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Title: Schen - Studien aus einer chinesischen Weltstadt
Author: Secker, Fritz
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Schen - Studien aus einer chinesischen Weltstadt" ***


  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1913 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
    Fehler wurden stillschweigend korrigiert; ungewöhnliche und
    altertümliche Ausdrücke bleiben gegenüber dem Original unverändert.
    Rechtschreibvarianten wurden nicht vereinheitlicht, sofern die
    Verständlichkeit des Textes dadurch nicht berührt wird. Eine
    Passage in Fettdruck wird durch =Gleichheitszeichen= hervorgehoben.
    Das Unterkapitel ‚In der Foochow Road‘ (S. 62) wurde dem
    Inhaltsverzeichnis hinzugefügt.

  ####################################################################



                             Fritz Secker

                                 Schen

               Studien aus einer chinesischen Weltstadt.

                            [Illustration]

                            Erstes Tausend.

                            [Illustration]

                                 1913.
              Druck und Verlag von Adolf Haupt, Tsingtau.

                  Kommissionsverlag für Deutschland:
             Max Noessler & Co. Berlin, Friedrichstr. 207.



Vorwort.


Die Studien aus der chinesischen Weltstadt sind seit Anfang vorigen
Jahres in zwangsloser Reihenfolge im „Ostasiatischen Lloyd“ erschienen.
Wenn ich sie jetzt gesammelt von Neuem der Oeffentlichkeit darbiete, so
geschieht das aus mancherlei Gründen. Ich glaube, dass ich in diesen
Aufsätzen und Skizzen fast unbewusst eine bedeutende Epoche im modernen
chinesischen Kultur- und Sittenleben festgehalten habe. Jene Epoche
setzte kurz nach Beendigung der Wutschanger Revolution ein und fand mit
der Wahl Yüan Schi kais zum Präsidenten einen gewissen Abschluss.

Die fast zweijährige Zeitspanne stand unter dem Zeichen des
jungchinesischen Reformeifers, der ein Vernichten alter chinesischer
Kulturwerte und eine blinde Nachahmung alles Ausländischen zum Ziele
hatte. Welche neue, zweifelhafte Werte dadurch geschaffen wurden, soll
das Buch Schen zeigen. Wenn auch die Auswüchse jener Übergangszeit
zum Teil wieder verschwunden sind, so wird doch auch in Zukunft das
talmiglänzende Schanghai eine stete Gefahr für alle echten chinesischen
Kultur- und Zivilisationswerte bilden. Dem alten China kann man im
Interesse einer gesunden Weiterentwicklung nur wünschen, dass es für
alle Zeiten von dem verderblichen „Schanghaiismus“ verschont bleibt.

                                                   =Fritz Secker.=

    Auf dem Westsee bei Hangtschou,
      im 9ten chinesischen Monat
              des Jahres
              Kui tschu.



Inhalt:


                                                             Seite

    Vorwort

    Republikanisches Neujahr                                     1

    Strassenbilder                                               7
      Durch die Foochow Road                                     7
      Die Revolution in der Nanking Road                        18

    Im Tor der Hoffnung                                         24

    Eine chinesische Première                                   30

    Bilder am Wege                                              41
      Die Freude am Licht                                       41
      Der Erdnusshändler                                        43
      Der Heiratsvertrag                                        45
      Der Schauspieler                                          47
      Das Fest der Literaten                                    49
      Zirkus in der Unterwelt                                   52
      Vom westländischen Modefieber                             55
      Beim chinesischen Buchhändler                             57
      Der musikalische Obsthändler                              61
      In der Foochow Road                                       62

    Grossstadtschicksale                                        63
      A-säs Heirat                                              63
      Eine verunglückte Zeitungsgründung                        68

    A-tous Vater                                                73

    Huitungs Erlebnisse und Meinungen                           80

    Erinnerungen eines chinesischen Revolutionärs               96

    Schanghai und China                                        111

    Nächtliche Stromfahrt                                      120

[Illustration]


[Illustration: Der „Su-chou-Krick“ mit seinen rauchenden Schloten. (S.
63.)]



Republikanisches Neujahr.


Das chinesische Neujahrsfest 1912 hat infolge der politischen
Ereignisse, die gerade kurz vor dem Fest zu einem vorläufig
befriedigenden Abschluss kamen, ein besonderes Gepräge erhalten.
Wer während der Festtage durch die Hauptstrassen der Niederlassung
gewandert ist, dem fielen wohl zwei Dinge zuerst in die Augen. Einmal
waren es die wenig Schönheitsgefühl verratenden grellfarbigen Flaggen
der Republik, mit denen die Häuserfronten geschmückt waren, und
ferner die vielen feld- und hechtgrauen Uniformen in dem wogenden
Strassengetriebe. Diese beiden Aeusserlichkeiten waren gewissermassen
der Grundton, der den vielen Einzelwesen, die in den Strassen auf- und
abwogten oder sich an belebten Strassenecken als gaffende Zuschauer zu
Massen stauten, eine besondere Farbe lieh.

Noch vor einem Jahr war es bei dem männlichen Geschlecht Sitte, das
Neujahrsfest in einfachen, schmucklosen Feiertagsgewändern zu begehen.
Doch, wer dieses Jahr näher zuschaute, der erblickte auf dem obern
Gewand unscheinbaren Firlefanz, der trotzdem gross genug war, um
auf einen über Nacht gezüchteten Patriotismus und auf unverstanden
nachgeäffte Ausländerei des Trägers schliessen zu lassen; da gab es
kleine Emailleschildchen, auf denen sich die republikanische Land- und
Seeflagge kreuzten, fünffarbige in der Mitte zusammengeraffte Bändchen,
die offenbar den Inhaber eines Ehrenzeichens vortäuschen sollen, und
sogar richtige Orden wurden stolz zur Schau getragen. Ihre Träger waren
wahrscheinlich entlassene oder Soldaten in Zivil, die den „Feldzug“
mitgemacht haben. Orden und Ehrenzeichen scheinen in China allmählich
in Mode zu kommen; und damit werden dem Neid und der Eitelkeit neue
Türen geöffnet. Hatten doch in Tschangscha neuangeworbene Soldaten, die
während des Aufstands weder einen Feind gesehen, noch Pulver gerochen
hatten, gemeutert, weil ihre Kameraden sich mit Verdienstmedaillen auf
der Brust zeigen konnten und sie bei dem Ordensregen schnöde unbeachtet
geblieben waren! Und sogar ein „vorläufig amtlich revolutionäres“
Finanzinstitut stellte den Zeichnern einer allgemeinen öffentlichen
Anleihe, an der sich auch Westländer beteiligen konnten, Orden und
Ehrenzeichen in Aussicht. Uns liegt jede Kritik fern; aber solche
kleine Aeusserlichkeiten sind ein interessantes Schlaglicht auf das in
der Umwandlung begriffene China.

Abgesehen von jenen halb verdeckt zur Schau getragenen neumodischen
Aeusserlichkeiten, scheint das Neujahrsfest auf gewisse chinesische
Kreise doch etwas ernüchternd und national sammelnd gewirkt zu haben.
Denn Viele, besonders Angehörige der mittleren Volksschichten,
die sich, in eitler Nachahmerei, dem Ausland zu einer Zeit in die
Arme geworfen hatten, wo sinnbetörende Schlagworte durch die Luft
schwirrten, mögen sich plötzlich auf das Erbe besonnen haben, das sie
in einer freiheitlichen Regung verschleuderten, um dafür europäische
Hosen, Kragen, Schlipse und Manschetten einzutauschen. Das höchste
Fest des Jahres hat sie aber sich darauf besinnen lassen, dass sie
keine halben Ausländer, sondern Chinesen sind. Und daraus erklärt sich
offenbar auch die Tatsache, dass verhältnismässig wenig Chinesen in
westländischer Kleidung auf der Strasse zu sehen waren. Dem Schreiber
dieses erklärte ein solcher „halber Ausländer“, der sich noch vor den
Festtagen in einem nicht sehr blendend weissen Kragen und auf etwas
schief getretenen Absätzen gefallen hatte, auf die Frage, weshalb er
heute chinesische Kleider trage: „Heute bin ich Chinese.“ Auch die
chinesischen Theater, auf deren Spielplan jetzt sonst die neuen, von
westländischer Bühnenkunst beeinflussten Stücke wie die „Kameliendame“
und „Napoleon“ mit an erster Stelle stehen, hatten während der Festtage
ihren Spielplan auf einen nationalchinesischen Ton gestimmt und dem
klassischen Schauspiel wieder vorübergehend zur Ehre verholfen.
An dem Tage, wo die Neujahrsfeier zu Ende geht und man über die
zahlreichen Pflichtbesuche und Schmausereien hinweg ist, besucht man
gerne das Theater, wo man noch diesen oder jenen Bekannten trifft,
der nachträglich beglückwünscht wird. Wer an diesem Neujahrsfest seit
langen Monaten wieder einmal das Theater besucht und von stolzer
Loge auf die hundertköpfige Menge im Parkett geschaut hat, der
erblickte unter sich ein ungewohntes Bild: hunderte, fein säuberlich
gescheitelte, fest angeklebte, glänzende und nach Schmalz und Haaröl
duftende Köpfe nickten, sich kurz verbeugend, nach rechts und links.
Wie gemessen und würdevoll war das Bild noch vor wenigen Monaten, als
Zopf an Zopf sich reihte.

Nun, der Zopf ist weg, vielleicht deshalb, weil ein chinesisches
Sprichwort sagt: „Wer nicht mit der Mode geht, gilt als arm“. Und
war das Zopfabschneiden nicht vielleicht Mode? Wenn nicht, so hat es
wenigstens einer andern Mode zur Geburt verholfen, nämlich dem Tragen
westländischer Mützen auf chinesischer Kleidung. Wer vor den Festtagen
noch keine solche Mütze sein eigen nannte, der kaufte sich eine. Die
europäische Industrie wird wenig Nutzen mehr von den Massenkäufen in
Mützen vor Chinesisch-Neujahr gehabt haben; denn sie wurden entweder
von Japan eingeführt oder aus „Aikuopu“ (vaterländischem Tuch) in
China verfertigt. Man konnte Mützen in allen Formen sehen; besonders
beliebt waren aber anscheinend die aus Stoff gesteppten, hutförmigen
Kopfbedeckungen, deren Rand sich nach jeder Richtung beliebig biegen
lässt und die dem Träger ein etwas verwegenes und keckes Aussehen
verleihen sollen. Nur ganz vereinzelt tauchte hie und da unter dem
auf- und abwandernden Volk jene altchinesische, die obere Stirn scharf
umrahmende, schwarz seidene, mit einem roten Bandknäuel gekrönte
Form auf; nur verstohlen wagte es ein Chinese, sich mit diesem
Erinnerungszeichen an die „Knechtschaft der Mandschus“ sehen zu lassen.
Namentlich bei der chinesischen Damenwelt Schanghais hat in den letzten
Jahren das Tragen von Mützen immer mehr Eingang gefunden. Sie bedeckt
aber nur den obern Teil des Kopfes und schmiegt sich leicht an das
dicke, straff ausgekämmte Haar an. Die ursprünglich westländische
Mützenart ist stetig verchinesisiert worden. An den Festtagen, wo sich
die Damen nach dem „dernier cri de Changhaï“ kleiden, hat man besonders
Gelegenheit zum Studium. Die Farbe der Mütze wird nach Möglichkeit
dem Kostüm angepasst, himmelblau scheint besonders bevorzugt zu sein;
von der Mitte aus, wo bei den Jungenmützen der Knopf sitzt, gehen
strahlenförmig einige kurze Schleifchen flatternd auseinander. Auch
das Verzieren der Damenkleider mit losen Bändern scheint beliebt
geworden zu sein; auf Brusthöhe werden rechts und links, unter einer
Art Kokarde, einige flatternde Bänder befestigt, die oft einen halben
Meter lang sind; bei manchen Damen waren die Bänder mit Spangen
festgemacht, die das fünffarbige, republikanische Abzeichen trugen.
Eine solche modisch gekleidete Schöne erinnerte gar zu sehr an ein
festlich geschmücktes Pfingstöchslein. Auf den winzigen Schuhen, die
allmählich vom Tuch zum Leder übergehen, werden jetzt gerne kleine
Quasten getragen. Die Hosen nehmen eine bedenkliche Enge an; sie sind
oft nicht weiter als der kleine Fuss, auf den sie herabfallen. Wenn
die Mode die Hosenform noch weiter auf die Spitze treibt, dann weiss
man wirklich nicht, was noch werden mag. Oder soll die Methode des
alten Seydlitz eingeführt werden, dass künftighin die Hosen vor dem
Anziehen in Wasser getaucht werden müssen, damit sie sich straff und
prall an die Beine anschmiegen? Ein Teil der chinesischen Damenwelt
scheint dies schon vorauszuahnen und trifft deshalb zeitig Vorsorge;
darum heisst die Losung: „Zurück zum Rock“. Tatsächlich war die Zahl
der rocktragenden Damen beim Neujahrsfest bedeutend. Mit dem Rock, der
allmählich westländische Formen anzunehmen beginnt, wird auch wieder
aller überflüssiger Firlefanz von der Kleidung verbannt. Wodurch die
„Langröckigen“ aber auffallen, ist die neumodische Haartracht, die
nicht mit einer Mütze verdeckt wird; auf dem vordern Teil des Hauptes
werden einige geflochtene Haarsträhne mit einander verschlungen, sodass
die Haartracht der Form eines Bretzels gleicht. Einen noch drastischern
Vergleich möchte ich lieber unerwähnt erlassen.

Dass die neue Mode keineswegs den vollen Beifall des männlichen
Geschlechts findet, zeigen die Spottverse, die in einem chinesischen
Blatt auf die Frauenmode erschienen sind. Darin heisst es:

„Eine Dame mit blauer Brille gleicht dem Kopf eines Ochsen.“

„Das weisse Band um den Hals sieht aus wie ein Strick, an dem sie sich
aufhängen will.“

„Die ledernen Schuhe machen Einen glauben, dass das Fräulein einer
Missionsgesellschaft angehört.“

„Die goldene Kette um den Hals erinnert an die Eisenkette eines
Strafgefangenen.“

„Der Aufputz der Haartracht, von hinten gesehen, gleicht dem Kopf eines
Lämmleins, das auf der Weide Gras schnuppert.“

„Der „Gretchenzopf“ erinnert an einen zum Kampf bereiten Rauflustigen.“
(Wenn zwei Zopfträger in Streit geraten, dann wickeln sie gewöhnlich
vorher ihre Zöpfe um den Kopf, um dem Gegner keine Gelegenheit zu
geben, den Zopf zu packen.)

„Eine Dame mit einem Spazierstock gleicht einem Affen, der spazieren
geht.“

Der Schreiber war offenbar derart über die Kühnheit seiner bissigen
Kritik erschrocken, dass er rasch noch die letzte Glosse anflickte, um
alles Vorhergesagte zu mildern:

„Im Uebrigen gleicht das Auftreten und das Gehen der Damen dem eines
Kriegers, der in die Schlacht zieht.“

Mit dem Vergleich des Kriegers hat er jedenfalls eine rührsame Seite
der Schanghaier Frauenwelt getroffen, wenn man sich vor Augen hält, mit
welcher Begeisterung während der Revolution ein Amazonenkorps gegründet
wurde, um gegen die Reichshauptstadt zu Felde zu ziehen.

Dieser Umstand ändert aber nichts an der Tatsache, dass die neue Zeit
China kostspielige und putzsüchtige Frauen beschert hat. Vorläufig
beschränken sich zum Glück die neuen Modeauswüchse noch auf Schanghai.
Wenn auch die anderen Städte und später das flache Land von dem
Modefieber ergriffen werden, so wird manche Ehe an der teuren Putzsucht
der weiblichen Hälfte scheitern. Dann wird auch das Epigramm in seiner
wahren Bedeutung von den chinesischen Männern gewürdigt werden, das ein
vor Jahrhunderten lebender chinesischer Philosoph über die Ehe verfasst
hat. Er sagte: „Die Ehe gleicht einer belagerten Stadt; die draussen
sind, möchten hinein, und die drinnen sind, möchten heraus.“

Der von der weiblichen Lebewelt am Neujahrstage entfaltete Luxus
war recht bedeutend. Ein abendlicher Gang durch die berühmte, in
märchenhaftem Farbenspiel der Lichter erstrahlende Foochow Road
führte dem beobachtenden Westländer die steigend kostspieligere und
prunkhaftere Lebensführung gewisser chinesischer Kreise überzeugend
vor Augen. Rickschas, Sänften und selbst die mit Gummi beräderten
Glaskutschen kommen allmählich auf den Aussterbeetat und werden von
dem Kraftwagen verdrängt. Trotz Gummispekulation, Krisen auf dem
Finanzmarkt und trotz den schweren Geldopfern, die für die „gute
Sache“ der Revolution beigesteuert werden mussten, wurde der Tag der
chinesischen Jahreswende mit Prunk und tändelndem Saitenspiel gefeiert.

Wie wohltuend wirkte da eine Flucht aus dem lärmenden Neujahrsgetriebe
in die ruhige, behäbige Landschaft jenseits des Suchouer Krieks. Dort
ist noch echtes, gemütliches, von dem nahen Schanghai unbeeinflusstes
China, und es wurde dort auch dementsprechend Neujahr gefeiert. Wenn
auch die Bauern jenseits des Krieks nichts von Goethe kennen, so ist
ihnen wohl der Ausspruch des dritten Bürgers im Faust aus der Seele
geschrieben:

    „Herr Nachbar, ja! so lass ich’s auch geschehn:
    Sie mögen sich die Köpfe spalten,
    Mag Alles durcheinandergehn;
    Doch nur zu Hause bleib’s beim Alten!“

[Illustration]



Strassenbilder.


Durch die Foochow Road.

Im Schanghaier Sprachgebrauch ist das Wort „Fu-tschou lu“ nicht sehr
häufig. Wenn ein Einheimischer nach der Fuoochow Road geht, dann geht
er nach dem „Vierten Pferdeweg.“ Die Hauptstrassen der internationalen
Niederlassung haben sich nämlich die Chinesen in Ma-lu (wörtlich:
Pferdeweg) eingeteilt. So ist zum Beispiel die Nanking Road der „grosse
Pferdeweg“, die erste Parallelstrasse der „erste Pferdeweg“, die
zweite, der „zweite Pferdeweg“, und so fort. Von allen Pferdewegen
hat aber der vierte den besten Klang: Sze-ma-lu ist ein Schlagwort,
das weit mehr sagt, als die nüchternen Worte ahnen lassen. Mit dem
Szemalu sind die Gestalten pfirsichfarben geschminkter und winzig
befusster Mädchen, Politik, Theater, aus der Kehle gequetschter und
mit der Fiedel begleiteter Gesang, die neuesten Witze, schlemmerhafte
Restaurants und langverandige Teehäuser auf das Engste verknüpft,
kurz, der Szemalu ist „die“ Strasse Schanghais, wenn nicht ganz
Chinas. Daraus erhellt, dass der Szemalu die Strasse der chinesischen
Lebewelt ist. Bei Tage unterscheidet sich die Foochow Road kaum von den
übrigen Pferdewegen. Sie trägt dann ein nüchternes, geschäftsmässiges
Kleid; in der Luft liegt der Schweiss des Alltags, ausgehaucht von
heissgelaufenen Rickschakulies und Lastträgern, vermischt mit Gerüchen,
die den Läden entströmen. Die Menschen, die sich durch die Strassen
bewegen, tun es nicht zum Zeitvertreib und zum Vergnügen. Jeder hat
seine Bestimmung. Wer also bei Tage als studientreibender Ausländer die
vielgerühmte Foochow Road durchwandert, der wird enttäuscht sein; denn
ihr Bild ist ebenso alltäglich und farblos wie das jeder andern Strasse
der Niederlassung. Er muss trotzdem aber einmal bei Tage durchgewandert
sein, um die Folie für Das zu haben, was die Augen am Abend erschauen.

[Illustration: Ein Teehaus in der Foochow-Road.]

Sobald sich die Dämmerung über Shanghai senkt, wird die Foochow Road
von einem Zauberstab berührt. Der Zauberer ist ein böses weibliches
Wesen; es heisst Vergnügungs- und Genussucht. Wenn die aus dem
Herzen der chinesischen Lebewelt verbannt werden könnte, so gäbe es
eben keine Foochow Road. Der Zauber teilt sich den Menschen mit,
und diese zwingen die Elektrizität in bunte Glaslampen zum frohen
Farbenspiel. Trotz des ununterbrochenen Lärmens und Schreiens,
mit dem sich die Menschenmenge durch den Strassenschlund zwängt,
liegt darin Feierliches und Würdevolles. Das wird vor Allem durch
die einheitliche Kleidung, den behäbig schlendernden Gang und das
anmutige Spiel des Fächers bedingt. Nach des Tages Last und Hitze
streift der Schanghaier Lebemann seine Alltagskleidung ab und wirft
sich in ein leichtes, crêmefarbiges Gewand und presst das mit Pomade
gesteifte Haar nach rechts und links zu einem Scheitel; er trägt in
der Regel hellfarbige westländische Schuhe und weisse Strümpfe, die
mit äusserlich sichtbaren Gummibändern straff gehalten werden. Das ist
die Schanghaier Herrenmode im Sommer. Wer aus dem Norden des Reiches
kommt, kann ihr nur schwer widerstehen; denn der „Wind des Südens“,
der auf den harten Nordmann bald von verderblichem Einfluss wird, dass
er sich wie „frühe Sommergarben im Winde beugt“, macht sich nicht
allein in dem Unterwerfen unter die Schanghaier Weltanschauung des
äusserlichen Scheins und des ausschöpfenden Geniessens (was man am
Besten mit „Schanghaiismus“ bezeichnen könnte) geltend, sondern auch
auf dem Gebiet der Mode. Nur ganz charakterfeste Nordleute vermögen
ihre völkische Eigenart inmitten des Schanghaier Völkergewimmels
aufrecht zu erhalten. Zur Ehre der Schantung- und Kiangpei-Leute,
die ob ihrer besondern Zuverlässigkeit auf vorgeschobenen Posten als
Schutzleute für die Sicherheit der Niederlassung Sorge tragen, sei es
gesagt, dass sie bisher dem „Schanghaiismus“ mannhaft Stand gehalten
haben. Sie sind die Einzigen unter der chinesischen Schutzmannschaft,
die ihren Zopf zur Schau tragen; dass die konservative Beharrung
durchaus mit einer kernfesten, das Zersetzende der Republik erkennenden
Auffassung der Dinge in Einklang steht, erfährt, wer sich mit ihnen in
eine Unterhaltung einlässt. Gar zu bald schleift sich aber bei weniger
standhaften Nordchinesen die breite, harte und doch so wohlklingende
Sprache zu Gunsten des wischwaschigen Schanghaier Dialekts ab, und
auch das dunkelblaue, grobleinene Gewand, das vielleicht die Mutter dem
nach Süden ziehenden Sohn liebevoll mit eignen Händen gewebt hat, wird
bald mit dem verweichlichenden Schanghaier Gewand vertauscht. Bei den
Schanghaiern mehr wesensverwandten Mittel- und Südchinesen geht der
Wechsel noch rascher vor sich. Daraus erklärt sich das einheitliche
Strassenbild in der Foochow Road, obwohl unter der Menge, die täglich
am Abend durch die Strasse wandert, Vertreter aller Provinzen des
Reiches sind. Ein erlauschtes Wort und ein Blick ins Gesicht lässt
aber stets mit ziemlicher Sicherheit erkennen, welcher Heimatprovinz
der also vom „Schanghaiismus“ Besiegte angehört. Da drängt sich der
vornehme Tschekianger, auf dessen edel geschnittenem Gesicht und in
zwei weichen Augen ein Abglanz jener schwelgerischen Zeiten zu liegen
scheint, als die alte Sungdynastie in Hangtschou herrschte; da fächelt
sich selbstzufrieden der Musik und Sang liebende Hunaner; da schreitet
der wetterfeste, von Nordsturm und Sonne gebräunte Schantunger; ihm
folgt der melodisch gesprächige Ost-Tschihlier und der behagliche
Pekinger. Und im Gegensatz zu diesen steht der Kantoner; er steht über
allen diesen Gruppen. In seinem pergamentgelben Gesicht treten starke
Backenknochen hervor, wodurch die Augen umso stärker zurückgedrückt
erscheinen. In den Augen liegt der ganze Charakter; dort sprüht und
flackert es von zielbewusstem Vorwärtsstreben, aber auch von Ermattung
nach einem fruchtlosen Kampf; die Schnelle der Augenbewegungen wird
von einer abgehackt, nervös klingenden Sprache unterstützt; eine
Gestalt voll Leben und Unruhe. Wenn ein Mittelchinese diese Zeilen zu
schreiben hätte, so würde er die Menge ganz anders charakterisiert
haben, denn fast jeder Provinzler, Städter und Dörfler in China hat
einen „Spitznamen“. Er würde zum Beispiel so gesagt haben: „Sehen
Sie, dort geht eine Ningpoer „Wasserschüssel“, dort eine Tsimoer
„Süsskartoffel“, dort steht eine Südschantunger „Wassermelone“, in
der Sänfte sitzt ein Hangtschouer „Eisenkopf“, hier ist ein Anhuier
„Maultier“, im Rickscha fährt ein Schansier „Rauhbein“, und dort drüben
an der Ecke stehen eine Tientsiner „Schnauze“ und ein Pekinger „Aal“.
Und wenn wieder ein Nordchinese seine Charakteristik abgeben sollte,
dann würde er die „Schanghaiisten“ mit dem Sammelnamen „Nanmandse“
(Süd-Barbaren) abfertigen; als Antwort würde ihm aber von dem
Schanghaier entgegenschallen: „Du kulturloser Nordmann.“ Doch genug
von dem Partikularismus, der sich gerade jetzt, nach der „Zurückziehung
der Mandschus von den Staatsgeschäften“, so verderblich für eine
zielbewusste Politik gezeigt hat.

[Illustration: Die Foochow-Road.]

Gestossen und geschoben kommen wir allmählich in dem Gewühl vorwärts.
Der Weg vom deutschen Postamt bis zur Stelle, wo der Szemalu von der
Kiang-nan Road gekreuzt wird, kann man noch ziemlich ungestört gehen.
Was jenen Teil der Strasse auszeichnet, sind die chinesischen Drogerien
und die Ateliers der Zahnkünstler. Beide erfreuen sich, trotz der
Abendstunden, eines lebhaften Zuspruchs; denn in ihnen liegt die Quelle
des innern und äussern Wohlergehens für den Chinesen. Innerlich, weil
in den Drogerien westländische und japanische Allerweltsheilmittel
verkauft werden, die angeblich ebenso sicher bei nervösem Asthma
wie bei schmerzenden Hühneraugen wirken, wodurch also die Erfüllung
des Lebenswunsches eines jeden Chinesen nach „schou“ (langes Leben)
gewährleistet wird; äusserlich, weil in den Zahnateliers gleissend
goldene Zähne verfertigt werden, die, den zernagten angeschmolzen,
eine prahlerische Zahnreihe schaffen, die das stets geübte Lächeln
vergolden, wodurch vor Allem zum Ausdruck kommen soll, dass der
Besitzer zur Schau getragener Goldzähne wirtschaftlich in der Lage
ist, sich ein solches Vergnügen zu leisten. Das hat den Vorteil,
dass der Kredit gestärkt wird, und mancher Gläubiger, auch die des
weiblichen Geschlechts, die von den verführerischen Zahnreihen
bezaubert wurden, raufen sich oft die Haare, weil sie so dumm waren
und um eines vergoldeten Zahns willen so weitherzig Kredit gegeben
hatten. In der Foochow Road dem Vergnügen nachzugehen, ist für den
mit den Verhältnissen nicht vertrauten chinesischen Lebemann nicht
immer leicht. Wer aus den tiefsten Quellen geniessen will, dem muss
ein kreditfähiger Name, der durch die Einführung eines bekannten
Freundes erworben werden kann, vorausgehen. Der Provinzler, der ohne
die nötige Einführung durch die Foochow Road bummelt, schöpft nur von
der Oberfläche. Man findet ihn deshalb fast nur in den Teehäusern mit
und ohne Gesang, die auch für den Einheimischen billige Stätten der
Unterhaltung und des Vergnügens sind. In dem Teehaus ohne Musik trinkt
man Tee, knappert Melonenkerne und versucht, möglichst einen Platz auf
den langen, nach der Strasse liegenden Veranden zu ergattern, wo man
in das bunte Strassengewühl blicken kann. Die männliche jeunesse dorée
schätzt diese Art Teehäuser nicht besonders, weil ihre Gegenwart nicht
von sangesfrohen Damen verschönt wird. Dafür gibt es aber Stätten,
wo ebenso wie aus der Teekanne das heisse Getränk, Mädchengesang
ohne Unterlass aus den Kehlen quillt. Betritt ein Gast den zu dem
ersten Stockwerk des Teehauses führenden Treppenaufgang, so stösst
ein Bedienster einen kurzen Zuruf aus, der oben, aus mehreren Kehlen
klingend, seinen Widerhall findet. Für die Aufwärter ist der Zuruf
ein Zeichen, dass sich ein Gast naht. Ist man inzwischen die Treppe
emporgeklommen, so wird man von der Aufwärterschar empfangen, die sich
bemüht, jeder für seine Abteilung, den Gast unterzubringen; zugleich
wird aber durch den Zuruf die Aufmerksamkeit der anwesenden Gäste nach
dem Treppenfirst gelenkt, die in infolgedessen Gelegenheit haben, den
Ankömmling zu mustern und, wenn es ein Freund ist, ihn zu begrüssen.
Es ist eine geräumige Halle, die wir betreten. Die vier Wände sind
völlig mit Wandrollen, die sinnige Inschriften tragen, geschmückt.
Geschenke, die dem Unternehmer vor einigen Jahren oder Jahrzehnten
aus Anlass der Geschäftseröffnung von Freunden überreicht wurden. An
einer Reihe viereckiger, braun gebeizter Tische, deren Flächen mit
Marmorplatten eingelegt sind, sitzen die Gäste; andere machen es sich
auf den an bessere Opiumhöhlen erinnernden Bänken, auf denen sie mit
angezogenen Beinen ruhen, bequem. An der hintern Wand befindet sich
die Bühne mit rot und gold bemaltem, verschnörkelten Schnitzwerk. Auf
der Bühne steht ein langer Tisch, um den fünf Sängerinnen sitzen. Sie
lösen sich gegenseitig im Singen ab. Eine klassische Melodie steht auf
dem Programm; ein Gesang aus dem Theaterstück „Yang-gia-dsiang“, das
das Schicksal eines hohen verdienten Staatsbeamten aus der Sungzeit
schildert, dem ein Aufstand Macht und Ansehen raubte und der, verlassen
von Allen, den Hungertod stirbt. Die Seelenkämpfe des qualvoll Endenden
behandelte ein Lied, an das sich der Klagegesang eines Trauernden
schloss. Für Begleitmusik sorgte die Hauskapelle, die aus Trommel,
Zimbel, Fiedel und Flöte bestand. Derweilen der gedämpfte Sterbegesang
der Kehle einer Sängerin entquoll, lag ein kremefarbig gekleideter,
langbeiniger Flegel auf der Bank, guckte mit dem Kopf nach der Decke,
und spuckte die nicht essbaren Ueberreste von Melonenkernen in weitem
Bogen durch die Luft. Die Sängerinnen wechselten häufig. Sie waren
nicht prunkvoll gekleidet, sondern trugen schlichte Leinenkleider. Ihre
tägliche Einnahme ist äusserst gering; für ein Lied erhalten sie etwa
zwanzig Zent Singhonorar. Jeden Abend treten sie nach einander in vier
bis fünf Teehäusern auf; das macht im Monat kaum dreissig Dollar. Es
ist klar, dass die Mädchen auf Nebenverdienst angewiesen sind; noch
klarer ist, dass dieser nicht in Stricken und Häkeln besteht.

Besser ist es um die Klasse der Sängerinnen bestellt, von denen wir
eine Vertreterin auf Bestellung hören sollten. So glatt auch Alles am
Nachmittag schon eingeleitet war: als die Ausführung kommen sollte,
stiessen wir auf Schwierigkeiten. Wir besuchten eine Reihe der ersten
Restaurants, um ein kleines Zimmer zu erhalten; aber sie waren besetzt.
Es blieb nichts weiter übrig, als ein zweitklassiges Restaurant
zu wählen. Arglos füllten wir einen Zettel aus, der den Namen des
Restaurants trug, und baten unsere Sängerin, die zu den besten und
bekanntesten Schanghais zählt, uns mit dem bestellten Gesang zu
erfreuen. Dem Ruf wich aber unsere Freundin vorläufig aus und schickte
zur nähern Auskundschaftung ihre Dienerin, die sich scheinbar etwas
bestürzt in unserm spiessbürgerlich mittelstandsmässig eingerichteten
Speisezimmer umsah, einige entschuldigende Worte sprach und verschwand.
Unterdessen wurde ein kleiner Imbiss aufgetragen; es gab Huhn in
Scheiben mit würziger Tunke, geschmorte Krabben und kleine, in brauner
Tunke schwimmende Fische; 1898er Wein aus Schauhsing würzte den Imbiss.
Es schmeckte, aber der verdauende Gesang fehlte immer noch. Eine
zweite Dienerin kam, sprach und ging. Wir wurden ungeduldig. Gerade
als ein zweiter Zettel abgeschickt werden sollte, erschien unsere
Freundin, liess sich, wie üblich auf der Seite des Gastgebers nieder
und sang. Aber leider nicht die von uns gewünschte Parodie, sondern das
Original, das berühmte Lied von den „Fünf Nachtwachen“, das kurz nach
der Revolution mit zu den volkstümlichsten Schlagern gehört. Es ist in
der Begeisterung entstanden, die damals in gewissen Kreisen herrschte,
als es hiess, ein „nördliches Expeditionskorps“ der Revolutionäre
rüste sich zum Vormarsch gegen Peking, und es ist den Eroberern zum
Geleit gedichtet und in Marschmusik gesetzt worden. Das Lied ist von
dem in chinesischen Kreisen rühmlichst bekannten Liederdichter Lin
Butsing verfasst worden und zuerst in der Liedersammlung „Hsiaoyehhun“
erschienen. Die nicht in Reim und Rhythmus gezwängte Uebersetzung des
Liedes, wie es uns die Sängerin am jenem Abend vortrug, lautet:

    Der erste Schlag ertönt.
    Der Mond geht auf.
    Beeilt euch, Soldat zu werden.
                                Ajo, ajo!
    Wir fürchten nicht den Tod,
    denn wir sind voller Mut.
    Wir setzen unsere Kraft ein
    und werden überwinden.
    Je eher wir schlagen,
    Desto früher wird uns der Sieg.
    Auf, nach Peking heisst die Losung.
                                Ajo, ajo!
    Der zweite Schlag ertönt.
    Der Mond steht hoch.
    Haltet Stand.
                                Ajo, ajo!
    Wir müssen ein Verdienst erwerben
    Und einmal alle Kraft einsetzen,
    Wir, ein liebend Brüdervolk.
    Die Erfüllung naht.
    Schart Euch um eure Führer.
                                Ajo, ajo!
    Der dritte Schlag ertönt.
    Der Mond steht in der Mitte.
    Schliesst die Reihen.
                                Ajo, ajo!
    Wir ziehn bestimmt nach Norden.
    Der Name Li-Yüan-hung sei unser Leitstern.
    Nehmt alle Kraft zusammen.
                                Ajo, ajo!
    Der vierte Schlag ertönt.
    Der Mond neigt sich westwärts.
    Freut euch und seid nicht traurig.
                                Ajo, ajo!
    Lasst die Banner der Ko-ming wallen.
    Wenn auch das Blut auf dem Schlachtfeld dampft, seid fröhlich.
    Und dann atmet auf
    und ziehet siegreich heimwärts.
                                Ajo, ajo!
    Der fünfte Schlag ertönt.
    Der Mond geht unter.
    Das krafterfüllte Volksheer
                                Ajo, ajo!
    ernennt einen starken Präsidenten,
    der furchtlos und treu
    die alte Ordnung vernichtet.
    Sein Name wird ewig genannt.
                                Ajo, ajo!

Es ist eine Melodie, die jedes ausländische Ohr erfreuen würde; es
haftet ihr aber in Takt und Rhythmus etwas Unchinesisches an, doch ist
es wohl gerade die Eigenart, die dem Ausländer gefällt. Wenn man den
Text einigermassen beherrscht und die Melodie dazu singen hört, kann
man sich sogar für das Lied begeistern; so lebendig und rhythmisch
ist der Gesang, dass man den Marschschritt der Soldaten zu vernehmen
glaubt und sich mitten in dem Kampf wähnt. Unsere Freundin, die ein
dünngewebtes, gazeeartiges Kleid trug und aus deren Haar eine stark
duftende Jasminblüte einen erfrischenden Duft verbreitete, blieb nach
dem Gesang noch eine Weile plaudernd bei uns. Und dann klärte sich
auch auf, weshalb sie zu kommen gezögert hatte. Einfach deshalb, weil
zwischen ihrem Ruf als erstklassiger Sängerin und dem zweitklassigen
Restaurant, das wir, der Not gehorchend, wählen mussten, eine schier
unüberbrückbare Kluft bestehe. Wir mussten ihr Recht geben. Unser
Verhältnis wurde aber dadurch nicht getrübt. Sie lud uns freundlich
ein, sie in einer Stunde in ihrer Wohnung zu besuchen. Der kleine
Zwischenfall gab zu denken, und er hat bewiesen, dass man chinesisches
Wesen nicht immer aus chinesischen Verhältnissen heraus erklären
muss, sondern dass auch in Einzelfällen westländisches Taktgefühl
als Massstab geübt werden kann. Denn wer würde es wagen, eine grosse
Künstlerin zum „Strammen Hund“ in Berlin zu bitten, die Unnahbare, die
nur auf Dressel und höher abgestimmt ist?

Bis zum Besuch der Sängerin hatten wir noch eine gute Stunde, die
mit dem Besuch des in dem westlichen Teil der Fuchou Road gelegenen
Theater Tanguidi itai ausgefüllt wurde. Seine innere Einrichtung ist
völlig europäisch. Ein reicher elektrischer Lichtglanz bestrahlt die
vielhundertköpfige Zuschauermenge, die, gleichfarbig gekleidet, gar
würdevoll und peinlich sauber ausschaut. Es wird ein leichter Schwank:
„Der geheilte Spieler“ gegeben; der Dialog ist überaus gewandt und
witzig, und er hält die Zuschauer fortwährend in Spannung. Der Held und
seine Frau, die sich bald zärtlich anschäkern, bald erregte Auftritte
haben, sprechen Schanghaier Dialekt, während der Schwiegervater und
die Schwiegermutter in schönem Norddialekt dazwischen poltern. Der
Schwiegervater ist eine köstliche Figur, die jetzt noch dem wirklichen
Leben entnommen werden kann, in einigen Jahrzehnten vielleicht der
Vergangenheit angehört und sich in Theaterstücken und Romanen nur noch
künstlich als behäbiger Biedermeier erhält. Der Westländer, der dem
Schwank zu folgen vermag, wird anregend unterhalten, und er verlässt
das Theater fast mit demselben Genuss wie eine europäische Aufführung.

Nun noch rasch einen Blick in das japanische Panoptikum; an den Wänden
stehen Kästen mit Drehkurbeln. Für einen Zent sieht darin der Chinese
anschauliche, bewegliche Bilder, wie sie in der Wirklichkeit zu schauen
auch dem reichsten Chinesen verschlossen bleiben. Jeder Kasten trägt
eine chinesische Aufschrift, die kitzelnd andeutet, was darin zu
sehen ist. Aufschriften wie: „Amerikanerinnen Zigaretten rauchend“,
„Amerikanerinnen im Bade“, „Amerikanerinnen beim Schlafengehen“
bedürfen keines weitern Kommentars. Im Interesse des Ansehens der
Westländer ist eine solche Schaustellung höchlich bedauernswert, und
die Foochow Road würde wirklich keiner Eigentümlichkeit beraubt werden,
wenn von massgebender Seite eine Schliessung dieses Lokals erfolgen
würde.

Zur festgesetzten Stunde sassen wir unserer Freundin in ihrer
Häuslichkeit gegenüber. Die erste Scheu, einen „Nakoning“ (Ausländer)
zu bewirten, war bald überwunden, nachdem einige erheiternde
Scherzworte gefallen waren. Das Zimmer war hoch und sehr geräumig.
An dem hintern Ende stand eine aus schwerem Ningpoholz geschnitzte
Lagerstätte; an der Wand die üblichen kleinen Empfangstische und
nach Süden eine bequeme mit rotem Polster ausgelegte Ruhebank. Die
nur zwei Sekunden glimmende Wasserpfeife, die mit einem Fidibus, der
durch geschicktes Anblasen in Brand gerät, angezündet wurde, machte
die Runde. Doch: Sieh da, Timotheus! Zwei Stückchen deutsche Heimat
hängen dort an der Wand: billige Drucke mit der Unterschrift: „Winter
am Main“ und „Windmühlen in Schleswig“, wodurch das Gespräch neue
Anküpfungspunkte erhielt. Aus der weitern Unterhaltung erklärte sich
auch, weshalb unsere Freundin nicht die „Neuen fünf Nachtwachen“
sang. Um das Weitere zu verstehen, muss der Leser zunächst mit der
Tendenz der Parodie vertraut gemacht werden, die einen Mitarbeiter der
„Schenpao“ zum Verfasser hat. Die ersten zwei Strophen lauten:

    „Der erste Schlag ertönt.
    Der Mond geht auf.
    Eine merkwürdige Geschichte hat sich ereignet.
                                Ajo, ajo!
    Der Ministerpräsident ist weggelaufen
    samt Familie nach Tientsin.
    Das hatte seinen Grund,
    Yüan-Shih-kai sitzt in der Patsche,
    Weil er der Stimme eines Schauspielers glaubte.
    Der zweite Schlag ertönt.
    Der Mond steigt höher.
    Die Parteien plärren sich an.
                                Ajo ajo!
    Telegramme höhnten Tang.
    Der Blumen- und Wein-Tutu wollte eine Erklärung;
    die Antwort blieb aus.
    Darob war er erbittert,
    Und er pfiff auf den Posten eines Handelsministers.
    Das war sehr dumm.“

Neben den Ausfällen gegen Tang Shau i und den „Blumen- und Wein-Tutu“
(damit ist der Tutu von Schanghai Tschen Ki mei gemeint, der den ihm
angebotenen Posten eines Handelsministers im ersten republikanischen
Kabinett nicht antrat) enthalten die drei letzten Strophen scharfe
Angriffe gegen die kantonesische Partei Tungmenghui, ferner wird über
die belgische Anleihe, über die keine Abrechnung vorliege, gespottet,
und der neue Ministerpräsident Lu Tscheng-hsiang wird gerühmt, dass
er sich auf die auswärtige Politik wohl verstehe. Also: „Ein garstig
Lied. Pfui! Ein politisch Lied.“ Wenn sich eine namhafte Sängerin wie
unsere Freundin nicht in ihrem Erwerb schädigen will, so darf sie ein
solches Lied, das ein Kampfmittel der gemässigten Republikaner gegen
die kantonesische Partei darstellt, nicht in ihr Repertoir aufnehmen;
denn Shanghai ist noch eine starke Hochburg der Kantonesen. Aber
trotzdem wird der Sang von Mädchen schon verschwiegen gepflegt. Man
kann sich leicht ausmalen, wie es manchem eingefleischten gegnerischen
Parteigänger gleich Balsam über die Seele tropft, wenn aus einem
kleinen, ein wenig karmesinrot betupften Mündchen die Moritaten Tang
Shau yis und seiner Parteigenossen ertönen. Unsere Freundin bleibt aber
neutral; sie kennt den Text und schweigt. Man sieht, dass die neue
Politik, die in Peking gemacht wird, ihren Einfluss sogar auf die Welt
der Sängerinnen ausübt.

Bei der anregenden Unterhaltung ist es inzwischen Mitternacht geworden;
es ist Zeit zum Aufbruch. Durch zahllose Winkelwege führt der Weg
auf die Foochow Road. Dort herrscht noch immer brausendes Leben. Die
Theatereingänge speien ununterbrochen hellfarbige Menschenketten
aus, unzählige Wagen und Rickschas drängen sich dazwischen, stauen
sich und fahren mit Gästen davon. Allmählich kommt Ordnung in den
Menschenschwarm, der sich in die Seitengasssen und in den zahlreichen
Restaurants verteilt, wo vor dem Schlafengehen noch rasch ein kleiner
Imbiss genommen, politisiert und geschwelgt wird. Aus kleinen winkligen
Gässchen tönt hie und da noch ein später Gesang mit Fiedelbegleitung;
er wird aus holdem Mund den Lebemännern gesungen, die ohne ihn keine
erquickliche Nachtruhe finden können.

[Illustration]


Die Revolution in der Nanking Road.

Eine blutrünstige Ueberschrift, nicht wahr, meine Gnädige? Wenn man in
China nur das Wort Revolution hört, verknüpft man (die Erfahrung lehrt
es) gleich etwas Schreckliches damit. Henkersschwert, lose sitzende
Köpfe, Bomben und abgerissene Gliedmassen. Man denkt dabei auch an
Fürsten, die ihre verbrieften Herrscherrechte scheinbar aus den Händen
gegeben haben, weil das Volk, zornig mit dem Fuss stampfend, darauf
bestand; man denkt an Männer, die sich bei dem Streben nach Neuerungen
von wahrem Patriotismus leiten lassen, aber auch an Schreier, Schwätzer
und unreife Politiker. Nichts von alle Dem will ich Ihnen erzählen.
Denn Sie wissen, dass eine Revolution nicht immer politisch grausam zu
sein braucht, sie kann auch wirtschaftlich friedlich sein. Und darüber
möchte ich mit Ihnen plaudern, wenn Sie im Geiste Ihren Arm in den
meinen legen wollen, damit ich Sie ohne Fährnisse vom Bund bis zum
Rennplatz führen kann.

Wenn Sie an jenem grossen westländischen Kaufhaus an der Ecke der
Szechuan Road stehen bleiben, so sind Ihnen schon gelegentlich im
Schaufenster in protzig chinesischer Schrift geschriebene Ankündigungen
aufgefallen. Sie haben sicher schon darüber ihren Kopf geschüttelt,
haben Ihre Augen bestürzt über die krausen Schriftzeichen wandern
lassen und vergeblich nach dem Preis gesucht, ohne aber auf den
Gedanken zu kommen, etwas zu kaufen; die Güte des Ausgestellten und
die chinesische Anpreisung sagten Ihnen, dass die Waren nicht für
Westländer bestimmt sind. Hier haben Sie es schon: Revolution. Vor ein
paar Monaten hätte kaum ein westländisches Geschäft daran gedacht, auf
diese Weise chinesische Kundschaft heranzuziehen. Wie sollte es auch,
wo das chinesische Gewerbe und die Industrie leistungsfähig genug
waren, die Bedürfnisse der chinesischen Massen zu befriedigen. Wie
viel Chinesen dachten vor ein paar Monaten an Schuhe, Hemden, Strümpfe
und dergleichen Erzeugnisse westländischer Art? Heute ist es anders
geworden. Bleiben Sie bitte noch ein Weilchen vor dem Schaufenster
stehen und schauen Sie ab und zu nach dem Eingang. Jetzt hält ein
Ponygespann an. Ihm entsteigen drei vornehme Chinesinnen. Sie betreten
das Kaufhaus. Eine Schiebetür hinter dem Schaufenster öffnet sich, Sie
sehen die drei Damen nach Gegenständen deuten. Die zierliche flinke
Verkäuferin vermag kaum noch Alles auf ihren Armen zu halten; das
kleine Köpfchen verschwindet fast hinter dem Stapel Baumwollwaren.
Gerade als der Pony unruhig zu stampfen anfängt, kommen die drei
Vornehmen, mit Paketen beladen, aus der Eingangstür, und die Fahrt
geht weiter. Sie aber sehen mich entrüstet an. Ihre Augen scheinen zu
sprechen: „Wie kann man nur...“ Ich weiss genau, was Sie sagen wollen:
Wie so vornehme Frauen so billige Ware kaufen können. Die verwöhnte
Westländerin verlangt natürlich die feinsten Stoffe, weisses Linnen
oder knisternde Seide. Alles Andere hält sie für „shocking“. Was Sie so
entrüstet, ist jetzt aber bei der vornehmen Frauenwelt Chinas Mode. Und
die Mode ist eine eigensinnige Dame.

Jetzt kreuzen wir die Strasse und betreten die deutsche Buchhandlung.
Während wir die neu eingetroffenen Bücher ansehen, kommen einige
Chinesen und zuletzt eine Chinesin in den Laden. Ich weiss
bestimmt, wenn Sie Verkäuferin wären, dass Sie in Ihrem Schanghaier
Kosmopolitismus gefragt hätten: „Woat ting wantschie?“ Aber lauschen
Sie nur. „N’ Tag, möchte mir ’mal Ihre Bücher ansehen.“ Ein junger
Chinese spricht es in fliessendem Deutsch und begibt sich auf die
Wanderung durch die Menge der ausgelegten Bücher. Ein anderer
tritt ein und spricht, den Oberkörper steif biegend, kurz und
abgehackt militärisch deutsch: „Famoses Buch, die Kriegsgeschichte
von General Müller. Ist mir leider während der Revolution abhanden
gekommen. Möchte nachbestellen. Sein Sohn stand übrigens mit mir
in Halberstadt in Garnison.“ Und er kauft sich die neuen deutschen
Dienstvorschriften, einen Kriegsroman und einen Neuruppiner Bilderbogen
von der preussischen Garde für seinen Jungen. Und von den anderen
Chinesen nimmt der Eine ein technisches Fachwörterbuch, der Andere die
Verfassung des Deutschen Reiches, und wieder ein Andrer interessiert
sich für Berg- und Hüttenwesen. So geht es Tag für Tag. Sprechen
solche Augenblicksbilder in dem deutschen Buchladen nicht ganze
Bände? Sieht man nicht daraus, wie sich merklich das Interesse für
deutsches Wesen unter den Chinesen zu regen beginnt. Ist es nicht
ein Stückchen geistige Revolution? Doch beinahe hätten wir die junge
Chinesin vergessen. Sie steht ein wenig schüchtern abseits und endlich
verlangt sie -- Hand aufs Herz -- das bekannte Buch vom „imponierenden
Auftreten“ und ein Werk über moderne Frauenfragen.

Nun müssen wir wieder in das Strassengewühl. Es stürmt so viel Neues,
Revolutionäres auf die Augen ein, dass man kaum weiss, was man zu
zuerst als besonders bezeichnend herausgreifen soll. Vor uns geht ein
Chinese in eigenartiger Tracht. Wenn Sie illustrierte chinesische
Romane aus dem fünfzehnten Jahrhundert durchblättern, finden Sie das
Vorbild. Das Volk bezeichnet sie als Mingtracht. Es ist ein langes,
quer über die Brust zusammengeschlagenes Gewand, dessen Kragen mit
Samt eingefasst ist. Wahrscheinlich haben wir es in diesem Falle mit
der neuen Nationaltracht zu tun, für die die chinesische Presse in
letzter Zeit Stimmung gemacht hat. Als ob die bisherige Kleidung nicht
praktisch wäre! Ja, praktisch ist sie, aber Manchem zu politisch.
Denn man muss wissen, dass der letzte Modewechsel nach dem Sturz der
Mingdynastie stattgefunden hat. Die neuen mandschurischen Herren
sorgten für eine neue Mode, um das Andenken an die Ming zu verwischen.
Und das Gleiche streben heute die Kleiderreformer an, die von der
jetzigen Volkstracht Alles verbannen wollen, was an die Mandschus
erinnert. Dann wollen sie aber auch dem Tragen westländischer Kleider
entgegenwirken, in denen sich junge Stutzer so gern gefallen. Wenn man
als durchschnittlich behäbig gekleideter Mitteleuropäer heute einem
jener modisch gekleideten Stutzer begegnet, so kommt man sich recht
klein vor. Und erst die Augen, die so herablassend auf den europäischen
Kuli blicken! Ja, die Zeiten beginnen sich zu ändern. Das sieht man
auch an dem Paar, das vor uns geht. Die Beiden sind entweder verlobt
oder jung verheiratet. Sie gehen Arm in Arm. O, heiliger Konfuzius!
Nein, wirklich nicht deshalb, weil sie Arm in Arm gehen, ich glaubte
zwar, das sei etwas ganz Neues.... Aber sehen Sie, die junge Chinesin
trägt ja ein -- „Korsett“ ergänzen Sie seelenruhig, als ob es das
gleichgültigste Ding der Welt sei. Keine Täuschung; die Chinesin trägt
ein Korsett. Man sieht ganz deutlich, wie stark die Hüften geschnürt
sind, wie mit Gewalt nach berühmten westländischen Vorbildern eine
neue Linie geschaffen werden soll. Wohin man blickt, Revolution. Noch
eine Schöpfung der neuen Zeit drängt sich in der Nanking Road zur
Schau. So farbenschreiend auffallend ist ihr Aeusseres, dass die Augen
mit Gewalt angezogen werden. Es sind die neuen Barbierläden. Um die
von Grund auf verfolgte Wandlung, die das Barbiergewerbe durchgemacht
hat, darzustellen, muss ich Ihnen zum Massstab erst einen der alten
Barbierläden vorzeichnen. Er war so sehr unter der Flucht von anderen
Lädchen versteckt, dass nur der Kundige das anpreisende Firmenschild
„Tscheng-jung“ (Ordnung des Gesichts) unter den vielen anderen
herausfand. Der Glasverschlag, der die Barbierstube von dem Lärm der
Strasse trennte, war schmutzig und mit Staub überzogen und wenn man
durch die Tür blickte, so sah man einige mit heissem Wasser gefüllte
Schüsseln auf Holzgestellen, worüber der sich in die Obhut des Barbiers
Begebende seinen borstigen Vorderschädel beugte und ihn mit heissem
Wasser einreiben liess. Der Barbiergehilfe setzte dann das viereckige,
an einem schwarzen Holzstengelchen befestigte Messer auf die Kopfhaut
und entfernte den Borstenwald. Dann wurde die verschlungene Strähne
des Zopfes geöffnet, das Haar mit einem starken Kamm durchgekämmt und
neu geflochten. Einschliesslich Rückenmassage zahlte der Kunde sechs
Kupferlinge. Diese Barbierläden wurden fast ausschliesslich von den
männlichen Angehörigen der unteren und mittleren Volksklassen besucht;
der Vornehme hielt sich seinen eigenen Barbier oder liess ihn täglich
ins Haus kommen. Dieser Zustand hat sich durch das Entstehen der
modernen Barbierläden geändert. Der Uebergang vollzog sich aber nicht
von heute auf morgen. In den ersten Wochen nach dem Ausbrechen des
Aufstands lief noch Alles zu den alten Läden, deren Inhaber sich flugs
Haarschneidemaschinen anschafften, um für das Wachsen des plötzlich vom
Zopf entblössten Haares einen festen Grund zu legen. Derweilen wurden
auf die alte Art die sprossenden Gesichtshaare entfernt. Allmählich
gingen die Barbiere zur Benutzung von europäischem Barbierwerkzeug
über. Den Wünschen des „feinen Publikums“ gerecht werdend, wurde die
innere Ausstattung des Barbierladens nicht vernachlässigt. Heute
gibt es Läden in der Nanking Road, die in Bezug auf Ausstattung, von
dem bequemen, einstellbaren Lehnsessel bis zu dem mit einem blendend
weissen Ueberwurf bekleideten Gehülfen, den Vergleich mit manchem
westländischen Barbiergeschäft aushalten. Das schreiende Aeussere
der früher die Zurückhaltung bewahrenden Barbierläden liegt in dem
den japanischen Einfluss verratenden Anbringen von farbig bemalten
Stangen und in den hochtönenden Anpreisungen der neuen Haarschneide-
und Rasiermethoden; ja ein Barbier in der Nanking Road ging so weit,
ein Schild mit westländischen Köpfen malen zu lassen, worauf er in
Schriftzeichen andeutet, dass in seinem Geschäft die deutsche,
englische, amerikanische und französische Haar- und Barttracht gepflegt
würde. In den modernen Barbierläden findet die neue Zeit ihre stärkste
Ausprägung.

Von der friedlichen Revolution sind auch die chinesischen Kaufhäuser
nicht verschont geblieben, die sich wie hungrige Maultiere an die
Krippe zu beiden Seiten der allmählich breiter werdenden Nanking
Road drängen. Der Typ des alten, gemütlichen Ladens wird von der
neuen Zeit allmählich verdrängt. Ja, gemütlich war es darin, für die
Kunden sowohl wie für die Angestellten. Die Ladenfront war nach der
Strasse hin offen; und während der Verkäufer, die Wünsche des Kunden
erfüllend, die Waren zusammensuchte, konnte der Kunde an einem Tisch
Platz nehmen, seinen Tee schlürfen und plaudern, wozu immer einer
der Angestellten ein angenehmer Gesellschafter war. Es spielte sich
Alles in einem ruhigen, von gegenseitiger Ehrerbietung getragenen
Rahmen ab. Heute gibt es zwar noch Läden in der Nanking Road, die
ein Ueberbleibsel der gemütlichen, vorrevolutionären Zeit sind; aber
in den meisten Geschäften hat eine amerikanische Hast ihren Einzug
gehalten; übereifrige Höflichkeit und verächtliche Abfertigung werden
aus einem Mund den Kunden gegenüber gepflogen. In den Läden alten
Typs ist jeder Kunde den Verkäufern gegenüber nach Rang und Stand
gleich. Betritt aber heute ein ärmlich gekleidetes Bauernweib eines
der grossen Kaufhäuser und folgt ihm eine im Automobil angekommene, in
Seide strotzende und mit Armspangen und Similibrillanten geschmückte
Schöne, so wird Letztere mit unterwürfigen Bücklingen behandelt,
während das Bauernweib so ganz von oben herab nach seinen Wünschen
gefragt wird. Aeusserlich heben sich die Kaufhäuser neuen Stils von
den alten sehr ab. Die Schaufenster, in denen, soweit es solche
überhaupt gab, früher die Waren wahl- und ziellos durcheinanderlagen,
sind für die Augen geschmackvoll hergerichtet; man merkt, wie genau
die Aussteller vor den westlichen Läden Studien gemacht haben. Viele
Artikel, die vor wenigen Monaten einzelne Ladenhüter waren, sind nun
in den Vordergrund der Nachfrage gerückt, so Strohhüte, Taschentücher,
sogar solche mit Sun Ya tsen in Schwarzdruck, westländische Anzüge,
Schuhe und dergleichen. Und am Abend schwimmen die Fenster in
elektrischem Licht, sodass das bekannte Schild: „Tschen bu erl gia“
(Hier gibt es wirklich keine zwei Preise) merklich überstrahlt wird.
Was sich dem Westländer so unangenehm aufdrängt ist die Prunksucht
der Ladeninhaber. Man merkt, wie mit Gewalt alle Mittel des äussern
Scheins angewandt werden, um die Käufer anzulocken. Von den mit
englischen Aufschriften versehenen Firmenschilder anfangend bis zu dem
in verschwenderischer Pracht geübten elektrischen Farbenspiel sind das
Alles Zeichen für die Vorliebe äusserer Gefallsucht, wenn nicht Zeichen
eines erbitterten Wettbewerbs, der in der lärmdurchtobten Nanking Road
ausgefochten wird und den der Aussenstehende nur ahnen kann. Für die
Spezialgeschäfte scheint eine bedenkliche Krisis gekommen zu sein. In
den chinesischen Städten steht zwar heute das Spezialgeschäft, das
in der Regel die Verkaufstelle der in dem damit verbundenen Betrieb
hergestellen Ware ist, noch in hoher Blüte. Von der Nanking Road wird
es aber verdrängt, wenn es sich nicht den neuen Verhältnissen anpasst.
Denn schon sind Kaufhäuser entstanden, die alle Bedarfsartikel des
täglichen Leben führen. Interessant ist die Beobachtung, wie sich die
alten Spezialgeschäfte für Fussbekleidung umformen. Sie sind zunächst
der gegenwärtigen Entwicklung gefolgt und haben ihren Betrieb auf den
Verkauf von westländischem Schuhwerk erweitert. Das scheint aber nicht
den erwünschten Gewinn zu bringen; denn alle Schuhgeschäfte führen
neuerdings auch Kopfbedeckungen. Also auch der chinesische Kaufmann in
der Nanking Road macht seine Revolution durch. Sie hat schon manches
Ehrwürdige eingerissen und Zweifelhaftes an seine Stelle gestellt; und
Letzteres neigt bedenklich vom Soliden zum Unsoliden.

Mit solchen Betrachtungen bahnen wir uns den Weg durch das Gewühl.
Sehen ab und zu mit eitlen, parfümduftenden Chinesen besetzte
Autos vorbeijagen, die man für ein paar Dollar mieten kann; sehen
überelegante, zierliche Ponygespanne, deren Insassen prunkende Gewänder
tragen, und lassen uns schliesslich, auf der Suche nach einem ruhenden
Punkt, in einem chinesischen Café nieder, wo wir in Eiskaffee mit
Schlagsahne schlemmen. Die Sahne, die eben noch süsser als Honig
schmeckt, wurde plötzlich bitter; denn herein trat das verliebte Braut-
oder Ehepaar von vorhin, dessen weiblicher Teil die Linienrevolution
durchmacht. Der galante junge Mann bestellte zweimal Fleischbrühe mit
Hörnchen....



Im Tor der Hoffnung.


Schanghai ist eine verderbte Stadt, das Sodom und Gomorrha in
China. Der Westländer bezeichnet es als das „Paris des Osten“.
Ein chinesisches Blatt hat diese Tatsache vor Jahresfrist einmal
ausdrücklich festgestellt. „Bei Denen, die nach Schanghai gekommen
sind“, schrieb das Blatt, „gilt Schanghai für einen hochkultivierten
Platz. Indessen gilt auch hier das alte Wort: Aussen rein, innen
Schmutz. Und was in Schanghai geschieht, das ist auf das ganze Reich
von Einfluss. Der Luxus nimmt bei Männern und Frauen überhand. Es
gibt in der Kleidung noch kaum einen Unterschied zwischen ehrlichen
und unehrlichen Frauen, und zu Letzteren gehören neunzig vom Hundert
aller hier lebenden chinesischen Frauen. Was anfänglich nur die
auffällige Tracht der öffentlichen Dirnen war, ist jetzt fast von
allen Anderen angenommen worden. Die alten Sitten sind weggefegt.
Die Väter kümmern sich kaum mehr um die Erziehung ihrer Kinder, und
die Lehrer nicht mehr um die Sitten. Das übt mit der Zeit einen
üblen Einfluss auf das ganze Reich aus.“ Diese Moralpredigt der
schulmeisternden „Dschendschoujihpao“ ist wirkungslos verpufft; sie hat
sich auch nicht als eindruckvoll genug erwiesen, die als Nachklang der
Revolution immer üppiger werdenden Ausschweifungen der chinesischen
Lebewelt einzudämmen. Die Revolution hat Arme zu Reichen und Reiche
zu Armen gemacht, und wer heute in den Vergnügungsvierteln herrscht,
ist der über Nacht reich gewordene Pöbel. Nicht mit Unrecht höhnen
die chinesischen Blätter in ihren Witzspalten, dass der Handel mit
„Ameisen“ (jungen Mädchen) und die einträgliche Ausübung von Gesang
und tändelndem Saitenspiel das beste wirtschaftliche Ergebnis der
Revolution seien. Die angenehmsten Freudespender sind dem chinesischen
Lebemann die kleinen Mädchen; sie gehören sozusagen zum Menü eines
jeden auf Reichhaltigkeit Anspruch machenden Essens; sie singen, und
Manche sind nach dem Mahl bereit, mit ihren zarten Fingern die braune
Opiummasse zu Kügelchen zu kneten, während der mit Haifischflossen
und Schwalbennestern angemästete Lebemann sich behaglich auf die
rot bepolsterte Bank ausstreckt und im Vorgefühl auf den kommenden
Opiumgenuss erheitert scherzt.

[Illustration: Schanghai, Teil der Nanking Road.]

[Illustration: Die Nanking Road.]

[Illustration: Geschäftshäuser in der Nanking Road.]

Jene Mädchen stammen meistens aus der Sutschouer und Hangtschouer
Gegend; man findet unter ihnen reizende Gestalten. Von der
Hangtschouerin hat schon der Italiener Marco Polo im dreizehnten
Jahrhundert geschwärmt. Er sagt von ihr, dass sie „in den Künsten der
Verlockung und Betörung vollkommen sei.“ Auf ihre Schönheit trifft auch
der Lobgesang zu, der im „Schih-king“ auf die Fürstin Tschuang-Giang
gedichtet ist:

    Die Hand wie Lilienknospen weich,
    Die Haut geronnenem Balsam gleich,
    Der Hals wie weisser Holzwurm bleich,
    Die Zähn ein Kürbiskernbereich,
    Zikadenstirne seidenbraun,
    Ein Lächeln lieblich zum Bestricken
    Und schönster Augen glänzend Blicken!

Das ist etwa der Typ des „vornehmen“ Mädchens in der Foochow Road und
ihrer Umgebung.

Eine zweite Gruppe sind die Kantonesinnen, die nur sehr selten
öffentlich als Sängerinnen auftreten. Ihr Aeusseres sticht
unvorteilhaft von den Angehörigen der ersten Gruppe ab; das Gesicht ist
gröber und die Gestalt plumper und gedrungener; es wird aber an ihnen
gerühmt, dass sie „häuslicher“ seien.

Eine dritte Gruppe von Mädchen, die in den unteren Klassen eine
grössere Rolle spielt, stammt aus jährlichen Ueberschwemmungsgebieten
in den Provinzen Anhui, Kiangsi und Kiangpe.

Nach statistischen Erhebungen sind vor einem Jahrzehnt in Schanghai
fünftausend öffentliche chinesische Mädchen gezählt worden; ausserdem
soll eine gleiche Anzahl heimlich ihrem unsittlichen Gewerbe
nachgegangen sein. Diese Zahlen dürften sich jetzt verdoppelt und
verdreifacht haben. Die Häuser werden fast ausschliesslich von den
Mädchenhändlern gefüllt. Der Mädchenhandel, dessen Sitz Schanghai
ist, ist wie jeder andere Geschäftsbetrieb organisiert. Von Schanghai
werden die Mädchen nach den südchinesischen Häfen bis hinunter nach
Kanton, nach Westen bis Hankou und Szechuan und nach Norden bis
Tschifu, Tientsin, Niutschuang gesandt; es ist ein immerwährender
Mädchenaustauch zwischen jenen Plätzen und Schanghai im Gange, und nur
in seltenen Fällen gelingt es den Behörden, den Handel vorübergehend zu
stören. Die Mädchen werden in der Regel schon als Kinder aufgekauft.
In schlechten Zeiten, wenn Ueberschwemmungen manchen Bauer an den
Bettelstab gebracht haben, stehen die Preise am Niedrigsten. Dass diese
Gelegenheit von den Händlern besonders ausgenutzt wird, beweist die
volkstümliche Redensart: „Die Zeiten waren so schlecht, dass Kinder
verkauft werden mussten.“ Für ein paar Dollar erwirbt der Händler ein
kleines Mädchen und setzt es mit hundertfachem Gewinn ab. Dass tausend
Tael dafür gezahlt werden, ist keine Seltenheit. Die Käuferin ist
entweder die Besitzerin eines Freudenhauses oder eine „selbstständig
arbeitende“ Sängerin. Die in vornehmere Privatfamilien, wo sie als
Magd arbeiten, verkauften Mädchen, haben ein weit besseres Los. Für
die beiden Ersteren ist der Kauf die denkbar beste Kapitalsanlage; am
Grössten ist die Verzinsung des Kapitals an dem Tage, wo das Mädchen,
nach Monate oder Jahr langer, von roher Misshandlung geförderter
Erziehung, den ersten Schritt ins wirkliche Leben unternimmt, wo die
Zwölf- oder Dreizehnjährige zum ersten Mal die Freuden ihres Berufs
kennen lernt; dieses Ereignis ist ein beliebter chinesischer, unerhört
realistisch dargestellter Novellenstoff. Nach diesem Ereignis ist das
Mädchen dauernd werbendes Kapital für ihre Käuferin. Wenn die Reize
der Sängerin verblühen, hat sie durch den Kauf ihres Mädchens eine
Altersversorgung bis zum Tod. Und wenn das Mädchen in die Jahre des
Verwelkens ihrer Reize kommt, wird es dem Beispiel seiner Käuferin
folgen und auch für seine Zukunft sorgen. So besteht seit Jahrhunderten
auf dem Gebiet der Prostitution in China ein ununterbrochener Kreislauf.

Gegen diese geschilderten Missstände anzukämpfen und zu retten, was
zu retten, ist, ist das Ziel des von ausländischen Missionaren
geleiteten „Tors der Hoffnung“. Das Institut arbeitet in engem
Anschluss an die Polizei und das Gemischte Gericht, die ihm die
Mädchen überweisen; mitunter klopft es auch verstohlen an der
schweren Holztür, und ein von Reue über ihr unehrenvolles Leben
ergriffenes Mädchen begehrt Einlass. Was kann nicht die Chronik der
Rettungsanstalt von dem letzten Jahrzehnt erzählen! Von rachedurstigen
Mädchen, die, unglücklich über das geordnete Leben in der Anstalt,
drei Mal versuchten, Feuer an das gebrechliche Gebäude zu legen; von
geglückten und missglückten Selbstmorden; von unehrlichen Handlungen
und Diebstählen; aber auch von Freude über die Errettung aus dem
Schanghaier Moloch, von Dankbarkeit gegen ihre Erzieher und von
glücklicher Heirat, von einem neuen Leben mit innigem Familienglück.

In der Nähe des Bahnhofs der Schanghai-Nankinger Bahn, in einem Geäder
von Seitengassen, liegt das „Tor der Hoffnung“. Es fällt nicht durch
eine besondere Bauart auf, sondern schmiegt sich in die gewöhnliche
Häuserflucht ein. Drei ursprünglich selbständige Gebäude sind mit
Durchgängen verbunden; sie genügen aber kaum, den hundertzwanzig dort
untergebrachten Mädchen Unterkunft zu geben. In den engen Schlafräumen
reiht sich Bett an Bett, und selbst ein kleines Stückchen mit einer
Bambusmatte überdeckter Hof muss als vorläufige Nachtunterkunft dienen.
Die Mädchen, die zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahre alt sind,
werden zuerst in der „Reinen-Herz-Schule“ in allgemeinen Hausarbeiten
ausgebildet. Ein grösserer Raum ist als Schule hergerichtet, die aus
mehreren Klassen besteht; jede Klasse wird durch einen viereckigen
Tisch dargestellt, um den sechs Schülerinnen sitzen und in chinesischen
Elementarlehrbüchern oder im Neuen Testament lesen; mitunter wird der
Unterricht durch Kindergeschrei gestört, denn einige Schülerinnen
sind bald nach ihrer Aufnahme in das Heim Mutter geworden, und
sie müssen während des Unterrichts ihre Kinder in Schlaf wiegen.
Wenn sich die Mädchen nach einem einjährigen Aufenthalt im Heim
bewährt haben, kommen sie in die Abteilung für Handarbeiten, wo die
Nähmaschine ohne Unterlass surrt und die Finger geschickt die Nadel
zu geschmackvollen Stickereien meistern; diese Mädchen stehen sich
wirtschaftlich verhältnismässig gut, weil ihre Arbeit bezahlt wird; je
nach ihrer Leistungsfähigkeit erhalten die Näherinnen und Stickerinnen
eindreiviertel bis drei Dollar im Monat. Sie haben auch mehr
Bewegungsfreiheit, können ausgehen und Einkäufe machen, was den anderen
Mädchen verschlossen bleibt, die nur den sonntäglichen Kirchgang als
Abwechslung in ihrem Leben kennen. Das grösste Glück ist aber die
Heirat, die ebenso sehr von den Mädchen, wie von der ausländischen
Leitung gewünscht wird, da sie der beste Ausweg ist, den überfüllten
Räumen Luft zu schaffen. Im letzten Jahrzehnt sind hundertdreissig
Mädchen, trotz ihres wenig geordneten Vorlebens, noch glücklich unter
die Haube gekommen. Wenn man das Heiratsfieber der Mädchen in Betracht
zieht, so ist auch die Aufregung unter den kichernden Mädchen wohl zu
verstehen, als wir, als chinesischen Studien nachgehende Westländer,
die Anstalt besichtigten. Die Mädchen hielten uns offenbar für den
berühmten „Mittelsmann“, der eine neue Heirat einzuleiten hat. Nach
chinesischer Sitte erscheint nämlich zuerst der „chung-jen“, der
Vermittler, der im Auftrag des Bräutigam handelt, während eine Dame der
ausländischen Leitung des Heims die Interessen der werdenden (wenn auch
schon einmal gewesenen) Braut vertritt. Die Verhältnisse des Bräutigams
werden genau geprüft, um zu verhüten, dass das in die Ehe eintretende
Mädchen nicht zum zweiten Male in die Hände eines Händlers gerät. Wenn
die Vorbesprechungen zur Zufriedenheit ausgefallen sind, findet ein
kurze Begegnung zwischen Braut und Bräutigam statt. Nach der Begegnung
erscheint der Vermittler und teilt endgiltig mit, ob der Bräutigam
die ihm auserwählte Braut heimführen will. Fällt die Antwort bejahend
aus, so zahlt der Bräutigam vierzig Dollar, mit der die Aussteuer
gekauft wird. Die Trauung findet in dem „Tor der Hoffnung“ statt. Wenn
das Mädchen als junge Frau endgiltig das Heim verlässt, so folgen ihr
die Blicke einer hoffenden und harrenden Mädchenschar. Die Jungen
warten voll schäumender Ungeduld auf den Bräutigam, der sie bestimmt
heimführen wird. Aeltere, die auch früher einmal bestimmt gehofft
hatten, sind stiller geworden, und manche Träne tropft auf den Saum des
Kleides, derweil die Nähmaschine surrt: „Niemals kommt der Freiersmann.“

Kein Neid und keine Missgunst trübt das Zusammenleben der ganz
Kleinen, die draussen bei Kianwan, in frischer Feldluft, sorgenfrei
leben, ohne das Schicksal zu ahnen, dem sie entronnen sind. Aus der
handelsfähigen Ware, als die sie der Mädchenhändler mit Kenneraugen
erkannt hatte, wurden wieder Menschenkinder, die durch richterliche
Entscheidung des Gemischten Gerichts dem Heim überwiesen sind. In dem
Kinderheim herrscht eitel Wonne und Frohsinn. Ein munteres Völkchen
wohnt dort zusammen. Da ist die achtjährige Tseli, deren Eigentümerin
vor dem Gemischten Gericht mit Aufbietung ihrer ganzen Beredsamkeit
für ihr „Kapital“ kämpfte, aber abgewiesen wurde; das ist die „kleine
Tigerin“, wild und unbändig, die immer ihre zum Biss bereite Zahnreihe
zeigt; sie wurde elternlos auf der Strasse aufgefasst und ins Heim
gebracht. Da gibt es die Efu mit ihren runden Eulenaugen, und die
sechsjährige Enan mit ihren beiden Grübchen in den Wangen und dem immer
zum Lächeln geneigten Mund; und ausser diesen Kleinen gibt es noch
hundertachtzig Andere, die all in dem Heim Unterkunft gefunden haben.
Alles hübsche niedliche Dinger, die beweisen, dass die „Warenkenntnis“
der Mädchenhändler nicht gering ist. Welch ein Frohsinn herrscht,
wenn die Kleinen zu den gemeinsamen Kindergartenspielen antreten; da
können die kleinen Füsschen nicht flink genug sein, wenn es im raschen
Lauf den Nachbar zu haschen gilt; und nicht langsam genug, wenn beim
Blindekuhspiel die Füsschen behutsam über Geröll stolpern und die
Händchen tastend in der Luft suchen.

Aber was bedeutet es: hundertachtzig Menschenkinder aus dem
Weltstadtstrudel gerettet, wenn Zehntausende darin untergehen? Die
im „Tor der Hoffnung“ getane Arbeit verflüchtigt sich wie der Dunst
des Wassertropfens, der auf den heissen Stein schlägt. Solange
die chinesischen Behörden nicht nachdrücklich den Kampf gegen die
Mädchenhändler aufnehmen, wird eine Besserung der Verhältnisse kaum zu
erwarten sein.

[Illustration]



Eine chinesische Première.


Chinesische Schauspieler gehörten bis vor Jahresfrist ebenso wie die
Barbiere zu den wenig geachteten Volksklassen. Die Verachtung ging
unter der Mandschudynastie noch so weit, dass ihre Söhne von allen
Staatsprüfungen ausgeschlossen waren und somit gewaltsam abgehalten
wurden, ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern. Die Revolution
hat, wenigstens soweit Schanghai in Betracht kommt, einen Umschwung
herbeigeführt. Die früher verachteten Barbiere treten plötzlich in
die Reihe der „Vorkämpfer für republikanische Freiheit“, indem sie
sich (was manche chinesische Behörden heute noch ihren Beamten als
Verdienst anrechnen) um die Abschneidung des Zopfes und die Einführung
einer „zivilisatorischen“ Haartracht (wen ming dsie fa) verdient
machten. Ebenso hat sich auch das Ansehen der Schauspieler gehoben,
weil sie als Leute angesehen werden, die die Revolution vorbereiten
halfen. Das trifft eigentlich nur auf die Schauspieler von drei
Theatern zu, die aus dem Rahmen der alten chinesischen Bühne durch ihr
modernes Repertoire heraustreten. Seit etwa drei Jahren hat nämlich
die chinesische Bühne eine bemerkenswerte Wandlung durchgemacht,
wobei die Anlehnung an westländische Muster unverkennbar ist. Mit den
Theatern der alten Art, wie sie sich besonders unverfälscht in den
Provinzen erhalten haben, haben die neuen Anstalten wenig gemein.
Die innere Einrichtung, der Bau des Zuschauerraums, die Anordnung
der Sitzplätze, die Bühne und die szenische Ausstattung sind völlig
europäisch. Ja, sie sind manchen europäischen Theatern noch überlegen,
da zur raschern Bewerkstelligung von Verwandlungen eine drehbare
Bühne eingebaut ist. Naturereignisse werden auf der Bühne durch
mechanische Hilfsmittel getreu nachgeahmt und durch die Anordnung
bemalter, in die Welt des aufgeführten Stückes passender Kulissen
werden keine besondern Ansprüche an die Phantasie der Zuschauer
gestellt, während bei den alten Theatern die Zuhörer sich oft damit
begnügen müssen, dass ein beschriebenes Schild ihnen andeutet, dass
es schneit, regnet, oder dass dort hinten ein Wald zu denken sei. Die
zur Aufführung gelangenden Stücke sind entweder aus einer fremden
Sprache übersetzt oder dem modernen chinesischen Leben entnommen. Sie
sind darauf zugeschnitten, weniger die Zuschauer zu unterhalten, als
sie über politische und soziale Fragen der Gegenwart aufzuklären.
Die Schauspieler sind so sehr von ihrer Aufgabe überzeugt, dass mir
vor kurzem einer der berühmtesten, der monatlich eine Gage von etwa
2500 M bezieht, erklärte: „Unser Theater ist eine Volkshochschule und
wir sind die Professoren.“ Die Arbeit, die heute von der modernen
chinesischen Bühne geleistet wird, ist nicht zu unterschätzen. So
musste vor etwa zwei Jahren die dem chinesischen Geschmack angepasste
Kameliendame fast jeden Abend gegeben werden, und sie beherrscht noch
heute den Spielplan, indem immer ein neuer Teil hinzugedichtet wird,
so dass das Stück, das in seiner ursprünglichen Form an zwei Abenden
aufgeführt werden konnte, jetzt von Anfang bis zu Ende vierzehn
Abende in Anspruch nimmt. Das Stück hat vor der Revolution eine
versteckte revolutionäre Propaganda gemacht und den kriegerischen
Geist im Volke zu wecken versucht. In Bezug auf szenische Ausstattung
ist für chinesische Verhältnisse Grossartiges geleistet worden.
Die Schlachtenszenen, in denen bald der Feind in von Wasserfällen
durchrauschten Gebirgsschluchten, teils mit Panzerschiffen auf dem
Meer bekämpft wurde, haben jeden Abend neue Beifallsstürme entfesselt.
Ebenso behauptet das aus zwei Teilen bestehende „Opiumstück“ seit
mehrern Jahren den Spielplan. Es ist ein soziales Drama, das den
Zusammenbruch einer reichen Kaufmannsfamilie zeigt, deren Haupt
sich dem Opiumgenusse hingibt. Das Stück hat recht eindrucksvolle
Szenen, die sicher dazu beitragen, den Chinesen den Westländer näher
zu bringen. Dabei erhält der Westländer einen Einblick in das Leben
innerhalb der vornehmen chinesischen Welt, die ihm wohl noch lange
geschlossen bleiben wird. Am meisten sind vom Publikum jetzt politische
Stücke begehrt. Während die Verhandlungen für die internationale
Anleihe dem Abschluss nahe waren, wurde ein (wie angenommen wird, von
Mitgliedern der damaligen kantonesischen Partei Tungmenghui verfasstes)
Stück auf die Bretter gebracht, das die Lage in China ausmalte, wenn
das Land in der finanziellen Abhängigkeit der Fremden wäre. Das Spiel
machte unter den Zuschauern einen so überwältigenden Eindruck, dass
viele weinten, Dollarstücke, Armspangen und sonstigen Schmuck auf die
Bühnen warfen, um Wohlwollen für die in hohem Pathos von der Bühne
gehaltenen Reden auszudrücken. Dass es dabei auch nicht an wenig
schmeichelhaften Worten gegen die Ausländer gefehlt hat, braucht kaum
besonders betont zu werden. In einem andern Stück, das den Namen: Das
Unglück Persiens trägt, wurde auf die Ausdehnungsgelüste Russlands
und Englands hingewiesen und Persien als warnendes Beispiel für
China hingestellt. Das neueste politische Stück ist die Darstellung
der chinesischen Revolution auf der Bühne. Unter Anlehnung an die
Ereignisse zieht der Aufstand in etwa 20 Szenen über die Bühne.
Auch bei dem Revolutionsstück: Liyuan hung ist grosser Wert auf die
szenische Ausstattung gelegt, die sich bemüht der Wirklichkeit nahe zu
kommen. Die neuen Stücke sind durchweg von geringem literarischen Wert.
Worauf es den Verfassern ankommt, ist im wesentlichen die Darstellung
einer breiten, in alle Einzelheiten gehenden Handlung, die weniger um
ihrer selbst willen als der neuen Umwelt wegen da ist. Rein äusserlich
bedeutet die Aufnahme moderner Stücke in den Spielplan einen gewissen
Fortschritt, der aber nur auf Kosten der Verflachung der chinesischen
Schauspielkunst erfolgt. Denn so lächerlich diese auch dem europäischen
Geschmack erscheint, so besitzt sie für die grosse Volksmasse doch
ein hohen erzieherischen Wert. Das gleiche kann man von der von
westländischen Vorbilder beeinflussten neuen Bühnenkunst, von ein oder
zwei Ausnahmen abgesehen, nicht behaupten. Ihr Verhältnis zur alten
Bühne ist etwa das gleiche wie heutzutage in Europa das der Operette
zum klassischen Schauspiel.

Wer einen Winter in Berlin verlebt und sich für die Bühnenwelt
interessiert hat, der kennt den eigentümlichen Reiz, der sich um
jede Erstaufführung rankt. Die Presse verkündigt schon Wochen
vorher, welches neue Stück von dieser oder jener Bühne erworben
ist, und dem Tag der Aufführung wird mit Spannung entgegengesehen.
Neben dem prunkenden Hausball, den Exzellenz X in Berlin W. gibt,
gilt eine gelungene Erstaufführung als der „Clou“ der Saison und
ist ein willkommener Gesprächsstoff in den Salons. Man muss einer
Erstaufführung beigewohnt haben, um als Bildungsmensch auf der Höhe zu
sein. Dadurch, dass oft Eintrittskarten im Preise steigen, wie ein von
allen möglichen Einflüssen abhängiger Börsenwert, hat sich der Besuch
der Premièren zu einem fast ausschliesslichen Vorrecht der vornehmen
Welt herausgebildet.

Man wird diese Gesichtspunkte im Auge behalten müssen, wenn man
als kritisch veranlagter Westländer der Erstaufführung in einem
chinesischen Theater beiwohnt. Denn gerade auf diesem Gebiet zeigen
sich die Verschiedenheiten des westländischen und des chinesischen,
oder besser Schanghaier Theaterpublikums. Zunächst muss vorausgeschickt
werden, dass alle chinesischen Theater, von zwei oder drei Ausnahmen
abgesehen, Erstaufführungen garnicht kennen. Ihr Spielplan bewegt
sich seit Alters in berühmten klassischen Stücken, mit deren Inhalt
der Grossvater schon seinen lauschenden Enkel vertraut macht;
die Stücke haben in der Regel einen geschichtlichen Hintergrund,
in den sich der Chinese schon als Junge hineinfühlt, und wenn er
später einer Vorstellung beiwohnt, dann sieht er auf der Bühne,
„dargestellte Geschichte.“ Bei Theatern, die sich die Pflege der alten
Schauspielkunst nach wie vor zur Aufgabe gemacht haben, kann man also
deshalb von Erstaufführungen im Sinne europäischer Hauptstädte nicht
sprechen. Aber es gibt Ausnahmen; und diese finden wir in Schanghai,
wo es moderne Theater gibt, die neben dem alten Schauspiel moderne, an
westländische Vorbilder angelehnte Stücke auf ihrem Spielplan haben.
Der Erstaufführung eines solchen modernen Theaters galt vor einiger
Zeit unser Besuch.

Mit den Premièren der Berliner Bühnen haben chinesische
Erstaufführungen garnichts gemein. Keine Zeitung schlägt vorher die
Reklametrommel, kein auserwähltes Publikum füllt die Plätze, keine
Kritik hebt das Stück in alle Himmel oder reisst es herunter, in keinem
Salon ist es das Gesprächsthema für Monate, und Niemand kennt den Namen
des Dichters. Erstaufführungen sind für das chinesische Theaterpublikum
etwas Gleichgültiges; man sieht es sich an, weil es auf dem Programm
steht; denn kein Theaterdirektor würde es wagen, mit einer Première als
abendfüllendem Stück hervorzutreten. Trotz des neuen Zugs, der in die
moderne chinesische Bühne gekommen ist, wird an dem alten überlieferten
Brauch festgehalten, dass jeden Abend mehrere Stücke ausgeführt werden
müssen. Selbst das am chinesischen Bund gelegene Theater Sin-wu-tai,
dessen aufgeklärte Leitung für alle Neuerungen auf dem Gebiet des
Bühnenwesens leicht zugänglich ist, hat an dem alten Brauch noch
nicht gerüttelt. Neben der Erstaufführung standen (über zwei Abende
verteilt!) mehrere alte Stücke auf dem Programm. So „Schnee im sechsten
Monat“, „Der Eisendrachen-Berg“, „Der Berg Tung Tschün“, der spassige
„Spaziergang des Fräulein Liu Erh tsieh“ und ein mehrstündiges
historisches Schauspiel aus der Zeit der „Drei Reiche.“ Durch diesen
Grützenberg historischer Stücke musste man sich als premièrehungriger
Westländer erst durchfressen, bis man das -- nach westländischer
Auffassung -- Ereignis von zwei Abenden erleben konnte.

Das Stück hiess: „Li Yüan hung“. Welch ein Klang liegt in diesen
Worten! Das zarte, verbindliche Li, das an unumschränkte Diktatur
erinnernde Yüan, und das mit elementarer Wucht ausgesprochene hung. Es
ist der Rhythmus eines ereignisvollen Zeitabschnittes, der aus diesem
Namen heraustönt. Wer kennt nicht Li Yüan hung, das Zünglein an der
Wage beim Ausbrechen der Revolution in Wutschang, den vergötterten
Helden des Volksheers? Der Titel, den das Stück führt, lässt seinen
Inhalt erraten. Denn Alles, was sich um diesen Namen gruppiert, ist
neueste chinesische Zeitgeschichte. Wir Alle haben sie miterlebt;
Manche aus nächster Nähe, und ganz Wenige haben die Ereignisse pochen
hören, als sie Li Yüan hung in seiner schwersten verantwortungsvollsten
Zeit, während vom Hankouer Bahnhof die Geschütze der Kaiserlichen
Granaten nach Wutschang sandten, im Hauptquartier besuchten und
gemütlich mit ihm zusammensassen. Uns ging es wie dem erwähnten
chinesischen Jungen, der mit Andacht der „dargestellten Geschichte“
lauscht, nur mit dem Unterschied, dass wir zum Teil selbst mit dabei
sein konnten, als sie gemacht wurde. Daraus erklärt sich die Spannung,
mit der wir der Aufführung entgegensahen.

Das Stück zerfällt in zwei Teile, die nacheinander an zwei Tagen,
Abends von halbelf bis halbein Uhr, aufgeführt wurden, nachdem der
übrige Teil des Programms erledigt war. Wie alle „modernen Stücke“
der chinesischen Bühne zerfällt auch „Li Yüan hung“ nicht in drei
oder vier, mit steigender Handlung straff durchgeführte Akte, sondern
in etwa zwanzig Szenengruppen von fünf bis zehn Minuten langer
Dauer, die die Geschehnisse in ununterbrochener Reihe darstellen,
damit der Zuhörer nicht den Faden verliert; manche Szenen sind nach
westländischer Auffassung unbedingt überflüssig, und sie könnten ebenso
gut im Dialog angedeutet werden.

Das Stück wird mit einer Szene im Gouverneursyamen eröffnet. Dort sind
der Generalgouverneur Jui Tscheng und die höchsten Spitzen der Provinz
versammelt. Die Beamten tragen die feierliche Amtskleidung und den Hut
mit ihrem Rangknopf. Jedes Wort, das sie sprechen, wird mit besonderer
Sorgfalt betont, jede Bewegung ist fein abgewogen, Alles bewegt sich
in exakten, zeremoniellen Formen, die dem Gesamtbild etwas überaus
Feierliches und Würdevolles geben. Das Gespräch dreht sich um die
innerpolitische Lage; etwas Banges, Ungewisses wird mit dem Ausdruck
„Autoritätsverwerfer“ verknüpft. Inzwischen sind die Umstürzler in
Hankou an der Arbeit. Wir blicken in die historische Bombenwerkstätte.
Der Revolutionär Sun Wu empfängt seine Gesinnungsgenossen, mit denen
er den Plan der Erhebung schmiedet. Unter dem Sitzpolster von Stühlen
werden wohlversteckte Waffen und Bomben hervorgeholt und verteilt.
Eine treffend gesehene Gestalt, ausser Sun Wu, ist ein westländisch
gekleideter Revolutionär; eine kindische Freude liegt auf seinem
Gesicht, wenn von Revolution gesprochen wird; er hüpft und klatscht
in die Hände, wie ein Schuljunge; dabei zittert er fortwährend
vor freudiger Erregung. Die Verschwörer fassen den Entschluss,
den Brigadekommandeur Li Yüan hung in Wutschang für die Sache der
Umsturzgesellschaft zu gewinnen. Das nächste Bild zeigt die Ankunft
Tuan Fangs in Wutschang. Tuan Fang, der seither in Zurückgezogenheit
gelebt hatte, erhielt von der kaiserlichen Regierung den Auftrag,
die in Folge der Bahnverstaatlichung in Szetschuan erregten Gemüter
zu beruhigen. Nach Rücksprache mit dem Generalgouverneur Jui Tscheng
sollte er von Wutschang nach Szetschuan abreisen. Tuan Fang wird mit
amtlichem Gepränge vor dem Stadttor empfangen und nach dem Yamen
geleitet, wo das Festmahl für ihn bereit ist; auch hier wirken die
feinen Beamtenzeremonien äusserst angenehm auf das Auge. Während die
Beamten sorglos beim Mahle sind, bereitet sich in der Wohnung des
Brigadekommandeurs Li Yüan hung eine grosse Aktion vor. Sun Wu und
der westländisch gekleidete Revolutionär besuchen General Li. Er
trägt die Uniform eines Brigadekommandeurs. Die Gesichtsmaske ist im
Wesentlichen erfasst; nur der Bart und die Augen müssten schwärzer
und buschiger sein. Als Li die Revolutionäre nach ihrem Begehr
fragt, entsteht eine Verlegenheitspause. Man glaubt, die Herzen der
Revolutionäre vor Aufregung zum Bersten schlagen hören. Sie fühlen:
jetzt steht die Revolution auf des Messers Schneide; entweder ist
Li Yüan hung der richtige Mann, oder wir haben uns getäuscht; und
dann rollen unsere Köpfe morgen im Sande. Auch die Zuschauer, die
sich vorher ab und zu laut unterhalten hatten, halten eine Weile den
Atem an; auch sie fühlen, dass sie einen wichtigen geschichtlichen
Augenblick vor sich abspielen sehen. Die Verlegenheitspause lässt
nach. Ein harmloses Gesprächsthema ist gefunden, und vorsichtig
sondierend, wird es von den Revolutionären ins Politische übergeleitet,
indem sie es, sich gegenseitig ermunternd anstossend, im Fluss
halten. Vor dem Kernpunkt des Gesprächs schrecken die Revolutionäre
zurück. Da entsteht ihnen eine willkommene Helferin. Eine „weibliche
Verwandte“ des Brigadekommandeurs, die Vertreterin der weiblichen
„Autoritätsverwerfer“, mischt sich ins Gespräch und verlangt von Li,
dass er sich der Aufstandsbewegung anschliesse. Ein kurzer innerer
Kampf Li Yüan hungs, und er reicht den Revolutionären stumm die
Hand, zum Zeichen, dass auf ihn und seine Brigade zu rechnen sei.
Der nervöse westländisch gekleidete Revolutionär will vor Freude
schier an die Decke springen, als sein Ohr die Botschaft vernimmt.
Unterdessen wiegt sich der Vorgesetzte Li Yüan hungs, General
Tschang Piao, in Sorglosigkeit. Die Schlichtung von Streitigkeiten
zwischen seiner zweiten und vierten Frau, erstere ein Geschenk des
greisen Tschang Chih tung, dünkt ihm wichtiger, als den Gerüchten
über revolutionäre Umtriebe nachzugehen, die seit den letzten Tagen
Wutschang durchschwirren. In diesen Tagen kehrt auch Tschang Piaos
Sohn, der in Japan seinen Studien obgelegen hat, ins väterliche Haus
zurück, wo gerade Li Yüan hung mit Tschang Piao eine Unterredung hat.
Der kleine Tschang Piao wird als kecker, übermütiger Junge in kurzen
europäischen Hosen und Halbstrümpfen dargestellt; er benimmt sich wie
ein ausgelassener Quartaner. „Ha, das ist Li Yüan hung. Jedes Kind
auf der Strasse kennt ihn. Er ist berühmt, und Dich kennt Niemand,“
ruft der Sprössling seinem Vater zu. Mit Entsetzen erkennt Tschang
Piao, dass sein Sohn keinen Zopf trägt. Darob zur Rede gestellt,
bekennt der Kleine trotzig: „Ich bin ein Umstürzler.“ Mit derben
Schimpfworten: „Faules Ei, faules Ei, Schildkrötenei, Schildkrötenei!“
herrscht Tschang Piao aus heller Wut über das Geständnis seines
Sohnes die Diener an. Danach setzt eine abgespannte Ermattung ein, und
zur Beruhigung seines Innern lässt er sich von seiner Lieblingsfrau
den Rücken massieren. Unter dem lieblichen Blick der Gattin glättet
sich schliesslich das von Zornesrunseln durchfurchte Gesicht. Im
Verschwörernest Sun Wus wird unterdessen fieberhaft gearbeitet. Zum
ersten Mal wird die neue fünffarbige Flagge entfaltet; die Siegel der
neuen Regierung werden angefertigt, Proklamationen geschrieben und
Bomben mit tödlichen Sprengstoffen gefüllt. Eine Bombe explodiert und
versengt Sun Wus Gesichtshaare. In wilder Hast fliehen die Verschwörer.
Vier fallen in die Hände der Polizei. Nun treibt die Handlung Schlag
auf Schlag vorwärts. Li Yüan hung versammelt telephonisch seine Brigade
und wirbt über Nacht neue Truppen an. Im Yamen des Generalgouverneurs
herrscht grenzenlose Verwirrung. Die ersten Geschosse fallen in den
Hof. Die höchsten Beamten in ihren kostbaren Amtstrachten rennen
mit schlotternden Knien umher, stossen gegenseitig mit den Köpfen
an einander und schreien sich an, wie in einem Tollhause, kurz, die
Verwirrung ist unbeschreiblich. Ein Hügel wird von den Aufständischen
gestürmt, eine Schnellfeuerkanone aufgefahren und ununterbrochen
Schüsse in die treugebliebenen Truppen Tschang Piaos gesandt. Die
Umsturzfurie ist entfesselt. Mit der Flucht Tuan Fangs, der sich von
seinem schönen Bart trennen muss, schliesst der erste Teil.

Der zweite Teil, der am folgenden Abend gespielt wurde, steht an
Lebhaftigkeit hinter dem des ersten Abends bedeutend zurück; man
vermisst die Sorgfalt im Aufbau der Szenen und findet die belehrenden,
langatmigen Reden ermüdend, deren Grundton stets der gleiche ist,
und die immer beginnen: „Mehr als zweihundert Jahre seufzte das
Volk unter der Knechtschaft der Mandschus, jetzt aber usw.“. Recht
eindrucksvoll ist indessen eine der ersten Szenen, wo Li Yüan hung von
den Aufständischen und den Notabeln des Landtags zum Tutu erwählt wird.
Der Doyen des Konsularkorps in Hankou soll von dieser Wahl in Kenntnis
gesetzt werden. Einen beissenden Hieb erhält dabei die Anknüpfung
der ersten „auswärtigen Beziehungen“ der neuen Regierung. Jeder der
Anwesenden möchte die Mission zu dem fremden Konsul übernehmen.
Schliesslich wird ein sehr korpulenter Herr, der sich auf seine fremden
Sprachkenntnisse beruft, als Dolmetscher in Hankou und ein Anderer als
Abgesandter gewählt. Die Szene, die sich dann in dem Empfangszimmer
des Konsuls abspielt, ist köstlich. Denn es stellt sich heraus, dass
der angebliche Dolmetscher keine fremde Sprache spricht. Die heiteren
Zwischenfälle, die dadurch entstehen, halten die Zuschauer fortgesetzt
im Lachen. Schliesslich werden die Abgesandten Li Yüan hungs auf nicht
allzu höfliche Weise verabschiedet. Diese Szene und die folgende im
Hauptquartier Li Yüan hungs im Provinziallandtagsgebäude in Wutschang
gehören zu den gelungensten des zweiten Teils des Stücks. Wie trefflich
sind die Gestalten gesehen, die sich im Hauptquartier um General Li
gruppieren; sie rufen in mir die Erinnerung wach, wo ich im November
1911 als besuchender Westländer das interessante Milieu störte. Da
steht ein Mitglied der „Zum Sterben Bereiten“ mit der weissen, über
die Brust gekreuzten Binde, der kämpfende Student, nur mit einem Säbel
bewaffnet, der jugendliche Offizier mit dem roten Tuch am Schwertknauf,
alles Gestalten, die der Wirklichkeit entnommen sind. Nur hätte
General Li, der in prunkender militärischer Uniform dargestellt wurde,
seinen schlichten bayrisch-blauen Anzug, die gelben Reitstiefel und
den grossen Schlapphut tragen sollen, und die getreue Nachahmung des
Lischen Hauptquartiers wäre auf Höchste vollendet gewesen. Trotzdem ist
die Darstellung des Lebens und Treibens in jenem historischen Eckzimmer
des Landtagsgebäudes recht gut wiedergegeben. Während Li mit seinem
Stab versammelt ist, kommt die Meldung, dass eine starke Streitmacht
unter dem Befehl des Generals Feng Kuo tschang von Peking unterwegs
sei, und dass er die Aufgabe habe, Hankou und Hanyang dem Volksheer zu
entreissen. Die nächsten Szenenbilder zeigen dann Gefechte zwischen den
noch von Tschang Piao geführten Kaiserlichen und den Aufständischen,
die für Letztere siegreich sind; Tschang Piao ergreift vor Angst
an allen Gliedern zitternd, die Flucht. Inzwischen trifft Feng Kuo
tschang mit seinem Heer vor Hankou ein. Die Aufständischen werden
von Kilometer Zehn nach Hankou zurückgedrängt, und die Stadt von den
Kaiserlichen eingenommen. Eine Szene zeigt die Chinesenstadt Hankou.
Vom Ta tsche men fliegen die Brandgranaten in die Stadt. Ein Haus geht
in Flammen auf; das Feuer greift um sich, bis schliesslich die Stadt
in einen Trümmerhaufen sinkt. Die Schlusszene zeigt die Batterien
von Wutschang, die mit dem Geschwader des Admirals Sah kämpfen. Eine
Granate zerschmettert den Mast des ersten Kreuzers, und gleich steigt
die weisse Flagge am Heck auf. Die Flotte ist zu den Aufständischen
übergegangen. Damit schliesst das Stück.

Wie aus der gedrängten Inhaltsangabe hervorgeht, ist es eine
Darstellung der Ereignisse wie sie sich im Wesentlichen in den
Monaten Oktober und November in den Wu Han-Städten abgespielt haben.
Manches, ja Vieles, lehnt sich wahrheitsgetreu an die Geschehnisse
an. Anderes ist aber stark zu Gunsten der revolutionären Sache
gefärbt. Das Stück ist kein Drama eines Helden in westländischem
Sinne, wie der Titel vielleicht ahnen lässt. Nicht Li Yüan hung
wirkt als Heldennatur gestaltend auf die Ereignisse, sondern er
wird von ihnen getragen. Ob damals Li Yüan hung, überzeugt von der
Schädlichkeit der Mandschuherrschaft, aus freiem Entschluss das Banner
der Empörung ergriffen hat, ist stets von unparteiischen Kennern
bezweifelt worden. Weit eindrucksvoller und der historischen Wahrheit
näher liegend wäre die auch später von Li Yüan hung bestätigte Szene
gewesen, als damals, in der kritischen Nacht vom 8ten auf den 9ten
Oktober, Angehörige seiner Brigade auf sein Zimmer kamen, ihm das
Schwert an den Nacken setzten und ihn zwischen Tod oder Gefolgschaft
wählen liessen. Li nahm das Letztere. Und von diesem Augenblick an
hatte er seine Natur als Held an seine Umgebung verkauft, die ihm
jede seiner Handlung vorschrieb. Anzuerkennen ist jedoch, dass ihn
das Stück nicht von vorneherein als einen Umstürzler hinstellte,
der nicht wie andere deshalb nach Rang und Würde im Heer strebte,
um rascher zu seinem Ziel zu gelangen; das geht daraus hervor, dass
er zuerst in einer Unterredung mit der „weiblichen Verwandten“ und
den beiden Revolutionären für die Sache der Ko ming tang, der er
zunächst unwissend, ablehnend gegenübersteht, gewonnen werden muss.
Solche Feststellungen müssen westländischen Kreisen gegenüber gemacht
werden, damit sie nicht Opfer einer Geschichtsklitterung werden, die
jetzt von „national“ gesinnten chinesischen Kreisen getrieben wird.
Das trifft auch auf Tschang Piao zu. Seine Gestalt wird ins allzu
Lächerliche karrikiert, doch immerhin für chinesische Auffassung noch
so glaubwürdig, dass jeder kritiklose Beobachter mit dem Namen Tschang
Piao die feige Jammergestalt verknüpft. Möge das häusliche Idyll,
das Tschang Piao in den launigen Händen von zwei Frauen zeigt, auch
zutreffen, im Kampf gegen den überlegenen Feind hat er sich in jenen
kritischen Tagen, als er mit ein paar Getreuen den Bahnhof Kilometer
Zehn verteidigte, als ein Held gezeigt. Und seinem Heldentum setzte er
die Krone auf, als er in einer sternenklaren Novembernacht allein auf
schwankendem Kahn über den Han-Fluss ruderte, eine dicke Hanftrosse
nach sich zog und sie in unmittelbarer Nähe des feindlichen Lagers
an seinem Pfahl festmachte, wodurch er das Schlagen der Brücke über
den Han ermöglichte und auf diese Weise die Einnahme von Han yang
vorbereitete! General Feng Kuo tschang, der Eroberer von Hanyang und
Hankou, bleibt in dem Stück von Lächerlichkeiten verschont. Kein
verulkendes Lachen ertönte aus dem Zuschauerraum, als er auftrat. Die
Maske des Schauspielers war vorzüglich; Feng Kuo tschang, wie er leibt
und lebt! Aus seinen Zügen leuchtete Tatkraft und Entschlossenheit;
er war noch nicht gramgebeugt wie von jenem Tage ab, als ihm die
Nachricht aus dem Norden zuging, dass fanatische Revolutionäre seine
Familie ausgerottet und die Gräber seiner Ahnen geschändet hätten.
Das Stück bemüht sich, den Wutschanger Aufstand so unblutig wie
möglich darzustellen. Flüchtende Mandschus werden von den Soldaten
angehalten und nach kurzem Verhör weiter gelassen. Das entspricht nicht
den geschichtlichen Tatsachen. Viele wurden grausam niedergemacht,
ganz zu schweigen von den achthundert mandschurischen Männern,
Frauen und Kindern, die im Revolutionseifer von der Wutschanger
Stadtmauer gestürzt wurden, wo sie mit zerschmetterten Gliedern liegen
blieben. Doch die Zeit heilt. Sie heilt auch die Erinnerung an die
Schattenseiten und unbedachte Grausamkeiten der Revolution, und nur das
Lichte, Ideale soll der Nachwelt erhalten bleiben. In diesem Sinne ist
auch das Stück „Li Yüan hung“ aufzufassen.

[Illustration]



Bilder am Wege.


Die Freude am Licht.

Es gibt Gassen in Schanghai, die in regenschweren Tagen von einem
düstern Halbdunkel durchwoben sind. Es sind eigentlich gar keine
Gassen, sondern schmale Gänge, die von einer Hauptstrasse abzweigen
und stracks durch die Häuserblöcke führen. Die Gänge werden mit Namen
bezeichnet, die manchmal sehr merkwürdig klingen und dem ganzen
„Milieu“ Hohn sprechen. Hier sind einige Gassenbezeichnungen: „Die
ewige Kostbarkeit,“ „die ewige Tugend,“ „der ewige Frühling,“ „der
friedliche „Ursprung“,“ „die vollendete Schönheit,“ „das immerwährende
Glück,“ „die hundert Harmonien,“ „die unwandelbare Gerechtigkeit“ und
„der erhabene Friede.“

Eines Tages ging ich durch die „Gasse der „unwandelbaren
Gerechtigkeit“.“ Zu beiden Seiten waren hohe Häuserwände und die
Gasse war so schmal, dass man, wenn man sich in ihre Mitte stellte,
mit den Fingerspitzen der ausgestreckten Hände die Wände berühren
konnte. Die steilen, schmutzig grauen Wände wurden oben vom Himmel
abgeschlossen, der von einem düstern Grau umflort war. Braun und
klitschig von Regen und aufgeweichtem Staub war das Pflaster. Ein
Geruch von Moder und Kellerdunst erfüllte die Luft. In der Gasse
schien alles Leben ausgestorben. Nein, doch nicht. Denn dort, an die
Wand gekauert, lag ein Sack aus groben, ackerfarbenem Tuch. Unter dem
Sack war Leben. Vielleicht lag ein Hund darunter. Nein, es war nur ein
Häufchen zusammengeknäueltes menschliches Elend. Auf dem Sack, der als
kälteschützende Schlafdecke diente, kramte sich eine magere Hand hervor
und schlug abwehrend in die Luft. Dabei verzog sich die Decke und ein
Kopf kam zum Vorschein. Ein würdiger Greisenkopf. Das Gesicht war braun
wie die Sackleinwand. Der Bart und die spärlichen Zopfhaare weiss
wie frischgefallener Schnee. Die Augen waren zum Schlaf geschlossen.
Da surrte eine Fliege heran, die, in irgend einem warmen Unterschlupf
aufgestöbert, im Zickzackflug durch die Luft taumelte, sich auf dem
Greisengesicht niederliess, und ihren schwarzglänzenden Leib an der
von warmem Blut durchströmten Wange des Schlafenden wärmte. Der Greis
lag offenbar im Halbschlaf; er erhob die Hände und klatschte nach
der Fliege; unbeirrt kam sie immer wieder. Und plötzlich ging ein
Aufleuchten durch die düstere Gasse; es flammte auf und verschwand wie
ein Streichholz, das man in einem dunstigen, düstern Keller anzündet.
Und dann leuchtete es wieder auf, das würdige Greisengesicht mit
Helle überstrahlend und den schwarzen Leib der vorwitzigen Fliege mit
grünschillernden Ringen umgürtend. Es war die Sonne, die, die graue
Wolkenwand zerschneidend, ihre Strahlen in der „Gasse der unwandelbaren
Gerechtigkeit“ spielen liess. Noch merkte der schlafende Greis das
Wirken der Lichtspenderin nicht, obwohl die Fliege eindringlich zum
Erwachen mahnte. Als aber die Sonne mit all ihrer Leuchtkraft in die
muffige Gasse fuhr, da zwinkerte es um die verwitterten Augenwinkel des
Greises, und langsam, langsam öffneten sie sich und blickten so hell
und freudig in die Sonne, wie die frohen Augen eines kleinen Kindes,
das beim Erwachen seine Mutter erblickt. Und dann schlossen sich die
Augen wieder, und um den Mund des Bettlers zog sich ein stilles Lächeln.

Seit diesen kleinem Erlebnis sind für mich ein durch die Wolken
dringender Sonnenstrahl und das Lächeln des Bettlergreises in der
„Gasse der unwandelbaren Gerechtigkeit“ zwei unzertrennbare Begriffe.

[Illustration]


Der Erdnusshändler.

In einem der vielen Seitengänge, die sich von der Nanking Road in die
dahinter liegenden Häuserblöcke bohren, hat seit Jahren ein Verkäufer
von verzuckerten Erdnüssen seinen Stand aufgeschlagen. Die hohe
Gestalt, die braunrote Gesichtsfarbe und die starkknochigen Finger,
mit denen er die gezuckerten Früchte in senffarbenes Papier wickelt,
oder mit denen er ab und zu eine überdauerte Winterfliege mit dem
Federwedel verjagt, deuten daraufhin, dass er nicht ein eingeborener
Schanghaier ist, sondern von einem andern Teil des Reiches in die
Weltstadt zog. Der Erdnussverkäufer stammt aus Schantung; er gehört
zu meinen Freunden, wie Alles, was von dort kommt. Eines Tages machte
er mir einen Besuch und überreichte mir seine knabenfusslange,
knallrote Visitenkarte, darauf in schwarzer Tuschschrift zu lesen
stand: Wang Tung hai. Seit dem Besuch, den ich in seiner Wohnung in der
Peking Road erwidert hatte, wurden wir Freunde, ein für das Studium
soziologischer Verhältnisse in China wichtiger Umstand. Ich sprach
über Dieses und Jenes mit ihm. So fragte ich ihn gelegentlich auch
wie er sich in der Weltstadt Schanghai durchschlüge. Da erzählte er
mir, dass er an regenfreien Tagen im Durchschnitt sechs chinesische
Pfund gezuckerte Erdnüsse verkaufe. Er bezieht die Erdnüsse von einem
Zwischenhändler, der sie wieder vom Produzenten in Kiangsu kauft.
Die sechs Pfund Erdnüsse kosten ihm, einschliesslich Zuckerung und
Einschlagpapier, zwanzig Zent. Der Tagesverdienst beträgt nach dem
Verkauf der sechs Pfund fünfundvierzig Zent oder zwölfeinhalb Dollar im
Monat. Wenn es regnet, bleibt er zu Hause und trommelt mit den Fingern
an die vom Staub erblindeten Fensterscheiben; denn an Regentagen ist
der Verdienst so gering, dass er lieber ganz darauf verzichtet. Als
durchschnittlichen Monatsgewinn rechnet Freund Wang zehn Dollar;
er hat aber in ganz besonders guten Zeiten schon fünfzehn Dollar
verdient. Davon bestreitet er die Kosten für seine mit zweieinhalb
Dollar im Haushalt veranschlagte Wohnung und sein mit Schantunger
Leibgerichten gewürztes Essen, das die Summe von sechs Dollar nicht
überschreiten darf. Der Mehrverdienst der guten Monate muss über die
schlechten hinweghelfen. Und die machen fast die Hälfte des Jahres
aus. Besonders graut es Freund Wang vor der „toten Saison“, die die
Sommermonate umfasst. Denn zu dieser Zeit sind die gezuckerten Erdnüsse
am Wenigsten schmackhaft. Deshalb klappt Wang beim Beginn der heissen
Zeit den Verkaufstisch zusammen, isst des Morgens den Rest der ihm
verbliebenen Zuckernüsse zum Frühstück und besucht ein halbes Jahr lang
die Stadtkundschaft eines Getreidegeschäftes. Das bringt noch weniger
ein, als der Erdnussverkauf, hält aber den wackern Schantunger so lange
in der Weltstadt über Wasser, bis wieder die Zeit anbricht, wo er seine
gezuckerte Ware verkaufen und, je nachdem, mit den harten Fingern
auf den Fensterscheiben trommeln kann, gegen die der unerbittliche,
geschäftsstörende Herbstregen schlägt.

[Illustration]


Der Heiratsvertrag.

Vor Kurzem war ich Zeuge einer Verkehrsstockung in der Szechuan Road.
Das ist an sich kein sonderliches Erlebnis. Sonderlich genug war
aber die Ursache, die zu der Verkehrsstockung führte. Halblinks von
mir ging ein alter, behäbig-vornehm gekleideter Chinese; es war eine
typisch chinesische Erscheinung vom Zopf bis zur Sohle. Die Gestalt
erinnerte an einen biedern Provinzonkel, der sich einmal Schanghai
„ansehen“ wollte. Die muntere Art, mit der er seine Aeuglein über das
Grossstadtgetriebe spielen liess, zeigte, dass er sich an all dem
Neuen, das rings um ihn herandrängte, ergötzte. Das Spielen seiner
Gesichtsmuskeln liess einen Schluss in Das zu, wie er seine Eindrücke
innerlich verdaute. Bald verzogen sich seine Züge zu einem behaglichen
Lächeln, bald braute es vorwurfsvoll um Stirn und Augen. Da bleibt
der Alte plötzlich wie angewurzelt auf der Mitte der Strasse stehen,
den Kopf lauernd nach vorn gebogen, die Augen aufgerissen, und hinter
ihm staute sich der Verkehr. Rickschas, Automobile, Kutschen und
Fussgänger hielten an, und gar schrecklich bimmelte der ungeduldige
Wagenführer der Elektrischen, als sich sein Wagen im Gewühl verrannte.
Der Alte stand immer noch lauernd da, bis ihn schliesslich ein
hochstämmiger rotbeturbanter indischer Schutzmann zur Seite schob und
dem angestauten Verkehr freie Bahn schaffte. Der alte Chinese setzte
wie eine vom Räderwerk aufgezogene Puppe seinen Gang fort, die Augen
immer unverwandt nach vorn gerichtet. Ich ging unauffällig neben ihm
her und versuchte mit meinen Augen das Ziel seiner Blicke zu ergründen.
Endlich fand ich es. Es war eine tannenschlanke Chinesin der besseren
Gesellschaftskreise; sie trug eine grüne Wollmütze und eilte mit ihren
lackierten Lederschühchen über den Asphalt, den langen Rock mit der
linken Hand ein wenig knöchelfrei hochschürzend.

Der Alte beschleunigte seinen Schritt und ging immer hinter her,
immer hinterher... Mir fiel dabei eine wahre Geschichte ein, in
der ein alter Chinese und eine „moderne“ Chinesin eine Heldenrolle
spielten, und die fast genau so anfing wie die, die zu der
Verkehrsstockung Anlass gegeben hatte. Im winterlich eisbestarrten
Herzen des alten „konservativen“ Tsai, eines Bücherlesers, wurde es
noch einmal Frühling. Es begann zu sprossen wie einst im Mai. Eine
keck gekleidete, jugendliche Landsmännin hatte es ihm angetan.
Seitdem er Fräulein Edelstein an jenem Abend gesehen hatte, wo sie
als begeisterte Agitatorin für das Frauenstimmrecht den Männern den
Krieg erklärte, musste Tsai kapitulieren. „Du gleichst der Sonne am
klaren Winterhimmel. Aus deinen Augen leuchtet der lautere Quell des
Herzens. Deine Stimme ist so süss, wie die einer Nachtigall im vom
Abendwind durchflüsterten Bambushain. Deine Lippen gleichen hellroten
Frühkirschen.“ So himmelte er sie an, verbrach Gedichte und suchte in
alten Klassikern nach sinnreichen Stellen, die seinem Liebesgestammel
den Schein tiefgründiger Gelehrsamkeit geben sollten. Die Angebetete
blieb hart. Sie sah ihn mit kalten Augen an und sagte rauh, dass sie
sich mehr für Politik als für die Ehe interessiere. Dadurch immer mehr
angestachelt, nahm er den letzten Anlauf. Und er gelang. Tsai führte
die Heissumkämpfte heim. Er eroberte die Sonne, deren Licht ihm die
Augen verblendet hatte. Vorher machten Beide einen Heiratskontrakt,
darin zu lesen stand: „Der Unterzeichnete führt Fräulein Edelstein
als seine Frau heim. Er ist damit einverstanden, dass sie, als seine
rechtmässige Gattin 352 Tage im Jahre zu Zwecken der Agitation für
das Frauenstimmrecht alle Plätze des Reichs bereisen darf. Die
unterzeichnete Gattin verpflichtet sich, während des Neujahrsfest nach
Schanghai zurückzukehren; sie braucht jedoch den Aufenthalt nicht über
acht Tage auszudehnen.“

[Illustration]


Der Schauspieler.

Mehr als ein Dutzend Male habe ich den berühmten Schauspieler Wu Tschan
djiao auf der Bühne des Theaters Hsin wu tai gesehen, viertausend
Zuhörer mit seiner melodischen Nordsprache und seinem eindrucksvollen
Mienenspiel im Bann haltend. Unvergleichlich war er in dem klassischen
Stück: „Die lachende Kaiserin“ als Staatsminister Sze Lang oder in
dem Stück „Tsie Tsien“, das in die Zeit der „Drei Reiche“ versetzt.
Die ganze Skala feinsinnigster bis zur berstenden Leidenschaft
ausartender Gemütsbewegungen beherrschte er. In klassischen Stücken
atmeten seine Rollen verhaltene Leidenschaft, die nach der alten
chinesischen Schauspielkunst in scharf umgrenzte, rhythmische
Bewegungen eingeschachtelt werden muss, aber darum nicht weniger
eindrucksvoll ist. Dem westländischen Empfinden und Fühlen kam Wu in
den modernen politischen Stücken am Nächsten. Da durfte er kühn alle,
die innere Leidenschaft hemmenden Banden von sich streifen, da durfte
er, frei von konventionellen Zunftüberlieferungen toben, schreien,
begeistern, überzeugen, und ganz in seiner Rolle aufgehen, wimmern
und schluchzen wie ein Kind. In solchen Augenblicken stand nicht mehr
ein Schauspieler auf der Bühne, sondern ein Volksredner, der den
Instinkt der Masse auszunutzen versteht; dann wurde das Theater zu
einem politischen Versammlungsort, von mitgerissenen Zuhörern geworfen,
prasselten Armspangen und harte Dollar auf die Bühne. Wer Wu Tschan
djiao als Verschwörer Sun Wu in dem Revolutionsstück „Li Yüan hung“
gesehen hat, wird ihn nicht so leicht vergessen. Wu Tschan djiao war
aber eine Kampfnatur. Die Bühne wurde ihm zu eng, und er suchte sich
ein anderes Feld. Sein Streben ging höher. Nicht mehr auf viertausend
Zuhörer wollte er wirken, sondern auf vierhundert Millionen, die
-- wie er meint -- mehr oder weniger nichts Anderes als Zuschauer
der grossen politischen Tragikomödie sind, an der unfreiwillig das
gesamte chinesische Beamtenheer, die fremden Gesandten und der
unter der Steuerschraube seufzende Bauer und Hunderttausende von
Statisten mitwirken. Vor diese vierhundert Millionen ist vor Kurzem
der Schauspieler Wu Tschan djian hingetreten und hat gerufen: „Achtet
auf die gefrässigen Russen. Sie wollen den Zusammenbruch Chinas.
Sie wollen Euch, meine heissgeliebten Brüder, zu Sklaven machen.
Achtet auf den „lebenden Buddha“, der im Solde Russlands steht!“ Und
die Augen der vierhundert Millionen Zuschauer sind seit dem auf Wu
gerichtet; die chinesischen Zeitungen berichten getreulich über Alles,
was er tut. Und die Neuigkeitsucher machten sogar nicht vor Wu Tschan
djiaos Privatwohnung Halt. Dort spielte sich eine eindrucksvolle Szene
ab. Wu rief seine beiden Frauen und sprach: „Von heute ab zähle ich
nicht mehr zu den jüngeren Brüdern des Pfirsichgartens. Jetzt bin
ich General. Ich muss in den Kampf nach der Mongolei. Das Vaterland
ruft.“ Da brachen die beiden Frauen in herzbrechendes Weinen aus. Sie
sahen den Körper des geliebten Mannes von mongolischen Aufständischen
zerfleischt, zerrissen und die Knochen auf gelbem Wüstensand bleichen,
und zogen an Arm und Rock, damit er nicht von ihnen gehe. Wu Tschan
djiao riss sich los und griff nach dem Abschiedstrank und sprach, fest
mit strengen Augen seine Frauen anblickend: „Ich gehe.“ Die Frauen
trockneten ihre Tränen, und sie hörten gefasst auf die Anordnungen
des Mannes. Der ältern Frau vertraute er die Erziehung des kleinen
Ahing an; er müsse fleissig lernen, um später ein tüchtiger Mensch zu
werden. Die jüngere, die ihn sparsam dünkte, erhielt die Verwaltung
des Vermögens. Jetzt ist Wu Tschan djiao schon im Norden und eifrig
dabei, die Söldnerzahl um sich zu scharen, die seine Stellung als
General rechtfertigen soll. Das schlecht bezahlte Schauspielervolk
Chinas, besonders die, die müde sind, den Thespiskarren weiter durch
den Schlamm zu ziehen, eilen zu den Fahnen Wu Tschan djiaos. So ist es
den Erfolglosen, den Vielzuvielen, denen mit dem Schauspieler Wu Tschan
djiao zu spielen verwehrt war, vielleicht noch vergönnt, unter dem
General Wu Tschan djiao zu kämpfen. Hei, das wird ein heisses Streiten
auf der mongolischen Steppe! Schulter an Schulter kämpfen dann die
alten Heldengestalten, Tsao Tsao, Tschang Fe, Liu Pei, Kung Ming, wie
sie Alle heissen, gegen den gemeinsamen Feind. Weh dir, Hutuktu!

[Illustration]

[Illustration: Der Garten Li-Hsüan

Zu Seite 49.]


Das Fest der Literaten.

Der berühmte, achtzig Jahre alte Bücherleser Wang Hui kai aus
Hunan hat am Fest des „Erwachens der Insekten“ den ehemaligen
Provinzialschatzmeister Wu Hsi kai, den frühern Minister der Ta Tsing
Dynastie Ku Hung chi und einige andere hochgebildete Literaten im
Garten Li hsüan zu sich einladen, um sich zu unterhalten und „Gedichte
zu machen“. So war vor einiger Zeit in einem Schanghaier chinesischen
Blatt, das zu den „gemässigten“ Republikanern gehört, am Liebsten
aber sein republikanisches Mäntelchen gegen einen Kaisermantel
eintauschen möchte, zu lesen. Zwischen all den Artikeln und Artikelchen
über Parteiquacksalbereien, tollgewordenen Hunden, Lokalpolitik und
Verschwörergesellschaften, wirkte das Lesen jener kleinen Mitteilung
erquickend, wie ein kräftiger Landregen im heissen Sommer. Die
Mitteilung hatte „Erdgeruch“. Endlich wieder einmal eine Neuigkeit,
die Einen daran erinnert, dass man in China lebt. Ich kenne weder den
Herrn Wang Hui kai noch den gewesenen Schatzmeister Wu Hsi kui und
die Anderen. Ich weiss nur, dass sie echte Chinesen sind, Chinesen,
die in der Zeit des Umsturzes und der politischen Zersetzung in ihrem
tiefsten Herzensschrein noch ein Fünkchen Liebe für ihre alte Kultur
bewahrt haben. Und das bedeutet viel, sehr viel. Bei den sogenannten
Jungchinesen wäre ein solches Fest, das der achtzigjährige Wang Hui
kai aus Hunan im Garten Li hsüan veranstaltet hat, ganz undenkbar. Wo
heute zwei Jungchinesen zusammensitzen, wird über Politik gesprochen.
Nein, nicht gesprochen, sondern geprahlt, unerreichbaren Phantomen
nachgejagt, statt hübsch mit den Füssen auf dem Boden zu bleiben und
tapfern Auges umherzublicken. Da wird der Mund recht voll genommen,
gemäkelt, kritisiert, geschimpft, verschworen, eine andere Zeit
herbeigesehnt und stumm die Hand gedrückt: „Na warte, wenn wir ans
Ruder kommen!“ So ringt das immer gärende Jungchinesentum nach Gärung,
in Wirklichkeit wühlt es den Schlamm im unergründlichen Brackwasser
der sogenannten neuen chinesischen Weltanschauung immer tiefer auf.
Anders ist es bei den „Altchinesen“, wie sie Herr Wang Hui kai im
Garten Li hsüan um sich geschart hatte. „Um Gedichte zu machen“ stand
auf der Einladungskarte. Herr Wang hatte mich mit keiner Einladung
beehrt. Darob zürnte ich ihm nicht; denn wie könnte er doch auch von
einem „fremden Teufel“ annehmen, dass er sich für seine literarischen
Schmausereien interessiere, ein „fremder Teufel“, der dazu noch in
einer von chinesisch westländischem Materialismus beglückten Weltstadt
wohnt. Aber die kurze Mitteilung in dem chinesischen Blatt liess das
ganze Fest der Literaten vor mir entstehen, liess es mich innerlich
miterleben.

Der Garten Li hsüan. Ich weiss nicht, wo der Garten liegt, kann mir
aber genau vorstellen, wie es dort aussieht. Wenn man hineinblickt,
sieht man eine in Miniatur zusammengepresste chinesische Landschaft.
Die aus grünbemoosten, kopfgrossen Steinen zurechtgebauten Berge sind
kaum drei Meter hoch; sie schliessen einen mit Riedgras bewachsenen
„See“ ein, auf dessen Wasser Trauerweiden ihre Zweige wiegen. In
dem Teich tummeln sich Karpfen und Goldfische, die mitunter, nach
Fressbarem schnappend, die Wasserfläche quirlend aufwühlen. In den
Trauerweiden streitet sich ein beutehungriges Elsternpaar. In einem
kleinen Pavillon am Seeufer, von dem man die ganze Landschaft übersehen
kann, sitzen am steinernen Tisch und auf steinernen, säulenförmigen
Stühlen Wang Hui kai aus Hunan und seine Gäste, machen sich in artigen
Redensarten Komplimente und nippen feurigen Schau hsinger Wein, mit
mageren, zitternden Händen die kleinen Schälchen an den zuckenden
Mund führend und mit dem Seidenärmel verlorene Tröpfchen vom Bart
wischend. Die Herren gedachten alter Zeiten, beweihräucherten sich
gegenseitig und lächelten zufrieden. Und dann belauschten sie die
Natur. Das Elsternpaar in der Trauerweide hatte sich noch nicht
ausgetobt; von Krallen- und Flügelschlag löste sich ein dürrer Zweig
und klatschte, sich überstürzend ins Wasser, dieweil die hungrigen
Goldfische danach schnappten und dann wieder enttäuscht ihre Köpfe
unter das Wasser steckten. Der Zweig trieb auf ein einsam schwimmendes
Blatt zu, und Beide schwammen vereint zum Ufer. Die Köpfe der
Greise klappten nachsinnend zusammen; nach wenigen Sekunden war die
chinesische Literatur um ein Gedicht bereichert. Das beste Gedicht
in Schönheit des Ausdrucks und des Rhythmus erhielt der Minister
Ku Hung tschi. Und so ging es Stunden lang. Die Wangen der Greise
glühten in dichterischem Rausch. Dann wurde es still im Kreis, so
still, dass man die Trauerweidenzweige knistern und knacken hörte.
Und dann wurde es laut. Aus der Ferne fauchte es heran, tutend und
staubaufwirbelnd. Keck durchbrach es die Eingangspforte und drang
störend in das Dichterreich. Es war ein Auto, ein ganz gewöhnliches
Auto. Ihm entstiegen drei chinesische Damen und zwei Herren, von denen
Einer Offiziersuniform trug; dem Range nach war er kommandierender
General, dem Geburtsschein nach kaum dreiundzwanzig. Der andere Herr
war im Gehrock und Zylinder, er war höherer Beamter. Die Kleidung der
Damen trug den Modelaunen der Zeit Rechnung. Fast bestürzt richteten
sich die Augen der Literaten auf die Eindringlinge, die sich frei und
ungezwungen bewegten. Eine Dame rief dem kommandierenden General ein
zärtliches Scherzwort zu, und er haschte nach ihr; wie eine Gazelle
sprang sie davon; endlich erreichte er sie, drückte mit seiner
kommandierenden Generals-Hand die Handknöchel der Entwichenen und sah
ihr mit heissen Augen ins Gesicht. Der andere Herr quetschte vor lauter
Vergnügen den Gummiball der Automobilhupe und die beiden anderen Damen
stachen mit dünnen Spazierstöckchen nach den Goldfischen. Oben im
Pavillon waren die Gesichter immer noch bestürzt. Der siebzigjährige Wu
Hsi kuei murmelte eine Strophe aus dem „Schih tsching“:

    Habt vor dem Himmelszorne Scheu,
    wagt nicht so eitle Spielerei!

Die Literaten horchten auf. Und der achtzigjährige Wang Hui kai aus
Hunan ergänzte:

    Der Himmel wirft sein Strafnetz aus:
    Fresswürmer, die am Innern zehren.
    Dummköpfe, Harte, Leut’ ohn’ Ehren,
    Verwirrungsstifter, Rechtsverdreher.
    Die herrschen, unserm Land Zucht zu lehren.

    (Schih tsching III 3.11)

Wang Hui kai lachte, alle Form vergessend, laut auf und damit endete
das Fest der Literaten...

[Illustration]


Zirkus in der Unterwelt.

Vor ein paar Tagen war ich Abends in einem chinesischen Theater. Es
war eines von den modernen, mit Rang und Sperrsitz, Kronleuchter,
schiebbaren Kulissen und fürstlich bezahlten Schauspielern. Ich kam
gegen elf Uhr. Ein wildes Durcheinander war auf der Bühne. Zwei Helden
bekämpften sich. Wild flogen die Bärte, grimmig blitzten die Augen,
geschmeidig dehnten sich die Körper unter den schweren Heldenkostümen.
Im rhythmischen Takt der Musik schlugen die Gegner auf einander
ein; der Rhythmus stockt, sechsmal hintereinander wie ferne Schüsse
aus einem Schnellfeuergeschütz knallt der Trommler auf das gellende
Holz, und dann war es still. In eherner Haltung, mit rollenden Augen
und schnaubendem Atem standen die Kämpen an der Rampe und starrten
unverwandt in die Zuschauer. Das Stück war aus; ein neues begann. Auf
dem Theaterzettel stand: „Hsin Lo yang tschiao“ (Die neue Lo yang
Brücke). Die alte Lo yang Brücke hatte ich früher einmal gesehen;
soweit ich mich erinnerte, war es ein Stück mit vielen Göttern. Auch
die Kuan yin pu sa, die Göttin der Barmherzigkeit war -- Richtig, da
kommt sie. In prunkendem Gewand, mit glänzendem Gefolge, das bunte
Lichter und Laternen trug, wird sie auf ihrem Thron auf die Bühne
getragen; sanft tönt die Musik; die Göttin singt ein Lied und wird dann
wieder weiterbefördert. Der Vorhang senkt sich, hebt sich von Neuem,
und man erblickt einen Mann im gewöhnlichen, chinesischen bürgerlichen
Gewand, der sich mit einer Kanne Wein unterhält, des Spruchs von Li Tai
po gedenkend:

    Wenn tausendfach die Sorgen sind
    Und drücken sie noch so schwer,
    Dann trink’ dreihundert Glas geschwind,
    Da fühlst du sie nicht mehr.

Und richtig. Der Mann trank, trank so viel, dass sich der Lung Wang,
der König der Unterwelt, veranlasst sah, einen Schergen zur Warnung vor
dem Alkoholgenuss an die Oberwelt zu senden. Der Trinker schlug die
Warnungen des Höllenschergen lachend in den Wind. Da ereilt ihn sein
Geschick. Man sieht den Trinker, wie er auf schwankem Kahn über das
Wasser fahren will; es rauscht eine Welle heran, das Boot kippt um,
und der Trinker, (ebenso wie der Dichter Li Tai po, der den Mond in
des Wassers Mitte fassen wollte) sinkt immer tiefer und tiefer bis er
den Wassergrund berührt. Der Vorhang senkt sich und hebt sich wieder,
und der Trinker steht im Reich des Höllenkönigs. Mit wunderbarem
Geschick hat dort der chinesische Regisseur ein Stück Unterwelt vor
die Augen des Zuschauers gestellt. Man erblickt den Lung Wang mit
seinem greulichen Gefolge, und im düstern Hintergrund blinken zahllose
Lichter; hier erlischt ein Licht, dort facht ein neues an, dort brennt
eins mit beängstigender Schnelle ab. Die Lichter sollen das Sinnbild
des Menschenlebens sein, dessen Geschick in den Händen des Höllengottes
liegt. „Aha,“ denkt der Zuschauer, „jetzt geht es dem Trinker an den
Kragen.“ Man wartet; aber nichts ereignet sich. Der Trinker, der
Höllenkönig und sein greuliches Gefolge blicken auffällig nach einer
Seitenkulisse. Hat ein Schauspieler sein Stichwort überhört? Plötzlich
hört man Schreie; dazwischen klingt es wie englische Laute. Ehe man
sich dessen versieht, plumpen zwei Säcke auf die Bühne, die sich
überschlagend drehen, vor der Rampe haltmachen und sich höflich vor
dem Zuschauer verneigen. Es sind, wie man jetzt sieht, keine Säcke,
sondern weissgepuderte Chinesen im Clownkostüm, Gestalten, wie sie
zum eisernen Bestand jeder westländischen Zirkusvorstellung gehören.
Und nun geht es los. Der neueste „Clou“ der chinesischen Bühne! Die
zwei dummen „Aujuste“ in der Unterwelt! Glanznummer der biedern,
verschandelten „Lo yang Brücke“! Ein Clown will sich setzen, flugs
zieht der andere den Stuhl weg, und er liegt auf dem Boden. Bautz, da
knallt die luftgefüllte Schweinsblase auf dem Rücken des Andern; bautz,
da fliegt sie auf den harten Schädel. Und so geht es eine halbe Stunde
lang. Die Zuschauer kreischen und lachen; der König der Unterwelt und
sein Gefolge bemühen sich krampfhaft, ernst zu bleiben. Schallender
Beifall belohnt die beiden Säcke, die sich überkugelnd vor die Rampe
rollen, den spitzen Zuckerhut abnehmen und sich höflichst verbeugen.
Der Vorhang senkt sich und hebt sich; verschwunden ist der Spuk. Der
Trinker unterhält sich wieder mit einer Kanne Wein, des Spruchs von Li
Tai po gedenkend:

    „Wenn tausendfach die Sorgen sind
    Und drücken sie noch so schwer,
    Dann trink dreihundert Glas geschwind,
    Da fühlst du sie nicht mehr.“

Arme, chinesische Bühne! Wie lange wirst Du dich noch der
„Autoliebchen“-, „Puppchen“- und „Filmzauber“-Kultur erwehren können!

[Illustration]


Vom westländischen Modefieber.

Westländische Schuhe und Strümpfe waren die ersten „zivilisatorischen“
Bekleidungsstücke des Chinesen. Ehe ein chinesischer Händler daran
dachte, der Nachfrage nach diesen Artikeln gerecht zu werden, wurden
sie schon beim europäischen „Master“ gestohlen. Die westländischen
Schuhe wurden meistens verächtlich behandelt; sie wurden nur an
Regentagen, wenn die Strasse voll Wasser und weichem Kot war,
getragen, weil die chinesischen Schuhe zu gut dafür waren. Dann kam
aber die Revolution. Ihre Nachwirkungen fanden in Schanghai ihren
Ausdruck in einem westländischen Modefieber. „Wer nicht mit der Mode
geht, gilt als ein armer Mann“, sagt ein chinesisches Sprichwort.
Nun, die Jungchinesen wollten zeigen, dass sie nicht arm waren.
Ihre Kaufkraft zeigt die Schanghaier Zollstatistik bei der Einfuhr
von Mützen, Tuchen, Schuhen und sonstigen Bedarfsartikeln; und was
nicht verkauft ist, liegt in den Schaufenstern der Kaufläden, die
über Nacht ihre alten chinesischen Ladenhüter mit europäischem
Flitter vertauscht haben. Das Modefieber hat nachgelassen; aber wer
noch von ihm gepackt ist, wird es nicht mehr los; das Fieber ist
chronisch geworden. Zur Lehre und Mahnung der in Schanghai lebenden
Ausländer will ich eine Geschichte von meinem frühern Freund Kang
Lou hui erzählen, der an jedem Geschäft, das mit ausländischen
Kleidungssachen handelte, in weitem Bogen vorüberging. Trotzdem zählte
mein Freund Kang zu den am Besten gekleideten chinesischen Jünglingen
der Weltstadt Shanghai. Bald kleidete er sich im gewöhnlichen
Strassenanzug, bald in würdigen Gehrock mit gestreiften Hosen, dann
trug er einen eleganten Schwalbenschwanzrock, und des Abends zeigte
er sich öfter in der Foochow Road im „Smoking“ oder in Frack und
weisser Binde. Es war erstaunlich, über welchen Kleiderreichtum Kang
Lou hui verfügte; dabei verdiente er monatlich knapp fünfundzwanzig
Dollar und besass keinen Zent Barvermögen. Als ich ihn eines Tages
in seiner Wohnung, die aus einem einzigen, dürftig eingerichteten
Zimmer bestand, aufsuchte und er mir in einem einfachen chinesischen
Gewand entgegenkam, schaute ich vergeblich nach einer Kleidertruhe,
die die Kleiderherrlichkeiten bergen konnte. Ich fragte meinen
Freund vertraulich, wie er seinen Kleiderluxus ermögliche. Darüber
gab er mir nach einigem Zögern vertraulich Auskunft. Freund Kang
sagte flüsternd: „Der ganze Kleiderluxus kostet mich monatlich drei
mexikanische Dollar. Nichts von Dem, was ich am Leibe trage, nenne
ich mein eigen. Alles ist -- gemietet. Ein Freund von mir, der „Boy“
bei einem gutmütigen ausländischen Junggesellen ist, besorgt mir
täglich Kragen, Taschentücher, Schuhe, Strümpfe, Ueberzieher und
jeden gewünschten Anzug. Pünktlich liefere ich die Sachen, die auf
Kosten des „Masters“ in die Wäsche gehen, ab und empfange neue. Einmal
gab es einen schönen Krach. Seitdem hat die Kleiderherrlichkeit ein
Ende. Ich hatte nämlich einen Frack samt Schlips und weisser Weste an
einen Freund weiterverliehen, der einer Hochzeit beizuwohnen hatte.
Wie es so geht, trank er zu viel Schao-hsinger Wein, er verlor das
Gleichgewicht in der Rickscha und stürzte in den Strassenschmutz. Kaum
hatte ich den Frack zur raschen Reinigung beim Wäscher abgeliefert,
da kam auch schon atemlos mein Freund und Kleiderverleiher und sagte,
sein „Master“ suche wie ein Wilder nach dem Kleidungsstück, da er zu
einem Ball gehen müsse. Als ich dem Boy die Sachlage auseinandersetzte,
ging er schimpfend davon. Ich versuchte, mich am nächsten Tag mit
ihm auszusöhnen, und versprach, ihm vom kommenden Monat ab vier
Dollar zu zahlen; ich bot ihm fünf und sechs Dollar. Der Freund blieb
hart, seitdem ihn sein ausländischer Herr für den verlorenen Frack
windelweich zerhauen hatte.“ Kang Lou hui schloss sein Geständnis
traurigen Antlitzes. Verzweifelnd gestand er mir zum Schluss, dass er
in den nächsten vierzehn Tagen zwei Hochzeiten, einer Beerdigung und
zehn Nachmittagstees, bei denen er in moderner ausländischer Kleidung
erscheinen will, auf dem Kalender angemerkt habe. Zur Zeit ist er auf
der Suche nach einem dummen Ausländer und einem bestechlichen „Boy“,
die seiner Kleidernot abhelfen.

[Illustration]


Beim chinesischen Buchhändler.

Durch die chinesische Stadt führt der Weg; die Sonne brennt senkrecht
auf die blauen Tuchblenden, die von Haus zu Haus auf schwanken
Bambusstäben über die winklige Strasse gespannt sind. Müde Lastträger
keuchen vor mir her und scheuchen buntschillernde scheinbar
phosphorisierende Fliegen auf, die über eine süsse Melonenscheibe
hergefallen sind. Noch zwei Häuser, und ich bin angelangt. Auf dem
Ladenschild steht: „Berghütte für zusammengekehrtes Laub“. Das ist der
Buchladen des Herrn Tschen Wai ku. Die hohen Regale mit unzähligen
Bänden, deren Titel durch herausragende Papierfetzchen kenntlich
gemacht sind, klettern an den zwei Wänden des engen Ladens empor.
Im Hintergrund blickt man in ein Zimmer, darin zwei Lehrlinge, zwei
Verkäufer und der Buchhalter gerade ihr Mittagsmahl einnehmen; sie
haben lange, weichgekochte Nudeln zwischen den Esstäbchen und gurgeln
sie geschickt in den Magen. Der Lehrling bemerkte mich zuerst, und
er rief in den Raum: „Der Ausländer ist gekommen.“ Wem der Ruf galt,
wusste ich. Bald trat die Gestalt des Herrn Tschen, die unwillkürlich
an den greisen Tschang Tschi tung erinnert, aus dem Hinterzimmer in den
Laden. Das Gesicht ist klein und runzelig; ein weisses Ziegenbärtchen
hängt am Kinn herab. Tschen wies mir mit artigen Komplimenten den
Kundenstuhl an, und er selbst nahm seinen gewohnten Sitz hinter dem
Ladentisch ein. In seiner Hand hielt er einen Nephritgriff, aus dem
ein halbes Dutzend Adlerfedern strahlenförmig auseinandergingen und
doch ein einheitliches Ganze bildeten: einen Fächer. Herr Tschen
fächelte sich Kühlung zu. Dabei fiel mein Blick auf die Rückenwand
des Fächers, auf der die braunweissen Farbentönungen eine flüchtig
skizzierte Gebirgslandschaft darstellten. „Ein Geschenk meines Sohnes,
der in Tschekiang Beamter ist,“ sagte Herr Tschen kurz, wie das seine
Art ist. Eine bessere Anknüpfung für mein Gespräch hätte ich kaum
finden können; sie ersparte mir die Phrasen, ob mein Gegenüber schon
gespeist habe und in seinem Glückspalast Alles wohl sei. „So, ihr Sohn
ist Beamter. Er wird wohl jetzt schwierige Zeiten durchmachen müssen.“
Tschen wehrte ab. „Tschekiang ist ruhig und wird es bleiben.“ Haben sie
Nachrichten von dort? Herr Tschen knisterte mit seinen dürren Fingern
an der Seitentasche und zog einen zerknitterten Brief heraus. „Den hat
er mir vor Kurzem geschrieben. In Tschekiang lachen die Beamten über
die unreifen Hitzköpfe, die Yüan Schih kai „bestrafen“ wollen. Der
lässt sich nicht bestrafen. Die Republik ist doch kein Schulhaus. Ich
sah, dass Tschen Wai ku heute in der besten Laune war, über Politik
zu sprechen, und hielt ihn bei der Stange. „Ich bin Ausländer, Herr
Tschen, und muss bei den inneren Wirren Ihres Landes unparteiisch
bleiben. Ich möchte nur Ihre Meinung über die Lage hören, um die
Volksstimmung zu ergründen. Ich sehne mich nach Ihrer Belehrung.“ Herr
Tschen machte eine geschmeichelte Verbeugung und fächelte. Er schob
die feingesponnenen Aermel zurück, damit die dürre Haut auch ein wenig
gekühlt werde.

„Ja,“ sprach er dann etwas zögernd, „was ich Ihnen heute sagen werde,
klingt verschieden von dem, was ich Ihnen vor zwei Jahren gesagt
habe, als es in Wu tschang losging.“ Ich erinnerte mich rasch, dass
damals der alte Tschen den republikanischen Segen über Alles pries.
„Sehen Sie, damals fuhr unsere Volksklasse auf zwei Schiffen. Jeder
stand mit einem Fuss auf dem einen, mit dem andern Fuss auf dem andern
Boot. Niemand hatte Vertrauen zu den Mandschus. Und als der Augenblick
gekommen war, sprang Alles auf das Boot der „Autoritätsverwerfer“.“

„Na, so billig war die Fahrt nicht,“ warf ich etwas spöttisch ein.
Herr Tschen überhörte gern die Bemerkung, da sie in ihm unliebsame
Erinnerungen weckte. Wie gehörig wurde er damals um des Grundsatzes
der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit willen geschröpft, und
er musste schliesslich als Ausdruck seiner innern Gesinnung die neue
Regenbogenflagge hissen.

„Heute fahren wir nur auf einem Schiff,“ sagte Herr Tschen sehr stolz.
„Wir haben Vertrauen zu Yüan Schih kai.“

„Also haben die Hetzartikel der Kuo min tang, in denen Yüan Schih kai
als Mörder, Vaterlandsverräter, Volksbetrüger usw. bezeichnet wurde,
keinen Eindruck auf das Volk gemacht?“

„Nein; sie haben nur den Hass des Volkes gegen die Kuo min tang erregt.
Nicht deshalb, weil gerade Yüan Schih kai der angegriffene Teil war,
sondern das Volk sagte: „Wer solche ungebührlichen Ausdrücke im Mund
führt, ist unehrlich.“ Das Volk rückte dadurch nur von der Partei
ab, anstatt (was die Kuo min tang beabsichtigte) sich ihr zu nähern.
Und schliesslich: was geht es uns arbeitende Bürger an, wenn sich
Yüan Schih kai nicht genau an Das hält, was ihm einige Alleswisser
vorgeschrieben haben? Ein Herrscher, der sich vom Volk in seine
Geschäfte reden lässt, hat noch nie lange regiert. Jetzt wird es besser
gehen; Yüan wird machen, was er will.“

„Sie haben also Vertrauen zu Yüan Schih kai, Herr Tschen?“

„Ja, das habe ich,“ erwiderte er lebhaft, „nicht nur ich, sondern Jeder
unseres Volkes, der sich nach Ruhe und Ordnung sehnt. Wir vertrauen ihm
besondern deshalb, weil Yüan Schih kai Chinese ist. Er kennt sein Volk,
wie kein Anderer im Reich; er geht auf die Wünsche des Volkes ein, und
(dabei flüsterte Herr Tschen) er kennt die Sehnsucht des Volkes.“

In der Nähe klang der Marschschritt einer Patrouille. Herr Tschen
blickte etwas ängstlich auf die markigen nordchinesischen Gestalten,
und dann neigte er sich über den Ladentisch und flüsterte: „Wenn man
auf dem Weg redet, soll man daran denken, dass es im Gras Leute geben
kann.“ Ich verstand. Tschen zog mich in das Nebenzimmer, wo seine
Angestellten gerade das Mittagsmahl beendet hatten, um ihre Plätze im
Laden wieder einzunehmen. Bei einer Tasse Tee sass ich Herrn Tschen nun
gegenüber.

„Er kennt die Sehnsucht des Volkes?“ knüpfte ich das unterbrochene
Gespräch wieder an.

„Ja,“ nickte Tschen „er weiss, dass die Masse des Volkes einen starken
Herrscher will, einen Herrscher, der die edlen Güter der Nation zu
wahren weiss. Wenn noch Huang Hsing ans Ruder käme, so wäre unser Volk
in kurzer Zeit vernichtet.“ Hier machte Tschen eine Pause und tat
einige Züge aus der Wasserpfeife.

„Huang Hsing,“ wiederholte er, indem er das Wort grimmig durch die
Zähne zischte. „Noch nie hat unser Volk einen Mann so gehasst wie
diesen Verräter. Er ist eine doppelzüngige Schlange. Ich erinnere mich,
dass er vor etwa einem Jahr eine bescheiden unterwürfige Eingabe beim
Präsidenten Yüan Schih kai gemacht hat. Er klagte darin dem „Ta tsung
tung“ in heuchlerischen Worten über die traurige innere Lage; die
leichtfertige Jugend erränge die Oberhand und treibe mit den edelsten
Gütern des Volkes eitles Spiel. Um das Reich vor innerm Zusammenbruch
zu bewahren, empfahl Huang Hsing die nachdrückliche Pflege der alten
Tugenden unserer Weisen: Kindesliebe, Bruderpflicht, Treue, Anstand,
Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Bescheidenheit. Er erwartete von
Anderen, dass sie diese Tugenden pflegen sollten; er selbst lebte auf
seine eigne Weise, und er wurde ein warnendes Beispiel für unsere
Jugend, dieselbe Jugend, der er Aufsässigkeit und Mangel an Tugend
vorwarf. So wie Huang Hsing waren seine Anhänger, die mit ihm die
Herrschaft erstrebten. Jetzt ist er im Sonnenland. Das Volk atmet
auf. Es kommt sich vor, als ob der Himmel ein Opfer mit Wohlgefallen
angenommen habe.“ Tschen schwieg. Ich benutzte die Pause, um mich zu
verabschieden, da ich meinen Zweck erreicht und einen Blick in die
Volksstimmung getan hatte. „Und wie denken Sie über die Revolution im
Allgemeinen?“ fragte ich beim Gehen. Tschen wai ku sann einige Sekunden
nach und sagte dann: „Konfuzius sagt: Das Meer trägt ein Boot; das Meer
kann im Sturm das Boot umstürzen. Ein Herrscher, der von dem ruhigen
Willen des Volkes getragen wird, bleibt oben; ein Herrscher, der das
Volk zum Sturm reizt, geht verloren.“

„Und wie deuten Sie diesen Ausspruch auf die heutige Lage?“

Tschen lächelte. „Auf dem weiten Meer fährt Yüan Schih kai allein im
Boot. Fern, fern am Ufer stehen Huang Hsing und seine Schwurbrüder
und versuchen, mit ihren zarten Händen das grosse Meer in Wallung zu
bringen. Kein Wellenschlag berührt das Boot. Yüan Schih kai lacht über
die unnütze Kraftanstrengung seiner Feinde am Gestade.“

[Illustration]


Der musikalische Obsthändler.

Seit der Obsthändler Wong Ka long seinen Hökerstand in der
Französischen Niederlassung aufgeschlagen hat, macht er glänzende
Geschäfte. Ausser seiner reichhaltigen Auswahl von südländischen
Früchten, hat er einen rotbetrichterten Grammophon und ein Mundwerk,
das dem Rhythmus der Sprechmaschine nicht nachsteht. Der natürliche
und der mechanische Apparat werden Wong sicher noch zum reichen Mann
machen. Gestern staute sich eine Menge vor seinem Laden, als sein
Grammophon ein berühmtes Lied von Lin Pu tsing spielte. Er liess aber
den Sänger nicht zu Ende singen, sondern hielt den Apparat an und
pries die vorzügliche Güte seiner Aepfel, das schmackhafte Fleisch
der Bananen und die köstliche Frische der Lai tschis. „Ihr dünkt euch
wie die Schlemmerkönige Yau und Schun, wenn ihr von meinen Früchten
esst!“ rief der Händler in die Menge. Das Lockwort brachte ihm einige
Käufer. „Ich werde ein Lied spielen lassen, das Ihr noch nie gehört
habt, wenn ich innerhalb der nächsten fünf Minuten für zwanzig Zents
Früchte verkaufe“, rief Wong weiter und harrte der Kunden. In zwei
Minuten hatte er für zehn Zent Früchte verkauft. „Das Lied das gespielt
wird, ist eine wunderbare Melodie. Es klingt schöner als der Sang des
Goldvogels in den Azurbergen und feierlicher als Tempelmusik. Wenn ihr
es hört, werdet ihr alles Leid vergessen; wohin ihr geht, wird euch
der köstliche Gesang folgen.“ Wong verkaufte sechs Bananen. „Ihr müsst
wissen, das Lied kommt vom Ausland“, fuhr er fort. „Könige, Fürsten,
Präsidenten und die „hundert Familien“ (Volk) sind von ihm in Bann
geschlagen, weil keine andre Melodie erfunden wurde, die ihr gleich
stünde.“ Wong verkaufte drei Aepfel. „Das Lied wird von den fremden
Barbaren gesungen, die daraus die Kraft für all ihre erstaunlichen
Künste schöpfen.“ Wong verkaufte ein halbes Dutzend Lai tschis. Und
dann rief er mit erhobener Stimme. „Das Lied birgt das Geheimnis
der Kraft der Europäer.“ Wong kannte die Seele seines Volkes und er
verkaufte soviel, dass er mehr Geld einnahm, als er erwartet hatte.
Ehrfürchtig schaute die Menge auf das Grammophon. Wong nahm die Platte
mit Lin Pu tsings Lied weg, holte eine andere aus einer Schachtel
hervor, blies vorsichtig den Strassenstaub ab und setzte sie ein.
Knirschend grub der Stahlstift seine Rillen. Und dann ertönte, kaum
vernehmbar die ächzende Weise: „Puppchen, du bist mein Augenstern!“
Wong Ka long rieb sich vergnügt die Hände.


In der Foochow Road.

Abend in der Foochow Road, der Strasse der chinesischen Lebewelt.
Ueberall elektrischer Lichterglanz und eine sommerlich gekleidete
Menge. Zwei ausländische Gestalten sind im Gewühl; offenbar ein
Ehepaar. Der Kleidung nach Deutsche und auf der Durchreise. Die
schauhungrigen Augen der jungen Frau werden gar nicht satt. „O sieh
mal, Männe hier!“, staunt fast jedes Wort, das dem zarten Mund
entquillt. Das Paar bahnt sich den Weg durch das Gewühl. Plötzlich
bleibt die Frau stehen und klammert sich fester an den Arm des Gatten.
„Männe, hör mal!“ spricht die Frau und bleibt lauschend stehen;
nein, sie spricht nicht, sie flüstert mit ehrfürchtigem Erschauern.
Die Beiden lauschen gespannt. Oben, in einem Teehaus wird in wirrem
Durcheinander auf Trommeln, Zimbeln und Metallbecken geschlagen; echt
chinesische Musik; „O, Männe, Männe“ jubelt die Frau „wie zivilisiert
die Chinesen geworden sind. Die spielen schon -- Strauss!“ Mit
verklärtem Blick zieht die Frau den Gatten weiter durch das Gewühl.
Am nächsten Tag prangt ein besonderes Kapitel im Tagebuch: „Salomes
Siegeszug in China.“

[Illustration]



Grosstadtschicksale.


A-säs Heirat.

Die neue Zeit hat den Chinesen eine merkwürdige Form der Heirat
beschert. Sie kommt so recht dem Bedürfnis der leichtlebigen Welt
entgegen und huldigt dem Grundsatz: „Leicht verbunden, leicht
getrennt“. Oder im Bilde gesprochen: die neue Heirat verknüpft
das junge Paar mit dünnen, zerreissbaren Seidenfäden, während die
überlieferten Formen der alten Heirat die Neuvermählten mit festen
Ketten zusammenschmieden. Und noch ein Unterschied besteht zwischen
der Heirat in der alten und neuen Zeit. Der Jahrhunderte lange Brauch
erfordert es, dass sich Braut und Bräutigam vor der Hochzeit nicht
von Angesicht zu Angesicht sehen dürfen, und dass der Ehebund durch
einen Vermittler, der mit den in Frage kommenden beiden Familien alle
Verhandlungen führt, geschlossen wird, dass aber persönliche Zu- und
Abneigung der Brautleute dabei in keiner Weise berücksichtigt werden.
Wie anders ist dagegen die neue Heirat! Sie wird nur von Herz zu Herz
geschlossen. Die Liebenden sehen sich und sprechen sich täglich, und
wenn sich die Zeit erfüllt, schreiten sie beherzt zur neuen Ehe, die
chinesisch „wen ming tsieh hun“ (zivilisatorische Verbindung) genannt
wird. Von dieser Heirat in ihrer neuen Form und den Erfahrungen, die
der junge A-sä dabei gemacht hat, soll eine kleine Geschichte handeln.

A-sä war der dritte Sohn des Reisbauern Li, dessen Anwesen hinter
dem Sutschouer Kriek, dort, wo die kleine Fähre nach dem schattigen
Jessfield führt, lag. A-sä zählte achtzehn Jahre und hatte zwei
Brüder, die, nach altem Brauch verheiratet, in glücklicher Ehe lebten.
Sie blieben trotz der neuen Zeit, die laut hörbar in den grossen
Spinnereien längs des wasserreichen Krieks pochte, und trotz des
Lockrufs, der täglich laut vernehmlich aus dem Hasten der Weltstadt
drang, ihrem Vater treu, plantschten knietief hinter dem Büffelpflug
durch die zähschlammige Lehmerde, hegten die zarten Reispflänzchen
wie ihren Augapfel und freuten sich des satten Grüns und der blendend
weissen ausgereiften Körner. Der kleine A-sä aber schlug früh aus der
Art. Seine Seele war weich wie Wachs, und jeder Gang, den er durch die
brausende Weltstadt Schanghai machte, liess darin einen unverwischbaren
Eindruck zurück. Und A-sä ruhte nicht eher, bis ihn sein Vater den
bäuerlichen Arbeitspflichten entband und ihn in eine westländische
Schule schickte, wo er Chinesisch, Englisch und Bibellesen lernte. A-sä
wuchs frei und selbstbewusst auf. Als er sechzehn Jahr alt war, fand
er eine Stelle in einem grossen ausländischen Geschäft in der Nähe des
Szemalu. Dort war auch eine Buchhandlung. Und eines Tages entdeckte
er ein Buch, das er glühenden Kopfes las. Es war eine Uebersetzung
aus dem Französischen, und der Verfasser war ein gewisser Tso la.
Vor A-sä tat sich eine neue Welt auf, zu der sich seine weiche Seele
unwiderstehlich hingezogen fühlte. Das, was ihn so hinriss, war der
ungezwungene Verkehr zwischen Geschlecht und Geschlecht. Noch mehr
staunte er, als ihm eines Tages in der Zeitung eine Notiz über die neue
Form der Ehe in die Augen fiel, die in einem andern Blatt sogar mit
einem kleinen Gedicht verherrlicht wurde. Der Gedanke an diese neue
Art Heirat verbunden mit dem gewaltigen Eindruck, den das Buch in ihm
hinterlassen hatte, trieb A-sä Nächte lang den Schlaf aus den Augen.
Er war entschlossen, die neue Ehe zu wagen, eingedenk des Sprichwortes
„i ko jen bu suan i ko jen“ (Ein Mensch ist noch kein Mensch), was
ihm auch ein gelerntes Bibelwort bestätigte, das da heisst: „Es ist
nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Gerade in den Tagen, wo er
den Entschluss zu heiraten gefasst hatte, wollte es der Zufall, dass
der alte Li seinen Jüngsten auf sein heiratsfähiges Alter aufmerksam
machte. A-sä murmelte etwas vor sich hin und schwieg. Mächtig flackerte
aber sein Zorn auf, als ihm ein an den Vater gerichteter Brief in
die Hände fiel, worin ein Heiratsvermittler mitteilte, dass A-pao,
des wohlhabenden Reisbauern Tsung Tochter, ein passendes Ehegespons
für seinen Jüngsten sei. Mit einem Gesicht, das vor Zorn fahl wie
gebleichtes Strohgeflecht war, trat A-sä am Abend, den Brief in seinen
Händen, vor seinen Vater und schrie mit bebenden Lippen, dass er keinen
Heiratsvermittler brauche, dass er auf „wen ming Art“ selbst seine
Frau suche, und dass er von heute an überhaupt aus dem Familienverband
der Li ausscheide! An der niedrigen Tür blieb A-sä stehen, schaute zum
letzten Mal den verdutzten Alten an und lief trotzigen Herzens in die
Nacht.

[Illustration: A-sä auf dem Wasserbüffel. (S. 64)]

Jeden Abend, wenn das Geschäft schloss, betrat A-sä sein in der
Nähe gemietetes Zimmer, schlüpfte in ein kremefarbiges Gewand,
glättete vor dem Spiegel selbstgefällig das Haar zu einem straffen
Scheitel und liess sich von dem Menschenstrom durch die Strassen
treiben. A-sä ging auf Freiersfüssen. Jedes weibliche Wesen, das an
ihm vorbeihuschte, musterte er mit seinen frechen, achtzehnjährigen
Augen wie ein Dreissigjähriger. Und gar oft wurde sein Blick
verständnisvoll erwidert. Aber das war nicht, was A-sä suchte; er
suchte eine Lebensgefährtin. Und als er sie in dem Strassengewühl
schliesslich nicht fand, wanderte er am Abend in den stilleren Gassen
der Weltstadt umher. Das Glück war ihm hold. Am vierten Abend machte
er die Bekanntschaft eines Mädchens, das Tags über in der Spinnerei
Baumwolle zupfte und mit ihrem geringen Verdienst sich und ihre alte
Mutter ernährte. Die Spinnerin war ein schüchternes, sechzehnjähriges
Ding, das nur die Aussenränder der Stadt betrat, um nicht in dem
grossen Strudel verschlungen zu werden; ihre Freude war „hoch wie der
Himmel und allumspannend wie die Erde“, dass sie die Bekanntschaft
des sich so vornehm gebärdenden A-sä gemacht hatte. Und wie verstand
er zu erzählen, wenn sie mit ihm am Abend, der gar mondbeglänzt und
voll weicher Luft war, auf einsamem Feldrain sass! Immer wieder musste
sie ihm die kleinen, von rauher Arbeit erhärteten Händchen hinhalten,
damit er sie kosend streichele, hübsch still sitzen, wenn seine
zartgliedrigen Tags über geschäftig über das Rechenbrett gleitenden
Hände, über ihre weichen Wangen fuhren. Und einmal fasste er sogar
ihren Kopf derb zwischen den Händen, sah sie mit verlangenden Augen an
und berührte seine Lippen mit den ihren. Und voll von Glücklichsein und
Reue sprang er auf und beteuerte entschuldigend: „So steht es im Buch,
ganz genau so!“ Eng umschlungen, wie zwei, die zusammengehören, gingen
sie dann schweigsam den Feldweg entlang und betraten die beleuchtete
Strasse. A-sä hatte das Einverständnis des Mädchens, seine Frau zu
werden.

Nun stand der Hochzeit nichts mehr im Wege. Ohne den „Wind- und
Wasserdoktor“ zu befragen, setzten Beide, voll zehrender Ungeduld,
den Freudentag fest. Und sie fuhren, sonntäglich gekleidet, zum
Standesbeamten in der chinesischen Stadt. Krampfhaft presste
A-sä ein kleines Kästchen in der Hand, darin wohlverborgen zwei
messingvergoldete Eheringe lagen. Und das junge Paar trat vor den
westländisch gekleideten, nervös blickenden Beamten, der sie zur Ehe
zusammenführte. A-sä und das Mädchen wechselten die Ringe und fuhren in
die Niederlassung zurück. Jetzt waren sie ein Ehepaar. Galant führte
der Gatte seine Frau in den Garten Tschang Su ho, wo er sie mit Wein
und Gebäck bewirtete und am Abend wohnten sie einer Vorstellung im
Theater Hsin wu tai bei, wo gerade der fünfte Teil der „Kameliendame“
aufgeführt wurde. Während die junge Frau staunenden Auges über das
Geländer stierte, fächelte sich A-sä selbstzufrieden und tat blasiert,
als ob er den ganzen Rummel kenne.

Wenn die Mäuse satt sind, schmeckt das Mehl bitter. So erging es auch
A-sä in seinem Ehestand. Die kleinen Nadelstiche der Ehe brachten
ihn zur Verzweiflung. Wo er beständiges Glück erhofft hatte (wie
es in dem Buche stand), fand er den nüchternsten Alltag. Und er
kam zu der Feststellung, dass seine glücklichsten Stunden vor der
Zivilisationsheirat gelegen hatten; damals, als er sich so zärtlich
an seine Liebe schmiegen, ihr Beseligendes beteuern und zuflüstern
konnte, während er ihr die Händchen und die Wangen streichelte. Ja, in
diese Zeit sehnte er sich zurück. Und als diese Sehnsucht immer stärker
wurde, schenkte er seiner Frau seinen Ehering, den sie mit dem ihren
auf dem Pfandhaus versetzen sollte, und bedeutete ihr, dass nun die
Zeit für sie wieder gekommen sei, in der Spinnerei zu arbeiten. Ein
wenig schluchzend verliess die Frau das Haus: sie tröstete sich aber,
als ihr A-sä beim Abschied sagte, dass Alles so kommen müsse, weil es
so in dem französischen Buche stünde.

A-sä atmete auf. Nun war er wieder frei. Und es gelang ihm bald wieder,
nach vorangegangenen beglückenden Wochen und Stunden, ein Mädchen
für eine Heirat nach neuer Art zu begeistern. Und wieder folgten die
kurze Zeremonie vor dem Standesbeamten, Wein und Gebäck in Tschang Su
ho und Festvorstellung im Hsin wu tai. Und wieder kamen die kleinen
Nadelstiche der Ehe. Schliesslich stand auch die zweite Frau auf der
Strasse. A-sä schwor sich nun, mit dem Heiraten zu warten, bis er
etwas älter wäre. Dann stürzte er sich in die Arbeit, in der er völlig
aufging. Schon hatte er seine leichtsinnigen Heiraten vergessen,
als er eines Tages eine sanfte Mahnung erhielt, vor dem Gericht zu
erscheinen. Er ging und fand dort seine zwei gewesenen Frauen, die
ihn gemeinsam auf Entschädigung verklagt hatten. A-sä musste sich
dem harten Urteilsspruch fügen. Mit einem Gehalt von fünfzehn Dollar
ernährt er jetzt ausser sich zwei geschiedene Frauen und sorgt für
das Wohlergehen von zwei Kindern. Das war das Nachspiel zu A-säs
„Zivilisationsheiraten“.

Wenn A-sä jetzt spät in die Nacht hinein arbeitet, denkt er oft an
die Hütte inmitten der sprossenden Reisfelder jenseits des Sutschouer
Krieks, und er wartet Tag für Tag, dass der Vater seinen reuigen Sohn
zurückruft und ihn mit der Tochter des wohlhabenden Reisbauern Tsung
nach altem Brauch vermählt. Ja, er will sogar ein tüchtiger Reisbauer
werden und knietief mit den Wasserbüffeln durch den Schlamm waten.
Trotz Allem, was er auf der westländischen Schule und in dem grossen
ausländischen Geschäft gelernt hat!

[Illustration]


Eine verunglückte Zeitungsgründung.

„Nichts ist beständiger, als der Wechsel.“ Wenn dieses Wort irgendwo
Anwendung finden kann, so passt es auf das chinesische Zeitungswesen
in Schanghai. Die feste Wurzel des chinesischen Pressewesens liegt in
der Schantung Road, wo fünf Zeitungen, die die alte Pekinger Regierung
zwar häufig bissig verhöhnt haben, aber sie nie zu stürzen drohten,
seit vielen Jahren ihre redaktionellen Zelte aufgeschlagen haben.
Aber diese Zeitungen allein machen nicht die öffentliche Meinung aus.
Ausser ihnen gibt es noch fünfzehn andere, und der Grund, auf dem
diese stehen, gleicht einem unsichern, wandernden Moorboden. Jeder
einsichtige, geschäftsmässig rechnende Chinese sagt sich, dass für
zwanzig politische Tagesblätter in Schanghai kein Raum sein kann, und
umso weniger, als sie ja paarweise oder zur Vieren in genau das gleiche
Horn stossen. Echt chinesische Eigenbrödelei, ein falsches Komma hinter
irgendeinem parteipolitischen Satz, eine stärkere Betonung eines
bestimmten Parteiprogramms und die Vernachlässigung minder wichtiger
Dinge, persönliche Feindschaften der hinter der Presse stehenden
Männer und viele andern Gründe mehr haben bisher verhindert, dass eine
Verschmelzung herbeigeführt werden konnte. Der Wettbewerb im Kampf um
den Leser wird mit äusserster Spannung geführt. Jede Zeitung sucht auf
irgendeinem Gebiet ihre besondere Stärke. Die eine legt sie in einen
flottgeschriebenen Leitartikel, die andere in masslose Beschimpfung und
Ausplauderung süsser Geheimnisse politischer Gegner; andere suchen die
Gunst ihrer Leser zu gewinnen, indem sie für die Einführung der freien
Liebe eintreten, andere bringen geschätzte Anekdoten unter Vermischtes
oder Tagesereignisse in Karikaturen, und wieder andere wollen durch
eine vornehm würdevolle, an väterliche Ermahnungen erinnernde Haltung
bei Beurteilung politischer Fragen Eindruck machen. Wie gesagt, sind
nur fünf dieser Zeitungen wirklich lebensfähig; die anderen werden
durch starke Zuschüsse einzelner Privatkreise unterhalten, die aber
aufhören zu fliessen, sobald die Geldgeber glauben, dass ihr Name
genügend vervolkstümlicht sei.

Um dem bekannten dringenden Bedürfnis abzuhelfen, wurde vor einigen
Monaten die einundzwanzigste Zeitung gegründet. Natürlich auf
Grund einer neuen „Stärke“. Diese lag in der „Benamsung“ des neuen
Presserzeugnisses. Ehe das Blatt war, war der Titel.

Der Gründer war ein Lebemann, Namens Tsang, den das von seinem
Grossvater Anderen abgenommene Geld juckte, und der keinen andern
Ausweg wusste, als die ihm noch übriggebliebenen vierzigtausend Dollar,
die nebenbei auch zum Erkaufen der unwandelbaren Treue berückender
Sängerinnen dienten, in einem Zeitungsunternehmen anzulegen. Um nicht
allein sein ganzes Geld zu wagen, sah er sich nach einem Teilhaber
um. Den fand er durch die Einführung eines Freundes in Gestalt des
Herrn Kung. Dieser verfügte „zufällig“ über kein flüssiges Kapital,
konnte aber seine Kreditfähigkeit durch Aktien eines in der tibetischen
Provinz Kham gelegenen Goldbergwerks beweisen, über die aber an
jenem Tage gerade keine Kursnotierung vorlag. Als Dritter im Bund
gesellte sich zu Tsang und Kung ein Herr Wen, der sich mit „geistigem
Kapital“ an dem Unternehmen beteiligte. Es war der Mann mit der
„Idee“, derselbe, der den zugkräftigen Namen „Tung pao“ vorschlug; die
Stärke lag aber eigentlich in dem gleichzeitig vorgeschlagenen, bei
chinesischen Zeitungen üblichen englischen Untertitel: „The Torpedo
boat“.

Herr Wen wurde neben seiner Eigenschaft als Teilhaber zum Chefredakteur
bestellt. Den Ausschlag gaben bei dieser Berufung die Verdienste,
die er sich um das Gelingen der Revolution erworben hatte; er
wies nämlich nach, dass er bei der Belagerung von Nanking höchst
eigenhändig einen Schuss aus einem alten Geschütz abgefeuert hatte,
ohne dass das Rohr barst, wodurch er das gefährdete Leben der
umstehenden Bedienungsmannschaft gerettet hatte. Dafür erhielt er die
Rettungsmedaille. Zum Verkehr mit den führenden Regierungskreisen in
Schanghai und Umgebung war das zweifellos ein wichtiger Belang. Wen
wurde auch mit der Oberaufsicht der geschäftlichen Leitung betraut.
Seine Umsicht konnte er schon am folgenden Tag beweisen, als es galt,
bei einer Druckerei die Druckkosten der neuen Zeitung, die vorläufig in
zweitausend Exemplaren erscheinen sollte, festzusetzen. Er entledigte
sich seiner Aufgabe mit einer grossen Kennerschaft chinesischer
gewerblicher Betriebe. Zunächst bestellte er nur tausend Exemplare.
Die Druckkosten für die ungedruckten restlichen tausend teilte er
brüderlich mit dem Geschäftsführer der Druckerei, der sich dafür
verpflichten musste, die tägliche Rechnung auf zweitausend Stück
auszustellen. Wen betrachtete diese fortlaufende Nebeneinnahme als eine
angemessene Ergänzung seines monatlichen Gehalts in Höhe von hundert
Dollar.

Endlich war der Vorabend des Tages gekommen, an dem „Das Torpedoboot“
zum ersten Male erscheinen sollte. Herr Wen schrieb den Leitartikel,
der in Form und Inhalt alles Bisherige in den Schatten stellte. Es wäre
schade, wenn seine Ausführungen der Nachwelt nicht erhalten blieben.
Hier sind sie:

    „Die niedere Redaktion gibt heute zum ersten Mal „Das Torpedoboot“
    heraus. Weil unsere Zeitung klein von Gestalt ist, haben wir ihr
    diesen Namen gegeben. Es gibt in Schanghai auch grosse Zeitungen.
    Sie gleichen schweren, unbeholfenen Panzerschiffen, die aber den
    Angriffen unseres Boots auf die Dauer nicht standhalten können. Mit
    stets wachender Mannschaft umkreisen wir die grossen Schiffe und
    beunruhigen sie bei Tag und Nacht, bis ein wohlgezielter Schuss
    eines nach dem andern in die Tiefe gurgeln lässt. Wir nehmen den
    Kampf mit jedem Gegner auf, der die Rechte unseres heiss geliebten
    Brudervolks bedroht. Und wenn die neue Regierung die Volksrechte
    mit Füssen tritt, so werden wir auch gegen sie kämpfen und siegen.
    Je mehr uns die Allgemeinheit durch das eifrige Lesen unsers
    Blattes unterstützt, desto erfolgreicher vermögen wir ihre Rechte
    zu schützen. Wir sind erst dann kampfunfähig, wenn der letzte
    Schuss aus dem Rohr ist. Damit kein Munitionsmangel eintritt,
    bitten wir ehrerbietig um dauernde Unterstützung.“

Der Hauptgründer, Herr Tsang, war entzückt von der ersten Ausgabe. Er
verweilte Stunden lang in der Redaktion und schaute fast ehrfürchtig
den Chefredakteur an, der eifrig die zweite Nummer vorbereitete.
Draussen vor der Redaktion hielt den ganzen Nachmittag ein Automobil,
das ab und zu zur Reklame ratterte, um die wohlfundierte neue
Zeitungsgründung nach aussen hin würdig zu vertreten.

So verging eine Woche. Der Eifer des Herrn Tsang liess nach. Er suchte
Zerstreuung bei Fräulein „Kostbarer Edelstein“, die ihm oft bis zum
frühen Morgen seine Lieblingslieder singen musste. Der Teilhaber Kung,
der Mann mit den tibetischen Goldaktien, kannte den verschwiegenen
Aufenthalt seines Geschäftsfreundes und besuchte ihn. Er komme im
Auftrag des Chefredakteurs, der Munitionsmangel festgestellt habe
und um tausend Dollar bitte. In zwei Minuten war die Bankanweisung
ausgeschrieben; Kung kam öfter, etwa alle zwei Tage, und erhielt in den
Weinlaunen Tsangs anstandslos das Geld.

Als Kung eines Tags den Chefredakteur Wen sah, klagte ihm dieser
wirklich über Munitionsmangel. Kung als Goldgrubenbesitzer in Tibet
legte rasch tausend Dollar auf den Tisch des Hauses. Das beruhigte Wen.
Inzwischen liefen täglich Briefe bei der Redaktion ein, die auf die
allgemeine Begeisterung hinwiesen, mit der „Das Torpedoboot“ in den
mittelchinesischen Provinzen gelesen wurde. Mit diesen Briefen, die
er selbst bestellt hatte, ging der Chefredakteur zu dem Hauptgründer
und Lebemann Tsang und regte die Erhöhung der Auflage von zwei- auf
dreitausend an. Der Vorschlag wurde genehmigt, aber wie bisher kamen
nur tausend aus dem Druck; die Druckkosten für die übrigen zweitausend
waren der gemeinsame Gewinn des Geschäftsführers der Druckerei und des
Chefredakteurs.

Chefredakteur Wen fühlte, dass er reich wurde. Und das Alles auf Kosten
des kaltblütig vor Nanking abgefeuerten Kanonenschusses. Es fehlten
nur noch zehntausend Dollar, dann war er angehender Grosskapitalist.
Er schrieb fein säuberlich folgenden Brief an eine hochstehende
Persönlichkeit:

    „Euer Hochwohlgeboren! In diesen schwierigen Uebergangszeiten ist
    eine charaktervolle Zeitung für die Volksaufklärung unbedingt
    erforderlich. Ohne Zweifel werden Sie eigene Interessen haben, die
    Sie in diesen Zeiten vertreten sehen wünschen. Der grösste Teil
    der hiesigen Presse ist Ihnen feindlich gesinnt und arbeitet auf
    Ihren Sturz hin. Wenn Sie Ihren einträglichen Posten weiter zu
    halten wünschen (ich selbst weiss, wie berechtigt die Angriffe der
    Ihnen feindlich gesinnten Presse sind) bin ich gern bereit, höhern
    Orts für Sie einzutreten. Ihre Einwilligung hierzu werde ich darin
    bestätigt finden, dass Sie mir bis morgen früh zehntausend Dollar
    überweisen.“

Man muss es der neuen Zeit lassen, dass sie in gewissen Kreisen ein
merkwürdig feines Verständnis für den Wert einer „guten Presse“
entwickelt hat. Am folgenden Tag war der Chefredakteur Wen im
Besitz der gewünschten Summe. So, jetzt noch einen Griff in die
Geschäftskasse, und fort war er.

Da sich in Folge des plötzlichen Ausscheidens des Chefredakteurs
Niemand fand, der einer solch umsichtigen Geschäftsführung gewachsen
gewesen wäre, musste „Das Torpedoboot“ an sich selbst zu Grunde gehen.
In einer andern Tageszeitung erschien Tags darauf eine Notiz, in der
mitgeteilt wurde, dass „Das Torpedoboot“ im Kampf mit dem überlegenen
Feind gerammt worden und auf der Stelle gesunken wäre. Bis heute ist es
noch nicht gehoben worden.

Der Lebemann Tsang ist um eine Erfahrung reicher, und er weint seinen
Schmerz jetzt beim „Kostbaren Edelstein“ aus.

Kung, der Mann mit den tibetischen Goldaktien, hat einige tausend
Dollar bei der Zeitungsgründung verdient. Denn die angeblich damals vom
Chefredakteur alle zwei Tage verlangten Summen hat dieser natürlich nie
zu sehen bekommen.

Der Chefredakteur Wen aber sitzt im sichern Port. Er beabsichtigt, mit
dem rasch verdienten Geld eine Gesellschaft für „Versicherung gegen
Grossstadtgefahren“ zu gründen.

[Illustration]



A-tous Vater.


Vor Monaten brachte eine Zeitung in Schanghai folgende Notiz.

    Ein junger Chinese, der westländische Kleidung trug, geriet mit
    seinem Vater in Streit, in dessen Verlauf der Sohn ausfällig wurde
    und dem Vater mit einem Stock ins Gesicht schlug. Als der Vater
    seinen Sohn dafür züchtigen wollte, zog letzterer einen Revolver
    aus der Tasche. Zum Glück schritt rechtzeitig die Polizei ein,
    die grösseres Unglück verhütete. Den Anlass zum Streit soll die
    Aufforderung des Vaters gegeben haben, der Sohn solle sich seiner
    westländischen Kleidung entledigen und in der herkömmlichen Tracht
    den Ahnen die vorgeschriebenen Opfer darbringen.

Das Ereignis ist ein Kulturdokument, das zwischen den paar Zeilen,
in denen es dargestellt wurde, unbegrenzte Weiten und Tiefen hat. Es
ist das Dokument einer chinesischen Weltstadt, die ein unfiltriertes,
gärendes Gemisch von chinesischer und westländischer Kultur ist, ein
Gemisch, das die edlen und wertvollen Teile der beiden Kulturen zu
untätiger Verbannung ausscheidet, während sich die leichtbeweglichen,
materialistischen Teile zu einem berauschenden Trank vermischen,
der nach Ansicht Vieler das künftige Lebenselixier Chinas werden
soll. Lange habe ich die fünfzeilige Notiz in meiner Westentasche
herumgetragen, sie an stillen Abenden hervorgeholt, durch die Finger
gleiten lassen und über sie nachgedacht. Ich hab mich im Geist in
die Gedankenwelt der beiden Streitenden versenkt, ihre Gründe und
Gegengründe gehört, und zuletzt standen sie in meiner Phantasie
greifbar vor mir. Und als ich an einem Sommerabend, während vom Fluss
weiche, erfrischende Luft wehte, überlegend am Schreibtisch sass, da
sagte ich plötzlich laut vor mich hin: „Komm, alter Vater, erzähle mir
von Deinem Schmerz und Deinem Zorn.“

Und der Alte erzählte:

Vor fünfzehn Jahren lebte ich in dem Fischerdorf Kiang wan, jenem Ort
zwischen Schanghai und Wusung, wo vor einem Jahr der Ausländer in dem
grossen Schmetterling durch die Luft flog. Damals bewohnte ich eine
kleine Hütte, unterrichtete die Dorfjugend und nährte mich mit Frau und
Sohn redlich. Ja, der Himmel hatte mir einen „Edelstein“ geschenkt, der
mein Stolz und meine Freude war. Einen Sohn, den ich mir im Geiste der
konfuzischen Lebensregeln erziehen wollte, der meiner Seele opferte,
wenn dereinst die schattigen Lebensbäume über meinem Grabe rauschten.
Ich war nur ein armer Gelehrter, trug aber in meinem Herzen Hochachtung
vor dem grossen Unsichtbaren, der die Gestirne in ihren Bahnen lenkt,
der aus schlechten Menschen gute und aus guten schlechte zu schaffen
vermag.

Trotzdem ich mich eines ordentlichen Lebenswandels befleissigte,
strafte mich der Himmel an meinem Sohn. Ich glaube nicht, dass es meine
Schuld war, sondern nehme an, dass irgend einer meiner Ahnen Böses
trieb, und dass die Strafe des Himmels erst nach vielen Jahrzehnten
wirksam ward und gerade meinen Sohn traf.

Bis zu seinem zwölften Jahre war A-tou fleissig und treu. Eines
Tages überredete mich ein Verwandter, doch mein einsames Lehrerleben
aufzugeben und mich mit dem kleinen ersparten Kapital (es waren etwa
sechshundert Stränge Lochkäsch) in Schanghai, der Stadt der Fremden,
niederzulassen. Schweren Herzens verkaufte ich meine Hütte und zog nach
Schanghai.

Wie mir ums Herz wurde, als ich mit Frau und Kind durch die Strassen
der grossen Stadt zog, an den riesigen Steinmauern entlang schritt,
die jeden Augenblick einzustürzen drohten, als ich nur ein Stückchen
Himmel und keine Sonne sah, will ich nicht schildern. Mir war zu Mute,
als ob ich durch die unterlassene Darbringung von Opfern meine Ahnen
aufs Schwerste beleidigt hätte und jede Minute von ihrer Strafe ereilt
werden könnte. Die Freude meines jungen A-tou war aber ohne Grenzen.
Ueberall blieb er stehen. Alles fesselte ihn, über alles wollte er
Auskunft haben.

Ich fühlte, wie schon beim ersten Betreten die Weltstadt meinen Jungen
in ihre Fangarme nahm, und machte mir gleich selbst Vorwürfe, dass ich
ihn nicht streng genug im Geiste unserer Väter erzogen hatte; denn das
wäre ein Mittel gewesen, ihn gegen alle Einflüsse, die mit unserer
Weltanschauung nicht im Einklang stehen, widerstandsfähig zu machen.
Wer aber der Strafe des Himmels verfallen ist, treibt unwiderstehlich
dem Zusammenbruch zu; dagegen hält auch die gründlichste Erziehung
nicht Stand. So ging es meinem Sohne A-tou. Die bösen Einflüsse
gewannen in seinem Herzen die Oberhand und sie erfassten auch mich in
manchen Stunden des Tages.

Noch heute verfluche ich die Stunde, wo mich ein reicher Freund
besuchte und mich bat, meinen Sohn bei ihm in die Lehre zu schicken.
Ich gab den damals Fünfzehnjährigen aus der väterlichen Gewalt. Das
Unglück schritt schnell. Ab und zu kam er, modisch gekleidet, zu
mir, redete hochtönende Worte und gebärdete sich wie ein hochmütiger
Ladenbesitzer. Er hatte mitunter Ansichten, die mir als Vater die
blasse Scham in die Wangen trieben; er redete vom Sturz von Kaiser
und Altar, von einem Staat, wo kein kaiserlicher Beamter, sondern nur
das Volk regierte, und dergleichen Dinge mehr. Seine Ansichten waren
so fest unerschütterlich, dass ich keine Worte finden konnte, seinen
verirrten Geist wieder auf den richtigen Weg zu führen. Ich erinnere
mich nur, dass ich ihm in meiner grenzenlosen Wut die Tür gewiesen
habe. Mit einem höhnischen verächtlichen Blick, der mir heute noch aus
allen Ecken entgegengrinst, wenn ich nur an A-tou denke, verliess er
mich.

Eines Tages kam der reiche Freund und klagte bitterlich. Ich ahnte
nichts Gutes, und plötzlich gestand er mir, dass A-tou seit drei
Tagen dem Geschäft fern geblieben sei. Er glaube, A-tou, der wegen
revolutionärer Umtriebe verhaftet werden sollte, sei völlig in die
Dienste der geheimen Umsturzgesellschaft getreten. Beim Hören dieser
Schmerzensbotschaft war mir, als ob der Taischan eingestürzt sei. Meine
Frau sass in der Ecke und weinte; Wochen lang war sie aufgeregt, bis
sich eines Tages der Todesgeist in ihre Kehle setzte; da sie zu schwach
war, musste sie ihn herunterschlucken und sterben. Sie wurde bei
Kiang-wan beigesetzt.

Lange hatte ich von A-tou nichts mehr gehört. Inzwischen brach die
Revolution aus. Und da erfuhr ich, dass mein Sohn zwei Jahre im
Wutschanger Gefängnis gesessen habe, weil er sich gegen die heilige
Person des Kaisers vergehen wollte, indem er den Aufstand predigte und
Bomben anfertigte. Als Wu tschang fiel, wurde er aus dem Gefängnis
befreit und trat in das Volksheer ein, wo er es bald zum Offizier
brachte. Das alles erzählte mir ein Kamerad A-tous, der von ihm
überredet, als Freiwilliger gegen den Kaiser gekämpft hatte.

In jenen Tagen, als mir die Schande meines Sohnes erzählt wurde, wollte
ich mich voller Gram in den Fluss stürzen. Ich vertraute aber auf
den „alten Herrn Himmel“, dem ich täglich einige Stäbchen Weihrauch
opferte, damit er das Herz meines Sohnes läutere und noch in letzter
Stunde auf den rechten Weg führe, den „Weg der Mitte“, den unser Volk
Jahrhunderte in schlichter Einfachheit geschritten ist. Ich wünschte
mir, A-tou gegenüberzusitzen, und wollte mit ihm plaudern wie damals,
als wir den Kiangwaner Fischern beim Netzflicken zuschauten. Ganz
schlicht und einfach wollte ich zu ihm sprechen, ihm meinen Gram aus
der Seele schütten, ihn väterlich zur Umkehr ermahnen. Vielleicht hatte
die rauhe, vom Ausland angesteckte Zeit noch ein Fünkchen Mitleid in
meinem Sohne gelassen, das, geschickt zur Flamme entfacht, A-tou zu
innigem Verzeihen vor mir auf die Knie gezwungen hätte. Ja, diesem
Augenblick sah ich als dem stolzesten meines Lebens entgegen.

Der Himmel erhörte mich, um mich aber nur noch schlimmer zu züchtigen.
Eines Tages fuhr ein knatternder ausländischer Wagen ohne Pferde
vor meiner schlichten Wohnung vor, und ein westländisch gekleideter
Chinese mit einem wippenden Stöckchen in der Hand trat herein. Als
er die blaue Brille von seinen Augen nahm, erkannte ich A-tou, der
mir zur Begrüssung hochnäsig zurief, er sei jetzt Beamter der neuen
Regierung. Das war eine nette Einführung. Den ihm angebotenen Tee wies
er verächtlich von sich, weil die Tasse zu schmutzig sei; dabei lief
er räsonnierend in den Zimmern umher und wippte dabei immerfort mit
dem Stöckchen. Ich alte Einfalt folgte ihm, wie ein ganz gemeiner Kuli
seinem Herrn.

Vor dem Papierbild des Schutzgeists unserer Familie blieb A-tou stehen.
Trotz der Jämmerlichkeit meiner Lage frohlockte ich innerlich, weil
ich glaubte, A-tou wolle dem Schutzgeist seine Rückkunft nach dem
väterlichen Hause anzeigen. Statt dessen vollführte er mit der Gerte
einen Schlag über das Gesicht des Gottes, dass das Papier klatschend
auseinanderriss. Ich schrie vor Schmerz über diese Freveltat laut
auf. Verwundert schaute mich A-tou an und befahl mir, den Plunder
herunterzureissen. Man müsse an nichts anderes als an sich selbst
glauben; das sei die beste Religion.

Das war der väterlichen Geduld zu viel zugemutet. Ich hatte bis zum
letzten Augenblick gehofft, Gelegenheit zu haben, mit A-tou gütlich zu
reden. Jetzt musste ich ihm aber zeigen, dass ich der Vater war und er
von meiner Autorität auf die Knie gezwungen werden muss.

„Du Verräter deines Vaterlandes“, herrschte ich ihn an, „du Zerstörer
von Gott und Reich, du Vernichter der Ordnung des Volkes, du Zerstörer
meines Familienglücks! Ich verlange von dir, dass du alle deine Taten
sühnst. Vor dem Grabe deiner Mutter, deren Tod du verschuldet hast!“

Es ist schamlos für einen Vater, einzugestehen, dass die Worte
unbeachtet im Raum verhallten. Denn A-tou sass auf dem Opfertisch,
liess die Beine schlenkern und wippte verächtlich mit dem Stöckchen;
dabei murmelte er etwas von Blödsinn, altem Weib, neuer Zeit,
Zivilisation und was sonst mehr. Seine trotzige, unversöhnliche Art
steigerte meinen Zorn. Und ehe er sich versah, hatte ich ihn am
Kragen gepackt und mit einem Griff ihn mir Auge um Auge auf dem Boden
gegenüber gestellt.

„So,“ rief ich, indem ich ihm die westländische Jacke herunterriss,
„heraus aus dem fremden Sklavenanzug! Noch heute steckst du dich in
die herkömmliche Festkleidung. Wir beide gehen nach Kiang wan, und du
verbrennst Weihrauchstäbchen am Grabe deiner Mutter!“

Blitzschnell sauste als Antwort die Gerte über meinen Kopf. Das setzte
der Schande die Krone auf. Voller Schmerz hob ich A-tou in die Luft
und liess ihn wie einen Reissack auf den Boden fallen. Flugs hatte er
sich erhoben, einen Revolver aus der Tasche gezogen und ihn auf mich
gerichtet. Da erschien ein „Hsün pu“ und machte dem Streit ein Ende.
A-tou fuhr unbelästigt im Wagen davon.

Ich dankte dem Himmel, dass er für seine Tat nicht bestraft worden
ist, sondern sah darin ein günstiges Vorzeichen, dass mir der Himmel
die Vollziehung der Strafe vorbehielt. Denn A-tou hatte, als er die
Hand gegen mich erhob, das schwerste Verbrechen begangen, dessen ein
Sohn gegen seinen Vater fähig sein kann. Da braucht man zu keinem
Ortsbeamten zu laufen, um den Sohn anzuklagen, denn das ungeschriebene
chinesische Familienrecht erkennt in diesem Falle den Vater als den
alleinigen Richter an. Ebenso wie er einem Sohn das Leben geben kann,
so darf er es ihm auch wieder nehmen. Die Freveltat schrie nach Rache.

Zu dieser Zeit geschah es, dass ich den Entschluss fasste, in mein
Heimatdorf Kiang wan zurückzukehren; ich besuchte daher öfter das Dorf,
um ein Haus ausfindig zu machen, in dem ich wohnen konnte. Kurz nach
Sonnenuntergang machte ich mich eines Tages auf den Rückweg von Kiang
wan nach Schanghai. Unterwegs kam ich an dem grossen Platz vorbei, wo
Chinesen und Ausländer ihre Pferde um die Wette laufen liessen. Das
Fest war zu Ende, und Tausende von Menschen strömten auf dem Feldweg
zur Bahnstation. Ganz hinten klapperte ein Wagen ohne Pferde. Plötzlich
hielt er still. Von einer Ahnung gepackt, rannte ich nach der Stelle
und sah, dass der Wagen, vom Weg abgeraten, in tiefem Lehm festsass.
Ich sah noch mehr. Nein, ich schrie. Scharf und kurz, dass A-tou, dem
der Ruf galt, erschreckt zusammenfuhr und ängstlich um sich blickte.
Ha, auf einsamem Feld wirkte die väterliche Autorität.

Mit grimmigem Behagen trat ich an ihn heran, packte ihn wortlos an der
Gurgel und zog ihn hinter mir her. Wir gingen quer über das Feld einem
kleinen Gräberhain zu. Dort angekommen, drückte ich den Kopf A-tous
gegen den frischbewachsenen Grabhügel und sagte kurz: „Dort unten ruht
deine Mutter!“ Ich verschränkte die Arme und blickte abwartend auf die
kauernde Gestalt.

A-tou wagte nicht aufzuschauen; er lag da wie ein Reissack, sein Rock
war zerrissen und mit Lehm bespritzt. Ahnte er, dass sein Richter vor
ihm stand?

Und zum zweiten Mal schrie ich ihn an, dass ihm mein Speichel ins
Gesicht spritzte: „Dort unten ruht deine Mutter!“ Endlich fand A-tou
Worte. Und er fragte leise: „Hast du Weihrauchstäbchen mitgebracht,
Vater?“

Eine solche Frage hatte ich nicht erwartet. Was klang nicht alles aus
dieser Frage? So schlicht und rein, so fragend und reuevoll klang die
Stimme, dass ich von tiefstem Mitleid erfasst wurde, das meine Augen
zum Weinen trieb. Mir dünkte, als habe A-tou zum ersten Mal seit Jahren
wieder von Herz zu Herz mit mir gesprochen. Ich glaubte seine Stimme
zu hören, als wir damals in Kiang wan in Eintracht zusammenlebten,
und sah plötzlich die Kluft überbrückt, die zwischen meiner und seiner
Weltanschauung lag. Sein verirrter Geist war klar geworden: A-tou
gedachte seiner Mutter: Meinen stillen Schwur, von dem mir zustehenden
Recht Gebrauch zu machen und A-tou lebendigen Leibes in eine Grube zu
werfen und Erde darüber zu schaufeln, musste ich brechen. Die Stunde
war gar feierlich.

Ich befahl A-tou aufzustehen, und mit tausend Schwüren musste er am
Grabe seiner Mutter geloben, ein neuer Mensch zu werden und morgen zur
Versöhnung zu opfern. Das tat er.

Weit in Tibet suchte er später sein Arbeitsfeld. Dort kämpfte er für
unsere Kultur gegen die Wilden. Bei Li tang ist er gefallen. Nun kann
ich zufrieden meinem Lebensabend entgegensehen. Mir bangt nur vor der
Frage: „Wer wird mir opfern wenn ich unter den schattigen Lebensbäumen
ruhe?“

[Illustration]



Huitungs Erlebnisse und Meinungen.


Ich, Hui tung, traf am achtzehnten Tag des zweiten Monats, dem „Fest
des Reinen Glanzes“, in Schanghai ein. Ein deutscher Freund, den ich
schon seit Jahren kenne und mit dem ich auf langen Ueberlandreisen in
der Provinz Schantung Reis und Lager geteilt hatte, forderte mich auf,
zu kommen. In Gedanken weilte ich oft bei ihm, wenn ich, niedergedrückt
von der politischen Lage unsers Landes, nach Süden schaute, und ich
wünschte oft, das durch die Lüfte sausende Geisterpferd zu sein, um
bei meinem Freunde Tröstung zu suchen. Der Himmel hätte es nicht
besser einrichten können, als dass er meinem Freunde eingab, mich
nach Schanghai einzuladen. Schanghai hat bei uns keinen guten Klang,
wie Alles, was im Süden liegt und von dort kommt. Ein Schantunger
Sprichwort sagt: „Schao bu dsou nan“ (Wer jung ist, gehe nicht nach
Süden.) Da ich das Jugendalter bereits beträchtlich überschritten habe
und mein einst pechschwarzes Haar schon Fäden weisser Himmelsseide
aufweist, glaubte ich mich gegen die Gefahren des Südens genügend
gewappnet. Schon der erste Eindruck, den ich von Schanghai erhielt,
war kein guter. Der Wagenzieher, der mich vom Hafen nach der Herberge
Tschi tschang tschan brachte, verlangte mir so viel Fahrgeld ab, dass
ich dafür in Schantung mindestens fünf Dutzend mit Fleisch und Kohl
gefüllte Klösse und mehrere Schälchen Wein hätte kaufen können. In der
Herberge wurde mir für teuern Preis ein kleines Zimmer angewiesen, das
so düster war, dass ich selbst während des Tages ein Licht anzünden
musste. Die Kinder des Wirtes lärmten Tag und Nacht, und aus Eimern,
die nicht weit vom Eingang meiner Tür aufgestellt waren, drang ein
widerlicher Geruch, den man in dem gesitteten Tsingtau, wo ich mehrere
Monate lebte, vergebens suchen würde. Dort herrscht Ordnung, und die
Bevölkerung fügt sich willig dem höhern Gebot. Die Obrigkeit in
Schanghai übt wenig Respekt aus; sonst könnten meine Landsleute die
gesundheitlichen Gebote nicht umgehen und den ankommenden Fremdling
die übelriechende Luft aus den Eimern einatmen lassen. Zu meinem
Erstaunen habe ich dieser Tage von einem Landsmann, der aus der
Huang hsiener Gegend stammt, gehört, dass Schanghai, das sich so oft
brüstet, die fortschrittlichste Stadt in China zu sein noch nicht
einmal Verrichtungen hat, um übelriechende Abflusswässer ablaufen zu
lassen. Die Schanghaier sollten einmal nach Tsingtau gehen und sehen,
was die Deutschen dort für die Bewohner getan haben. In den ersten
Tagen meines Aufenthaltes überkam mich ein Gefühl der Verlassenheit.
Von meinem deutschen Freunde abgesehen, hatte ich Niemand, mit dem ich
mich in meiner Heimatssprache unterhalten konnte. Der Wirt kam zweimal
auf mein Zimmer und knüpfte ein Gespräch an; es wurde auch eine kurze
Weile geführt, indem wir gegenseitig Frage und Antwort auf ein Stück
Papier schrieben; das langweilte ihn auf die Dauer, und er ging höflich
hinaus. Dann sass ich allein auf meinem Zimmer und nahm mir einen Roman
vor, den ich laut las, um wenigstens den Klang meiner Heimatssprache
zu hören. Von der Strasse drang das unverständliche Sprachgeplärr der
Südbarbaren so unartikuliert wie das Schreien des „Küo she“ Vogels
herein. Ich setzte manchmal mit dem Lesen ab und lauschte. Wie ich so
unbeweglich dasass, glich ich einer geschnitzten Holzfigur.

[Illustration: Teil der Nanking-Road in Schanghai.]

[Illustration: Offene Läden in der Nanking-Road.]

[Illustration: Foochow-Road mit Restaurants und Teehäusern.]

Auf abendlichen Spaziergängen durch die Strassen habe ich Vieles
gesehen, was mich mit hoher Freude und mit tiefem Schmerz erfüllt
hat. Aeusserlich wird man von dem Reichtum, der besonders in den
Abendstunden entfaltet wird, geblendet. Die in zahllose Drähte
gebannte elektrische Luft, die aus Glasglocken in ungewöhnlicher Helle
erstrahlt, verleiht dem Strassenbild ein Aussehen, wie es im übrigen
Reich nicht zu finden ist. Der Menschenschwarm „webt“ sich in den
Strassen; denn alle Volksklassen: Gelehrte, Bauern, Kaufleute, Händler,
Arbeiter, mischen sich ohne Standesunterschied durcheinander, und ihre
Reihen verschlingen sich wie die Kreuz- und Querfäden eines Gewebes.
Am zahlreichsten ist merkwürdigerweise die Frauenwelt vertreten.
Es sind viele unehrliche Gestalten darunter, so zahlreich, wie die
Schäferwölkchen am bestirnten Himmel. Ihre Haar- und Kleidertracht,
ihr Elfengang bestrickt Jeden. Wie ungezwungen sie sich bewegen!
Sie bleiben ab und zu stehen, zupfen einen jungen Mann am Aermel
und sprechen vertraulich mit ihm, als seien sie alte Bekannte. Auch
mich fasste eines Abends ein solches Mädchen an; ich riss mich los
und schimpfte derb in meiner Heimatssprache, worauf sie mir ihre
Kürbiskernzähne zeigte und mich einen nordchinesischen Kulturlosen
nannte. Ich dachte aber im Stillen an unser Sprichwort: „Wer jung ist,
gehe nicht nach dem Süden!“ und schritt weiter. Dass sich eine gewisse
Gruppen von Damen so frei gibt, hat mich eigentlich nicht überrascht.
Wohl aber befinden sich in dem Gedränge viele Damen, die besseren
Familien angehören. Ihre Kleidung und ihr Auftreten unterscheiden
sich nur wenig von dem der anderen Damen. Auch sie bleiben stehen,
wenn sie wirkliche Bekannte treffen, schütteln sich auf westländische
Art die Hände, die sie vorher unmerklich mit einem seidenen Tüchlein
abwischen, und plaudern. Ihre Eltern, Brüder oder Geschwister können
die Damen nicht mahnen, das zu unterlassen, weil es gegen unsere
überlieferten Sitten verstosse; denn sie würden sagen: „Das ist aber
Schanghaier Sitte.“ Ein Glück, dass wir im Norden noch davon verschont
sind. Dort ist der Kern des Volkes gesund; in Schanghai ist er zernagt.
Mir fällt da eine kleine Geschichte ein, die ich vor Kurzem gelesen
habe. Der sie geschrieben hat, hat sie lautern Herzens und Sinnes
geschrieben. In der Geschichte wird von einem Tonfigurenhändler
erzählt, der es meisterhaft versteht, kleine Figuren zu kneten, die
bei jedem Beschauer ein Entzücken wachrufen. Denn die Farbe und die
Züge des Gesichts, die bunten Kleider sind von seltener Naturtreue;
meist stellen die Figuren berühmte Männer aus unserer Heldenzeit dar.
Die Geschicklichkeit des Handwerkers ist weithin berühmt. Täglich
steht ein Haufen Neugieriger vor seiner Werkstatt und bewundert den
Meister bei der Arbeit. Ein gewisser Tou kaufte eine der entzückenden
Figuren. Ich glaube, es war ein Abbild des trefflichen Staatsbeamten
und Gelehrten Wang Schi tschi, der unter der Tsin Dynastie unserm
Volk grosse Dienste geleistet hat. Der Käufer barg die Figur behutsam
unter dem Arm und eilte frohen Herzens über den schönen Einkauf nach
Haus. Wenn man solch ein kostbares Stück auf dem Arme trägt, soll
man vorsichtig sein. Tou war es nicht und liess die Figur fallen.
Sie zerschellte krachend auf dem harten Pflaster. In Schantung wäre
sie vielleicht unverletzt geblieben; denn dort hätte sie sich in
den weichen Strassenstaub vergraben können. Der Käufer stand nun vor
seinem zerschellten Prachtstück und sah mit Entsetzen, dass von dem
entzückenden Aeussern, von dem er beim Einkauf so geblendet wurde, nur
Schmutz, Unrat und zerhackte Strohhalme auf der Stelle lagen, wo die
Figur zerbrochen war. Darüber war er aufs Höchste erstaunt; er lief
eilig zurück und stellte den Handwerker wegen seines Betrugs zur Rede.
Der gab ihm aber eine so rechtfertigende und treffende Antwort, die
mich lebhaft an Tung Fang tschen aus der Han Dynastie erinnerte, der
ein nie übertroffener Dichter von sinnigen Parabeln war. Mit Recht
betonte der Handwerker, dass Alles auf der Welt eitel Falschheit und
Lüge sei, dass sich Alles äusserlich den Schein gebe, sich mächtig und
prunkend zu zeigen, aber nur um innere Hohlheit und Mangelhaftigkeit zu
verbergen; das Alles verkörpere die äusserlich blendende und innerlich
hohle Lehmfigur. Wenn ich jetzt über das chinesische Schanghai
nachdenke, so wird mir bewusst, dass die Stadt und ihre Bewohner nichts
Anderes sind, als die entzückende Figur des zerschellten Staatsbeamten
Wang Schi tschi. Im Leben meiner Landsleute gilt heute der Schein mehr
als das Sein. Wohin man geht, kann man diese Beobachtung machen. In
den Strassen, Restaurants, Theatern und Vergnügungsgärten herrscht
ein China, dem ich als Nordmann fremd gegenüberstehe. Was herrscht,
ist die betörte Jugend, die vom Ausland das Beste (weil es äusserlich
blendet) zu nehmen glaubt und gerade das Schlechteste nimmt. Aus
Gesprächen mit meinem deutschen Freunde weiss ich, dass das Ausland
Tieferes und Edleres zu geben hat. Oft durchwandere ich die Läden in
der Bücherstrasse und spreche mit den „Laobans“, die gebildet genug
sind, meine Heimatsprache zu verstehen, über Bücher. Einige Händler
klagen, dass die Werke unserer Klassiker dem Staub und Moder verfallen,
weil sie Niemand mehr kaufe; andere reiben sich geschäftszufrieden die
Hände und deuten auf lange Bücherregale. Man braucht nur den Titel und
die Kapitelüberschriften zu lesen, und man weiss was der Inhalt ist.
Einmal kaufte ich mir ein solches Buch, um es bald mit Entrüstung zur
Seite zu legen. Schon der verlotterte Stil, in dem es geschrieben war,
verletzte mein Sprachgefühl. In der Vorrede wurde gesagt, dass das
Buch die Uebersetzung eines weltberühmten französischen Romans sei;
der Verfasser heisse Ah mi loh Tso la. Der Himmel möge verhüten, dass
der Geist, der dieses Buch durchzieht, auch in unser Volk dringt. Mit
Schmerzen habe ich in Schanghai gesehen, dass dieser Geist schon hier
am Werke ist. Schüler und Schülerinnen lesen schon solche Bücher, und
wenn die Eltern fragen, was darin stehe, so sagen sie: „die neue Zeit.“

Ja, die neue Zeit, die tritt Einem hier überall entgegen. Manchmal
überkommt mich das Gefühl, ihr entfliehen zu müssen; der Wunsch,
irgend ein ruhiges Plätzchen aufzusuchen, wohin sie ihre Wellen noch
nicht schlägt. Das Plätzchen finde ich draussen auf den Feldern, die
ich mitunter mit meinem deutschen Freunde in erbauendem Gespräch
durchwandere. Ein Spaziergang, den ich an einem heissen Sonntag mit
ihm unternahm, ist mir noch in lebhafter Erinnerung. Die Landschaft
hat mit der meiner Heimat nur wenig gemein; nur die spitzkegeligen
Grabhügel und in Ferne verschwommene Dorfschaften könnten den Augen ein
Stückchen Heimat vortäuschen. Das Landvolk war fleissig bei der Arbeit.
Frauen und Mädchen mit rotbraunen, von der Sonne gefärbten Gesichtern
und mit hellblauen Kopftüchern lockerten mit Harken den Lehmboden, und
das Mannsvolk stand tief im Schlamm, um die zarten Reispflänzchen in
Reihen zu setzen. Vom nahen Bambusgebüsch klang ein heimatlicher Laut;
es war der Mahnruf eines Vogels, der die Bauern zur Arbeit ermuntert.
Ganz deutlich ruft er: Kuan hou-erh to chou. (Ihr Müssigen, arbeitet!)
Es war ein heisser Tag. Da ich sehr beleibt bin und zu Fuss den Feldweg
entlang schritt, strömte mir der Schweiss aus allen Poren. Auch hier
bewahrheitete sich das Wort, dass je mehr man geht, desto müder man
wird; je müder man wird, desto mehr man schwitzt; je mehr man schwitzt
desto durstiger man wird. In zwei Dörfern fragte ich vergebens nach
Tee oder heissem Wasser, um meinen Durst zu stillen. Die ich anredete,
waren entweder Kinder oder Greise; denn alle Rüstigen waren auf den
Feldern beschäftigt. Da leuchtete eine rote Wand im Hintergrund; ich
hielt sie für die Seitenwand eines Tempels. Fast eine Stunde dauerte
es, bis ich dort mit meinem deutschen Freunde anlangte. Der Weg führte
über Kanäle und wand sich in scharfen Krümmungen durch die Felder wie
die Hörner eines Widders. Als ich endlich den Tempel, dessen Vorhof
mit hohem Gras überwuchert war, betreten konnte, fing das kleine Kind
des Wärters an zu heulen, und ein Hund bellte. Auf das Geschrei trat
ein Mann aus dem Seitengebäude. Sein Gesicht sah düster aus wie das
eines Opium rauchenden Räubers. Ich bat ihn um einen Schluck Tee.
Er verstand mich erst, als ich mit der Hand die Gebärde des Trinkens
nachahmte, und er sagte dann: „Nu yao tse tso?“ Ich nickte. Bei uns
in Schantung sagt man: „Ni yao ha cha mo“, wenn man jemand fragt, ob
er Tee trinken will. Der Mann kam bald mit einer Tasse Tee zurück,
die ich gierig austrank. Es war der schlechteste Tee, den ich je
getrunken habe, und doch dünkte mich, als hätte ich „Lung tsing tsüeh
shih“ Tee getrunken, das ist der beste, den es in China gibt. Mir fiel
das Wort von Meng tse ein: „Ko chih kan yin“ (Dem Durstigen schmeckt
jeder Trank). Neugestärkt konnte ich mich auf den Rückweg begeben. Als
ich mich auf der Fähre ins Schanghaier Stadtgebiet übersetzen liess,
da warf ich noch einen Blick auf die in der Dämmerung versinkende
Landschaft. Ueberall hoben sich die Gestalten der arbeitenden Menschen
auf den Feldern ab. Die Stimmung, die ich von jenem Spätnachmittag
mit nach Haus nahm, klingt heute noch in meiner Seele nach. Im
Westen senkte sich gerade das tiefrote Sonnenrad und warf über die
Landschaft einen farbigen Schimmer, der sich auch in dem kleinen
Flüsschen widerspiegelte. Mit wenigen Ruderschlägen glitt die Fähre
zum andern Ufer, das von dickstämmigen, weitästigen Bäumen besäumt
war. Ein kräftiger Geruch schlug mir entgegen; er schien „ausgehaucht
von Wasserkastanien und Seerosen“, wie es in einem Gedicht heisst.
Den Fluss abwärts huschten geräuschlos verspätete Boote; auf einem
führte ein Greis das Steuer; ein kleiner Junge, der wohl sein Enkel
war, übte sich auf einer Fiedel, der er krächzende Töne entlockte.
Und doch dünkte mich inmitten der Abendstimmung, als hörte ich die
wunderbaren Weisen des Melodienkönigs Yüan Tschen aus der Tangdynastie.
Ein Glück, dass Jedem, der seines reichen und prunkenden Lebens müde
ist, noch der beschauliche Beruf eines Fischers oder Sampanführers
übrig bleibt; ich würde nie zögern, wenn ich meines jetzigen Lebens
überdrüssig wäre, die Jacke des Literaten mit der des Fischers zu
vertauschen. Ich glaube sogar, dass dies das beste Mittel ist, ein Volk
ewig jung zu halten, wenn die durch Reichtum verweichlichten oder durch
geistige Genussucht verkrüppelten Stände zwei Generationen hindurch
ein Leben schlichter Einfachheit als Fischer, Bauer und dergleichen
führen; daraus würde eine neue, geläuterte Generation hervorgehen
und in allen Ständen des Volks ein immer frischer Kreislauf gesunden
Lebens stattfinden. Wenn ich aber auf Schanghai blicke so sehe ich wie
gewisse Kreise meiner Landsleute in ein immer raffinierter werdendes,
verfeinertes Leben hineingetrieben werden, von dem es kein Zurück in
den erfrischen Odem der Atmosphäre der ruhigen Leute gibt; mein heisser
Wunsch, den ich als echter Chinese, dem sein Volkstum über Allem
steht, stets auf den Lippen trage, ist der, dass alle meine Brüder
im weiten Reich gegen die von Schanghai ausgehende Ansteckung, die
namenlos und doch nennbar gleich dem Tao ist, bewahrt bleiben mögen.
Die Grossstadtluft lähmt nicht allein die Willens- und Schaffenskraft
unseres männlichen Geschlechts, sondern sucht auch die weiblichen
Reihen der Bevölkerung heim. Mit mitleidigem Bedauern sah ich an jenem
Abend, wo ich von meiner Feldwanderung in die Stadt zurückkehrte, lange
Reihen wandernder und auf Schiebkarren fahrender Mädchen. In ihrem
Alter mochten sie zwischen zwölf und zwanzig Jahren gewesen sein. Die
Aelteren sahen blass und freudlos aus; die Jüngeren strotzten von
blühender Jugendfrische und schauten mit ihren glanzvollen Augen munter
umher. Die Mädchen waren nicht unsauber gekleidet. Ich dachte einige
Zeit nach, was wohl ihre Beschäftigung sein möge, bis ich schliesslich
auf den Kleidern verräterische Baumwollflöckchen entdeckte; zugleich
bemerkte ich im Hintergrund ein düsteres, vielfenstriges hohes Gebäude
mit einem riesigen Schornstein. Daraus schloss ich, dass die Mädchen
in einer Spinnerei arbeiteten und ich traf wohl mit dieser Vermutung
das Richtige. Ich habe nichts dagegen, wenn Kinder ihren Eltern
bei Feldarbeiten behülflich sind und sich so gegen ihre Ernährer
dankbar zeigen; denn die Arbeit auf freiem Feld ist der Gesundheit
nur förderlich. Wenn ich aber Gesetzesgewalt hätte, würde ich von
heute an allen jungen Mädchen die Arbeit in Fabriken verbieten. Den
Aelteren könnte es freigestellt werden weiter zu arbeiten, aber
die Jüngeren, die zwölf- bis fünfzehnjährigen, müssten von der
Sklavenarbeit befreit werden. Mir sagte ein alter Arzt, dass in den
rohen Baumwollknäueln winzige Härchen enthalten seien, die, wenn sie
sich in die Atmungsorgane eines Menschen setzen, den Keim zu einer
stillen Krankheit legen. Da gerade die Jüngsten damit beschäftigt
werden, die Kapseln zu zerpflücken, so ist die Krankheitsgefahr gross.
Wenn man weiter bedenkt, dass diese Mädchen einst Mütter werden sollen,
so muss man um den Nachwuchs besorgt sein. Mein deutscher Freund sagte
mir, dass in Deutschland Gesetze beständen, die die Kinderarbeit in
den Fabriken verbieten. Wer ein solches Gesetz in Schanghai einführt,
würde sich den Ruf eines grossen Wohltäters erwerben und die Achtung,
die ihm seine Mitbürger entgegenbrächten, würde nicht gering sein.

Auf dem Nachhauseweg prägte sich noch ein anderes Bild fest in meiner
Seele ein. Auf einem hohen, zweirädrigen Wagen, der von einem Pferd
gezogen wurde, das zweimal so gross wie unsere gewöhnlichen Ponies war,
sass eine westländische Dame. Wie der Nordsturm sauste das Gefährt
durch die Strasse. Das Pferd schnaubte mit den Nüstern und warf die
Vorderbeine, weit ausholend, in stetem Rhythmus auf das Pflaster, das
Haupt in eherner Ruhe nach vorwärts gerichtet. Die straffen Zügel
ruhten in festen Händen. Die Haltung der Dame war noch edler wie die
des Pferdes. Sie sass mit straffem Oberkörper und erhobenem Haupt,
dessen Profil aus edlem Gestein ziseliert erschien, auf dem Sitz und
lenkte mit unerschütterlicher Ruhe und Sicherheit das Gefährt durch
das Gedränge. Ich dachte mir, so müsste die tapfere Mu Lan ausgeschaut
haben, die an Stelle ihres gebrechlichen Vaters in den Krieg gezogen
war, oder die kampfeslustige Liang Hung yü aus der Sungdynastie, die
auf wildem Pony, mit aufgelösten Haaren und zum Schuss gespannten
Bogen gegen die tatarischen Feindesscharen ritt. Solche Gestalten
wird man in der Jetztzeit vergebens suchen. Wie kläglich war doch
das Unterfangen gewisser weiblicher Kreise in Schanghai während der
vergangenen Revolution, ein Korps von Kriegerinnen zu bilden, das gegen
die Kaiserlichen kämpfen sollte. Im überreizten Hochschwung der Gefühle
wollten jene Kriegerinnen das Beispiel der Mu Lan und Liang Hung yü
nachahmen und auf ihren Lotusfüsschen in die Schlacht ziehen. Unsere
Zeitungen brachten spaltenlange Berichte über die dem Tod geweihten
Jungfrauen und den Heldenmut ihrer Führerinnen; wenn man die Artikel
las, so gewann man fast den Eindruck, als seien sie bei tränenbenetztem
Antlitz des Schreibers entstanden. Und einige Tage darauf brachten die
Zeitungen sogar ein grosses Gruppenbild der kampfbereiten Streiter; sie
waren in eine gleichartige, militärische Uniform gekleidet und schauten
trotzig drein. Dabei blieb es aber auch. In den Kampf sind die Damen
nie gezogen. Schanghai war aber um eine Berühmtheit reicher, mit der
es alle übrigen chinesischen Städte geschlagen hatte. Und darauf lief
Jenes heldenhafte Epigonentum wohl nur hinaus. Das Geschehnis zeigt
aber, welch ein verderblicher Geist die Frauenwelt Schanghais beseelt;
sie will nichts mehr und nichts weniger als es auf allen Gebieten
den Männern gleichtun. Soviel ich weiss, machen noch nicht einmal
westländische Frauen Anspruch darauf. Sie folgen willig des Himmels
Bestimmung und bleiben ihren Gatten treue Lebensgefährtinnen und ihren
Kindern sorgende Mütter.

Bei Rückkehr in die Herberge Tschi tschang tschan bereicherte ich meine
Kenntnis des grossstädtischen Lebens in Schanghai um einen neuen Punkt.
Bisher war das meinem Zimmer benachbart liegende Gemach frei gewesen;
als ich die nicht fest gefügte Holztreppe hinaufschritt bemerkte ich,
dass es besetzt war. Ich sah eine männliche und eine weibliche Person,
die Beide recht vornehm gekleidet waren, im scherzenden Gespräch an
einem Tisch sitzen, auf dem eine Kanne Tee und zwei Tassen standen.
An der weiblichen Person bemerkte ich, dass sie die neue „Wen ming
Haartracht“ und kleine aus Leder verfertigte Schuhe trug. Als mein
Kommen bemerkbar wurde, stand die Mannsperson auf und schloss die
Tür. Während ich in meinem Zimmer auf Tee wartete, überlegte ich,
wer die Beiden wohl sein könnten; ich dachte zunächst, dass es eine
junge Beamtenfamilie sei. Der Diener, der mir bald darauf den Tee
brachte und den ich um nähere Auskunft bat, gab mir den gewünschten
Aufschluss, der aber die Annahme hinfällig machte, dass es sich um ein
Ehepaar handelte. Er sagte mir, dass Beide aus Hang tschou kämen und
von reichen Eltern stammten. Der Herr sei ein Student auf einer Hang
tschouer Schule und die Dame besuche eine höhere Schule in Schanghai.
Früher in Hang tschou hatten sie sich sehr lieb. Der Vater des Mädchens
machte aber der Liebschaft ein Ende und schickte seine Tochter auf eine
Schanghaier Schule. Der Student konnte die Trennung nicht ertragen und
reiste eines Tages nach Schanghai, wo er in der Herberge Tschi tschang
tschan Wohnung nahm. Jetzt treffen sich hier die beiden Liebenden um
die in Hang tschou gepflegte Freundschaft zu erneuern. Ich konnte nicht
umhin, über diese Erklärung den Kopf zu schütteln. Während ich meinen
Tee schlürfte, hörte ich aus dem andern Gemach eine im Flüsterton
geführte Unterhaltung, wahrscheinlich wollten die Beiden nicht, dass
etwas davon auch an mein Ohr schlug. Die Hang tschouer „Eisenköpfe“
hätten aber ruhig laut reden können, denn ich hätte ihren Dialekt
so wie so nicht verstanden. Ihre Unterhaltung dauerte etwa eine
Stunde. Dann begleitete der Student seine Freundin bis zur Treppe. Er
wollte sich gerade in sein Zimmer zurückbegeben, als ich zu meiner
Tür hinaustrat und ihn beinahe umgerannt hätte. Dies veranlasste mich
zu einer Entschuldigung, und wir tauschten einige Minuten höfliche
Worte aus. Der Student hatte ein zartes, edles Gesicht, und er war von
schlankem Wuchs. Was wird er wohl gedacht haben, als er mein rotbraunes
kauliangfarbenes Gesicht sah? Ich gestehe selbst, dass, wenn ich ein
rotes Tuch um meinen Kopf geschlungen hätte, ich einem jener indischen
Teufel, die in den Schanghaier Strassen als Schutzleute stehen, aufs
Haar geglichen hätte.

Als mir der Herbergswirt am Monatsende meine Rechnung vorlegte, fand
ich, dass ich auf die Dauer nicht in der teuren Herberge wohnen
könnte. Ich beauftragte deshalb einen Freund, der mit den örtlichen
Verhältnissen vertraut war, eine Wohnung zu suchen. Das machte grosse
Schwierigkeiten und ich lernte die Schanghaier dabei von einer ganz
besondern Seite kennen. Wo ein Zimmer zu vermieten war, fragte der
Vermieter zuerst eingehend nach meinen persönlichen Verhältnissen; wenn
die Erklärung befriedigend war, fragte man mich, ob ich verheiratet
sei. In mehreren Fällen, wo ich verneinte, wurde mir kurz geantwortet,
dass ich das Zimmer nicht haben könnte. Wie merkwürdig sind doch die
Schanghaier! Sie wollen nur Zimmer an Ehepaare vermieten. Ich konnte
schliesslich doch nicht in Schanghai heiraten, nur um ein Zimmer zu
bekommen! Durch die Fürsprache meines Freundes, der wiederholt beteuern
musste, dass ich ein ehrlicher Mann sei, erhielt ich schliesslich ein
leerstehendes Zimmerabteil in der Pekingstrasse. Im Erdgeschoss hatte
ein Tischler seine Werkstatt aufgeschlagen. Mein Raum lag im ersten
Stockwerk und war von einem grössern Raume durch eine dünne Holzwand
getrennt. Dieser wurde von einem vierzigjährigen Manne bewohnt, der in
einer Druckerei niedrige Aufseherdienste versah und dafür monatlich
etwa fünfzehn Dollar erhielt. Zum Haushalt des Mannes gehörten eine
Frau und sechs Kinder, unter denen zwei erwachsene Söhne und eine
verheiratete Tochter waren. Das jüngste Kind war ein Jahr alt, und ich
stellte gleich am ersten Tage meines Einzugs fest, dass die Familie
demnächst um einen weitern „Mund“ vermehrt wird. Das Lärmen, das
täglich aus dem Nebenzimmer drang, nahm mir die Ruhe bei Nacht und
das freudvolle Verweilen in müssigen Stunden. Wenn der Gatte Abends
nach Hause kam, schimpfte er über das karge Essen; die Frau erwiderte
im scharfen Ton, und dazwischen heulte das Jüngste. Solange ich dort
wohnte, habe ich das kleine Kind nie ruhig gesehen. Sein Weinen war
herzzerbrechend. Ich glaube, dass das Kind stets Hunger leidet. Statt
dass die Mutter, wie es die Schantunger Mütter tun, ihrem Kleinen den
nahrhaften, aus Weizenmehl hergestellten Brei zu essen gibt, stopft
sie ihm grobkörnigen Reis in den Mund. Ich gab der Frau Ratschläge,
wie der Weizenbrei bereitet wird; sie meinte aber, dass Weizenmehl
der Gesundheit schädlich sei. Mein Herz wurde täglich unruhiger über
den Lärm, den ich hörte, und über die Umgebung, in der ich wohnte.
Ich tröstete mich aber mit einem Ausspruch des Kungtse, der an einer
Stelle sagt: Tschün tse chüeh wu chiu an (Den Edelmann soll es nicht
kümmern, wo er sein Haupt niederlegt). Damit möchte ich nicht sagen,
dass ich in die Klasse des Edelmanns gezählt werden möchte, sondern nur
andeuten, dass ich mit der gesellschaftlichen Umgebung, in die mich des
Himmels Bestimmung gestellt hat, zufrieden bin. Ich bin in kleinen,
bäuerlichen Verhältnissen aufgewachsen und möchte aus ihnen nicht höher
streben. Ja, ich wage zu sagen, dass jeder Bürger seinem Vaterland
dann die besten Dienste leistet, wenn er den Kreis nicht verlässt,
den ihm die Bestimmung gezogen hat. Jedes Höherstreben, hinter dem
gegebene Voraussetzungen zurückbleiben, schwächt die Grundlagen des
Staates. Ueber das Schicksal der mir benachbart wohnenden Familie
hatte ich oft im Stillen nachgedacht. Sechs Kinder zu ordentlichen
Menschen zu erziehen, muss einen grossen Teil des kargen Verdienstes
des Familienvaters im Lauf der Jahre aufgezehrt haben. Und was würde
geschehen, wenn der Arme nur auf kurze Zeit krank und arbeitsunfähig
würde? Dann könnte man das Sprichwort anwenden: Tschu liao lu lu
kan liao hsi (Wenn die Schöpfräder stille stehen, vertrocknen die
Bewässerungsrinnen), das heisst: wenn der Mann nicht arbeiten kann, hat
seine Familie nichts zu essen. Weshalb hat in unserm Lande gerade der
Arme die meisten Kinder und weshalb bleibt bei dem Reichen, wenn er nur
einen Sohn hat, der Ehrgeiz befriedigt?

Der Ausgangspunkt zu dieser kurzen Betrachtung war das für Schanghai
nur in geringem Mass anwendbare Wort des Konfuzius, dass es den
Edelmann nicht kümmern soll, wo er sein Haupt niederlege. In den ersten
Tagen, als ich das von Lärm erfüllte Zimmer in der Pekinger Strasse
bewohnte und durch den Schreihals ständig in der Beschaulichkeit
meiner Gedanken gestört wurde, suchte ich mich mit jenem Spruch des
Konfuzius über meine Lage zu trösten. Es kamen aber eine Reihe Umstände
hinzu, die mir das Leben in dieser Umgebung auf die Dauer vergällten.
Die Unruhe in meinem Herzen steigerte sich zusehends und teilte sich
allmählich meinem Kopf und meinen Gliedern mit. Ich führe das zum Teil
auch auf das wenig schmackhaft bereitete Essen zurück. Zuerst begab
ich mich völlig in die Kost meines Wirts, des Tischlermeisters. Mein
Schantunger Magen, der von jeher an derbe und kräftige Kost gewöhnt
war, vermochte aber das Essen, das für Schanghaier Zungen bereitet
war, nicht ertragen. Durch allerlei Zutaten, die ich mir durch einen
kleinen Tischlerlehrling einkaufen liess, versuchte ich dem Essen etwas
mehr Schantunger Geschmack zu verleihen. Die immer wiederkehrenden
Schanghaier Gerichte, die meine Hauptnahrung bildeten, wurden immer
fader, sodass ich sie schliesslich nicht mehr ohne starke Ueberwindung
zu essen vermochte. Dieser Umstand trug zu einem steten Unwohlsein
bei, das noch dadurch gesteigert wurde, dass ich während einer Nacht
das Reissen in den Gliedern bekam. Unbeständig wie der Schanghaier
Volkscharakter ist auch das hiesige Klima. Ich hatte mich an jenem
Abend infolge der heissen Abendluft nicht zugedeckt. In der Nacht
schlug die Witterung um und ich erwachte mit fröstelndem Körper. Als
ich das Fenster schliessen wollte, um der kühlen Luft das Eindringen
zu verwehren, spürte ich plötzlich einen reissenden Schmerz, der sich
von meiner rechten Hüfte bis in die Wade zog. Drei Wochen lang, Tag
und Nacht, litt ich starke Schmerzen, und ich schleppte mich über die
Strasse wie ein in der vergangenen Revolution zum Krüppel geschossener
Soldat. Wenn ich schliesslich von meiner Krankheit geheilt worden bin,
so verdanke ich das der Güte und Milde eines deutschen Arztes, der mir
ein gliederstärkendes Pulver verschrieb; ausserdem hatte aber auch ein
chinesischer Arzt Anteil an meiner Gesundung, indem er mir empfahl,
Nachts ein Hundefell über die schmerzenden Glieder zu legen. Die
Krankheit und die mangelhafte Kost hatten mich stark heruntergebracht.
In einem solchen Zustand begegnete ich zufällig meinem besten Freunde
Wang, den ich ich seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte und den
ich weit in Schantung wähnte. Wir kennen uns schon zehn Jahre. Er
stammt aus der Provinz Kuangsi. Sein Vater war höherer Beamter und sein
Bruder Kreisrichter in einer Stadt in Schantung. Er selbst stand vor
einigen Jahren im Dienst des trefflichen deutschen Postbeamten Ho Li
tse (Holtzapfel), der, wie mir mein deutscher Freund vor Kurzem sagte,
jetzt leider in Deutschland gestorben ist. Jener Deutsche hatte edeln
Herzens seines Amts gewaltet und auch ausserhalb seines Berufskreises
zeigte er sein gütiges Herz. Ihm war die Erziehung unseres Volkes ein
steter Gedanke, und um einen Anfang zu machen, richtete er in einer
Schantunger Stadt mit eignen Mitteln eine Schule ein und berief mich
durch Vermittlung meines Freundes Wang zum Lehrer. Ich hatte Wang zum
letzten Mal in Schantung gesehen. Jetzt wollte es ein gütiges Geschick,
dass uns die Wellen der Grosstadt an einem Punkt zusammenwarfen.
Unsere Wiedersehensfreude ist kaum zu beschreiben. Wir sahen uns
stumm ins Gesicht. Wang ergriff erregt meine beiden Hände und wollte
sie nicht loslassen. Wir müssen uns einige Zeit, ohne zu sprechen,
gegenübergestanden haben. Denn es sammelten sich schon einige Gaffer
an, um uns zu bestaunen. Schliesslich brach mein Freund das Schweigen.
Betrübten Antlitzes hörte ich, dass er Anfangs hart vom Unglück
verfolgt worden war. Unter seinen Kindern hatte er einige Todesfälle.
Die Krankheits- und Begräbniskosten zehrten sein geringes Vermögen auf
und er war gezwungen, sämtlichen Hausrat zum Pfandhaus zu bringen.
Mittel- und stellenlos sass er in der Weltstadt. Ein holdes Geschick
verschaffte ihm eines Tages eine hochbezahlte Sekretärstelle, in der
er eine Respektsperson darstellte. Um die Freude voll zu machen gebar
ihm sein Weib noch einen Sohn. Alle vier Glücksgüter (Tse tsai lou),
Frau, Reichtum, Sohn und Ehrung waren plötzlich wieder vereinigt. Von
der Sekretärstelle stieg er bald in einen Beamtenposten, im Frühjahr
nahm er eine Stelle im Bergbauamt für Kiangnan an. Eine Krankheit
zwang ihn aber, den Posten wieder aufzugeben. Und wieder drohte ihn
die Weltstadt zu verschlingen. Er blieb aber tapfer und fand endlich
eine Stelle bei einem Zollamt in der Provinz Tschekiang. Er wollte
heute schon abreisen. So folgte der Wiedersehensfreude gleich der
Trennungsschmerz. Ich bin der festen Ansicht, dass ihm die mehrjährige
Arbeit bei den Deutschen eine Tatkraft für sein ganzes Leben gegeben
hat. Denn nicht jeder meiner Landsleute hätte, zweimal vom Schicksal
niedergeschlagen, von Neuem versucht, sich aufzuraffen; er hätte sein
Schicksal als die Bestimmung des Himmels angesehen und sich willig in
das harte Joch gefügt.

Seitdem ich in Schanghai bin, musste ich zum dritten Mal auf die
Suche nach einer Wohnung gehen. Dabei kam mir die vor Kurzem mit
einem Schantunger Landsmann Namens Wang Tien hung angeknüpfte
Freundschaft zu statten. Was ich besonders an ihm schätze sind, neben
seinem freundlichen Wesen, die Beherrschung des örtlichen Dialekts
und die Kunst des Kochens von Schantunger Gerichten. Als ich seine
Bekanntschaft machte, stand gleich bei mir fest, dass wir Beide
zusammen eine Wohnung beziehen müssten. Als ich ihm diesen Vorschlag
machte, willigte er sofort ein. Dieses Mal ging die Suche leicht von
Statten. Einige Häuser weiter in der Pekinger Strasse fanden wir ein
helles luftiges Zimmer, das durch eine dünne Holzwand in zwei Abteile
geschieden ist. Ich bewohne den vordern, er den hintern Teil. Dafür
bezahle ich monatlich fünf Dollar und er zweieinhalben Dollar Miete.
Der Hauswirt ist ein Auktionator aus Kiangpe. Alle Vorteile, die ich
in der alten Wohnung vermisste, sind in der neuen vereinigt: durch
helle Fenster lugt die Sonne und auf dem Herd brodelt ein Schantunger
Gericht. Am Feierabend blicke ich, aufs Fenster gelehnt, mit meinem
Freund auf die Strasse und ergötze mich an dem wirren Treiben. Gar
froh wird mir ums Herz, wenn in dem Strassengewühl ein Verkäufer von
Holzflöten auftaucht und zur Anpreisung eine frohe Weise aufspielt.
Oft sitze ich mit meinem Freund nach dem Abendreis plaudernd zusammen,
und er erzählt mir von seinen weiten Wanderungen. Weit in Sibirien
ist er gewesen und half den Russen beim Schienenlegen für eine neue
Eisenbahn; dann weilte er einige Monate als Diener in Russland. Er kam
vor zwei Jahren stellenlos nach Schanghai, und er erwirbt jetzt seinen
auskömmlichen Unterhalt mit dem Verkauf von Süssigkeiten, die aus
Erdnussmehl hergestellt sind.

Eines Abends besuchte ich mit ihm das Teehaus Scheng Ping im vierten
Pferdeweg. Die Treppe war so dicht mit Menschen überfüllt, dass sie
sich beim Auf- und Abgehen mit den Achseln anstiessen. Im ersten
Stockwerk liegt ein weiter Saal, der nach der Strassenfront in
eine Veranda ausläuft. An den Wänden des Saales waren hohe Spiegel
angebracht, in denen sich die Strahlen zahlreicher elektrischer Lampen
brachen. Es glitzerte ringsum wie aus einem Diamant. Die Tische und
Stühle waren aus feinstem Holz verfertigt. Wir bestellten eine Kanne
Tee. Als ich in dem Raum umherblickte, sah ich eine nordchinesisch
gekleidete Gestalt, die suchend auslugte. Unsere Blicke trafen sich
einige Sekunden und ich bemerkte, wie die Gestalt auf unsern Tisch
zukam. Ich wendete meine Augen seitwärts, konnte aber nicht verhindern,
dass sich der Mann zu uns setzte. Er hatte offenbar herausgefunden,
dass wir beide aus dem Norden seien. Der Ankömmling, der etwa zwanzig
Jahre zählte, machte sich in auffälliger Weise um meine Bewirtung
bemerkbar und goss mir Tee ein. Dann begann er mir plötzlich sein Leid
zu klagen; er sei hier seit Wochen mittellos in Schanghai und suche
vergebens nach Arbeit; ob ich ihm nicht einige Zents geben wolle. Da
fuhr ich ihn hart an, denn ich bemerkte sofort an seinen Zügen, dass
er ein unverbesserlicher Opiumraucher war. Ich redete ihm scharf ins
Gewissen. Ob er sich denn nicht schäme, in jungen Jahren zu betteln;
selbst wenn ich ihm zwanzig Zents gebe, werde er doch versuchen auch
bei Anderen zu betteln, nur um dem Opiumgenuss fröhnen zu können.
Beschämt stand der Jüngling auf und verliess den Saal. Kaum war
er fort, da setzte sich ein etwa siebzehnjähriges Mädchen auf den
freigewordenen Stuhl. Selten habe ich eine so hübsche Gestalt gesehen.
Ihre schwarzen Augenbrauen glichen sanft gekrümmten Mondsicheln. Die
Augen leuchteten wie eine von der Frühjahrsonne umgaukelte Quelle. Das
Gesicht schaute aus wie ein praller, rötlich sammetweicher Pfirsich,
ihre Gestalt war schlank und biegsam wie ein Weidenstämmchen und
die kleinen Finger waren zart wie die Halme des „Yu ti“ Grases. Das
Mädchen war bescheiden und fragte schüchtern im Norddialekt, ob wir
nicht mit ihr kommen wollten; sie möchte uns etwas musizieren. Als
sie mich mit „Lao je“ (älterer Vater) anredete, machte ich sie darauf
aufmerksam, dass China jetzt ein Volksreich sei, in dem solche Anreden
nicht mehr statthaft seien. Sie nickte und wiederholte ihre Bitte.
Mein Freund, der wohl meine Verlegenheit merkte, kam mir zu Hülfe und
sagte, dass wir einen Freund erwarteten, für den der Platz, auf dem sie
sässe, bestellt sei. Darauf ging das Mädchen höflich von dannen. Im
Augenblick war der Platz schon von einem andern Mädchen besetzt. Sein
Aeusseres machte auch einen vorteilhaften Eindruck, aber sein Benehmen
war ohne Mass und Sitte. Frech sagte das Mädchen, sie wolle Tee
trinken. Wir überhörten absichtlich dieses Verlangen und unterhielten
uns über gleichgültige Dinge. Ich hatte mir gerade eine Zigarette
angezündet und die kleine Schachtel nebst Streichhölzern auf dem Tisch
liegen lassen. Mit gierigen Fingern griff sie nach meinen Zigaretten,
zerrte eine heraus und zündete sie an. Während das ungezogene Ding
die erste Rauchwolke in die Luft blies, sagte es, es heisse Hung yün
(Rote Wolke), stamme aus Su tschen und wohne im dritten Pferdeweg. Mein
Freund sah die Freche mit zornigen Augen an. Und plötzlich brauste er
auf und schrie das Mädchen in unverfälschtem Schanghaidialekt an: „Sa
ka se ti nu na yi?!“ (Weshalb hast du die Zigarette genommen?) Ich
beruhigte den Zornigen, hielt dem Mädchen die Schachtel hin und sagte,
es solle sich soviel Zigaretten nehmen, wie es wolle, sich dann aber
einen Tisch weiter begeben. Als das nichts fruchtete und das Mädchen
nach wie vor aufdringlich blieb, bezahlten wir und gingen nach Hause.
Mein Freund ging missgestimmt, und auf die frechen Schanghaier Mädchen
schimpfend, neben mir her.

                           *               *
                                   *

Bis hierher habe ich meine Erlebnisse und Meinungen niedergeschrieben,
die mein deutscher Freund für die Deutschen übersetzt hat. Was ich
erzählt habe, ist dürftig und gering. Es würde sicher etwas vollendeter
in der Darstellung sein, wenn jene Frau meinem Rat gefolgt wäre und dem
schreienden Jüngsten den erprobten Weizenkuchen bereitet hätte, statt
ihm groben Reis zu essen zu geben. Denn durch das Schreien des Kindes
wurden meine Gedanken immer verwirrt.....

[Illustration]



Erinnerungen eines chinesischen Revolutionärs.


In jener sternklaren Sommernacht, wo der grimmige Mars um den
Wusungforts die Stunde regierte, lernte ich ihn kennen. In kauernder
Stellung, hinter Ufergras und Erdhügel versteckt, das müde Auge
nach dem Huangpu gerichtet, lag er da und horchte beim Klirren
eines Glasscherbchen, das der hartbesohlte Schuh des Westländers
zersplitterte, auf, riss schussbereit sein Gewehr in die Höhe und liess
es sinken, als er sich vergewissert hatte, dass ich ein Ausländer
war. Wir hatten unsere feindselige Begegnung bald vergessen und lagen
plaudernd im nachttaukühlen Gras. Er hiess Wang Fei ting und gehörte
zu den „Kan sze tui“ Truppen, die ihre nächtlichen Stellungen am
Huangpu-Ufer bezogen hatten und eine Landung nordchinesischer Truppen
verhindern sollten. Ich erinnere mich deutlich des zarten, jungenhaften
Gesichts mit den fragenden Augen, das sich mir in dem nächtlichen
Dunkel entgegenstreckte. „Fremder Herr, weshalb kämpfen wir hier?“,
flüsterte mir Wang zu; mit ganz gedämpfter Stimme sprach er, damit
seine Kameraden es nicht hörten. Und ich erzählte, was ich für sein
tapferes, „zum Sterben bereites“ Herz für gut hielt, und als ich von
ihm schied, da hauchte: „Ich sehne mich nach deiner Belehrung.“ Ich
gab ihm die Adresse der Redaktion und nach dem Fall der Wusungforts
stellte er sich bei mir als Zivilist ein, aufgeregt seine letzten
Abenteuer erzählend. Das Haar hing ungekämmt auf seinem Kopf, seine
Zivilistenkleidung, die er zerknittert in einem Pfandhaus ausgelöst
hatte, schlotterte, ungeordnet an seinen Füssen schlürften ein paar
ausgetretene Grossvaterpantoffel. Wie mir Wang erzählte, stand er
vor der Entlassung. Vierzehn Tage hörte ich nichts weiter von ihm.
Plötzlich kam er wieder, säuberlich gekleidet und stellte sich mir
als „zum Sterben bereiter Freiwilliger a. D.“ vor. So kam es, dass
ich Wang Fei ting aufforderte, seine Erlebnisse als Revolutionär
niederzuschreiben, um sie einem deutschen Leserkreis zu erhalten.
Nüchtern und unpersönlich schrieb er nieder, wie es ihm in seinem
Leben ergangen war und erst weitere Fragen und Gegenfragen ergaben
das, was jetzt als Erinnerungen eines chinesischen Revolutionärs der
Oeffentlichkeit übergeben werden soll.

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Ich heisse Wang Fei ting und bin aus dem Kreise Kiang ling, der in
der Provinz Hupeh liegt, gebürtig. Meine Eltern, die einige Mou
Ackerland bestellten, waren arm. Trotzdem ermöglichten sie es, dass
ich in Zeiten, wo die Feldarbeit ruhte, die Schule des Dorfes besuchen
konnte, und als ich dreizehn Jahre alt war, schickten sie mich sogar
auf die höhere Elementarschule in der Kreisstadt. Dort hatten wir
einen Lehrer, den ich sehr liebte. Er war weit gereist und sogar in
Japan gewesen. Wenn die Schulstunden vorüber waren, kam er oft zu
uns Schülern und plauderte wie ein Vater. Wie erstaunt war ich, als
ich lernte, wie gross die Welt sei und wieviel Menschen, die alle
möglichen Berufe ausübten, auf ihr wohnten. Vor dieser Riesengrösse
kam ich mir sehr klein vor. Ich wurde verzagt und glaubte, für mich
sei kein Platz auf dieser Welt, um vorwärts zu kommen. Trotzdem war
etwas in meinem Innern, das mich vorwärts trieb. Der grosse Panku
hat in achtzehntausend Jahren die Welt erschaffen, also sein ganzes
Leben mit der Vollbringung einer einzigen Tat ausgefüllt. Ich sagte
mir, da du nun einmal auf der Welt bist, musst du aus deinem Leben
machen, was zu machen ist. Aus dem Werk Pankus schöpfte ich zuerst
Kraft und Aneiferung. Noch ein andrer Umstand trieb mich zum Schaffen
an: die Ausländer. Trotzdem ich noch keinen von ihnen gesehen hatte,
war meine Hochachtung vor ihrem Können gross. Unser Lehrer erzählte,
dass die weissen Ausländer bisher von dem Geschick auserwählt seien,
für die Menschheit grosse Taten zu vollbringen. Er erzählte von den
ausländischen Schiffen, Bergwerken, Maschinen, Telegraphen, Geschützen,
Gewehren und noch vielen anderen Dingen, deren Namen mir entfallen
sind, und ermahnte uns, fleissig zu lernen, damit wir den Ausländern
bald ebenbürtig seien. Nach den Schulstunden machte ich meine Gedanken
über all das Gesagte und kam zu dem Schluss, dass in all den Werken
der Ausländer ein riesiger Fleiss stecken müsse; mir war klar, dass
nicht ein Einzelner die grossen westländischen Errungenschaften
erfunden hat, sondern dass der Fleiss ganzer Generationen in einem
einzigen Werke steckt, das zu immer höherer Vollkommenheit gebracht
würde. Ich muss sagen, dass wirklich der ausländische Schaffensgeist
ein grosser Ansporn für mich gewesen ist. Eine Ueberschwemmung, die
unser Haus samt Wasserbüffeln und Schweinen fortriss, brachte meine
Eltern an den Bettelstab, ich musste daher meine Studien aufgeben und
mich beim Aufbau eines neuen Herds nützlich machen. Zu jener Zeit
kam eine Anzahl feiner Herren der Regierung in unser Dorf und sprach
mit dem Ortsältesten. Dieser liess bald die jungen Leute des Dorfes
rufen und sagte ihnen, wer Soldat werden wolle, solle sich melden.
Soldat? Das Wort blieb in meinem Ohr haften, und eh ich mich versah,
rief ich meinen Namen, so laut, dass mich die umstehenden Dorfbewohner
erstaunt anblickten. Soldat! Mir fiel das ein, was unser Lehrer von dem
französischen Heerführer Na pu lun (Napoleon) erzählte, und ich dachte
daran, dass er zuerst auch nur einfacher Soldat gewesen sei. Ausser mir
meldeten sich noch drei Jungen meines Alters. Wir wurden gefragt, wie
alt wir seien, ob wir zwanzig Li ohne Unterbrechung marschieren und
ob wir einen halben Zentner Gewicht heben könnten. Als wir bejahten,
wurden unsere Namen in die Liste eingetragen. Meine Eltern, die Anfangs
über meinen Entschluss aufgeregt waren, beruhigten sich, als ich ihnen
sagte, ich würde jeden Monat einen Teil meiner Löhnung nach Hause
schicken.

So wurde ich mit sechzehn Jahren Soldat und der 9ten Division in
Kiangsu zugeteilt. Ich erhielt jeden Monat sieben Dollar Löhnung, wovon
jedoch vor der Auszahlung drei Dollar für Beköstigung abgezogen wurden.
Zum Nachhauseschicken blieb nur eine ganz kleine Summe übrig. Ehe ich
richtiger Soldat wurde, musste ich Kulidienste tun. Jeden Morgen musste
ich die Stube reinigen, den fünf Mann auf der Stube Essen holen und
sonstige Dienste leisten. Für meine Eltern und Dorfgenossen hatte ich
früher ähnliche Arbeiten verrichtet und mich nie darüber beklagt; als
mich aber die fünf Menschen zu ihrem Diener erniedrigten, sträubte sich
mein Empfinden, und ich sagte eines Tages dem diensttuenden Offizier,
dass ich richtiger Soldat werden wollte, andernfalls würde ich wieder
nach Hause gehen. Ich wurde dann in eine andere Stube gelegt und hatte
es von nun an besser. Die paar Stunden Dienst waren leicht zu ertragen.
Ich lernte marschieren und das Gewehr behandeln. Nach einigen
Monaten durfte ich nach der Dienststunde die Schule unserer Division
besuchen, wo uns ein hoher Offizier Vorträge über die Kriegskunst
hielt. Der Offizier erzählte uns vom deutschen und japanischen Heer,
von siegreichen Schlachten und von der Liebe des Volks zum Herrscher.
Dass auch wir Soldaten unsern Kaiser lieben sollten, erzählte er nicht.
Einmal sagte er scharf: „Ihr seid nur Soldat, damit ihr kämpfen könnt,
wenn sich die Zeit erfüllt.“ Er lächelte dann still für sich hin.
Wir Soldaten sahen uns an und verstanden ihn nicht. Erst später habe
ich den Sinn der Worte verstanden. Unsern Divisionsgeneral habe ich
während meiner dreijährigen Dienstzeit in Nanking nur dreimal gesehen.
Das vorletzte Mal bei einer Parade unserer Division; nach ihr wurde
ich zum Gefreiten befördert. So vergingen Wochen und Monate. Als ich
einmal Posten stand, wollte ein ausländisch gekleideter Landsmann,
der ein blaue Brille trug, am Wachthaus vorbei. Als ich ihn anhielt,
sagte er genau das Wort unserer heutigen Parole, und ich musste ihn
durchlassen. Der seltsame Mann kam häufig wieder, manchmal kamen auch
Mehrere zusammen. Ihrer Sprache nach mussten sie aus Kuangtung gewesen
sein. Eines Tages gingen fünf Offiziere unserer Division weg, und wir
erhielten Ersatz. Die Besuche der Fremdlinge wurden häufiger. Dieses
Mal sah ich unsern Hauptmann und einige Offiziere mit den Fremdlingen
im Gespräch auf der Offiziersstube; sie hatten eine grosse Karte vor
sich, nannten oft den Namen meiner Heimatprovinz und beschrieben mit
den Fingern Kreise auf der Karte. Die Disziplin unserer Division
wurde immer mehr gelockert. Statt dass die Offiziere uns mit gutem
Beispiel in ihrem Lebenswandel vorangingen, blieben sie Tage lang
vom Dienst und Nächte lang von der Kaserne weg und gaben Geld in
vollen Händen aus. Woher sie das nur hatten? Erst später habe ich es
ergründet. Der Divisionsgeneral kam häufiger als sonst. Einmal trat er
in die Stube eines Offiziers, riss den Schrank auf, zog einen Haufen
Schriftstücke heraus und ging zornbebend fort. Den Offizier habe ich
nie wieder gesehen. An einem Herbstabend lag ich mit einigen Kameraden
im Gras vor dem Lager. Da kamen einige Leute der ersten Kompagnie mit
weingeröteten Gesichter des Wegs; einer schrie: „Fragt der Kerl, ob
wir schiessen können? Natürlich können wir schiessen!“ Den letzten
Satz wiederholten die Betrunkenen mit lautem Gebrüll. Ein Nüchterner
sagte mir, dass ein junger Chinese, der südlichen Dialekt sprach,
ein paar Leute mit Wein bewirtet hätte, weil der Kaiser in Peking
demnächst ein grosses Fest feiern werde. Das Fest der Herbstmitte
war vorüber; die Disziplinlosigkeit in der Division erreichte ihren
Höhepunkt. Da kam die Kunde in unser Lager, dass sich die Garnison in
Wutschang gegen den Kaiser erhoben hätte. Ich erwartete nun, dass unser
General uns sofort unter die Waffen rufen würde, das Leben des Kaisers
zu schützen. Dafür kam eines Tages der Befehl, wer nach Hause gehen
wollte, solle seinen rückständigen Sold in Empfang nehmen. Der grösste
Teil der Soldaten meldete sich, und sofort sprangen tausende Leute aus
Kuangtung und Chekiang ein, um die freigewordenen Stellen zu füllen.
Auch die Offiziere wechselten; ich sah unter ihnen bekannte Gesichter.
Kaum waren wir entlassenen Soldaten in der Stadt, da ging plötzlich
ein grosser Kampf los. Ich weiss nicht mehr wieviel Tage gekämpft
worden ist. Eines Tages zogen unsere frühere Division und zahlreiche
Truppen des Revolutionsheeres in die Stadt ein und raubten alles aus.
In dem mandschurischen Stadtteil war ein Kreischen und Schreien, das
ich nie vergessen werde. Im Leng Kung Tempel hatten sich Mandschus
zusammengedrängt, um gemeinsam zu sterben, ehe sie unter den Streichen
des Volksheers fielen. Und plötzlich hoben sich mit furchtbarem Knall
die Mauern in ihren Grundfesten und eine hohe Rauchsäule stieg in die
Luft. Unter dem Schutt lagen nur Leichen. Die Tage der Stadt Nanking
sind schrecklich gewesen. Ich verstand damals die Grösse der Zeit nicht
und fluchte den Revolutionären.

Eines Tages war ich selbst unter ihnen. Da wir nun ein „Volksreich“
hatten, wollte ich es schützen. Ich begab mich nach Schanghai, wo ich
mich bei den Kuang fu tschün Truppen, die im Taiyang Tempel bei Chapei
lagen, gegen einen Monatssold von elf Dollar einreihen liess. Nach
einigen Monaten wurden die Truppen aufgelöst, und ich ging wieder nach
Nanking, wo ich unter den Kan sze tui Truppen, die bei der Eroberung
von Nanking so kühn vorgegangen waren, aufgenommen wurde. Ich hatte
soviel von den „Truppen, die den Tod nicht fürchteten“ gehört, dass
ich mich freute, bei ihnen zu sein. Der Monatssold betrug nur acht
Dollar, das Essen war frei. Die Truppen wurden von dem Obersten Liu
Fu piao befehligt, der früher ein Führer der geheimen Gesellschaft
Ko lao hui war. Wir waren im Fu Tse ying in der Nähe der Huai ting
Brücke untergebracht. Mehrere Monate vergingen. Eines Tages wurde
die Nachricht im Lager verbreitet, dass wir gegen die Truppen Yüan
Schih kais kämpfen sollten. Ein paar ältere Leute unserer Truppe waren
darüber ganz aufgeregt und sangen vor Freude Kriegslieder, die ich
zum ersten Mal hörte. Und plötzlich hiess es, Nanking sei von Peking
abgefallen und habe sich selbständig erklärt. Nach westländischem
Kalender geschah das im Juli. In unserm Lager begann ein geschäftiges
Treiben. Wir achthundert Mann tauschten unsere einschüssigen Gewehre
gegen fünfschüssige aus, jeder erhielt eine Feldausrüstung mit Mantel
und fünfzig Patronen. Auf den Mannschaftsstuben ging es lebhaft her.
Wir Jüngern lauschten den Aeltern, die von Kriegstaten erzählten, von
Bomben, Granaten und zerrissenen Gliedmassen. Dann gingen wir in voller
Ausrüstung schlafen. Am folgenden Morgen bliesen schon frühzeitig die
Hörner. Wir traten an und marschierten nach dem Hu ning Bahnhof, wo
wir mit dem Zug nach Schanghai befördert wurden. Nach unserer Ankunft
in Schanghai wurden wir auf Booten den Huangpu aufwärts nach Schih li
pu (Nantao) befördert. Es dauerte lange, bis für unsere achthundert
Mann eine passende Unterkunft gefunden war. Schliesslich bezogen wir
in einer Schule hungrig und müde Quartier. Nachts um drei Uhr heulte
ein furchtbarer Sturm. Und plötzlich hörte man den Schall einer Kanone.
Wir wurden alarmiert und zogen durch enge Gassen in die Nacht. Vor uns
marschierte das 61ste Bataillon, das Befehl hatte, das Arsenal von
Nordwesten her anzugreifen. Wir bezogen vor dem Südwesten der Stadt als
Reserve Stellung. Bis zum frühen Morgen dauerte das Schiessen. Viele
kleine Geschosse und Granaten flogen über uns weg. Gegen Dämmerung
wurden die ersten Toten und Verwundeten des 61sten Bataillons an uns
vorbeigetragen. Er dauerte nicht lange, da musste das Bataillon, das
drei Stunden mit dem Arsenal im Kampf gelegen hatte, zurückgehen.
Es ging nicht zurück, es lief. Und wir lagen mit frischen Kräften
hinten in Deckung; die Aeltern von uns wurden ungeduldig, schalten
unsere Offiziere offen Feiglinge und wollten, die übrigen Mannschaften
anfeuernd, vorwärts stürmen. Als die Offiziere jeden niederzuschiessen
drohten, der seine Stellung verlasse, wurden die Unzufriedenen ruhig
und knirschten nur ab und zu Flüche durch die Zähne. Während der ganzen
Kämpfe ums Arsenal erging es uns so. O, Schmach, o Schmach. Wir mussten
zusehen, wie Hunderte unserer Brüder von den Geschossen des Feindes
hingerafft werden, ohne sie zu rächen. Wir sahen aber allmählich ein,
dass alle Versuche, den Brüdern zu helfen, Wahnwitz gewesen wären.
Unsere achthundert Gewehre reichten nicht gegen die grossen Kanonen des
Feindes aus. Dennoch blieb wütender Zorn in unserm Herzen, dass wir
nicht einmal schiessen durften. Unser Befehl lautete, das Leben der
Einwohner der Stadt zu schützen. Und so zogen wir als Patrouillen Tage
lang durch die Strassen der Stadt.

Eines Tages kam Liu Fu piao ins Quartier, liess die Patrouillen
zurückziehen und gab Befehl zum Ausrücken. Niemand wusste, wohin es
ginge. Die Aelteren freuten sich, weil sie glaubten, nun würde wirklich
gekämpft. Statt dessen wurde einmal richtig gegessen, denn wir hatten
seit vierzehn Tagen kein anständiges Essen im Leibe. Liu händigte einem
Unteroffizier eine Summe Geldes aus und liess dafür über tausend warme
Kuchen kaufen, von denen jeder Mann einen bekam. Dann marschierten wir
kauend weiter nach dem Gebäude der Schansi Gilde am Nantao Bund, wo wir
den Rest des im Feuer gewesenen 61sten Bataillons trafen. Wir waren
noch nicht weggetreten, als Liu Fu piao mit einem etwa dreissig Jahre
alten Chinesen kam, der einen goldnen Zahn hatte. Liu sagte, dass Herr
Tsai einige Worte an uns richten wollte. Herr Tsai verneigte sich kurz
und sprach, er sei bei dem Führer der Nordsoldaten gewesen, der sich
sehr erfreut darüber ausgesprochen habe, dass die tapferen Kan sze tui
Truppen ihre Kräfte aufgespart hätten und noch nicht gegen das Arsenal
vorgegangen wären. „Ich sehe“, sprach Tsai weiter, „Ihr seid vom Hunger
mager, Euch mangelt an Brot; Eure Waffenröcke sind zerschlissen. Folgt
mir, ich will Euch Beides geben.“ Liu Fu piao bekräftigte mit wenigen
Worten, was Tsai gesprochen hatte.

An demselben Tages wurden wir unter unserm neuen Führer Tai Hsing auf
Boote verladen und nach den Wusung Forts gebracht, wo wir in der „Chung
kuo kung hsueh“ bei dem Dorf Wen tsan pang Quartier bezogen. Tai Hsing
hatte für ein gutes Quartier und ausreichendes Essen gesorgt, sodass
bald frohe Laune herrschte. Die Leute auf meiner Stube stimmten das Kan
sze tui Lied an:

    Wer in tiefe Schluchten dringt,
    Den Tiger dort zur Strecke bringt,
      Ist mutig.
    Wer in den tiefen Meerschlund taucht,
    Und Perlen holt, die sein Liebchen braucht,
      Ist mutig.
    Doch kühner als der Jägersmann,
    Und todverachtender als der Taucher,
      Sind wir, die Kan sze tui.

Trotz des fröhlichen Lieds, in das auch die Leute auf den andern Stuben
einfielen, herrschte doch bald wieder eine gedrückte Stimmung. Wir
wurden das Gefühl nicht los, dass wir von unserm Führer wie Sklaven
verkauft worden seien.

Am nächsten Morgen versammelte unser neuer Führer Ta Hsing die
Mannschaften auf dem Haupthof der „Tschung kuo kung hsüeh“, wo wir im
Quartier lagen und hielt eine Ansprache. Er sagte, wir seien in der
Nähe der Wusungforts stationiert, um sie zu „schützen“. Wie und gegen
wen wir die Forts schützen sollten, sagte er uns nicht. Die Aelteren
von uns, die schon bei Nanking mitgefochten hatten und wirklich einmal
kämpfen wollten, sahen sich erstaunt an und flüsterten sich etwas zu,
was ich nicht verstand. Die Unzufriedenen wurden aber bald andern
Sinnes, als Tai Hsing im Namen Liu Fu piaos einige Beförderungen
bekannt gab. Auch ich stand auf der Liste und wurde vom Gefreiten zum
Unteroffizier befördert. Als solcher verdiente ich vierzehn Dollar
den Monat. Meine Freude war nicht gering; denn ich erhielt wirklich
einmal Gelegenheit, ein paar Dollar zu sparen und wünschte im Stillen,
dass die Revolution nur recht lange dauern würde. Ach, wenn ich damals
gewusst hätte, wie kurz meine Zeit als Unteroffizier dauern sollte!
Nachdem jeder der Beförderten einige Dollar Handgeld erhalten hatte,
wurde Befehl zum Frühstücken gegeben. Mit grossem Poltern stürmten
wir in die Stuben und harrten der reichhaltigen Mahlzeit, die unser
neuer Führer uns versprochen hatte. Welche Enttäuschung! Es gab nur
Tee und harte ausländische Kuchen. Ein grosser Groll sammelte sich
gegen Tai Hsing an, weil er sein Versprechen nicht gehalten hatte.
Die Beförderten kauten aber schweigsam die harten Kuchen und freuten
sich auf das Essen, das sie am Abend in der Garküche nehmen würden,
die nicht weit vom Quartier aufgeschlagen war. Am Abend sassen die
Unteroffiziere unserer Truppe auf den schmalen Bänken vor der Garküche
und schmausten und tranken. Der Unteroffizier Niu stimmte, als er die
Reste der gegessenen Speisen mit einem Näpfchen Wein hinuntergespült
hatte, ein Soldatenlied an, in das wir einfielen:

    Vorwärts, immer vorwärts
    Für die Republik
    Unser Herz ist voller Mut
    Soldaten fürchten nicht das Blut
    ihrer Kameraden
    Fürs Vaterland, fürs Vaterland
    Ziehn wir in den Kampf
    schützen Hof und Herd
    mit Gewehr und Schwert.

Beim Singen klopften wir mit den Essstäbchen taktschlagend auf den
Tisch. Da kam ein Bote unseres Kommandeurs und befahl uns, uns für
den Ausmarsch bereit zu machen. Wir gingen in unsere Stuben, hingen
Patronentasche und Nachtmantel um, und warteten auf das Signal des
Aufbruchs. Das wurde bald gegeben. In einer langen Reihe, Einer hinter
dem Andern, bogen wir in östlicher Richtung in die tiefschwarze
Nacht. Längs des Huangpu marschierten wir in unsere Stellungen. Der
Befehl lautete, scharfen Auslug auf verdächtige Fahrzeuge zu halten,
die vielleicht Nordsoldaten den Huangpu aufwärts nach dem Arsenal
bringen wollten. So lautete jeden Abend der Befehl. Bei Tage durften
wir schlafen und essen. Liu Fu piao kam öfter von Schanghai und hatte
wichtige Besprechungen mit Tai Hsing. Liu besuchte stets, ehe er nach
Schanghai zurückkehrte, den Befehlshaber der Wusunger Befestigungen
Kü Tscheng. Die Freundschaft, die die beiden Männer unterhielten,
war ebenso stark, wie die zwischen Tsao Tsao und Kuang Yü, den
hinterlistigen Helden aus der Zeit der „Drei Reiche“. Soldaten, die
die geheimen Unterredungen zwischen Liu Fu piao und Tai Hsing, und
zwischen Liu Fu piao und Kü Tscheng belauscht hatten, sagten, dass
Yüan Schih kai unsere „Kan sze tui“ Truppe und die Besatzung des
Forts für zehntausend Dollar kaufen wolle. Jeder Soldat sollte seinen
vollen Monatssold und fünf Dollar Entlassungsgeld erhalten. Auffallend
war, dass Liu Fu piao unsere Truppe täglich verstärkte. Wenn er von
Schanghai zurückkam, brachte er immer einen Schub Rekruten mit, die
zum Teil dem aufgelösten 61sten Bataillon entnommen waren. Eines
Tages kamen auch auf Schleichwegen sechs Maschinengewehre. Wollte
Liu unsere Truppe stärker machen, um mehr Geld beim Verkauf an die
Regierung herauszuschlagen? Merkwürdig war, dass Lius Besuche beim
Festungskommandanten plötzlich aufhörten. Alles sah danach aus, als
ob unsere Truppe nicht zum Schutz, sondern zum Angriff auf die Forts
bereit sein sollte.

Wir hatten das Gefühl, als ob irgend ein schreckliches Ereignis in der
Luft liege. Wie es kam, weiss ich nicht. Eines Nachmittags ertappte ich
mich auf einem Spaziergang um unser Quartier. Es war von vier Seiten
von einem breiten Wassergraben umgeben, und der Weg zum Haupteingang
führte über eine Brücke. Wie notwendig diese kurze Orientierung war,
zeigte mir der kommende Tag, an den ich mit Schrecken zurückdenke.
Bei Morgendämmerung zogen wir uns aus den gewohnten Stellungen am
Huangpu zurück und fielen nach der durchwachten Nacht bald in Schlaf.
Die vom Nachtdienst frei gebliebenen Mannschaften flickten ihre
zerschlissenen Uniformen oder kauten harte Kuchen. Ich war gerade beim
Kleiderwechseln, als der Wachtposten am Haupteingang aufgeregt durch
die Gänge lief und Liu Fu piao und Tai Hsing suchte. Tai kam aus seiner
Stube, und ich hörte, wie die Ordonnanz in hastigen Worten meldete,
eben sei eine starke Abteilung Soldaten aus dem Fort marschiert und
nähere sich unserm Quartier in Schützenlinie. Kaum hatte er die Meldung
erstattet, da sauste ein Geschoss über unser Quartier und schlug nicht
weit davon ein. Wer hatte geschossen? Waren Nordsoldaten gelandet?
Hatte das Fort auf uns geschossen? Es war keine Zeit zum Nachdenken.
Der Donner des Geschosses liess alle Schlafenden erwachen. Jeder griff
zu den Waffen. Alles eilte wirr durcheinander. Draussen knatterte
Kleingewehrfeuer. Das erhöhte die Verwirrung. Vergebens schrie Tai
Hsing in die Soldatenmenge, sich zu ordnen. Liu Fu piao lief bleich
und mit herabhängendem Schnurrbart aus seinem Zimmer und versuchte
durch mutiges Schimpfen seine „entwichene Seele“ zurückzurufen. Dann
trat er zu Tai Hsing, und sagte ihm, er fahre sofort nach Schanghai,
um Verstärkungen zu holen, damit der Verrat gerächt werde. Statt aber
mutig durch den Hauptausgang zu laufen, der von den Angreifern unter
Feuer genommen wurde, lief er nach Westen, wo er wahrscheinlich über
die Mauer geklettert und durch den Wassergraben geschwommen ist, um
mit heiler Haut zu entkommen. Die Geschosse der Feinde fielen dichter
ein; darunter waren auch Granaten. Auf dem Hof waren etwa zweihundert
Mann angetreten, das war Alles, was von unsern achthundert Mann übrig
geblieben war; der Rest war in der Verwirrung geflohen. Tai Hsing gab
den Befehl, sofort durch den Hauptausgang dem Feind entgegenzurücken.
Als wir im Sturmschritt durch den engen Ausgang in das freie Gelände
liefen, prasselte uns ein Geschosshagel entgegen. Vor mir knickte
ein Mann in sich zusammen; ich glaubte, er wollte seine Schuhriemen
fester machen; er war aber zu Tode getroffen. Ohne starke Verluste
waren wir endlich auf freiem Gelände und sahen unsern Gegner, der
in langer Reihe hinter Feldrainen und Grabhügeln versteckt war. Auf
dem Boden kriechend suchte jeder eine Deckung, und bald gaben wir
den Angreifern durch anhaltendes Feuern ebenbürtig Antwort. Schuss
auf Schuss krachte aus den grossen Geschützen im Fort, die schweren
Geschosse flogen über unsere Köpfe weg und schlugen hinter unserm
Quartier ein. Wahrscheinlich galten sie unsern Flüchtlingen, die wie
ein Ameisenschwarm das Gelände überfluteten. Als Unteroffizier gab
ich den Soldaten den Befehl, ein Maschinengewehr aus dem Quartier zu
holen. An den Gebrauch dieser wirksamen Waffe hatte in der Verwirrung
Niemand gedacht. Bald war das Gewehr in Feuerstellung. Niemand konnte
aber damit schiessen. „Wer ist vom 61sten Bataillon?“, schrie ich die
Reihe entlang. Rasch krochen einige Mann heran und dann sausten mehrere
hundert Schuss in der Minute in den Feind; zugleich ratterten auch
die Gewehre unserer zweihundert Mann. Das überraschende Schnellfeuer
machte die Angreifer stutzig; einige wandten sich zur Flucht, und ihnen
folgte ein grosser Haufe. Unsere Leute sprangen nun vor, schossen und
rückten weiter vor, den Feind zurücktreibend, der keinen Widerstand
leistete. So gingen wir rasch vor; etwa fünfzig Tote und Verwundete
unserer Truppe bezeichneten den Weg, den wir gekommen waren, und
ebensoviele Gefallene des Feindes zeigten uns den Weg, den wir noch
zu gehen hatten. Etwa einen halben Li vor dem Fort blieben wir in
Deckung liegen. Unteroffizier Niu, der am äussersten linken Flügel
gefochten hatte, kam zu mir heran. Er blutete an der Wange. Trotzdem
war sein Mut ungebeugt. Wir berieten beide, was nun weiter zu tun
wäre. Sollten wir die Schmach auf uns nehmen, von unsern Brüdern, mit
denen wir gemeinsam kämpfen wollten, angegriffen und geschlagen worden
zu sein, oder sollten wir Rache nehmen? Rache nehmen hiess aber, für
Yüan Schih kai gegen die Festung Sturm laufen. Wir entschieden uns
für Letzteres, denn wir sagten uns, dass Ehre und Reichtum gewiss war,
wenn wir die Befestigungswerke für die Nordregierung nehmen würden.
Ein Kamerad, der früher bei der Artillerie stand, sagte, am Besten
wäre es, die nach dem Huangpu liegende Seite des Forts anzugreifen, wo
kleinere Geschütze standen; sobald wir auf den Wällen wären, wollte
er den übrigen Teil des Forts mit den Geschützen beschiessen. Das war
ein Gedanke, dem Niu und ich sofort zustimmten. Niu kroch nach dem
linken Flügel zurück und gab den Leuten kund, dass sofort Befehl zum
Angriff gegeben werde; das Ziel sei die Eingangspforte in der Nähe des
Teiches. Kaum war Niu an seinem Flügel angelangt, so machte er mit
seinen Untergebnen, etwa achtzig Mann, eine Schwenkung, sodass sein Zug
halbrechts gegen den Huangpu lag. Im Fort wurde die Bewegung bemerkt,
und so bekam sein Zug heftiges Feuer. Nun ging es im Sturmschritt vor.
Hie und da stürzte Einer von uns. Wir kamen aber dem Fort immer näher.
Deutlich konnten wir die feindlichen Schützen auf der Umfassungsmauer
sehen. Wir feuerten, sprangen vor, suchten neue Deckung und feuerten
weiter, das Auge immer auf den östlichen Teil der Forts gerichtet.
Dreihundert Meter -- zweihundertfünfzig -- zweih --. Da plötzlich
ertönte ein furchtbarer Schrei vom linken Flügel. Wir sahen nach links
und bemerkten zugleich, wie aus den Toren der Forts sich feindliche
Truppen ergossen und sich wie ein Heuschreckenschwarm über das Gelände
verbreiteten. Unsere Leute hatten bald die sich nahende Uebermacht
bemerkt und begannen zu flüchten. Es war kein Halten mehr; in wirrem
Durcheinander strömte der Rest unserer Truppen dem roten Backsteinbau
zu, wo unser Quartier lag. Viele rissen sich die Patronengürtel vom
Leib und warfen die Waffen fort, um schneller laufen zu können. Wie
flüchtendes Wild vor dem Jäger sauste Alles über die Felder. Geschosse
aus Geschützen und Gewehren schlugen in unsere Reihen und manch wildem
Lauf wurde ein frühes Ziel gesetzt. Etwa achtzig Mann erreichten das
Quartier. Niu, der sich trotz seiner Wunde immer noch tapfer hielt,
befahl, zwei Maschinengewehre an den Eingang zu stellen. Sie konnten
jedoch nicht in Aktion treten, weil uns der Feind von der Nordseite her
angriff. Unser Führer Tai Hsing und seine Unterführer liefen aufgeregt
durch Gänge und Höfe und wussten keinen Rat. Auch wir Soldaten
wussten nicht, was wir tun sollten; wir fühlten nur, dass unsere
Widerstandskraft gebrochen war.

Ich wollte gerade in der Stube meine Sachen holen, da stürzten schon
die Angreifer über Mauer und durch die Hinterpforte und zugleich schlug
eine Granate in den hintern Teil des Gebäudes, das in Flammen aufging.
Ich kletterte an einer Bambusstange die Südmauer hinauf, sprang auf
der anderen Seite hinab und durchschwamm den Wassergraben. Ich blieb
bis zum Oberkörper im Wasser und versteckte meinen Kopf zwischen
Ufergebüsch. Aus dem Hof drang furchtbares Schreien und Schlagen,
als ob mit dem Gewehrkolben auf Holz geschlagen würde. Nach einer
Weile kroch ich aus meinem Versteck und wollte zwischen Reisfeldern
das Weite suchen, als mich ein Schwarm der Angreifer entdeckte und
mich zum Gefangenen machte. Ich wurde nach dem Hof unseres Quartiers
gebracht, wo eine grosse Zahl meiner Kameraden von feindlichen Soldaten
bewacht wurden. Auch Tai Hsing und seine Unterführer waren unter den
Gefangenen. Unteroffizier Niu bemerkte ich nicht. Wir wurden unter
scharfer Bewachung nach dem Fort gebracht, wo der Kommandant Kü Tscheng
und seine Offiziere ein scharfes Verhör anstellten. Wir glaubten alle,
dass wir erschossen werden sollten, zuerst wurde unser Führer Tai Hsing
verhört. Kü Tscheng liess ihn vortreten und sprach zu ihm: „Du bist
einmal einer meiner heissgeliebten Brüder gewesen, der für die gerechte
Sache kämpfen wollte. Du bist aber ein Verräter geworden, der den Tod
verdient.“ Kü Tscheng gab Befehl, den Gefangenen wegzuführen; Tai wurde
am nächsten Morgen erschossen. Mit ihm noch einige Unterführer, mit
Ausnahme Yings, der in die Dienste Kü Chengs trat. Von den Soldaten
wurde keiner erschossen. Einige blieben im Fort, um bei Kü Tscheng
Kriegsdienste zu tun. Die Uebrigen erhielten vier Dollar und durften
gehen, wohin sie wollten.

Ich kehrte mit einigen Kameraden nach Schanghai zurück. Wir wollten Liu
Fu piao suchen, der uns noch Entlassungsgeld zahlen sollte. Im Tai yang
Tempel in Chapei fanden wir ihn. Dort kamen auch in den nächsten Tagen
noch viele geflüchtete Kameraden, sodass wir im Ganzen zweihundert
Mann waren. Viele von uns sahen mager aus und trugen zerrissene
Zivilröcke. Liu Fu piao sorgte für unsern Unterhalt; er geizte aber mit
den Ausgaben, so dass wir immer halbhungrig waren. Wir sagten ihm, er
solle uns endlich ablöhnen. Einige von uns hatten eine Zusammenkunft
in einem Hotel in der französischen Niederlassung und beratschlagten,
was sie nach ihrer Entlassung tun sollten. Sie beschlossen, eine
Eingabe an den Tutu von Kiangsu, Tschen Teh tschuan, zu machen, worin
sie ihn bitten wollten, sie in seine Dienste zu nehmen. Was daraus
geworden ist, weiss ich nicht. Endlich erhielten wir unsern letzten
Sold. Am Nachmittag wurde ein Handkarren mit zwei Kisten ins Lager
gefahren, die Silberstücke enthielten. Liu Fu piao liess uns dann durch
seinen Zahlmeister je sieben Silberdollar bezahlen. Sie waren ganz neu
und noch nicht gebraucht. Auf dem Geld stand: „Dollar der Ta Tsing
Dynastie“ in chinesisch und mandschurisch. Merkwürdig: wir einstigen
Revolutionäre wurden mit dem Geld des Kaisers aus dem Dienst entlassen.
Jeder erhielt eine Bescheinigung, dass er unter Liu Fu piao bei den
„Kan sze tui“ gedient hatte. Liu ging am nächsten Tage nach Su tschou.

Das ist meine Lebensgeschichte.

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                                   *

Der Leser wird vielleicht enttäuscht sein, wenn er den Erinnerungen
eines chinesischen Revolutionärs bis hierher gefolgt ist. Er hat sicher
erwartet, dass darin von Verschwörungen, Bomben und Begeisterung
berichtet werde, besonders weil Wang Fei ting der „gefürchteten“
zum „Tode bereiten Truppe“ (die Engländer sagen „dare to dies“)
angehörte, von deren Tapferkeit und revolutionärer Begeisterung in der
chinesischen und englisch-amerikanischen Presse nicht genug Rühmens
gemacht werden konnte. Liu Fu piao wird sich über die ungewollte
Pressreklame oft ins Fäustchen gelacht haben, denn sie hat sicher
dazu beigetragen, dass er den Verkauf seiner Truppe an die Pekinger
Regierung unter den günstigsten Bedingungen hat durchsetzen können.
Geschichtlich ist die Feststellung interessant, dass die „Kan sze
tui“ Truppen in dem Augenblick, wo sie von ihrem neuen Führer Tai
Hsing in Nan tao im Empfang genommen wurden, schon ohne ihr Wissen an
die Nordregierung verkauft waren. Die Verführten und Betörten sind
natürlich die Söldner gewesen. Solange sie bezahlt werden und genug zu
essen haben, kämpfen sie für jede Sache. Hunderte sind um des Geldes
und des täglichen Reises willen auf dem Schlachtfeld geblieben; ihnen
flicht die Nachwelt keine Kränze. Die Erinnerungen des Revolutionärs
bergen eine ernste Lehre für die chinesische Regierung. Vor einigen
Jahren zitterten die Behörden vor der „Studentengefahr“, da sie
glaubten, dass in den Köpfen jugendlicher Heisssporne der Umsturz
geboren werde; sie liessen aber dabei die „Soldatengefahr“ ausser Acht,
die erst die Theorien politischer Wolkenkukuksheimer wirksam machen
konnte, und die aus den Kreisen heraus entstehen musste, die infolge
der sozialen Verhältnisse nach einer bessern Lebensversorgung drängten.
Erst das Geld, dann die Gesinnung war das Schlagwort dieser Kreise;
dass es mitunter zum Siege führen kann, hat die Wu-tschanger Revolution
des Jahres 1911 gezeigt. Solange China Hunderttausende junge Menschen
hat, die auf die Gefahr des Totschiessens hin jedem Demagogen folgen,
der ihnen Geld und Reis zu bieten vermag, schwebt über jeder Regierung
in Peking, sei sie republikanisch oder monarchisch, das Damoklesschwert
einer Revolution.

[Illustration]



Schanghai und China.


Die paar tausend Westländer, die die Ufer des Huangpu und die
grünen Baumränder des Stadtgürtels bevölkern, sind mitten unter den
Hunderttausenden von Chinesen die Fiebererreger der Arbeit. Was
wäre Schanghai ohne die Ausländer? Dschunkenhafen wie viele andere
an der Küste; vielleicht etwas sittlich gesünder und nüchterner als
das jetzige Schanghai, aber ohne das belebende Kapital. Das haben
erst die Ausländer hereingebracht; wie aus einem goldnen Füllhorn
wurde es über die Stadt ausgeschüttet. Das sumpfige, wertlose
Gelände, angeschwemmt von verschlickten Flüssen, das man vor sechs
Jahrzehnten für ein paar Dollar hätte kaufen können, hat heute einen
Wert von Millionen. Eng aneinander gepfercht liegen die fremden
Geschäftshäuser, ineinander verbissen; keins kann dem andern Raum
geben. Dazwischen schieben sich überall chinesische Häuser herein,
mit dumpfen, sonnenlosen Räumen. Jeder Zoll kostet Geld. Drunten
von Wusung bis viele Meilen flussaufwärts reihen sich die surrenden
Getriebe der Fabriken und wie Dürstende drängen sie sich an den Ufern
des Suchouer Krieks, der ihnen den Verkehr auf dem Wasser ermöglicht;
ihr Räderwerk steht nie still. Weissflockige Baumwolle, von zarten
Mädchenhänden entkernt, wird zu glänzenden Geweben gesponnen und
gefärbt; Zigarren in Form und Zigaretten in Hülsen gebracht; aus
gelben Bohnen, von der Mandschurei geliefert, wird goldbraunes Oel
gepresst, Getreide zu blendend weissem Mehl gemahlen; Eisen und Stahl
wird geschmiedet und gegossen und aus Hopfen und Malz deutsches
Gebräu hergestellt; unzählige kleingewerbliche Betriebe gewähren
Tausenden Verdienst. Ein auf- und abwogendes Leben herrscht in den
Strassen, wo Tausende von Läden den stillen Kampf um den Kunden
führen. Kunstgewerbliche Erzeugnisse aus den achtzehn Provinzen sind
in den Auslagen vertreten. Riesige Lagerschuppen erheben sich in
meilenweiter Ausdehnung am Fluss, empfangen fremde Güter aus tiefem
Schiffsrumpf und stossen sie von Zeit zu Zeit automatisch wieder
ab. Der fremde Kaufmann im Geschäftshaus füllt täglich Seiten mit
schwindelerregenden Zahlen, wirft mit Hunderttausenden um sich, die
sich bei der kleinsten Kursschwankung vermehren und verringern können,
ist Mehrer der vierteljährigen Zollstatistik und sieht in seinem Leben
kein Stück der Waren, die ohne Fährnisse an ihren Bestimmungsort
gelangen. Alles wickelt sich so sicher und taktmässig ab, wie ein
gleichmässig abgestimmtes Uhrwerk. Für viele Millionen Mark Waren
bringen die paar tausend Westländer jährlich herein; trotzdem sind
sie nur ein Tropfen auf das unermessliche Absatzgebiet. Der Kaufmann
glaubt zu herrschen; doch er wird beherrscht. Beherrscht von all
den subtilen Aeusserungen auf dem riesigen Weltmarkt. Wenn heute in
Kanada die Ernte missrät, der indische Monsun früher einsetzt als
gewöhnlich, in Manchester die Arbeiter streiken, ein europäisches
Bankhaus verkracht, ein Balkanstaat Kriegsdrohungen ausstösst, so
äussert sich das mehr oder minder merklich auf dem hiesigen Markt.
Weniger von diesen Einflüssen abhängig ist der chinesische Markt.
Wie ein Kettenglied greift das Kapital eines Geschäftsunternehmens
in das andere über; ebenso wie das kollektivistische Chinesentum dem
individualistischen Westländertum, so steht hier das kapitalistische
chinesische Unternehmertum dem westländischen Einzelunternehmer
gegenüber. Hier Stärke, die sich auf sich selbst verlässt, und von
Mächtigeren niedergerungen werden kann, dort vereinigte Schwäche, die
sich schon mehr als einmal als das Stärkere erwiesen hat. Die Erfahrung
lehrt aber, dass immer dann ein chinesisches Unternehmen zu Grunde
ging, wenn es, beeinflusst von individualistischen westländischen
Geschäftsgebahren, aus dem Rahmen seiner mächtigen Organisation,
dem verkapitalisierten Chinesentum, trat. Es wurde ein Opfer des
europäischen Individualismus, für den China noch nicht reif ist. Das
ist in den letzten Jahren häufig in Schanghai geschehen, zum Beispiel
bei den wilden Gummispekulationen, und die Folge sehen wir in dem
unbeständigen chinesischen Geldmarkt, der vorübergehend seiner innern
Stärke beraubt, mit Allerweltspflästerchen von Zeit zu Zeit verklebt
werden muss. Schanghai ist eine Weltstadt. Das beweist auch sein
vielhunderttausendköpfiger Menschenschwarm, der sich Tags über durch
die Strassen schiebt und die engen Grosstadtwohnungen bevölkert. Aus
allen Provinzen des Reichs stammen die Bewohner. Nach altem Brauch, der
zugleich ein treffender Beweis für das starkentwickelte Heimatsgefühl
des Chinesen ist, ist das Herkunftsland für jeden Chinesen stets die
Provinz, in der zuletzt sein Urgrossvater ansässig gewesen ist. Wenn
somit eine Familie vor drei Generationen von Schantung nach Schanghai
ausgewandert ist und sich seit dem in Schanghai niedergelassen hat,
so fühlen sich die hier geborenen Urenkel noch als Schantunger. Im
Hinblick auf die Tatsache, dass ein grosser Teil der chinesischen
Bevölkerung Schanghais aus allen achtzehn Provinzen stammt, und der
grösste Zuwachs erst seit den letzten drei Jahrzehnten stattgefunden
hat, wird demnach Schanghai von Leuten bewohnt, die rein äusserlich
die Bevölkerung Schanghais ausmachen, sich im Herzen aber gar nicht
als Schanghaier fühlen. In den Stamm der Bevölkerung Schanghais,
die sich vor sechs oder sieben Jahrzehnten aus Bauern und Schiffern
zusammensetzten, brachten die regsamen Chekianger, in denen heute
noch zum Teil etwas von der Regsamkeit der geschäftstüchtigen Araber
steckt, die in Hang tschou und Ningpo stark bevölkerte Ansiedlungen
besassen, den geschäftigen Geist, und den Blick für das Grosse die
Leute aus dem fernen Schansi. Die trefflich organisierten Banken der
Schansier haben heute noch einen grossen Ruf innerhalb der chinesischen
Welt. Die Leute aus Anhui begünstigten die Leichtlebigkeit; denn
merkürdiger Weise stammen alle Pfandhausinhaber in Schanghai aus
der Provinz Anhui. Und ausser aus diesen drei Provinzen haben noch
Einflüsse aus den fünfzehn andern und nicht zum Geringsten aus dem
Ausland mitgewirkt, um im Schanghaier einen neuen chinesischen
Typ auszuprägen. Er hat, zur Masse vereinigt, eine gewaltige
Assimilierungskraft, der jeder andere Chinese, dessen Wiege nicht in
Schanghai gestanden hat, zum Opfer fällt. Ein chinesisches Sprichwort
sagt: „Wenn man ein Stück weisses Tuch in Indigo wirft, so wird
es blau“. Nun, Schanghai ist der riesige Indigotopf. Und wer als
Einzelner hineingerissen wird, der nimmt die Farbe der Allgemeinheit
an. Und wenn er nach seiner Heimatprovinz zurückkehrt, so steht er
mit seiner in Schanghai erlernten Weltanschauung fremd am eigenen
Herd. Denn es ist eine ganz eigenartige, berückende Luft, die hier
in Schanghai weht, eine sinnbetörende Atmosphäre die der Atem der
Weltstadt verbreitet. Das gilt für das Wirtschaftsleben, dem man
nüchternen Auges gegenüberstehen soll, vielleicht weniger, als für
das politische und gesellschaftliche Leben. Für Letzteres aber ist
Schanghai der tonangebende Platz des Reichs geworden. In engen,
verkehrsdurchwogten Gassen liegen die Hauptquartiere der politischen
Parteien. Eine Botschaft durch den Draht gibt den Parteimitgliedern
bei der Pekinger Regierung die Weise an, nach der sie zu tanzen haben.
In Schanghai wohnen die unsichtbaren Machthaber Chinas. Was sie nicht
denken, spricht die ihnen nahestehende Presse aus; was sie denken,
verschweigt sie. Keine andere Stadt in China hat ein äusserlich so
entwickeltes Zeitungswesen wie Schanghai. Innerlich steht es auf
derselben Stufe, wenn nicht auf niedrigerer, als vor einem Jahrfünft.
Nachrichten wie folgende: „Eine ehrsame Witwe genas eines Fuchses“,
sind zwar in Folge der „aufgeklärten Zeit“ aus den Spalten der Blätter
verschwunden, früher aber häufig vorgekommen. Die Redakteure der
chinesischen Blätter stehen nicht im besten Ruf. Das kommt daher, dass
die Arbeitszeit von sechs Uhr Abends bis zwölf Uhr Nachts dauert und
dass ein einmal „angebrochener Nachmittag“ glücklich zu Ende geführt
werden muss. Die wenig sittliche Kraft der Redakteure zeigt sich auch
im Inhalt der Zeitungen, an denen sie arbeiten. Es vergeht kein Tag,
wo den Lesern nicht irgend eine illustrierte Geschichte aufgetischt
wird, deren Heldinnen Freudenmädchen sind. Anstatt Erzieher des Volks
zu sein, sind die Schanghaier Blätter Verderber des Volks. Wenn
irgendwo Politik den Charakter verdirbt, so geschieht es in Schanghai.
Denn eine Anzahl Blätter blasen politische Zukunftsmusik, die gar
lieblich das Ohr der verständnislosen Leser umfächelt. Proletariat,
Prassertum und freie Liebe ist ein gern gehörter Kehrreim. Was in den
politischen Vereinigungen, deren es in Schanghai über zweihundert geben
soll, über Politik gefaselt wird, lässt sich gar nicht beschreiben.
Meist liest es nur eine geringe Anzahl. Manchmal dringt aber auch
etwas in weitere Kreise. Eine Frau gründet einen sozialen Frauenklub.
Sie selbst ist der Vorstand und hat ihren Mann zum Schatzmeister
ernannt. Dieser kassiert die Mitgliedsgelder ein, sagt „Mein Name ist
Schall und Rauch“ und verflüchtigt sich. Diese Vereinsgründung ist
ein Beweis, dass auch unter der Schanghaier Frauenwelt politisches
Leben seinen Einzug hält. Dieses Mal kommt alles Heil von Canton, das
sich brüsten kann, drei Frauen in seinem Landtag zu haben, die mit
süssen Stimmchen über die Geschicke Kuangtungs entscheiden helfen.
Chinesische Frauenrechtlerinnen sind ein bestimmter Typ. Der weibliche
Typ des „zurückgekehrten Amerikastudenten.“ Anstatt als werdende
Hausfrauen eifrig Küchenchemie zu treiben, haben sie Bombenchemie
getrieben, die ihnen während des Aufstands gute Dienste geleistet hat.
Wie andere Beteiligte an der Revolution verlangen auch sie für ihre
Dienste eine Gegenleistung, und die besteht lediglich darin, dass den
paar Millionen chinesischen Frauen politisches Stimmrecht verliehen
wird. Die Regierung hat abgewinkt. Nun, so versuchen die Eiferinnen
in zäher Arbeit ihr Ziel zu erreichen. Mit der Gründung einer Schule
für angehende Frauenrechtlerinnen ist in einem Wetterwinkel Schanghais
bereits begonnen worden. In Wort und Schrift wird für den neuen
Frauengedanken Propaganda gemacht. Der Anschluss an englische und
amerikanische Vereinigungen, die dem gleichen Ziel zustreben, (das
heisst, mitunter einmal Fenster einschlagen oder einen hohen Beamten
durch Johlen zur eiligen Flucht zwingen, ist auch schon in China
vorgekommen) ist bereits gelungen. Ja, Schanghai ist eine Weltstadt.

[Illustration: Modernes chinesisches Geschäftshaus in der Nanking Road.]

[Illustration: Offene alte Läden in der Nanking Road.]

[Illustration: Ansicht eines Silbergeschäfts mit reichem Schnitzwerk in
der Nanking Road.]

                           *               *
                                   *

Ein Unbekannter, der einen flüchtigen Tag in Schanghai verbrachte,
schrieb am 2ten April 1908 in sein von der „Neuen Rundschau“
veröffentlichtes Reisetagebuch: „Ueber den Menschen liegt die
Stumpfheit der Kulturferne. Nur materielle Kultur ist da, und man
fühlt recht, wie wenig sie bedeutet. Für den Chinesen ist sie eine
ungünstige Folie. Er scheint, an ihr gemessen, plump und unzugänglich.
Andererseits wirkt er in diesem seelenlosen Milieu selber noch
nüchterner und trockener.“ Der Mann, der das schrieb, hat beim Betreten
der Weltstadt Schanghai nicht nach Art der flüchtigen Weltenbummler
das Protzig-Aeusserliche, durch westländische Zivilisationsmittel
Geschaffene auf sich einwirken lassen, sondern hat mit einem offenbaren
Sinn für das Psychologische ausgestattet, nach der Seele der Weltstadt
gesucht, wie er sie wohl in jeder grossen Stadt des europäischen
Festlands zu entdecken gewohnt war. In Schanghai hat er die Seele
nicht gefunden, und er musste die Feststellung machen, dass es
seelenlos, das heisst kulturlos, ist. Ihrer ganzen Entwicklung nach
musste auch Schanghai zur steten Kulturlosigkeit verdammt werden, und
alle Versuche, ihm eine Seele einzuhauchen, müssen scheitern, weil
noch der Meister fehlt, dem das gelingen könnte. Schanghai ist das
nackte Produkt eines krassen Materialismus, dem alle Ansätze zu einer
veredelnden Weiterbildung fehlen. Handel- und Schachergeist hat die
Weltstadt erbaut, von Handel- und Schachergeist wird sie beherrscht.
Aufgezwungene Verträge, unter drohenden englischen Kanonenschlünden
unterschrieben, schufen den Grund und Boden, auf dem sie steht. Ganze
Strassen gehören satten Kapitalisten, deren Söhne von den Erträgen
leben, die die fetten Häusermieten abwerfen. Es waren nicht die
edelsten Vertreter des Westens und des Chinesentums, in deren Schweiss
die Weltstadt entstanden ist. In den sechziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts war China das Land des europäischen Abenteurers, der
besonders durch den Taipingaufstand angelockt, Schanghai zum Stützpunkt
seiner Unternehmungen machte; die politische Konquistadorenpolitik
zerschellte an dem passiven Widerstand des Chinesentums. Desto
nachdrücklicher war die wirtschaftliche Konquistadorenpolitik.
Englische Lebensinteressen erforderten es, dem indischen Opium ein
Absatzgebiet zu schaffen. Durch den Rachen Schanghais wurde das
berauschende Gift ins Land geschüttet, das seinerseits hergab, was
der Acker trug. Der mit den Landesverhältnissen unkundige Kaufmann
brauchte einen Vermittler, den Compradore, der, sich durch den
Zwischenhandel rasch bereichernd, zu einer neuen Gesellschaftsklasse
auswuchs, die allmählich zur herrschenden Klasse geworden ist. Sie ist
ebenso wie die Weltstadt Schanghai durch und durch materialistisch.
Schanghai speicherte immer Reichtum in seinen Mauern auf und brachte
andere Handelsstädte an der Küste unter seine wirtschaftliche
Vasallenschaft. Schon regte sich unter der Jugend das Bedürfnis nach
westländischer Bildung. So entstanden Schulen, in denen der Junge
lernte, wie man rasch Geld verdienen konnte. Der Kontordiener der Tags
über mechanisch mit der Presse Briefe kopierte, liess sich Abends in
die Geheimnisse der englischen Sprache einweihen, mit der sich so
leicht Geschäfte machen liessen. Vielleicht bin ich in einigen Jahren
ein gebietender Handelsherr, dachte er. Vielen war das Glück hold.
Zwei brachten es sogar zum Minister. Es waren auch nicht die besten
Vertreter des Chinesentums, die sich in den Gründerjahren in Schanghai
zusammenfanden. Flüchtlinge aus dem Taipingaufstand, Verbrecher,
bankrotte Kaufleute, alle möglichen verkrachten Existenzen, sammelten
sich im Bereich der schützenden Niederlassungsgrenze. So wuchs
Schanghai allmählich heran; ein Schreckbild und warnendes Beispiel für
jeden wahren Chinesen.

Und was ist Schanghai heute? Aeusserlich ist es ins Weite gewachsen
und nennt alle Mittel westländischer Zivilisation sein eigen,
einschliesslich des Luftfahrzeuges, das schon über die Dächer surrte.
Doch die Menschen sind dieselben geblieben. Für Jeden, der durch
den Tod abberufen wurde oder mit prallem Geldbeutel in die Heimat
zurückkehrt, springen drei neue ein, die in derselben Weise des Glück
erjagen wollen. Beinahe genau in denselben Bahnen, wie vor fünfzig
Jahren, bewegt sich das Verhältnis zwischen Westländer und Chinesen.
Die, die durch gemeinsame Interessen, das heisst das Geldverdienen,
miteinander verknüpft sind, leben im besten Einvernehmen; es ist ein
künstlich gezwungenes Einvernehmen, das jede Partei erhalten zu sehen
wünscht, weil es zum beiderseitigen Vorteil gereicht. Von irgend einem
tiefern, gegenseitigen Verständnis, einem sich anbahnenden „Sich
verstehen wollen“ ist keine Spur vorhanden. Unüberbrückbar ist die
Kluft zwischen dem Westländertum und der breiten Bevölkerungsmasse.
Pharisäischer Rassenhochmut des Westländers und verhaltener Hass der
Masse gegen den erobernden Eindringling sind Extreme, die sich nie
berühren, sondern die nur noch weiter auseinanderklaffen können.
Vor fünfzig Jahren, als sich der Westländer wirklich auf die Macht
seiner Kanonen stützen konnte und als noch die chinesische Masse
ihre ganze Ohnmacht fühlte, da war die herrschende Stellung des
Westländers bedroht. Fünfzig Jahre bedeuten aber für Chinesen, deren
Zahlengedächtnis, wenn sie die Geschichte ihres Landes studieren
wollen, die Stufenleiter abwärts bis dreitausend vor Christus
zurückgehen muss, nur eine Tag- und Nachtspanne. Und wie leicht kann
er sich Dessen erinnern, was erst gestern geschehen war. Noch leben
achtzigjährige Greise in Schanghai, die ihren Enkeln erzählen können,
wie damals die Westländer die gesegneten Fluren zertrampelt haben
und wie sie jedem, der sich nicht scheu duckte, die starke Faust des
Eroberers fühlen liessen. In Büchern und Schriften sind die Sünden
der Westländer aufgezeichnet, und nie wird ihnen dereinst grossmütig
Absolution gegeben werden. Nein, die Nachkommen müssen fühlen, was
ihre Vorfahren im Unverstand getan haben. Hat Schanghai nicht oft
genug elementare Ausbrüche der Volkswut erlebt? Haben die Jahre 1905,
1908 und 1910 nicht Explosionen eines Volksempfindens gebracht,
das den Westländern übel will? Die Revolution hat dieses Empfinden
geschärft. Genau in dem Masse wie sich in den Kreisen der Jungchinesen
ein bis zur äussersten Empfindlichkeit gesteigertes Nationalgefühl
herausgebildet hat, das gegen jeden vermeintlichen Uebergriff der
Westländer in chinesische Hoheitsrechte geschlossen Front macht, ist
auch das Massenempfinden auf diese Abwehr eingestellt. Und dieses
Empfinden ist aus den Verhältnissen der chinesischen Weltstadt
geboren worden; es ist, wie die Stadt selbst, das Erzeugnis einer
kalten, materialistischen Kultur, die zwar Westländer und Chinesen
im wirtschaftlichen Wettbewerb nebeneinander arbeiten lässt, die
aber fast jede, vom Wunsch einer gegenseitigen geistig-kulturellen
Annäherung getragene Absicht bisher vereitelt hat. Das ist eben
der Fluch der Kulturlosigkeit, der auf Schanghai lastet. In der
fortwährenden Anhäufung materieller Werte ist die Prägung geistiger
Werte unterlassen worden. Schanghai ist der missglückteste Versuch
einer westländisch-chinesischen Annäherung.

Die Geschichte lehrt, dass Weltstädte infolge der Fäden, die sie
mit aller möglichen Herren Länder verknüpften, vielfach als Präger
neuer Kulturen auftraten. Man braucht hierbei nur an die Riesenstädte
Niniveh, Babylon, Theben, Memphis zu denken, die mittelbar die
Mittelmeerkultur geschaffen hatte. Ist dem kulturlosen Schanghai eine
ähnliche Rolle in Zukunft für das gewaltige chinesische Festland
vorbehalten? Canton, das vor der Revolution als Ausgangspunkt einer
neuen chinesischen „Kultur“ in Frage kommen konnte, musste die Führung
schon an Schanghai abtreten, das nach allen Teilen des Reiches enge
Verbindungen unterhaltend, der günstigste Platz für ein solches
Unternehmen ist. Seine Presse trägt die Schanghaier Anschauungen weit
in das Land hinein und lockert den Boden im Volk. In dem Augenblick,
wo ganz China dem westländischen Unternehmungsgeist geöffnet ist, gibt
es kein Halten mehr. Was dann geschehen wird, ist ein Zukunftsbild,
und doch glaubt man es schon im Spiegel zu erschauen, wenn man auf
Schanghai blickt. Schanghai ist das Spiegelbild des künftigen China.
Neue Grosstädte werden wie berückende Sumpfblumen über Nacht entstehen
und sich durch dieselbe Kulturlosigkeit auszeichnen wie ihr Vorbild;
kleinere Städte und Dörfer werden sich anschliessen. Alles Schöne und
Edle, was die chinesische Kultur zu geben hat, wird hinweggefegt, und
das Gemeine und Hässliche, was der westländischen Kultur anhaftet,
wird siegreich vordringen, während ihre edlen Bestandteile erdrückt
werden. Chinesischer und westländischer Materialismus werden sich
wieder die Hand zum fröhlichen Bunde reichen. Das wird ein Arbeiten
ohne Feiern. Denn wie berückend muss doch das Gefühl sein, nicht einer
einzelnen Stadt, sondern allmählich einem tausendjährigen Kulturreich
den Stempel der Kulturlosigkeit aufzudrücken.

[Illustration]



Nächtliche Stromfahrt.


Das Boot wird mit langen Bambusstangen durch den schokoladenfarbenen
Suchouer Kriek gestochen. Es ist ein schmuckes Hausboot. Sein Inneres
ist peinlich sauber, deutsch anheimelnd. Fast könnte man glauben,
man sässe in einem schlicht geschmackvollen Junggesellenzimmer.
Heimatbilder zieren die niederen Wände, von empfindender Künstlerhand
aufgehängt. Am Bug, der sich allmählich in die Strömung des Huangpu
hineintastet, stehen Liegestühle bereit, darin man wohlig seine Glieder
reckt.

Noch liegt die Dämmerung hinter dem hellen Tageshimmel versteckt. Dem
Auge nicht sichtbar kämpft sie um Durchbruch.

Zur Rechten atmet die „Lunge Schanghais“, der Stadtpark. Wie neu
und eigenartig wirkt das Treiben, vom Fluss gesehen. Auf sattgrünem
Hintergrund heben sich farbenfrohe Flecken ab, so willkürlich, als ob
ein Maler, erbost über das Misslingen eines Werkes, alle Farbentuben
auf der Leinwand ausgequetscht hätte. Obwohl man keine der auf- und
abwandernden Gestalten erkennen kann und das Gesamtbild in einem
wirren Farbenmeer gerinnt, braucht man nur für zwei Sekunden die
Augen zu schliessen und die Phantasie rekonstruiert naturgetreu
das Bild. Denn Jahr aus, Jahr ein ist man ja selbst ein wanderndes
Pünktchen im Farbenmeer; die Gewöhnung hat Einen gar vertraut mit
den spazierengehenden Menschen gemacht; Manche hat man bis in die
winzigen Gesichtsrillen studiert. Und doch geht man täglich an sich
vorbei. Unbekannt und doch bekannt. Ab und zu zuckt unwillkürlich
die Hand zum Gruss. Doch auf halber Höhe erstarrt sie, weil der
Verstand sagt: „Mensch, du bist ja gar nicht vorgestellt.“ Trotzdem
beherrscht ein instinktives Gefühl der Zusammengehörigkeit die Masse
der Spaziergänger; sie fühlt sich als europäisches Einsprengsel mitten
in dem brandenden chinesischen Völkerkessel, und sie weiss, dass
es, wenn sie sich zersplittert und von dem Sauerteig chinesischer
Assimilierungskraft verschlungen wird, keine Rettung gibt. Das wäre
nicht zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte. Und was noch
das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkt, das ist die Musik, die aus
dem Tempel ertönt und von deren schmeichelnden Weisen gewiegt, die
Menge auf- und abwandert. Sie ersetzt Manchen während der heissen
Sommermonate die Sehnsucht nach frischer Luft, an der Schanghai so arm
ist, und die Berge, die ihm so ganz fehlen. Sie reizt seine Phantasie
an, entrückt ihn vom dem Sumpfboden, auf dem Schanghai steht, entführt
ihn in Gärten voll duftender Blumen und lässt ihn alle Erdenschwere
abstreifen. Dafür soll Euch immerdar gedankt sein, ihr Musiker. Heute
blast ihr zwar gegen den Wind, und der ist so ungnädig, dass er nur
stossweise die Tonwellen zu unserm Boot herüber wirft. So hören wir
nur in abgehacktem Rhythmus die Weise aus dem ewig jungen Grafen von
Luxemburg.

Jetzt siegt allmählich die Dämmerung. Mit ockergelben Wangen lugt
sie hinter den Zinnen der arbeitsreichen Stadt hervor. Im Norden
würde man sich vor einer solchen Farbe in einen wettersichern Winkel
verkriechen. Denn dort kündet sie den gefürchteten Staubsturm an. Hier
leuchtet sie nur zur Augenweide des Sentimentalen. Und je aufmerksamer
man hinschaut, desto mehr bemerkt man, wie sich die Wangen rötlich
tönen, erst orangefarben werden, dann rot und dunkelrot. Und die
Wangen erhalten eine geheimnisvolle Leuchtkraft, die aus sich selbst
heraus wächst. Drüben, am Putunger Ufer erglühen die Glasfenster der
stampfenden Fabrik wie Feuer. In die Abendröte getaucht stöhnt das
kleine Hangchouer Dampfboot flussauf; es schleppt hinter sich fünf
maschinenlose Passagierboote. Wie flinke Geier stürzen sich von allen
Seiten kleine Sampans auf den Schleppzug, die Bootshaken werden in die
Bordwand eingekrallt, und die Sampanführer machen vergnügte Gesichter,
dass sie ohne Anstrengung ein Stück stromauf geschleppt werden. Fünf
Meter hinter dem letzten Schleppboot prescht noch ein Sampan gegen
den Strom; auch er möchte ein Stückchen mühelose Fahrt machen. Eine
stattliche Frauengestalt mit umschlungenem Kopftuch steht am Ruder, das
sie mit Leibeskräften vorwärts schraubt. Das Glück ist ihr hold; sie
kann ihr Fahrzeug festmachen. Erschöpft lässt sich die Frau auf der
Bootsbank nieder und stösst das erleichternde „Ajo“ aus. Bald hätte sie
den Anschluss verpasst.

Langsam fährt unser Boot stromauf. Das Hangchouer Schiff mit seinem
stattlichen Anhängsel ist schon ausser Sicht. Am englischen Stationär
vorbei, passieren wir zwei weissgelbe russische Torpedoboote mit
hochgebautem Vordersteven, ein graublaues deutsche Kriegsschiff,
einen typischen Amerikaner und einen Holländer, der mit seinen zwei
schwarzen Zylinderhüten auf gelben Schornsteinen so behäbig in der
braunen Schokoladensauce des Huangpu liegt, wie der selige Droogstoppel
zwischen seinen „Bruntjes“.

Das Abendrot ist gewichen. Schanghai ist in ein leichtes Grau gehüllt.
Scharf und kantig, wie aus dunkler Pappe geschnitten, hebt es sich vom
Huangpuufer ab und klebt gegen den Himmel. Kleine Pinassen wachsen
sich im Zwielicht zu grossen Dampfern aus und durchschwirren auf
letzter Fahrt den Strom. Verspätete Sampans durchkreuzen den Fluss.
Eigentümlich wirkt die Gestalt des Mannes am Ruder. Die Beleuchtung
erniedrigt den Starken zu einem übergrossen spindeldürren Wesen, das
wie eine vom Wind bewegte Vogelscheuche aussieht. Das Putunger Ufer
liegt in Dunkel gehüllt. Die riesigen Lagerschuppen muten wie eine
Hügellandschaft an, an der unser Boot entlang gleitet. Kein Fünkchen
Licht erhellt das Dunkel. Allmählich kommen wir in den Bereich der
chinesischen Stadt. Das Auge vermag das gegenüberliegende Ufer nicht
zu erreichen; denn der Blick ist von einem Wald von Masten gehemmt.
Hunderte von hochgebauten, seegehenden Dschunken liegen vor Anker.
Tiefe Stille herrscht auf ihren Decks; kein Wellenschlag setzt die
plumpen Schiffsrümpfe in Bewegung, deren Masten kerzengrade gegen
den Himmel starren. Bis nach Singapore und nördlich bis in die
Mandschurei und Korea fahren die Dschunken. Sind gefahren; denn
seit Monaten liegen sie hier und warten auf bessere Zeiten. Wie
selten lichtet einmal ein Boot den Anker und fährt flussab. Und wie
lange wird es noch dauern, da man dem chinesischen Schuljungen auf
Bildern zeigt, auf welch unbeholfenen Fahrzeugen die Eltern oder
Grosseltern ihre Güter befördern mussten. Jung China trägt sich mit
Plänen; mit grossen Plänen. In einigen Jahrzehnten wird China einen
Schiffspark haben, der ähnlich wie in Japan mit hohen staatlichen
Unterstützungsgeldern aufgepäppelt, auf dem Gebiet der chinesischen
Küstenschiffahrt und vielleicht auch der Weltschiffahrt gewaltige
Verschiebungen bringt. Schade, dass die Dschunke „Ningpo“, die ein
findiger Amerikaner den Schaulustigen auf der Ausstellung in San
Franzisko „in Freiheit dressiert“ vorzuführen beabsichtigte, nicht über
den „Stillen Teich“ kann. Das wäre doch ein Hauptvergnügen für Chinas
kommende Geschlechter, eine Reise nach „Frisko“ zu machen, um einmal
in Amerika zu sehen, wie früher eine chinesische Dschunke ausgesehen
hat! Andererseits wird aber auch die Zeit nicht mehr fern sein, wo
man sich als in China lebender Westländer in Erinnerung zurückzurufen
haben wird, wie eigentlich ein ausländischer Yangtsedampfer ausgesehen
hat. An diese Frage wurden wir erinnert, als unser Boot an der dunklen
Masse eines ausländischen Dampfers vorbeifuhr, der schon einige
Zeit an derselben Stelle vor Anker liegt, und sich noch immer nicht
entschliessen kann, seine regelmässigen Fahrten zwischen Schanghai
und Hankou wieder aufzunehmen. Der Wettbewerb auf dem Yangtse ist
hart. Und er wird noch bedeutend verschärft, wenn chinesische
Dampfergesellschaften ins Geschäft kommen. Das wird ein heisser Kampf
werden, der schliesslich zum Sieg der Chinesen führen muss. Deshalb tut
man gut, sich jeden ausländischen Yangtsedampfer genau zu betrachten,
damit man später seinen Enkeln erzählen kann, wie ein solches Schiff
ausgesehen hat. Dann wird man auch nicht umhin können, die Glanzzeiten
des Europäertums in China kurz zu streifen.

Noch eine halbe Stunde ging die Fahrt flussauf. Dann klirrt die
Ankerkette auf den Schlammgrund des Huangpu. Ein beschauliches
Plätzchen hatte der Bootsmann ausgesucht. Einsam schaukelt das Boot
auf dem Fluss. Ringsum liegt Alles im Ungewissen. Hundegebell und der
Klang von Menschenstimmen dringen hinter einer schwarzen Wand hervor,
die ebenso gut eine Baumgruppe wie eine Tempelanlage darstellen kann.
Halbrechts, ein Stückchen flussab, glimmen viele flackernde Lichter im
Dunkel, aus dem Fiedelklänge und Gelächter ertönen. Die Bevölkerung
feiert dort ein Fest. Ab und zu löst sich eine plump beleuchtende Masse
vom Ufer ab und steuert der Mitte des Stromes zu; es ist ein Boot,
an dessen Bug ein korbähnliches Drahtgeflecht angebracht ist, in dem
mit Silberpapier nachgeahmte Geldstücke in nie erlöschender Flamme
verbrannt werden, um die Seelen der im Fluss Ertrunkenen zu versöhnen.
Im Deckstuhl liegend, starrt man nach dem Himmel. Der ist in nimmer
ruhender Bewegung; es scheint, als ob flüssiges Gold und Silber über
tiefblauen Stahl riesele. Die Sternbilder der Lyra und des Aquila, in
denen der Chinese ein webendes Mädchen und einen Hirten verkörpert,
sind wieder getrennt. Nur einmal im Jahr, am siebten Tag des siebten
Monats, wenn die Weberin in den Bereich des Hirten kommt, dürfen sie
sich zärtlich umarmen; die übrige Zeit muss die Weberin getrennt von
ihrem Gatten leben. Viele chinesische Frauen und Jungfrauen richten an
dem jährlichen Vermählungstag der beiden sich liebenden Sternbilder
die Augen sehnsüchtig gen Himmel und erbitten das Glück, das ihnen das
Geschick bisher verwehrt hat.

Die Fahrt geht wieder flussab. Der schmutzige Huangpu hat etwas von
dem Silbergeschimmer angenommen, das vom Himmel strahlt. Der freche
Geselle rauscht sogar so verführerisch wie der Rhein. Weit hinten
leuchtet der Lichtkreis über Schanghai. Riesige Lichterketten, mitunter
so regelmässig wie ein glitzerndes Perlengehänge, zeigen dem Boot den
Weg. Aus der Ferne tönt das Stampfen und Atmen der Grossstadt, dieses
aus chinesisch westländischer Kulturnotzucht hervorgegangene Kind, in
dessen Zukunft man nicht blicken kann, wie es ebenso auch vergebens
ist, zu ahnen, was hinter dem Lichtermeer liegt, wenn man als Fremder
die Stadt noch nie betreten hat. Man sieht nichts; man vernimmt nur
den Rhythmus der Stadt. Und der prägt sich im Surren der Maschinen in
den Gewerkhäusern aus, die zu beiden Seiten des Flusses liegen. Noch
ist das Arbeitervolk willig und zufrieden. Blühende Mädchen arbeiten
für kargen Lohn in den Nachtstunden; russige Männer bedienen die
Maschinen, die auf ihren Wunsch laufen, aber auch stillstehen können.
Ja, stillstehen! Noch ist heute Streik vielfach ein ihnen unbekanntes
Wort. Es findet aber schon im chinesischen Wörterbuch Eingang. In
Versammlungen wird dunkel von einer sozialen Frage geredet, von
gleichem Recht für den Arbeiter, von politischem Zusammenschluss.
Wenn sich aber die Zeit erfüllet, dann wird Schanghai eine Hochburg
chinesischer sozialistischer Gedanken sein, Schanghai, das so viele
industrielle Betriebe aufweist, wie kaum das übrige China zusammen hat.
Und es wird die Zeit kommen, wo man in Schanghai ruft: „Sun Yi hsien,
die Arbeiterkolonnen grüssen Dich!“

[Illustration: Der „Bund“, die Uferstrasse.]

[Illustration: Teil der Foochow-Road.]

[Illustration: Die Gartenbrücke....(„.. an der Gartenbrücke machte das
Boot fest...“) S. 125.]

Es ist eine Nacht, so recht angetan zum Träumen. Leise schaukelt das
Boot flussab. Man hört kaum das regelmässige Wirken des Ruders. Jetzt
kommt unser Fahrtgenosse, setzt sich in Bereitschaftsstellung, und er
entlockt der Ziehharmonika frohe Weisen. Unter ihren Klängen geht es
dem Port zu. Im Vorübergehen wird dem deutschen Kreuzer ein Ständchen
dargebracht. „Holdrio, jetzt gehts zur Heimat“ wiegt die Mannschaften
in den Schlaf. Mehr als ein Kamerad wird seinen Nachbar angestossen
und mit schlafzwinkernden Augen gefragt haben: „Wat spüllt Der? Zur
Heimat? Also zu Muttern“. Und die Melodie wird noch Manchem in den
Ohren gesummt haben, als beim ersten Hahnenschrei das Kommando ertönte:
„Hängmatten zurr!“

Es ging wirklich zur Heimat. An der Gartenbrücke machte das Boot fest.

[Illustration]





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