alles
sagen.« Doch der Maler schüttelte den Kopf und lächelte gezwungen:
»Halluzinationen, Übermüdung und Sekt, weiter nichts; ich habe oft
dergleichen.« Aber er wurde wieder frischer, als der Arzt auf Swaantje
zurückkam, ihm auseinandersetzte, daß das Mädchen in die Welt müsse, um
sich einen Beruf zu suchen, Liebe und Leid zu finden, damit sie nicht
am lebenslosen Leben verwelke. Und da Helmold straffer schritt, begann
der andere das ganze Wesen des Mädchens zu schildern in den Farben der
Bibel und mit einem Verständnis für ihre Eigenart, daß dem Maler das
Herz schwoll.

Als sie vor dem Gutshause Abschied nahmen, sah Benjamin, daß
Hagenrieders Gesicht wieder fieberfrei war. Er blickte ihm nach, als er
mit leichtem Schritte über den Hof ging und so sicher, als wenn er nur
Wasser getrunken hätte. »Auch nicht glücklich; einer wie der andere!«
dachte der Arzt.

Als Helmold um das Haus bog, sah er nach dem Erker hin; dort war noch
Licht. »Sie schläft nicht,« dachte er und machte sich Vorwürfe, daß er
ihr die Lieder gegeben hatte. In seinem Zimmer fand er eine dringende
Depesche. Er packte seinen Koffer und legte sich nieder, den Herodot in
der Hand. Er wollte nicht einschlafen, er hatte Angst davor, aber die
Augen fielen ihm über dem Buche zu.

Es war neun Uhr, als er erwachte; das Licht war bis auf den Halter
heruntergebrannt. »Muß ich müde gewesen sein,« dachte er. Schnell
badete er, und als er sich angezogen hatte, ging er in das gelbe
Zimmer. Swaantje war nicht da; ihr Gedeck war unberührt; die anderen
hatten schon gefrühstückt, denn ihre Plätze waren abgeräumt. Ohm Ollig
kam herein; sein Gesicht sah noch zerknitterter aus als sonst. »Es
hat Krach gegeben, deinetwegen. Die Bestie, die Bergedorfsche, hat
ihr Lästermaul wieder aufgemacht, und sie«, er zeigte mit dem Kopfe
nach dem Zimmer seiner Schwester, »muß das natürlich weiterquackeln.
Swaantje hat wieder ihre Schmerzen. Benjamin war schon da; er
verordnete Ruhe und acht Tage Bett. Jetzt schläft sie.«

Frau Gesina kam herein. »Du bist recht spät gekommen, lieber Helmold,«
sagte sie süßlich. »Im Gegenteile,« antwortete er, »sehr früh sogar,
denn es war erst halb vier Uhr morgens.« Er drehte sich absichtlich
so um, daß er eine der schreiend bunten Erbvasen herunterwarf. »Ach
meine Lieblingsvase,« rief Frau Gesina und hob ächzend die Scherben
auf: »die ist nun in Stücken!« Helmold lachte frech: »Wenn hier weiter
nichts in Stücke geht, kannst du Gott danken! Hör' zu: ich muß mit
dem Mittagszuge reisen; aber so viel Zeit habe ich noch, daß ich dir
einmal die Wahrheit sagen muß. Setz dich bitte!« Er sprach das so, daß
sie in den Sessel knickte und ihn hülflos ansah: »Also: ich reise.
Ob ich je wiederkomme, weiß ich nicht; es ist mir zu mulsterig hier.
Bitte, ich rede jetzt. Paßt dir das nicht, Muhme, da ist die Tür; ich
bin nicht dein Gast, sondern Swaantjes, das bitte ich dich zu bedenken.
Laß das, an deine Herzkrämpfe glaube ich nicht. Du solltest nicht so
viel Kartoffeln essen, und nicht so viel Kuchen, und deinen Kaffee zu
Hause trinken statt bei der verfluchten Klapperschlange vom Duttenhofe,
die bei Gott verderben möge!«

Die Tante fuhr auf: »Ich bitte dich, Helmold, lästere nicht!« Er warf
den Kopf zurück: »Das war ein christliches Gebet und keine Lästerung.
So, und nun kommt die Hauptsache: sobald Swaantje wieder in der Reihe
ist, geht sie auf zwei Jahre aus dieser Mottenkiste heraus, verstehst
du mich? Oder dreie! Wohin ist mir Wurst, jedenfalls bleibt sie nicht
hier, sonst komme ich hierher, und dann sollst du mich einmal richtig
kennen lernen. Du meinst, ich hätte hier nichts zu sagen? Stimmt, und
darum nehme ich mir die Freiheit. Swaantje geht erst nach Berlin, dann
nach Wiesbaden, dann nach München, dann wohin sie will, meinetwegen
nach dem Vetter in Rußland, vorausgesetzt daß die Esel von Letten sich
bis dahin die Bombenschmeißerei etwas abgewöhnt haben. Drei Wochen habe
ich deine pomadigen Reden und margarinenen Seufzer nun ausgehalten,
um das Mädchen aufzumuntern; dir hat es gefallen, mit einem Wort
meine ganze Kur umzuknicken. Ist sie denn eine solche Sorte wie die
Bergedorfer Blagen, die man nicht fünf Bierminuten mit einem Manne
allein im Zimmer lassen darf? Hat sie ihr Geld dazu, daß sie hier
versauert? Ihren Kopf, damit du sie so dämlich machst, wie das hier
guter Ton ist? Siehst du denn nicht, wie du sie mit deiner Tanterei
kaput machst? Ohm Ollig, frage den, der ist ganz meiner Meinung;
nur mag er nicht den Mund auftun, weil du ihm dann acht Tage lang
Hammelbraten vorsetzest.«

Der Ohm rutschte ganz tief in seine Vatermörder hinein, plinkte Helmold
aber heimlich zu. Der ballerte weiter: »Glaubst du vielleicht, es ist
eine Erquickung für sie, wenn sie den ganzen Tag in einem Ende gefragt
wird. ›Swaantien, hast du dies gemacht? Swaantien, wie steht es damit?
Swaantien, du hast doch nicht vergessen?‹ Als ich vor drei Jahren hier
war, hing mir dies Gefrage schon armlang zum Halse heraus, und deswegen
bin ich so lange nicht hier gewesen. Da hieß es: ›Swaantje ist krank,
nervenkrank!‹ Weißt du, was ich da zu Grete sagte? ›Kein Wunder bei
dem Zusammenleben mit der alten Schrammschraube!‹ Jawohl, das habe ich
gesagt, und hätte Grete damals nicht die Kleine an der Brust gehabt,
sie wäre gekommen und hätte hier einmal gründlich ausgelüftet. Na, und
dann durfte Swaantien«, er sprach es mit schmalziger Betonung, »ja
endlich kommen. Swaantien kam, aber Swaantje nicht. Aus dem sonnigen,
heiteren Mädel hattest du einen hysterischen, neurasthenischen Schatten
gemacht. Das Herz im Leibe tat uns weh, als sie ankam. Na, wir
fütterten und ulkten sie gesund, ließen sie treiben, was sie wollte,
und machten glücklich wieder Swaantje aus ihr. Nach einem halben Jahre
komme ich hierher, und wen finde ich? Swaantien«, er sprach es wieder
so niederträchtig wie möglich, »Swaantien mit dem Bindfaden am Bein,
an dem die gute, die liebe, die mütterliche Tante Gese den ganzen Tag
herumzockt.«

Giftig funkelten seine Augen sie an. »Ja, weine nur, es wird dir ja
leicht, bist ja am Wasser geboren, wenn auch an einem ziemlich trüben.
Ich glaube dir gern, daß es keine Sauriertränen sind, sondern daß sie
dir ehrlich abgehen. Sieh mal, Muhme,« seine Stimme wurde weicher,
»eines schickt sich nicht für alle. Du weißt, ich bin ein abgesagter
Feind des ganzen Weiberbewegungsschwindels, dem Steckenpferdchen
von Grete. Deswegen sperrt man doch aber ein Mädchen, das nach
Weiterbildung und nach Kunst hungert, und nach der Welt und ihren
Menschen, nicht zeitlebens ein, bis sie eingeht. Denn das tut sie;
Benjamin, mit dem ich die halbe Nacht durchgesumpft habe, ist ganz
meiner Meinung, vielmehr, er fing zuerst davon an, und daß ich dir das
alles jetzt sage, daran ist er schuld.«

Er klingelte, und als der Diener kam, befahl er: »Ich fahre mit dem
Mittagszuge; der Koffer ist fertig.« Dann sah er den Frühstückstisch,
goß sich Tee ein, und während er auf und ab ging, würgte er ein
trockenes Brötchen hinunter. Frau Gesina strich ihm eins und legte ihm
mit ihrem demütigsten Lächeln Fleisch und Eier vor, und ohne zu wissen,
was er tat, aß er. Dann riß er aus seinem Skizzenblocke zwei Blätter
heraus, schrieb zwei Depeschen und schickte den Diener damit fort. Er
sah ganz blaß aus, hatte blaue Schatten unter den Augen, einen engen
Mund, und seine Hände zitterten.

Die alte Frau goß ihm ein Glas Portwein ein; er drückte ihr die Hand
und küßte sie auf die Backe. Sie fing von neuem zu weinen an. Er
klopfte sie auf die Schulter: »Weiß ja, liebes Muhmchen, meinst es
nicht so; bist ja von Herzen gut. Und ich glaube, du siehst auch ein,
daß ich recht habe.« Sie nickte unterwürfig. »Na, und so lasse sofort
die Näherinnen kommen und Swaantjes Kleider in Stand setzen, und melde
sie bei Ohm Otte an. Von Berlin kann sie dann erst zu uns kommen; Grete
wird viel allein sein, denn ich habe den großen Auftrag zu erledigen
und lebe dann ganz in der Werkstätte.« Er sah nach der Uhr: »Sieh bitte
zu, ob ich Swaantje sprechen kann; ich will ihr Lebewohl sagen.« Die
Tante ging hinaus und kam nach einer Weile wieder. »Sie ist aufgewacht
und möchte ein wenig gekochtes Obst essen und freut sich, dich zu
sehen. Du mußt aber vorsichtig sein mit ihr; die Schmerzen können bei
jeder Aufregung wiederkommen.«

Er lächelte: »Bedenke das bitte, so oft du Swaantien zu ihr sagst.
Gib mir das Obst, ich bringe es ihr. Und nun: Lebt wohl! Dank für
alles Gute, und seid nicht böse auf mich; einmal mußte die Sache
besprochen werden. Ich hätte es ja anders sagen müssen, aber ich bin,
wie ich bin. Adjüs, Ohm Ollig, adjüs, Muhme Gese! Und nicht wahr,
ich verlasse mich auf dich? Großes Bierwort darauf? Und verschone
mir das Mädchen mit allen Butternöten und Legehennensorgen und
Negerkinderbekleidungsmanufaktur; laß sie machen, was sie will. Sie
redet dir in dein Ministerium des Innern ja auch nicht hinein. Also:
Gehabet euch wohl, und grüßt mir den Doktor; das ist ein Prachtkerl.«

Er ließ die beiden stehen und ging mit dem Tragbrette in der Hand aus
dem Zimmer. Auf der Treppe traf er die Zofe. »Melden Sie mich bitte,
Fride,« sagte er. Das Mädchen lächelte ihn an: »Das gnädige Fräulein
warten schon.« Sie stockte einen Augenblick, dann griff sie nach seiner
Hand, drückte sie und stammelte: »Herr Hagenrieder, ich war nebenan;
ich horche sonst nie, aber die Hand könnte ich Ihnen küssen! Sie sollen
sehen, sobald Fräulein Swaantje draußen ist, wird sie wieder gesund.
Gott,« sie klappte die Hände ineinander, »und ich komme dann mit!«
Helmold klopfte ihr die Backe: »Das ist Ihnen wohl die Hauptsache? Na
na, ich mache bloß Spaß. Aber, Fride, geht hier oder sonstwo etwas
verquer, Eilbrief oder Telegramm! ich komme dann sofort. Hier, das ist
für etwaige Auslagen. Und bringen Sie mir Ihre Herrin gesund wieder,
dann gibt es einen blauen Lappen für die Aussteuer.« Er nickte ihr zu
und ging die Treppe hinauf.

Leise öffnete er die Türe zu Swaantjes Wohnstube. Der Vorhang des
Erkerzimmers war zurückgezogen; das Mädchen lag halb sitzend im Bette.
Als er eintrat, nahm sie schnell die Hand von der Schläfe. »Maria mit
den sieben Schwertern« dachte er, und er mußte sich auf die Lippen
beißen, um nicht aufzuschreien. Ihr Gesicht sah nicht so blaß aus,
wie er gefürchtet hatte, nur ihre Augenlider waren gerötet. Aber ein
Leuchten lag in ihrem Blicke, wie er es noch nie bei ihr gesehen hatte,
und eine Süßigkeit war in ihrem Lächeln und eine Hingebung, daß der
Teller auf dem silbernen Tragbrette in seinen Händen an zu klirren
fing. Doch er jagte seine Sehnsucht in die Ecke, stellte das Tragbrett
auf den Nachttisch, setzte sich vor das Bett, gab seiner Base die
Hand und sagte: »Arme kleine Swaantje, und daran bin ich nun schuld!«
Sie lächelte lieblich und nickte: »Ja, aber ich danke dir doch sehr;
du hast mich unsagbar erfreut.« Sie gab ihm die Hand und flüsterte
zärtlich: »Lieber Helmold!« Er lächelte freundlich, aber das ganze
Zimmer drehte sich um ihn. »Einen Kuß, einen einzigen Kuß!« dachte er.

»Komm,« sagte er, legte ihr das Händetüchlein hin und nahm den Teller
und den Löffel; »jetzt muß die kleine Swaantje erst ein bißchen essen;
und wenn sie sich nicht beschlabbert, und wenn sie erst wieder gesund
ist, darf sie zu Ohm Otte, und dann kommt sie zu Hagenrieders, und dann
geht sie nach Wiesbaden, und nach München, und im Sommer geht sie mit
uns an die See, und nachher in den Harz.« Sie lächelte, und die Augen
wurden ihr feucht. Wie ein Kind ließ sie sich eine Pfirsichspelte nach
der anderen zwischen die Lippen schieben.

Helmold wunderte sich, daß ihm die Hände nicht zitterten. Auf die
Knie hätte er fallen, ihre Hände mit Küssen bedecken, ihr den Schmerz
abbitten mögen, den er ihr zugefügt hatte, und während er das dachte,
stand der gepanzerte Ritter wieder hinter ihm, stieß ihn leise an
und flüsterte: »Küsse sie doch, Mensch, küsse sie; sie wird dich
wiederküssen. Mein Wort darauf!« Aber er küßte sie nicht, und keiner
seiner Blicke sprach von mehr als von Brüderlichkeit.

Er strich ihr leise die schmerzende Schläfe; sie sah ihn dankbar an und
sagte: »Das hat mir mehr geholfen als alle Pulver. Aber du mußt gehen,
es wird sonst zu spät für dich, lieber Helmold!« Er stand auf und sah
sich im Zimmer um; er selbst hatte die Einrichtung entworfen. Er sah
das Mädchen an, ihre Hände, die aus den Spitzen hervorsahen, und ihr
Gesicht, das eng von der Halskrause umschlossen wurde. Ihr Haar lag
halbgelöst um ihre Schläfen; es hatte einen fettigen Schimmer. Langsam
hob ihre Brust das weiße Nachtgewand.

»Lebe wohl, liebe Swaantje,« sagte er; bröcklich klang seine Stimme;
»werde gesund und komme bald!« Er bückte sich nieder und küßte ihre
beiden Hände, und da fühlte er, daß ihre Lippen seine Stirn streiften,
und es schwindelte ihn, als er sich aufrichtete. Aber schnell nickte er
ihr zu und verließ das Zimmer.

Er wußte nicht, wie er zum Bahnhof gekommen war. Er nahm eine Karte
erster Klasse; er wollte möglichst allein sein. Als ihm der Diener den
Gepäckschein zurückgab, starrte er so dumm darauf hin, daß der Mann
lächelte.

Er hatte noch zehn Minuten Zeit; der Zug hatte Verspätung. »Zehn
Minuten zu früh von ihr gegangen; sechshundert Sekunden fortgeworfen!«
dachte er. Da ruschelte ein seidenes Kleid hinter ihm. Er trat zur
Seite und sah Frau Bergedorf vor sich stehen. Sie erwiderte holdselig
seinen Gruß und fragte ihn: »Schon fort? Ich dachte, Sie wollten noch
eine Woche bleiben?« Er zuckte die Achseln: »Es ging nicht anders;
ich habe in einem großen Ausschreiben gesiegt und muß nun mit den
Auftraggebern verhandeln.« Die Frau wiegte den Kopf: »Das wird Ihre
Kusine aber sehr bedauern; Sie beide sind doch ein Herz und eine
Seele!« Er lächelte verbindlich: »Natürlich, soweit das bei dem großen
Altersunterschiede möglich ist. Erwarten gnädige Frau jemanden?« Sie
nickte: »Meine Olga.«

Sie gingen den Bahnsteig entlang, bis dahin, wo sie allein waren.
Helmold machte sein liebenswürdigstes Gesicht: »Meine Base ist leider
recht krank; sie hat sich über das Geschwätz zu sehr aufgeregt, das ein
Weibsbild aus der hiesigen Gesellschaft über sie aufgebracht hat. So
etwas ist doch gemein, gnädige Frau, nicht wahr? Besonders wenn es von
einer Person ausgeht, die als verlobte Braut abends verschleiert einen
Leutnant so lange besuchte, bis es zum Skandal kam, und die Töchter
hat, die es ähnlich treiben. Wenn ich nur den Namen wüßte, die könnte
sich gratulieren. Vielleicht erfahren gnädigste Frau etwas darüber und
haben die große Güte, es mich wissen zu lassen. Hier meine Adresse!« Er
zog eine Karte heraus und gab sie ihr.

Der Zug lief ein. »Empfehle mich ganz gehorsamst, meine Gnädigste,«
sagte Helmold mit dem Hute in der Hand und küßte seinen Daumen über
ihren Handschuh; »und ich bitte um gütige Empfehlung zu Hause.« Er
verbeugte sich und ging auf den Zug zu. Vom Fenster aus grüßte er noch
einmal; Frau Bergedorf dankte gütig.

In dem Abteil saß ein Rittmeister von den Münsterschen Panzerreitern;
er sah flüchtig auf und las weiter in seinem Buche. Helmold blieb am
Fenster stehen, bis Swaanhof vor ihm auftauchte, und als es verschwand,
setzte er sich und wartete, bis die Mecklenhusener Haide immer näher
kam. Er sah den Weg, den er mit Swaantje gekommen war; das Tödeloh, wo
der Tod ihn angebettelt hatte, flog schnell vorüber und langsamer der
Wahrbaum.

Er stützte den Kopf in beide Hände. Er dachte daran, daß er doch
wenigstens ein Taschentuch oder einen Handschuh von ihr als Erquickung
hätte mitnehmen sollen, oder ihr Bild. Nun hatte er nichts von ihr,
als den verblühten Kuß auf seiner Stirn, den zerwehten Klang ihrer
Stimme in seiner Seele, und ihr blasses Bild in seiner Erinnerung. Er
liebkoste es mit den Augen, küßte es auf die Hände, aber jedes Mal,
wenn er die Lippen küssen wollte, verschwand es, und er sah nichts als
das rote Polster vor sich und den langen Offizier.

Dann sah er sich tot und kalt unter der Schirmfichte liegen; drei
Männer kamen und begruben ihn hinter dem Walle im Tödeloh. Jede Nacht
stieg seine Seele aus dem Grabe und ging in das graue Steinhaus, wo
sie die Schatten anderer Männer traf, die vor vielen tausend Jahren
dort ihre Leiber vergessen hatten. Sie prahlten von Krieg und Sieg,
schimpften darüber, daß kein Mensch mehr an sie denke und ihnen
Wildpret und Honigbier hinstelle, und sie machten sich über ihn lustig,
weil er ein jedes Mal jedweden von ihnen fragte, ob nicht ein Kranz
oder ein paar Blumen für ihn abgegeben wären.

Es war aber niemals etwas da und weinend stieg er wieder in sein Grab.



Der Mohnblumenkranz


Am Abend aber lachte er sie alle miteinander aus, die Geister der
sächsischen Männer, denn es waren auf einmal viele Blumen da, und die
sahen ihn so herzlich an, daß seine Seele ihren Leib wiederfand und
singend aus dem grauen Grabe zum grünen Leben hinaufstieg.

Es waren jedoch keine weißen Blumen, die vor seinem Grabe lagen, rote
Mohnblumen waren es, und nicht Swaantje hatte sie dort niedergelegt,
sondern Grete, seine kluge, gute und starke Frau hatte sie zum Kranze
gewunden und zu Häupten seines Bettes aufgehängt; sie flüsterten ihm
mit ihren leichtsinnigen roten Lippen so leise Schlummerlieder zu,
daß er die ganze Nacht verschlief und den nächsten Tag, und nachdem
er einen Bissen gegessen und einen Schluck getrunken hatte, schlief
er abermals ein, denn ein frischer Kranz hing über seinem Bette, und
den löste ein dritter ab, und so schlief Helmold Hagenrieder drei Tage
und drei Nächte, und dann stand er in der Frühe auf und ging in seine
Werkstatt, ging frisch und fröhlich an seine große Arbeit und pfiff ein
Lied dabei.

Es hatte eine seltsame, lustige Weise, das neue Lied; leichtsinnig
war sie und doch so tief, froh, und doch so schwül, und die roten
Mohnblüten hatten es ihn gelehrt. Helmolds Augen strahlten, blickte er
seine Frau an; und er küßte sie, wie seit langem nicht, seine liebe,
gute Grete, die sich seiner Not erbarmt hatte, als er krank und elend
und zerbrochen von Swaanhof kam und ihr sein bitterliches Leid geklagt
hatte. Sie hatte ihm das Haar gestreichelt und die Stirne geküßt wie
eine Mutter, und ihm zugeflüstert: »Ja, ja, mein armer Junge; sie soll
kommen; ich selber will sie rufen.«

Deshalb konnte er mit einem Male wieder lachen und flöten und singen;
darum aß er, wie lange nicht, und schlief fest und lange wie ein
Kind, und küßte seine Frau, wo er sie zu fassen bekam, und sang ihr
jede Nacht das Lied von dem roten Mohn in die Ohren; und wenn dann
am anderen Morgen Frau Grete ihre Zöpfe flocht, dann lachte sie ihr
Spiegelbild an und dachte: »Wie eine junge Frau seh' ich aus; wie eine
ganzganz junge Frau!«

Zum roten Mohn gehören blaue Kornblumen, und da Helmolds und Gretes
Backen von Tag zu Tag mehr den roten Blumen ähnlich wurden, so sahen
ihre Augen von Nacht zu Nacht blauer aus, denn die volle Sonne lag auf
ihnen; rund herum war das Feld so gelb wie Gold und versprach eine
Ernte, wie sie lange nicht gewesen war, reif und schwer. Kein Landregen
schlug sie zu Boden, kein Sturm zerzauste sie, kein Schloßenfall
knickte sie ab; jeden Tag hingen die Ähren tiefer, und wenn der Wind
über sie ging, dann rauschten sie leise, rauschten ein heimliches Lied,
bis Helmold es vernahm und es erst leise und dann immer lauter pfiff,
und was er flötete, das malte er auf einen neuen Karton, erst in leisen
Strichen, dann in halblauten Linien, und schließlich in hellklingenden
Farben.

Aus warmen Liedern, heißen Küssen und glühenden Farben waren die
Entwürfe entstanden, die auf den drei großen Kartons an den Wänden zu
sehen waren, und wenn Helmold, seine Frau im Arme, davor stand, dann
schüttelte er den Kopf, lachte und sagte: »Jetzt weiß ich erst, daß ich
etwas kann. Aber was kriege ich von dir dafür?« Dann nahm sie ihn in
die Arme, reckte sich an ihm hinauf, zog seinen Kopf an ihren Mund und
flüsterte ihm etwas zu, das kein dritter Mensch hören durfte, und es
war doch weiter nichts als das Lied vom roten Mohn. Jeden Tag mußte sie
es ihm in das Ohr summen, den einen Tag das eine, den anderen Tag das
zweite, den dritten das dritte Stück, und als er in der Eisenbahn saß
und dahin fuhr, wo aus den Entwürfen Werke werden sollten, sah er auf
den kahlen Feldern lauter rote Mohnblumen vor sich, und als der Abend
ihm die Landschaft vor den Augen fortnahm, blühten rote Mohnblüten in
den Wolken auf, immer mehr, bis sie den ganzen Himmel erfüllten.

Jedweden Tag bekam Frau Grete eine Karte mit roten Mohnblüten, eine
einzelne oder ein ganzes Feld voll darstellend; sie legte sie alle
der Reihe nach in einen Kasten aus kornblumenblauem Samt, besah sie
jeden Abend, zählte sie immer und immer wieder und sang sich selbst
mit dem Liede in den Schlaf. Doch am Tage vor dem Julfeste kam keine
Mohnblumenkarte, da kam der, der mohnblumenrote Küsse zu verschenken
hatte, und ganze Fäuste voll brachte er davon mit, drei große Sträuße,
für jeden Feiertag einen. Und daran sahen sich ihre Augen, die vom
vielen Sticken und Nähen und Kochen und Backen ein wenig blaß geworden
waren, wieder so blau, wie Kornblumen, und auch die Augen ihres Mannes,
die zu viel Farbe hatten hergeben müssen in den letzten Wochen, färbten
sich voller.

»Nun noch zwei oder drei Monate, Gretechien,« lachte er, »und dann
singe ich wieder in meiner Werkstatt, denn ich habe noch manches Lied
in den Augen, das du nicht gesehen hast. Ich bin froh, daß ich alle die
drei Bilder auf einmal angelegt habe, und du solltest mich einmal bei
der Arbeit sehen; ich sage dir, es ist die reine Kilometerfresserei!
›Sie müßten sich eigentlich Rollschuhe anschnallen,‹ sagte der Herzog
neulich. Ich hatte nicht gewußt, daß er kam, und achtete gar nicht
darauf, daß mehrere Leute eingetreten waren, denn ich war in voller
Arbeitsbrunft. Ich hatte grade am rechten Seitenbilde gemalt, du weißt
doch, das Kriegsbild, und da fiel mir etwas am linken Seitenbilde
ein, und ich sauste das Hängegerüst entlang und malte an der anderen
Seite und flötjete dabei, wie ein Scherenschleifer. Wie ich nachher
hörte, hat der Adjutant mich darauf aufmerksam machen wollen, daß der
hohe Herr da sei, aber der hatte abgewinkt und mir lachend zugesehen,
bis ich nach dem Mittelbilde hinlief, denn mir fiel ein, daß noch ein
bißchen Schatten mehr das Gesicht der jungen Frau heller machen würde.
Na, und da sagte der Herzog denn das.«

Er lachte: »Du, ich glaube, der mag mich. Grade weil ich so
demokrätzig-urwüchsig bin; die Pomadenmanieren hat er ja den ganzen
Tag um sich. Ich habe Angst, daß ich mir den Professortitel zuziehe,
und so was färbt auf das Talent ab. Ein Orden wäre mir lieber, dann
würden die Leute doch sehen, daß ich ein ordentlicher Mensch bin.« Er
lachte lustig. Ȇbrigens wird seine Hoheit mir sitzen. Ich hatte, als
er das Triptychon besah, ihn schnell ein paar Mal auf den Hülfskarton
skizziert, und das hatte man ihm gesteckt. Wenn ich nur wüßte, welches
von seinen zwei Gesichtern ich nehmen soll, das Pflichtgesicht oder das
Wunschgesicht, ob ich ihn als Landesvater oder als Heerführer male.
Weißt du, der Mann tut mir leid! Bei dem Temperament, bei der Unmasse
von Willen immer und ewig den kühlen Herrn von Stande markieren zu
müssen, hol's der Kuckuck, da ist es kein Wunder, wenn der Charakter
allmählich etwas viereckig wird. Wenn unsereins am falschen Platze ist,
na, dann dudelt er sich einmal einen an und schimpft sich die Wut vom
Balge; das kann er sich natürlich nicht leisten. Ich habe mich früher
manchmal über das Hin und Her bei ihm geärgert, aber als Hennecke
mich damals bei der Hofjagd einmogelte und ich den Mann eine Stunde
lang auf drei Schritt sah, da wußte ich Bescheid. Natürlich, er ist
ein Mensch und hat Fehler; aber er hat Leidenschaft im Leibe und ist
imstande, sich zu begeistern, also kein Philister. Philistern verzeihe
ich eine Ziellosigkeit nie; Karrengäule müssen ihren Trott gehen;
Rennpferde dürfen einmal ausbrechen.«

Er sah seine Frau zärtlich an: »Wenn wir uns nicht gefunden hätten!
Ich glaube, ich wäre vor die Hunde gegangen ohne dich. Ja, du hast
erst etwas aus mir gemacht; mit einem Ruck kam ich von der Erde aus
dem Naturalismus in den Realismus, und nun stehe ich mit beiden
Hinterbeinen im Idealismus, komme über mich hinaus. Herrgott, soll das
jetzt ein Leben werden! Hätte ich nur erst die Bilder fertig! Denn
was ich alles noch im Leibe habe, das ahnst du gar nicht, und reden
kann ich darüber auch nicht eher, als bis ich der Sache in das Gesicht
sehen kann. Nur das eine will ich Dir verraten: ich male fortan nur
Tendenz.« Seine Frau sah erstaunt auf, und er lachte: »Jawohl, Liebste,
Tendenz, faustdicke Tendenz, so faustdick, daß sie mir keiner vorwerfen
kann! Meine Tendenz ist: meinem Volke den Rücken mit Franzbranntwein
einzureiben, es mit Freude und Grimm zu füttern und mit Wonne und Weh
zu tränken, damit es so bleibt, wie es ist, sich nicht verplempert
in fremder Art und nicht vergißt, daß es zwei Gesichter hat: ein
gutmütiges und ein bösartiges; denn wir kriegen allmählich zu viel
Gemütsembonpoint, seufzen, wird irgendwo ein Schweinehund geköpft, und
stöhnen, wenn wir die Knarre zur Hand nehmen sollen.«

Er ballte die Hände, reckte die Fäuste und dehnte die Brust: »Einen
Krieg, den möchte ich noch erleben, aber aktiv!« Seine Frau sah ihn
entsetzt an, er aber lachte, drückte sie an sich und flüsterte: »Weißt
du das Lied noch, das Lied von dem rotroten Mohn? Wir wollen es nicht
vergessen; es ist das schönste Wiegenlied für große Kinder!«

Sie vergaßen es nicht; als Helmold wieder abgereist war, flogen die
Mohnblumenkarten jeden Morgen in das Haus. Manchmal war nur eine
kleine, schüchterne Blüte in eine Ecke gemalt, während der übrige Raum
voller Schrift war; dann kam eine, über die sich die Blüten von einer
Ecke in die andere zogen, oder eine andere, auf der sie einen Rand
bildeten oder einen Fries. Wenn aber eine eintraf, auf der ein Kranz
von den glühenden Blumen zu sehen war, dann seufzte Frau Grete auf und
ging abends nicht so früh schlafen, und wenn sie es tat, dann trat sie
vorher in das Schlafzimmer ihres Mannes und streichelte das Kopfkissen.

Aber als die Amsel schon übte und die Finken bereits stümperten,
die Schneeglöckchen über den Buchsbaum sahen und der Haselbusch mit
goldenem Staube um sich warf, kamen die Karten immer spärlicher, und
fast nie war eine rote Blume darauf zu sehen, und wenn das doch so war,
dann war sie mit Rotstift flüchtig hingestrichen, und Frau Grete wurde
wieder ganz traurig.

Bis dann der Tag kam, an dem der Frühling sein erstes gelbes Extrablatt
in den Garten flattern ließ, an dem der Fink sagte: »Jetzt kann ich
es aber!« und die Amsel: »Und ich erst recht!« Da rollte ein Wagen
vor das Haus, hielt mit einem Ruck, und Frau Grete stürzte die Treppe
hinunter, denn Gift und Galle, die beiden Teckel, stießen den Ruf aus:
»Herrchen ist da!« und jaulten und kläfften und winselten und kratzten
die Ölfarbe von der Haustüre, und als die Frau die Türe aufriß, stand
Helmold vor ihr, küßte sie, drückte sie, daß ihr schwach wurde, und
rannte die Treppe hinauf, um Swaan und Sweenechien zu küssen. Dann lief
er in die Werkstatt, atmete tief auf, ging in den Garten, liebelte die
Hunde ab, sagte allen Blumen guten Tag und den Fischen in den Teichen
auch. Dann wurde er allmählich vernünftig und ging in die Veranda, wo
nach einiger Zeit seine Frau eintrat. Er drehte sie um und befahl: »So
stehen bleiben!« und als sie sich umwenden durfte, sah sie, daß er
einen Orden vor der Brust hatte.

»Ja, weißt du, ich hatte die Wahl: Professor oder ordentlicher Mensch!
Na, da sagte ich: Exzellenz, so'n Professortitel, wenn man den alle
Tage trägt, der sieht dann schließlich so aus, wie ein alter Gehrock;
dann bitte ich lieber um etwas, das sich nicht so leicht abträgt, weil
man es bloß an hohen Tagen anzieht. Hat der alte Herr gemeckert! wie
eine Bekassine! Ja, und nun habe ich nicht nur einen Vogel im Kopf,
sondern auch einen vor der Brust, aber einen, der sich sehen lassen
kann.« Sweenechien wollte gern den Vogel sehen, den ihr Vater im Kopfe
hatte; da sich das nicht gut bewerkstelligen ließ und um sie auf andere
Gedanken zu bringen, wurde der Koffer ausgepackt, und nun gab es ein
Gequieke und Gejubel in der Veranda, daß der Buchfink beschämt den
Schnabel hielt und die Amsel geärgert fortflog. Aber was hatte der
Vater nicht auch alles mitgebracht! Das war noch viel schöner, als
zum Julfeste, denn da wußte man im voraus, daß man etwas bekam. Swaan
wußte nicht, bei welchem Buche er zuerst anfangen sollte zu lesen,
Sweenechien sah ratlos von der blonden zu der braunen Puppe, und die
Luise und die Minna standen da und machten ganz dumme Gesichter wegen
der schönen Sachen, die sie bekommen hatten, und vergaßen beinahe, sich
zu bedanken. Als sie im Hausflure waren, fielen sie sich um die Hälse
und küßten sich, und vor einer Stunde hatten sie sich noch gefährlich
gezankt.

Frau Grete aber bekam ein Kästchen; als sie es aufmachte, jubelte sie
hell auf, schlug die Hände zusammen und küßte ihren Mann auf beide
Backen, denn in dem Schächtelchen lag ein Schmuck für ihren Hals, wie
sie sich ihn in ihren waghalsigsten Träumen nicht gewünscht hatte. Aber
als ihr Mann aus der Innentasche der Weste einen grünen Lederumschlag
nahm und ihr gab und sie einen Tausendmarkschein nach dem andern
hervorholte, wurde sie mit einem Male feuerrot und steckte das, was
unter dem letzten Scheine lag, schnell wieder in den Umschlag; denn
das war eine roggengrüne Karte, und darauf war ein Kranz aus roten
Mohnblumen gemalt.

Helmold Hagenrieder fehlte es jetzt nie an einem Kranze aus Mohnblüten
zu Häupten seiner Bettstatt, und so mangelte es ihm auch niemals an
kühlendem Schlummer nach heißem Schaffen. Denn heiß waren seine Tage,
heiß und lang. Schon in aller Frühe, wenn die Amsel zu singen begann,
war er in seiner Werkstätte und malte. Bild um Bild entstand, nun ein
lichtes, frohes, reines, ohne eine andere Absicht, als so wirken zu
wollen, wie eine lächelnde Blume oder eine lachende Frucht, und dann
andere, die zwei Gesichter hatten und eine doppelte Sprache redeten.

Seine beiden Saharabilder entstanden, die Söldner und die Sieger, die
zum Tode ermatteten Fremdenlegionäre, im glühenden Sonnenschein durch
den Sand watend, darstellend, und die erschossenen Kabylenhäuptlinge
im grellen Mondenlicht. Dann wurde die Hinrichtung der Sachsen
an der Halsbeeke bei Verden beendet und gleichzeitig Frigges
Flammentod, und hinterher kam das bitterböse Bild von Wodes Zorn.
Auf einer dunkelgrünen Melodie hatte Helmold den Stoff gepflückt, so
verträumt, wie sie an einem weichen Sommerabend erklingt, wenn die
Mädchen eingehakt über die Dorfstraße ziehen und so lange singen,
bis es den Jungens unter dem Brusttuche brennt. Aus Lindenblüten und
Blättergeflüster war sie gewebt, und das Lied, das ihm dabei kam,
begann also: »Ach ich war den ganzen Tag allein, denn mein Schatz
der konnt nicht bei mir sein.« Das Bild aber stellte eine lachende
pfälzische Landschaft dar, grüne Rebengärten an roten Felsenhängen;
doch im Mittelgrunde brannte ein Dorf und im Vordergrunde lagerten
Soldaten Turennes. Der Rahmen war dunkeleisengrau; er wies unten einen
kaum sichtbaren Fries von Menschenschädeln auf, rechts und links den
krähenden gallischen Hahn und oben zwischen zwei wütend schreienden
Raben Wode Wutblick; der Gott aber trug die Züge des Fürsten Bismarck.

Dazwischen entstand ein Bildnis nach dem anderen; denn seitdem Helmold
den Herzog hatte malen dürfen, und in einer Auffassung, die allem
Herkommen entgegen und dabei doch so schlicht und natürlich war, wollte
alle Welt von ihm gemalt sein, und er konnte sich vor Aufträgen nicht
retten, trotzdem oder weil er Preise nahm, daß Frau Grete oft sagte:
»Du machst es ein bißchen zu grob.« Aber dann lachte er und sagte:
»Bisher nahm ich Gesellenlöhne; jetzt lasse ich mir Meisterpreise
zahlen. Das verlangt die Zunftehre«. Es kam ihm aber gar nicht darauf
an, einen Menschen, den er gern hatte, oder dessen Kopf ihm gefiel,
ohne Entgelt zu malen; wenn aber der Kunsthändler Schultze ihm sagte:
»Machen Sie es ein bißchen billiger, verehrter Herr Hagenrieder, dann
nehme ich die doppelte Anzahl Studien,« so hieß es: »Wenn Sie mir
noch einmal ein solches Angebot machen, dann sehe ich mich nach einem
anderen Verhältnisse um.«

Er hatte so viel zu tun, daß er wie ein spielendes Kind dahinlebte;
er aß wie ein Drescher und schlief wie ein Dachs; wenn die Nacht auch
manchmal nur drei oder vier Stunden für ihn hatte, weil es ihn in
aller Frühe schon nicht mehr im Bette litt, er schlief so fest und
traumlos, daß die drei Stunden mehr Frische bei ihm ansetzten, als
sonst deren neun. Das Wetter, von dem er im Sommer vorher immer bis zur
Unerträglichkeit abhängig gewesen war, kümmerte ihn gar kein bißchen;
der Vollmond war schlecht auf ihn zu sprechen, denn er hatte ihn links
liegen lassen und war kein einziges Mal mit ihm losgezogen, wenn der
ihn abholen wollte. Er trank überhaupt nur dann etwas, wenn es gar
nicht anders ging, und wenn er im vorigen Jahre ohne die Zigarre oder
die Zigarette nicht zu denken war, so rauchte er jetzt nur nach den
Hauptmahlzeiten, wenn er mit seiner Frau plauderte.

Die war jetzt viel bei ihm in der Werkstätte und freute sich über
sein federndes Wesen und besonders darüber, daß er von Swaantje ganz
selten sprach und dann nur wie von einer guten Freundin. Ganz langsam
und vorsichtig versuchte sie, ihm den Gedanken an das Triptychonleben,
den sie in ihm heraufbeschworen hatte, auszureden. Frau Gesina war
krank gewesen, und Swaantje war deswegen nach Swaanhof gereist und
hatte Grete eingeladen. Als Frau Hagenrieder wiederkam, brachte sie
ihrem Mann einen schönen Gruß mit und sagte dann: »Wir haben sehr
viel gelacht, denn Swaantje sagte: ›Daß ich simple Landpomeranze
es noch einmal bis zur Romanheldin bringen würde, das hätte ich
nicht gedacht.‹« Ihr Mann, der gerade die Zeitung las, hatte nicht
mehr gezeichnet als ein Rehbock, an dem die Kugel vorbeiflötet, und
hinterher hatte er ganz ruhig mit ihr über sein Verhältnis zu dem
Mädchen gesprochen: »Sie war nötig für mich, liebe Grete,« sagte er,
»und bleibt es auch wohl; doch nicht als Weib, glaube ich. Damals,
als ich ganz zerknittert von Swaanhof zurückkam, meinte ich, es
wäre anders; aber das war wohl nur ein Ausfluß meines gebrechlichen
Zustandes. Von jeher wird mein Gefühl zu ihr auf einem anfangs
unbewußten, dann klar sehenden Mitleid aufgewachsen sein, und wenn ich
sie so recht von Herzen glücklich sähe, wird sie mir nicht mehr sein
als Hennig, denn auf dessen Liebste bin ich ja auch nicht eifersüchtig,
und ich liebe ihn doch sehr. Freilich, er ist ein Mann, und sie,
scheinbar wenigstens, ein Weib, und so hält es schwer für mich, daß ich
mich ihr gegenüber von allgemein männlichen Vorstellungen frei mache.
Aber selbst, wenn ich ihr gegenüber Wünsche hätte, so dumm bin ich
nicht, daß ich ihnen grüne Blätter vorwerfe; denn erstens liebt sie
einen anderen, und zweitens ist keine Möglichkeit vorhanden, daß sie
mein sein könnte. Aber ich würde mich freuen, sie bald wieder zu sehen;
wir haben ja auch einen Wechsel auf Sicht von ihr. Und jetzt habe
ich bald Zeit für lieben Hausbesuch; denn sonst gewöhne ich mir das
Malen noch so an, daß es ein Laster wird, wie einst meine Rauchsucht.
Außerdem muß ich zur Brunft nach Stillenliebe, denn sonst wird der
Prinz öde. Und ich merke es doch, daß auch Arbeit, die man mit Freude
tut, schließlich die roten Blutkörperchen auffrißt. Solange man im
Trott bleibt, weiß man nichts davon; sobald es aber prr heißt, klappt
man um.«

Das fand Grete auch, denn ab und zu sah sie in dem Benehmen ihres
Mannes leichte Schatten, die die heranziehende Nervenüberspannung
vorweg warf. Er arbeitete schon unregelmäßiger, schaffte den einen
Tag sehr viel, tat dann drei Tage nichts, stand den einen Morgen um
fünf Uhr, den folgenden Vormittag um elf Uhr auf, wurde hier und da
ungeduldig, und klagte darüber, daß die Nachbarn ihm zu laut wären,
während er sonst gesagt hatte: »Je mehr in den Nachbargärten gelacht
und gesungen wird, um so lustiger werde ich.« Wenn Swaan, wie es seine
Art war, bei jedem Geschenk, das ihm der Vater mitbrachte, fragte: »Was
hat es gekostet?« so hatte dieser früher gelacht und gemeint: »Der
wird wie sein Großvater und wird nicht erst kreuz und quer durch das
Leben stolpern, ehe er sich zurechtfindet.« Jetzt zog er die Stirne
kraus und fuhr auf: »Junge, was soll das heißen; vom Geld redet man
in anständiger Gesellschaft nicht,« und zu Grete sagte er hinterher:
»Der Junge rückt täglich mehr von mir ab.« Auch bei Sweenechien wollte
er das finden; sie war ihm zu selbstbewußt: »Wird wohl später auch
anfangen, den Vermännerungsschwindel mitzumachen,« brummte er; »früh
streckt sich, was ein tauber Halm werden will.«

So war seine Frau recht froh, als Swaantje sich endlich anmeldete:
»Ich muß Euch doch noch vorher wiedersehen, Ihr Lieben,« schrieb sie,
»denn ich will mit Tjark und Ilsabe nach Italien. Ich freue mich
kindisch.« Auch Helmold freute sich: »Das wird ihr gut tun; sie braucht
Sonne und Luxus. Es wird ihr Spaß machen, einmal Geld zu vertun.« Er
war so aufgeräumt, daß er kaum zusammenzuckte, als Grete ihm eines
Morgens sagte: »Ich denke, es ist besser, Swaantje schläft nicht in
dem großen Fremdenzimmer, sondern in dem kleinen, schon damit ich ihr
beistehen kann, wenn sie ihre Schmerzen bekommt.« Nach dem Kaffee
aber sagte Helmold, der mittags schlecht gegessen und dann geschlafen
hatte, was ihm nie gut bekam: »Die Bemerkung von heute morgen hättest
du im Munde behalten können, Grete; ich habe ihren Untersinn wohl
verstanden. Wofür hältst du mich eigentlich? Glaubst du«, er machte
eine zornige Handbewegung und warf seine Zigarre in den Garten, »ich
bin ein Mann, der einem solchen Mädchen gegenüber sich von bequemer
Gelegenheit bereden läßt?« Sie schüttelte unwillig den Kopf, er aber
fuhr fort: Ȇberhaupt, deine Art und Weise, Swaantje in der letzten
Zeit langsam bei mir abzubrechen, gefällt mir sehr wenig; ich bin
doch nicht verliebt in sie, sondern ich liebe sie. Wie, das ist mir
selber schleierhaft. Jedenfalls: tritt Verliebtheit in dem von dir
befürchteten Sinne hinzu, ich würde nie etwas von ihr nehmen, was sie
mir nicht mit beiden Händen schenken würde, noch nicht einmal einen
Kuß.«

Er steckte sich eine neue Zigarre an, die dritte seit einer Stunde,
und sagte: »Bedenke, was du mir damit angetan hast, und wer die ganze
Schuld trägt; ich sicher nicht! Hättest du damals nicht die fahrlässige
Redensart von dem Triptychonleben gemacht, so wäre ich wohl kaum darauf
gekommen, daß mir das Mädchen mehr sein könnte als eine liebe Freundin.
Jedenfalls versuche nicht, die Sache so hinzustellen, als wenn ich den
Stein in das Wasser geschmissen hätte.«

Er sagte ihr, er wolle allein ausgehen. Das tat er denn auch, und er
beruhigte sich durch einen strammen Marsch. Er dachte an die rosenroten
Stunden, die er mit Grete verlebt hatte; er krempelte sich selber um
und kam zu dem Ergebnisse, daß ihn zu Swaantje weiter nichts hinziehe
als eine rein seelische Neigung, und er trat in Gretes Spur und fand,
daß sie alles, was sie gesagt hatte, aus ihrem leichtherzigen Denken
hatte herausspringen lassen. »Aber,« sagte er sich, »ob mir nun einer
einen Stein mit oder ohne Absicht gegen den Kopf wirft, eine Beule gibt
es auf jeden Fall.« Wenn er sich das Herz auch noch so blank zu reiben
suchte, etwas blind blieb es doch, und so war er ganz froh, als er im
Osterkruge den Vorsteher und den Hegemeister traf, und es war fast zwei
Uhr, als er nach Hause kam. Er wachte um sechs auf, aber da er müde
war, drehte er sich wieder um und schlief bis elf Uhr, und das war
das Allerdümmste, was er tun konnte, denn immer machte ihm Nachschlaf
Falten in die Stirne.

So war auch dieser Tag verloren. Die Farben wollten nicht laufen,
die Pinsel waren bockig, die Leinewand sträubte sich; wütend lief er
aus der Werkstatt und ging mit Grete aus. Aber an jedem Worte, das
sie sagte, stieß er sich die Schienbeine wund. Einige fortgeworfene
Wiesenblumen, die zertreten auf dem Wege lagen, entlockten ihr den
Ausruf: »Wie schade!« Er lachte und zeigte auf eine Fichte, die
der letzte Sturm umgestoßen hatte: »Wenn etwas Kleines kaput geht,
das beseufzt ihr; an der Leiche eines Riesen geht ihr gleichgültig
vorbei.« Die Sonne verabschiedete sich in aller Form. »Welch' ein
schöner Sonnenuntergang!« rief Grete. »Ein Untergang kann nie schön
sein,« spottete er. Es wurde dunkel im Walde; Grete nahm seinen Arm.
»Du erlaubst doch?« bat sie. »Natürlich,« lachte er; »es ist ja eine
Wonne, einmal zu fühlen, daß du auch nur ein schwacher Mensch bist.
Aber so seid ihr; in der Dämmerung laßt ihr euch von uns führen, am
hellen Mittag nehmt ihr uns an die Strippe.« Grete sprach nun kein Wort
mehr, und stumm gingen sie nach Hause.

Er ging auch diesen Abend wieder aus, kam aber bald zurück und begab
sich in die Werkstätte. Um zehn Uhr hörte seine Frau von der Veranda
aus, daß er flötete und sang. Sie freute sich, denn nun wußte sie,
daß er malte. Die Melodie war ihr unbekannt, und deshalb ging sie den
moosigen Weg so weit entlang, bis sie die Worte verstand; die lauteten:
»Und kann es nicht die Lilje sein, so pflück ich mir ein Röselein!« Ihr
wurde traurig zumute, denn es schien ihr, als ob das Lied ihr mit der
Faust drohe; ihr war zu Sinne, als läge sie im Halbschlafe in einer
Wiese und im langen Grase kröche etwas auf sie zu, von dem sie nicht
wußte, was es war, eine harmlose Natter oder die böse Adder. Darum war
sie froh, als am anderen Morgen ihr Mann im Jagdanzuge vor ihrem Bette
stand, sie auf die Stirne küßte und sagte: »Ich bleibe vielleicht drei
oder vier Tage fort; ich muß mal hinaus; ich fahre nach Ueldringen.«
Sie wunderte sich, daß er reiste, weil am folgenden Tage Swaantje
kommen wollte; aber sie dachte: »Er will sich auf sich selber besinnen.«

Als sie nachher in die Werkstatt ging, um Staub zu wischen, sah sie
einen Haufen Papierfetzen in der Ofenecke liegen. Sie hob einige auf
und wurde erst rot und dann weiß; es waren die Reste von zwei Arbeiten,
an denen er Jahre lang geschrieben hatte, allerlei Gedanken über das
Verhältnis der Kunst zum Leben und die Ergebnisse seiner Studien über
die Technik des Malens. Sie sammelte die Fetzchen auf, Tränen in den
Augen, verschloß sie in einer Truhe in ihrem Schlafzimmer und ging müde
an ihre Arbeit.

Dann kam Swaantje. Sie sah blaß und nervös aus, und als sie Grete
ansah, fiel sie ihr um den Hals, küßte sie und fragte: »Aber, liebste
Grete, wie siehst du aus? Was hat sich zugetragen?« Als sie hörte, daß
Helmold zur Jagd gefahren war, drehte sie sich schnell nach Sweenechien
um, die gerade in das Eßzimmer kam, nahm sie auf den Arm und küßte
sie trotz deren Gestrampels ab, denn Kinder gingen nicht gern zu dem
Mädchen, das von sich selber einmal gesagt hatte: »Kinder mögen mich
nicht, und ich kann damit nichts anfangen.« Helmold hatte damals ganz
ernst geäußert: »Bis du eigne hast; vernünftige Frauen machen sich aus
anderer Leute Kindern nichts und sparen sich die Liebe für ihre eigenen
auf. Grete ist es ebenso gegangen. Die Abknutscherei fremder Kinder ist
eine Spezialität hysterischer Weiber!«

Grete fand überhaupt, daß Swaantje ganz anders geworden war; ihr
Mund sah aus, als schäme er sich, daß er noch nie geküßt war, ihre
Augen hatten einen verlassenen Blick, und ihre Hände wirkten noch
hoffnungsloser denn zuvor. Es dauerte auch eine geraume Zeit, ehe
Swaantje den alten Ton wieder fand und mit Grete darüber scherzte,
wie es nun werden solle, ob sie beide Helmolds wegen auf Säbel oder
Pistolen losgehen oder ihn ausraten sollten. Sie zogen das Letzte
vor, doch Swaantje gewann immer, tröstete Grete aber und sagte: »In
den Monaten mit R sollst du ihn haben, und in den anderen nehme ich
ihn; ist das nicht lieb von mir?« Als sie aber ihren Koffer auspackte
und Grete sie fragte: »Hast du das weiße Wollkleid nicht mit, in dem
Helmold dich so gern sah?« da schüttelte sie den Kopf, wie ein Pferd,
das sich der Bremsen erwehren will, und sprach schnell von etwas
anderem.

Am Abend des dritten Tages, daß Swaantje da war, sagte Grete: »Jetzt
wird er gleich hier sein!« Aber er kam nicht. Am Abend des vierten
Tages war sie sehr unruhig und brachte kaum einen Bissen hinunter, und
Swaantje ging es ebenso. Als die Uhr dreiviertel auf sieben schlug,
sprang die Frau plötzlich auf, nahm das Mädchen in den Arm und
schluchzte: »Ach, Swaantien, ich habe eben einen so furchtbaren Schreck
gekriegt! Fühle nur, wie mein Herz klopft!« Aber als sie aufsah,
bemerkte sie, daß auch Swaantje kreideweiß aussah, und sie fühlte, daß
deren Herz ebenso sprang wie ihr eignes.

Der Abend verlief trostlos; bis ein Uhr blieben sie auf, denn um
dreiviertel auf eins lief der letzte Zug ein, mit dem Helmold kommen
konnte; doch er kam nicht. Dann gingen sie zu Bett, ließen aber die
Türen auf. Um zwei Uhr hielt Grete es nicht mehr aus; sie sah, daß
Swaantje noch Licht hatte, ging zu ihr und sah sie so bittend an, daß
das Mädchen ihre Decke zurückschlug und sagte: »Komm, liebe Grete!«
Die Frau legte sich neben sie, nahm sie in den Arm und weinte so
lange, bis sie einschlief. Swaantje drückte das Licht aus und sah in
die Dunkelheit; das Bohren in ihrer linken Schläfe ging von Stunde zu
Stunde tiefer; sie hielt aber stand, bis die Amsel zu singen begann und
der Morgen ihr zunickte. Da endlich fielen ihr die Augen zu.

Um acht Uhr wachte Grete auf und sah sich verwundert um. Dann sah sie
Swaantje an und erschrak; das Mädchen war totenbleich und hatte ganz
farblose Lippen. Sie stahl sich aus dem Bette und zog die Vorhänge fest
zu; aber ehe sie das Zimmer verließ, bückte sie sich und küßte Swaantje
ganz leise auf die böse Schläfe. Das Mädchen lächelte und flüsterte:
»Guter Helmold!« Die Frau zuckte zurück.

Kurz vor dem Mittagessen kam ihr Mann. Er sah ganz braungebrannt
aus, hatte klare Augen und eine helle Stimme. Er küßte seine Frau
herzlich und bewillkommnete Swaantje freundlich. Beim Essen sagte
er: »Ihr seht beide wie die verhagelten Lohgerber aus, denen die
Petersilie fortgeschwommen ist. Habt ihr gestern was gegessen, was
euch unbemessen, oder was ist?« Swaantje sah auf ihren Teller, aber
Grete sagte: »Ich habe mich gestern auf einmal so um dich geängstigt
und Swaantje damit angesteckt.« Ihr Mann lachte: »Neuer Bacillus,
Spirococcus terroris; den solltest du monographisch behandeln; dann
bist du eine berühmte Frau.«

Nach dem Essen sagte er: »Nun, damit du es weißt: ich habe mit einem
Wilddiebe erst höfliche Redensarten und dann grobe Schrote gewechselt.
Der Mann schoß Schwarzpulver; deshalb habt ihr den Krach bis hierher
gehört.« Beide Frauen sahen ihn entsetzt an, er aber lachte: »Der dumme
Kerl schießt mir den besten Bock vor der Nase zusammen, und als ich ihm
sage, er solle mir wenigstens das Gehörn lassen, verjagt er sich so,
daß ihm vor Bammel der zweite Schuß herausrutscht und mir gerade in den
Arm. Übrigens nicht der Rede wert! Na, wie man begrüßt wird, so soll
man sich bedanken; ich schoß ihm die langen Stiebel voll Nummer drei,
und da gab er mir vor Rührung gleich den ganzen Bock. Ich habe ihm die
Leber und die beiden Blätter gelassen, und dann haben wir zusammen
einen auf den Schreck genommen. Es ist ein ganz famoser Kerl!« Swaantje
sah ihren Vetter an, lächelte und sagte: »Du bist doch wirklich ein zu
guter Mensch, lieber Helmold!«

Er lachte: »Das sagen alle Leute, die mich nicht genau kennen. Der
Prinz sagt, ich wäre ein Biest, und gerade deswegen könne er mich so
gut leiden. Na ja, er ist das nicht, und hätte das Geschick dem guten
Samlitz nicht so und so viele Erbtanten in die Wiege gelegt, ich
möchte wohl wissen, wie der sich durch das Leben schlängeln wollte.
Ich behandele ihn ja mehrstens etwas ruppig, schon damit er nicht noch
millionärrischer wird. Ein wahrer Segen, daß er bloß seine Zinsen
aufessen darf; sonst hätte er in drei Jahren alle meine Bilder und ich
seinen Mammon nebst diesbezüglichen üblen Folgen. Scheußlich, mit einem
Geldschrank um den Hals auf die Welt zu kommen!«

Swaantje lächelte und fragte dann: »Bist du mit ihm so befreundet
wie mit Hennecke? Und was ist es für ein Mann?« Ihr Vetter blies den
Zigarrenrauch gegen die Decke: »Befreundet? Ja; aber mit einer Barriere
darum; es bleibt immer eine Menge Form zwischen uns. Ich verstehe
manches an ihm nicht.« Er sah den Rauchringeln nach: »Aber ich bin
ihm Dank schuldig. Hätte er mir damals nicht meine alten Schinken
abgekauft, dann hätte Grete waschen gehen können, und ich konnte mit
meiner Leier von Destille zu Destille ziehen oder Schnellmaler im
Tingeltangel werden.« Swaantje schüttelte den Kopf: »Allerdings, du
brauchtest damals das Geld sehr nötig, und ich bin heute noch dir
und Grete sehr böse, daß ihr euch nichts merken ließet; sehr böse!
Aber bedenke, wer war der Mäzen? Doch wohl du, denn die Bilder sind
heute das Zehnfache wert.« Helmold nickte: »Jawohl; aber erstens gab
damals kein Mensch auch nur die Materialkosten dafür, und zweitens
hatte der Prinz zu jener Zeit selber bloß lumpige fünfzigtausend Mark
Jahreseinkommen; also hat er sie mir sehr gut bezahlt.« Swaantje gab
ihm die Hand über den Tisch: »Helmold, ich freue mich über dich!«

Zum ersten Male sah er sie jetzt in der alten Weise an, und fünf
Minuten darauf hatte sie keine blauen Schatten mehr unter den Augen.
Aber der alte Klang war doch nicht in seiner Stimme, wenn er mit ihr
sprach; er hielt sich von ihr zurück, das merkte sie, und obgleich sie
sich Gretes wegen darüber freuen wollte, so tat es ihr doch bitter
weh, zumal sie fand, daß auch zwischen ihrem Vetter und seiner Frau
eine Glasscheibe war. So beschloß sie nach drei Tagen abzureisen;
aber da schlugen Grete und Helmold einen solchen Lärm, daß nichts
daraus wurde, zumal ihr Vetter noch sagte: »Ehe die weiße Haide nicht
fertig ist, kommst du nicht fort; ich habe schon dein ganzes Schuhzeug
eingeschlossen.« So saß sie ihm denn einige Vormittagsstunden, bekam
das Bild aber nicht zu sehen.

Ihren Augen gegenüber hing ein kleines Bild, das einen weiblichen Akt
darstellte, der auf einer weiten, im Hintergrunde mit Birken besäumten
Haide unter einem hellblauen, mit weißem Gewölk bedeckten Himmel stand.
»Das ist ein entzückendes Bild, lieber Helmold,« sagte sie, »ein ganz
entzückendes Bild.« Aber weiter sagte sie nichts; sie wußte, Geld nahm
er von ihr nicht. Sonst sprachen sie wenig miteinander, wenn er malte;
auch flötete, summte und sang er nicht dabei. Sie wußte wohl, warum er
das nicht tat, aber ihr Herz tat ihr doch weh. Sie schlief keine Nacht
vor dem Morgengrauen ein und sah, daß ihr Vetter von Tag zu Tag ernster
und blasser wurde; jede Nacht vernahm sie, wie er sich leise im Bette
herumdrehte, ab und zu hörte sie Papier rascheln; er las also.

»Heute müßt ihr beide allein ausgehen, Kinder,« sagte Frau Grete, die
inzwischen ihre Seelenruhe wiedergefunden hatte, als sie sah, wie
Helmold sich zu Swaantje stellte; »Tante Rößler hat mich gebeten, zu
kommen; ihr geht es nicht gut, und für Swaantje ist es kein Genuß, die
Geschichte von dem offenen Bein von A bis Z anzuhören. Ich gehe aber
erst um sieben Uhr hin, denn bis dahin habe ich zu tun. Also seht zu,
wie ihr die Zeit totschlagt.« Da Helmold die letzte Hand an Swaantjes
Bild legte, war er erst um vier Uhr zum Ausgehen fertig. Swaantje, die
die ganze Nacht wieder vor Schmerzen nicht geschlafen hatte, sah sehr
hinfällig aus. »Willst du lieber hier bleiben?« fragte er; »ich gehe
nur deinetwegen. Du weißt ja, Spazierengehen, dazu bin ich zu sehr
Bauer.« Swaantje wäre am liebsten daheim geblieben; aber Grete hatte
sie gebeten: »Geh ja mit; er hat zuviel gearbeitet und muß hinaus; und
dir ist es auch gut.«

Sie fuhren mit der Straßenbahn in eine Gegend, die das Mädchen noch
nicht kannte. Helmold stellte ihm die Landschaft in prickelnder Weise
vor. Aber wenn auch das, was er sagte, wie Demanten funkelte, so klang
es doch ebenso kalt. In der Gartenwirtschaft, in der sie einkehrten,
war er von der höflichsten Besorgtheit für sie; aber die Zuneigung, die
sonst seine Handlungen durchleuchtete, fehlte.

Die Sonne schien hell, die Luft war warm und blitzte von allerlei
winzigem Getier, ein neckischer Wind kraulte den Bäumen die Köpfe,
der Himmel war hoch, und seine lichte Bläue hoben weiße Windwölkchen,
so zart wie mit einer Schnepfenfeder gezogen; dazu lachten die bunten
Herbstblumen nur so, und die Stare sangen, als wenn eben der Mai
angekommen sei; doch Helmolds Worte waren wie ein leiser Nordwind. Er
erzählte, als wäre er der fröhlichste Mensch von der Welt; doch sein
ganzes Geplauder war nicht das von Kamerad zu Kamerad, sondern von
dem Herrn der guten Gesellschaft zu einer sehr geschätzten Dame aus
denselben Kreisen. Kein einziger kecker Witz, kein gewagter Vergleich
entschlüpfte ihm. Das Mädchen schauerte zusammen.

»Friert dich?« fragte er. Ja, sie fror, sie fror sehr. Früher hatte
er sie nie angesprochen, ohne hinzuzusetzen: »Liebe Swaantje« oder
»Kleine« oder »Maus«; früher lachte er sie mit dem Herzen und den Augen
an; jetzt lächelte er nur noch mit dem Gesichte. »Helmold,« begann sie
mit einem unabsichtlich bittenden Ausdruck in der Stimme, als sie durch
den Wald gingen, »lieber Helmold!« Er sah sie von der Seite an. »Und,
liebe Swaantje?« fragte er und sie fuhr fort: »Was ich dir jetzt sage,
ist vielleicht sehr töricht von mir, aber sage ich es nicht, so bin ich
unehrlich. Das, was ich dir damals in deiner Werkstatt sagte, das ist
vorbei.« Sie atmete schwer. Er blieb nicht stehen, er sah sie nicht an,
er änderte auch seine ruhige Sprechweise nicht, als er fragte: »Wie
ist das gekommen?« Sie zitterte, als sie antwortete: »Vielleicht nur,
weil ich es dir gesagt habe.« Er nickte: »Wahrscheinlich; Sprechen und
Weinen erlöst.« Er schwieg eine Weile. Sie sah ihn verstohlen von der
Seite an; sein Gesicht zeigte keine Bewegung.

Ein Herr mit grauem Vollbarte begegnete ihnen, sah Helmold
aufmunternd an und grüßte, als dieser keine Miene machte, zuerst zu
grüßen, ganz tief, und Helmold erwiderte gemessen. »Wer war das?«
fragte das Mädchen. Ihr Vetter lachte: »Ein hohes Lokaltier, unser
Oberbürgermeister. Er denkt, weil er Ober im Kunstverein ist, müßte ich
zuerst grüßen, auch wenn ich mit einer Dame gehe. Na, jetzt braucht er
sich den Knigge nicht zu kaufen«.

Erst nach einer geraumen Weile begann er wieder: »Ja, Swaantje, ich
weiß nicht, ist das nun gut für dich oder nicht? Einerseits bin ich
froh, daß du diese taube Neigung zu den übrigen Pensionsandenken
gepackt hast; anderseits: nun hast du gar nichts auf der Welt, noch
nicht einmal einen Kummer. Ich hoffe, daß die Reise mit Terborgs dich
aufrappelt; alle das viele Schöne aus alter und neuer Zeit, das du
sehen wirst!«

»Gieb mir deinen Arm,« bat das Mädchen, »mir ist etwas schwindlig.« Er
führte sie zur nächsten Bank: »So, wir sind ein bißchen weit gegangen,«
sagte er und lächelte, aber nur mit den Lippen; »in fünf Minuten sind
wir bei der Haltestelle.«

Beim Abendessen mußte sie sich ein Kissen ausbitten, so schmerzte sie
der Rücken, und nach dem Essen ging sie sofort zu Bett, so todmüde
fühlte sie sich. Alle Glieder taten ihr weh, aber schlafen konnte sie
nicht. Auch Helmold schlief nicht. Durch das Schlüsselloch kam ein
dünner Lichtschein, ab und zu knarrte sein Bett leise, sie hörte, wie
er in dem Buche blätterte und dann roch sie, daß er rauchte. Sie wußte,
daß er sonst nie im Bette rauchte; es mußte ihm also sehr schlecht
gehen.

Es war drei Uhr, da hörte sie, wie er leise aufstand und Wasser in ein
Glas goß; ein Papierchen knitterte, ein Teelöffel klirrte in dem Glase.
»Veronal«, dachte sie, und unter ihrem Mitleid glitzerte blanke Freude:
»Er hat sich verstellt,« schrie es in ihr; »er liebt mich noch, denn
sonst würde er schlafen.« Ihr Kopf fiel hintenüber, und sie schlief ein.

Als sie am anderen Vormittag in der Werkstätte auf dem Ruhebette lag
und ihrem Vetter zusah, der aus ihrem Bilde die letzten Spuren der
Maltechnik entfernte, »denn, wo man noch Technik sieht, da ist keine,
und deshalb ist Segantini viel früher gestorben, als er verantworten
konnte,« hatte er gesagt, da fing er mit einem Male zu sprechen an,
konnte aber nie den Weg zu dem Punkte finden, den er in der Nacht vor
sich gesehen hatte, auch kam bald Grete, Sweenechien an der Hand, und
dann Luise, die irgend etwas aus dem Nebenraum holen wollte, und so
wurde es Mittag. Hinterher gingen sie selbdritt aus, und abends kam
Hennecke. Er sah sich erst die neuen Bilder an, fand den Mädchenakt
auf der Haide herrlich, aber als sein Freund fragte, was er von den
Saharabildern und von Wodes Zorn halte, tat er, als habe er es nicht
gehört, und ebenso verhielt er sich, als Helmold ihm sagte: »Du,
Hennig, es ist ganz ulkig: zu jedem Bilde habe ich jetzt ein Lied.«
Bei Tische war Helmold sehr aufgeräumt, doch sah er, wenn er sprach,
meist seinen Freund an. Grete fand aber bald heraus, daß er nicht bei
der Sache war, und wenn Helmold mit Swaantje sprach, ließ Hennig einen
kurzen Blick über das Paar fliegen, als suche er im Dunkeln den Weg.

In dieser Nacht schlief Swaantje fast gar nicht; sie mußte immer an den
einen heimlichen Blick denken, den ihr Vetter ihr zugeworfen hatte,
als sie mit Hennig und Grete in eifriger Unterhaltung war; er hatte
geglaubt, sie sähe es nicht, und so hatte er sich nackt ausgezogen.

Als sie dann am nächsten Vormittag von Helmold in die Werkstatt gebeten
wurde, mußte sie an sich halten, um sich nicht zu verraten, denn ihr
Vetter sah ganz alt und krank aus. Er zeigte ihr mit erkünstelter
Unbefangenheit einige Studien aus der Umgegend von Mecklenhusen,
nötigte sie dann auf das Ruhebett, legte ihr die Schlummerrolle unter
den Nacken, deckte sie warm zu und sagte: »Schlaf noch ein bißchen;
du siehst müde aus, Kleine!« Sie schlief sofort ein, wachte aber bald
wieder auf, und als sie unter den Wimpern nach ihm hinblickte, sah
sie, daß er vornübergebeugt im Sessel saß und sie mit hoffnungsloser
Zärtlichkeit anblickte.

Sie schlug die Augen voll auf; er lächelte sie an, redete erst von
diesem und jenem, und dann klagte er ihr mit gleichgültig klingender
Stimme seine Herzensnot. Sie antwortete, als Helmold endlich schloß:
»Du tust mir sehr leid, Vetter, aber in diesem Punkte gibt es für
mich keinen anderen Weg als den, den mir Religion und Sitte weisen;
das wirst du selbst wissen.« Er nickte, und sein Gesicht sah ganz
gleichmütig aus, auch klang seine Stimme alltäglich, als er leichthin
sagte: »Natürlich weiß ich das; du bist Dame, bist höhere Tochter,
verfügst also über einen mündelsicheren Fond von Konventionsmoral.
Ich verstehe dich nicht nur vollkommen, ich schätze dein Verhalten
auch in vollem Maße, denn: entsetzlich wäre mir der Gedanke, eine
angeheiratete Kusine zu besitzen, die selbst dann, wenn es auf Tod und
Leben geht, ihre Ladyleikigkeit vergäße. Aber länger halte ich es nicht
aus, und das Beste ist, ich mache Schluß; für Grete und die Kinder ist
einigermaßen gesorgt«. Swaantje sprang auf: »Auch das noch!« stöhnte
sie und verließ müden Schrittes die Werkstatt.

Helmold warf ihr einen bösen Blick nach und knirschte mit den Zähnen;
dann aber zog er den Vorhang von ihrem Bilde und sah es lange an.
Danach langte er den Mädchenakt auf der Haide von der Wand, suchte
einen Grabstichel und stach in die Ecke des Rahmens die Buchstaben
hinein: H. s. l. Sw., ging in das Wohnhaus, überzeugte sich davon, daß
Swaantje in der Küche war, trat schnell in ihr Schlafzimmer, legte das
Bild auf den Spiegeltisch und trat wieder in die Werkstätte.

Als er zum Essen kam, bemerkte er einen harten Zug um den Mund seiner
Frau, und daß Swaantjes Gesicht vor Kälte starrte. Er aß fast nichts
und sprach kein Wort, antwortete kaum, wenn er angeredet wurde, und
horchte noch nicht einmal auf das Geplauder der Kinder. Als Swaantje
das Zimmer verlassen hatte, fragte er: »Gehen wir aus?« Seine Frau
schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Zeit.« Er sah aus dem Fenster,
sprach längere Zeit nichts, und dann warf er über die Schulter hin:
»Na, dann will ich mit Swaantje nach dem Billerloh.« Seine Frau legte
ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn bittend an: »Du, Helmold,
sei nicht böse, aber du mußt das verstehen: Swaantje hat mich gebeten,
sie nicht mit dir allein zu lassen; ihr ist das peinlich.« Er sah sie
mit gleichgültigen Augen an: »So? schön; ich werde der Dame weitere
Peinlichkeiten ersparen.« Damit ging er aus dem Zimmer und verließ
gleich darauf das Haus.

Er kam nicht zum Vesper, er kam nicht zum Abendessen. Grete und
Swaantje saßen bis zwei Uhr auf, aber er kam nicht. Es war fünf Uhr, da
hörte Grete die Haustüre gehen. Sie horchte und vernahm, daß ihr Mann
in die Werkstatt ging, und als sie an das Fenster trat, sah sie, daß er
Licht gemacht hatte, und daß sein Schatten auf und ab ging.

Um acht Uhr morgens ging sie zu ihm, um ihn zu fragen, ob er nicht
frühstücken wolle; aber die Türe war verschlossen. Er erschien auch zum
Mittag nicht, obgleich Sweenechien, die zu ihm geschickt war, lange
an der Tür rappelte und in einem fort bettelte: »Väterchen, essen
kommen!« Zum Vesper aber kam er, aß jedoch fast nichts, tat so, als
wäre nicht das Geringste vorgefallen, hatte aber flackrige Augen und
ein welkes Gesicht. Er behandelte Swaantje höflich, doch wie einen
Menschen, an dem ihm nicht ein bißchen gelegen war, und drehte seiner
Frau mit liebenswürdiger Härte jedes Wort im Munde herum, bis sie
aufstand und hinausging.

»Lieber Helmold,« bat Swaantje, »sei doch nicht so zu Grete!« Er sah
kalt an ihr vorbei, ging in sein Zimmer, zog sich um, verließ das Haus
und kam erst am anderen Morgen wieder, ganz fahl im Gesicht und mit
breiten Schatten unter den Augen, setzte sich an den Tisch, aß wieder
fast nichts und sprach kein Wort, bis seine Frau an zu weinen fing. Da
stand er auf und ging in die Werkstatt.

Swaantje ging ihm nach. »Helmold,« bat sie und faßte seine Hand. Er
sah sie kühl an und deutete auf einen Sessel; müde sank sie hinein.
»Tut mir leid, Swaantje, daß du gekommen bist, sehr leid, deiner Nerven
wegen. Aber schließlich: mir geht es ja nicht besser.« Er sah sie
feindlich an: »Die arme Grete, nicht wahr? Und der böse Mann, nicht
wahr? Die gute Frau hat ihrem lieben Mann die Augen geöffnet, und nun
ist sie böse, daß er sehend geworden ist. Solche bodenlose Gemeinheit
von dem Kerl! So ist nämlich die weibliche Logik. Erst heißt es: Mach,
was du willst! dann: wir drei! und schreit dann so ein dämliches
Männerherz vor Glück auf, dann tritt man mit dem Absatze darauf und ist
noch peinlich,« er sprach das Wort gallenbitter aus, »peinlich berührt,
quietscht es.«

Er sah das Mädchen spöttisch lächelnd an: »Fräulein Swaantje Swantenius
ist es peinlich, mit ansehen zu müssen, wenn ein Mann sich zu ihren
Füßen in Todeskrämpfen windet, denn sie hat die höhere Töchterschule
besucht und ist in dem vornehmsten Pensionat der Residenz verbildet
worden. Sie würde ja gern alles für ihn tun, nur das eine nicht, denn
sie ist eben Dame. Und so läßt sie ihn sich totquälen, obgleich sie ihn
liebt.«

Swaantje sah an ihm vorbei, als sie mit blasser Stimme antwortete: »Ich
habe dir doch nichts gesagt!« Er zwang sie, ihn anzusehen und sagte in
ruhiger Weise: »Danke, das genügt mir! Menschenskind,« fuhr er dann
fort, und seine Stimme zitterte, »sollen wir denn alle dreie zugrunde
gehen? Ich kann ohne dich nicht leben und du ohne mich auch nicht, und
wärest du nicht so charakterlos charakterfest, so würdest du zu mir
kommen und sagen: ›Da!‹ Denn, das mußt du wissen, erbetteln will ich
mir nichts von dir, und überrumpeln will ich dich auch nicht, denn ich
bin nicht in dich verliebt, ich liebe dich eben nur, und ich will, daß
du dich mir aus vollem Herzen schenkst.«

»Swaantje,« bat er und trat auf sie zu, ihre Hand fassend, »sieh
doch: du weißt, wer ich bin, daß ich meinem Volke etwas sein werde.
Meinst du, es wäre so sehr schlecht, hülfest du mir dabei? Ich will
ja nichts,« und dabei brach seine Stimme, und die Tränen kamen ihm
in die Augen, »als ein ganz klein bißchen Hoffnung, weiter nichts.
Und bedenke: Grete und ich sind geschieden; nur du kannst uns wieder
verbinden. Ihr seid für mich eins: seid das Weib. Bist du nicht mein,
kann ich Grete nicht mehr in Liebe ansehen. Glaube mir, ich handele
nicht leichtsinnig; ginge es nicht auf Tod und Leben, ich hätte
dich nicht in eine so schwierige Lage gebracht. Und du mußt daran
denken, daß Grete alle, aber auch alle Schuld hat. Jetzt heißt es:
›Ja, ich konnte doch nicht denken, daß du das ernst nähmest!‹ Es ist
schrecklich: da stößt einen die Frau mitten in das helle Feuer, und
kriegt man Brandblasen, dann ist sie empört.«

Mit düsteren Augen sah er aus dem Fenster, in das die Morgensonne
hineinlachte. »Ich schlafe nicht mehr, ich esse nicht mehr; ich
kann bloß noch malen und rauchen. Ich werde noch nicht einmal mehr
betrunken. Noch eine solche Woche, und in mir zerreißt etwas. Ich bin
ein ganz armer alter, kalter, toter Mann geworden, der um ein Bröckchen
Hoffnung bettelt, und die beiden Frauen, die da vorgeben, sie lieben
mich, schlagen mir die Tür vor der Nase zu.« Er lachte trocken auf
und sang den Endreim des sozialdemokratischen Liedes: »Denn ich bin
Mitglied von dem Verein gegen Verarmung und Hausbettelei.«

Swaantje schüttelte sich. »Frierst du, liebe Kusine?« fragte er. »Da
steht Kognak! Mir hilft er nicht mehr gegen die Gänsehautbildung
auf dem Herzen. Vorige Nacht habe ich acht Kognaks, drei Grogs und
unglaublich viel Sekt getrunken und bin doch nicht warm geworden, trotz
der beiden zwar etwas leichten, aber bildhübschen und sehr lustigen
Mädel, die rechts und links bei mir saßen und sich wie barmherzige
Schwestern gegen mich benahmen. Die eine heulte sogar und sagte: ›Was
fehlt Ihnen eigentlich? Ich möchte Ihnen so gern helfen!‹ Ja, eine Dame
war das nicht, aber ein Weib, und darum tat ich ihr leid, und es war
doch nicht viel mehr als ein Allermannsliebchen.«

Er rückte sich eine Staffelei zurecht und malte; barsch ging der breite
Pinsel über die Leinwand. Dann lachte er: »Malen kann ich noch, sehr
gut sogar; aber es langweilt mich. Hast du das Bild gefunden?« Swaantje
nickte, sah aber nicht auf, als sie sagte: »Ja, und du wirst verstanden
haben, warum ich dir nicht danken konnte.« Er lächelte freundlich und
nickte: »Ja, so dumm ist er nicht. Hätte Fräulein Swantenius sich
bedankt, so hätte sie Herrn Hagenrieder notwendigerweise in den Arm
nehmen müssen, und das schickt sich doch nicht. Und so hat man sich den
Dank erspart, an dem mir übrigens den Kuckuck etwas liegt.«

Das Mädchen seufzte schwer auf. Er schüttelte den Kopf: »Helmold
Hagenrieder wird weiter malen; Swaantje Swantenius wird weiter als
zweckloser Mensch dahinleben und langsam eine alte Jungfer werden, die
nur etwas voll und ganz durchgelebt hat, nämlich ein Leben, das keins
war. Und wenn sie alt und grau ist, dann wird sie doch einmal nachts in
ihrem Bette weinen und wimmern: ›Ich habe es verpaßt!‹ Oder wie denkst
du dir dein Leben?« Das Mädchen nickte: »Genau so!« Er sah sie herrisch
an: »Und du glaubst, das werde ich dulden? Glaubst du, ich bin ein
dummer Junge, der nach einem Küßchen gibbert? Ich will dich ganz haben,
und du wirst dich mir ganz geben, und freiwillig wirst du das tun; denn
obzwar du Dame bist, so bist du nebenbei doch noch etwas Mensch und ein
wenig Weib geblieben und viel zu gebildet, um nicht einsehen zu müssen,
daß Sitte und Gesetz Papier sind, und daß Not kein Gebot kennt. Ich
will nicht in dich dringen, aber ich bitte dich, Swaantje: gib mir ein
wenig Hoffnung, ein ganz klein wenig, nur so viel, daß ich mein Leben
eben damit friste.«

Er ging zu ihr hin und faßte ihre Hände. »Willst du das?« Sie sah an
ihm vorbei und schüttelte leise den Kopf. »Kind,« flüsterte er, »ich
brauchte dich ja nur umzufassen und zu küssen, denn ich sehe durch dich
hindurch wie durch Glas. Aber ich will das eben nicht, denn ich liebe
dich. Also du gibst mir keine, aber auch gar keine Hoffnung?« Abermals
schüttelte sie den Kopf. »Na, dann vereinfacht sich der Fall, und die
Sache liegt so: dann stehe ich hier ganz allein, Grete und die Kinder
da, und du dort. Denn von dem Augenblicke an, daß ich weiß, ich habe
keine Hoffnung mehr, habe ich keine Verwendung mehr für das, was man
Herz nennt. Also reden wir von etwas anderem.«

Er pfiff leise vor sich hin und malte weiter. »Weißt du, Swaantje,«
fing er dann an, »was ich glaube? Du hast eigentlich recht! Im
Grunde passen Männer und Frauen überhaupt nur so zueinander wie die
Nuß und die Hülle. In der Jugend halten sie zusammen; sind sie
reif, dann verlieren sie den Zusammenhang, weil jeder sich auf sich
selbst besinnt. Wenn Stahl und Stein zusammenkommen, gibt es rote
Liebesfunken; aber Stahl bleibt Stahl und Stein Stein; höchstens
splittert der eine etwas ab, und der andere kriegt Kratzen. Zu was also
das ganze Gehampel? Ich bin ein Mann von über vierzig, du gehst auf die
dreißig; die schönste, dümmste Zeit liegt hinter uns. Darum tun wir
gut, vernünftig zu sein. Der eine stickt sich ins Grab, der andere malt
sich hinein, derweilen das junge Blut sich liebt und küßt und Wonne und
Weh leidet. Ein Segen, daß wir beide klüger sind. Nicht, Swaantje?«

Das Mädchen sah ihn hülflos an; ihr Gesicht war blaß und mager. Er ging
zu ihr und streichelte ihr die Backen. »Arme Kleine! So quälen wir uns
beide, aus Feigheit, aus Rücksicht, aus Mangel an Naivheit. Bald ist es
Winter. Anstatt daß wir uns der letzten Blumen freuen, gehen wir daran
vorüber. Nachher tut uns das leid.« Er steckte sich eine Zigarre an.
»Na, vielleicht komme ich doch noch darüber hinweg, obgleich ich das
nicht hoffen will, denn dann danke ich bestens für mich.« Swaantje sah
ihn ernst an. »Helmold, du hast doch noch immer deine Kunst!« Er lachte
lustig: »Ich pfeife darauf! Kunst, weißt du, was das ist? Ungelebtes
Leben! Sieh dir die Griechen an; nie hat ein unglücklicheres Volk
gelebt. Sie waren sehr unglücklich; sonst hätten sie es nicht in der
Kunst so weit gebracht. Die Römer hatten keine Kunst, die lebten ein
lebendiges Leben. Die Kunst ist wie ein Spiegel; vorne Farbe und Leben,
hinten Pappe.«

Er ging an den Bücherschrank, nahm den Angelus Silesius heraus, schlug
ihn auf, reichte ihn Swaantje und sagte: »Lies die grün angestrichene
Stelle.« Das Mädchen las und bekam ganz enge Lippen, denn da stand:
»Die Braut verdient sich mehr mit einem Kuß um Gott, denn alle
Mietlinge mit Arbeit bis in den Tod.« Er nickte ihr spöttisch lächelnd
zu: »Ja, der frumbe Mann wußte Bescheid; die Liebe ist alles, das
andere ist nichts. Aber: wie du willst! Mögest du nie wissen, was Reue
ist! Ich weiß es. Als ich ein junger Kerl war, gab ich unserem netten
Dienstmädel mal einen Kuß, rein aus Übermut. Als ich zu Bette ging,
machte sie leise ihre Kammertüre auf und flüsterte: ›Gute Nacht, Herr
Hagenrieder.‹ Ich wollte aber keinen Unfug machen und nickte ihr nur
zu. Am anderen Tage fuhr ich nach München. Die Augen, die das Mädchen
mir machte, als ich an ihr vorbei aus dem Hause ging, vergesse ich mein
Leben nicht, und wenn ich einmal in die Hölle komme, so ist es wegen
einer Unterlassungssünde.«

Seine Frau kam herein. Mit scheinbarer Unbefangenheit schlug sie für
den Nachmittag einen gemeinsamen Spaziergang vor. Helmold nickte. »Mir
ist alles gleich,« sagte er. Aber im Walde wuchs seine Übellaune von
Minute zu Minute; die schlaflosen Nächte wirkten nach. So wurde es ein
ungemütlicher Spaziergang. Mit zersetzender Geistreichigkeit machte
er sich über die Natur, das Wetter, die Menschen und die ganze Welt
lustig, und quirlte auf dem Heimwege Ernst und Hohn so durcheinander,
daß seine Frau und Swaantje die kalte Angst in das Genick faßte.

»Weißt du, liebe Grete,« meinte er, »du müßtest eigentlich Romane
schreiben, denn du hast ein bedeutendes Erfindertalent. Sieh mal,
dieser hier, in dem wir drei die Hauptpersonen sind, ist doch einfach
eine glänzende Leistung. Sag' mal, wie hast du dir den Schluß gedacht?
Blumenthal-Schönthansch oder Shakespeare-Sophokleïsch? Hm? Denn du hast
doch ein Ziel gehabt, als du das erste Kapitel anfingst?«

»Wißt ihr was, Kinder,« und er nahm in den einen Arm Grete und in den
anderen Swaantje, »wir wollen uns hinsetzen und jeder einen Schluß
schreiben, oder habt ihr zwei beiden schon einen fertig? So scheint mir
das wenigstens. Ich bin in der Beziehung etwas unbegabt. Bin überhaupt
ein dummes Luder, das alles ernst nimmt, was seine Frau im Scherz sagt.
Vor sieben Jahren sagte sie: ›Die Hauptsache ist, Helmold, daß wir
beide immer gute Freunde bleiben.‹ Heute weiß sie nichts mehr davon,
denn die Hauptwaffe der Frauen ist das abstellbare Gedächtnis.«

Ȇbrigens: wie famos die Schatten da sind! Genau so wie die, die deine
Worte über mein Herz warfen; das sieht wie ein rotes Zebra aus. Ihr
könnt es später auf den Jahrmärkten sehen lassen. Und das da ist die
Venus, der sogenannte Liebesstern. Sie zittert; ihr ist kalt. Mir auch.
Ach, Kinder, ist das ein schöner Abend! Sieh, da ist ja auch der Mond.
Na, Kerl, was sagst du nun? Jetzt habe ich die beiden Frauen, die laute
und die leise; es fehlt nur noch der Schimmel und die Wölfe, die sich
um Männerköpfe beißen. Kerl, es ist alles Schwindel, alles; ich habe
überhaupt keine Frau, nur eine Frau Gemahlin, geborene Möllering.« Er
pfiff sein frechstes Lied.

Zum Abendessen kam Hennecke; Grete hatte ihn herbeigebeten und ihm
gesagt, wie es um Helmold stand. Beim Essen wurde von der Sache nicht
gesprochen. Hinterher sprach er erst mit Helmold und versuchte, ihn
umzustimmen; das gelang ihm nicht. Dann ging er zu Grete. Swaantje kam
in das Zimmer. Nach einem langen Schweigen fragte sie ihren Vetter:
»Weiß er es?« Er nickte: »Ja, von Grete, von mir nicht.« Das Mädchen
fragte weiter: »Was denkt er von mir?« Sie zuckte zusammen, denn ein
Blick wie ein Messer streifte sie. Und abermals zuckte sie zusammen,
als Helmold antwortete: »Das denkbar Schlechteste,« und zum dritten
Male, als er fortfuhr: »nämlich, daß du dich völlig als Dame benommen
hast!«

Er ging im Zimmer auf und ab: »Ich bin mit ihm fertig, denn er hat dich
in meinen Augen herabgesetzt. Er sagte: ›Sie ist ein Weib, also auch
nicht wert, daß man ihretwegen auch nur ein einziges Haar grau werden
läßt.‹ Er denkt nicht besonders von euch. Als ich ihm Gretes Verhalten
darstellte, lachte er und sagte: ›Darüber wunderst du dich? Nimmst
du denn Frauen ernst? Mein Lieber, du bist über vierzig! Freu' dich,
daß es Kinder sind und bleiben, die nicht aus Gemeinheit unwahr sind
sondern aus Instinkt.‹ Na ja, die Mädchen, mit denen er verkehrt, mögen
so sein. Ich denke besser von Grete und von dir, oder dachte so, und
deshalb bin ich so elend geworden.«

Er ging auf das Mädchen zu, gleich als wollte er sie anfassen; sie
sprang auf und stellte sich hinter den Sessel. Er schüttelte belustigt
den Kopf: »Habe keine Angst; ich will dich nicht mehr. Das eine Wort:
›es ist mir peinlich‹ hat mir gezeigt, wer du bist. Und wenn wir beide
eine Woche allein wären, und du trügest jeden Tag das weiße Kleid, ich
würde stets die Dame in dir achten, die Dame, die umfällt, wenn ihr
eine Maus über den Weg läuft, und die den einzigen Mann, der das Weib
in ihr sah, und den sie zum Sterben liebt, aus ganz gemeiner Feigheit
umkommen läßt. Ich will dir etwas zum Andenken schenken.« Er ging in
das Atelier und kam mit einem gerahmten Pastellbildchen wieder. Es
stellte einen Sarg dar, der auf zwei Stühlen mitten in einer Wiese
stand; in dem Sarge lag Helmold Hagenrieder, wie er nun war, und sah
spöttisch auf Helmold Hagenrieder hinab, wie er einst war.

Swaantje legte das Bild entsetzt fort und sah verstohlen ihren
Vetter an. Sie fand, daß seine Schläfen ganz grau waren, und daß er
Altemannsfalten über dem Munde und neben den Augen hatte. Sie stand auf
und ging auf ihn zu, aber da kam Hennecke mit Grete.

Um Mitternacht gingen Grete und Swaantje zu Bett; Helmold und Hennig
saßen noch lange auf. Hennecke versuchte in seiner ruhigen Art dem
Freunde aus dem Gestrüpp herauszuhelfen. Helmold hörte geduldig zu,
aber dann sagte er: »Du hast vollkommen recht, und Grete hat recht,
und Swaantje hat recht. Hier handelt es sich aber nicht darum, sondern
darum: soll ich leben oder sterben? Ich glaube übrigens, es ist für das
eine schon zu spät; denn ich bin bereits tot!«

Er sah Hennig mit harten Augen an: »Sage mal, Grete sagte vorhin, du
hättest gesagt: ›Wenn ich eine Schwester hätte, und ein verheirateter
Mann näherte sich ihr in der Weise, wie es hier vorliegt, den schösse
ich tot.‹ Ist das wahr? Hast du das gesagt?« Hennecke bekam einen
schmalen Mund: »Muß ich antworten?« Der andere nickte, ihn starr
ansehend, und Hennig antwortete: »Nein, das hat deine Frau gesagt,
nicht ich; das konntest du dir doch wohl gleich denken.« Helmold holte
schwer Luft: »Um dir zu beweisen, was aus mir geworden ist; als Grete
mir das sagte, antwortete ich ihr: ›Hat er das gesagt, dann kenne ich
ihn nicht mehr.‹ Wer nur im geringsten gegen mich ist, ist mein Feind.
Pfui, wie kann eine Frau so handeln!« Hennecke zuckte die Achseln: »Was
soll sie machen? Sie ist eine Frau! Sie hat andere Ehrbegriffe, sie
kennt nur eine Moral: ihren und der Ihren Vorteil. Du hast deiner Frau
viel zu danken und darfst ihr die Unbesonnenheit, die doch lediglich
ein Ausfluß ihrer arglosen Natur ist, nicht übelnehmen.«

Das hatte sich Helmold schon viele hundert Male selbst gepredigt;
darum sah er seine Frau am anderen Morgen doch böse an, als sie sagte:
»Swaantje fährt heute; sie leidet zu sehr.« Er sagte erst nichts, aber
dann trat er auf sie zu und nahm sie in den Arm. »Grete,« bat er,
und seine Stimme war wie eine Nacht ohne Mond und Sterne, »sei doch
nicht so hart! Sieh mal, ich sterbe daran. Ich kann doch nichts dazu.
Du sagst, du liebst mich; beweise es mir!« Seine Frau machte sich
von ihm los; ihre Stimme klang spitz, als sie antwortete: »Was soll
ich denn tun? Wenn es irgend jemand anders wäre; aber meine eigene
Kusine?« Er sah sie starr an. »Erinnerst du dich, was du mir sagtest,
als ich von Swaanhof zurückkam?« Sie zuckte die Achseln: »Was sollte
ich machen? Du warest krank, und ich dachte ja auch, daß deine Liebe zu
Swaantje lediglich Mitleid sei. Ich habe nicht geahnt, daß du derartige
Absichten hattest!«

Da polterte er los. Er legte sich so wenig Zwang auf, daß Swaantje
entsetzt hereingestürzt kam. Aber auch da bremste er sich nicht,
sondern schüttelte alle die Angst und die Wut und allen Kummer und
Grimm vor den beiden Frauen aus. Als er herauszischte: »So höre denn:
ich liebe dich nicht nur nicht mehr, ich hasse dich. Du hast mich
von oben bis unten belogen, hast kein Mittel gescheut, um mich zu
zerbrechen, hast sogar meinen einzigen Freund gegen mich auszuspielen
versucht. Ich bin fertig mit dir!« und seine Frau den Hieb damit
zurückgab, daß sie ihm eine Scheidung vorschlug, da lachte er und
sagte: »Schön! Doch gehst du, so sieh zu, wie du leben willst. Mir ist
es recht, aber ich kümmere mich dann in keiner Weise weiter um dich,
und die Kinder bleiben bei mir. Oder sie können wählen, denn mir liegt
jetzt an nichts mehr etwas, und sie ähneln ja auch dir mehr als mir.
Sobald du den ersten Schritt tust, verkaufe ich alles, was mir gehört,
und gehe irgendwohin, wo nicht Weiberköpfe, sondern Männerfäuste
herrschen; denn dieses ganze verfluchte Land mit seinem verbildeten
Gesindel ist mir ekelhaft.«

Grete, die ganz weiß aussah, bekam einen roten Kopf, und ihre Augen
funkelten, als sie rief: »Ich denke, du willst dir Swaantjes Liebe
erringen; meinst du, daß dieses der Weg dazu ist?« Er lächelte
freundlich: »Nein, denn ihre Liebe habe ich. Mir liegt übrigens nichts
mehr daran. Jetzt kannst du sie mir schenken, und ich nehme sie nicht.
Außerdem ist das meine ureigenste Angelegenheit, ob ich Swaantje liebe
oder nicht, und geht weder dich noch sie etwas an. Überhaupt liebe ich
sie nicht mehr; ich liebe das Gespenst meiner Liebe zu ihr. Ich kann
keine Menschen mehr lieben, denn ich bin tot. Mein Herz ist nicht mehr
da; ich habe eine Fiedel daraus gemacht und spiele jede Farbe darauf,
die es gibt. Ich bin Künstler geworden; aber ein Mensch bin ich nicht
mehr. Das habe ich euch zu verdanken, dir, liebe Grete, und dir,
Swaantje; ich danke euch herzinnig dafür.« Er küßte beiden die Hand und
ging in die Werkstatt.

Ruhig und besonnen arbeitete er an seinem neuesten Bildnisse weiter.
Da fielen seine Blicke auf die Saharabilder, und auf Wodes Zorn. Er
stutzte, rückte die Bilder zurecht, trat zurück, und dann nahm er den
breitesten Pinsel, tauchte ihn in einen Farbentopf und strich mit
festen Zügen die Bilder aus.

Als er fast damit fertig war, trat Swaantje ein. Er ließ sich nicht
stören und erst, als sie trocken aufschluchzte, sagte er: »Nun sag'
bloß noch: ›Die schönen Bilder!‹, und dann müßte Grete noch sagen:
›Das schöne Geld!‹, und dann hätte ich einen Grund, einmal wieder von
Herzen zu lachen.« Aber als er das Mädchen genau ansah, sprang er zu,
geleitete sie zu dem Sessel und rückte einen anderen daneben, in den
er sich setzte. Er faßte ihre Hand: »Ich weiß, ich weiß, Kind, in
welcher schweren Herzensnot du dich befindest, und wie sehr du darunter
leidest, und daß Grete so unglücklich ist. Aber bedenkt ihr denn nicht,
daß ich mehr bin als ein beliebiger Herr Soundso? und daß ihr, helft
ihr mir, einem Manne das Leben neu schenkt, der dazu berufen ist,
seinem Volke große Werte zu schaffen? Wiegt das nicht die ernstesten
Bedenken auf? Und ich will ja so wenig, will weiter nichts, als ein
bißchen Hoffnung, mit offenen ehrlichen Händen gegeben. Und darum bitte
ich dich: gib mir einen Kuß, einen einzigen, einzigen Kuß; ich will
dir alles dafür geben, was ich habe: meine ganze Vergangenheit und alle
meine Zukunft.«

Bittend sah er das Mädchen an; aber als sie schwieg und an ihm
vorbeisah, stand er auf. »Swaantje,« rief er, »du weißt, meine besten
Bilder habe ich behalten. Ich schenke sie dir. Mache damit, was du
willst! Gib sie irgendeinem Schuster; er darf auch sein Zeichen
darunter setzen. Aber gib mir einen Kuß, oder laß dich von mir küssen!
Nur ein einziges Mal, sonst geht es so nicht mehr weiter. Neulich, in
der Bar, habe ich Heulkrämpfe gekriegt, daß alle die leichten Mädels
und sämtliche schwergeladenen Gäste es mit der Angst bekamen. Ich bin
fertig. Ich heule jede dritte Nacht mein Kissen naß. Grete merkt das
nicht; aber sieh dir einmal die Augen an, mit denen unsere Luise mir
nachsieht. Das Mädchen ist verlobt, und sie hat ihren Schatz gern.
Aber, wenn ich winke, kommt sie; aus mütterlichem Mitleid. Alle Frauen
und Mädchen sehen mich an, als wollten sie mich in den Arm nehmen, so
dauere ich sie. Und ich komme mir vor, wie ein ganz kleines Kind, das
liebgehabt werden will, weil es hungert und friert. Was habe ich früher
die Leute beneidet, die sorglos leben konnten und die, die sich mit
Lob wuschen und in Ruhm badeten. Jetzt bin ich so gut wie berühmt, was
ich male, ist Gold wert; ich beherrsche die Technik autokratisch. Aber
ich bin ärmer als damals in München, als ich mit der Miezi in einer
Bodenkammer lebte und froh war, wenn ich Brot und Wurst hatte. Meine
Haare sind grau geworden, meine Augen sind kalt, und mein Herz vereist
langsam. Meine eigene Frau stieß mich in den Tod, und du stehst dabei
und siehst zu. Hätte ich nicht diesen Indianerkörper, ich wäre längst
auch leiblich tot.«

Er trat dicht vor das Mädchen hin und sah sie lange an; sie blickte
an ihm vorbei. »Du leidest ebensoviel wie ich, Swaantje,« begann er
endlich wieder; »vielleicht noch mehr, denn du hast Angst zu sprechen,
und du wagst nicht mich anzusehen. Ich will dich auch nicht weiter
quälen, denn du tust mir sehr leid, und ich liebe dich mehr als je
zuvor. Was ich vorhin sagte, war nichts als Wut. Ich werde dich immer
lieben, so oder so, auch wenn ich tot bin.« Sie zuckte zusammen. »Habe
keine Angst, ich töte mich nicht. Es hätte gar keinen Zweck mehr;
denn ich bin schon tot. Tote darf man küssen, Swaantje, darf man auf
Nimmerwiedersehen küssen, denn sie küssen nicht wieder. So gib mir denn
den einen Kuß.« Er beugte sich zu ihr, faßte sie um Kinn und Nacken und
näherte seinen Mund ihren Lippen. Aber je näher er ihr kam, um so mehr
versteckten sich ihre Lippen, um so starrer sah sie gegen die Wand,
um so krampfhafter hielt sie den Atem an, und so streifte er mit den
Lippen eben ihre Stirne, ließ sie los und ging aus der Werkstatt.

Beim Mittag war er sehr ruhig, sprach auch ganz freundlich mit seiner
Frau und scherzte mit den Kindern. Als Swaantje reisefertig war, fragte
er: »Darf ich dir einmal schreiben?« Sie schüttelte den Kopf, ohne
ihn anzusehen. Dann sagte er ganz geschäftsmäßig: »Dein Bild schicke
ich dir, wenn es fertig ist. Die weiße Haide muß heraus; sie drückt
zu sehr auf dein Gesicht. Überhaupt habe ich in der letzten Zeit viel
Quatsch gemalt; ich hatte ja auch meist Fieber. Ich werde jetzt nach
Stillenliebe fahren; vielleicht hilft mir die Jagd. Und nun, liebe
Swaantje, verzeihe mir alles, was ich dir antat. Ich bin krank, sehr
krank. Und ich will mir Mühe geben, daß hier wieder alles so wird wie
früher. Lebe wohl; der Wagen ist da!« Er reichte ihr die Hand hin; sie
legte die ihre lose hinein, ohne ihn anzusehen, und ging die Treppe
hinab, wo Grete sie erwartete.

Beide stiegen ein, ohne sich umzublicken. Er sah dem Wagen so lange
nach, bis er um die Ecke verschwand; dann ging er in die Werkstatt, und
Gift und Galle, seine beiden Teckel, folgten ihm mit gesenkten Ohren
und hängenden Ruten.



Der Platzhirsch


Am anderen Morgen fuhr er nach Stillenliebe; neben ihm auf der Bank
lagen Gift und Galle, seine Hunde, und Gift und Galle waren auch in ihm.

Er hatte, unterdes Grete und Swaantje zur Bahn fuhren und er in der
Werkstatt mit Sweenechien Bilder besah, die Ereignisse der letzten Zeit
überdacht und einen dicken Strich unter sich und Swaantje gezogen. »Das
muß ein Ende haben,« sagte er sich und nahm sich vor, recht nett zu
seiner Frau zu sein.

So nahm er sie in den Arm, als sie zurückkam, küßte sie und sagte: »Ich
will morgen nach Stillenliebe; sonst wird der Prinz öde. Hör' mal, er
schreibt: Die Hirsche schreien, wenn auch nicht, wie es fälschlich
in der Bibel heißt, nach frischem Wasser, sondern nach passender
Damenbekanntschaft, aber auch nach dir, vorzüglich der Schadhirsch vom
Schandenholz, der schon letzten Herbst sterben sollte. Jetzt ist er
aber reif; er hat einen braven Zwölfender zu Tode geforkelt. Also!«

Helmold hatte gelacht, als er seiner Frau den Brief vorlas. »Dem
will ich es besorgen, Grete! Er steht in der unzugänglichsten Ecke,
und deswegen hat ihn mir der Prinz so lange eingemottet, denn er
weiß, bei mir heißt es: je leichter, desto langweiliger! Das ist
ein Hirsch, den man nur auf den Ruf schießen kann, denn er tritt
niemals bei Büchsenlicht aus der Dickung. Na, dann machen wir es
eben, wie Mohammed mit dem Berge! Es ist ein ganz alter Bursche, der
aber nur ein Gabelgeweih trägt und deswegen jahrelang als Schneider
durchgegangen ist, und keiner ahnte, daß er der Mordhirsch war. Und
wir sind gute Bekannte; vor zwei Jahren schrie ich ihn mir bis vor die
Stiefelspitzen; aber ehe ich den Finger krumm machen konnte, bekam er
Wind. Dieses Mal aber soll er daran glauben, oder ich will die Kunst
nicht verstehen.«

Er legte die Hände vor den Mund und machte eine Brunft im vollen Gange
nach, vom Mahnen des Kälbertiers bis zum Orgeln des Platzhirsches, so
daß Luise, die frisches Trinkwasser brachte, entsetzt aufschrie und die
Flasche fallen ließ. »Ich kann's noch,« lachte Helmold; »Demonstratio
ad Luisam! Morgen früh ziehe ich zu Holze; ich habe nun doch ein
bißchen zu viel Farben verblutet seit vorigem Herbste, und mein Vorrat
von Arbeitslust ist alle. Und das ist ein Zeichen, daß die roten
Blutkörperchen bei mir sparsam werden.«

Als er so prahlte, bekam Grete ihre lichte Laune wieder. Sie holte den
kornblumenblauen Samtkasten hervor und kramte die Mohnblumenkarten aus.
»Bekomme ich dieses Mal wieder welche?« fragte sie, indem sie sich auf
die Sessellehne setzte und ihm das Haar kraulte. Sein Herz beschattete
sich; er dachte an die Mohnblumenkränze, die sie ihm über das Bett
gehängt hatte. Aus Seidenpapier waren sie gewesen. Er machte seinen
Kopf los und sagte kühl: »Gewiß, wenn dir an papiernen Blumen so viel
gelegen ist.« Sie stand auf, und als er ihr Gesicht im Spiegel sah,
bemerkte er, daß ihre Augen hart und ihre Lippen unbarmherzig aussahen;
alle die guten Vorsätze, die er am Nachmittage gefaßt hatte, fielen zu
Boden und zerbrachen.

»Bitte, sage dem Mädchen, sie solle mir einen Wagen zum Siebenuhrzuge
bestellen und dieses Telegramm besorgen, und jetzt will ich packen.
Zwei Wochen bleibe ich mindestens fort,« sagte er trocken und ging in
die Werkstatt. Dort blieb er bis Mitternacht und ging schlafen, ohne
seiner Frau den Gutenachtkuß zu bringen. Über Nacht knabberten viele
graue Gedanken an seiner Seele; drei Uhr wurde es, ehe er einschlief,
und als er am anderen Morgen in das Zimmer seiner Frau ging, stand das
harte Gesicht, das ihm am Abend der Spiegel gezeigt hatte, zwischen ihm
und ihr, so daß er mit einem losen Händedruck Abschied nahm.

Es war ein frischer, sonniger Herbsttag, und die Landschaft sah
lustig aus. Sonst hatte er sie während der Fahrt immer liebkost; nun
behandelte er sie schlecht; sie langweilte ihn. »Schwindel!« dachte er,
als er sah, daß hier und da einzelne Büsche sich in schreiende Farben
gehüllt hatten; »Plunder, nicht echt!« Selbst seine guten Freunde die
Kiefernwälder und Haidberge zerfetzte er mit höhnischen Blicken, und
als er die gewaltigen Schirmkiefern neben der alten Hammerschmiede sah,
sonst sein Entzücken, lächelte er verächtlich.

Auf einer Haltestelle stieg ein hübsches Bauermädchen ein, das ihn mit
ungescheutem Verlangen ansah, denn keine Kleidung stand ihm so gut wie
der verschossene Lodenanzug. Erst achtete er wenig auf sie, dann aber
dachte er: »Und kann es nicht die Lilie sein, so pflück' ich mir das
Röselein,« und da das Mädchen gegen die Sonne sehen mußte, machte er
ihr neben sich Platz und sagte: »Komm hier sitzen, Mädchen, denn so
hast du die Sonne nicht im Gesicht.« Sie wurde vor Verlegenheit ganz
rot, setzte sich aber sofort zu ihm. Er dachte daran, daß er sich über
Nacht gelobt hatte, sich fortan so viel Zucker in den Kaffee zu werfen,
wie er kriegen konnte, denn ihm war eine der blödsinnig klingenden
Weisheiten Henneckes eingefallen. Als sie eines Abends durch den Wald
gingen, hatte Hennig ärgerlich brummend den Kopf geschüttelt, und
als er ihn fragte, was ihm fehle, geantwortet: »Ich habe verdammt
vergessen, mir heute morgen Zucker in den Kaffee zu schmeißen, und das
kann ich mein Leben lang nicht wieder einholen.«

Er sah das Mädchen genau an; sie strotzte vor Kraft und Frische und
wurde jedesmal rot, wenn er sie anblickte. Er schlug sie auf die Lende:
»Wo soll die Reise hin, Lüttje?« Sie wurde rot: »Nach Ohlenwohle!« Er
sagte ganz trocken: »Hast du aber Dusel! Dann fährst du ja anderthalb
Stunden mit mir zusammen!« Nun mußte sie lachen, und sie litt es, daß
er den Arm hinter ihren Rücken schob, und als er fragte: »Hast du auch
keine Bange vor mir?« schüttelte sie lustig den Kopf. »Ich bin aber
ein ganz gefährlicher Kerl,« flüsterte er und zog sie an sich; »glatte
Mädchen mag ich zum Fressen gern. Paß mal auf, jetzt geht's los!« Er
drückte sie und küßte sie.

Die Hunde hoben erstaunt die Köpfe; er warf den Jagdmantel über sie:
»Das ist nichts für kleine Kinder,« sagte er, und zog das Mädchen auf
den Schoß. »Magst mich leiden?« Sie nickte und sah ihn verliebt an. Sie
blieben anderthalb Stunden allein, denn auf der nächsten Haltestelle
steckte Helmold dem Schaffner einen Taler in die Hand. Als der Zug
dicht vor Ohlenwohle war, sagte das Mädchen: »H' ach Junge! Na, wenn
das unsere Mutter wüßte! Und nicht wahr, du besuchst mich mal?« Er
küßte sie und sagte: »Ich wäre schön dumm, wenn ich das nicht täte. Auf
Wiedersehn, und schönen Dank auch, Mariee!«

Als er in Stillenliebe ausstieg, hatte er wieder einen frischen Mund
und fröhliche Augen. Der Prinz erwartete ihn mit dem Jagdwagen. Er
gab ihm die Hand und meinte: »Du wohnst am besten im Blauen Himmel,
von da hast du eine knappe Stunde bis zum Schandenholz; vom Jagdhause
sind es anderthalb. Die Zimmer habe ich schon belegt, das heißt von
morgen ab, denn heute mußt du mit zum Jagdhause. Der Wind ist für das
Schandenholz nicht gut, und außerdem will ich dich einmal wieder für
mich haben. Ist dir doch recht?«

Frau Sophiee Pohlmann, die Wirtin des Blauen Himmels, stand in der Türe
des Kruges, als der Wagen vorfuhr; die junge Witwe sah in dem blauen
Waschkleide mit der weißen Latzschürze zum Anbeißen aus. Sie lachte
über das ganze Gesicht, als sie den Maler sah. »Das ist aber schön,
daß Sie sich einmal wieder sehen lassen, Herr Hagenrieder!« rief sie,
vor Freude errötend, als er ihr die Hand schüttelte; »ein ganzes Jahr
sind Sie nicht hier gewesen. Ich dachte schon, Sie wollten uns untreu
werden.« Sie machte ein enttäuschtes Gesicht, als er sagte, er bliebe
den Tag im Jagdhause.

Als er am anderen Mittag mit dem Prinzen in der Wirtschaft vorfuhr,
lachte sie aber schon wieder. Sie ging ihm nachher in sein Zimmer nach
und fragte: »Ist auch alles so richtig?« Er machte die Türe zu und
sagte: »Jetzt ja!« und damit faßte er die Frau um und küßte sie. Sie
stemmte ihre Hände gegen seine Schultern: »H' ach, Herr Hagenrieder,«
stöhnte sie, »wenn aber jemand kommt!« Er lachte übermütig, ohne sie
loszulassen. »Möchte das keinem raten, dem seine heilen Knochen lieb
sind.« Er ließ sie los, stellte sich vor sie hin und befahl: »Kuß!«
Mit niedergeschlagenen Augen, feuerrot im Gesichte, kam die hübsche
Frau näher, legte ihm die Hände auf die Schultern, hob sich auf den
Zehenspitzen und küßte ihn. »So recht, mein Mädchen, so schön, mein
Kind, so brav, mein Zuckerchen!« lobte er, faßte sie um die Mitte und
küßte sie, bis sie keinen Willen mehr hatte.

»Mensch, du hast wohl seit acht Tagen nichts zu essen gekriegt!« sagte
der Prinz, denn sein Freund kniete sich ganz gefährlich hinter die
Mahlzeit. Der lachte und antwortete, indem er der Wirtin, die den
Nachtisch hereinbrachte, einen kurzen Blick zuwarf, den sie mit einem
langen zurückgab: »So hat es mir lange nicht geschmeckt, wie heute,
und wenn ich nun den Hirsch nicht kriege, will ich Karl der Große
geheißen werden.« In der Türe drehte die Wirtin sich um und warf ihm
einen heißen Blick zu. Brüne bekam ihn durch den Spiegel zu fassen,
lächelte aber kaum.

Die Wirtin brachte dann den Kaffee und viererlei Backwerk. »Frau
Pohlmann,« meinte der Maler, »wenn ich vier Wochen bei Ihnen in Kost
bin, passe ich in keinen Sarg mehr!« Die Wirtin lächelte ihn an: »Wie
lange bleiben Sie denn, Herr Hagenrieder? Sonntag haben wir Danzefest!«
Er schlug auf den Tisch: »Hipp hipp hurrjeh! Nun ist das Geschäft
richtig!«

Als der Prinz fortgefahren war, sagte der Maler zu der Frau: »Ich will
jetzt eine Stunde schlafen; weck' mich um halbig dreie, Sophiee! Aber
erst will ich einen Schlafschönkuß haben; das ist bekömmlicher, als der
Kürassao, den der Prinz nach dem Kaffee nimmt. Also!« Er ließ den Kopf
auf die Sofalehne fallen und klopfte auf seine Kniee; die Wirtin setzte
sich auf seinen Schoß. »Ach, ich habe so viel gegessen, daß ich nicht
küssen kann,« sagte er lachend; »das mußt du besorgen. Und ich bin so
müde und so faul, daß ich nicht allein ins Bett finde. Denn so wirst
du mich wohl hinbringen müssen; hm?« Die Frau kuschelte sich an seine
Brust: »Geh vor,« flüsterte sie heiser, »ich komme gleich nach; ich
habe sowieso oben Wäsche fortzupacken. Jetzt muß ich erst eben in die
Küche.«

Laut flötend ging er nach zwei Stunden durch das Dorf, die Büchse über
den Rücken geschlagen. Für alle Menschen, die ihm begegneten, hatte
er ein lustiges Wort, und für jedes Kind einen Apfel. Gift und Galle
jagten kläffend die Spatzen von der Straße und trieben die Katzen über
die Zäune, und Helmold fand, daß die Welt doch noch ganz nett sei.
Er freute sich über die bunten Blumen hinter den Zäunen, über die
Tauben, die vor ihm herflatterten, über den Turmfalken, der auf der
Stoppel rüttelte, und dachte: »Hol's der Teufel; Gott gibt's reichlich
wieder!« Er war auch gar nicht ärgerlich, als er spät abends zurückkam,
ohne seinen Hirsch gehört zu haben.

Als er am anderen Nachmittage dicht vor dem Osterhohl war, kam er
an einem kleinen Hause vorbei, das halb versteckt hinter gewaltigen
Stechpalmenhorsten lag. Ein Mädchen stand in der Tür und sah ihm mitten
in die Augen. Sie hatte ein volles, aber feines Gesicht, und ihre Augen
sahen halb wie die eines Kindes aus, halb wie die einer Frau, die
allerlei erlebt hat. Er ging auf sie zu: »Willst du mir Glück bringen,
Mädchen?« Sie lachte ihn an: »Gerne, wenn ich es machen kann.« Er legte
die Büchse auf den Boden. »So, nun spring dreimal darüber!« Sie nahm
ihre Röcke zusammen und sprang, daß ihre hübschen Waden zu sehen waren.
»Danke schön!« sagte er, nahm sie um die Mitte und küßte sie. »So, und
nun schenk mir noch ein Glas Wasser!« Sie ging vor ihm in das Haus, und
er folgte ihr. »Wie heißt du denn, Hübsche?« fragte er und setzte sich
in den Spinnstuhl. »Annemieken Ahlmann,« antwortete sie und lächelte
ihn an. »Hm,« meinte er; »nun laufe ich schon sieben Jahre hier herum
und habe dich noch kein einmal gesehen.« »Ich Sie aber schon oft!«
erwiderte das Mädchen; »aber Sie gingen immer so stolz vorbei.«

Eine alte Frau kam herein. Sie kicherte, als sie Helmold sah, und zwang
ihm ein Glas Buttermilch auf. »Ja,« sagte sie, »wir sind froh, wenn
sich hier mal ein Mensch sehen läßt. Seit das mit Abbe gewesen ist,
will keiner was mit uns zu tun haben. Und es war doch man ein Unglück.
Ja, ja, das hitzige Geblüt, wer das hat, der kommt leicht zu Schaden.
Na, denn viel Glück auch, junger Herr, und lassen Sie sich mal wieder
sehen. Annemieken, zeige dem Herrn den Richteweg über die Osterhaide;
das ist um die Hälfte näher.«

Das Mädchen ging mit. Als sie im Holze waren, legte Helmold den Arm um
sie und küßte sie. Sie wurde rot und weiß nacheinander und fragte dann:
»Kommen Sie Sonntag auch zum Erntebier?« Er nickte. »Aber mittanzen tun
Sie wohl nicht?« Er nickte wieder. Sie wurde feuerrot und flüsterte:
»Auch mit mir einmal?« »Aber sicher,« antwortete er; »ich glaube, mit
dir tanzt es sich fein!« Sie nickte: »Ich kann mich tottanzen! Aber
wir haben Unglück gehabt. Vater und Mutter sind an der Auszehrung
gestorben und Abbe, mein Bruder, der hat den Verwalter von Ohlenhofen
totgestochen, wo seine Braut diente. Würden Sie das nicht auch tun?« Er
nickte: »Ganz sicher, wenn mir einer an meine Braut käme!« Da lachte
sie und drückte sich fester an ihn.

Als er eine Viertelstunde vor dem Schandenholze war, kehrte sie um.
Er warf seinen Rucksack zu Boden und legte die Hunde ab. Er ging erst
schnell über die Haide, aber je näher er dem Walde kam, um so kürzer
wurden seine Schritte. Hinter einem mächtigen Wachholderbusche blieb
er stehen und lauschte; es war alles still, nur die Goldhähnchen
piepten. Er schlich unter dem Winde von Busch zu Busch, bis er das
Hauptgestell übersehen konnte. Eine halbe Stunde blieb alles still,
dann meldete halb rechts ein geringer Hirsch. Einen Augenblick später
brach es dort und in voller Fahrt floh der Schneider über die Schneise;
hinter ihm her dröhnte der Baß eines starken Hirsches. Von fern her
schrie ein guter Hirsch, näher ein anderer. In der Dickung brach es,
dumpfe Schläge erschallten; der Schadhirsch strafte ein Stück Wildpret
ab. Helmold lachte; am liebsten hätte er geschrieen: »So recht, mein
Hirsch!« Seine Augen funkelten, halb vor Freude, halb vor Haß.

Langsam rauchte er und sah durch die Zweige des Wachholderbusches die
Schneise entlang, die von den schrägen Sonnenstrahlen getigert war.
Ein Fuchs schnürte dicht an ihm vorüber, ohne ihn zu wittern; ihm
folgte ein Hase. Eine Weile saß er still, dann rückte er zu Felde.
Tauben schwangen sich in ihren Schlafbäumen ein; der Schwarzspecht
rief zum letzten Male. Helmold lauschte angestrengt. Ab und zu gab der
Platzhirsch ein halblautes Knören von sich. Die Sonne sank; hier und
da glühte auf einem Kiefernstamme ein roter Fleck auf und täuschte ein
menschliches Angesicht vor, verschwand und tauchte an einer anderen
Stelle wieder auf. Im Kienmoore schrie ein guter Hirsch herausfordernd;
drohend antwortete der Platzhirsch. Ein Kälbertier trat über das
Gestell; das Kalb folgte. Warnend rief der Hirsch und zog bis an den
Rand der Dickung; sein Atem flog weiß vor ihm her. Das Tier machte
Kehrt und trat wieder zurück, und das Kalb trollte hinterher.

Helmold lächelte kalt. »Der weiß mit den Weibsleuten umzugehen,«
dachte er; »fällt ihm gar nicht ein, zu schmachten und zu betteln. Er
nimmt sich, was ihm zukommt, kraft seines Geweihes.« Er überdachte
das letzte Jahr. »Welch ein Narr bin ich gewesen! Hätte ich damals
im Tödeloh zugepackt, so hätte ich nicht Nacht für Nacht in mein
Kopfkissen hineinzuheulen brauchen. Und wäre ich Grete mit der
Tatsache gekommen, so hätte sie sich geduckt.« Er schämte sich vor
sich selber. Er hatte sich nackt vor ihr ausgezogen. »Ein schwerer
Fehler! Frauen wollen den Mann über sich sehen; stellt er sich neben
sie, so sehen sie auf ihn hinunter. Sobald sie wissen, man liebt sie
wirklich, ist man schon verloren,« dachte er; »Mann und Weib sind
Todfeinde; das ist es. Das Weib ist Realist, klebt an der Erde; der
Idealismus, die Himmelssehnsucht des Mannes, ist ihm unbegreiflich, ja
verächtlich. Urmensch ist es, handelt nur aus Instinkt. Ihre Hauptwaffe
ist die Lüge, die Verstellung; unbewußt, darum so gefährlich, weil
uns unlogisch erscheinend, unbegreiflich. Ihre Unwahrhaftigkeit ist
primitiv, ist naiv.«

Er drückte die Asche in der Pfeife herunter. »Sie müssen gedrückt
werden, soll ihre Liebe nicht ausgehen,« dachte er und lachte. »Auch
Swaantje ist ein Weib; ich habe mir eine Göttin aus ihr gemacht. Magd
soll das Weib dem Manne sein, nicht Herrin. Nie ist sie ihm Kamerad.«

Es prasselte in der Dickung; der Hirsch trieb die Tiere zusammen. Dumpf
schallte es; er forkelte ein störrisches Stück. »Ruppig muß man sie
behandeln. Nietzsche hat recht: ›Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die
Peitsche nicht!‹ Erobert wollen sie sein, roh hingenommen. Wieviel
Glück und Wonne hätte mir das Jahr bringen können, wäre ich meiner
Natur gefolgt! Den Kameraden suchte ich in Grete; Wahnsinn! Suchte bei
ihr Verständnis! Als ob es das zwischen Mann und Weib gäbe. Von Mann zu
Mann, ja, und von Weib zu Weib, aber nicht über Kreuz. Der Hirsch ist
klüger; er hält sich zum Hirsch, solange ihn die Liebe nicht zwickt,
und ist es damit aus, läßt er das Frauensvolk stehen und sucht sich
Kameraden, die so fühlen wie er selber.«

Die Schlagschatten der Stämme fielen über das Gestell; hohl rief
der Kauz; ein Bock schreckte in den Bleeken. Ganz selten schrie ein
Hirsch; der Abend war zu lau und versprach Regen. Helmold stopfte sich
eine neue Pfeife und steckte sie hinter dem Hute an. Er hielt Grete
und Swaantje nebeneinander und schüttelte den Kopf. »Ein dreifacher
Esel bin ich gewesen; eine Möglichkeit, die den beiden als eine
Unmöglichkeit erscheinen muß, habe ich von ihnen erbeten. Ich war
krank, sonst wäre ich nicht auf einen so irrsinnigen Gedanken gekommen.
Bei beiden habe ich meinen Nimbus zerstört; sie sehen auf mich hinab.
Das muß anders werden, denn«, er reckte die Brust, »denn ich will
meinen Wunsch nicht verhungern lassen.«

Er bohrte seine Blicke in die Dämmerung. »Und Grete, sie ist eine kluge
und gute Frau. Sie ist eben Frau und kann deshalb kein Mensch in meinem
Sinne sein; und die andere schließlich auch nur so lange, als bis«, er
stockte im Denken und sah mit harten Augen nach dem schwarzen Fleck,
der auf der Schneise stand. Langsam hob er das Glas; es war ein Stück
Wild, das sich dort äste; ein zweites und ein drittes trat dazu. Er
nickte vor sich hin: Jawohl, so mußte es werden; er wollte sich mit
Grete gut stellen, denn er liebte sie. Wenn er sie zuweilen zu hassen
glaubte, so kam das daher, daß er ihr seine eigene Dummheit nachtrug.

Er fuhr zusammen; mitten auf der Schneise stand ein Schatten, höher als
die anderen. Das Glas versagte, aber es mußte der Hirsch sein. Dumpf
dröhnte es und die anderen Schatten zogen in das jenseitige Jagen, von
den Geweihstößen ihres Gebieters getrieben. »Wie viele mag er bei sich
haben?« dachte Helmold. »Sicher zehn bis zwölf. Das ist für ihn der
Begriff des Weibes, wie für mich die Zusammenstellung Greteswaantje;
aber Sophiee und Annemieken und Mariee runden den Vollbegriff Weib erst
ab. Denn ich bin mehr wert als zehntausend andere Männer, kann deshalb
auch mehr Ansprüche machen. Und das werde ich, so wahr ich Helmold
Hagenrieder heiße!«

Er erhob sich, ging einige hundert Schritte zurück und stellte sich
unter einer Schirmkiefer auf der Haide an. Der Abendstern stand blank
über dem Walde. Er dachte an Swaantje; kühl betrachtete er sie und
lächelte. Sie hatte mit Grete über den Roman gelacht, dieweil er mit
zerrissener Brust am Boden lag; sie empfand es peinlich, als er mit
einem Weidewundschusse im Wundbette saß. Er lachte tonlos vor sich hin:
›Was denkt er von mir?‹ hatte sie gefragt. Ach ja, die Dame war stark
in ihr. Eine kalte Wut schüttelte ihn. »Wenn sie jetzt hier wäre, würde
ich ihr zeigen, daß ich ein Mann bin. Komm! würde ich sagen und sie
würde kommen.«

Kühl strich der Abendwind über die Haide und ruschelte in den gelben
Moorhalmen. Helmold fröstelte es. Er knirschte mit den Zähnen; er
dachte daran, wie erbärmlich er sich angestellt hatte, als er in
der Werkstatt um einen Kuß bettelte. »Hätte ich zugepackt, stände
ich anders vor ihr da. Jetzt bemitleidet sie mich. Pfui Teufel! Und
sie? Auch an ihr habe ich gesündigt, schwer gesündigt. Ich habe ihr
vorenthalten, was ihr zukam; krank und elend habe ich sie gemacht,
ebenso wie mich. Gedichtchen habe ich ihr geboten statt Küsse, Seufzer
anstatt Liebkosungen. Schöner Held, der ich bin mit meiner schlappen
Rücksichtnahme auf ihre Seele, auf Grete, auf die Verwandtschaft, die
Gesellschaft, meine Stellung und ähnliche Albernheiten!« Höhnisch
lachte die Scham ihn an. Er dachte an den Mühlenkrug, an Janna und
Manna, an sein Lautenspiel und an die Lieder, die er den Mädchen sang.
»Pfui, pfui; wie ein Schuljunge benahm ich mich!«

Der Hirsch im Kienmoore schrie; er schrie sich bis in die Bleeken
hinein. Der Schadhirsch antwortete und zog ihm näher. Helmold lauschte;
blanke Freude lachte ihm aus den Augen. Die Hirsche standen sich
gegenüber, der eine schrie dem anderen in das Gesicht. »Wundervoll,«
dachte er, und ihm war, als wenn der eine feuerrot, der andere blutrot
schriee. »Ein Leben von rot auf Rot; rote Liebe auf rotem Mord; das
ist Leben!« Er dachte an einen Mann, der ihm einst mitten in sein
Leben hineingegriffen hatte. An einem klaren Wintermorgen standen sie
sich im weißen Walde gegenüber. Wie blödsinnig das war: die Zilinder,
die Pelze, die Gummischuhe, die rotbraunen Handschuhe, und darin die
Pistolen, und vor allem: die glattrasierten, höflichen Gesichter der
Zeugen und die verbindlichen Manieren des Unparteiischen! Sein Gegner
ebenso, und er selber nicht anders. Und dabei: zehn Schritt Barriere
mit Vorgehen und Kugelwechsel bis zur Kampfunfähigkeit. Er lächelte,
denn er dachte daran, wie ihm sein Gegner den hohen Hut vom Kopfe schoß
und in demselben Augenblicke mit einem schweren Schulterschusse umfiel.
Hier der Seidenhut mit dem weißen Atlasfutter im Schnee, da der Arzt
bei dem Verwundeten, alle Wipfel voll von Goldhähnchengezirpe, die Luft
erfüllt von den Locktönen der Kreuzschnäbel, und der von himmelblauen
Schatten gestreifte Schnee, von der Sonne mit Demanten besät, und
mitten darin ein großer herzförmiger roter Fleck und ein kleiner, der
wie ein Kreuz aussah, und von dem lauter rote Kleckse bis zu der Stelle
führten, wo der Arzt arbeitete; eine schöne Erinnerung!

»O, ich habe auch solche,« dachte er, als er, die Hunde hinter sich,
über die Haide ging; »und sogar eine ganze Menge.« Vor seinen Augen
stand ein Tanzboden, niedrig und ganz mit Tabaksrauch gefüllt, und
durch das Fenster flog, das Fensterkreuz und alle Scheiben mitnehmend,
ein Gefreiter von den Oldenburger Dragonern, und der ihn so auf den
Schwung gebracht hatte, das war der Einjährigfreiwillige Hagenrieder
gewesen. Seine gewilderten Rehböcke fielen ihm ein und der Hirsch,
den er auf einem Birkenbaume dreihundert Gänge weit über die Grenze
geschleift hatte, und Tiedo Tiedsen, sein Konpennäler, der auszog, um
den Buren gegen die Khakis zu helfen, und der das redlich besorgte,
bis eine Kugel sein heißes Herz zur Ruhe brachte. Eine unbändige
Lust packte ihn, die ganze Zivilisation auszuziehen und irgendwohin
zu gehen, wo Kraft vor Recht geht und nur der Mann gilt, der am
schnellsten im Anschlage ist. Aber dann dachte er: »Verpfuscht, zu
spät!« Die drei wilden Blumen, die er die letzten Tage über am Wege
gepflückt hatte, kamen ihm wertlos vor; er schlug einen Bogen, um
nicht an Ahlmanns Hause vorbeizukommen, von dem ein kleines Licht
herüberschimmerte, und er setzte sich im Krug in das Gastzimmer und
nicht in die kleine Stube, wo er mit der Wirtin allein sein mußte.

Es kamen nun einige regnerische Tage und die Hirsche schrieen nicht.
Vergebens umschlich er das Schandenholz und pürschte im Kienmoore; es
blieb alles stumm. Jede Nacht trat der Schadhirsch aus, wie die Fährten
auf der Haide wiesen, zog jedoch vor Tau und Tag wieder in die sichere
Dickung. Am Sonnabend aber drehte sich der Wind und wurde hart und
kalt, und sofort orgelten überall die Hirsche.

Es war noch schwarze Nacht, als Helmold zu Holze zog, Gift am
Schweißriemen. Unter dem Winde wartete er auf der Haide den Tag ab,
in seinen Mantel gewickelt. Der Himmel war ganz hoch und sternenklar,
und das Haidkraut starrte von Reif. Der Schadhirsch schrie zwischen
den Krüppelkiefern in den Bleeken und zog dem Hirsche vom Kienmoore
entgegen. Helmold hörte, wie die Geweihe aneinanderprasselten, und
das Keuchen der beiden Kämpen war deutlich zu vernehmen. Ein heller
Wind bewegte die Kronen der Kiefern und flüsterte in dem Haidkraute;
im Osten zerriß die Nacht über dem Walde; Wanderdrosseln pfiffen, und
im Moore weckten sich die Kraniche auf. Die Sterne gingen langsam
nach Hause, und aus den unheimlichen Gespenstern wurden harmlose
Wachholderbüsche.

Der zweite Hirsch schrie schon wieder im Kienmoore. Helmold merkte
sich ganz genau seine Stimme, während er langsam und bedächtig Brot
und Speck aß. Als er damit fertig war, prüfte er mit nassem Finger
die Windrichtung, nahm einen kleinen Schluck Kognak, zog den Mantel
aus, legte den Rucksack ab, steckte den Hirschruf in die rechte
Joppentasche, legte den Hund ab und deckte ihn mit dem Mantel zu, und
sobald er Korn und Kimme zusammenbringen konnte, pürschte er sich an
das Holz heran.

Der Wind wurde noch schärfer; Helmold knöpfte die Joppe fest zu und
zog den Gürtel enger. An der Ostseite bohrte der Morgen ein Loch in
die Dämmerung und sah dadurch über die Haide. Der Hirsch im Kienmoore
schrie noch einmal und verschwieg dann. Helmold trat an den Rand
des Hauptgestelles, prüfte den Wind und lauschte. Endlich hörte er
es einmal linkerhand brechen; der Platzhirsch hatte seinen alten
Stand eingenommen. Er hörte ihn ab und zu knören und vernahm, wie ein
Kälbertier mahnte.

Es war mittlerweile ganz hell geworden; die Meisen wachten auf, die
Goldhähnchen piepten in den Zweigen, eine Krähe zerkrächzte die Stille.
Helmold sah sich um; ein Mutterreh mit zwei Kitzen zog über das
Gestell, dicht an dem Hasen vorbei, der still wie ein Baumstumpf da
saß und nur die Löffel aufrichtete, als Helmold in den Bestand trat.
Da sah es wild und wüst aus; der Sturm hatte vor Jahren einen Teil
der untergebauten Fichten umgeschmissen, und den Rest hatte die Nonne
umgebracht. Die von allerlei Gestrüpp bewachsenen Wurfböden erhoben
sich überall, zwischen ihnen lagen kreuz und quer die hohen Stangen,
von oben bis unten mit silbergrauen Flechten bezogen.

Behutsam das Geknick meidend schob er sich von Stamm zu Stamm, die
Büchse schußfertig in den Händen, mit den Augen das silbergraue Gewirr
zerpflückend. Nichts entging ihm, weder die Fährte am Boden, noch der
Dompfaff in dem Ebereschenbusch, nicht der Fliegenpilz unter der Birke,
nicht die zerfetzte Rinde an den Malbäumen.

Eine Stunde war vergangen, da hatte er erst zweihundert Schritte
hinter sich, denn nach jedem Tritte machte er Halt und lauschte mit
offenem Munde oder prüfte den Wind. Da hörte er den Hirsch knören.
Langsam schob er sich hinter einen Wurfboden, langte die Muschel aus
der Tasche und quetschte einen neidischen Ruf heraus; von drüben kam
eine mürrische Antwort. Er ging, den Schritt eines Hirsches nachahmend,
rücksichtslos durch das Fallholz, sich immer in Deckung haltend und
ab und zu einen Schrei aus der Muschel herausholend; der Schadhirsch
antwortete schon ärgerlicher. Helmold machte das Mahnen eines Tieres
nach und ließ einen herausfordernden Ruf hinterher folgen; gereizt
erwiderte ihn der Mordhirsch und zog näher. Hinter einem Wurfboden
trat Helmold laut hin und her, daß der anmoorige Boden quatschte und
das Fallholz brach, und während ihn der Frost schüttelte, vernahm er,
wie sein Hirsch immer näher kam. Er setzte die Muschel an den Mund
und schrie ihm eine grobe Redensart entgegen, und abermals eine, die
noch viel frecher war, und eine dritte, mehr als gemein. Der Hirsch
meldete nicht; es schien, als ob er starr wäre über die bodenlose
Unverschämtheit des Nebenbuhlers. Helmold ließ den Hirschruf in die
Tasche gleiten und machte scharf.

Vor ihm war alles still, dann mahnte ein Schmaltier und darauf brach
es laut; vor ihm stand der Hirsch auf dreißig Gänge und schrie aus
vollem Halse. Helmold sah nichts, als vier lange blanke Enden, ein
graues Gesicht mit tief liegenden Lichtern und einen Strom weißen
Dampfes. Die volle Brunftwitterung stank ihm in Nase und Mund hinein.
Der Hirsch schrie noch einmal mit ganzer Kraft und wendete sich. Sowie
er das Blatt freigab, hielt Helmold darauf und riß Funken. Er hörte
Kugelschlag und sah durch das Feuer, daß der Hirsch stark zeichnete.
Prasselnd fuhr er ab, daß das graue Geäst weit umherflog. Hinter ihm
her polterte das Kahlwild.

Helmold blieb eine Weile stehen, wischte sich den Schweiß von der
Stirne, trank einen Schluck Tee, steckte sich eine Zigarre an und ging
auf den Anschuß. Er brauchte nicht lange zu suchen; er fand Schweiß
und Schnitthaar. »Tiefblatt«, murmelte er, als er die Schweißspritzer
betrachtete und von einem Farnwedel einige Haare ablas. Er verbrach den
Anschuß und ging dahin, wo er den Hund abgelegt hatte. Dort überlegte
er; bis zu der Wirtschaft, das war reichlich weit. Da fiel ihm
Annemieken ein, und er ging nach dem Osterhohl.

Als er in das Haus trat, begrüßte ihn die alte Frau freudestrahlend.
Dann trippelte sie nach der Halbetüre und rief mit ihrer brüchigen
Stimme: »Annemieken, Mädchen, komm hille!« Das Mädchen kam herein; es
hatte bloße Arme und vor dem Leibe einen alten Sack als Schürze. »Kann
ich bei euch einen Teller Suppe haben?« fragte Helmold. Sie lachte
glücklich; aber dann bekam sie einen roten Kopf und sagte: »Wir haben
aber bloß Bohnensuppe und alten Speck.« Er lachte: »Das ist grade
das Richtige; ich habe einen Hirsch geschossen und will ihn nachher
nachsuchen, und bis zum Kruge ist es mir zu weit.« Er ließ sich in
den Spinnstuhl fallen und sah den Funken zu, die um den Kesselhaken
spielten. Als die alte Frau hinausgegangen war, sagte das Mädchen:
»Ich dachte, du würdest gestern abend hier noch einmal vorbeikommen.«
Er antwortete: »Ich war sehr müde und hatte meine böse Stunde.« Das
Mädchen sah ihn groß an: »So ein feiner Herr? Ich dachte, der hätte
nicht Kummer, noch Sorgen. Denn ist es wohl um ein Mädchen? Aber
darüber mußt du dir keinen Kummer machen; wenn man nicht hat, was man
lieben will, denn so liebt man, was man hat.« Er lachte: »Woher hast du
denn diese Weisheit?« Sie bekam dunkele Augen: »Ich war eine Zeit in
der Stadt.«

Sie ging zu dem Kessel, rührte das Schweinefutter um und sah in dem
kleinen Topf nach, ob das Essen bald fertig war. Dann ging sie in den
Garten und kam mit einem Blumenstrauß zurück, den sie auf den Tisch
stellte, über den sie ein weißes Tuch gelegt hatte, machte sich vor
dem halbblinden Spiegel das Haar, band die Sackleinwandschürze ab,
ließ ihren Rock herunter, wusch sich die Hände und band eine reine
Schürze vor. Die Großmutter brachte die Suppe, Helmold holte, was er
an Wurst und Schinken im Rucksacke hatte, heraus und legte es auf den
Tisch, desgleichen eine Tafel Schokolade und stellte die Kognakflasche
dazu, aus der die alte Frau ein Schlückchen bekam. Es wurde ein sehr
gemütliches Essen, und die Großmutter gnickerte in einem fort über den
lustigen Jägersmann, der so schöne schlechte Witze erzählen konnte.
Nach dem Essen aber nickte sie sofort im Spinnstuhle ein und Helmold
gähnte auch. »Kannst in meinem Bette schlafen gehen, Junge,« sagte
Annemieken. »Und du mein Schatz, bleibst hier?« sang er. Sie schüttelte
den Kopf und ließ sich mitnehmen.

Um zwei Uhr wachte er auf und hörte die Großmutter im Flett
umhertrippeln. Annemieken stand vor dem Spiegel und kämmte sich. Er
wunderte sich, daß ihr Spiegelbild ganz anders aussah, als ihr Gesicht,
bis ihm einfiel, daß Spiegel lügen. »Alle Reproduktion ist Schwindel,«
dachte er. Die Großmutter klopfte an: »Der Kaffee ist fertig,« rief
sie, und als er auf die Diele kam, tat sie, als ob sie von nichts wüßte.

»So, Gift, nun ist es aber Zeit, daß wir uns auf die Strümpfe machen,«
sagte Helmold, als er gegessen und getrunken hatte. Als er den Anberg
hinaufging, flötete er vor sich hin und dachte dabei: »So, das war
ein Tag, rot in Rot; den nimmt mir keiner mehr weg!« Lustig pfeifend
schritt er über die Osterhaide. Auf der Blöße äste sich vertraut ein
guter Bock; er ließ ihn leben. »Annemiekens wegen,« dachte er, denn sie
hatte ihm erzählt, daß sie sich jeden Morgen über den Bock freute.

Vor dem Holze nahm er den Schweißriemen ab, dockte ihn halb auf, und
als er bei dem Anschusse war, legte er den Hund zur Fährte. »Such
verwund't, mein Hund,« rief er ihm zu; »weis' verwund't, mein Hund!«
Der Teckel stieß einen dünnen Laut aus und tupfte mit der rotbraunen
Nase auf einen Schweißspritzer. Dann legte er sich so stürmisch in den
Riemen, daß sein Herr gänzlich aufdocken mußte.

Es war eine wilde Nachsuche, denn der Hund schliefte fortwährend
unter den gefallenen Fichten durch, so daß Helmold alle Augenblicke
den Riemen fahren und über die toten Stangen hinwegsetzen und den
Riemen wieder festtreten und greifen mußte. Nach fünfhundert Gängen
wies der Hund das erste Wundbett vor. Das zweite kam, ein drittes in
einem Tümpel und ein viertes; aber da brach es in der Dickung, der
Hund riß Helmold den Riemen aus der Hand und hetzte mit hellem Halse
weiter. Sein Herr blieb stehen und atmete tief, auf den Ball des
Teckels horchend. Seine Augen strahlten: »Wundervoll, ganz wundervoll!«
dachte er, wischte sich Stirn und Hals ab, nahm einen Schluck aus der
Kognakflasche und setzte sich auf einen Wurfboden, bis sein Herz sich
beruhigt hatte.

Dann horchte er auf; der helle Hatzlaut des Hundes brach mit einem Male
ab und vertiefte sich zu dumpfem Standlaut. Helmold lachte: »Hat ihn
schon!« Er nahm die Büchse vom Rücken und ging schnell aber vorsichtig
dem Halse des Hundes nach, der aus dem Nachbarjagen herüberläutete.
Er trat über das Gestell und drängte sich durch die Fichtenleichen,
ab und zu springend, wenn die grauen Stangen zu hoch lagen, oder sich
zwischen zwei Wurfböden durchwindend. Je näher der Standlaut klang,
um so behutsamer schlich er, und dann blieb er auf einmal stehen und
riß sein Gesicht zu einem breiten Lachen auseinander, denn mitten in
einem quelligen Ellernsumpfe stand der Hirsch bis an den Leib in der
Modder und versuchte, den Hund zu forkeln, der vor ihm auf einem zwei
Fuß hohen Kissen von Silbermoos vorstand und ihn mit heiserem Halse
verbellte, ab und zu den Versuch machend, ihn niederzuziehen, aber
gewandt zurückzuckend, sobald der Hirsch das Haupt senkte.

»Prachtvoll, ganz prachtvoll,« dachte der Maler, legte den Rucksack
ab, langte vorsichtig das Skizzenbuch heraus und hielt mit dem Stifte
Hund, Hirsch und Landschaft fest; dann stach er die Büchse, zielte auf
den Halsansatz, und so wie es knallte, prasselte und quatschte es,
der Hirsch war verschwunden, und mit giftigem Laute sprang der Teckel
zu. »Tot, tot!« rief Helmold ihm zu, liebelte ihn ab, brach sich einen
Bruch, zog ihn über den Einschuß und steckte ihn an den Hut; dann
setzte er das Horn an die Lippen und prahlerisch klang es über Wald und
Haide: »Hirsch tot, Hirsch tot, Hirsch tot!«

Er hob das Geweih aus dem Schlamm. »Donnerhagel!« sagte er, als er es
sich ansah, »Donnerhagel noch einmal, das ist mein bester Hirsch!« Er
zog das Waidmesser und brach mit zwei Griffen die Kusen heraus. »Nummer
eins,« lachte er, als er sie in die Hosentasche steckte. Aber dann
strich er sich über die Stirn, als ob er da Herbstseide gefühlt hätte;
er dachte an die silberne Spange mit den Hirschhaken, die er Swaantje
verehrt hatte. Mit Mühe brachte er den Hirsch auf die Decke, brach ihn
auf, machte den Hund genossen, schärfte die Mürbebraten heraus und
die Zunge und tat sie in den Rucksack, während er das große Gescheide
verscharrte und das Kleine zum Ausschweißen an einen Ast hängte. Dann
zog er säuberlich das lange Gehääre aus der Brunftmähne, wickelte es in
ein Stück Papier, legte es in das Skizzenbuch, wusch sich die Hände und
machte das Messer sauber, trank den Rest seines Tees aus, steckte sich
eine Zigarre an, dockte den Schweißriemen auf und ging dem Gestelle zu,
wo er sich der Länge lang an einen Jagenhaufen lehnte, gegen den Himmel
sah und rauchte, während Gift in seinem linken Arme lag und schlief.

Nach einer Viertelstunde knallte Peitschenschlag; der Wagen hielt
vor dem Gestell. Helmold sprang auf und winkte den Wagen heran; der
Prinz lenkte, und hintenauf saß der Jagdhüter und der Kutscher.
»Waidmannsheil!« rief der Prinz, »ist es der Mörder?« Der Maler lachte:
»Jawollja, ein Haupthirsch; herzlichschönen Dank auch! Es ist mein
bester Hirsch bis heute, obzwar er man vier Enden hat. Aber solche!«
Er reckte den Arm und zeigte mit der Hand erst auf den Ellenbogen, dann
auf den Schulteransatz. »Klobige Stangen, und Enden so weiß wie ein
Jungfernbein.«

Der Prinz sprang ab und folgte seinem Freunde, der ihn zu dem Hirsche
führte. »Auf den Ruf?« fragte er. Helmold nickte und erzählte, wie er
es angefangen hatte. Etwas wie Neid kroch um den Mund des anderen, als
er das Geweih sah, doch dann sagte er: »Na, den wollen wir heute abend
im Jagdhause ordentlich tottrinken.« Der Maler schüttelte den Kopf:
»Nee, im Blauen Himmel, da ist heute Erntebier!« Der Prinz faltete
seine Stirne zusammen, aber dann meinte er: »Ich danke, bleibe lieber
im Jagdhause. Willst da wohl Studien machen, Helmold?« Der lachte: »I
wo, denke nicht daran; tanzen will ich, daß die Haide wackelt; mir
läuft jetzt schon das Wasser in den Tanzbeinen zusammen.«

Der Jagdhüter und der Kutscher schleiften den Hirsch dem Gestelle zu.
»Guter Schuß,« meinte der Prinz; »Blatt rein, Blatt raus.« Er sah
sich das Herz an, dessen Spitze durchschossen war. »Unglaublich, daß
der Hirsch damit so weit geflohen ist! Man sollte meinen, mit einem
solchen Schusse müßte er im Feuer bleiben. Und der Gift, das ist ja ein
Haupthund! Komm her, Kerlchen, hast brave Arbeit gemacht!« Aber der
Teckel wich ihm aus.

Helmold hielt das Herz des Hirsches in der Hand und ihm war, als
wäre es sein eigenes. Auch er hatte einen tödlichen Blattschuß
bekommen und lebte noch, floh durch Dorn und Dickung, schleppte sich
von einem Wundbette zum andern, und war doch verloren, denn hinter
ihm her hetzte mit hellem Halse das Gedenken an die Eine. Mit einem
Schlage sah er ein, daß seine Wunde nie verheilen würde, und wenn er
sie noch so oft kühlen würde in allen Marieen und Sophieen, die er
auf seiner Todesflucht antraf, denn immer kläffte die Erinnerung
in seiner Rotfährte, und einmal würde sie ihn doch zu Stande hetzen
und niederziehen. »Und wenn schon,« dachte er, und sah mit frechem
Blicke hinter sich, als stände der eiserne Ritter da, »und wenn schon!
Vorgestern die Mariee, gestern die Sophiee, heute Annemieken, und
morgen,« er stockte, aber dann sprang er über den Graben, »und morgen
Grete und übermorgen Swaantje. Blut um Blut; denn umsonst will ich
nicht gestorben sein!«

Sie brachten den Hirsch nach dem Jagdhause, wo der Prinz zurückblieb,
während der Maler mit dem Kutscher und dem Jagdaufseher nach
Stillenliebe fuhr. Helmold freute sich über den prachtvollen Nacken
des Jagdhüters, über den festen Schnitt seines Gesichtes und den
weitausgreifenden Blick seiner ruhigen blauen Augen. Es war ein Mann
der schnellen Tat, der nicht viele Worte machte und niemals lange
fackelte, ganz gleich, ob es sich um Wild oder Weib handelte, oder um
einen Wilddieb. Früher wurde in der Gegend viel gewildert; seitdem
Moormann da war, hatte das fast ganz aufgehört, besonders seit der
Zeit, daß er Sliekenhinnerk, einen Freischützen von Beruf, der im
Verdacht stand, den Ohlenwohler Hegemeister totgeschossen zu haben,
niedergeknallt hatte. Hagenrieder hatte ihn gefragt, wie ihm dabei
zumute gewesen war, als der Mann tot zu seinen Füßen lag. »Großartig«,
hatte Moormann gesagt und lachend hinzugesetzt: »Ein Schade, daß er
nichts auf dem Kopfe hatte zum Andiewandhängen; aber ich habe doch
wenigstens seine Photographie!«

Hagenrieder sah ihn sich genauer an. Er war fünfundvierzig Jahre alt,
hatte aber keine einzige Falte in dem braunen, rotbäckigen Gesichte,
und auf seinem Handrücken hatte kein unerfüllter Wunsch seine Fährte
hinterlassen. Er hatte eine hübsche stramme Frau und einen Haufen
Kinder; doch sagte man ihm nach, er ließe auch sonst nichts anbrennen.
Die Blicke, die manche Frauen und Mädchen ihm gaben, waren wie ein
verstohlener Händedruck; aber die von einigen Männern und Jungkerlen
schmeckten nach Messerstichen. Wenn er anlegte, knallte es auch
schon, ob er nun Hagel oder Kugeln nahm. »Wer sich besinnt, der nicht
gewinnt,« sagte er. Er hatte mehrere solcher Sprüche: »Wer viel denkt,
sich viel kränkt,« hatte er einmal zu Hagenrieder gesagt, und ein
anderes Mal meinte er: »Frauenvolk und Nesselkraut, wer sachte zufaßt,
kriegt Blasen auf die Haut.« Dieser Spruch fiel Helmold nun ein. »Ach
ja!« dachte er und kam sich klein und feige vor.

Als sie ein Weilchen gefahren waren, kamen sie an einem Trupp
junger Burschen vorbei, die ihnen nachjohlten. »Sind das nicht
Schadhörstener?« fragte der Kutscher. Der Jagdaufseher nickte, und der
andere meinte: »Das ist eine rüdige Bande.« Moormann zuckte verächtlich
die rechte Schulter.

Helmold hörte kaum darauf, was vor ihm gesprochen wurde; er mußte
wieder an Swaantje denken, an den Tag, als sie krank im Bette lag und
er ihr die Pfirsichspelten zwischen die Lippen schob. »Nein,« dachte
er, »es ist doch ein Unterschied zwischen diesen Weibsleuten hier und
Grete und Swaantje; die einen kann man ganz hinnehmen und sie bleiben,
was sie sind, und bei den anderen kann ein einziger Kuß die Seele bis
auf den Grund aufwühlen.« Ein Schatten flog über sein Gemüt; er wußte:
nie und nimmer würde er Swaantje so behandeln können, wie Mariee oder
die Krugwirtin, und deshalb würde er sich bis an sein Lebensende mit
dieser tauben Liebe herumschlagen. Dann aber sagte er sich: »Und wenn
Swaantje daran zerbricht, ich will meinen Willen haben, denn ich bin
zu wertvoll, als daß ich an ihr umkommen darf. Was ist sie denn? Ein
schönes Mädchen aus guter Familie! Es gibt mehr solche; aber Männer
wie ich kommen nicht oft vor. Sobald ich nach Swaanhof komme, mache
ich einen Bajonettangriff auf sie. Denn zum Kuckuck noch einmal, es
ist doch alles Unsinn, was ich in sie hineingeheimnist habe, auch
ihre Schriftstellerei. Das war nichts als Widerhall meiner Seele, und
es war schließlich nur ein Geständnis von ihr, eine feine Art der
Hingebung. Sie hat von mir empfangen und brachte Novellen und Skizzen
zur Welt. Aber so sind wir: schafft ein Mann etwas Mittelmäßiges, so
verreißen wir ihn nach allen Regeln der Kunst; bei einem Weibe finden
wir dieselbe Leistung riesig. Warum? Weil Weiber im Durchschnitt nicht
produktiv sind bei ihrer rein rezeptiven Veranlagung und uns jede
Ausnahme davon als Riesenleistung vorkommt.«

Eine heiße Blutwelle brandete in seinem Gesichte; er schämte
sich. »Verflucht!« dachte er; »ich machte sie zur mittelmäßigen
Schriftstellerin, und sie rächte sich dadurch, daß sie mich auf Abwege
brachte.« Seine Tendenzbilder fielen ihm ein; alle vier hatte er
übergestrichen. Niemals hatte er früher eigene Verse und Singweisen
bei der Arbeit gehabt; so sehr hatte ihn diese elende Verliebtheit
zerrüttet, daß er alle Klarheit verloren hatte.

Noch einmal schämte er sich, denn ihm fielen die zugeknöpften Augen
Hennigs ein, mit denen der die Bilder betrachtet hatte. »Famoser
Kerl!« dachte er, und ging in Gedanken alle seine Bilder aus der
letzten Zeit durch. Aber er fand nur noch bei Swaantjes Bildnis einen
Fehler; die Landschaft war zu aufdringlich, die Haide zu rosenrot,
die Wacholder zu botanisch richtig. Das mußte alles zusammendämmern,
ineinanderfließen, so daß nur das Gesicht allein wirkte. Er wischte
in Gedanken alle Härten aus der Landschaft und arbeitete den Kopf
mehr heraus. Dabei fiel ihm ein, daß er nur die halbe Swaantje gemalt
hatte, die milde, weiche, selbstlose Swaantje mit den zärtlichen Augen
und den liebevollen Lippen; aber sie konnte auch unbarmherzige Augen
haben und grausame Lippen. Davon sollte das Bild auch erzählen, von
ihrem zweiten Gesichte; aber nur ganz verstohlen durfte es aus dem
Alltagsgesichte hervordrohen. »Alltagsgesicht, das ist es,« dachte er;
»Maske ist ihre Weichheit, ihr feuchtschimmernder Blick, ihre hilflose
Anschmiegsamkeit, mit der ihr Gesicht sich Tag für Tag schmückt;
dahinter ist Starrheit, Kälte und Geiz. Ich will das alles in ihr
zerbrechen, und wenn sie dabei zusammenkracht!«

So dachte er, denn eine freche, schwefelgelb und feuerrot geringelte
Tanzweise schallte vom Kruge herüber. Der Wagen hielt. Unter der Linde
stand Hennig, seine Line neben sich. »Donnerwetter, Kerl, ist das ein
blödsinnig vernünftiger Gedanke von dir!« rief Helmold, »und fein, daß
du deine Lüttje mitgebracht hast. Tag, schöne junge Frau!« Das Mädchen
schlug lachend ein. »Kinder, kommt mit rauf, ich muß mich erst noch
umhosen und waschen.«

»Du siehst großartig aus, Helmke,« sagte Hennig, als sie oben waren,
ihn mit zufriedenen Augen ansehend. »Tja,« erwiderte der andere; »die
gute Landluft!« Er schrie die Treppe hinunter: »Mine, zwei Handtücher!«
Das Mädchen kam heraufgestürzt. Es war ein blasses, dünnes Geschöpf,
aber sie sah in dem hellen Tanzkleide so niedlich aus, daß der Maler
sie an das Ohr faßte und heranzog. »Kiek sieh, aus Kindern werden
Leute! Hast'e schon 'n Bräutigam?« Sie schlug die Augen unter sich.
»Na, dann bring' ihm das mit und sag', ich lasse ihn schön grüßen!«
Er küßte sie, daß ihr die Luft fortblieb. Mit feuerrotem Kopf schob
sie sich aus dem Zimmer. »Na, ihr seid gut!« sagte Line lachend; »die
wievielte ist das denn hier? Aber alles was recht ist, so seid ihr mir
doch lieber, als wie neulich, wo ihr aussahet, wie eine kranke Katze.«

Helmold wusch sich im Nebenraum. Er hatte nur die Kniehosen an, als
er, das Handtuch in der Hand, hereinschoß. »Du, Hennig, ach so; na,
Line, Sie sind ja schon etwas abgehärtet! Also, warum hast du neulich
nichts gesagt, als ich dir meine Saharabilder und so weiter zeigte?«
Sein Freund schnitt sorgfältig die Spitze der Zigarre ein. »Muß man
denn immer etwas sagen?« Helmold lachte. »Alter Politikus!« Er ging
in das Schlafzimmer und kam wieder heraus, nun mit einem grün und
rot gestreiften Leinenhemde über dem Oberkörper. Er stellte sich
vor den Spiegel, zog eine Halsbinde durch den Kragen, knöpfte ihn
an und band sich eine unverschämte Schleife. Als er die Hosenträger
über den Kopf schlug, fragte er: »Du, Hennig, ich male nicht mehr
mit Orchesterbegleitung.« Der andere brummte etwas vor sich hin, und
Helmold fuhr fort: »Mir kommt das so vor, als wenn du mit der einen
Hand schreiben würdest, und mit der anderen malst du.« Hennig sah
auf und nickte seinem Freunde in den Spiegel zu: »Sehr richtig!« Der
lachte: »Ja, warum hast du das nicht eher gesagt, alter Heimtücker!«
Der antwortete: »Ein Schwäre muß von selbst aufgehen!« Helmold platzte
los: »Großartig; meine Lyrik als Abszeß! Aber du hast recht. Und nun
höre: geh' morgen in meine Malstatt, und sieh dir die Saharabilder,
Wodes Zorn und Frigges Feuertod an; ich glaube, jetzt werden dir die
Bilder gefallen.« Er drehte sich um und sah Hennig listiglustig an.
Der machte sein dümmstes Gesicht. »Ich habe nämlich an allen eine
Kleinigkeit geändert; rate mal, was?« Der andere nahm die Schultern
auf und ließ sie wieder fallen. »Malgründe habe ich daraus gemacht,
weggestrichen habe ich sie!« Er lachte ausgelassen.

Hennecke sprang mit feuerrotem Gesichte auf: »Mensch,« rief er,
»Helmke!« nahm ihn an den Ohren und küßte ihn, daß es knallte; »das ist
ja großartig!« Er faßte Line an den Arm und warf sie Helmold an den
Hals: »Küsse ihn, Mädchen, küsse ihn, bis er nicht mehr piep sagen
kann! Wir haben unsern Helmke wieder! Er ist gesund! Er wird keine
Heulkrämpfe mehr kriegen und anständige Leute im Ratskeller blamieren.«
Er sauste aus der Türe und kam nach einer Weile mit einer Flasche
Sekt und drei Gläsern zurück: »Kerl, darauf wollen wir aber mit dem
Besten anstoßen, das es in diesem Kretscham gibt! Heil, heil und zum
abermalten Male heil!«

Er schenkte wieder ein und fröhlich paffend kramte er, Line neben
sich in das Sofa ziehend, aus: »Was haben wir uns für Sorgen um
dich gemacht! Nicht wahr, Linchen?« Das Mädchen nickte und lächelte
ernsthaft. »Eine halbe Nacht heulte sie mir im Bette herum und
wimmerte: ›Was fehlt ihm bloß! was fehlt ihm bloß! wenn wir ihm doch
bloß helfen könnten!‹ Ich habe mich in meinem Leben noch nicht so
erschrocken, als wie du uns sagtest, daß du bei jedem Bild jetzt ein
Lied und eine Melodie hast! Und als ich dann deine gemalten Leitartikel
sah, da war ich ganz zertrümmert; am liebsten hätte ich dir eins
an den Hals gehauen! Kerl, was bin ich froh, daß du diese schwere
Infektion hinter dir hast! Denn ich war tatsächlich in Sorge um dich.
Du kamest so fein in die Höhe, und mit einem Male fielest du die ganze
Treppe wieder hinunter und fingest an zu malen, als läge dir etwas am
schwarzen Adler. Übrigens: die weiße Haide ist auch fehlerhaft; es ist
eine Tautologie.« Helmold nickte. »Das Dümmste ist schon heraus; das
andere kommt noch. Ja, ich war schön in den Dreck gefallen.« Er pfiff
laut: »Das macht die Liebe ganz allein!« Hennig sah ihn von der Seite
an, lachte dann und sagte: »Auf der großen Diele sieht es sengerich
aus; die Schadhörstener Rauhbeine sind da; es riecht nach Kloppe!«

Als sie auf die Diele traten, Line zwischen sich, kam von dem
Ausschanke her ein heiseres Hohnlachen; da standen die Schadhörstener,
prahlten und tranken sich Frechheit an. Helmold ging vorbei, ohne
sie anzusehen, und ohne darauf zu achten, daß es hinter ihm herflog:
»Kiek den Stadtjapper! Der hat sich die Waden ausgestoppt!« Brüllendes
Hohnlachen folgte dem Witze. Die Freunde gingen auf die Stillenlieber
Jungens zu; Helmold sagte ganz laut: »In Schadhorsten haben sie wohl
kein Geld für ein eigenes Erntebier? Und da tanzen sie wohl bloß, wenn
sie eine Handvoll Schrote auf den Hintern kriegen!« Die Stillenlieber
lachten hell auf; die Schadhorstener brummten wie Dächse, denn zwei von
ihnen hatten wegen Wilderns gesessen.

Den Walzer ließ Helmold vorbeigehen; Hennig und Line tanzten ihn.
Als sie zum vierten Male bei den Schadhörstenern vorbeikamen, wurde
aus ihrer Mitte ein junger Bengel so gegen Line gestoßen, daß sie
stolperte; aber Hennecke hielt sie und trat einem Schadhörstener mit
Absicht so auf die große Zehe, daß der Mensch die Zigarre aus dem Munde
fallen ließ.

Helmold bestellte bei der Musik die Hamburger Polka; die Trompeter
bliesen sogleich an. Er klatschte in die Hände und winkte Annemieken
heran; mit hochaufgerichtetem Kopfe ging sie quer über die Diele und
stellte sich neben ihn. »Dunnerkiel,« sagte Hennig zu Line; aber was er
sich dachte, sagte er nicht.

Die Musik legte los; hastig liefen die verrückten Töne hintereinander
her. Helmold und Annemieken tanzten vor, dann kam Klaus Ruter, der
Sohn des Vorstehers, mit seinem Schatz, und darauf Hennig und Line
und dann die anderen Stillenlieber. Die Schadhörstener machten lange
Augen; solch Tanzen hatten sie noch kein Mal gesehen; aber Helmold
hatte vorher eine Runde Portwein ausgegeben, und der hatte die Knochen
geschmiert. Er tanzte gerade auf die Schadhörstener los, schlug ihnen
die Füße dicht vor den Gesichtern vorbei und sah durch sie durch, als
wenn sie Luft waren. Sie ärgerten sich blau und blaß, trauten sich aber
nicht aus ihrem Winkel heraus, denn die Stillenlieber Jungens hatten
keine guten Augen, und der Schadhörstener Hauptschläger sollte erst
noch kommen.

Mit dumpfem Getrampel und gellendem Aufjuchen brach der Tanz ab; die
Stillenlieber Jungens hatten alle rote Köpfe, und ihren Mädchen gingen
die Schürzenlätze auf und ab. »Kinder!« schrie Hagenrieder und schlug
auf den Tisch, daß die Gläser Polka tanzten, »ich habe von Morgen
den dicken Happbock vom Schandenholz dode geschossen; darauf will
ich einen ausgeben. Frau Pohlmann, sechs Buddeln Rotkopp und eine
Kiste Ziehgarr'n!« Die Schadhörstener, die sich erst alle umgedreht
hatten, als er so losprahlte, machten schnell wieder kehrt, als der
Wein herbeigeschleppt wurde. Aber dann lachten sie, denn Christel
Remmert, der Sohn ihres Vorstehers und der Hauptschläger weit und
breit, trat ein, gerade als die Stillenlieber mit Hagenrieder und
Hennecke anstießen und lauthals hoch riefen, als Helmold schrie: »Hoch
Stillenliebe und alles, was sich dazu rechnet, und die Knochen für die
Hunde vor der Türe!«

Christel Remmert ging quer über die Diele, warf der Musik einen Taler
hin und schrie: »Solo für Schadhorsten!« Die Musiker standen auf und
stimmten einen Walzer an. Die Stillenlieber tranken ihre Gläser aus
und stellten sich vor ihre Mädchen. In der vordersten Reihe standen
Hagenrieder, Hennecke und Ruter, die Hände in den Taschen, die Zigarren
in den Mundwinkeln.

Remmert trat vor sie hin, klatschte in die Hände und winkte Annemieken,
und zwei andere Schadhörstener machten es bei Line und Ruters Mädchen
ebenso, aber die Mädchen lachten sie aus. Da versuchte Remmert,
sich zwischen dem Maler und seinem Freunde durchzudrängen, erst mit
der Schulter, und als das nicht gehen wollte, indem er sie mit den
Händen auseinanderschob. Aber Helmold stieß ihn vor die Brust, daß er
zurücktaumelte.

»Teuf, du Aas!« schrie der lange Kerl und sprang auf den Maler zu;
der trat zur Seite und schlug ihm mit einer schnellen Fußbewegung die
Beine unter dem Leibe weg, so daß er schwer auf die Diele hinstürzte.
Auf ihn fiel ein anderer Bengel aus Schadhorsten, den Hennecke in die
Herzgrube geboxt hatte, und da schrie Klaus Ruter: »Die Fenster auf!«,
sprang mitten zwischen die Fremden, packte den Stärksten von ihnen an
Brust und Hosenlatz, hob ihn auf, warf ihn zwischen die Stühle, daß es
krachte, griff wieder zu, schleppte ihn zum Fenster und warf ihn in die
Mistgrube.

Die Stillenlieber brüllten vor Vergnügen, und Helmold auch. Da hörte
er hinter sich einen Schrei, und als er sich umdrehte, sah er Remmerts
kreideweißes Gesicht und eine Hand, die ein Messer hielt. Im nächsten
Augenblicke aber war das Gesicht rotgestreift, und das Messer fiel
zu Boden; Annemieken hatte dem Heimtücker eine Weinflasche so in das
Gesicht geschlagen, daß ihm die Scherben Mund und Nase zerschnitten.

Im nächsten Augenblicke stand kein Schadhörstener mehr auf den
Beinen. Moormann, der von der Gaststube aus zugesehen hatte, rief:
»Sie gebrauchen das Messer!« Sofort standen die acht Stillenlieber
Bauern den jungen Leuten aus dem Orte bei, und nun flogen die
Fremden kopfoberst, kopfunterst teils aus der großen Tür, teils aus
dem Fenster, und die diesen Weg gehen mußten, lernten dabei, wie
Stalljauche schmeckt. Helmold und Hennig halfen tüchtig mit, und dabei
bekam der erste einen Schlag mit einem Bierglase auf die Backe, daß er
einen fingerlangen Schnitt davon behielt. Er ließ sich schnell nach
Ohlenwohle fahren, wo der Arzt wohnte, und kam nach anderthalb Stunden
geflickt und vernüchtert wieder, aß wie ein Wolf und tanzte bis in die
zwölfte Stunde. Dann brachte er Annemieken nach Hause und saß hinterher
mit Hennecke und den Bauern noch beim Biere. Frisch und munter wachte
er am anderen Morgen um acht Uhr auf, frühstückte mit Hennig und Line
und fuhr sie zur Haltestelle.

Auf dem Rückwege fiel ihm ein, daß er seit dem vorigen Nachmittage noch
nicht an Swaantje gedacht hatte, und nun er das tat, schien sie ihm nur
noch ein Schatten zu sein. Als er nach dem Mittagessen auf dem Sofa
lag und den Spielfliegen zusah, die unter den Deckenbalken tanzten,
überlegte er sich seine Lage in aller Ruhe. »Sieben Jahre lang hat mir
diese Liebe in den Knochen gesteckt; ein Jahr lang war sie akut. Das
genügt mir; jetzt ist Schluß«, sann er. »Ein Loch behalte ich immer
davon, das weiß ich; ungeküßte Küsse und ungeschlagene Schläge, das
ist das bitterste Weh. Aber schließlich vernarbt alles und schmerzt
nur noch ab und zu bei Wetterwechsel.« Er dachte geflissentlich an das
Mädchen; aber seine Gedanken waren nicht hell und zart wie das Laub der
Maibuchen, und nicht welk und mürbe, wie Fallaub, sie waren hart und
fest, wie das Buchenblatt, das sich schon gewendet hat.

»Im Grunde hat mir die Sache nur genützt,« überlegte er; »bisher
war ich ein Junge, ein Kind; jetzt habe ich mich entweiblicht und
vermännlicht. Ich will jetzt nur noch tun, was ich will, und mich unter
keinen fremden Willen mehr ducken. Ich werde küssen, was mir gefällt,
und zu Boden schlagen, was mir vor die Pferde kommt.«

Es klopfte leise an die Tür. Er rief: »Herein, wenn es kein
Geldbriefträger ist!« Die Wirtin kam mit dem Kaffee. Sie hatte den
ganzen Tag mit ihm gemuckt, Annemiekens wegen, und als er sie vorhin
in der kleinen Stube umfassen wollte, hatte sie sich ihm schweigend
entzogen. Jetzt stellte sie ihm ihr feinstes Geschirr auf den Tisch und
einen bunten Strauß dazu, und als er sich in der Sofaecke reckte und
unter herrischem Augenaufschlage fragte: »Ist das alles?« da warf sie
sich in seine Arme und küßte ihn, wie sie ihn noch nie geküßt hatte.

»So werde ich das fortan immer machen,« beschloß er, als sie ihn
verlassen hatte und er seine Zigarre rauchte; »den Hirschen und den
Männern werde ich höflich entgegengehen und die Frauenzimmer auf mich
zukommen lassen. Das Hinterherlaufen hat nun ein Ende. Moormann hat
recht.«

Ruhig und bedächtig machte er sich für die Nachmittagsbrunft zurecht,
nachdem er Grete eine Mohnblumenkarte gemalt und in den Kasten gesteckt
hatte.



Die Wundfährte


Seine Frau freute sich, als er braungebrannt und helläugig zurückkam.
»Aber wie bist zu dem schönen Schmisse gekommen, Helmold?« fragte sie.
»Ja,« sagte er und lachte, »bei der Schweißarbeit geht es oft nicht
gerade säuberlich her, und die drei Geweihe sind den Krätzer schon
wert.« Er schämte sich gar nicht, daß er um die Wahrheit herumging.
Früher hatte er seiner Frau alles, aber auch alles gesagt und sich in
Hemdsärmel und ohne Kragen vor ihr gezeigt; das sollte nicht wieder
vorkommen.

Nach dem Abendessen sagte er: »Ich muß noch ausgehen; wie lange ich
bleibe, weiß ich nicht.« Seine Frau machte ein etwas beleidigtes
Gesicht: »Gleich den ersten Abend?« Er faßte sie unter das Kinn und
küßte sie: »Jawohl, mein Herze; es geht nicht anders.« Er ging erst
ziellos auf der Hauptstraße hin und her, setzte sich dann anderthalb
Stunden in ein Kaffeehaus, spielte mit einem ihm unbekannten Herrn
Billard und ging gegen zehn Uhr nach Hause. Grete, die etwas blaß und
ermüdet aussah, lachte vor Glück, als er so früh und mit so fröhlichen
Augen zurückkam, rückte ihm den bequemsten Sessel hin, brachte ihm Wein
und Zigarren und räumte dann auf.

Er sah ihr nach und freute sich über ihre vornehme Erscheinung, ihr
schönes Haar und ihre frischen Bewegungen. »Sie ist eigentlich doch die
Schönste!« dachte er und machte so verliebte Augen, daß sie sich auf
seinen Schoß setzte. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und meinte:
»Ich danke dir auch sehr für die wunderschöne Karte; es war nur eine
in zwei Wochen, aber es ist ja auch Herbst!«

Sie besann sich einen Augenblick, unterdes sie ihm bald die Hände
streichelte, bald den Nacken kraulte, und dann sagte sie mit etwas
verlegener Stimme: »Ich habe dir auch etwas zu schenken: ich bin aus
dem Verein ausgetreten. Weißt du, das ging mir doch zu weit: das ist
kein Frauenbildungsverein mehr, das ist ein Vermännerungsklub. Und
dann diese Geschichten, die da vorgekommen sind! Die überspannte Frau
Kelling ist mit einem Kalifritzen ausgerückt und hat ihren netten Mann
und die reizenden Kinder sitzen lassen, und Frau von Besentzien läßt
sich scheiden. ›Mein Mann ist mir geistig nicht gewachsen,‹ hat die
Gans gesagt. Aber das schlimmste ist die Sache mit Professor Detten,
du weißt doch, der uns immer die glänzenden Vorträge über Frauenkultur
hielt. Jetzt hat er einen Haufen Geld geerbt, und was tut er? Er
heiratet die Köchin seiner Mutter!«

Helmold lachte, daß ihm die Arme flogen: »Ja, das ist allerdings
eine Gemeinheit sondergleichen, wo er doch in dem Vereine ein so
wohlassortiertes Lager von ge-, ver- und überbildeten Dämlichkeiten
hatte. Aber ich habe es dir ja früher oft gesagt: die radikale
Frauenbewegung hat sehr viel Gutes; sie verekelt allen ernsthaften
Männern die Damen und veranlaßt sie, Mädchen zu freien, die ihren
Männern weiter nichts als Frauen sein wollen und ihren Kindern Mütter.
Übrigens, so sehr ich mich freue, daß du aus der Blase heraus bist, in
die du vernünftige Frau gar nicht hineinpaßt, meinetwegen hättest du
das nicht zu tun brauchen. So ein bißchen Sport will jeder Mensch neben
dem Alltagsleben haben.«

Es gingen einige schöne Wochen in das Land; Helmold arbeitete fleißig,
aber ohne Überstürzung. Er malte den Hintergrund zu Swaantjes Bild um,
gab ihrem äußeren Gesichte einen weichen Zug, brachte aber dahinter
etwas rätselhaft Hartes an, das niemand fassen konnte, das aber jeder
fühlte, und umgab das Bild mit einem dunkelgrünen, gleißenden, durch
grellrote Perlen gehobenen Rahmen, der die Wirkung von reich tragenden
Stechpalmen andeutete. Als er sein Malzeichen unter das Bild setzte,
pfiff er das freche Lied von der Lüneburger Haide so laut, daß Grete
angestürzt kam und ihn fragte: »Du pfeifst das üble Lied, und so denke
ich, ich darf mal kommen!« Er nickte und sagte, auf das Bild weisend:
»So! vorher war es wabbliger Kitsch, jetzt ist es etwas. Nicht wahr,
Gretechien?« Sie nickte; frei wurde es ihr um das Herz. Seine Stimme
war ohne Unterklang, seine Augen sprachen nur von dem Bildnisse und
nicht ein bißchen von dem Mädchen, das es darstellte. Sie hätte
aufschreien mögen vor Glück. Doch der Brief, den sie in der Hand hielt,
verbot ihr das.

»Helmold,« begann sie, und ihre Stimme duckte sich, »hier lies mal.
Swaantje geht es nicht gut. Sie bittet mich, zu kommen, denn Muhme
Gese, schreibt sie, fiele ihr doch etwas auf die Nerven. Was meinst du,
soll ich fahren?« Sie setzte sich auf das Ruhebett, und er nahm in dem
Sessel Platz. Langsam und bedächtig las er den Brief. Bei jeder Zeile
wurde seine Stirne krauser; aber obwohl er tiefes Mitleid empfand,
spöttelte er in sich doch über die verlogene, oder, wie er sich selber
verbesserte, verbogene Schrift und den gequälten Humor, der den ganzen
Brief durchzog. Er gab den Brief zurück und sagte: »Natürlich fährst
du; sie braucht einen Menschen, den sie wirklich liebt; die alten
Leute bieten ihr so gut wie nichts. Ich glaube, sie ist von ihnen
mit Altersschwäche angesteckt, denn Ohm Ollig und Tante Gese sind,
meine ich, schon mit Arterienverkalkung und Hämorrhoiden auf die Welt
gekommen, in geistiger Beziehung wenigstens sicher. Fahre sofort und
muntere sie auf. Übrigens Thorbergs fahren erst nach Neujahr; sein
Prokurist ist krank, schreibt er mir, und es ist jetzt zu viel zu tun.
Schade! Was Swaantje fehlt, ist frische Luft und neue Menschen.«

Seine Frau hatte ihn aufmerksam angesehen, solange er sprach. War das
derselbe Mann, der jüngst noch fast einen Tobsuchtsanfall bekommen
hatte, als sie sich zwischen ihn und das Mädchen stellte? Ein
sonderbares Angstgefühl hielt ihr den Atem fest. Sie betrachtete ihn,
während er Swaantjes Bild an den ersten besten Nagel hängte, ganz
aufmerksam. Es war ihr Helmcke, aber er war es doch nicht; es lag eine
Ruhe und eine Gelassenheit in seinem Gesichte, die sie erschreckte. Der
dummejungenhafte Zug, der ihre Lust und ihr Leid gewesen war, fehlte
gänzlich. Schon die Art und Weise, wie er schritt, befremdete sie, und
als er ganz behutsam die Zigarre einschnitt, langsam das Streichholz
entzündete, mit großer Aufmerksamkeit die Zigarre ansteckte, das
Zündholz ausblies und in den Dreifuß fallen ließ, kam er ihr wie ein
ganz anderer Mensch vor, wie ein Mann, der weit von ihr gerückt war und
hoch über ihr stand. Wenn er früher eine Zigarre ansteckte, ging das
immer hopphopp. Und wie er rauchte! wie ein alter Geheimrat. Und alt
war er geworden; es war nicht das graue Haar über den Ohren, es waren
nicht die scharfen Falten hinter dem Munde, und es war auch nicht ein
Altern, sondern eine Ausgereiftheit. Niemals mehr würde er poltern, das
sah sie, nie wieder grob werden, aber sich auch niemals wieder wie ein
Kind an sie schmiegen.

Die Angst drückte ihr die eiskalte Hand auf die Stirne. Sie stand auf,
legte ihrem Manne die Arme um den Hals und flüsterte: »Helmold, fahre
du hin!« Er machte eine abwehrende Bewegung. »Höre zu!« fuhr sie fort,
»während du in Stillenliebe warest, habe ich über die ganze Sache sehr
viel nachgedacht. Du hast ganz recht gehabt; erst habe ich dich zu
Swaantje hingestoßen, und dann riß ich dich zurück. Das war schlecht
von mir, und dumm. Aber du verstehst?« sie lehnte sich an ihn, »ich
hatte solche Angst, daß sie dir mehr würde als ich, und wenn ich dich
ihr auch sonst gern gegönnt hätte, und sie dir, Zweitfrau wollte ich
doch nicht sein. Aber jetzt,« sie stockte und sprach heiser weiter,
ohne ihn anzusehen, »jetzt weiß ich, daß du mir doch ganz und immer
gehörst, auch wenn, wenn,« sie atmete erleichtert auf und hob ihr
Gesicht zu ihm empor, und ihre Augen waren mit Tränen gefüllt, »wenn
sie ganz dein geworden ist. Und deshalb, liebster Mann, fahre hin und
denke, daß ich nicht deine Frau, deine Liebste bin, sondern dein bester
Freund, der dir alles gerne gönnt, was dein Herz fröhlich macht. Denn
ich habe dich lieb. Und Swaantje auch.«

Helmold fühlte, daß ihm die Augen feucht wurden, aber er jagte die
Tränen dahin, wo sie hingehörten. Er küßte seine Frau auf die Stirne,
nahm sie um den Leib und zog sie, sich in den Sessel gleiten lassend,
auf seinen Schoß. »Sieh mal, Grete,« begann er mit etwas rauher Stimme,
»hättest du eher so gesprochen, so hättest du mir viele bittere Wochen
erspart, und dir auch. Aber alles auf der Welt hat seine Zeit. Zudem
war ich damals so krank, daß du gar nicht wissen konntest, ob das, was
ich wollte, einem zwingenden Grunde oder einer Einbildung entsprang.
Wir wollen von dieser Sache nie wieder sprechen, denn ich glaube, ich
bin darüber hinaus. Jedenfalls bin ich dir herzlich dankbar für deine
gütigen Worte, und rechne dir die Selbstüberwindung, die sie dich auf
jeden Fall kosteten, sehr hoch an. Was nun die praktische Seite deines
Vorschlages anbetrifft, so kommt hier lediglich Swaantje in Frage, und
Swaantje braucht, so scheint es mir, jetzt mehr eine Schwester denn
einen Bruder. Grüße sie herzlich von mir, und sage ihr, sie solle sich
zusammenreißen und sich mit Italien und Spanien im voraus trösten, und
schustere Tante Gesina einmal gehörig zurecht, das heißt, in Güte,
denn Grobheiten habe ich ihr damals so viele gesagt, daß ihr Bedarf
vorläufig gedeckt sein wird.«

Sie sah ihn ungläubig an. »Übrigens,« fuhr er fort, »mache nicht
solch ein Passionsgesicht! So schlimm wird es mit ihr nicht stehen;
Neuralgiker sind zähe, das sieht man an Bismarck. Der Tausend, du
siehst ja wie Buttermilch aus! Lege dich einen Augenblick hin!« Er
führte sie nach dem Ruhebette, deckte sie zu und streichelte ihr so
lange die Stirne, bis sie einzuschlafen schien.

Aber sie schlief nicht, sie dämmerte nur. Gespenstige Vorstellungen
wisperten ihr seltsame Worte zu. »Wenn er sie nicht mehr liebt, liebt
er dich auch nicht mehr,« flüsterten sie; »du bist rot und warm, sie
ist grün und kühl; ihr seid ihm Komplemente, bildet eine Einheit in
seinen Augen. Fühlst du nicht, daß er nur noch mit den Lippen küßt und
nicht mehr mit der Seele? Daß bloß seine Hände dich streicheln, aber
daß seine Gedanken nicht auf deiner Stirn sind? Daß nur seine Sinne
noch leben, sein Herz aber, das ist tot?«

Sie fuhr in die Höhe, seufzte gequält und sah verängstet um sich.
Ihr Mann streichelte ihr die Backen; sie blickte ihn verzweifelt an:
»Helmold,« schluchzte sie, »ich habe so schrecklich geträumt! Ich
möchte am liebsten nicht fahren. Ich habe solche Angst, ich glaube du,
daß du, du liebst Swaantje nicht mehr und mich auch nicht mehr. Wir
haben dir das Herz zertreten. Du bist so ganz anders geworden, du bist
mir so fremd, daß ich dich nicht ansehen kann, wie man seinen Mann
ansehen soll. Du kommst mir so vor, wie damals, als du auf einmal ohne
Bart nach Hause kamest. Helmold,« stöhnte sie und faßte seinen Kopf
mit beiden Händen, »ist das wahr? Ich habe jetzt immer so viel Angst.
Fühle, wie mein Herz klopft. Komm mit, du und ich und Swaantje, wir
drei wollen uns so lieb haben, wie noch niemals Menschen sich lieb
hatten.« Sie schluchzte fassungslos in das Kissen hinein.

»Gretechien, mein dummes Gretechien,« scherzte er und liebkoste sie;
»du siehst Gespensterchien! oder willst du dich rächen? denn genau
solchen Unsinn habe ich damals auch von dir gedacht. Glaubst du, solche
rosenroten Stunden, wie wir sie erlebten, könnten verblassen und
verwelken? Waren diese Wochen nicht ganz so, wie vor acht Jahren, als
wir Tag für Tag zu Frigge beteten und sie lobten, wie sie gelobt werden
will? Gewiß bin ich anders geworden, aber auch ohne das, was sich die
letzte Zeit begab, wäre ich mehr Mann geworden, denn allzulange bin ich
Junge gewesen. Und bist du nicht auch in den beiden letzten Wochen eine
andere geworden? Glaubst du, daß du noch einmal wieder zu mir so ein
hartes Gesicht machen kannst, wenn ich ein bißchen ungezogen bin?« Sie
lächelte unter Tränen und schüttelte den Kopf und zog ihn fest an ihre
Brust, hungrig seine Lippen suchend.

Am Nachmittage brachte Helmold sie, Swaan und Sweenechien samt der
Kindermagd zur Bahn, denn er hatte bestimmt, daß die Kinder mitfahren
sollten. »Sie haben Ferien, und Swaanhof ist für sie das, was für uns
die Riviera. Und sonst bangst du dich nach ihnen. Außerdem hat Muhme
Gese dann etwas mehr zu tun und läßt Swaantje in Ruhe. Und bleibe,
solange es dir da gefällt. Sage aber nichts von dem Bilde; das soll sie
als Julklapp haben.«

Als er nach Hause ging, mußte er immer noch an das reizende Bild in
dem Fenster des Eisenbahnwagens denken: seine schöne Frau zwischen
den beiden Blondköpfen und dahinter das niedliche Mädchen, glühend
vor Reisefieber. Und welche glücklichen Augen Grete gehabt hatte und
welchen weichen bräutlichen Mund!

Stolz leuchteten seine Augen, als er die Straße entlang ging, und alle
Frauen und Mädchen, die ihm begegneten, sahen ihn an, als wollten sie
sagen: »Muß der aber küssen können!« Er nahm alle diese Blicke dankbar
hin, nutzte sie aber nicht aus, trotz des überlegenen Paschagefühles,
das ihm die Muskeln schwellte.

Er dachte an den neuen großen Auftrag, den er bekommen hatte. Anfangs
hatte er sich darüber geärgert, denn es handelte sich um eine
naturgetreue Wiedergabe von drei Landschaftsbildern für den Speisesaal
auf Rottenwiede, dem Stammschlosse des Freiherrn von der Rotten. Er
hatte angenommen, weil er den Preis bestimmen durfte, und er hatte sehr
viel gefordert. Jetzt freute er sich über den Auftrag. »Denn die enge
stoffliche Begrenzung«, dachte er, »schließlich ist sie doch keine
größere Einengung als die, die bei jedem Bildnisse Voraussetzung ist.«
Und er wollte einmal den Nurlandschaftern zeigen, was es heißt, eine
Landschaft wörtlich abzuschreiben und doch einen echten Hagenrieder
aus ihr zu machen. Ein Wort Oskar Wildes über den Wert des Reimes fiel
ihm ein, über den wohltätigen Zwang, den er auf das Gemüt des Dichters
ausübt, und er sagte sich: »Künstler ist nur der, der vor keinem
Auftrage zittert.« Er ging schneller, denn die Hand juckte ihn nach der
Arbeit.

Als er am anderen Morgen mitten im Schaffen war, fröhlich vor sich
hinsummend, sah er, daß die Großmagd sich im Garten zu schaffen machte.
Er hatte es immer mit Freude angesehen, das große, schlanke, herrlich
gewachsene Mädchen. »Sonnenschein über Apfelblüten,« dachte er, als er
ihr goldenes Haar und ihr rosiges Gesicht ab und zu über den Büschen
auftauchen sah. Er freute sich über das prächtig entwickelte Muskelwerk
ihrer Unterarme und den guten Sitz ihres frischen Waschkleides, und
er dachte, indem er dem Spiele der Schulterblätter und der Lenden
unter dem rosenrot und weiß gestreiften Rocke zusah: »Muß die einen
köstlichen, unverbildeten Akt haben!«

Plötzlich fand er, daß das Mittelbild sehr gewinnen würde, wenn im
Vordergrunde rechts Figuren wären, und er sah Luise da stehen und,
ein Kind an der Hand, über die Haide nach dem Dorfe hinsehen. Er trat
aus der Tür und rief das Mädchen in die Werkstatt. »Hören Sie mal,
Luise,« begann er, sie mit Wohlgefallen ansehend. Sie wurde über
und über rot und konnte ihn nicht anblicken. »Ich brauche hier für
das Bild eine schlanke Figur, und Sie würden großartig dazu passen.
Würden Sie so gut sein und mir dazu stehen?« Das Gesicht des Mädchens
färbte sich noch roter: »Ich will alles tun, was Sie wünschen, Herr
Hagenrieder,« antwortete sie leise, und ihre Stimme zitterte. »Aber
in dem Kleide geht es nicht,« meinte er, und da er gerade das Bild
betrachtete und dann in das Nebengemach ging, um sich Farbe und Pinsel
herauszusuchen, so sah er nicht, was hinter ihm vorging. Als er nun aus
dem Vorratsraume zurückkehrte, stutzte er und stand mit heißem Gesichte
vor dem Mädchen, das gerade dabei war, das letzte Kleidungsstück, das
ihren Leib verhüllte, abzulegen.

»Halt!« rief er und hob die Hand; »so habe ich das nicht gemeint,
Luise. Ich wollte, Sie sollten sich ihr Dorfkleid anziehen; denn so
brauche ich Sie hier und nicht in Ihrem städtischen Zeug.« Das Mädchen,
dessen Gesicht aufgeflammt war, als er ihm gegenüberstand, wurde
kreidebleich. Schlaff ließ es die Arme an den Hüften herabhängen, hielt
den Kopf tief gesenkt und stotterte: »Ich, ich dachte, Sie meinten
das so, weil doch die Modellmädchen und deshalb.« Ihr Herr suchte
nach Luft. Das Blut kribbelte ihm unter den Haaren, der Atem wollte
ihm nicht über die Lippen, und seine Augen klammerten sich an den
Fußboden. »Luise,« sagte er, und heiser klang seine Stimme, »es wäre
sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie mir einmal Akt stehen wollten, denn
solche Figur, wie Ihre, die finde ich wohl nie wieder. Aber was wird
Ihr Bräutigam sagen?« Das Mädchen nahm den Kopf in die Höhe und sah ihn
an, und ihre Augen schienen ihm zu leuchten, als sie erwiderte: »Das
ist aus.« Erstaunt fragte er: »Aus? Warum denn? Es war doch eine gute
Partie für Sie?« Kühl antwortete sie: »Ja, er war einmal eklig gegen
seine Mutter, und er schämte sich, weil sie eine Waschfrau ist.« Ohne
daran zu denken, daß das Mädchen nur noch das Hemd anhatte, trat er auf
sie zu und faßte ihre Hand, denn er wollte sie trösten, und da kam in
ihre Augen ein Glanz, daß ihm auf einmal einfiel, daß sie vorhin gesagt
hatte: »Ich will alles tun, was Sie wünschen.« Dann war alles rosenrot
um ihn, und im selben Augenblicke hing das Mädchen an seiner Brust,
willenlos und willfährig. Ohne zu wissen, was er tat, nahm er hin, was
sie ihm gerne gab. Freude war in ihm, als sie ihn verlassen hatte. »Du
liebst sie,« dachte er; »und wer liebt, ist noch jung.«

Die Blutsbrüderschaft der Stedinger, ein loser Freundschaftsverein,
aus einer Mitschülervereinigung entstanden, hatte einen klobigen
Häuptlingsstuhl, auf dessen riesiger mennigroter Lehne in knallweißer
Pfefferkuchenschrift zu lesen war: »Der moralisch bessere Teil der
deutschen Studentenschaft ist ein ganz rauhbeiniges und freches
Gesindel, und dazu gehören wir!« An diesen protzigen Leitspruch mußte
Helmold denken, und er lächelte dabei vor sich hin. »Ja, ich bin ein
ganz unmoralischer Mensch,« dachte er, »und das bekömmt mich denn
so schön!« Er besah sich ganz genau und lächelte wieder, denn ein
Ausspruch von Hans von Bülow, den er sehr liebte, fiel ihm ein: »Die
Kunst steht über der Moral,« hatte der irgendwo geschrieben: »Der
Künstler, der würdige Priester seiner Kunst, hat, sei er im übrigen
auch wie er wolle, gerechten Anspruch auf höhere persönliche Geltung
als der einfache gute Mensch und Bürger.«

Er belehrte sich daraus also: »Ich bin äußerst schöpferisch als
Künstler, also auch als Mensch. Ich habe eine Welt in mir, die ich
nicht nur in Kunstwerken wiedergeben kann, sondern die ich auch durch
mein Leben verkörpern muß. Ich liebe alles, was sehr schön und sehr
gut ist, und eine große Zärtlichkeit drängt mich, es zu umfassen.
Aus Weibes Schoße bin ich geboren und fühle mich in Dankbarkeit
wieder dorthin gezwungen. Ein einziges Weib kann, ohne in Flammen
aufzugehen, alle die Liebe nicht ertragen, die ich dem Weibe als
solchem abzustatten mich für verpflichtet fühle, und verglimmen und
verkohlen würde ich, dürfte ich meine Liebe nicht hellauf lodern und
weithin leuchten lassen. Von jeher war, wo gesunde, einfache Sitten
herrschten, die Magd die Zweitfrau des Hausherrn. Sie sorgte für ihn,
sie schaffte für ihn, sie kannte alle seine Geheimnisse oft besser als
seine Ehefrau, denn sie machte sein Bett und sah, ob er gut geschlafen
hatte oder nicht. Er muß ihr dankbar sein, und wie kann ein Mann einem
Weibe besser Dank abstatten als durch Kuß und Umarmung?«

Er dachte an die reizende Magd, die ihm und seiner Frau in schweren
Jahren das Leben verschönt hatte durch ihr sonnenhelles Wesen, und er
sandte einen Seufzer der Reue dem Kusse nach, den er sich von ihr nicht
hatte nehmen mögen, weil ihr Herz für einen andern Mann schlug.

Alles das dachte er, wenn er frisch und fröhlich an den drei gewaltigen
Bildern malte. Er fühlte sich durchaus nicht minderwertig, weil seine
Magd seine Geliebte war; im Gegenteil, sein Gesicht blühte von Tag
zu Tag mehr auf, immer federnder wurde sein Schritt, und er schaffte
wieder, wie vor der Zeit, da Märzenschnee die Jungsaat seiner Seele
versengt hatte. Nie hatte er vor dem Jenseits gebangt, nie ein
Dankgefühl einem höheren Wesen gegenüber empfunden, aber jetzt hatte er
es in sich. »Gott,« dachte er, »wenn du bist, so bist, wie das Volk ihn
sich denkt, gütig und voller Verständnis für alles, was deine Kinder
tun, daß du mir, dem Manne, der die Höhe seiner Tage überschritten
hat, so viel blühende Jugend an das Herz legtest, damit er sich daran
erquicke, ich danke dir und will dafür zu dir beten, vorausgesetzt,
daß dir daran etwas gelegen ist; denn ich glaube, dir genügt es, deine
Geschöpfe glücklich zu wissen.«

Er verhehlte sich gar nicht, daß sein Verhältnis zu Luise eine
Gefahr für ihn wie für sie war. Sie entstammte einer hochachtbaren
Arbeiterfamilie und war streng kirchlich; zudem war sie seiner Frau von
Herzen zugetan. Doch sie war ebenso ganz und gar und nichts als nur
Weib, daß der Gedanke, eine Sünde zu begehen, ihr die Küsse, die sie
geschenkt bekam, auch nur ein ganz wenig vergällen konnten; denn sonst
wäre sie nicht in den beiden Wochen des Alleinseins mit ihrem Herrn
nur noch ansehnlicher geworden. Nie aber vergaß sie ihre Stellung,
niemals war sie, außer, wenn sein Arm sie umschlungen hielt, etwas
anderes als die Magd, die ihre Arbeit tat und dafür ihren Lohn erhielt.
Als seine Frau wiederkam und das Mädchen es mehr als einmal ansehen
mußte, wie die Ehegatten zärtlich zueinander waren, blieb ihr Benehmen
sich gleich, nur daß es Helmold schien, als ob sie der Frau gegenüber
noch mehr Willfährigkeit und Aufmerksamkeit darlegte, so daß diese
sagte: »Das Mädchen wird mir von Tag zu Tag lieber; sie tut, was sie
mir an den Augen absehen kann, und ich glaube, sie ist in dich gehörig
verschossen.«

Er mußte lächeln, als sie so redete; sie blieb trotz der einen
schlimmen Erfahrung immer noch das harmlose Gretechien ohne Arg und
Sorge und dachte sich nichts bei dem, was sie in ihrer frohen Art
dahinplauderte. So hatte sie auch, als sie von Swaanhof zurückkam, in
aller Unschuld von Swaantje ein so rührendes Bild gemalt, daß Helmold
schnell von etwas anderem sprach, denn er fühlte, daß die Sehnsucht
sich wieder vor ihn stellte und ihn bittend ansah, und so sagte er
denn: »Ich will ihr einen hübschen Brief schreiben, wenn ich ihr ihr
Bildnis schicke, und ein paar Bücher beilegen, die ihr Freude machen
werden und sie zerstreuen, bis sie nach Italien fährt.«

So kaufte er einige gute Werke, die ihr die Augen für alles das
öffnen sollten, was sie in der Fremde sehen würde, wählte auch einige
Bücher heiteren Inhalts, damit sie sich durch sie nötigenfalls über
ihre Schmerzen hinweglesen sollte, die, wie Grete ihm erzählte, oft
noch sehr arg waren, und an die er mit Bedauern dachte, doch ohne
den Wunsch, sie mit leise streichelnden Händen von ihrer Schläfe zu
entfernen. Dann und wann erhob sich zwar in seiner Seele das geheime
Wünschen und flüsterte begehrliche Worte, aber da ihn sein Weib mit
herzlicher Liebe erquickte und die Magd ihn mit untertäniger Hingebung
erfrischte, so glaubte er herauszufinden, daß er in Swaantje weiter
nichts gesehen habe als ein Sinnbild für seine starke Hinneigung zu dem
Weibe an sich, dem er durch die Eingehung der Ehe hatte entsagen müssen.

Das Gefühl von Gereiztheit seiner Frau gegenüber, unter dem er selber
am meisten gelitten hatte, war völlig verschwunden, seitdem er vor
ihr diese Heimlichkeit hatte. Er hatte vor ihr eine Schuld, aber eine
Schuld, die ihn nicht drückte, die ihn nur dazu antrieb, doppelt so
gut zu ihr zu sein, und mehr als je zuvor regelte er sein Benehmen ihr
gegenüber, wurde zärtlich wie ein Bräutigam und aufmerksam wie ein
Hausfreund.

Vor allem hütete er sich, sie mit seinen eigenen Angelegenheiten zu
behelligen, sobald diese unerquicklicher Art waren, und daran fehlte es
ihm nicht. Der Oberbürgermeister hatte es ihm nicht vergessen, daß er
ihn seinerzeit gezwungen hatte, ihn zuerst zu grüßen; er versuchte es
ihm heimzuzahlen, indem er die Ausschreibung eines Wettbewerbes für die
Ausschmückung des neuen Rathauses hintertrieb und es durchsetzte, daß
die Aufträge unter der Hand vergeben werden sollten. So lag die Gefahr
vor, daß die Hauptarbeiten recht mäßigen Malern zufielen, die es
keine Überwindung kostete, den Rücken zu beugen und Vorzimmerlungerei
zu treiben, worauf Helmold sich nicht einließ. Er tat überhaupt keine
Schritte, einen Auftrag zu bekommen, und bat Hennecke sogar, in der
Presse nicht für ihn einzutreten, zumal es ihm an Aufträgen nicht
fehlte.

Als er darum mit dem Oberbürgermeister bei dem Oberpräsidenten zum
Abendessen geladen war, und der Oberpräsident sagte: »Wir freuen
uns sehr auf das, was Sie im Rathause schaffen werden, lieber Herr
Hagenrieder, denn die Hauptgemälde werden Sie doch wohl bekommen,«
lächelte er verbindlich und sagte: »Sehr schmeichelhaft, Exzellenz,
aber in Hinsicht auf die vielen Aufträge, die ich anderweitig habe, war
die Stadt so rücksichtsvoll, mich nicht aufzufordern.« Die Hausfrau
lächelte, der Oberbürgermeister verschluckte sich und spielte während
des ganzen Abends das Mauerblümchen, während Hagenrieder, den die
Gastgeber sehr herangezogen, seinen Geist schillern ließ, so daß die
Oberpräsidentin ganz entzückt von ihm war und ihn bat, ein für allemal
sich als Gast an ihren offenen Tagen zu betrachten, eine Ehre, mit der
sie recht sparsam umging.

Drei Tage darauf schrieb das Stadtoberhaupt an ihn und fragte, ob er
die Wandgemälde für Rottenwiede sehen könne. Er kam, lobte mit einem
gewaltigen Aufwande von hohlen Redensarten das Werk, und als er ging,
hatte Hagenrieder die vier Wände des Sitzungssaales in dem neuen
Rathause und die Glasfenster im Treppenhause in der Tasche. Einige
Monate später ernannten ihn die städtischen Körperschaften zum Beirat
in Kunstfragen, nachdem ihm kurz vorher der Herzog den Professortitel
verliehen hatte. »So,« sagte er zu seiner Frau, »jetzt gelte ich sogar
bei den Stadtverordneten etwas, und das will etwas heißen, denn das
mehrste sind Heuochsen mit Eichenlaub und Schwertlilien.«

In voller Absicht stellte er sich jetzt in den Vordergrund der
Gesellschaft, soweit es seine Zeit erlaubte. Während er früher am
liebsten in Loden ging und sich halb bäuerlich trug, kleidete er sich
nun derartig modisch, ohne die Albernheiten der Mode mitzumachen, daß
er als einer der bestangezogenen Männer der Stadt galt und von allen
Gecken studiert wurde, denn nie war ein Stilfehler in seiner Kleidung,
obgleich, oder vielmehr, gerade weil er seine Kleidung ganz nach
eigenem Ermessen zusammenstellte.

»Der amüsanteste Mann, den wir haben,« sagte die Oberpräsidentin;
»schon als Erscheinung ein Genuß.« Er war zu einer ihrer Gesellschaften
in hochgeschlossener Weste gekommen, wie sie die Bauern trugen. »Wo
haben Sie denn den famosen Westenschnitt her, Herr Hagenrieder?«
fragte die Gräfin Tschelinski etwas spöttisch. »Von den Bauern, meine
Gnädigste, den einzigen Leuten, die heutzutage noch Kultur haben,«
versetzte er. Sie warf den Kopf zurück: »Und wir, Herr Professor?« Er
lächelte: »Sind nur zivilisiert!« Der Bildhauer Professor Brambach, ein
würdevoller Figurenfabrikant, versuchte ihn lächerlich zu machen, indem
er sagte: »Sehr praktische Tracht!« »Jawohl,« antwortete er ihm, »man
braucht nicht alle acht Tage ein reines Hemd anzuziehen.« Die Gräfin
schrie vor Vergnügen, und es gab eine gepfefferte Toilettendebatte.

»Sehen Sie, meine Herrschaften,« lehrte der Maler, »für den Pöbel ist
es ja erziehlich, zwingt die Mode ihn, ein Teil seiner Leibwäsche zu
zeigen; sonst läuft er am Ende vier Wochen in derselben Linnenhülle
herum. Wir aber brauchen den Beweis, daß wir uns reinlich halten,
nicht erst anzutreten; denn sonst müßten wir die umliegende Menschheit
durch einen mit dem Westenausschnitt übereinstimmenden Ausschnitt
in unseren unaussprechlichen Hosen davon überzeugen, daß die noch
unaussprechlicheren Unterbeinkleider ebenfalls durch Tadellosigkeit
glänzen.« Professor Brambach war entrüstet, die anderen quiekten vor
Vergnügen.

Dann kam die Damenkleidung an die Reihe. Hagenrieder erklärte: »Nur
im Reformkleid ist eine Frau angezogen; im Zweistöckigen ist sie
kuvertiert.« Scharf wurde widersprochen. »Beweis?« hieß es. Mit
todernstem Gesicht dozierte er: »Sie selber, meine Damen, denn Sie
tragen alle Reform.« Sie lärmten, denn nur die Gräfin trug sich so. In
lehrhaftem Tone fuhr er fort: »Dasjenige Kleidungsstück, das Ihnen am
teuersten ist, weil es Ihrem Herzen am nächsten steht, ist, soweit ich
in den Auslagen der Wäschemagazine darüber Studien machen konnte, nicht
zweistöckig, sondern besteht aus einem Stücke.« Die Gräfin schloß die
Augen bis auf einen kleinen Spalt, sah ihn von oben bis unten an, und
ihre Zungenspitze ging über ihre Lippen.

Als er nachher im Wintergarten mit ihr allein war, fragte sie mit
gemachter Harmlosigkeit: »Sie sagten vorhin, Herr Professor, schön
sei der Mensch nur im Arbeitskleide.« Er nickte ernsthaft. »Ja,
aber,« meinte sie, »eine Frau wie ich, in welchem Kostüm finden Sie
denn die am schönsten?« Er machte sein treuherzigstes Gesicht, als er
antwortete: »Auch im Arbeitskleide.« Sie fragte neugierig: »Und das
ist?« Mit kindlich naiven Augen sah er sie an, als er versetzte: »Das
Nachtkleid.« Sie machte ein halb entrüstetes, halb belustigtes Gesicht,
als sie ihm mit ihrem Fächer einen Schlag auf die Schulter gab und
zischte: »Unverschämter Mensch!« Aber als er sich glücklich lächelnd
verneigte und fragte: »Ich danke gehorsamst, gnädigste Gräfin; ich darf
diese Bemerkung doch wohl im Gewinnkonto eintragen?«, da lächelte sie,
und ihre Augen sagten: »Ich will alles tun, was Sie wünschen, Herr
Hagenrieder.«

Dann meinte sie leichthin: »Ich habe zu Hause allerlei Ahnen hängen,
die ein bißchen gichtbrüchig sind, und möchte von Ihnen wissen, ob
das zu heilen ist. Vielleicht sehen Sie sich die Bilder einmal an und
empfehlen mir einen Restaurator, wenn es sich noch lohnt.« Er sah ihr
mit heißen Blicken in die Augen: »Muß das gleich sein?« fragte er
und hielt ihr den gebogenen Arm hin. Sie drohte ihm mit dem Fächer,
lachte und sagte über die Schulter: »O nein. Aber wenn Sie morgen
nachmittag Zeit haben?« und ging dann zu den anderen Gästen. Als er
am anderen Tage zu ihr kam, empfing sie ihn in einem weichen losen
Kleide von weißer Wolle. Er erhob die Hände bis zu den Schultern: »Wie
wundervoll Sie aussehen, Gräfin; der Künstler dankt Ihnen.« Als er ihre
Handgelenke küßte, flüsterte es über seinem Kopfe: »Nur der Künstler?«
Er nahm sie in den Arm, raunte ihr in das Ohr: »O nein; der Mann dankt
noch viel mehr,« und dabei küßte er sie.

Die Gräfin blieb nicht die einzige Frau aus der Gesellschaft, die
sein wurde. Wenn er gewollt hätte, konnte er jeden Tag im Monat einen
anderen Mund küssen. Doch er ging auf Eroberungen nicht aus; wenn aber
ein Weib ihm ihre Neigung mit lächelnden Augen kredenzte, und sie
erregte sein Wohlgefallen, so nahm er dankbar die Labe hin. Mit jeder
Frauenseele, die sich ihm erschloß, glaubte er ein Stück Jenseitsdasein
mehr zu erwerben, wähnte er sein persönliches Leben zu verlängern. Wenn
er malte, sah er sich oft dastehen, umdrängt von vielen schönen Frauen
und Mädchen aus allen Kreisen, die ihre Herzen in den Händen hielten,
Herzen, aus denen frohlockende Flammen schlugen, die einen Duft von
Weihrauch verbreiteten.

Nur eine Lücke war in der Reihe der weißen Leiber, nur ein Gesicht
fehlte, nur ein Herz flammte und duftete nicht zwischen den anderen.
Denn je mehr rote Rosen er in seiner Erinnerung fand, um so stärker
trat wieder der Gedanke an die eine weiße Lilienblüte vor ihn. Er
wehrte ihn ab, trat ihn von sich, aber immer und immer wieder winselte
er vor seiner Seele herum, stahl sich in seine Träume und trabte vor
ihm her, wo er ging und stand. Er suchte sich dadurch von ihm zu
befreien, daß er nach Stillenliebe fuhr, auf Sauen pürschte und bei
Sophien und Annemieken Trost suchte. Er mietete sich in Ohlenwohle ein,
angeblich um Studien zu machen, in Wirklichkeit, um sich an Marieens
derber Art von der städtischen Überfeinerung zu erholen. Es half ihm
wenig; denn überall stand ein blasses, müdes Gesicht neben ihm und
zwei dunkelblaue, tiefumhofte Augen sahen ihn bittend an. Er schloß
alle Lichtbilder von Swaantje ein und jegliches Stück, das ihn an sie
erinnerte; aber dadurch wurde es nur noch ärger.

Er schrieb seinen Zustand auf das Übermaß von Arbeit und Geselligkeit,
das er sich aufgeladen hatte, schaffte langsamer, zog sich mehr zurück,
doch immer mehr nur quälte ihn Swaantje Swantenius, und ab und zu waren
seine Nächte wieder ohne Schlaf und seine Tage ohne Frische. So setzte
er sich denn kurz vor dem Julfeste hin und schrieb ihr einen langen
Brief, einen Brief, in dem er nur heiter von seinem äußeren Leben
plauderte, doch ihm war, als flüsterte jede Seite Worte der Liebe, und
als wäre jeder Buchstabe ein verstohlener Seufzer. Mit eigenen Händen
packte er Swaantjes Bild und einige Bücher ein, legte den Brief dazu
und sandte die Kiste nach Swaanhof.

Ihm war sofort leichter zumute; es schien ihm, als hielte er
Swaantje bei der Hand und plauderte mit ihr, und fröhlich wartete
er auf eine Antwort. Er hoffte auf weiter nichts, als auf einen im
kameradschaftlichen Tone gehaltenen Brief, hinter dessen Gitterwerk
von schwarzen Buchstaben vielleicht ein ganz klein wenig blumiges
Hoffnungsgrün für ihn sichtbar wurde. Aber erst einige Tage nach dem
Feste kam eine Sendung aus Swaanhof an ihn; sie enthielt eine lederne
Zigarettentasche, verziert mit der Sonnenrune, und eine Karte, auf der
die Worte standen: »Lieber Vetter, über die Bücher, das Bild und deinen
lieben Brief ganz besonders habe ich mich sehr gefreut. Wie schön, daß
es dir wieder gut geht! Hab tausend Dank. Dir und Grete herzlichen
Gruß. Deine Swaantje.«

Ganz fassungslos starrte er auf die Zeilen. Eine Absage für immer in
aller Form. »Laß mich in Ruhe!« hieß das. Er sah auf den Sessel, in dem
Swaantje gesessen hatte, als er sie um einen Kuß anbettelte, und nickte
mit dem Kopfe. Er holte sich alle Bilder des Mädchens aus Gretes Truhe,
sah eines nach dem anderen genau an und schüttelte den Kopf. Er nahm
wieder alles das durch, was er von Swaantje und sich gedacht hatte,
und sagte sich: »Es hilft alles nichts; sie wird mein Tod sein, mein
Vampir. Ich werde im Grabe keine Ruhe finden, wird sie nicht mein, und
bleibt sie nicht die Meine.«

Als Luise ihn zum Essen rief, sah sie ihn ganz erschrocken an, und
seine Frau fragte ihn: »Was ist dir, Liebster? du siehst so krank aus.«
Er lächelte ihr die Sorge fort: »Ich habe mich wohl erkältet, das Feuer
wollte nicht brennen.« Er legte sich nach dem Essen zu Bett und stand
erst am anderen Morgen wieder auf. Alle Arbeitslust war ihm vergangen,
und eine beschämende Schlaffheit beugte ihn nieder. »Geh nach
Stillenliebe!« riet ihm Grete. Er nickte. »Ja, Kind, ich muß hinaus; es
war ein bißchen viel Anspannung in der letzten Zeit. Ich will mir die
Knochen wieder munter pürschen.«

Als er den Koffer packte, zitterten ihm die Hände, so setzte ihm
das Fieber zu, und in der Eisenbahn lähmte ihn eine so ermattende
Schüchternheit, daß er es sich nicht verbat, als zwei dicke
Viehhändler, die einen frechen Schnapsgeruch verbreiteten, die Fenster
auf beiden Seiten aufrissen. Völlig durchgefroren und ganz blaß kam
er an, holte sich aus dem Grogglase wieder warmes Blut und setzte
sich auf Sauen an. Gleich am ersten Abend erlegte er eine angehende
Sau, und als er zurückkam, fühlte er sich wohl und munter. Aber wohl
zehn Male wachte er in der Nacht vor Durst auf, und jedesmal, bevor
er einschlief, sah er in seinem fieberhaften Zustande Swaantjes
Gesicht auf sich zuschwimmen, weiß, kalt, ohne Haare und Augenbrauen,
mit blicklosen Augen und einem Mund, dessen Lippen sich versteckten.
Sehnsüchtig nannte er es bei Namen und versuchte es zu streicheln, aber
sofort zerfloß es zu nichts.

Müde und unfrisch wachte er um elf Uhr auf, und die Wirtin sagte
bedauernd: »Sie gefallen mir gar nicht mehr; ich glaube, nach dem
Essen bringe ich Sie gleich wieder zu Bette, mache Ihnen einen Tee und
decke Sie bis zum Hals zu.« Er ließ sich ihre Fürsorge gefallen und
fühlte sich dadurch erwärmt; doch bald darauf war ihm noch eisiger
und unglücklicher zumute, und heftige Fieberschauer stießen ihn aus
dem Halbschlafe. Sein Herz klopfte, sein Blut kochte, aus dem Muster
der Tapete lösten sich fratzenhafte Gesichter los, jeder Laut von der
Straße drang in zehnfacher Stärke zu ihm, und jede Farbe, die er um
sich sah, sang ihm ein böses Lied.

So stand er bald auf, zog sich an, ging aber nicht hinaus, sondern
spielte mit Klaus Ruter und dem Förster Karten und trank sich das
Fieber fort. Am anderen Morgen fühlte er sich besser.

Es regnete nun drei Tage lang, und dann gab es Plattfrost. Eines
Abends, als er reichlich müde von dem weiten Wege und durch und
durch kalt vom langen Passen bei Annemieken saß und sich die Füße
am Torffeuer wärmte, klagte er ihr sein Leid, und als er sie dabei
ansah, kam sie ihm ganz anders vor als sonst, und er fand, daß das
junge Weib ein neues Gesicht und fremde Bewegungen hatte. Sah sie
eben noch wie Sophiee Pohlmann aus, so schien es ihm gleich darauf,
daß sie ihn mit den Augen der Gräfin anblickte; dann wieder war sie
Grete, gleich darauf Swaantje und hinterher Mariee oder Luise oder
eine andere, die er geküßt hatte. Außerdem war die Diele bald hoch und
hell, bald niedrig und duster; eben brannte das Feuer blau, gleich
darauf grün und dann gar nicht; war die Katze jetzt ganz klein, so fing
sie mit einem Male an, unheimlich zu wachsen, und während es vorhin
nach Schweinefutter roch, war plötzlich ein strenger Duft von weißen
Lilien da. Nun fing auch noch der Kesselhaken an, ihm böse Gesichter zu
schneiden, um ihn sofort durch ein freundliches Grinsen zu versöhnen,
aber da begann das Zinngeschirr an der Feuerwand, ihn auszulachen,
das Spinnrad machte ihm einen albernen Knix, der Tranküsel winkte
ihm spöttisch zu, und die Mährenköpfe am Herdrahmen wieherten und
schnaubten gewaltig.

Doch alles das ängstigte ihn kein bißchen, sondern machte ihm
Vergnügen. Er trank ein Glas Grog nach dem anderen und erzählte seine
tollsten Witze, bis ihm einfiel, daß er nun schon drei Tage auf
Spurschnee wartete, und lachend befahl er Annemieken, ihm welchen zu
besorgen. Das Mädchen, das tüchtig mitgehalten hatte und dessen Augen
von dem heißen Grog und den wilden Witzen nur so blitzten, lachte und
sagte: »Ich werde es Großmutter sagen, und die soll dir geben, was du
haben willst; und dann werde ich dir sagen, was du mir dafür schenken
sollst.«

Da ging die Großmutter zu der Herdflamme und sagte ihr den Spruch, den
ihre Mutter sie gelehrt hatte, ehe daß sie starb, und die Flamme lachte
und nickte und wurde gleich siebenmal so lang und leckte mit sieben
Zungen am Kesselhaken entlang. Dann warf die alte Frau die Schuhe
hinter sich und winkte nach der Dönze. Da kamen drei Taubenfedern
angeflogen und sieben Hühnerfedern und dreizehn Entenfedern und
einundzwanzig Gänsefedern und dreiunddreißig Schwanenfedern, alle so
weiß wie Schnee. Sie flogen um die rote Flamme, und die spielte Kriegen
mit ihnen, bis sie eine nach der anderen fing und dem Rauche gab und
ihm sagte: »Zeige ihnen, wo sie hinsollen, und sage ihnen, wie sie es
machen müssen, und dann komme wieder und bring mir Bescheid.«

Der Rauch aber machte einen Knix, und dann wurde er wieder ganz
lang und immer länger, bis er zum Dachloche hinausfuhr, und die
siebenundsiebzig schlohweißen Federn nahm er mit. Nach einer Weile war
er wieder da, warf sich vor der Flamme hin und sprach: »Ich habe alles
getreulich ausgerichtet.« Und die Flamme erwiderte: »Denn so wollen wir
schlafen gehen.« Und da lachte Annemieke und sagte: »Und wir auch!«

In der Nacht hatte Helmold einen blitzblanken Traum. Er sah Frau Holle
auf der blauen Sternenwiese stehen und die Betten sonnen, in denen die
erdenmüden Seelen ausschlafen. Da kamen drei Federchen angetrippelt,
drei schneeweiße Taubenfederchen, stahlen sich durch das Gras und
suchten so lange, bis sie an einem Bette eine Naht offen fanden, und
dann kicherten sie und krochen hinein. Und es dauerte nicht lange, und
sieben weiße Hühnerfedern kamen angelaufen; die machten es ebenso, und
nach ihnen die dreizehn Entenfedern und hinterher die einundzwanzig
Gänsefedern und die dreiunddreißig Schwanenfedern kamen auch an und
krochen in das Bett.

»Was ist denn das?« sagte Frau Holle und stemmte die Hände in die
Hüften, daß das weiße Fleisch ihrer Arme so reizende Falten in der
Ellenbeuge schlug, daß gleich zwei Schmetterlinge kamen und sich dort
niederließen. »Was ist denn das?« sagte Frau Holle, und ihr Kleid
hüpfte vor der Brust, daß unten auf der Erde das Meer ganz still
wurde, weil es solche Wellen nicht schlagen konnte. »Was ist denn
das?« fragte Frau Holle und ihre Brauen wurden ganz schwarz, so sehr
zog sie sie zusammen, und die Wetterwolken auf der Erde krochen vor
Angst in die tiefsten Wälder. Aber dann lachte die schöne Frau, und
der Sturm hörte sofort auf zu schimpfen, und der Donner fluchte nicht
mehr hinter den Bergen. »Ahlmanns Mutter, Ahlmanns Mutter!« lachte die
Hunderttausendschöne, »was machst du mir für Geschichten!« Und dann
nahm sie ihr blitzblankes Messerchen und ritzeratz war die ganze Naht
auf und holterdipolter flogen die weißen Federn von der blauen Wiese
nach der grauen Erde.

»Hat dich was geträumt über Nacht, lieber Jägersmann?« fragte
Annemieken. Sie stand vor dem Spiegel und machte sich ihr Haar. »Und
was hat dich geträumt?« fragte sie und lachte Helmold mit ihrem
Spiegelbilde an; das hatte dunkle Augen und schwarzes Haar und ein
weißes Gesicht, und Helmold wußte es ganz genau, Annemiekens Backen
waren rot wie Rosen, ihre Augen blau wie Bachblumen und ihr Haar sah
aus, wie Haferstroh in der Sonne. Aber er schlief noch in sich, und da
ging sie hinaus, und als sie wieder hineinkam, warf sie ihm eine Grabse
voll Schnee auf den Mund, lachte und sagte: »Da hast du, was du haben
wolltest. Und nun komm und iß; die Suppe schreit schon nach dem Löffel!«

Als er wegging, nahm sie die Katze auf, daß die ihm nicht über den Weg
laufen sollte, und sie spuckte ihm in die Hacken und warf ihm ihren
Schuh in den Rücken und wünschte ihm Pech den ganzen Tag und Hals- und
Beinbruch, soviel es gibt, und lauter schlechten Anblick, und zwischen
jedem, was sie tat und sagte, warf sie dreimal die Türe zu, und
schließlich lief sie hinter ihm her, weinte zwei bittere Tränen über
ihren süßen Mund und sagte: »Auf Wiedersehn, Nimmerwiedersehn, mein
Jägersmann!«

Drei Vögel sah er, als er durch die Feldmark ging. Das erste war ein
Stieglitz; sein Scheitel war rot wie Blut. Das zweite war ein Dompfaff;
seine Brust war rot wie Blut. Das dritte war ein Kreuzschnabel; der war
von oben bis unten so rot wie Blut. Und als er in den Wald hineinkam,
sah er im Schnee eine Fährte; in der war rotes Blut. Alle sieben
Schritte stand sie wieder im Schnee, rot von Blut. Und er sagte: »Du
edeles Wild, adelig Getier, kein anderes Wild, gemeines Tier will ich
jagen noch fangen, ehe daß du nicht mein bist.« Da kam der Häher und
sagte: »Nein!« Da kam der Bussard und sagte: »Niemals!« Da kam die
Krähe und sagte: »Nimmermehr!«

Er wurde traurig und sah, der Schnee war schwarz und die Tannen waren
weiß, sein Herz wurde kalt und sein Gesicht wurde heiß, das Blut blieb
ihm stehen und der Atem flog vor ihm weg, bis er die Wundfährte wieder
fand; da wurden die Tannen schwarz und der Schnee weiß, sein Herz ward
warm, und sein Gesicht wurde kalt, sein Blut fing an zu gehen und sein
Atem beruhigte sich, und er lachte und sagte: »Du edeles Wild, adelig
Getier, mein wirst du sein, ehe daß die Sonne schlafen geht, ehe der
Fuchs auf Raub auszieht und die Eule umfliegt!« »Nein!« sagte der
Häher, »niemals!« der Bussard, »nimmermehr!« die Krähe; aber er lachte
sie alle drei aus.

Und er ging und ging und ging den ganzen Tag. Er kam an den Teich, in
dem die schöne Rosemariee sich ertränkt hatte, und nach dem Stein, wo
der Förster erschossen wurde, und zu dem Kreuz, das da steht, wo die
Nonne ermordet war, und er ging über die Haide und an dem Moore vorbei
und durch den Wald, ließ den Morgen hinter sich liegen und den Mittag
und den Abend, und alle seine Fußstapfen waren gefüllt, erst mit grüner
Hoffnung, dann mit schwarzer Trauer und zuletzt mit grauer Angst. Seine
Füße wollten ausruhen, seine Augen wollten schlafen gehen, sein Herz
sprach: »Ich kann nicht mehr!« Er aber hörte nicht auf sie und ging
weiter, immer dem roten Blute nach.

»Ich will dir helfen!« sprach der Schnee und machte die Nacht heller,
und der Mond kam auch und alle Sterne, die es gibt, und sie gingen
rechts und links neben ihm, daß er die Fährte finden konnte. Er fiel
hin und stand wieder auf, er setzte sich und ging weiter, er bückte
sich über die Quelle und richtete sich empor, und blieb immer wieder
stehen und redete seinen Füßen zu und seinen Augen und seinem Herzen
und sagte: »Nur noch bis zum nächsten Blutsfleck, bitte nur noch dieses
einzige Mal; dann sollt ihr auch schlafen, solange ihr wollt.« Aber
wenn er da war und stehenblieb und um sich sah und horchte, ob er sein
Edelwild nicht sah oder hörte, dann war nur der Wald da und der Himmel
und der Mond, und der nickte ihm zu und sagte: »Immer weiter, immer
weiter!«

Da kam er in einen dunkelen Wald, und die Finsternis sprach zu ihm:
»Siehe!« Da sah er, wie der Wind über den Berg gelaufen kam; in seinen
Händen trug er zwölf Glockenschläge. Dann trat die Stille vor ihn hin
und sprach: »Horch!« Da hörte er die Nacht über den Wald springen; in
ihrem Mantel trug sie ein Weinen, das war ganz fern und doch so nah,
war sehr leise und doch so laut, und so bitter war es und so süß. Seine
Füße starben vor Angst, sein Herz fiel tot um, und seine Augen brachen.
Aber als der Wind den letzten Glockenschlag vor ihn hingelegt hatte,
gab ihm der Tod sein Leben wieder in die Hände; die waren so kalt wie
Eis. Und kalt wie Eis war er ganz und gar und konnte nicht fühlen und
nicht denken und stand da wie ein toter Baum, wie ein lebloser Fels,
wie eine abgestorbene Blume.

Doch der Sturm ermunterte ihn wieder; er hielt das Weinen über ihn,
und daraus flossen Tränen auf ihn und weckten ihn auf, bis das Eis von
seinen Augen schmolz, und seine Füße lebten wieder, und sein Herz
stand auf, und da sah er, daß die rote Fährte im Schnee dort zu Ende
war, wo er stand, und daß es zwei nackte Fußspuren waren, über und
über rot von Blut. Seine Füße zitterten, sein Herz fing an zu bluten,
und seine Augen weinten bitterlich, bis daß die beiden Fußspuren
weißgewaschen waren. Das Alter lehnte sich gegen seinen Rücken, Falten
krochen in sein Angesicht hinein, in sein Haar aber fiel der Schnee.

Das Weinen über seinem Haupte wurde zu einem Lächeln und stellte sich
über die weiße Fährte im Schnee und winkte seinen Augen zu. Und als sie
ihm folgten, kamen ihnen zwei andere Augen entgegen und gingen wieder
zurück und blieben vor ihm stehen, weit genug von seinen Händen. Sie
sahen ihn an und weinten Tränen, die fielen als Blut in die Fußspuren
und füllten sie wieder bis zum Rande, und das Lächeln schlug die Hände
vor das Gesicht und weinte leise, und das Weinen sah ihn mit Augen
an, die voller Furcht waren und leer von Hoffnung, aber beladen mit
Verzweiflung.

Seine Seele zitterte und schrie: »Was soll ich tun, ihr beiden Augen,
beladen mit Angst, gefüllt mit Trauer, beschwert mit Grauen, daß ihr
wieder lächeln könnt? Und du Weinen, bitterliches Weinen, sage mir, was
beginne ich, daß du nicht mehr im Sturm umherirren mußt und in Frost
und Kälte und einsamer Nacht? Und du Lächeln, banges Lächeln, sprich,
was muß werden, damit du dich nicht mehr zu bergen brauchst hinter den
Dornen und in den Disteln und unter den Nesseln? Und du, nackte Seele,
was ist es, das dir wieder Ruhe gibt, auf daß du nicht mehr mit bloßen
Füßen wandern mußt über Berg und Tal und Stock und Stein und Feld und
Flur, blutend aus sieben Wunden, kalt bis in das Herz und müde bis auf
den Tod?«

Da trat die Finsternis hinter ihn, die Einsamkeit winkte der Stille
zu und die legte dem Sturme Schweigen auf. Der Mond ging zur Seite
und nahm die Sterne alle mit; dunkel wurde es rund umher. Aber die
Dunkelheit war klar, so daß er die rote Fährte im Schnee sehen konnte
und die beiden Augen über ihr und einen blassen Mund und zwei Hände vor
einer bangen Brust; die waren ineinander gefaltet. Eine Stimme, die war
nicht hier noch da, nicht von gestern und nicht von heute, nicht leise
und nicht laut, kam langsam aus den blassen Lippen zu ihm gegangen,
stellte sich vor ihn hin und sprach:

»Du, von dem ich nicht weiß, wer du bist, den ich niemals gesehen habe,
und der immer vor meinen Augen steht, vor dem ich vor Angst vergehe
und vor Sehnsucht nach ihm sterbe, du, o du und du, was habe ich dir
getan, daß du mich jagst barfuß und barhaupt und bloß durch Nacht
und Schnee und Frost und durch Dunkelheit und Einsamkeit und diese
Totenstille? Siehe, meine Augen bluten, meine Füße sind wund, mein
Leib ist vor Kälte erstarrt. Mein Lächeln habe ich im Schnee verloren,
meine Ruhe rissen mir die Dornen vom Leibe, der Sturm trägt mein Weinen
vor mir her. Ich bitte dich, bitte dich so sehr, bitte dich um alles
in der Welt, höre auf, mich mit Furcht zu schlagen, mich mit Angst zu
peitschen, mich mit Jammer zu geißeln, da ich dir doch nichts zuleide
tat.«

Seine Seele stöhnte auf; sie fiel auf die Knie, streckte die Arme aus,
schluchzte auf und schrie: »So sage mir, arme Seele, gehetztes Herz,
müder Geist, sprich, was soll ich tun, daß du dein Lächeln wieder
findest, die Angst aus deinen Augen verlierst und dem Sturme dein
Weinen aus den Händen nimmst? Was ich dir antat, ich weiß es nicht;
aber ich will es wieder gut machen; büßen will ich es, wie du es mir
sagst, mit Not und Tod oder einem Leben ohne Abend- und Morgenrot. Das
schwöre ich dir bei den sieben Sünden, die bei mir stehen, drei zu
meiner Rechten, drei zu meiner Linken und der einen, die über mir ist.
Ich gelobe es dir bei allen Lüsten, die mich locken, und bei allen
Süchten, die mich schrecken. Siebenmal schwöre ich es dir.«

Da sah ihn die Stimme, die nicht von gestern war und nicht von heute,
und nicht hier noch da, und weder laut noch leise, freundlich an,
und also sprach sie: »Ich halte deine Schwüre in der einen Hand und
deine Gelübde in der anderen, und ich sehe, sie sind wahr und ehrlich
und treu; so wisse denn: lege deine grünen Hoffnungen alle ab, wirf
deine blauen Träume hinter dich und tritt weit fort von deinen roten
Wünschen. Das ist das eine; aber das zweite ist dieses: zertritt das
bunte Gedenken, reiße ab die lachenden Erinnerungen und rotte gänzlich
aus das Wissen von dem, was du nicht wissen durftest. Das ist das
andere; aber das letzte ist dieses: laß dein Lachen hier im Walde
liegen und dein Weinen, wo deine Füße stehen, und all dein Fühlen mußt
du der Einsamkeit geben und der Dunkelheit und der Stille. Ohne Wehr
und Waffen gehe von hier, daß ich nicht mehr zittern muß, wenn deine
Schritte meine Gedanken kreuzen, wenn deine Augen Schatten auf meinen
Weg werfen und deine Sehnsucht über mein Herz hinwegfliegt. Gelobest du
mir das?«

Seine Seele neigte ihr Haupt und gelobte es bei allem, was sie
fürchtete, und da sprach die Stimme zu ihm, und noch freundlicher
sprach sie, daß es wie Maiensonne auf seine Angst fiel, und also
sprach sie zu ihm: »Siehe, meine Augen sie bluten nicht mehr so sehr,
und meine Lippen röten sich ein wenig, und meine Hände zittern kaum
noch, weil die Furcht sie nicht mehr so quält und die Angst und das
Entsetzen; und nun höre: du hast gerufen heute: du edeles Wild, adelig
Getier, mein sollst du sein, ehe daß die Sonne sinkt. Wenn die Sonne
sank für dich wie für mich, keine Blume uns mehr blüht und Schmerz und
Lust uns nicht mehr ihre Lieder singen, dann will ich dein sein, ganz
und gar dein sein, für immer und ewig dein sein, du lieber, viellieber,
geliebter Jägersmann.«

Als er in das Dorf zurückkam, riefen im Kruge die Fiedeln, und die
Trompeten schrien, und eine Flöte lachte: »Komm tanzen, junger
Jägersmann!« Er ging in den Saal und sah sich um. Annemieken stand da,
schön wie immer, aber sie kannte ihn nicht. Sein Freund ging an ihm
vorüber, aber er sprach ihn nicht an, und sein Feind warf seine Augen
auf ihn, doch ohne Haß.

An der Wand hing ein Spiegel; der rief ihn zu sich hin. Er sah hinein
und setzte sich auf die Bank der alten Leute.



Der graue Engel


Im blauen Himmel ging alles auf Strümpfen. Die Straße war auf drei
Häuserlängen mit Stroh belegt und mit Kaff bestreut, und an der
Haustüre hing ein Schild, auf dem zu lesen stand: Kein Ausschank. Alles
Vieh und auch der Hund waren in der Nachbarschaft untergebracht, und
die Pumpe war festgebunden, und auf der untersten Treppenstufe war
mit Kreide die heilige Fünf hingemalt, denn der Tod stand hinter der
Haustür.

Er war wütend. Kinder, Greise und sonstiges Niederwild zu jagen dünkte
ihm kein Waidwerk; nach Edelwild gelüstete ihn, nach einer hohen Beute.
Diesen Mann da zu fällen, diesen großen Künstler, ehe er sein Bestes
gegeben, ehe daß er Tausenden von Menschen das Herz gestärkt hatte,
das war ein lohnendes Ziel. Über die zwei Männer und die Frau, die zu
seiten des Krankenbettes saßen und ihre Schilde vor den siechen Mann
hielten, lachte der Tod; aber die eine, die nicht da war, die machte
ihm schwer zu schaffen.

Ingrimmig knirschte der graue Engel mit den Zähnen, daß es dem Förster,
der in der Gaststube saß, eisig über den Rücken lief und er schnell
seinen Schnaps austrank. Dann bückte der Tod sich, trat auf die Straße,
von der die Spatzen entsetzt aufflogen, als sein Schatten auf sie
fiel, und stellte sich vor das gegenüberliegende Haus, wo Lorenmutters
Fuchsien sofort die Knospen verloren, denn die Augen des Todes hatten
sie gestreift. Aber auf die alte Frau fielen seine Blicke nicht; er
wandte sie dahin, wo Helmold lag, und stierte nach dem Fenster.
Hineinsehen konnte er nicht, weil die Vorhänge zugezogen waren; aber er
wollte doch wenigstens hinsehen.

Der Kranke hatte ruhig dagelegen. Sein Gesicht sah wie eine Totenmaske
aus; jede Spur von Leben hatte das Fieber aus ihm herausstilisiert.
Regungslos saß der Arzt da, mit losen Fingern das Handgelenk des
Freundes umspannend. Aber nun blickte er auf; die weiße Flaumfeder auf
den Lippen des Kranken rührte sich hastiger. Frau Gretes Züge verzogen
sich zum Weinen, Hennigs Gesicht verdunkelte sich; die Augen des Arztes
sahen starr nach dem Gesicht des Kranken.

Im nächsten Augenblicke sprang er auf und hielt beide Hände über das
Bett, denn Helmold hatte sich mit einem Ruck emporgeschmissen, sah ohne
Verstand um sich, machte einen bittenden Mund und flehte: »Kuß, ein'
einz'gen Kuß, Swaantje!« Sein Gesicht füllte sich mit Entsetzen; er
fiel zurück und atmete schwer. Dann sprach er mit verdorrter Stimme:
»Die Augen, nein die Augen; was sind das für Augen? Leg sie fort, ganz
weit, nein, dahin, weg!« Seine Brust ging auf und ab; er röchelte: »Ist
nicht wahr, hab ich nicht gemalt, Lüge, alles gelogen. Die Augen, die
Augen! Grete, du hast gelogen. Wir drei, wir drei, wir drei, hast du
gesagt. Gemeine Lüge!«

Er knirschte mit den Zähnen und stöhnte: »Tödeloh, da bin ich
gestorben, ganz totgestorben. Ha la lit! Der gute Bock ist tot! Bock
tot, will ich blasen. Mein Horn ist weg.« Er warf sich hin und her;
dann sang er: »Rose weiß, Rose rot,« und flüsterte weiter: »Sophie,
eine Runde! Deuwel auch, Klaus, laß dir das nicht gefallen; Wiebken
mogelt.« Er lachte: »Es gibt viel Schönes, Wunderschönes: Maserholz,
grobe Leinwand, so wie Annemiekens Hemden, rohes Kupfer, das heilige
Dreieck. Ach ja, das heilige Dreieck, das dunkele Geheimnis, unser
Anfang, Ende auch. Such verwundt, mein Hund, weis' verwund't, mein
Hund! Szissa her mit'n Lüttjen, her mit'n lüttjen Schluck!«

Er flötete den Jagdpfiff, versuchte zu blatten, zog beide Hände vor
das Gesicht, als wollte er in Anschlag gehen, und schrie: »Mariee,
Dicke, was hast du für Arme! Wahre Pracht. Auf Chali pfeif ich; das
ist ein Biest. Jawohl, gnädige Frau, künstlerische Reife ist Beginn
der Fäulnis. Entweder leben oder Künstler sein. Die Atrappe ist höhere
Gemeinheit. Hurra, es lebe der Öldruck! Hennig, deine Line ist keine
Dame, darum mußt du sie heiraten. Damen sind inaktive Dirnen. Pfui
Teufel! Hier habe ich voriges Jahr den Keiler geschossen. Nein, ich
schieß ihn nicht, Swaantje, aber küssen will ich dich, wenn du auch
noch solche Augen machst.«

Er griff mit den Händen umher! »Hülfe, Hülfe, tut mir nichts: ich will
ja mein Herz wegschmeißen! Da, da liegt es, seht Ihr, im Dreck; der
Hund hat es geholt! Seid Ihr zufrieden, Grete und Swaantje? Nun bin ich
ganz artig.«

Er fiel zurück und schlief ein, wachte aber sofort wieder auf und
schrie: »Schwindel! Alles Schwindel, Farbe, Liebe, alles, alles!
Hennig, sieh den Schillerfalter; alle Farben hat er, hat er; also
Schwindel. Hat überhaupt keine, tut bloß so. Nichts ist so, wie es
aussieht. Swaantje sieht gut aus, Swaantje ist böse. Grete auch,
Sophiee auch, Mariee auch, aber Annemieken ist gut. Soll ich dir
helfen, Annemie? Was brauchen wir unsere Herzen? Weg damit! Ohne Herz
liebt es sich bequemer. Wer hat den Hochsitz hierher gestellt? Senator,
Sie irren sich, Sie sind Fachmann, verstehen also von der Sache nichts,
sind darin, nicht darüber. Prinz, du schießt ja doch nur vorbei, ganz
sicher; hast ja den Tatterich. Frau Trui, der Honig ist ausgezeichnet,
süß, wie heimliche Küsse. Aber die Farbe ist Schwindel; Honig muß rot
sein. Alles, was süß ist, ist rot. Rote Rosen sind schön. Wer hat die
verdammten Nesseln mang die Küsse gebunden? Was sollen die Witze? Häh?«

Er fiel abermals zurück. Der Arzt goß Arznei ein und flößte sie dem
Kranken ein, der unwillig schluckte. Frau Grete sah wie der Tod aus,
Hennigs Gesicht war wie aus Holz. Helmold schlug um sich. »Laß mich
in Ruhe mit dem verdammten Kleide, hörst du? Es ist mit kalten Augen
besetzt, gemeinen Augen. Fort damit! Ich hasse die Kanaille und halt
sie mir vom Balge, sagt Horaz. Prost, oller Römer! Janna, Manna, singt
noch eins!« Er summte: »Meiner zu gedenken, das gebrauchest du ja
nicht.« Starr sah er nach der Wand: »Ich habe deine Brüste gesehen, o
wie schön, und ich will sie küssen. Gib sie her, sofort, hörst du! Ach
laß auch, sie sind kalt. Siehst du, das hast du davon. Lauf mir nicht
immer nach, Swaantje! Überall bist du! Ich will den Bock haben, stell'
dich nicht immer davor, sonst wahrhaftig, ich mache den Finger krumm.
Frau Pohlmann, in meinem Bette waren Flöhe. Nein, bloß Spaß, waren
Gewissensbisse. Annemie, ich bin müde. Du sagst, du willst nicht? Teuf,
Lork! Hast auch zwei Gesichter, ein Taggesicht und eins in der Nacht,
und das ist mir lieber.«

Er sang nach einer Tanzmelodie: »Beni Benjamin hat gesagt, ich hab den
Lungenkataharr! Hab' mir das Herz verkühlt, hat kalte Füße gekriegt.
Heißen Pottdeckel darauf, das hilft. Ich will nicht mehr malen, ich
male mir noch alles Blut aus dem Leibe. Und das brauch' ich noch 'ne
Weile. Fritsche, alter Döllmer, trag' das Gewehr nicht so dämlich!
Hennig, wo willst du hin? Ach so! Na, wenn das man gut geht! Nun hab
ich es dicke; überall stehst du mir im Wege, Swaantje! Komm her,
Mädchen. Hoch lebe die Liebe und die umliegenden Bierdörfer!«

Er murmelte: »Ja, ja, schon gut. Mein Bild, das kannst du küssen und
mit ins Bett nehmen, aber mich, das fällt dir nicht ein! Ach Süße, komm
her, einmal, o du, du, du!«

Er schwenkte den Arm: »Tanzen sollst du, bist du weich bist,
windelweich, und dann nehm' ich dir den Rosenkranz ab,
Ringelringelrosenkranz ab. Ein bißchen welk ist er schon. Und nun haben
wir die Bescherung. Siehst du, Prinz, du pürschst zu laut! Sekt her!
Was kann das schlechte Leben helfen. Die alten Deutschen tranken noch
eins!«

Er lachte: »Ja, malen, das kann ich. Kranke Frauen kriegen ganz
gesunde Kinder, gehen aber leicht hopps dabei. Amanda, was sagst du?
Biermamsell, ja, mir Wurst, aber du kannst wenigstens küssen! Jawohl,
Miezi, es ist noch etwas Leberwurst da, aber die Kohlen sind rein alle.
Bete zu deiner Heiligen, und schaff sie ab, wenn sie uns keine Kohlen
schickt. Swaantje, ich will meinen Kuß haben! Den hab ich kontraktlich.
Och Chott, Mensch, das ist ja viel zu weit! schießt ja doch daneben!
Bei meiner Beerdigung muß ich aber dabei sein, diesmal wenigstens.
Christus sagst du? Bin mehr für Wode. Ist ja auch gleich. Meinetwegen
Maria; ich denke dabei an Frigge. Importen mag ich nicht, bekommen
nicht. Frigge hilft uns schon; bete zu ihr. Du sollst sehen, sie hilft
dir. Frigge fügt Hand zu Hand, Mund zu Mund, Schoß zu Schoß. Gelobt sei
Frigge!«

Er lächelte: »Mein Herz tanzt auf einer goldenen Wiese, und mein Mund
läuft hinter dir her. Siehst du, jetzt bist du hingefallen. Na, weine
man nicht; komm her, ich heb' dich auf!«

Er bewegte den Kopf in einem sanften Takte, als horche er auf eine
ferne Melodie; dann fing er an zu summen, so seltsam, daß seine Frau
ein Schauer schüttelte, denn die Singweise war aus Lust und Leid
gewebt, mit Übermut durchwirkt und mit Verzweiflung besäumt.

»H' ach,« rief er dann, »h'ach du, du! Du hast es gesagt. Sagst: ich
habe dir ja nichts gesagt!« Er lachte glücklich auf. »Du sagst, ich
habe dir ja nichts gesagt! Habe dir ja nichts gesagt, nichts gesagt.«
Er lachte belustigt: »Ich habe doch ein Gehör wie der Fuchs. Weiß schon
Bescheid, weiß, was das heißt. An der Fährte spricht man den Hirsch an;
das da ist sicher einer vom zwölften Kopfe. Und den will ich haben,
oder ich will die Kunst nicht verstehen.«

Er schauerte zusammen; der Arzt zog ihm die Steppdecke bis unter das
Kinn. Er flüsterte: »Danke, danke!« Er küßte in die Luft: »Ach wie
schön warm! Das ist so lieb von dir, liebe Swaantje. So warm.« Er
schnurrte wohlig: »Wie lange habe ich dich gesucht, wie lange, aber du
hast die Fährte verwischt. Das ist sicher ein guter Bock. Gute Nacht,
Herrschaften; ich gehe schlafen. Komm Annemie! Mädchen, du hast ja
Swaantjes Kleid an! Nein, das geht nicht; ist dir ja viel zu lang.
Sofort ausziehen, hörst du! Na, weine man nicht, behalt's an; bist ja
doch die beste, die allerbeste!«

Frau Grete ging hinaus, kreidebleich im Gesichte; als sie wieder
hereinkam, sah sie Hennecke an und schüttelte den Kopf. Der Kranke
flüsterte: »Dein Herz ist von Gold, Swaantje, und du hast es an einer
silbernen Kette unter den Spitzen auf deiner Brust. Das sieht doll aus,
ganz doll.« Er schrie auf: »Wo bist du, Gotteswillen komm her!« Sein
Kopf fiel auf die Seite, und er begann rasselnd zu schnarchen.

Der Arzt flüsterte: »Gehen Sie essen, ich bleibe so lange hier; er
schläft. Das ist ein gutes Zeichen, ich habe Hoffnung.« Er zählte die
Pulsschläge und nickte langsam. Dann lächelte er der Frau zu und zeigte
mit dem Kopfe nach der Tür. »Erst etwas essen und dann ein bißchen
hinlegen. Wir haben an einem Kranken genug. Hennecke, gehen Sie mit!
Und daß es ja ganz stille im Hause ist.«

Als Frau Grete draußen war, sah sie Hennig an und flüsterte: »Behalten
wir ihn wohl, lieber Freund?« Er nickte: »Ich glaube es; seine
Indianernatur wird ihm durchhelfen. Aber nicht wahr, jetzt essen Sie
ein bißchen?« Sie nickte müde.

Er führte sie in das kleine Zimmer, rückte ihr den Sessel und die
Fußbank zurecht, goß ihr ein Glas Sekt ein und begann dann zu essen,
ruhig und langsam, wie immer. Das half; sie aß ein Stückchen Brot und
kaltes Fleisch und bekam wieder etwas Farbe.

Hennecke tat, als kümmere er sich nicht um sie; aber wenn er etwas
nahm, rückte er den Auflageteller immer so, daß die besten Stücke vor
ihr lagen, und als ihr Glas leer war, füllte er es. Dann aber sagte er:
»Nun schlafen, bitte, und sobald die Antwort kommt oder eine Änderung
im Befinden eintritt, klopfe ich.«

Die Frau nickte und stand auf; als sie schon die Türklinke in der
Hand hatte, blieb sie stehen und hielt den Kopf schräg, als wenn
sie lauschte. Dann lächelte sie Hennecke zu und sagte: »Sie kommt,
wir werden gleich Nachricht haben. Sie hat das Telegramm selber
aufgegeben.« Hennecke sah sie ernst an und nickte. Die Frau trat auf
ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach: »War es so
schlecht von mir, was ich tat? Wenn er stirbt, so bin ich schuld.« Er
antwortete: »Beruhigen Sie sich, liebe Freundin; Reue ist die größte
Sünde, die es gibt, denn sie hat keinen Zweck. Sie haben gehandelt, wie
Sie mußten.« Sie sah ihn ernst an und schüttelte den Kopf: »Nein, ich
habe ihn belogen. Aber, nicht wahr, der Gedanke, er liebt eine andere,
und ich, seine Frau, die zwei Kinder von ihm hat, soll entsagen, Sie
begreifen, daß da zuerst alles Kleine und Enge in einem nach oben
kommt. Und so bin ich hart zu ihm gewesen und schlecht, sehr schlecht.
Erst habe ich gesagt: ›Ja ja, mein guter Junge, sie soll kommen! Wir
drei, nicht wahr?‹ Und so nach und nach nahm ich alles zurück und
dachte nicht daran, daß ich ihm zuerst die Augen geöffnet hatte.«

Dann setzte sie sich an das Fenster. Düster sah sie vor sich hin, die
Hände im Schoße faltend. »Ich bleibe hier; schlafen kann ich doch
nicht, ehe das Telegramm da ist. Rauchen Sie bitte, lieber Hennecke.
Aber erst sehen Sie zu, wie es oben steht.«

Langsam gingen die Stunden dahin, Hennecke löste den Arzt ab. Der
war zufrieden. »Er kommt an das Ufer, glaube ich, der Puls ist ganz
ruhig.« Er aß und ging nach oben, und Hennecke leistete der Frau
wieder Gesellschaft. Sie sprachen wenig. Plötzlich seufzte Frau Grete
erleichtert auf und lächelte gespannt. Männertritte kamen näher und
erklommen die Treppe; die Haustür ging auf. Die Frau erhob sich,
öffnete die Tür und nahm dem Briefträger das Telegramm ab, gab ihm
den Taler, den sie schon bereit hielt, löste gelassen den Verschluß,
faltete das Papier auseinander, las den Inhalt, ohne eine Miene zu
verziehen, nickte, reichte Hennecke die Depesche und sprach: »Es ist
so, wie ich sagte: sie kommt. Gott sei Lob und Dank!«

Die Tür ging auf; der Arzt stand darin, helle Freude im Gesicht. »Sie
haben Ihren Mann wieder, Frau Hagenrieder,« sagte er ganz laut. Er sah
erstaunt auf, als die Frau nur nickte und meinte: »Ich wußte es.« Er
trank ein Glas Sekt aus: »Merkwürdig,« murmelte er dann; »eben erwachte
er, seufzte sich den Schlaf fort, sah ganz klar aus den Augen, machte
sie wieder zu und mit ganz fieberfreier Stimme flüsterte er: ›Sie
kommt!‹ Und dann schlief er wieder ein.«

Am andern Morgen lachte die Sonne, und die Amsel sang zum ersten
Male. Helmold war sehr schwach, aber fieberfrei. Als er die drei
Schneeglöckchen sah, die seine Frau ihm auf das Tischchen stellte, ging
ein leises Lächeln über sein Gesicht. Er winkte mit den Augen, und sie
bückte sich zu ihm nieder. »Näher!« hauchte er, »noch näher!« Sie küßte
ihn auf den Mund. »Meine liebe Frau,« flüsterte er und schlief ein.



Der weiße Garten


Als Swaantje in Stillenliebe anlangte, war Helmold bereits aus aller
Gefahr, aber noch so angegriffen, daß der Arzt jede Aufregung verbot.
Er gestattete ihr nur, daß sie ihn sah, während er schlief.

Das Mädchen mußte sich am Türrahmen festhalten, als sie ihren Vetter
erblickte. Welk fiel ihm das fast völlig ergraute Haar in die Stirne,
der Bart hing schlaff über die blutleeren Lippen, die Nase trat
scharf hervor, unter den Augen waren tiefe Löcher, die in allen
Farben spielten, die Ohren sahen wächsern aus, und die Hände waren
leichenfarbig.

Als sie das Zimmer verlassen hatte, fiel sie Grete um den Hals und
schluchzte tränenlos, und die Frau sagte, als sie mit ihr in dem besten
Zimmer saß: »Wir wollen Gott danken, daß wir ihn behalten haben,
Swaantje; und sobald er kräftig genug ist, fährst du mit ihm in irgend
eine stille Ecke und pflegst ihn mir ganz gesund. Nicht wahr, Liebste?«
Das Mädchen nickte, denn sie fühlte, daß die andere das im vollen
Ernste sagte.

Es wurde aber nicht so; denn je mehr sich Helmold körperlich erholte,
um so mehr schien seine Liebe für Swaantje zu erkalten. Als ihm seine
Frau einmal von dem Mädchen sprechen wollte, wehrte er ab. »Ich
genese, Grete,« sagte er, »und auch davon.« Er sah sie voll an und
fuhr fort: »Möglich, daß ich ihr später wieder kameradschaftlich näher
komme; vorläufig wäre mir ein Zusammentreffen peinlich, und schädlich.
Hennecke und Benjamin sind der selben Ansicht.«

Wenn er, warm zugedeckt, auf dem Ruhestuhle im Garten lag, dem Schlage
der Finken zuhörte und die knospenden Zweige betrachtete, dachte er
noch oft an das Mädchen, aber nicht in Liebe. Etwas wie Unmut war in
ihm; denn er fühlte sich beleidigt. Er hatte sich vor ihr erniedrigt,
hatte um einen Kuß gebettelt, war fast irrsinnig vor Liebe geworden,
und es hätte nicht viel gefehlt, daß er an seinem Verlangen zu Grunde
ging.

Er wußte aber auch, daß dieses der letzte Rückfall war. »Was hat
sie nicht alles aus mir gemacht,« dachte er; »einen Trinker, einen
Wüstling, einen Salonaffen, einen Streber!« Er las in dem Buche, das
Hennig ihm mitgebracht hatte, und lächelte belustigt, denn er war
vorhin auf einen Ausspruch Montanabbis gestoßen, der vortrefflich zu
seinen eigenen Gedanken paßte, und der folgendermaßen hieß: »Viele
Menschen waren gleich mir Opfer eines weißen Halses, eines rosigen
Angesichtes und zweier Augen, die sanft blickten, wie die der Gazelle.«
Er nickte und dachte: »Hast recht, beturbanter Philosoph; wir wollen
den Fall zu den Akten in das Fach Erledigt legen.«

Die Magd wusch in der Küche Gläser auf und sang. Er nickte lächelnd,
pfiff leise die Singweise durch die Zähne und summte den Schlußreim:
»Kehr' dich ab von mir, heb' dich fort von mir, scher' dich weg von
meiner Tür.« So waren seine Gedanken, wenn er an Swaantje dachte.
Mochte sie sich jetzt ebenso um ihn quälen, wie er es ihrethalben getan
hatte; sie hatte es verdient durch ihre Feigheit.

Mit Schadenfreude stellte er fest, daß er sie nicht mehr liebte. Das
war nur natürlich; es entsprach seiner Veranlagung. Sein Vater hatte
den Grundsatz gehabt, ihm niemals einen Wunsch sofort zu gewähren.
So hatte er ihm, als Helmold zwölf Jahre alt war, verboten, sich
eine Armbrust zu kaufen. Nach einem halben Jahr bekam er sie zum
Geburtstage, rührte sie aber nicht an, denn er war schon darüber
hinaus.

Allmählich dachte er milder. Zu Hennig, der sich seinetwegen frei
gemacht hatte, sprach er sich einmal, als er mit ihm vor das Dorf
ging, darüber aus: »Weißt du, mein Lieber, ich zürne ihr auch nicht
mehr, denn sie konnte schließlich nicht anders handeln, schon ihres
Verhältnisses zu Grete wegen nicht. Ich weiß, das Ganze war Einbildung;
aber daß ich das weiß, das ist eben das Schlimme. Ich bin doch jetzt
körperlich schon wieder ganz rüstig; aber ich bleibe innerlich kalt und
tot. Ich lebe in einem weißen Garten; wo ich hinsehe, verlieren die
Blumen die Farbe und die Blätter das Grün. Mein Herz ist gefeit gegen
jegliches Gefühl; es hat kein Teil mehr am lebendigen Leben.«

Er schwieg und dachte an alle die Frauen und Mädchen, die er geliebt
hatte. Aus Gewohnheit fühlte er ihnen gegenüber Dank, in Wirklichkeit
waren sie ihm alle gleichgültig. »Ja, Hennig,« murmelte er und nickte,
auf das Dorf hinabsehend, wo alle Obstbäume blühten, »das ist nun so:
Helmold Hagenrieder ist tot. Was da lebt, ist bloß noch der Professor
gleichen Namens. Zwischen mir und der Welt ist eine Glasscheibe. Ich
habe noch Sinne, noch Sinnlichkeit; aber ich habe die alte kindliche
Anteilnahme an den Menschen und den Dingen verloren. Ich sehe sie nur
noch in ihren kalten Lokaltönen, nicht mehr in der warmen persönlichen
Beleuchtung, die ich ihnen früher gab.«

Er seufzte, aber dann lächelte er: »Ist übrigens das einzig Wahre. Der
Künstler muß außerhalb der Welt stehen, wie Gott. Wer im Leben steht,
bringt es nie zur Meisterschaft. War schon das beste für mich, diese
dämliche Entgleisung. Wäre ich irgend ein Soundsomensch, Beamter oder
so was, Philister, so wäre ich daran eingegangen; so aber hat mich
diese Geschichte gereinigt. Denn ich bin da, um zu wirken, nicht um zu
leben, wie Hans X und Kunz Y.«

Leise sprach er vor sich hin: »Künstler sollten nicht heiraten; sie
können nicht treu sein, dürfen es nicht, sollen sie sich nicht selber
untreu werden. Aber heiratet man nicht, so hat man keinen Zusammenhang
mit dem Leben, lernt dessen tiefste Nöte nicht kennen. Wie man es auch
macht, es ist immer verkehrt, und so wird das Allerverkehrteste wohl
das einzig Richtige sein.«

Er zündete sich die erste der zwei Zigaretten an, die Benjamin ihm
gestattet hatte, sah den Freund an, legte ihm die Hand auf das Knie
und sprach weiter: »Ich habe früher von der Philosophie niemals viel
gehalten; sie ist noch ein viel lorbeernerer Ersatz für das Leben, als
die Kunst. Jetzt aber, wo ich mit dem Leben innerlich nichts mehr zu
tun habe, philosophiere ich. Höre zu: Nach Kant gibt es kein Ding an
und für sich; ich aber sehe die Dinge an und für sich. Also gibt es
kein Ding an und für mich, sondern nur Dinge an und für sich für mich.
Also geht mich als Menschen nichts mehr etwas an. Also bin ich kein
Mensch mehr; also bin ich tot!«

Ein Goldammerhähnchen kam angeschnurrt, ließ sich auf einem Zaunpfahle
nieder, sah die Männer zutraulich an, glättete seine gelbe Holle und
begann zu singen. Helmold pfiff leise durch die Zähne das Lied des
Vogels nach, nickte und murmelte: »Manche sagen, der Goldammer singt:
›Wie wie hab ich dich lieb, lieb.‹ Andere meinen, er sänge: ›Mein Nest
ist weit weit, weit.‹ Alles auf der Welt hat ein zweites Gesicht, die
Natur, die Kultur, die Religion, die Kunst, die Politik, die Liebe,
alles, alles. Wer das nicht weiß, ist glücklich; ich weiß es. Ich habe
es wohl immer gewußt, bloß manchmal vergaß ich es, und dann glaubte
ich, glücklich zu sein. Im Sichselbstvergessen allein liegt das einzige
Glück, also in der Narkose, durch Liebe, oder Haß, oder Arbeit. Der
Mensch ist die Krone der Schöpfung, sagt man. Er ist und bleibt aber,
wie alles Leben, eine dilettantische Leistung. In einem Buche über die
Kultur der alten Assyrer steht folgender Vers eines Dichters jener
Zeit: ›Gewandert ist in Hast mein müder Fuß so viel; ich gönnt' ihm
keine Rast, doch fern bleibt stets das Ziel.‹«

Ein braunes Ding kam über den Zaun geschwenkt, streckte gelbe
Krallen nach dem singenden Vogel aus und verschwand damit hinter der
Hecke. Helmold sah Hennig an und lachte lustig: »Eine Gemeinheit
sondergleichen; der gelbe Vogel singt von Liebe, und die Natur oder
die Vorsehung schickt ihm den braunen Tod! Ich hatte einen Mitschüler,
er hieß zwar Julius und noch dazu Müller, aber nie hat es ein so
goldenes Herz gegeben, nie so viel Güte in einem Menschen. Er starb
an Wundstarre, starb sieben Tage lang, lag da bei vollem Bewußtsein,
konnte kein Glied rühren und mußte durch künstliche Atmung hingehalten
werden, bis auch das nichts mehr half. Seine Mutter, eine Witwe, war
eine gläubige Katholikin. Sie hat, nachdem ihr Julius tot war, keine
Kirche mehr betreten und nie wieder gebetet. Ich war jeden Tag, solange
mein Freund im Sterben lag, bei ihr, und mit jedem Tag bröckelte mein
Gottesglauben mehr ab, bis nichts mehr davon übrig war, besonders
seitdem ich vergleichende Religionsgeschichte gelesen hatte. Und dann
kam ich an die Philosophie.« Er schüttelte den Kopf: »Na, das ist
erst der größte Blödsinn; Narkose im Quadrat; vierte Dimension des
Stumpfsinnes.«

Ein fast voll entwickeltes Mädchen von vierzehn Jahren mit hellblonden
Flechten kam losen Ganges den Fußweg entlang, warf sich in die Brust,
als sie die beiden Männer sah, machte ihnen einen Knix und sah den
Maler so heiß an, daß Hennig die Augenbrauen hochzog. Helmold bemerkte
es und meinte: »Ein reizendes Geschöpf, und so sehr verliebt. Die
am Herzen liegen zu haben, das brächte mir am Ende noch ein bißchen
Glück. Aber das wäre unmoralisch. Früher lebte ich unmoralisch, und
hielt darum von der Moral sehr viel. Jetzt werde ich wohl moralisch
leben, denn ich weiß, daß die Moral Schwindel ist, besonders die
Geschlechtsmoral; ihre Wurzel ist der Neid, und weiter nichts. Wenn
ich mit den Augen winkte, flöge mir dieses Bild von Mädchen an die
Brust, und gäbe mir alles, was sie zu verschenken hat. Und nähme ich
es, so gäbe das ein schönes Geschrei; denn alle Männer sehen ihr mit
den selben hungrigen Augen nach, wie ich, und wie du, lieber Hennig.
Infolgedessen, darum und so weiter!«

Er sah den Rauchringeln nach, blickte mit leeren Augen über das
lachende Land und auf die kleinen Mädchen, die in der Wiese Blumen
pflückten, und sprach vor sich hin: »Ich will hier fort. Mir ist es
peinlich, die Anteilnahme in Frau Pohlmanns Augen zu sehen. Und dann
ist Annemieken da. Allen bin ich Dank schuldig; aber wie kann ein toter
Mann Dank abstatten? Höchstens durch kalte Worte. Laß uns irgendwohin
fahren, wo kein Mensch mich kennt, und wo kein Mensch ist, den ich
lieben muß.«

Das taten sie denn auch; doch zuvor fuhr Helmold nach Hause, um einige
Tage mit den Kindern zu verleben. Als er eines Morgens, während seine
Frau ausgegangen war, in der Werkstatt seine Bilder betrachtete, um
zu prüfen, ob nicht dort oder da Spuren einer krankhaft verzerrten
Anschauung zu finden seien, klopfte es an der Tür und auf seinen Zuruf
trat Luise herein. Sie war ganz blaß und hatte die Augen unter sich. Er
hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihr allein zu sein, und er war
sehr froh darüber gewesen; aber als er sie so dastehen sah mit auf den
Estrich gerichteten Augen, wurde sein Herz doch ein wenig warm, denn
sie sah so schön und dabei so magdlich demütig aus. »Nun, liebe Luise,«
fragte er, und strich ihr mit der Hand über die Backe, »wo fehlt es?
Denn du hast etwas auf dem Herzen, das sehe ich dir an.«

Das Mädchen sah auf, schlug aber die Augen sofort wieder nieder, und
ihre Brüste gingen auf und ab, als sie endlich herausstotterte: »Herr
Hagenrieder, ich, ich, mein Schwager, Sie wissen doch, meine Schwester
ist gestorben, und nun sitzt er da mit den beiden kleinen Kindern. Und
er ist da und fragt mich, ob ich ihn nicht heiraten will.« Sie strich
an ihrer Schürze entlang und schwieg. »Hast du ihn gern?« fragte er.
Sie nickte: »Er ist ein guter Mann und fleißig, und er sagt, er hat
mich von jeher gut leiden mögen, und denn sind die Kinder da, und die
mögen mich gut leiden. Und so wie es ist, kann es doch nicht bleiben.«
Sie stockte, fuhr aber gleich fort: »Aber ich meine, solche Eile hat
das just nicht, und wenn Sie wollen, Herr Hagenrieder, so bleibe ich
noch.«

Eine warme Welle lief ihm über die Brust. Er faßte das Mädchen bei der
Hand und sagte: »Nein, das will ich nicht; denn auf die Dauer durften
wir nicht so weiter leben. Wenn Sie Ihren Schwager wirklich gern haben,
ist es so das Beste.« Sie nickte und sah ihn dankbar an, Tränen in den
Augen. Er gab ihr die Hand und sagte: »Ich wünsche dir viel Glück, mein
liebes Kind. Und noch eins: jeder Mensch kann einmal Sorgen haben.
Vergiß nie, daß ich dir sehr viel Dank schuldig bin.«

Er sah ihr nach, als sie gerade und aufrecht durch den Garten ging, und
als sie in der Haustür verschwand, dachte er: »Meine Jugend hat mich
verlassen; wohl mir!«

Am anderen Tage fuhr er mit Hennecke fort. Als er nach einem Monde
wieder kam, hatte er ein volles, braunes Gesicht, klare Augen, eine
feste Stimme und einen straffen Gang. Das Weiche, Zarte war ganz bei
ihm verschwunden, doch auch das Harte und Eckige.

Er sah seinen Kleiderschrank durch, tat alles beiseite, was nach
gesuchter Eigenart schmeckte, hielt eine fürchterliche Musterung unter
seinen Halsbinden und Handschuhen ab und gab dann der neuen Magd den
Auftrag, das Moos, das er früher so sehr geliebt hatte, von den Wegen
im Garten zu entfernen. Dann stellte er alle Bilder von Swaantje wieder
an ihre Plätze und desgleichen die Geschenke, die er und seine Frau
von ihr erhalten hatten, und schließlich schrieb er ihr einen netten
Vetternbrief, in dem er ihr in leichter Weise erzählte, wie sein
äußeres Leben in der letzten Zeit gewesen war. »Denn,« sagte er sich,
»sie ist nun doch einmal unser Bäschen.«

Als Grete ihm erzählte, daß Swaantje Krankenschwester werden wolle,
erwiderte er: »Na, dann wird sie hoffentlich über kurz oder lang Frau
Doktor Soundso heißen. Das wäre auch das beste für sie.« Seine Frau
stand auf, legte ihren Kopf an seine Schulter und flüsterte: »Ist das
dein voller Ernst, lieber Helmold?« Er sah sie mit aufrichtigen Augen
an, nickte und antwortete: »Jawohl, das ist es; ich werde nicht wieder
rückfällig.« Er schwieg einen Augenblick; dann fuhr er fort: »Sie war
mir ein leiser Oktavton; er ist in mir aufgegangen und klingt nicht
mehr. Ich war C, sie eine Oktav tiefer. Es gab keine Dissonanz, aber
auch keinen Akkord, denn sie war ein zu unselbständiger Ton neben mir.
Ich liebte sie aus Angst vor dem Altwerden; jetzt habe ich vor dieser
Angst keine Bange mehr.«

Er sprach die Wahrheit; er wußte, daß er bereits alt war. In dem
Luftkurorte, in den er sich mit Hennecke geflüchtet hatte, war er
bald der Mittelpunkt der Geselligkeit gewesen, und wenn er gewollt
hätte, so konnte er viel süße Küsse pflücken. Er hatte aber nur mit
Worten getändelt und zumeist harmlos, bis sich aus dem Wortgetändel
zwischen ihm und einer hübschen, sehr schlagfertigen Frau, die unter
den Folgen eines Scheidungsprozesses litt, etwas entwickelte, das wie
Liebe aussah, aber im Grunde nur der Niederschlag der gepfefferten
Wortgefechte war, die ihm neue Spannkraft gaben und ihr das zerdrückte
Herz aufrichteten.

Er war oft sehr weit in seinen Bemerkungen gegangen. Die Frau trug
eines Tages seidene Strümpfe mit einem spiralig verlaufenden Muster.
Als er mit lustigen Augen darauf hinsah, fragte sie ihn: »Interessieren
Sie meine Strümpfe so sehr?« Er lachte: »Ja freilich; das Muster
eröffnet dem denkenden Leser die interessantesten Perspektiven?« Sie
fuhr auf: »Aber, Herr Hagenrieder?« Er lachte wieder: »Na was denn?
Denkt man sich die Spirale fortgesetzt, so landet man schließlich bei,«
er sah sie harmlos an, »dem klugen und schönen Gesichtchen!« Sie drohte
ihm mit dem Finger.

Drei Tage, bevor sie abreiste, sagte sie ihm: »Sie haben mein Herz
wieder lachen gelehrt, Sie ganz frecher Mensch Sie; aber ich glaube,
ich habe Ihnen auch etwas geholfen. Es ist übrigens gut, daß jetzt
wieder jeder seinen eigenen Weg geht.« Sie sagte das mit lachendem
Munde, aber dabei liefen ihr Tränen in die Augen, und sie drehte sich
schnell um.

Er hatte sich sehr an sie gewöhnt, und ihm war so, als müßte er ihr in
den Laubengang nachgehen und sie in den Arm nehmen; aber er riß sich
zurück. Als sie abgereist war, sagte er sich: »Herr Hagenrieder, Sie
werden alt, oder vielmehr, Sie sind es schon.«

Er war es; er wurde kühlverbindlich in seinem Benehmen, zurückhaltend
im Reden und vorsichtig im Handeln. Er, der früher Gefahren und
Verwicklungen suchte, schlug jetzt Richtwege ein, konnte er dadurch
eine Unannehmlichkeit vermeiden. »Passé!« dachte die Gräfin
Tschelinski, als sie ihn wiedersah, und wich ihm aus, was ihm sehr lieb
war, denn ihr übermodernes Wesen hatte ihm schon längst den Appetit
verdorben. Noch froher war er, als der Prinz ihm erzählte, daß Frau
Pohlmann ihr Anwesen verkauft und sich anderswohin verheiratet habe.

Mit viel mehr Freude konnte er nun zur Pürsch auf den roten Bock
fahren. Aber auch mit der Jagd war er auseinandergekommen; er schoß
nach dem Bock, wie nach der Scheibe, und während er sich früher
gänzlich der Stimmung der Landschaft hingegeben hatte, betrachtete
er sie jetzt mit den selben Augen, mit der er seine entthronten
Herzensköniginnen ansah. Er bemerkte ihre Schwächen, ohne daß er
dadurch abgestoßen wurde; er hing nicht mehr an ihnen, und so
beleidigte ihn das Fehlerhafte nicht.

Seine Frau freute sich über ihn; er war jetzt immer gleichen Mutes,
hatte nie üble Laune, vergaß kein einziges Mal den Morgen- und
Abendkuß, gab sich viel mit den Kindern ab, war der rücksichtsvollste
und verbindlichste Kavalier in allen Gesellschaften, zu denen sie mit
ihm ging, sah nie mehr mit langenden Augen nach anderen Frauen hin, aß
stets mit Appetit, ging rechtzeitig schlafen und teilte sich Arbeit und
Erholung gewissenhaft ein.

Ab und zu wurde ihr die Abgeklärtheit und Durchsichtigkeit seines
Wesens etwas unheimlich; aber bei ihrer frohherzigen Natur kam sie bald
darüber hinweg, und sie sagte sich schließlich auch: »Ach was, es ist
auch besser so!«

Ganz das selbe dachte er dann und wann auch. Wenn er beim Malen war,
und er alle die Formen und Farben, die sein Herz ihm nicht mehr bot,
aus seinem Verstand hervorholte und kühl und überlegen zu kraftvollen
Werken zusammenklingen ließ, dachte er: »Ist das langweilig! Ich weiß
ja, es gelingt: also lohnt es sich nicht mehr!«

Er wünschte sich in solchen Augenblicken, er wäre tot, und seine Witwe
fände einen netten, guten und klugen Mann; denn in Wirklichkeit stand
auch sie samt den Kindern fern von ihm.

Mit Hennecke ging es ihm nicht anders; er liebte ihn nur noch in der
Erinnerung und hatte ihm das einst gesagt. »Ist mir ganz schnuppe,«
hatte Hennig geantwortet, und er setzte hinzu: »es freut mich aber,
daß du es mir sagst; das ist eine Liebeserklärung in bester Form. Ich
habe dir viel, du mir einiges zu danken; daran wollen wir uns genügen
lassen. Schließlich bleibt doch jeder Mensch allein.«

Auch er war ein kalter Mann geworden, seitdem ihm seine Line drei
Tage, bevor er sich mit ihr trauen lassen wollte, von einem Kraftwagen
totgefahren war. Nicht viel anders ging es Beni Benjamin. Er hatte die
Stelle als Nervenspezialist am städtischen Krankenhause angenommen,
den Professortitel bekommen, spielte eine Rolle in der Gesellschaft,
und noch mehr seine schöne, lebhafte Frau, und er hatte auch die leise
Frau, die er sich geträumt hatte, in einer Patientin gefunden, die er
von jahrelangem Leiden gerettet hatte. Da starb ihm sein Sohn, und
nach einem Vierteljahr war er ein stiller Mann mit toten Augen und
lippenlosem Munde.

»Tja«, scherzte Helmold Hagenrieder, als er mit ihm und Hennecke
hinter einer guten Flasche saß, »hier sitzen wir drei Weisen aus dem
Morgen- und Abendlande, hocherhaben über der blöden Menge und können
singen: ›Guter Mond, du gehst so stille!‹ Ja, lieber Hennig, du hattest
recht, als du mit zwanzig Jahren dichtetest: ›Nichts hoffen, aber
auch nichts fürchten, nie traurig, doch auch niemals froh; Ich möchte
sein, was ich gewesen; ach was, es ist auch besser so!‹ Stoßt an,
Brüder von der kalten Lamain; das Leben ist einer Hühnerleiter nicht
unähnlich: ziemlich dreckig, oder noch mehr einem Kinderhemde: kurz und
bescheiden. Na, wir haben es bald zur Strecke gebracht. Ha la lit!«

Das meinte er aber durchaus nicht im trübseligen Sinne, und gleich
darauf erzählte er die tollsten Schnurren, ließ sich den Wein und die
Zigarre schmecken und ging um halb elf Uhr heim; denn der Alkohol war
ihm jetzt nur noch ein guter Freund, von dem er sagte: »Man darf die
Freundschaft nicht zum Verkehr ausarten lassen.« Einmal in der Woche
traf er sich mit Hennig und Beni beim Wein und einen anderen Abend ging
er in den Künstlerverein, um Billard zu spielen und zwei Gläser Bier
dabei zu trinken.

Nur wenn Vollmond war, kam ab und zu die alte Unruhe über ihn; aber
dann sah er sich vor und fuhr nach Stillenliebe, tobte sich mit Klaus
Ruter, der inzwischen den väterlichen Hof übernommen hatte, hinter den
Karten aus und ließ sich von Annemieken die Brummfliegen wegjagen.

Bei diesem Mädchen, das gar keine Bildung, aber ein Herz und einen
scharfen, wenn auch nicht weiten Verstand und viel Takt hatte, wich
alle seine Unruhe sehr bald. Zudem fesselte sie ihn, wenn auch wenig
mehr als Weib und auch kaum als Einzelmensch, sondern als Typus; das
Erdgebürtige, das Urwüchsige, Unverbildete ihrer Erscheinung und
ihres Wesens sagte seinem Urmenschenempfinden zu, und mit stets neuem
Erstaunen lauschte er den unwillkürlichen Offenbarungen, die ihrem
Unterbewußtsein entsprangen.

Sie konnte eben noch lustig lachen, aber dann begannen ihre Augen
zu verschwimmen, und wenn sie sprach, hörte er nicht ein hübsches
Landmädchen reden, sondern sein Volk sprach zu ihm. Stundenlang konnte
er, die Pfeife im Munde, im Backenstuhle sitzen und in das offene
Feuer sehen, während Gift und Galle sich zu seinen Füßen räkelten und
die Katze auf seinem Schoße saß und schnurrte; ihm gegenüber saß dann
Annemieken, spann und sang mit nur halb entfalteter Stimme ein altes
Lied.

»So kann man tausend Jahre sitzen,« sagte er, den Funken zusehend, die
um den Dreifuß sprangen. »Ja, Feuer ist Gesellschaft,« antwortete das
Mädchen und ließ das Rad weiter schnurren.

Er sah sie groß an; dieses eine Wort, das einzig mögliche, um die
Bedeutung des offenen Feuers für das Seelenleben eines ganzen Volkes
wiederzugeben, eröffnete ihm einen Ausblick auf die Entstehung der
gesamten Volksdichtung.

»Weißt du, Mieken, daß du eine Dichterin bist?« fragte er sie. Sie
nickte gleichmütig: »Ja, ich habe erst heute noch das Fenster
im Ziegenstall gedichtet«, und dann lachte sie, weil er ein ganz
verblüfftes Gesicht machte, denn das war der erste Kalauer, den er von
ihr hörte.

Doch so ging es ihm oft mit ihr; sie hatte tausend Schubladen und
Geheimfächer in ihrer Seele, und manche davon waren so versteckt
angebracht, daß sie sie nur ganz zufällig fand und selber erstaunt
war über die alten Erbstücke, die darin herumlagen, einige noch
gut erhaltene, andere vergilbt und stockfleckig, mottenfräßig oder
schimmelig.

Das Spinnrad schnurrte, der Tranküsel flackerte, rote Funken sprangen
hin und her, und die gewaltigen Pferdeköpfe des Herdrahmens warfen
unheimliche Schatten auf die Wände des Fletts. Mieken rührte die Arme
fleißig, und Helmold betrachtete mit zufriedenen Augen ihr reiches
blondes Haar, ihr frisches Gesicht, das bei jedem Lächeln drei Grübchen
vorwies, die vollen Brüste, die sich ungesucht unter dem weißen Hemde
und dem roten Leibchen abzeichneten, und die prallen Lenden, die
der blaue Rock umspannte, während die weiße Schürze sich im Schoße
verführerisch knickte, und er ließ sich von der alten Weise streicheln,
die der Kessel brummte und Annemieken summte, bis sie, mit verträumten
Augen vor sich hinstarrend, zu erzählen begann und ihn in die Zeiten
führte, da noch die Bäume rote Herzen hatten und jedes Tier eine
Sprache besaß, die von Menschenohren verstanden wurde.

Sein Volk, das einzige, das er auf der Welt noch liebte, saß vor ihm
in Weibesgestalt, durchsichtig, wie ein tiefes Wasser, und ebenso
unergründlich, schön anzusehen und doch schrecklicher Geheimnisse voll,
und es blickte ihn mit hellen warmen Augen an, die einen Pulsschlag
später kalt und dunkel aussehen konnten.

Er zerfaserte sein Verhältnis zu dem jungen Weibe, das vor ihm saß und
in völliger Selbstvergessenheit spann. Zu Bildern waren ihm die Frauen
im allgemeinen nun geworden; er konnte sie nur noch flächig sehen.
Bei Annemieken war das anders, die lebte um ihn; weniger sie selber,
als das, dessen Sinnbild sie war, als sein Volk, mit dem er sich eins
fühlte.

Er dachte an die Stadt und lächelte in sich; Plunder, Volants, außen
und innen, ein Staffeleileben, zwecklose Ornamentik, Künstelei, das
Ganze ohne viel Sinn und Zweck.

Er sah sich im Flett um; da war nur Zweck und gar kein Ornament. Selbst
die Mährenhäupter des Rahmens waren nur Zweck, eine Verbeugung vor
Wode, dem entthronten Gotte. Aber wie schön war nicht der Kesselhaken
in seiner ganz auf den Zweck gearbeiteten Form, wie schön jedes Stück
Geschirr an der Feuerwand, wie sinngemäß die kunstvolle Pflasterung des
Estrichs mit den geschwungenen Schmuckstreifen aus weißen Kieseln. Das
war Kunst, Kunst im Leben, nicht neben dem Leben, keine Staffelei- und
Atelierkunst.

Überall lachte sie ihn an, die Seele seines Volkes, die ein Kunstwerk
aus jedem Geräte gemacht hatte, und nur deshalb, weil sie an Kunst
nicht dachte. Ob es nun der Kugelfußtisch war oder der Stuhl mit dem
Sitze aus Schilf, die Tranlampe oder der Tellerkranz, jedes Stück
erzählte oder sang in seiner leisen Art; desgleichen der Rosmarinstock
vor dem Fenster der Dönze und der grüne Topf, in dem das Allwundheil
wuchs. Das war die Welt, in die er hineinpaßte, in der er hätte leben
müssen, wenn auch nur als kleiner Handwerker.

Hier tönte ihm noch ein Echo des wirklichen Lebens. Es war ihm ein
Bedürfnis, Annemieken die schweren Arbeiten abzunehmen; er fühlte
sich ganz hineingestimmt in diese Welt, er, der Mann, der dem übrigen
Leben gegenüber sich zum Außerhalbsbewußtsein hingefunden oder verirrt
hatte. Da war Ruhe und Frieden und langsames, bedächtiges Schaffen;
da war nicht jeder Augenaufschlag mit einem Lächeln gewürzt, wurden
Zärtlichkeiten nicht feilgeboten. Alles mußte erarbeitet oder erobert
werden.

Unglaublich tief war das Verständnis dieses einfachen Weibes für
seine Art; denn es beruhte auf der uralten Überlieferung, auf nach
Jahrtausenden zählenden Gewohnheiten, auf einer unermeßlichen Erfahrung.

›Hier ich, da du!‹ das war die Losung, und das Feldgeschrei
hieß: ›Jedem das Seine!‹ Da gab es keine Seelenvermanschung,
Persönlichkeitsverquirlung, nur ein Zusammengehörigkeitsgefühl, wie
zwischen dem Birnbaum im Grasgarten und dem Efeu, der ihn umwuchs. Vor
allem! man sprach nicht über Dinge, die mit Worten nicht zu ändern
sind, wie man seit Jahrzehntausenden wußte; man war zu klug und zu
gebildet und zu keusch. Man zog sich nie nackt vor einander aus, und
man quälte sich nicht mit Unmöglichkeiten. Man gab sich keine Mühe, den
anderen zu durchdringen; man wußte, jeder blieb doch für sich. So gab
es keine Enttäuschung und kein Entfremden, keinen kalten Blick nach dem
Nacken des anderen.

Er trank den Rest Warmbier aus der zinnernen Kanne, die er neben dem
Feuer stehen hatte, klopfte seine Pfeife aus, hängte sie an den Nagel,
sah das Mädchen an und sprach: »Annemie!« Sie lächelte und ihre Augen
leuchteten, denn wenn er sie so anredete, das wußte sie, mußte sie ihm
irgendwie helfen. Sie sah ihn fragend an. Er fing an: »Annemieken, du
hast sie doch gesehen, damals, als ich so krank war?« Sie nickte. »Wie
gefiel sie dir?« Sie wiegte den Kopf hin und her: »Ich weiß nicht; das
war nicht Fisch noch Fleisch!«

Er sah Swaantje vor sich. Ihre Augen hatten keine goldenen Blumen
mehr, sondern gelbe Flecke; ihre Stimme war nicht mehr weich, sondern
schwach; ihr Gesicht war zu sehr nach Mannesart geschnitten, und ihr
Haar roch nicht wie Mädchenhaar; was sollte er also mit ihr?

Aber er hatte ein Anrecht auf sie, er wollte seine Satisfaktion von ihr
haben; wollte damit alles das, was er durch sie eingebüßt hatte, wieder
in sich hineinzwingen. »Aber das wird doch nicht gehen,« überlegte
er, nahm Annemieken in den Arm und küßte in ihr sein Volk, ließ sein
Bewußtsein in ihr untergehen, wärmte sein altes Herz an dessen ewig
jungem Leben.

Als dann der Schlummer sein Denken schon zudecken wollte, war es ihm,
als ob seine Ehefrau neben ihm atmete, und sehnsüchtig gedachte er
ihrer. Er sah sie als Bäuerin im Hause walten, ruhig und bedächtig,
nur ihm und den Kindern lebend, unbekümmert um das, was außerhalb
ihres Hofes in der Welt vor sich ging, ganz und gar weiter nichts als
Frau Hagenrieder, von seiner selbstverständlichen Achtung umgeben, und
seiner vollen Liebe um so sicherer, als davon niemals die Rede war.

Als er nach drei Tagen in der zweiten Wagenklasse heimfuhr, hatte er
ein Mädchen aus der ersten Gesellschaft zur Fahrtgenossin. Sie war
einst seine Tischnachbarin gewesen, hatte ihm in allen möglichen Dingen
widersprochen, bis ihm die Geduld riß und er freundlich antwortete:
»Ja, über bildende Kunst kann ich nicht urteilen, gnädiges Fräulein;
ich bin man bloß Maler.« Sie hatte erst einen roten Kopf bekommen und
glühende Augen, war aber dann ganz weich geworden und hatte ihn in
aller Form um Entschuldigung gebeten.

Nun war sie wie Knetwachs in seinen Händen. Sie war sehr schön und
von reizendem Wesen, und er wußte es: »Ein Wort, ein Griff und du
hast sie.« Aber er hatte eingesehen, warum er noch vor kurzem jedes
Frauenherz annahm, das ihm hingehalten wurde; Seelen hatte er sich
vermählen wollen. Nun er einsah, daß das eine Unmöglichkeit war, riß
er sich zurück, unterhielt das hübsche Mädchen auf das beste, vermied
jene innere Annäherung und schied von ihr mit einem höflichen Lächeln.

Am nächsten Tage mußte er abermals ein Herzchen dankend ablehnen. Er
war allein im Hause und Minna, das Kindermädchen, das mit einem Male
einen prallen Schürzenlatz und verlangende Augen bekommen hatte, umgab
ihn, als er zu Abend aß, mit so durchsichtiger Hingebung, daß die
Absicht mit Händen zu greifen war. Als er dann allein in der Werkstatt
war, erschien sie zweimal dort, reizend anzusehen in dem Waschkleide,
dem weißen Tändelschürzchen und dem Spitzenhäubchen in dem welligen
hellen Haar.

Sie tat ihm leid, denn allzu deutlich bot sie sich ihm an, von der
Natur getrieben und aus dem Gefühle der Dankbarkeit heraus gegen den
allzeit gütigen Herrn; auch war er sich ganz klar darüber, daß er sie
begehrte, einfach deshalb, weil die Natur den reifen Mann zu dem eben
aufblühenden Weibe hinzwingt; aber er nickte ihr nur freundlich zu und
sagte: »Danke, liebes Kind, nun habe ich alles; wenn du noch etwas
ausgehen willst, so ist mir das recht. Es ist ein so schöner Abend.«

Rüstig arbeitete er an seinem Bilde weiter, denkend: »Ich bin nicht
mehr jung genug für solche Dinge und habe also das Recht darauf
eingebüßt. Und sie ist zu schade dafür, mir weiter nichts zu sein, als
ein Spielzeug. Und sie wird nicht mehr an mich denken, sobald sie einen
findet, der ihrer Art ist.«

Die nächste Zeit hatte er sehr viel zu tun, einmal mit seinen großen
Aufträgen und dann mit dem Doppelbildnis des Oberpräsidenten und
seiner Frau. Als es fertig war, schickte er es ihnen hin, und als er
am folgenden Tage dort eingeladen war und die Oberpräsidentin ihm
sagte: »Sie haben uns hoch erfreut, lieber Freund; wie sollen wir das
gut machen?« lachte er und sagte: »Dadurch, daß Eure Exzellenz mir
gestatten, noch oft kommen zu dürfen.«

Im Verlaufe des Abends fragte der Hausherr: »Sagen Sie mal, Ihre
Familie war doch einst von Adel?« Der Maler nickte: »Jawohl, von
altem Bauernadel. Wir verarmten in Kriegszeiten völlig und legten die
Standesbezeichnung ab, denn sie war zum störenden Ornament geworden,
womit man überall anhakte. Ich besitze übrigens alle Papiere über mein
Geschlecht; der Stammbaum weist keine Lücke auf über sechshundert
Jahre.« »Ei, ei,« meinte der Gastgeber und sprach von etwas anderem.

Einige Zeit darauf wurde Hagenrieder zum geheimen Hofrate ernannt.
Um den Glückwünschen aus dem Wege zu gehen, und um sich von den
gesellschaftlichen Anstrengungen zu erholen, fuhr er nach Stillenliebe.
Er hatte sich in Annemiekens Hause eine Dönze eingerichtet und wohnte
nicht mehr in der Wirtschaft. Die Bauern vermieden jede Anspielung auf
seine Stellung zu dem Mädchen; er gehörte so sehr zu ihnen, daß sie
sein Eigenleben ebenso achteten, wie sie ihr eigenes schützten.

Alle, die ihn näher kannten, fühlten heraus, daß er nicht mehr der
lustige Mann war, als den sie ihn kennen lernten; aber da jeder von
ihnen selber einen Packen auf dem Nacken hatte, erbot sich keiner, ihm
den seinen tragen zu helfen, selbst der Vorsteher Klaus Ruter nicht,
sein bester Freund im Dorfe. Als der Pfarrer vom Kirchdorfe einmal bei
Ruter vorsprach, angeblich kirchlicher Angelegenheiten halber, und
anscheinend beiläufig auf das Verhältnis Hagenrieders zu Annemieken zu
sprechen kam, fragte ihn der Vorsteher: »Was trinken Sie lieber, Herr
Pastor, Bier oder Wein?« Da sprach der Geistliche schnell von etwas
anderem.

So hatte Helmold Hagenrieder zwei Gesichter, das des Jägers und Bauern,
und das des Stadtmenschen und Künstlers. Er konnte die halbe Nacht mit
den Bauern trinken und Karten spielen, und er brachte es fertig, vier
Stunden lang im Frack der Glanzpunkt einer Tischgesellschaft zu sein.
Die Bauern ahnten nicht, daß der Mann, der mit jedem von ihnen auf
du und du stand, der bedeutendste bildende Künstler seiner Zeit war.
Als ein Reisender eine Zeitschrift im Kruge liegen ließ, in dem der
Geheime Hofrat Professor Hagenrieder beschrieben und abgebildet war,
machten sie zwar den verlegenen Versuch, ihm seine Titel zu geben,
aber da lachte er und sagte zu dem Wiebkenbauern: »Alter Döllmer! Soll
ich zu dir vielleicht Herr Vollmeier oder Herr Jagdvorsteher oder Herr
Gemeinderatsmitglied sagen? Professor und Geheimrat und das andere bin
ich, wenn ich die Kellneruniform anhabe; hier heiße ich Hagenrieder
und damit basta. Prost, Korl! auf daß deine Kinder einen klugen Vater
kriegen!« In der Stadt hinwiederum hatte man keine Ahnung davon, daß
der Herr Geheimrat, der fesselnde Plauderer, da hinten in der Haide
wie ein Halbindianer lebte und mit einem Mädchen, das mir und mich
verwechselte, selbst wintertags keine Hosen trug und mit dem Messer
aß, auf du und du und so weiter stand und ihr beim Holzhacken und
Stallausmisten half. Die einzigen Stadtleute, die darum wußten, Hennig
Hennecke und der Prinz, sprachen darüber nicht.

Mehr als einmal hatte Helmold es vorgehabt, sich seiner Frau zu
entdecken; doch stand er davon ab, indem er sich sagte: »Wozu soll
ich sie ärgern?« Und dann wußte er auch, daß er ihr eigentlich gar
nichts verheimlichte, denn was war ihm Annemieken schließlich mehr als
ein Teil des Dorfes, ein Stück der Landschaft? Die Zeit der Liebe war
vorbei für ihn, also auch die Zeit der heimlichen Sünde.

Er hatte sich jetzt völlig in der Hand; sein Herz lief Schritt und
Trab, wie er es haben wollte. Nur ein einziges Mal schlug es noch
etwas über die Stränge. Das war auf dem großen Maienfeste, das die
Künstlerschaft im Hirschgarten veranstaltete. Es fiel gerade in die
Zeit, in der sich Swaantje bei Benjamin einer Behandlung unterzog.
Sie wohnte bei Hagenrieders. »Ist es dir auch nicht unangenehm?« hatte
Grete gefragt. »Durchaus nicht,« antwortete ihr Mann.

Mit einer gewissen Feindseligkeit im Herzen trat er ihr anfangs
gegenüber, doch fand er bald, daß er sich unnütz in Paukwichs geworfen
hatte. Ihre Stimme klang nicht mehr bis zu seiner Seele, und seine
Augen streichelten sie weder, noch drohten sie ihr. Er vermied aus
Nützlichkeitsgründen das Alleinsein mit ihr; ließ es sich aber nicht
umgehen, so zwang er sich zu einem leichten freundlichen Plaudertone.
Sobald sie aber eine ernste Frage anbrach oder an sein Innenleben
heranging, machte er kehrt.

Ganz kalt beobachtete er sie. Sie war noch ebenso schön, wie einst;
aber er hatte zu lange hinter ihr hergeweint, als daß seine Augen für
sie nicht erblindet wären. Er liebte sie nicht mehr, und fühlte auch
keinen Haß gegen sie; sie war ihm nichts, als das Bild eines Menschen,
den er einst heiß geliebt hatte.

»Schade,« dachte er, »daß es so ist; aber nichts ist überzeugender, als
die Wucht der Tatsache!«

Er sah sie im Garten neben Grete stehen. Er zog sie mit den Augen aus,
betrachtete ihren Akt, gab ihr alle Stellungen und setzte sie jeglicher
Beleuchtung aus, schüttelte den Kopf und dachte: »Es war einmal! Ein
Segen, daß sie nicht meine Frau geworden ist.« Und mit einem Male mußte
er auflachen. Er hatte Professor Groenewald kennen gelernt, einen Mann,
der nach Eitelkeit und Kölnischem Wasser roch, Weiberhände hatte und
einen Brillantring trug. »Schmalzlerche!« hatte Helmold gedacht, als er
ihn sah. Nun aber dachte er: »Solche Männer, die keine sind, gefallen
so'nen Weibern, die keine sind.«

Bei der Tafel hatte er Swaantje halb rechts gegenüber sitzen; ein
großer Strauß trennte zumeist ihre Blicke, so daß er sich völlig
seiner Tischdame widmen konnte, eben jenem schönen Mädchen, das ihm
einst in der Eisenbahn ihr Herz umsonst hingehalten hatte, und das
den rosenroten Namen Meinholde Marten trug. Sie war glücklich, neben
ihm sitzen zu können; ihre Augen funkelten noch mehr als die Demanten
in ihrem goldenen Haar und auf ihrem herrlichen Halse. Seine Blicke
streichelten ihre Schultern und stahlen sich dahin, wo ihre Brüste im
Schatten der Spitzen auf und abhüpften, ab und zu freudig errötend,
wenn eine zarte Schmeichelei oder ein kecker Vergleich sie in Erregung
versetzte.

Niemals war Helmold bezaubernder gewesen, als an diesem Abend: er focht
Dessin mit seinen Worten, schlug ganz leichte Terzen an, gebrauchte
listige Finten und setzte dann eine Tiefquart dahinter, daß Lappen und
Knochensplitter flogen und die Abfuhr völlig war. Aber das war nichts
als Schlägermensur; mit dem krummen Säbel trat er erst an, als er sich
zum Trinkspruche erhob, denn da sah man den Renommierfechter. »Ich
habe den peinlichen Auftrag erhalten, den Trinkspruch auf die Damen
auszubringen,« begann er und sah kalt von rechts nach links in die
vierhundert verblüfften Augen. »Ich denke gar nicht daran, den Auftrag
zu erfüllen; denn,« er sprach es mit einem bösen Blicke, »den Frauen
und Jungfrauen will ich ein Lobredner sein, so gut ich es kann.« Alle
Augen wurden hell. »Dame, was ist das?« fuhr er fort; »ein wälsch Wort,
ein farblos Wort, ein Unwort. In der galanten Zeit kam es auf, und
bedeutete nichts Sauberes, schmeckte nach Liebelei, aber nicht nach
treuer Liebe, sagt doch der alte gute Friedrich von Logau: ›Was Dame
sei und dann, was Dama wird verspürt, daß jene Hörner macht und dieses
Hörner führt.‹«

Er lachte lustig und rief: »Fort mit dem dämlichen Wort!« Und dann wand
er den Frauen und Jungfrauen einen Kranz aus roten und weißen Blüten;
er huldigte ihnen als Mann, nicht als Knecht; er gab ihnen die Hand,
küßte ihre aber nicht, die Kniee beugend; vergaß keine, weder die
vornehme Frau noch die einfache Magd, und dann schwenkte er ab, näherte
sich gefährlichen Punkten, daß die Männer unruhige Augen bekamen und
den Frauen das Herz stille stand, weil sie ihn schon abstürzen sahen;
doch mit einem harmlosen Lächeln gab er seinen Worten eine Wendung,
die ihn rettete. So führte er seine Zuhörer ein dutzend Male an
gefährlichen Abgründen vorbei, um sie schließlich zu einem Gipfel zu
leiten, von dem aus sich ihnen eine Aussicht bot auf lauter Sonne und
Wonne.

Alle Augen an der Tafel waren erfüllt von dem Abglanze seiner Worte,
als er endete und hinter einem Gitter weißer Arme verschwand, die ihm
die Sektkelche entgegenstreckten, deren helles Klirren sich von dem
neidischen Beifallsgemurmel der Männer abhob, wie weiße Blumen von
abendlich dunklem Gebüsche. Doch am meisten leuchteten die Augen seiner
Tischnachbarin; als er mit ihr anstieß, hauchte sie: »Du!«

Swaantjes Augen aber standen schwarz in ihrem weißen Gesichte; ihr
Mund war wie ein Strich, und ihre Hand lag geballt auf dem Tische. Sie
hatte das selbe Gesicht, wie an jenem Tage, als er in der Werkstatt um
einen Kuß flehend vor ihr stand, Tränen in den Augen. Nun stieß er,
sie unbefangen anblickend, mit ihr an und setzte sich nieder, seiner
Tischnachbarin ein Wort zuflüsternd, das Abendröte auf ihrem Gesichte
hervorrief.

Keinen Augenblick ließ Swaantje das Paar mit den Blicken los, solange
die Tafel währte. Ihr Vetter merkte es wohl; als er sah, wie blaß sie
war, stieg ein unbehagliches Gefühl in ihm auf. Aber da er rundumher
nur zärtliche Augen erblickte, und der Sekt sein Blut erhitzte, und das
Mädchen, das neben ihm saß, ihn ganz in Anspruch nahm, und zudem der
Fliederstrauß Swaantje halb verbarg, so vergaß sein Herz sie.

Und dann kam der Fackelreigen durch den dunkelen Wald, an dessen
Rändern die Nachtigallen schlugen, und er hatte das wunderschöne
Mädchen erst am Arm, und bald darauf, als der Zug sich auflöste, im
Arm, und der Kauz rief und der Waldmeister und das junge Buchenlaub
dufteten, und Helmold küßte Meinholde und sie küßte ihn wieder, bis sie
aufseufzte und flüsterte: »Nun geh! sonst reden sie über uns.«

Dann aber fand er sich mitten im Trubel, stand vor Swaantje und bat
sie um den Walzer. Sie tanzte schlechter als sonst, und sah so bleich
aus, daß er sie zu einer Bank führte, sich zu ihr setzte und einen
leichten Ton anschlug. Sie antwortete matt und lächelte kaum, wenn er
etwas Lustiges sagte, und mit einem Male sah sie starr nach seiner
Hemdenbrust, stand jäh auf und sagte: »Ich muß einen Augenblick allein
sein; mir ist so sonderbar.«

Als sie ihn verlassen hatte, nahm er das goldblonde lange Haar fort,
das an der Perle hing, die sein Hemd zusammenhielt, und er wußte
nicht, sollte er die Stirn runzeln oder lächeln. Aber dann erinnerte
er sich an das, was er sich an dem Tage vorgenommen hatte, als er den
Mordhirsch im Schandenholze geschossen hatte. »Blut um Blut!« dachte er.

Am folgenden Tage fuhr er zur Jagd; absichtlich fuhr er in aller Frühe
fort, ohne Abschied zu nehmen. Als er nach einer halben Woche wieder
kam, nach jungem Birkenlaube und Post duftend, drei Birkhähne in der
Hand, traf er Swaantje ganz allein zu Hause, denn seine Frau hatte
einen Besuch zu machen und die Mädchen waren mit den Kindern aus.

»Du siehst nicht besonders aus, Kleine,« sagte er und tätschelte ihr
die Backen wie einem Kinde. Sie bediente ihn beim Kaffee; er freute
sich der kraftlosen Anmut ihrer Bewegungen und nahm den Klang ihrer
weichen Stimme dankbar hin, suchte aber vergebens nach den goldenen
Blumen in ihren Augen und lauschte umsonst auf den Widerhall seiner
Liebe in seiner Brust.

Wenn er sie ansah, war ihm zu Mute, als käme er in eine Stadt, in der
er einst viele liebe Freunde hatte, und nun waren sie alle tot.

Doch als er dann in der Werkstätte war, dachte er: »Ich will sie an
ihre Schuld mahnen, jetzt gleich. Donnerwetter, sie ist und bleibt
doch immer eine Lücke in meinem Leben, über die ich in Gedanken alle
naselang noch stolpere!« Er gedachte der Nacht, in der sie in dem
Büchersaale von Swaanhof vor ihm stand in dem weißen Nachtkleide, den
hellen Schein der Kerze über ihrer Brust, auf die der Schatten des
Palmenwedels mit kecken Fingern deutete, und des Maientages, an dem sie
mit dem Rade fiel und ihre Röcke so schüttelte, daß ihre Hosen bis über
die Hüfte sichtbar wurden, und er sagte sich: »Ich will mir holen, was
mir zukommt; denn ich habe es mit meinem Leben erkauft. Also!«

In diesem Augenblicke kam Swaantje aus dem Wohnhause und ging in den
Garten, ein Buch in der Hand. »Aha!« sagte er sich; »läuft der Hase
so?« Denn sie hatte ein weißes loses Kleid an, fast ganz so wie jenes,
das einst seine Hände hungrig gemacht hatte.

Er ging ihr entgegen: »Du hast mein neuestes Bild noch nicht gesehen,
Swaantien,« sagte er. Sie wurde rot und folgte ihm. »Ach, wie schön,«
flüsterte sie und sah ihn mit hingebungsvollen Augen an.

»Bleibe ein bißchen hier und erzähle mir was, Maus,« bat er und deutete
auf das Ruhebett. Sie gehorchte und sah ihm zu, wie er an dem Bilde
einige Stellen vollendete.

»Ach was, malen!« rief er und stellte den Pinsel in das Glas; »ich habe
keine rechte Lust dazu!« Er schob einen Sessel heran und setzte sich
zu ihr. »Hast du nichts Neues geschrieben?« fragte er. Sie schüttelte
den Kopf: »Ich habe es aufgesteckt; ich habe gar kein Talent.« Er
lächelte in sich. »Ist auch besser so. Talentvolle Frauen sind keine.«
Und dann fragte er weiter: »Hat dir Benjamin geholfen?« Sie nickte:
»Etwas!« antwortete sie. Er strich über ihre Schläfe. »Immer noch die
alte Stelle?« Sie nickte und sah ihn dankbar an, denn seine Hand war
ihr eine Erquickung. Er legte den Arm um ihren Nacken, küßte sie auf
den Mund und flüsterte: »Meine Swaantje!« Ihre Arme erhoben sich, als
wenn sie seinen Hals umfassen wollten, aber dann stieß sie ihn zurück
und rief: »Aber Helmold, schäme dich!« Er ließ sofort von ihr ab und
lächelte: »Entschuldige, liebe Swaantje; das verflixte Kleid!«

Als er zu Bette ging, fragte ihn seine Frau: »Hast du Swaantje etwas
Böses gesagt? Sie war so sonderbar und will morgen abreisen.« Er
errötete etwas, erwiderte jedoch ganz ruhig: »Ich! wie sollte ich dazu
kommen?« Doch ehe er einschlief, schämte er sich, einmal, weil er seine
Hände nach einem Weibe ausgestreckt hatte, an dem ihm nichts gelegen
war, und dann, weil er fühlte, daß er sie doch noch liebte, wenn auch
nicht als Weib. »Ich habe in ihrer Seele, die ich immer und ewig liebe
und begehre, mein Bild zerschnitten,« dachte er und nahm sich vor, sie
um Verzeihung zu bitten.

Dazu kam er aber nicht, denn als er sie am Frühstückstische traf, sah
sie nicht bleich und elend aus, wie er gefürchtet hatte, sondern eher
froh und glücklicher, als in den letzten Wochen, und als sie abreiste,
nickte sie ihm aus der Wagentür freundlich zu.

»Der Teufel soll aus den Frauenzimmern klug werden,« dachte er und kam
sich wie ein dummer Junge vor, der eine kokette Abwehr ernst genommen
hatte. Späterhin aber freute er sich des Mißerfolges. Was früher seine
höchste Wonne gewesen wäre, nun wäre es besten Falles weiter nichts
gewesen, als ein Vergnügen.

»Ich hätte nicht mehr davon gehabt, als wenn ich die Zunge zum Fenster
hinausgehalten hätte,« dachte er, suchte einen bespannten Keilrahmen
heraus und entwarf ein Bild von ihr.



Der Sarg


Es wurde ein wahrhaftiges Kunstwerk; es war so schön, daß er dachte:
»Eine Liebeserklärung auf Leinewand!« Dann aber lächelte er und meinte
zu sich: »Nicht ganz, eher das Gegenteil.«

Als er aber das Bild, bevor er es einpackte, noch einmal ansah, schien
es ihm doch anders. Er setzte sich ihm gegenüber und sah ihm in die
Augen, bis das weiße Mädchenangesicht, das hell und kühl aus dem
Schatten des Kiefernwaldes hervordämmerte, zu lächeln begann und mit
bittenden Lippen flüsterte.

»Meine Nonne,« dachte er, »warum liebte ich dich so sehr, ohne dich zu
begehren? und begehrte dich, ohne dich zu lieben? Weil ich der einzige
Mann bin, der dich aus deiner Nonnenhaftigkeit erlösen konnte, aus
deinem eiskalten Alleinsein, dir ein Kind schenken, ein warmes Leben,
damit du des Nachts nicht frierst, wenn du erwachst?«

Er dachte daran, daß alle Kinder Angst vor dem Mädchen hatten, oder
wenigstens keine Zuneigung für sie, und daß kein Mann sie ansah,
außer ihm selbst und Brüne. Und mit einem Male sah er den Freund, den
einsamen, der keine Frau hatte, und der vielleicht nie eine Geliebte
gehabt hatte, der zwischen seinen Büchern und Gemälden und Bildwerken
das tote Leben des unfruchtbaren Ästheten führte, und erkannte, daß
dieser Mann denselben unerfüllten Wunsch in den Augen hatte, wie
Swaantje, und dasselbe hoffnungslose Bitten um die Lippen.

»Was ist es,« dachte er, »das diese Menschen zu mir hinscheucht
und mich zu ihnen, mich, dem alles Halbe, Unfertige, Dilettantische
gleichgültig ist? dem das Problematische kein Problem ist, und dem
das Rätselhafte nicht wert dünkt, es zu raten?« Er sah zwei Gärten
vor sich, von Mauern umschlossen, alte stille Gärten, deren Blumen
nur verstohlen dufteten, und in denen die Vögel ganz anders sangen
als sonstwo, ohne Wunsch und Wille. Er sah Brüne in weißer Kutte und
Swaantje in der steifen, kühlen Tracht der Bräute Christi, und beide
blickten ihn an mit wunschleeren Augen, in denen ein hoffnungsloses
Bitten lag.

Er pfiff das freche Lied von der Lüneburger Haide, steckte sich
eine Zigarre an und dachte an die vielen, vielen schönen Frauen und
hübschen Mädchen, die in seinen Armen zerschmolzen waren. »Restlos
zerschmolzen,« dachte er und lächelte spöttisch; »Weh und Wonne
hinterlassen gleicherweise keine sichtbaren Spuren in der Erinnerung;
wenigstens nicht auf die Dauer.«

Früher hatte er sich in lauen Stunden gern der roten Küsse erinnert,
die rechts und links in reicher Fülle neben seinem Wege blühten.
Sie waren verwelkt; dürre Stengel waren alles, was von ihnen übrig
geblieben war. »Das Leben lohnt sich wirklich nicht,« dachte er und
folgte einem Winke des Standspiegels.

Er besah sich von oben bis unten, kehrte sich um und um, zerpflückte
sich und betrachtete die einzelnen Stücke. Seine Augen sprachen die
Worte Antars, des Dichters: »Wir gehören zu einem Geschlechte, das
nicht in seinen Betten stirbt,« tuschelten sie ihm zu. »Irrtum,
Herrschaften,« sagte er, »zu dem Geschlechte derer, die nur dann
glücklich werden, wenn sie nicht in ihren Betten sterben.« Er langte
die Chronik derer von Hagenrieder heraus, ein Werk Henneckes, blätterte
darin und sah, daß die Hagenrieder nur dann Glück fanden, wenn sie den
Pflug oder das Schwert geführt hatten.

Sein Vater fiel ihm ein, der strenge, gemessene, kühle Kaufmann, der
daran gestorben war, daß er so oft verbindlich hatte lächeln müssen,
wenn er lieber gebrüllt und dreingeschlagen hätte, und daß er selber,
des früh Verstorbenen Sohn, niemals stolzer und froher gewesen war, als
wenn er die Faust hatte gebrauchen können, als Werkzeug, wenn er den
Garten grub oder Pürschsteige schlug, oder als Waffe.

»So ist es,« sprach er vor sich hin, als er die Bilderkiste zunagelte;
»Kunst ist ungelebtes Leben, ist ein Notbehelf dafür, ein ganz elender
Ersatz!«

Als er die Aufschrift auf die Kiste malte, mußte er lächeln; ihm war zu
Sinne, als schicke er seine Liebe nach Swaanhof, damit sie dort an die
Wand gehängt werde. »O, ich entbehre sie ja auch nicht mehr,« dachte
er. »Einst, als ich jung und heiß war, suchte ich in Swaantje den
Frieden des Schattens, seine kühle Ruhe, seine sanfte Stille; was soll
ich jetzt mit ihr, jetzt, da ich alt und kalt bin? Glut brauche ich
heute, sehr viel Glut und Licht und Farbe für mein kaltes Herz. Mein
ganzer Leib ist mit Küssen bedeckt, wenigstens bedeckt gewesen, aber
mein Herz hat keine davon abbekommen, mindestens lange nicht genug.
Aber Tränen sind reichlich darauf gefallen, doch die wärmen nur einen
Augenblick; sobald sie verdunsten, erzeugen sie Kälte. Das weiß ich
noch aus der Physikstunde.«

Er schrieb den Frachtschein und freute sich, daß seine Handschrift
noch genau dieselbe war wie vor dreißig Jahren, anspruchslos, ohne
Schnörkel und übersichtlich. »Im Grunde bin ich ein ganz einfacher
Mensch,« überlegte er, »so gar kein bißchen kompliziert. Wenn ich
mir und anderen manchmal so vorkam, so lag es daran, daß dies Leben,
dies zivilisierte Leben von heute in diesem Koofmichzeitalter,
in dieser Ära des geistigen Mittelstandes, in dieser Periode des
bekömmlichen Durchschnittes, so kompliziert ist. Ach ja, die goldene
Mittelmäßigkeitsstraße! Freiheit für alle Unfreien, Gleichheit
zwischen Groß und Klein, Brüderlichkeit zwischen dem, was sich haßt;
schöner Blödsinn, an dem wir vor die Hunde gehen werden.«

Die Sonne fiel plötzlich so in die Werkstatt, daß die Büchse an der
Wand grell funkelte. Er nahm sie herunter, spannte sie, stach den
Hahn ein, suchte ein Ziel, drückte ab, repetierte, stach wieder,
drückte wieder ab, schüttelte den Kopf und hängte sie an das Geweih.
Sein Gesicht war ganz ernst geworden. Er dachte daran, daß er lange
Zeit den heißen Wunsch gehabt hatte, eine Schlacht mitzumachen, aber
vorne, in den ersten Reihen. Er lächelte und sagte sich: »Na die, in
der ich mir damals den schweren Blattschuß, zwölf Ringe, faustgroßer
Ausschuß, geholt habe, die war schon blutig genug; vollkommen
invalide, knapp landsturmfähig kam ich nach Hause, und ohne Orden und
Kriegsauszeichnungen.«

Er lachte, zog ein Buch aus dem Schranke, schlug eine Stelle auf und
nickte: »Hast recht, Tscheng ki tong, wenn du schreibst: ›Übrigens kann
so etwas nie genug kosten, denn nur die Vergnügen, die uns ruinieren,
haben wirklichen Reiz.‹« Er lächelte, als er das Buch wieder in die
Reihe schob: »Stimmt, alter Chinese, und mit den Schmerzen ist es
ebenso. Der Unterschied ist nur der, daß überstandenes Weh salzig
schmeckt, verlorene Wonne aber bitter. Man kann jedes Leid wieder
erleben, aber keine Lust.«

Er ließ einen Dienstmann rufen, schickte die Kiste fort und vergaß
Swaantje, bis ein Brief von ihr kam, oder vielmehr ein Kasten, in dem
drei rote Rosen lagen, und eine Karte, auf der weiter nichts stand als
die drei Worte: »Lieber guter Helmold!«

Sie klangen ihm wie ein Schrei. Dabei freuten sie ihn wenig und
schmerzten ihn kein bißchen, trotzdem er wußte, was sie bedeuten
sollten, eine demütige Abbitte und eine Hingabe auf Gnade und Ungnade.
Übrigens mangelte ihm auch die Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen;
ein ganz großer Auftrag nahm ihn vollkommen in Anspruch, ein Auftrag,
der sich nach jeder Seite hin lohnte: ihm war der gesamte Wandschmuck
und die Innenausstattung für das neue Schauspielhaus übertragen worden,
ohne daß er sich darum beworben hätte.

Früher hätte er die Kasatschka getanzt, wäre ihm eine solche Arbeit
angeboten worden; jetzt verzog er keine Miene und sagte beim
Mittagessen so nebenbei: »Ich habe die Inneneinrichtung und alle Wände
für das Schauspielhaus bekommen, Grete, will aber Kersten, Ludemann und
natürlich für die Bildhauerarbeit Voß und Meinecke heranziehen. Mir
bleibt ja so noch genug übrig.« Seine Frau sah ihn groß an: »Wann hast
du den Auftrag bekommen?« und als er sagte: »Gestern abend,« wurde sie
ganz blaß.

Denn war das noch ihr Mann, dessen fernster Traum es einst war, einen
solchen Auftrag zu bekommen? Und mit diesem Auftrag hatte er gut
geschlafen und den halben Tag gearbeitet, und er sprach davon, als wenn
er eine Kiste Zigarren geschenkt bekommen hätte.

Angst und Trauer befielen sie, und nach dem Essen schrieb sie an
Swaantje, die bei Thorbergs in Weddingen war, daß Helmold den Auftrag
bekommen habe und für die nächste Woche in Stillenliebe zur Jagd sei.
Warum sie ihr das schrieb, wußte sie nicht; sie fühlte nur, daß sie
schreiben mußte. »Besucht ihn da doch einmal,« schrieb sie.

Es war einige Tage später, da kam Helmold gegen Mittag von der Pürsch
zurück. »Es ist auch ein Brief für Sie da, Herr Hagenrieder,« sagte der
Wirt. Der Maler nickte und setzte sich, trank sein Bier und spielte
mit den Kindern. Als er nach dem Essen auf sein Zimmer ging, um zu
schlafen, sah er, daß der Brief, der auf dem Tische lag, von Swaantje
war. Sie schrieb aus Weddingen: »Tjark und Ilsabe und ich kommen heute
nach Ohlenwohle mit dem Mittagszuge; hole uns mit Gespann ab. Wir
wollen gern einmal Stillenliebe sehen. Deine Swaantje.«

Ein Gefühl peinlichen Unbehagens, durchduftet von etwas Genugtuung,
überkam ihn. Aber als er über sich selber den Kopf schüttelte, fand er,
daß es weniger Genugtuung war als Freude, und auch weniger Freude als
Zärtlichkeit, und schließlich auch das nicht, sondern ein Gefühl, in
dem allerlei sich mischte, und das er nicht genau betrachten konnte,
weil etwas wie eine beschlagene Fensterscheibe davor war. Jedenfalls,
das fühlte er, jauchzte sein Herz nicht, und seine Seele schrie weder
Hurra noch Holdrio. Aber er war betrübt, daß er nicht gleich auf sein
Zimmer gegangen war und den Brief aufgemacht hatte. »Nun sitzt das
arme Mädchen in Ohlenwohle in der Kneipe und langweilt sich nach der
Schwierigkeit« dachte er. Daß Tjark und Ilsabe bei ihr sein mußten,
daran dachte er nicht.

Er zog sich einen besseren Anzug an und war schon auf der Treppe, als
Reimers vom Treppenfuße aus ihm zurief: »Sie werden von Ohlenwohle am
Fernsprecher verlangt, Herr Hagenrieder, von einem Fräulein. Den Namen
konnte ich nicht verstehen.« Ganz ruhig ging Helmold in die beste
Stube und wunderte sich dabei, daß er so gelassen blieb. Aber sein
Herz machte doch einen kleinen Sprung, als er anfragte: »Bist du das,
Swaantje?« und er ihre Stimme und damit das ganze Mädchen dicht bei
sich hatte. »Tjark konnte nicht, er hatte wieder einen Gichtanfall, und
Ilsabe konnte deshalb auch nicht mit, und so bin ich allein gekommen,«
antwortete sie. »Kannst du hier über Nacht bleiben oder nicht, und
wann mußt du wieder zurück?« fragte er weiter. »Ich habe gesagt, ich
führe mit dem letzten Zuge, und der geht um sieben Uhr,« kam es zurück.
»Dann lohnt es sich nicht, daß du erst hierherkommst,« meinte er; »dann
komme ich mit dem Rade dorthin,« setzte er hinzu. Eine Weile war es
still. »Bist du noch da?« fragte er. »Ja,« rief sie; »dann komm, lieber
Helmold; das wird das beste sein.« Es kam ihm vor, als wenn ihre Stimme
mit einem Male ganz anders geklungen hätte.

Er holte das Rad aus dem Schuppen und fuhr los. Er wunderte sich,
daß er so unsicher war; sonst fuhr er den schmalen Fußweg neben der
Haidstraße, ohne vor sich hinzusehen; nun mußte er die Lenkstange
festhalten und bewußt aufpassen, und wo bei einem Querwege eine sandige
Stelle den Pfad unterbrach, da wurde es ihm sauer, durch den Sand zu
kommen. Er schrieb das erst der Hitze zu, bis ihm einfiel, daß er um
drei Uhr aufgestanden war und seitdem keine Stunde gesessen hatte.

Mit vor Schläfrigkeit gleichgültigen Augen sah er die herrlichen
Wacholdergruppen und den über und über mit goldenen Blumen behängten
Ginster an, der die Böschungen des Weges verbarg, und das Gezwitscher
der Hänflinge und das Geschmetter des Baumpiepers kam ihm unbekannt
vor, ja, er lachte nicht einmal, als ein Rehbock, der im Graben
gestanden hatte, so dicht vor ihm absprang, daß er ihn beinahe
umgefahren hätte. Erst als er im Lohkruge einen Schnaps und ein Glas
Wasser getrunken hatte, wurde er einigermaßen munter und konnte wieder
denken.

»Was mag sie haben, daß sie mit dieser elenden Klingelbahn bei dieser
üblen Hitze drei Stunden gefahren ist?« dachte er und stellte sich
vor, wie sie angekommen war und allen Glanz aus den Augen verloren
hatte, als sie ihn auf der Haltestelle nicht vorfand. Und nun saß sie
in dem Kruge und wartete auf ihn. Aber warum hatte sie ihm auch keine
Drahtnachricht geschickt, sondern erst am Abend vor der Abreise den
Brief, der mit der üblichen Verspätung ankam? Und nun: was sollte es
zwischen ihnen geben?

Als er den Morgen vor dem Moore stand und sich über eine Fuchsbetze
freute, die mit vier Junghasen im Fange auf zwanzig Gänge bei ihm
vorüberschnürte, hatte sein Gewissen ihm ganz gehörig die Leviten
gelesen. Er hatte an alle seine Liebschaften gedacht und sich gesagt,
daß er sich keine Vorwürfe darüber zu machen brauchte. »Banausen,
Philister, Fünfgroschenmenschen scheuen sich durchaus nicht, ihrer
Leidenschaft zu folgen; also warum soll ich, ein wertvoller Mensch,
mich zum Verzichten nötigen?«

Aber da hatte eine fremde Stimme gelacht und gesprochen: »Du kamst dir
doch immer als Übermensch vor, mein Herze, nicht wahr, und billigst
dir dabei die Untermoral des waschlappigen Gesindels zu? Glaubst du
vielleicht, die Borgias und ähnliche Kerle waren Helden? Jämmerlinge
waren es, die sich kratzten, sobald es sie juckte. Rede dir nicht
selber etwas vor! Seinen Instinkten zu folgen, ist keine Stärke;
Schlappheit ist es, urmenschenhafte Schwäche oder Neurasthenie.
Außerdem warest du doch stets stolz darauf, ein Mann von Wort zu
sein; war dein Treueschwur vor dem Altar nicht ehrlich gemeint? Du
kannst dich vor dir entschuldigen, das kannst du, mit Schwäche, mit
Gedankenlosigkeit, mit was du willst; aber wenn du versuchst, dich zu
rechtfertigen, dann machst du dich einfach lächerlich. Du bist polygam
veranlagt, sagst du. Schön, aber dann hättest du Junggeselle bleiben
sollen. Du warst ja mehr als mündig, als du vor dem Priester dein
Ehrenwort gabest. Also rede nicht!«

So kam er mit einem Herzen voller verschiedenartiger Empfindungen vor
dem Ohlenwohler Kruge an, grau und kühl wie der Himmel an einem toten
Tage. Der Wirt stand vor der Tür, als er vom Rade sprang. »Das Fräulein
ist rechts in der Stube,« sagte er. Swaantje saß auf dem unbequemsten
Stuhle, als er eintrat. Sie sah blaß und müde aus und hatte Schatten
unter den Augen; aber noch niemals war sie ihm so schön und
hilfsbedürftig vorgekommen. Sie errötete über das ganze Gesicht, als er
ihr beide Hände gab, und ihm war, als verlangten ihre Augen, daß er sie
in den Arm nehmen sollte, und daß er sie küssen möchte; aber er hatte
die Tür nicht hinter sich zugemacht, und auf dem Gange standen Leute
und vor dem Fenster auch, und da die Sonne darauf lag, hätten sie sehen
können, was in der Stube vorging. So drückte er ihr die Hand, zwang sie
in das Sofa und fragte: »Hast du schon etwas gegessen?« Sie schüttelte
den Kopf, und er ging hinaus und bestellte Kaffee und Zukost. Dann
setzte er sich vor den Tisch auf den Stuhl.

Es wurde ihm schwer, etwas Vernünftiges zu sprechen. Der pilzige Geruch
des schlecht gelüfteten Raumes erstickte den Rest von Frische, der noch
in ihm war, und ein Mitleid, stark mit Verlegenheit durchsetzt, machte
ihn unsicher. Und Swaantje saß da, sagte nichts und sah ihn an, mit
einem rührenden Lächeln um den blassen Mund, und ihre Augen schimmerten
feucht.

Endlich sprach sie mit einer weichen, farblosen Stimme, daß sie sich so
sehr auf Stillenliebe gefreut habe, und daß sie vor Enttäuschung nicht
habe schlafen können, als Tjark am Abend vorher seinen Anfall bekommen
hatte. Und daß sie ihm für das Bild doch endlich ihren Dank sagen
müsse. »Denn schreiben, lieber Helmold,« sagte sie und lächelte ihn an,
als wäre sie eben mit ihm getraut, »das konnte ich doch nicht, wie sehr
ich mich darüber gefreut habe.« Sie nahm seine Hand und drückte sie:
»Bist du mir immer noch böse, lieber Helmold?«

Er wußte nicht, was er sagen sollte, und war froh, als die Wirtin mit
dem Kaffee hereinkam. Absichtlich bestellte er noch Brot und Butter
und dann eine Postkarte, denn er wußte wirklich nicht, wie er sich
verhalten sollte. Das weiße lose Kleid hatte sie nicht an, wie damals
im Garten, als er hinterher den Bajonettangriff auf sie machte; aber
sie war ihm nachgereist, die weiße Fahne in der Hand.

Doch er traute ihr nicht und sich noch viel weniger. Ihr nicht, weil
sie ihm heute mehr denn je als reine Seele, als Nonne, als unsinnliches
Wesen erschien, und sich nicht, weil er sich nur als Bruder oder Vater
ihr gegenüber vorkam, und so gar kein bißchen als begehrender Mann.
Dabei war sie ihm noch nie so schön vorgekommen wie an diesem Tage.
»Zum Erbarmen schön,« dachte er. Gar zu gerne hätte er sie in den Arm
genommen, ihre Backen gestreichelt und ihre Stirn geküßt; aber er hatte
Angst, daß sie seine Liebkosungen mißdeuten oder Erwartungen daran
knüpfen könnte, die er nicht erfüllen konnte. So schleppte sich die
Unterhaltung lendenlahm und langsam hin.

Endlich hielt er es nicht mehr aus. »Komm, Swaantje,« sagte er;
»wenn es dir recht ist, bummeln wir durch die Haide. In dieser Luft
schrumpelt einem ja das Gemüt ein.« Sie nickte ihn lächelnd an und
erhob sich, wobei sie ihm ganz nahe kam. Wieder wurde es ihm so zu
Sinne, als sei es seine Pflicht, sie zu liebkosen, und ihre Augen sahen
so aus, als sehne sie sich danach; doch abermals streckte der Gedanke,
daß nur ihre einsame, verwaiste Seele geküßt und umarmt sein wolle
und nicht ihr Leib, die Hand gegen ihn aus und hielt ihn zurück. Als
sie vor dem Spiegel ihren Hut aufsetzte, sah ihr Spiegelbild ihn mit
vieler Zärtlichkeit an, und er gab sich einen Ruck, um sie zu umfassen;
doch da polterte eins von den Kindern in das Zimmer, blieb mit offenem
Mund stehen, starrte das Mädchen an, wie einen Geist und stürzte
wieder hinaus; er aber atmete erleichtert auf, als sei er einer Gefahr
entgangen.

Sie schlenderten durch die Felder und unterhielten sich mit Mühe. Erst
als sie in die Haide kamen, frischte ihr Gespräch etwas auf, flaute
aber immer wieder ab. Swaantje fragte, welcher Art die Bilder wären,
die er für das Schauspielhaus male; dadurch kam etwas Zug in ihre
Unterhaltung, so daß er schließlich, zumal er über die Schlafsucht
hinaus war, ganz lustig wurde, und es zu einem ganz fröhlichen
Geplauder kam, das aber rein äußerlicher Art blieb und sie im Grunde
mehr auseinanderhielt, als zusammenführte. Es war ihnen beiden zumute,
als schritte irgend ein langweiliger Mensch zwischen ihnen, den sie
nicht abschütteln konnten. Dazu begegneten ihnen fortwährend Leute, die
vom Heuen kamen, darunter Marien. Seitdem sie verheiratet war, hatte
Helmold sie nur einmal flüchtig gesprochen und sich darüber gefreut,
daß sie tat, als kenne sie ihn nur ganz oberflächlich. Auch jetzt
bot sie ihm mit unbewegtem Gesichte die Tageszeit wie einem fremden
Menschen.

»Hier sind so viele Leute,« klagte Swaantje. Er nickte und bog mit ihr
in einen schmalen Pfad ein, der tief in das Haidkraut getreten war und
nach einem kleinen Wäldchen führte. Ein weißer Bussard, der auf einem
Irrsteine gefußt hatte, flog vor ihnen auf, und ein schwarzes Reh, das
sich am Zwergginster äste, sprang an ihnen vorüber. Da der Weg nur drei
Hände breit war, ging Helmold hinter Swaantje. Sie trug ein Kleid von
ähnlichem Schnitt wie an jenem Tage, als er mit ihr nach dem Tödeloh
ging, doch war es nicht rosenrot, sondern mattblau, und auch das Band,
das den weichen Strohhut umgab, war von derselben kühlen Farbe.

Er nickte. »Ja,« dachte er; »damals erschien sie mir als rosenroter
Traum; heute ist sie mir eine mattblaue Erinnerung.«

Er sah sich um; der eiserne Ritter ging nicht hinter ihm. »Meine
Liebe habe ich in der Bilderkiste eingesargt«, dachte er, »und mein
Verlangen; so blieb mir weiter nichts davon als das Gespenst. Aber ich
glaube nun einmal nicht an Gespenster!«

Hinter dem Wäldchen lagen unter einer krausen Eiche zwei gewaltige
Findelsteine; auf den einen legte er seinen Mantel und wies ihn
Swaantje als Sitz an, auf dem anderen nahm er selber Platz. Vor ihnen
kroch der bleigraue Pfad durch die braune Haide und verlor sich
zwischen hohen Wacholdern und Ginsterbüschen, die mit ihren gelben
Blüten nur so prahlten; davor leuchtete das helle Grün einer quelligen
Sinke.

»Wie wunderschön ist das,« seufzte das Mädchen, und ihre Brust hob sich
unter dem kühlen Kleide; »zum Weinen schön ist es,« fügte sie nach
einem Weilchen hinzu. Ihr Vetter nickte und dachte: »Ganz wie du.« Er
sah, daß ihre Hand zuckte, als wolle sie nach der seinen hin; aber da
der Raum zwischen den beiden Steinen zu groß war, so glitt ihr Arm an
dem Granitblocke herab und nahm eine Eulenfeder auf, die zwischen den
grünen Ranken der Krähenbeere am Fuße des Steines lag.

Das Mädchen drehte die bunte Feder zwischen ihren farblosen Fingern,
besah sie mit gemachter Aufmerksamkeit und fragte, ohne ihren Vetter
anzusehen: »Von welcher Eule ist das?« Er antwortete: »Waldkauz« und
flötete halblaut den Balzruf dieses Nachtvogels. Ohne ihn anzusehen,
sprach sie: »Ich war neulich wieder einmal im Tödeloh.« Er erwiderte
nichts und sah nach dem runden weißen Fleck, der die Spitze des
höchsten und schlanksten Wacholders krönte. Er deutete mit dem Finger
danach: »Der große Würger,« sagte er.

Das Mädchen nickte, räusperte sich und begann wieder: »Sage mal,
Helmold, was hast du dir eigentlich damals gedacht,« sie stockte,
scheuchte eine Mücke fort, die auf ihrem Arme saß und sprach dann
weiter, »damals, als ich dir in dem Walde sagte, du weißt doch, als uns
der Oberbürgermeister begegnete, daß,« sie stockte, »daß das, du weißt
ja, vorbei sei?« Er sah nicht auf und erwiderte mit gleichmütigem Tone,
über den aber ein tiefer Klang von Verständnis hinwegsah: »Das wußte
ich schon vor dem.« Swaantje nickte, strich sich mit der Eulenfeder
über die Stirne und fuhr fort: »Das war vorbei, seitdem du mir im
Tödeloh das eine Wort sagtest.« Er nickte, sah nach einem blanken
Raubkäfer, der eine Raupe umbrachte, und sprach leise: »Das schien mir
damals auch schon so.« Der Würger verließ den Wacholderbusch, rüttelte
eine Weile über der Sinke und strich mit klirrendem Rufe ab. Helmold
sah hinter ihm her.

Die Brust des Mädchens hob sich schwer. »Du verstehst doch, lieber
Helmold,« sie sprach es matt, aber er vernahm die tiefe Zärtlichkeit,
die dahinter lag, »nicht wahr, daß ich nicht anders handeln konnte?« Er
nickte, sah sie aber nicht an. »Denn sieh mal, lieber Helmold, Grete,
du weißt, das ging doch nicht.«

Ihm wurde immer trauriger zumute und immer hilfloser, ihretwegen und
seinethalben erst recht. Da hielt sie ihm nun ihr Herz auf den Händen
hin, dieses arme, ledige, verwaiste Herz, und er konnte es nicht
hinnehmen. Er wußte, was sie ihm gerne gesagt hätte, aber nicht sagen
konnte, daß Grete ihr nämlich dasselbe gesagt hatte, wie ihm, daß sie
an dem ganzen Unglücke schuld sei, das über ihn und das Mädchen und
auch über die Frau gekommen war, und daß sie drei zusammengehörten, daß
sie drei eins waren und sein sollten. Aber Swaantje wußte es nicht, und
er konnte es ihr nicht sagen, daß es dafür zu spät sei.

Er sah, daß die Mücken häufiger flogen, und war ihnen dankbar dafür,
denn nun konnte er mit Anstand rauchen. Er scheuchte eine summende
Mücke fort, langte sich eine Zigarre heraus und zündete sie an.
Swaantjes Lippen versteckten sich. »Sieh mal nach der Uhr,« bat sie;
»ich glaube, wir müssen gehen, denn ich möchte nicht zu spät kommen.«
Sie fuhr heftig zusammen, denn in dem Gebüsch hinter ihnen schreckte
laut ein Reh.

Sie gingen einen anderen Weg zurück. Die Frösche prahlten in den
Gräben, und eine helle Weihe schwebte über den Wiesen. Swaantje
schritt vor ihm her. »Mein Gott, mein Gott,« klagte es in ihm; »wie
schön ist sie, wie wunderschön!« Er sah ihre Nackenlocken an und den
vornehmen Bogen ihrer Backen und dachte: »Warum lege ich nicht meinen
Arm um sie, warum küsse ich sie nicht? Sie will es doch so gern.«

Der Weg zwillte sich. Swaantje ging nach rechts. Er faßte sie unter
den Arm und zog sie nach links. Er hatte vorgehabt, sie an sich
heranzuziehen und ihren Mund zu küssen; aber als seine Hand wohl die
Wärme ihres Armes spürte und sein Herz sich doch nicht regte, ließ er
sie los und ging stumm hinter ihr her, bis der Pfad in den Weg einlief
und sie nebeneinander gehen konnten.

Da begann Swaantje wieder zu reden: »Du bist mir doch nicht mehr böse,
lieber Helmold?« Sie errötete, als sie das sagte, und sah ihn halb von
der Seite an und mit einem Blicke, in dem Sehnsucht und Verlegenheit
miteinander rangen. Er lächelte sie an und versetzte: »Aber, Swaantje,
wie kannst du das denken!« Und dabei keuchte es in ihm: »Ja, aber warum
küsse ich sie denn nicht? Deutlicher kann sie es mir doch nicht zeigen,
daß sie sich selber zürnt, weil sie mich damals zurückstieß.«

Er kam sich vor wie ein rätselhaftes Tier, das ihm noch niemals über
den Weg gelaufen war, ein Geschöpf, ebenso unheimlich, wie lächerlich.
In dumpfem Schweigen schritt er neben ihr her und rauchte.

»Und zwischen dir und Grete ist auch alles wie früher?« fragte endlich
das Mädchen. Er seufzte und antwortete: »Ja, vollständig.« Nach einer
Weile fuhr er fort: »Das heißt, es bleibt doch ein Riß, Swaantje; denn
sieh mal, ich bin damals zerbrochen, und wenn der Bruch auch wieder
heilte, eine gewisse Schwäche blieb zurück.«

Er räusperte sich, ehe er weiter redete: »Ich habe nämlich, verstehst
du? ich bin nämlich, ich werde nie wieder das sein, was ich war. Ich
bin alt geworden damals, zum Greis geworden, wenn ich auch nicht so
aussehe. Mein Mai ist vorüber, und der Sommer ist hin; ich bin beim
Grummet, beim dritten Schnitt; ich bin kein voller Mann mehr.«

Er stockte, warf seine Zigarre in einen Tümpel und sprach leiser:
»Swaantje, ich, weißt du? ja, das ist nun so!« Er zeigte neben den Weg:
»Ich bin wie die Haide hier, zertreten und kurz, weil lange Zeit Tag
für Tag graue Gedanken auf mir herumtraten und mich kurz hielten.« Als
er sah, daß das Mädchen ganz blaß war, setzte er hinzu: »Doch du, liebe
Swaantje, meine Gefühle dir gegenüber sind die selben geblieben; wenn
ich auch ein anderer Mann geworden bin.«

Sie antwortete nicht und hatte einen ganz engen Mund. Er sah nach der
Uhr. »Wir haben noch reichlich Zeit, was sollen wir so lange in der
muffigen Bude sitzen,« meinte er. »Wollen noch einen Umweg machen.« Er
schlug den Weg nach einem Birkenwäldchen ein. Die Augen des Mädchens
belebten sich, und ihr Mund blühte wieder auf.

»So,« sagte er sich; »nun, sobald wir im Walde sind, und ich halte
Wort, soll sie den Kuß haben, den ich ihr schuldig bin, und mir das
geben, was sie mir schuldet.« Warm lief es ihm über die Brust, und mit
heißen Blicken streichelte er ihren Nacken.

»Sieh mal, Swaantje,« sprach er mit zärtlichem Klange; »als wir nach
dem Tödeloh gingen, nahm ich mir fest vor, dich umzufassen und in mein
Herz hineinzuküssen. Ich habe dir das schon einmal gesagt; ganz fest
nahm ich mir das vor. Ich glaube, das wäre für uns beide gut gewesen.

Vielleicht war es aber damals noch zu früh, weil du glaubtest, du
liebtest den andern noch, obgleich ich damals schon wußte, oder
vielmehr ahnte, daß es nicht so war.« Sie antwortete ganz leise: »Aber
ich habe dir doch niemals etwas gesagt, lieber Helmold.« Er schüttelte
den Kopf: »Nein, so schwer dir das auch wurde.« Sie seufzte und er fuhr
fort: »Das war stark von dir, und ich achtete dich darum hoch; aber
klug war es nicht. Es hat uns beide zerbrochen.«

Sie sah ihn demütig an: »Aber ich konnte doch nicht anders, Helmold!«
Er lächelte sie zärtlich an, so daß sie rot werden mußte. »Nein,
Geliebte, du hast keine Schuld, und ich auch nicht. Sieh mal, ich kann
dich nicht so behandeln wie andere Frauen; du bist so ganz anders, und
ich empfinde dir gegenüber auch ganz anders! Im Tödeloh solltest du
mein sein, ganz mein sein, das hatte ich mir auf Ehrenwort versprochen,
und ich mußte es brechen, denn mein inneres Wollen stieß meinen äußeren
Willen beiseite.« Das Mädchen atmete schwer und drängte sich dichter an
ihn, denn der Weg war nur eben breit genug für sie beide.

Da, wo der Weg sich teilte, kam ihnen ein stattlicher, sehr anständig
gekleideter Zigeuner zwischen zwei jungen, grell aufgeputzten Weibern,
die beide guter Hoffnung waren, entgegen. Helmold kannte den Mann;
er blieb stehen und rief: »Na, Jorgas Michali, wohin und woher?« Der
Zigeuner lachte und sagte: »Von der Windwiege nach dem Windgrabe,
Herr Maler.« Die Weiber sahen Swaantje an, wie ein Heiligenbild. »Na,
welche von beiden ist denn deine Frau?« fragte Helmold. Der Zigeuner
grinste: »Beide, Herr Maler!« Hagenrieder lachte: »Vertragen sie sich
denn?« Jorgas' Raubtiergebiß blitzte aus dem schwarzen Krausbarte
heraus: »Wollt' sie kuranzen, wenn nicht,« sagte er und machte eine
Bewegung mit der Hand, als wenn er eine Peitsche darin hielte, und die
Frauen lachten. Der Maler gab ihm eine Zigarre und jeder der Frauen ein
blitzblankes Markstück. Sie küßten ihm die Hände. »Viel Glück, Herr,«
riefen sie, verbeugten sich vor Swaantje und setzten hinzu: »und deiner
scheenen Frau ville Kinder!«

Als die Zigeuner hinter den Büschen verschwunden waren, fragte Swaantje
leise: »Sind das wirklich beides seine Frauen?« Ihr Vetter nickte.
»Natürlich; er hat vielleicht noch ein paar. Jorgas Michali ist einer
der reichsten Häuptlinge; er hat drei große Häuser bei Berlin und
Geld auf der Bank. Und er hat eine schwere Hand. Horch, wie schön der
Kuckuck ruft! immer dreimal.« Er deutete nach dem Birkenwäldchen, in
dem der Kuckuck läutete und die Zippe schlug.

Vor seinen Augen tanzten goldene Flammen, sein Herz schlug fieberhaft,
und der Atem pfiff ihm im Kehlkopfe. »Drei Schritte noch,« dachte er,
»drei Schritte noch, und ich küsse sie, und nehme sie mir.« Gerade
wollte er den Mund öffnen, um »Swaantje, meine Swaantje!« zu sagen, da
stand ein alter Bauer vor ihnen, der ihnen freundlich die Tageszeit bot
und sagte: »Na, dennso kriege ich noch feine Begleitung auf den Weg.«
Helmold wußte nicht, ob er dem Manne danken oder fluchen sollte; er
hörte nur mit einem Ohre auf das, was er erzählte, und wußte nicht, ob
er sich bedauern oder beglückwünschen sollte. Mit Gedanken, so umrißlos
wie Wacholderbüsche im Herbstnebel, kam er im Kruge an.

Das Abendessen verlief anfangs recht still, obgleich Helmold sich alle
Mühe gab, das Mädchen aufzumuntern; doch da er, wie er wußte, um das,
was Swaantje am meisten am Herzen lag, herumgehen mußte, kam ihm jedes
Wort, das er sprach, unehrlich und verlogen vor. So war er froh, als
die Kastenuhr dreiviertel auf sieben meldete. »Noch zwanzig Minuten,«
sagte das Mädchen, und er fügte hinzu: »Ja, es ist schade, daß wir nur
die paar Stunden für uns hatten; wir haben uns so lange nicht gesehen.«
Sie sah ihn an und ihre Augen fieberten. »Ja, wenn sie mir den Wagen
nicht zur Bahn schickten,« sagte sie, schwieg einige Zeit und fuhr
fort: »Ich hätte so gern einmal Stillenliebe gesehen und länger mit dir
geplaudert. Wer weiß, wann wir uns nun wiedersehen. Muhme Gese will
nach Karlsbad, und ich muß wohl mit.« Mit einer hastigen Bewegung, die
so gar nicht ihrem wirklichen Wesen entsprach, haschte sie nach seiner
Hand, die auf dem Tische lag, führte aber ihre Absicht nicht aus, da er
vor sich hinbrütete, sondern drehte die alte Tasse um, als wollte sie
sich die Aufschrift ansehen.

»Wollen gehen,« sprach sie dann matt und sah nach der Uhr. Er half ihr
in den Mantel hinein und klingelte dem Wirte. Der ließ die Türen hinter
sich offen, und während Helmold bezahlte, klang aus der Gaststube
lauter Gesang herüber. Swaantje wurde kreidebleich, als sie das Lied
erkannte; es war das, was Helmold ihr gesungen hatte, als er mit ihr
zum Tödeloh ging, das kecke Lied von dem Jäger und der Jungfrau im
schlohweißen Kleid. Ihre Augen wurden starr, und ihre Lippen verkrochen
sich, als es hinter ihnen herklang: »Denn deine Unschuld und die mußt
du lassen bei dem Jäger auf der Lüneburger Haid, eins zwei.«

Der Zug hatte Verspätung. Sie lehnten an dem Geländer. Swaantje sah
nach der alten Kiefer hin, die ihr düsteres Haupt hinter einem moosigen
Giebel erhob, und ihr Vetter betrachtete ihr Gesicht und wunderte sich
über sich selber. Plötzlich kehrte sie sich zu ihm: »Nun habe ich die
Hauptsache beinahe vergessen, lieber Helmold!« Sie drückte ihm die
Hand. »Ich danke dir viele Male für das Bild, viele Male!« Ihre Augen
wurden dunkel. »Du glaubst gar nicht, wie ich mich darüber gefreut
habe!« Wieder drückte sie seine Hand. »Ich dachte, du wärest mir böse
gewesen. Bist du das auch ganz gewiß nicht mehr?«

Er wußte nicht, was er sagen sollte, und lächelte sie an, als er den
Kopf schüttelte, und er wußte, sein Lächeln mußte gefälscht aussehen.
»Ich bin dir nie böse gewesen, und wenn ich es einmal war, so redete
ich mir das ein, weil ich dir einen Begriff unterlegte, der nicht auf
dich paßte, dich als Weib schlechthin und nicht als das sehen wollte,
was du bist!« Etwas heiser klang seine Stimme, als er das sprach.

Der Zug lief ein. »Schade, daß du nicht mitkannst, lieber Helmold,«
sagte Swaantje und umklammerte seine Hand; »in Bockshorn habe ich
fast eine Stunde Aufenthalt.« Helmold fühlte, daß ihm das Blut in das
Gesicht schoß. »Einsteigen!« rief der Schaffner. Helmold half dem
Mädchen in das Abteil und stieg auf den Tritt. »Lebe wohl, lieber,
guter Helmold,« flüsterte sie und beugte sich zu ihm herunter, als
wollte sie ihn küssen. Aber da schrillte die Pfeife, und eine harte
Stimme schnarrte: »Abfahren!« Er hatte eben noch Zeit, ihre Hand zu
küssen, und er küßte sie, daß sie seine Zähne fühlte, dann schlug der
Schaffner die Tür zu, und der Zug ruckte an.

Swaantje stand an dem offenen Fenster, stützte den Ellenbogen auf die
Fensterleiste und hielt den Rücken ihrer rechten Hand, den Helmold
geküßt hatte, an die Lippen. Ihr Gesicht war ganz weiß, ihre Augen
sahen schwarz aus, und sie lächelte, daß Helmold elend zumute wurde.
Der Zug fuhr ab; das Mädchen nickte ihm zu, küßte ihren Handrücken und
gab ihm so seinen Kuß zurück, und nickte und winkte, solange ihr Vetter
in Sicht blieb, und ehe der Zug hinter den Bäumen verschwand, grüßte
sie ihn noch einmal mit ihrem Tuche.

Das Schlußlicht des Zuges war schon lange unsichtbar, da stand er
noch auf der selben Stelle und starrte nach dem Walde hin. Er ballte
die Faust, denn er hätte sich am liebsten in das Gesicht geschlagen.
Er warf sich rohe Schimpfworte zu. »Du Idiot,« schrie es in ihm; »du
dreimal vernagelter Idiot; wie eine Dirne hast du sie behandelt! Warum
fuhrest du nicht mit nach Bockshorn? Weil du kein Nachthemd und keine
Zahnbürste bei dir hattest? Jahrelang wimmertest du hinter ihr her,
und nun, wo sie daherkommt im Brautkleide, den Myrtenkranz im Haare,
dachtest du daran, daß der Wagen sie in Weddingen erwarte, und daß du
dich für morgen mit dem Prinzen verabredet hast, und dabei hatte sie
gesagt: ›Ich möchte nicht gern zu spät kommen.‹ Bist doch sonst so
neunmalweise, und merktest nicht, daß das hieß: ›Vorausgesetzt, daß
du mich daran nicht hinderst, Geliebter!‹ Kauf' dir einen Strick, und
hänge dich an den ersten besten krummen Birkenbaum am Wege; mehr bist
du wahrhaftig nicht wert.«

Der ganze Bahnhof drehte sich mit ihm herum, so daß er erst, als er
schon aus dem Dorfe heraus war, daran dachte, daß er sein Rad im Kruge
hatte. Er ging zurück, suchte es im Hausflur und im Stalle, bis ihm
einfiel, daß es im Schuppen stand. Endlich hatte er es. Ein quälender
Durst trocknete ihm den Hals aus; er wollte schon in die Gaststube
treten, ließ es aber und fuhr zum Dorfe hinaus. Ganz sicher fuhr er,
ohne auf die Sandstellen und Löcher im Wege zu achten, und so rasend,
daß die Leute, die ihm entgegenkamen, ihm verwundert nachsahen. Aber
in der Haide mußte er stoppen; sein Herz schlug ihm zu grob gegen die
Brust.

Er sah über das dämmernde Land, an dessen Rande ein Ferngewitter
seine blutigen Witze riß. In einem schwarzen Wacholderbusche war
ein weißer Fleck; wie ein menschliches Gesicht sah es aus. »Das ist
meine Swaantje,« dachte er, »meine geliebte Swaantje,« obgleich er
ganz genau sah, daß es der Stamm einer Birke war. Einzelne warme
Regentropfen fielen. »Jetzt weint meine Swaantje,« dachte er, »meine
geliebte Swaantje.« Ein Windstoß bewegte die weißen Zweige der Birken.
»Meine Swaantje ringt ihre Hände,« dachte er, »meine liebe, geliebte
Swaantje.« Einmal huschte so etwas wie Genugtuung über sein Herz, und
es war ihm, als wenn er dachte: »Nun habe ich die Rache für meine
Tränen«; aber dieser Gedanke wurde sofort vom Winde fortgewirbelt.

Es begann stärker zu regnen; die Birkenbäume stellten sich wie
wahnsinnig an, und die Wachholder taten so, als wenn sie weglaufen
wollten; in der Ferne murmelte das Gewitter unverständliche Drohworte.
Die Regentropfen klatschten Helmold auf Gesicht und Hände und schlugen
ihm durch die Hose. Siedehitze kribbelte ihm unter dem Hute, und über
seinen Rücken lief ein eisiger Schauer.

Vor sich sah er den Schneekrug; er blickte ihn mit zwei leuchtenden
Augen so einladend an, daß er absprang und sein Rad hinter die Krippe
stellte. Er besann sich einen Augenblick, ob er eintreten oder ob er
weiter fahren sollte, aber der Regen stürzte nur so aus dem Himmel,
und das Gewitter begann sich deutlicher auszudrücken. So schwenkte er
seinen Hut aus und trat ein.

Er hatte noch niemals im Schneekruge vorgesprochen, aber er war
dort sofort zu Hause; es war eine Wirtschaft noch ganz von der
alten Art, mit brauner Balkendecke, Kugelfußtisch und den bunten
Bildern an den verräucherten Wänden, die des Jägers Hochzeit, Taufe,
Grab und Auferstehung darstellten, und die noch nicht von Plakaten
verscheußlicht und von einer Musikmaschine veralbert war.

»'n Abend zusammen!« rief er, »binnen is 't besser als buten,« und
nahm an dem Tische unter der Hängelampe, an dem schon drei Bauernsöhne
saßen, Platz. »Mehrste Heu rein?« fragte er, als er seinen Kümmel und
sein Bier getrunken hatte. Die Bauern nickten, und bald war er mit
ihnen im besten Erzählen.

»Ordentlich kalt geworden,« sagte der eine, und schüttelte sich. »Da
ist Grog gut für,« versetzte er und bestellte eine Runde; »aber nicht
mit so viel Wasser, sonst wird er zu kräftig,« setzte er hinzu, und die
Männer lachten. »Auf einem Glase kann man nicht gut stehen,« meinte
er, als die Gläser leer waren, und eine zweite Runde kam, und dann die
dritte.

»Haben Sie's große Loos gewonnen?« fragte der eine Bauer, der ein
Gesicht hatte, als trüge er für gewöhnlich den Offiziersrock.
»Jawollja,« rief der Maler, »aber ich habe es vor der Ziehung verloren.
Das macht aber nichts. Herr Gastwirt, noch ein' Rundgang!«

Es kamen noch vier Gäste, die nach Ohlenwohle wollten, aber von dem
Gewitterregen in den Krug gejagt waren, und nun wurde es ganz lustig,
denn zwei davon kannte Helmold. Rundgesänge wurden angestimmt,
und dazwischen Witze zum besten gegeben, daß der Saft bis an die
Deckenbalken spritzte. So wurde es fast zwei Uhr, als er fühlte, daß
er nichts mehr trinken durfte, wollte er sich in der Hand behalten. Es
regnete immer noch, und es war so dunkel, daß er nicht daran denken
konnte, zu fahren; so blieb er im Kruge.

Er schlief sofort ein, als er in dem Bette lag, und wachte erst auf,
als die Uhr acht schlug. Frisch und munter kam er in die Gaststube,
lachte den Wirt, der über Haarweh klagte, aus, aß tüchtig, trank einen
großen Schnaps dazu, machte die Zeche glatt, steckte sich eine Zigarre
an und fuhr mit leichtem Herzen davon.

Es war ein bildschöner Morgen. Am Himmel war keine einzige Wolke, die
Sonne lachte, die Vögel sangen, was sie nur konnten. »Heute müßte
Swaantje kommen, heute,« dachte er, während er durch die Pfützen
sauste, daß das Wasser spritzte; »heute bin ich ein anderer Kerl!« Er
kam sich gar nicht mehr so alt und kalt und abgestanden vor und stellte
sich für sein gestriges Verhalten ein gutes Zeugnis aus. »Denn,« sagte
er sich, »gestern litt ich an allgemeiner geistiger Körperschwäche und
war wirklich nicht hochzeitsmäßig gekleidet.«

Dann dachte er, wie häßlich und dumm die äußeren Umstände waren, falls,
ja, falls er Swaantje bei alle den deutlichen Worten genommen hätte,
die sie nicht ausgesprochen hatte. Und er sah ein weißes Haus, das lag
vor einem grünen Walde, in dem viele Nachtigallen schlugen, und oben
in dem Hause war ein Zimmer mit roten Rosen auf den Fenstervorhängen,
und in dem Zimmer standen zwei Betten nebeneinander, und weiter kam er
nicht mit seinen Augen, konnte sich den Rest nur denken.

Er schleuderte seine Zigarre in den Graben; sie schmeckte ihm bitter,
und er lachte sich selber aus, weil er einsah, daß er blanken Blödsinn
gedacht hatte. »Wenn du sie liebtest, mein Lieber,« so spöttelte er,
»dann wäre es dir gleich, ob das Haus weiß oder eselgrau wäre, und ob
es im Walde stände oder zwischen Straßenbahngeleisen. Du würdest dann
überhaupt nicht denken; nein, so unkeusch wärest du nicht; handeln
würdest du. Du liebst ja Swaantje gar nicht mehr; Swaantje ist tot. Du
hast sie in den Sarg gelegt, und den hast du zugenagelt und als Eilgut
zur Eisenbahn geschickt, samt deiner Liebe; das, was du dafür hältst,
das ist das Gespenst deiner Liebe, das auf dem Kirchhofe herumspukt und
dein totes Herz beunruhigt. Streue Kümmelsamen hinter dich, damit der
Spuk zurückbleiben muß!«

Er nickte; es war so. Er sah sich in seiner Werkstatt stehen und
Swaantjes Bildnis in einen Sarg betten, in einen flachen Sarg, der aus
weißen Brettern zusammengeschlagen war; und ein Dienstmann mit roter
Nase holte ihn ab, legte ihn auf einen Karren und fuhr ihn fort, den
Sarg, Swaantje und Helmolds heiße Liebe zu ihr.

Einst hatte er um Swaantje geweint; nun galten seine Seufzer seiner
toten Liebe.



Die Panne


In der nächsten Zeit kam er aber nicht dazu, an Swaantje und an seine
verstorbene Liebe zu denken und an sich selber, denn das Leben warf so
schwere Wellen gegen sein Dasein, daß alle seine leisen Gedanken von
dem Rauschen und Brausen überbrüllt wurden.

Zuerst nahm ihn die Arbeit für das Schauspielhaus mit Leib und Seele in
Anspruch. Wenn er sich auch manchmal vorgeredet hatte, daß seine Kunst
ihn, seitdem er es darin zur Meisterschaft gebracht hatte, langweile,
das war doch nicht der Fall, besonders bei diesem Auftrage.

Er hatte völlig freie Hand, sowohl was den Inhalt anbetraf, wie in der
Behandlung. Der Direktor Meier setzte ihm gar keine Schranken, und
die Bankleitung, die hinter dem Unternehmen stand, erst recht nicht.
»Machen Sie, was Sie wollen, Herr Geheimrat,« sagte Herr Meier, ein
blonder Jude, einst ein beliebter Tenor, nun infolge einer reichen
Heirat Millionär, »Sie werden schon das Richtige treffen.«

Sie saßen hinter einer Flasche Wein, als Meier so sprach. »Sie haben
gut reden,« meinte der Maler; »früher glaubte ich, Schrankenlosigkeit
sei das beste für mich. Jetzt sehe ich ein, daß ein gewisser Zwang viel
bequemer ist.« Der andere nickte: »Glaub' ich; geht mir auch so. Wissen
Sie, was habe ich früher oft geflucht, wenn ich gerade das singen
mußte, was zu meiner Stimmung so paßte, wie der Igel zum Schnupftuch.
Jetzt, wo ich nur ab und zu in Konzerten singe, und singen kann, was
ich will, macht mir die Sache eh' keinen Spaß mehr. Das ist genau so,
wie mit der Liebe. Solange ich ledig war, konnte ich davon haben,
soviel ich wollte, machte mir aber nichts daraus, und ich kann Ihnen
sagen, es waren Weiber darunter, erstklassig! Na, und jetzt? Der Mensch
ist das meschuggenste Tier. Meinen Sie nicht auch?«

»Stimmt,« sagte Hagenrieder. Er wünschte, daß Meier ihm die Stoffe
vorschriebe, meinte er dann. Aber der lachte und sagte: »Zerbrechen Sie
sich Ihren Kopf gefälligst darüber, was Sie malen wollen, und nicht
meinen; krieg ich das Honorar oder Sie? Malen Sie nur nicht so, daß
jeder Esel glaubt, er müsse sich dabei wer weiß was denken. Im Theater
soll das Volk nicht denken, sonst wird es gefährlich. Fühlen soll es
und das bar bezahlen, im Vorverkauf mit Rabatt. Dann ist das Geschäft
richtig.«

Der Maler lächelte, weniger über das, was der andere sagte, als
darüber, was diese Worte in ihm locker machten. Er war lange
überzeugter Antisemit gewesen, bis er einsah, daß damit die Judenfrage
nicht zu lösen wäre, und daß dieses Volk für die Germanen bitter
notwendig sei, damit sie sich an dessen Emsigkeit aus ihrer angeborenen
Trägheit emporärgerten. »Und außerdem,« fiel ihm nun ein, »sie sind
doch gewaltige Umwerter und Anreger trotz oder vielmehr wegen ihrer
völligen Unproduktivität. Produktive Nichtproduzenten! Wie Figura
zeigt.«

Denn die Worte des Direktors hatten ihn auf den Weg gebracht. Er sah
die Wände, die ihm zur Verfügung standen, sich mit Bäumen, Blumen und
Gestalten beleben, bei deren Anblicke der Fröhliche noch fröhlicher
wurde und der Betrübte seine Traurigkeit vergessen mußte. Eine Welt
wollte er malen, die leichte Herzen noch höher hob und schwere von
ihrer Unbeholfenheit befreite.

Und das gelang ihm auf das beste. Als Meier die Entwürfe sah, bekam
er einen ganz roten Kopf und sagte: »Hab' ich es Ihnen nicht gesagt,
daß Sie was können? Wissen Sie was? Ihre Bilder sind allein das Entree
wert! Wahrhaftig, wenn ich nicht solch Theaternarr wär', möcht' ich das
Geld meiner Frau in Ihnen anlegen. Ob ich 'n Geschäft mach'?«

Mit ganzem Herzen ging Hagenrieder an die Ausführung und hatte eine
Freude wie ein Kind, als seine Vorstellungen Form und Farbe annahmen.
Am meisten freute er sich darüber, daß er nur Schaffenslust, aber kein
Arbeitsfieber beim Malen hatte; er aß und schlief wie ein Junge, war
ein netter Gatte und Vater und dachte an seinen Auftrag bloß, wenn
er auf dem Gerüste stand. Alles, was er liebte und geliebt hatte auf
der Welt, brachte er auf die Wände, und so bedeckten sie sich mit
viel Licht und Sonne, und wer sie ansah, dem hob sich das Herz. »Herr
Geheimrat,« sagte ihm eines Morgens einer der Tischler, »gestern
hatte ich einen schweren Ärger gehabt und wollte mir eigentlich einen
andudeln; aber da sah ich mir ihre Bilder an und mir wurde gleich
besser, und so bin ich denn vernünftig gewesen.« Die Tage, Wochen und
Monde flogen dahin, wie die Schwalben, und kaum einmal kam Hagenrieder
dazu, auf sich und sein Leben hinabzusehen. Einmal war Swaantje auf
einen Tag gekommen; Karlsbad hatte auch ihr gut getan, und sie sah
frisch und blühend aus. Deswegen und weil er ganz in seiner Arbeit war,
zerwehte der Besuch ihm die Stimmung nicht, zumal er keinen Augenblick
mit ihr allein blieb. Als das Mädchen schrieb, sie käme, hatte er zu
seiner Frau gesagt: »Tu mir den Gefallen, Grete, und laß mich mit ihr
nicht allein,« und als seine Frau nickte, fuhr er fort: »Das arme
Mädchen! So ganz allein zu sein, das ist eigentlich das Schrecklichste,
was es gibt.«

Einige Tage darauf hatte Direktor Meier ihn und seine Frau eingeladen.
Als Helmold gerade den Frack anziehen wollte, kam Grete hereingestürzt,
ganz unglückliche Augen in dem kreideweißen Gesicht, die linke Hand auf
dem Herzen und ein großes Schriftstück in der anderen. »Nanu?« rief er,
»was ist denn los?« Sie hielt ihm das Papier hin, setzte sich auf das
Bett und fing hellauf zu weinen an. »Lieber Helmcke,« schluchzte sie,
»um Gotteswillen, da, lies, ich habe, denke dir, wir haben, von Ohm
Mette haben wir fünfhunderttausend Mark haben wir geerbt.« Kaum hatte
sie das gesagt, so fiel sie in Ohnmacht.

»Verdammter Blödsinn,« knurrte ihr Mann; »mußte der Esel von Anwalt
das auch jetzt gerade schicken!« Er klingelte nach dem Mädchen und
brachte mit ihr zusammen seine Frau zu Bett. Sie erwachte bald wieder,
sagte aber, ihr sei so schlecht, daß sie ihn nicht begleiten könne.
Er fühlte, daß ihr Herz zu eifrig arbeitete und ließ Benjamin rufen.
Der kam sofort, untersuchte den Herzschlag und verordnete ein leichtes
Schlafmittel, machte einen Umschlag und sagte lächelnd: »Na ja, liebe
Frau Hagenrieder, wer kann für Malhör! Morgen werden Sie den Schlag
verwunden haben.« Als er aber mit ihrem Manne allein war, sprach er:
»Hagenrieder, sie hat kein gesundes Herz von Hause aus. Wer hätte das
gedacht; solche blühende Frau! Also immer nett und freundlich zu ihr
sein, und sie mit Ihren Privatsorgen verschonen! Sie hat reichlich
viel Aufregungen und Kummer gehabt in den letzten Jahren.« Am anderen
Tage war sie aber schon wieder ganz vergnügt und freute sich in ihrer
kindlichen Weise über das viele Geld, und ihr Mann tat so, als ob ihm
auch so viel daran gelegen wäre, obgleich das durchaus nicht der Fall
war. Es war ihm natürlich angenehm, daß die Zukunft seiner Frau und
Kinder gesichert war, aber die Menge von Schererei, die die Erbschaft
mit sich brachte, weil ein Teil davon in Häusern und Grundstücken
bestand, war ihm sehr lästig, und es war ihm äußerst unbequem, daß er
deswegen mehrere Reisen machen mußte.

Er hatte seine Frau gebeten, den Kindern nichts von der Erbschaft zu
sagen, aber sie hatten es in der Schule gehört, und Swaan sowohl wie
Swenechien trugen die Nasen nun noch einmal so hoch. Das verdroß ihren
Vater über die Maßen, und als der Junge eines Tages fragte: »Kaufen wir
uns nun ein feineres Haus?«, da fuhr er ihn recht grob an und fauchte:
»Wir? welcher Wir? Glaubst du, das Geld gehöre dir mit? In diesem Hause
ist deine Mutter zur Welt gekommen, und es entspricht der Stellung
deines Vaters vollkommen. Glaubst du, wir sollen uns mit solcher
Protzscheune lächerlich machen wie Noltens, als sie das große Loos
gewannen und sich gleich einen Nagel in den Kopf traten?«

Swaan bekam einen feuerroten Kopf und würgte an seinem Bissen herum;
dann aber sah er Swenechien an und lächelte heimlich. Hagenrieder hatte
es schon öfter bemerkt, daß die Kinder über ihn lachten, wenn er ein
derbes Wort oder einen klobigen Vergleich gebrauchte, und anfangs hatte
er sich darüber gegrämt. Seitdem sein Herz aber kälter geworden war,
war es ihm gleichgültig, wie seine Kinder sich zu ihm stellten; er
wußte es, daß es sein Schicksal war, allein zu bleiben.

In der ersten Zeit nach der Auszahlung der Erbschaft hatte Grete
einen Anfall von Einkaufsfieber gehabt; das hatte sich jedoch sehr
bald gelegt. Sie quälte ihn eine Zeitlang mit der Bitte, sich etwas
zu wünschen, bis er schließlich sagte: »Eine gute Doppelbüchse mit
Sicherheitsverschluß für rauchloses Pulver und Mantelgeschoß, elf
Millimeter, Nickelmantel und Stahlkern, die hätte ich schon lange gern
gehabt; war mir bloß immer zu teuer.« Er bekam sie zum Geburtstage,
und er überlegte lange, was er seiner Frau schenken solle, bis er
hörte, daß das Nachbargrundstück verkauft würde. Da erwarb er den
größten Teil des Gartens von dem Gelde, das er für die Ausmalung des
Schauspielhauses bekommen hatte, schickte seine Frau und die Kinder auf
acht Tage nach Swaanhof, ließ den Zaun abreißen und die Neuerwerbung
in den alten Garten hineinziehen. Grete bekam nasse Augen, als sie am
Morgen ihres Geburtstages von ihm in den Garten geführt wurde, denn
ihr Vater hatte einst, als er Verluste gehabt hatte, die Hälfte seines
Grundstückes an den Nachbar abgetreten, und jedesmal, wenn sie über
den Zaun sah, tat ihr das Herz weh, denn gerade das Stück jenseits des
Gatters war früher ihre liebste Spielecke gewesen. »Du einziger Mann,«
rief sie, und küßte ihn wie in der Flitterwochenzeit. »Aber nun darf
ich dir auch etwas recht Schönes schenken, nicht wahr?« jubelte sie;
»einen kapitalen Elch und einen Hauptbären? Bitte, bitte!«

Er nahm lachend an; er wollte ihr die Freude nicht verderben. Vor fünf
Jahren hätte er ein Indianergeheul ausgestoßen, hätte er auf Elch
oder Bär jagen dürfen; nun waidwerkte er nur noch aus Gewohnheit, und
um mit Anstand den Asphalt hinter sich liegen lassen zu können. Wenn
er mit seiner Frau durch den Stadtwald ging, und die Ulenflucht kam
heran, dann sagte er wohl aufseufzend: »H' ach, ich muß doch einmal
wieder hinaus!« War er dann im Wald und auf der Haide, dann gab er sich
wenig Mühe um Bock und Hirsch, und wenn er den Finger krumm machte,
dachte er: »Hoffentlich hört es den Knall nicht mehr, daß ich es nicht
abzufangen brauche!« Mußte er es dennoch tun, so ekelte ihn das auch
nicht weiter; nur der Gedanke daran war ihm unbequem.

Er fuhr schließlich mit dem Prinzen nach Rußland, legte auch einen
sehr starken Elchhirsch auf der Pürsche aus freier Hand auf die Decke,
schoß einen fast ebenso guten vor den Hunden, regte sich aber so wenig
dabei auf und schoß so kalt wie auf eine Geltricke, so daß er sich
sagte: »Den Bären will ich nun nicht mehr; erstens mache ich mir aus
dem Totschießen gar nichts mehr, und zweitens hat mir der Bär zu viel
Gemüt.« Der Prinz lächelte und sagte: »Du auch? Mir geht es ebenso.«

Nach einer gut gelungenen Saujagd saß Helmold mit ihm im Jagdhause
vor dem brennenden Kamine. Das Gespräch tropfte langsam. Mehrere Male
schien es dem Maler so, als ob der andere etwas auf dem Herzen habe,
aber er fragte nicht; niemals waren zwischen ihnen persönliche Dinge
zur Sprache gekommen; immer nur hatte sich die Rede um Jagd, Kunst,
Literatur, Musik, Philosophie, Religion und Politik gedreht. Der Prinz
wußte, daß Annemieken Hagenrieders Geliebte war; er ahnte auch, daß
zwischen seinem Freunde und Swaantje ein Gewitter niedergegangen war;
doch nie hatte er ein Wort darüber verloren.

Helmold war manches rätselhaft an Samlitz, den er von der Quarta an
kannte, aber er hatte niemals darüber nachgedacht. Jetzt, wo er in
seinen Augen eine schüchterne Bitte zu sehen meinte, fiel ihm ein, daß
er es noch nie bemerkt hatte, daß dieser große, ebenmäßig gewachsene
Mann mit dem Apollogesicht einen weiblichen Mund und unmännliche
Augen hatte, und es fiel ihm ein, daß Brüne so gut wie nie über
Frauen sprach, ihre Gesellschaft möglichst vermied und auch von ihnen
wenig beachtet wurde, und daß er ihn sich mit einer Frau im Arme
schlechterdings nicht vorstellen könne. Er war aber von dem langen
Wege im hohen Schnee so müde, daß der Gedanke, der in ihm aufstieg,
verschwunden war, ehe er ihn genau ins Auge gefaßt hatte. Am anderen
Morgen fand er die stumme Bitte nicht mehr in den Augen des Prinzen
und wunderte sich auch nicht, daß dieser ihm länger und fester, denn
je, die Hand drückte und sagte: »Lebe wohl, und auf ein schönes
Wiedersehen!«, denn Brüne hatte ihm gesagt, er habe eine längere Reise
vor.

Drei Tage später, als er mitten in der Arbeit war, hörte er, wie die
vierschrötige Magd in ihrer groben Weise sagte: »Unser Herr ist für
niemand nicht zu sprechen«, und als er aus dem Fenster sah, mußte er
lachen, denn da stand Klaus Ruter, den Wolkenschieber auf die Nase
gezogen, einen grünen Schal um den Hals und in Kniestiefeln, wischte
mit einer einzigen Bewegung seiner ungeheuren Hand das Frauenzimmer
beiseite und knurrte: »Ich bin auch kein Niemand nicht; ich bin der
Vorsteher von Stillenliebe und ein Duzfreund zu deinem Herrn, daß du's
weißt,« und damit stieg er breitspurig quer über die verschneiten
Beete, und die Magd machte Augen wie eine Kuh, wenn es donnert.

Helmold riß die Tür auf und rief: »Sieh, das ist ja fein, daß du dich
wieder mal hergefunden hast, Rutersklawes; nun riecht es hier doch mal
wieder nach Stillenlieber Torf!« Der Bauer sah sich um, stellte seinen
Eichheister in die Ecke, drehte dann den Schal von dem Halse und sagte:
»Du mußt nicht für ungut nehmen, daß ich hier so hereinkomme, wie ich
bin; ich hatte ein eiliges Geschäft und konnte mich nicht erst fein
machen.« Hagenrieder lachte, drückte ihn in einen Sessel und sagte: »Du
bist mir in Joppe und Kniestiebeln lieber als der König von Spanien in
Frack und Lackschuhen. Hast du schon gefrühstückt?« Ruter schüttelte
den Kopf, und so bestellte der Maler ein handfestes Frühstück.

Der Bauer sprach erst von der Jagd, dann davon, daß das Dorf im
nächsten Jahre eine Haltestelle bekommen würde, und daß die Wirtschaft
in Ohlenwohle abgebrannt sei, und der alte Hillmers vom Schneekruge
hätte tags zuvor das Zeitliche gesegnet, und als er Messer und Gabel
hingelegt und seinen Schlußschnaps getrunken hatte und die Zigarre
anbrannte, sah er Hagenrieder etwas verlegen an, räusperte sich
und sprach: »So, weswegen ich hergekommen bin: es hat sich etwas
Unliebsames bei uns begeben, oder vielmehr ein Unglück.« Helmold riß
die Augen auf: »Mit Annemieken?« Klaus schüttelte den Kopf. »Nein,
der geht es gut, soviel ich weiß. Das heißt, ich habe sie manchen
Donnerstag nicht gesehen; denn wann komm' ich mal nach dem Osterhohl!«
Er drückte an seiner Zigarre, obschon die sehr gut brannte. »Es handelt
sich um den Prinzen.« Hagenrieder wurde es leichter um das Herz; denn
wenn Annemieken ihm seit längerer Zeit nur noch eine Freundin war,
oder vielmehr eine Zuflucht, war ihm die Stadt zu bunt und ihr Volk
zu laut, ihr Schicksal lag ihm doch sehr am Herzen, und er hatte sich
etwas erschrocken, als er sie das letztemal blaß und mager vorgefunden
hatte. Als Ruter nun ganz trocken fortfuhr: »Das heißt, ich glaube, daß
es sich um ein Unglück handelt, und daß er nicht selber Hand an sich
gelegt hat«, da wunderte Hagenrieder sich, wie wenig ihn das zuerst
berührte.

Als Ruter sich aber verabschiedet hatte, kam es Helmold kalt in
seiner Werkstätte vor. Er zog die Schieblade auf, in der er seine
Skizzenbücher verwahrte, nahm ein grünes Heft heraus, schlug es auf,
besah lange das Blatt, auf dem der Prinz in voller Gestalt zu sehen
war, und die, auf denen sein Gesicht abgezeichnet war, setzte sich vor
den Kamin, stützte den Kopf in die Hände und sann lange nach, sich
dabei bittere Vorwürfe machend.

»Ich hätte ihn doch fragen müssen; seine Augen baten so sehr darum,«
dachte er; »vielleicht lebte er dann noch.« Denn er wußte, es war ganz
ausgeschlossen, daß ein Unfall vorlag; so sorgsam, wie Samlitz, ging
kein Mensch mit Schußwaffen um. Ein einziges Mal hatte er ihn grob
werden sehen; das war, als ein Jäger beim Treiben mit dem Gewehr durch
die Schützenlinie zog. »Ist Ihre Waffe nicht geladen?« hatte er den
Herrn gefragt, und als der ein verwundertes Gesicht machte und sagte:
»Natürlich!«, kam die eiskalte Antwort: »Na, dann benehmen Sie sich
bitte dementsprechend!«

Es stand für ihn fest, daß Samlitz Selbstmord verübt hatte. Er sann
vergeblich darüber nach, was der Beweggrund dafür gewesen wäre.
Mangel an Geld oder Schulden kamen nicht in Frage; seit fünf Jahren
war der Prinz sehr reich. Irgend eine schlechte Tat konnte auch
nicht vorliegen, denn er war ein zu gefestigter Mann, um sich einer
Leidenschaft hinzugeben. Helmold hatte ihn oft deshalb bedauert.
Niemals hatte er bemerkt, daß Brüne mehr als drei Glas Wein auf einem
Sitz trank, und über zwei Zigarren und eine Zigarette brachte er es
keinen Tag. Auch konnte kein Weib die Ursache dieses unpathetischen
Trauerspiels sein, weder mittelbar noch unmittelbar. »Vielleicht liegt
doch ein Unglücksfall vor,« dachte er schließlich.

Am folgenden Tage wußte er, daß das nicht der Fall war. Zwar war
Samlitz unter einer Wildkanzel gefunden worden, aber gerade das machte
Hagenrieder stutzig; denn daß der Prinz mit geladener Büchse den
Hochsitz erstiegen haben könnte, das war undenkbar. Außerdem saß der
Schuß zu gut, Mitte Blatt. Aber den Ausschlag gab der Brief, der auf
dem Schreibtische des Prinzen lag, und der an Hagenrieder gerichtet
war, einen kleinen Schlüssel und folgende Zeilen enthielt: »Lieber
Freund, in dem Geheimfache meines Schreibtisches, das du hinter der
linken Schublade findest, liegt etwas für dich. Lies es, und sei gut
zu mir, wenn wir uns wiedersehen. Dein Brüne.« In dem Fache lag ein
versiegelter Umschlag, der Hagenrieders Namen trug und darin war ein
schmales, in schwarzes Leder gebundenes Büchlein, dessen fünfzig
Büttenpapierseiten mit der gesucht kräftigen Handschrift des Prinzen
bedeckt waren.

Als Helmold das Buch zu Ende gelesen hatte, schüttelte er sich;
das Herz fror ihm. Er hatte geglaubt, sein eigenes Schicksal sei
schrecklich; das des Freundes war grauenhaft. Nun, da er tot und kalt
war, fühlte er, daß er ihn liebte, oder daß er ihn jetzt erst lieben
gelernt hatte. »Barmherzigkeit!« dachte er, »wenn ich das geahnt hätte!
Wie gern hätte ich ihm, wenn ich ihm auch nicht helfen konnte, die
Lippen geöffnet, daß er einmal in seinem Leben einem Menschen sein
Elend klagen und einen Teil davon abgeben konnte.« Immer und immer
wieder mußte er den Schluß der Niederschrift lesen: »Und weil mir das
Schicksal bestimmt hatte: du sollst nicht wissen, was Liebe ist, und
weil es mir keine Fähigkeiten gab, durch die ich der Menschheit nützen
konnte, und mein Elend dadurch vergessen, so bin ich ohne Liebe und
ohne Haß durch das Leben gegangen, ein überflüssiger Mensch, nicht mehr
wert, als ein seiner selbst unbewußter Trottel. Ich hoffe, daß mir
drüben das gegeben wird, was ich hienieden nicht kennen lernte: eine
Liebe und ein Haß.«

Helmold ging an die Kredenz und trank drei Gläser spanischen Wein,
so fror es ihn. Und dann fiel ihm Swaantje ein, und er fand, daß ihr
Geschick dem des Toten ähnele, und er fühlte etwas wie Genugtuung, daß
er ihr wenigstens eine unglückliche Liebe aufgezwungen hatte. »Das
ist doch besser als gar keine,« dachte er und staubte den Rest der
Vorwürfe, die er sich ab und zu ihretwegen noch machte, von seinem
Gewissen herunter.

Er besorgte alles, was der traurige Fall erforderte, und dann ging er
zu Annemieken, um an ihrem stillen Wesen Beruhigung zu suchen. Die
fand er bei ihr auch, so daß er am folgenden Tage dem Bruder des Toten
gefaßt gegenüber treten konnte.

Er fand einen großen, schweren Mann mit gutmütigem Gesichte, dem man
es nicht ansah, daß er im französischen Kriege eine Batterie über den
Haufen geritten und hundert Buschklepper hatte zusammenschießen lassen.
Er hatte so etwas Bestimmtes in seinem Wesen, daß Hagenrieder mit der
Wahrheit nicht hinter dem Berge zu bleiben vermochte. Als der Fürst
das Buch gelesen hatte, fragte er: »Darf ich es behalten?« Der Maler
nickte: »Ich danke Ihnen, mein Freund,« sagte der andere ernst, indem
er ihm fest die Hand drückte; dann legte er das Heft in das Kaminfeuer,
und Hagenrieder schickte den Brief Brünes hinterher.

»Daß etwas anders als ein Unfall vorliegen könnte,« fing der Fürst nach
einer Weile an, »vermutet hier niemand?« Als sein Gegenüber durch eine
Kopfbewegung verneinte, murmelte er: »Um so besser!«

Hagenrieder begleitete den Fürsten nach Hohen-Samlitz, wo die
Beisetzung stattfand. Die Fürstin, eine sehr große und schöne Frau mit
jungen Augen und ganz weißem Haare, empfing ihn, auf einem Ruhebett
liegend. Nachdem sie dem vierten Kinde das Leben gegeben hatte, war
sie leidend geblieben. »Also Sie waren unseres armen Brüne einziger
Freund?« sprach sie leise, ihn voll ansehend; »er hat sehr oft von
Ihnen gesprochen und ganz anders als von seinen übrigen Bekannten. Sind
Sie sehr vertraut mit ihm gewesen?« Der Maler verneinte. »Also auch Sie
nicht, selbst Sie nicht! Er war so unglücklich sein Leben lang, denn
ich kannte ihn von klein auf. Die Mutter hat ihm gefehlt; sie starb,
bevor er sprechen lernte. Jetzt erst, wo er von uns gegangen ist, weiß
ich, wie gern ich ihn hatte; aber er war so unnahbar. Erzählen Sie mir
von ihm, wenn Sie mögen.«

Obwohl Hagenrieder gleich nach der Beisetzung fortgefahren war, hatte
die Fürstin einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht, daß er während
der ganzen langen Fahrt ihr Gesicht vor Augen hatte. »Was ist das bloß
wieder mit mir?« dachte er; »ich habe mich glatt in sie verliebt, in
ihre Augen, ihr Haar, ihren Mund, ihre Hände und in ihre Stimme.« Es
bekümmerte ihn sehr, daß diese schöne, stolze und gute Frau, einst eine
der besten Reiterinnen im Lande, in deren Stimme so viel Kraft und
Leidenschaft lag, seit langen Jahren mit hilflosem Körper da lag, ein
Wrack am Strande.

»Merkwürdig,« so sann er, »und ich liebe sie gerade deswegen. Und darum
liebte ich Swaantje auch so sehr, und darum liebe ich nachträglich
den armen Brüne, alles gefesselte Seelen, und das war es auch wohl,
was mich zu Annemieken zog, das Leid, das hinter ihrem hübschen
Kindergesichte lag.« Er hatte sie niemals gefragt, welcher Art das
Unwetter gewesen war, das sie erlebt hatte.

Zwischen ihr und Helmold war aus der Liebschaft ein Verhältnis
geworden, wie zwischen Bruder und Schwester. Er schlief jetzt immer
im Kruge, denn das Mädchen sagte einmal: »Es könnte darüber doch
einmal so laut geredet werden, daß es in der Stadt zu hören ist; na,
und das willst du doch auch nicht gern!« Aber wenn er in Stillenliebe
war, kehrte er zum Vesper immer bei ihr ein und blieb bei ihr, bis es
Schlafenszeit war. Er saß dann im Backenstuhl am Feuer, rauchte, sah
ihr beim Spinnen zu, dachte an das, was ihm das Leben an Licht und
Schatten gebracht hatte und fand, daß er damit eigentlich zufrieden
sein könne.

Ab und zu sah er in dem wirbelnden Herdrauche Swaantjes Gesicht. Ohne
Eigenleid dachte er an sie; denn er war sich ganz klar darüber, daß er
ihr mehr gewesen war als sie ihm. Er hätte ihr Leben ausfüllen können;
sie wäre ihm nur eine Ergänzung gewesen.

Überhaupt sah er jetzt ganz klar. Eines Tages fuhr er im Kraftwagen
nach Stillenliebe, um den Pachtvertrag auf seine Person umschreiben
zu lassen. Hennig begleitete ihn, wie jetzt öfters, wenn er auch kein
Gewehr anrührte. Helmold hatte am Tage vorher einen langen Brief vom
Fürsten bekommen, der den letzten Willen Brünes betraf, und wonach
Hagenrieder mit der Bauleitung und Ausschmückung für ein Soldatenheim
betraut wurde, das der Verstorbene seiner ehemaligen Garnison stiftete.
Das Honorar war so hoch bemessen, daß der Maler dem Fürsten schrieb,
er wolle erst persönlich mit ihm Rücksprache nehmen.

Gerade setzte er Hennig die näheren Umstände auseinander, da gab es
einen Stoß, und das Auto wollte nicht vom Flecke; die Vorderachse war
gebrochen. Da Hennecke sich den linken Schenkel etwas verstaucht hatte,
verbot es sich, daß er die zwei vollen Stunden nach Stillenliebe zu
Fuß abmachte; darum schickte Hagenrieder den Wagenlenker nach einem
Fuhrwerke.

»Ein Segen, daß es sich aufgeklärt hat,« meinte Hennig und räkelte sich
im Haidkraute; »wenn es jetzt regnete, fände ich den Fall tragisch.«
Sein Freund lachte: »Optimist, der du bist!« Der andere zuckte die
Achseln: »Na, und du bist es ja auch.« Der Maler steckte sich eine
Zigarre an und sah gegen den Himmel, unter dem ein Gabelweih kreiste.
»Hm,« meinte er dann, »anders bleibt einem ja schließlich auch nichts
übrig, wenn man kein oberflächlicher Kopf ist. Sieht der Milan da nicht
herrlich aus, und wie schön die Haidlerche singt!«

Er streichelte ein goldrot blühendes Moospolster. »Du hast einmal
gesagt, Hennig, man ist, wie man ist. Das stimmt. Was habe ich früher
an mir herumgebogen; Zweck hat es nicht gehabt. Ich habe immer gedacht,
als Bauer oder Trapper wäre ich glücklicher geworden; das war natürlich
Unsinn. Ich habe auch geglaubt, ich sei ein Ausnahmemensch, eine
untypische Erscheinung. Jetzt sehe ich ein, daß ich ein Typus bin und
dessen Gesetzen unterliege, mir selber keine schaffen kann. Weil ich
aber ein Künstler bin, bin ich stets unzufrieden gewesen. Zufriedene
Maler und Bildhauer und Dichter und Musiker, die gibt es wohl, aber
dann sind es eben Handwerker. Die Unzufriedenheit ist die Grundlage der
Kunst und alles andern Schaffens.«

Er sah Hennecke an, lachte süßsauer und fuhr fort: »Früher,
hurra, was fühlte ich mich! Aber meine Kunst, die war doch eine
künstliche Maschine, wie diese rote Karre da, die jetzt mit
gebrochenem Schlüsselbein auf der Nase liegt. Vorzüglich in diesem
Koofmichzeitalter ist die Kunst kein solides Lebensfahrzeug. Das
Kunstwerk ist Ware geworden. Ich male ein Bild mit Hirn und Herzblut,
und dann kommt irgend ein weltfremder Kerl und kauft es, und ich und
mein Volk haben das Hinterhersehen. Ach ja, man sieht mächtig klar,
liegt man einmal neben der Karre im Straßengraben!«

Er pfiff leise vor sich hin und fragte dann: »Stimmt das?« Sein Freund
nickte. »Ja, und dann,« spann er weiter an seinen Gedanken, »in dieser
barbarischen kulturlosen Zeit, in diesem exakten Präzisionszeitalter,
wo alles Wertlose seinen festen Barwert hat, führt die Kunst nicht
mehr, sie rennt hinterher und nebenher; sie schenkt nicht mehr, sondern
sie schachert; sie ist nicht mehr Königin, sondern Konfektionöse; dient
nicht dem Volke, sondern dem Kapital. Das habe ich wohl immer gefühlt,
aber nun erkenne ich es. Verfluchte Zucht!« Er warf seine Zigarre gegen
den Erdboden, daß es sprühte.

Sein Gesicht sah ganz gleichmütig aus, als er weiter sprach: »Irgend
ein zielbewußter Idiot hat gesagt, der Künstler müsse sich selbst
genügen; das ist hervorragender Blödsinn! Der Künstler will wirken!
Wenn ich ein Mädchen in den Arm nehme, was suche ich dann: Vergnügen
oder Fortpflanzung? Ich meine das letzte! Aber uns bildenden Künstlern
von heute fehlt jede Fernwirkung; ein kleiner Zeitungsschreiber wirkt
weiter als der größte Maler. Alles verhunzt uns dieses Jahrhundert
der Schachermachai, Kunst, Liebe und Leben. Man existiert, aber man
lebt nicht, und macht man mal den Versuch, schwupp, beißt einen das
sogenannte Gewissen. Der Held dieses Jahrhunderts ist der Philister;
sogar ein Bismarck strich sich demgemäß an, um sich in dieser
halbseidenen Zeit durchsetzen zu können. Wir müßten einmal wieder
einen Krieg bekommen und gründliche Keile, das ist das einzige, was
uns helfen kann, damit wieder Männer oder besser, Kerle an die Spitze
kommen, statt dieser Knechte, die sich Herren schimpfen.«

Er nahm einen roten Feuersteinsplitter auf, besah ihn lange und
murmelte: »Was hat uns bloß so minderwertig gemacht? Die Technik oder
das Christentum? oder der Protestantismus? Ich weiß es nicht. Aber ich
weiß: ich möchte Seeräuber gewesen sein oder Beduinenscheik und jetzt«,
er lachte Hennig an, »Mönch, aber nicht in einem Kloster, in dem Schuhe
und Stiefel unter demselben Bette stehen. Aber ich würde es doch wohl
nicht länger als acht Tage aushalten!«

Er legte den Stein wieder in den Sand. »Quatsch! Ich will lieber
vespern; ich merke, mir wird flau. Vielleicht philosophiere ich dann
etwas positiver.«

Hennecke lächelte, als er sah, wie tapfer sein Freund aß und welchen
gefährlichen Zug Portwein er hinterher nahm. »Das Essen schmeckt dir
ja noch anscheinend und der Wein auch,« meinte er, »und ich glaube,
ein junges Mädchen im Alltagskleide ist dir immer noch lieber, als ein
alter Pastor im Sonntagsstaat. Hm?« Der Maler verlor mit einem Male
jede Spur von Humor aus den Augen, lachte dann aber laut auf und sagte:
»In der Theorie, ja! Sonst aber, weißt du, Hennig, die Frauen sind mir
in der Hauptsache nur noch hübsche Bilder, und du weißt, ich mag in
meinen Räumen keine Bilder leiden.«

Er sah dahin, wo ein Turmfalkenpaar über einem Birkenwäldchen schwebte
und laut kicherte, und er dachte an die junge frische Witwe, die ihn,
den halbreifen Knaben, die Liebe gelehrt hatte, oder vielmehr die
Lust. Früher hatte er immer gedacht, daß das ein Glück für ihn war;
nun erkannte er, daß es sein Verderben gewesen war, denn seitdem hatte
er kein hübsches Weib ansehen können, ohne es zu begehren. Nur in
der Zeit, da er lichterloh für Grete brannte, hatte es für ihn keine
Frauen gegeben; aber dieser Zustand der Reinheit hatte auch nicht lange
gedauert.

»Das kommt vom späten Heiraten«, dachte er; »stückweise habe ich mein
Herz verschleudert und es unkräftig für eine große Liebe gemacht.«
Einst hatte es seiner Eitelkeit geschmeichelt, daß so viele Frauen
und Mädchen seine Augen suchten; nun sah er den Grund dafür ein. »Sie
sahen in mir den liebeshungrigen, ungesättigten Mann, den unglücklichen
Mann, hatten Mitleid mit mir, und Mitleid und Zuneigung sind
Zwillingsgeschwister.« Er schämte sich. »Pfui, Mitleid! Das empfindet
man mit Krüppeln.«

Ihm fiel der seltsame Blick ein, mit dem Prinzessin Almut ihn bei der
Beisetzung angesehen hatte. Das hatte seiner Eitelkeit geschmeichelt,
aber weiter keine Wirkung auf ihn gehabt, obgleich das junge Mädchen
eine Schönheit war und Augen hatte, wie ihre Mutter. Der Blick, mit dem
sie ihn ansah, hätte ihn früher in Brand gesteckt; jetzt wurde er kaum
warm davon.

Daß es so war, merkte er, während er eine Woche darauf auf
Hohen-Samlitz zu Gaste war. Als er mit dem Fürsten und der Fürstin über
Brünes letzten Willen sprach und meinte, daß das Honorar das übliche
Maß weit übersteige, erwiderte der Fürst: »Ihre Kunst ist überhaupt
nicht mit Geld zu bezahlen: bitte fassen Sie die Summe nur als Sinnbild
der Wertschätzung auf, die mein Bruder Ihnen entgegenbrachte.«
Da schwieg der Maler. Als der Fürst ging, fragte die Fürstin, ob
Hagenrieder nicht Lust habe, sie alle zu malen, und da versetzte er:
»Durchlaucht verzeihen, aber ich glaube, das ist nicht gut«, und als
sie ihn verwundert ansah, sagte er leise und er wurde ganz rot dabei:
»Ich bin nicht eitel, Euer Durchlaucht, aber ich habe ein sehr bitteres
Erlebnis gehabt, und seitdem habe ich das Unglück, auf Frauen von
Herz sonderbar zu wirken, und noch mehr auf ganz junge Mädchen, die
Mitgefühl und Liebe verwechseln.«

Die Fürstin sagte nichts, hielt aber bei der Tafel die Augen offen, und
so entgingen ihr die Blicke nicht, die ihre jüngste Tochter dem Maler
schenkte. Geflissentlich fragte sie ihn nach seiner Frau und seinen
Kindern, und von da ab sah Almut auf ihren Teller. Nach dem Essen bat
die Fürstin ihn, ihr das Bild seiner Frau zu zeigen. Er holte es, und
sie ließ es rund gehen. Die Prinzessin war ganz blaß, als sie es ansah,
so daß ihre Mutter sie zu Bett schickte.

Hatte auf der ersten Rückfahrt von Hohen-Samlitz die Fürstin Helmolds
Gedanken beschäftigt, so sah er während dieser Reise das Gesicht ihrer
Tochter vor sich und späterhin noch oft genug. Er stellte es sich
vor, welch ein Glück es sein müßte, sie im Arme zu halten und küssen
zu dürfen, aber es schien ihm doch, als wenn er sie nur wie ein Vater
würde küssen können, und daß das zärtliche Verlangen, das ihn in der
letzten Zeit ganz jungen Mädchen gegenüber beschlich, wohl darauf
beruhte, daß es ihm an einer Tochter fehlte, die in ihm aufging;
denn Swenechien entfernte sich immer mehr von ihm. »Ich habe zu spät
geheiratet,« dachte er; »die Kinder haben keine Schuld, daß sie fern
von mir stehen; ich bin zu alt für sie, zu alt und zu kalt. Und darum
ist eine Kluft zwischen ihnen und mir.«

Seine Augen verhärteten sich; denn sein Verstand raunte ihm zu: »Sie
reden Unsinn, Herr Hagenrieder; jeder Mensch bleibt für sich allein;
versuchen Sie logisch zu denken, und Sie werden einsehen, daß Sie vom
Wege abgekommen sind und sich verbiestert haben. Solange man verliebt
ist, ist es anders; aber das hält nicht vor, ist also ein plumper
Schwindel von der Natur, die euch damit ihren Zwecken dienstbar macht.
Und ist die heiße Liebe abgeblüht, dann gibt es einen Kompromiß mit den
notwendigen Kompromißverständnissen. Kein Mensch kann aus seiner Haut
heraus, keiner sein Ich dem andern geben, Mann und Frau sich nicht,
Eltern und Kinder sich nicht.«

Sein Herz wehrte sich gegen diese Worte, aber es konnte nichts
Triftiges darauf erwidern, und ihm wurde kalt vor Einsamkeit. »Leben
wir denn bloß, um uns fortzupflanzen?« fragte er.

Das Soldatenheim brachte ihm aber so viele Arbeit, daß er keine Zeit
behielt, sich zu bedauern. Auch Ärger brachte ihm der Auftrag, denn der
kommandierende General, ein straffer, kurz angebundener Herr, machte
wiederholt Versuche, ihn in der Wahl der Stoffe zu beeinflussen, bis
Hagenrieder die Geduld riß und er sagte: »Nach dem letzten Willen
meines Freundes habe ich unbeschränkte Vollmacht! lehne ich den Auftrag
ab, so fällt das ganze Unternehmen.« Da ließ ihn der General in Ruhe.

Hagenrieder arbeitete nun darauf los, wie es ihm gefiel. Er hatte in
der Garnison einen tüchtigen jungen Baumeister gefunden, dem er trotz
aller Quertreibereien der einflußreichen Klüngelkreise den Bau gab. Er
hatte ihn gefragt, wie er sich das Haus denke: »Einfach und gemütlich,«
hatte Kolden geantwortet, und der Maler erwiderte: »Sie sind mein Mann.«

Als der Bau fertig war, gefiel er ihm so sehr, daß er voller Freude
an die Arbeit ging. Er verzichtete vollkommen darauf, die Wände mit
Schlachtenbildern zu bedecken; er malte Landschaften mannigfachster
Art, in deren Vordergründen der Bauer bei der Arbeit dargestellt war.
Nur die Hauptwand des Vortragssaales bekam ein Bild anderer Art, eine
weite Herbsthaide, rechts und links von goldenen Birken umschlossen,
und über die Haide ritt an der Spitze seiner Reiter, die wie Schatten
aus dem Frühnebel auftauchten, der König als oberster Kriegsherr.

»Ich habe immer gedacht, Uniformen könne man nicht malen,« sagte
Kolden; »ich habe mich geirrt.« Der Maler lachte: »Ja, ohne die
Eselsbrücke mit dem Nebel wäre es auch nicht gegangen.« Aber er freute
sich selber, daß das Bild ein Kunstwerk geworden war, und als der
kommandierende General ihm die Hand schüttelte und sagte: »Ganz recht
von Ihnen gewesen, daß Sie sich mein Dreinreden verbaten; Sie haben
alle meine Bedenken schlank übergeritten,« da fühlte er, wie ihm das
Gesicht heiß wurde.

Am Tage darauf war er bei dem General zu Tisch geladen. »Sagen Sie
mal, was haben Sie eigentlich,« fragte der ihn beim Braten; »machen
immer so hinterhältsche Augen. Auf ihr Wohl!« Helmold lachte und sagte:
»Schlechte Kinderstube, Exzellenz!« Nach aufgehobener Tafel überreichte
er dem Gastgeber ein gestempeltes Schriftstück. Der alte Herr, der
drei Feldzüge mitgemacht hatte, zog die Augenbrauen immer höher, je
länger er las, und ließ sogar seine Zigarre ausgehen. Dann legte er das
Aktenstück auf den Tisch, schlug mit der Hand darauf, sah seine Frau,
den Adjutanten, den Baumeister und dann den Maler an, holte tief Luft
und stöhnte: »Na, das muß ich aber sagen; besser konnten Sie es mir gar
nicht geben. Hört mal, Kinder: unser Freund hier verzichtet auf das
ganze Honorar zugunsten des Militärhülfsvereins. Pff! Ich muß einen
Kognak trinken. Erst Gänsebraten und dann der Schreck!«

Hagenrieder hatte die Schenkung gemacht, weil eine wahrscheinlich
von den Klüngelkreisen beeinflußte recht minderwertige Zeitung eine
Andeutung gemacht hatte, als habe er Samlitz bewogen, ihm den Auftrag
zuzuwenden, und dann war ihm auch zu Ohren gekommen, daß an einigen
Stammtischen gesagt war, mit dem vierten Teile der Summe wäre seine
Arbeit reichlich bezahlt. Er lachte aber nur, als er einige Zeit darauf
das plumpe Lob las, das ebendieselbe Zeitung vor seiner Hoteltür ablud,
und als er mit den Leuten zusammenkam, von denen er wußte, daß sie
ihm von hinten gegen den Rock gespuckt hatten, ließ er es sie nicht
merken, daß er genau darüber unterrichtet war. Aber als er mit ihnen
anstieß und ihnen freundlich zunickte, dachte er: »Ach ja, ich kann
mich sogar diesem Gesindel gegenüber beherrschen; was hätte es mir
früher für einen Spaß gemacht, ihnen die Reißzähne zu zeigen. Man wird
alt.«

Zu der Einweihung des Soldatenheimes erschien der König selbst. Er
zeichnete Hagenrieder sehr aus und ließ sich sagen, welche Absicht er
gehabt habe, daß er bis auf das eine Bild lediglich bäuerliche Arbeit
dargestellt habe. »Ja,« erwiderte der Maler, »Majestät, gedacht? Ich
denke beim Malen nicht. Aber ich hatte so das Gefühl: du malst für
Soldaten, und mußt ihnen das Komplement zum Soldatenleben geben.« Der
König sah ihn ernst an, nickte mehrere Male und sagte: »Ich glaube, Sie
haben das Richtige getroffen. Anfangs stutzte ich, als ich unter dem
Hauptbilde im Lesezimmer den Spruch des großen Korsikaners las. ›Den
Acker bestellen, das ist der wahre Beruf des Menschen,‹ denn er wirkt
unwillkürlich wie ein Witz, und ob der Mann das ehrlich gemeint hat,
ist noch fraglich, denn seine Sankt Helenaer Aussprüche schmecken zum
Teil sehr nach Kaptatio benevolentiae. Aber eine Wahrheit wird darum
nicht entwertet, wird sie nicht aus ehrlicher Absicht gesagt.« Er
betrachtete dann aufmerksam das Gemälde im Vortragssaale, sprach aber
nur von der Landschaft und wandte sich zu dem Baumeister.

Hagenrieder bekam die nächste Klasse des Ordens, den er schon besaß,
und beim Geburtstage des Königs wurde ihm der Adel, den seine Vorfahren
abgelegt hatten, wieder verliehen. Er holte Hennecke ab: »Komm mit nach
Stillenliebe, Hennig,« bat er; »es ist nicht zum Aushalten; jeder Ochse
tut so, als wenn ich auf einmal ein anständiger Mensch wäre. Ich komme
mir wahrhaftig beinahe selber schon so vor.«

Auf dem Bahnsteige begegnete ihm Kommerzienrat Britting mit seiner
Frau Meinholde geborene Marten. Sie war noch schöner geworden und sah
den Maler so an, daß Hennecke dachte: ›Dunnerkiel!‹ Er sagte jedoch
nichts. Er hatte seinen Freund und sie vor Jahren einmal im Walde
getroffen, Helmold aber nie nach ihr gefragt. Der grüßte höflich
wieder, ohne den heißen Blick zurückzugeben. Zwischen ihm und ihr
hatte sich beinahe eine Liebschaft angeknüpft, und es wäre ihm leicht
gewesen, das Mädchen ganz zu gewinnen. Da bemerkte er bei einer
Gesellschaft, daß sie mit einem häßlichen Blick nach dem Nacken seiner
Frau sah. »Unverschämtheit!« hatte er gedacht, und sie fortan gemieden.

Während der Zug durch das herbstliche Land schnaufte, dachte er
an alles das, was ihm im Leben entgangen war, aber mit demselben
Gleichmute, wie an das, was es ihm beschert hatte. »Du«, sagte Hennig,
und hielt ihm die Zeitung hin, »die Prinzessin hat sich verlobt.« Sein
Freund nickte; das rührte ihn nicht mehr als das Adelsprädikat, als
Meinholdes einladender Blick, als das ganze Leben mit allem seinem Drum
und Dran. Er erschrak sogar recht wenig, als er Annemieken wiedersah;
sie hatte eine verdächtige Glut in den Augen, auf jeder Backe einen
kreisrunden roten Fleck, und ihr Husten war hart und trocken. Er
sagte ihr, sie solle sich einmal gründlich untersuchen lassen, und er
wollte sie gern nach dem Süden schicken, aber sie wehrte ab: »Das geht
vorüber. Und mich vor dem Doktor nackigt ausziehen, ich müßte mich ja
totschämen. Und unter fremde Leute kann ich schon gar nicht gehen.«

Als er abends mit Hennecke im Jagdhause vor dem Kamin saß, wunderte
er sich, wie stumpf er geworden war. »Sehe ich sehr alt aus, Hennig?«
fragte er ihn. »Du alt?« erwiderte der lachend: »Mann in den besten
Jahren! Ordentlich heiratsfähig siehst du aus!«

Helmold aber dachte: »Das ist bloß äußerlich; mein Herz wird immer
knickebeiniger.«



Nachspuk


Die Brennhexe lag im Moore und schlief; da kam der Südwestwind
angegangen und kitzelte sie mit einem Grashalme in der Nase, so daß sie
niesen mußte, und davon wachte sie auf.

Sie gähnte, reckte sich, schüttelte ihre Röcke zurecht, klopfte die
Schürze glatt, lächelte, wiegte den Kopf hin und her und begann zu
tanzen, daß der feuerrote Rock und die gelbe Schürze wie Flammen
leuchteten.

Da sah sie dort, wo zwischen den Birkenbüschen Wasser blitzte, einen
hellen Fleck, und das war ein menschliches Angesicht, und es gehörte zu
einem Manne im grünen Rocke, der mit der Büchse auf dem Rücken langsam
dahinging.

»He du!« rief die Brennhexe und winkte ihm, aber Helmold Hagenrieder
hörte nicht. Er blickte gerade aus, denn er sah einen mit Kienruß
schwarz gemachten Sarg, und darin ein weißes Gesicht, und zwei
wachsgelbe Hände, die einen Rosmarinstrauch hielten, Hände, die ihn so
manche Nacht lieb gehabt hatten, wenn er des Stadtlebens müde und des
Malens satt, in dem Strohdachhause unter dem Osterhohl eingekehrt war.

Es war keine Trauer in ihm, sondern nur ein Mitleid mit sich selber,
daß er jetzt niemand mehr hatte, dem er sagen konnte, daß sein Herz
unter der Erde läge, unter einem Hügel, auf dem ein Brett stände mit
der Inschrift: »Es ruhe in Unfrieden.«

Gleichmütig rauchte er seine Pfeife. »Herr Geheimer Hofrat Senator
Professor Helmold von Hagenrieder, erster Vorsitzender des
Kunstvereins, Ehrenmitglied der Kunstgenossenschaft, Inhaber von
einem halben Dutzend goldener Ehrenmünzen und Staatspreisen, Ritter
hoher Orden, wissen Sie, was Sie sind, Verehrtester?« sagte er
zu sich und sah sich spöttisch an: »erinnern Sie sich noch jenes
Ligusterschwärmerweibchens, das Sie als zwölfjähriger Bengel fingen,
mit Schwefeläther töteten, nadelten und aufspannten? Als Sie nach vier
Tagen das Spannbrett vom Schranke nahmen, bewegte der Schmetterling
ruhig und besonnen den Hinterleib hin und her und entledigte sich
seiner Eier, obgleich sein Vorderleib gänzlich abgestorben war. In
demselben Zustande, mein Lieber, befinden Sie sich; ruhig und besonnen
schaffen Sie ein Kunstwerk nach dem anderen, aber nur mit Kopf und
Hand, denn Ihr Herz ist längst tot.«

Das sah die Brennhexe auch ein. Sie war ganz dicht hinter ihm gewesen,
aber als sie sein Gesicht sah, machte sie eine verächtliche Bewegung
mit der Hand und blickte sich nach einem anderen Tanzeschatz um,
dessen Augen nicht so kalt aussahen, wie Moorwasser im März. Da sie
aber immer noch so hübsche Beine hatte, wie damals, als sie den
selben Mann quer durch das Moor gehetzt hatte, so war der Torf wieder
lichterloh verliebt geworden, und Helmold Hagenrieder mußte machen,
daß er weiterkam, denn das Feuer rückte ihm von drei Seiten auf den
Leib. Dieweil er aber den Springstock nicht bei sich hatte, so wurde es
ihm schwer, die Moorgräben zu nehmen, so daß er schließlich in einen
Abstich springen und bis an den Hals untertauchen mußte.

Ziemlich lange mußte er im Wasser bleiben, obgleich ein Schauer nach
dem andern ihn schüttelte, denn er war unfrisch und müde. Er war,
nachdem er Annemieken die letzte Ehre erwiesen hatte, die ganze Nacht
aufgeblieben und hatte sich mit dem Monde unterhalten; er hatte in dem
Backenstuhle neben der Feuerstelle gesessen, und der Mond hatte sich in
dem Spinnstuhle niedergelassen.

Es war kalt gewesen in der Nacht; denn das Feuer war ausgegangen,
und das Spinnrad stand still; es sah wie ein Gespenst aus, und der
Kesselhaken hatte ein trauriges Gesicht.

»Ja, ja, Kerl,« hatte der Mond gesagt, »es nimmt eben alles einmal ein
Ende; auch ich war einst jung, hatte ein rotes Herz und Gedanken, so
grün wie Maibaumlaub zur Pfingstzeit. Das ist schon manchen Donnerstag
her, und mir ist so, als wäre das alles nicht wahr, die vulkanischen
Träume meiner Jugend und meines Mannesalters Ebbe und Flut. Aber so
stehe ich mich schließlich doch besser; man hat keine Hoffnungen mehr,
aber auch keine Enttäuschungen. Sei froh, Kerl, daß es dir ebenso geht!«

Sein Freund hatte sich eine neue Pfeife gestopft und nichts gesagt, so
daß der Mond geärgert aufstand und fortging. Helmold hatte gegen Morgen
ein Glas kalte Milch getrunken, ein Stück Brot gegessen und war auf die
Frühpürsch gegangen; doch machte ihm das Waidwerken gar keine Freude.
»Lebendiges Leben ist so schön«, sagte er sich, als er den Hauptbock in
der Wiese stehen sah, wie eine Flamme in der ersten Sonne leuchtend;
»lebe und liebe, du adelig Getier, bis deine Zeit um ist. Ich weiß, was
es heißt, zu sterben vor der Zeit, die einem bestimmt ist!« Er hatte
sich umgedreht und war weiter geschlichen.

»Es ist immer das selbe«, dachte er; »der Himmel ist blau und die Sonne
gelb. Man müßte eigentlich einmal in ein Land gehen, wo der Himmel
weiß und die Sonne schwarz ist, oder dahin, wo eine weiße Sonne in
einem schwarzen Himmel steht. Ein wie das andere Jahr blüht das Moor
im Spätsommer rosenrot; hinterher werden die Birken gelb; dann kommt
der Schnee, und so geht es in der selben langweiligen Weise weiter.
Das kenne ich nun ein halbes Jahrhundert lang und bin seiner satt. Und
mit Liebe und Haß ist es ebenso: erst rot, dann gelb, dann braun und
zuletzt weiß, immer in der selben eintönigen Art; ich mache mir nichts
mehr daraus.«

Er fuhr nach Hause. »Du siehst nicht gut aus, Liebster,« sagte seine
Frau. »Bißchen erkältet,« antwortete er und ging an seine Arbeit. Er
lebte in stiller Tätigkeit drei Tage hin, bis ein heftiges Kopfweh,
Schüttelfrost und Fieber ihn zu Bette brachten. In der Nacht wachte er
auf und sah den grauen Engel vor seinem Bette sitzen. »Meinetwegen!«
sagte er zu ihm. Eine alberne Angst kniete ihm auf dem Herzen, würgte
ihm am Halse und schlug ihn, daß ihm der Kopf zu zerspringen drohte; er
weckte seine Frau aber nicht, um sie nicht zu ängstigen.

Am Morgen sah er so elend aus, daß Grete Beni Benjamin herbeirief.
Der untersuchte ihn, runzelte die Stirn und sprach nachher zu Frau
Hagenrieder: »Es steht recht schlimm; doppelseitige Lungenentzündung.
Bereiten Sie sich auf alles vor, liebe Freundin. Und lassen Sie Hennig
rufen.«

Am Nachmittage des dritten Tages, nach dem Helmold sich niedergelegt
hatte, gab der Arzt keine Hoffnung mehr. »Trösten Sie sich, Frau
Hagenrieder,« sagte er: »er hat alles erreicht, was einem Menschen
beschieden sein kann, und mehr gelebt, als wenn er hundert Jahre alt
geworden wäre.« Der Frau liefen stumme Tränen über das Gesicht. »Nein,«
erwiderte sie und schüttelte den Kopf, »nein, das hat er nicht.«

Sie seufzte auf und begann wieder: »Lieber Hennig, und bester Herr
Doktor, was meinen Sie, soll ich nicht Swaantje telegraphieren?
Vielleicht ist es ihm eine Freude, sie noch einmal zu sehen.« Der
Arzt sah Hennecke an und dieser ihn. »Er hat von ihr kaum mehr
gesprochen,« antwortete Hennig, und Benjamin setzte hinzu: »Auch in
seinen Fieberdelirien nicht. Ich glaube, er denkt nicht mehr an sie. So
ist es wohl besser, wir stören ihn nicht beim Einschlafen.« Hennecke
aber fragte: »Wann kann sie spätestens hier sein?« »Morgen mittag,«
antwortete sie. »Dann hat es keinen Zweck mehr;« dachte der Arzt, »denn
er überlebt die Nacht nicht mehr.« Dann schwiegen die drei Menschen
und sahen mit leeren Augen aneinander vorbei.

»Grete,« flüsterte es im Nebenzimmer. »Helmold?« rief die Frau, nötigte
ein Lächeln auf ihr Gesicht und ging zu ihrem Gatten. Seine Augen waren
ganz klar. Er griff schwach nach ihrer Hand; sie gab sie ihm, und er
drückte sie. »Es ist alles in Ordnung,« murmelte er, »das Testament,
und das andere. Weißt du mit den Kindern,« er schloß die Augen, »nicht
Bescheid, Hennig hilft dir, und Beni auch.« Sie flüsterte ihm zu:
»Sollen die Kinder kommen?« Er winkte mit den Augen ab und hauchte:
»Schlafen lassen!« Er fing an zu keuchen und wand sich hin und her.
»Kommen Sie,« sagte der Arzt und führte die Frau hinaus, denn er sah,
daß es zu Ende ging.

Der Kranke keuchte immer schwerer und murmelte bald laut, bald
leise. »Alles in Ordnung, alles, alles,« flüsterte er; »mündelsicher
angelegt.« Seine Stimme starb, und sein Atem schlief ein. Noch einmal
stieß sein Leben den Tod zurück: »Bravo, Prinz!« murmelte er; »er hat
die Kugel zwölf Ring, der Hirsch. Frau Pohlmann, einen können wir
noch!« Er hielt an und flüsterte: »Klaus, wollen eins singen!« Wie aus
weiter Ferne klang es: »Ein Jägermädchen, das trägt ein grünes, grünes
Kleid.« Sein Kopf fiel herum; der Arzt sah, daß die Augen gebrochen
waren. »Annemieken!« flüsterte der Sterbende, und die Steppdecke
zitterte.

Der Arzt horchte eine Weile, murmelte etwas, drückte dem Toten die
Augen zu, zog die Bettdecke zurecht und ging hinaus.

Es war ein Uhr in der Nacht, als er das Haus verließ; Hennig blieb
zurück, damit die Frau nicht allein mit dem Toten wäre. Als der Arzt am
anderen Vormittage zurückkehrte, fand er Swaantje Swantenius bei Frau
Hagenrieder. Er begrüßte sie kühl, und Hennecke, der bald darauf auch
kam, benahm sich noch kälter gegen sie.

Zwei Tage später wurde Helmold Hagenrieder begraben. Wagen auf Wagen
folgte dem Sarge, und hunderte von Männern zu Fuß gingen hinter ihm
her. Als der Geistliche die Leichenrede hielt, wurde er fast verwirrt,
denn noch niemals hatte er ein so verschiedenartiges Gefolge gesehen.
Die höchsten Staatsbeamten, das ganze Stadtverordnetenkollegium samt
dem Magistrate waren zugegen, viele Offiziere, Förster und Jagdaufseher
und eine lange Reihe von Bauern und Landarbeitern mit ihren harten
Gesichtern und unmodischen Hüten.

Der Himmel war von einem abgeschmackten Grau, ein langweiliger Wind
ging, und mit blassem Gesichte stand der Mond am Himmel und sah mit
gleichgültigen Augen auf die Menschen, die das Grab umgaben, und als
sie sich verkrümelten, lächelte er ein bißchen spöttisch über den Wall
von kostbaren Kränzen, der die Stätte bedeckte, wo Helmold Hagenrieders
leerer Leib lag; denn dessen Seele war gänzlich verschwunden, weil sie
schon vor dem Tode ihren Inhalt verloren hatte. »Ein schöner Blödsinn«,
dachte der Mond, schüttelte den Kopf und verzog sich bis auf weiteres.

In der Nacht aber suchte er Swaantje Swantenius auf. Sie lag ohne
Schlaf in ihrem Bette und lauschte auf das, was die Stille sprach, und
sah, was die Dunkelheit ihr wies.

Die Stille sang ein höhnisches Lied, und die Dunkelheit hielt ihr
Helmolds Gesicht hin. Sie streckte die Hände danach aus und flüsterte:
»Ich habe dich so oft heimlich lieb gehabt, so oft; hast du es nie
gefühlt?« Aber das weiße Gesicht starrte sie an, als wäre sie nicht da.

Bittend sah sie den Mond an: »Du warest sein guter Freund, du weißt
alles von ihm; denkt er noch an mich, weiß er noch von mir?« Der Mond
sah sie nicht einmal an.

Sie schlief die ganze Nacht nicht und reiste am andern Morgen ab,
worüber Frau Hagenrieder sich sehr wunderte.



Inhaltsverzeichnis


    Vorspuk                    1

    Die Sektflasche            7

    Das Stapelienbild         21

    Der Vollmond              36

    Der eiserne Ritter        50

    Das Seelenhaus            68

    Der Mohnblumenkranz       91

    Der Platzhirsch          128

    Die Wundfährte           162

    Der graue Engel          189

    Der weiße Garten         197

    Der Sarg                 222

    Die Panne                245

    Nachspuk                 267



Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig



Eugen Diederichs Verlag in Jena


Hermann Löns

Der kleine Rosengarten, Volkslieder

Mit Umschlag von _Wilhelm Schulz_

14.--23. Tausend. kartoniert 2 Mark


Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik

27.--31. Tausend. broschiert 3 Mark. gebunden 4.20 Mark

_Die neue Rundschau_ (Verlag S. Fischer): Dieses Buch des Norddeutschen
Löns ist ein männliches Buch. Hier erlebt man den Dreißigjährigen
Krieg in einem einzigen Dorf. Hier heißt es jeden Augenblick: das
Leben. Wäre dies nur der Krieg, dann lese man allerdings besser im
Geschichtsbuch. Hier ist aber alles allgemein deutsam, gerade weil
dies nicht unterstrichen wird. Hast du bemerkt, wie das Genrebild
hier in die Landschaft gesetzt ist, das Einzelne ins Allgemeine, wie
bei Breughel und den Seinen? Und wie ist hier alles komponiert, von
den Kapitelüberschriften bis zu den Schlußliedern! In zwanzig Zeilen
weiß dieser Löns die Herankunft einer Reiterschar zu beschreiben, das
Harren von hundert versteckten Bauern, ihren Überfall. Wie die Kinder
noch den toten Hund streicheln. Wie der einzig überlebende Knecht
während seiner Erzählung von dem Überfall des Dorfes mitten im Satze
einschläft. Wie diese Bauern, als sie die beiden Haupthalunken haben,
plötzlich zeremoniös werden: ohne Ansehen haben sie alle fremden
Scharen erschlagen, -- hier, wo Schuld und Sühne lebendig wird, vor
ganz bestimmten Schuldigen, bahnt sich das Rechtsgefühl durch ihre Wut
den Weg und stellt sich auf mit Schwert und Wage, wie als wäre es ein
bestellter Gerichtshof, der dort Recht spricht. »Die Sonne kam heraus«,
heißt es da, »und beschien zweihundert Gesichter. Sie waren alle von
Stein.« Hier ist nichts erarbeitet, alles verarbeitet und so im ganzen
aufgegangen, wie bei einem, der die Geschichte seiner Väter schreibt.

_Der Kunstwart_: Diese kernigen reisigen Männer und frischen
unverbildeten Frauenzimmer konnten offenbar nur einem gelingen, der
mit Waidmanns- und Landmanns-Augen sie zu sehen gewohnt ist. So ward
denn »Der Werwolf« ein prächtiges Bauernlebensbuch, Wunder weckend:
daß nämlich so kerngesunde »Literatur« in deutschen Landen noch immer
zustande kommt.


Die Geschichte vom Skalden Egil

Übersetzt von _Felix Niedner_ (Thule Bd. III)

broschiert M 4.--, gebunden M 5.50

_Der Tag_: Aus den isländischen Sagas schöpfen wir noch immer die
unmittelbar lebendigsten Vorstellungen und farbenreichsten Bilder
vom ursprünglichen Wesen und der ganzen Eigenart vorschriftlichen
germanischen Geistes- und Kulturlebens. Was man im eigentlichen Sinne
als heroisches Zeitalter bezeichnet, das steht hier lebendig vor uns,
und doch keineswegs nur als Phantasieprodukt, sondern voll innerer
Realistik, so daß man nicht zweifeln kann: hier ist zuletzt durchaus
nur wirkliche Geschichte. Ein Volk von lauter Künstlern, Helden
und Sängern zugleich ... Egil Skallagrimsson ist die prachtvollste
Inkarnation der Nietzscheschen »blonden Bestie«, er ist ein
kraftstrotzender Kerl durch und durch. Die Geschichte seines Lebens,
seiner ewigen Kämpfe, seiner Wikingerfahrten, die ihn von Island bis
nach Rußland und südlich nach England und Irland führen und ihn kundig
machen aller nordeuropäischen Länder und Meere, ist der spannendste und
unterhaltendste Helden- und Abenteuerroman.

            Julius Hart


W. S. Reymont

Die polnischen Bauern

I. Herbst/Winter. II. Frühling/Sommer

Zwei Bände. br. M 12.--, geb. M 15.--

Der Slawe besitzt weniger Individualität als der Germane. Darum gibt es
in diesem Epos des polnischen Bauerntums keinen eigentlichen Helden,
an seine Stelle tritt das ganze Dorf. Es ist ein grandioser Wurf, wie
durch das Liebesleben einer leidenschaftlichen Frau, -- es verkörpert
sich in ihr fast symbolisch die polnische Leidenschaftlichkeit, -- sich
das Schicksal aller Dorfbewohner miteinander verknüpft. Und in das
dumpfe Seelenleben dieser Bauern werfen Landschaft und die Natur der
Jahreszeiten die für ihr Schicksal entscheidenden Antriebe. Die Art,
wie Natur und Menschenschicksal miteinander verknüpft sind, unterstützt
von intimer Kenntnis aller Volksgebräuche, machen das Buch zu einer
ganz einzigartigen Erscheinung der Weltliteratur.



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
    Unterschiedliche Schreibweisen wurden wie im Original beibehalten.

    Korrekturen:

    S. 242: Balkenecke → Balkendecke
      mit brauner {Balkendecke}, Kugelfußtisch





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Das zweite Gesicht - Eine Liebesgeschichte" ***

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