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Title: Der Weg ohne Heimkehr - Ein Martyrium in Briefen
Author: Wegner, Armin T.
Language: German
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DER WEG OHNE HEIMKEHR

Zweite Auflage


ARMIN T. WEGNER

DER WEG OHNE HEIMKEHR

Ein Martyrium in Briefen



Im Sibyllen-Verlag zu Dresden

Alle Rechte, besonders das der
Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1920 by
Sibyllen-Verlag, G. m. b. H.,
Dresden.


                    Für ein greises geliebtes Haupt


                       Die große Palme und der kleine Schößling sind
                          dahingegangen.
                       Ich blieb allein zurück.

                                           Aus einem arabischen Liede.



Diese Briefe reden vom Tode, manche sind an Tote gerichtet. Als ich sie
schrieb, wußte ich nicht, daß ich sie einmal zu einem Buche vereinen
würde. Aber im Angesicht der Vernichtung, unter dem fahlen Horizont
einer ausgebrannten Steppe, wurde unwillkürlich der Wunsch in mir wach,
in diesen vielleicht letzten Äußerungen des Daseins über die
persönlichen Freunde hinaus einer größeren, unsichtbaren Gemeinde etwas
von dem zu sagen, das mich bewegte. Dieser Wunsch schlief auch dann
nicht ein, als ich in schwerer Stunde aus den Mauern einer auf viele
Meilen in die Einsamkeit verbannten Stadt jenen letzten Abschiedsbrief
schrieb und nach menschlichen Überzeugungen mit dem Tode rechnen mußte.
Damals wurden einige dieser Briefe in Deutschland gedruckt, wo sie
leidenschaftliche Erregung erweckten; einer, den die Zensur aufgriff,
verursachte später meine Rückberufung aus der Türkei. Dies, sowie die
empörte Anteilnahme, die mich zu jenem unglücklichen Volke zog, dessen
furchtbaren Untergang ich erleben mußte, waren der Grund, daß man mir
nach meiner Rückkehr aus Bagdad die Bitte, auch weiterhin in diesem
Lande zu verbleiben, das ich durch die Erhabenheit seiner heroischen
Landschaft, die Fülle der erfahrenen Leiden liebgewonnen hatte,
versagte. Als sich meine Abreise von Konstantinopel durch die
Schwierigkeiten der Behörden verzögerte, wurde ich durch Soldaten der
deutschen Militärmission verhaftet und bis zu meiner zwangsweisen
Abfahrt auf einem Dampfer im Goldenen Horn interniert.

So blieben diese Briefe nicht nur Angelegenheit der Wenigen, für die sie
bestimmt waren, sondern wurden zu dem Bekenntnis eines von Schmerzen
erfüllten Weges, bemüht, einen Ausdruck zu finden für die Kämpfe des
Menschen dieser Zeit, als noch der Glaube einsamer Seelen war, was viele
jetzt laut auf den Lippen tragen. Zwar: die alte Erde umgibt mich
wieder. Dennoch sollte auch ich von jener traurigen Straße, auf der ein
unbekanntes Schicksal mich verschont hatte, nicht wieder zurückkehren.
Ist es das eigene Herz, das ich verwandelt sehe? Ist es der Atem der
getöteten Heimat, die mich vergeblich nach Menschen, Gedanken, Zuständen
suchen läßt, die ich verlassen habe, um sie nie mehr zu finden?

_Berlin_, Januar 1919.

                                                              A. T. W.

                         Der Weg ohne Heimkehr



                           An die Großmutter


                                 Konstantinopel, den 24. Oktober 1915.
                                                 In einem Hotelzimmer.

Wie lange liegt nun der letzte Tag wieder hinter mir, ich kann seine
Küste nicht mehr schauen. Ich weiß nicht, war ich der Schwimmer, der
sich mit einem jähen Ruck von seinem Strande losriß, oder war es das
Land selbst, das sich ablöste von mir, das eine unendliche Weite
zwischen uns stieß, während ich, die geliebte Küste vor Augen, hinter
der Brandung kämpfe, die mich immer weiter hinausträgt. Noch sehe ich
das Haar Deiner Schläfe, das sanfte, melancholische Blau Deines Auges.
Aber hier ist nur noch Nebel, ich kann es nicht mehr unterscheiden.

Mein alter Kamerad! Denn so darf ich wohl sagen, nun wir zehn Jahre und
mehr miteinander geschritten sind. Du freilich schon länger mit mir.
Aber erst in späteren Tagen fingst Du an, mir jene tiefe Liebe
entgegenzubringen, hinter der mein Dank nur immer zu weit zurückbleibt,
vor der alle Hoffnungen und Ergebnisse meines Lebens nur die Früchte
Deiner Mühen und Zärtlichkeiten sind. Diese Liebe, die es dazu gebracht
hat, daß eine alte Frau, mit den unendlichsten Augen, die ich kenne,
weißhaarig und schon einmal vom Tode umfangen, immer das Glück und die
Weisheit meiner Jugend gewesen ist.

Ich habe den Vater wiedergesehen. Ich fand ihn, eine alternde Ruine, dem
Umfallen nahe. Aber dies war es nicht allein. Zwei Stunden ehe ich
reiste, der Wagen war bestellt und wir saßen beim Nachtmahl, schwankte
der Vater, von einer plötzlichen Übelkeit befallen, gegen den Tisch.
Eine Leichenblässe stieg ihm mit schreckhafter Geschwindigkeit in das
Gesicht. Mutter und ich sahen ihn an. Wir saßen ganz ruhig. In der Tiefe
meines Herzens war ein Geräusch, als hämmerte jemand unten im Keller.
Wir dachten beide dasselbe, wir dachten daran, wie Großvater gestorben
ist. Ich fühlte eine grauenhafte Leere durch meinen Körper gehen. Aber
es war nur ein Augenblick, dann ging es vorüber, noch einmal vorüber.
Wir legten den Vater auf das Sofa und ihm wurde bald besser. Aber wir
hatten alles in dieser einen Sekunde gefühlt. Mutter begann unter der
Last dieses Schreckens zu weinen. Hatte sie ihn nicht einst geliebt? Ich
aber fühlte, was ich immer gewußt habe, daß dieser Tod nur ein
Schrecken, kein reiner Schmerz für mich sein wird. Sollte ich die
Ursache meines Daseins nicht lieben? Sollte ich die Ursache meines
Daseins nicht hassen? Ich sah das Gesicht meiner Mutter, die eine
Sekunde lang um dieses Leben gebangt hatte, und eine furchtbare Angst
ergriff mich. Der Arzt kam. Aber ich konnte meine Gedanken nicht
zusammenhalten, ich verstand nicht, was er sagte, und blickte wie ein
Abwesender an ihm vorüber.

Man sagte mir, ich sollte reisen. Erleichtert atmete ich auf. Welch eine
furchtbare Marter wäre es mir gewesen, um dieses kranken Vaters willen
zu bleiben. Wie gerne hätte ich um eine Stunde an der Seite dieser
schmerzzerrissenen Mutter gebettelt. Aller Besinnung beraubt rannte ich
durch die Wohnung wie durch die Räume eines brennenden Hauses und
schaute mich voll Verzweiflung um, was ich noch aufraffen und mitnehmen
könnte. Mein Auge fiel auf das Antlitz meiner Mutter. Aber dies war kein
Bild, das ich in die Hand nehmen und forttragen konnte. Jetzt löste es
sich ab von mir, schwankte, ein tränenbeladener Kahn, in den Abgrund
hinunter. Mein Vater stand neben mir, aber es war nicht, als stände ein
Mensch an meiner Seite, ein Turm vielleicht, ein wankender Torbogen,
durch dessen Öffnung ich unaufgehalten hindurchschritt. Er hat mir kein
Wort der Liebe zum Abschied gesagt, und ich ging doch hinaus, um bei dem
Tode zu wohnen. Ich streichelte über seine runzlige Wange, wie man über
die Risse eines alten Topfes streicht, ob man sie noch einmal zukitten
könne, und fühlte, wie unfähig ich war, diesem alternden Manne noch
jemals eine Freude zu bereiten.

Ich fuhr alleine zum Bahnhof. Fuhr in die Nacht hinaus, die grauenvolle
Ruine dieses Gesichtes im Gedächtnis und das tränenüberströmte Antlitz
meiner Mutter (o du über alles geliebte Landschaft im Regentag!), die in
diesem Augenblick zwei Menschen zu verlieren fürchtete. Ich legte meinen
Kopf zwischen die Soldaten auf die Holzbank, froh, Deutschland wieder
hinter mir zu haben, und auch der Herzschlag des Zuges, der mich sonst
noch in den traurigsten Stunden, das Rollen der Räder und die wandernde
Landschaft unter mir, mit Freude erfüllt hatte, konnte mir keine
Erlösung bringen. Auch in meiner Seele war nichts als Lärm und
Räderrollen. Ich war selbst nur ein Rad, mit rasender Geschwindigkeit um
seine eigene Achse gedreht, und in diesem trostreichen Bewußtsein ging
alles Denken unter.

Die Reise, durch Mühsal und Häßlichkeiten auseinander gezerrt, dehnte
sich über viele Tage, und je länger sie währte, um so mehr wuchs der
Abgrund, der sich zwischen mich und Deutschland stellte. Erst heute habe
ich das Buch geöffnet, das du mir mitgegeben hast, habe die Bezüge für
das Kopfkissen gefunden, Deine Zeilen gelesen. Heute nacht werde ich
darauf schlafen. Wieder sehe ich Deine großmütterliche Stirn sich auf
mich neigen. Wie das Gaslicht auf der schwarzen Seide Deines Kleides
glänzt. Fühle die weiche Blüte Deines Mundes an meinem Kinn. Mein alter
Kamerad, warum wurdest Du, fünfundsiebzigjährig, nicht nach mir geboren,
um an meiner Seite, meine Gefährtin, noch lange über diese Länder zu
schreiten? Einmal wirst Du sterben und ich werde nicht bei Dir sein.
Einmal werde ich sterben und Du wirst nicht bei mir sein. Ach, der Krieg
hat alle Brücken zerbrochen. Zu sterben ist die letzte Freude geblieben,
aber auch diese noch ist nicht ungetrübt. Der erste meiner Freunde hat
die Stufe des Todes betreten, der zweite den Fuß auf seine Schwelle
gesetzt. Ich fühle, wie sich die Wage mit Toten füllt. Werde ich Leben
genug in mir haben, um allein in der anderen Schale das Gleichgewicht zu
halten? Doch ob ich auch hier an der alten Straße der Glückseligkeit
zwischen trojanischen Münzen und türkischen Soldatengräbern verfaulen
sollte, ein betrogener Liebhaber des Lebens, glaube nicht, daß ich Dir
verloren ginge, bin ich doch nur, Du Gütigste über der Erde, ein Enkel,
ein Teilchen, das Ende eines Knöchelchens von Dir.

                                                  Dein junger Kamerad.



             An die Frau eines im Kriege weilenden Soldaten


                                           Pera, den 7. November 1915.
                                   Mit dem Blick auf das Goldene Horn.

Wenn du diesen Schlüssel wieder in Händen hältst, meine Liebe, so denke
daran, daß ich ihn an jenem letzten Tage bei mir getragen habe, als ich
mit Dir eine finstere Treppe hinaufstieg, um auf einer kalten Diele die
Wärme Deines Leibes zu finden. Durch so viele Länder, durch so viele
verschiedenartige Stunden des Tages habe ich ihn bei mir getragen, das
Letzte, was ich von Dir besaß, und jedesmal, wenn ich ihn zufällig in
meiner Tasche fühlte, weckte er alle heißen, o so greifbar nahen Bilder
von neuem in mir auf, daß ich ihn lieb gewonnen habe und mich nur ungern
von ihm trenne, als wäre dies nicht nur der Schlüssel zu Deinem Hause,
sondern auch Deines Herzens und der Pförtner aller Glückseligkeit. Das
erste Mal fühlte ich ihn bei mir, als ich in Budapest in einem
Kaffeehaus einer schwarz gekleideten Dame gegenüber saß, die mit ihrem
Schoßhund spielte: »_O mon Joujou, que veux tu donc? As tu faim?_ Denn
Sie müssen wissen, mein Herr, er ist ein kleiner Franzose. Er ist aus
Paris geflohen und hat Lüttich mitgemacht. _Ah mon petit, donne moi un
baiser ...!_« Und sie reichte ihm ein Stückchen geröstetes, mit Butter
bestrichenes Brot. In Bukarest aber legte ich den Schlüssel wie eine
Waffe vor mir auf den Nachttisch, ängstlich auf jeden Schritt in den
weiten Hotelgängen lauschend, erschrocken wie ein Spion, verhaftet zu
werden, aufgespießt von den Blicken der Vorübergehenden, und nach einer
Bahnfahrt, auf der ein Franzose ohne Aufhören mit gehässigem Lachen das
Bild unseres Kaisers in den Schmutz zog. »_Ah, le Kaiser, le fou_«,
sagte er, sich den Schnurrbart streichend, fett und widerwärtig wie ein
Flaubertscher Landpächter.

Schließlich ließ ich den Schlüssel auf der Galatabrücke in der hellen
Sonne funkeln, als ich Dein liebes Bild und die ersten Zeilen von Dir in
der Hand hielt. Nun, hier ist er, Erinnerung, Glücksbringer, Waffe und
Reisebegleiter, ein kleines eisengepanzertes Schiffchen, das
liebebeladen in den Hafen zurückschwimmt, das Dir Grüße und Dank bringt
für jene von Dir so rührend mit eigener Hand gebundenen portugiesischen
Briefe, die ich so sehr liebe und die mich immer von neuem in Erstaunen
setzen, daß es in der Tat Frauen gegeben hat, die zu lieben wußten. Ach,
ich könnte mir vorstellen, daß Du, des Schlüssels beraubt, die ganze
Zeit über gefangen in Deinem Hause gesessen hast, nur mit meinem
Schatten lebend, und dieser Gedanke könnte mich fast bewegen, ihn auch
jetzt bei mir zu behalten und weiter mit in die Wüste zu nehmen, wohin
ich in diesen Tagen reise. Über das schimmernde Wasser blickend, neige
ich mich in der heißen Sonne über die Brüstung, und nachdem ich so viele
kostbare und unwiderbringliche Schätze in den grundlosen Brunnen des
Frauenherzens hinabgeworfen habe, überkommt mich eine warme Verlockung,
in stiller Hingegebenheit nichts zu schenken und alles von Dir zu
empfangen.



                             An die Eltern


                                     Konstantinopel, den 2. Nov. 1915.
                         Geschrieben in der warmen Sonne des Herbstes.

Wenn Euch diese Zeilen erreichen, Ihr Lieben, werde ich schon weit von
diesem Lande sein. Ich reise nach Bagdad. Gestern bin ich in die
Militärmission eingetreten, man hat mich all meiner Chargen beraubt, und
ich bin nichts als ein einfacher Sanitätssoldat, mit einer so niedrigen
Löhnung, daß ich nicht weiß, wie ich leben soll. Ich werde zwischen
türkischen Soldaten schlafen und mich von Abfällen nähren wie eine
Ratte. Dennoch habe ich Glück gehabt. Ich bin dem Stabe des
Feldmarschalles von der Goltz als Krankenpfleger zugeteilt. Wie sehr
habe ich mich um diese Stelle bemüht. Fünf Tage lang suchte ich meinen
beschleunigten Puls durch Pantopon und Tinktura Valeriana zu beruhigen,
um tropentauglich befunden zu werden. Dabei jagte ihn meine innere
Erregung, die fieberhafte Begierde, den Weg dieses Krieges wenigstens
für mich stets aus eigener Kraft und nun wieder neu zu gestalten,
jedesmal über achtzig Schläge hinauf, sobald ich die Treppe des
Kriegsministeriums betrat.

Dennoch: es ist mir gelungen. So behalte ich das Ruder meines Lebens in
der Hand. Ich werde Bagdad, werde den Tigris, Mossul und Babylon sehen.
Ich bin mir wohl bewußt, welchen Schritt ich getan. Ich habe aufgehört,
ein freiwilliger Pfleger zu sein, bin ein Soldat geworden wie andere,
meine Seele ist vogelfrei, man kann mich nach Deutschland und in die
Gräben von Soissons schicken, man kann tun mit mir, was man will.
Schließlich kann in einem so langen Kriege auch ich nicht ewig dem
dunklen Lasso entgehen, der ständig um unser Haupt schwirrt. Denn
niemand kann die Wechselfälle des Lebens voraussehen, die mich immer
gerüstet finden, wenn es sein muß auch zum Tode.

Aber, wenn es dahin kommen sollte: ich sterbe für mich, nicht für das
Vaterland. Wie unsagbar traurig bin ich, daß ich es nicht um der
Menschheit willen tun kann. Dennoch habe ich diesen Schritt getan, habe
mein Leben eingesetzt für die Schätze meiner Seele. Wie glücklich ich
bin. In einer Woche werden wir reisen. Seht ihr jene Kavalkade von
Reitern, mit fliegendem Kalpak, mit klirrendem Säbel, schaukelnden
Epauletten und goldenen Schnüren über der Brust? Wie sie am Rande der
Wüste hinreiten, jetzt durch Wasser, jetzt einen Hügel hinan. Unter
ihnen ist einer von schlanker Gestalt, groß, den Kopf ein wenig
vornübergebeugt. Wie gut ihm die Uniform sitzt, ist es einer der
Offiziere? Nein, er trägt keine Abzeichen, geht nur wie ein Gemeiner. Es
ist Euer Sohn. Er ist glücklich, auch hier das Leben als ein
Untergebener kennenzulernen; denn nie sehen wir die guten und schlechten
Seiten der Menschen so scharf, als wenn sie unsere Vorgesetzten sind.
Mit zitternd geöffneten Augen folgt er ihnen, immer gewillt zu
verzeihen, der Liebe zu dieser Erde voll, und immer bereit, sich vor dem
Leben zu beugen.

Noch gestern bei Euch, jetzt an diesem Tische. Noch eben in dieser
Stadt, nein, schon wieder fort, auf anderer Straße. Wo heute? Wo morgen?

                              Deutsche Militärmission, Sanitätssoldat.



                     An eine Schwester von Gül-Hane


          Marga v. Bonin, ertrunken am 14. Oktober 1917 in der
                            Treskaschlucht.

                                In einer Bretterkantine zu Ras-el-Ain,
                                                den 26. November 1915.

Meine liebe Diestel und Ihr andern Blumen im Rosenhaus! Noch sehe ich
Sie in weißen Hauben durch die Säle schreiten wie durch einen
leuchtenden Garten. Aber die Rosen, die unter Ihren Händen aufblühen,
sind blutende Wunden. Welch ein trauriger Brief ist das, von einer immer
gut gelaunten, lustig zerzausten und höchst garstigen Diestel? Man
reichte ihn mir in Bosanti in den Zug, und wieder sah ich Ihre etwas
bestürzten Gesichter vor mir, mit denen Sie mich zur Bahn begleiteten.

Heute sind wir über den Amanus gefahren, vor zwei Tagen über den Taurus.
Nur von spärlichen Kiefernwäldern bewachsen, erhob sich seine steinerne
Masse wie die unter zu kurzer Decke sich dehnende, unendliche Nacktheit
eines sonnenverbrannten Bettlers. Als wir im Lastauto bis zur
Seekrankheit hin und her geschüttelt, bei fast vollem Mond in die
geisterhafte zilizische Ebene hinabflogen, den Staubschweif der
Landstraße hinter uns herziehend, deutete jemand über den Rauch
nächtlicher Zeltdächer, die einsam in der Ebene standen, auf einen
hellen Streifen in der Ferne, wo die Flammen verbrannter Baumwollstauden
in die Finsternis leuchteten. Dort mußte das Meer liegen. Und wie ich
Abschied nehmend zum letzten Mal seine Wellen in der Ferne erblickte, da
schickte ich Ihnen so viele Grüße in Ihr meerumgürtetes Haus und dachte
wieder: Sie haben doch das Meer, da kann es Ihnen nie wirklich schlecht
gehen! Wie schön, wenn am Abend die schwarzen Winterstürme heraufkommen
und die Seelen der abgestorbenen Hunde von Oxia herüberbellen. Sich dann
in dieser dunklen Stunde eine Kerze anzuzünden (liebe Kerze, liebe
kleine Seele ...), bedarf es mehr, um glücklich zu sein?

Sie sagen, wenn gute Wünsche etwas vermöchten, könnte mir nie ein
Unglück zustoßen, und fast will ich glauben, daß Sie recht haben. Ich
fühle, daß ich lange nicht so lebendig gewesen bin, wie in diesen Tagen,
trotz alles Elends, das mich umgibt. Denn die Ränder aller Straßen sind
mit den jammernden und hungernden Gestalten armenischer Flüchtlinge
besetzt, durch deren wimmernde, schreiende, bettelnde Hecke, aus der
sich tausend flehende Hände recken, unsere Seelen ein schmerzliches
Spießrutenlaufen beginnen.

Eben, da ich diese Zeilen schreibe, bin ich von einem Gang durch das
Lager zurückgekehrt. Von allen Seiten schrien Hunger, Tod, Krankheit,
Verzweiflung auf mich ein. Geruch von Kot und Verwesung stieg auf. Aus
einem Zelte klang das Wimmern einer sterbenden Frau. Eine Mutter, die an
den dunkelvioletten Aufschlägen meiner Uniform meine Zugehörigkeit zur
Sanitätstruppe erkannte, eilte mit erhobenen Händen auf mich zu. Mich
für einen Arzt haltend, klammerte sie sich mit letzter Kraft an mich
Ärmsten, der ich weder Verbandmittel noch Arzeneien bei mir trug und dem
es verboten war, ihr zu helfen.

Dies alles aber wurde übertroffen durch den furchtbaren Anblick der
täglich wachsenden Schar verwaister Kinder. Am Rande der Zeltstadt hatte
man ihnen eine Reihe von Löchern in die Erde gegraben, die mit alten
Lappen bedeckt waren. Darunter saßen sie, Kopf an Kopf, Knaben und
Mädchen in jedem Alter, verwahrlost, vertiert, verhungert, ohne Nahrung
und Brot, der niedrigsten menschlichen Hilfe beraubt und vor der
Nachtkälte schaudernd aneinander gedrängt, ein kleines Stückchen
glimmende Holzasche in der erstarrten Hand haltend, an dem sie
vergeblich versuchten, sich zu wärmen. Einige weinten unaufhörlich. Ihr
gelbes Haar hing ungeschnitten über die Stirn, ihre Gesichter waren von
Schmutz und Tränen verklebt. Andere lagen im Sterben. Ihre Kinderaugen
waren unergründlich und von Leiden ausgegraben, und obwohl sie stumm vor
sich hinblickten, schienen sie doch den bittersten Vorwurf gegen die
Welt im Antlitz zu tragen. Ja, es war, als hätte das Schicksal alle
Schrecken der Erde an den Eingang dieser Wüste gestellt, uns noch einmal
zu zeigen, was uns erwartet. Entsetzen ergriff mich, daß ich klopfenden
Herzens aus dem Lager eilte, und obwohl ich auf flacher Erde
dahinschritt, erfaßte mich Schwindel, als bräche der Boden zu beiden
Seiten in einen Abgrund zusammen.

Die Täler aller Berge, die Ufer aller Flüsse sind von diesen Lagern des
Elends erfüllt. Über die Pässe des Taurus und Amanus zieht sich dieser
gewaltige Strom eines vertriebenen Volkes, jener Hunderttausende von
Verfluchten, der um den Fuß der Berge brandet, um, schmäler und schmäler
werdend, in unabsehbaren Zügen in die Ebene hinabzugleiten und in der
Wüste zu versickern. Wohin? Wohin? Dies ist ein Weg, von dem es keine
Heimkehr gibt. Und ihnen nach blicke ich auf den Weg, den ich selber
beschreiten werde, und denke mit einer mir ungewohnten und merkwürdigen
Härte des Gefühls: diese erfüllen ihr Schicksal, erfülle du das deine!

So sitze ich denn in dieser offenen Bretterbaracke, vor der langhaarige
Kinder mit wilder Gier die fortgeworfenen Schalen der von uns verzehrten
Orangen verschlingen, sitze die langen Abende auf den kleinen Bahnhöfen
ohne Licht in den Eisenbahnzügen und führe mit den Kameraden die
heitersten Gespräche über den Tod. Da sind alte Farmer aus Südwest unter
uns, der Gesandte für Persien, ein Stabsoffizier aus Chile. Männer, die
ihr halbes Leben in China oder in den Kolonien verbrachten, deutsche
Kaufleute aus Basra und Teheran. Die Nachricht, daß die Schamas die
Euphratlinie gesperrt halten, hat sie in die munterste Laune versetzt;
sie erzählen denen, die zum ersten Male dieses Land betreten, von seinen
vielen und mancherlei merkwürdigen Gefahren. Die reichhaltigste
Speisekarte schöner Todesarten wird aufgetischt: Beduinen werden dich,
an ihren Roßschweif gefesselt, durch die Steppen schleifen. Nichtsahnend
wirst du zu einem Bartscherer gehen und dich mit tödlicher Seuche
anstecken. Die schönen Weintrauben, die du verzehrst, lassen dich an
Cholera erkranken. Aus der Erde unter deinem Zelt kriechen Tausendfüßler
und Skorpione. Eiternde Beulen werden dein Gesicht zerfressen, sie
entstellen dir Nase, Stirn und Mund. Kurden werden dir die Eingeweide
aufschlitzen, Perser die Ohren abschneiden. Nackt und zerfleischt
flüchtest du todkrank nach Bagdad oder dein Leichnam bleibt an der
Straße liegen, den Schakalen zum Fraß. Und das alles erzählt man dir mit
lächelndem Auge, als wäre der Tod das heiterste Schaustück der Welt. Und
auch du lächelst, gehst schlafen und beschließt im stillen bei dir
achtsam zu sein, kein ungekochtes Wasser zu trinken, um im nächsten
Augenblick zu entdecken, daß man dein Kochgeschirr in einer
übelriechenden Lache reinigt, die die Flüchtlinge mit ihren Exkrementen
beschmutzt haben.

Ja, liebe Schwester, man muß an das Glück seines Schicksals glauben!
Darum fürchten Sie nicht für mich, wenn ich jetzt so fremden und
ungewohnten Dingen entgegengehe, und vergessen Sie das ein wenig
durchscheinende Gesicht, mit dem ich Abschied von Ihnen nahm. Erinnern
Sie sich stets daran, daß es Pflanzen mit blassen Blättern gibt, die,
wenn sie auch oben welk aussehen, an der Wurzel noch frische Kräfte
haben. Zu diesen gehöre ich.

Daß Sie hier wären! Den Tag über mit mir im Sattel zu sitzen und in die
Steppe hinauszureiten, das wäre ein Leben so recht nach Ihrer Lust und
ein Gedenken Ihrer nordischen Heide. Ja, hätten Sie es wahrgemacht und
wären ein Junge geworden. Aber nun ist es zu spät, und wenn ich Ihnen
auch ein paar Männerhosen schickte, so lang, daß sie selbst für eine
hagere und ausgewachsene Diestel reichten ... es wäre doch zu nichts
nütze.

                             8 Uhr morgens, drei Stunden vor Aufbruch.



                          Traum auf dem Kelek


                                                       Auf dem Tigris,
                                                den 10. Dezember 1915.

Was meinen Sie nun, daß ich hier bin, an einem so sagenhaft schimmernden
Brunnen aller Zeit? Seit zwei Tagen treiben wir den Strom hinab. Unter
Schilfdächern, auf dem bewegten Boden luftgefüllter Schläuche, Hütten
und Menschen auf einer flachen Hand. Zwischen Hühnern, Kisten und
Wachtsoldaten liege ich auf der Matte, die Glieder vom langen Ritt durch
die Wüste schmerzend, noch fröstelnd von der Kälte der eisigen Nächte,
die das Wasser in unsern Schüsseln gefrieren ließ. Und das Floß dreht
sich, ein lose auf den Wellen treibendes Blatt, bald hier, bald dort das
Ufer berührend, um langsam weiter den Strom hinabzugleiten.

Hier also sprang die Welt aus dem Mutterschoß. Aber die Brüste sind
lange versiegt, die so fruchtbare Milch gaben, und welcher Fluch muß
diese Erde getroffen haben, daß sie so voller Erbarmen um Wasser
bettelt. Und dennoch: _ex oriente lux_. Denn hier bin ich und meine
Sonne leuchtet. In ungeheurer Stummheit gleitet die Landschaft vorüber.
Weite Steinhalden, ausgetrocknete Flußbetten, die Luft mit Schwefel
erfüllend, Urweltbilder, Sonnenuntergänge, schwarz, schwarz, blaurot,
Berge wie Sarkophage. Und ich warte, warte: wann wird dieses Land seine
Lippen öffnen, die der Staub verklebt hat, die welk wurden von
Jahrhunderte altem Schweigen, um zu mir zu reden?

Wenn es dunkelt, binden wir das Floß an einen Stein am Ufer, stolpern
ein paar Schritte in das finstere Land. Hier sitzen Soldaten um ein
Zelt, eine Flamme loht in die Dunkelheit. Und wieder lege ich den Kopf
zum Schlafe nieder. Nun aber treten aus dem verlassenen Haus die
Gedanken, treten aus der Tür und beginnen ihre Wanderung. Sie entweichen
über das Meer. Ich bin zu Hause, ich begrabe meinen Vater (die Vorhänge
der Fenster sind herabgelassen). Ich bin bei meiner Geliebten, sie gibt
sich mir hin, zitternd besteige ich ihr Lager. Doch welche plötzliche
Erregung ergreift mich? Eifersucht verbrennt meine Seele. Bald bin ich
in einer Stadt, die vom Feinde erobert wird. Ich werde gefangen
genommen, erschossen als Spion. Es ist die letzte Stunde meiner
Großmutter, schluchzend schreite ich hinter ihrem Sarge her.

Nun ist es Morgen. Aber wie seltsam blickt dieses Haus der Gedanken;
Staub liegt auf der Schwelle seiner Tür. Ich fühle, wie ich müde
geworden bin, so endlose Fernen liegen hinter mir. Lautlos gleitet das
Floß weiter den Strom hinab. Es ist Tag. Aber sollte ich nicht jetzt
erst zu schlafen beginnen?



                           An Carl Hauptmann


                                          Bagdad, den 25. Januar 1916.
                                                 Diesseits des Tigris.

Glauben Sie mir, mein verehrter väterlicher Freund, daß ich es gewiß
nicht weniger bedauert habe, diesmal auf die Pilgerfahrt nach dem
geliebten Hause verzichten zu müssen und wieder in die Wüste zu ziehen,
ohne in Mekka zu beten. Eine Stunde an Ihrer Brust, welche Paradiese
trüge der Mund nächtlicher Gespräche in diese fremden und durchaus nicht
eintönigen Tage! Ach, ich höre Sie reden, sehe, wie Sie Ihr Gesicht im
Schein der hohen Lampe nach vorne beugen, mir aus einem neuen Werke
vorzulesen, sehe, wie Sie die Augen schließen, mir zuzuhören, wenn ich
selber erzähle. Aber statt dessen floh ich, von dunklen Bedrückungen
verfolgt, aus Deutschland. War ich nach Hause gekommen, um neue
Schmerzen zu den alten zu tragen? Man will es mir zum Vorwurf machen,
daß ich die Güte verkenne, die mir aus so vielen Herzen daheim liebend
entgegenkam. Aber vielleicht werden Sie es verstehn, wieviel leichter
uns die Heimat verwunden kann als die Fremde.

Ich habe Frau Maria wiedergesehen. Sie ist bei mir in meiner alten
Wohnung gewesen, die nun, zusammengewürfelt, bunte Dinge in einem
Spielzeugkasten, hinter der verbotenen Tür verschlossen liegt. Ein
höchst ernsthaftes, tyrannisches Spielzeug, und vielleicht, wenn Frau
Maria das stumme Märchen der Möbel zu deuten weiß, hat sie auch Ihnen
davon erzählt. Aber welche Schicksale liegen zwischen gestern und heute!
Welche himmlische Heiterkeit erfüllt meine Seele! Jede Krankheit ist
eine Brücke, die am Tode vorübergeht. Und so schritt ich durch diese
letzte (ich war an Typhus erkrankt), wie ein gepanzerter Erzengel das
Fegefeuer teilend, griff unter mir in die Flammen hinab, um auch noch
fremde Seelen mit mir gerettet ans Licht zu tragen. Es waren die
seltsamsten Fiebernächte, deren ich mich erinnern kann, und verwundert
betrachte ich die Schätze, die sie mir zurückließen, ein Schwammtaucher
und Perlenfischer, der erst an der Oberfläche erkennt, was ihm die Tiefe
gebracht hat. Ich habe einen ganzen Umkreis geschrieben, eine
vielstimmige Vision des Leidens, wie ich sie im Herbst des ersten
Winters in Polen erlebte. Daneben eine Anzahl Gedichte, die nun schon
alle der »Straße mit den tausend Zielen« angehören. Daß ich ein Buch
Erlebnisse aus der Türkei in Arbeit nahm, erzählte ich Ihnen schon, eine
Sammlung von Tragik, Buntheit und Ironie, auch eine Frucht dieser
Krankheit. Aber das sind kleine Anfänge gegenüber weitliegenden Plänen,
die ich nur flüchtig aufzeichnen konnte, Arbeiten für spätere Jahre.

Glauben Sie übrigens nicht, daß diese Dinge alle mit dem Kriege
zusammenhängen; was wir ständig vor Augen haben, steht unserm Herzen oft
am fernsten. Und wie will ich dann, wenn ich heimgekehrt bin, mir Ihren
Fleiß zum Vorbild nehmen! Wie will ich mir ständig jene Unermüdlichkeit
und Strenge vor Augen halten, jenen grausamen Fleiß, der das Glück der
Schaffenden ist, jene einsame Lampe in der Winternacht Ihres Gartens,
hinter der Ihr Haar grau wurde, auf daß das Werk sich gestalte, zu dem
wir berufen sind. »Und nur ein Fremdling sitzt mit Euch bei Tische ...«
wie sehr habe ich beim Schreiben dieser Zeilen Ihrer gedenken müssen.
Übrigens ertappte ich mich neulich beim Zeichnen an dem Plane eines
Bauernhauses, und ich glaube, es sollte in Ihren Wäldern stehen. Auf daß
ich immer den Atem Ihrer Emsigkeit fühle! Wie in all den andern Jahren,
haben Sie auch in diesem blutigen Herbste Europas die friedliche Kelle
nicht aus der Hand gelegt. Schon winkt der Richtkranz, mit bunten
Bändern geschmückt, über dem neuen Hause, und gewiß ist das Dach
inzwischen lange vollendet. Wo ist Tobias Buntschuh? Er erscheine! Ich
habe nach Deutschland geschrieben, daß man mir Ihre Bücher schicken
soll, und wenn ich schließlich all die papiernen und weisheitsvollen
Freunde, die sich auch hier in meiner Kiste sammeln, nicht mehr mit mir
schleppen könnte, nirgends gäbe es so gute Gelegenheit, sie fremden
Menschen zu Gefährten zu geben, als hier. Oder meinen Sie nicht, daß des
Tobias Seele auch aus der Bibliothek der deutschen Schule in Bagdad zu
denen sprechen könnte, die Ohren haben zu hören?

Glauben Sie nicht, daß dieses öde und ausgehungerte Land leer sei an
edlen und empfängnisreichen Herzen! So begegnete ich eines Abends in
Aleppo im Hause eines deutschen Kaufmanns der wundersamsten Frau, die
ich seit Jahren getroffen. Geistreich, liebenswürdig und bestrickend,
eine heimliche Herrscherin des Landes, war sie weit über die Grenzen
ihrer Stadt bekannt und hielt selbst die türkischen Behörden in ihrem
Bann. An dem Tische ihres kleinen, mit den kostbarsten alten Teppichen
ausgeschmückten Salons, deren buntgeringeltes Ohr unsere Worte trank,
saß Professor Koldewey, der Entdecker des wiederentstandenen Babylon,
und der alte Feldmarschall von der Goltz. Und wer, der uns hier
versammelt sah, hätte glauben mögen, daß draußen vor den Toren der Stadt
armenische Leichen lagen und daß wir in Asien saßen. Mühsam erhob sich
der Feldmarschall aus dem tiefen Sessel, um mir die Hand zu reichen. Wie
rührte mich seine Bescheidenheit, wie sehr beglückte mich der Wohllaut
seiner Stimme, und oft denke ich, so müßte mein Großvater sein, wenn er
noch lebte. Ist dies ein altes, unbekanntes Glied der Verwandtschaft,
mir durch Blut und Gebärde vertraut, nur daß ich ihm nicht früher
begegnet bin? Immer ergreift Verehrung mein Herz, wenn ich einen
Menschen schaue und fühle, daß eine starke Seele in diesem Gebäude
wohnt. So weiß ich mich auch ihm insgeheim verbunden, durch eine
Sprache, die jenseits aller Worte wohnt, obwohl er der greise, immer
rüstige und von allen verehrte Feldmarschall ist und ich nur ein
einfacher Unterleutnant bei seinem Stabe. Aber ist es nicht immer die
Wahlverwandtschaft unserer Seele gewesen, die stärker als alle Bande des
Blutes in unserm Leben den Ausschlag gab? Und wird diese Erfahrung Lügen
gestraft, weil die Wahl des Blutes oft auch die Wahl der Seele ist? So
fand ich auch Sie, mein verehrter Freund, dessen Liebe und Zartheit mich
immer wieder beglückt.

Wie gut ist es übrigens, daß ich in Ihrem Hause es so vortrefflich
gelernt habe, Orangen zu essen, nun da sie so reichlich auf meinen Tisch
regnen. Oh, ich sehe Sie im abendlichen Lichte des Zimmers das Messer
schärfen und mit mir über die »Apfelsinen-Seele« plaudern. Unter einem
halben Dutzend bei jeder Mahlzeit lasse ich nicht mehr mit mir rechten,
und da ich bei jeder zerschnittenen Schale einmal in Gedanken bei Ihnen
bin, können Sie leicht an den zehn Fingern Ihrer Hände zählen, wie oft
ich am Tage an Sie denke.



             An die Frau eines im Kriege weilenden Soldaten


                                            Bagdad, den 18. Januar 16.
                                                Diesseits des Flusses.

Wie glücklich ich bin, geliebte Frau. Die Post hat mir gestern so gute
Briefe gebracht. Und wenn ich jeden abwechselnd in die Hand nähme, so
wüßte ich nicht, welcher mir schwerer wiegt. Nun stelle Dir vor, wie ich
meine Kerze entzünde, die in einer kleinen, mit Erde gefüllten Büchse
steckt, und wie ich in die Kissen gelehnt mit einem alten Federmesser
langsam die Umschläge aufschneide. Jetzt falte ich den Bogen
auseinander, ein weißes Gesicht. Aber hier ist einer, auf dem laufen die
Zeilen Sturm, und wie sie mit Heeresschritten auf mich loseilen, lasse
ich mich zum neunzigsten Mal erobern, obwohl ich doch eine längst
eingenommene Festung bin.

Draußen ist eine große Unruhe in der Natur. Die hohen Rizinusstauden vor
meinem Fenster rascheln mit ihrem dürren Blätterhemd, der Regen rast mit
eisernen Hufen auf das Dach, und die Schakale heulen und kämpfen mit den
Hunden wie jeden Abend, wenn sie an den Tigris kommen, um Wasser zu
trinken. Mein Gesicht aber ist ganz überströmt von Liebe, und ich bin so
überwältigt, als hättet Ihr alle zugleich Euer Herz auf meine Brust
gelegt. Ich bin richtig ein wenig müde, daß ich mich zurück auf das
Krankenbett lehne, um auszuruhen. Nur nichts sagen, nichts reden, dann
will ich Dir auch gestehen, daß ich wieder krank gewesen bin. Du wirst
nicht klagen, Geliebte. Soll ich Dich um Verzeihung bitten dafür, daß
ich krank war? Es ist so wunderbar, wie geduldig ich geworden bin; wo
ist mein heißes, unzufriedenes Herz geblieben? Und doch weiß ich nicht,
weshalb die Gifte immer von neuem kommen, um in meinem gemarterten Leibe
zu wohnen. Oft scheint es mir, als wäre dies eine stille Rache, welche
die stumme und leidende Natur an uns nimmt. Es ist die Pflanze, die den
Menschen besiegt.

Zwei Tage vor unserer Ankunft lag ich in der Rohrhütte auf dem Kelek und
fieberte. Das Floß drehte sich, mein armer Kopf drehte sich, zwei
Kreisel, die ineinander gingen, endlich erblickte ich durch die offene
Tür in der hellen Morgensonne den gewundenen Turm von Samara. Am Abend
waren wir in Bagdad. Als ich aus dem Zuge stieg, fand ich mich unter
Palmen. Palmen -- dachte ich und daß das Paradies im Schatten ihrer
Schwerter ruhte. So elend ich war und obwohl eine kalte Nacht vom Flusse
wehte, empfand ich es doch wie eine tiefe Erquickung, als müßte aus
ihrem blauen Schatten Kühlung auch auf meine fiebernde Stirne regnen.
Ich trat in das Haus des Betriebsleiters der Bagdadbahn und fand eine
deutsche Mutter mit ihren Kindern um die Lampe versammelt. War das nicht
genug, um allen Schmerz zu vergessen? Wäre ich nicht noch einmal zwanzig
Tage durch die Wüste gereist, um das Wunder blonder Haare und blauer
Augen zu schauen? Am nächsten Morgen wurde ich in das Krankenhaus der
Bahn gebracht. Ich fand ein bereitetes Bett und einen weißgedeckten
Tisch mit blühenden Astern. Es war der siebenzehnte Dezember und die
Sonne schien durch die offene Tür.

Hier habe ich gelegen. Weihnachten kam, das Fieber hatte nachgelassen,
und man sandte mir gebratene Pute, Fisch und blühende Rosen ans Bett.
Hier war ein kleines Bäumchen aus Kiefernzweigen, zwei Briefe, eine
Flasche Champagner. Jemand hatte mir eine alte Kaschmirdecke geschenkt,
die ich auf mein Bett über die Füße breitete, um sie liebevoll immer
wieder zu betrachten. Mein Auge verlor sich in den Farben ihrer
verschlungenen Muster wie in den Wegen des lieblichsten Gartens. Die
Kerzen flammten, ihre kleinen weißen Seelen zitterten mir entgegen, nun
entfalteten sie ihre Schmetterlingsflügel, und der Duft verbrannter
Tannenzweige führte mich über so viel Jahre in die Zeiten zurück, da
noch das Wunder dieser Nacht für mich nicht erloschen war. Dazu aß ich
die kleinen Lebkuchen, die Du mir geschickt hattest und die ich so lange
Wochen mit mir durch die Wüste trug. »So viel Liebe! So viel Liebe!«
dachte ich, und wieder überströmte es mich. Wie viel hatte doch diese
arme und geschändete Erde noch an Güte zu geben, wie reich war ich! Ja,
einen Augenblick schien es mir, als wäre die Erde nur darum des Grauens
und Blutes voll, weil ich allein alle Liebe der Welt im eifersüchtigen
Herzen verschlossen hielte.

Zwei Tage vor Neujahr stand ich das erste Mal auf. Mit zitternden Füßen
ging ich um das Haus; aber es war zu viel. In der Nacht überkam mich ein
neuer Anfall. Gleich einem abgerissenen Fetzen Leinewand flatterte der
Geist aus diesem schmerzenden, von tausend glühenden Hämmern
geschlagenen Kopfe davon. Und während nasse Tücher meine Stirn kühlten,
während ich von helfenden Händen in das Badewasser gehoben wurde, zog
aus meinem Haupte der Schwarm der Gedanken aus wie die Wolke der
ungeborenen Geister, die ausbrechend das Haus der Schöpfung verlassen.
Bis das Morphium kam und die Welt in Musik erlosch. Nie habe ich mich so
reich an Gestalten gefühlt, nie so viel Pläne zugleich leibhaftig in
Händen gewogen, wie in den Tagen dieser Krankheit. Ich habe mein Bett
das »Fieberschiff« getauft und über Meere und Länder die
abenteuerlichsten Reisen in ihm geführt. Hat schon jemand das Märchen
des fliegenden Bettes gedichtet? Dann müßte ich es tun.

Wie merkwürdig war dieser Silvesterabend, die seltsamste Fiebernacht
stieg herauf. Während vierzig Grade meinen Körper siedeten, tanzte der
Geist lustig auf seinem Seile weiter. Und in aller Klarheit stiegen die
blutigen Erinnerungen Polens herauf, begann ich ruhig und unberührt
Verse an Verse zu reihen. Wie habe ich in dieser Nacht das Martyrium des
Dichters verwünscht! Der Sklave seiner eigenen Gedanken zu sein, die uns
zertreten! Und doch, welches Wunder umrauschte mich. Sollte das alles
ungeboren vorübergehen? In einer Nacht erschaut und wieder erloschen?
Ich zündete die Kerze an, ich stand auf, um mein Tagebuch zu holen, das
mir gegenüber auf dem Tische lag. Aber die Kräfte verließen mich, und
die Besinnung verlierend sank ich auf die Steine. Ich mußte den Wärter
rufen, der mich zurück in die Kissen trug. Frost schüttelte mich, von
neuem erbrach sich mein Magen, diese Müllgrube verdorbenen Fleisches und
faulender Pflanzen. Ich ließ mir Tee kochen. »Dies ist mein
Neujahrs-Punsch,« sagte ich zu meinem Wärter. Es war zwei Uhr morgens,
und ich wurde der Schmerzen müde. Dennoch gelang es mir, im Grauen des
Jahres die ersten Zeilen niederzuschreiben. Wachsend hob sich die
Gestalt, die Nacht hatte es nicht behalten.

Und so blieb es durch alle Tage einer langen und langsamen Genesung. Es
arbeitete in mir am Tag und in den Nächten, ich lag von einer wohligen
Musik gewiegt. Und wenn ich aufwachte, begann es von neuem, stellte sich
als ein fertiges Gebäude vor mich hin. Sollte man eine Krankheit nicht
segnen, die so reiche Schätze in unsern Händen zurückließ? Wie wunderbar
sie waren, diese tropischen Träume; hier ist der Vorhof des Todes. Aus
ungeahnten Tiefen steigt die geläuterte Seele empor, eine süße Stärke
erfüllt uns. Nun ist es die Stunde der Auferstehung.

Noch liege ich, in tausend neuen Gedanken blätternd wie in einem schönen
Buch, ehe man es zu lesen beginnt. Deiner gedenkend an den langen
Abenden, die uns Regen und Stürme bringen, eingehüllt in das warme
Gewand Deiner Liebe. Noch liege ich, diesseits des Tigris, gegenüber der
gelobten Küste, im Angesicht von Bagdad, das ich bisher nicht betreten
habe, und freue mich, wenn ich morgen aufstehen werde, auf den Strom und
die weißen Häuser und auf die tausend Palmen, unter denen ich wandern
werde. Wie dankbar bin ich dieser Krankheit, die mich in Ruhe und
Schlummer eingesponnen, daß ich erneut das Wunder der Wiedergeburt
schaue, um mit heiterer Seele das Bild dieser Stadt zu empfangen, daß
nicht ein Körnchen Staubes und nicht die feinste geäderte Zeichnung auf
der Wange einer alten arabischen Muhme ihrem gereinigten Spiegel
entgeht.

Noch weiß ich nicht, wie die Tage sich gestalten werden. Wie viel jene
nächtliche Saat der Träume mir an Früchten zurückließ, wenn ich erst
wieder mit blassem Gesicht durch die Lazarette wandern werde, um von
Bett zu Bett abgehauene Gliedmaßen und blutige Verbände in meinen Eimer
zu sammeln. In diesen Tagen vulkanischer Veränderungen, in denen uns die
Aussicht zur nächsten Stunde verhängt bleibt und wir immer mehr der
Bestimmung unseres eigenen Willens entzogen werden, bin auch ich zu
einem kindlichen Glauben an das Schicksal zurückgekehrt. So sehr ich
auch fühle, wie mir das Leben liebend entgegenkommt, so sehr empfinde
ich, daß ich aufgehört habe, selbst der Lenker meiner Tage zu sein.

Wie oft muß ich an einen Abend in Tekrit denken, als ich zwei Tage vor
unserer Ankunft in den nächtlichen Straßen der Stadt einem lahmen Esel
begegnete, dessen linker Hinterfuß gebrochen war und auf dessen
schiefgeheiltem Knochen er wie auf einem Schlitten dahinglitt. Hoch oben
hing der Mond, eine kühle Lampe, während aus einem Hause leise Musik
erklang, wo Araber um die Flamme versammelt saßen, ihre Gebete sagend.
Ich wandte mich um und sah das Tier mir einsam zwischen den verlassenen
Mauern folgen, auf der staubigen und hartgetretenen Erde vergeblich nach
Gräsern suchend. O meine Seele, dachte ich, wie sehr gleichst du diesem
Geschöpf. Immer klingt aus einer verschlossenen Tür süßer Gesang. Aber
der Weg ist dunkel und niemand weiß, wohin die Straße sich öffnet.



                           An die Großmutter


                                            Bagdad, den 20. Januar 16.
                                         Im Hause zu den elf Fenstern.

Nun will ich den Stuhl an Deine Seite rücken, Du liebes altes Gesicht.
So dicht, daß die großmütterlichen Ohren, die so lange in die Welt
gehorcht haben, sich gar nicht zu bemühen brauchen, mich zu verstehen.
Nun fühle ich Deine Augen auf meinem Herzen. Sie leuchten mir und wärmen
mich auch hier, in diesen Tagen, in denen so bittere Kälte heraufsteigt,
daß ich verwundert in die heimatlich verwandelte Welt schaue, durch die
der Schnee in schweren Flocken langsam zu Boden flattert, kleine weiße
Vögel, die die Erde mit ihrem Gefieder decken.

Palmen in Schnee. Wie lange hat das die Stadt nicht mehr gesehen. Die
hohen Rizinusstauden im Garten brechen mit ihren Wurzeln aus der Erde.
Der Tigris wirft Wellen wie ein Meer. Die Stadt aber ist ausgestorben;
hin und wieder schleicht in langen Röcken, mit den bloßen Füßen in der
aufgeweichten Straße versinkend, ein Araber an der Mauer entlang, das
Kopftuch um Hals und Wange geschlagen, als litte er an Zahnweh. Der
Markt steht still. Wer braucht zu kaufen, zu handeln, Lebensmittel feil
zu bieten, wenn es regnet? An solchen Tagen mußt du zufrieden sein, wenn
du so viel hast, daß du nicht hungerst.

Die Welt ist hinter den Mauern. Hier sitze auch ich, in einem Hause,
dessen Wände mich mit Kälte anhauchen (oh, wie will ich seine Kühle
loben, wenn es erst Sommer ist!). In einem Zimmer, in dem elf hohe
Fenster mir mit stets gleichem Erfolg die Täuschung vorspiegeln, ich
säße im Freien. Neben mir steht ein kupfernes Kohlenbecken, in dem
glimmende Holzasche dampft und mir Kopfschmerzen bereitet, und mein
arabischer Reitsattel, auf dem ich durch die Wüste nach Mossul geritten
bin. Ich habe meine kleine Lampe bei mir, die mir schon in Polen den
Unterstand erhellte, und freue mich, daß sie nun zuweilen des Abends
wieder meiner Arbeit leuchtet. So sitze ich in Decken und Mäntel gehüllt
über dieses Papier gebeugt, während hinter den Scheiben mein arabischer
Diener wartet, mir die Schuhe auszuziehen, mit wenig Hausgerät und
vielen Teppichen und Schilfmatten unter den Füßen. Denn das Kaufen von
Teppichen ist gewiß eine ansteckende Krankheit. Aber schließlich sind
wir allein, und der Teppich ist unser einziger Freund: der Tisch, von
dem wir speisen, unsere Morgen- und Abendandacht, und das Gedicht, das
wir nicht müde werden immer von neuem zu lesen. Vor meinen Fenstern
erheben Palmen ihre stachligen Schöpfe, aus denen sich gegen Abend eine
Schar von Krähen erhebt, die müde und satt von den Schlachtfeldern von
Kut el Amara heimkehrten, um jenseits des Tigris über den breiten
Palmenwäldern, rasselnd, mit den Flügeln gegen die glasharten Blätter
stoßend, Licht und Sonne verschüttend, eine schwarze Wolke,
zusammenzuschlagen.

Es ist Abend, die Stunde, da ich von meinen Spaziergängen heimzukehren
pflegte in Dein Haus. Leuchtet dort nicht die Lampe und ein Tisch mit
Schinkenbrötchen und Eiern? Heute Mittag war ich traurig, daß keine
Briefe da waren, aber bedarf es noch eines Wortes? Du bist in mir.
Langsam fühle ich, wie Du in meinem Blute heraufsteigst, mir die Stirne
zu streicheln, und neige meinen Kopf über Dich, wie in den Abgrund aller
Zärtlichkeit.



                      Ein Vermächtnis in der Wüste


                            An Hugo Marcus.

                                            Bagdad, den 1. Febr. 1916.
                                                          Im Jenseits.

Welche Sonne Sie in mein Zimmer gebracht haben, lieber Freund, in diesen
Tagen, wo Regen täglich sein kummervolles Haupt über die Stadt neigt,
endlos in die zerfallenen Mauern verlassener Häuser zu weinen. Sie haben
mir so hohe Worte der Liebe und der Bewunderung gesagt, und nach den
Tagen des Zweifelns und der Bedenken, die nur ungern aus Ihrer kühlen
Stirne aufstiegen, weiß ich, daß es mehr ist als die Anerkennung der
Freundschaft. Sie wissen, wie unentbehrlich mir Ihr Urteil geworden ist,
als wäre jedes Werk in seinen Zielen verfehlt, das nicht in Ihnen seinen
Widerhall fände. Wie glücklich ich bin, nichts konnte mich freudiger
stimmen, als was Sie mir über meine Briefe sagen. Sie wissen, daß ich
darin immer einen Ausdruck der Seele gesucht habe, daß sie mir als die
schönste Offenbarung tiefer Menschlichkeit gelten und daß mir dies nicht
immer gelang. Aber Sie sehen auch, wie wenig es mir um Erfolge des
Augenblicks zu tun sein kann, wenn ich andere Arbeiten um ihretwillen
beiseitelege. Auch diese scheinen mir ein Ausdruck desselben Geistes zu
sein, nicht weniger wahr und heilig, als irgendein künstlerisches
Gebilde, das unter anderem Namen vor die Augen der Welt geht. Die
bürgerliche Seele, stets eifersüchtig ihre Rechte wahrend, immer voll
Furcht, daß ihr eigenes kleines Dasein bloßgelegt werden könnte, wird es
freilich niemals begreifen, daß unser innerstes Wesen in andern Werken
nicht minder nackt zur Schau gestellt ist, als in unsern Briefen.

Aber warum sollten wir nicht stets das Beste geben, daß es denen, die
unsere Liebe verdienen, zum Trost und zum Danke wird? Und sollte es
einmal dahin kommen, daß ich selbst dazu nicht mehr imstande bin, so
möchte ich Sie bitten, dieses für mich zu tun. Dieser Brief ist ein
Vermächtnis. Denn so unglaublich es mir auch selber erscheinen mag, nun,
da ich zum zweiten Mal in diesem Lande mich von tödlicher Krankheit
erhebe, von den Erniedrigungen der Gefangenschaft und einer Summe
undenkbarer Zufälle bedroht, täglich in der Luft gifterfüllter Lazarette
von unsichtbaren Gefahren umgeben, inmitten einer Wüste, die auf endlose
Meilen den Atem ihrer Verwesung erhebt, das Aas von gefallenem Vieh und
menschliche Leichen bis vor die Tore der Stadt werfend, muß auch ich
daran denken, daß das Schicksal von tausend Hoffnungen immer nur eine
zum Ziele führt. Ich habe den Tod eines Schaffenden immer als ein
Verbrechen gegen das keimende Leben empfunden, und so oft ich in diesem
Kriege davon hörte, ergriff mich jenes widerwärtige Gefühl, das uns
stets berührt, wenn wir von der Ermordung schwangerer Frauen hören. Wie?
fragte ich mich, als man mir in den Tagen der Wiedergenesung erzählte,
daß ich in Gefahr geschwebt hätte, dieses lebendigste Leben wäre das
Rauschen des letzten Ufers gewesen? Nie habe ich mich dem Tode so ferne
gefühlt, und noch in diesen Wochen, als ich in der Wüste durch die Lager
armenischer Flüchtlinge ging und sie ihre Toten begraben sah, war mir,
als ginge ich nur hindurch als der Abgesandte einer anderen Welt, um
heimgekehrt aus der Hölle des Tages die Botschaft ewiger Liebe zu
verkünden.

Aber wie sollte die Zeit, dieses menschenfressende Ungeheuer, an dessen
knochenbedecktem Tische ich nun so lange Monate saß, zurückschrecken vor
einem Geheimnis, vor dem selbst noch die französische Revolution
gezögert hat? Und vielleicht werden Sie doch eines hellen Frühlingstages
sich auf die Bahn setzen, um in jene wälderumrauschte Stadt zu fahren,
aus der noch einen Monat vor dem Kriege so viele Blätter auf den
Schreibtisch Ihres Zimmers regneten. Und Sie werden in das Haus dieser
alten Frau treten, von der ich Ihnen oftmals erzählte und deren Augen
verklärt sind von dem zartesten Blau, das ich kenne, das auch Sie
vielleicht einmal für Sekunden erblickten, wenn im Süden am Abend nach
dem Regen eine Wolke sich teilte und das Herz des Himmels uns offen lag.
Sie werden den breiten Schreibtisch betrachten, an dem ich gearbeitet
habe und der unbebaut liegt, wie der Boden dieses verruchten Landes.
Solche Tische haben ihre Geschichte. Auf diesem wurden einst Windeln
gelegt und Wäsche gebreitet, und auch ich selbst habe darauf gelegen.
Aber wann war es doch? Habe ich nicht schon damals aus einem Winkel
dieses Zimmers mir zugeschaut, ehe ich selbst daran saß, um gequält von
tausend feurigen Zweifeln und Begierden des Herzens das Unsagbare in
Worte zu fassen? Oh, vergessen Sie nie, daß dieses der Tisch ist, dessen
Schublade eine eifersüchtige Großmutter mit einem Nagel verschloß, um
das Geheimnis ihres Enkels zu wahren, weil sein eigener Vater zwei
Nächte in diesem Raume schlief. Und man wird Sie in das Schlafzimmer
meiner Großmutter führen, wo neben ihrem Bette jene hochwandige Kiste
steht, in der meine Papiere versammelt liegen, und die ich noch selber
beim Tischler bestellt habe, ehe ich das letzte Mal hinauszog. Und Sie
werden ein wenig verwundert vielleicht zwischen all den Zeitungen und
liegen gebliebenen Schriftstücken sitzen, in jenem Zimmer, das in die
zerflossenen Blätter eichener Bäume sieht und bei denen die geliebte
Frau jeden Tag eine Stunde der Erinnerung verbrachte, sich mit den
Resten meiner angefangenen Arbeiten zu schaffen machend, sie glättend,
ordnend, überdenkend immer von neuem beiseite zu legen, jeden Abend,
seit ich fortging in die Fremde. Sie werden darin meine Tagebücher,
eigene und fremde Briefe seit meinen Knabenjahren, französische
Zeitungen und Erinnerungen an Algier, Bilder aus der Levante und
Sizilien und kleine Andenken aus russischen Schützengräben finden, denn
ich bin Zeit meines Lebens ein Hamster gewesen und habe immer gesammelt
und gesammelt, weil ich nie genug zu haben glaubte für das Werk, dessen
weite Linien ich vor mir sah, als eine Arbeit für spätere Jahre. Dieser
Haufen Papier, mit Bleistift und Tinte unleserlich beschrieben, ist
alles, was ich hinterlasse. Ihrer liebenden Willkür vermache ich, was
Sie immer damit tun wollen, mögen Sie das Beste und Wahrhaftigste der
Gunst und dem Hasse der Menge preisgeben und geschähe es auch nur Ihnen
zuliebe. Sind doch schließlich in diesen Seiten die Dokumente eines
Dichters enthalten, wenn ich mir auch bewußt bin, daß selbst Ihnen viele
davon Noten bleiben müssen, die Sie nicht spielen können, weil ich
allein den Schlüssel besitze (o wie bedaure ich jetzt das gute
Gedächtnis), und die jenen unentzifferten assyrischen Inschriften
gleichen, die wir zuweilen auf alten Tonziegeln im Sande des Tigris
finden.

Geld habe ich keines zu vergeben. Ich bin immer ein Schuldner der andern
gewesen, und jene wenigen Sparpfennige, die meine Mutter für mich mit
rührender Geduld seit meiner Kindheit gesammelt hat, sind eine
Opfergabe, die ich mich immer gescheut habe, aus ihren Händen zu nehmen.
Schließlich bleibt meine Wohnung, dieser Tempel kindlicher
Glückseligkeit, die am Rande Berlins wie in einer Totenkammer
aufgespeichert liegt und die an meine Eltern und Brüder zurückfallen
soll. Nur mein Schlafzimmer, dieser zwiefache Schmuckkasten, möge in die
Hände jener ruhelosen Schauspielerin wandern, die wie ein Raffael ohne
Arme geboren wurde und deren Namen an dieser Stelle auszusprechen ich
mich scheue. Aber wer wird je diese Möbel so lieben und anbeten wie ich?
Wer wird so Erinnerungen in sie verweben und ihre Märchen kennen wie
ich? Nicht einmal jene kleine dämonische Seele, für die ich sie unter
Mühsal und Entbehrungen zusammensuchte und die ich nach so bitteren
Erkenntnissen der Einsamkeit und dem Begehren fremder Männer preisgab.
Von meinen zahlreichen Büchern endlich sollen Sie, lieber Freund, sich
die Werke Charles Louis Philippes nehmen, den ich so sehr geliebt habe.
Den Rest aber möchte ich so verteilt sehen, daß jeder meiner Freunde
etwas davon erhält.

Wenn Sie mit liebender Hand diese Dinge aus ihrer Verborgenheit heben,
werde ich freilich nicht mehr dabei sein, und ich möchte wohl, daß man
mich auf ihrem Scheiterhaufen verbrennt, denn diese Bücher sind mir
allezeit gute Freunde gewesen, immer bereite Pferde, auf denen ich in
das Land unerfüllter Hoffnungen ritt, und diese Möbel, heroische
Schicksalsgenossen, verdienten es wohl, daß man sie wie treue Frauen am
Holzstoß der gefallenen Helden an meinem Sarge verbrennt. Es wäre meinem
Leben gewiß nicht unangemessen, so auf der Wanderung zu verscheiden, und
ich möchte wohl, daß man meine Asche in alle Winde streute, daß sie ruhe
auf den vier Straßen des Lebens, auf denen ich so viele Jahre meiner
Jugend verbrachte. Nur mein Herz möge man in eine Kapsel schließen, es
noch einmal in Eure Nähe zu bringen, die ich so sehr geliebt habe.
Dieses Herz, das immer der Kompaß meines Geistes gewesen ist,
vielleicht, daß es in Euren Händen noch einmal zu schlagen begänne, wie
zuweilen der erstarrte Vogel in der Hand des Gärtners warm wird und zu
singen anhebt.

Übrigens glauben Sie nicht, daß ich aus Ihrer Mitte verschwinden werde.
Eines Tages, wenn Sie sich die Schnürsenkel binden, will ich aus der
Spitze Ihrer abgetragenen Schuhe hervorsehen. Vielleicht finden Sie mich
auf dem Pflaster des Nollendorfplatzes in einem verlorenen Hausschlüssel
wieder, der zwischen Pferdedung und von den Rädern der Wagen verbogen
auf die Steine fiel. In einem Warenhause werde ich aus dem Wassersturze
der Dinge über Sie herfallen. Vielleicht leuchte ich Ihnen in zehn
Jahren aus den Augen eines Jünglings wider, der in irgendeinem Saale
dieser maßlosen Stadt ewige Verse in eine unberührte Menge hinabwirft;
denn wie könnte ich je glauben, daß das Werk, für das ich glühte, um
dessentwillen ich Heimat und Geliebte verließ, unvollendet verloren
ginge -- oh, dann lieben Sie ihn, wie Sie mich geliebt haben, mit dem
Ernst und den Erfahrungen Ihres Alters! Wie könnte ich glauben, daß ich,
ein kosmopolitisches Känguruh, in der Wüste mit dem vollen Beutel
verfaulen sollte, in den ich so fremdartige und kostbare Schätze häufte,
daß die Sendung unerfüllt bliebe, für die auch ich nur ein Sendling war
und die der Zufall nur in eine ebenso herrische wie demütige Seele warf.
Denn ich habe immer die tiefe Überzeugung gefühlt, daß der Tod, so oft
und gern ich ihm Freund und Gefährte war, mich erst treffen würde, wenn
das Werk in sichtbarer Vollendung sich von mir gelöst hat, wenn ich nach
so langen Jahren des drohnenhaften Umherirrens, am Glücke und am Elend
des Menschen saugend, endlich das Fegefeuer dieser brennenden Zeit
durchflogen hätte, sei es auch, um aus dem Taumel seligster
Schaffenslust mit zerschmettertem Haupt auf die Erde zu stürzen, nachdem
ich den Keim in die ewige Seele der Menschheit gelegt hätte, die das
kostbare Gut in ihrem Innern bergend aus den Kampflüften der Geister
heimkehrte in das Haus des Fleißes, zu den fiebernden Brücken der
Begierde, in den schwermütigen Gesang der Arbeit.

Aber wohin verliere ich mich, Geliebter? Noch brennt die Sonne, noch
breiten vor meinem Fenster Palmen ihre stachligen Schöpfe, die, wie
grüne Raketen auseinanderfallend, in der blauen Luft erstarrt sind. Noch
zieht, von Frühlingswassern umspült, die Wüste einen blühenden Teppich
um ihre alternden Füße. Noch lebe ich, am Nabel der Welt, in die Rätsel
buntester Völker geworfen, grüßt unendliche Auferstehung den gemarterten
Leib, noch höre ich Ihre Stimme an meinem Ohr, fühle, von heiterstem
Glücke durchströmt, Ihre Hände auf meinem Herzen.

                         Ihre Drohne, die Lieblingsdrohne der Königin.



                            An eine Freundin


                                                  Bagdad, Abdul Achad,
                                                 den 25. Februar 1916.

Man merkt kaum, daß die Zeit weitergeht, meine Liebe, so lautlos
streicht jedes Gesicht an uns vorüber. Gestern erhielt ich Deinen Brief
vom zwanzigsten Dezember. Habe ich denn damals schon gelebt? Ich begann
ihn zu lesen, als ich in das Boot stieg, um über den Tigris zu fahren,
wenn ich im Kahn nicht damit fertig wurde, wollte ich ihn am Ufer zu
Ende lesen. Aber wir hatten kaum die Mitte des Stromes erreicht, da war
der Brief aus, und ich fragte mich: war Dein Schreiben so kurz (es hatte
doch sechs Seiten), war der Tigris so breit, oder hatte ich zu schnell
gelesen? ... So verhungert sind wir hier draußen.

Dabei lächelt der Himmel warm durch die Glaswände meines Hauses. Ich
blicke über den Zaun in die Palmen und auf den Hof einer arabischen
Wagenhalterei. Auf den Dächern der Pferdeställe wird jeden Tag der
frische Dung ausgebreitet, um in der Sonne gedörrt als Brennstoff
verkauft zu werden. Ein junger Araber hat den Tag über nichts zu tun,
als mit den nackten Füßen langsam durch diese Materie zu laufen und sie
umzuwenden. Wenn ich am Schreibtisch sitze, schaue ich ihm bei seiner
Arbeit zu.

An den Ufern des Flusses liegen die Hospitäler, Konsulate, Hotels, in
denen man die hölzernen Betten der Verwundeten aufgestellt hat. Luftige
Terrassen, auf deren weißen Fähnchen der rote Halbmond, ein blutiger
Fleck, leuchtet. Hier kommen die Dampfer von Kut el Amara herab, ihre
traurige Last an das Ufer zu werfen. Glitzernd hebt sich der Strom, eine
weiße Straße des Todes. Hier liegt Abdul Achad, das Lazarett, in dem wir
arbeiten, ein arabisches Hotel mit zweihundert verwundeten Soldaten.
Unsere Krankenpfleger sind Eseltreiber und Lastträger der Straße. In
unserem Operationssaal fanden wir nicht mehr als eine rostige Schere,
zwei Klemmen und eine Sonde. Die durchgeeiterten Binden müssen stets von
neuem verwandt werden, und wir sind glücklich, genug ungereinigte
Baumwolle zu haben, die im Lande wächst. Die Wunden sind fast alle
verschmutzt oder vernachlässigt, und viele sterben an Blutvergiftung
dahin. Der Dienst ist anstrengend; aber unser Stabsarzt ist der
liebenswerteste Vorgesetzte und Kamerad. Ich habe darin ein so großes
Glück gehabt.

Die Luft ist milde, und es wird täglich wärmer, doch jedermann spricht
mit Schrecken vom Sommer, den wir hier an einem der heißesten Teile der
Erde am Tag in den Kellern und des Nachts auf den Dächern verleben
werden. Fast immer finde ich am Abend eine Stunde Zeit, in der Dämmerung
in das bunte Gewühl arabischer Stadtviertel und Basare zu tauchen. Stets
erfüllen heitere Pläne meine Seele, fremde Geheimnisse verführen und
reizen mich. Dazu verdanke ich der Güte des Feldmarschalls ein höheres
Abzeichen der Uniform; ich trage den Rang eines Sanitätsunterleutnants
und bin dem Stabe der sechsten Armee zugeteilt. Du solltest mich nur
sehen in meinem moosgrünen Waffenrock, mit violettem Sammetaufschlag und
Silberborten, wenn ich mit einem »Grüß Gott, Soldat« am Morgen in das
Lazarett trete.

Leb wohl -- müßte ich nicht täglich zehn Liter Eiter riechen und den
Pestgeruch der bis zum Skelett abgemagerten ruhrkranken Soldaten, so
wäre das Leben fast vollkommen zu nennen.

Frühling, ach wie du mich rührst ....



                          Brief an die Mütter


                                            Bagdad, am Nabel der Welt,
                                                    den 29. März 1916.

Daß ich noch bin, Ihr geliebten Mütter, daß diese Erde noch unter mir
ist und meinen Füßen nicht nachgibt, daß diese Zeilen den Herzschlag
meines Atmens zu Euch hinübertragen, wie kann ich es ausdrücken, daß es
mich so stark bewegt! Nie habe ich das Rauschen des Todes, seine Stille,
sein kaltes Lächeln so vernehmbar gefühlt wie in diesen Tagen, und oft
frage ich mich: darf ich noch leben? habe ich noch ein Recht zu atmen,
Pläne zu tragen für ferne, fabelhaft unwirkliche Jahre, wenn so viele
tote Augen um mich wie ein Abgrund gestellt sind?

Am 10. März starb unser Stabsarzt plötzlich am Fleckfieber, und noch
jetzt, Wochen später, erfüllt mich oft eine minutenlange Erregung, die
mir Ruhe und Besinnung nimmt, zu erzählen. Seit vielen Monaten
durchzieht eine verheerende Krankheit dieses maßlose, selbstvergessene
Land. Die türkischen Soldaten haben sie aus den Städten Syriens und
Kleinasiens durch die Steppe herübergetragen, und die Rache des
armenischen Volkes, dessen faulende Leiber jeden Weg der Wüste bedecken,
streckt ihre würgende Hand immer tiefer in die Häuser, in die
Hospitäler, in die Zeltlager der Lebenden hinein. Noch sehe ich diesen
völlig mit kleinen blauroten Punkten bedeckten Körper vor mir, den der
Stabsarzt nichts ahnend wegen einer ungefährlichen Verwundung an meiner
Seite entkleidete, um kurze Zeit darauf selber an einer eitrigen
Halsentzündung zu erkranken. Schon nach wenigen Tagen fand ich ihn
abgemagert und durch eine hinzugetretene Ruhr so entkräftet, daß er
nicht mehr fähig war, alleine den Kopf zu heben.

Ich ließ mein Bett in seinem Zimmer aufschlagen, und nun begannen jene
ruhelosen Tage und Nächte, die mich bis zu seinem Tode nicht mehr von
seiner Seite ließen. Nie werde ich diese einsamen Nächte vergessen, in
denen alle Sehnsucht des südlichen Frühlings mit den Schmerzen des Todes
und der Bitterkeit der Fremde gemischt war. Vor mir zu Füßen des
Krankenbettes stand die abgeblendete Laterne, einen schwachen Lichtkreis
über die Steinfliesen verbreitend, der sich leise in dem künstlichen
Himmel der Decke spiegelte, die mit persischer Glasarbeit ausgelegt war
und deren Achtecke sich glitzernd ineinander verschoben. Ich starrte auf
den niedrig geschraubten Docht und hörte auf das röchelnde Atmen des
Kranken, der einen Schleimkloß im Munde wälzte, von dem er vergeblich
versuchte, sich zu befreien. Raschelnd jagten die Ratten über mir durch
die hölzerne Täfelung der Decke. Dann stand ich auf, um den Kranken aus
dem Bett zu heben, der infolge einer nervösen Störung nicht fähig war,
im Liegen Wasser zu lassen. Und in der einen Hand das Geschirr haltend,
in der andern seinen schweren, völlig willenlosen Körper, schwankte ich
atemlos, bis wir beide völlig erschöpft waren und auf unsern Stirnen der
Schweiß ausbrach.

Wenn der Kranke zu schlafen schien, trat ich einen Augenblick auf die
Terrasse des Hofes, in dem ein weitästiger Baum seine ersten Knospen
entfaltete und an dessen Rande eine Reihe verschlossener Zimmer lag, die
einst die Frauengemächer eines reichen Muhammedaners gewesen waren. Der
Sternenhimmel blickte durch den viereckigen Ausschnitt des Hofes, ich
stieg auf das Dach, den umgekehrten Wagen, den Sirius und den Mars zu
betrachten, der einen rötlichen Schimmer trug. Plötzlich trat ich auf
etwas Weiches, ich bückte mich und sah ein paar dunkle, von den Sternen
schwach beleuchtete Grasbüschel, und merkwürdig, ich dachte: von allen
Erlebnissen dieser Tage wird vielleicht einst nur diese kleine Grasnarbe
auf dem lehmgehärteten Dach des zerfallenen Frauenhauses greifbar in
deinem Gedächtnis zurückbleiben, aber dieser eine Blick wird auch alle
bittere Wehmut der Stunden enthalten.

Als ich wieder in das Zimmer trat, war dem Kranken, der mich rufen
wollte, die kleine Kamelglocke aus den Fingern geglitten, und mit
schwacher Stimme versuchte er mir zu erzählen, daß eine Ratte von der
Decke ins Zimmer gefallen wäre. Wieder setzte ich mich an seine Seite.
Eine Katze trat lautlos in das Zimmer, erschrak, als sie mich erblickte,
ging wieder hinaus. So kam der Morgen, der das Abbild der Nächte war.
Ich wußte nicht mehr, daß draußen ein Tag und die Geschäftigkeit fremden
Lebens war. Atemlos ging ich hinter diesem Bette her, Umschläge
erneuernd, Arzeneien, Milch und Suppe reichend, die der Kranke mit dem
Geräusch der Erstickung über die Kissen ausbrach, waschend, die
Bettlaken zurechtlegend, und mir war, als entfernte sich dieses Bett mit
immer größerer Schnelligkeit von mir, mich zu immer schnellerem Laufe
anspornend.

Einmal bat mich der Stabsarzt, ihm etwas vorzulesen. Ich hatte Hauffs
Märchen mitgebracht, die er sehr liebte, und las ihm die Geschichte vom
Kalifen Storch vor; aber bald war er so schwach, daß er die Lippen kaum
noch bewegen konnte. Am vierten Tage traten an den Weichen die kleinen
blauroten Flecken auf. Vergeblich versuchte der Kranke immer wieder,
etwas zu sagen; es war nicht mehr möglich, ihn zu verstehen. Die
trockenen, schorfbedeckten Lippen blieben tonlos, während er
verzweiflungsvoll den Kopf zur Seite schüttelte, und nur seine schönen
blauen Augen glänzten noch zu mir auf. Am siebenten Tage begann der Puls
plötzlich zu fallen, und er fiel in der kurzen Zeit, während wir im
Nebenzimmer zu Mittag speisten, mit einer solchen Geschwindigkeit, daß
es den Ärzten, die ihm noch eine Einspritzung in die Venen geben
wollten, nicht mehr möglich war, diese zu finden. Drei Stunden später
fuhr der letzte Atem mit einem widerlichen Geräusch, glucksend wie
Spülwasser, aus dem Munde des Sterbenden aus. Die Ärzte standen
schweigend. Schmerz würgte mich an der Kehle. Ich hatte ihn geliebt, der
mir mehr Freund als Gebieter gewesen, glücklich, einem Berater zur Seite
zu stehen, dessen geistige Sehweite, dessen künstlerisches und
wissenschaftliches Vermögen das der anderen Offiziere so weit übertraf.
Ich drückte ihm die Augen zu, zog ihm das Laken über das Gesicht.

Wir traten hinaus. Im Hofe stand eine prächtige Stute, die mit dem Fuß
in ein Loch der Wasserleitung getreten war und sich verletzt hatte. »Das
schöne Pferd!« sagte der Stabsarzt der Marine, ärgerlich mit dem Fuße
aufstampfend; aber wie merkwürdig erschien mir in diesem Augenblick sein
Wort, das doch gewiß nicht weniger von Sorgfalt um ein lebendes Wesen
erfüllt war. Die bunte Menge des Basars umdrängte uns. Der herrlichste
Frühlingsnachmittag stand über der Stadt. Hatte ich je gelebt? Wieviel
Jahre hatte ich im Gefängnis gesessen? Wir nahmen ein Boot und fuhren
den Tigris hinunter, um dem Konsul den Tod des Arztes zu melden. Helle
Sonne traf die bewegten Wellen des Flusses am Ufer. Mitten auf der
Straße blieb ich stehen, betäubt von Licht und dem Gefühl des Lebens:
daß ich noch bin! daß die Erde noch mein ist!

Als wir heimkehrten, erschrak ich vor der plötzlichen Dunkelheit des
Zimmers, in dem jede Nacht die Laterne gebrannt hatte. Mit
trostbedürftigen Seelen, an die Härte eines unerbittlichen Daseins
gewöhnt, leerten wir die Flasche Wein, die ich noch am Morgen für den
Kranken geöffnet hatte. Spät in der Nacht kamen die Juden, alte Männer
mit weißen Bärten, um in einer hölzernen Kiste den Leichnam zu holen,
der nach dem Ritus begraben werden sollte. Murmelnd, von einer Laterne
begleitet, den Sarg auf dem Rücken, verschwanden sie in der finsteren
Gasse. In der Nacht konnte ich nicht schlafen, und schweißbedeckt, bis
zum Äußersten erregt, wälzte ich mich in den heißen Decken, während
widerwillig ohne Aufhören die Frage an mein Ohr brandete: wann du? wann
du?

Am nächsten Morgen ging ich in die israelitische Schule. In einem
Kellergewölbe, völlig entkleidet, lag auf der bloßen Erde der Leichnam.
Ein Schweißtuch war um die Stirn gebunden, und zwei Steine lagen zu
beiden Seiten des Kopfes. Mitten auf die Brust des Toten aber, die mit
einem langen Leinentuch bedeckt war, hatte man zur Wegzehrung ein
abgebrochenes Stück arabischen Brotes gelegt. Ein zerlumpter Jude, in
die Fetzen seines Gewandes gehüllt, kauerte die Wache haltend neben dem
Leichnam, und im Winkel des Raumes lag ein zusammengekehrtes Häufchen
Schmutz. Rührung ergriff mich vor der erschütternden Schlichtheit des
Bildes, und immer wieder blickte ich auf diesen kümmerlichen Bissen
Brot, der mir das Sinnbild alles menschlichen Jammers und Elends zu sein
schien.

Zwei Stunden nach Sonnenuntergang begann das Begräbnis. Im Hof der
Synagoge stand der Sarg aufgebahrt. Zwanzig alte Juden sangen mit
klagender Stimme einen hebräischen Psalm. Dahinter standen die deutschen
Offiziere, Rabbiner und Würdenträger der Stadt, brennende Kerzen in der
Hand haltend. Die Kawassen eröffneten den Zug, ihnen folgten die Schulen
und die hohe Gemeinschaft der Rabbiner. Der Sarg wurde von den Schultern
jüdischer Bürger getragen, dahinter schritten der Großrabbiner, die
Vertreter des Stabes des Feldmarschalls, der Wali, die geistlichen und
weltlichen muhammedanischen Behörden, deutsche und türkische Offiziere
und Soldaten mit zur Erde gekehrten Waffen. Zwanzigtausend Juden
begleiteten den Zug, während hochgeschwungene Fackeln die Finsternis
erleuchteten, von denen der Wind Funken und brennendes Werg über die
Köpfe des Trauergefolges hinwegwehte. Unmittelbar hinter dem Sarge
schritt ich selber, das Kissen mit den Orden des Toten tragend, und ich
dachte die ganze Strecke des Weges: wenn Ihr mich so schauen könntet,
wie ich, übernächtigt, die hohe Lammfellmütze auf dem Kopf und von dem
gelben Licht der Fackeln beleuchtet, hinter dem Sarge hinschreite,
welchen Trost würde der warme Herzschlag Eurer Liebe mir bereiten!

Die Fenster aller Häuser waren von Menschen erfüllt, in den
Seitenstraßen und auf den Dächern drängte sich die Menge. Sobald der
Sarg vor ihren Blicken erschien, durchzog ein ungeheures Klagen die
Luft. Die Männer schlugen sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, die
Frauen begannen jammernd und heulend an ihren Haaren zu raufen, schlugen
sich gegen die Brüste, zerfetzten die Kleider, und von den Dächern wogte
ihr Klagegesang in die Nacht hinab. Dicht vor meinen Füßen aber riß, bis
zum Wahnsinn erregt, sich die wütende Menge unter den Kolbenschlägen der
Soldaten darum, ein Stück des Weges den Sarg zu tragen, der, von dem
Lichte der Fackeln umflossen, hoch über den Häuptern des Volkes erhoben
die unendlich schmale Gasse dahinschwebte. Endlich öffnete sich das
Feld, die Menge flutete auseinander, und ein kühler Wind strich aus der
Wüste her. Halsbrecherisch stolperten wir im Dunkel über Hügel und
Gräben. In Grabtücher gehüllt, versank der Leichnam, von den
verlöschenden Lichtern beleuchtet, und während ich an der offenen Grube
dem Toten einige Worte nachrief, wurde er in der Tiefe mit gebrannten
Tonziegeln übermauert. Sturm wehte und ein heftiger Regen begann zu
stürzen, als wir endlich im Dunkel aus der Wüste nach Hause tappten. --

Wieviel Tage seitdem verflossen sind, ich weiß es nicht mehr. Ich ging
in einem Traume dahin. Denn mag es auch nicht unrühmlicher sein, wie ein
kranker Baum an Händen und Füßen mit Schutzringen umgeben, im Dunkel
fiebererfüllter Hospitäler von Ungeziefer gebissen zu werden und daran
zu sterben, als an der Wut unvernünftigen Eisens zu verbluten, so würde
es doch meiner Aufgabe wenig entsprechen. Und während der widerliche
süße Geruch der Medikamente und faulenden Wunden alle Räume des
Lazarettes erfüllt, während ich auf dem Dampfer den Tigris von Kut el
Amara hinauffahre, um zu sehen, wie an jeder Landungsstelle neue Tote an
das Ufer gebracht werden, während ich immer wieder erlebe, wie an meiner
Seite die Sterbenden die Maske des Todes auf ihr Gesicht setzen,
überkommt mich zuweilen eine stumme und wilde Verzweiflung: genug!
genug! einmal auch etwas anderes zu sehen als Schmerz, Eiter und Wunden!
Lohnt es denn zu leben in einer Welt, die von nichts als dem Atem der
Verwesung erfüllt ist? Lohnt es denn noch zu sterben in einer Zeit, wo
selbst der Tod unwichtig oder billig geworden ist wie eine geringe
Münze?

Draußen steht der Frühling und hat noch den Staub der Wüste mit einem
grünen Mantel bedeckt. Die Schwalben flattern bis in unseren
Operationssaal, so dicht über unseren Köpfen, daß ihr Flügel zuweilen
den entblößten Leib der Gemarterten streift. Das Hochwasser hat alle
Palmengärten mit plätschernden Bächen erfüllt. Zitronen und Mandarinen
duften schwermütig und berauschend, Wiesenschaumkraut und Sumpfdotter
blühen. Und zuweilen, wenn der Südsturm über die Palmengärten fährt, die
langen Blätter der Schöpfe wie aufgelöstes Frauenhaar über ihren Nacken
werfend, setze ich mich an den Fuß der alten Lehmmauern und schließe die
Augen. Dann ist mir, als hörte ich das Rauschen der deutschen Wälder
wieder und sehe das Laub der Eichenbäume in der Sonne erzittern. Die
Frösche quaken, und das Heimchen zirpt in der Wüste, und mir ist, als
sähe ich Euch, Ihr geliebten Mütter, den Weg heraufkommen, ein altes und
ein alterndes Gesicht. Ich küsse das weiße Haar Eurer Schläfen und
schaue in die blaue Güte Eurer Augen, die mich beschützt hat in allem
Unheil dieser Tage, und die mir hilft, das Werk zu Ende zu tragen, das
mir alleine zu schwer ist.



     Letzter Brief an die Eltern, Brüder, Freunde, Mitmenschen und
                              Geliebten[1]


                                           Bagdad, den 18. April 1916.

Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, Ihr Geliebten, fragte ich mich
erstaunt: wie? du lebst noch? Und ich fühlte es stündlich, daß auch über
meinem Wege eine gefällte Palme lag.

Seit zehn Tagen ist der Feldmarschall an Fleckfieber erkrankt. Eine
Woche pflegte ich ihn, fühlte seine zitternden Arme in den meinen, sah
in jenem kartenbehängten Zimmer, in dem sie sein Bett aufgeschlagen
haben, aus den Kissen die rührenden Blicke seiner Geduld und Güte
leuchten, die noch immer die Welt mit Wissen und alter Liebe zu umfangen
schienen. Am siebenten Tage fand ich bei der Heimkehr in meiner Wäsche
jenes kleine blutgefüllte Tier, das nun seit Monaten schon für uns das
Sinnbild des Todes bedeutet, und das der bekannte Überträger des
Fleckfiebers ist. Seit jenem Tage wußte ich, wie es um mich stand, und
während mich noch die Angst um dieses greise Leben mit Bangen erfüllte,
sah ich die eigene Jugend an den Rand der Vernichtung gestellt. Wenn ich
des Abends den Tigris hinunterblickte, an dessen Ufern Fischer eine
Seffineh stromaufwärts treidelten, immer dachte ich: wie schön ist es,
ihren Gesang noch einmal zu hören! Und ich sah den Arabern zu, die in
einer Kuffe über den Strom fuhren, und dachte: betrachte es recht -- so
setzen sie ihre kleinen Ruder ins Wasser, so wirbelt die Flut hinter
ihnen her. Gestern stieg ich in der Finsternis auf das Dach, den Mond zu
betrachten, und zu jeder Stunde sagte ich mir: nimm noch zwei Augen voll
Schönheit mit in die Dunkelheit.

[Fußnote 1: Dieser Brief wurde zu Beginn einer schweren Erkrankung
geschrieben, als der Verfasser nach menschlichem Ermessen damit rechnen
mußte, nicht wieder zu gesunden.]

Heute mittag, nachdem ich die Nacht unter Erbrechen und grauenvollem
Kopfschmerz zubrachte, trat das erste Fieber bei mir auf, das schnell zu
steigen beginnt. Seitdem kann für mich kein Zweifel mehr gelten, mein
durch so viele Krankheiten geschwächter Körper, mein allzu beflügeltes
Herz wird diesem neuen Ansturm nicht widerstehen. Aber seitdem ich diese
feste Gewißheit habe, nach all den nächtelangen Zweifeln der vergangenen
Tage, kommt fast eine stille Heiterkeit über mich. Auch der Tod ist nur
eine Gedankenüberlegung, eine andere Art zu leben. Wer ihn erst geistig
überwand, den kann er nicht mehr erschrecken. Der Reiz des Daseins hat
für mich immer darin bestanden, daß es einmal mit dem Tode endet. Nicht
an dieser Stelle habe ich ihn erwartet, aber auch hier soll er
willkommen sein.

Hinter mir steht mein arabischer Diener, er hat Blumen in mein Zimmer
gestellt und erwartet ein Lob, aber ich achte nicht auf ihn und seinen
schüchternen Versuch, mir Gutes zu tun, so sehr bin ich von dem Gedanken
des Sterbens erfüllt. Es ist vier Uhr nachmittags, draußen blühen die
Palmen in gelben Dolden, der hellste Sommer steht über dem Land, und ich
beeile mich, die letzten Stunden, da ich noch klar bin, Abschied von
Euch zu nehmen. Denn bald werde auch ich daliegen, wie ich so viele
gesehen habe, meiner selbst nicht mächtig, von furchtbaren Zuckungen
erschüttert, der Sprache beraubt, und mit blicklosen Augen, die ihre
Welt nicht mehr kennen. Losgerissen wird meine Seele durch alle Räume
der Erde flattern, als triebe ich im Südsturm, der die Wellen des Tigris
auftürmt, auf einer führerlosen Kuffe, inmitten des wütenden Stromes
ganz alleine durch die unendliche Verlassenheit dieses Landes dem Meere
zu, dessen Rauschen mich mit Gesang begrüßt.

Aber vom Tode umschattet, hebe ich noch einmal aus den Tiefen meiner
Seele das Bild Eurer Gesichter, langsam wie man aus dem Grunde
verschütteter Städte die Reste alter Tempelmauern und Wohnstätten
emporhebt. Und ich frage mich: seid Ihr das wirklich? In welchen
fabelhaften Zeiten habt Ihr gelebt? Wer wart Ihr, die Ihr durch mein
Leben schrittet, fremd und liebend zugleich? Wie könnte ich Euch beim
Namen nennen? Seid Ihr mir in dieser Stunde nicht alle gleich nah,
Eltern, Brüder, Freunde, Mitmenschen und Geliebte? Ihr kleinen Knaben,
mit denen ich in meiner Jugend befreundet war. Ihr weichen Wangen der
Mädchen, blaß und hinreißend schön wie der Glanz des aufgehenden Mondes.
Und Du, alterndes Gesicht einer schneeweißen Frau, weise und mit
rätselhaften Falten bedeckt -- wenn es einen Schmerz für mich in dieser
Stunde gibt, so ist es der, Dich verlassen zu müssen, Dir Leid zu
bereiten. O nicht die kleinste Geste Eures Lebens bleibt mir in dieser
Minute fern. Euch, die ich liebte, denen ich mit Zärtlichkeit weh tat.
Und doch, wann war es, daß ich durch Eure Mitte ging? In so verschüttete
Tiefen sankt Ihr hinab, daß ich Euch nicht wiedererkenne. Welcher Teil
meines Leibes, meiner Seele blieb an Euch haften? Ach, wenn ich eines
bedaure, so ist es, ohne Kinder sterben zu müssen, ohne Sohn, ohne
Mädchen, das die Mutter kommender Geschlechter würde. Wie schön, wie
unsagbar reich war dieses Leben, das ich mir baute, und doch soviel
Samen der Liebe vergeblich verschwendet. Wie fremd war Euch meine Bitte
-- ach, ich begreife, daß Ihr es höher schätzen mußtet, frei zu sein,
als die namenlose Mutter meiner Kinder zu werden!

Aber verzeiht, wenn meine letzten Gedanken nicht Euch gewidmet sind,
wenn sie sich auf jene dämmernde Zukunft der Menschheit richten, für die
ich die Verpflichtung fühlte, zu sein, der mein künftiges Leben geopfert
wurde. Und vielleicht liegt nur darin die Schwere des Abschieds dieser
Stunde, daß ich der Erde den Dank nicht zeigen kann, den ich ihr
schulde. Jener tiefste Schmerz des Mannes, der Welt nicht mehr beweisen
zu können, was wir vermochten. Für Dich, Du vielgestaltete unendliche
Masse der Völker, die Du, im Elend und im Glücke leidend, an Deinen
Herrschern zugrunde gehst, Dich in Deinen Kriegen verblutest.

Das Vaterland schuldet mir keinen Dank. Aber auch in mir stirbt die
Menschheit ihren traurigen und namenlosen Tod. Auch ich litt für sie,
auch ich konnte sie nicht erlösen, so inbrünstig dieser Wille in mir
war. Vielleicht bleibt es dabei ein geringer Trost, immerhin an den
Mühen gestorben zu sein, schmerzleidenden Menschen Linderung zu
bereiten, wenn ich mir auch in keiner Stunde verhehlt habe, daß die
Sehnsucht, die mich in diese Länder trieb, die Erde in allen Weiten und
Tiefen zu erschöpfen, nicht geringer in mir gewesen ist.

Und so lebt denn wohl, lebt wohl, Ihr Geliebten! Zum letzten Male grüßt
Euch Euer Sohn, Bruder, Freund und Mitmensch

                                                         Armin Wegner,

im Dienste der Menschheit sterbend an der Unersättlichkeit des Lebens.

Lebt wohl! lebt wohl! Ihr Geliebten!



                            An eine Freundin


                                               Bagdad, den 25. Mai 16.
                                             Am Tage der Auferstehung.

Nach so viel stummen und verschwiegenen Grüßen, so viel liebend
gefalteten Büchern und Päckchen mit Süßigkeiten, halte ich endlich den
Brief meiner teuren Freundin in der Hand. Es ist seltsam mit diesen
Briefen in der Fremde. Wir haben eine Liebschaft mit ihnen, wie mit
einer zärtlichen Frau, als wollten wir ohne Ende sagen: »Küß mich noch
einmal! So, Dein Gesicht an meine Seite.« Und obwohl wir sie siebenmal
gelesen haben und lange auswendig wissen, werden wir doch nicht müde,
immer von neuem ihre Züge zu betrachten.

Nun aber blickt ein Auferstandener in diese Augen, einer, der von
zwiefachem Tode heraufkommt und, aus ohnmächtigem Schlaf erwachend, sich
mit der Hand über die Stirn streicht: ja, es ist die Erde, es ist das
Wort geliebter Seelen, das an dein Ohr tönt. Noch schwankt der Boden
unter meinen Füßen, noch begreife ich nicht, daß diese Fülle des Glückes
mir geschenkt war. Noch zweifle ich am Tag und der Stunde der Heimkehr,
der langen, mühseligen Reise durch eine lieblose und sonnendurchglühte
Wüste gedenkend. Aber vielleicht habe ich hier die Wendung jener
rasenden Laufbahn erreicht, die bestimmt scheint, mich durch alle
Schrecken und Finsternisse zu treiben! Oft frage ich mich erstaunt, wie
ist es möglich, daß das Leben in dir noch neben dem Tode Raum hat? Und
muß ich der Erde nicht dankbar sein, wenn sie mich Wiedergewonnenen so
immer von neuem liebend an ihre Brust reißt? Muß ich nicht heiter sein,
obwohl ein Leben bitterster Enttäuschungen mich im Mutterlande erwartet?

Ich rüste zur Heimkehr. Kein Wort, kein Gefühl klammert sich an mich,
das stark genug wäre, mich in diesen Mauern zu halten. Vereinsamt schaue
ich mich unter der Schar dieser Männer um, unter denen ich fast alleine
zurückblieb. Die Herzen haben mich verlassen, um derentwillen ich durch
diese Wüste reiste, und mir blieb nichts als die traurige Pflicht, ihnen
das Bett des Sterbens zu bereiten. Noch sehe ich die Augen des greisen
Feldmarschalls auf mich gerichtet, höre das Wunder seiner Stimme, die,
schon vom ewigen Schlafe befangen, in dem Dunkel ferner Schlachten
umherging, und zur selben Stunde, da der geliebte Leichnam, auf die
Lafette einer Kanone gebunden, in eine Wolke von Musik gehüllt, seinem
letzten Hause unter den Mauern uralter Kalifen entgegenschwebte, trug
mich selber das Boot über den Kühle atmenden Fluß, schwankte ich
fieberdurchglüht dem Ufer zu, mich selber zum Sterben zu bereiten. An
dem Geländer des Hospitals stand ein anatolischer Soldat, den ich vor
Monaten in schwerer Krankheit gepflegt hatte, dessen volle Gestalt ich
kaum wiedererkannte. Und nicht ohne Verbitterung dachte ich: du hast
deine Gesundheit aus mir getrunken, dein schwerer Leib zieht mich selber
hinab. Aber die Wage stieg von neuem, und nicht ohne Wehmut bekenne ich:
also auch hier solltest du hindurch! Die Sonne des Sommers öffnet ihren
weißen Himmel. Ich habe meine Toten begraben. Der Weg ist frei. Das Band
ist zerrissen, das mich an ihre Tage gefesselt hat, das mich glücklich
machte, in ihrem Schatten zu leben.

Aber je mehr ich so der Stunde gedenke, da unter meinen Füßen die Meile
des Weges wieder kleiner wird, um so stärker erkenne ich, wie von Tag zu
Tag die Mühe unsäglicher wurde, die meinem geschwächten Leibe bereitet
ist. Und schon ruft eine sieche Steppe, rufen die Blätter verbrannter
Palmen mir entgegen: es ist zu spät! Die gelbe Glut einer böse
blickenden Sonne hat eine unsichtbare Mauer um unser Haus gezogen. Das
Thermometer in unseren Brusttaschen steigt auf einundvierzig Grade, als
wollte es sagen: sieh, auch die Mutter Erde atmet im Fieber. Wir leben
in den Kellern. Vor unseren Fenstern hängen breite Rahmen aus
Palmblättern, die mit Kameldorn gefüllt sind und mit Wasser begossen
werden. Die Hunde vor unsern Türen liegen in einer Pfütze von Schweiß.
Wir warten, bis es Abend wird, dann kriechen wir aus unseren Verstecken,
steigen auf die Dächer, wo wir unsere Betten ausbreiten, und liegen
schlaflos und warten auf den Nachtwind. Über uns wachsen die Sterne, die
goldenen Früchte eines riesenhaften Baumes, und ich brauchte nur die
Hand auszustrecken, so griffe ich in ihre Krone und pflückte sie alle in
Deinen Schoß. Zuweilen erhebt sich urplötzlich aus der Ebene ein
Sandsturm. Dunkle Wolken wirbeln aus der Tiefe herauf, der feine Sand
fällt über Gesicht und Hände, das Mückennetz bläht sich, ein gefülltes
Segel, und plötzlich rollt unser ganzes Bett über das flache Dach dahin.
Die Leinentücher flattern nach allen Seiten, die Schlafschuhe wandern,
und der mit Wasser gefüllte Tonkrug, an dem unsere Lippen Tag und Nacht
verdurstend hängen, bricht in Scherben.

Wenn aber der Mond scheint, füllt sich die Ebene mit einem zarten Licht.
Blaue Dämmerung steigt aus den Palmenhainen, zerfließt weich in die
Steppe. Wie klein wird die Erde unter uns. Dann ist mir, als wüchse mein
Leib unendlich in die nächtliche Landschaft hinaus. Mein Haupt ruht in
Mossul, meine Füße rühren an die Trümmer von Babylon. Meine rechte Hand
liegt auf den Dächern von Damaskus, und mit der linken greife ich in die
Schneeberge von Luristan. Durch mich rinnt eine unendliche Ader, der
Tigris. Zu ihm kommen die Verwundeten, die Kranken, die Gefangenen, die
Sterbenden, Wasser zu schöpfen. Bin ich ein Strom, an dessen Ufern die
Regimenter des Todes lagern, um zu trinken? Ich habe kein Blut mehr in
mir. Dies Land hat mich zu seiner Scholle gemacht, in deren Tiefen die
Flut versiegt ist, und auch mein Leib ist zur Wüste geworden, von
verdorrenden Gräsern bedeckt und von heißen Winden geschlagen.



                            An die Mutter[2]


                                                    Bagdad, im Mai 16.

Auch Du, meine Mutter, hast Deine Söhne der Vernichtung geboren. Auch Du
hast gedarbt, um Erkenntnis gerungen, schlaflos gelitten, daß Deine
Kinder reif würden für die Stunde des Todes. Und auch Deinem alternden
Leib ruft eine barbarische Zeit entgegen: gebäre noch einmal. Werde noch
einmal Mutter, daß neues Blut da sei, das auf den Schlachtfeldern und in
den Laufgräben fließe!

O die große Lüge, die wir niemals vergessen werden, die falsche Sonne,
die über der vorgeschichtlichen Zeit unserer Kindheit leuchtete. Denn
wofür haben wir gekämpft? Wofür trugen wir Arbeit und Hoffnung so viele
Jahre hindurch? Wofür bauten wir Eisenbahnen und Dampfschiffe,
errichteten Schulen, Fabriken und Krankenhäuser, lehrten unsere Kinder
weise, kräftig und pflichttreu zu sein? Glaubten wir wirklich, daß wir
die Menschen näher aneinander rückten, Völker an Völker, Herzen an
Herzen zu binden, die Güter der Erde dorthin zu tragen, wo ihrer Mangel
wäre, und die Armut zu töten? O die große Lüge, die große Lüge! So viel
Wunder des Geistes und der Hände, nur daß wir Mittel hätten, Soldaten
schneller dorthin zu werfen, wo sie Menschen fänden, zu töten;
bewaffnete Mörder noch über die weitesten Meere zu tragen, Männer, weise
und klug und tapfer für die Geschäfte des Mordens, und Werkzeuge und
Folterkammern des Todes. Dreitausend Jahre haben wir die Sehnsucht in
uns getragen, in die Lüfte zu steigen, und da sie endlich in Erfüllung
ging und wir fliegen lernten, da hoben wir uns in die Lüfte und warfen
den Tod vom Himmel auf die Erde herab.

[Fußnote 2: Dieser Brief wurde von der Zensur festgehalten und
veranlaßte die Rückberufung des Verfassers aus der Türkei.]

So viele Reisen über Gebirge und fremde Länder, so viele Wanderungen
durch Städte, durch blühende Ortschaften, wir vollführten sie nicht, daß
wir die Erde lieben lernten. Wir suchten nur nach den Schwächen unserer
Brüder, daß wir besser wüßten, wo ihre Wunde schmerzhaft ist. Und immer
noch wird jeder Tag zum Laufbrett einer neuen schändlichen Handlung,
immer noch rollt diese Kugel, deren knöchernes Klappern uns aus halbem
Schlummer emporweckt. Glaubten wir nicht, erblindet zu sein vor dem
Schmerz dieser Zeit, gewappnet gegen die Gefühle in unserer Brust? Ach,
es gibt Falten in dem Gesicht dieses Elends, die sich so unauslöschbar
einprägen, daß wir sie niemals vergessen werden.

Gestern kamen die gefangenen Engländer aus Kut-el-Amara an. In langen,
staubigen Zügen trieb man sie durch die Gänge des Basars, durch die
gaffende Menge der Händler und Straßenverkäufer, daß sie unter dem Hohn
der Handwerker, unter dem Zischen der Wechsler doppelt empfänden, wie
tief sie gedemütigt sind. An ihrem Ende erhob sich eine unübersehbare
Reihe grauer Kamele, nur mit den Stricken ihrer Halfter
aneinandergefesselt, auf ihrem Rücken die traurige Last jener Gestalten
schleppend, die, von Hunger und Krankheit geschwächt, ihre Füße nicht
mehr tragen konnten, die fast aufgehört hatten zu atmen und in leblosen
Bündeln an den hölzernen Lastsattel der Kamele geklammert hingen. Aus
ihren lehmfarbenen Hosen ragten die von der Sonne geröteten und
geschwollenen Knie, deren Haut sich in Fetzen zu schälen begann, und mit
langen, dürren Fingern griffen sie nach den Gurken, die mitleidige Hände
ihnen reichten, und bissen gierig in das grüne Fleisch. Hier wankten
Gestalten, die, barfuß und halb entkleidet, den letzten Rock, ihre
Stiefel für ein Stück Brot, für eine Handvoll Datteln gegeben hatten.
Auf ihren spitzen Schultern hing, wie über einen Stock gezogen, das am
Rande ausgerissene Hemde, bei jedem Schritt ihre Scham entblößend, und
zitternd erhob sich aus der Menge ihr grauenvoll ausgehungertes, noch
immer mit dem Tropenhut bedecktes Haupt, das auf dem langen Hals wie der
klappernde Kopf einer Mohnstaude schwankte. Araber hatten mit Wasser
gefüllte Tonkrüge vor die Haustüren gestellt, aber die türkischen
Soldaten drängten die schmachtenden Inder beiseite. Ab und zu blieb
eines der Kamele stehen, um beim Weiterschreiten das nachfolgende an
seiner Leine mit einem jähen Ruck aus der Ruhe zu reißen, daß die
schlaffen Glieder ihrer traurigen, immer noch atmenden Last
schmerzhaft zusammenschlugen. Zuweilen schien es, als müßten,
durcheinandergeschüttelt, diese Augen aus ihren vertrockneten Höhlen
fallen, um im Staub unter den Füßen der Tiere zu sterben, die
wiederkäuend mit schaumtropfender Lippe, bald vor- bald rückwärts
gerissen, eine jammervolle Kette des Elends aus dem Dunkel des Basars
von neuem in die glühende Sonne der Wüste tauchten.

Am Abend ging ich durch das Lager der Gefangenen. In der grauen Asche
des Staubes lagen ihre Leiber gleich verkohlten Knochen umher. Kleine
schlitzäugige Gurkhas und die zarten Glieder der Sikhs, deren
fremdartige Augen leidend zu mir aufblickten, aus deren Tiefe die Flamme
uralter Gottesverehrung brach. Dazwischen blonde Gestalten, noch
knabenhaft und kaum der Mutter entwachsen, mit einem unsagbaren Ausdruck
des Nicht-dafür-Könnens, armselige Gestelle von Lumpen. Und wie ich sie
so liegen sah, halbnackt, fassungslos aufgelöst, ganz der steigenden
Kühle des Nachtwindes hingegeben, da mußte ich mir unwillkürlich sagen:
wie merkwürdig, daß es noch eine Erde unter den Füßen dieser Verdammten
gibt, um darauf zu schlafen, daß nicht auch unter ihnen eine Sonne
glüht, daß ihre Füße nicht auf zwei spitzen Pfählen stehen oder auf
einem brennenden Rost, statt auf sonnendurchglühter Wüste ... ja, die
Erde ist barmherziger als wir.

Und doch ist dieses nur der Ausschnitt einer Stunde, der millionste Teil
des Elends, das von allen Seiten der Erde aufbrüllt und um Erlösung
schreit. Ich brauche nur die Zeitung aufzuschlagen, so finde ich eine
endlose Liste versunkener Schiffe, die die Ernte dieses einen Monats
bedeutet. »Den ersten Mai ein bewaffneter englischer Bewachungsdampfer,
zwei französische Hilfskreuzer vor Le Havre, ein französischer Kreuzer
La Provence mit 4000 Mann wovon 3300 ertranken ....« Das sind die
bluttriefenden Trophäen, die ein über alles geliebtes Deutschland gleich
den zahllosen Kopfhäuten eines skalpierenden Indianers triumphierend an
die Schnalle seines Gürtels hängt! Hat je ein Mensch so viel Kraft der
Vorstellung besessen, daß er sich ausmalte, wie Tausende von Männern in
wahnsinniger Todesangst auf dem Deck eines sinkenden Schiffes
durcheinanderrennen in einem einzigen tierhaften Schrei der Empörung,
hat je eine Mutter es vor sich gesehen, wie die Not menschlicher Arme
durch einen Brei von Blut und zerstückelten Leibern zu schwimmen begann
-- und ging nicht hin und riß sich das Haupt von den Schultern, dies
nicht zu Ende zu denken?

O meine Mutter, wie arm und schwach sind wir geworden. Wir sterben vor
Scham, in einer Welt leben zu müssen, die so wenig dem Abbild unseres
Herzens gleicht. Auch Du mußtest einem Gotte opfern, den Du nicht
verehrst. Auch Deine Söhne hängen in den Speichen eines Rades, das sie
zu zerreißen droht. Glaubten wir nicht unverwundbar zu sein? Hatten
unsere Seelen nicht in dem Drachenblute dieser furchtbaren Zeit gebadet?
Aber Mitleid und Liebe ängstigt und foltert uns. Auch uns blieb wie
Siegfried eine verwundbare Stelle in der Hornhaut der Seelen, und durch
die schmale Öffnung zittert der grausame Speer, uns bis in die letzten
Tiefen zerfleischend.

                                                Dein gefesselter Sohn.



                             An die Mutter


                                             Babel, den 18. Juni 1916.

Meine arme Mutter, als ich Dir das letztemal schrieb, wußte ich noch
nichts von dem Tode unseres Bruders, und doch ist mir, als müßte eine
Stimme aus einer Ecke des Weltalls zu mir gesprochen haben, daß ich Dir
dieses sagte: auch Du hast Deine Söhne der Vernichtung geboren. Als
könnte ich Dir heute nur all jene Worte wiederholen, die ich Dir damals
schrieb.

Vor zwei Tagen ging ich auf das Armee-Oberkommando, um einen Urlaub nach
Babylon zu erbitten. Jemand gab mir einen versiegelten Brief in die
Hand, ich lief die Treppe zum Fluß hinunter, um das Boot zu besteigen,
und im Hinabschreiten öffnete ich den Umschlag. Als ich den schwarzen
Rand erblickte, dachte ich gleich: es ist der Vater. Dann las ich von
dem Tode unseres armen Ikarus, der so früh seine Flügel gebrochen hat.
Eine Weile später stand ich in dem Hof des deutschen Etappenoffiziers
und hörte, wie eine Stimme zu mir sagte: »Was machen Sie für ein
Gesicht? ...« Da fühlte ich, von Krankheit und Hitze geschwächt, wie mir
die Tränen aufstiegen, und konnte nicht sprechen.

Ich fuhr den Fluß zurück über das opalfarbene Wasser, badende Knaben
scherzten am Ufer, der volle Mond erblühte am Himmel. In dieser Nacht
schlief ich wenig. Immer sah ich die Gestalt meiner Mutter vor mir, sah
eine unendlich zarte, pergamentene Hand, unter der sich die blauen Adern
abzeichnen, wie sie inmitten fremder Menschen und der kalten
Geschäftigkeit eines ungerührten Soldatenlebens an dem Sarge ihres
Kindes stand, mit einer schüchternen Bewegung ihrer weißen Finger über
seine blonde Stirne streichend, als wollte sie noch einmal sagen: mein
Junge. Und ich sehe uns ältere Brüder mit einem bunten schottischen
Kleidchen zwischen uns durch den Garten unseres Hauses rennen, daß uns
die kleinen Beine kaum folgen können, blonde Härchen, über denen eine
weiße Pudelmütze hing mit einem Ponpon daran. Und ich sehe unsern Bruder
nach Hause kommen mit seinem zerbrochenen Ärmchen, dem der Knochen aus
dem Gelenk gerissen war, weil er schon so früh seine Seiltänzer- und
Fliegerkünste auf den regenglatten Barrieren des Viehmarktes übte, und
ich denke, daß er eigentlich immer unglücklich in seinen Unternehmungen
gewesen ist. Armer Ikarus! Vielleicht findet meine Mutter heimkehrend
zwei braungewichste Schuhe in einem Winkel des Zimmers, blank wie eine
Kastanie, einen seidenen Schlips, auf den er stolz war, und ich bin
nicht bei ihr, ihr die Tränen von den Wangen zu küssen.

Im Dunkel gehe ich noch einmal an den Fluß hinab. Unter den Palmen haben
türkische Soldaten ihre Zelte aufgeschlagen. Sie liegen, ihrer Uniform
ledig, in ihren zerrissenen Hemden auf der bloßen, noch warmen Erde,
ihre Lämmer, die sie morgen schlachten werden, in ihrem weißen, wolligen
Fell am Boden ruhend, zwischen sich; und ich denke, daß auch sie alle
nur geopferte Menschen sind. Aber da sehe ich die Gestalt meiner Mutter
von neuem zwischen den Zelten auftauchen, blaß vom Mondlicht beleuchtet,
und wieder sehe ich diese schmale, blaugeäderte Hand vor mir, die
zärtlich nach der Stirne ihres Kindes greift. Ich steige auf das Dach
unseres Hauses und werfe mich auf die Decken. Aber ich kann nicht
schlafen. Ruhelos liege ich, bis der Mond untergeht.

Gestern bin ich nach Babylon gefahren. Wir reisten die Nacht durch. Ich
saß mit Arabern in einem ungefederten Pilgerwagen, der von vier
Maultieren gezogen wurde. So rasten wir, von Gendarmen begleitet, durch
die Wüste. Einmal an einer Wasserstelle traten einige hinaus, breiteten
ihren Teppich auf den Boden und standen zwischen Sonne und Mond über dem
ungeheuren Zifferblatt dieser Ebene, das Gesicht gegen den Himmel
gerichtet. Wie nahe empfand ich sie mir in dieser Stunde, als sie
niederknieten, voll Anbetung diese ewige Erde mit der Stirn zu berühren,
und als ich den Wagen bestieg, stolperte ich absichtlich, mit der Hand
in den Staub greifend, erschüttert von der Erhabenheit dieser Natur. Um
Mitternacht hielten wir an einer Karawanserei. Ich ließ mein Bett auf
dem Dache des Hauses ausbreiten, aß etwas Brot und Käse und öffnete
meine Kleider dem Nachtwind. Unten bewegten sich Araber phantastisch im
Mondlicht, ein kleiner Junge verkaufte Buttermilch aus einem
Ziegenschlauch. »Libben, Libben,« sagte seine schläfrige Stimme.

Um zwei Uhr weckte mich mein Diener. Wieder rasten wir im Galopp durch
die Wüste, und wie glücklich war ich, die Erde von neuem unter mir
gleiten zu fühlen. Kamel- und Ziegenkarawanen schwammen im Zwielicht mit
wunderlichen Köpfen an uns vorbei. In der hellen Sonne hob sich die
Staubkrone von Babylon aus der Ebene. Wieder dringt eine neue Welt auf
mich ein, und zwischen Palmenhainen, Dorfhütten und Ziegelruinen
versunkener Riesenpaläste fühle ich zwischen den vielen
Unbegreiflichkeiten, die mich unter einem heißen Himmel in ausgebrannter
Seele bewegen, auch diese, daß mein Bruder gestorben ist. Vielleicht
empfinde ich weniger als ihr den Schmerz dieser Stunde, von den
Gesichtern fremder Menschen und Landschaften umstellt, den Schmerz, der
vielfach gestaltet in den Straßen der Heimat auf mich wartet, um in der
Stunde der Heimkehr über mich herzufallen. Vielleicht hat eigenes Leiden
mich müde gemacht, in jenen Stunden, da auch ich abgeschlossen hatte mit
meinem Leben, dessen Tagebuchblätter mit vielfachen Zungen zu mir reden,
auf deren leergebliebenen Seiten jener Zeit ich nichts geschrieben finde
als die Worte: »Meine arme Mutter.« Wann werden meine Augen, die so viel
Blut getrunken haben, noch einmal die Tage der Schönheit und des
Friedens schauen? Wann werde ich wieder den Duft blühender Veilchen
riechen? Fortzugehen aus dieser Welt des Jammers und der Verbrechen,
nichts zu sein als ein Baum, ein Stein am Wege, eine Blume im Wind ... o
meine Mutter, wer das könnte! Aber glaube mir, daß auch auf Deine Lippen
noch einmal ein Lächeln treten wird, wenn aus den Händen Deiner Söhne
die starken Früchte erwachsen, die Du ersehntest. Sieh, noch aus den
tiefsten Abgründen der Erde wollen wir das Glück der Kommenden in die
Höhe bauen, daß Sonne auch um Deine alternde Schläfe spielt, die ich
mich zärtlich neige zu küssen. Ach, möchtest Du im Elend so glücklich
sein, wie Dein trotz aller Leiden des Körpers und der Seele von tausend
starken, unerschöpflichen Gedanken verfolgter Sohn, dessen Liebe bei Dir
sein wird immer, immer.



                            An einen Freund


         Hans Feige, gestorben den 2. Februar 1917 zu Sipote in
                      rumänischer Gefangenschaft.

                                               Babel, den 24. Juni 16.

Mein lieber Hans, es scheint, als wenn eine unsagbare Macht mich abhält,
meinen Freunden zu schreiben, die im Felde stehen. So erging es mir mit
Fritz v. Z., bis er gefallen war, da bereute ich mein langes Schweigen
zu spät. Was ist es, das mir die Brücken zerbricht, die zu jenen
hinüberführen? Ist es die Unmöglichkeit der Vorstellung, daß Menschen,
die das Leben meiner Gemeinschaft führten, in das Rad einer Maschine
gespannt sind, die Betätigung eines Handwerks verrichten, das meinem
innersten Gefühl so sehr widerspricht? Ist es die Erkenntnis, trotz
aller Jahre der Freundschaft, aus Knabentagen heraufgewachsen, trotz
aller Gleichartigkeit der Gesinnung irdische und seelische Weiten
zwischen sich zu fühlen, die zur Stunde noch unüberbrückbar sind? Ich
habe mit stiller Genugtuung Deine Briefe gelesen. Nein, Du bist Dir treu
geblieben. Noch zwischen Bajonetten und dem kalten Regen der Schüsse
sehe ich Deine Seele tanzen. Noch in Laufgräben und Unterständen sind
süße Frauen an Deine Seite gebettet.

Vielleicht schmerzt es mich, daß Du meine letzten Worte so wenig
verstanden hast, daß Du Gefühle an Dich gerichtet empfinden konntest,
die so sehr anderen Menschen galten. Aber ich will jenes Briefes, auf
Krankenbetten, in Bitternissen geschrieben, nicht wieder gedenken. Hier
liegen Monate, die der gefolterten Seele Jahrtausende sind. Nur zu
lieben, zu schaffen ist meine Seele bereit, zwei Berufe, für die diese
Zeit sie schwach und untüchtig gemacht hat. Was soll ich Dir sagen? Wenn
ich ein Land wüßte, dem Krieg zu entfliehen, eine Scholle oder die
Schroffe eines Berges, noch seinem leisesten Echo fern zu sein oder dem
unüberwindlichen Geruch des Blutes, den der Wind über die Erde hinträgt,
würde ich, ein Soldat, mit den heiligsten Eiden berufen, Wunden zu
heilen und Trost zu sprechen, nicht diese Stätten des Unheils und der
vermodernden Schädel verlassen, wortbrüchig, aber treu der heiligsten
Pflicht der Seele? Würde ich nicht schwach genug sein, dem Drange nicht
länger zu widerstehen in der Unerreichbarkeit der Fremde, sollte ich
auch Mutter, Freunde und Geliebte für immer verlassen, für mich, ein
Einzelner, das Gebäude des Friedens und der Arbeit neu zu errichten? Und
wenn es dennoch einen Ort gab, an dem ich Ruhe fand, eine Stätte, an der
ich glücklich wurde, so war es unter dem Dache dieses Hauses, das aus
den Trümmern Jahrtausende alter Ziegel erbaut ist, bei dem
melancholischen Gesang der Wasserheber, im Schatten uralter Palmen und
Maulbeerbäume, den vergessenen Resten des Paradieses, in der
Gemeinschaft einfacher und sinnhafter Menschen, Tagediebe und
räuberischer Seelen (ja, auch diese noch wage ich zu lieben).

Freilich erschien mir auch hier das Rätsel das gleiche, von dem wir
umlauert sind, und nie empfand ich die dunkle Antwort der Erde auf die
Nichtigkeit alles menschlichen Tuns so stark, wie auf den zerbrochenen
Mauern dieser aus ewigem Schlafe erstandenen Stadt, wenn ich im
Abendschatten auf der Höhe dunkelgebreiteter Schutthügel wie auf den
Spitzen verlassener Berge zu stehen glaubte und aus den Spalten der
silberne Ton einer Blaurake sich hob. Denn auch wir waren bestrebt,
höher zu bauen als unsere Väter. Auch wir bauten an einem Turme zu
Babel. Auch wir Völker dieser noch atmenden Erde redeten in vielerlei
Zungen, waren in Wirrnis geworfen und verstanden uns nicht. Und auch
unsere Kinder werden einst einen hohlen Abgrund finden, einen See voll
Wasser, über den der klagende Ton einsamer Vögel hinstreicht, wo wir
einst gewaltige Mauern errichteten, ragende Türme und unendliche
Treppen, in den Himmel zu steigen. Ach, daß wir nicht reif wurden, einen
andern Stern zu betreten, da die Erde nicht Raum hat, uns Erlösung zu
bringen.

Wo bist Du? In welchem Winkel der Schlachten soll ich Dich suchen,
geliebter Gefährte so vieler unwiederbringlicher Jahre? Soll ich auch
Dich unter den Toten wiederfinden? Ich fühle, wie es einsam um mich
wird. Einsam, da ich noch immer von jugendlichem Stürmen erfüllt bin, da
ich erst angefangen habe, zu leben, da ich endlich die Straße fand, nach
der ich so lange suchte. Möchte mir die schmerzliche Stunde erspart
bleiben, als letzter der Freunde zu sterben.

Vor meinem Fenster, im Uferrasen des Euphrat, gehen junge Araberfrauen,
Schößlinge von Palmen im Arm, und wie sie im Schatten der Dorfmauer
hinschreiten, gleichen sie sanftfüßigen Boten des Friedens. Möchten die
zartfingrigen Zweige ihrer Triebe, ehe sie Wurzel schlagen, seine ersten
Tage beschatten. Doch nun sehe ich Dich im Staube der Landstraße
dahinziehen, von Sonne und der fröhlichen Schar der Kameraden umgeben,
das furchtbare Mordgewehr auf dem Rücken, ein Lied singend. »Der Sohn
des Leichtsinns ist immer glücklich!« -- rief mir gestern ein arabischer
Eseltreiber zu, der sich lachend auf das mit blutigen Striemen bedeckte
Tier schwang, und wenn Kummer und Not und die pedantische Hand des Todes
um Dein Haupt sein sollten: bleib mir erhalten, alter Junge!



                          Brief an die Eltern


                                 Im Palmengarten der Karmelitermönche.
                                          Bagdad, den 21. August 1916.

Welches gerechte Erstaunen, welcher Schmerz, Ihr einsamen Seelen, wird
Euch erfaßt haben, als Ihr saht, daß ich fast zwei Monate geschwiegen
habe. Daß ich von Zwiespältigkeiten, Demütigungen und einer Menge nur
halb gelebter Stunden umhergeworfen, mich fast selber vergaß, seit ich
Bagdad, dieses verlogene Gebäude von Schmutz, Staub, glühenden
Backsteinen, schlechtem Essen und knechtischem Soldatenton von neuem
betrat. Denn wir waren kaum aus der »Pfanne von Babel« heraus, als uns
schon auf der Straße nach Mauhanil das Unheil mit verbogenen Federn in
den Staub warf. Als unser Wagen plötzlich zusammenknickte wie ein Kamel,
das sich in die Knie wirft, während die zerlumpten Kutscher unter den
Kolbenstößen der Gendarmen mit einem arabischen »das tut nichts« die
verbogenen Federn mit Bindfaden wieder aneinanderflickten. Ja, ich
glaube, ich verdanke es nur der Güte des Bruders Ägidius, wenn ich im
Schatten seiner Feigenbäume noch einmal dazu kam, mich auf mich selbst
zu besinnen, wenn ich für Augenblicke zurückschauen kann auf Leiden,
Hindernisse und Fallstricke, die ich, ein gehetztes Wild, überspringen
mußte, um endlich zur Ruhe zu kommen. Zur Ruhe zu kommen? ... ach, um
aufgescheucht, atemlos von neuem durch Gestrüpp und über Abgründe zu
stürzen. Denn während ich halb krank durch die Straßen von Bagdad irrte,
wie ein persischer Bettelmönch in einem hauslosen Stande lebend, während
ich jeden Morgen meine Wohnung wechselte, mit der Last meiner Teppiche
und dem zu einem Hausrat angewachsenen Gepäck, während ich in
halbzerfallenen Häusern nächtigte, jeden Tag der Stunde der Heimkehr
gedenkend, erreichte mich eines Abends der Tagesbefehl vom 26. Juli
1916: »Der Sanitätssoldat Wegner wird in die Cholerabaracken
kommandiert.«

Da stand ich im Schein meiner Handlaterne in der Finsternis unseres
kleinen Hofes, faltete das Papier zusammen, und mir war, als hielte ich
mein Todesurteil in der Hand. Von Fieber und innerem Leiden geschwächt,
soeben von den Ärzten eines dreimonatlichen Urlaubs versichert, dennoch
von täglichen Verlockungen bewegt und noch gestern bereit, nach Persien
oder Ägypten zu wandern, erkannte ich an der Unterschrift dieses
Befehls, daß alle Pläne, die ich in den letzten Tagen erwog, mir für
immer zerbrochen waren. Niedertracht und Verleumdung, die mit
gespreizten Beinen auf den Dächern der Stadt reiten, hatten sich an die
Spuren meines Weges geheftet. Der böse Wille eines preußischen
Offiziers, der es nicht duldete, daß meine geringe Verachtung vor seiner
nur mit einer Schlafhose bekleideten Körperlichkeit sich zu verneigen
wagte, statt stramm zu stehen. Denn nach meiner Rückkehr aus Babylon
hatte man mich für kurze Zeit in ein fremdes Haus einquartiert, dessen
Räume ich kaum betreten hatte, als ein mir unbekannter Deutscher im
Türrahmen des Zimmers erschien. An einen vertrauten Umgang gewöhnt,
machte ich eine leichte Verbeugung, da er auf seinen nackten, von
Schweiß geröteten Schulterblättern die Abzeichen seines Hauptmannsranges
in der Tat nicht eintätowiert trug. »Wer sind Sie?« Ich nannte meinen
Namen. Er fragte nach meinem militärischen Rang. Ich würde mich schämen,
Euch die Worte zu wiederholen, die darauf folgten. Am Abend fand ich das
Feldbett, das mein Diener auf dem obersten Dach aufgeschlagen hatte,
eine Stufe tiefer aus dem Wind gestellt. Wenige Tage darauf wollte es
das Unglück, daß ich, noch immer auf die Ausfertigung meines
Urlaubsscheines wartend, mit einer schönen Frau durch den öffentlichen
Palmengarten von Bagdad ging, während der deutsche Etappenmajor vor der
Kapelle seinen Kaffee einnahm. Schon am nächsten Abend hielt ich diesen
Befehl in Händen, der geeignet schien, die Hoffnung auf Heimkehr für
immer in mir zu töten.

Mit wie bitteren Gefühlen, wie schmerzlicher Sehnsucht ging ich in
dieser Nacht auf der Terrasse unseres Daches umher, wo Pater Joseph, mit
dem ich das einsame Haus teilte, sich neben mir auf das von
Palmenzweigen geflochtene Bett warf. »Schlafen Sie ruhig,« sprach seine
Stimme durch das Dunkel, »ich habe es immer gefühlt, daß über Ihnen eine
schützende Hand schwebt.« Ich aber blickte in den nächtlichen Himmel, an
dem violett schimmernde Sterne ihr ewiges Spiel begannen. Ich konnte
mich nicht losreißen davon, daß dies nicht der Wille der Notwendigkeit
war, der mich von neuem auf die Straße des Verderbens stürzte und meinen
kaum wiederhergestellten Körper, den ich nicht ohne Mühe auf den Beinen
hielt, bald wieder auf das Lager werfen mußte. Mein immer bereiter
Wunsch, den Leidenden zu helfen, sah sich gegen eine Mauer haßerfüllter
Blicke gestellt, die gerüstet schienen, mich zu vernichten. Aus den
weißen Laken der Betten sah ich von neuem die Gebärde der Hilflosigkeit
gegen mich Hilflosen gerichtet, die Gesichter des Entsetzens vor mich
hingestellt, vielfach und schmerzlich aneinandergereiht, wie ich sie so
oft in diesen Jahren gesehen.

Da gedachte ich Eurer und Eurer Liebe, die bei mir war, Ihr einsamen
Seelen. Zum ersten Male in meinem Leben, seit vielen Jahren, sah ich
Euch beide vereint wie in den Tagen der Kindheit. Eure Augen trugen den
alten Glanz, aber Kummer und Sorgen hatten Eure Gesichter gezeichnet.
Und von Sehnsucht überwältigt, griff ich zum zehnten Male nach Euren
Briefen, aber es waren die alten, tränenbeladenen Seiten, die von dem
Tode unseres Bruders kündeten. Wieder sah ich Euch abschiednehmend vor
mir stehen, wie Ihr die väterliche und mütterliche Rechte zum letztenmal
dem Sohn auf das tote Herz legtet, wie Ihr beide, ein alterndes
Zwiegespann, müde an dem verwaisten Herde zurückbliebt.

Mit einer bitteren Verzweiflung ging ich in diesen Tagen von neuem an
die Arbeit, bereit, das Letzte zu geben, das in mir war, bemüht um die
Schmerzen neuer Menschen, als hätte es irgendwo dort hinten nie ein
anderes Dasein gegeben als dieses, das mit bolus alber und trockenem
Brot zwischen den Betten umherlief, die mit dem Schmutz der Kranken
bedeckt waren. Eines Morgens fand ich in der Schreibstube zwischen den
Papieren einen geheimen Befehl an den leitenden Arzt des Lazarettes, der
den Vermerk trug: »W. ist so zu beschäftigen, daß ihm jede Lust, in
Bagdad spazieren zu gehen, vergeht.« Man stellte mir also nach dem
Leben, beraubte mich des höheren Ranges, den mir der Feldmarschall
verliehen hatte, zwang mich zu einer Tätigkeit, der ich bei meinem
Zustand nicht mehr gewachsen war, und übertrug mir in schändlicher
Absicht bei täglich zwölfstündigem Dienst noch drei Nachtwachen in einer
Woche. Nur einem Wunder verdanke ich es, daß die Cholera in diesen Tagen
nachließ. Ein an Leiden Erblindeter, irrte ich in den gedeckten Kellern
dahin, lief mit arabischen Handwerkern durch die heiße Sonne, einen
Leichnam in seinen Sarg zu löten, oder stahl mich im Dunkel zwischen den
Palmen hinaus, einem Toten drei Handvoll Erde in die Grube zu werfen,
mit dem ich noch gestern bei Tische saß. In diesen Tagen lernte ich den
Schlaf über alles lieben. Wenn es zuweilen geschah, daß ich des Nachts
emporfuhr, schloß ich erschreckt von neuem die Augen: nicht einen
Gedanken länger in einer Welt leben zu müssen, die schamlos die Wurzeln
aller Taten entblößte, eine Welt zu schauen, die so sehr das Abbild der
Selbstsucht und der Zwistigkeit war, von harten Herzen gesteinigt, unter
dem niederen Himmel böse blickender Augen, die nicht gewillt schienen,
mich mit Liebe zu lohnen. Voll Wehmut gedachte ich der Tage, da ich mit
dem Feldmarschall, mit Sven Hedin und dem erfahrenen Herzoge von
Mecklenburg zu Tische gesessen, da ich ihnen im abendlichen Lichte des
Tigris vorgelesen, gedachte der achtungsvollen Worte ihrer Freundschaft,
der liebenden Geste, mit der sie mir die Hand reichten. Es war weder
Ehrgeiz noch Beschämung, die mich erfaßten, daß ich mich plötzlich so
herabgesetzt sah und in den Kreis der Enttäuschung geführt (bin ich
nicht immer der Gast der Armut gewesen?), aber es schmerzte mich,
Verleumdung und niedriger Vergeltung zu begegnen, wo ich zu halbem
Erstaunen oft Liebe und herzliche Erkenntnis fand. Der Strom der Bosheit
hatte auch mich ergriffen. Ich sah, wie er immer weitere Kreise zog,
mich immer weiter hinwegführte von meinen Freunden.

Ach, ich wußte es wohl, die mich liebten, lagen unter den Toten draußen
oder kehrten enttäuscht und ungläubig in die Heimat zurück. Und eines
Mittags, nachdem ich die Nacht Wache gehalten, lief ich in die Wüste
hinaus, das Grab meines Stabsarztes zu suchen. Aber ich irrte vergeblich
in glühenden Winden zwischen Aas und zerfallenen Hügeln umher, bis ich
im Staube kauernd den blinden Wärter des Friedhofes fand, der, mit
greisen Händen über den Buckel der Gräber tastend, lange zwischen den
zerfallenen Steinen umherlief, mich endlich vor eine kahle Stelle zu
führen. Enttäuscht blickte ich auf die entblößte Stätte dessen, den ich
geliebt hatte, die so Unvergeßliches für mich barg, von denen betrogen,
die mir während meiner langen Krankheit oft ihr Wort gegeben, dafür
Sorge zu tragen. Nicht ein Zeichen der Erinnerung war mir geblieben, als
der traurige Schatz meines Herzens, mit dem ich Trostloser zurücklief in
die Stadt.

Und ich ging durch den schlafenden Bazar, dessen hundert Augen
geschlossen lagen, denn es war Feiertag, und dessen schmale Gänge sich
in finsterer Einsamkeit dehnten, bis der Zufall mich in eine verlassene
Karawanserei führte, wo alte Teppiche, Möbel und Waffen vergangener
Jahrhunderte aufgespeichert lagen. Und wie ich mich so einsam und
bekümmert zwischen ihnen stehen sah, von Krankheit und Heimweh
geschwächt, in meinem abgerissenen Waffenrock und meinen staubigen
Soldatenstiefeln, da fühlte ich, daß auch ich nichts anderes war, als
ein wertloser Gegenstand, noch eben gut, um als Hemmschuh für das
gleitende Rad des Todes zu dienen, alt, abgebraucht und um sechzig
Piaster verhandelt.

                                      Euer Sohn, der Freund der Toten.



                         Der Triumph der Mutter


                                          Bagdad, Mesnil Schah Bender,
                                                  den 30. August 1916.

Am vergangenen Sonntag ging ich in die lateinische Kirche. Sie feierten
das Fest der heiligen Jungfrau Maria. Chaldäische Christinnen in ihren
weiten seidenen Gewändern füllten das Schiff, arabische Kaufleute, über
denen der Priester, schwarzbärtig, die weihrauchgefüllte Kugel schwang.
Ich setzte mich unter sie, ich blickte auf das mit Palmenzweigen
geschmückte Bild der Gottesmutter, die auf ihren Armen den Sohn trug,
und mir war, als schaute ich in Deine Züge, Mutter, die in unendlicher
Liebe auf mich herabsahen. Waren nicht auch mir die Worte gesprochen
worden: »_Beatus venter, qui te portavit, et ubera quae suxisti?_« Ging
nicht von diesem Lächeln aller Friede der Erde aus, stand es nicht wie
die aufgehende Sonne über den Tagen der Kindheit, an deren Ende jene
Wildnis der Seele beginnt, in die wir alle hinausgetrieben werden,
verirrte Tiere? War nicht auch Dein Leid ein Meer? Hattest Du nicht die
sieben Schmerzen Marias getragen, den Sohn in Kummer geboren, mit ihm
die Kämpfe und Enttäuschungen einer langen Jugend erlitten, ihn
dargebracht auf dem Opfersteine der Menschheit, daß verblute, was mit
soviel Mühen Deinem Leibe, Deinem Herzen entwachsen war? Als Du ihn
wiederfandest in seinem zerrissenen Fliegerrock, von dem Schmutz dieser
Erde bespritzt, gekreuzigt an die zerbrochenen Flügel seiner Maschine,
waren da nicht auch Dir aus den unbarmherzigen Tiefen der Finsternis die
Worte gesprochen worden: »Siehe da, Deinen Sohn!« Glitt nicht in jener
Stunde vervielfacht und geläutert die namenlose Liebe auf uns Brüder
herab, die von unendlicher Trauer verklärt vor uns die Flamme Deines
Hauptes emporhob?

_Inventa es Mater Salvatoris Virgo Dei Genetrix, quem totus non capit
orbis in tua se clausit viscera, factus homo._

Ich neigte den Kopf, alle Bekenntnisse der Trennung und dieser
schmerzlichen Zeit im aufgewühlten Herzen bewegend, und dachte: »Ich
kann Dein Gesicht nicht zu mir hertragen, Mutter, so viele Jahre liegen
zwischen gestern und heute; aber aus jeder Landschaft noch, die ich
beschreite, blickt Deine Güte, aus jedem Sturme spricht Deine Stimme zu
mir. Mein Geist ist dem Deinen nahe. Meine Seele bettet sich in das Tal
Deiner Wangen, sie wandert in den Falten Deines Gesichtes einher wie der
Wanderer, der in den Schluchten der Berge verirrt ist, und findet nie
ein Ende. Ich bin ertrunken in Deinen Augen. Wie die Welle über den
Schlummernden am Grunde der Wasser, so gleitet über mich Deiner Liebe
Lächeln.«

Arabische Knaben erhoben die helle Stimme zum Gesang. Die Seele, des
schwebenden Schrittes entwöhnt, stürzte in sich zusammen. Neben mir
knieten zwei gefangene Engländer in ihrem lehmfarbenen, sauber
gebürsteten Waffenrock; ich blickte auf die Leidenslinie ihrer jungen
Gesichter, und wie ich sie so an meiner Seite sah, die Kette des
Skapuliers über die Schultern gehängt, die sie beschützt hatte vor
Krankheit und Tod, vor den Gefahren der Schlacht, in dunkler
Gefangenschaft, wie sie fern von der Heimat, die liebliche Heiterkeit
englischer Dörfer vor Augen, die Gesichter betend hinter der mageren
Hand verbargen, wurde die Stimme des Brudertums so laut in mir, daß es
mir Mühe machte, die Tränen zurückzuhalten.

_Laudemus omnes in Domino diem festum celebrantes sub honore beatae
Mariae Virginis._

Als ich wieder aufsah zu dem palmengeschmückten Bilde, fand ich ihr
Gesicht zum zweitenmale verändert, als blickten alle, die in dieser
Kirche versammelt waren, arabische, armenische und chaldäische Christen,
griechische Kaufleute, deutsche Offiziere, verwundete, kranke und
gefangene Soldaten, Frauen, Kinder und Greise mit mir empor zu der
Mutter des Menschengeschlechts, die die gesegnete Frucht ihres Leibes
umklammert hielt, sie liebevoll hinter dem schützenden Mantel zu bergen.
Und ich sah Leid, Kummer, Zorn und Verzweiflung in den Lichtern ihrer
Augen stehen, zwei spitze, schwertheiße Flammen. Da erkannte ich die
Menschheit, die von Schmerzen zerrissen und fluchbeladen mit mir in
diesem Raume kniete, eine stumme, untröstliche Gemeinde, die gekommen
war, an ihrem Bilde um Vergebung zu bitten.

_Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!_

Dumpf tönte das Aufschlagen der Hände gegen die Brust.

Da aber klang in unendlicher Versöhnung ihre erlösende Stimme aus der
Höhe herab: »Ich habe Frucht getragen wie ein Weinstock, ich gab von mir
süßen Geruch. Ich bin die Mutter der schönen Liebe, der Furcht, der
Erkenntnis und heiliger Hoffnung. In mir ist Gnade jeglichen Weges,
jeglicher Wahrheit. Kommt zu mir alle, die ihr mein begehrt, an meinen
Brüsten werdet ihr gesättigt werden. Mein Geist ist süßer denn Honig,
meine Erbschaft köstlicher denn Honig und Honigseim. Mein Andenken
bleibt in ewige Geschlechter. Die mich essen, werden noch hungern, und
die mich trinken, werden nach mir durstig sein.«

_Alleluia, alleluia. Per te, Dei Genetrix, nobis est vita perdita data:
quae de coelo suscepisti prolem et mundo genuisti Salvatorem. Alleluia._

Die silbernen Schellen erklangen, der Priester küßte das goldgeschmückte
Buch, Weihrauchwolken erhoben sich zum Gewölbe der Kirche. Eine süße
Wehmut stieg auf in meiner Brust, und aus ewigen Gründen hörte ich eine
Stimme sagen: »Lege von Dir den Rock, der mit Schmutz und Eiter bedeckt
ist. Laß liegen den Kranken auf seinem Bett, auf seiner Bahre den
Verwundeten, den Sterbenden in seinem Blut. Auch Du bist berufen, ein
Jünger zu sein, auf Erden das Reich Deiner Mutter aufzurichten, ein
Baumeister der Liebe unter den Völkern und eine leise Stimme der
Zukunft. Hatte ich nicht in Dein Herz die Gabe der Liebe gelegt, die
Gewalt der Rede, die ich Dir geschenkt hatte? Hättest Du nicht aufstehen
sollen, Deine Hände gegen den Mund zu legen, sei es auch gegen eine Welt
kalter Gerechtigkeit, um zu sterben unter dem Hasse der Menge, ein Narr
des Edelmutes, eine Heldenstimme der Unvernunft? Du aber gingst hin,
verschlossest den lebendigen Strom des Gewissens, weigertest Speise und
Trank Deinen Worten, die hinter dem Gehege Deiner Zähne dahinstarben wie
gefangene Tiere. Du Knecht der Stummheit! Du Verbrecher des Schweigens!
Du Dieb der Wahrhaftigkeit!«

_Regina mundi dignissima et mater perpetua intercede pro nostra pace et
salute._

Aber zum dritten Male aufschauend erblickte ich hinter dem
palmengeschmückten Bilde den Leib des Gekreuzigten, mit Blut bedeckt,
die Hände von Nägeln zerschlagen, und erkannte in ihm das Bild dieser
Erde, die, in Kriegen verstümmelt und von grenzenlosem Elend verzerrt,
sich einen Leichnam zum Sinnbild ihrer höchsten Verehrung gemacht hat.
Sie drängten hinzu mit gierig geöffneten Lippen, ich sah, daß ihre Seele
ein reißendes Tier war, die verschlang das Kind Deiner Liebe, das Du
geboren hast, die trank von dem heiligen Blute des Bruders und wurde
trunken davon. Ihre Nahrung war der Leib eines Toten.

_Accipite et manducate, hoc est enim corpus meum, quod pro vobis
tradetur._

Und von grenzenlosem Schmerze erfaßt, drängte ich hinaus, ein Betäubter,
den ein Stein vor den Kopf getroffen. Noch auf der Straße, inmitten der
Menge, die um die Tische der Bazare war, unter Handwerkern, Kaufleuten,
unter Juden und Mohammedanern, Christen, Bettlern und Soldaten, während
durch die offene Tür die Orgel in den Lärm des Marktes klang, schrie es
auf in mir: »O Du erhabene Mutter des Menschengeschlechts -- sie beten
Dich an, aber sie durchbohren Dir das Herz! Wer soll uns erlösen, wenn
Du es nicht bist, Mutter? Aus Deinem Schoße wachsen die Kinder der Welt.
Stehe auf aus den tausend Müttern der Erde, erhebe Dich aus den
Millionen Herzen, die gelitten haben! Verschließe den Schoß, der so
viele Leben geboren hat, laß versiegen den Quell Deiner Brüste! Stehe
auf aus den volkreichen Städten Deutschlands; aus den Kathedralen von
Frankreich, aus der Finsternis englischer Fabriken erhebe Deine Stimme!
Aus den Wäldern Indiens, aus den Zelten arabischer Wüsten, den
verschneiten Hütten russischer Dörfer beginne den Klagegesang. Aus der
toten Verlassenheit anatolischer Felsenhöhlen, aus dem traurigen
Wohnzimmer der Witwe, die in ihrem hölzernen Käfig dahinsiecht, aus der
steinernen Klippe am Hang sizilianischer Felsen, wo die Stimme des
Meeres in das Singen der Wiege klingt, laß Deinen Ruf laut werden, halte
nicht länger zurück das Gewitter Deines Zorns und der Verzweiflung! Hebe
Dich auf aus den Tiefen der Trauer und Einsamkeit, lege Deine Hände vor
das Antlitz des Todes, und laß den Lärm der Schlachten verstummen, daß
die Welt rein werde von den Greueln des Blutes. Denn Deine Kinder sind
schwach und untreu ihres Gelübdes. Sie lernten es wohl, das eiserne Rohr
zu führen, aus dem die teuflische Kugel fliegt, aber untüchtig sind sie
und feige für die Arbeit des Brudertums. Sie achteten Deiner nicht,
gingen hin und verrieten das Wort Deiner Liebe. O gib Brot und Speise
denen, die hungern, gib einen Vater den Kindern wieder, nicht länger laß
einsam sein den Schlaf des Weibes. Aus ihren weißen Betten steigen die
Gebete der Kinder zu Dir auf, und aus den Gräbern noch blühen die Hände
der Toten. Denn Dir gehört alle Herrlichkeit der Erde, Mutter, alle
Kraft der Liebe, alle Barmherzigkeit!

_Qui audit te non confitetur et qui operantur in te non peccabunt. Qui
elucidant te, vitam aeternam habebunt. Ave Maria!_«



                           An Carl Hauptmann


                                          Kriegslazarett Kasim Pascha,
                                                den 3. September 1916.

Welchen Balsam haben Ihre Worte in meine Wunden getan! Wohl weiß ich,
daß jeder Brief ein Pfeil ist, der in das Ungewisse fliegt, von dem wir
nicht ahnen, in welchem Lande, zu welcher Stunde er niederfällt; der
Ihre aber traf mich mitten im Herzen. Mir ist, als erwachte ich für
Augenblicke aus tiefem Schlaf. Daß es noch eine lichtere Landschaft
gibt, als die flache Ebene dieses Daches, wo ich meinen Tisch zwischen
die Betten gestellt habe, und die flackernde Kerze, die von dem Atem der
Kranken bewegt scheint, um Ihnen zu schreiben; wo ich im Schlafkleid
unter dem hellen Mond seltsame Wache vor dem Tode halte, der unsichtbar
in den Adern der Menschen umhergeht, der jeden Tag mit weißem Gesicht
glühend am Himmel heraufsteigt und seine seltsamen Inseln, Kamel-,
Pferde- und Stierleichen, die aufgelösten Leiber toter Soldaten mitten
durch den Strom der Stadt treibt, daß wir nie vergessen, daß wir auch
hier in den Laufgräben des Krieges schlafen.

Wenn ich zurückdenke an das Leben, das ich einstmals geführt habe, an
die stille Tafelrunde der Geister, die diese Zeit so lange hungernd von
ihrer Mahlzeit scheuchte, so befällt mich oft eine stille Angst, daß
dies alles nur ein merkwürdiger Traum war, der niemals Wahrheit
besessen. Daß ich nie ein anderes Zimmer bewohnte als diesen einäugigen
Raum, dessen Scheiben mit Papier verklebt sind, in dessen Winkel an
einer aufgespannten Schnur meine Wäsche und meine Kleider hängen, in der
die Koffer geschlossen und die Teppiche in Ballen gepackt liegen, als
gelte es, jede Stunde des Aufbruchs gewärtig zu sein. Hat es auch für
mich Wandernden einmal Heimat gegeben? Wann geschah es, daß ich auf
etwas anderes blickte als gleißende Backsteinbauten oder in das sandige
Auge der Wüste? Der stille Gleichmut des Landes hat seine tröstende Hand
auch auf mich gelegt. Die Flamme des Zornes ist herabgebrannt, ich habe
lächeln gelernt, was mich noch gestern in Empörung versetzte, begreife
ich mit ergebener Anmut. Wie oft muß ich an meinen arabischen Diener
denken, der jede Frage mit einem »Warum« beantwortet. »Ist das Essen
fertig?« -- »Warum soll es nicht fertig sein?« -- »Hast du meine Stiefel
geputzt? Ist Reis, sind Tomaten da?« -- »Warum nicht, Sahib?« Und wenn
ich ihn darnach fragte, würde er nicht antworten: »Warum sollst du in
Deutschland sein? Kannst du mir sagen, weshalb diese Erde besser sein
sollte, als sie es ist? ...« Aluan wird 17 Jahre alt, ist zum zweiten
Male verheiratet und hat zwei Kinder auf dem Friedhof liegen. Seit ich
in den Tagen meiner Krankheit an seinem feindlichen Unbegreifen so oft
in hilflose Verzweiflung geriet, hatte ich nie geglaubt, daß wir
einander menschlich so nahe kämen. Wir beide haben manches von einander
gelernt.

Einmal besuchte ich ihn im Hause seines Schwiegervaters in Kazimen, lag
die heißen Stunden des Mittags in seiner ländlichen Hütte auf der besten
buntgedruckten Matratze, die er auf dem Erdboden ausgebreitet hatte, und
deren Muster ich noch immer auf der Rückseite meines Hemdes trage. An
der Wand hingen die kostbaren Frauenkleider aus grüner und roter Seide,
und während ich schlief, kamen Kälber und Eselinnen, mit kauenden
Mäulern, und berochen mit großen Augen den Gast. Bei dieser Gelegenheit
sah ich auch Aluans starke und wohlgebaute Frau, zu der er jede Nacht
eine Stunde weit von Bagdad nach Kazimen läuft, um erst im Morgengrauen
wiederzukehren.

Zuweilen fahre ich mit ihm nach der Insel hinaus, um zu baden. Hinter
der Stadt bildet der Strom eine breite Sandbank, auf der Fellachen ihr
Gemüse bauen. In meinem zeltüberdachten Boote versteckt, die persische
Mütze auf dem Kopf, gleite ich heimlich aus der Stadt, denn ich bin ein
scheuer Fremdling unter den Leuten des eigenen Volkes geworden. Dann
breite ich meinen Teppich auf den Sand der Insel, ziehe mein
baumwollenes arabisches Überkleid an, lese im Homer, im Herodot, im
Goethe oder der Bibel, die meine nie versagenden Tröster sind; denn ich
bin nun ganz zurückgekehrt zu den ewigen Menschheitswerken, die jenseits
alles Ruhmes und Streites dieser Zeit liegen. Neben mir, auf den Fersen
sitzend, hockt Aluan, und nachdem er lange geschwiegen hat, lächelt er
nachdenklich. »Ja, siehst du, Sahib,« sagt er zu mir, »das ist der
Unterschied. Ich habe eine Frau und kein Essen. Du hast Essen und keine
Frau.« Auch hier spricht die Stimme des Menschlichen zu mir, und mit
leiser Rührung betrachte ich die sanfte Neigung seines Kopfes, wenn er
mir zuhört, oder die zärtliche Geste, mit der er nach einem Zipfel
meines Kleides hascht, seine Lippen darauf zu drücken und mir für eine
Kupfermünze zu danken.

Aber ich habe noch andere Brüder, die heimkehrend in den Stunden des
Abends auf mich warten. Hinter der Brücke am Wasser liegt die kleine
Moschee. In den Nächten des Ramadan bin ich der Gast der alten Mollahs.
Hier ist Munir, der Erleuchtete, ich sitze zu seinen Füßen und lausche
auf seine Stimme. Einmal fragen sie mich nach meinem Namen. Ich sage
ihnen, wie ich heiße; seitdem rufen sie mich »Tarik«. Wir lesen einander
Gedichte in arabischer und deutscher Sprache vor, und obwohl keiner des
anderen Worte versteht, hören wir doch einander zu und sind voll
Andacht.

Mein arabischer Diener, die alten Gelehrten im Schatten der Moschee und
Pater Joseph, mit dem ich das Dach meines Hauses teile, sind nun meine
einzigen Freunde geblieben, vielleicht noch ein sterbender Hund, den ich
am Wasser, krank und mit Wunden bedeckt, zwischen dem Lärm der
Bootsführer und Wasserträger ganz in sich versunken, die geheimnisvolle
Arbeit des Todes verrichten sehe. Aber die Stunden sind selten, da ich
in ihrer Mitte bin. Ich habe aufgehört, mir selbst zu gehören, in eine
Reihe inhaltsloser Tage gedrängt, ein bodenloses Gefäß, das leer wurde,
noch ehe wir es zu füllen begannen. Nicht immer ohne Bitterkeit trage
ich diese Stunden und die Demütigungen, die mit meiner Arbeit verbunden
sind; denn auch hier gilt nur, wer zu töten berufen ist, und ein
liebender Menschenpfleger ist im Grunde eine verächtliche Gestalt.
Möchte mir nur die Liebe derer bewahrt bleiben, denen ich, meiner selbst
kaum mächtig, die letzte Kraft meiner Hände reiche.

Während ich diese Zeilen schreibe, blicke ich vom Dach in den Hof auf
die lange Reihe ihrer Betten hinab, wo sie, ihrer Decken entblößt,
nebeneinander liegen, das eine Knie in die Höhe gezogen, als stiegen sie
noch im Schlaf eine unendlich mühsame Treppe hinauf. Und ich höre wieder
die Stimmen der deutschen Soldaten, die, heimgekehrt aus der Wüste, mir
von den bitteren Mühen ihres Lebens erzählen, wie sie hier, am »Hintern
der Erde«, von Hunger, Krankheit und Heimweh zernagt, der letzten Hilfe,
des Beistandes ihrer Offiziere beraubt, die sie ohne Grund in der Glut
der Mittagsstunden in der sommerlichen Wüste Schanzen werfen ließen, in
einer »türkischen Fremdenlegion« dienten. Noch gestern saß ich an dem
Bett eines sterbenden Offiziers, in dessen letzten Träumen das bittere
Gefühl versagter Freundschaft umging, die Scham und der Vorwurf gegen
die Kameraden, die, Verbrecher aus Ehrgeiz und Niedertracht, ihren
Untergebenen die Liebe verweigerten, die sie ihnen schuldig waren. Nun
tönt aus dem Schatten der Mauer die Stimme eines jungen Soldaten, der
seinen türkischen Wärter ruft: »Mustapha, Musta -- pha!« leise und
kläglich, als riefe er seine Mutter. Ich blicke auf und schaue den
schwarzen Strom hinunter, in dem die letzten Lichter der Stadt sich
spiegeln, blicke in das Wunder der fallenden Sterne, die wie glühende
Geißeln über den nächtlichen Himmel peitschen, die herabsickern, langsam
fallende Schneeflocken, silberne Tränen. Jetzt blitzen sie auf,
gewaltige lichthelle Kugeln, die eine unsichtbare Hand über die Erde
hinabwirft, zu schauen, ob der Krieg noch immer nicht das verwüstete
Lager entweihter Unschuld verließ. Sie verlöschen, und wieder wird
Nacht. Aus dem Dunkel des Flusses aber tönt die leise Stimme eines
arabischen Fischers, der in seinem Boote schlafend den Strom
hinabtreibt:

   Die große Palme und der kleine Schößling sind dahingegangen,
   Ich blieb allein zurück.

Mitten in all das kommt Ihr Brief, und ich fahre empor wie ein
Schlafwandelnder. Freude! Freude! Aber auch Kummer erfaßt mich. Ich sehe
die frischgelöschte Tinte Ihres Namens darunter, als wäre ich eben in
der Winterstille durch den Schnee der Berge herabgekommen, trete in das
abendliche Zimmer und sehe, wie Sie vom Tische aufstehen und aufhören zu
schreiben. Wie ich zu lesen anfange, erkenne ich verwundert, daß ich
selber es bin, an den diese Worte gerichtet wurden. Werde ich wirklich
noch einmal diese Stube schauen? Wann wird der Tag kommen, da mir und
Euch allen die Worte geschenkt sind: »Hier gebe ich Dir Armin Wegner
zurück.« Wie anders wird die Gestalt sein und die Seele, die wieder
unter die Augen der Freunde tritt. Ihr werdet die ersten weißen Haare
auf dem Haupte der Jugend schauen. Denn es ist ein Weg ohne Heimkehr,
den wir beschreiten, an dem wir wohnen wie die abgeschiedenen Seelen der
Babylonier, deren Nahrung der Staub ist, und die von ihm zurückkehren,
tun es nicht ungestraft. Andere Augen sind es, mit denen sie schauen;
sie bleiben gezeichnet für den kommenden Tag.

Dennoch glühen unter der Asche dieser Tage purpurne Flammen, die
zuweilen urplötzlich hervorbrechen, vor deren geheimer Gewalt ich
erschrecke, als wenn sie mich selber vernichten müßten! Ein unbändiges
Verlangen ergreift mich, die Schritte hinaus zu setzen, in welche Höhen
und Abgründe sie auch führen mögen, fort! fort! verkleidet in das Gewand
eines Beduinen, bettelnd, mit Aussatz bedeckt, und sei es auch, um in
der Wüste zu sterben. Aber schon höre ich die Schritte der Häscher im
Hof, die mir das Blut in den Adern erkalten lassen. Wohin? Wohin? ...
Einst sagte mir ein arabischer Wahrsager, den ich im Staub der Straße um
meine Zukunft befragte, indem er die Würfel auf eine messingne Schale
legte, in die das Zeichen des Widders und des Steinbocks gegraben war:
»Was du im Herzen trägst, wird in Erfüllung gehen.« Aber was ist es, das
ich im Herzen trage: Tod, Leben, Ruhm oder Untergang, Glück oder
Verbrechen? Auch der Gram ist nur eine Stufe der Lust; hinter den
härtesten Leiden noch gilt es zu jubilieren wie eine Lerche. Nur eines
weiß ich, daß mit mir die Liebe ist, daß sie mich weiter begleiten wird,
und sei es auch zu den Abenteuern und Ländern, die jenseits dieses
Lebens liegen. »Friede sei mit Dir!« rufen mir die Araber zu, denen ich
des Nachts in den dunklen Gassen begegne; mit mir aber geht der
Unfriede, mit meinem friedlichen Herzen die Unrast, die mich durch alle
Schmerzen der Erde von der Hölle bis zu den Sternen treibt, immer
duldend und immer voll Neugier.

        Ihr Armin, genannt Tarik, das ist »der des Weges Schreitende«.



                Die vierzig Tage und Nächte der Heimkehr


                            An Pater Joseph

                                             Hadit, den 30. September.
                         Früh ½7, im Schatten eines alten Wasserrades.

Bester Pater! Ihnen den ersten Gruß. Daß es weiter geht. Daß die Erde
sich wieder rundet. Als Sie mich bei meiner Abreise baten, Ihnen zu
schreiben, schien mir dies freilich ein Wunsch, dessen Erfüllung fern in
einer heimatlichen Schreibstube lag. Aber nun ich die ersten Tage durch
die Wüste gereist bin, sehe ich, wie sehr meine Gefühle bei Ihnen
blieben, wie fremd mir die Heimat noch ist. Dabei denke ich nicht ohne
Genugtuung daran, daß ich dieser letzten kurzen Erkrankung, die mich
nach den Anstrengungen der vergangenen Wochen zum drittenmal auf das
Lager warf, den Aufbruch zur Heimkehr verdanke, die fast noch in der
Stunde des Abschieds an dem Mangel an Wagen gescheitert wäre. Dieser
Heimkehr, die keine Heimkehr ist; denn auch meine verblutete Seele liegt
bei den Toten in der Steppe begraben und wird nie wieder in das Land
zurückkehren, das ich vor kaum zwei Jahren verließ. Wie oft muß ich mich
unserer erregten Gespräche in den verdeckten Kellern von Mesnil Schah
Bender erinnern und jener tröstlichen Worte, die ich Ihnen zurückließ:
»Meine Irrtümer sind mir lieber als Ihre Wahrheiten.« Aber ich fühle
auch, daß hinter allen Widersprüchen etwas Menschliches lag, das wieder
zu zittern anhebt. Ja, jetzt erkenne ich, wie schwer mir der Abschied
wurde, seit das letzte Wahrzeichen der Stadt verschwand, jene einsame
Grabpyramide, die halb zerfallen hinter Kazimen in der Wüste steht. Zwei
Tage sahen wir sie in der Sonne leuchten, dann löste sie sich in Rauch
auf.

Heute werden wir zum erstenmal einen Tag rasten. Die Kutscher haben die
Splinte aus den Wagen gezogen und sind in das Dorf gegangen; so habe ich
Zeit, in Geduld zu warten. Ja, das Menschliche. Wie es mich auch hier
auf allen Dörfern und Wegen der Wüste begleitet! Jener oft wiederholte
Gruß der Fellachen, jenes »Bruder, Bruder«, mit dem uns die Beduinen die
Früchte ihrer Felder reichen, der Bettler die Hand nach uns ausstreckt,
scheint mir ein tägliches Gleichnis meiner Gedanken. Oft, wenn ich in
die Gasse ihrer lehmgehärteten Hütten trete, gesellt sich ein arabischer
Junge zu mir. »Eier! Eier!« ertönt unsere Stimme vor den Türen, dann
kommen die Mädchen und Frauen aus den Höfen heraus. Ich bleibe bei den
Männern an ihren Webstühlen stehen, mit ihnen zu plaudern (sie hocken in
einem Loch in der Erde). Zutraulich legen sie mir die Hand auf die
Schulter. Ich sitze bei den Frauen auf ihren Matten, und sie
verschleiern sich nicht.

Während aus den tönernen Schaufeln des Wasserrades ein feiner Sprühregen
über mich herabfällt, blicke ich nach der schmalen Insel des Euphrat
hinüber, auf der zwischen Palmen die Hütten aneinandergedrängt stehen,
eine graue Feste. Bronzene Gestalten treten zögernd in das Wasser, das
Bündel ihrer Kleider wie einen wunderlichen Turban um den Kopf
geschlungen. Und wie ich dem Spiel ihrer Leiber zuschaue, die sich
schwer gegen die Strömung beugen, wie sie, ihre Kinder auf dem Rücken
tragend, das Ufer hinaufklettern, über das die warme Morgensonne
streicht, fühle ich wieder, wie ich trotz Tod und Tränen in dieses Land
verliebt gewesen bin.

Täglich streifen wir viele Stunden weit durch seine hungrige Weite.
Schon vor Sonnenaufgang, wenn die Pferde noch ungeschirrt an den Wagen
stehen, wandere ich zu Fuß hinter der Karawane her. Blaß hebt sich die
Staubwolke unter den Tritten der keuchenden Tiere, bis der Tag kommt,
und der Schatten ihrer spitzen Ohren deutet auf unseren Weg. Dabei bin
ich von einer so überquellenden Heiterkeit und Fülle der Gesichte
bewegt, daß es mir kaum gelingt, im Weiterschreiten auf ein
zerflattertes Papier ein paar kurze Aufzeichnungen zu machen. Welche
Veränderung ist mit mir vorgegangen! Selbst meine Uhr, die seit Monaten
still stand, begann drei Tagereisen hinter Bagdad wieder zu gehen. Oder
ich lehne in den heißen Mittagstunden im Winkel unseres schaukelnden
Pilgerwagens und träume zwischen Wachen und Dämmern von einem großen
Manifest des Friedens. Ist es Europa, dem ich mich nähere, das mich so
froh macht? Ich glaube, wenn es nach Indien oder Ägypten ginge, ich
könnte nicht glücklicher sein.

Gestern, schon in der Dunkelheit, wir waren den ganzen Tag durch
löchrigen Boden gefahren, blieb unser Wagen allein in der Steppe zurück.
Ich war auf den Bock gestiegen und hatte selbst die Zügel unserer vier
Pferde in die Hand genommen, aber die hartgewordene Krume einer
ausgetrockneten Wassermulde zersplitterte unter unseren Rädern wie Glas.
Die Pferde zogen an, zerrissen die Stränge, zitterten und blieben
stehen. Und während der Kutscher mit tränenverzerrtem Gesicht und einem
»Hilf Allah« immer wieder vergeblich auf die Pferde einschlug, ging ich
im offenen Hemd und meinen weichen Schlafschuhen allein eine Stunde weit
unter dem sternenbeglänzten Himmel, das nächste Dorf zu suchen. Wie nahe
wart Ihr mir alle, während ich still vor mich hinschritt, einsame Worte
mit Euch tauschend. Ich hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um
das Schlagen Eurer Herzen zu fühlen. O beglückende Müdigkeit, als
endlich auch unser Wagen in den finsteren Hof der Karawanserei rollte,
spät unter dem offenen Wind zu schlafen, unter den Kaugeräuschen der
Tiere, die zwischen unsern Lagern umhergehen. Dann tönt das Donnern der
Wasserräder lauter vom Fluß, und die Glocke des Leithengstes klingt noch
lange in unsern Traum ...

Grüßen Sie Aluan, Dschafar und Achmed und die andern kleinen
Bootsjungen, mit denen wir hinab nach der Insel fuhren. Gedenken Sie der
Lebendigen und der Toten. Und wenn Sie durch jene trümmerbesäte Straße
gehen, durch die wir oft im Dunkeln stolperten, so vergessen Sie nicht,
daß ich auch diesen Staub unter Ihren Füßen noch liebte.



                Die vierzig Tage und Nächte der Heimkehr


                           Aus dem Tagebuche

                                               Rahije, den 2. Oktober,
                                                            abends ½6.

Eben im Euphrat gebadet, Grund sehr steinig. Die ersten stärkeren
Wolkenzüge treten auf und beschatten die Sonne. Die letzten Palmen sind
verschwunden. Vor Ana habe ich mir für zehn Piaster ein schwarzes
Lämmchen gekauft. Schon drei Tage schleppe ich es mit mir und habe die
größte Freude, es während der Fahrt auf dem Schoß zu halten und zu
streicheln.

Gestern nachmittag, wir fuhren, Wagen und Karawane, in enggeschlossenem
Zug, uns vor Überfällen der Beduinen zu schützen (am Vorabend waren
deutsche Schahturs überfallen worden, und es gab acht tote Araber), ein
wenig schweigsam, denn es war spät geworden, stand plötzlich in der
Abenddämmerung ein seltsames Zeichen am Himmel. Ein langer, geschwänzter
Strich wie die helle Schnur einer Peitsche. War es der rauchende Schweif
einer Sternschnuppe oder spiegelte sich der leuchtende Lauf des Euphrat
in den Wolken wider? Alle Blicke waren auf den blassen Himmel gerichtet,
wo es unverändert fast zehn Minuten verweilte. »Das ist ein Zeichen des
Friedens,« sagte eine Stimme. Mir aber schien es eine feurige Geißel,
die über der Erde stand. Unwillkürlich neigte ich den Kopf, als müßte
ihr sausender Schlag auch über mich und unsere kleine Karawane
herabfallen, die mühsam und gedrückt über den steinigen Grund dahinzog.

                                           Abu Kemal. Dreizehnter Tag.
                                                         Abends 5 Uhr.

Heute nur acht Kilometer zurückgelegt. Kahle, steinige Uferhöhen, die
wir nur langsam hinaufklimmen, verwahrloste Wege. Weite
violettschimmernde Hochebene, durch die der Fluß stahlgrau dahinzieht.
Überall liegen lose Brocken zerstreut, als wäre ein ungeheurer
Steinregen herabgefallen. Gegen Mittag raste Hassan, der Führer der
Kutscher, mit seinem Wagen in das ausgetrocknete Bett eines Flusses.
Alle Pferde bluteten. Zwei Räder waren völlig zerbrochen, und der Wagen
schleppte sich, auf den Speichen rumpelnd, mühsam bis in den Chan.
Gestern ging ein Maultier mit allem Gepäck in den Fluß, konnte aber
gerettet werden. Ein Pferd, das beim Tränken über die Uferböschung
stürzte, wurde abgetrieben. So gibt es täglich Verzögerungen. Wir werden
zwei Tage hierbleiben.

                                            El Gahsim, den 6. Oktober.

Bei Sonnenuntergang unter dem Dach einer weidengeflochtenen Hütte. Neben
mir vor einem Feuer von Eselsmist hockt ein blinder Araber. Über mir an
den Zweigen hängt in einem leinenen Beutel der Koran. Ein ungeheurer
Staubsturm hat die Ebene mit einem schwarzen Mantel bedeckt. Wir hatten
eben abgekocht, als die Wolke plötzlich über den Horizont sprang, Blitze
wie feurige Flammen. Von den hohen Wellen des Euphrat wurde der Schaum
so weit durch die Luft gewirbelt, daß wir glaubten, es begänne zu
regnen. Zu meinen Füßen liegt alles durcheinander, das noch fettige
Geschirr, die Beutel mit Reis und getrockneten Aprikosen, das rote
Fleisch der angeschnittenen Melone, alles mit einer Schicht von grauem
Staub bedeckt. Ich fühle ihn zwischen Lippen und Zähnen. Heute wurde
unser Lämmchen geschlachtet. Ich hatte es Mona Lisa getauft, und es
sprang und meckerte lustig auf unsern Halteplätzen umher. In meinen
Mantel gehüllt, versuche ich auf einer Reihe von Kisten zu schlafen. Als
ich wieder aufwache, ist klare Nacht. Der blinde Araber steht draußen im
Mondschein auf seiner Matte und betet. Die toten Augen sind in das
geisterhafte Licht gerichtet, unbeweglich, als schaute er in eine
wunderbare Landschaft. Nun sehe ich es auch. Da beugt er den Kopf und
fällt in die Kniee.

                                             Salichie, den 7. Oktober.
                                                        Nachts 12 Uhr.

Einsame Herberge in der Wüste. Ich lehne, die Wache haltend, am Tor der
verlassenen Karawanserei. Draußen dämmert die endlose Ebene. Der volle
Mond steht am Himmel. Es ist so hell, daß ich ohne Mühe schreiben kann.
Vom Hof tönt das Husten der brustkranken Pferde, nur unterbrochen von
dem Heulen Hassans. Sie haben ihm den Rücken und die Sohlen blutig
geschlagen, weil er im Basar von Ana die eisernen Ersatzteile der Wagen
verkauft hat, die die türkische Kommandantur für uns requiriert hatte.
Von Fußtritten verfolgt, schleppt er sich von einem Winkel in den
andern.

Ich trete in einen fensterlosen Raum der Karawanserei. Als ich Licht
mache, leuchten mir von der berußten Gipswand in großen deutschen
Buchstaben die Worte entgegen: »Wo waren wir gestern?« Betroffen bleibe
ich stehen, leuchte mit dem Streichholz die Wand ab. Ich zähle acht
verschiedene Sprachen. Hier ist eine Trommel mit gekreuzten Schlägern an
die Mauer gezeichnet. Deutsche Namen darunter und das Datum: den 28.
August 1914. Daneben: Ankunft dritter Zug von Ekbatana, den 2. Januar
1915. Reise von Teheran nach Bagdad und Stambul, Baruch Josephsberg, 77.
Reg. Lemberg. Marga Imre, _5 Magyarka, honvéd 13. IV. 16_. Marie
Stirting, Erna Erickson de Bender Abas _le 23. Julliet 15 en route pour
Beirut_. Dann die Inschrift eines englischen Gefangenen: _Happy he, who
return. London, Holting-street._ Die Unterschrift ist nicht zu
entziffern. Namen, Namen. Deutsche, englische, französische, ungarische,
türkische, arabische, hebräische, schwedische Inschriften. Es nimmt kein
Ende. Wie seltsam berührt es mich, viele Tagereisen weit in der Wüste
all jene mit zahlreichen Zungen zu mir reden zu hören, die gleich mir
diese tote Stille durchwandert haben, die vom Golf oder aus russischer
Gefangenschaft die endlose Reise über die persischen Berge und durch die
Wüste machten, von Hitze und Kälte gepeinigt, eine Nacht in diesem
fensterlosen Raume zu schlafen. Wo sind sie, die mit verrostetem Nagel
dieses in den Mörtel der Wand gruben? Hier hat einer sein Vaterhaus, von
Bäumen beschattet, an die Wand gezeichnet. Neben manchem Namen ist ein
kleines Kreuz gemalt, heimkehrende Kameraden haben es hinzugesetzt,
dreimal sind sie den Weg durch die Wüste gezogen. An der
gegenüberliegenden Wand steht eine arabische Inschrift: »O Ali, Sohn des
Hassan, ich habe Wasserrinnen nach dir vollgeweint.« Darunter auf
Türkisch: »In Bagdad und Umgegend habe ich drei Monate im Elend gelebt.
O Allah, gib uns Barmherzigkeit und Frieden. Osman Hakki Tefik,
Hauptmann im Generalstab. Salichie, den 4. Tamus 1333[3].«

Als ich wieder hinaustrete, schlägt mir die Nacht kalt entgegen. Ich
gehe vorsichtig zwischen den schlafenden Menschen und Tieren hindurch,
die zusammengekauert am Boden liegen. Ermüdet setze ich mich auf den
Leib des toten Esels, der am Nachmittag gestorben ist. Bis hierher
schleppte er die blutgeschwollenen Glieder, aber als die Maultiere, von
ihrer Traglast befreit, den wunden Rücken im Staube wälzten, erhob er
sich nicht wieder. Und ich denke an den Weg zurück, den wir alle
gewandert sind, denke an meine Toten und wie sie mich ständig begleiten.
Wenn ich am Tage in der hellen Sonne hinter der Karawane herschreite,
winkt mir ihr Gepäck vom Rücken der Maultiere herab. Dunkel leuchtet ihr
Name auf den hellen Kisten, dem traurigen Rest ihrer Habe, den ich mit
mir zurück in die Heimat trage, als ginge ich wie der Gläubige hinter
dem Leichnam her, den er in heiliger Erde bestatten will, ihren
geliebten Schatten in Deutschland zu begraben. Des Abends am Feuerloch
ist mir, als müßte ich wie in früheren Tagen mit ihnen die Mahlzeit
teilen. Ich blicke in ihr Gesicht: »Bist du es, alter Freund und
Wüstengefährte? Willst du Brot? Magst du Tee?« ... Ich fühle ihre Nähe,
die mich umgibt, die stille Gemeinschaft derer, denen wir nicht mehr weh
tun können. Ich schlafe in ihrem Schatten.

[Fußnote 3: der Hedschra.]

Fröstelnd lehne ich mich über den aufgetriebenen Leib des toten Tieres,
mit der Hand seinen Hals liebkosend, der noch eine leichte Wärme trägt.
Wieder steigt jener freundliche Gedanke des Friedens vor mir herauf, und
während ich einsam in der unergründlichen Weite sitze, ist mir, als
könnte ich deutlich auf das künftige Europa hinabsehen, wie auf ein
heiteres Gebäude, das sich mit freundlichen Zimmern und Gärten vor mir
ausbreitet. --

Zwei Uhr nachts. Es ist Zeit zum Wecken. Ich reiße den Kutschern die
Mäntel fort, die sich zitternd zwischen ihren Futtersäcken erheben. Nun
habe ich noch eine Stunde Ruhe, aber die Fledermäuse, die im Gebälk
flattern, lassen mich nicht einschlafen. Bald gehe ich hinter der
Karawane her. Vor mir raucht die unabsehbare Ebene. Und wieder denke
ich: o sie liebten dich nicht, du grauer einsamer Boden, alle, die ihren
flüchtigen Namen an die zerbröckelnde Wand dieser Herberge schrieben.
Sie dachten: Deutschland, oder England, oder Schweden ... irgendwo dort
hinten an eine geliebte und menschenbelebte Scholle, zogen vorüber und
fluchten dir. Ich aber fühle deine grenzenlose Weite in meinem Herzen.
Fühle in mir deine Sonne, deinen Wind, deine Sterne. Fühle, wie mit
jedem Schritt meine Seele lebendiger und froher wird, als wanderte ich
vom Tode zurück in das Leben.

                                          Abu Herera, den 11. Oktober.

Der letzte Leichnam? Als wir in die verlassene Karawanserei treten, die
von Unrat und üblen Gerüchen erfüllt ist, liegt er in der offenen Tür.
Die ausgehungerte Gestalt eines zwölfjährigen armenischen Knaben. Mit
strohblondem Haar, den Leib bis auf die Knochen abgemagert, Hände und
Füße wie Keulen. Nur der linke Arm steckt noch in Lumpen. Als ich an den
Fluß trete, finde ich viele Gräber, zahllose alte Feuerstellen. Ist
dieses das Ende einer furchtbaren und grausamen Jagd?

Wieder tritt jener Auszug eines vertriebenen Volkes vor meine Augen,
durch dessen schmerzliche Lager ich im vergangenen Jahr mit
erschrockener Seele geirrt bin. Bald begegnen wir den ersten
Flüchtlingen. Die Ränder aller Wege sind mit ihren Knochen besät, die
grell in der Sonne bleichen. In Maden treffen wir das erste Lager.
Kinder und Frauen umdrängen unsern Wagen, schlagen sich wund um ein
Stück Brot oder eine leere Melonenschale. In Tibini haben sie einen
kleinen Basar errichtet. Bäcker, Fleischer und Schuster sitzen in der
grellen Sonne unter den ausgespannten Lumpen eines zerrissenen Tuches
auf dem nackten Steinboden und bieten ihre Ware aus. Einen türkischen
Offizier sah ich beim Garkoch ein gebratenes Stück Fleisch kaufen, und
nicht ohne Bewunderung dachte ich: sie haben dich in den Tod getrieben,
du aber bietest deinem Mörder für einen Metalik noch in der Wüste ein
Stück Fleisch an!

Bei Rakka, in einem völlig verwahrlosten schmutzigen Lager, traf ich
einen dreizehnjährigen Knaben. Er hatte seine Mutter und seinen Bruder
verloren, nur sein Vater lebte. Er hieß Manuel. Einen weißen Lappen
gegen die Sonne um den Kopf gebunden, lief er, auf auf einem Kuhhorn
blasend, lachend zwischen den Haufen der Hungernden, Kranken und
Sterbenden umher, die reglos dalagen oder, dem Wahnsinn nahe, ihren Kot
als Speise verzehrten. Seine wohlgebaute, noch kräftige Gestalt, sein
offenes Gesicht gefielen mir. Ich wollte ihn in unsern Wagen nehmen, um
ihn mit nach Deutschland zu bringen. Seine geraden Augen leuchteten
dunkel zu mir auf. (Meine Mutter, dachte ich einen Augenblick, ich will
dir einen neuen Sohn schenken!) Ich ließ mich zu seinem Vater führen,
einem Händler aus Alexandrette, den sie zum Wächter des Lagers gemacht
hatten, weil er lesen und schreiben konnte. Aber obwohl sein Gesicht
sich vor Freude verklärte, war er so müde und abgestumpft, und seine
Angst vor den Gendarmen, die Furcht um das eigene Leben waren so groß,
daß er keinen Ausweg finden konnte.

Da ging ich selbst zu dem arabischen Aufseher. Ich saß zwei Stunden auf
seiner Matte und bot ihm den Rest meiner Barschaft an. Aber sie wollten
ihn nicht freigeben. Ich versprach, in Aleppo bei Hakki Bey, dem Leiter
der Ansiedlungen, für ihn zu bitten. Wieder und wieder drückte ich ihre
Hände, ich sagte: ich werde in Deutschland an Euch denken. Manuel
begleitete mich bis an den Ausgang des Lagers. Er wollte versuchen, in
der kommenden Nacht unserer Karawane nachzulaufen. Aber ich glaube
nicht, daß es ihm gelingen wird, unter den Flintenschüssen der Gendarmen
zu entfliehen.

                                            Mes kene, den 15. Oktober.

Als es Abend wird, sitze ich mit dem Priester Père Arslan Dadschad in
der offenen Tür seines Zeltes, und sie erzählen mir von ihren Leiden.
Von den 800 Familien der Stadt, mit denen sie auszogen, von den vielen
Tausenden, die er in der Wüste begraben hat, darunter dreiundzwanzig
Priester und einen Bischof. Ihre Blicke schreien mich an. »Du bist doch
ein Deutscher«, sagen sie, »und mit den Türken verbündet ... so ist es
also wahr, daß ihr selbst es gewollt habt!« Ich schlage die Augen herab.
Was kann ich ihnen erwidern, um sie Lügen zu strafen? Aus einer Tasche
seines Gewandes, in einen zerlumpten Fetzen gehüllt, holt der Priester
sein Christuskreuz, und als er es andächtig mit Küssen bedeckt, kann
ich, von Rührung ergriffen, mich nicht enthalten, es gleichfalls an die
Lippen zu führen, dieses Kreuz, das der Zeuge so vielen menschlichen
Kummers und Leidens gewesen ist.

Ich sehe nach den abendlich rauchenden Zelten und dem hellen Mond, der
über der dämmerigen Ebene aufsteigt. Das alles ist so anheimelnd, daß
ich mir einen Augenblick ein friedliches Bild vortäuschen könnte. Frauen
in geschürzten Unterröcken und offenen Blusen machen einen kleinen
Abendspaziergang. Das Geschrei spielender Kinder tönt herüber. Da höre
ich wieder ihre ängstlich forschende Stimme: ob ich Armenier in den
Städten am Euphrat getroffen habe? »... Wir werden sterben, wir wissen
es.« Er deutet auf sein zerlumptes Gewand: »_Une fois j'étais un prètre,
maintenant je suis un mouton, qui va à mourir._«

Ich gehe im Dunkel an den Fluß hinunter. In einer Schlucht finde ich
einen Haufen übereinandergetürmter Menschengerippe. Weiße Schädel, die
noch mit Haaren bedeckt sind, ein Becken, die Brustrippe eines Kindes,
zierlich gebogen wie eine Spange. Einen Augenblick überkommt mich eine
dumpfe Verzweiflung, die mir die Tränen in die Augen treibt, als müßte
ich alle Hoffnungen, alle Keime der Liebe vernichten, die mich je an das
Lebendige banden. Unendlich märchenhaft aber fließt der Fluß in die
weite Einsamkeit hinaus, in den unterspülte Erdschollen zuweilen
donnernd hinabfallen, und an dessen Ufern ich verlassen dahinschreite,
als wäre ich der letzte Mensch.

                                           Der Hafir, den 16. Oktober.

Eine grüne Oase, Weide mit Lämmerherden. Ich liege, o Wunder, unter
einem Baum und sehe das Licht durch die schmalen Blätter scheinen. Heute
ist mein dreißigster Geburtstag. Zum dritten Male, seit ich von Hause
fortzog, sehe ich diesen Tag sich wenden. Seit dem frühen Morgen wandere
ich in der hellen Sonne dahin, den Blick nach dem hohen Himmel
gerichtet, dort hinten, wo die Stadt aufsteigen soll, nach der wir so
lange Wochen gewandert sind, der Liebe voll und der starken Hoffnung des
kommenden Lebens. Mit welcher Freude verzeichnet das Auge das Auftauchen
jedes neuen Gegenstandes. Ein plätscherndes Wasser, eine Blume, einen
Regentropfen. Schwarzblaue Wolken beschatten den Himmel, und wieder
bricht die Sonne hindurch. Altweibersommer fliegt uns durch die Steppe
entgegen -- die weißen Haare Europas, das in Gram und Elend früh
gealtert ist.

                                              Aleppo, den 19. Oktober.
                                         Bei den deutschen Schwestern.

Als das schwarze Haupt der Zitadelle sich hinter den sanften Erdwellen
aufreckt, geraten die Pferde in schnellere Bewegung. Lächelnd neigen die
Kranken sich aus den Wagen, deren hölzerne Kästen mit zerrissenen Planen
klappernd in die steinernen Straßen rollen, windbrüchige Schiffe, die
den letzten Sturm überstanden. Wir haben die Bahnlinie erreicht, die uns
wieder mit Stambul verbindet.

Mein erster Gang führt mich zu den Schwestern. Sie haben für die
armenischen Flüchtlinge zwei Häuser eingerichtet, die mit Waisenkindern
überfüllt sind, die an der Straße liegen blieben. Die meisten kommen aus
Van oder Erzerum und waren länger als sechs Monate unterwegs. In den
ersten Wochen war der Hof so dicht von dem nackten Gestrüpp ihrer
Scharen überwuchert, daß sie sich gegenseitig zu ersticken drohten. Als
man das Haus reinigte, fand man im Brunnenschacht die Leiche eines
Kleinen, der zwischen der Wildnis der Menschen dort schweigend
verschwunden war. Auch Frauen und Männer halten sich unter ihnen
versteckt. Ich habe angefangen, ihre Schicksale aufzuzeichnen, wobei
Schwester Beatrix mir als Dolmetscher dient. Nur mühsam beginnen sie aus
Schwäche und Angst vor neuen Leiden zu reden, bis die Fülle ihres Elends
sie fortreißt und sie in Tränen ausbrechen.

In den letzten Tagen habe ich zahlreiche fotografische Aufnahmen
gemacht. Man erzählt mir, daß Dschemal Pascha, der Henker von Syrien,
bei Todesstrafe verboten hat, in den Flüchtlingslagern zu fotografieren.
Zusammengerollt trage ich diese Bilder des Entsetzens und der Anklage
unter meiner Bauchbinde versteckt. In den Lagern von Meskene und Aleppo
sammelte ich viele Bittbriefe, die ich in meinem Tornister verborgen
habe, um sie an die amerikanische Botschaft in Konstantinopel zu
bringen, da die Post sie nicht befördern würde. Ich zweifle keinen
Augenblick, damit eine hochverräterische Handlung zu begehen, und doch
erfüllt mich das Bewußtsein, diesen Ärmsten wenigstens in einer
schwachen Hinsicht geholfen zu haben, mit dem Gefühl größeren Glückes
als jede andere Tat es vermöchte.

                                               Konia, den 28. Oktober.
                                                              Im Bade.

Heute ist der neununddreißigste Tag, seit wir Bagdad verließen. Da der
Zug über Mittag liegen bleibt, gehe ich ein paar Schritte in die
herbstliche Stadt. Müde setze ich mich in die verlassene Moschee, hocke
mich in einer Nische auf den Boden, lege den Daumen hinter die
Ohrläppchen und fange zu grübeln an. Bald kommen die Leute und Soldaten
von der Straße herein. Ein paar Vögel zwitschern in der Kuppel, die
Stimme des Vorbeters klingt, von tiefem Schweigen unterbrochen, durch
den Raum. Einen Augenblick denke ich, von einem Schwindel der Gefühle
erfaßt: Gott, wo bist du? So schlafe ich ein und erwache erst, als das
Bethaus leer ist, und wie zur Antwort singt eine grenzenlose Öde durch
den Raum.

In weiße Tücher gehüllt, liege ich auf der Ruhebank des Bades. Nur
gedämpft klingt der Lärm der Stadt herüber, ein blaues Licht fällt durch
die Decke herab. Noch brennt mir die Haut von dem heißen Seifenwasser,
und verwundert schaue ich mein sonnenverbranntes Gesicht im Spiegel, den
langen Bart, der mir in der Wüste gewachsen ist. Zuweilen aber sinke ich
in Träume, dann steigt gewaltsam und furchtbar ein Werk vor mir auf, von
dem ich glaube, daß es zu dem Grausamsten gehören muß, was je über
menschliches Elend geschrieben wurde.

Ehe ich Aleppo verließ, ging ich in das Polizeigebäude, um bei dem
Leiter der Ansiedlungen für Manuel zu bitten. Aber obgleich er drüben in
seinem Amtszimmer saß und ich seinen Kopf durch die Scheiben erblickte,
ließ er mir durch den Diener sagen, er wäre verreist. In allen
Gesichtern, die aus den Türen sahen, wohnte ein feiges Gewissen. Ich
ließ mich bei seinem Vertreter melden. Alle waren sehr höflich, und wie
immer bot man mir eine Schale Kaffee an. Doch während ihm Angst und Lüge
deutlich in die Augenwinkel geschrieben stand, wagte er doch zu
behaupten, mit der Frage der Ansiedlungen hätten sie nichts zu schaffen.
So trat ich, ohne ein Wort meiner Bitte vorgetragen zu haben, wieder
hinaus, die Treppe hinunter, an den Polizisten vorbei, die mit falschen
Gesichtern in den Winkeln standen.

Von Neuem breitet der Badewärter ein frisches Laken über mich. Ein
wohliges Gefühl entfesselt alle Glieder. Aber schon im Halbschlaf sehe
ich noch einmal die bloßen braungebrannten Füße des armenischen Knaben
vor mir, die schon so viele Meilen in die Ferne gewandert sind. Seine
dunklen Augen blicken fragend zu mir auf ... Manuel wird in der Wüste
sterben. Ich habe ihn nicht wiedergesehen.



                           An die Großmutter


                                       Kospoli, den 12. November 1916.
                                 An Bord des Corcovado, Goldenes Horn.

Nur diesen Gruß, mein greises geliebtes Haupt, nur dieses Wort, daß ich
da bin, tausend Stunden näher an Deinem Herzen! Nichts mehr von Undank
und Bitterkeit! Nichts von Vergangenheit, nichts von Zukunft! In dieser
Stunde nur Freude! Daß ich zurückgekehrt bin mit unerhörten Reichtümern
des Geistes und Herzens, mit unersetzbaren, märchenhaften Schätzen des
Leides. Nun da ich hier bin, gerettet, um das Martyrium dieses Weges,
für mich und alle Opfer, die er gekostet hat, immer von neuem zu
durchleben, fühle ich, wie hinter mir die Wüste zu wachsen beginnt,
Meilen und Meilen wandernd in das Ewig-Ungewisse hinein. Nun erst
erkenne ich, wie fern, wie fremd ich Euch war. Aber ich fühle auch, wie
in mir das Wiedergeborene sich aufhebt, wie tausend Stricke mich rufen:
Spanne dich ein, den Schatz zur Höhe zu winden, den zu entdecken du in
so weite Tiefen hinab mußtest!

Sollte es mich dem gegenüber bedrücken, daß dieser Krieg noch immer
nicht in sich selber zusammenbrach? Daß ich, zwischen unüberbrückbare
Widersprüche und Welten gesetzt, mich zweifelnd umschaue, wohin ich die
Schritte bewegen soll, vor mir die Hölle der Somme, in meinem Rücken die
Wüste? In dem Rumpf eines alten Schiffes wohnend, in dessen Kajüten man
die deutschen Soldaten einquartiert hat und das rostig, von Seemuscheln
bedeckt, im Goldenen Horn vor Anker liegt, trete ich zuweilen an die
Reeling. Und zwischen abgetakelten Seegelbooten, zwischen
schwarzbauchigen Dampfern, deren eingeschlafene Schrauben von Seetang
bedeckt sind, zwischen Schornsteinen, Brückenpfeilern und Speichern sehe
ich die grauen Leiber der Schlachtschiffe schimmern. Ja, vielleicht
werde ich morgen, von denen fortgeschickt, denen ich so lange gedient
habe, dort über das Fallreep treten, die Hände an der Naht und die Füße
zusammengeschlagen, mit der Bitte, mich anzumustern, wieder wie in
Knabentagen eine Matrosenbluse und einen Schifferknoten zu tragen, von
Seewind umjubelt. Aber dahinter steht ein anderes Bild, und die Hand auf
das Geschütz oder die Fahne gelegt, inmitten des grauen Kasernenhofes
einer herbstlichen Stadt, höre ich mich mit anderen die Worte sprechen:
»Ich, Armin Wegner, schwöre zu Gott dem Allmächtigen und Allwissenden
einen leiblichen Eid, daß ich seiner Majestät dem Könige von Preußen zu
Lande und zu Wasser ...« hier aber wird es plötzlich still um mich, und
umgeben von einem kalten Schweigen höre ich einsam, als wären sie etwas
Fremdes, Losgelöstes, von meiner Lippe die Worte fallen: »Daß ich
niemals einen Menschen töten werde, an welchen Orten der Erde es immer
sei! Niemals das Geschütz oder Gewehr gegen meine fremden Brüder zu
richten. So wahr mir Gott helfe!«

Da streift helle Sonne mein Gesicht. Ich sehe, wie die dunkle Welle, in
die mein Blick noch eben träumend versenkt war, blauleuchtend zu blitzen
und zu schäumen anhebt. Und ich begreife aus den Erfahrungen einer
langen Jugend heraus, daß ich nicht mehr traurig sein darf, daß nie
wieder etwas aufstehen kann, mich zu beugen oder zu brechen, so
fratzenhaft Rätsel auch immer vor mich hintreten mögen, die zu lösen
fast übermenschlich scheint und deren Ungelöstheit doch den Tod
bedeutet. Sind wir nicht immer auf einer Reise begriffen? Ist die Küste
nicht stets von Nebel verhüllt? Wenn ich des Nachts in meiner engen
Schiffskabine liege, und mein Blick trifft aufwachend auf die Matratze
des darüberliegenden Kameraden und die engen hölzernen Wände dieses
vermodernden Kastens, in dem es nach Schwefel und Wanzen riecht, dann
ist mir, als wäre ich, wie in vergangenen Jahren, auf irgendeiner
abenteuerlichen Fahrt begriffen, als müßte ich beim ersten Schlagen der
Glocke auf Deck und an die Brüstung eilen, eine fremde, märchenhafte
Küste zu schauen oder ein grünes Ufer der Heimat, an dem auch Dein
weißes Haar wehte wie eine seidene Fahne des Friedens.

Wird es morgen sein? Wieviel Jahre werden vergehen? O, ich begreife, daß
ich ein Recht habe, glücklich zu werden ... Freude! In dieser Stunde nur
Freude! Nichts von Vergangenheit, nichts von Zukunft! War nicht jede
See, die wir durchschwammen, nur der Vorbote eines größeren Meeres, in
das wir uns stürzten, des geretteten Lebens froh und der neugewonnenen
stärkeren Kräfte? O schöpferische Tat des Geistes, Kraft der Seele, die
aus gemartertem Dasein geläutert emporsteigt, und du, gewaltigste
Pflicht, die ich mich freudig bereite zu erfüllen, beglänzt von der
Sonne des dreißigsten Jahres, zu schaffen, zu leben für Dich, mich, uns
alle!



                                 Inhalt


                                                                  Seite
   An die Großmutter                                                  1
   An die Frau eines im Kriege weilenden Soldaten                     8
   An die Eltern                                                     12
   An eine Schwester von Gül-Hane                                    16
   Traum auf dem Kelek                                               24
   An Carl Hauptmann                                                 27
   An die Frau eines im Kriege weilenden Soldaten                    34
   An die Großmutter                                                 44
   Ein Vermächtnis in der Wüste                                      48
   An eine Freundin                                                  60
   Brief an die Mutter                                               64
   Letzter Brief an die Eltern, Brüder, Freunde, Mitmenschen und     78
      Geliebten
   An eine Freundin                                                  85
   An die Mutter                                                     91
   An die Mutter                                                     99
   An einen Freund                                                  106
   Brief an die Eltern                                              112
   Der Triumph der Mutter                                           123
   An Carl Hauptmann                                                133
   Die vierzig Tage und Nächte der Heimkehr (an Pater Joseph)       145
   Die vierzig Tage und Nächte der Heimkehr (aus dem Tagebuche)     152
   An die Großmutter                                                173



                                 Werke
                                  von
                            Armin T. Wegner



            Im Verlage von _Egon Fleischel & Co._ erschienen

      Zwischen zwei Städten 1909
      Gedichte in Prosa 1910
      Höre mich reden, Anna-Maria 1912
      Das Antlitz der Städte 1917
      Der Weg ohne Heimkehr 1919


                    _In Vorbereitung befinden sich:_

      Im Hause der Glückseligkeit
      Türkische Novellen



                         Das Antlitz der Städte

                    Preis geh. M. 3,--; geb. M. 5,50

   _Carl Maria Weber_ in der _Bonner Zeitung_: Unter unsern
   zeitgenössischen Lyrikern hat kaum einer das Erleben des
   geistigen Großstädters, das benervte Schauen, das
   wollüstig-grausame Verfallensein an dieses Geröll von Lebendigem
   und Seelenlosem mit solcher Intensität gestaltet wie _Armin T.
   Wegner_. Visionen sind hier geballt von bedrückenden
   Schattendimensionen. Gläserne Dichte haben für ihn Mauern und
   Wände, kochende Lust und sieches Elend zudeckende Gewänder. Denn
   dieses Buch der Städte ist kein Bilderbuch (und keine ist irgend
   genannt; er meint _die_ Stadt als dämonisches Wesen, Irrgarten
   der Leidenschaften, Denkmal menschlicher Kraft und Unnatur); er
   sagt auch -- und zumeist vom Menschen aus, der sie schuf, der in
   ihr gefangen ist, an tausend Ketten zerrend, ihrem Mittelpunkt --
   wie er der Mittelpunkt der Welt überhaupt ist (oder doch sein
   sollte). Gesunde, unschwüle und unsentimentale (also unverlogene)
   Sinnlichkeit strahlt allenthalben auf -- was Wunder, daß
   selbsthasserische, puritanische Schnüffelbolde zum Staatsanwalt
   liefen, der im Interesse der öffentlichen Moral auch (kurz vor
   der Revolution) gleich bei der Hand war, die Konfiskation des
   inkriminierten Buches zu veranlassen.

   _Hans Franck_ in der _Frankfurter Zeitung_: Es gibt kein
   deutsches Versbuch, in dem das Gesicht der großen Stadt mit
   gleicher Wucht und Wahrhaftigkeit durch das Wort nachgestaltet
   wurde.

   _Richard Dehmel_: Und alle Lebensgluten sind mit der Ehrfurcht
   betrachtet, die das Häßliche wie das Schöne als gottgewollt liebt
   und das irdische Grauen himmlisch verklärt.

   _Nord und Süd_: Ein ethischer Wanderer ist er, großen Stils.

   _Josef Winkler_ in der _Rheinisch-Westfälischen Zeitung_: Er ist
   der erste Sänger der modernen Großstadt, wie sie wirklich ist.
   Man behauptete mal, wenn nur eine Großstadt bestehen bliebe,
   könne diese mit ihren Menschen und Mitteln aus einem
   Weltuntergang unsere ganze Kultur neubauen. An diesen Ausspruch
   muß man denken vor dem Reichtum, den Wegner in seinem Buch
   aufdeckt: vom titanischen Rhythmus des ungeheuren Schaffens der
   zusammengeballten Millionen .... Ich begrüße ihn als einen
   wahrhaft schöpferischen, visionär begnadeten Dichter.



      *      *      *      *      *      *



Anmerkungen zur Transkription

Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten.
Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
(vorher/nachher):

   [S. 79]:
   ... des Todes bedeutet, nnd das der bekannte ...
   ... des Todes bedeutet, und das der bekannte ...

   [S. 99]:
   ... geboren. Als könnte ich dir heute nur all jene ...
   ... geboren. Als könnte ich Dir heute nur all jene ...

   [S. 176]:
   ... wie in vergangenen Jahren auf irgendeiner ...
   ... wie in vergangenen Jahren, auf irgendeiner ...





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Der Weg ohne Heimkehr - Ein Martyrium in Briefen" ***

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