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Title: Die gerichtliche Arzneikunde in ihrem Verhältnisse zur Rechtspflege, mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Gesetzgebung - Zum Gebrauche für Ärzte, Wundärzte und Rechtskundige - dargestellt und mit entscheidenden Thatsachen begründet
Author: Ney, Franz von
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die gerichtliche Arzneikunde in ihrem Verhältnisse zur Rechtspflege, mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Gesetzgebung - Zum Gebrauche für Ärzte, Wundärzte und Rechtskundige - dargestellt und mit entscheidenden Thatsachen begründet" ***


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  |                 Anmerkungen zur Transkription                      |
  |                                                                    |
  | Offensichtliche typografische und Fehler bei der Zeichensetzung    |
  | sind stillschweigend bereinigt.                                    |
  | Etliche Worte sind jedoch unterschiedlich geschrieben, z. B.       |
  | "hiervon" oder "hievon", "Irrsinnes" oder "Irrsinns", "ebenso" oder|
  | "eben so", des "Irrthumes" / des "Irrthums", "hierzu" / "hiezu".   |
  | Dies wurde wie im Original belassen.                               |
  |                                                                    |
  | Die Markierung mit Gleichheitszeichen (=) zeigt eine "gesperrte"   |
  | Phrase an, das Einfassen mit Unterstrichen (_) kursiven Druck      |
  | im Original.                                                       |
  | Die Zeichenfolge ^{ } steht für hochgestellt (Superskript).        |
  +--------------------------------------------------------------------+



                                  Die
                        gerichtliche Arzneikunde
                               in ihrem
                     Verhältnisse zur Rechtspflege,
                                  mit
      besonderer Berücksichtigung der österreichischen Gesetzgebung.

                           Zum Gebrauche für
                  Aerzte, Wundärzte und Rechtskundige
                              dargestellt
              und mit entscheidenden Thatsachen begründet.

                                  Von
                             Franz von Ney,
                       k. k. Pfleger zu Gastein,

                              Erster Band.

                                 WIEN.
                    Kaulfuss W^{we}, Prandel & Comp.
                                 1847.



                Multum magnorum virorum judicium credo,
                    aliquid autem et meum existimo.

                               _Seneca._



                           _Seiner Excellenz_

                         dem hochgebornen Herrn

                       LUDWIG GRAFEN VON TAAFFE,


obersten Justiz-Präsidenten, Herrn der Herrschaft Ellischau und
der Güter Kolinetz, Auczin und Wlczkovitz in Böhmen, Grosskreuz
des österr. kais. Leopoldordens, Ehren-Bailli und Grosskreuz des
Johanniterordens, k. k. wirklichem geheimen Rathe und Kämmerer,
Präsidenten der Hofkommission in Justiz-Gesetzsachen, Präsidenten
des obersten Gefällsgerichtes, Kurator der theresianischen
Ritterakademie, D. d. R., Mitgliede der juridischen Fakultät
und emeritirtem _Rector Magnificus_ an der Wiener Universität,
Landstand in Niederösterreich, Steiermark, Kärnten, Böhmen, Mähren
und Galizien, Mitgliede der Landwirthschafts-Gesellschaften in
Wien, Grätz und Laibach, des Schafzüchtervereines in Böhmen,
des Museums Francisco-Carolinum für Oesterreich ob der Enns und
Salzburg und des geognostisch-montanistischen Vereines von Tirol
und Vorarlberg; Ehrenmitgliede der Akademie der bildenden Künste
in Wien, der gelehrten Gesellschaft _degli Arcadi_, der _Accademia
Tiberina_ und des Cäcilienvereines zu Rom,

                 in tiefster Ehrfurcht gewidmet
                                            von dem
                                                Verfasser.



Euer Excellenz!


Die gerichtliche Medizin wurde in den hierüber bisher erschienenen
Werken vorzugsweise als ein die Arzneiwissenschaft berührender
Gegenstand behandelt, daher das Unternehmen des Verfassers, diesen
Gegenstand auch und vorzugsweise von dem juridischen Standpunkte zu
besprechen, immerhin als ein gewagtes erscheinen dürfte, welches seine
Entschuldigung nur in der anerkannten Nothwendigkeit, diesen wichtigen
Gegenstand auch von dieser Seite zu beleuchten, und in dem Umstande
findet, dass der Verfasser nicht ohne sich des Beifalles mancher
erfahrener Gerichtsärzte zu erfreuen, dabei zu Werke gegangen ist.

Indem daher _Euer Excellenz_ dem Verfasser die Gnade zu gewähren
geruhten, dieses Werk Ihnen ehrerbietigst widmen zu dürfen, liegt
hierin nur ein neuer Beweis von jener huldvollen Nachsicht, mit welcher
_Euer Excellenz_ ein redliches Streben, etwas für die Justizpflege
Erspriessliches zu leisten, zu würdigen und aufzumuntern gewohnt sind.

Geruhen demnach _Euer Excellenz_ diesem Buche, indem Sie demselben
erlaubten, mit Ihrem hochverehrten Namen geziert in die Welt zu treten,
Ihr Wohlwollen und Ihren Schutz angedeihen zu lassen.

Wien, im März 1846.

                            _Euer Excellenz_
                              gehorsamster
                                                   Autor.



Vorrede.


Wenn es irgendwo nothwendig ist, nach einem bestimmten Plane
vorzugehen, um zu dem erwünschten Ziele zu gelangen, so ist dies bei
gerichtlich-medizinischen Erhebungen der Fall, bei welchen es sich
darum handelt, die Grundsätze zweier Wissenschaften, nämlich jene
der Medizin und jene des Rechtes, welche weder in ihrem Prinzipe noch
in ihrer Anwendung Berührungspunkte darbieten, zu =einem= Zwecke zu
vereinigen.

Eine nothwendige Bedingung dazu ist, dass diejenigen Personen, welche
bei einem solchen Akte die eine und die andere dieser Wissenschaften
zu vertreten berufen sind, nicht nur ihr eigenes Fach vollkommen inne
haben, sondern auch in derjenigen Wissenschaft, welche der andere Theil
vertritt, wenigstens so weit sich diese Wissenschaft auf den Gegenstand
bezieht, welcher untersucht werden soll, nicht unbewandert seien, denn
ohne dieser Bedingung ist nicht einmal ein =Verständniss=, viel weniger
aber eine plan- und sachgemässe Ausführung möglich.

Diese erste unabweisliche Bedingung, ein Verständniss zwischen Arzt
und Richter herbeizuführen, ist die Aufgabe meines bei _Mörschner_
und _Bianchi_ im Jahre 1845 erschienenen Werkes: „Systematisches
Handbuch der gerichtsarzneilichen Wissenschaften, mit besonderer
Berücksichtigung der Erhebung des Thatbestandes im Straf- und
Civilverfahren für Aerzte und Wundärzte, dann Justiz- und politische
Beamte und Advokaten in den k. k. Staaten,” welches den Hauptzweck
verfolgte, durch eine in leichte Uebersicht gebrachte Sammlung
und Erläuterung der in gerichtsarzneilicher Beziehung in den
österreichischen Staaten bestehenden Gesetze und Verordnungen, dem
Arzte gewissermassen ein _materia juridica_ für seine Aufgabe als
Gerichtsarzt, dem Richter aber die nöthigsten und unentbehrlichsten
Winke zu geben, deren Ausserachtlassung Fehlgriffe oder Lücken in der
Untersuchung zur unausbleiblichen Folge haben müsste.

Durch diese mir gestellte Aufgabe war jedoch zugleich die Grenze
ausgesprochen, welche dieses Werk nicht überschreiten durfte, es musste
nämlich ein =Handbuch=, d. h. ein so beschaffenes Buch sein, dass man
es allenfalls als _vade mecum_ zu gerichtlichen Kommissionen mitnehmen
konnte, und musste daher in den Grenzen eines einzelnen Bandes bleiben,
denn ein Handbuch in mehreren Bänden ist ungefähr dasselbe, was ein
Taschenbuch in Quart oder Folio; auch durfte es den Zweck, eine leichte
Uebersicht zu gewähren, nicht verfehlen, welches durch einen grösseren
Umfang zuverlässig geschehen wäre.

Aus diesem Grunde konnte ich mich bei gewissen Materien, welche, wie z.
B. die Erhebung von Gemüthszuständen, so wie jene gewisser Gattungen
von Verbrechen, eine umständliche Besprechung fordern, nur auf einige
Blätter beschränken, und musste es mir zur besonderen Aufgabe machen,
nicht mehr zu thun, als die einschlägigen Verordnungen vollständig
zu liefern, und nicht mehr zu sagen, als eben nothwendig war, um den
Zusammenhang der Theile von den angeführten einzelnen Gesetzesstellen
und die nächsten Beziehungen, in welchen sich dieselben zu ihrer
praktischen Anwendung befinden, ersichtlich zu machen. -- Es war eine
=Vorarbeit= zu einer Lehre über die gerichtliche Medizin, jedoch eine
solche, ohne welche es geradezu unmöglich ist, über diesen Gegenstand
etwas Gründliches zu sagen.

Obwohl ich mir nun mit der Hoffnung schmeichle, die Aufgabe,
welche dieses Werk hatte, wenigstens nicht verfehlt zu haben, so
bin ich jedoch vollkommen überzeugt, dass damit nur =ein Theil=
Desjenigen, welches für jenen Zweig der Rechtspflege, der die
gerichtliche Arzneikunde zum Vorwurfe hat, erreicht, hingegen aber
noch das Wesentlichste zu thun, nämlich die Aufgabe zu lösen sei,
in einer fasslichen Darstellung die Anweisung zu geben, von welchem
Standpunkte sowohl der Arzt als der Richter auszugehen, und welches
Verfahren sie zu beobachten haben, um in den =einzelnen Fällen= der
gerichtsarzneilichen Erhebungen nach einem =gemeinschaftlichen Plane=
zu verfahren, in welchem sich die Grundsätze beider Wissenschaften zu
dem einen Zwecke mit entsprechendem Erfolge vereinigen.

Diesen Zweck soll nun das gegenwärtige Werk erfüllen.

Was mich, ungeachtet der Schwierigkeiten, welche eine solche
Unternehmung darbietet, dennoch bestimmte, mich derselben zu
unterziehen, ist die Ueberzeugung, dass den zu derlei Erhebungen
berufenen Personen diejenige klare Ansicht ihrer Aufgabe und der
zu ihrer Lösung geeigneten Mittel zu erhalten nur dann möglich ist,
wenn sie ihre Aufgabe vom Standpunkte der Gesetzgebung =desjenigen
Staates=, in welchem sie zu wirken berufen sind, auffassen, und dass
in allen mir bekannten medizinischen gerichtlichen Werken gerade
dieser Standpunkt gewöhnlich als der =untergeordnete= betrachtet wird,
während er doch entschieden um so mehr die =Hauptsache= ist, als alle
gerichtlich-medizinischen Erhebungen für die =Rechtspflege= bestimmt
sind, und der Richter in seiner Entscheidung doch immer nur von dem
Standpunkte der =positiven= Gesetzgebung auszugehen, und ihm daher nur
ein solches Einschreiten und nur eine solche Darstellung von Seite der
ärztlichen Personen zu genügen vermag, welche den Erfordernissen der
=bestehenden= Gesetzgebung entspricht.

=Ausländische= Werke, so viel Wahres und Verdienstliches darinnen
enthalten ist, können doch an und für sich niemals diesem Zwecke, in
Bezug auf das =Inland=, vollkommen entsprechen, weil sie entweder nur
von einem =allgemeinen= Gesichtspunkte ausgehen, der für die praktische
Anwendung in vielen Fällen nicht genügt, oder sich auf die Gesetzgebung
=ihres= Staates gründen, welche in einem fremden Staate keine Anwendung
leidet; jedoch auch für den Arzt, welcher im Inlande schreibt, bleibt
es immerhin eine schwierige Aufgabe, so tief in den Sinn der Gesetze
einzudringen, und zugleich die nöthige praktische Anschauung in Bezug
auf Anwendung damit zu verbinden, um den nöthigen Anforderungen in den
mannigfaltigen, durch das Eigenthümliche der positiven Gesetzgebung
eines Staates herbeigeführten Beziehungen zu entsprechen.

Es ist also unumgänglich nothwendig, dass auch von Seite der
Rechtskundigen hierin etwas geleistet werde.

Ob der Verfasser dieses Werkes dieser Aufgabe gewachsen war, möge der
verehrte Leser entscheiden, ich vermag nur so viel zu meinen Gunsten
anzuführen, dass ich dabei nur den Weg der selbstständigen Forschung
wählend, keiner Autorität folgte, keinem Systeme huldigte, sondern mich
in meiner Darstellung nur durch diejenige Ansicht leiten liess, welche
mir nach der Natur des zu behandelnden Gegenstandes die richtige zu
sein schien.

Die Thatsachen, welche ich anführte, um die Richtigkeit der
vorgestellten Grundsätze zu beweisen, sind darum gewählt, weil
ihre Wahrheit aktenmässig erwiesen ist; ich scheute mich nicht die
schwierigsten Materien zu besprechen, wo sich mir die Möglichkeit,
etwas Gründliches darüber zu sagen, darbot, und eben so wenig
anerkannten Autoritäten entgegenzutreten, wenn ich die Ueberzeugung
hatte, dass ihre Aussprüche mit den Anforderungen der Gesetzgebung
im Widerspruche sind, und glaube daher mich der Hoffnung hingeben zu
dürfen, dass, wenn mein Buch, wie es gegenwärtig beschaffen ist, auch
vielen gerechten Anforderungen nicht entspricht, es doch im Stande ist,
dem Leser Stoff und Veranlassung zu eigenem selbstständigen Nachdenken
zu geben, und es dadurch einem grösseren Talente als dem meinigen zur
Aufforderung gereichen könne, denselben Pfad mit besserem Erfolge zu
betreten, eine Wirkung, welche zu erzielen zuverlässig nicht ohne
einiges Verdienst ist. Zitationen von klassischen Autoren glaubte
ich vermeiden zu müssen, da nach meiner Ansicht es die Pflicht des
Schriftstellers ist, durch seine Darstellung den Leser von der Wahrheit
seiner Behauptungen zu überzeugen, eine dem Leser als irrig scheinende
Behauptung in den Augen eines denkenden Menschen aber zuverlässig
dadurch nicht zur Wahrheit wird, wenn er erfährt, dass auch Andere,
als der Schriftsteller, mit welchem er sich eben beschäftigte, in
demselben Irrthume befangen waren; und es ihm auch in diesem Falle noch
immer unbenommen bleibt, von der in vielen Fällen zuverlässig nicht
ungegründeten Voraussetzung auszugehen, dass der Schriftsteller seinen
Gewährsmann nicht richtig verstanden habe, oder, wie es schon geschehen
ist, unrichtig zitire.

Ueber Dinge, welche man aber selbst so darzustellen vermag, dass
man mit Grund hoffen kann, den Leser überzeugt zu haben, noch fremde
Autoren zu zitiren, ist nach meiner Ansicht nichts weiter, als ein
Bestreben, mit seiner Belesenheit zu glänzen, welches Bestreben
mir um so mehr überflüssig erscheint, als es für den Leser sehr
gleichgiltig ist, zu erfahren, auf welche Art ein Schriftsteller seine
Zeit verbringt, oder welche Studien er gemacht hat, um zu gewissen
Resultaten zu gelangen, auch wohl Niemand bezweifelt, dass ein Autor,
welcher über einen Gegenstand schreibt, auch etwas darüber gelesen
habe. Ein Schriftsteller hat nach meiner Ansicht die Pflicht, dem
Leser die Frucht, nicht aber die Zweige des Baumes seiner Erkenntniss
darzureichen.

                                                Der Verfasser.



Inhalt.


                                                               Seite

  Vorrede                                                        VII

  Die Verfassung gerichtlich-medizinischer Gutachten vom           1
  Standpunkte der Rechtskunde betrachtet. Einleitung

    I. Ueber den Zweck und die Verfassung vom Befunde und          -
      Gutachten im Allgemeinen

         Unterschied der Rechtswirkung des Gutachtens im           -
      Civil- und im Strafrechte. §. 1

         Der Grund der Beweiskraft eines Gutachtens im             3
      Strafverfahren ist die Ueberzeugung des Richters von
      dessen objektiver Wahrheit. §. 2

         Der Richter hat die Pflicht, sich wo es möglich ist       -
      die eigene Anschauung von dem _Corpus delicti_ zu
      verschaffen. §. 3

         Ausnahme hiervon. Der Richter ist niemals                 5
      verpflichtet, dem Gutachten gemäss zu erkennen, so
      lange er Gründe hat, dessen Richtigkeit in
      Strafrechtsfällen zu bezweifeln. §. 4

         Im Falle eines Zweifels des Richters an der               6
      Richtigkeit des Gutachtens in Strafrechtsfällen ist die
      Behebung des Zweifels zu verlangen. §. 5

         Die Erhebung des Gutachtens im Strafverfahren ist         7
      ein zwischen Richter und Kunstverständigen
      gemeinschaftlicher Akt. §. 6

         Bei Ausnahmsfällen, in welchen der Richter auf das        8
      Gutachten keinen Einfluss nehmen kann, ist die Ursache
      dieser Ausschliessung durch klare Darstellung im
      Befunde zu begründen. §. 7

         Das Gutachten ist für den Richter bestimmt.               9
      Erfordernisse, welchen es daher entsprechen muss.
      Fehler dagegen. §. 8

         Beispiel eines objektiv richtigen, für die               11
      Strafrechtspflege aber unbrauchbaren Gutachtens. §. 9

         Richter und Kunstverständige sind vermöge ihrer          12
      Stellung zu einander berufen, sich gegenseitig zu
      kontrolliren. §. 10

         Die Aufgabe der Kunstverständigen ist immer ein          13
      selbstständiges Beobachten des zu untersuchenden
      Gegenstandes. §. 11

         Gerichtliche Fragen. Deren Zweck. Durch dieselben         -
      wird die Pflicht der Kunstverständigen zur
      selbstständigen Beobachtung nicht aufgehoben. §. 12.

         Der Grad, wie weit der gegenseitige Einfluss des         14
      Richters und der Kunstverständigen zu gehen habe, wird
      durch die Natur des speziellen Falles, nicht durch die
      Wissenschaft oder Kunst bestimmt, welche die
      Kunstverständigen üben. §. 13

         Von dem ärztlichen Kunstbefunde. Auch Aerzte stehen      17
      in der Kategorie der Kunstverständigen in gerichtlichen
      Fällen. Instruktionen derselben in den k. k. Staaten.
      §. 14

         Besondere Beschaffenheit der Stellung des Arztes zum     21
      Richter in Folge der Beschaffenheit der ärztlichen
      Bildung. §. 15

   II. Verhältniss der gerichtlichen Arzneikunde zur              23
      Rechtswissenschaft

         Legislative und positive gerichtliche Arzneikunde.        -
      §. 16

         Folgen der Nichtbeachtung dieses Unterschiedes in        24
      den von diesem Gegenstande handelnden Schriften. Irrige
      Anwendung ausländischer Schriften. Zweck der
      gerichtlichen Arzneikunde. §. 17

         Gegenstände, welche dahin gehören. §. 18                 26

         Folgen von der abgesonderten Behandlung der              27
      gerichtsarzneilichen Wissenschaft von jener des
      Rechtes. Falsche Anwendung der Gesetze, Folter unter
      einem anderen Namen. §. 19

  III. Ueber die bei Verfassung des ärztlichen Gutachtens bei     31
      Kriminalfällen zu beobachtenden rechtlichen Grundsätze

         Angabe der zur Erstattung eines entsprechenden            -
      Gutachtens im Strafverfahren nothwendig
      einzuschlagenden Verfahrungsweise. §. 20

         Der Arzt hat auf die Ergebnisse des                      34
      Untersuchungsprozesses die geeignete Rücksicht zu
      nehmen. Einsicht der Akten. §. 21

         Vorläufiges Benehmen mit dem Untersuchungsrichter.       36
      §. 22

         Gutachten in dem Falle, wo das _Corpus delicti_ gar       -
      nicht oder nur theilweise vorhanden ist. §. 23

         Beispiel hierüber. §. 24                                 38

         Gutachten über Nebenumstände. §. 25                      40

   IV. Ueber den Einfluss der Richters auf die ärztliche          41
      Untersuchung und die Abgabe des Gutachtens

         Soll oder darf der Richter medizinische Kenntnisse        -
      besitzen? §. 26

         Wie sind die nachtheiligen Folgen, welche eine           43
      medizinische Bildung von Seite des Richters für die
      Untersuchung haben kann, zu vermeiden? §. 27

  Schlussbemerkung                                                46

         Unerlässliche Pflicht der angestellten                    -
      Gerichtsärzte, sich mit den Gesetzen vertraut zu
      machen. -- Eintheilung dieses Werkes. §. 28


                           I. Abtheilung.

  =Ueber die gerichtlich-medizinische Erhebung von Gemüthszuständen=.

  Einleitung                                                      51

         Um zu bestimmen, wie weit die Kompetenz des Arztes        -
      und jene des Richters in dieser Art gehe, muss man über
      den Zweck der Erhebung und die Beschaffenheit des
      Gegenstandes sich vereinigen. §. 1

         Jede Wissenschaft, insbesondere aber die                 51
      medizinische, ist auf allgemein bekannte Erfahrungen
      theilweise gegründet. §. 2

         Zu welchem Ende die medizinische Wissenschaft bei        53
      der gerichtlichen Erhebung von Gemüthszuständen
      angewendet werde. §. 3

         Pflicht des Richters, bei derlei Erhebungen sich von     54
      der Richtigkeit des ärztlichen Ausspruches, so weit es
      ihm möglich ist, zu überzeugen. §. 4

         Welche Anhaltspunkte der Richter habe, um                55
      Gemüthszustände zu beurtheilen. Gegenseitige Stellung
      des Arztes und des Richters bei solchen Erhebungen. §. 5

         Eigenschaften des ärztlichen Gutachtens, welche die      57
      diesfälligen Rücksichten nöthig machen, zu welchem
      Zwecke der Arzt wissen muss, welche Grundsätze aus der
      nichtwissenschaftlichen Beobachtung des Menschen sich
      in gerichtlich-medizinischer Beziehung ergeben. §. 6

    I. =Allgemeine Bemerkungen über das Verhältniss des            -
      Menschen zu anderen Geschöpfen der Aussenwelt=

         Der Irrsinn ist für den Richter nur insofern von          -
      Bedeutung, als er eine gewisse Thätigkeit in der
      Aussenwelt zur Folge hat. §. 7

         Die irreguläre Thätigkeit im Aeusseren ist die           58
      einzige mögliche Veranlassung der gerichtlichen
      Erhebung des Irrsinnes. §. 8

         Der Arzt kann seiner Aufgabe dabei nur durch ein         60
      genaues, zu dem Ende angestelltes Beobachten der Natur,
      um die für die richterlichen Definitionen passenden
      Momente aufzufinden, genügen. §. 9

         Entwicklung solcher Momente, welche die Natur dem        62
      Nichtarzte in dieser Beziehung darbietet. Eintheilung
      der Geschöpfe _a_) in unorganische, _b_) organische,
      _c_) animalische Wesen. Empfindung. Vorstellung.
      Kunsttriebe. §. 10

         Fortsetzung. Reproduktion. _Nexus causalis_.             65
      Gedächtniss. Einbildungskraft. Triebe. §. 11

         Fortsetzung. Unterschied des Thieres von der Pflanze     68
      und vom Menschen. §. 12

         Fortsetzung. Vernünftig-sinnliche (animalische)          69
      Wesen. Der Mensch. Dessen charakteristische Merkmale.
      §. 13

         Fortsetzung. Sprache. §. 14                               -

         Fortsetzung. Begriffe. §. 15                             70

         Fortsetzung. Verhältniss der Sprache zu dem              71
      Begriffe. §. 16

         Fortsetzung. Sittliche Anlage. Deren                     72
      charakteristisches Merkmal. Freiheit. §. 17

         Fortsetzung. Die Anlage zur Sittlichkeit ist bei         74
      allen Menschen vorhanden. §. 18

         Fortsetzung. Tugend. Ehre. §. 19                         75

         Fortsetzung. Nachweisung der Art und Weise der           75
      Entwicklung der sittlichen Anlage bei dem Menschen.
      Gewissen. Wille. Nothwendigkeit der Festhaltung des
      Grundsatzes, dass diese Funktionen nur Aeusserungen
      derselben Anlage sind. Missverständnisse, welche die
      Ausserachtlassung dieses Grundsatzes zur Folge hätte.
      Krankheit des Willens. Unterschied der Reproduktion
      sittlicher Lehren und sittlicher Vorstellungen. §. 20

   II. =Allgemeine Bemerkungen über den Irrsinn vom               82
      psychologischen und rechtlichen Gesichtspunkte=

         Der Zweck der Erhebung des Irrsinns ist die               -
      Richtigstellung des Verhältnisses der inneren
      Thätigkeit eines Menschen zu dessen äusserer Umgebung.
      §. 21

         Diese Nachweisung muss von Seite des Arztes durch in     85
      die Sinne fallende Thatsachen geliefert werden. §. 22

         Die Thatsache, welche zum Behufe der Erhebung des        86
      Irrsinns richtig zu stellen ist, ist, dass eine
      bestimmte Thätigkeit nicht normal gewesen sei. Was
      unter einer nicht normalen Thätigkeit zu verstehen ist.
      §. 23

         Die Veranlassung jeder nicht normalen Thätigkeit          -
      eines Menschen in rechtlicher Beziehung ist Zwang oder
      Irrthum. §. 24

         Wie ist Irrthum möglich? Mangelhafte Beschaffenheit      87
      der Sinneswerkzeuge. §. 25

         Fortsetzung. Mangelhafte Reproduktionsthätigkeit. §.     89
      26

         Die Straflosigkeit einer sonst sträflichen Handlung       -
      wird durch Nachweisung des Statt gefundenen Zwanges
      oder Irrthums begründet. §. 27

         Diese beiden Momente können, durch Erwägung der          90
      äusseren Verhältnisse, oder durch Erhebung der
      individuellen Beschaffenheit des Subjektes
      richtiggestellt werden. §. 28

         Dieses Resultat wird in letzterer Beziehung durch         -
      die Erhebung des Irrsinns bezweckt. §. 29

         Der Zweck der gerichtlichen Erhebung des Irrsinns         -
      ist daher die Nachweisung, dass der Mensch vermöge
      seiner individuellen Beschaffenheit sich in Bezug auf
      eine bestimmte That im Zustande des Zwanges oder
      Irrthums befunden habe. Das Mittel dazu ist die
      Beobachtung desselben, mit Anwendung der Grundsätze der
      medizinischen Wissenschaften. §. 30

         Irrige Ausdrücke in Bezug auf den Irrsinn, in seiner     92
      gerichtlich-medizinischen Bedeutung. Grade des
      Irrsinns. §. 31

         Der Ausdruck =Seelenstörung=. Innige Verbindung          94
      der Psyche und des Körpers. §. 32

         Der Ausdruck =Verstandeskrankheit=. §. 33                95

         Der Ausdruck =Gemüthskrankheit=. §. 34                   96

         Der Ausdruck Krankheit des =Gefühls=. §. 35              97

         Der Ausdruck Krankheit des =Willens=. §. 36              98

         Der Ausdruck Krankheit der =Vernunft=. §. 37             99

         Der Ausdruck Krankheit der =Sinne=. §. 38                 -

         Ueberflüssigkeit einer Definition des Irrsinns in       100
      gerichtlich-medizinischer Beziehung. §. 39

         Angabe derjenigen Momente, durch deren Darstellung      101
      das ärztliche Gutachten bei Erhebung des Irrsinns dem
      richterlichen Zwecke entspricht §§. 40, 41, 42

  III. =Aus Grundsätzen des Rechtes zu nehmende Rücksichten bei
     Erhebung des Irrsinns=.

    A. Im Strafverfahren                                         104

         1. Der Fall dass an Jemanden, welcher vor Gericht         -
      gestellt wird, sich Spuren von Irrsinn äussern. §. 43

         2. Erhebung zum Behufe der Ausmittlung der              106
      Zurechenbarkeit der That. §. 44

         Fortsetzung. Es ist für den Richter nicht möglich in    107
      allen Fällen, alle Momente durch Fragen anzugeben. §. 45

         Wann die Nothwendigkeit der Einleitung eines            108
      besondern Aktes der Erhebung des Geisteszustandes zur
      Ausmittlung der Zurechenbarkeit eintrete. §. 46

         Der wesentlichste Moment, worüber der Ausspruch         110
      gewärtigt wird, ist, ob der Thäter in dem Augenblicke,
      wo er die That verübte, nicht im Stande war, sich in
      Bezug auf diese That, nach Vorstellungen, welche mit
      der äusseren Objectivität übereinstimmen, zu bestimmen.
      Nothwendiges Verfahren zu diesem Zwecke. §. 47

         Wechselseitiger Einfluss des Arztes und Richters        111
      dabei. §. 48

         Verschiedenheit der Rechtswirkung eines auf             114
      apodiktische, und eines auf hypothetische Grundsätze
      der Wissenschaft sich gründenden Gutachtens. §. 49

         3. Erhebung des Gutachtens zum Behufe der               116
      Urtheilverkündigung. §. 50

    B. Im Civilverfahren                                         117

         Zweck und rechtliche Wirkung eines solchen                -
      Gutachtens. §. 51

  IV. =Ueber die Erhebung zweifelhafter Gemüthszustände=.

  Allgemeine Bemerkungen                                         124

         Geisteskrankheit ist nicht die einzige Veranlassung,      -
      durch welche ein Gemüthszustand zweifelhaft wird. §. 52

         Die Schwierigkeit der diesfälligen Erhebung liegt in    126
      der Verschiedenartigkeit der Arznei- und
      Rechtswissenschaft. §. 53

         Fortsetzung. In der Arzneiwissenschaft als solcher,       -
      sind nach ihrem Zwecke diejenigen Momente, auf welche
      es bei der gerichtlichen Erhebung der Seelenzustände
      ankommt, nicht gegeben. §. 54

         Um die Grundsätze der Arzneiwissenschaft auf die        128
      gerichtliche Erhebung von Gemüthszuständen anzuwenden,
      müssen vor Allem die aus den positiven Gesetzen sich
      ergebenden Forderungen berücksichtigt werden.
      Bestimmungen des österreichischen Strafgesetzes. §. 55

         Das Mittel, diese Bestimmungen zu erfüllen, ist das     130
      Studium der menschlichen Natur im Allgemeinen. §. 56

         Unrichtigkeit und Schädlichkeit der Ansicht, dass       131
      zur Aufhebung der Sträflichkeit, immer die Nachweisung
      einer absoluten Unzurechnungsfähigkeit erfordert werde.
      Frage, auf deren Beantwortung es ankommt. §. 57

         Die Geisteszustände müssen vor Allem vom rein           132
      menschlichen Gesichtspunkte betrachtet werden. §. 58

         Diesfällige Erfahrungssätze. Die Triebe des Menschen    133
      äussern sich mehr in der Vorstellungsthätigkeit, als
      beim Thiere. §§. 59, 60, 61

         Fortsetzung. Verschiedenartige Aeusserung des           136
      Geschlechtstriebes bei dem Menschen im Vergleiche mit
      dem Thiere. §. 62

         Das Leben des Menschen ist vorzugsweise ein             137
      geistiges. §. 63

         Rückwirkung des geistigen Lebens auf körperliche        139
      Zustände. Rechtliche Folge hieraus im Allgemeinen und
      in Bezug auf gewisse Zustände, als: Affekte,
      Leidenschaften, Schwärmerei etc. §. 64

    A. Affekte                                                   142

      Allgemeines Merkmal dieses Zustandes. §. 65                  -

         Jeder Affekt bedingt nothwendig eine ihm                143
      entsprechende Thätigkeit, sofern deren Ausübung nicht
      durch entgegengesetzte Vorstellung gehemmt wird. §. 66

         Nur der Beweis des gänzlichen Mangels wirklich          144
      vorhandener, hinlänglich intensiver, dem Affekte
      entgegengesetzter Vorstellungen kann die Straflosigkeit
      der verbrecherischen That begründen. Lieferung dieses
      Beweises aus der Beschaffenheit der menschlichen Natur
      überhaupt. §. 67

         Beweis aus der individuellen Stimmung im Augenblicke    146
      der That. Einfluss der Vorstellung des Sittlichen. §. 68

         Fortsetzung. Gründe der Unwirksamkeit von sittlichen      -
      Vorstellungen. Krankhafte Verstimmungen. §. 69

         Einfluss des Affektes auf die Unzweckmässigkeit der     148
      äusseren Thätigkeit. §. 70

         Wie die Erhebung des Einflusses des Affektes in         149
      Bezug auf eine bestimmte That zu geschehen hat. §. 71

    B. Leidenschaften                                            150

         Was ist Leidenschaft? §. 72                               -

         Die Leidenschaft, als ein durchaus psychischer          153
      Zustand, kann nur nach psychischen Gesetzen beurtheilt
      werden, und hebt als solche niemals die Zurechnung auf.
      §. 73

         Eine Leidenschaft kann unter gewissen Umständen         155
      Gemüthszustände zur Folge haben, welche die
      =sittliche= Zurechnung aufheben. §. 74

         Inwiefern derlei Zustände die strafrechtliche           156
      Zurechnung aufheben können. §. 75

         Grundsätze, welche sich für die                         158
      gerichtlich-medizinischen Erhebungen von Zuständen,
      denen eine Leidenschaft zu Grunde liegt, hieraus
      ergeben. §. 76

    C. Schwärmerei                                               163

         Merkmale dieses Zustandes. Ob es denkbar ist, dass        -
      Jemand aus dem Bestreben, einen sittlichen Zweck zu
      erreichen, eine ihm als unsittlich bekannte Handlung
      verübe, und ob ein solches Vorgeben  die Vermuthung
      einer Geistesverwirrung begründen könne. §. 77

         Strafbarkeit einer, wenn auch im Zustande der           166
      Schwärmerei verübten rechtswidrigen Handlung. §. 78

         Vergleichung mancher durch Schwärmerei                  168
      hervorgebrachten Zustände mit jenen des Traumes.
      Pöschlianer. §. 79

         Charakteristisches Merkmal der im Zustande der          172
      Schwärmerei begangenen unzurechenbaren Thaten. §. 80

    D. Blödsinn                                                    -

         Rechtliche Bedeutung dieses Zustandes. §. 81              -

         Art und Weise der Erhebung. §§. 82, 83                  173

         Dummheit. §. 84                                         176

    E. Monomanie. Fixe Idee. §. 85                                 -

    F. Melancholie. _Mania occulta._ §. 86                       177

    G. Berauschung. §. 87                                        178

    H. Unwiderstehlicher Hang zu gewissen Verbrechen             181

         Um zu erfahren, ob ein Hang zu einem bestimmten           -
      Verbrechen möglich sei, muss man die Beschaffenheit des
      Verbrechens selbst untersuchen. §. 88

         Pubertätsentwicklung, Hysterie etc. als                 182
      veranlassende Ursachen eines solchen Hanges. §. 89

         Aufzählung der Verbrechen nach dem österreichischen     183
      Strafgesetzbuche, und Erörterung, warum bei manchen
      Verbrechen ein Hang zu deren Begehung unmöglich sei.
      Bezeichnung derjenigen Verbrechen, zu welchen denkbarer
      Weise ein besonderer Hang Statt finden kann. §. 90

         1. Verbrechen, welche durch den Geschlechtstrieb        187
      veranlasst werden. Unzucht wider die Natur. §. 91

         Nothzucht. §. 92                                        189

         2. Tödtung und Verletzung. Unterschied des              190
      psychologischen Motives bei gewaltsamen und bei
      künstlichen Tödtungen. §. 93

         3. Hang zum Diebstahl. Verschiedenheit der Motive,
      und zwar:

         _a_) Lust zum Besitze. §. 94                            192

         _b_) Neigung zu dem Genusse, weil er verboten ist.      194
      §. 95

         _c_) Vergnügen an Beseitigung der Schwierigkeiten.      197
      §§. 96, 97

         4. Brandlegung. §. 98                                   198

         Anwendbarkeit dieser Unterscheidungen zum Behufe der    200
      Rechtspflege. §. 99

    I. Dämonomania. §. 100                                       201

    K. Verstellter Wahnsinn. §. 101                              207

  Schlussbemerkung. §. 102                                       209

  V. =Kriminalfälle mit Erhebung des Irrsinnes.=

    A. Der wahnsinnige Brandstifter _Joseph G._                  210

    B. Der Brudermörder _Kaspar Roth_                            233

    C. _Matthäus Grotz_, ein Epileptiker, erschlägt seinen       258
      leiblichen Vater

    D. Der phränologisch untersuchte Brandleger _J. Kläger_,     285
      nebst Bemerkungen über das Heimweh



Die Verfassung gerichtlich medizinischer Gutachten, vom Standpunkte der
Rechtskunde betrachtet.


Der nachfolgende Aufsatz möge als Einleitung zu dem übrigen
Inhalte dieses Buches dienen, dessen Zweck die möglichst praktische
Anschaulichmachung der Aufgabe sowohl, als deren Lösung erscheint,
welche dem Arzt und Richter bei gerichtlichen Akten gegenseitig gegeben
ist.

Obwohl ich mich hierin bestreben werde, mich von jeder blossen Theorie
möglichst fern zu halten, und so viel möglich die =Sache=, nicht eine
blosse Argumentation dem verehrten Leser zu geben, so fordert es doch
das Wesen der Sache selbst, welche hier verhandelt werden soll, vor
Allem diejenigen =Begriffe und Abstractionen= vorzuführen, welche
zur Vermittlung zwischen zwei so verschiedenen Gegensätzen, wie das
=Recht=, ein reines Abstractum, und der =medizinischen= -- nämlich
einer auf concrete Fälle basirten -- Wissenschaft, unumgänglich nöthig
sind.

Ich glaube daher, vor Allem Einiges über die =Verfassung gerichtlicher
Gutachten= sagen zu müssen, wobei ich mir die Bemerkung erlaube, dass
dasjenige, was ich hierüber zu sagen habe, dem verehrten Leser den
Gegenstand von einer Seite darstellen und beleuchten werde, welche,
wie ich hoffe, nicht nur den Gegenstand Jedem klar zu machen, sondern
vielen meiner Leser eine ganz =neue= Ansicht der Sache eröffnen wird.



I.

Ueber den Zweck und die Verfassung vom Befunde und Gutachten im
Allgemeinen.


§. 1.

Es ist ein grosser Unterschied zwischen einem Gutachten im
Civilverfahren und einem Gutachten im =Strafverfahren=, nicht sowohl
nach seinem =Inhalte= -- denn dieser muss in beiden Fällen wahr
und sachgemäss sein -- als nach seiner =Veranlassung=, =Zweck= und
=Wirkung=.

Im =Civilverfahren= wird das =Gutachten= oder überhaupt ein
=Kunstbefund= nur dann =erhoben=, wenn eine =Partei= durch die
Nachweisung, dass irgend eine Sache eine gewisse Eigenschaft habe oder
nicht habe, irgend eine Leistung von einem Dritten zu erlangen, oder
sich irgend einer Verpflichtung zu entschlagen hofft.

Die =Veranlassung= dieses Gutachtens ist daher das Einschreiten der
=Partei=; dessen =Zweck=: der Partei als =Beweismittel= zu dienen;
dessen =Wirkung= -- in dem Falle, als das Gutachten dasjenige sagt,
was die Partei beweisen soll, und es sonst die in der Gerichtsordnung
vorgeschriebenen Eigenschaften hat -- als =Beweismittel= vor dem
Richter zu =dienen=.

Der Richter hat dabei keine andere Obliegenheit, als nachzusehen, ob
das Gutachten wirklich das =Nämliche= sagt, was es nach der Behauptung
des =Beweisführers= sagen soll, wenn der Gegner gegen dessen formelle
Eigenschaft keine giltigen Einwendungen vorgebracht hat.

Dasjenige, was scheinbar die Hauptsache ist, nämlich ob das Gutachten
seinem Inhalte nach =wahr= ist, geht den =Richter= gar nicht, sondern
nur die =Gegenpartei= an, welche allenfalls einen Gegenbeweis liefern
und sich dadurch gegen die Folgen, welche die =Unwahrheit= des
Gutachtens für sie haben könnte, wenn =sie will=, schützen kann.

Unterlässt die Partei den Gegenbeweis, oder liefert sie ihn nicht
genügend, z. B. dadurch, dass sie beweist, dass die Kunstverständigen
nicht beeidet waren, dass sie nicht das rechte Objekt in Augenschein
genommen haben u. s. w., so ist das Gutachten =giltig=, und der Richter
=muss= selbst im Falle, wo =er= von der =Widersinnigkeit des Gutachtens
überzeugt=, ja sogar im Stande wäre, =selbst= den Beweis zu liefern,
dass es durchaus =falsch= ist, =gerade so urtheilen=, wie es das nach
seiner festen Ueberzeugung durchaus =falsche= Gutachten =bedingt=.

Dies ist nun, so sonderbar es dem Nichtjuristen auch vorkommen mag,
durchaus =nothwendig=, denn die Parteien führen =untereinander=,
nicht =mit dem Richter= Prozess, die Parteien sind daher schuldig,
dem Richter ihre Beweise und Gegenbeweise =vorzulegen=, deren =Werth=
oder =Unwerth= der =Richter nur= nach den in der =Gerichtsordnung=
vorgeschriebenen =Formen= beurtheilen kann. -- Sind bei einem
Beweismittel die =Formen= in der Ordnung, so ist es Sache der
=Gegenpartei=, die Unrichtigkeit des =Inhaltes=, wenn sie kann, zu
beweisen. Thut sie es =nicht=, so ist es ihre =eigene= Schuld, wenn der
Richter von der Unrichtigkeit des vom Gegner aufgeführten Beweismittels
nichts auf =ämtlichen= Wege, d. i. =aktenmässig= erfährt. -- Was aber
nicht in dem =Prozessakte= steht, ist für den urtheilenden =Richter=
so viel als =gar nicht= vorhanden, sondern der Richter =urtheilt= oder
=verurtheilt= aus keinem =andern= Grunde, als weil nach der =Aktenlage=
dieses und kein =anderes= Urtheil möglich ist.


§. 2.

Ganz anders ist es im =Strafverfahren=, besonders dort, wo kein
Anklagsverfahren, sondern ein Inquisitions- (Untersuchungs-) Verfahren
Statt findet. Hier ist der Richter nicht nur dahin verantwortlich, dass
sein Urtheil demjenigen, was im =Untersuchungsakte= steht, entspreche,
sondern auch =dafür=, dass =Alles=, was zum Beweise der grössern
oder geringern =Schuld= oder =Schuldlosigkeit= dient, auch in den
Akt =komme=, und dass nichts, was nicht =objektiv wahr= ist, als wahr
dargestellt werde.

Der =Grund= dieser vom Civilverfahren ganz verschiedenen Stellung des
Richters liegt =darin=, weil es sich hier =nicht= darum handelt, ein
=Beweismittel= für irgend ein Recht, welches Jemand anspricht, =dahin=
zu prüfen, ob es die in der =Gerichtsordnung= angegebenen Eigenschaften
habe, sondern vielmehr =darum=, einem =Menschen= nie Uebel zuzufügen,
um auf =seinen=, und durch =Abschreckung Anderer= auch auf =deren
Willen= zu wirken, damit sie gewisse Handlungen unterlassen, die der
Staat nicht dulden kann.

Die =Zufügung= eines solchen Uebels wäre daher nicht nur =ungerecht=,
sondern auch ganz =zwecklos=, wenn Jemand, welcher ein Verbrechen
=nicht= begangen hat, =gestraft= würde, weil er vielleicht gar niemals
den =Willen= hatte, eine solche That zu begehen, und auch Andere darin,
dass Jemand für eine That gestraft wird, die er =nicht= begangen hat,
nichts weiter als eine Ungerechtigkeit sehen würden.

Es kann also =nur= der Umstand, dass Jemand =wirklich= ein Verbrechen
begangen hat, der Grund sein, aus welchem Jemand =bestraft= werden
kann.


§. 3.

Bei strafgerichtlichen Erhebungen kommt jedoch auch noch folgendes
Verhältniss zu berücksichtigen:

Der Zweck einer solchen Erhebung ist immer die Ausmittlung der
Beschaffenheit einer =That=, somit eines Ereignisses, welches in
dem Augenblicke, wo die Untersuchung Statt findet, bereits der
=Vergangenheit= angehört, dessen Ausmittlung somit niemals durch
=unmittelbare= Wahrnehmung, sondern nur =dadurch= möglich ist, dass
man entweder Zeugen vernimmt, welche gesehen haben, wie die eben
vorliegende Wirkung entstanden ist, oder durch genaue Untersuchung der
eben vorliegenden =Wirkung=, mit Zuhilfenahme =anderer= Erfahrungen,
auf die Ursache =schliesst=.

Ob man nun auf diese Art die wahre Entstehungsart der vorliegenden
Thatsache erfährt, wird im ersten Falle davon abhängen, dass die Zeugen
=richtig= beobachtet haben und die Wahrheit sagen =wollen=, im letztern
Falle, dass man =alle= jene Merkmale, welche die Thatsache darbietet,
und welche so beschaffen sind, dass sie einen Schluss auf die Ursache
gewähren, nicht nur wahrnimmt, sondern auch =richtig= beobachtet und
mit solchen Erfahrungen in Verbindung bringt, welche einen =richtigen
Schluss= auf die =Veranlassung= gestatten.

Findet man z. B. den Leichnam eines Menschen, so folgt aus diesem
Umstande nichts weiter, als dass jener Mensch gestorben ist; will
man jedoch wissen, was seinen Tod veranlasst hat, so kann man Leute
befragen, welche bei seinem Tode zugegen waren; findet man solche
Zeugen nicht, oder gewährt ihre Aussage keinen genügenden Aufschluss,
so erübrigt noch immer die =Untersuchung= des Leichnams. -- Liefert
diese das Resultat, dass der Mensch eine Flintenkugel im Herzen habe,
so gibt dieser Umstand, verglichen mit der =Erfahrung=, dass eine
solche Erscheinung niemals eintrete, wenn nicht ein =Schuss= Statt
gefunden, wodurch die Kugel an den Ort gebracht wurde, an welchem sie
gefunden wurde, das Resultat, dass Derjenige, dessen Leichnam hier
liegt, einen =Schuss erhalten habe=, und die =weitere= Erfahrung, dass
ein Schuss durch das Herz immer =tödtlich= sei, liefert den =Schluss=,
dass der Tod dieses Menschen die =Folge= des beigebrachten Schusses
sei.

Hieraus erhellt nun, dass =nur dann= der Schluss von der Wirkung auf
die Ursache von Seite des =Richters= als richtig anerkannt werden kann,
wenn er die =Ueberzeugung= hat, dass in den Akten wirklich =alle=
Merkmale vorkommen, welche die Thatsache wirklich darbietet, dass
dieselben durchaus =richtig= geschildert, und dass die =Erfahrungen=,
welche zu dem Zwecke, um die Ursache der vorliegenden Wirkung zu
ergründen, in Anwendung gebracht wurden, ebenfalls =richtig= seien, und
keine derlei Erfahrung, welche zu dieser Vermittlung nothwendig war,
=ausser Acht= gelassen wurde.

Die Ueberzeugung, dass allen diesen Erfordernissen Genüge gethan
wurde, erwirbt sich der Richter am natürlichsten dadurch, dass er =sich
selbst= die =Anschauung= von der noch vorhandenen =Wirkung= verschafft,
und so viel es ihm möglich ist, seine =eigenen= Erfahrungen zur
Ausmittlung der Ursache anwendet.

Zu dieser =eigenen= Beobachtung ist nur der Richter, so weit es
ihm möglich ist, =verpflichtet=, welche Verpflichtung auch von der
Gesetzgebung anerkannt ist, da bei Erhebung des Thatbestandes im §. 244
ausdrücklich vorgeschrieben ist: „Alles, was von den, das Verbrechen
darstellenden, Stücken (_corpora delicti_) gefunden wird, stückweise
genau zu beschreiben und dem Akte beizulegen, sofern dieses thunlich
ist.”

Der Grund dieser gesetzlichen Anordnung ist kein anderer, als jener,
weil es für den Menschen =unmöglich= ist, eine =sicherere= und
=festere= Ueberzeugung, als auf dem Wege der =eigenen Anschauung=
zu erhalten, denn wo diese einmal eingetreten ist, =muss= jede dem
Resultate derselben entgegengesetzte Ansicht nothwendig als eine
=unrichtige= betrachtet werden.

Da nun der Richter verbunden ist, sich die möglichst =feste=
Ueberzeugung von der objektiven =Wahrheit= der Thatsachen zu
verschaffen, welche sein Urtheil im Strafverfahren bestimmen sollen, so
=kann= kein Zweifel obwalten, dass er bei jeder solchen Erhebung nicht
nur berechtigt, sondern =verpflichtet= ist, so viel es nur geschehen
kann, sich durch =eigene= Anschauung seine Ueberzeugung zu gründen.


§. 4.

Von dieser Regel machen auch diejenigen Erhebungen, welche zu ihrer
vollständigen und richtigen Beurtheilung besondere =Kunstkenntnisse=
erfordern, mit wenigen Beschränkungen, =keine= Ausnahme, denn auch
=derlei= Erhebungen sind in der Regel so beschaffen, dass =Vieles
davon= ein Gegenstand der blossen =Sinneswahrnehmung= ist, und =viele=
Beziehungen in Betreff der Wirkung zur Ursache auch durch Anwendung
der =gewöhnlichen= Lebenserfahrung können ausgemittelt werden. Auch
bei Erhebungen, welche =Kunstkenntnisse= erfordern, ist daher weder
die =Intervention=, noch die =eigene= Beurtheilung des Richters
=ausgeschlossen=, und eine =Ausnahme= tritt nur =insofern= ein, als es
überhaupt =unmöglich= ist, =ohne= Kunstkenntnisse auch dasjenige nur
=wahrzunehmen=, was beobachtet werden soll. Ein solcher Ausnahmsfall
tritt insbesondere bei der Touchirung geheimer weiblicher Theile ein.
Hier kann nur Derjenige, welcher mit der Anatomie dieser Theile genau
bekannt ist, seine Aktion so einrichten, dass er eine Abnormität oder
sonst ein besonderes Merkmal =gewahr wird=, und diese Kenntnisse können
nur bei dem =Arzte=, nicht aber bei dem Richter vermuthet werden,
daher der Letztere hievon sich ausschliessen =kann=, und insofern auch
ausschliessen =muss=, als ein solcher Akt, zwecklos vorgenommen, eine
unnütze Beleidigung des Schamgefühls der untersuchten Personen wäre,
auf dessen Respektirung dieselbe das unbestrittene =Recht= hat.

Würde aber das Urtheil der =Kunstverständigen= mit der selbst
erworbenen Anschauung des Richters, oder mit dessen auf eigene
Erfahrung gegründeten Schlüssen im =Widerspruch= sein, so ist der
Richter ebenso =berechtigt=, als =verpflichtet=, die Richtigkeit des
Ausspruches der Kunstverständigen =in Zweifel zu ziehen=, weil, wie
bereits oben bemerkt wurde, =Niemand im Stande ist=, eine fremde
Ansicht auch =dann= für wahr zu halten, wenn sie der =eigenen=
Sinnenwahrnehmung und der eigenen Erfahrung =nicht entspricht=; der
Richter ist daher schon in seiner Eigenschaft als =vernünftiges Wesen=
verpflichtet, von seiner Ansicht =nicht eher abzugehen=, als bis ihm
von den Kunstverständigen =nachgewiesen= wird, dass und in welcher Art
und Weise er sich in einem =Irrthume= befinde.


§. 5.

Obwohl es nun nach dieser Ansicht der Sache keinem Zweifel unterliegen
kann, dass der Richter, auch bei einem =Kunstbefunde=, nicht von der
=Mitbesichtigung= und =Mitbeurtheilung= ausgeschlossen sein kann,
so ergibt es sich doch aus der Natur der Sache, dass sowohl die
Wahrnehmung, als auch die Beurtheilung des Gegenstandes von Seite
der Kunstverständigen in vielen Fällen =weiter= gehen =könne= und
=müsse=, als jene des =Richters=, denn ein in gewissen Wahrnehmungen
=geübtes Auge= sieht an demselben Gegenstande offenbar =mehr=, als
das =ungeübte=, und ein Mensch, dessen Studien ihm =Erfahrungen=
geliefert haben, die dem Andern =mangeln=, wird in vielen Fällen
=anders= urtheilen, als =jener, dem= diese Erfahrungen mangeln, weil
er durch die letzteren in die Lage gesetzt ist, die =Mangelhaftigkeit
des Resultates=, welches Jener aus seinen =beschränkten= Erfahrungen
abstrahirte, =einzusehen=. In dieser Beziehung kann es daher =keinem=
Zweifel unterliegen, dass in einem Falle, wo die Kunstverständigen
anders urtheilen, als der Richter, die =Wahrscheinlichkeit= dafür
spreche, dass die Kunstverständigen =Recht=, der Richter aber =Unrecht=
habe.

Mehr als diese =Wahrscheinlichkeit= folgt jedoch aus dieser Differenz
=nicht=; da nun der Richter besonders dort, wo es sich darum handelt,
eine =Strafe= auszusprechen, nicht blos =Wahrscheinlichkeit=, sondern
=Gewissheit= bedarf, so folgt, dass der Richter bei einer solchen
Differenz zwischen =seinem= Urtheile und jenem der Kunstverständigen
=niemals= verhalten werden kann, sein Urtheil, gegenüber des andern,
unbedingt =aufzugeben=, sondern nur, dass er verlangen muss, dass
die Kunstverständigen ihm vorerst seine Bedenken =heben=, d. h. ihm
nachweisen, =inwiefern= und =warum= seine Ansicht =irrig= sei.

So könnte z. B. in dem Falle, wo Jemand bei einem Wortwechsel einen
unbeträchtlichen Stoss erhielt, auf einen Heuhaufen hinfällt und
darauf vom Schlage gerührt starb, der Richter den Ausspruch eines
Arztes, =dass der Tod eine Folge des Fallens auf den Grashaufen sei=,
niemals als =wahr= annehmen, sondern er müsste hier =das Zeugniss
seiner eigenen Sinne= und jenes =seiner= Erfahrung: dass man auf
einen Grashaufen fallen und sich dabei ganz wohl befinden kann,
so wie die fernere Erfahrung, dass man auch =ohne= alle =äussere
Verletzung vom Schlag gerührt werden kann=, dem ärztlichen Ausspruche
=entgegensetzen=, und müsste daher an dessen Wahrheit so lange
=zweifeln=, bis nicht diese Bedenken behoben sind.

Der Fall, von dem hier die Rede ist, hat sich =wirklich= ereignet. Der
Arzt begründete seine Ansicht dadurch, dass der nachher Verstorbene
vom Trunke und Zorn bereits aufgeregt war, und bei seinem hohen Alter
und sonstigem apoplektischen Habitus eine geringe Erschütterung ihm den
Schlagfluss zuziehen =konnte=.

Es darf wohl nicht bemerkt werden, dass =dieser= Erklärung keine
rechtliche Folge gegeben wurde, da der Umstand, auf den es hier
einzig und allein ankam: ob der Tod eine Folge des Werfens auf den
Grashaufen gewesen sei, und ihn =ohne= dieses Ereigniss nicht eben so
der Schlag getroffen hätte, nicht im Mindesten richtig gestellt war, ja
sogar durch die in Folge ämtlicher Aufforderung von dem Arzte selbst
abgegebene Erklärung, dass es auch möglich gewesen wäre, dass den so
Behandelten auch ohne Auffallen auf den Grashaufen der Schlag gerührt
haben möchte, jedes Bedenken gehoben wurde.


§. 6.

So wie es aber keinem Zweifel unterliegen kann, dass der Kunstbefund
den Richter, =so weit dessen Einsicht reicht=, von seiner objektiven
Richtigkeit =überzeugen= muss, wenn demselben eine =rechtliche= Folge
gegeben werden soll, so wenig kann es einem Zweifel unterliegen, dass
auch der Kunstverständige =verbunden=, und daher auch =berechtigt=
sei, alle diejenigen Wahrnehmungen, welche der =Richter= gemacht
hat, oder welchen der Richter =irgend einen Einfluss= auf =seine=
Beurtheilung einräumen zu können glaubt, zu =beobachten= und in ihrer
Bedeutung zu =würdigen=, da =ohne= diese Vorsicht =ein Irrthum des
Richters= nothwendig auch einen =Irrthum im Kunstbefunde= mit sich
bringen muss, der Natur der Sachen nach aber der mit den nöthigen
Vorkenntnissen =nicht= versehene Richter auch in Bezug auf Gegenstände,
welche sich auch wohl durch die gewöhnliche Sinnenthätigkeit
wahrnehmen lassen, =leichter= in einen =Irrthum verfallen=, oder aus
=Mangel der hinlänglichen Erfahrung= leichter zu einem =Fehlschlusse=
verleitet werden kann, als der ihm hierin bedeutend =überlegene=
Kunstverständige.

Hieraus folgt nun, dass die =Erhebung eines Kunstbefundes im
Strafverfahren= ein Akt sei, bei welchem, so weit es nur möglich
ist, der Richter den =Kunstverständigen= und dieser wiederum den
=Richter controlliren= muss, und daher eigentlich ein ihnen Beiden
gemeinschaftlicher Akt sei.


§. 7.

Es gibt jedoch, wie bei §. 4 bemerkt ist, Ereignisse, deren
Beschaffenheit von der Art ist, dass man =ohne= besondere Vorkenntnisse
weder die =Richtigkeit= des gewonnenen Resultats =beurtheilen=, noch
auch die =Bedeutung= der zur Gewinnung dieses Resultates eingeleiteten
=Operationen würdigen= kann.

Diese Stellung ist von Seite des Richters gegenüber dem
=Kunstverständigen= allerdings =möglich=.

Diese Möglichkeit bildet jedoch nicht die =Regel=, sondern den
=Ausnahmsfall=, und muss daher wie jede andere Ausnahmsregel, und zwar
hier um so mehr =bewiesen= werden, weil der Richter =verpflichtet ist=,
so weit er es vermag, sich seine =eigene= Ueberzeugung zu gründen.

Dieser Beweis, dass es für den Richter =unmöglich= ist, sich eine
weitere Ueberzeugung zu verschaffen, kann nun nur durch den möglichsten
Grad von =Klarheit= in der von den =Kunstverständigen= zu verfassenden
=Darstellung= geliefert, und jedem Bedenken des Richters dadurch
entgegengearbeitet werden, wenn der Richter selbst bei der Vornahme
einer ihm sonst =unbekannten= Operation, auf das =Vorkommen= gewisser
=in die Sinne fallender Erscheinungen=, auf deren Vorkommen =Schlüsse=
gegründet werden wollen, =aufmerksam= gemacht, und so auf diese Weise
die nach den gegebenen Umständen =mögliche= Kontrolle herbeigeführt
wird.

Es scheint nun allerdings ein Widerspruch zu sein, wenn man die
=Deutlichkeit= der Beschreibung zum Beweise der =Unverständlichkeit=
einer Sache fordert, allein es ist ganz und gar kein Widerspruch in
dieser Behauptung, denn =dass= sich über Sachen, welche für jeden,
der die Sache =sieht=, vollkommen verständlich sind, Beschreibungen
machen lassen, =aus denen kein Mensch klug wird=, hat zuverlässig
jeder meiner verehrten Leser schon erfahren. -- Der Grund, dass die
Beschreibung in einem solchen Falle nicht verstanden wird, liegt aber
dann nicht in der =Unbegreiflichkeit der Sache=, oder in dem Mangel
von Auffassungsfähigkeit desjenigen der sie nicht versteht, sondern in
der =mangelhaften Darstellung=. -- Der Beweis nun, dass die gelieferte
Darstellung des Kunstbefundes =nicht= die Schuld trage, wenn der
Richter ihre objektive Richtigkeit nicht zu würdigen verstehe, kann
daher nur in ihrer vollkommenen Deutlichkeit bestehen.


§. 8.

Eine solche Darstellung ist nur für den =Richter=, nicht aber für einen
=andern Kunstverständigen= bestimmt. Soll sie daher dem Erfordernisse
der =Deutlichkeit= entsprechen, so muss deren Verfassung mit dem
Bestreben Statt finden, alle jenen Begriffe, welche dem Richter zu
deren Verständlichkeit noch mangeln, zu =ergänzen=; diese Aufgabe ist
bei weitem nicht so schwer zu erreichen, als es dem ersten Anblicke
nach =scheint=, wenn der Kunstverständige sich anders den =Zweck= vor
Augen hält, welche jede gerichtliche Erhebung =erreichen soll=. Es
ist dieser Zweck kein anderer als der, dem Richter das Verständniss
zu eröffnen, =ob die vorliegende Erscheinung in irgend einer Beziehung
mit dem Strafgesetze= und in =welcher= Beziehung sei, d. h. =welches=
Strafgesetz auf dieselbe angewendet werden kann. Der Kunstverständige
bedarf zu diesem Zwecke nichts weiter als die Strafgesetze, welche
=möglicher Weise= angewendet werden, zu kennen, und etwas nachzudenken,
welche vermittelnden Begriffe ihm =seine Studien= geliefert haben,
um diese Verbindung einzusehen, und diese Begriffe dann in einer
=fasslichen Darstellung= zu Papier zu bringen. Dasjenige, dessen
Kenntniss er =nur seinen Studien= verdankt, =mangelt= dem Richter, er
muss also in seiner Darstellung von demjenigen, welches ein Gegenstand
der =sinnlichen= Wahrnehmung und gewöhnlicher Lebenserfahrung ist,
und daher auch von dem Richter aufgefasst wird, =ausgehen=, und seine
Darstellung so weit =verfolgen=, bis er =dahin= kommt, das Resultat
seiner Darstellung mit =Ausdrücken= zu geben, in welchen der Richter
die in den Worten des Gesetzes enthaltenen Begriffe= wieder zu erkennen
vermag=. Je =näher= daher die Ausdrücke des Kunstbefundes den in dem
Gesetze enthaltenen Ausdrücken kommen, desto =brauchbarer= wird der
Kunstbefund sein, und je mehr es den Richter in =Ungewissheit lässt=,
ob dasjenige was der =Kunstverständige= gefunden haben will, sich unter
die Worte des Gesetzes subsummiren lassen, um =so weniger= wird es
seinem Zwecke entsprechen.

Zur Erreichung dieser Aufgabe genügt es aber nicht, dass etwa nur die
=Schlusssätze= des Befundes Ausdrücke enthalten, in welchen der Richter
die Worte des Gesetzes wieder erkennt, sondern es muss auch die ganze
=Entwicklung des Ideenganges= in einem solchen Operate so beschaffen
sein, dass der Richter auch alles dasjenige, =was er selbst= von
der Sache gesehen, oder was ihm seine =eigene= Erfahrung bestätigt,
=wieder zu erkennen=, und zugleich zu beurtheilen vermag, ob =nicht
etwas vorkomme=, was hiermit im =Widerspruche= ist, ob nicht etwas
=ausgelassen= sei, welches ihm seine eigene Beobachtung geliefert hat,
oder etwas =vorkomme=, von dessen Dasein er sich noch die unmittelbare,
ihm bisher noch mangelnde eigene Anschauung =verschaffen kann=. -- Die
Nothwendigkeit, auch diesem Erfordernisse zu genügen, ergibt sich aus
demjenigen, was eben bei §. 3. und 4. gesagt wurde.

Gegen diese Ansicht wird nun insbesondere in =ärztlichen= Befunden
nicht selten auf eine Weise verstossen, dass man zu dem Gedanken
verleitet wird, dass die Aussteller solcher Gutachten den Umstand, dass
solches für den =Richter= bestimmt sei, gänzlich =ausser Acht lassen=;
man findet solche Befunde (freilich ganz entschieden gegen den Inhalt
des §. 18. der Instruktion für die Aerzte bei Vornahme gerichtlicher
Leichenbeschau) mit =lateinischen und griechischen= Ausdrücken
angefüllt, welche dem Aktuar, der sie niederschreibt vorbuchstabirt
werden müssen, für den Richter aber nicht mehr leisten, als wenn ein
leerer Raum an dieser Stelle gelassen worden wäre, was wirklich auch
manchmal geschieht, wenn der Aktuar sich geschämt die Vorbuchstabirung
zu verlangen, dem Ganzen die Krone der Unbrauchbarkeit aber dadurch
aufsetzen, dass sie mit einem technischen Ausdrucke schliessen, z. B.:
es erhellt, dass der N. N. an einer _apoplexia sanguinea_ verstorben
sei.

Diese Nothwendigkeit ergibt sich aber noch mehr durch die Betrachtung,
dass man niemals im Stande ist mit Gewissheit zu sagen, ob man die
Ansicht eines Dritten auch =richtig verstehe=, wenn man nicht auch
die Ideenfolge zu gewahren vermag, welche ihn zu dieser Ansicht
geführt hat, denn es ist sehr möglich, dass jener Dritte mit den von
ihm gebrauchten Worten am Ende noch =andere Begriffe= verbindet, als
Derjenige, der von seiner Ansicht Gebrauch machen soll.

Dadurch können die grössten, und für die Strafrechtspflege
=schädlichsten= Missverständnisse entstehen. -- Es ist also schon aus
dieser Rücksicht die dringendste Aufgabe für den Kunstverständigen,
alles zu beobachten, wodurch einem solchen Missverständnisse vorgebeugt
wird.


§. 9.

Um ein Beispiel zu geben, wie ein Gutachten =richtig=, und doch für
den Richter, und daher für den Zweck, für welchen es ausgestellt ist,
ganz =unbrauchbar= sein kann, wenn der Ausstellende nicht den Grundsatz
befolgt, dass er die Ausdrücke so wähle, dass sie jenen, deren das
Gesetz sich bedient, möglichst nahe kommen, möge die Textirung
eines über einen Todtfall durch Ertrinken abzugebenden Befundes
berücksichtigt werden.

Niemand stirbt am =Ertrinken=, d. i. am Trinken des Wassers, und
doch ist dies der vulgare Begriff, den daher der Richter =möglicher
Weise= theilen kann, welcher vulgare Begriff dieser Todesart sich
praktisch dadurch ausspricht, dass der gemeine Mann, wenn er nicht
besser belehrt ist, im Falle wo Jemand aus dem Wasser gezogen wird,
nichts Dringenderes zu thun weiss, als den Verunglückten umzustürzen,
um ihn von der vermeintlich eingedrungenen Wassermenge zu befreien.
Der Arzt, der ein solches Gutachten abzugeben hat, wird nun natürlich
diese Ansicht nicht theilen und wird daher sein Gutachten nicht dahin
abgeben, der Mensch sei =ertrunken=, sondern er wird nach Massgabe des
Sektionsbefundes aussprechen, der Mensch sei am =Schlagflusse=, oder an
der Erstickung durch Hemmung der Respiration etc. gestorben.

Damit ist aber dem =Richter=, welcher möglicher Weise mit dem
Zusammenhange, in welchem sich der Schlagfluss mit dem Untergehen im
Wasser befindet, nicht bekannt ist, =nicht= gedient, denn so lange
nichts weiter hervorgeht, als dass ein Mensch am =Schlagflusse=
gestorben ist, lässt sich noch immer die Möglichkeit denken, dass der
Tod ganz =unabhängig= von der Handlung eines Dritten, durch welche
jener Mensch in das Wasser gerieth, erfolgt sein könne. -- Hier muss
daher der das Gutachten abgebende Arzt, um dem Zwecke der Erhebung zu
genügen, noch =weiter= gehen und erklären, dass die =Ursache= dieses
Schlagflusses bei diesem Individuum =lediglich= von dessen Lage im
Wasser entstanden sei, oder dass die Hemmung der Respiration eine
=nothwendige Folge= der entweder durch besonders angewandte Gewalt,
oder des durch die natürliche Schwere des Menschen Statt gefundenen
=Untergehens= sei, und erst =diese= Erklärung wird dem Richter den
gehörigen Aufschluss geben, um auf die Thatsache, bezüglich auf den
=Urheber= derselben, das Gesetz anwenden zu können.


§. 10.

Wenn man nun die gegenseitige Stellung, welche zwischen einem
Kunstverständigen und dem Richter obwaltet, genau bezeichnen will, so
ergibt sich Folgendes:

_a_) Der Richter ist berufen alles dasjenige mit =eigenen= Sinnen zu
gewahren, was auf diese Art zu gewahren möglich ist, und hat daher
die Pflicht, vom Kunstverständigen zu verlangen, dass er ihm jede
Entdeckung, =wo es möglich ist=, so vor Augen bringe, dass er sich von
deren =Wirklichkeit= überzeugen kann; er ist ferner befugt, von dem
Kunstverständigen zu verlangen, dass er alles =untersuche=, was ihm
(dem =Richter=) zu untersuchen =nöthig= scheint, und dasjenige, was er
(der Kunstverständige) gefunden hat, so (schriftlich) darstelle, dass
dem Richter dessen =Bedeutung= in rechtlicher Beziehung vollkommen klar
werde.

_b_) Dort aber, wo der Kunstverständige in Folge seiner, dem Richter
=mangelnden=, Vorkenntnisse Erhebungen zu machen für nöthig findet,
muss er sie einleiten, zwar nicht =ohne= den =Richter= auf die
Nothwendigkeit dieser Einleitung =aufmerksam= zu machen, jedoch auch
ohne zu erwarten, dass der Richter ihm einen ins Detail gehenden
=Auftrag= gebe, weil dieses ohne Vorkenntnisse nicht möglich ist;
sondern er hat =von sich selbst zu wissen und zu thun, was nöthig ist=.

_c_) Der Richter kann und muss ferner von dem Kunstverständigen
verlangen, dass er auch ihn, den =Richter=, in seinen Erhebungen
=controllire=, nämlich mit Anwendung seiner Kenntnisse beurtheile, ob
die Beobachtungen des Richters auch =allseitig= und =richtig= waren,
denn wo einmal eine Sache =Theile= hat, die sich mit der blossen
Sinnenwahrnehmung =nicht= erkennen lassen, ist es bei =einem= Menschen
immerhin möglich sich in etwas zu irren, oder etwas zu übersehen, wo
die =blos sinnliche= Wahrnehmung eines =andern=, der jedoch in dieser
Art von Beobachtung eine grössere Uebung hat, allerdings genügt hätte.


§. 11.

Der =Kunstverständige= kann von dem Richter fordern, dass er ihm alles
angebe, was =er= von der Sache gewahrt, und ihm alle jene Beziehungen
der Thatsache zum Gesetze andeute, welche nach seiner, des Richters,
Ansicht daran =möglicher Weise= zu finden sein können.

Da jedoch diese =Möglichkeit= der Angabe nur so weit geht, als die
=Kenntnisse= des Richters von der Sache überhaupt reichen, diese aber
dort, wo Vorkenntnisse nöthig sind, welche dem Richter abgehen, nicht
anders als =mangelhaft= sein könne, so folgt von selbst, dass die
Aufgabe des Kunstverständigen immer =weiter= geht, als der Richter
sie ihm zu =geben= vermag, dass er daher keineswegs =blos= an die ihm
vom Richter angedeuteten Beziehungen sich zu halten, sondern =selbst=
nachforschen, und daher mit Gegenwärtighaltung des =richterlichen=
Zweckes, =selbstständig= die Daten zu verfolgen habe, um die möglichste
Vollständigkeit der Erhebung zu erreichen. (§. 10.)


§. 12.

Durch dasjenige, was im vorigen Paragraphe gesagt worden ist, ergibt
sich von selbst die Obliegenheit des Kunstverständigen gegenüber den
=Fragen= des Gerichtes.

Hier herrscht nun insbesondere bei manchem Gerichtsarzte noch immer
die ganz =falsche= Ansicht, dass dort, wo gerichtliche Fragen gestellt
werden, sich das Gutachten auch auf Beantwortung dieser =Fragen= zu
=beschränken= habe.

Durch diese Ansicht wird nun der Richter in ein höchst unangenehmes
_dilemma_ versetzt; denn stellt er =keine= Fragen, so erfährt
er vielleicht gerade das =nicht=, was nach =seiner= Ansicht zu
erfahren =nothwendig= ist, und =stellt= er Fragen, so ist er in
Gefahr, dasjenige =nicht= zu erfahren, was nach der vielleicht
vollkommen richtigen Ansicht =des Kunstverständigen= ihm zu erfahren
=nothwendig= wäre, und um welches er auch gefragt =hätte=, wenn ihm die
=Möglichkeit=, diesen Umstand zu erfahren, =vorgeschwebt= hätte.

Der einzige Weg, welcher zu einem vernünftigen Ziele führen kann,
besteht daher nur darin, dass der Kunstverständige sich =vor= der
Untersuchung mit dem gesetzlichen Zwecke, welchen dieselbe haben
kann, =vertraut= mache, die =richterlichen= Fragen sodann zwar nicht
unbeantwortet lasse, sich dadurch aber nicht =hindern= lasse, die Sache
=selbstständig= aufzufassen und sein Gutachten =so= abzugeben, dass
dessen Ausdrücke den Worten des =Gesetzes= möglichst =nahe= kommen, wie
dies oben bei §. 6. bemerkt wurde[1].

  [1] Sieh hierüber auch mein Systematisches Handbuch der
      gerichtsarzneilichen Wissenschaft (§. 38.). Wien bei
      _Mörschner's_ Witwe, und _W. Bianchi_. Das Gutachten wird
      übrigens nur dann vollständig sein, wenn es die in der
      alten grammatikalischen Formel enthaltenen Punkte nach
      Möglichkeit beantwortet. _Quis_, wer ist beschädigt, wie
      ist seine individuelle Beschaffenheit; _quid_, was ist ihm
      geschehen; _ubi_, unter welchen Lokalumständen; _quibus
      auxiliis_, mit welchem Werkzeug etc.; _cur_, (gehört mehr in
      die richterliche Amtshandlung); _quomodo_, wie wurde bei der
      Beschädigung etc. verfahren; _quando_, wie lange ist es her,
      also z. B. wie lange ist es her, dass der Todte todt ist.


§. 13.

Keine Wissenschaft oder Kunst lässt sich denken, welche =gar nicht= auf
solchen Erfahrungen beruhte, welche nicht jeder Mensch machen könnte,
und wirklich gemacht hat, und welche daher nicht solche Resultate
aufzuweisen hätte, welche rein aus =dieser= Erfahrung des gewöhnlichen
Lebens geschöpft sind; man braucht eben nicht Astronomie studirt zu
haben um zu wissen, dass die Tage im Dezember kürzer sind als im Juli,
ein Satz, von dessen Wahrheit der grösste Astronom unmöglich eine
festere und richtigere Ueberzeugung haben kann, als der nächst beste
Leinweber.

Umgekehrt aber werden die =Kunstverständigen= eben so die Aufgabe
haben, in dem Falle, als der Gegenstand, um den es sich handelt, von
ihnen als ein solcher erkannt wird, welcher sich von den gewöhnlichen
Begebnissen =entfernt=, auch die =Beobachtungen des Richters= einer
=besonderen= Aufmerksamkeit zu unterziehen, um die Gewissheit zu
erlangen, dass sie nicht etwa wegen Mangel an Sachkenntniss =ungenau=
oder =unrichtig= seien.

Dasjenige Moment, welches in einem und dem andern Falle über den Grad
und die Beschaffenheit dieses gegenseitigen Einflusses entscheidet, ist
jedoch in =jedem= Falle die =specielle Beschaffenheit= des vorliegenden
=Gegenstandes= im Allgemeinen, und in dem =speciellen Falle= in
Bezug auf die Art und Weise, wie sich diese Einflussnahme =praktisch
gestalten wird=, der =Grad= und das =Verhältniss der Bildung=, in
welchen sich Richter und Kunstverständiger zu einander befinden. Es
lässt sich nämlich nicht sagen, dass weil etwa irgend ein Gegenstand
die Beiziehung von =medizinischen= Kunstverständigen fordert, der
Richter ihren Aussprüchen =blindlings= folgen müsse, weil sie als
=medizinische Kunstverständige= urtheilen, sondern es lässt sich nur
so viel sagen, =keine= Beurtheilung des Richters ist =gültig=, so lange
dieselbe von den Kunstverständigen nicht =bestätiget wird=, und eben so
kein Ausspruch der =Kunstverständigen ist gültig=, so lange demselben
ein auf eigener Sinnenwahrnehmung oder =erprobten Erfahrungen=
gegründetes =Bedenken= des Richters =entgegensteht=, und dasselbe durch
Nachweisung des =Irrthumes=, auf welchem es beruht, nicht =beseitiget=
ist.

Je mehr Kenntnisse der Richter von dem Fache der Kunstverständigen
hat, um so mehr wird er aber in der Lage sein zu entdecken, ob, und
wo allenfalls noch eine =Mangelhaftigkeit=, oder ein =Irrthum= in dem
Befunde vorhanden ist und um so mehr wird er auf =Ergänzung= zu dringen
im Stande sein, und eben so, je weiter die =Rechtskenntnisse= des
Kunstverständigen gehen, um so mehr wird er vermögen zu beurtheilen, ob
und was von dem =Richter= allenfalls in seiner rechtlichen Bedeutung
=irrig aufgefasst=, oder zu erheben =übersehen wurde=. Es wird daher
der Einfluss eines mit den Rechten =vertrauten= Kunstverständigen
offenbar =weiter= gehen, und sich in vielen Fällen wohlthätiger
äussern, als dies =ohne= dieser Voraussetzung möglich ist, und
=umgekehrt=.

Das österreichische Strafgesetzbuch hat dieses Verhältniss offenbar
ganz richtig aufgefasst, indem es im §. 240 I. Th. hierüber erklärt:
„Ist das Verbrechen von solcher Art, dass, um die Beschaffenheit
desselben aus den Merkmalen gründlich zu erforschen, besondere
wissenschaftliche oder Kunstkenntnisse erfordert werden, so ist =ein=
dergleichen Kunstverständiger, und wenn es ohne bedenklichen Verzug
geschehen kann, sind deren =zwei= beizuziehen.”

Ueber den Zweck dieser Beiziehung spricht sich nun der §. 241. dahin
aus: „Wenn der Kunstverständige nicht schon beeidet ist, soll er dahin
beeidet werden, dass er nach Eid und Pflicht _a_) den Gegenstand genau
zu untersuchen, und _b_) alles was davon (dem Richter) zu wissen nöthig
ist, wahrhaft und bestimmt anzugeben habe.”

Zu wissen =nöthig= von einem Kunstverständigen ist aber _a_) ob
dasjenige, was der Richter als =objektiv richtige= Thatsache annimmt,
sich auch nach den zahlreichern und gründlichern Beobachtungen
der Wissenschaft als solches =bestätige=; _b_) ob nicht etwas vom
Richter =unbemerkt= gelassen wurde, was zur Sache gehört, und =worin=
dieses =bestehe=, was der Richter nach eigener Lebenserfahrung
hätte beurtheilen =können=; _c_) ob =sonst= Merkmale vorhanden
sind, welche =ohne= Beihülfe der Kunst oder Wissenschaft, welche der
Kunstverständige übt, =unbemerkt geblieben= wären; _d_) eine solche
Darstellung dieser Merkmale, dass der =Richter= das Verhältniss, in
welches durch diese Merkmale die untersuchte Thatsache zum Gesetze
gestellt wird, =aufzufassen= in den Stand gesetzt wird; _e_) und
endlich die Angabe, was nach dem in Folge der nach Massgabe der Punkte
_a_, _b_, _c_, _d_ gewonnenen Resultate =weiter= in der Sache zu thun
und einzuleiten ist.

Das Erforderniss _d_) ist wesentlich, -- denn wenn der Richter
mit dieser Beziehung der Merkmale =nicht= bekannt gemacht wird, so
dienen sie zu =keiner rechtlichen Beurtheilung=, und die Darstellung
bleibt daher =mangelhaft=, weil sie ihren Zweck nicht =erreicht=. Im
Gegensatze wird die von dem Kunstverständigen gemachte Darstellung um
so =vollständiger= sein, =je mehr= sie die =Bedeutung= der Merkmale in
solcher Art =entwickelt=, d. h. je =näher= deren Beziehung zum Gesetze
gebracht wird.

So wird das Gutachten über einen Sectionsbefund einer Vergiftung
=unvollständig= sein, wenn es nichts weiter enthält als die Angabe:
es erhellt, dass der N. N. an in den Magen eingedrungenes Vitriolöl,
welches nach toxikologischen Grundsätzen unter die Gifte gehört,
gestorben sei. Es wird aber vollständig sein, wenn es zugleich noch
enthält, dass bei dem Umstande, wo dieses Vitriolöl im konzentrirten
Zustande im Magen vorgefunden wurde, diese Substanz aber von der
Art ihre Wirkung auf die Geschmackswerkzeuge äussert, dass ein
=unbemerktes= Verschlucken desselben nicht möglich ist, der Verstorbene
aber noch einige Zeit nach sichtbar gewordener Wirkung der Vergiftung
=gelebt=, und sich weder =geäussert=, dass es ihm durch einen Dritten
mit Gewalt beigebracht wurde, obwohl er nicht ausser Stande war sich
zu äussern, noch auch =Spuren= eines geleisteten Widerstandes sichtbar
sind, endlich auch von ihm, ungeachtet des durch die Verschluckung
nothwendig sogleich eingetretenen heftigen Schmerzes =Hülfe nicht
gesucht= wurde, so lässt sich =nicht denken=, dass diese Verschluckung
durch =gewaltsame= Einwirkung eines Dritten, oder =zufällig= geschah,
sondern es lässt sich nicht anders annehmen, als dass er =absichtlich=
diese Substanz verschluckt habe, wahrscheinlich um durch die allgemein
bekannte tödtliche Wirkung des Verschluckens dieser Substanz seinem
Leben ein Ende zu machen.


§. 14.

Dass nun =Aerzte= und =Wundärzte=, wenn sie bei gerichtlichen Fällen
interveniren, in die Kategorie der =Kunstverständigen= gehören, wird
wenigstens keinem =Juristen= zweifelhaft sein. -- Für den =Arzt=
mag dieser Gedanke insofern etwas minder Zusagendes haben, weil er
sich dadurch gewissermassen auf gleiche Stufe mit einem Handwerker,
welcher, sofern er ein Gutachten in einem gerichtlichen Akte abzugeben
hat, ebenfalls =Kunstverständiger= genannt wird, gestellt sieht[2].
Allein diese Rücksicht ist denn doch wohl von keiner Bedeutung, und
wird wohl bei einigem Nachdenken Niemand verletzen, so wenig es für
den Präsidenten einer hohen Behörde ein Gegenstand des Anstosses
sein wird, ein =Diener des Staates= zu heissen, weil auch ganz
=untergeordnete=, jedoch ebenfalls bei einer Staatsbehörde angestellte
Individuen =Staatsdiener= sind; beide =dienen dem Staate=; so gut als
ein Arzt, und ein Handwerker ihre =Kunst= bei einem gerichtlichen Akte
nach ihrem besten Wissen =zum gerichtlichen Zwecke anwenden=, und in
=dieser Verpflichtung= daher allerdings auf =gleicher= Stufe stehen;
die Kunst, die sie =üben=, und die =Rangordnung=, welche sie sonst
in der bürgerlichen Gesellschaft einnehmen, wird immer im höchsten
Grade =verschieden= bleiben; da man also in dieser Rücksicht keinen
Grund hat, Aerzte =nicht= unter die Kunstverständigen zu zählen, so
ist wohl kein Zweifel vorhanden, dass alles, was wir bisher von dem
=Kunstverständigen= gesagt haben, auf die in gerichtlichen Akten
beigezogenen Aerzte und Wundärzte =vollkommen Anwendung= leide.

  [2] Einiger Unterschied wird jedoch auch in dem Ausdrucke
      gemacht, dessen sich das Gesetz bedient; es unterscheidet
      nämlich zwischen =wissenschaftlichen= und =Kunstkenntnissen=,
      welche letztere ein =Kennen=, d. i. ein Ausüben, einer
      gewissen Fertigkeit bedeuten. In der Stellung der
      betreffenden Personen zum Gericht, ist diese Unterscheidung
      jedoch von keinen gesetzlichen Folgen.

Dennoch wird kein vernünftiger Mensch zweifeln, dass zwischen den
Beurtheilungen eines =Arztes=, welcher ein Gutachten über einen
wichtigen Fall abgibt, und dem Gutachten eines =Schusters=, welchem
ein gestohlenes Paar Stiefel schätzt, ein =wichtiger= Unterschied sei;
allein der Unterschied liegt nicht =darin=, dass der Arzt =gegenüber
dem Gerichte= sich in einer =andern= Stellung befände, sondern darin,
weil die =Wissenschaft=, welche er ausübt, =eigene= Beziehungen
zwischen =ihm= und dem =Gerichte= herbeiführt, welche bei einem
=gewöhnlichen= Kunstverständigen entweder =gar nicht=, oder in einem
viel =geringeren= Grade vorhanden sind.

Gerade die Wichtigkeit dieser =letzten= Rücksicht, so wie der Umstand,
dass diejenigen Fälle, in welchen die Intervention ärztlicher Personen
erfordert wird, bei der Strafrechtspflege nicht nur sehr =mannigfaltig=
und =zahlreich=, sondern auch nicht selten von =grösster Erheblichkeit=
sind (man denke an die auf Mord, Todtschlag, Nothzucht etc. gesetzten
strengen Strafen), und der weitere Umstand, dass denn doch bei den
Aerzten und Wundärzten nicht =unbedingt= eine solche =Vertrautheit mit
der strafgesetzlichen Erhebung= vorausgesetzt werden kann, dass ohne
nähere Anleitung in =jedem= Falle ein =solches= Gutachten zu gewärtigen
ist, welches dem richterlichen Zwecke =vollkommen entspricht=,
veranlasste die Gesetzgebung, diesem Mangel durch =eigene Belehrungen=,
insbesondere in Bezug auf jene wichtigen Fälle, wo der Tod eines
Menschen erfolgt ist, abzuhelfen, in welchen die =für den Richter=
wichtigsten Momente, auf die der Arzt seine Aufmerksamkeit zu richten,
und die Art und Weise, wie deren Darstellung Statt zu finden hat, näher
bezeichnet werden.

Eine solche Erläuterung war die mit Hof-Dekret vom 18. September 1733
erlassene, und in die peinliche Gerichtsordnung vom Jahre 1768 Beilage
Nr. 2. aufgenommene Instruktion, welche in Ermanglung einer später
erschienenen noch galt, als das gegenwärtige Strafgesetzbuch vom Jahre
1803 eingeführt wurde.

Obwohl nun diese Instruktion bei den Fortschritten, welche die
Arzneikunde überhaupt und insbesondere die =gerichtliche= Arzneikunde
seit jenem Zeitpunkte gemacht hatte, den =neueren= Anforderungen
nicht mehr entsprechen konnte, so verdient doch die Art und Weise,
wie sich diese Instruktion über die Beurtheilung der =Tödtlichkeit von
Verletzungen= ausspricht, bemerkt und anerkannt zu werden.

„Bei der Untersuchung eines Leichnams,” heisst es, „sind alle
innerlichen Gegenden zu öffnen, um zu sehen, ob =dieser= Mensch
=lediglich= von der überkommenen Wunde =unumgänglich= habe verscheiden
müssen,” und bei Vergiftungen, „wie viel Gift dieses =Individuum in
specie= umzubringen erfordert wurde.” Es war daher schon damals durch
gesetzliche Autorität ausgesprochen, dass nicht die =absolute=, sondern
die =individuelle= Legalität das =charakteristische= Merkmal sei,
welches bei gerichtlichen Erhebungen entscheide, ein Umstand, welcher
seither in vielen gerichtlich medizinischen Schriften vielfältig
=ausser Acht= gelassen, und dadurch jene heillose Verwirrung der
Begriffe herbeigeführt wurde, deren nachtheilige Wirkungen sich noch
bis zum gegenwärtigen Zeitpunkte erstrecken, da es ungeachtet der
diesen Gegenstand sachgemäss behandelnden Schriften eines =Henke=
noch immer Aerzte gibt, von welchen man, wo sich nicht eine =absolute=
Tödtlichkeit der Verletzung auffinden lässt, vergebens einen für den
Richter =brauchbaren= Ausspruch erwartet. Ueber die =Stellung des
Arztes zum Richter= enthält diese Instruktion nichts weiter als die
Verordnung für Aerzte und Wundärzte, derlei Untersuchungen allezeit in
Gegenwart der dazugezogenen Gerichtsmänner vorzunehmen.

Im Jahre 1814, kundgemacht mit Hofkanzlei-Dekret vom 19. Jänner 1815,
erfolgte eine =neuerliche Instruktion für gerichtlich angestellte
Aerzte und Wundärzte in den k. k. Staaten, wie sie sich bei
gerichtlichen Leichenbeschauen zu benehmen haben=.

Diese Instruktion enthält eine umständliche Bezeichnung des, bei
gerichtlichen Sektionen sowohl im =Allgemeinen=, als in Bezug auf
=gewisse Todesarten=, z. B. Schuss, Stich oder andere Verwundungen,
Vergiftungen, bei Leichnamen neugeborner Kinder etc., zu beobachtenden
Verfahrens, und der dabei zum Behufe des gerichtlichen Zweckes zu
berücksichtigenden Momente, in Bezug der Stellung des Arztes zum
Richter aber wird §. 14. ein =williger Gehorsam=, alle obrigkeitlichen
Befehle auf das genaueste zu vollziehen, damit der Zweck der
gerichtlichen Leichenbeschau in keiner Hinsicht verfehlt werde, als
eine =nothwendige Eigenschaft= der =Obduzenten= erklärt. Es wird ferner
in §§. 9 und 16 die Führung des Protokolls sowohl durch die Obduzenten,
als durch die Gerichtspersonen, welche als =die eigentlichen legalen
Zeugen= dieses Aktes erklärt werden, und die =Vergleichung= dieser
Protokolle miteinander, -- „=damit so lange der Gegenstand der
Untersuchung noch vorhanden ist, das Vergessene oder Mangelnde auf der
Stelle nachgetragen, das Unrichtige berichtigt, und so den Abweichungen
abgeholfen werde, die sich ausserdem würden gefunden haben=” --
angeordnet.

Endlich wird §. 17 der =Fundschein= als diejenige schriftliche
Ausarbeitung erklärt, welche von den Medizinalpersonen über die =Art
und Weise der Untersuchung=, und über die =Resultate= derselben
als =Beantwortung= der von Seite des Gerichts über den Gegenstand
der Untersuchung =vorgelegten Fragen= an die betreffende Behörde
einzusenden ist.

Dieser Fundschein hat nach §. 21 das =Gutachten=, d. i. die Darstellung
derjenigen Resultate, welche aus den aufgefundenen Daten und
Erscheinungen der Leichenbeschau selbst, nach physisch medizinischen
Grundsätzen gefolgert werden können, zu enthalten, um die von Seite der
Obrigkeit über den Gegenstand der Untersuchung =vorgelegten Fragen= zu
beantworten.

Durch diese Instruktion ist nun klar ausgesprochen, dass jede Handlung
der Medizinalpersonen dabei dem =richterlichen Zwecke= zu dienen
habe. Würde diese Weisung in =dem Sinne=, wie die Instruktion dieselbe
=ertheilt=, immer =befolgt=, so könnte der Fall eines =mangelhaften=
oder =verfehlten= Gutachtens wohl =nicht= eintreten, allein leider
lassen sich in dieser letzten Obliegenheit manche Aerzte dadurch
=irre= machen, dass sie durch die letztangeführte Stelle sich
=berechtigt=, ja auch =verpflichtet= glauben, ihr Gutachten lediglich
auf die Beantwortung der gerichtlichen Fragen zu =beschränken=, und
selbst =dann= nicht =weiter= zu gehen, als die =Fragen= lauten, wenn
die =Veranlassung= dazu in den Erhebungsdaten =offenbar enthalten
ist=, oder wenn die Fragen des Richters den Fall auch offenbar nicht
=erschöpfen=, weil es dem =Richter= hiezu an der nöthigen, ohne
medizinische Vorkenntnisse oft gar nicht möglichen, =Sachkenntniss=
gefehlt hat.

Dass eine solche Ansicht dem Sinne des Gesetzes =nicht= entspreche,
erhellt nicht nur aus den Worten der zitirten §§. 240 241 des
Strafgesetzbuches, und aus der Natur der Sache, sondern wenn man die
einzelnen §§. der Instruktion gehörig erwägt und vergleicht, so findet
man darin die =direkte Aufgabe= für den Arzt, ein Gutachten auch =dann=
in gewissen Fällen auszusprechen, wenn es auch vom Richter =nicht=
verlangt wäre.

Solche =Fragen=, welche sich der Arzt auch =ohne= Aufforderungen
des Richters =von Amtswegen= zu stellen, und daher von Amtswegen
zu =beantworten= hat, sind vermöge dieser Instruktion folgende: Ob
einzelne Verletzungen noch bei =Lebzeiten= oder erst =nach dem Tode=
zugefügt worden (§. 51) und nicht etwa ein =Produkt der Fäulniss= sind
(§§. 74, 78), oder ob die als eine Wirkung der Fäulniss sich scheinbar
zeigenden Beschädigungen nicht etwa ein =Produkt einer Verletzung= sind
(§. 58), ob nicht aus der Beschaffenheit des Körpers selbst sich etwa
eine vorzügliche =Disposition= ergibt, durch welche die =nachtheilige
Folge= der schädlichen Einwirkungen =erhöht= wurde, (§§. 51. 62. 63.
66. 68. 69. 70. 71. 72. 73. 74. 79. 80. 81. 82. 83. 84. 85. 86. 87), ob
nicht eine =andere= Todesart als =jene=, welche die =Verletzung= zur
Folge hätte haben können, vorhanden ist (§§. 56. 62. 66. 68. 69. 70.
72. 73. 78. 79. 87), ob keine =Hilfe= gegen die tödtliche Folge durch
Kunst möglich war (§§. 52. 86), ob nicht besondere, auf eine =bestimmte
Todesart= hinweisende, =früher nicht bekannte= Erscheinungen vorhanden
sind (§§. 51. 52. 53. 56. 58. 59. 60. 64. 66. 69. 70. 71. 74. 75.
76. 88. und 91). Bei Vergiftungen hat auch (§. 94) =der Arzt selbst=
Nachfrage bei dem Angehörigen des Verstorbenen anzustellen, und die
Akten einzusehen.

Dass die =Todesursache= vor allem aufgefasst und daher im Gutachten
=besonders bezeichnet= werden müsse, erhellt aus dem Inhalte des §. 92.

Es folgt daher, dass der Arzt nicht nur nach dem Sinne der obzitirten
zwei §§. des Strafgesetzbuches, welche durch diese Instruktion
keineswegs =aufgehoben=, wohl aber näher =erörtert= sind, sondern
durch den Inhalt der Instruktion =selbst=, zu einer =selbstständigen=
Auffassung des vorliegenden Faktums =berechtigt= und =verpflichtet=
sei, und dass er wohl die Pflicht habe, die gerichtliche Frage
=vorzugsweise= zu =berücksichtigen= und zu =beantworten=, sich aber
durch dieselben nicht im mindesten =abhalten= lassen dürfe, =alles= was
er =selbst= als zur Sache gehörend von Wichtigkeit findet, zu =erheben=
und in seinem Gutachten =anzuführen=.


§. 15.

Wie kann nun der Arzt wissen, welche Erhebungen und welche Aussprüche
=sachgemäss= sind, und den allerdings möglichen Umstand vermeiden,
dass er nicht durch =zu viel= sagen =Missverständnisse= oder
=Unrichtigkeiten= für die =richterliche= Beurtheilung herbeiführt?

Die einfachste Beantwortung dieser Frage wäre nun wohl die Hinweisung
des Arztes auf die Befolgung der Instruktion, allein abgesehen davon,
dass diese Instruktion nur von =Sektionen= handelt, und daher die
Untersuchung an =lebenden= Personen nicht berührt, wird jeder erfahrene
Arzt, und jeder geübte Richter, mit der Behauptung einverstanden sein,
dass fast =jeder besondere= Fall seine =Eigenthümlichkeit= habe, deren
richtige Auffassung eine Gewandtheit erfordert, welche keine =Belehrung
zu geben=, sondern nur deren Aneignung zu =erleichtern=, vermag,
welche daher nur die Folge einer besondern =natürlichen Anlage= oder
vielfältigen =praktischen Uebung= sein kann.

Aus dieser Rücksicht wird es immer ein missliches Unternehmen bleiben,
durch =allgemeine= Grundsätze haarscharf angeben zu wollen, wie
weit der Einfluss des =Richters= und wie weit jener des =Arztes=
bei einer gerichtlichen Erhebung gehen soll, denn sind =beide= ihrem
Fache vollkommen gewachsen, so werden sie sich sehr leicht über die
Sache =einverstehen=, und das Gutachten wird so ausfallen wie es sein
=soll=, ohne dass man in vielen Fällen der gelieferten Arbeit auch nur
=ansehen= wird, wie viel dazu dem =Richter= und wie viel der =Arzt=
beigetragen hat.

Ist aber der =Richter erfahren= und der Arzt noch =ungeübt=, so
wird der Richter, wenn die Sache gut ausfallen soll, den =Arzt=
auf mancherlei =aufmerksam= machen, und seine Aeusserungen daher
=sorgfältiger= überwachen müssen, als wenn er sich einem =erfahrenen
Gerichtsarzte= gegenüber befindet, und ebenso wird ein =erfahrener
Gerichtsarzt= gegenüber einem =ungeübten= Richter sich nicht darauf
verlassen, von diesem =alles= zu erfahren, was er allenfalls von ihm
erfahren =sollte=, sondern ohne eine Aufforderung abzuwarten =selbst
nachforschen=, ob und was allenfalls zu wissen Noth thut.

Sind aber beide Theile schwach, so wird der Umstand, ob die
Begutachtung auch eine in jeder Beziehung entsprechende sein wird,
immer höchst =problematisch= bleiben[3].

  [3] Ein jeder Streit über die ärztliche und richterliche
      Kompetenz bei einer gerichtlichen Erhebung setzt immer
      voraus, dass der eine oder der andere Theil, oder beide ihrem
      Fache =nicht gewachsen= sind, denn kein Richter kann den
      Arzt =hindern=, alles zu sagen was er zu sagen für =nöthig=
      findet, und kein Arzt den Richter alles zu =fragen= was er zu
      =fragen= für nöthig findet. Wird etwas =Ueberflüssiges= vom
      Arzte gesagt, so steht es dem Richter frei, durch passende
      Fragen den Arzt dahin zu bringen, dass sich für jeden,
      der den Aufsatz liest, von selbst der Umstand, =dass= es
      überflüssig war, ergebe. Zu =viel zweckmässige= Fragen zu
      stellen ist =unmöglich=, und sind =unzweckmässige= Fragen
      gestellt, so muss sich deren Unzweckmässigkeit durch eine der
      =richtigen= Auffassung des Falles entsprechende Darstellung
      =von selbst= ergeben, ohne dass es eines =Streites= hierüber
      bedarf.

Der Verfasser dieses Aufsatzes ist weit davon entfernt zu glauben, dass
irgend eine Abhandlung über diesen Gegenstand den Mangel an praktischer
Uebung hierin zu =ersetzen= vermag, allein =so viel= ist möglich, durch
Darstellung des =richtigen= Verhältnisses manche =unrichtige= Ansicht,
welche störend auf die richtige Auffassung der praktischen Fälle
einwirkt, zu =beseitigen=. -- Solche Gegenstände sind insbesondere: 1.
Die Darstellung des richtigen Verhältnisses der gerichtlichen Medizin
zur Strafrechtspflege und 2. eine aus der Natur der Sache hergeleitete
Darstellung über die Art und Weise, wie die Befunde und Gutachten
verfasst werden müssen, um dem richterlichen Zwecke zu entsprechen.



II.

Verhältniss der gerichtlichen Arzneikunde zur Rechtswissenschaft.


§. 16.

Die =gerichtliche Arzneikunde= ist der Natur der Sache nach nichts
anderes, als die Lehre von der =Anwendung= der auf dem Gebiete der
medizinischen Wissenschaft =im Allgemeinen= gewonnenen Resultate auf
=gerichtliche= Fälle; sie kann daher ihren Gegenstand in zweifacher
Beziehung auffassen, nämlich _a_) um auszumitteln, welche =Gesetze= in
Folge der auf dem Gebiete der medizinischen Wissenschaft gewonnenen
Resultate sich in Bezug auf die möglichen Fälle als zu erlassen
=nothwendig= darstellen, oder _b_) um auszumitteln, welche Grundsätze
und in welcher Art dieselben in Bezug auf die bereits =bestehende=
Gesetzgebung eines =bestimmten Staates= anzuwenden kommen, um
den Grundsätzen =dieser Gesetzgebung= zu entsprechen. Die erste
dieser Aufgaben, die =legislative=, kann nur durch eine umfassende
Berücksichtigung, nicht nur der Ergebnisse der =medizinischen=
Wissenschaft, sondern der =rechtlichen= und =sonstigen= in =dem einen=
Staate, für welchen derlei Gesetze erlassen werden sollen, =bestehenden
Verhältnisse= überhaupt, die =letztere= nur durch eine genaue Kenntniss
und Vertrautheit mit der Anwendung der =in dem bestimmten Staate=, in
welchem die Grundsätze der gerichtlichen Arzneiwissenschaften betrieben
werden sollen, =bestehenden Gesetzgebung=, ihren Zweck erreichen, die
letztere Art könnte man die =positive gerichtliche Arzneikunde= nennen.

Nur in ersterer Beziehung kann die gerichtliche =Arzneiwissenschaft=
als eine =selbstständige=, d. i. ihrer Form nach =unabhängige=, nämlich
als eine solche Wissenschaft gedacht werden, welche dabei nichts
=anderes=, als die =Natur der Erscheinungen=, auf welche durch die zu
erlassenden Gesetze =eingewirkt= werden soll, zu berücksichtigen hat,
in letzterer Beziehung ist ihre Form durch die bestehenden =Gesetze=
gegeben, d. h. sie muss, um ihrem Zwecke zu entsprechen, solche
=Eintheilungen= der auf dem Felde der medizinischen Wissenschaft
genommenen Resultate treffen, und eine solche Art und Weise ihrer
=Anwendung= lehren, welche dem Inhalte der =positiven Gesetzgebung=
entspricht.

So wird z. B. die =Definition= einer =schweren Verletzung=, d. i. die
=Aufzählung= der, als schwer bezeichneten Fälle von Verletzungen sich
wesentlich anders gestalten, wenn das Gesetz eine =Anzahl von mehr
als drei Tagen=, als zur Heilung erforderlich, als charakteristisches
Merkmal annimmt, als wenn es eine Zahl von =acht Tagen= bezeichnet,
oder wenn, wie es bei dem österreichischen Strafgesetzbuche sehr
zweckmässig geschieht, sie eine solche Zeitbestimmung =gar nicht= unter
die Merkmale des Verbrechens aufnimmt.


§. 17.

Gegen diese sich aus der Natur der Sache ergebende Nothwendigkeit
der Trennung des =legislativen= von dem =positiven= Gesichtspunkte
wird nun in den über gerichtliche Medizin handelnden Schriften nicht
selten =gefehlt=, ja man darf sagen, dass es vielen Schriftstellern
ganz und gar nicht =beifällt=, nur an diesen Unterschied zu denken,
sondern die gewöhnliche Art, wie derlei Schriften verfasst werden, ist
die Benützung =eigener Erfahrungen= und der Erfahrungen und Systeme
=anderer= Schriftsteller, gewöhnlich ganz =abgesehen= von dem Umstande,
ob sie im =Inlande= oder im =Auslande= geschrieben wurden, wodurch es
geschehen kann, dass Eintheilungen, welche in dem Lande, wo die Schrift
erschien, ganz =richtig= sind, in die Schriften eines Autors übergehen,
welcher in einem Lande schreibt, auf dessen positive Gesetzgebung sie
=nicht= passen. -- So ist in Herrn Professor _Bernt's_ „Handbuch der
gerichtlichen Medizin,” §§. 224 und 225 als ein Merkmal des Verbrechens
der Nothzucht: Missbrauch der natürlichen =Geistesschwäche= bei
einem blödsinnigen Frauenzimmer, angeführt, während nach §. 110 des
österreichischen Strafgesetzbuches nach der gesetzlichen Definition:
„Wer eine Weibsperson durch gefährliche Drohung, wirklich ausgeübte
Gewaltthätigkeit oder arglistige Betäubung ihrer Sinne ausser Stand
setzt, seinen Lüsten Widerstand zu thun, und in diesem Zustande sie
schändet, begeht das Verbrechen der Nothzucht” -- dieses Merkmal für
sich allein entschieden =nicht= im Stande ist, dieses Verbrechen
zu begründen; würde daher ein Arzt in einem Falle, wo eine Person
von =solchem= Gemüthszustande, jedoch ohne Gewalt oder arglistige
Betäubung ihrer Sinne, geschändet wurde, sein Gutachten ohne weiters
dahin abgeben, sie sei =genothzüchtiget= worden, so wäre der Ausdruck
offenbar ganz =unrichtig=, und könnte, wenn der Richter dieses Versehen
nicht zeitlich genug bemerkt, eine Gesetzwidrigkeit durch =Einleitung=
einer Kriminaluntersuchung wegen eines =gar nicht begangenen=
Verbrechens zur Folge haben.

In dieser Voraussetzung muss daher der Ausspruch _Heinroth's_:
„=dass die gerichtliche Arzneiwissenschaft durchaus nicht für den
Rechtsgelehrten gehöre=” („Lehrbuch über die Seelenstörungen,” Theil
II. §. 418), eine wesentliche =Einschränkung= leiden, denn wenn es
auch richtig ist, dass der Richter die Ergebnisse derselben, sofern
sie sich auf Daten der =medizinischen= Beobachtung gründen, =nicht=
zu beurtheilen vermag, so muss er, um deren =Anwendung= in concreten
Fällen unbedingt gestatten zu können, doch die Ueberzeugung haben, dass
der Arzt mit seinen Ausdrücken auch =dieselben Begriffe= verbindet,
wie diejenigen Gesetze enthalten, zu deren Anwendung diese Aussprüche
die =Basis= liefern sollen, und diese Ueberzeugung ist =ohne= ein
Statt findendes =Eingehen= des Richters in die Lehre der gerichtlichen
Arzneikunde wohl =unmöglich=.

Hieraus folgt nun, dass die =gerichtliche Arzneikunde=, sofern sie zur
Erreichung des =richterlichen= Zweckes bestimmt ist, nichts anderes
ist, noch sein =kann=, als eine mit Zugrundelegung der =positiven
Gesetzgebung= eines bestimmten Staates =gelieferte Darstellung
derjenigen Ergebnisse der medizinischen Wissenschaft, von welchen sich
eine Anwendung auf gerichtliche Fälle denken lässt, verbunden mit einer
Anweisung über die Art und Weise, wie die Darstellung der hiedurch
gewonnenen Resultate zu geschehen hat, um dem durch eben diese positive
Gesetzgebung ausgesprochenen Standpunkte des Richters zu entsprechen=,
sie ist und kann daher nichts anderes sein, als ein =Kommentar des
Gesetzes= mit =Rücksicht= auf solche praktische =Fälle=, so weit zu
dessen richtiger Auffassung und Erhebung Anwendung =medizinischer
Kenntnisse= nöthig sind, und hat daher in ihren einzelnen Theilen
nur insoweit auf =juridische Giltigkeit= Anspruch, als sie die
Uebereinstimmung ihrer Aussprüche =mit dem Gesetze= dem Richter
=darzuthun= vermag.

Aus dieser Ansicht ergibt sich nun, dass Ergebnisse der medizinischen
Wissenschaft, ihre Richtigkeit möge übrigens in =medizinischer=
Beziehung noch so =zweifellos= sein, =ohne alle Folgen= für die
richterliche Anwendung sein werden, so lange die =Beziehung=, in
welcher sie sich zu einem Gesetze befinden, nicht =nachgewiesen= wird,
und dass jede Aufführung medizinisch-wissenschaftlicher Resultate nur
=dadurch= und =insofern= in dieser Lehre =an ihrem Platze= sei, als
dadurch eine =Beziehung des Gesetzes= zu irgend einem gerichtlichen
Falle dargestellt oder erläutert wird[4].

  [4] Da es unmöglich mehr als Eine richtige medizinische
      Wissenschaft geben kann, so ist die gerichtliche
      Arzneiwissenschaft daher keine besondere Wissenschaft,
      sondern sie kann nichts anderes sein, als die Lehre,
      die übrigen Zweige der medizinischen Wissenschaft zu
      gerichtlichen Zwecken entsprechend anzuwenden.


§. 18.

Als Beleg dieser Behauptung möge die Beantwortung der Frage dienen,
warum gerade die Lehre von =Verletzungen=, und nicht etwa jene von
=Fiebern=, =Lungenleiden=, =Magenbeschwerden= etc. in das Gebiet
der =gerichtlichen= Arzneikunde gehören? -- Die Antwort kann wohl
nur sein, weil es =Strafgesetze= gibt, mit welchen die Thatsache von
vorhandenen =Verletzungen= in Beziehung steht, und weil es =keine=
Gesetze gibt, auf welche die Thatsache einer vorhandenen =Lungensucht=
oder eines =Magenübels=, sofern diese Krankheiten nicht Folgen von
vorausgegangenen Verletzungen sind, bezogen werden können.

Ebenso wird sich die Frage beantworten, warum man die Verletzungen in
absolut, individuell, _per se_, _per accidens lethales_ eingetheilt
=hat=, und warum diese Eintheilung =jetzt= von keinem Werthe mehr
ist. Das Erste geschah nämlich, weil man =voraussetzte=, dass die
bestehenden Gesetze einen =Unterschied= der =Strafbarkeit= in diesen
verschiedenen Verhältnissen von deren Tödtlichkeit =anerkennen=,
und das Letztere, weil man endlich wahrnahm, dass eine solche
Unterscheidung weder =ausdrücklich= im Gesetze =enthalten= ist, noch
dem Sinne der Gesetze entspreche[5].

  [5] Wer sich von der Richtigkeit dieser Behauptung überzeugen
      will, versuche einmal den Fall, wo Jemand, der etwa schon
      ein paar Tage gehungert hat, von einem Dritten eingesperrt
      und so lange ohne Nahrung gelassen wurde, bis die Absicht,
      ihn dadurch zu tödten, erreicht war, nach dieser Eintheilung
      zu begutachten. -- Das =Mittel=, nämlich die =Entziehung der
      Nahrung=, ist von der Art, dass Niemand zweifeln wird, es
      =müsse nothwendig= den Tod herbeiführen, allein vergebens
      wird man nach einer Verletzung suchen, denn dasjenige,
      welches den Tod herbeiführt, ist nichts anderes, als die
      ganz =naturgemässe Thätigkeit= des Organismus selbst, bei
      dem Mangel einer Ernährung. Es lässt sich daher von keiner
      einzigen der allenfalls durch die Selbstaufreibung der Natur
      hervorgebrachten Störungen sagen, dass sie eine durch einen
      =Dritten geschehene= Verletzung sei, woraus daher nothwendig
      folgt, dass auch keine absolut tödtliche =Verletzung= Statt
      gefunden habe.


§. 19.

Es folgt aus der oben dargestellten Ansicht aber auch, dass die
=gerichtliche Arzneikunde= um so =vollkommener= ihrem Zwecke
entsprechen werde, je mehr sie Denjenigen, welcher sich ihr widmet, in
die Lage setzt, bei vorkommenden Fällen =alle= jene =Beziehungen= zu
entdecken, welche zwischen der untersuchten Thatsache und dem Gesetze
=bestehen=, und diese Beziehungen in diesem Sinne =darzustellen=, bei
der hierzu nothwendigen Erhebung aber ein =Verfahren= zu beobachten,
welches nicht nur zu =diesem Zwecke= führt, sondern auch mit keinem
bestehenden Gesetze sich im Widerspruche befindet.

So mag es immerhin nach den =Grundsätzen= der =Medizin= als ein
zweckmässiges Mittel zur Entdeckung einer möglichen =Verstellung=
bei dem Vorgeben einer vorhandenen Krankheit erscheinen, allenfalls
ein Glüheisen zur Erforschung der Wahrheit zu appliziren. Die
=gerichtliche= Arzneikunde kann sich nur =gegen= ein solches Mittel
aussprechen, denn vom Standpunkte der =positiven Gesetzgebung= ist,
selbst wenn eine erwiesene =Lüge= des Inquisiten =vorliegt=, keine
andere Strafe gegen ihn anzuwenden, als =Fasten= oder =Züchtigung mit
Streichen=, wenn er ungeachtet des vorgehaltenen klaren Beweises auf
seiner Lüge oder Verstellung beharrt, wo aber die Sache =zweifelhaft=
ist, darf =gar kein= Zwang angewendet werden. Die Applizirung eines
=Glüheisens= oder ähnlicher, wenn auch minder heroischer Mittel wäre im
letzten Falle entschieden eine =Folter=, und im ersten Falle beiläufig
=dasselbe=, oder eine Züchtigung in einer viel =empfindlicheren= Art.

Wie kann man aber auch dem Arzte zumuthen, dass er zu einem =andern=
Zwecke, als um zu =heilen=, irgend ein =Uebel= einem Dritten zufüge?
Eine solche Zumuthung, noch mehr aber die Ausführung, wäre die grösste
Entwürdigung der ärztlichen Wissenschaft! Sind nun die Vorschläge
zur Anwendung solcher Mittel in Schriften, welche über gerichtliche
Arzneikunde handeln, etwa unerhört? -- Folgende Stelle, deren Verfasser
hier absichtlich nicht genannt wird, findet sich wirklich vor:
„Schmerzhafte Mittel sind nur erst nach begründetem Verdacht[6] eines
Betruges anzuwenden; dahin gehört die Anwendung von Senfpflastern,
Canthariden, der Haarseile, Fontanellen, des Nesselpeitschens, der
Aetzmittel, der _moxa_, des =Glüheisens=, der Douche und Tropfbäder,
die Androhung schmerzhafter und gefährlicher Operationen[7].”

  [6] Also doch nur Verdacht! Auch ein =begründeter= Verdacht
      ist noch keine =Gewissheit=, lässt also noch immer die
      Möglichkeit eines =Irrthums= zu. -- Wer möchte aber wohl die
      Verantwortung auf sich nehmen, einen Menschen mit Glüheisen
      gebrannt zu haben, wenn eine solche Operation nicht nach
      pathologischen Grundsätzen angezeigt war, und am Ende der
      Verdacht, welcher die Anwendung dieses heroischen Mittels
      veranlasste, sich doch als ein =unbegründeter= darstellte!

  [7] Sei es noch um Drohungen, sie schaden wenigstens nicht so
      =zuverlässig=, als die wirklich angewandten Mittel, obwohl
      ich mir nicht denken kann, welche rechtliche Wirkung die
      Erklärung eines Menschen, welcher behauptet, an Kopfschmerzen
      zu leiden, und nun diese Behauptung widerruft, haben soll,
      wenn er zu diesem Widerruf =dadurch= bestimmt wurde, dass man
      Anstalt macht, ihn zu trepaniren. -- Nehmen wir aber an, es
      werde ein =Glüheisen= oder ein =Aetzmittel= angewandt, und
      der also Behandelte verfalle =dadurch= in eine =bleibende=
      oder sonst =gefährliche Krankheit=. -- Hier könnte man doch
      nicht fragen, ob sich ein solcher Akt =rechtfertigen= lässt,
      sondern man könnte höchstens darüber im Zweifel sein, welcher
      Paragraph des Strafgesetzbuches gegen alle diejenigen, welche
      zu einer solchen Verletzung mitwirkten, anzuwenden komme.

      Drohungen sind nur dann zulässig, wenn etwa Derjenige, gegen
      den sie vorgebracht werden, blind oder taub zu sein, oder
      ein anderes Gebrechen zu haben vorgibt, und man sie zu dem
      Zweck ausspricht, um zu =erfahren, ob er höre=, oder eine
      Bewegung gegen ihn macht, um zu erfahren, =ob er sehe=; hört
      er oder sieht er =nicht=, so ist ihm dadurch =nichts Uebles=
      widerfahren, sieht oder hört er aber, so schadet es auch
      nichts, wenn man anders für die gänzliche Unschädlichkeit des
      Mittels sorgte.

Ich bin wohl fest überzeugt, dass die zitirte Stelle nach dem Sinne des
Autors nur in dem Sinne zu nehmen sei: dort wo man einen begründeten
Verdacht eines Betruges hat, und es nach pathologischen Grundsätzen in
dem Falle, wo der Zustand wirklich so wäre, wie er von dem Inquisiten
angegeben wird, =angezeigt= ist, Glüheisen u. dgl. anzuwenden, dürfe
eine solche Anwendung erfolgen, um den Betrug zu entdecken.

Allein auch in =diesem= Falle ist der Satz nicht =richtig=, denn
es kann keinem Zweifel unterliegen, dass der Arzt, als =Arzt=, nur
=dann= ein Uebel einem Kranken zufügen dürfe, wenn er es zur Heilung
für nothwendig findet. Wo er aber einen gegründeten Verdacht hat, die
Angabe sei =Betrug=, kann er die Anwendung des Mittels unmöglich als
einen Weg zur =Heilung= betrachten, sondern sie ist in seinen eigenen
Augen nichts Anderes, als eine =Tortur=, und er selbst, indem er einem
Menschen, um ein =Geständniss= eines Betruges zu erhalten, ein Uebel
zufügt, nichts anderes, als ein =Mensch, welcher in einem andern Berufe
arbeitet, als in dem seinen=.

Dabei darf aber auch nicht unberücksichtiget bleiben, dass
Niemand verhalten werden kann, sich =gegen= seinen Willen einem
Heilungsprocesse, am wenigsten aber einem schmerzhaften, welcher ihm
sonst noch =Gefahr= zu bringen scheint, zu unterziehen. Wie soll es
nun gehalten werden, wenn der Inquisit erklärt, er wolle sich =nicht=
brennen oder ein Haarseil ziehen lassen? -- Man müsste den Menschen
dann binden, und es hätte dann ein Verfahren Statt, wie man es in den
Akten des vergangenen Jahrhunderts mit Schauder liest, nur dass statt
dem Scharfrichter der Arzt mit dem Glüheisen vor dem Wehrlosgemachten
stünde[8].

  [8] Die Besorgniss, dass ohne solche Massregeln es einem
      Inquisiten gelingen könne, seine Verstellung =durchzuführen=,
      ist ganz =unbegründet=. -- Man wende nur die nöthige Mühe und
      Aufmerksamkeit an, so wird man =sehr viel= erreichen und wohl
      imstande sein, dem Inquisiten zu =beweisen=, dass er =lüge=.
      Z. B. wenn er behauptet, er sei schon seit Jahren blind,
      und man erhält den Beweis, dass er noch kurz vor seiner
      Verhaftung gelesen habe u. dgl. -- Die =Tortur= ist indess
      ein weit =bequemeres= Mittel zur Erforschung der Wahrheit,
      als das mühsame Aufsuchen von Beweisen, man hüte sich daher,
      ihre Anwendung unter =irgend einer Form= beschönigen zu
      wollen.

Solche grelle Szenen liegen aber _implicite_ in diesen Sätzen, deren
Aufstellung nur dadurch möglich wird, dass man die gerichtliche
Arzneikunde ohne =Zugrundelegung= der Rechtslehre =behandelte=.

Solche Szenen =können= sich aber =ereignen=, wenn der Satz
_Heinroth's_: dass die gerichtliche Arzneiwissenschaft =nicht für den
Juristen gehöre=, unbedingt als wahr angenommen wird.

Die Zeit, wo man an die ausschliessliche Kompetenz einer Wissenschaft
glaubte, ist indess glücklicher Weise vorüber. Jeder will, wo es sein
kann, mit eigenen Augen sehen, und handelt hierin sehr vernünftig,
denn es kann nicht geläugnet werden, dass durch die in neuerer Zeit
in's Leben getretene Verbindung verschiedenartiger Wissenschaften
die einzelnen Wissenschaften =mehr= gewonnen haben, als durch die in
den vorigen Zeiten üblich gewesene abgeschlossene Behandlungsweise
der einzelnen Zweige des menschlichen Wissens. -- Diese Ansicht
_Heinroth's_ gehört daher in eine frühere Epoche.

Obwohl es ausserhalb des Zweckes dieses Aufsatzes liegt, die Kritik
der über gerichtliche Arzneikunde handelnden Werke zu schreiben, so
dürfte es sich doch nach dem bisher Gesagten als ausgemacht annehmen
lassen, dass es nur =einen= Weg gibt, auf welchem die gerichtliche
Arzneiwissenschaft, insofern sie nicht sowohl für die =Legislation=,
als für die =gerichtliche Praxis= bestimmt ist, behandelt werden muss.
Es ist dies nämlich der Weg, dass Aerzte, welche in ihrer Wissenschaft
es auf einen hohen Grad von Vollkommenheit gebracht haben, sich
entschliessen, mindestens =denjenigen Theil= der Gesetzgebung, welcher
=nicht= entschieden =nichts= mit der medizinischen Wissenschaft gemein
hat, =genau= und =gründlich zu studiren=, und auf diese erworbene
Kenntniss der =positiven= Gesetzgebung eines =bestimmten Staates=
gestützt, =Grundsätze= aufzustellen, deren Richtigkeit sie auf
eine auch für den =Richter= verständliche Weise aus der =positiven
Gesetzgebung= nachweisen, welche aber zugleich den gerichtlichen
Arzt in die Lage setzen, unter den =Ergebnissen= der medizinischen
Wissenschaften =diejenigen auszuwählen=, welche auf den =speziellen
Fall anzuwenden kommen=, und ihm zugleich die =Anleitung= geben, wie
diese =Darstellung zu liefern= ist, damit der Richter nicht im Zweifel
bleibe, dass der das Gutachten abgebende Arzt auch wirklich =im Sinne
der Gesetze= gesprochen habe.

Dies kann nur dadurch geschehen, dass diese in dem speziellen Falle
zu liefernde Darstellung zuvörderst von =solchen= Daten ausgeht,
welche sich dem Richter entweder als ein Gegenstand seiner =eigenen=
sinnlichen Wahrnehmungen darbietet, oder ihm durch die bei ihm
vorauszusetzenden =Lebenserfahrungen= als =bekannt= und =erprobt=
erscheinen, auf diese Daten gestützt aber sonach der Anschauung des
Richters dasjenige, welches ihm =minder= bekannt oder =unbekannt= ist,
so viel möglich =näher= bringt, in dieser letzten Beziehung aber so
verfährt, dass auch =alle= dem Richter =zur Anwendung des bestimmten
positiven Gesetzes= auf den vorliegenden Fall noch =mangelnden
Begriffe geliefert= werden, dass daher mit Einem Worte die gerichtliche
Arzneikunde nicht als ein =selbstständiger= Zweig der medizinischen
Wissenschaft, sondern als diejenige =Methode der Anwendung= der
medizinischen Wissenschaft betrachtet werde, wodurch das dem bestimmten
=positiven= Gesetze, im Verhältnisse zu den möglichen =Fällen=,
entsprechende =Verfahren=, so wie die zweckmässige =Darstellung= der
ärztlichen Einsichten und Erfahrungen in Bezug auf jene Fälle gelehrt
wird.

Es ergibt sich dadurch von selbst, dass das eigentliche Kriterium der
Gediegenheit der Behandlung des Gegenstandes =darin= liegen wird,
dass dem eine solche Anleitung benützenden Arzte entweder =keine=,
oder doch nur =solche= Differenzen des ärztlichen Ausspruches mit der
richterlichen Ansicht vorkommen, welche nach der angezeigten Methode
leicht zu =beheben= wären, denn es kann keinem Zweifel unterliegen, der
=Richter=, welcher seine Ansicht durch den Ausspruch des =Gesetzes= und
der =eigenen= Sinnenwahrnehmung und Erfahrung begründet, =kann und darf
von seiner Ansicht nicht abgehen=, so lange er nicht eines =Irrthums=
überwiesen wird, wo daher der ärztliche Ausspruch mit jener Ansicht des
Richters =nicht= übereinstimmt, kann bei dem Umstande, als über einen
Gegenstand nicht =zwei entgegengesetzte= Ansichten =wahr= sein können,
die Differenz nur in einer =mangelhaften Darstellung= von Seite des
=Arztes= liegen, dem es wenigstens nicht gelungen ist, den =Irrthum=,
in welchem der Richter sich befindet, zu =entdecken= und =aufzuklären=.



III.

Ueber die bei Verfassung des ärztlichen Gutachtens bei Kriminalfällen
zu beobachtenden rechtlichen Grundsätze.


§. 20.

Wir kommen nun zu dem zweiten Punkte, nämlich zu der Art und Weise,
wie der Arzt vorzugehen habe, damit sein Gutachten in jedem Falle den
richterlichen Erfordernissen entspreche.

Der wesentlichste Theil dieser Frage ist schon in dem =vorigen= Titel
beantwortet; die wichtigste Bedingung ist nämlich, dass er ausser
=seinem= Fache, nämlich der medizinischen Wissenschaft überhaupt,
auch jenen Theil der =positiven= Gesetzkunde, welcher eine Anwendung
medizinischer Kenntnisse erfordert, genau =inne= habe und in den
=Geist der Gesetze= eingedrungen sei, denn ohne dieses Erforderniss
ist der Gerichtsarzt gegenüber dem Gesetze ungefähr das Nämliche,
was ein blosser Empiriker gegenüber der Krankheit ist. -- Er wird in
dem Falle, als er einem Richter sich gegenüber befindet, welcher die
Geschicklichkeit hat, ihm den Fall so darzustellen, wie dieser Fall
gerade in seinem =Erfahrungs-Lexikon= enthalten ist, und sofern dieses
Erfahrungs-Lexikon =richtig= ist, das =Wahre= treffen, wo dieses jedoch
=nicht= der Fall ist, aber immer =hinter= seiner Aufgabe zurückbleiben,
nie aber jene =Selbstständigkeit= der Auffassung und Darstellung
geltend machen können, zu welcher der =Arzt= insbesondere, vermöge
seiner =Wissenschaft= und die Erfahrung des Richters in diesem Fache
weit =überragenden= Bildung, mehr als jeder =andere= Kunstverständige
berufen ist.

Unter dieser Voraussetzung lässt sich daher in dem Falle, wo ein
Thatbestand zu erheben, und nicht etwa nur eine Auskunft über eine rein
wissenschaftliche Frage verlangt wird, folgender Weg als der richtige
angeben.

Vor Allem muss der in Frage stehende Gegenstand =besichtiget= werden,
und zwar muss diese Besichtigung ohne alle =vorgefasste Meinung= in
derjenigen Gemüthsart geschehen, in welcher man einen ganz unbekannten
Gegenstand betrachtet, um zu erfahren, =was er eigentlich vorstellt=.

Diese Besichtigung wird nun gewöhnlich schon von einigem Erfolge
begleitet sein; man wird z. B. sehen, es liegt ein =Leichnam= vor, es
ist ein Individuum vorhanden, welches angibt, =beschädigt= zu sein etc.
Sohin berücksichtige der Arzt dasjenige, was durch das Gericht über den
Fall bereits erhoben ist, wodurch er dahin kommen wird, durch die etwa
bereits erhaltenen gerichtlichen Mittheilungen sich wenigstens bis auf
einen =gewissen Grad= klar zu machen, =welche gesetzliche Anordnungen=
hier =möglicher= Weise angewendet, und welche entschieden =nicht=
angewendet werden können. Z. B. bei der Leiche eines Erwachsenen wird
Jeder sogleich wissen, dass alle etwa bei den Untersuchungen eines
neugebornen Kindes besonders vorgeschriebenen Erhebungen ausgeschlossen
sind.

Ist man nun so weit gekommen, so wird es sehr anzuempfehlen sein, =alle
jene Gesetzes-Paragraphen= und die etwa hierüber sonst bestehenden
Verordnungen, von welchen sich denken lässt, dass sie auf ähnliche
Fälle sich beziehen, =nachzulesen=, damit man sich selbst die
beruhigende Ueberzeugung verschaffe, dass man nichts =vergessen= habe,
und um das etwa Vergessene zu =ergänzen=, auch sofern ein bestimmtes
Verfahren bei der Erhebung vorgeschrieben ist (wie etwa in der
Instruktion für die Vornahme von gerichtlichen Leichenbeschauen der
Fall ist), sich gegen die Folgen eines =möglichen Gedächtnissfehlers=
zu schützen. -- Es versteht sich daher von selbst, dass man, wenn man
sich zu einem solchem Akte begibt, dasjenige Gesetzbuch oder diejenigen
Verordnungen, um welche es sich handeln kann, bei der Hand haben
müsse[9].

  [9] Wie man auch das von dem Verfasser dieses
      Aufsatzes herausgegebene systematische Handbuch der
      gerichtsarzneilichen Wissenschaft in andern Beziehungen
      beurtheilen mag, =den= Zweck, von welchem oben im Texte
      gehandelt ist, wird es zuverlässig erfüllen.

Hat man sich nun über diesen Theil seiner Aufgabe die nöthige Klarheit
verschafft, zu welchem Zwecke es gewiss nur sehr nützlich sein
kann, sich mit dem Richter oder dem Abgeordneten des Gerichtes in's
Einvernehmen zu setzen, so ist es an der Zeit, zu überlegen, was man
nun =ferners beginnen soll=, um durch ein zweckmässiges =Verfahren= die
Anwendung des Gesetzes möglich zu machen.

Hierzu ist nun vor Allem nothwendig, dass der einschreitende Arzt
erfahre, =aus welchem Gesichtspunkte der Richter= die Sache betrachte,
wenn er durch etwa Statt gefundene Vorerhebungen dahin gelangt ist,
bereits eine Ansicht der Sache gebildet zu haben. Diese Ansicht kann
und soll der Richter in den aufzustellenden =Fragen= aussprechen,
welche zugleich den Zweck erfüllen sollen, die Kunstverständigen
mit =jenen Erhebungen bekannt zu machen=, welche sie entweder aus
der ihnen bekannt werdenden Thatsache =nicht= entnehmen, oder doch
möglicher Weise nicht gehörig würdigen könnten. Damit aber solche
Fragen =gestellt= werden können, muss der Richter schon eine bestimmte
Ansicht von dem Vorfalle =haben=, und damit diese Fragen =zweckmässig=
und =erschöpfend= seien, muss diese Ansicht =richtig= und den =ganzen
Komplex der Thatsache umfassend sein=. Beides ist aber oft aus Gründen,
welche im §. 12 dieses Aufsatzes dargestellt sind, nicht möglich[10],
es muss daher in jedem Falle eine =selbstständige= Beurtheilung von
Seite des Arztes eintreten, und zwar im Falle, wo der Richter noch
=keine= Ansicht von der Sache hatte, um ihm dazu zu =verhelfen=,
in dem Falle, wo er eine =richtige= hatte, ihm diese als richtig zu
=bestätigen=, und sofern sich seine Ansicht als =unrichtig= darstellt,
ihm, so weit dies durch ärztliche Vorkenntnisse und sinnliche
Wahrnehmung möglich ist, zu der =richtigen Auffassung= des Falles
zu führen. -- Ein Beispiel der letzten Art ist, wenn etwa aus den
Fragen des Richters bei einer behaupteten =Nothzucht= blos der Umstand
erwähnt wird, ob Spuren angewandter =Gewalt= an der Beschädigten
zu finden seien, der Arzt erfährt aber durch sie, sie habe sich in
dem Zeitpunkte, wo die Schändung Statt fand, in einem Zustande von
=Betäubung= befunden, es würde dann ganz gefehlt sein, etwa =blos zu
erklären=, es seien =keine Spuren von Gewalt= vorhanden, sondern es
müsste auch vom Arzte ausdrücklich gesagt werden, dass nach Angabe der
Beleidigten =sie sich in einem Zustande= befunden habe, welcher, wenn
er sich so verhält wie sie angibt, allerdings von einer durch einen
Dritten verursachten =arglistigen Betäubung= der Sinne herrühren könne
(§. 18).

  [10] Wenn der Arzt sich in dem Falle, wo die richterlichen Fragen
      nicht zweckmässig sind, nur an =diese= hält, so kann oft
      nur ein =negatives= Resultat erzielt werden, während ein
      =positives= nöthig gewesen wäre. Wäre z. B. das Ergebniss der
      Untersuchung, der Mensch sei durch Blausäure vergiftet, und
      der Richter hätte die Frage gestellt: ist der Tod eine Folge
      der Arsenik-Vergiftung? so wäre es offenbar ganz ungenügend,
      wenn der Arzt sein Gutachten dahin beschränkte, zu sagen: es
      erhellt, dass er =nicht= an der Arsenik-Vergiftung gestorben
      sei.

Eben so würde der Arzt in dem Falle, wo der Richter die Todesursache
bei einem vorgefundenen weiblichen Leichname etwa in einem
=Selbstmorde= vermuthete, und weil es schon Nacht ist, sich =begnügen
möchte=, die Thüren zu versiegeln und etwa eine Wache hinzustellen,
sehr Unrecht haben, sich einem solchen Begehren wenigstens =ohne=
aktenmässiger =Protestation zu fügen=, und sich mit der Betrachtung,
dass etwa der Hals abgeschnitten sei und das Messer neben ihr liege,
sie selbst schon kalt sei etc., zu =begnügen=, sondern er müsste hier
wenigstens sich vor Allem die Gewissheit =verschaffen=, ob sie nicht
=schwanger= und der =Kaiserschnitt= möglich sei, und daher vom Richter
verlangen, alle möglicher Weise zu erhebenden Daten, deren richtige
Erhebung durch die Untersuchung des Leichnams gestört werden könnten,
z. B. Beschreibung der Lage, in welcher der Leichnam gefunden wurde,
dessen Bedeckung etc., =sogleich= zu erheben, und das zur Rettung der
Frucht nothwendige Verfahren dann selbst einleiten.


§. 21.

Je complicirter der Fall ist, d. h. je mehr einzelne, aus der
Betrachtung der Sache selbst =nicht= erhellende Umstände auf die
richtige Auffassung der Thatsache Einfluss nehmen, um so weniger ist
die Möglichkeit einer =vollständig= richtigen Ansicht von Seite des
=Richters= gegeben. So wie daher der =Richter= in einem solchen Falle
die Pflicht hat, seinerseits alles ihm Mögliche zu thun, damit von
Seite des =Arztes= nichts übersehen werde, so hat auch der =Arzt= die
Verpflichtung, dort, wo er sich die Möglichkeit denken kann, dass ihm
der =Richter= etwas, welches zur Sache gehören könnte, aus Unkenntniss
seiner Bedeutung nicht mitgetheilt haben könnte, die Einsicht der
=Akten= zu verlangen, oder den Richter sonst zu =befragen=, um das
Bestehen von solchen Umständen zu =erfahren= und sich über deren
Beschaffenheit die möglichste Gewissheit zu verschaffen.

Dies Verfahren ist dort, wo es sich als nothwendig zeigt, schon
=früher= anzuwenden, als noch ein =besonderer= Akt der Erhebung Statt
findet, etwa z. B. die Sektion vorgenommen wird, damit man dabei
nichts durch die Umstände als wesentlich Gebotenes =übersehe=. Es
ist aber nicht weniger =dann= nothwendig, wenn die Untersuchung der
Thatsache Statt gefunden hat, und es sich als =möglich= darstellt,
dass irgend ein aus der Thaterhebung sich nicht ergebender, jedoch in
den =sonstigen Aktenstücken=, z. B. in einer Zeugenaussage enthaltener
Umstand, von Einfluss auf das abzugebende Gutachten sein, oder durch
weitere Nachforschungen erhoben werden könnte.

Um nun die vorhandenen Aktenstücke gehörig benützen zu können, muss der
Arzt nothwendig einen richtigen =Begriff= von deren =Bedeutung= haben,
wohin insbesondere die Berücksichtigung des Umstandes gehört, dass
nicht Alles darum, weil es im =Akte= aufgenommen ist, z. B. der Inhalt
einer Zeugenaussage, auch =wahr=, oder dass darum, weil etwas =nicht=
im Akte steht, es auch =nicht vorhanden= gewesen sei, weil es nicht
nur geschehen =kann=, sondern auch sehr oft =geschieht=, dass entweder
mit oder ohne Absicht falsche Angaben gemacht und daher protokollirt
werden.

So wie daher der Richter die Pflicht hat, den ärztlichen Befund zu
dem Zwecke zu durchgehen, um zu entdecken, ob nicht irgend etwas
=übersehen=, irgend ein Satz ausgesprochen ist, welcher ihm, dem
Richter, =nicht gehörig begründet= zu sein scheint, so muss daher
auch der =Arzt= mit einer =sachgemässen Kritik bei der Durchlesung
der Akten zu Werke gehen=, und in seinem Befunde =bezeichnen=, ob
und was ihm nach der Aktenlage, nach wissenschaftlicher Beurtheilung
des Falles, =unwahr=, was =zweifelhaft=, oder noch einer =weiteren=
Erhebung und welcher =Art= von Erhebung =bedürftig= erscheine, in
seinem Gutachten aber genau ersichtlich machen, =wo= und =inwiefern=
er die mitgetheilten =Aktenstücke= benützte, damit der Richter in die
Lage gesetzt werde, wo es ihm nöthig scheint, etwa =weitere= Erhebungen
zur Ausmittlung der =Wahrheit= von derlei Angaben einzuleiten, und
überhaupt erfahre, =dass= und =inwiefern das Gutachten=, selbst in den
Augen des =Arztes=, nur eine =bedingte= Giltigkeit habe, denn dort,
wo das Gutachten nicht mehr auf die eigene Wahrnehmung des Arztes
oder auf Ergebnisse der medizinischen Wissenschaft, sondern auf den
Inhalt eines =Aktenstückes= basirt ist, ist es nur =insofern= objektiv
richtig, als in den fraglichen Aktenstücken die =Wahrheit= enthalten
ist, es =zerfällt= von selbst, wenn die Unwahrheit des Inhaltes dieses
Aktenstückes nachgewiesen würde.

Ein solcher Fall wäre etwa, wenn ein Mensch aufgegriffen wird, an
dessen Rücken sich runde Narben befinden. -- Er gibt an: es sind
Narben von Geschwüren; kann nun der Arzt nicht mit Gewissheit sagen,
und zwar aus der Betrachtung der =Form= der Narben etc., =dass es
Geschwür=-Narben und nicht etwa =Schrottschuss=-Narben sind, so darf
er sich durch den Umstand, dass der Aufgegriffene diese Narben für
Geschwür-Narben =angegeben= hat, und diese Angabe ihm, dem Arzte, nicht
unrichtig zu sein =scheint=, nicht etwa verleiten lassen, zu sagen:
„N. N. =hat= Geschwür-Narben” -- denn er steht dann in Gefahr, selbst
einer =Unwahrheit= im Parere überwiesen zu werden, wenn etwa in der
Folge herauskäme, dass es =Schussnarben= sind, sondern das Parere muss
lauten: „Der N. N. hat auf dem Rücken Narben, welche nach seiner Angabe
Geschwür-Narben sind, welche Angaben nach dem Zustande, in welchem sich
die Narben gegenwärtig befinden, auch richtig sein kann, es ist jedoch,
nach der Form dieser Narben zu schliessen, allerdings die =Möglichkeit=
vorhanden, dass es =Schrottschuss=-Narben sind.”


§. 22.

Ist es nothwendig, zur Aufklärung mancher Umstände den Inquisiten
oder ein drittes, von den Gerichtspersonen verschiedenes Individuum
zu befragen, so darf dies nie ohne =vorläufiges Einvernehmen= mit
dem Untersuchungsrichter geschehen, damit nicht die eine oder andere
Frage, indem sie jenem Dritten mittheilt, dass man Umstände weiss oder
Umständen auf der Spur ist, welche noch von ihm als ein Geheimniss
vermuthet werden, störend auf den Gang der Untersuchung einwirke.


§. 23.

Eine besondere Betrachtung muss noch jener Art von Befunden gewidmet
werden, welche der Richter bedarf, =ohne dass der Gegenstand=, welcher
eigentlich zu untersuchen nothwendig wäre, ganz oder zum Theile
vorgelegt werden kann; z. B. bei dem Geständnisse eines Kindsmordes,
wenn die Kindesleiche gar nicht mehr aufgefunden werden kann, oder
etwa nur ein Theil derselben, z. B. der Kopf, allein vorhanden ist.
Der kürzeste Weg, von der Sache wegzukommen, ist wohl jener, wenn
anders der Richter kurzsichtig genug wäre, sich damit zu begnügen --
dass erklärt wird: „man könne über dasjenige, was man nicht gesehen
hat, auch kein Gutachten abgeben;” der Richter kann und darf sich
aber in den wenigsten Fällen mit einer solchen Aeusserung begnügen,
denn abgesehen davon, dass zu einem solchen Ausspruche eben kein
tiefes Ergründen der Geheimnisse der Natur gehört, ist es nicht
einmal =richtig=, denn man kann =sehr oft= über eine Sache, die man
nicht =selbst= gesehen, von welcher man jedoch eine sehr deutliche
=Beschreibung= vor sich hat, sehr richtig und sehr gründlich urtheilen;
es kommt daher nur darauf an, dass man Geschicklichkeit genug besitze,
sich eine richtige Beschreibung zu =verschaffen=.

Hier ist es daher die Pflicht des Arztes, vor Allem den =Akt=
einzusehen, und daraus sich diejenigen Daten =zusammenzustellen=,
welche einen Aufschluss entweder =wirklich= geben, oder, wenn sie
gehörig =verfolgt werden=, einen Aufschluss zu geben =versprechen=,
und im letzteren Falle deren Verfolgung vom Richter, allenfalls mit dem
Antrage, =selbst bei dem diesfälligen Erhebungsakte=, z. B. dem Verhöre
oder der Zeugenvernehmung, =zu interveniren=, =zu verlangen=, und so
fortzufahren, bis wenigstens alles zu geschehen =Mögliche= gethan ist.

Die richterlichen Fragen können in einem solchen Falle den Arzt =noch
weniger= als in einem =andern=, wo das _Corpus delicti_ =vorliegt=, an
der =selbstständigen= Auffassung der Sache, und daher an der Abgabe
eines Gutachtens =hindern=, welches den Forderungen der positiven
Gesetzgebung über das möglicher Weise in Frage stehende =Verbrechen=
entspricht, da es sich leicht denken lässt, dass der Richter bei so
=mangelhaften=, oft erst noch durch Veranlassung des =Arztes= zu
=ergänzen= möglichen Prämissen nicht in der Lage sein kann, diese
Fragen vollkommen =sachgemäss= und =erschöpfend= zu stellen.

Ist aber auf die angedeutete Weise der Thatbestand =ergänzt=, so
=muss= das Gutachten, so weit es nach den vorliegenden Daten möglich
ist, auch =vollständig= abgegeben, und vor Allem dabei die Angabe
nicht unterlassen werden, in wie weit der Inhalt der Aussage, auf
welchen sich das Gutachten stützt, nach Grundsätzen der medizinischen
Wissenschaft =Glauben= verdient oder nicht. Es ist =möglich=, dass
ungeachtet aller auf diese Weise erreichten Vollständigkeit des
Gutachtens doch kein bestimmtes Resultat erzielt werden kann, und
das Gutachten daher zweifelhaft bleiben muss, allein dann hat der
Arzt seine Pflicht =erfüllt= und ist gegen alle nachtheiligen Folgen
=gesichert=, welche =ohne= diese gewissenhafte Genauigkeit eintreten
und darin bestehen könnten, dass bei Vorlage des Aktes an die
medizinische Fakultät seine Ausarbeitung als eine =oberflächliche=
erkannt werden würde.


§. 24.

Um das Gesagte deutlich zu machen, möge folgender Fall dienen, welcher
sich erst vor einigen Monaten wirklich zugetragen hat.

Eine Weibsperson hatte sich hochschwanger aus ihrer Heimat entfernt,
und war nach einigen Wochen, ohne mehr schwanger zu sein, in ihre
Heimat zurückgekehrt. Zu Verhaft gebracht, gestand sie, sie habe an
einem bestimmten Orte ein =todtes= Kind geboren, und gab einmal an,
sie habe des Kindes Leiche ins =Wasser= geworfen, ein anderesmal, sie
habe sie an einem =Zaune liegen= gelassen. Auch über den Akt der Geburt
differirten ihre Aussagen, indem sie einmal angab, sie habe in einem
=Stalle= neben den Pferden, das andere Mal, sie habe in einer =kalten
Kammer= (im November) geboren.

Die Fragen, auf die es ankam, waren nunmehr:

_a_) hat sie geboren?

_b_) ist es richtig, dass das Kind todt zur Welt kam?

_c_) ist es nicht anzunehmen, dass sie es umgebracht oder aus Mangel an
nöthigem Beistande habe umkommen lassen?

Ueber die erste Frage konnte bei dem bereits verstrichenen Zeitraum
und bei dem Umstande, dass die Inquisitin früher schon einmal geboren
hatte, keine Gewissheit erlangt werden, da übrigens die Inquisitin
die behauptete Schwangerschaft nicht läugnete und dieselbe von
glaubwürdigen Personen bemerkt worden war, so war dieser Mangel minder
erheblich.

Ueber das Zweite lag die bestimmte Abrede der Inquisitin vor, es musste
also der Gang der Untersuchung =dahin= geleitet werden, irgend einen
=für= oder =gegen= ihre Angabe streitenden Grund zu finden.

Zu diesem Ende wurde ausser der Untersuchung der =Person= der
Inquisitin, nach welcher dieselbe ganz normal gebaut war, auf
Veranlassung des intervenirenden Arztes (Herrn k. k. Bezirksarztes Dr.
N. zu Hofgastein), sehr zweckmässig ihr =Gesundheitszustand= während
ihrer letzten =Schwangerschaft= sowohl, als während ihrer ersten
Schwangerschaft, nach welchem sie erhobenermassen ein todtes Kind
geboren hatte, erforscht, und sie über den Verlauf der Geburt selbst
umständlich verhört.

Es ergab sich: dass sie einmal auf den Bauch gestossen wurde (im
vierten Monate), eben so die ersten Monate am Blutflusse gelitten, und
auch sonst Anfälle von heftigen Krämpfen gehabt habe, die Geburt aber
schnell und ohne besondere heftige Schmerzen vor sich gegangen sei, so
dass sie keinen Schmerzenslaut von sich gegeben habe, und daher auch
nicht von den in der Nähe schlafenden Leuten gehört worden sei.

Bei diesen Verhältnissen wurde nun von Seite des Herrn Bezirksarztes
ganz sachgemäss erklärt, dass alle diese Umstände zwar =kein
entscheidendes= Gutachten gestatten, dass aber bei dem Umstande, wo
eine Frühgeburt =nicht= Statt hatte, -- die Inquisitin behauptete im
Gegentheile 10 Monate und 9 Tage schwanger gewesen zu sein -- auch
=kein= positiver Grund vorhanden ist, aus welchem die Angabe, dass
das Kind schon =vor= der Geburt gestorben gewesen sei, für =wahr=
gehalten werden müsse, dass aber bei den vorausgegangenen nachtheiligen
Einflüssen zu vermuthen sei, dass das Kind klein und schwächlich war,
daher es denkbar ist, dass, wenn die Geburt in der Kammer vor sich
ging, sie der Wöchnerin keinen so grossen Schmerz verursacht habe, dass
sie zur Ausstossung von Schmerzenstönen, wodurch die in der Nebenkammer
schlafenden =Leute= wären aufmerksam gemacht worden, gedrungen gewesen
sei, dass es daher ebenso denkbar ist, dass das Kind =während= oder
=nach= der Geburt an der eigenen Schwächlichkeit gestorben sei, dass
aber im Falle sie in einem =Stalle= geboren, die dort herrschenden
mephytischen =Dünste= die Entwicklung der Respirationsorgane gehindert
und ehe die Mutter es gewahrte, dem Leben ein Ende gemacht haben
können; -- dass endlich die Entbindung in der kalten Kammer, wenn das
Kind nicht unbedeckt liegen blieb, keinen lebensverkürzenden Einfluss
könne gehabt haben, und daher nicht als ein den Tod herbeiführender
Mangel an Beistand könne betrachtet werden.

Ueber die behauptete Dauer der Schwangerschaft über 10 Monate erklärte
der Herr Bezirksarzt, dass diese Angabe allerdings in Zweifel gezogen
werden müsse, wenn sie aber wahr wäre, so würde sie eine Anomalie
vermuthen lassen, welche wirklich dafür spreche, dass das Kind todt zur
Welt gekommen sein könnte, während bei dem wahrscheinlichen normalen
Zeitverlaufe, kein =positiver= Grund für den Tod =vor= der Geburt,
jedoch auch kein Grund vorhanden sei, die Unmöglichkeit, dass das Kind
schon todt zur Welt gekommen sei, zu behaupten.

Alle diese Angaben wären ohne genaue Durchgehung der Akten und die
Statt gefundene zweckmässige Auffassung =unmöglich= gewesen, und
das Kriminalgericht war nur dadurch, dass wenigstens der kompetente
Ausspruch, es sei keineswegs ein Grund vorhanden, das Kind für
=todtgeboren= annehmen zu =müssen=, vorlag, in Gemässheit der übrigen
gegen die Inquisitin streitenden Gründe (ihre widersprechenden
Aussagen, sonstigen schlechten Leumund u. s. w.) in die Lage gesetzt,
die Kriminaluntersuchung gegen sie =einzuleiten=, welches ohne diesen,
nur durch die von Seite des einschreitenden Arztes Statt gefundene
umsichtige Erwägung der Aktenlage möglich gewesenen Ausspruch nicht
hätte geschehen können[11].

  [11] Der §. 264 des I. Th. St. G. B. lautet: „Eine nähere
      rechtliche Anzeige in Ansehung eines Kindesmordes ist
      die Zusammentreffung folgender Umstände: dass nebst einer
      auffallenden gähen Veränderung am Leibe, das Kind nicht
      erscheint, und bei einer durch diese Merkmale veranlassten
      Besichtigung, sich die Gewissheit einer vor Kurzem
      vorgegangenen Geburt entdeckt.”


§. 25.

Wird endlich ein Gutachten über einen bestimmten Gegenstand verlangt,
dessen Natur und Beschaffenheit nicht =von selbst= andeutet, =was= man
von demselben von Seite des Gerichts zu wissen verlangt, so ist es wohl
in der Ordnung, dass das Gericht =angebe=, welche =Art von Auskunft=
es bedürfe, z. B. ob es wahr ist, dass ein aufgefundener Körper, z. B.
Rhabarber, eine Arznei sei.

Sollte jedoch das Gericht es =unterlassen= haben, sich bestimmt
hierüber auszudrücken, und ergibt sich nicht schon aus den übrigen
dem Arzte bekannten Erhebungen der Zweck einer solchen Mittheilung, so
ist es wohl der natürlichste Weg, dass der Arzt =an das Gericht= die
Frage stellt, =was es eigentlich wissen will=. Ein Fall der ersten Art
wäre, wenn etwa das Gericht nach Statt gefundener Sektion eines durch
Messerstiche getödteten Menschen einen blutigen Stock mit der Bemerkung
übersendet hätte, dass dieser Stock eben jetzt in dem Lokale, wo der
Mord Statt hatte, aufgefunden worden sei. Die Erklärung des Arztes
dürfte nun nicht etwa dahin lauten, es sei wahrscheinlich, dass das am
Stocke befindliche Blut von dem Ermordeten herrühre, oder dass, wie es
wirklich in einem solchen gedruckten Gutachten zu lesen ist: der Stock
wahrscheinlich =Zeuge= der That gewesen sei[12], sondern er müsste
die Frage beantworten, ob an der =Leiche Spuren= vorhanden seien,
welche von der Anwendung =dieses Stockes= zeigen. -- Das Gutachten
darf sich aber auch im Falle, als das Gericht sich =ausgesprochen=
hat, =nur dann= auf die Beantwortung der richterlichen =Frage
beschränken=, wenn der Arzt nach Massgabe der ihm bekannt gewordenen
Umstände findet, dass durch die Beantwortung die volle Bedeutung des
Gegenstandes =erschöpft= ist, findet er dieses =nicht=, so muss er
dasjenige =beisetzen=, wovon er vermuthet, dass es für die gerichtliche
Untersuchung von Einfluss sein kann, wäre z. B. in dem Falle einer
Arsenik-Vergiftung ein =Mörser= mit der Frage mitgetheilt worden, ob
der darin befindliche Körper =Arsenik= sei, und der Arzt fände, dass
es zwar Arsenik sei, aber etwa =gelber= Arsenik, während die Vergiftung
mit =weissem= Arsenik geschah, so wäre es =nicht= hinreichend zu sagen,
es =ist= Arsenik, sondern es müsste ausdrücklich gesagt werden, es ist
Arsenik, =jedoch eine andere Gattung= als derjenige, welcher im Magen
vorgefunden wurde, weil diese Angabe von grosser Bedeutung für die
Untersuchung werden kann.

  [12] Man möge doch niemals unterlassen zu bedenken, dass
      jedes Wort seinen =eigenen= Sinn habe, und dass man in
      gerichtlichen Akten nicht figürlich sprechen darf.



IV.

Ueber den Einfluss des Richters auf die ärztliche Untersuchung und die
Abgabe des Gutachtens.


§. 26.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich von selbst die Beantwortung der
Frage, wie weit der =richterliche= Einfluss bei Abgabe eines Gutachtens
gehen dürfe.

Die Frage ist jedoch besonders im gegenwärtigen Zeitpunkte, wo so
vieles für gerichtliche Medizin, insbesondere in der Art geschieht,
dass von Seite der zum Richteramte sich bildenden Rechtskundigen
=eigene gerichtlich medizinische Studien gemacht werden=, viel zu
wichtig, um nicht eine besondere Besprechung zu bedürfen.

Es wurde in der That schon im Ernste die Frage aufgeworfen, ob es
gut oder übel sei, dass der Richter medizinische Kenntnisse habe,
und diese Frage bald bejahend, bald verneinend beantwortet. -- Gegen
die Bejahung lässt sich allerdings sagen, dass der Richter seine
=Privatansicht= durchaus nicht in die Wagschale legen dürfe. Hat
aber der Richter =medizinische Kenntnisse=, so hat er auch nothwendig
eine =Privatmeinung= über die =medizinische Bedeutung= eines Falles,
er kann also in die Lage kommen, in dem Falle, wo die Meinung der
Kunstverständigen =gegen= seine Ansicht ist, zwischen =seiner= Ansicht
und jener der =Kunstverständigen= eine =Wahl= treffen zu müssen, und
da nicht leicht jemand =seine= Ueberzeugung gegen die eines =Andern=
aufgibt, so kann ein solches Wissen schädlich auf die objektive
Richtigkeit seines Urtheils wirken, besonders wenn seine Ansicht
=falsch=, jene der Kunstverständigen aber die =richtige= wäre.

Eben so kann man für die Behauptung anführen, dass der Richter, welcher
medizinische Kenntnisse besitzt, sehr leicht veranlasst werden kann,
bei der Erhebung dasjenige herauszustellen, was eben in =seinem=
Gesichtskreise liegt, und dasjenige, welches darin =nicht= gelegen ist,
oder ihm =unbedeutend= scheint, =unberücksichtigt= zu lassen, welches
bei mangelhaften Kenntnissen sehr leicht Irrthümer und Lücken in der
Erhebung herbeiführen kann.

Beide Einwürfe kommen mir jedoch nicht sehr grundhältig vor, da sie
viel zu =viel= beweisen. Was nämlich vom =medizinischen= Wissen des
Richters gilt, gilt überhaupt von =jedem= Wissen desselben; es würde
daher, wenn dieser Satz wahr wäre, folgen, dass der Richter in seinem
Gewissen verpflichtet sei, sich jedes Wissens mit Ausnahme jenes der
Gesetze zu enthalten! -- denn überall =können= ihm Fälle vorkommen, wo
=sein= Wissen mit irgend einer Ansicht von Kunstverständigen kollidirt.
Nun möchte man wohl fragen, ob man es im Ernste für möglich halte, dass
Jemand die Gesetze =praktisch= anwende, wenn er nicht in die Natur der
möglichen Fälle eingeht. Ein solcher Richter wäre beiläufig wie ein
Geometer, der nur mit Wasserwage und Masskette zu nivelliren verstände,
aber gar kein =Augenmass= hätte. Dies ist nun wohl ein undenkbares
Wesen, -- eben so wenig kann man sich aber einen seinem Berufe
entsprechenden Richter denken, welcher, wenn er ein =Gesetz=, besonders
aber ein =Strafgesetz= anzuwenden hat, nicht von dem Aktentische
aufsähe, wenn der Gegenstand, um den es sich handelt, vor ihm liegt,
um sich zu überzeugen, ob denn dasjenige, was im Akte steht, nach dem
Zeugnisse seiner eigenen Sinne auch wirklich =vorhanden=, und nicht
etwa =anders= beschaffen sei, als die Akten besagen.

Was das Augenmass für Jeden ist, welcher über eine =Entfernung= zu
urtheilen hat, ist das =eigene= praktische =Wissen= für Jeden, welcher
über ein Verhältniss einer Thatsache zum Gesetze zu urtheilen hat; man
wird weniger durch eine falsche Berechnung einer Entfernung getäuscht,
wenn man =neben= der geometrischen Berechnung noch das Augenmass
anwendet. -- Ebenso geht es dem Richter, wenn er sein, durch sie
erworbenes Wissen geschärftes Beobachtungsvermögen anwendend, seine
Beobachtung mit jener der Aerzte vergleicht, -- er wird sie nicht
minder giltig =finden=, wenn sie richtig ist, und er wird dadurch
wesentlich beitragen, den Irrthum zu =entdecken=, wenn sie =unrichtig=
war, und wenn er, wie er es in seiner ämtlichen Stellung =gar nicht
anders kann=, keinen =anderen= Gebrauch von seinem Wissen macht,
als dass er dort, wo ihm ein Zweifel gegen das ärztliche Gutachten
aufstösst, die =Behebung= dieses Zweifels =verlangt=, so ist in der
That nicht einzusehen, welcher Nachtheil hieraus für die Gerichtspflege
entstehen solle.

Eben so gewiss ist es aber, dass es für einen Richter, welcher viel
mit gerichtlich medizinischen Geschäften zu thun hat, rein =unmöglich=
ist, nicht unwillkürlich einige Kenntnisse dieser Art anzunehmen. Wer
daher von einem =praktisch geübten= Richter im Ernst verlangt, er dürfe
nicht wissen, wo der Magen oder die Milz liegt, oder dass nach einer
Gehirnerschütterung ein Extravasat sich bilden könne, oder dass es eine
tödtliche Verletzung sei, wenn etwa Jemanden der Kopf abgeschnitten
wird, fordert geradezu etwas =Unmögliches=.

Da somit eine =gänzliche= Unwissenheit in medizinischen Sachen bei dem
Richter unter die =Unmöglichkeiten= gehört, ein unvollkommenes, und
noch mehr ein =falsches= Wissen aber unter allen =denkbaren= Fällen
=schädlicher= ist, als ein gänzliches =Nichtwissen=, weil es immerhin
zu =ungegründeten= Zweifeln Anlass gibt, so kann man das Bestreben der
neueren Zeit, dass auch Rechtskundige sich gründliche und umfassende
medizinische Kenntnisse zu erwerben suchen, gewiss nur =loben=, da es
in manchen Fällen dahin führen kann, dass ein Irrthum, wo nicht in der
Sache, doch in dem Ausdrucke, welcher doch gewiss nicht unmöglich ist,
bemerkt, und ohne Nachtheil für die Rechtspflege berichtiget wird.


§. 27.

Diese Ansicht der Sache darf uns aber nicht abhalten, auch die
Schattenseite, welche diese Studien in Praxi haben können, zu
beleuchten, sie liegt nämlich darin, dass mancher Inquirent dadurch
in Versuchung geräth, entweder den Arzt =nicht= zu rufen, wo er
=hingehört=, oder mit dem herbeigerufenen Arzte, wenn dieser mit
ihm verschiedener Meinung ist, sich in einen =medizinischen Disput=
einzulassen, welcher, wenn beide Theile etwas lebhaften Temperaments
sind, sehr leicht in eine andere Art des Streites übergeht, in jedem
Falle aber sehr =unnütz= ist, oder endlich, wenn er sich einem etwa
noch minder seiner Sache gewachsenen, oder einem charakterschwachen
Arzte oder Chirurgen gegenüber befindet, diesen zu einer Ansicht
bestimmen kann, nach welcher er, wo nicht =gegen= seine Ueberzeugung,
doch aber =ohne sich wirklich eine Ueberzeugung gebildet zu haben=, in
die richterliche Ansicht, aus übelverstandener Deferenz, einstimmt.

Dies =kann= geschehen; es muss sich daher jeder angehende Richter,
welcher medizinische Studien beginnt, zum unverbrüchlichen Grundsatze
machen, Alles zu =vermeiden=, was zu einem oder dem andern der
bemerkten Uebelstände führen könne. Er muss daher seine gewonnenen
medizinischen Kenntnisse dahin anwenden, um

1. bei jedem Falle, wo ihm seine gemachten Studien die Möglichkeit
erscheinen lassen, dass die Sache medizinische Kenntnisse erfordere,
sogleich den Arzt beizuziehen, =damit= nicht etwas, welches erhoben
werden soll, unerhoben, oder, was dasselbe ist, auf eine =incompetente=
Art erhoben bleibe, denn ob der Richter über die medizinische
Eigenschaft =richtig= urtheilt, ist für einen Dritten nur dann gewiss,
wenn =auch der Arzt= hiermit =übereinstimmt=.

Er wird

2. dort, wo der Arzt ein nach seiner Meinung irriges Urtheil abgibt,
vor Allem darauf sehen, ob auch alle Umstände, welche er, der Richter,
für erheblich hält, vom Arzte =berücksichtigt= wurden, und wo dies
nicht der Fall ist, deren Berücksichtigung =verlangen=, welches
ohne allen =Streit= durch Aufstellung =passender= Fragen, zu deren
=zweckmässiger= Stellung ihm gerade seine =medizinischen Kenntnisse=
vorzüglich behilflich sein werden, geschehen kann und muss; er wird
ferner auf gleiche Weise bemüht sein, zu entdecken, ob der Arzt
nicht Umstände berücksichtigt und darauf sein Gutachten gegründet
habe, welche ihm, dem Richter, =entgangen= sind, sonach aber darauf
hinwirken, dass diese Umstände auch im Befunde gehörig =hervorgehoben=
werden, ein Verfahren, zu dessen =zweckmässiger= Einleitung ebenfalls
medizinische Kenntnisse von sehr =wesentlichem Nutzen= sein werden.

Sollte er sich demungeachtet mit der Ansicht des Arztes nicht
vereinigen können, so wird er seine Bedenken mit Hilfe der erworbenen
Kenntnisse =schriftlich= ausdrücken und hierüber Aufklärung verlangen,
und erfolgt auch dann noch keine ihm genügende Aeusserung, das
Gutachten der =medizinischen Fakultät= einzuholen wissen.

Befindet er sich jedoch

3. einem minder Bewanderten oder des Ausdruckes minder mächtigen
Kunstverständigen gegenüber, so wird er mit Hilfenahme seiner
medizinischen Kenntnisse dahin wirken, dass dieser nichts =übersieht=,
und ihn entweder durch =mündliche= Bemerkungen oder durch passend
gestellte Fragen schriftlich auf das zu beachten Nöthige =aufmerksam=
machen, vorzugsweise aber darauf sehen, dass der Kunstverständige sich
=nicht= durch etwa früher erhobene Umstände, als Zeugenaussagen u. dgl.
=irre= machen lasse, sich an die objektiven Ergebnisse der Erhebung zu
halten; dort aber, wo er gewahrt, dass der Arzt nur aus mangelhafter
Bekanntschaft mit der =rechtlichen= Bedeutung seiner =Ausdrücke= einen
=unpassenden= wählt, einem solchen Anstande dadurch begegnen, dass er
den Kunstverständigen aufmerksam macht, worin das Unpassende liege
und wie es heissen sollte[13]. Gewähren ihm aber seine erworbenen
Kenntnisse die Ueberzeugung, dass die etwa zufällig in Abwesenheit des
ordentlichen Kreis- und Bezirksarztes beigezogene Sanitätsperson in
der That ihrer Aufgabe =nicht= gewachsen ist, so wird er dadurch sich
in die Lage gesetzt finden, noch bei Zeiten dem Uebel zu begegnen,
welches bei einem zu einer solchen Amtshandlung nicht befähigten
Kunstverständigen zu besorgen stünde.

  [13] Mir selbst begegnete es einmal bei der Sektion eines Mannes,
      der sich durch einen Pistolenschuss durch das Gehirn entleibt
      hatte, dass die beiden beigezogenen Landchirurgen, nachdem
      sie ihren Befund, aus welchem wirklich eine bedeutende
      Anomalie in den Gebilden hervorgegangen war, sehr sachgemäss
      abgegeben hatten, ihr Gutachten dahin abzugeben im Begriffe
      standen: „es erhellt, dass der Mensch an den Folgen des
      Wahnsinnes gestorben sei.” -- Dies war nun offenbar nur ein
      verfehlter =Ausdruck=, der über meine mündliche Erinnerung
      sogleich dahin berichtiget wurde: „Es erhellt, dass der Tod
      eine Folge des Eindringens der Kugel in das kleine Gehirn
      war, und dass der Verstorbene sich in dem Zustande der
      Geisteszerrüttung befunden habe.”

  Wäre auf meine mündliche Bemerkung diese Berichtigung nicht
      erfolgt, so wäre eine Frage nothwendig gewesen, die ungefähr
      so hätte lauten müssen: „Erhellt nicht vielmehr, dass der
      Tod” etc., wie das später angegebene Gutachten lautet.



Schlussbemerkung.


§. 28.

Im Allgemeinen kann es einem Arzte, welcher sich dem =Staatsdienste=
widmet, nie genug anempfohlen werden, sich mit den Gesetzen, zu deren
Anwendung er mitzuwirken berufen ist, vertraut zu machen. Es ist
dies nicht nur ein =Vortheil= für das Gericht, mit welchem er eben
zu thun hat, sondern eine wesentliche Pflicht =seines= ihm vom Staate
verliehenen =Amtes=, von welcher ihn =nichts= dispensiren kann, denn
Jeder, welcher ein Amt übernimmt, ist verpflichtet, sich in =jeder=
Beziehung zur entsprechendsten Ausübung desselben zu qualifiziren.
Der Umstand, dass er keine juridischen Studien gemacht hat, enthebt
ihn =keineswegs= der Verbindlichkeit, sich diejenigen Gesetze eigen
zu machen, deren Nichtkenntniss einen =Nachtheil= in seiner ämtlichen
Leistung herbeiführen könnte. So wenig sich daher der angestellte Arzt
entschlagen kann, diejenigen Verordnungen zu kennen und sich darnach
zu richten, welche vorschreiben, wie die =Ausweise= bei Epidemien, bei
Impfungen u. dgl. zu machen sind, obwohl auch über diese Verordnungen
keine besonderen Vorlesungen gehalten werden, so wenig darf der Arzt
die Mühe scheuen, die auf sein Fach Bezug nehmenden Justizgesetze zu
=studiren=, ein Studium, ohne welches ihm wahrscheinlich, ungeachtet
aller Bemühungen des Richters, mündlich oder schriftlich auf die
Verfassung eines entsprechenden Gutachtens hinzuwirken, =nicht=
gelingen wird, den Ansprüchen, welche der Staat mit Recht an ihn
stellt, zu =genügen=, denn es ist dem Richter nicht =möglich=, dem
intervenirenden Arzte in dem vorkommenden Falle sogleich =alle= jene
Begriffe zu geben, welche nur die Frucht eines zwar weder schwierigen
noch weitläufigen, aber doch eines =solchen= Studiums sind, welches
man sich aber auch nicht ohne eigenes ernstliches und selbstthätiges
=Mitwirken= erwerben kann, da dessen Frucht eine doch nicht ganz
unbedeutende Zahl Begriffe sind, deren klare Auffassung man sich
unmöglich nur so im Vorbeigehen aneignet, welche aber noch weniger
ohne eigenes Studium zu der zum Zwecke der Amtshandlung unumgänglichen
Klarheit gebracht werden können.

=Nur= das Studium der =Gesetze= kann aber zu dieser Klarheit
führen, das Lesen von gerichtlichen =Gutachten= allein, ohne das
vorausgegangene Studium, wird nie =vollkommen= zu diesem Ziele führen,
denn je =sachgemässer= ein Gutachten ist, um so mehr hat es das
=Ansehen=, als hätte es =gar nicht anders gegeben werden können=; der
Gerichtsarzt, welcher daher dadurch zu der Ansicht verleitet würde,
er dürfe sich bei einem vorkommenden Falle nur ein in einem ähnlichen
Falle abgegebenes Gutachten aufschlagen und diesem =nachschreiben=,
steht in Gefahr, auf eine sehr unangenehme Weise daran erinnert zu
werden, dass der Satz: _duo quum faciunt idem non semper est idem_,
=keine= Ausnahme leide. Ein Ausdruck, der in dem als Muster dienenden
Gutachten sehr an seinem Platze ist, ist oft ganz =verkehrt=, und gibt
zu sehr nachtheiligen =Missverständnissen= Anlass, wenn er in einem
andern Gutachten angebracht wird, denn ein Umstand, welcher in dem als
Muster dienenden Befunde =nicht= erwähnt ist, weil er nicht vorhanden
war, oder welcher durch sein Vorhandensein den Ausdruck =veranlasste=,
in dem vorliegenden Falle aber nicht vorhanden ist, macht oft eine ganz
verschiedene Wendung des Ausdruckes nothwendig.

Weit entfernt, durch die gegenwärtige Schrift etwas anderes erzwecken
zu wollen, als meine verehrten Leser auf den innigen Zusammenhang
zwischen der positiven Gesetzgebung und der gerichtlichen Arzneikunde
aufmerksam zu machen, glaube ich daher der Rechtspflege einen Dienst
zu erweisen, indem ich dem verehrten Leser durch einige praktische
Abhandlungen den innigen Zusammenhang beider Wissenschaften anschaulich
zu machen bestrebt war, um dadurch zur richtigen Auffassung der dem
Arzte obliegenden selbstständigen Aufgabe zu führen.

Die dargestellten Fälle haben daher nicht im Mindesten den Zweck, in
irgend einer Beziehung als Formularien zu dienen, denn ein solches
Beginnen ist nach meiner Ansicht eine Satyre auf die Wissenschaft;
wo ich mir aber -- wie bei den Fällen des Raufhandels und bei ein
paar Fällen des Kindesmordes und der Vergiftung -- solche Formularien
aufzustellen erlaubte, geschah es nur darum, um bestimmt auszudrücken,
welche Merkmale =nicht übersehen werden dürfen=, wenn das Gutachten
seinem Zwecke entsprechen soll, nicht aber um einer sachgemässen,
selbstständigen Auffassung der objektiven Erscheinung hemmend
entgegenzutreten.

Seiner Bestimmung nach zerfällt übrigens das gegenwärtige Werk in
zwei Abtheilungen, wovon die =erste= diejenigen Grundsätze darstellt,
welche bei Erhebung von Gemüthszuständen in Bezug auf Verbrechen in
rechtlicher Beziehung beobachtet werden müssen, die =zweite= Abtheilung
aber diejenigen Grundsätze entwickelt, welche bei der Erhebung
einzelner, die gerichtliche Arzneiwissenschaft berührender Verhältnisse
in gerichtlich-medizinischer Beziehung zu beobachten nothwendig sind.
Das Erste ist Gegenstand des ersten, das Zweite Gegenstand des zweiten
Theils, und ich glaube nur die Bemerkung beifügen zu müssen, dass der
verehrte Leser von diesem Werke um so mehr Nutzen zu erwarten hat,
je geläufiger ihm die bestehenden Gesetze sind; den Mangel an eigenem
Studium dieser Art vermag dieses Buch so wenig, als irgend ein Buch in
der Welt, zu ersetzen; die Mittel zu diesem Studium enthält mein in der
Vorrede erwähntes „Handbuch der gerichtsarzneilichen Wissenschaft.”



I. Abtheilung.

Ueber die gerichtlich-medizinische Erhebung von Gemüthszuständen.

            Willst Du die Andern versteh'n, blick' in Dein eigenes Herz.

                                                             _Schiller._



Ueber die gerichtlich-medizinische Erhebung von Gemüthszuständen.

Einleitung.


§. 1.

Die gerichtliche Erhebung des Irrsinnes ist ohne Zuziehung ärztlicher
Personen nicht möglich. -- Dieser Satz bedarf keines Beweises, da man
darüber längst einig ist. -- Zweifelhaft kann es aber sein, =wie weit=
die Kompetenz des =Richters= und jene des =Arztes= dabei zu gehen
habe. Um nun hierüber zu einer entscheidenden Ansicht zu gelangen,
muss man sich vor Allem über die Bedeutung gewisser Vorbegriffe
vereinigen, welche sich sowohl durch den =Zweck= der Erhebung, als
auch durch die =Natur der Sache= darstellen, und eben aus dem Grunde,
weil sie =sowohl= für den =Arzt=, als für den =Richter= mehr oder
weniger wahrnehmbar sind, die =Basis= zu bilden geeignet erscheinen,
aus welcher sich sowohl die gegenseitige =Stellung=, als die Art und
Weise, =wie= die Einschreitung des einen oder des andern Theiles zu
geschehen habe, und =wie weit= jeder Theil hierin zu gehen berechtigt
und verpflichtet sei, begründen lässt.

Um diese Grundlage weiterer Argumentation richtig zu bestimmen, erlaube
ich mir auf folgende Verhältnisse aufmerksam zu machen.


§. 2.

Es gibt keine Wissenschaft, welche nicht in einigen ihrer
Grundprinzipien auf die Erfahrungen des gemeinen Lebens gegründet wäre,
selbst die Astronomie oder die höhere Mathematik macht hievon keine
Ausnahme; so lässt es sich nicht läugnen, dass die praktische Kenntniss
und Anschauung der im Einmaleins enthaltenen Sätze eben so gut die
Grundlage der Resultate astronomischer Berechnungen ist, als sie einer
gewöhnlichen Küchenrechnung als Grundlage dienen wird.

Diejenigen Resultate, welche sich daher lediglich durch die Kenntnisse
des Einmaleins beurtheilen lassen, sind nun eben darum eben so dem
mit den Regeln der Astronomie ganz =unbekannten= Menschen, als dem
Mathematiker oder Astronomen in Bezug auf ihre =Richtigkeit= zu
beurtheilen möglich.

Der Unterschied zwischen der =wissenschaftlichen= und =nicht
wissenschaftlichen= Beurteilung einer Sache liegt daher nicht
darin, dass der nicht wissenschaftlich Gebildete nicht in einzelnen
Fällen eben so =sicher= dasselbe Resultat erreichen kann, als
der wissenschaftlich Gebildete, sondern die Ueberlegenheit des
wissenschaftlich Gebildeten über den nicht wissenschaftlich Gebildeten
wird sich vielmehr =dadurch= kundgeben, dass der wissenschaftlich
Gebildete durch die im Wege des Studiums erworbenen Kenntnisse und
Fertigkeiten einen =schärferen Blick= besitzt, als der nicht Gebildete,
und dass er daher auch =mehr= Eigenschaften in der Sache entdecken
wird, als der Andere; ferner darin, dass er gegen einen möglichen,
durch Unrichtigkeit in der =Beobachtung=, oder durch unrichtige
Anwendung von =Prämissen= in der durch diese Beobachtung erhaltenen
Schlussfolge =eintretenden= Irrthum =mehr geschützt= ist, als der
Erstere. -- Die Wissenschaft ist für die Richtigkeit des Resultates
der angestellten Beobachtungen dasjenige, was das =Fernglas= für den
Beobachter ist, man braucht das Fernglas nicht =nur=, um Gegenstände
zu =entdecken=, welche ausser dem Bereiche des Auges sind, sondern man
sieht auch dann durch ein Fernglas, wenn man den Gegenstand schon mit
freiem Auge =erkannt= hat, und man nur wissen will, ob man nicht etwa
von einer =Täuschung= befangen ist, oder sonst etwas an dem Gegenstande
vorhanden sei, was man mit freiem Auge nicht gewahren konnte.

=In jedem Falle= kann jedoch, wie bereits in dem ersten Aufsatze
dieses Werkes nachgewiesen wurde, einem Urtheile, es mag nun auf einer
wissenschaftlich angestellten Forschung beruhen oder nicht, nur dann
eine =strafrechtliche= Folge gegeben werden, wenn über die =objektive
Richtigkeit= desselben die =rechtliche Gewissheit= vorhanden ist.

Was nun die medizinische Wissenschaft betrifft, so lässt sich von
derselben noch weniger, als von anderen Wissenschaften behaupten, dass
sie in =allen= ihren Zweigen und Ergebnissen dem Laien =ganz fremd=
sei, sondern es muss als bekannt angenommen werden, dass Manches,
welches dem Arzte durch gewisse Lehrvorträge eröffnet wird, dem Laien
eben so gut und eben so sicher bekannt ist. Jeder Mensch weiss, und
zwar Derjenige, welcher etwa einige Stunden lang bei heftigem Winde auf
einer sehr staubenden Strasse gehen musste, gewiss mit =eben solcher
Zuverlässigkeit=, als nur irgend ein Arzt es wissen kann, dass =Staub=
den =Augen= sehr unangenehm und schädlich ist.

Da nun jeder denkende Mensch auch in der Lage ist, durch Anstellung
von Vergleichungen u. s. w. sich gewisse Regeln zu abstrahiren,
welche, sofern die Erfahrungen, auf welchen sie beruhen, richtig sind,
ebenfalls richtig sein werden, so lässt sich nicht läugnen, dass jeder
Mensch, besonders wenn er selbst schon krank war oder andere Kranke
zu besorgen hatte, nicht nur ein gegründetes Interesse an derlei
Erfahrungen nehmen, sondern auch dahin kommen werde, seine eigene
Pathologie und seine eigene _materia medica_ über manche Gegenstände zu
bilden, an welchen auch der wirkliche Arzt nicht Alles falsch und nicht
Alles mangelhaft finden würde.


§. 3.

Was von der medizinischen Wissenschaft im Verhältnisse zum Nichtarzt
im Allgemeinen gilt, leidet seine volle Anwendung auch auf die
Beurtheilung von =Seelenzuständen=. So wie es nämlich offenbar =zu
viel= gesagt wäre, =nur= ein Arzt könne in allen Fällen einen Gesunden
von einem Kranken unterscheiden, so gibt es auch Fälle, in welchen
jeder Laie sich mit Gewissheit überzeugt hält, dieser oder jener Mensch
sei ein =Narr=, oder er sei =vernünftig=. Zeigt mancher Narr sich
auf der Gasse, so lauft der Gassenpöbel hinterd'rein, und würde man
fragen, so würden sie als Kennzeichen angeben: weil er konfus spricht
und handelt, sein Blick verwirrt ist, und dergleichen Merkmale, welche
als charakteristische Kennzeichen anzugeben auch ein Arzt kein Bedenken
tragen würde.

Wenn es daher als eine ausgemachte Sache zu betrachten kommt, dass
die gerichtliche Erhebung des Irrsinns nicht =ohne= Arzt Statt finden
dürfe, so kann und darf dies nicht so viel sagen, als es könne und
dürfe von dem Richter nicht vorausgesetzt werden, dass er im Stande
sei, einen =Narren= von einem vernünftigen Menschen zu =unterscheiden=,
sondern der Zweck dieser Beiziehung kann nur darin liegen: 1.
in =zweifelhaften= Fällen durch Anwendung von wissenschaftlichen
Kenntnissen, welche dem =Richter mangeln=, über das Vorhandensein oder
Nichtvorhandensein des Wahnsinnes Gewissheit zu erhalten; 2. sich zu
versichern, ob auch die Beobachtungen und Ansichten des Richters die
Probe einer =wissenschaftlichen= Forschung bestehen, und ob nicht 3.
durch die nach wissenschaftlichen Prinzipien angestellten Forschungen
noch Erscheinungen beobachtet werden, welche dem Richter =entgangen=
und von irgend =einem Einflusse= auf die Untersuchung und Entscheidung
über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein des Irrsinnes sein
können.


§. 4.

Hieraus ergibt sich nun im Allgemeinen, dass dort, wo es sich um
Erhebung des Wahnsinnes handelt, der Richter weder berechtigt noch
verpflichtet sei, =gegen= das Zeugniss seiner eigenen Beobachtung nach
dem Ausspruche der Aerzte Jemanden als wahnsinnig oder als vernünftig
anzunehmen, sondern dass, wo ihm ein Zweifel =gegen die von den Aerzten
ausgesprochene Ansicht= aufstösst, er vor Allem von ihnen verlangen
und erwarten müsse, dass sie diesen Zweifel lösen, d. h. den Irrthum,
welcher diesem Zweifel zu Grunde liegt, nachweisen, denn so lange
irgend ein =Zweifel= gegen den Ausspruch der Aerzte besteht, muss
angenommen werden, dass irgend ein =Missverständniss= obwaltet, und ein
=Missverständniss= darf wohl nicht die Grundlage einer richterlichen
Entscheidung sein.

Damit ist nun wohl nicht gesagt, dass die Aerzte auch die Pflicht
haben, in jedem Falle den Richter, d. i. die =Person= des Richters
zu überzeugen, sondern die =Person= des Richters muss ganz ausser dem
Spiele bleiben, und die Aeusserung des Arztes darf nicht um eine Sylbe
anders lauten, wenn ein anerkannter geistreicher Mann das Richteramt
ausübt, als wenn nach der Ueberzeugung des Arztes dieses nicht der Fall
ist; sondern der Arzt hat seine Pflicht vollkommen =erfüllt=, wenn er
die Thatsachen oder die Axiomen, welche ihm seine Wissenschaft an die
Hand gibt, in einer =klaren= Weise =darstellt= und sowohl seine Meinung
überhaupt, als dasjenige, welches er zur =Berichtigung= der vom Richter
etwa aufgeworfenen =Bedenken= anzuführen für nöthig erachtet, erörtert,
und mit =logisch-richtigen= Schlussfolgen hierauf seine =Widerlegung=
oder =Berichtigung= begründet.

Der Richter selbst kann aber dasjenige, welches den Grundsätzen der
Wissenschaft gemäss entwickelt ist, nur insofern zweifelhaft finden,
als er Gründe hat, anzunehmen, dass entweder dasjenige, welches der
Arzt ihm als einen =Grundsatz der Wissenschaft= dargestellt hat,
=kein= Grundsatz der Wissenschaft sei, d. h. insofern er Gründe
hat, anzunehmen, dass der Arzt, sei es nun wegen nicht hinlänglicher
praktischer Uebung oder aus einem =andern= Grunde, nicht hinlänglich
tief seine Wissenschaft =aufgefasst= habe, oder dass der Arzt =_in
facto_= nicht hinreichend klar sei.

In beiden Voraussetzungen ist der Richter, wo sich Gründe dazu
darbieten, nicht nur =berechtigt=, sondern auch =verpflichtet=, die
Behebung seiner Bedenken zu verlangen, denn es wäre wohl eine nicht
zu rechtfertigende Deferenz für die =Person= des Arztes, wenn auch in
dem Falle, wo dieser einen =unrichtigen= Ausspruch gethan hat, auf den
Grund =dieses= Ausspruches, =obwohl= er unrichtig ist, eine Strafe
gegen einen Beschuldigten erkannt, oder sonst eine Ungerechtigkeit
begangen werden sollte, und wenn in einem solchen Falle der Richter
nicht berechtigt sein sollte, dort, wo er wirklich =Gründe= hat, den
ärztlichen Ausspruch für =unrichtig= zu halten, die Beseitigung dieses
Zweifels zu veranlassen.

Um daher nicht schon Gesagtes zu wiederholen, wird sich auf dasjenige,
welches in dem ersten Aufsatze dieser Schrift, §. 3 u. s. w., über
die Verfassung gerichtlicher Gutachten gesagt wurde, bezogen, so wie
überhaupt alles dort Angeführte auf die Begutachtung des Wahnsinnes in
gerichtlichen Fällen überhaupt volle Anwendung leidet.


§. 5.

=Gemüthszustände= sind nun überhaupt solche aus der menschlichen Natur
hervorgehende Zustände, zu deren Beurtheilung daher =Jeder= einen
Schlüssel besitzt, welcher, gehörig benützt, =einem Jeden viele=
Gemächer dieser wundervollen Welt aufschliesst; es ist dies der
=Schlüssel=, von welchem _Schiller_ sagt:

  „Willst Du Dich selber erkennen, so sieh wie die Andern es treiben;
  Willst Du die Andern verstehen, blick' in Dein eigenes Herz.”

Es ist der Weg der Selbstkenntniss und der Beobachtung Anderer, welcher
zuverlässig =sehr weit= führt, auf welchem sehr =viele= Resultate
gewonnen werden können, und =ohne= welchen alle Wissenschaften
zusammen genommen, nie ein =entsprechendes= Resultat herbeiführen,
ja man kann sagen, =ohne welchen= überhaupt =kein Verständniss
menschlicher Zustände möglich ist=. Dieses Eingehen in das Innere
menschlicher Zustände ist somit in allen Fällen, wo nicht besondere,
auf das Vorhandensein einer ganz =abnormen= Stimmung deutende Umstände
vorkommen, nicht nur ein Befugniss des Richters, sondern dessen
unbedingte =Pflicht=, denn wo es sich um nichts weiter handelt, als
die Motive einer That oder die Ausbrüche gewöhnlicher Leidenschaften
zu erforschen, hat noch =Niemand= an der =Kompetenz des Richters=
gezweifelt.

Aber auch dort, wo die Gemüthsstimmung, welche eine That begleitet,
eine =ungewöhnliche= genannt werden muss, lässt sich nicht =alle
Kompetenz= des Richters in Abrede stellen, denn immer bleibt dem
Richter das Urtheil über die =Zurechnungsfähigkeit= des =Menschen=
in Bezug auf eine gewisse That überlassen, da er im =Strafverfahren=
mindestens das Urtheil zu sprechen hat, ob die That aus =bösem
Vorsatze= entsprungen ist, welches ohne tieferes Eingehen in die
inneren Zustände nicht möglich ist; auch muss der Richter doch =so
viel= von Gemüthszuständen verstehen, um beurtheilen zu können, =ob=
und =wann= er eine ärztliche Untersuchung über einen Inquisiten
=einleiten= soll und muss, und =dazu= gehört jedenfalls =einige
Kenntniss= der Merkmale vorhandener Seelenstörungen.

Man kann daher im Allgemeinen sagen, dem Richter =müsse= so viel
Kompetenz des Urtheils über Gemüthszustände zugetraut werden, dass
dort, wo es ihm gelingt, die That oder das Benehmen des Beschuldigten
auf =rein menschliche Motive= zurückzuführen, er auch =nicht=
verpflichtet sei, eine ärztliche Untersuchung des Geisteszustandes
eines Inquisiten zu veranlassen; waltet aber ein =Zweifel= ob, ob auch
die vom =Richter= gelieferte Nachweisung vollkommen =richtig= sei, oder
stellt sich die Möglichkeit dar, dass irgend ein krankhafter oder sonst
anomaler Zustand auf die Verübung der That eingewirkt haben könne,
so ist es nicht mehr blos räthlich, sondern =absolut nothwendig=,
dass die ärztliche Untersuchung eintrete, denn um den Einfluss eines
solchen Zustandes auf einen bestimmten Akt der Thätigkeit eines
Menschen zu beurtheilen, genügen nicht mehr die aus einer, wenn auch
geläuterten =Lebensansicht= gewonnenen Resultate, sondern es gehören
hierzu =spezielle Kenntnisse=, und zwar nicht =blos= über menschliche
=Geisteszustände= überhaupt, sondern es gehört Alles dazu, wodurch
der Beobachter in die Lage gesetzt wird, über =Krankheitszustände= zu
urtheilen, also Anatomie, Physiologie und Pathologie überhaupt, und
=spezielle Erfahrungen= über denjenigen Zustand der =Krankheit=, welche
sich durch =Geistesverwirrung= ausspricht, eine Kenntniss, welche
selbst nicht =jeder Arzt=, sondern nur Derjenige im hinreichenden
Grade zu besitzen vermag, welcher derlei Zustände zum =besonderen=
Gegenstande seines Studiums macht -- es ist also klar, dass solche
Kenntnisse niemals bei dem =Richter= vorausgesetzt werden dürfen.

Die =Stellung= des Arztes zum Richter ist jedoch auch in =diesem Falle=
keine solche, wie jene eines =Dolmetschers=, welcher eine Urkunde
übersetzt, welche in einer dem Richter ganz fremden Sprache geschrieben
ist, denn es lässt sich nicht verkennen, dass der Richter =Vieles=
von Demjenigen, wodurch sich der abnorme Zustand des Untersuchten
charakterisirt, =nicht nur selbst wahrnehmen=, sondern, sofern
die durch eigenes Nachdenken über die menschliche Natur und eigene
Lebenserfahrung gewonnene Anschauung dazu hinreicht, Vieles auch
=richtig auffassen werde=, welches zur richtigen Beurtheilung eines
solchen Zustandes gehört.


§. 6.

Soll nun der Richter die =Ueberzeugung= erlangen, dass der Ausspruch
des Arztes auch in solchen Beziehungen, welche dem Richter =fremd=
sind, richtig sei, so muss er vorerst die Bemerkung machen können, dass
der ihm =bekannte Theil= des in Frage stehenden Zustandes von dem Arzte
richtig aufgefasst und beurtheilt worden sei.

Damit nun die Darstellung des Arztes ihrem Zwecke entspreche,
muss sie daher nicht nur auf richtigen und umfassend
=medizinisch-wissenschaftlichen= Gründen beruhen, sondern sie muss
sich auch den bei dem Richter vorhandenen, aus der praktischen
Lebensanschauung gewonnenen Begriffen =anschliessen=, und zu diesem
Zwecke ist es nothwendig, dass der Arzt eine genaue und =richtige
Ansicht= von =jenen= Begriffen habe, welche bei dem Richter, welcher
=keine= medizinischen, wohl aber =solche= Kenntnisse besitzt, die
aus der praktischen Lebensanschauung entnommen werden, =vorhanden
sein können= und vorhanden sein =sollen= (§§. 7 und 8 des vorigen
Aufsatzes).

Um den Arzt in Kenntniss zu setzen, wie weit die Einsicht des Richters
in dieser Beziehung gehen könne und dürfe, scheint es nun zweckmässig,
darzulegen, =welche= Ansichten eine blos auf =menschliche= Erfahrungen,
mit =Ausschluss= eigentlicher medizinisch-wissenschaftlicher
Studien gegründete Beobachtung zu geben vermag, eine Darstellung,
welche zugleich den Vortheil gewährt, in ihren Ergebnissen als
gemeinschaftliches Gut vom Richter und Arzte benützt werden zu können.



I.

Allgemeine Bemerkungen über das Verhältniss des Menschen zu anderen
Geschöpfen der Aussenwelt.


§. 7.

Das Symptom, durch welches sich der Irrsinn für jeden Menschen, somit
insbesondere für den Nichtarzt, =darstellt= und sich dadurch von
andern Krankheitszuständen =unterscheidet=, ist eine Thätigkeit oder
auch eine Unthätigkeit des Menschen, welche dessen =gewöhnlichem=
Begehrungsvermögen im Verhältniss zu den von Aussen kommenden
Anregungen =nicht entspricht=.

Es ist =möglich= und wohl auch gewiss, dass die ärztliche Wissenschaft
noch andere, und wohl auch =zuverlässigere= Kennzeichen auffindet,
allein für den =Nichtarzt=, unter welche Klasse entschieden auch
der =Richter= gehört, gibt es =keine andere Veranlassung=, bei einem
Individuum den Irrsinn zu =vermuthen=, als das Vorhandensein =dieses
Symptoms=, und es wird nur immer ein glücklicher =Zufall= sein, wenn
das mit einem solchen, sich auf diese Art =nicht= aussprechenden,
Zustande behaftete Individuum einem solchen Arzte begegnet, welcher
=ohne= durch dieses Symptom aufmerksam gemacht worden zu sein, bei
demselben das Vorhandensein des Irrsinnes zu =entdecken= vermag.

Da jedoch kein anderes Merkmal sich dem =Nichtarzte= als wahrnehmbar
darstellt, als die abnorme Thätigkeit des =Individuums= in der
Aussenwelt, so muss in der gegenwärtigen Abhandlung gerade =dieses=
Merkmal vorzugsweise berücksichtiget werden.


§. 8.

Nicht =jedes=, wenn auch sonst ganz widersinniges, =Verhalten=
eines Menschen gegen seine Umgebung ist jedoch darum ein Beweis,
und daher auch ein =Symptom= des Irrsinnes. Erziehung, Lebensweise,
Launen, Vorurtheil bewirken, obwohl ihre Veranlassung in ganz reellen
Einwirkungen ihrer Umgebung gelegen ist, oft eine solche Abweichung
von dem Benehmen anderer Menschen, dass die dadurch herbeigeführten
Handlungen gänzlich jenen eines Irrsinnigen =gleichen=, obwohl sie es
in Wirklichkeit nicht =sind=. -- Zu solchen Erscheinungen gehören die
Kontraste, welche die Sitten verschiedener Völker hervorbringen. Ein
Beduinen-Araber würde die Frage nach dem Befinden seiner Frau Gemahlin
für einen Schimpf halten, welcher nur mit dem Blute des Fragers und
seiner Verwandten ausgewaschen werden könnte, während mancher Europäer
in der Unterlassung dieser Frage nur einen Mangel an Theilnahme oder an
Höflichkeit erblickt.

Eben so gibt es Gemüthsstimmungen, welche an und für sich =nicht=
unnatürlich, sondern im Gegentheile gerade das Produkt einer
Thätigkeit des Geistes sind, die für den Menschen sehr =ehrenvoll=
ist, dabei aber ihn zu äusseren Thätigkeiten veranlassen, welche
für den Dritten, welcher von dem, welches in dem Innern des Erstern
vorgeht, keine Ahnung hat, wie ein Produkt des Wahnsinnes erscheinen.
-- So soll Ritter _Gluck_, als er auf freiem Felde den Furientanz zur
„Iphigenia auf Tauris” komponirte, von einigen Bauern eingefangen und
auf das Amthaus geführt worden sein, weil er während des Komponirens
taktmässige Sprünge machte.

Was =Laune= vermag, ist so ziemlich allgemein bekannt. Es ist dies
der Zustand, in welchem den Menschen die Lust anwandelt, sich in dem
Diorama seiner Phantasiegemälde einmal =wirklich= zu ergehen. Ich
kannte persönlich einen jungen Mann, welcher, als ihm von seinen Eltern
eine Parthie Kerzen geschickt wurden, die ihm zu seinen winterlichen
Studien dienen sollten, nichts Eiligeres zu thun hatte, als die
Läden zu schliessen und sich mit Verwendung des ganzen Vorrathes eine
splendide Beleuchtung zu verschaffen. Der junge Mann war übrigens in
seinem Fache ausgezeichnet, und nichts weniger als geisteszerrüttet.

Die Regel bleibt jedoch immer, dass der Mensch dasjenige, welches er
gethan hat oder thun werde, auch beschlossen habe oder beschliessen
werde, dass er daher für alle ihm möglicher Weise erkennbaren Folgen
seiner Handlungen verantwortlich, und wo ein Strafgesetz auf eine
solche Folge eine Strafe setzt, auch strafbar bleibe. -- Hat ein
Mensch keine Handlung begangen, welche in diese Kategorie gehört, so
ist -- sein Geisteszustand mag wie immer beschaffen sein -- von einer
strafrechtlichen Untersuchung und daher auch von keiner Erhebung
des Irrsinnes im Wege des Strafverfahrens die Rede; erst wenn er
eine solche Handlung begangen hat, tritt das Strafverfahren ein, und
dieses wird zum Zwecke haben, zu erheben, ob er dasjenige, welches er
=gethan=, auch beschlossen, oder aber aus =bösem Vorsatze= gehandelt
habe.

Obwohl nun die Rechtsverletzung, welche der Mensch begangen hat, schon
an und für sich eine Irregulärität, nämlich eine Abweichung von den
Regeln der Sittlichkeit oder des Rechtes ist, denen er als vernünftiger
Mensch gehorchen soll, so wird hierdurch die Voraussetzung, dass ein
Mensch aus bösem Vorsatze, und daher strafbar, gehandelt habe, nicht
ausgeschlossen.

Von der andern Seite lässt sich nicht verkennen, dass eine irreguläre
Thätigkeit im Aeussern auch durch eine Irregulärität der =innern=
Funktionen entstanden sein kann. Wo also diese Möglichkeit des
Ursprunges einer äusseren irregulären Thätigkeit durch eine irreguläre
innere Funktion nicht schon durch die richterliche Erfahrung sogleich
von selbst =zerfällt=, muss das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein
dieses letzten Umstandes =besonders= nachgewiesen werden.

Es ist daher im Strafrechte gerade das Verhältniss zwischen der
=inneren= zur =äusseren= Thätigkeit, welches durch die gerichtliche
Erhebung =ausgemittelt=, und dadurch richtiggestellt werden muss, ob
die in Frage stehende irreguläre äussere Thätigkeit =nur= durch die
Irregulärität im =Innern= veranlasst sei, oder von welchem Einflusse
die sonstigen nicht normalen inneren Thätigkeiten des Menschen darauf
gewesen sind.

Der Umstand, dass von Jemand wegen Störungen im Innern schädliche
Handlungen zu =besorgen= sind, gehört nicht in das =Strafrecht=.


§. 9.

Um nun hier nicht irre zu gehen, und sich nicht durch eine Aufstellung
verschiedener Begriffe Missverständnisse zu bereiten, muss man sich
vor Allem klar machen, was man sich unter den =inneren Funktionen=
eigentlich denke, denn wenn der eine etwa unter Vernunft dasjenige sich
denkt, was der andere Verstand nennt u. s. w., so kann man unmöglich
zurecht kommen.

Ueberhaupt haben die Benennungen der Schule den Nachtheil, dass
man sehr leicht verführt wird zu vergessen, dass sie eben nur
=Benennungen=, und insofern nichts Reelles sind. -- Man spricht
von Gedächtniss, Einbildungskraft etc., vergisst aber dabei, dass
diese Eintheilung doch nur von gewissen wahrgenommenen Thätigkeiten
=abstrahirt=, nicht aber durch =eigene= Wahrnehmungen in der Art
gewonnen sind, als ob man die Funktion =wirklich= gesehen hätte.

Bei der Unmöglichkeit, in die Tiefen des menschlichen Geistes, und
überhaupt in das Innere der schaffenden Natur einzudringen, kann ein,
blos aus der =Zusammenstellung von Definitionen= gewonnenes Urtheil
eben so unrichtig sein, als wenn man von einer Maschine, welche in
einem Kasten so verschlossen ist, dass man nur hie und da ein Kammrad,
dort ein Zahnrad oder eine Schraube erblickt, während die bewegende
Kraft unsichtbar bleibt, ihre Thätigkeiten nach Aussen in der Art so
eintheilen wollte, dass man sagte, dies ist ein Produkt des Zahnrades,
dies des Kammrades u. s. w. Es ist falsch, denn alles ist nur Produkt
=der bewegenden Kraft=, =modifizirt= durch die Räder, die zunächst nach
Aussen wirken, aber auch =diese= Wirkung nicht ohne Hilfe der =übrigen=
Räder äussern würden.

Die Funktion des Gedächtnisses setzt eben so jene der Einbildungskraft
etc. voraus, als die Bewegung des =Stundenzeigers= bei einer Uhr das
Rad voraussetzt, welches den Minutenzeiger treibt. -- Was ist aber
eine Maschine, im Vergleiche mit dem Körper des Menschen, und was ist
die Zusammensetzung einer Maschine im Vergleiche mit der Genesis und
der Entwicklung der unbedeutendsten Pflanze, wie erst mit jener des
Menschen!

Definitionen sind in jeder Wissenschaft unentbehrlich, weil man ohne
sie keine grössere Zahl von Erscheinungen übersehen kann, zu einem
=Mehreren=, nämlich zu einer Benützung als etwas =Selbstständigen= sind
sie in dem Masse =weniger= tauglich, als es sich um die =empirische=
Anwendung handelt. Der Jurist kann und muss sich an Definitionen
halten, denn er muss die Gerechtigkeit handhaben, d. h. sorgen, dass
keine Ungerechtigkeit begangen wird. Eine Ungerechtigkeit ist aber bei
bestehenden =positiven= Gesetzen =nur= dasjenige, welches gegen den
=ausdrücklichen Inhalt der Gesetze verstösst=.

Dem Richter ist daher das =Gesetz= die =Grundlage= seiner Wirksamkeit,
und die Thatsachen sind das =Zufällige=, was ihn nur insofern berührt,
als richtiggestellt werden kann, dass dieses =Zufällige= die Merkmale
habe, welche sich unter das positive Gesetz subsummiren lassen.

Ganz anders ist die Stellung des Arztes oder eines anderen eine
praktische Wissenschaft Uebenden. -- Der =Arzt= behandelt nicht
deswegen einen =Kranken= auf diese und keine andere Weise, weil ihn
seine =Wissenschaft= zur Behandlung auffordert und ihm diese oder
jene Behandlungsweise =vorschreibt=, sondern weil eine =Krankheit
vorhanden=, und ihm keine =zweckmässigere= Art und Weise der Behandlung
bekannt ist die Krankheit zu heilen, als jene, welche ihm die
Wissenschaft lehrte. Hat ein Arzt durch gemachte Erfahrungen, oder
sonst auf irgend eine Weise die Ueberzeugung erlangt, dass eine andere,
als die von der Wissenschaft als die richtige gelehrte Behandlungsweise
=zweckmässiger= sei, so wird er mit vollem Rechte diese =letztere=
anwenden, und eben so wird er sich dadurch, dass etwa die in
Behandlung stehende Krankheit alle Merkmale habe, welche etwa in der
wissenschaftlichen Definition in Bezug auf eine gewisse Krankheitsform
enthalten sind, nicht irre machen lassen, und seine Behandlungsart ganz
anders einrichten, als es das Lehrbuch vorschreibt, wenn er sich von
der Mangelhaftigkeit des Systems überzeugt hat.

Der Arzt hat also kein =anderes= Gesetzbuch, als die =Natur=, in
=dieser= muss er zu lesen verstehen, oder seine Bestimmung ist
verfehlt, und da die Natur ihre Produktionen nach einem =unendlichen=
Plane erzeugt, daher nicht nach =bestimmten Kategorien= arbeitet, so
sind für den Arzt Definitionen nichts weiter als =gewisse Merkzeichen=,
die er sich in das Buch der Natur einlegt, um zu wissen, =wie weit er
gelesen hat=, die aber bei fortgesetztem Studium nothwendig auch ihre
Bedeutung verlieren.

Da nun Definitionen in dem medizinischen Studium überhaupt weder
=vollständig=, noch von =besonderem Werthe= in der =Anwendung= sein
werden, in dem Falle aber, wo es sich um die Anwendung medizinischer
Erfahrungen auf =Gesetze=, somit gerade =auf Definitionen= handelt,
sich doch die Nothwendigkeit ergibt, diese Erfahrungen in einer Art
auszudrücken, womit dieselben mit den gesetzlichen Definitionen
in =Verbindung= gebracht werden können, und diese Nothwendigkeit
insbesondere dort, wo es sich um Beurtheilung des Irrsinns in
gerichtlichen Fällen handelt, im hohen Grade vorhanden ist, so bleibt
nichts übrig, als die Natur mit dem Bestreben zu betrachten, gewisse
=Momente= zu erhaschen, welche sich mit einem solchen =Ausdrucke=
wiedergeben lassen, dass darauf die =gesetzlichen= Definitionen
entweder unmittelbar angewendet werden können, oder man doch durch
Vermittlung dieser Momente zwischen den minder definirbaren Momenten
der Naturproduktion, und den gesetzlichen Definitionen =Anhaltspunkte=
zu gewinnen im Stande ist.


§. 10.

Wenn wir nun die uns umgebende Natur mit dem Bestreben betrachten,
nach dem Verhältnisse der einzelnen Gegenstände zur Aussenwelt eine
Eintheilung dieser Gegenstände zu treffen, so gewahren wir, zwar nicht
im Allgemeinen scharf gesondert, aber doch im Vergleiche einzelner
Gegenstände mit anderen, folgende Abstufungen:

_a._ =Unorganische Körper.= Das Verhältniss, in welchem sich gewisse
Körper zur Aussenwelt befinden, ist nämlich in der Art gestaltet,
dass jede uns bemerkbare Einwirkung der Aussenwelt sich an denselben
dadurch darstellt, dass sie die =Form= solcher Körper ganz oder zum
Theile =vernichtet=. -- Z. B. aus einem Würfel werden zwei Polygone,
oder aus einem Stück Eisen wird Eisenoker -- somit ist die vorige Form
vernichtet. Diese Körper geben den Begriff der Materie, welche die
alte Schule in vier Elemente theilte. Wo jedoch kein =Vernichten= der
Form eintritt, dort gewahren wir auch =gar keine= Einwirkung durch die
Aussenwelt.

_b._ =Organische Wesen.= Die =Pflanzen=. Auch hier ist die Materie der
Hauptbestandtheil, auch hier tritt bei vielen Eindrücken der Aussenwelt
eine Vernichtung der Form, oder gar keine Spur eines Eindruckes ein,
bei gewissen Eindrücken findet aber nur eine =Veränderung= der Form,
=ohne= Aufhebung derselben Statt. Die Pflanze =wächst=, wenn sie
begossen wird, sie hört aber, obwohl sie dadurch eine =Veränderung=
in ihrer Form erleidet, nicht auf, dieselbe =Species= einer Pflanze
zu bleiben, zu welcher sie früher gehörte. Hier ist daher nicht mehr
ein blos passives =Zerstörtwerden= durch die Aussenwelt, sondern ein
aktives =Reagiren=, wenigstens gegen gewisse Eindrücke bemerkbar,
es ist eine =Veränderung durch Assimilirung= zu gewahren, die in der
vorigen Klasse gänzlich mangelt.

_c._ =Animalische Wesen.= Die Erscheinungen der beiden vorigen
Gattungen sind vorhanden, ausserdem bewirken Eindrücke =gewisser=
Gattung auch noch die besondere Erscheinung, dass durch den Eindruck
eine Thätigkeit entsteht, welche wohl dem Verhältnisse entspricht,
in welchem sich der Eindruck machende Gegenstand zu dem Individuum
nach dessen eigenthümlicher Beschaffenheit befindet, ohne deswegen
eine =unmittelbare= Folge des Eindruckes zu sein. -- Das vom Feuer
beschädigte Thier verbrennt nicht, es =flieht= aber das Feuer. Es
übt daher eine Thätigkeit, welche nicht aus der Berührung des Feuers
=folgt=, sondern lediglich dem =Eindrucke= entspricht, welchen das
Feuer auf dessen =Individualität= gemacht hat. Diese Verbindung
zwischen Eindruck und Thätigkeit können wir daher nach dieser
Wahrnehmung, und nach der Analogie unserer eigenen Erfahrungen an
uns selber, nicht anders bezeichnen, als mit einem =Bewusstwerden=
der, durch den äusseren Eindruck in dem Individuum hervorgebrachten
=Veränderung=, mit einem Worte, durch das Eintreten der =Empfindung
des Erregtseins=, d. h. einer durch einen äusseren Eindruck
hervorgebrachten =Veränderung= in seinem =Gesammtleben=, es mag diese
Veränderung nun wie z. B. ein Brandmahl Jedermann bemerklich sein, oder
nur darin bestehen, dass irgend ein Glied desselben mehr, als es früher
der Fall war, und auch nur eine Sekunde lang, erhitzt ist.

Dies Vorhandensein einer Empfindung lässt daher =zwei= Momente
unterscheiden, nämlich das =Erregtsein= des Individuums, und
die =Vorstellung= des Erregtseins, d. i. das =Bewusstsein= der
Nothwendigkeit, sich entweder dem Eindrucke =hinzugeben=, oder sich
demselben zu =entziehen=, denn die Beobachtung lehrt uns, dass,
wo ein Erregtsein =ohne= Vorstellung Statt findet, z. B. bei der
ordnungsmässig vor sich gehenden Funktion des Athmens, des Verdauens
etc., obgleich diese Funktion immer mit äusseren Eindrücken, z. B.
mit dem Einwirken der Luft, mit den genossenen Nahrungsmitteln etc. in
Verbindung steht, auch =keine= Empfindung davon da ist, und nur dann,
wenn die Vorstellung einer Hemmung, oder einer besondern Befriedigung
eintritt, diese Thätigkeit erst =empfunden= wird.

Je grösser die Kapazität eines animalischen Wesens für Empfindungen
ist, auf einer desto höheren Stufe in der Rangordnung der thierischen
Wesen befindet sich dasselbe, oder richtiger zu sagen, wir gewahren bei
Thieren, welche in ihrer Thätigkeit sich dadurch von dem Pflanzenleben
=entfernen=, dass wir ihnen die Fähigkeit zuerkennen müssen, sich
=mehr= nach Vorstellungen zu bestimmen, als andere, auch einen
=feineren=, zur Aufnahme von Veränderungen durch äussere Eindrücke weit
=empfänglicheren Organismus=, als bei anderen.

Auf der untersten Stufe, z. B. bei Polypen, gewahren wir sehr =wenig=
Organe, ihre Entwicklung und Erhaltung ist mehr =vegetativ= als
selbstthätig. Eine Stufe höher treffen wir bei den =Insekten= entweder
nur die Funktionen der Ernährung und der Fortpflanzung, oder die
sogenannten =Kunsttriebe=, welche eigentlich nichts anderes sind als
ein Entwickeln einer ganz =unbewussten=, und daher mehr =vegetativen=
als =animalischen= Thätigkeit. Die =Raupe= spinnt sich ein, weil sie
sich des animalischen Saftes nicht anders entledigen kann, dessen sie
sich entledigen muss. -- An der =Biene= bleibt der Blüthenstaub, indem
sie ihre Nahrung auf Blumen sucht, =ohne ihr Zuthun= kleben, sie ist
an die Königin, wie =der Baum mit den Wurzeln an die Erde= gebunden,
und geht, wenn die Königin stirbt, zu Grunde, =wie eine Pflanze=, deren
Wurzel abgeschnitten ist, -- sie =muss= also, wie sie ihre Nahrung
geholt hat, =zur Königin fliegen=, streift dort ihren Blüthenstaub =von
selbst= ab, und gibt eben so =unwillkürlich= den Honigsaft von sich. --
Sie kriecht durch das noch weiche Wachs, und die =Form ihres Körpers=
bildet die Form der Zelle.

Aehnliches geschieht, obwohl mit einer geringeren Vollkommenheit, bei
höheren Klassen der Thiere, z. B. bei Vögeln[14] bei dem Bau ihrer
Neste, oder bei dem Biber, dem Dachse u. s. w.; nur bemerken wir dabei
die sehr auffallende Erscheinung, dass die Kunsttriebe in dem Masse
=abnehmen=, je vollkommener der Organismus ist; eine Erscheinung,
welche zu der Ansicht berechtigt, welche ich mir eben auszusprechen
erlaubte, dass die Thätigkeit, welche diese Kunsttriebe erzeugt, noch
=unter= der Region der Empfindung, somit noch unter der Region der
Vorstellung steht, und bei dem Thiere erst dann eine Empfindung, d. i.
eine Vorstellung erzeugt, wenn sie gehemmt wird.

  [14] Es zeigt immer von einer mangelhaften und oberflächlichen
      Beobachtung, wenn man den Bau der Thiere gar zu wunderbar
      findet. -- Ja freilich: wenn =wir= mit unseren Händen ein
      =Vogelnest= bauen müssten, ging es uns übel, besonders wenn
      wir es zusammen=flechten= müssten. Ich habe selbst einmal
      in einem Gartenhause einem Paare zahmer Gimpeln zugesehen,
      wie sie ihr Nest bauten. -- Die erste Schwierigkeit war, --
      nicht für die Vögel, sondern für mich, -- ihnen ein Materiale
      zu liefern, welches ihnen zusagte. Endlich fand ich ein
      solches in dem faserigen Gewebe, welches eine Kokusnuss
      umhüllte. -- Ich legte ihnen davon hinein, und sie trugen
      einen Haufen davon zusammen. Wie der Haufe grösser wurde,
      stellte sich das Weibchen in die Mitte, und drehte sich
      schnell herum. Die Fäden wirrten sich ineinander, in der
      Mitte war die bekannte Höhlung auf diese Art hergestellt, und
      das Nestchen vollkommen fertig gemacht. Die ganze Thätigkeit
      des Vogels war die allereinfachste von der Welt. -- Noch
      weniger Ueberlegung entwickeln aber die Bienen, es ist daher
      die Ansicht, nach welcher man den Bienen Sinn für Geometrie
      zuschreibt, beiläufig eben so richtig, als ob man Jemanden,
      dessen Gebiss so geformt ist, dass er in ein Butterbrod eine
      Ellipse oder eine Parabel beisst, einen =Geometer= nennen
      wollte.


§. 11.

So wie nun jede Empfindung ein =Verändertwerden= der Individualität
des Geschöpfes nothwendig voraussetzt, so gewahren wir auch, dass mit
der Einwirkung, welche diese Veränderung bewirkte, =nicht= auch die
=Veränderung selbst= verschwindet, sondern dass wenigstens derjenige
Theil dieser Veränderung, welcher in Hervorbringung einer =Vorstellung=
bestand, bleibend ist, und zwar um so =mehr= bleibend, je =stärker=
die Veränderung, d. i. die =Erregung= des Individuums war, und je
=vollkommener der Organismus= des Thieres ist.

Diese Erscheinung gibt sich dadurch kund, weil wir deutlich gewahren,
dass das Thier bei wiederholtem Eintreten gewisser Momente, welche
an und für sich noch keineswegs ein besonderes Erregtsein bedingen,
aber einem gewissen Zustande des Erregtseins =vorangegangen= sind,
schon eine solche Thätigkeit =anwendet=, wie sie dem, diesen Momenten
erst =folgenden= Eindrucke entspricht. Der Hund lauft dem Gemache
zu, wo gespeist wird, wenn er die Teller klingeln hört; er flieht,
wenn sein Herr den Stock ergreift u. s. w.; es muss daher nothwendig
die =Reproduktion= des früheren Eindruckes Statt finden, welcher dem
nun vorhandenen gefolgt ist. -- Derlei Thätigkeiten sind nun wohl
in =vielen= Fällen ganz =richtig= angebracht, und insofern lässt
es sich sagen, dass das Thier den _nexus causalis_, d. i. die Folge
gewisser Erscheinungen =richtig= aufgefasst habe. -- Es lässt sich
aber auch nicht verkennen, dass das Thier auch bei Eindrücken, welche
mit jenen, die einem bestimmten früheren Ereignisse vorangingen, nur
=Aehnlichkeit= haben, zuweilen eine solche Thätigkeit äussert, welche
jenem Ereignisse entspricht, obgleich diese Eindrücke keineswegs jenes
Ereigniss wirklich bedingen; z. B. lauft der Hund, welcher durch den
Schuss eines Gewehres erschreckt wurde, davon, wenn nur ein Stock in
eine ähnliche Richtung wie ein Gewehr gebracht wird. Es folgt daher,
dass das Thier seine Thätigkeit nur nach der Reproduktion des =früheren
Eindruckes=, nicht nach der Auffassung des =Zusammenhanges= von zwei
Begebenheiten, =als Ursache und Wirkung=, bestimme.

Eben so finden wir aber auch, dass das Thier bei dem Wiedervorkommen
mancher schon früher vorhanden gewesenen Eindrücke zuweilen =nicht=
diejenige Thätigkeit äussert, welche dem nun kommenden Ereignisse
entspricht, sondern bei einem Eindrucke entweder ganz unthätig bleibt,
oder etwas beginnt, zu welchen das dem Eindrucke folgende Ereigniss
=keine= Veranlassung gibt, woraus folgt, dass bei den Thieren
sowohl ein =richtiges=, als ein dem objektiven Eindruck =nicht=
entsprechendes, somit =unrichtiges= Reproduziren Statt finde.

Da also diese Reproduktion sowohl eine =richtige= als eine
=unrichtige=, d. h. eine dem Causalnexus, von welchem der gegenwärtige
Moment das erste Glied ausmacht, zuweilen =entsprechende=, oder auch
zuweilen =nicht= entsprechende sein kann, so folgt, dass zuweilen
die vorausgegangenen Vorstellungen =gerade so reproduzirt= werden,
=wie= sie vorausgegangen sind, zuweilen aber eine =Vermischung= dieser
Vorstellungen Statt gehabt haben muss.

Die =erste= Art der Reproduktionen =nennen wir= die Funktion des
=Gedächtnisses=, die =zweite=, jene der =Einbildungskraft=, eine
Unterscheidung, welche =für uns=, zum Behufe der Darstellung
psychischer Funktionen, von entschiedenem Werthe ist, welche aber nicht
=so weit= getrieben werden darf, dass man darunter =zwei verschiedene
Funktionen= als vorhanden annimmt, denn =dazu= mangelt offenbar =jede=
begründete =Erfahrung=.

Der Umstand, dass wir jedoch auch in manchen Fällen, ungeachtet
des wiederkehrenden, einem bestimmten vorhergegangenen Ereignisse
entsprechenden Eindruckes, welcher eine Thätigkeit zur Folge hatte,
=keine= den reproduzirten Vorstellungen entsprechende Thätigkeit
entstehen sehen, berechtigt zu der Voraussetzung, dass in einem solchen
Falle entweder =gar keine= Reproduktion vorhanden war, oder dass die
wirklich vorhandene =zu schwach=, oder doch zu sehr mit =anderen=
reproduzirten Vorstellungen =verbunden= war, um eine =bestimmte=
Thätigkeit zu veranlassen, denn wir sehen die Thätigkeit =eintreten=,
wie die jener Erregung vorhergegangenen Momente sich =vermehren=,
woraus folgt, dass die Reproduktion in genauer Verbindung mit den
äusseren Eindrücken stehe.

Damit wir aber annehmen können, dass bei einem Geschöpfe ein
Bestimmen der Thätigkeit nach einer Vorstellung möglich sei, muss
nothwendig vorausgesetzt werden, dass dasselbe schon vermöge seiner
=eigenthümlichen Beschaffenheit thätig=, d. h. so eingerichtet sei,
dass sein eigenthümliches Wesen gewisse äussere Eindrücke =bedürfe=,
andere aber =fliehe=, dort aber, wo diese Eindrücke grösstentheils
=mangeln=, oder grösstentheils seiner Individualität entgegen sind,
nothwendig in seiner Individualität =zerstört= werden müsse, eine
Voraussetzung, welche die Erfahrung so unbedingt bestätigt, dass jede
Nachweisung überflüssig scheint.

Da nun viele dieser Eindrücke, deren das Thier nothwendig bedarf,
von der Art sind, dass sie nothwendig =Empfindung=, und daher auch
=Vorstellungen= erzeugen =müssen=, so lässt sich daher, in Bezug auf
die animalischen Wesen als charakteristisches Merkmal zu dem Zwecke
unserer Darstellung Folgendes aussprechen:

Animalische Wesen unterscheiden sich von unorganischen und blos
organischen Wesen dadurch, =dass die Thätigkeiten derselben, sofern sie
durch äussere Eindrücke veranlasst sind, nur durch Empfindungen und die
Reproduktion der mit den Empfindungen verbundenen Vorstellungen möglich
erscheinen=, dass daher die Aeusserung der =Vorstellungsthätigkeit= ein
=nothwendiges= Merkmal des Verkehres des animalischen Lebensprinzipes
=mit der Aussenwelt= darstellt.

So weit nun das animalische Lebensprinzip gewisse Eindrücke zu seiner
individuellen Existenz =bedarf=, oder solche, zur Vermeidung der
Vernichtung seiner individuellen Existenz =fliehen=, d. h. ihnen
=widerstreben= muss, =nennen wir= diese Aeusserung =Trieb=, und in
Bezug auf die verschiedenen einzelnen Aeusserungen =Triebe=, ohne
jedoch auch mit dieser Benennung =eine besondere, für sich= bestehende
=Funktion= des Thieres bezeichnen zu wollen, es lässt sich daher auch
das charakteristische Merkmal des animalischen Lebens damit ausdrücken,
dass das =Leben= des Thieres in einem =Bestimmen des Triebes= durch
=Empfindungen=, d. i. durch =Vorstellungen= der durch äussere Eindrücke
Statt findenden, oder Statt gefundenen Erregung bestehe.


§. 12.

Insoweit spricht sich der Unterschied zwischen Thier und Pflanze,
besonders bei den =höheren= Gattungen, =klar= aus. Die einzelnen
Gattungen der Thiere lassen unter einander wohl einen bedeutenden
=Unterschied= in der =Menge= der vorhandenen Vorstellungen und
in dem =Einflusse=, welche dieselben auf dessen Thätigkeit im
Verhältnisse zu den Eindrücken der Aussenwelt, d. i. auf dessen
Triebe nehmen, gewahren, so dass bei den minderen Rangordnungen die
Triebe mehr =blind= wirken, und sich hierin deren Entwicklung mehr dem
Entwicklungsgange der Pflanze nähert, die Eindrücke von Aussen auch
bei niederern Stufen mehr den bei dem Pflanzenleben Statt findenden
Assimilirungs-Prozessen gleichen, bei den höheren Gattungen aber ein
blosses Assimiliren ohne Empfindung =seltener= wird, allein =weiter=
lässt sich der Unterschied nicht mehr verfolgen, immer bleibt aber
=dieses= Merkmal wesentlich, dass dort, wo eine Funktion =gehemmt= oder
=befriedigt= wird, somit bei allen Aeusserungen der Lebensthätigkeit,
Empfindungen =möglich= sind, welches bei der Pflanze =niemals= der
Fall ist. Das Thier wird daher in =allen= Anregungen von Aussen, d.
h. so oft es angeregt wird, immer als =animalisches=, niemals als blos
=organisches= Wesen angeregt.

Dagegen aber darf man nicht übersehen, dass bei dem Thiere jene
Erscheinungen, welche schon in der frühesten Kindheit bei dem
=Menschen= eintreten, wozu insbesondere die =Sprache=, und das
Bestreben der Nachahmung nicht nur =fremder Thätigkeit=, sondern des
=Erzeugens der Produkte fremder Thätigkeit= gehören, =mangeln=, und
zwar die erste und letzte dieser Erscheinungen =gänzlich=, und auch
die zweite derselben, nämlich das Nachmachen =fremder Thätigkeit=,
ist nur bei sehr =wenig= Thieren, und auch bei diesen in einem sehr
unvollkommenen Grade vorhanden. -- Das Kind, indem es sich hinsetzt,
eine Feder ergreift und etwas auf dem Papier kritzelt -- wie es etwa
den Vater schreiben gesehen hat, -- will nicht blos sich =so bewegen=
wie der Vater, sondern es will dabei =schreiben=, kurz es sind bei
dieser Nachahmung =Vorstellungen= thätig, von welchen bei dem Affen,
welcher etwa das Auge an ein Fernrohr hält, =gar keine Spur= zu
gewahren ist.

Alle jene Aeusserungen der Thierwelt, wodurch, wie man behauptet
hat, sich eine =wirkliche Intelligenz= kund gibt, sind an und für
sich sehr =problematisch=, und erhalten ihre scheinbare Evidenz
gewöhnlich erst durch die =mangelhafte Beobachtung=, und durch die
absichtlichen oder unabsichtlichen Zugaben des Erzählers. Man darf nur
nie vergessen, dass wenn das Thier keine Intelligenz besitzt, es auch
durch die Afterprodukte der Intelligenz, =Vorurtheile=, =Irrthum= und
dergleichen, nicht =gestört= wird. Die zwischen Eindruck und Trieb
liegenden Vorstellungen sind viel =weniger zahlreich= und intensiv,
es empfängt daher den Eindruck viel =reiner=, und reproduzirt seine
Vorstellungen viel =richtiger= als der Mensch, daher die Möglichkeit
eines Irrthums in Folge einer irrigen Reproduktion in viel geringerem
Grade vorhanden ist, als bei dem Menschen, welcher, wie wir später
darthun werden, weit =mehr= als dies bei den Thieren der Fall ist,
durch =Vorstellungen= angeregt wird, welche mit seinem Triebe in
=keiner= unmittelbaren Verbindung stehen.


§. 13.

_d._ =Vernünftig sinnliche= (animalische) =Wesen=. Der =Mensch=.

Obgleich der Mensch mit dem Thiere das Merkmal gemein hat, dass auch
bei ihm sich der sinnliche Eindruck zur =Vorstellung= gestaltet, und
durch diese =Vermittlung= seine Thätigkeit anregt, so gewahren wir
doch an ihm Erscheinungen, welche er mit =keinem= Thiere gemein hat.
Diese sind die =Sprache=, die Bestimmung seiner Thätigkeit =nicht
blos= nach seinen =Trieben=, sondern nach Produkten einer Kombinirung
von Vorstellungen, d. i. nach =Begriffen=, endlich diejenigen
Erscheinungen, welche wir unter dem Ausdrucke =Sittlichkeit= verstehen,
nämlich als Funktionen betrachtet, =Gewissen=, =Willen= und (sittliches
und religiöses) =Gefühl=, als äussere Thätigkeit betrachtet, sittliches
und religiöses Handeln, =Moral= und =Religion=, und als allgemeine
Anlage betrachtet, =Vernunft=.


§. 14.

Dass das Thier keine =Sprache=, d. i. nicht die Gabe besitzt, sich
durch Zeichen, welche der Vorstellung entweder nur =in einzelnen
Theilen= entsprechen, oder nur =konventionell= als derjenige Ausdruck
angenommen sind, durch welchen =bestimmte Vorstellungen= oder bestimmte
Begriffe angedeutet werden, verständlich zu machen, bedarf wohl keines
Beweises. -- Das Thier drückt durch Laute höchstens die Empfindung
aus, von welcher es im Augenblicke erregt wird, dort aber, wo es die
menschliche Sprache zu verstehen =scheint=, sind ihm die Worte nichts
weiter, als ein =Laut=, welcher das erste Glied eines ihm bekannten
_nexus causalis_ darstellt. Wenn man dem Pudel zuruft: wie spricht der
Hund! so bellt er nicht etwa =darum=, weil er die Frage =versteht=,
sondern weil ihm bekannt wurde, dass wenn er =nicht= bellt, er Schläge
bekommt, oder einen guten Bissen, =wenn= er bellte, und ihm dieser
_nexus causalis_ nach und nach geläufig wurde.

Ein Hühnerhund, welcher Rebhühner sieht, wedelt mit dem Schweife, weil
es ihm so eingeprügelt wurde, und weil es überhaupt in =seiner Natur
liegt=, zu wedeln, nicht als =Zeichen=. Dass der Gesang der Vögel
ein ganz =unwillkürliches= Vonsichgeben von Tönen sei, ist längst
anerkannt.


§. 15.

Was die Erscheinung betrifft, dass der Mensch nach =Begriffen=
handelt, so ist sie eben so unbezweifelt richtig. Wir =nennen=
nämlich =Begriffe= solche Kombinationen von Vorstellungen, in welchen
dasjenige, welches ein Individuum mit dem andern =gemein= hat,
festgehalten wird, die =Unterscheidungsmerkmale= aber verschwinden.

Dass nun der Mensch wirklich nach solchen Vorstellungen der =Gattung
handle=, denen unmittelbar keine reelle Erscheinung der Aussenwelt
entspricht, ist eben so ungezweifelt wahr; -- denn wir sehen, dass der
Mensch =urtheile=, d. i. durch Kombination mehrerer Vorstellungen eine
ganz neue gewinnt und =schliesst=, d. i. aus mehreren Urtheilen wieder
ein =neues= Urtheil über das Vorhandensein einer Thatsache in der
Aussenwelt entwickelt.

Wenn man nun gleich nicht absolut die Unmöglichkeit behaupten kann,
dass das Thier nicht auch Gattungsbegriffe entwickeln, und durch
deren Kombination auch ein gewisses Urtheilen und Schliessen ausüben
könne, so sind =für= diese Möglichkeit doch so wenig und nur so
zweifelhafte Erscheinungen vorhanden, dass man selbst hierin noch einen
unendlichen Unterschied zwischen dem am vollkommensten organisirten
Thiere und einem Kinde von etwa zwei Jahren, oder einem geistig
höchst verwahrlosten Menschen zu bemerken im Stande ist, so dass man
das Vermögen, =Begriffe= zu bilden, und =darnach seine Thätigkeit zu
entwickeln=, immer noch als eine Eigenthümlichkeit der =menschlichen=
Natur erklären muss.


§. 16.

Das neugeborne Kind zeigt weder =Sprache= noch =Begriffe= noch
=Sittlichkeit=, sondern es ist ein blos =passives= Wesen, welches
Eindrücke =empfängt=, und seine Lebensthätigkeit dadurch gewahren
lässt, dass es bei erhaltenen Eindrücken, wenn sie der Individualität
seines Lebens nicht entsprechen, Laute des =Schmerzes= von sich gibt.
-- Bald aber steigert sich diese nur passive Thätigkeit zu einer
=aktiven=, und wir =gewahren= nun =deutlich=, dass es nicht blos
=vegetire=, sondern in die Reihe der animalischen Wesen gehöre.

Die =Sprache= ist in dem Zustande, in welchem =wir= uns derzeit
befinden, bereits ein =Gegebenes=, doch können wir aus der Art und
Weise, wie Kinder sich entwickeln, wenigstens bis auf einen =gewissen=
Grad, auf die Art und Weise schliessen, wie sich die Sprache überhaupt
=entwickelt= habe, denn jedes Kind bildet sich wenigstens bei
Gegenständen, welche ihm besonders auffallen, und bei welchen es die
sprachübliche Bezeichnung nicht sogleich erfährt oder wieder vergisst,
seine =eigene= Bezeichnungsweise.

Es =ahmt= den Laut nach, den das Thier, was es sieht, von sich gibt,
hält die Hände an den Kopf, wenn es z. B. einen Bock bezeichnen will u.
s. w.

Dies setzt nun als nothwendige Bedingung voraus, dass es bereits
Begriffe, d. h. Merkmale aufgefasst habe, welche einer =Gattung=, z. B.
der der Thiere, im Allgemeinen zukommen, und dass es durch diese Angabe
des individuellen =Unterschiedes= das Individuum bezeichnen will.

=Sprache= ist daher ohne Begriffsbildung =unmöglich=, so wie der
=Ausdruck= derjenigen Vorstellung, welche wir =Begriffe= nennen,
auf keine andere Art, als eben nur durch Sprache =möglich= ist, denn
obwohl es nicht zweifelhaft sein kann, dass die Begriffsbildung früher
vorhanden sein muss, als der Ausdruck durch Sprache Statt finden kann,
so setzen sich doch beide zu ihrer Entwicklung nothwendig voraus, so
dass es in der That nicht möglich ist, zu =unterscheiden=, welche von
beiden Thätigkeiten sich früher =entwickle=, da ohne Sprache sich nur
wenige Begriffe und diese nur sehr unvollkommen bilden können, wie
wir dieses bei sehr =rohen= Völkern gewahren, und bei sehr =wenig=
Begriffen die Sprache immer auf einer sehr geringen Entwicklungsstufe
bleiben wird, wie wir dieses bei Menschen gewahren, welche einen
ziemlichen Grad blödsinnig sind.


§. 17.

Was die =sittliche Anlage= betrifft, so wäre es wohl das Einfachste,
sich auf die eigene Erfahrung eines jeden verehrten Lesers und auf
das Zeugniss der Weltgeschichte zu berufen, welche Beispiele von
sittlichen, d. i. solchen Handlungen in Menge liefert, welche sich nur
durch die Voraussetzung dieser Anlagen des Menschen erklären lassen;
allein diese Argumentation genügt nicht zu dem Zwecke dieses Aufsatzes,
welcher die Aufgabe verfolgt, durch Anführung von solchen Thatsachen,
welche Jedermann so nahe stehen, dass sie Jeden auch zur =unmittelbaren
Anschauung= Desjenigen führen, was hier nachgewiesen werden soll, zu
wenig, um dabei stehen bleiben zu können, ein richtiges Verständniss
herbeizuführen.

Weit näher als diese übrigens =unbezweifelte= Wahrheit liegt für den
Zweck dieses Aufsatzes die Betrachtung, dass jeder Mensch, selbst
der unsittlich Handelnde, selbst das kaum noch zum animalischen Leben
recht erwachte Kind seine Thätigkeit in der Art entwickelt, dass man
einerseits das Bestreben wahrnimmt, ohne =physische Nöthigung= seine
Thätigkeit zu äussern, anderseits das Bestreben in seiner Thätigkeit
gewahrt, =einer fremden Autorität zu folgen=.

Der erste dieser Sätze bedarf keines Beweises, da es Jedermann bekannt
ist, dass schon die kleinsten Kinder, und zwar diejenigen, welche
viele geistige Anlagen haben, nicht am wenigsten =eigensinnig= sind;
der zweite ist eben so bekannt, nur wird er nicht immer so klar
=ausgesprochen=, er ist aber durchaus =wahr=, denn es ist bekannt, dass
die sich entwickelnden Kinder den Worten ihrer Eltern =mehr= zutrauen,
als ihren =eigenen Sinnen=, dass rohe oder schwachsinnige Leute eben
so, gegen ihr eigenes Urtheil dem Willen anderer, welche eine gewisse
Macht über sie ausüben, sich unterwerfen, und dass Leute von hellem
Geiste nach =Grundsätzen handeln=; und was sind Grundsätze wohl anders,
als die als wahr angenommenen Aussprüche einer =Autorität=, sei es
nun die Autorität des =Lehrmeisters= oder die Autorität der =eigenen
Erfahrung=, denn auch die Annahme, dass die Ergebnisse der eigenen
Erfahrung =wahr=, d. h. der Objektivität der äusseren Erscheinungen
entsprechend seien, setzt voraus, dass man diese Erfahrungen, und
diejenige Funktion, welche daraus gewisse Folgerungen ableitet, als
etwas =absolut Richtiges= genommen hat.

Dieses Erkennen und Annehmen =einer Autorität= ist es daher, welches
den Beweis liefert, dass der Mensch das =unabweisbare= Bedürfniss habe,
ein =Drittes=, welches weder in seinen =eigenen Funktionen=, noch in
den ihn umgebenden =Erscheinungen= liegt, als das eigentliche =Prinzip=
anzunehmen, welches seine Thätigkeit zu =leiten= bestimmt ist, und
jeder Bestimmung seiner Thätigkeit zu =widerstreben=, welche =nicht=
von diesem =Prinzipe= ausgeht.

Dieses Prinzip wirkt sonach in keiner Art =nöthigend= auf seine
Thätigkeit, sondern der Mensch empfindet nur dann die seinem innersten
Wesen entsprechenden Lebensgefühle, wenn er ohne allen Zwang seine
Thätigkeit so äussert, wie es der =Autorität= entspricht, unter deren
Einfluss er sich befindet.

Hieraus folgt nun, dass =Freiheit=, d. i. die Entwicklung seiner
Thätigkeit ohne physischen Zwang, und zugleich das =Bedürfniss=,
einer =höheren Autorität= zu gehorchen, -- ein Bedürfniss, welchem
in der höheren Entwicklung des Menschen die =Religion= entspricht,
das eigentliche =Element= der =menschlichen= Thätigkeit sei, ein
Element, welches in der =Thierwelt= auch nicht einmal dem =Grade= nach
vorkommt, sondern eben darum, weil es =Begriffe und Sprache= nothwendig
voraussetzt, bei der Thierwelt gänzlich =mangelt=, oder höchstens in
einer Art von =Analogie= vorkommt, in welcher der Hund den Menschen
folgt und seinem Winke gehorcht, weil er durch den Einfluss des
menschlichen Organismus auf den hundischen =physisch genöthigt= ist,
diesem Einflusse zu gehorchen.

Es mag immerhin Fälle geben, wo der =eine= Mensch durch seinen
überlegenen physischen und psychischen =Organismus= einen ähnlichen
Einfluss auf =andere= Menschen ausübt, -- allein man übersehe dann auch
nicht die andere Erscheinung, welche damit verbunden ist. Die Menschen
werden ihm folgen, allein mit innerem =Widerstreben=, wie der Hund
knurrend seinem Herrn folgt, wenn er ihn gegen seine Neigung ruft, denn
sie fühlen, dass sie nicht =frei= sind, und werden ihre Freiheit wieder
gewinnen, wenn die Uebermacht des Organismus, welcher sie leitete,
gebrochen ist.

Ganz anders stellt sich die psychische Erscheinung in dem Falle dar,
wo der Mensch seine Thätigkeit demjenigen Prinzipe gemäss entwickelt,
welches wir das =Sittliche= nennen. Hier mangelt jede =physische=
Nöthigung, und daher ist auch die Erscheinung, dass Jemand mit =innerem
Widerstreben= sittlich handelt, undenkbar. -- Es gibt Fälle, wo die
sittliche Handlung mit dem herbsten physischen oder geistigen Schmerze
verbunden ist, allein das Gefühl, das gegen sein =inneres= Streben
Bestimmtwerden, ist mit jeder sittlichen Handlung =unvereinbar=,
wohl aber =kann= das Gegentheil, dass man mit innerem =Widerstreben
unsittlich= handelt, eintreten, und tritt auch häufig ein, wie manche
Arten von Erfahrungen, insbesondere die gerichtlichen, zur Genüge
lehren; denn Niemanden wird die Thatsache unbekannt sein, dass selten
Jemand eine verbrecherische Laufbahn mit grossen Verbrechen =beginnt=,
sondern die ersten bösen Handlungen sind meistens =minder= erheblich,
oder wenn mit =grösseren= Verbrechen von einem Individuum =begonnen=
wird, so sind meistens solche Umstände vorhanden, welche auf die
Bestimmung desselben zu der verbrecherischen That einen mächtigen
=sinnlichen= Einfluss, und daher wenigstens eine Art von physischer
Nöthigung ausüben[15].

  [15] Ein Fall dieser Art ereignete sich vor einigen Jahren, wo
      ein sonst unbescholtener Bursche eine Uhr stehlen wollte; er
      wurde dabei ertappt, und wusste sich im Augenblicke nicht
      anders zu helfen, als den Anderen todt zu schlagen; ein
      gewandter Dieb würde sich wahrscheinlich anders aus der Sache
      gezogen haben.


§. 18.

Wenn wir jedoch uns nicht verbergen können, dass das Unterwerfen
der Thätigkeit unter eine, von dem handelnden Menschen unabhängige,
Autorität, dem Menschen angeboren, und dieses Bedürfniss ein mit
=allen seinen Thätigkeiten= innigst verbundener Theil seines Wesens
ist, so können wir uns doch auch die Ueberzeugung verschaffen, dass es
gar keine =äussere= Erscheinung gibt, welche einen solchen Einfluss
ausübte, dass sich =alle= Menschen derselben unterwerfen =müssten=,
oder dass es auch nur =dem einzelnen Menschen unmöglich= wäre, sich
derselben zu entziehen. Dennoch aber lehrt uns sowohl der Blick in
unser eigenes Leben, als in das Leben der anderen Menschen, dass es
in demjenigen Prinzipe, welches wir als eine Autorität anerkennen,
welche unbedingte Unterwerfung fordert, =einen= Vereinigungspunkt
gebe, welcher in =jeder= Autorität, welcher wir freiwillig zu
folgen uns =bleibend= entschliessen können, aufzufinden ist, dieser
Vereinigungspunkt ist die Idee des =Sittlichen= -- und in der That kann
eine Autorität nur dann bleibend, auf den Menschen im =Allgemeinen=
nur insoferne einwirken, als sie die Idee des Sittlichen, d. i. einer
höheren, in der physischen Welt nicht sich aussprechenden =Weltordnung=
darstellt.

Kein =Volk=, selbst kein =einzelner Mensch= ist ohne =alle= Religion,
der einzelne Mensch kann =irreligiös handeln=, allein indem er es
thut, fühlt er ein =Unbehagen=, das =Gewissen= regt sich, oder er
=betäubt= sich, sei es nun durch physische =Genüsse=, =oder= durch
das =Laster selbst=, ein Zustand, welchen man jedoch sehr irrig mit
dem Ausdrucke bezeichnet, der Mensch sei zum =Thiere= herabgesunken,
denn der Zustand des Thieres ist ein vollkommen =normaler= Zustand,
jener des Menschen aber ist ein seinem eigenthümlichen Wesen vollkommen
=entgegengesetzter=, somit nicht normaler Zustand, welcher mit einer
am =Ende sichtbar= werdenden =Störung= seines Wesens enden muss, eine
Folge, welche das Laster in mancherlei Gestalten, wie die Erfahrung
lehrt, nicht selten begleitet, und sich dadurch kund gibt, dass die
lange unterdrückte =Reue= endlich durchbricht, und =geistige Störungen=
im Gefolge hat, oder dass die =physische= Natur der fortwährenden
=Betäubung= endlich =unterliegt=, ohne dass dieses Unterliegen
lediglich aus den physischen =Folgen= des Lasters immer erklärt werden
kann.


§. 19.

So verschieden auch die Sitten und Lebensweisen der einzelnen
Menschen und Völker sind, so stimmen doch alle darin =überein=, dass
gewisse =Handlungen= des Menschen, sofern sie ein Ausdruck einer
gewissen =Gesinnung= sind, =geachtet=, andere aber, eben weil sich
eine =gewisse= Gesinnung darin ausspricht, =verachtet= werden, und
zwar liegt die =verachtete= Gesinnung darin, dass der Mensch einen
=augenblicklichen= Vortheil oder Nachtheil =höher= hält, oder doch zu
=halten scheint=, als ein gewisses =Prinzip=, welches ihm =in diesem=
Augenblicke wenigstens =keinen= Vortheil gewährt. Diese Ansicht liegt
dem Begriffe der Ehre, so wie jenem der =Tugend= zu Grunde, nur in dem
Prinzipe sind beide Begriffe verschieden, indem der Begriff von Ehre
ein =äusseres= Verhalten in sich begreift, jenes der =Tugend= aber eine
=innere= Stimmung ausdrückt, welcher kein äusserer Zustand geopfert
werden darf.


§. 20.

In dem Zustande, in welchem =wir= leben, ist diejenige Form, in welcher
wir die Sittlichkeit zu üben haben, so wie die Sprache, ein bereits
=Gegebenes=, wir brauchen nicht mehr erst zu =erfinden=, wie wir unsere
Thätigkeit zu äussern haben, damit sie auch sittlich sei, sondern
Religion und Offenbarung entheben uns des Bestrebens, erst durch eigene
Erfahrung darauf zu kommen, ob irgend eine Handlung sittlich sei oder
nicht. Würde dieses glückliche Ereigniss für uns nicht vorhanden sein,
so müsste wahrscheinlich jeder Mensch erst eine ungeheure Irrfahrt
durch die Pfade des Lasters machen, ehe er dahin käme, zu wissen,
was er eigentlich hätte thun sollen, und es bliebe dann mehr als
zweifelhaft, ob das kurze menschliche Leben hinreichte, ihn aus dem
Schlamme der Sinnlichkeit, in welchen er durch sein =unklares= Ringen
nach einer seiner wahren Natur entsprechenden Thätigkeit versunken
wäre, wieder zu erheben.

Dieser Fall tritt aber glücklicher Weise für uns nicht ein, sondern
jeder erhält wenigstens =einige= Begriffe von dem, was er als sittlich
zu betrachten hat, bereits in =klaren Worten= ausgesprochen von anderen
Menschen mitgetheilt.

Ungeachtet dieses Umstandes können wir doch durch Beobachtung des
kindlichen Alters uns eine ziemlich deutliche Anschauung von der
Art und Weise verschaffen, wie die menschliche Natur die Anlage zur
Sittlichkeit allmälig entwickle.

Das Kind ist, wenn es diese Welt betritt, ein scheinbar blos passives
Wesen. Erst allmälig zeigt es, besonders bei schmerzhaften Eindrücken,
Empfindungen, welche, wie bei dem Thiere, reproduzirt werden, und,
wie man aus manchen unzweideutigen Erscheinungen schliessen muss,
bei demselben eine anfangs undeutliche, jedoch immer klarer werdende
Auffassung des Causalnexus zur Folge haben.

Das Kind, indem es einen äusseren Eindruck auffasst, kann ihn aber
nicht anders als so auffassen, wie es ihm (dem Kinde) nach seiner
Individualität, und daher nach der durch vorausgegangene Eindrücke
bedingten Modifikation (Stimmung) seiner Lebensthätigkeit möglich ist,
d. h. jeder Eindruck kann sich nur im Wege der Reproduktionsthätigkeit
mit =jenen= Vorstellungen verbinden, welche bereits =vorhanden= waren.

Die ersten Vorstellungen, welche das Kind nun erhält, sind jene der
=eigenen Empfindung=; diese werden sich daher mit allen Eindrücken
verbinden, welche es erfährt, es wird daher diese Art Vorstellungen
auf alle Gegenstände der Aussenwelt zu übertragen sich genöthigt
finden, wodurch bei dem Kinde jene Erscheinung bedingt wird, welche wir
wirklich gewahren, nämlich, dass dem Kinde alles =lebt=, d. i. nach
seiner Vorstellung eben so Empfindung hat, wie das Kind selbst, denn
die erste Empfindung ist die des eigenen Lebens.

Diese Erscheinung muss nun wohl auch bei dem =Thiere= eintreten, und
tritt wohl auch ein, denn wir sehen, dass ein Hund einen Stock, an
welchen er sich stösst, beisst, so wie das Kind den =Stuhl schlägt=, an
dem es sich wehegethan hat; -- allein da der Organismus des Kindes zur
Aufnahme =mehrerer= und =lebhafterer= Eindrücke geeignet, und dadurch
eine weit umfassendere Reproduktion in der Vorstellungsthätigkeit
bedingt ist, als beim Thiere, so tritt diese Erscheinung viel
entschiedener hervor, als man dieses beim Thiere zu gewahren vermag.

Hiedurch ist nun offenbar eine viel öftere und lebhaftere Aeusserung
der sympathetischen Triebe bedingt.

Dennoch kann es nicht fehlen, dass manche Eindrücke, z. B. jene, welche
Zorn u. dgl. hervorbringen, von der Art sein werden, dass sie eine
Anregung enthalten, =gegen= die sympathetischen Triebe zu handeln.
-- Das Kind folgt diesem Eindrucke, und handelt wirklich =gegen=
den sympathetischen Trieb, -- welcher dadurch auf einen Augenblick
unterdrückt, sonach mit desto grösserer Stärke hervortritt; hiedurch
wird nun das Kind jene Empfindung gewahren, welche mit der =Reue=
beinahe identisch ist.

Aehnliches findet sich nun wohl auch bei =Thieren=, allein bei dem
Kinde tritt hier noch ein Moment hinzu, der bei dem Thiere fehlt:
dasjenige, was es empfindet, wird ihm durch seine Eltern etc. klar
gemacht, so dass es zu dem =Begriff= gelangt, dass es etwas gethan
habe, was es nicht hätte thun sollen, und dass das hiedurch entstandene
unangenehme Gefühl der Reue eine Folge dessen sei, weil es einem
augenblicklichen Eindruck gegen ein in ihm sich äussernden Gefühl
gefolgt ist.

Von dieser Wahrnehmung ist allerdings noch ein unendlich weiter Schritt
zur Auffassung des =sittlichen= Verhältnisses, denn kein einziges der,
auf dem ihm bisher einzig nur möglichen Weg des sinnlichen Empfindens
erlangten, Gefühle ist von der Art, dass es für sich allein zur
Auffassung des Sittengesetzes führen könnte, allein hier kommt die
bereits berührte Thatsache zu Hilfe, dass der Mensch das Bedürfniss
fühlt, sich einer =Autorität= in seiner Thätigkeit zu unterwerfen.

Dass seine Thätigkeit eine =freie= sei, erfährt das Kind bei der ersten
Empfindung der =Reue=, denn es empfindet dabei, dass es ihm möglich
gewesen wäre, einer anderen Vorstellung als jener zu folgen, zu welcher
es derjenige äussere Eindruck, dem es sich hingab, bestimmt hat. --
Es wird aber diese Empfindung in einem noch =höheren= Grade gewahren,
wenn es jener Autorität =entgegenhandelt=, welche es anzuerkennen sich
gedrungen fühlt.

Diese Autorität, nämlich jene der Eltern und Lehrer, wirkt nun auf
dasselbe nicht blos als =unmittelbar= bestimmend, -- sondern vielfältig
in der Art, dass dem Kinde gesagt wird: dies musst du thun, oder dies
darfst du nicht thun, weil es überhaupt auch für =uns= (die Eltern)
=selbst= geboten oder verboten ist.

Diese Vorstellung einer solchen dritten, für das Kind =nicht=
wahrnehmbaren Autorität wird nun zwar das Kind anfangs nicht besonders
deutlich auffassen, es wird aber durch die Lehren und das Beispiel
seiner Eltern u. s. w. angeregt werden, diese Vorstellung zu immer
grösserer =Deutlichkeit= zu bringen, bis es endlich dahin gelangt,
deren Richtigkeit durch seine eigene Erfahrung und sein eigenes Gefühl
bestätigt zu finden, wo es dann in dasjenige Stadium der Entwicklung
eingetreten erscheint, wo es als =selbstständig= handelndes sittliches
Wesen betrachtet werden kann.

Wie sich aber auch das Individuum in sittlicher Beziehung entwickle,
so bleibt so viel ungezweifelt, dass es nie =Schöpfer= irgend einer
Wirkung sein wird, sondern immer den Weg der =sinnlichen= Erregung
insoweit nicht wird entbehren können, als einerseits ohne Trieb
kein =Streben überhaupt=, und ohne =äusseren Gegenstand= auch keine
=Entwicklung= des Triebes möglich ist.

Wo daher irgend ein Trieb Befriedigung fordert, und sonst kein
=anderer= Trieb und kein anderer =Gegenstand=, welcher das Streben
des Menschen nach einer anderen Richtung sich zu äussern anregt,
vorhanden ist, wird und muss der Mensch auch dieser Richtung =folgen=,
-- indem er aber dieses thut, d. h. einer solchen Richtung sich
hingibt, gehorcht er lediglich den Gesetzen seiner =sinnlichen=
Natur, er handelt dabei =weder sittlich noch unsittlich=. Ein solches
Verhältniss tritt z. B. dann ein, wenn sich ein Mensch schläfrig fühlt,
und er keine Anregung hat wach zu bleiben. Jeder wird unter diesem
Verhältnisse sich dem Schlafe hingeben.

Je mehr jedoch die Vorstellungen des Menschen mit seinen Beziehungen
zur Aussenwelt sich =vervielfältigen=, um so =seltener= wird er
sich in der Lage befinden, gerade nur von =einem= Triebe angeregt zu
werden, denn es werden dann verschiedene Anregungen entweder durch
sinnliche Triebe, oder durch gewisse Komplexe von Vorstellungen
erfolgen, wovon jedes eine verschiedene Thätigkeit verlangt; und
insbesondere wird der Fall eintreten, dass dasjenige, welches seinem
sinnlichen Triebe entspricht, eine andere Richtung von ihm fordert,
als jene, welche diejenige Autorität verlangt, der er sich in seiner
Thätigkeit unterwerfen zu sollen fühlt. Unter diesen Umständen tritt
nun der Fall ein, wo er sich =entscheiden= muss, ob er seine Handlung
nach einer für ihn höher stehenden =Autorität=, oder nach dem Streben
seiner =Sinne= bestimmen soll. Hier fühlt er daher die Möglichkeit der
=Selbstbestimmung=, und zwar die =Freiheit= der =Wahl=, ob er sich dem
Zwange der =Sinnlichkeit unterwerfen= oder der höhern Autorität, welche
=keinen Zwang= auf ihn ausübt, =gehorchen=, d. i. ob er seiner Freiheit
=entsagen= oder davon Gebrauch machen wolle. -- Geschieht dies Letzte,
so lohnt das Gefühl der behaupteten =Freiheit= seine Thätigkeit;
geschieht das Erstere, so fühlt sein ganzes Wesen, dass er den
vorherrschenden Trieb seines Wesens, jenen nach =Beibehaltung= seiner
natürlichen =Freiheit=, =unterdrückt= habe. -- Er fühlt =Reue= und
die Vorwürfe seines =Gewissens= darüber, dass er von seiner Freiheit
der =höheren Autorität entsprechend=, seine Thätigkeit zu üben,
keinen Gebrauch gemacht hat, d. h. dass er nicht das =Gute=, sondern
das Entgegengesetzte davon, das Böse, =gewollt=, d. i. sich ohne
unwiderstehliche Nöthigung mit =Willen= dem Einflusse seines sinnlichen
Triebes gegen die Forderung jener Autorität hingegeben habe.

Dies sind die Thatsachen, welche wir in Bezug auf die sittlichen
Erscheinungen bemerken, und nach welchen man =verschiedene= Funktionen
des Menschen, als: vorausgehendes und nachfolgendes =Gewissen=, den
=Willen=, nämlich die Fähigkeit, sich nach Willkür zum Guten oder
zum Bösen zu bestimmen, =unterschieden= hat. Gegen diese Abtheilungen
lässt sich auch, insofern sie zur bessern Uebersicht des Ganzen dienen
können, nichts erinnern, nur darf man nicht vergessen, dass die Natur
des Menschen =keine= solchen Unterabtheilungen kennt, sondern dass
alle diese Unterscheidungen nur Aeusserungen =eines und desselben
Prinzipes=, nämlich des die menschliche Natur charakterisirenden
=Triebes= nach (sittlicher) =Freiheit= im Verhältnisse zur Aussenwelt
sind.

Geht man jedoch von dieser Ansicht =ab=, und erkennt man diese
Aeusserungen als =verschiedene Funktionen= an, so kommt man auf jene
Begriffsverwirrungen, welchen man nicht selten in psychologischen
Werken begegnet.

Man findet da die Frage abgehandelt, ob der Mensch zum =Guten= oder zum
=Bösen= seiner Natur nach geneigt sein könne, es ist von =Krankheiten=
des Willens oder auch von einem =verkehrten= Willen die Rede, wodurch
man deutlich an den Tag legt, dass man den =Willen=, d. i. die
Fähigkeit, mit =Bewusstsein= seiner Freiheit frei zu =handeln= oder
sich seiner Freiheit zu =begeben=, mit dem =Wollen=, d. i. mit dem
Bestreben, einen bestimmten Gegenstand zu erreichen (=abgesehen= von
der Sittlichkeit oder Unsittlichkeit dieses Bestrebens) verwechsle.
So wenig es in meiner Absicht liegt, irgend Jemanden in seinen
metaphysischen Ansichten zu nahe treten zu wollen, so kann ich doch
nicht umhin, darauf aufmerksam zu machen, dass mindestens für die
Rechtspflege bei Erhebung des Irrsinnes eine solche Begriffsverwirrung
von grossem Nachtheile ist. Man spricht von =Verkehrtheit= des Willens
bei manchen Menschen! Was soll dies wohl heissen? Etwa einen Willen,
welcher das Böse beschliesst, weil es dem Menschen, welcher diesen
verkehrten Willen hat, als gut erscheint? Ein solcher Mensch aber
kann nur in einem Irrthume befangen sein, oder er müsste gegen seine
sinnlichen Triebe handeln, nämlich sich =ohne irgend= eine Aussicht
auf eine angenehme Empfindung Schmerz zufügen, blos weil dadurch etwas
=Böses= entsteht. Wo hat noch Jemand dieser Art existirt? Es gibt
Menschen, welche ihrer sinnlichen Kraft gewahr werden, wenn sie Böses
thun, sich dieser Empfindung freuen und darum =Böses= thun. -- Dieses
sind nun wohl allerdings sehr grosse Bösewichter, allein sie thun
das Böse aus keinem andern Grunde, als aus jenem, welcher auch jeden
Andern, welcher böse handeln will, zu einer solchen Richtung bestimmt,
aus dem Grunde nämlich, weil sie die Verlockung, welche ihnen das
Vergnügen gewährt, das sie sich aus ihren bösen Handlungen gewärtigen,
höher schätzen, als die Aufforderung zum Guten.

Soll es aber bedeuten, dass das moralische Gefühl bei ihnen so schwach
sei, dass es, verbunden mit einem in ihrer sinnlichen Natur begründeten
Hang zu gewissen als Verbrechen bezeichneten Handlungen[16], die
Kraft der sittlichen Anlage überwiegt und daher ihr Wollen gegen die
Sittlichkeit kehrt, so ist es sehr sonderbar, diesen Zustand mit dem
Ausdrucke verkehrter =Wille= oder verkehrtes =Wollen= zu bezeichnen,
denn dieses verkehrte Wollen ist dann die Wirkung ihrer physischen
Anlage, und =diese=, nicht das verkehrte =Wollen=, ist die Grundursache
ihrer Verbrechen.

  [16] Der Mensch kann einen Hang zu gewissen Handlungen haben,
      welcher so stark ist, dass er sie auch unter Umständen
      begeht, unter denen sie Verbrechen sind, nicht aber darum,
      =weil= sie Verbrechen sind, denn beinahe bei keiner Handlung
      ist das Materielle der That das Verbrecherische, sondern
      die Umstände, unter welchen sie begangen wird, machen die
      Handlung erst zum Verbrechen.

In diesem Falle setzt aber der Ausdruck =verkehrter Wille= den Richter
in Verlegenheit, ob er einen solchen Menschen auch für zurechnungsfähig
halten soll, während in dem Falle, wo gesagt wird, der Mensch
besitzt einen, seine Sittlichkeit weit überwiegenden Hang zu diesem
Verbrechen, nichts weiter folgt als der Schluss: folglich muss man
ihn =strafen=, damit er in dem =sinnlichen Uebel= der Strafe ein für
ihn =näher= liegendes Motiv finde seinen Hang zu bezähmen, wenn sein
Sittlichkeitsgefühl nicht hinreicht.

Eine ähnliche Frage, ob der Mensch so von der Sünde besessen sein kann,
dass er sündigen müsse, beantwortet sich, wenigstens in =rechtlicher=
Beziehung, auf eine ähnliche Weise. Es kann sein, dass die Wiederholung
der Sünde einen solchen Einfluss auf seine Thätigkeit habe, dass kein
sittliches Gefühl ihn abhält, seinem sinnlichen Hange zu folgen; um
so nothwendiger aber ist Strafe. -- Bei der Erziehung begegnen wir
ja ganz ähnlichen Erscheinungen. -- Alles Zureden, ja oft selbst der
augenblickliche wirkliche Vorsatz, sich eine gewisse üble Gewohnheit u.
dgl. abzugewöhnen, beseitigen das Uebel oft nicht. Werden aber gewisse
materielle Mittel mit einer gewissen Konsequenz angewendet, so erfolgt
die gewünschte Wirkung oft schneller als man meint.

Beinahe Dasselbe gilt von dem Ausdrucke =Krankheit des Willens=! Es
kann Erscheinungen geben, welche entschieden dahin deuten, dass bei
ihnen das Subjekt =ohne= Einfluss des Willens gehandelt habe. Dies
beweist nun nichts mehr, als dass entweder überhaupt das Subjekt in
einem seine Vorstellungsthätigkeit lähmenden Zustande, oder in einem
solchen Zustande der Vorstellungsthätigkeit gehandelt hat, wodurch jede
=andere= Vorstellung als jene, welche die That hervorrief, insbesondere
aber jene, in welcher sich der Wille hätte thätig bezeigen können,
ausgeschlossen war. -- Nun in diesem Falle lässt sich höchstens sagen,
dass der Wille sich nicht äussern konnte, nicht aber, dass er sich
krankhaft geäussert hat, oder selbst krank war!

Krankheiten des Menschen aller Art können allerdings solche
Erscheinungen hervorbringen, niemals aber sollte man sich verleiten
lassen, von einer krankhaften =Funktion= zu sprechen, nicht einmal die
=Funktion= der Verdauung kann krank sein, selbst nicht bei Demjenigen,
der eben an einer Indigestion oder am Magenkrebs stirbt, denn die
Funktion des Verdauens ist die =Abstraktion= derjenigen Thätigkeit des
Körpers, wodurch verdaut wird. Es kann daher sein, dass der Mensch
gar nicht oder doch viel zu wenig verdaut, allein =so weit= er die
=Funktion= der Verdauung wirklich =übt=, ist es immer eine normale
Funktion.

Dass nun diese Bemerkung nicht blos eine Spitzfindigkeit sei, dürfte
sich wenigstens, sofern es sich um eine juridische Anwendung solcher
Ausdrücke handelt, aus dem vorher Gesagten mit ziemlicher Gewissheit
ergeben.

Noch muss hier einer psychologischen Erscheinung, wegen ihrer besondern
Wichtigkeit für die rechtliche Zurechnung, ausdrücklich gedacht
werden. Es ist dies nämlich der Umstand, dass eben aus dem Grunde,
weil die Begriffe von Demjenigen, =welches in der Welt sittlich ist=,
nicht blos, und zwar =grösstentheils nicht=, durch die Abstraktion
des Individuums gewonnen, sondern ihm vielfältig =von Aussen gegeben=
werden, diejenige Thatsache eintritt, von welcher es heisst, dass
das Samenkorn auf nackten Felsen fällt. -- Der Mensch kann sich zur
Zeit, als ihm gewisse Wahrheiten gelehrt werden, noch in einem solchen
Zustande der unvollkommenen Entwicklung seiner Vorstellungsthätigkeit
befinden, dass diese Lehren in ihm keine Vorstellung =finden=, an
welche sie sich =anschliessen= können. In einem solchen Zustande
kann es nun geschehen, dass der Mensch die =Worte= behält, in denen
diese Lehren gegeben sind, dass aber dieselben isolirt in seiner
Vorstellungsthätigkeit liegen bleiben, und, wenn er auch für andere
sittliche Verhältnisse nicht ohne Sinn ist, sich auch in solchen
Beziehungen sittlich beträgt, er doch gegen den =Inhalt= dieser Lehren
handelt, obwohl sich nicht läugnen lässt, dass die =Worte=, in denen
sie abgefasst waren, seinem Gedächtnisse nicht gänzlich entschwunden
sind. -- Diese Thatsache darf insbesondere dann nicht unberücksichtigt
bleiben, wenn es sich um Erhebung des als Blödsinn bekannten Zustandes
in Bezug auf gewisse Verbrechen handelt. Ein solcher Mensch kann die
zehn Gebote hersagen, er kann auch einige Sätze von der Erklärung
derselben, z. B.: Stehlen heisst, einem Andern das Seinige nehmen,
behalten haben, allein er denkt dabei nichts weiter, als dass diese
Worte herzusagen eine Schulaufgabe ist, deren Inhalt für sein übriges
Leben eben so wirkungslos bleibt, als wenn Jemand, der nicht Latein
kann, seinem Gedächtnisse einige lateinische Sätze in einer gewissen
Reihenfolge einprägt.



II.

Allgemeine Bemerkungen über den Irrsinn, vom psychologischen und
rechtlichen Gesichtspunkte.


§. 21.

Der verehrte Leser möge dem Verfasser diese Verirrung in das Gebiet
der Metaphysik vergeben, allein wenn man über einen schwierigen
Gegenstand zu sprechen hat, so kann man nur dadurch der Gefahr,
missverstanden zu werden, entgehen, wenn man über die Bedeutung
derjenigen Ausdrücke, welche man in der Folge zu benützen gedenkt,
mit dem Leser einverstanden ist, und dieses Einverständniss kann ein
Autor nur dadurch erreichen, wenn er, wo ein Missverstand möglich ist,
die Bedeutung seiner Ausdrücke auf solche Vorstellungen reduzirt, in
welchen Jedermann =übereinstimmt=.

Weit entfernt daher, zu glauben, dass die von mir gebrauchten Ausdrücke
alle vollkommen richtig gewählt sind, glaube ich doch jedem meiner
verehrten Leser anschaulich gemacht zu haben, was ich darunter
verstehe, und dies dürfte zum Zwecke =dieses= Aufsatzes eben so
nothwendig gewesen, als =hinreichend= sein.

Es wurde im Eingange dieses Aufsatzes bemerkt, dass der Irrsinn
sich für die =gewöhnliche=, d. i. die nicht wissenschaftlich geübte
Beachtung durch eine abnorme Thätigkeit in der Aussenwelt kundgebe,
woraus folgt, dass bei dem Umstande, wo die rechtliche Beurtheilung
lediglich eine Beurtheilung des =äussern= Verhaltens eines Menschen
ist, auch für die strafrechtliche Beurtheilung =Irrsinn= nur insofern
ein Gegenstand der besondern Betrachtung werden könne, als =durch
denselben eine gewisse strafbare äussere Thätigkeit veranlasst wurde,
welche ohne das Vorhandensein dieses Gemüthszustandes unterblieben
wäre=.

Die wissenschaftliche Erfahrung, dass der Irrsinn sich nicht immer
in abnormen =äusseren= Thätigkeiten ausspreche, und auch von dem
praktisch-geübten Seelenarzte =ohne= wahrgenommene abnorme äussere
Thätigkeit =erkannt= werden kann, steht dieser Ansicht keineswegs
entgegen, denn es lässt sich nicht verkennen, dass alles Annehmen der
Richtigkeit eines Resultates, welches die =wissenschaftliche= Forschung
liefert, so lange sich deren Richtigkeit nicht durch entschiedene
Versuche auch dem =nicht= wissenschaftlich Gebildeten anschaulich
machen lässt, nur im =Vertrauen= auf die =Persönlichkeit= Desjenigen
beruht, welcher sie erhalten zu haben behauptet. =Persönliches=
Vertrauen kann nun niemals die Stelle objektiver Gewissheit, am
wenigsten aber in dem Falle vertreten, wo es sich um Anwendung
der =Strafgesetze= handelt[17]. Betrachtet man daher den Irrsinn
nur von der pathologischen Seite, so muss man nothwendig zugeben,
dass ein auch von dem =erfahrensten= Arzte abgegebenes Gutachten
hierüber blos darum, weil es ein Gutachten dieses Arztes ist, für den
Richter nie diejenige =objektive= Gewissheit haben werde, welche die
=strafrechtliche= Beurtheilung der Sache erfordert, und da, wie bereits
im Eingange dieses Aufsatzes erwähnt wurde, die =objektive= Gewissheit
eines Ausspruches die unabweisliche Bedingung zu dessen =rechtlicher=
Anwendbarkeit ist, so folgt, dass auch der ärztliche Ausspruch, sofern
er zum Behufe der Gerichtspflege gegeben wird, nothwendig vorzugsweise
die =äussere= Thätigkeit des Untersuchten berücksichtigen und
hervorheben müsse, wenn er seinem Zwecke entsprechen soll, weil gerade
die =äussere= Thätigkeit =dasjenige= ist, welches hier die =objektive=
Anschauung gestattet.

  [17] Obwohl ich nicht glaube zu der Ansicht Veranlassung gegeben
      zu haben, als sei es mein Bestreben, die Autorität ärztlicher
      Erfahrungen zu misskennen, so glaube ich zur Beseitigung
      eines jeden Missverständnisses doch nicht unbemerkt lassen
      zu können, dass es sich hier um ein =Strafverfahren=,
      somit um die Zufügung eines =Uebels= handelt, welche ohne
      empörende Ungerechtigkeit nur =dann= verhängt werden darf,
      wenn der Ausspruch, um den es sich handelt, =vollkommen=
      gewiss, somit jede Möglichkeit eines Irrthums beseitigt
      ist. Der Mensch darf im Vertrauen auf die Geschicklichkeit
      eines Andern diesem =sein= Wohl auch ohne weitere Garantie
      unbedingt anvertrauen, er darf aber nicht aus dem Grunde,
      weil =er= dem Andern vertrauet, das Wohl und Weh seines
      Nebenmenschen ohne oder vielleicht gar =gegen= dessen
      Willen ganz allein von der Geschicklichkeit eines Dritten
      abhängig machen. Ein Satz, dessen Richtigkeit jeder meiner
      verehrten Leser zuverlässig fühlen wird. -- Eben so wenig
      kann aber die Gerechtigkeitspflege, welcher die Bestrafung
      eines Verbrechers, der eine strafbare Thätigkeit verübt hat,
      eine strenge Nothwendigkeit ist, sich damit begnügen, dass
      von einem =einzelnen= Staatsbürger dessen Zustand als ein
      solcher bezeichnet wird, welcher die Bestrafung ausschliesst,
      ohne sich von der objektiven Richtigkeit dieses Ausspruches
      die =mögliche= Ueberzeugung erworben zu haben, und diese
      Ueberzeugung kann nur durch die Begründung des gemachten
      Ausspruches, durch objektive, d. i. solche =Thatsachen=
      geschehen von deren Richtigkeit sich auch ein Dritter
      überzeugen kann, wenn er sie auch nicht in ihrer vollkommenen
      Bedeutung zu würdigen versteht, und diese Thatsachen liefern
      in Bezug auf den in Frage stehenden Gegenstand nur die
      äussere Thätigkeit des Subjektes, oder die sich an demselben
      darstellende =äussere= Erscheinung.

Da wir auf diesen Gegenstand im Verlaufe dieses Aufsatzes zurückkommen
müssen, so möge folgendes Beispiel die Sache erläutern:

Es sei der Fall eines nach mehreren Stunden heftiger Leibesschmerzen,
Erbrechen, Beängstigung etc. erfolgten Todes eines Menschen
vorgekommen, und die =pathologische= Untersuchung würde alle
Erscheinungen einer Vergiftung durch Arsenik darstellen. Würde
wohl, ungeachtet der =Arzt= sich für vollkommen überzeugt hält, die
Todesursache sei keine andere als eben die Arsenikvergiftung, dieser
Ausspruch genügen, und die =chemische= Untersuchung =entbehrlich= sein?
Gewiss nicht, denn für den =Richter= ist immer noch die Möglichkeit
denkbar, dass der Arzt sich doch könne getäuscht haben, weil er (der
Richter) sein Vertrauen auf die Persönlichkeit des Arztes nicht =so
weit= ausdehnen =darf=, um sich nicht =anschauliche= Beweise von dessen
objektiver Richtigkeit zu verschaffen. Ist aber durch die chemische
Untersuchung der Arsenik =aufgefunden=, so ist erst =objektiv=
bewiesen, dass der Arzt sich =nicht= geirrt, und seine pathologische
Ansicht das Wahre getroffen habe.

Eben so ist es bei dem =Irrsinn=. So lange der Arzt nur aus
=pathologischen= Gründen argumentirt, z. B. aus einer abnormen
Beschaffenheit gewisser Organe, oder aus den abnormen Aeusserungen
gewisser Funktionen, deren =normale= Aeusserung dem Richter nicht
bekannt ist, muss der Richter =als Richter= immer noch die Möglichkeit
voraussetzen, dass der Arzt sich geirrt haben könne, wenn er gleich
als Mensch, dort wo es sich um seine =eigene= pathologische Behandlung
handelt, nicht den mindesten Anstand nehmen würde, sich dem erprobten
Scharfblicke des Arztes anzuvertrauen. Erst wenn der Arzt ihm die
äusseren abnormen =Thätigkeiten= des Untersuchten nachgewiesen hat,
=darf= er als Richter den Ausspruch des Arztes als zweifellos richtig
annehmen.


§. 22.

Dieser Unterschied zwischen der Ueberzeugung des Richters in seiner
=richterlichen= und in seiner blos =menschlichen= Stellung wurde und
wird _in Praxi_ von Gerichtsärzten nicht selten =übersehen=, und darin
liegt allein der Grund einer Menge von ungenügenden Gutachten. Der Arzt
glaubt nicht selten durch Darlegung seiner auf Gründe der Wissenschaft
gestützten =Ueberzeugung= und durch die Gründe der =Wissenschaft= dem
Richter genügen zu können. -- Der Richter aber darf gerade durch Gründe
der Wissenschaft am =wenigsten= sich zu irgend einer Ansicht bestimmen
lassen, weil ihm diese gerade am =fernsten= liegen, sondern er verlangt
einen Beweis _ad oculum_, den der Arzt vielleicht für unbedeutend
hält, und hat oft nicht das nöthige Geschick, den Arzt dahin zu führen,
ihm diesen Beweis _ad oculum_ zu liefern; am Ende gehen beide Theile
auseinander, ohne sich verstanden zu haben, wo doch das Verständniss
gar nicht schwer gewesen wäre, wenn der Arzt bestrebt gewesen wäre,
seine Ansicht durch =in die Sinne fallende Thatsachen zu begründen=.


§. 23.

Wenn wir nun zum Behufe der medizinisch =gerichtlichen Darstellung=
das Verhältniss der menschlichen Thätigkeit zu dessen Umgebung als
das wesentliche Moment anzunehmen genöthiget sind, so muss man billig
fragen, =was ist eine normale Thätigkeit des Menschen= in Bezug auf
dessen Umgebung? da ohne Zweifel die =Abweichung= von der normalen
Thätigkeit diejenige Thatsache bildet, worauf es bei dieser Erhebung
ankommt.

Die Antwort wird wohl einstimmig dahin ausfallen: diejenige Thätigkeit
ist normal, welche der Objektivität der äusseren Erscheinungen
entspricht, und diejenige ist =nicht= normal, welche dieser
Objektivität entgegengesetzt ist. Wer durstig ist, ein passendes
Getränk vor sich, und nicht besondere, ebenfalls =objektiv= richtige
Gründe hat, sich dieses Getränk zu =versagen=, und trinkt, handelt
=normal=, wer unter solchen Verhältnissen =nicht= trinkt, handelt
=nicht= normal.

Diese Ansicht von normal und nicht normal ist aber nicht nur in
der Erfahrung gegründet, sondern sie ist auch aus der Natur der
Sache hervorgehend. -- Die Sinne sind nämlich nicht =Schöpfer=
der im Menschen vorhandenen Vorstellungen, sondern sie sind nur
das =vermittelnde= Prinzip zwischen dem inneren Lebenstrieb und
der Aussenwelt, sie =können= daher unmöglich anders, als objektiv
=richtig= vermitteln, d. h. =wo= sie vermitteln, ist ihre Vermittlung
eine =richtige=, die Thätigkeit, welche durch diese Vermittlung
hervorgerufen wird, kann daher vom Standpunkte des Subjekts aus
betrachtet keine andere sein, als eine =objektiv richtige=.

Wo daher eine den äusseren Verhältnissen nicht conforme Thätigkeit
eintritt, ist es ganz richtig, zu sagen, dass sie =nicht normal=, d.
i. für den Dritten, welcher diese nicht conforme Thätigkeit bei dem
Subjekte gewahrt, =von seinem Standpunkte aus unbegreiflich= sei.


§. 24.

=Wie ist nun eine solche nicht normale, d. i. den objektiven
Verhältnissen nicht entsprechende Thätigkeit vom Standpunkte des
Subjektes aus zu erklären?=

Die Erfahrung gibt auch hier die entsprechende richtige Antwort,
nämlich =entweder=: _a_) dasjenige, was hier eine Thätigkeit zu sein
=scheint=, ist =keine Thätigkeit=, d. h. keine durch =Vorstellungen=
bestimmte Aeusserung der Kräfte, sondern eine entweder =mechanisch=
durch Einwirkung einer von Aussen wirkenden Gewalt, oder eine durch
=dynamischen= Einfluss bedingte Kraftäusserung, z. B. der Mensch fällt
und hält sich unwillkürlich an einen Strohhalm, oder ein Epileptischer
oder Rasender schlägt um sich -- =oder= _b_) der Mensch ist in einem
=Irrthume= befangen.

Die erste Veranlassung ist zu sehr in der täglichen Erfahrung
begründet, als dass es nothwendig wäre, hierüber ein Weiteres zu sagen.

Wie ist aber =Irrthum= möglich, wenn die Behauptung, dass die Sinne
nicht trügen können, richtig ist?

Auch hier ergeben sich zwei Erklärungsarten, welche beide richtig sind:

Die erste liegt in der nicht zu läugnenden Möglichkeit, dass die
Sinne die äusseren Eindrücke nicht so =vollkommen= auffassen, dass
nicht die sich entwickelnde =Vorstellung= gegenüber der =objektiven=
Beschaffenheit der äusseren Gegenstände =mangelhaft= bliebe, und daher
die Thätigkeit sich im Verhältnisse zur Objektivität =mangelhaft=
äussert.

Die zweite dieser möglichen Veranlassungen liegt darin, dass ein
Mensch dasjenige, was nur Gegenstand seiner Vorstellung ist, für etwas
=Objektives= hält.


§. 25.

Die erste Veranlassung bedarf keine weitere Erörterung, die zweite ist
dadurch minder begreiflich, weil, wenn es richtig ist, dass die Sinne
nur das zwischen äusserer Erscheinung und Vorstellung vermittelnde
Prinzip sind, es nicht möglich scheint, dass der Mensch eine =andere=
Vorstellung haben kann, als jene, welche der Wirklichkeit =entspricht=.

Dieser Einwurf ist allerdings =gegründet= und lässt sich nur dadurch
beseitigen, dass man den Satz als wahr zugibt, =noch nie habe ein
Mensch oder ein sonstiges animalisches Wesen eine Vorstellung gehabt,
welche der Wirklichkeit= in ihren =einzelnen Theilen= nicht entsprochen
hätte; diesen Satz =kann= man aber auch als wahr zugeben, denn wenn man
sich z. B. ein =Flügelpferd= vorstellt, so ist dies auch ein Gegenstand
einer =wirklichen= Anschauung, denn Jeder hat schon =Flügel= und hat
schon =Pferde= gesehen, nur die =Kombination= dieser beiden Objekte
entspricht nicht der Wirklichkeit.

Eine solche der Wirklichkeit =nicht= entsprechende Vorstellung ist
daher grösstentheils eine Wirkung der =Reproduktions=thätigkeit,
und besteht so zu sagen aus einem Mosaikbild von, der Wirklichkeit
zwar entsprechenden, jedoch in eine =Zusammensetzung= gebrachten
Vorstellungen, welche =Zusammensetzung= der Wirklichkeit =nicht=
entspricht.

Dass aber diese Art und Weise, das Vorhandensein solcher, der
Wirklichkeit nicht entsprechender Gebilde zu erklären, die =richtige=
sei, ergibt sich daraus, weil bei Thieren, deren Vorstellungen an Zahl
jenen, welche bei den Menschen vorkommen, bedeutend nachstehen, so
wie auch bei Kindern in den ersten Lebensjahren derlei Gebilde viel
=weniger wahrzunehmen= sind, als bei entwickelten Menschen, bei denen
die Zahl der vorhandenen Vorstellungen, und daher auch jene der durch
Reproduktion Statt gefundenen Kombinationen viel geringer ist[18].

  [18] Hallucinationen und andere Sinnestäuschungen begründen
      hievon keine Ausnahme, denn dasjenige, welches der
      Mensch zu sehen glaubt, ist immer ein Solches, was er
      entweder schon wirklich gesehen, oder sich doch sonst
      ganz oder theilweise schon vorgestellt hat. Es ist daher
      =Hallucination= nichts weiter als eine =reproduzirte=
      und vielleicht durch die Einbildungskraft =modifizirte=
      Vorstellung, deren Nichtobjektivität nicht wahrgenommen
      wird. -- Die =Veranlassung= zu solchen Produkten der
      Vorstellungsthätigkeit kann aber allerdings in einer solchen
      krankhaften Verstimmung der einzelnen Organe liegen, in
      welcher sie so erregt sind, dass ihre Thätigkeit selbst eine,
      gewissen Vorstellungen entsprechende Empfindung produzirt,
      z. B. ein Kranker gerade jene Empfindung hat, welche er
      erfährt, wenn ihm ein Licht vor die Augen gehalten wird; die
      Reproduktion gibt dann wahrscheinlich dieser Empfindung erst
      =die bestimmte Gestalt= in der Vorstellung; so kann sich auch
      der Fall ereignen, dass ein Mensch statt einer weissen Farbe
      eine grüne sieht. Der Grund dieser Erscheinung liegt in dem
      Fehler des Organs, welches hier anstatt jener Empfindung,
      welche der Anblick der weissen Farbe erregt, jene Empfindung
      hervorbringt, welche der grünen Farbe entspricht. Hier kann
      man nun eigentlich nicht sagen, er =sieht= falsch, sondern
      er =sieht= so wie ein anderer Mensch, und er sieht nur
      =weniger= als ein Anderer, denn seine Sehkraft fasst um eine
      Farbe weniger auf als jene anderer Menschen. -- _In Praxi_
      wird nun freilich dieser =Mangel= durchaus die Folge eines
      Irrthums haben, allein für den Zweck der wissenschaftlichen
      Beurtheilung ist diese Unterscheidung nicht gleichgiltig,
      denn ein blosser =Mangel= in der Auffassung ist an und für
      sich kein Irrthum. Es lässt sich daher allerdings der Satz
      behaupten, die Sinne =können nicht getäuscht werden=, und
      die Folge dieses Satzes ist der weitere, dass der Grund des
      =Irrsinnes= nicht in einer Sinnestäuschung zu suchen, und
      daher auch nicht auf diese Weise =darzustellen= sei.


§. 26.

Nachdem sich nun die Möglichkeit einer Vorstellung, welche der
Aussenwelt =nicht= entspricht, auf solche Art ganz naturgemäss
erklärt, so kann man nur noch fragen, =wie es möglich ist, dass der
Mensch oder das animalische Wesen nicht alle Kombinationen seiner
Reproduktionsthätigkeit für Wirklichkeiten hält=?

Diese Erscheinung lässt sich nun wohl nur dadurch erklären, dass die
=Empfindung= bei der =unmittelbaren= Wahrnehmung eine =andere= ist, als
jene, welche die Gebilde der =Reproduktions=thätigkeit begleitet.

Wenn man einen =kalten= Gegenstand =anrührt=, so empfindet man offenbar
etwas Anderes, als wenn man sich diese Empfindung =vorstellt=.

Da nun der Mensch oder das animalische Wesen seine Lebensthätigkeit
mit =wirklichen= Empfindungen beginnt, welche im Verhältnisse zu der
anfangs nur wenig intensiven Reproduktionsthätigkeit ohne Vergleich
stärker sind, so =muss= er auch den Unterschied, welcher zwischen einem
wirklichen und einem blos vorgestellten Eindrucke obwaltet, auffassen,
und somit Wirklichkeit von blosser Vorstellung =bis zu einem gewissen
Grade= unterscheiden.

Diese Unterscheidung kann nun auf diese Art nur bis zu einem =gewissen
Grade= gehen, da bei sehr lebhaften Vorstellungen die Empfindungen
den durch die Wirklichkeit erregten =möglicher Weise= so nahe kommen
=können=, dass eine Unterscheidung nicht mehr möglich ist.

Dass aber in der That ein solcher Mangel an Unterscheidung oft
wirklich eintritt, lehrt uns die Erfahrung. Man denke an die Bilder des
=Traumes=, an die Gebilde des =Wahnsinnes=, und was noch näher liegt,
an die Täuschungen, die uns täglich widerfahren.

Man begegnet Jemanden, hält ihn für einen erwarteten Bekannten, und
gewahrt nun, dass es ein Fremder sei u. s. w.

Hieraus folgt nun, dass die gewöhnliche Ansicht, der Irrthum könne
dadurch entstehen, dass Jemand seine blosse Vorstellung für etwas
=Wirkliches= halte, vollkommen psychologisch richtig sei.


§. 27.

Wenn nun ein Mensch durch eine gewisse Thätigkeit Rechte verletzt,
so ist er dafür verantwortlich, und zwar =strafbar=, wenn Gesetze
bestehen, welche wegen dieser Verletzung der Rechte eine Strafe
verhängen; er muss jedoch von dieser Strafe =verschont= bleiben, wenn
nachgewiesen wird, dass entweder seine Thätigkeit eine =unfreiwillige=,
d. i. nicht von einer =bestimmten Vorstellung hervorgerufene= war,
weil er in diesem Falle nicht als =Mensch=, sondern als ein durch eine
blind wirkende Kraft bestimmtes Wesen thätig war, oder dass er zwar
=nach einer Vorstellung= handelte, dass jedoch diese eine =irrige=, d.
i. der Objektivität nicht entsprechende gewesen ist, d. h. mit anderen
Worten, dass er aus =Irrthum= so gehandelt habe, wenn dieser Irrthum
die verübte Thätigkeit bedingte.

Wo daher in einem speziellen Falle eine Vermuthung für die eine oder
die andere abnorme Bestimmung seiner Thätigkeit eintritt, ist es die
Aufgabe des Gerichtes, die Nachweisung zu liefern, dass und warum seine
Thätigkeit die Wirkung einer =blinden Kraft= oder eines =Irrthumes=
gewesen ist.


§. 28.

Zu dieser Ausmittlung gibt es nur =zwei= Wege, den =objektiven=, wo
durch Erhebung der obgewalteten =Umstände= dargethan wird, dass der
Mensch wirklich ohne alle =Selbstbestimmung= gehandelt habe, oder
in einem =Irrthume= befangen war, oder den =subjektiven=, wo aus der
Beschaffenheit des =Individuums= dargethan wird, dass die ausgeübte
Thätigkeit eine =Wirkung= einer blind sich äussernden =Naturkraft= oder
eines durch die Beschaffenheit des =Individuums= erzeugten, und daher
für denselben nothwendigen =Irrthumes= gewesen sei.


§. 29.

Ein Beispiel solcher subjektiven Nachweisung erster Art ist der
Fall, wo etwa ein Epileptischer in seinem Paroxismus einen Dritten
durch Herumschlagen beschädigt; ein Beispiel der zweiten Art ist, wo
nachgewiesen wird, dass Derjenige, welcher etwa einer Wache auf ihr
Zurufen, einen bestimmten Ort nicht zu betreten, keine Folge leistet,
und sich dann bei angewandter Gewalt widersetzt, =taub= war, und sich
wegen Nichterkennung der Wache von einem Räuber angefallen hielt.

In diese Kategorie gehört nun insbesondere der =Irrsinn=, nämlich
derjenige Zustand, in welchem der Mensch aus einer krankhaften Stimmung
entweder nach =Vorstellungen= handelt, weil er sie für =wirklich= hält,
oder für gewisse Eindrücke, obgleich die Sinnesorgane zu deren Aufnahme
geeignet sind, keine entsprechenden Vorstellungen produzirt.


§. 30.

Der =Zweck= jeder gerichtlichen Erhebung des =Irrsinnes= ist daher
kein anderer, als die Erhaltung des =rechtlich giltigen=, somit von
Kunstverständigen abzugebenden, oder von diesen zu bestätigenden
Ausspruches, dass der Mensch, welcher eine =bestimmte=, sonst
sträfliche =That= beging, dieselbe in einem Zustande begangen habe,
in welchem er entweder von =keinen= Vorstellungen, sondern (wie in
der Raserei) nur durch eine blinde Naturkraft geleitet wurde, oder
dass er zwar von Vorstellungen bestimmt wurde, die jedoch aus dem
Grunde der Wirklichkeit nicht entsprachen, weil er vermöge seines
eigenthümlichen =krankhaften= Zustandes entweder =nicht im Stande war,
die Nichtobjektivität seiner ihn bestimmenden Vorstellung einzusehen,
oder nicht vermochte, die der Wirklichkeit entsprechende Vorstellung zu
produziren=.

Dies ist der =Zweck= der =gerichtlichen= Erhebung, und daher die
Aufgabe des Arztes, seine Untersuchung und Darstellung so einzurichten,
dass _Pro_ oder _Contra_ bezüglich =dieses= Resultates deutlich, d. i.
auf eine für den Richter vollkommen verständliche Weise hervorgehe.
Das Mittel dazu ist die durch das Studium der sämmtlichen Zweige der
medizinischen Wissenschaften geschärfte Beobachtung, unter Anwendung
der auf diesem Felde gewonnenen Erfahrungen, denn es handelt sich
darum, die Gewissheit zu erhalten, dass =alle= hierüber Aufschluss
gebenden Momente benützt seien; diese Momente liegen aber entschieden
sowohl in der besondern Beschaffenheit des Subjektes, als in der
pathologischen und physiologischen Beschaffenheit der menschlichen
Natur, es kann daher nur ein solcher Ausspruch hierüber als rechtlich
giltig angesehen werden, welcher von einem hierin vollkommen
Bewanderten gegeben wird, und diese Vermuthung kann in Bezug auf den
in Frage stehenden Gegenstand nur bei dem Arzte eintreten[19], der
aber seinerseits wieder nicht blos die Verhältnisse des Individuums als
solches zu berücksichtigen haben wird, sondern auch die Aufgabe erhält,
das Verhältniss darzustellen, wie die =äusseren Verhältnisse=, in
denen sich das Individuum zur Zeit der verübten That befand, auf seine
=innere= Thätigkeit vermöge seines =individuellen Zustandes= eingewirkt
haben.

  [19] Nicht selten drückt man die Formel der Frage, wenn es sich
      um die gerichtliche Erhebung des Irrsinnes handelt, damit
      aus, dass man den Arzt fragt: war der Mensch frei oder nicht?
      -- Dies ist jedoch mehr gefragt, als der Arzt in vielen
      Fällen beantworten kann und =darf=, denn es heisst diese
      Frage mit anderen Worten: ist der =Vorsatz=, den der Mensch
      dabei hatte, ein =böser= oder nicht; kann nun der Arzt die
      Frage nicht dahin beantworten: „der Mensch war =gar keines=
      Vorsatzes fähig, also =auch= keines bösen,” sondern muss
      der Arzt zugeben, „der Mensch war allerdings, subjektiv
      betrachtet, eines Vorsatzes fähig,” so greift er durch die
      beigesetzte nähere Bestimmung: „in =diesem= Falle aber war
      sein Vorsatz =nicht= böse,” in die Kompetenz des Richters.

  In den wenigsten Fällen ist es nun dem Arzte möglich, sich dahin
      auszusprechen, dass der Mensch =gar keines= Vorsatzes fähig
      war, denn selbst ein entschieden Wahnsinniger handelt nicht
      selten nach „Vorsätzen.” Da nun aber einmal durch diese
      Form der Frage die richtige Stellung, welche der Arzt als
      =Naturkundiger= einnimmt, verrückt, d. i. vom Felde der
      Naturwissenschaft auf jenes der Moral oder des Rechtes zum
      Theile gebracht ist, so bleibt dem Arzte dann nichts Anderes
      übrig, um sich mit Ehren aus der Sache zu ziehen, als von
      einer =halben=, einer =Viertel=-Freiheit zu sprechen, welches
      aber immer ein logischer Widerspruch und daher ein Unding
      ist und bleibt, denn Freiheit ist nichts Anderes als =der
      Begriff des Abganges= einer =jeden= Art von =Zwang=. -- Wenn
      ein Mensch an Händen und Füssen gebunden war und man macht
      ihm die Hände los, so ist er nicht halb =frei=, sondern er
      ist nur zur Hälfte, aber doch noch immer =gebunden=; auch
      kann die Freiheit als =Vermögen= betrachtet, niemals weder
      =ganz= noch zum =Theile= aufgehoben werden, sondern es kann
      nur die =Aeusserung= dieses Vermögens in einer =bestimmten
      Richtung= ganz oder zum Theile unmöglich gemacht werden.
      Folgendes Bild dürfte die Sache deutlicher machen. Man denke
      sich einen in einen spitzigen Winkel zulaufenden Gang, Jeder
      kann in den Gang gehen, wie weit er aber kommt, wird von
      seinem körperlichen Umfange abhängen. Wenn nun Jemand eine
      Last trägt, welche über seine Schultern nach der Breite
      hervorragt, so wird er zuverlässig früher stecken bleiben,
      als ein Anderer. Es wäre nun in dem Falle, als es sich darum
      handelte, nachzuweisen, warum der Letztere nicht so weit
      gekommen ist, als der Andere, vollkommen unzweckmässig zu
      fragen: war das Vermögen zu =gehen= bei ihm aufgehoben oder
      nicht? oder darauf zu antworten: es war zur Hälfte durch
      die Last aufgehoben, weil er nur halb so weit kommen konnte,
      sondern es muss vernünftiger Weise gefragt werden: war die
      Last wirklich so beschaffen, dass er nach der Räumlichkeit
      des Ganges nicht weiter vordringen oder etwa gar nicht in
      den Gang kommen konnte? Nun! das Vermögen zu =gehen= gleicht
      hier der =Freiheit=, die =Last= ist die Krankheit, die die
      natürliche Beweglichkeit hemmt, und der spitz zulaufende Gang
      sind die Verhältnisse der menschlichen Natur, von denen sich
      nicht läugnen lässt, dass sie der freien Kraftentwicklung
      eines =jeden= Menschen irgendwo eine Grenze setzen.

  Der Ausspruch, dass eine =gänzliche= Hemmung der Freiheit Statt
      fand, ist übrigens für die gerichtliche Erhebung nur insofern
      von Bedeutung, als hieraus nothwendig folgt, dass dann bei
      =der= That, um deren Untersuchung es sich eben handelt, auch
      keine Freiheit war. Die Aufgabe ist indess eben so richtig
      gelöst, wenn auch nur dies Letztere mit Bestimmtheit erhellt,
      und dies Ziel wird vollkommen durch die im Texte angegebenen
      Andeutungen erreicht.


§. 31.

Diejenigen wissenschaftlichen =Daten= anzugeben, oder die Art und Weise
darzustellen, =wie= die als der Zweck der gerichtlichen Erhebung des
Irrsinnes im vorigen Paragraphe dargestellte Aufgabe nach medizinisch
wissenschaftlichen Grundsätzen zu lösen sei, ist ausserhalb den Gränzen
des Zweckes dieses Aufsatzes, und auch ausserhalb den Gränzen des
Wissens des Verfassers, der sich mit der Ueberzeugung beruhigt, dass
die medizinische Wissenschaft hierin so Vieles geleistet habe, dass
es jedem gebildeten, lebenserfahrenen Arzte, welcher sich =diesem
Zweige= der Wissenschaft =widmet=, möglich sei, sich hierin die zu dem
gerichtlichen Zwecke nöthige Vollkommenheit zu erwerben; es erübrigt
daher nur auf einige, insbesondere in gerichtlich medizinischen Werken
vorkommende =Ausdrücke= hinzuweisen, weil diese Ausdrücke, eben weil
sie =unrichtig= sind, zu Missverständnissen führen müssen, welche der
Verständlichkeit der Darstellung =schaden=.

Der schlimmste Fehler, in den man verfallen konnte, war wohl
jener, dass man die pathologische =Eintheilung= der krankhaften
Gemüthszustände, nach welcher man die =Seelenstörungen= in gewisse
Rubriken, als: Krankheiten des =Verstandes= und Krankheiten des
=Gemüthes=, die ersteren in =Blödsinn= und =Narrheit=, die letzteren
in =Melancholie= oder =Wahnsinn=, =Tollheit= oder =Manie= eintheilt, in
Lehrbücher der gerichtlichen Arzneikunde aufnahm, zum Ueberflusse aber
dabei gewisse =Grade= bei den einzelnen derartigen damit befallenen
=Subjekten= feststellte.

Ich lasse den Werth oder die Nothwendigkeit, solche Eintheilungen
in =pathologischer= Beziehung zu machen, natürlich dahingestellt,
allein in =rechtlicher= Beziehung konnte man nicht leicht etwas
=Zweckwidrigeres= beginnen, denn es musste dadurch, insbesondere
aber durch die Eintheilung in =Grade= nothwendig, wenigstens bei dem
=Richter=, die Voraussetzung begründet werden, dass der =geringste=
Grad dieser Störungen, die Zurechnung =weniger= aufhebe als der
=höchste=, und auch der Arzt musste auf ähnliche Voraussetzungen
verfallen, denn wenn er durch das Lehrbuch angewiesen wird auf diesen
Unterschied zu reflektiren, so konnte dies doch nur darum geschehen,
weil derselbe von irgend einem Einflusse für die Beurtheilung des
Richters ist, diesem daher um den Ausspruch, das Subjekt leide z. B. an
Narrheit im ersten oder dritten Grade, wesentlich zu thun sein müsse,
während doch in der That der Richter durch diesen Ausspruch nicht mehr
Zweckdienliches erfährt, als wenn der Arzt gesagt hätte, das Subjekt
leide am Typhus oder an einem Magenübel, da in der =Benennung= der
Krankheits=form= nicht der mindeste Anhaltspunkt zu einer =rechtlichen=
Beurtheilung liegt.


§. 32.

An und für sich kann übrigens der Ausdruck =Seelenstörung= nicht
gebilligt werden, denn er zeigt, dass man sich die Seele des Menschen
als einen gewissermassen abgesonderten, gleichsam nur durch eine
Art Landzunge mit dem Körper verbundenes, oder wenn man will in den
Körper =eingeschaltetes= Wesen denkt, und diese Ansicht ist durch
keine Erfahrung objektiv begründet, -- die Annahme dieses Dualismus
von Seele und Körper ist eine Hypothese, welche selbst von denjenigen,
welche ihr huldigten, dadurch als unhaltbar anerkannt wurde, dass
sie noch ein drittes Verbindendes, den =Geist=, anzunehmen genöthigt
waren, und dadurch stillschweigend das Geständniss ablegten, dass die
Annahme des Menschen als eines aus Theilen bestehenden Wesens unhaltbar
sei, und man daher nothwendig dahin zurückkehren müsse, den Menschen
als ein =ungetheiltes=, d. h. nicht aus, wenn auch ideellen, Theilen
bestehendes Wesen zu betrachten[20].

  [20] Dass dieser Satz sich mit dem Glauben an die Unsterblichkeit
      der Seele sehr wohl vereinen lasse, wird wohl Niemand
      bezweifeln, denn Niemand hat noch behauptet, dass der Mensch
      nach dem Tode als =Mensch= fortlebe. Es folgt daher aus
      diesem Satze nichts weiter, als dass der Mensch nach dem Tode
      einer ganz anderen Gattung von Wesen angehöre, als in seinem
      Erdenwallen, und diese Behauptung ist wohl nichts anderes als
      jene, womit die Vernunft und Offenbarung übereinstimmt.

Der Mensch, so lange er hier auf Erden wandelt, ist in allen seinen
Funktionen nur =ein= Wesen, er besteht =nicht= aus Theilen, welche
etwa auch einer =ohne= den anderen bestehend gedacht werden können,
sondern zum Wesen des =Menschen= gehört =zugleich= Körper und Seele,
es lässt sich daher auch kein =Seelenleiden= denken, was nicht ein
Leiden des =Menschen= überhaupt wäre, nur ist es möglich, dass dessen
=Wirkung= sich so ausspricht, dass es =uns= als eine Abnormität in der
durch =Vorstellungen= bedingten äusseren Thätigkeit erscheint. Wenn man
daher von =Seelenkrankheit= spricht, und dadurch die =Krankheit selbst=
bezeichnet, so ist es eben so nur =figürlich= gesprochen, als wenn man
irgend eine Krankheit nach dem Symptom bezeichnet, in welchem sich
die Krankheit ausspricht, wenn man z. B. von einer =Brechkrankheit=
sprechen wollte.

Betrachtet man aber den =Ausdruck Seele=, als den Inbegriff alles
physischen =Vermögens=, so ist es durchaus =unlogisch=, von einer
Seelenkrankheit zu sprechen, denn der Ausdruck =Vermögen= bedeutet
nichts anderes als die =Kraft=, welche eine bestimmte =Wirkung=
hervorbringt. -- Eine Kraft kann nun wohl irgendwo =nicht= vorhanden
sein, dann aber wird sie auch =gar keine= Wirkung hervorbringen, von
deren Vorhandensein man auf ihre Existenz =schliessen= könnte.

Man kann daher eben so wenig von einem gestörten =Seelenvermögen=
sprechen, als von einem gestörten =Athmungsvermögen=. Die
=Respirationswege= können =krank=, und dadurch zur Ausübung
des Athmungsvermögens minder geeignet sein, nicht aber das
Athmungs=vermögen=. (S. §. 20.)


§. 33.

Noch weniger kann es gebilliget werden, wenn man von
=Verstandes=krankheiten spricht, denn der Verstand ist nicht einmal ein
=Vermögen=.

Wenn wir nämlich auf diejenigen Ergebnisse sehen, welche man als
Wirkung des =Verstandes= bezeichnet, so sind dies =Urtheile= und
=Schlüsse=.

Urtheile und Schlüsse sind nun wohl längst vorhanden gewesen, ehe
man ihr Dasein bemerkte, man kam jedoch dahin, dieses ihr Dasein zu
bemerken, weil man fand, dass, wenn =richtige=, d. h. der Aussenwelt
entsprechende Vorstellungen kombinirt, und daraus Begriffe, aus
deren Kombination aber weitere Begriffe, d. i. Urtheile und Schlüsse
entwickelt wurden, deren Ergebnisse ebenfalls der Aussenwelt
=entsprachen=; und dieses Ergebniss =nannte man= ein Produkt des
=Verstandes=.

Also wo =richtige= Urtheile und Schlüsse erfolgen, kann man die
diesfällige Thätigkeit =Verstand= nennen, andere als =richtige=
Urtheile sind aber gar nicht möglich, denn dasjenige, was man ein
=unrichtiges= Urtheil nennt, ist entweder ein =richtiges= Urtheil, und
entspricht nur darum nicht der Wirklichkeit, weil demselben =objektiv
unrichtige= Vorstellungen zu =Grunde= lagen, oder es ist gar kein
Urtheil, sondern es =klingt= nur so. Wer z. B. sagt: eins und eins ist
=Eins=, der hat gar nicht geurtheilt, d. h. hier nicht gezählt, sondern
ein ihm bekanntes =Wort= reproduzirt und ausgesprochen.

Eben so wenig steht es aber in der menschlichen =Willkür=, über
gegebene Vorstellungen =anders=, als auf =eine= Art zu urtheilen.
Selbst der Weise urtheilt nicht =anders= als der Thor, wenn Beiden
dieselben Vorstellungen vorschweben. -- Eins und eins ist Zwei, spricht
das Kind, welches rechnen lernt, aus =eigener= Ueberzeugung, mit
=gleicher= Gewissheit, wie der grösste Mathematiker; der Unterschied
besteht darin, dass dem Weisen =mehreres= und =gediegeneres Materiale=
und zur =rechten Zeit= zu Gebote steht, während der Thor wegen ihm
vorschwebender =mangelhafter=, oder sonst irriger Vorstellungen,
entweder =unrichtig= oder =gar nicht= urtheilt. -- Man kann daher ganz
entschieden sagen, dass bei der Funktion des Urtheilens, so wenig als
bei dem Kreislaufe des Blutes, irgend eine Willkür Statt findet; denn
wenn man die Funktion des =Denkens= in einem gewissen Grade willkürlich
ausüben kann, so geschieht dies nur dadurch, dass man willkürlich die
Reproduktions=thätigkeit reizt=.

Die Produkte dieser erhöhten Reproduktionsthätigkeit, nämlich die
entstehenden Urtheile u. s. w. zu =regeln=, steht =nicht= in der Macht
des Menschen.

Eine Thätigkeit, bezüglich deren jedoch =gar keine= Willkür Statt
findet, kann man auch nach =logischen= Grundsätzen unmöglich ein
Vermögen nennen, so wenig als man den Kreislauf des Blutes ein
=Vermögen= nennen kann.


§. 34.

Von dem Ausdrucke =Gemüthskrankheit= gilt ungefähr dasselbe, was von
jenem „=Verstandeskrankheit=” gilt, nur kommt noch hinzu, dass man,
während sich die meisten Menschen, unter dem Ausdrucke =Verstand=
beiläufig das Nämliche, d. h. das Vermögen zu urtheilen und zu
schliessen, denken, selten =zwei= Menschen finden wird, welche
=gleiche= Begriffe mit diesem Ausdrucke, und selten =einen=, welcher im
Stande ist, eine, einigermassen erträgliche Definition zu geben.

Ein Ausdruck, dessen Begriff man nicht wieder geben kann, ist ein
=Wort=, und mit Worten darf man sich nicht abspeisen lassen, wenn es
sich um =Sachen= handelt.

Ich habe ein Werk vor mir, in welchem die Krankheiten des Gemüthes
als solche bezeichnet werden, „wo ebenfalls (nämlich wie bei den
Verstandeskrankheiten) das Erkenntnissvermögen des Menschen mit den
Gesetzen der allgemeinen Erfahrungen und der Vernunft in Widerspruch
geräth, dieses Abweichen jedoch sich zugleich durch eine auffallende
Störung des =Gemüthes= in Rücksicht auf Gefühle und Willensbestimmung
ausspricht.”

Wissen meine verehrten Leser jetzt, was =Gemüthskrankheit= ist? Ich
bringe aus dieser Definition nur so viel heraus, =Gemüthskrankheit sei
eine Krankheit des Gemüthes=, und das Gemüth spreche sich in =Gefühlen=
und in der =Willensbestimmung= aus.

_Omnis definitio periculosa_ ist ein allen Rechtskundigen zur Genüge
bekannter Satz.

Will man daher für die Rechtskunde etwas Brauchbares liefern, so
muss man sich vor =Definitionen= hüten, und bei der =Sache= bleiben,
um die es sich handelt, nie aber Definitionen =statt= materiellen
Verhältnissen vorlegen, sonst wird und muss Derjenige, der einen
solchen Weg einschlägt, an sich selbst irre werden.


§. 35.

Da übrigens die Ausdrücke =Gefühl= und =Wille= in den Abhandlungen
über Wahnsinn eine bedeutende Rolle spielen, weil sie vielfältig darin
vorkommen, so glaube ich es nicht unterlassen zu dürfen, auch hierüber
Einiges zu sagen.

=Gefühl= und =Empfindung= ist zweierlei, darüber ist man so ziemlich
einverstanden, über den Unterschied zwischen Gefühl und Empfindung ist
man sehr wenig im Reinen. Man muss jedoch, ohne paradox zu werden,
sagen, dass manchmal zwei Menschen in demselben Augenblicke, und
wohl auch derselbe Mensch in verschiedenen Augenblicken bei derselben
=Empfindung= verschiedene =Gefühle= haben.

Das Ausbrechen eines Zahnes ist immer die Empfindung des Losbrechens
eines mit dem Körper verwachsenen Theiles -- es ist aber für
Denjenigen, an welchem diese Operation vollzogen wird, in einem
Augenblicke, wo er gerade =nicht= an Zahnschmerzen leidet, das Gefühl
des =Schmerzes=, wenn aber der Schmerz bis zum Beginn der Operation
heftig wüthet, so ist selbst der Schmerz der Operation eine Art
=Erleichterung=, weil dadurch der frühere Schmerz aufhört; man kann
daher sagen, dass der Letztere durch das Zahnausziehen gewissermassen
ein =angenehmes= Gefühl hat, während der Andere nur ein =unangenehmes=,
nämlich jenes durch das Losbrechen verursachten Schmerzes erleidet, den
auch der Andere, jedoch mit dem Gefühle einer Erleichterung, empfindet.

Wenn man daher schon definiren will, so könnte man =Gefühl= als ein
Bewusstwerden des Totaleindruckes bezeichnen, welchen eine bestimmte
=Empfindung=, d. i. ein wahrgenommener sinnlicher Eindruck auf das
=Gesammtleben= macht, oder mit anderen Worten, die Empfindung der
Reaktion der Lebensthätigkeit gegen den Eindruck auf den Sinn.

Hierin kann nun wohl =kein= Irrsinn, nicht einmal eine =Täuschung=
obwalten, denn man nimmt nicht wahr, dass etwas angenehm ist, wenn man
sich nicht angenehm, wenigstens in dem Augenblicke, angeregt fühlt.


§. 36.

Was den =Willen= betrifft, so =nennen= wir also (jedoch mit Unrecht,
denn man sollte sagen =Wollen=, nicht Wille) (§. 20) diejenige
Bestimmung der Thätigkeit des Menschen, wodurch er den Gegenstand
einer Vorstellung in der Aussenwelt zu erreichen bemüht ist. Wo also
keine Bestimmung der Thätigkeit zur Erreichung des Gegenstandes einer
bestimmten Vorstellung vorkommt, dort ist auch kein =Wille=. Wie kann
darin eine Störung vorkommen? Dasjenige, =was= ein Mensch will, kann
dem zweiten, und allen übrigen sehr verkehrt vorkommen, der =Wille=
selbst aber bleibt immer das Nämliche[21].

  [21] =Wille= und =Wollen= sind zwei ganz verschiedene
      Begriffe. Dem ersten entspricht die Selbstbestimmung des
      Menschen zwischen bös und gut, dem letzten die Wahl, d.
      h. die =Willkür=, eine bestimmte Thätigkeit auszuüben,
      =abgesehen= von dem Umstande, ob dieselbe sittlich ist
      oder nicht. Verwechselt man aber diese Ausdrücke, welche,
      da sie von einander =verschieden= sind, doch auch einen
      verschiedenen =Sinn= haben müssen, so muss nothwendig eine
      Begriffsverwirrung entstehen, welche jede entscheidende
      Darstellung =unmöglich= macht.

Selbst bei Irrsinnigen findet man aber kein verkehrtes =Wollen=, so
wenig als eine verkehrte =Willensbestimmung=. -- Der Irrsinnige,
welcher zum Fenster hinausspringen will, weil er sich von Räubern
verfolgt wähnt, springt =wirklich= hinab; Derjenige, welcher glaubt,
Sonnenstrahlen verspeisen zu können, legt sich mit offenem Munde unter
die Sonne u. s. w., also auch nicht einmal hier ist eine =Verkehrtheit=
des Willens zu gewahren.

Spricht man aber von dem =Willen= als einer moralischen Funktion, so
kann man unter diesem Ausdrucke auch nichts anderes verstehen, als die
=mit= dem Bewusstsein, d. i. =mit= der Vorstellung der Sittlichkeit
einer Handlung, oder =gegen= das Bewusstsein der Sittlichkeit derselben
stattfindende Anwendung der Thätigkeit. Hier kann es sich nun wohl
treffen, dass ein Mensch etwas thut, weil er es nach seiner Vorstellung
der =Verhältnisse= für =sittlich= hält, während diese nämliche Handlung
von einem andern, welcher die =Unrichtigkeit= der Voraussetzung des
andern von seinem Standpunkte aus gewahrt, für =unsittlich= gehalten
wird. Der Wahnsinnige, welcher in der Vorstellung, er schlachte ein
Kalb, einen Menschen tödtet, will nichts =Unsittliches=, ebenso
=will= Derjenige, welcher in sich den Drang zur Ermordung eines
Andern verspürt, jedoch diesem Drange entgegenarbeitet, =nicht= etwas
=Unsittliches=, sondern er =will= vielmehr die ihm als unsittlich
erscheinende Wirkung =vermeiden=.

Wenn er also ungeachtet seines inneren Widerstrebens doch den Mord
vollbringt, so kann man diese That nicht aus einem verkehrten =Willen=,
sondern nur dadurch erklären, dass sein =Wollen= durch eine psychische
Gewalt unwiderstehlich besiegt worden sei, wie etwa Derjenige, welcher
sich anhält, um nicht in einen Abgrund zu fallen, =ohne sein Wollen=
hinabfällt, wenn seine Muskeln ihre Kraft verlieren und er daher den
Gegenstand, an den er sich gehalten hat, auslässt.

Es lässt sich daher in der That weder von einer Krankheit, noch von
einer Störung der Willensbestimmung sprechen.


§. 37.

Eben so wenig lässt sich aber auch von einer Störung oder einer
Krankheit der =Vernunft= als derjenigen =Anlage= sprechen, wodurch
der Mensch das Sittliche auffasst, denn der Mensch kann nur
=sittlich= handeln, oder =unsittlich=, d. h. gegen die Bestimmung
des Sittengesetzes seinen Sinnen folgen; er kann seiner Vernunft
=entgegenhandeln=, nicht aber ihr Wesen =verändern=, so wie man wohl
das Auge von etwas =wegwenden=, nicht aber etwas =anderes sehen= kann,
als man eben sieht.


§. 38.

Als Krankheit der =Sinne= kann übrigens der Irrsinn ebenfalls nicht
bezeichnet werden, denn eine Krankheit der Sinne kann nur entweder
eine =Stumpfheit= derselben gegen gewisse Eindrücke, z. B. Blindheit,
Taubheit u. dgl. oder eine Anregung sein, welche der Empfindung, die
dieser =nämliche= Eindruck auf ein =gesundes= Organ hervorbringen
würde, =nicht= entspricht; z. B. ein krankes Auge wird bei dem
Reflex des Lichtes von einem glänzenden Körper den nämlichen Eindruck
empfinden, wie etwa ein gesundes Auge, welches in die =Sonne= sieht,
allein die Vorstellung, welche dadurch entsteht, ist dennoch eine
=richtige=, denn sie entspricht ganz und gar der Art und Weise, wie das
Subjekt durch diesen Eindruck =wirklich erregt= wurde.

Der am Podagra Leidende ist nicht =wahnsinnig=, wenn er sich vor der
geringsten Berührung scheut, welche seinem Fusse droht, sondern sein
Abscheu gegen jede Art von Berührung kommt von der =sehr richtigen=
Erfahrung her, dass jede Berührung ihm grosse Schmerzen verursacht u.
s. w.


§. 39.

Wenn nun der Irrsinn weder als =Seelenkrankheit=, noch als eine
Krankheit des =Verstandes=, noch des =Gemüthes=, noch des =Gefühles=,
noch des =Willens=, noch endlich als eine Krankheit oder Störung der
=Sinne= erklärt werden kann, so scheint es wohl billig zu fragen, was
denn der Irrsinn eigentlich sei.

Ist es aber auch nothwendig, diese Frage zu beantworten[22], ja ist
es überhaupt nothwendig zu wissen, was das =Wesen= einer Krankheit
ist? Ein solches Wissen ist selbst in pathologischer Beziehung nicht
=nothwendig=, weil es nicht =möglich= ist, denn alles medizinische
Wissen gründet sich auf Erfahrung, und die Erfahrung kann nichts
weiter lehren, als dass =krankhafte Zustände von gewissen abnormen
Erscheinungen= begleitet sind, und dass ihnen gewisse abnorme
Erscheinungen =zu folgen= pflegen. =Warum= aber z. B. der Erkältung
eine Entzündung der Schleimhäute folgt, darüber lassen sich nur
=Vermuthungen=, keine =Gewissheit= geben; es ist aber auch gar nicht
=nothwendig=, hierüber etwas zu wissen, denn auch ohne alle Kenntniss
hierüber wird jeder Arzt wissen, wie er einen auf Erkältung gefolgten
Husten zu behandeln hat.

  [22] In einem von mir in dem Januar- und Februarhefte der
      medizinischen Jahrbücher von 1845 erschienenen Aufsatze
      bemühte ich mich darzustellen, dass der Wahnsinn nur eine
      krankhafte Beschaffenheit der Vorstellungsthätigkeit sein
      könne. Ich glaube nicht, dass diese Ansicht irrig sei,
      habe mich jedoch überzeugt, dass es für die Rechtspflege
      ganz gleichgiltig ist, worin eigentlich der Wahnsinn liege,
      durch welche Ueberzeugung ich mich daher bestimmt fand, das
      Ganze zum Beweise dieses Satzes angewandte Raisonnement hier
      wegzulassen.

Wenn also ein solches Kennen des eigentlichen =Wesens= der Krankheit
schon für den =praktischen= Arzt entbehrlich ist, so ist es noch mehr
für die =Gerichtspflege=, von welcher jede =Hypothese=, eben weil
sie keine rechtliche Gewissheit ist, ausgeschlossen sein muss. Der
Arzt entspricht daher seiner Aufgabe als Gerichtsarzt nie =mehr=,
als wenn er sich strenge an die Resultate seiner eigenen ärztlichen
=Erfahrung= und jener seiner Vorgänger hält, denn =diese= sind
=objektive= Thatsachen, über welche seine Aussage, als jene eines
vollkommen giltigen =Zeugen=[23], vollkommen rechtliche Glaubwürdigkeit
verdient, da man nur bei dem Arzte hierin die nöthige Beobachtungsgabe
voraussetzen kann.

  [23] Ich habe in meinem Handbuche der gerichtlichen
      Arzneikunde (§. 24 Anmerkung) auf den Unterschied zwischen
      Kunstverständigen und =Zeugen= hingedeutet. -- Der Letztere
      hat in Bezug auf eine =vergangene= Thatsache zu bestätigen,
      =wie viel= er etwa wahrgenommen hat, der Kunstverständige
      aber eine vorliegende Sache zu untersuchen, und für die
      Vollständigkeit seiner Beobachtung zu haften. Ein Arzt,
      welcher eine gerichtliche Untersuchung vornimmt, ist
      =Kunstverständiger= in Bezug auf =seine= Wahrnehmung,
      er ist aber =Zeuge=, sofern er die Wahrnehmungen anderer
      im ähnlichen Verhältnisse anführt, z. B. wenn er angibt,
      der Schriftsteller A. hat diese oder jene Beobachtung in
      seinem Werke N. angegeben. Hier hat er nicht mehr für die
      =Richtigkeit der Beobachtung=, sondern nur =dafür= zu haften,
      dass dieselbe in dem angeführten Werke richtig enthalten
      sei. Ebenso ist der Arzt nicht als Kunstverständiger,
      sondern als =Zeuge= zu betrachten, wenn er eine von ihm an
      dem Individuum beobachtete, vor der Hand aber noch nicht
      untersuchte Erscheinung anführt, erst durch den auf diese
      Thatsache gebauten =Schluss=, oder durch die in Folge dieser
      Wahrnehmung eingeleiteten weiteren Nachforschung erscheint er
      wieder als =Kunstverständiger=.


§. 40.

Wenn der Richter zu wissen benöthiget, ob eine =That= nicht wegen
Statt gefundenem Irrsinne =straflos= zu halten sei, so bedarf er nicht
unbedingt zu wissen, ob das Subjekt =überhaupt= irrsinnig, oder wie
manchmal gesagt wird, überhaupt, oder in Bezug auf die =bestimmte That
unzurechnungsfähig= sei, sondern er bedarf zu wissen, =ob die=, unter
den gegebenen Umständen =verübte That nicht ihr Motiv in einem solchen
abnormen= Zustande =des Individuums habe, durch welchen es entweder
ohne Vorstellung von dem, was es bewirkte, seine Thätigkeit äusserte,
oder durch welchen= ein solcher Irrthum =erzeugt wurde, welcher ihm die
begangene That als eine erlaubte Thätigkeit unter eben diesen gegebenen
Umständen erscheinen liess=[24].

  [24] Die Veranlassung des Irrsinns ist immer ein krankhafter
      Zustand, das unterscheidende Merkmal derjenigen Krankheit,
      welche man Irrsinn nennt, von andern krankhaften Zuständen,
      ist eine der Objektivität nicht entsprechende Aeusserung der
      Vorstellungsthätigkeit. Für die Gerichtspflege ist es aber
      ganz gleichgiltig, wie man einen bestimmten Zustand nennt,
      sondern hier handelt es sich nur um die Gewissheit, ob eine
      bestimmte Thätigkeit Wirkung des Vorsatzes oder des =Zufalls=
      war, unter welchem Begriffe in rechtlicher Beziehung jede
      Krankheit mit ihrem Einflusse auf die Thätigkeit eines
      Menschen gehört, insofern sie eine sonst nach den Gesetzen
      sträfliche Wirkung hervorbrachte.

Diesem zu Folge wird nach der =Natur der Sache= jedes ärztliche
Gutachten dieser Art folgende Momente zu unterscheiden haben:

1. Ob der Mensch vermöge der Unvollkommenheit oder =Abnormität
seiner Sinnesorgane überhaupt= im Stande sei, Vorstellungen zu
solcher Deutlichkeit zu bringen, dass sie als Bestimmungsgrund seiner
Handlungen erscheinen können.

2. Ob die Unvollkommenheit oder Abnormität der Sinneswerkzeuge von
der Art sei, dass sie das Individuum ausser Stand setzte, unter den
=gegebenen Umständen= eine richtige Vorstellung von der durch ihn
ausgeübten Thätigkeit zu haben.

Diese beiden Fragen werden bei Untersuchung eines =Blödsinnigen=
vorzugsweise zur Sprache kommen.

3. Ob die Beschaffenheit der =Vorstellungsthätigkeit= im Allgemeinen
von der Art ist, dass zwischen ihr und der sich äussernden Thätigkeit
gar kein Zusammenhang =wahrnehmbar= ist. -- Dies ist die bei
vorkommender Raserei oder Tobsucht zu beantwortende Frage.

4. Ob im Allgemeinen ein solches Verhältniss der Vorstellung zur
äusseren Thätigkeit vorhanden ist, dass der Mensch entweder =durchaus=
nicht im Stande ist, die Gegenstände seiner =Vorstellung= von der
Wirklichkeit zu unterscheiden, oder in dem vorgekommenen Falle doch
hiezu nicht fähig war. -- Diese Frage wird zu beantworten sein, wo es
sich um =Wahnsinn= handelt, unter welchem Ausdrucke die =fixe Idee= (d.
i. ein für Wirklichhalten einer Vorstellung ohne äussere Thätigkeit),
=Monomanie= (ein für Wirklichhalten einer vorhandenen Vorstellung,
mit einer diesem Wahne entsprechenden Thätigkeit), =Melancholie= (d.
i. eine Stimmung, in welcher auf den Leidenden traurige Vorstellungen
so intensiv wirken, dass er sich von deren Nichtobjektivität nicht
überzeugen kann), und dem Gegentheile davon, in welchem der Leidende
keiner ernsten Vorstellung fähig ist, d. h. alles was ernsthaft ist,
für nicht vorhanden hält[25], verstanden werden dürfte.

  [25] Sonderbarerweise ist, mir wenigstens, kein passender
      Ausdruck für diesen Zustand bekannt, und doch ist derselbe,
      als der Gegensatz der Melancholie, nicht nur denkbar, sondern
      auch in Wirklichkeit vorhanden. Mir selbst ist ein solches
      Individuum vorgekommen, welches über die vorkommenden Dinge
      oft recht =treffende= Witze machte, den man aber, obwohl
      er in den dürftigsten Umständen lebte, nicht dahinbringen
      konnte, auch nur über dasjenige, was ihn unmittelbar betraf,
      ein vernünftiges Wort zu =verstehen=. Der passendste Ausdruck
      für diesen Zustand schien wohl =Narrheit= zu sein, doch
      sagt dieser Ausdruck, nach meiner Meinung, etwas zu viel,
      denn jener Unglückliche urtheilte dort, wo er urtheilte,
      ganz =richtig=; was ihm fehlte, war nicht die =richtige=
      Auffassung, sondern ein Mangel an Produktivität seines
      inneren Sinnes, für gewisse, anderen Menschen sonst sehr
      geläufigen, Vorstellungen, der vollkommene Gegensatz vom
      Melancholikus, welcher sich von gewissen Vorstellungen nicht
      losmachen, und sich eben darum nicht von ihrer Nichtrealität
      überzeugen kann. =Wahnwitz= scheint sich mehr auf jenen
      Scharfsinn zu beziehen, den der Unglückliche zur Realisirung
      jener Vorstellung entwickelt, in welcher sich seine Krankheit
      ausspricht; eine solche bestimmte Vorstellung mangelte jedoch
      jenem Subjekte.

5. Ob die Thätigkeit, welche die in Frage stehende Wirkung
hervorbrachte, durch eine solche für wirklich gehaltene Vorstellung
=einzig und allein= veranlasst ist.

6. Ob das Individuum für eine gewisse Art Vorstellung, durch deren
Mangel sich die verübte That erklären lässt, etwa wirklich unzugänglich
sei; (von dieser Art scheint der in der vorigen Anmerkung berührte Fall
zu sein).


§. 41.

Die eine oder die andere dieser Fragen wird, wo es sich richterlicher
Seits darum handelt, zu erheben, ob eine That zurechenbar sei,
nothwendig durch den Arzt beantwortet werden =müssen=, nur wird es
aber auch die =Aufgabe= des Arztes bleiben, zu beurtheilen, ob mit
einer oder der anderen Frage =allein= der Gegenstand der Untersuchung
=erschöpft= ist, oder ob um den Zustand des Menschen im Augenblicke
der That zu beurtheilen, es nicht nothwendig sei, durch eine, auch
=mehrere= der aufgestellten Fragen umfassende Darstellung, die
=Nachweisung= zu liefern, inwieweit in dem Augenblicke der begangenen
That das Verhältniss der Psyche zur physischen Thätigkeit ein
=abnormes= war, inwieweit daher die physische Thätigkeit von der
Psyche sich =unabhängig=, oder sich in Folge eines in den physischen
Verhältnissen gegründeten =Irrthumes=, oder in Folge des Vorhandenseins
=beider= Momente =unter den gegebenen Verhältnissen= geäussert hat.


§. 42.

Mit dem bisher Gesagten dürfte sowohl dem Leser, welcher Arzt
ist, die Richtung angedeutet sein, welche seine Untersuchung und
seine Darstellung zu nehmen hat, als demjenigen Leser, welcher dem
juridischen Stande angehört, das Verständniss geöffnet sein, was und
wie er vom Arzte das ihm zu wissen Nöthige erlangen soll.

Auf diesem Wege ist wohl jede Streitfrage über die ärztliche und
richterliche =Kompetenz undenkbar=, denn der richterliche Einfluss
kann und darf auch hier nur so weit und nicht weiter gehen, als dies
überhaupt bei jedem Gutachten der Fall sein kann und muss, so weit
nämlich, dass vom Arzte nichts übersehen bleibe, was dem Richter
wichtig, und nichts behauptet werde, was dem Richter unwahr scheint.
-- Hier bitte ich meine verehrten Leser dasjenige zu berücksichtigen,
welches ich mir in dem ersten Aufsatze dieses Werkes zu sagen erlaubte.

Ich könnte hier meine Abhandlung schliessen, da es jedoch gewisse
Zustände des Menschen gibt, in welchen sich das Verhältniss der
psychischen zur physischen Thätigkeit nicht so klar ausspricht, wie es
die oben aufgestellten Fragen voraussetzen, so erlaube ich mir noch den
nächstfolgenden Aufsatz nachzutragen, welcher die rechtliche Bedeutung
der Affekte und Leidenschaften, und die Erhebung anderer zweifelhafter
Gemüthszustände behandelt.

Für Diejenigen meiner verehrten Leser, welche dem ärztlichen Stande
angehören, dürften folgende Bemerkungen jedoch noch von einiger
Wichtigkeit sein.



III.

Aus Grundsätzen des Rechtes zu nehmende Rücksichten bei Erhebung des
Irrsinns.



A. Im Strafverfahren.


§. 43.

Die Erhebung des Irrsinns kann im Wege des =Strafverfahrens= oder
im Wege des =Civil=verfahrens Statt finden. Ueber den =Zweck= der
Untersuchung im Strafverfahren ist sich im Verlaufe dieses Aufsatzes
bereits umständlich ausgesprochen worden.

Was nun das =Strafverfahren= betrifft, so lassen sich drei verschiedene
Gesichtspunkte unterscheiden, von welchen nach Beschaffenheit der
Umstände diese Darstellung von Seite des Arztes =aufgefasst= werden
muss.

Der =erste= dieser Gesichtspunkte betrifft den Umstand, dass Jemand
vor Gericht gestellt wird, und der =Richter= bei ihm Spuren von
Geisteszerrüttung wahrzunehmen =glaubt=. In diesem Falle handelt
es sich ganz und gar nicht darum, ob die ihm angeschuldigte That
=zugerechnet= werden kann, ja nicht einmal darum, ob er sie wirklich
=begangen= habe, sondern lediglich um die Frage, ob er überhaupt
=verhört= werden kann; =d. h. ob er seiner geistigen Beschaffenheit
nach im Stande sei, die an ihn gestellten Fragen aufzufassen und zu
beantworten=.

Das österreichische Strafgesetz drückt sich im §. 363 1. Thl. hierüber
folgendermassen aus:

„Wird die Beantwortung (beim Verhöre) mit einer auffallenden
Sinnenverwirrung gegeben, so hat das Kriminalgericht den Verhafteten
von zwei Aerzten =und= Wundärzten untersuchen, und von denselben
das Gutachten schriftlich geben zu lassen, ob sie die anscheinende
Sinnenverwirrung =für einen wahren Anfall oder für Verstellung halten=.
Fällt das Gutachten dahin aus, dass es Verstellung sei, so ist der
Verhaftete durch drei aufeinanderfolgende Tage bei Wasser und Brot zu
halten, dann aber, nach wiederholter Warnung, mit Streichen von drei zu
drei Tagen dergestalt zu bestrafen, dass mit zehn Streichen der Anfang
gemacht, die Zahl jedesmal mit fünf vermehrt, und bis auf dreissig
hinaufgestiegen wird. Lässt der Verhaftete auch dann noch von der
Verstellung nicht nach, so ist der Vorfall mit Beilegung sämmtlicher
Akten dem Obergerichte vorzulegen, und die Entscheidung hierüber
abzuwarten. -- Ist nach Meinung der Aerzte die Sinnenverwirrung
wahr, oder können sie nach Pflicht und Rechtschaffenheit hierüber
keinen Schluss fassen, oder wären sie in ihrer Meinung getheilt, so
ist ebenfalls dem Obergerichte die umständliche Anzeige zu machen.
-- In dieser Anzeige sind auch die Bemerkungen einzurücken, welche
dem Kriminalgerichte entweder selbst, oder dem Gefangenenwärter, bei
Beobachtung des Gefangenen aufgefallen sind.”

Bei diesem Stadium der Untersuchung handelt es sich daher blos um
das Gutachten über den =gegenwärtigen pathologischen= Zustand des
Untersuchten, und es wird nur richtig zu stellen sein, _a_) ob
diejenigen Aeusserungen, welche der Richter für ein Zeichen der
Geisteszerrüttung =hält=, wirklich von diesem Zustande zeugen, und _b_)
ob sie nicht in einer =Verstellung= ihren Grund haben.

Weiter als so weit hat daher der untersuchende Arzt in diesem Stadium
der Untersuchung =nicht= einzugehen, jede Darstellung, welche dahin
zielt, bezüglich der =Zurechenbarkeit= der That Aufschlüsse zu
erhalten, wäre daher am =unrechten= Orte, sondern es wird das Gutachten
des Arztes seinen Zweck nur dann =vollkommen= erreichen, wenn es den
klaren Ausspruch enthält, ob der in Frage stehende Anfall =ein wahrer
Anfall von Geisteszerrüttung=, oder nur =Verstellung= sei; -- der Arzt
hat daher in einem solchen Falle =weiter nichts= zu berücksichtigen,
als was ihm die =Wissenschaft= zu berücksichtigen vorschreibt, und
sich nur zu =hüten=, das in Frage stehende Verbrechen, oder sonst
Verhältnisse, welche, wenn sie vor der Zeit zur Sprache kämen,
störend auf die gerichtliche Untersuchung einwirken könnten, in seiner
Untersuchung mit dem Beschuldigten zu berühren.

Es handelt sich in diesem Falle nicht einmal um Beobachtung
=gerichtlicher Formen=, wie bei der Erhebung des =Thatbestandes=, ja
selbst die =Intervention= des Richters bei diesem Akte ist nicht einmal
nothwendig, sondern die Erhebung ist eben so der Gegenstand eines =rein
pathologischen= Krankenexamens, als wenn es sich etwa darum handelt,
einen Menschen zu untersuchen, welcher an =Brustbeschwerden=, oder an
einem andern pathologischen Zustande zu leiden vorgibt.


§. 44.

Der =zweite= Gesichtspunkt, ohne Zweifel der schwierigste, ist, wenn es
sich darum handelt, dem Richter durch eine ärztliche Darstellung des
Gemüthszustandes die nöthigen Anhaltspunkte zu liefern, um über die
=Zurechenbarkeit der That= zu entscheiden.

Aus Demjenigen, welches bisher gesagt wurde, erhellt zur Genüge,
dass es für den Richter =niemals= nothwendig ist, an die Aerzte die
Frage zu stellen, ob die That =zurechenbar= sei, oder, wie wohl auch
schon gefragt wurde, ob der Mensch sich =in einem Gemüthszustande
befinde, welche jede Zurechenbarkeit ausschliesst=. Diese Frage hätte
nur dann einigen Sinn, wenn der Gemüthszustand überhaupt von der Art
ist, =dass kein vernünftiger Mensch an der Unzurechnungsfähigkeit
zweifeln wird=, -- dann entscheidet aber der =Grund=, welchen der
Arzt für die Unzurechnungsfähigkeit anführt, nicht der =Ausspruch=,
dass er unzurechnungsfähig ist; z. B. der Arzt sagt, der Mensch sei
unzurechnungsfähig, =weil= er sich in dem Zustand =vollkommener=
Raserei befindet, weil der Ausspruch vollkommene Raserei in der Sprache
des Richters eben so viel heisst, als =unzurechnungsfähig=.

Ist aber der Fall nicht so klar, so ist eben so widersinnig, den
Arzt zu fragen, ob der Mensch in Bezug auf eine bestimmte That als
=zurechnungs-= oder =unzurechnungsfähig= zu betrachten ist, als wenn
man fragen wollte, ob eine Handlung, durch welche ein Mensch um's Leben
kam, als Mord, Todtschlag oder Verwundung sollte =zugerechnet= werden,
oder als ein Akt der Nothwehr erscheine etc. Jeder Arzt wäre daher
berechtiget, eine solche Frage zurückzuweisen.

Bei Erhebungen dieser Art darf die gerichtliche =Form= nie fehlen,
sonst kann der Akt niemals =gegen= den Beschuldigten beweisen,
denn nur durch die gerichtliche Form wird der nöthige =Beweis= für
die Wahrheit der Erhebung geliefert; dieser Beweis =muss= aber
geliefert werden, weil die Erhebung des Irrsinns zum Behufe der
Ausmittlung der Zurechenbarkeit einen wesentlichen Bestandtheil
der Thatbestandserhebung bildet, sofern nämlich die gerichtliche
Untersuchung überhaupt nichts anderes, als die Erhebung des
(subjektiven und objektiven) Thatbestandes ist.

Nur in dem Falle ist eine Ausnahme vorhanden, wenn es sich um Erhebung
der =Aeusserungen= eines solchen Menschen, wenn auch mit Bezug auf das
Verbrechen, zur Erforschung seines =Ideenganges= handelt.

Hier ist es nicht nothwendig, ein =ordentliches Verhör= anzustellen,
denn dieses hätte keine Giltigkeit, da ein unsinniger Mensch keine
rechtlich giltige Erklärung abgeben kann, sondern er kann und darf
nur in Bezug auf seine That zu dem Zwecke gefragt werden, damit man
erfahre, =wie er überhaupt= darüber denkt und fühlt. Dies =kann=
nun wohl im Wege eines Verhörs geschehen, weil dieser Weg die
verlässlichste Protokollirung liefert; allein dieser Weg kann und
=muss= aber auch =unterlassen= werden, wenn eine andere Prozedur, etwa
wegen grösserer Unbefangenheit des Beschuldigten, ein besseres Resultat
verspricht.

Eine rechtliche Wirkung wird jedoch eine solche Aussage auch dann nicht
haben, wenn sie ordentlich protokollirt ist, da die Aussagen eines
Menschen, selbst wenn er sich närrisch =stellt=, und daher seine Rolle
konsequent fortspielt, unmöglich als ein Beweis für deren objektive
Richtigkeit betrachtet werden können, eben daher scheint es, wo die
förmliche gerichtliche Prozedur einen Nachtheil besorgen lässt, ohne
weiteres dem Gesetze zu entsprechen, dieselbe zu =unterlassen=, und
den Inhalt der Unterredung (auf deren einzelne Details es dann ohnehin
nicht mehr besonders ankommen wird) nur durch Gerichtspersonen, die
sich etwa in der Nähe, ohne von dem Inquisiten bemerkt zu werden,
befinden, nach seiner Wesenheit schnell aufzeichnen zu lassen.


§. 45.

Bei dieser Gelegenheit kann ich jedoch auch die Bemerkung nicht
unterdrücken, dass die Frage, wie weit die Kompetenz des Richters
und des Arztes gehe, zuverlässig nie diese Richtung genommen hätte,
die sie wirklich nahm, und endlich sogar dahin führte, dass sich
eine Stimme erhob, nach welcher es zur Beurtheilung dieser Zustände
=gar keines Arztes= bedürfe, wenn nicht von Seite der Aerzte an den
Richter die =unbillige= Forderung gestellt worden wäre, dass dieser
die Erhebung durch Aufstellung von Fragen =so= leiten sollte, dass am
Ende der Arzt nichts anderes als =ja= oder =nein= zu sagen brauchte.
-- Mit Aufstellung solcher Fragen ist es gerade so, wie mit der Frage
über die Zurechenbarkeit. So wie es Fälle gibt, wo man ohne alle
Gesetzeskenntniss entscheiden kann, dass eine That =nicht= zurechenbar
sei, so gibt es auch =Gemüths=zustände, welche für =Jedermann=,
insbesondere aber für den =Kriminalrichter=, welcher doch auch einige
psychologische Kenntnisse haben muss, so =klar= sind, dass es nicht
schwer ist, so bestimmte Fragen zu stellen, dass mit deren Beantwortung
alles erschöpft wird, was man zu wissen bedarf.

Solche Fälle, in welchen das Gutachten eigentlich nichts =weiter=
ist, als die =Kontrolle= der =richterlichen Ansicht=, sind jedoch
die =Ausnahme=, nicht die =Regel=. Die =Regel= bleibt immer, dass,
=ehe= noch von einer Frage die Rede sein kann, erst eine, nach den
Grundsätzen der Wissenschaft angestellte =technische= Erhebung und
Beurtheilung =vorausgehen= müsse, und wenn dieses Statt hatte, kann
erst eine Frage von Seite des Richters gestellt werden.


§. 46.

Das dem Zwecke einer gerichtlichen Untersuchung und der gegenseitigen
Stellung des Richters und des Arztes entsprechende Verfahren dürfte
daher Folgendes sein.

Bei keinem Menschen ist ohne besondere Veranlassung eben so wenig ein
Grund vorhanden, zu vermuthen, dass er wahnsinnig sei, als dass er
eine andere bestimmte Krankheit habe; es wird daher auch bei keinem
Inquisiten die Nothwendigkeit vorhanden sein, desselben Geisteszustand
ärztlich =erheben= zu lassen, wenn nicht besondere Erscheinungen,
entweder an der =Person= des Inquisiten, oder in seinen =Handlungen=,
dem Richter als =ungewöhnlich= auffallen.

Solche ungewöhnliche Erscheinungen an der =Person= oder an dem Benehmen
des Inquisiten zu =entdecken=, reicht die richterliche Beobachtung
in der Regel hin, und für den =schlimmsten= Fall ist der Richter,
wenigstens nach dem österreichischen Strafgesetze, auch hierin unter
eine Kontrolle gesetzt, weil derselbe nach §. 373 I. Thl. nicht nur
verbunden ist, alles dasjenige, was während der Untersuchung über die
körperliche und sittliche Beschaffenheit des Verhafteten (durch ihn
selbst, oder durch das Gefangenwärterpersonale, welches hiezu eigens
angewiesen ist) beobachtet worden, im Akte zu =bemerken=, sondern auch
die Besichtigung eines Verhafteten durch einen =Leib- und Wundarzt=,
einer verhafteten Weibsperson aber durch eine =Hebamme= und die genaue
Beschreibung von der =Leibesbeschaffenheit=, von den =Kräften= und den
=Gebrechen= der besichtigten Person in =den Akten= vorgeschrieben ist.

Fällt nun auf diese Art kein derartiges Bedenken auf, und ergibt sich
aus der Untersuchung, dass das Verbrechen aus =Motiven= begangen ist,
welche dem gewöhnlichen Bestreben des menschlichen Begehrungsvermögens
=entsprechen=, und ist der Thäter dabei auf eine Art zu Werke gegangen,
in welcher die gewählten Mittel in einem nach den vorhandenen Umständen
=richtigen= Verhältnisse zu dem angestrebten =Zwecke= stehen, so ist
wohl =kein= Grund vorhanden, die Zurechnungsfähigkeit in =Zweifel=
zu ziehen, und deshalb eine ärztliche Untersuchung in Bezug auf die
Geisteskräfte des Inquisiten zu veranlassen.

Fällt jedoch ein Bedenken dieser Art auf, ist nämlich entweder die
körperliche Beschaffenheit des Menschen von der Art; dass der Richter,
oder die, die körperliche Untersuchung desselben pflegende, ärztliche
Person eine solche Abnormität bemerkt, =welche möglicher Weise= das
Zeichen oder die Veranlassung einer Geisteszerrüttung sein kann, oder
kommen bei demselben Aeusserungen vor, welche =nicht= in dem Laufe der
gewöhnlichen menschlichen Handlungsweise begründet sind, oder ist die
=That= entweder von so gearteten =Umständen= begleitet, oder unter
solchen Umständen begangen worden, unter welchen von vernünftigen
Menschen ähnliche Thaten entweder gar nicht, oder doch nicht auf solche
Art, wie es durch den Beschuldigten geschehen ist, begangen werden,
oder ist endlich die =That selbst= von der Art, dass sie entweder
dadurch, dass sie mit dem =sympathetischen= Gefühle, oder einem
anderen auf menschliche Handlungen sonst =mächtig wirkenden Motive=,
im =Widerspruche=, oder überhaupt =von der Art= ist, dass sie nach
der Erfahrung in =jene Klasse= von Handlungen gehört, welche =auch= in
Folge einer Geisteszerrüttung begangen werden (z. B. Mord, Brandlegung
u. s. w.), so ist die hinreichende Veranlassung =vorhanden=, den
Geisteszustand eines solchen Menschen einer besonderen ärztlichen
Begutachtung zu unterziehen.


§. 47.

Der Arzt hat nun in einem solchen Falle die Aufgabe, richtig zu
stellen, ob der Zustand des Menschen von der Art sei, dass derselbe
=zur Zeit der Begehung der That= sich in einem solchen Zustande
der Geisteszerrüttung befand, =dass er nicht im Stande war, seine
Thätigkeit, so weit sie die verübte That zur Folge hat, nach
Vorstellungen, in Uebereinstimmung mit der Objektivität der äussern
Eindrücke zu bestimmen= (siehe hierüber das im §. 40 Gesagte), oder ob
sich nach ärztlichen Prinzipien bestimmt erklären lasse, dass =kein=
solcher abnormer Zustand vorhanden gewesen sei.

Der Grund dieses ersten Ausspruches kann nur sein, dass die abnorme
geistige oder physische Beschaffenheit des Menschen, welche diesen
Ausspruch motivirt, im =Augenblicke der Untersuchung= von der Art ist,
dass sie sich unmöglich =geändert= haben konnte, oder weil aus den
bereits =erhobenen Umständen= erhellt, dass sie damals =gerade so=
sich verhielt, wie im Augenblicke der Untersuchung. Aus Grund des,
der =letzteren= Ansicht =entgegengesetzten=, Ausspruches muss die
Nachweisung geliefert werden, warum das als Abnormität vom Richter
Bemerkte entweder keine Abnormität, oder wenigstens keine solche
sei, welche als Zeichen oder als Veranlassung einer Geisteszerrüttung
erscheint.

Lässt sich der erstere Ausspruch geben, so ist überhaupt kein
Gegenstand zur weiteren =strafgerichtlichen= Untersuchung vorhanden,
sondern es muss die Kriminaluntersuchung =unterbleiben=, weil kein
Verbrechen =begangen= wurde.

Lässt sich dieser Ausspruch jedoch =nicht= geben, entweder weil der
Zustand sich nicht so deutlich ausspricht, um ohne weitere Erhebung
sogleich die Gewissheit zu liefern, dass sich der Mensch im Augenblicke
der That im gleichen Zustande wie in dem Zeitpunkte, wo die ärztliche
Untersuchung Statt hatte, befunden habe, oder weil die Entscheidung
über den Umstand, =ob= die That, und =inwiefern ganz allein= durch
die vorhandene =Abnormität= seines Zustandes bedingt sei, ohne
weitere gerichtliche Erhebung nicht gegeben werden kann, so muss die
gerichtliche Untersuchung ihren Gang weiter =fortsetzen=, in welcher
Beziehung dann die =ärztliche= Beurtheilung des Gemüthszustandes einen
=wesentlichen= Bestandteil der gerichtlichen Untersuchung bilden wird.

Zu diesem Zwecke ist es dann nothwendig, dass nicht nur =der Arzt= von
jeder, gegen den Inquisiten gepflogenen Erhebung, sofern sie dessen
persönliche Verhältnisse betrifft, =in Kenntniss= gesetzt werde,
sondern dass er auch =angebe=, welche =Erhebungen= in dieser Beziehung
=nöthig= sind, und diese Erhebungen, sofern hiezu besondere =ärztliche
Kenntnisse= gehören, im Einverständnisse mit dem Gerichte auch =selbst
vornehme=, z. B. Unterredungen mit dem Verhafteten pflege, oder
zwischen letzterem und seinen Angehörigen veranstalte u. s. w.

Der Arzt wird sich auch hierin nur durch die Grundsätze der
Wissenschaft, durch die vorhandenen Umstände, und durch den Zweck der
Erhebung, welcher die Ausmittlung des Verhältnisses der bestimmten That
zu dessen Vorstellungsthätigkeit zum Gegenstande hat, bestimmen lassen,
in =formeller= Beziehung aber nur so viel zu beobachten haben, dass
kein Schritt seinerseits =ohne= Einvernehmen mit dem Gerichte geschehe,
damit dieses einerseits in der Lage sei, das Ergebniss einer solchen
Erhebung sogleich zu =konstatiren=, was besonders dort nothwendig ist,
wo dasselbe zum =Nachtheile= des Inquisiten ausfällt, und er (Inquisit)
darüber zur =Verantwortung= gezogen werden kann, und andererseits
darüber zu wachen, dass nicht ärztlicherseits Schritte geschehen,
=welche auf die gerichtliche Untersuchung von nachtheiligem Einflusse
sein könnten=, was z. B. bei Fragen der Fall wäre, welche Umstände
an dem Inquisiten verriethen, welche diesen, besonders im noch nicht
entschiedenen Falle, ob der Inquisit sich =verstellte=, zur Zeit ihm
nicht =eröffnet= werden =dürfen=, oder endlich, um überhaupt darüber
wachen zu können, dass von Seite des Arztes nichts geschehe, =was die
Gesetze nicht gestatten=.

Dass etwas von =letzterer= Art von Seite des Arztes =nicht leicht=
geschehen wird, leidet keinen Zweifel, allein da das Gericht für den
Akt überhaupt =verantwortlich= ist, so liegt die =Ueberwachung= der
letzteren Art entschieden in seinem =Berufe=, und muss daher hier
besonders aufgeführt werden.


§. 48.

Die natürliche Folge dieser Prozedur wird sein, dass jede Erhebung
des Richters von Seite des Arztes in ihrer =pathologischen= oder
=psychischen Bedeutung gewürdigt= werde, und dass eben so der Ausspruch
des Arztes insofern der richterlichen Beurtheilung unterzogen wird, =ob
die Thatsachen, worauf er sich stützt, richtig, und gerade so und nicht
anders seien, als der Arzt sie annimmt, und wenn ein Widerspruch in der
Ansicht des Arztes und jener des Richters obwaltet, die Aufklärung,
worin dieser Widerspruch bestehe, und dessen mögliche Behebung
veranlasst werde=.

Wenn es anders möglich ist, zu einem für die Gerichtspflege
entscheidenden Resultate zu gelangen, so kann es =nur= auf diesem
Wege geschehen, denn jeder andere Weg muss Lücken und Widersprüche
erzeugen. -- Auf diesem Wege aber ist es dem Richter erst möglich --
seine =Bedenken= gegen den normalen Geisteszustand des Untersuchten,
oder sein Bedenken gegen den =Ausspruch des Arztes=, welche auch
dem Richter nur auf diesem Wege hinlänglich klar werden können, in
=ordentliche Fragen= zu kleiden, die sich aber nicht auf =einmal=, oder
in einem =bestimmten Stadium= der Untersuchung, sondern nur =allmälig=,
wie sich die verschiedenen Ergebnisse eben gestalten, werden stellen
lassen. Eben auf diesem Wege wird es aber auch für beide Theile erst
möglich werden, die übrigen vorhandenen Umstände in ihrer Beziehung zum
Geisteszustande des Untersuchten zu =gewahren= und recht =würdigen= zu
können, so wie überhaupt einen sachgemässen Gang der Untersuchung zu
erzielen.

Ist nun auf diese Art der ganze Untersuchungsprozess durchgeführt,
und nichts mehr zu erheben, so ist =erst= von Seite des Arztes =ein
umfassendes Gutachten= möglich.

Dieses Gutachten muss nun der Natur der Sache nach von dem ersten
Schritte, nämlich der =ersten pathologischen Untersuchung= beginnen,
und historisch die zur Erhebung des Geisteszustandes eingeleiteten
Schritte und deren Ergebnisse darstellen.

Es muss sich sodann, zur möglichen Beurtheilung, inwiefern der
gegenwärtige, oder der zur Zeit der verübten That vorhanden gewesene
Zustand nicht etwa nur =fingirt= war, über das =frühere Leben= des
Inquisiten verbreiten, und aus =Thatsachen=, welche angeführt, und über
deren =Wahrscheinlichkeit=, sofern sie nicht vollkommen erwiesen sind,
so wie über deren pathologische Bedeutung, sich in ärztlicher Beziehung
ausgesprochen werden muss, die Nachweisung geliefert werden, ob und
inwieweit der =gegenwärtige=, oder =zur Zeit der That= Statt gefundene
Zustand des Inquisiten sich als ein =früher schon= vorhandener, und
daher nicht verstellter oder blos fingirter darstelle.

Sofern es in medizinischer Beziehung nöthig scheint, ist auf
die Zustände der =Eltern=, =Geschwister= des Inquisiten u. s. w.
zurückzugehen, insbesondere aber darzustellen[26], ob in seinem Leben
nicht =Momente= vorkommen, welche zu einer =Abnormität= bei demselben
Veranlassung gegeben haben konnten, ein =Stoss=, ein =Fall=, eine
=Krankheit=, =geheime Sünden=, =Eintritt= oder =Ausbleiben= der
=Catamönien=, oder =Schwangerschaft= beim weiblichen Geschlechte etc.,
und ob und von welchem Einflusse diese Ereignisse auf den gegenwärtigen
Zustand sind oder sein können; wenn allenfalls ein Bedenken von
Seite des Richters obwaltet, welches der Arzt nicht theilt, so ist
auszusprechen, =ob sie den vom Richter als möglich angenommenen
Einfluss= etwa entschieden =nicht= haben können, oder wo ein bestimmter
Ausspruch nicht möglich ist, so ist =ausdrücklich= anzugeben, dass und
=warum= ein solcher Ausspruch nicht möglich ist.

  [26] Eine wesentliche Bedingung einer zweckmässigen Darstellung
      ist, dass eine vollständige =Krankengeschichte= erhoben wäre.
      Welche Punkte eine solche Krankengeschichte enthalten muss,
      um vollständig zu sein, ist bei §. 52 umständlich angegeben.

Nach dieser Darstellung, deren Wichtigkeit und =Unerlässlichkeit= wohl
keiner meiner verehrten Leser verkennen wird, kann erst derjenige
Theil des Befundes und das Gutachten kommen, welches der =Richter=
bedarf, um über die =Zurechenbarkeit= der That überhaupt, so wie
über den Grad der Strafbarkeit der That, d. h. inwiefern der sich als
sträflich darstellende Theil desselben als ein Produkt der =freien=
Selbstbestimmung kann betrachtet werden[27], zu entscheiden.

  [27] Von einem =Grade= der =Zurechenbarkeit= zu sprechen ist
      eben so =unlogisch=, als von einem Grade der =Freiheit=;
      was =zugerechnet= werden kann, ist eben so =ganz und
      gar= zuzurechnen, als der Mensch, wo er frei, d. h. nicht
      gezwungen ist, auch gänzlich frei ist.

      Freiheit und Zurechenbarkeit sind =Begriffe=, wo aber vom
      Begriff ein wesentliches Merkmal fehlt, ist nicht der =halbe=
      Begriff, sondern der =ganze= Begriff aufgehoben. Im gemeinen
      Leben nimmt man es hierin nicht so genau, man sagt z. B.
      Jemand sei =halb todt= geschlagen, =halb verhungert= u. s.
      w., dies sind =Redefiguren=, von welchen Jeder weiss, was er
      darunter zu denken hat.

      Bei einer =wissenschaftlichen= Erörterung =schaden= aber derlei
      Verstösse gegen die Logik. Spricht man z. B. von einer
      =halben= Freiheit, so lässt sich leicht beweisen, dass es
      ein logischer Widerspruch ist, von einer =halben Freiheit=
      zu sprechen; wenn nun Derjenige, welcher sich des Ausdruckes
      bediente, für die =Sache=, welche er hiermit bezeichnen
      wollte, keinen passenden Ausdruck findet, so bleibt ein
      =wirkliches= Verhältniss =unerörtert=, und dadurch kann eine
      für die Rechtspflege =sehr schädliche Lücke= entstehen.

Die auf solche Art zu liefernde Nachweisung hat nun die Aufgabe, aus
den genommenen Daten die Ideenassociation, welche den Beschuldigten bei
Begehung der That begleitet hat, =nachzuweisen=, und nach Möglichkeit
=darzuthun=, ob und inwiefern die That das Produkt einer =krankhaften=
Ideenassociation ist oder =nicht=, oder ob sie etwa gar aus keiner
=Ideenassociation= entspringt, sondern (wie bei der Raserei) das
Produkt einer abnormen überwiegenden physischen Thätigkeit, oder,
wie beim Blödsinn, die Folge des mangelnden Gegengewichtes durch
die dem Subjekt =mangelnden=, bei jedem andern normal beschaffenen
Subjekte sonst vorhandenen, einer entstandenen Vorstellung oder einem
geäusserten Triebe =entgegengesetzte= Vorstellung sei.

Lässt sich auf diese Weise kein bestimmter Ausspruch erzielen, so
müssen die Gründe, welche der Richter für die Geistesfreiheit zu haben
glaubt, noch einer besondern =ärztlichen= Begutachtung unterzogen
werden, um richtigzustellen, ob ihrer objektiven Richtigkeit nicht
=ärztlicher= Seits gegründete =Bedenken= entgegenstehen.

Wenn also der Befund auf obige Weise abgegeben ist, so stelle der
Richter seine Fragen in diesem Sinne, um das etwa noch Mangelnde
oder einer näheren Aufklärung Bedürfende ergänzen zu machen, und
der ärztliche Ausspruch wird dann zuverlässig dem Bedürfnisse der
Strafrechtspflege entsprechend sein, oder wenn er es =nicht= sein
sollte, mit geringer Nachhilfe entsprechend gemacht werden.


§. 49.

Was die Rechtswirkung eines solchen Ausspruches betrifft, so wird
sie verschieden sein, je nachdem dieser Ausspruch auf =apodiktische=
Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft selbst, oder ob sich
derselbe auf =hypothetische= Schlussfolgen des untersuchenden Arztes
gründet, es mögen diese letzteren nun auf Hypothesen, bezüglich
der Thätigkeit =des Untersuchten selbst= (z. B. als Ergänzungen von
Thatsachen, die nicht vollkommen erörtert werden können), oder auf
hypothetische Annahmen der =Medizin selbst= gegründet sein.

Nur die =ersteren= Stützen, nämlich die =apodiktischen= Sätze, liefern
einen =rechtlichen= Beweis zum =Nachtheile= des Inquisiten.

Die =letzteren=, so wahrscheinlich sie übrigens =an und für sich=, oder
nach der =Autorität= derjenigen Personen, welche sie ausgesprochen
haben, sein mögen, können nicht als ein Beweis =gegen= den
Beschuldigten gelten, sofern ihre Beweiskraft nicht durch =Thatsachen=,
welche =objektive= Gewissheit haben, vollkommen erwiesen wird.

Im Gegentheile aber können derlei Behauptungen zu =Gunsten des
Inquisiten= als ein ihn von Strafe freisprechendes oder die Strafe
milderndes Argument angenommen werden, weil sie immerhin =so viel=
beweisen, dass die Sache sich =möglicher= Weise so verhalten =könne=,
wie die Sachkundigen sagen; wenn daher nicht =nachgewiesen= werden
kann, dass ihre Angabe auf einem =Irrthume= beruhe, so ist kein Grund
vorhanden, sie =nicht zu Gunsten= des Inquisiten =gelten= zu lassen,
während sich in dem Falle, wo es sich darum handelt, den Inquisiten auf
Grund ihrer Angaben =straffällig= zu finden, noch immer die Möglichkeit
einwenden und =nicht widerlegen= lässt, dass sich die Kunstverständigen
geirrt haben können.

Ist z. B. der Fall vorhanden, dass Jemand, welcher erwiesenermassen
in einer fixen Idee lebt, eine =sträfliche=, dieser fixen Idee
entsprechende That begangen hat, so wird, wenn die Aerzte nachweisen,
die That liege blos in der durch diese fixe Idee hervorgebrachten
physischen Thätigkeit, die =Lossprechung= erfolgen müssen, weil sich
ihre Behauptung einerseits durch die Beobachtung des Untersuchten,
wonach der Umstand, dass er von dieser fixen Idee behaftet ist,
=ausser Zweifel gesetzt erscheint=, andererseits aber auf =Axiome= der
medizinischen Wissenschaft über die Möglichkeit und den Einfluss der
fixen Idee gründet.

Ihre Ansicht würde aber vom Richter =nicht= so =unbedingt= anzunehmen
sein, wenn sie etwa dahin lautet: „Der Mensch =litt zwar= an der fixen
Idee N. N., die That =entspricht= auch derselben, allein da hier
nach genauer Beobachtung diese Idee =nicht= im Spiele war, so kann
die That =nicht= als ein Produkt derselben angesehen werden,” denn
dieser Ausspruch wäre =zweifelhaft=, da immerhin der Zweifel erübrigt,
ob der Arzt, der dieses sagt, den psychischen Zustand auch =richtig
aufgefasst= und nicht etwas =übersehen= und unberücksichtiget gelassen
habe, welches, wenn es gewürdigt worden wäre, doch Anwendbarkeit des
wissenschaftlichen Axioms auch =in diesem Falle= würde gestattet haben.

Es folgt daher, dass der Arzt verpflichtet ist und vom Richter eben so
sehr darauf =gedrungen= werden müsse, dass bei jeder =Behauptung= im
Befunde oder im Gutachten angegeben werde, ob sie blos die =Ansicht=
des begutachtenden =Arztes= enthalte, oder ein durch =objektive= und
durch =welche= objektive Beobachtungs-=Ergebnisse= vom untersuchenden
=Arzte= gewonnenes Resultat, oder ob sie ein entschiedenes Ergebniss
der =Wissenschaft= sei, und im letzteren Falle, =warum= die Behauptung
ein =Axiom= der Wissenschaft genannt werde, d. h. ob bereits
Schriftsteller, und welche, sie als ein solches Axiom betrachten, und
auf welcher, etwa für jeden Menschen zu beobachtenden, Erfahrung sie
beruhen.

Von der Richtigkeit der ersten Art von Behauptungen kann und muss
sich der Richter so viel möglich durch =eigene= Anschauung, von der
Richtigkeit der letzteren, im Falle des Zweifels, durch Einholung von
Fakultätsgutachten die Gewissheit verschaffen.


§. 50.

Der =dritte= Fall, wo ein ärztliches Gutachten über den Geisteszustand
eines Inquisiten benöthiget werden kann, tritt dann ein, wenn sich
nach geschlossener Kriminaluntersuchung und nach bereits erflossenem
Urtheile Spuren von Verrücktheit an dem Inquisiten zeigen.

Da ein Verrückter den Sinn eines Strafurtheiles aller
Wahrscheinlichkeit nach nicht =auffassen=, eben so wenig aber in dem
Uebel, welches ihm zugefügt wird, eine =Strafe= erkennen kann, ja sogar
das Uebel der Strafe auf seinen Zustand nachtheilig wirken könnte, so
verordnet das österreichische Strafgesetzbuch §. 445, I. Theil, „dass
in diesem Falle die Kundmachung des Urtheiles zu unterbleiben habe, bis
der Verrückte wieder zur Vernunft gelangt ist.”

Aus diesen Worten des Gesetzes ergibt sich daher, dass die ärztliche
Untersuchung hier lediglich eine =pathologische= sei, und der Ausspruch
daher nichts weiter, als die auf pathologische Gründe gestützte
Erklärung enthalten dürfe, der Inquisit =sei verrückt=, oder er sei
=wieder genesen=.

Nur in dem Falle wäre seine =Pflicht=, in seinem Ausspruche =weiter=
zu gehen, wenn ihm etwa aus sonstigen Daten die Möglichkeit auffiele,
dass dieser Zustand auch schon =früher= vorhanden und =auf die That=
von Einfluss gewesen sei. -- Eine solche Bemerkung müsste ausdrücklich
gemacht werden, um dem Richter als Anhaltspunkt zur weitern Erhebung zu
dienen.

Es scheint daher der Tendenz des Gesetzes vollkommen gemäss, dass der
Richter durch Mittheilung der nöthigen Aktenstücke an den Arzt sich
die Gewissheit verschaffe, dass =kein= solches Bedenken obwaltet, weil
im Falle der =Begründung= eines solchen Bedenkens das Urtheil selbst
nothwendig eine Abänderung erleiden müsste.



B. Beim Civilverfahren.


§. 51.

Der Zweck der Erhebung des Irrsinnes im =Civilverfahren= ist ein ganz
anderer als jener im Strafverfahren, denn hier handelt es sich in der
Regel nicht darum, in welchem Verhältnisse die Vorstellungsthätigkeit
zu einer =bestimmten= äusseren Thätigkeit stehe, sondern lediglich
=darum=, ob man einem Menschen, =ohne ihn der Gefahr auszusetzen, dass
er sich oder einem Anderen= an der Person oder an bürgerlichen Rechten
=Schaden zufüge=, seiner Freiheit überlassen könne.

Eine Ausnahme von dieser Regel bildet lediglich der Fall, wo es sich
darum handelt, einen bestimmten =rechtlichen Akt= als =ungiltig= zu
erklären, =weil= er in einem Zustande Statt hatte, von welchem es
glaublich ist, dass der Handelnde nicht genau wusste was er that.

Es ergibt sich daher, dass es sich in einem solchen Falle der ersteren
Art lediglich um die Frage handelt: besitzt der Mensch jene Richtigkeit
der geistigen Funktionen, welche man bei Denjenigen voraussetzt,
denen vermöge der gesetzlichen Bestimmung die Verwaltung ihrer Rechte
freigestellt ist? -- Also diejenige =Ueberlegung= und =Beurtheilung=,
welche dort, wo das Gesetz etwa das Alter von 24 Jahren als jenes der
bürgerlichen Freiheit festsetzt, einem =minder= begabten, jedoch nicht
=schwachsinnigen= Menschen in diesem Alter zukommt.

Da es sich hier nun nicht darum handelt, dem zu Untersuchenden =ein
Uebel= zuzufügen, sondern im Gegentheile ihn =gegen= ein Uebel, das
er sich selbst oder Anderen zufügen könnte, zu =bewahren=, so wird
auch die Erhebung nicht mit jener =Strenge= durchzuführen sein, wie
beim =Strafverfahren=, sondern es wird in der Regel genügen, wenn
nur =eine= oder die andere =unmotivirte Thatsache= vorliegt und durch
ein =ärztliches= Gutachten nachgewiesen wird, dass =das Motiv= dieser
Thatsache, wenn auch nur =theilweise=, in einer =Geisteszerrüttung=
liege.

Ja es wird auch genügen, wenn der Richter nach genauer Untersuchung
mehrere Thatsachen entdeckt, welche =unmotivirt= und von
=nachtheiligem= Einflusse sind, sich aber durch den ärztlichen
Ausspruch die Ansicht, dass der Mensch geistesverwirrt sei, nicht
bestimmt =widerlegt=.

Nach dem für das Civilverfahren in Oesterreich geltenden Verfahren
des Gesetzes gehört auch der Ausspruch, ob ein Mensch für wahn-
oder blödsinnig solle gehalten werden, nach §. 273 des bürgerlichen
Gesetzbuches: „dass nur Derjenige dafür soll gehalten werden, welcher
nach genauer Erforschung seines =Betragens=, und nach Einvernehmung der
vom Gerichte =ebenfalls= hierzu verordneten Aerzte =gerichtlich= dafür
erklärt ist,” entschieden der Gerichtsbehörde zu.

Um übrigens in dieser Beziehung nicht schon Gesagtes zu wiederholen,
kann ich nur auf dasjenige verweisen, welches in meinem „Handbuche der
gerichtlichen Arzneikunde” im VIII. Hauptstücke der II. Abtheilung über
diesen Gegenstand bereits gesagt wurde.

       *       *       *       *       *

Zum Schlusse dieses Aufsatzes erlaube ich mir hier noch eine am
24. März 1843, Z. 11,500, ergangene Verordnung der hochlöbl. k. k.
niederösterr. Regierung aufzuführen, weil dieselbe ein Formular zur
Verfassung der Krankengeschichte irrsinniger Personen zum Behufe der
Abgabe in eine öffentliche Irrenanstalt enthält, welches sowohl an und
für sich für den Fall, als eine solche Abgabe vorkommt, als auch in
gerichtlich-medizinischer Beziehung von Wichtigkeit ist, weil dieses
Formular in der That die wesentlichsten Punkte enthält, welche in dem
Befunde bei einem solchen gerichtlichen Akte aufzunehmen kommen.

Diese Verordnung lautet folgendermassen:

Da sich der Fall so oft wiederholt, dass bei Ueberbringung eines
Geisteskranken in die öffentlichen k. k. Irrenanstalten ungenügende
und höchst mangelhafte Krankengeschichten einlangen, so fand sich
die Regierung veranlasst, ein Formular zur Ausstellung solcher
Krankheitsgeschichten zu entwerfen und in Druck legen zu lassen,
zur Vertheilung an die angestellten und praktischen Aerzte, welche
sämmtlich anzuweisen sind, sich die im Formulare enthaltenen
Fragepunkte bei Erstattung von Krankengeschichten, Behufs der
Ueberbringung eines Geisteskranken in eine öffentliche Irrenanstalt,
gegenwärtig zu halten.


    =Formular zur Ausstellung von Krankengeschichten geisteskranker
                Personen, Behufs ihrer Aufnahme in eine
                       öffentliche Irrenanstalt.=

  1. Name, Alter, Stand, Beschäftigung, Geburtsort und letzter
    Aufenthaltsort des (der) Kranken.

   2. Was für Krankheiten (Kinder-, Entwicklungs- und andere
    Krankheiten) überstand dieses Individuum bis zum Beginne dieser
    Geisteskrankheit? Hier sind auch die erlittenen Verletzungen,
    besonders die des Kopfes, anzumerken.

  3. Litt das Individuum früher schon an Irrsinn? Wie oft und wie
    lange war es schon in einer Irrenanstalt? Wie wurde es aus
    solcher entlassen[28]?

    [28] Bei gerichtlich-medizinischen Untersuchungen wird noch
      zu beantworten sein: wie oft und wie lange zeigte sich
      das Individuum auch ohne Statt gefundene Ueberbringung in
      ein Irrenhaus als irrsinnig, wie wurde es behandelt, wie
      endete der Zustand, und insbesondere: auf wessen Aussage
      gründen sich die diesfälligen Angaben?

  4. Hinsichtlich der disponirenden und veranlassenden Momente sind
    besonders noch folgende zu berücksichtigen:

    _a_) Physische Momente, als erbliche Anlage, wobei zu
      erforschen ist, welche Blutsverwandte des (der) Kranken an
      Irrsinn litten, oder noch leiden, körperliche Entwicklung,
      Geschlechtsleben, monatliche Reinigung, Schwangerschaften,
      Kindbetten u. s. w.[29]

      [29] Nach einer für das Land ob der Enns erlassenen,
          später näher bezeichneten ähnlichen Weisung ist
          sich auch über den Gesundheitsstand der Eltern
          im Allgemeinen, bezüglich des ersten Punktes,
          auszusprechen; in Betreff des zweiten und des vierten
          Punktes sind als besonders zu berücksichtigende
          Momente vorgeschrieben: der Vorgang bei der Geburt, mit
          Bedachtnahme der hierbei etwa erlittenen Verletzungen,
          spätere Misshandlungen, frühzeitige allzu grosse
          Anstrengungen, Erscheinungen bei dem Hervorkommen der
          Zähne, Ablagerung von Ausschlagsübeln, Onanie.

    _b_) Psychische Momente, als: Erziehung, Entwicklung der
      intellectuellen und moralischen Fähigkeiten, religiöse
      Tendenz, moralische Aufführung, Umgang mit Anderen,
      vorherrschende Neigungen und Lieblingsbeschäftigungen,
      Leidenschaften, häusliche Verhältnisse, die merkwürdigeren
      Lebensereignisse und der Einfluss, den diese auf das Gemüth
      und den Geist des (der) Kranken gehabt hatten[30].

      [30] Nach der vorerwähnten Verordnung sind insbesondere
          der Einfluss der Lecture, Schauspiele etc. auf eine
          etwaige Verbildung zu berücksichtigen.


  5. Wann und wie äusserten sich die ersten Spuren dieser
    Geisteskrankheit?

  6. Welchen Verlauf nahm diese Geisteskrankheit von ihrem ersten
   Auftreten bis zum Tage der Untersuchung? Welche abnorme
   Erscheinungen zeigten sich von physischer und psychischer
   Seite? Wodurch wurden Rückfälle und Verschlimmerungen, wenn
   solche Statt fanden, veranlasst[31]?

    [31] Nach obiger Verordnung Angabe der dem Ausbruche
        vorhergegangenen Ereignisse, namentlich jene, welche
        heftige Gemüthsbewegungen veranlasst haben.

  7. Wurde diese Geisteskrankheit schon ärztlich behandelt? Worin
   bestand diese Behandlung und was hatte sie für einen Erfolg?

  8. Was für ein Bild bietet diese Geisteskrankheit bei der
    gegenwärtigen Untersuchung dar? Hier sollen alle physischen
    und psychischen Krankheitssymptome[32], wie sie eine genaue und
    umfassende Erforschung entdeckt, aufgezeichnet werden.

    [32] Nach obiger Verordnung noch: Beweise, dass der Kranke
        Handlungen unternommen habe, welche ihm und Anderen
        hätten gefährlich werden können, dass diese jedoch in
        der Krankheit wirklich begründet, nicht aber Folgen
        zufälliger und vorübergehender Veranlassungen gewesen
        sind.

  9. Diagnostische Entwicklung und Benennung der speziellen
    Krankheitsform[33].

    [33] Nach der obigen Verordnung gehören insbesondere
        folgende Momente in diese und die folgende Nummer.
        9. Die wahrscheinlichen äusseren Bedingungen, welche bei
        vorhandener innerer Anlage die Krankheit erzeugen
        konnten. Hinsichtlich der äusseren Einflüsse ist
        einestheils auf die allgemeinen Einflüsse der Natur
        und Umgebung, z. B. atmosphärische Luft, Jahreszeit,
        Wohnort, Nahrung, Getränke, Bekleidung, Beschäftigung,
        Lebensart, Einwirkung von Giften, besonders betäubender
        Art, Missbrauch gewisser Arzneimittel, des Aderlassens,
        Purgirens oder der geistigen Getränke, endlich auf
        Unglücksfälle, häusliche Ordnung Rücksicht zu nehmen.
        10. Wann endlich eine ärztliche Behandlung der
        Krankheit Statt gefunden habe, welche Mittel, sowohl
        pharmaceutische als psychische, seit dem Ausbruche des
        Uebels und im ganzen Verlaufe desselben angewendet, wann,
        wie lange und unter welchen Bedingungen eine besondere
        Kurmethode versucht worden, welche Bändigungsmittel
        man benützt und welche Behandlung der Kranke von seinen
        Wärtern genossen habe.

  10. Eignet sich der (die) Kranke mehr für die Abtheilung der
    heilbaren oder für jene der unheilbaren Geisteskrankheiten, und
    worin besteht die Gefahr, die man für ihn (sie) oder für seine
    (ihre) Umgebung und öffentliche Sicherheit zu besorgen hat?

       *       *       *       *       *

Eine ähnliche Verordnung über die Verfassung der Krankengeschichte
enthält auch die obderennsische Regierungsverordnung vom 5. Oktober
1833, Z. 28,281, welcher noch folgende hierher gehörige Weisung
beigefügt ist:

Die Angehörigen des Irrgewordenen sind verpflichtet, alsogleich
nach dem Ausbruche der Krankheit die Anzeige hiervon bei der
gehörigen Ortsobrigkeit zu machen, widrigens hat in Gemässheit des
Strafgesetzbuches II. Theil, §. 140 (siehe mein „Systematisches
Handbuch” §. 106) die Strafe des Arrestes von drei Tagen bis zu
einem Monate einzutreten, je nachdem nämlich ein solcher Zustand
lange verhehlt worden war, oder aber dessen Folgen wichtiger und
nachtheiliger gewesen sind. Es liegt ihnen ferner ob, sobald der
herbeigerufene Arzt in Anbetracht der Ungewissheit eines guten Erfolges
der häuslichen Pflege die Unterbringung des Kranken in der Irrenanstalt
für räthlich erklärt, um ihre Vermittlung bei der obrigkeitlichen
Behörde anzusuchen, und die Anordnung des Arztes, gleichwie die
Verfügung der Obrigkeit genau zu befolgen. In solchen Fällen hat
demnach die Behörde, sobald die Angehörigen eines Irrgewordenen
dessen Unterbringung in die Anstalt verlangen, oder wenn selbe schon
an und für sich als nothwendig erscheint, das mit dem ärztlichen
Zeugnisse über die eingetretene Geisteszerrüttung, ferner mit der
Krankengeschichte und der ämtlich beglaubigten Haftungsurkunde zur
Sicherstellung der Verpflegsgebühren belegte diesfällige Ansuchen
schleunigst und nach voranstehender Weisung vollständig instruirt
an die k. k. Landesregierung einzusenden, als jede wahrgenommene
Nachlässigkeit geahndet werden soll.

Da es in jenen Fällen, in welchen der Kranke keine ärztliche Behandlung
genossen hat, unmöglich ist, eine vollständige Krankengeschichte
einzusenden, so hat der zeugnissausstellende Arzt die vorausgegangenen
Ereignisse, Umstände und Krankheitszufälle, so viel ihm möglich ist,
einzuholen, und den Zustand, in welchem er den Irren fand, genau zu
beschreiben; ist aber der Geisteskranke ein völlig Fremder, oder
nur weniger bekannt, dann soll =von Seiten der Behörde= mit jenen
Personen, die den Erkrankten zu kennen vorgeben und Einiges über seine
Verhältnisse auszusagen im Stande sind, ein Protokoll, welches die
nöthigen Aufklärungen über die vorwärts (bei der Krankengeschichte)
angedeuteten Punkte gewährt, aufgenommen und eingesendet werden, um
hierdurch die ausserdem unentbehrliche Krankengeschichte zu ersetzen.

Der zur Aufnahme in die Heilanstalt bestimmte Kranke ist, nachdem
der Irrenhausarzt das ihm zugekommene ärztliche Zeugniss sammt der
Krankengeschichte, die Versorgungsverwaltung aber den Zahlungsrevers
zur ferneren Benützung zurückbehalten hat, wenn es nöthig sein sollte
einer allgemeinen Säuberung seines Körpers zu unterziehen, und nach
Thunlichkeit mit reiner Leibwäsche so wie mit Kleidungsstücken in
hinreichender Menge zum fernern Wechsel zu versehen, und sobald
es geschehen kann auf die angemessenste Art und mit der nöthigen
Vorsicht an die Anstalt einzusenden. Dass er übrigens in den meisten
Fällen weder völlig frei noch in Ketten transportirt werden dürfe,
versteht sich in unserer Zeit wohl von selbst; eine feste Zwangsjacke
wird jedoch beinahe jederzeit den Zweck der Beschränkung vollkommen
erfüllen, und nur bei jenen, welche einen mächtigen Trieb zum
Entspringen äussern, dürfte das Anlegen einer einfachen Fussgurte
genügen.

       *       *       *       *       *

Mit Regierungsdekret von 5. Oktober 1833, Zahl 28,281, wurden die
Erfordernisse zur Aufnahme in das Linzer Irrenhaus bekannt gegeben.

Unter diesen Erfordernissen ist auch die Anordnung begriffen, dass
das Dasein des Wahnsinnes durch das Zeugniss =eines= Kreis-, oder
Bezirks-, oder Stadtarztes darzuthun kommt. Es wurden daher bisher
vorzüglich auf den Grund des Zeugnisses Eines Arztes die betreffenden
Individuen als irrsinnig anerkannt, in das Irrenhaus abgegeben,
folglich faktisch als irrsinnig erklärt. Allein dieser Vorgang
gewährt nicht die vollkommene Beruhigung, dass jeder Missgriff oder
jede Irrung hinsichtlich der Unterbringung eines Individuums in die
Irrenanstalt, ohne der Rechtlichkeit der die Zeugnisse ausstellenden
Aerzte nahe zu treten, hintangehalten werde, besonders, da oft die
vorgeschriebenen Krankengeschichten mangelhaft verfertiget sind oder
gar nicht beigebracht werden können. Dagegen wird durch die genaue
Beobachtung des §. 273 des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches die
grösstmöglichste Beruhigung verschafft, dass Niemand als irrsinnig
behandelt, daher in die Irrenanstalt abgegeben wird, welcher nicht
wirklich mit Wahnsinn behaftet ist, denn nach diesem für die Behörden
und für die Unterthanen verbindenden Gesetzbuche darf blos =Derjenige
als irrsinnig anerkannt und behandelt, folglich in einer Irrenanstalt
untergebracht werden, welcher von der kompetenten Gerichtsbehörde, nach
der vorausgegangenen Erforschung seines Betragens über Einvernehmen=
$zweier$ =Aerzte, als wahnsinnig erklärt wird=. Daraus folgt nun, dass
in der Regel die gerichtliche Irrsinnigkeitserklärung eines Individuums
=vorauszugehen= hat, bevor dasselbe in das Irrenhaus abgegeben werden
darf.

Die Regierung fand daher zum =Schutze der Freiheit und Ehre der
Personen=, so wie zur Hintanhaltung jedes Missbrauches laut Dekret
vom 10. Dezember v. J., Zahl 31,269, sich bewogen, die erwähnte
Regierungsverordnung vom Jahre 1833 dahin zu modifiziren, dass
die Aufnahme eines Individuums in das Irrenhaus =nur in dem Falle
bewilligt= werden wird, wenn von Seite der kompetenten Gerichtsbehörde
die Irrsinnigkeitserklärung desselben =erfolgt sein=, und diese
gerichtliche Verfügung sammt der Anzeige des =aufgestellten Kurators=
des Irrsinnigen dem Einschreiten der Unterbehörden um die Aufnahme in
das Irrenhaus beigelegt sein wird.

Wenn jedoch der Geisteskranke dergestalt in =Tobsucht= und =Raserei=
verfallen sollte, dass derselbe ohne Gefahr für die Lebens- oder
Eigenthumssicherheit überhaupt, oder nur seiner nächsten Umgebung,
nicht mehr länger bei seiner Familie, oder bei den Angehörigen,
oder in seiner Wohnung belassen werden kann, so wird auf das
Einschreiten der politischen Unterbehörden, insofern in demselben
diese mit Gefahr für die Umgebung verbundene Irrsinnigkeit von =zwei
Aerzten= bestätiget ist, =wegen Gefahr auf Verzug= die Aufnahme in
die Irrenanstalt =alsogleich=, jedoch nur =provisorisch= und blos
gegen dem bewilligt werden, dass die vorschriftmässige gerichtliche
=Irrsinnigkeitserklärung= der hohen Regierung bald thunlichst
=nachträglich= vorgelegt werde.

Um Missverständnissen vorzubeugen, wird ausgesprochen, dass unter dem
Ausdrucke: =Aerzte=, =keineswegs die Wundärzte=, sondern blos die
=Doktoren der Medizin= verstanden werden, weil nicht die Ersteren,
sondern die Letzteren berufen sind, über Geisteskranke ein Gutachten
abzugeben.

   (Cirkular des Kreisamtes zu Salzburg vom 15. Februar 1843, Zahl
      1485.)

       *       *       *       *       *

Aus diesen Verordnungen erhellt, dass von Seite der höheren Behörden
die Aufnahme in eine Irrenanstalt nicht nur als eine Sanitätsmassregel,
sondern auch in der Beziehung betrachtet wurde, dass nicht etwa ein
Individuum aus Böswilligkeit für irrsinnig erklärt und dadurch seiner
Freiheit verlustig werde.

So wie für das Land unter und ob der Enns, bestehen nun ähnliche
Verordnungen in allen Provinzen, in welchen Irrenhäuser bestehen,
es ist daher die Pflicht eines jeden praktizirenden Arztes, sich mit
den für die Provinz, in welcher er seine Praxis ausübt, bestehenden
Verordnungen bezüglich dieses Gegenstandes bei Zeiten bekannt zu
machen, um in einem vorkommenden Falle dieser Art keine Missgriffe zu
begehen.

Nachfolgende Verordnung, als von der Hofbehörde erflossen, ist in
allen österreichischen Staaten, mit Ausnahme der ungarischen und
siebenbürgischen Länder, giltig:

Zufolge Hofdekretes vom 28. August 1837, Zahl 4647, wurde sämmtlichen
Gerichtsbehörden aufgetragen, dass sie jedesmal, wenn eine Person als
wahn- oder blödsinnig erklärt wird, das Resultat der diesfälligen
über den Geisteszustand gepflogenen Amtshandlung, so wie den Namen
des Vaters, Vormundes oder gerichtlich bestellten Kurators des irr-
oder blödsinnigen Individuums der betroffenen Behörde, welcher die
Verwaltung des Irrenhauses oder der diesfälligen Anstalt, worin der
Wahn- oder Blödsinnige untergebracht wird, zugewiesen ist, unverweilt
bekannt geben sollen, um sogleich entnehmen zu können, wem die
Vormundschaft oder Kuratel anvertraut worden sei.

   (Band 19. der Provinzial-Gesetzsammlung für Oesterreich ob der
      Enns Nr. 105, Seite 172.)



IV.

Ueber die Erhebung zweifelhafter Gemüthszustände.

Allgemeine Bemerkungen.


§. 52.

Der bekannte italienische Dichter Graf _Alfieri_ erzählt aus seinem
Leben folgendes Ereigniss:

Er hatte in England eine sehr vertraute Bekanntschaft mit einem
Frauenzimmer, in welche er in der That sterblich verliebt war, wurde
auch durch dieses Verhältniss in ein Duell verwickelt, in welchem
er mit einer leichten Wunde davon kam, welches Duell jedoch einen
Ehescheidungsprozess zur Folge hatte, der öffentlich verhandelt und
daher in den öffentlichen Blättern besprochen wurde.

Man denke sich nun seine Empfindung, als ihm ein solches Blatt eines
Morgens zu Gesicht kam, in welchem die Liebesintriguen seiner Geliebten
dargestellt waren, woraus jedoch hervorging, dass nicht =er= darin die
Hauptrolle spielte, sondern dass diese bereits =vor= ihm von einem
Bedienten derselben besetzt war, und ihm also nur die Nebenrolle
zugetheilt gewesen sei.

Dennoch konnte er es nicht über sich gewinnen, sie zu verlassen; er
zog mit ihr auf den Kontinent, besuchte Italien, wurde von wüthender
Eifersucht geplagt, in der er ihr täglich die bittersten Vorwürfe
machte, und sie seiner tiefsten Verachtung versicherte, aber doch noch
immer bei ihr blieb.

In dieser Stimmung, die sein ganzes Wesen in eine fieberhafte Aufregung
versetzt hatte, liess er sich eines Abends von seinem Bedienten,
mit dem er nicht nur sehr zufrieden, sondern auch in einer Art von
Vertraulichkeit war, die Haare kräuseln. Unglücklicher Weise rupfte
ihn dieser ein wenig. _Alfieri_ sprang nun wüthend auf, ergriff den auf
dem Tische stehenden Armleuchter und warf ihn dem Bedienten zum Kopfe,
welcher dadurch glücklicher Weise nicht bedeutend verletzt wurde, und
nichts Anderes glaubte, als sein Herr sei toll geworden -- worin er in
der That nicht ganz unrecht gehabt zu haben scheint. -- Er rief daher
die anderen Domestiken gegen seinen Herrn zu Hilfe, welcher sich nun
mit dem Degen zur Wehre setzte, dabei aber doch so weit zur Besinnung
kam, dass eine Verständigung erfolgte, so dass der Vorfall ohne weitere
nachtheilige Folgen blieb.

Nehmen wir nun an, _Alfieri_ hätte seinen Bedienten todt geworfen oder
sonst schwer verletzt, oder einem seiner Domestiken den Degen durch
den Leib gerannt, so würde es zuverlässig nicht zu billigen sein, wenn
er so geradezu wegen Todtschlag oder wegen schwerer Verletzung wäre
verurtheilt worden, denn Jeder fühlt zuverlässig, dass hier etwas im
Mittel liegt, welches diesen Fall von andern Fällen der Tödtung oder
der Verwundung wesentlich unterscheidet.

Betrachten wir aber nun noch einen anderen Fall, welcher zuverlässig
noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts nicht zu selten war, den Fall
nämlich, wo Jemand, welcher der Erfindung der Goldtinktur auf der Spur
zu sein glaubte, sich zu diesem Ende Jahre lang in sein chemisches
Laboratorium verschloss, durch Nachtwachen, Einathmen schädlicher
Dünste u. s. w. seine Gesundheit zerrüttete, und durch die Aufregung,
in die ihn Hoffnung und Misslingen, und dann wieder die gewonnene,
nach seiner Meinung untrügliche Aussicht auf die baldige Lösung des
Problems versetzte, in jene Stimmung gerieth, in welcher dieser sein
Lieblingsgedanke zur fixen Idee wurde, zur Realisirung derselben fremde
Gelder durchbringt, so wird man schwerlich eine solche Handlung, wenn
sie auch zum Besten seiner Lieblingsidee geschah, für unsträflich
halten, denn es ist Jedem klar, dass, wenn auch die Lösung des Problems
die fixe Idee des Adepten war, er doch dadurch nicht gehindert war, die
Rechtswidrigkeit einzusehen, welche darin liegt, wenn Jemand ein Geld,
welches ihm zur Aufbewahrung übergeben war, anstatt es aufzubewahren,
zu irgend einem anderen Zwecke verwendet.

Dies ist in einem und in dem anderen Falle nun diejenige Ansicht,
welche sich jedem Unbefangenen so zu sagen von selbst darbietet; wenn
es sich jedoch darum handelt, diese Ansicht =aktenmässig= in einer Art
darzustellen, dass darauf ein richterliches Urtheil gegründet werden
könne, so begegnet man mancherlei Schwierigkeiten, denn es kann nicht
geläugnet werden, dass man im ersten Falle nicht sagen kann, _Alfieri_
sei krank gewesen, und dass man daher, wenn man Geisteskrankheit
als den einzigen Entschuldigungsgrund einer sonst sträflichen
That gelten lässt, es in der That schwer fällt, einen annehmbaren
Entschuldigungsgrund vorzubringen.


§. 53.

Nach meiner Ansicht liegt die Schwierigkeit, welche dieser Gegenstand
darbietet, jedoch weder in der Sache, noch in einer Insuffizienz der
ärztlichen Wissenschaft, sondern lediglich in der ganz heterogenen
Beschaffenheit der Rechts- und in der Arzneiwissenschaft, welche,
indem sie einen ganz verschiedenen Zweck auf ganz verschiedene Weise
verfolgen, so zu sagen aller Berührungspunkte und daher auch fast aller
Mittel sich zu verständigen entbehren, wodurch am Ende das Resultat
erzeugt wird, dass jede der beiden Wissenschaften ihre eigene, für
Diejenigen, welche die fremde Wissenschaft üben, ganz unverständliche
Sprache hat, dass der Jurist nur von dem Juristen, und der Mediziner
nur von dem Mediziner verstanden wird, und verstanden sein will, und
dass am Ende beide Theile sich auch dann nicht verstehen, wenn sie
wirklich Dasselbe sagen.


§. 54.

Der Grund dieser Erscheinung scheint nun insbesondere in Bezug auf den
in Frage stehenden Gegenstand in Folgendem zu liegen:

Jede Wissenschaft bedarf zu ihrem Zwecke gewisser Eintheilungen, und
zwar um so nöthiger, je reicher und je mannigfaltiger der Gegenstand
ist, den sie behandelt. Diese Eintheilungen sind nun selbst auch
dann, wo es sich blos um Gegenstände handelt, welche die Natur
darbietet, nicht immer durch die Natur der Sache geboten, wie z. B. der
Unterschied zwischen Thier und Pflanze, sondern sie sind der leichteren
und besseren Uebersicht wegen, welche der =Zweck der Wissenschaft
fordert=, aufgestellt. Je nachdem daher eine Wissenschaft einen
verschiedenen Zweck verfolgt, wird auch eine verschiedene Eintheilung
und Zusammenstellung nothwendig werden; so können in einer Lehre über
die Gartenkunde, Rose und _Datura fastuosa_ neben einander stehen,
während sie in einer Pharmacopöe möglichst weit entfernt sein müssen.

Abgesehen daher von dem Umstande, dass bei keiner
Erfahrungswissenschaft mit den getroffenen Eintheilungen immer
ausgelangt werden kann, weil die Entdeckung neuer Spezies auch wieder
neue Eintheilungen erfordert, muss sich daher eine höchst bedeutende
Schwierigkeit in dem Falle ergeben, wo es sich darum handelt, die
Resultate der einen Wissenschaft zum Zwecke einer anderen anzuwenden,
deren Zweck ein ganz verschiedener ist, und daher solche Eintheilungen
der anzuwendenden Erfahrungen erfordert, welche Eintheilungen die
andere Wissenschaft nie gemacht hat, weil sie solche zu =ihrem= Zwecke
nie bedurfte.

Der Zweck der medizinischen Wissenschaften ist nun die Heilung von
Krankheiten; Seelenzustände kommen daher in derselben nur insofern in
Betrachtung, als sie Krankheiten oder Symptome von Krankheiten sind,
oder auf Verschlimmerung oder Behebung von Krankheiten influiren,
die =absolute= Bedeutung derselben, oder auch nur das Verhältniss, in
welchem sich Seelenzustände zu anderen Beziehungen des Menschen, z. B.
zur Moral, zum Rechte befinden, liegt offenbar nicht mehr im Bereiche
des Zweckes dieser Wissenschaft.

Bei der Rechtswissenschaft, insbesondere aber bei der Wissenschaft des
Strafrechtes, ist es gerade umgekehrt, denn hier kann es keinem Zweifel
unterliegen, dass der gesunde so wie der kranke Mensch die gleiche
Verpflichtung habe, sich von jeder Rechtsverletzung zu enthalten; es
kann somit hier nur zwei Fälle geben, in welchen ein Mensch, welcher
eine Thätigkeit ausgeübt hat, durch deren Folge er ein Strafgesetz
verletzte, von der Strafe verschont bleiben darf, nämlich, dass
nachgewiesen wird, es sei seine Thätigkeit eine solche gewesen, auf
welche sein Wille gar keinen Einfluss geübt hat (z. B. wenn Jemand von
einer Höhe herabfällt, und einen Anderen durch den Fall todtschlägt),
oder wenn nachgewiesen wird, dass er sich in einem Irrthume, d. i. in
einer solchen Gemüthsverfassung befunden habe, in welcher er wohl die
materielle Folge seiner Thätigkeit beschlossen hat, jedoch aus einer
dieselbe begründenden Vorstellung, welche, wenn sie richtig gewesen
wäre, die hervorgebrachte Folge als straflos erscheinen gemacht haben
würde, oder wenn diejenige Vorstellung, durch deren Vorhandensein die
Sträflichkeit der That eingesehen worden wäre, gänzlich mangelte. Ein
solcher Fall wäre etwa jener, wo Jemand in der Nacht in einer wegen
Räubereien übel berüchtigten Gegend von einem betrunkenen, jedoch sonst
nichts Böses im Schilde führenden Menschen angefallen wird, und in der
Meinung, er sei ein Räuber, welcher ihn angreife, diesen todtsticht.

Ist aber andererseits nachgewiesen, dass ein Mensch eine Wirkung
nur darum hervorbrachte, weil er =genöthigt= war, eine Thätigkeit
zu äussern, oder sonst eine Folge hervorzubringen, ohne mit seinem
Willen diese Aeusserung =hindern= zu können, oder, weil er in einem
Irrthume war, so ist es für die Straflosigkeit desselben in krimineller
Beziehung auch ganz gleichgiltig, =wodurch= er in diesen Zustand
gerieth, ob durch Krankheit oder durch einen anderen Zufall, denn
gegenüber von der hervorgebrachten Wirkung ist alles =Zufall=, was
nicht =Absicht= ist.

Da nun die medizinische Wissenschaft mit Recht die Seelenstörungen als
eine besondere Form der =Krankheit= betrachtet, so ist es klar, dass
dasjenige Merkmal, worauf es der Rechtswissenschaft ankommt, nämlich
ob die Seelenstörung in einem =bestimmten Falle= auf das bestimmte
Individuum so wirkte, dass es entweder sich in einer unwillkürlichen
Thätigkeit, oder in einem Irrthume befand, kein Gegenstand sei, zu
dessen Auffindung die medizinische Wissenschaft nach ihrem Zwecke
eine besondere Anweisung zu geben sich bestimmt finden könne, während
dadurch, dass sie einen bestimmten Gemüthszustand als =Krankheit=
erklärt, unmöglich dem richterlichen Bedürfnisse =genügt= werde.

Es ergibt sich daher, dass wenn, wie es oft geschieht, beide
Wissenschaften sich in der Beurtheilung eines konkreten Falles nicht
vereinigen können, das Hinderniss nicht darin liege, weil die Gränze
zwischen beiden Wissenschaften nicht scharf genug gezogen ist, sondern
dass man vielmehr bekennen muss, diese beiden Wissenschaften seien,
nach der Art und Weise wie die Sache gewöhnlich betrieben wird, noch
gar nicht in der Richtung, in welcher sie aneinander gränzen können, da
sie überhaupt nicht in gleicher Richtung laufen.


§. 55.

Um nun eine gleiche Richtung zwischen dem Laufe zweier mechanischen
Grössen zu bewirken, muss man einen festen Punkt aufgefunden haben, auf
welchen man fussen kann. Eben so geht es, wenn man eine Linie aufsucht,
in welcher zwei Wissenschaften sich berühren können.

Der Punkt, auf welchen im gegenwärtigen Falle beide Theile fussen
können, ist hier offenbar das =positive= Gesetz selbst, denn indem
man sich, und zwar in der Art wie das Gesetz es andeutet, auf den von
demselben gegebenen Standpunkt stellt, sieht man genau die Richtung,
welche die Forschungen beider Wissenschaften nehmen müssen, um wirklich
nebeneinander zu bleiben, und sich nicht ins Unbestimmte zu verlieren.

Das österreichische Strafgesetzbuch ordnet hierüber Folgendes an:

§. 2. Daher[34] wird jede Handlung oder Unterlassung als Verbrechen
nicht zugerechnet:

  [34] Dieses =daher= bezieht sich auf die Stelle im §. 1, welche
      lautet: Zu einem Verbrechen gehört böser Vorsatz.

_a_) wenn der Thäter des Gebrauches der Vernunft gänzlich beraubt ist;

_b_) wenn die That bei abwechselnder Sinnenverwirrung zur Zeit da die
Verrückung dauerte;

_c_) in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen
Berauschung, oder =in einer anderen Sinnenverwirrung=, in welcher der
Thäter sich =seiner Handlung nicht bewusst war=, begangen wurde.

Da der Irrsinn den Menschen des Gebrauches der Vernunft beraubt, so
muss man daher dem Gesetze gemäss erklären, dass eine That im Irrsinne
verübt straflos sei, nicht aber lässt es sich sagen, dass eine That,
welche nicht im Irrsinne verübt ist, und ein Strafgesetz verletzt,
auch nothwendig ein Verbrechen sei, denn der Gesetzgeber beschränkt
die möglichen Fälle der Straflosigkeit =nicht= darauf, dass die That in
immerwährender oder abwechselnder Sinnenverwirrung, im letzteren Falle,
so lange der Anfall der Krankheit dauerte, geschehen sei (lit. _a_ und
_b_), sondern er nimmt noch einen =dritten= Zustand als möglich und als
hinreichenden Grund für die Entbindung von der Strafe an, nämlich =was
immer für eine Sinnenverwirrung= (wenn auch keine krankhafte), wenn
sie nur die Eigenschaft hatte, den Thäter, d. i. _a_) den Menschen,
welcher eine bestimmte That beging, _b_) in dem Augenblicke, wo er
sie beging, _c_) im Allgemeinen, oder _d_) in Bezug auf diese That des
Bewusstseins seiner =Handlung= zu berauben. -- Als ein Beispiel dieser
Art von Zustände führt der Gesetzgeber denjenigen Zustand an, welcher
als =volle Berauschung= allgemein bekannt ist.

Als ein Beispiel des Falles _d_) erlaube ich mir den Fall vorzuführen,
wo Jemand, der sich vor einer Kreuzspinne im hohen Grade ekelt, von
einem Andern, in dem Augenblicke als er gerade ein Messer in der Hand
hat, in der Art geneckt wird, dass ihm dieser ein solches Thier ins
Gesicht zu werfen sich anschickt, und dieser ihm in der Aufregung des
heftigsten Entsetzens einen Stich mit dem Messer beibringt.

Nur die in den mit _a_) und _b_) bezeichneten Punkten der obigen
Gesetzesstelle ausgedrückten Fälle werden sich als in das Gebiet
der Krankheit gehörend durchaus nach arzneiwissenschaftlichen
Grundsätzen beurtheilen lassen. Denn nur in diesen Fällen liefert
die Arzneiwissenschaft als solche die nöthigen Behelfe dahin, ob der
Krankheitszustand vorhanden ist oder war, und bestätigt zugleich den
Satz, dass dieser Krankheitszustand seiner Natur nach die Eigenschaft
habe, jede willkürliche Bestimmung für das mit dieser Krankheitsform
behaftete Individuum aufzuheben.

Frägt es sich aber, welche Zustände der Gesetzgeber in dem Punkte _c_)
noch ausser dem angeführten Beispiele der vollen Trunkenheit gemeint
haben könne, so lässt sich nur die bereits oben angeführte Antwort
dahin geben, dass darunter jeder Zustand zu verstehen sei, in welchem
der Mensch sich =nicht= seiner Thätigkeit, als einer von seinem Willen
abhängigen Aeusserung seiner Kraft, bewusst war, also z. B. der Zustand
des Traumes, eines heftigen, ohne Absicht auf die That von ihm in sich
erregten Affektes u. s. w.


§. 56.

Raserei, selbst ein hoher Grad von Wahn- oder Blödsinn, sind daher
keineswegs die einzigen, noch diejenigen Zustände, deren Erhebung so
wie bezüglich deren die Bestimmung des Verhältnisses der Strafbarkeit
eines Individuums in Rücksicht auf eine bestimmte That, besondere
Schwierigkeiten darbieten wird, auch sind derlei Zustände gewöhnlich
von so in die Augen fallenden Kennzeichen begleitet, dass es selbst
für einen Laien meistens nicht schwierig ist, in seiner Beurtheilung
hierin der Wahrheit sehr nahe zu kommen. Es wird daher der Arzt in
solchen Fällen vielfältig nichts Anders thun können, als die sich
dem Richter so zu sagen von selbst darbietende Ansicht der Sache auf
wissenschaftliche Prinzipien zurückzuführen, und zu bestätigen. (Siehe
hierüber den ersten Aufsatz in diesem Buche §. 4 und fg.)

Weit schwieriger ist jedoch die Aufgabe, wenn es sich darum handelt,
dass von einem Menschen ein Verbrechen begangen wurde, von welchem
entweder gar kein besonderer Krankheitszustand, oder doch kein
solcher sich erheben lässt, von welchem sich sagen liesse, dass er
unter diejenige Krankheitsform gehöre, welche als immerwährende oder
abwechselnde Sinnenverwirrung durch die Arzneiwissenschaft bezeichnet
werden, und wenn doch wieder andererseits Gründe vorliegen, welche es
zweifelhaft machen, ob wirklich das in Frage stehende Individuum nicht
unter einem Einflusse gestanden ist, welche seine Thätigkeit ohne den
Einfluss seines Willens bestimmte, wie z. B. der hier im §. 53 erwähnte
Fall.

Die Lösung einer solchen Aufgabe ist immerhin =schwierig=, aber
doch =nur= schwierig und nicht =unmöglich=, denn es lässt sich
ohne Ueberschätzung behaupten, dass umsichtiges und tiefes Studium
der menschlichen Natur, verbunden mit eigentlichen medizinischen
Kenntnissen, und umsichtige Erwägung der sich darbietenden
Verhältnisse, zur Lösung dieser Aufgabe führen müssen, ja es ist hier
noch der Vortheil vorhanden, dass derlei Zustände vielfältig durch
die Auffassung rein menschlicher Zustände sehr gründlich beurtheilt
werden können, während zur Beurtheilung eigentlicher Krankheitszustände
gerade nur diejenige beschränktere Zahl von Erfahrungen benützt werden
kann, welche die Pathologie geliefert hat. Es wird sich also, um hier
zu einem entsprechenden Resultate zu gelangen, weniger darum handeln,
wie man es anfangen soll, um über solche Zustände klar zu sehen, als
was zu geschehen habe, um die gewonnenen Resultate in einer solchen
Form darzustellen, welche deren Ergebniss für den richterlichen Zweck
brauchbar macht.


§. 57.

Richterlicherseits hat man sich die Lösung dieser Aufgabe nicht selten
dadurch erschwert, dass man von der Ansicht ausging, es müsse, um
Jemanden bezüglich einer bestimmten, als Verbrechen sich darstellenden,
That straflos zu finden, dargethan sein, dass sein subjektiver Zustand,
entweder überhaupt, oder im Augenblicke der verübten That =absolut=
unzurechnungsfähig war, oder mit anderen Worten, dass er in einem
solchen Zustande sich befand, in welchem er, -- er mochte nun was immer
verübt haben, für unzurechnungsfähig müsse gehalten werden.

Diese Ansicht ist nicht richtig, denn sie ist nicht nur nicht in
den Worten des Gesetzes enthalten (sieh §. 55 und den mit lit. _d_)
bezeichneten Fall), sondern sie lässt sich selbst nach psychologischen
Grundsätzen nicht rechtfertigen, denn selbst beim Wahnsinne befindet
sich der Mensch nicht in einem Zustande, der =alle= willkürliche
Bestimmung ausschlösse. Das Materielle der Handlung eines Wahnsinnigen
erscheint, wie bei einem Vernünftigen, willkürlich bestimmt, er wählt
unter den Mitteln zur Ausführung nicht selten nach ganz richtiger
Beurtheilung, er ist mit Einem Wort keine Maschine, die da getrieben
wird, sondern er ist und bleibt Mensch, d. i. ein sich selbst
nach Vorstellungen willkürlich bestimmendes Wesen, nur sind seine
Vorstellungen von anderer Beschaffenheit, als jene anderer Menschen, er
ist also nicht darum straflos, weil er absolut unzurechnungsfähig ist,
sondern weil man, wenn man in seine Ideen eingeht, entweder wirklich
findet, dass in der Art, wie er die Sache sieht, das Recht auf seiner
Seite ist, oder weil man sich zugesteht, dass man in das Chaos seiner
Gedanken nicht einzudringen vermag.

Indem man sich daher die Aufgabe so stellt, wie sie oben ausgedrückt
ist, spricht man einen Satz aus, den man in der Anwendung schon dadurch
als unhaltbar erklärt, dass noch keinem vernünftigen Kriminalrichter
eingefallen ist, einen Menschen, welcher ärztlich als wahnsinnig
erklärt ist, und der in diesem Zustande ein Verbrechen verübte, blos
darum in Kriminaluntersuchung zu ziehen, weil er bei Verübung des
Verbrechens mit zweckmässiger Wahl der Mittel zu Werke gegangen ist,
und dadurch kundgab, dass er allerdings in einem gewissen Grade einer
vernünftigen Ueberlegung fähig war.

Die Aufgabe der Erhebung muss daher anders und zwar in der Formel
gestellt werden: =Ist die hervorgebrachte Wirkung= (die That), sofern
sie gesetzwidrig erscheint, =eine Folge eines mit Willkür gefassten
Entschlusses über die ihm möglich gewesene Disposition mit seinen
Kräften, oder ist sie es nicht=? -- Denn ist einmal nachgewiesen, dass
ein Mensch unter den inneren und äusseren Umständen, unter denen er
sich befand, irgend eine Thätigkeit üben oder unterlassen =musste=, und
dass es ihm an Ueberlegung gebrach, einen =anderen= Entschluss fassen
zu können, als jenen, von dessen Vorhandensein die geübte Thätigkeit
zeugt, so hat er zwar nach den Gesetzen der menschlichen Natur, d.
h. nicht nach blos mechanischen Gesetzen, jedoch nicht als =freier=,
eines zwischen bös und gut unterscheidenden Vorsatzes wählender Mensch
gehandelt, dessen That ist daher keiner Zurechnung fähig, da ihr kein
=böser= Vorsatz zu Grunde liegt. (Siehe §. 20.)


§. 58.

Um nun das bisher Gesagte noch mehr zu begründen, sei es mir vergönnt,
einen Blick in das geheimnissvolle Getriebe der Tiefen des menschlichen
Geistes zu thun, und das dortselbst Wahrgenommene in dem Sinne und
zu dem Zwecke zu schildern, welchen ich mir im §. 5 dieses Aufsatzes
aufzustellen erlaubte. Dieses Befugniss glaube ich, obwohl Laie in
den medizinischen Wissenschaften in meiner Eigenschaft als Richter
hier um so mehr in Anspruch nehmen zu dürfen, als es sich hier um
Zustände handelt, welche, zu ihrer richtigen Auffassung, von dem =rein
menschlichen= Standpunkte aufgefasst sein wollen, ein Standpunkt,
welchen einzunehmen Niemand ausschliesslich, Jeder aber berufen ist,
welcher zu diesem Geschlechte zu gehören sich bewusst ist.


§. 59.

Es ist oben bei §. 10 und dem Folgenden der Unterschied zwischen
animalischen und den blos organischen Wesen angegeben worden, auch
wurde daselbst auf den Unterschied hingedeutet, welcher zwischen dem
Menschen und den übrigen blos animalischen Wesen obwaltet, und es
wurden insbesondere zwei Erscheinungen angeführt, welche blos bei
dem Menschen, sonst aber bei keinem animalischen Wesen zu gewahren
sind, nämlich Sprache und Handeln nach =Begriffen=, als vorzügliches
charakteristisches Merkmal der Menschheit aber die =Vernunft=, nämlich
die Anlage des Menschen zur Sittlichkeit dargestellt.

Betrachten wir nun aber auch die Verhältnisse, in welchen sich selbst
jene Anlagen des Menschen, welche er mit dem Thiere gemein hat, gegen
einander im Vergleiche mit dem Verhältnisse befinden, welches bei
Thieren obwaltet.

Der Mensch hat im Allgemeinen entschieden so viel mit dem Thiere
gemein, dass seine Lebensthätigkeit eine aktive, d. i. eine solche ist,
in welcher sich die Eindrücke der Aussenwelt nicht blos abspiegeln,
oder denselben blos mechanisch oder chemisch verändern, sondern dass
er gegen die äusseren Eindrücke einerseits reagirt, andererseits aber
gewisse äussere Eindrücke =bedarf=, ohne deren Vorhandensein sich die
=Lebensthätigkeit= selbst aufheben würde (Luft, Nahrung u. s. w.) und
dass die Befriedigung oder Hemmung der Lebensthätigkeit nach Aussen
mit einer eigenthümlichen Modifikation derselben verbunden ist, welche
sich durch die =Empfindung=, nämlich durch das Bewusstwerden des
Verhältnisses der Lebensthätigkeit zu dem äusseren Eindrucke kund gibt;
endlich dass die Empfindung ihrerseits seine Thätigkeit nothwendig in
eine entsprechende Bewegung setzt.

So weit kommt der Mensch mit dem Thiere überein, dessen verschiedene
Gattungen sich nach der Verschiedenheit der Vollkommenheit ihres
Organismus darin unterscheiden, dass sie zu einer grösseren oder
geringeren Zahl von Empfindungen, und in dieser Beziehung zu einem
mehr oder minder klaren Bewusstsein derselben, also zu mehr oder minder
zahlreichen und =lebhaften= Empfindungen geeignet sind.

Sehen wir aber weiter, so finden wir eine Erscheinung, welche den
Menschen wesentlich vom Thiere unterscheidet.

Diejenige Aeusserung der Lebensthätigkeit, welche der Empfindung
entspricht, der Trieb und nach den verschiedenen Arten der
Empfindungen, die Triebe, sind nämlich bei dem Thiere die =einzigen=
Motive seiner Thätigkeit gegen die Aussenwelt, und zwar in derjenigen
Unmittelbarkeit, in welcher die Aussenwelt auf die Lebensthätigkeit
wirkt.

Das Thier äussert sich nicht nur =durch= seinen Trieb, sondern
es äussert seine Thätigkeit =nicht ohne= seinen Trieb, und auch
nicht =anders=, als sein Trieb es fordert; hat es aber seinen
Trieb =befriedigt=, und hat dadurch das Motiv zur Aeusserung seiner
Thätigkeit zu wirken =aufgehört=, so äussert es dieselbe, wenigstens
in dieser Richtung, so lange =gar nicht mehr=, als sich der Trieb nicht
wieder einstellt.

Bei dem Menschen findet man nicht selten die entgegengesetzte
Erscheinung, wenigstens gibt es Leute genug, welche, wenn sie ihre
Triebe vollkommen befriedigt, oder wenn dieselben schon zu wirken
aufgehört haben, noch immer nach =Wiederholung= des die Befriedigung
dieser Triebe begleitenden =Genusses= streben. Diese Erscheinung, so
verwerflich eine solche Aeusserung in moralischer Beziehung ist, ist
doch eine zu charakteristische Abweichung von der Entwicklung der
blos =thierischen= Thätigkeit, um nicht in psychologischer Beziehung
gewürdigt zu werden, besonders da dieser Abweichung noch eine andere
entspricht, die Erscheinung nämlich, dass kein Thier einen =anderen=
Weg sucht seinen Trieb zu befriedigen, als den ihm von der =Natur=
gebotenen, der Mensch aber sich Genüsse =raffinirt=, ja sogar Genüsse
=erfindet=, welche oft =naturwidrig= sind, ja er bringt es sogar dahin,
und dieses ist der eigentliche Kulminationspunkt seiner Abweichung
vom Thiere in der Art und Weise der Befriedigung seiner Triebe, dass
er sich, wie z. B. die Opiumesser und Raucher, mit Zerstörung seiner
physischen Natur einen Genuss schafft, der =nur= in der Phantasie
besteht, und diesen sogar den reellen Genüssen =vorzieht=.


§. 60.

Das Thier lebt nur für seinen Trieb. Was seinen Trieb nicht berührt,
ist -- wenn es auch nicht ohne allen Eindruck auf seine Sinne bleibt --
doch für dasselbe so viel als gar nicht vorhanden. _Asinus ad lyram_
ist ein bekanntes Sprichwort, wenn man vollkommene Unempfindlichkeit
für irgend einen in die Sinne fallenden Gegenstand ausdrücken will.
Ebenso ist es unmöglich ein Thier zu etwas abzurichten, wozu es
nicht ein gewisser, entweder allen Thieren, oder ein seiner Gattung
eigenthümlicher Trieb leitet. Man kann einem Hunde, nicht aber einem
Kalb apportiren lehren, einen Falken, nicht aber eine wilde Gans zur
Jagd abrichten.

Andererseits sehen wir aber auch, dass das Thier dort, wo es seine
Triebe seiner organischen Natur gemäss entwickelt, auch =unmittelbar=
der Befriedigung entgegengehe, ohne sich durch irgend eine Vorstellung,
es müsste denn eine solche sein, welche einen noch stärkeren Trieb
aufregt, von der Befriedigung abhalten zu lassen. Das hungernde Thier
frisst, wo es etwas bekommt, und was es bekommt, wenn es seiner Natur
angemessen ist, es kennt nicht Ekel noch irgend eine Rücksicht, z.
B. auf das Bedürfniss Anderer u. s. w., höchstens die Aussicht auf
Züchtigung oder gewisse sympathetische Triebe, z. B. der Liebe zu den
Jungen, sind vermögend dieses Streben zu überwiegen.

Wir sehen aber auch, dass der Trieb eines Thieres, wenn er einmal eine
gewisse Stärke erreicht hat, =jede= andere Vorstellung überwiegt. Der
gezähmte Wolf verschont, wenn er hungert, seinen Herrn nicht mehr,
der läufige Hund ist durch keine Züchtigung abzuhalten der möglichen
Befriedigung nachzulaufen u. s. w.


§. 61.

Ganz anders verhält sich die Sache bei dem =Menschen=.

Wir sehen hier die verschiedenartigsten Entwicklungen bei einem
im Wesentlichen gleichen Organismus, denn es ist bekannt, dass die
Verschiedenheit der organischen Beschaffenheit zwischen einem normalen
Menschen und einem (nur nicht verkrüppelten) Dummkopf beinahe Null
ist, im Vergleiche mit der ungeheuren Verschiedenheit zwischen irgend
einem Menschen und irgend einem Thiere, und eben so sehen wir, dass
es beinahe keine Anlage gibt, in welcher ein Mensch etwas geleistet
hat, in welcher nicht auch =jeder Andere etwas= leisten könnte. Es
ist freilich ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Gemälde eines
_Raphael_ und einem Fratzengesichte, welches irgend ein Stümper, der
nichts besseres zu Wege bringt, an eine Wand mit Kohle hinzeichnet,
allein Beide kommen doch darin überein, dass zu beiden die Gabe
der Nachahmung gehört, ohne welche es unmöglich bleibt auch nur ein
Fratzengesicht aufzuzeichnen.

Dass endlich der Mensch im Stande sei, seine stärksten Triebe, ja
selbst jenen der Erhaltung seines Lebens, einer Vorstellung zu opfern,
ist eine Thatsache, deren Exemplifikation sich Jeder aus seiner
geschichtlichen Erinnerung zu geben vermag.


§. 62.

Noch auffallender ist der Unterschied in der Art und Weise, wie der
Mensch der Befriedigung gewisser Triebe entgegengeht, und hier tritt
insbesondere die Aeusserung des Geschlechtstriebes entgegen.

Das Thier geht hier mit der entschiedensten Unmittelbarkeit zu Werke,
es sucht sich ein Geschöpf seiner Gattung und befriedigt damit seinen
Trieb mit Gewalt, wenn das andere die Befriedigung nicht gutwillig
gestattet, und kümmert sich auch nicht darum, ob es dem anderen
angenehm oder unangenehm ist, wie man dieses beim Hornvieh sehen kann,
wo es sich ereignet, dass ein schwerer Stier einer Kuh das Rückgrath
abdrückt, und er doch von seiner Bemühung nicht eher ablässt, als bis
sie am Boden liegt und nicht mehr aufstehen kann.

Bei dem naturgemäss Entwickelten, d. h. weder in stumpfer Roheit
aufgewachsenen, noch moralisch verdorbenen Menschen ist die
erste thätige Aeusserung des erwachenden Geschlechtstriebes die
Geschlechts=liebe=, welche sich aber oft so sonderbar äussert,
dass man Mühe hat, die =wahre= Veranlassung in ihren Aeusserungen
aufzufinden. Nicht selten geschieht es, dass beide Theile gar nicht
daran denken, dieses Motiv als die Veranlassung ihrer wechselseitigen
Zuneigung zu vermuthen; man nennt das Gefühl, welchem man sich
hingibt, Freundschaft, Hochachtung, und sucht die Zuneigung des anderen
Gegenstandes auf jede andere Weise eher, als auf diejenige zu gewinnen,
welche das bezeichnete Motiv klar an den Tag legte.

In der That lässt sich auch nicht verkennen, dass durch diese Art
und Weise, wie sich der erwachende Geschlechtstrieb in vielen Fällen
ausspricht, der Entwicklung des Sittlichkeitsgefühles vortrefflich
gedient ist, denn der Mensch lernt Selbstbeherrschung und aufopfernde
Hingebung dadurch mehr und besser üben, als er bis dahin noch
wahrscheinlich in den wenigsten Fällen Veranlassung hatte, er
fühlt sich selbstständig, weil er nicht mehr blos seinen eigenen
Empfindungen, sondern für ein anderes Wesen zu leben fühlt.

Diese Art der Aeusserung des Geschlechtstriebes ist aber auch die,
jedem unverdorbenen Menschen natürliche, weil sie sich in der That
bei jedem unverdorbenen Menschen findet, wo sie sich aber findet, es
unverkennbar ist, dass der Mensch gerade in dieser Art Entwicklung
seines Wesens vielleicht die grösste Seligkeit empfindet, deren er auf
Erden fähig ist, es ist das Paradies der Unschuld; ehe sie zum vollen
Bewusstsein erwacht ist, denn in diesem Zustande, wo der Mensch Alles,
was sein durch den erwachenden Trieb aufgeregtes Lebensgefühl Schönes
und Erhabenes in seiner Phantasie erzeugt, auf den geliebten Gegenstand
überträgt, ist ihm dasjenige goldene Zeitalter gegeben, in welchem die
Gottheit noch sichtbar auf Erden wandelte. Es ist freilich ein Traum,
dem Erwachen folgen muss, allein so viel ist gewiss, wenn die Liebe
einmal sieht, so hat sie aufgehört =Liebe= zu sein.


§. 63.

Diese Thatsachen, deren Wahrheit zu tief in dem menschlichen
Gefühle gegründet ist, als dass man sie im Ernste bezweifeln könnte,
wären nun entschieden unmöglich, wenn der Mensch gleich dem Thiere
lediglich auf eine seinen Trieben unmittelbar entsprechende Thätigkeit
angewiesen wäre, sie beweisen vielmehr[35], und zwar sowohl in ihrer
verderblichen, als in ihrer den sittlichen Zustand befördernden
Erscheinung, dass die Lebensthätigkeit des Menschen so konstituirt
sei, dass die Thätigkeit des Organismus desselben von dessen
Vorstellungsthätigkeit bedeutend =überwogen= werde, und dass daher
das eigentliche Leben des Menschen ein =geistiges=, ein =Leben in der
Vorstellungsthätigkeit= sei.

  [35] Hätte der Mensch Kunsttriebe gleich den Insekten, so wäre
      es mit allen Werken des menschlichen Geistes vorbei, denn er
      müsste dann seinen Kunsttrieben obliegen und könnte nicht
      mehr und nicht weniger leisten, als eben sein Trieb ihm
      eingibt, da er eben ein Trieb ist und somit alles Nachdenken
      ausschliesst. Man würde produziren wie man schläft, von
      selbst, ohne sich im Mindesten um das =Wie= zu bekümmern.

Diese Wahrheit findet sich aber auch bestätigt, wenn man den
=Organismus= des Menschen selbst betrachtet.

Der bei dem Menschen, im Vergleiche mit allen Thiergattungen, am
meisten ausgebildete Theil ist das =Nervensystem=, also gerade
derjenige organische Theil, welcher der Vorstellungsthätigkeit
zuverlässig am =nächsten= steht, dagegen aber gibt es kein einzelnes
Sinneswerkzeug eines Menschen, welches nicht von jenem einer bestimmten
Thiergattung =übertroffen= würde. -- Alle Sinneswerkzeuge eines normal
organisirten Menschen sind aber wieder so beschaffen, dass sie, wie
bereits im §. 61 bemerkt wurde, nicht nur einer Ausbildung fähig sind,
welche jener der hierin am besten begabten Thiergattungen =nahe= kommt,
sondern dass diese Ausbildung einzelner Sinne ohne =Nachtheil=, ja
sogar mit gleichzeitiger Entwicklung auch der =übrigen= Sinne Statt
finden kann. Als Beispiel möge der feine Geruch- und Gehörsinn der
Wilden und der hohe Grad von Gelenkigkeit dienen, welchen die Jugend
unserer Zeit in orthopädischen Instituten etc. erwirbt, ohne dass man
noch ein Beispiel erlebte, dass ein Jüngling, dessen Körperkräfte auf
diese Art entwickelt wurden, dadurch an irgend einem Sinne oder gar in
seinen =geistigen= Funktionen schwächer geworden sei, wohl aber dürfte
es eben nicht schwer sein, Beispiele vom Gegentheile aufzufinden[36].

  [36] Man eifert sehr gegen die materiellen Tendenzen unseres
      Zeitalters. Ich lasse es natürlich dahingestellt sein, ob es
      vernünftig ist, gegen die Tendenz des Zeitalters zu eifern,
      da das Zeitalter selbst sich um unseren Tadel oder unser
      Lob nicht bekümmert, und man überhaupt über die Richtung, in
      welcher man =fährt=, immerhin etwas schwer urtheilen kann,
      wenn man selbst im Wagen sitzt. Dreierlei Wahrheiten, die
      denn doch nicht ganz unvorteilhaft für die Sittlichkeit des
      Zeitalters zeugen, sind jedoch in eben diesem materiellen
      Zeitalter zum Bewusstsein der Menschen gelangt, an deren
      zwei man früher nicht dachte, die dritte aber fast vergessen
      hatte. -- Die ersten sind die Nothwendigkeit des Strebens
      nach Mässigkeit (Mässigkeitsvereine) und der Abstellung der
      Thierquälerei, die letzte die Erkenntniss, dass auch der
      Körper des Menschen entwickelt werden müsse, wenn der ganze
      Mensch etwas taugen soll. -- In diesen drei Wahrheiten liegt
      nach meiner unmassgeblichen Meinung ein besseres Zeugniss
      für die Moralität des gegenwärtigen, und eine Hoffnung für
      die künftigen Jahrhunderte, welche eine bedeutende Dosis
      Weltschmerz -- die gerechte Geissel Derjenigen, welche
      den Egoismus des gegenwärtigen Zeitalters repräsentiren --
      aufwiegt. -- „Das Leben,” sagt _Jean Paul_, „ist eine bittere
      Frucht, man greife es nur mit Presse und Zange an und es hat
      den süssesten Kern.”

Ebenso begegnet man der Erfahrung, dass der Mensch im Stande ist,
die Thätigkeit der am meisten in gewissen Beziehungen begabten
Thiere, sofern ihre Organe, wie etwa jene der Insekten, nicht gar zu
verschieden sind, beinahe zu erreichen, nicht einmal der Biegsamkeit
der menschlichen Stimme zu gedenken, durch welche er vermag, die Laute
der Thiere, vom Miauen der Katze bis zum Schlag der Nachtigall, oft
täuschend nachzuahmen, eine Fähigkeit, welche, im Vorbeigehen gesagt,
nicht wenig zur Bildung der menschlichen Sprache beigetragen haben
mag, sobald einmal der Mensch das Bedürfnis fühlte, seine Vorstellungen
Anderen mitzutheilen.

Mit dieser Bildungsfähigkeit aller Organe des Menschen ist es nun
entschieden nicht zu vereinbaren, dass ein einzelnes Organ die
übrigen überragte, denn wäre dieses der Fall, so könnten wir nicht
=willkürlich= das eine oder das andere der menschlichen Organe in so
hohem Grade ausbilden, wie es wirklich geschieht. Es folgt daher,
dass die Organe des Menschen und daher auch die ihren Aeusserungen
entsprechenden Triebe so im =Gleichgewichte= stehen, dass der Mensch
nicht zur Entwicklung gewisser =einzelner= Triebe bestimmt sei, sondern
seine Bestimmung in dem =Resultate= der Kombination seiner Triebe durch
die =Vorstellungs=thätigkeit liege.

Bei keinem =Thiere= finden wir endlich die Erscheinung des =Wahnsinns=,
wir finden sie aber bei dem =Menschen=, und zwar insbesondere in jenem
Falle, wo irgend eine Funktion (z. B. die Geschlechtsfunktion bei dem
_furor uterinus_) eine übermässige Stärke erlangt, und also ein Theil
des menschlichen Organismus aus seiner coordinirten Stellung zu den
übrigen heraustritt. Dennoch dürfte der bei dem Furor erregte Trieb an
Stärke schwerlich jenem, welchen ein Thier zur Brunstzeit empfindet,
gleichkommen[37].

  [37] Hat man schon die Erscheinung des Wahnsinnes bei einem Kinde
      gefunden? Ich bin nicht sachverständig genug, um diese Frage
      zu beantworten, doch erinnere ich mich nie, von einer solchen
      Erscheinung gehört zu haben.

Es erhellt daher, dass ohne gänzliche Zerrüttung des menschlichen
Sein's die Beschaffenheit keines =einzelnen= Organes sich so gestalten
kann, dass es sich zum Triebe in der Weise entwickle, wie dieses bei
dem Thiere der Fall ist, und dass daher selbst der physische Organismus
des Menschen so eingerichtet ist, dass alle dessen einzelne Theile
in einem, der Bestimmung des Menschen, ein =geistiges= Leben zu
führen, entsprechenden Verhältnisse stehen, welches Verhältniss, wo es
gestört ist, jedenfalls eine Anomalie, entweder durch eine fehlerhafte
ursprüngliche Anlage oder durch den Zustand der Krankheit, bildet.


§. 64.

Bereits bei §. 32 wurde der Satz ausgesprochen, dass der Mensch in
seiner irdischen Laufbahn nur =ein= Wesen, d. i. ein vollkommenes in
allen seinen den verschiedenen Aeusserungen desselben entsprechenden
Anlagen innig verbundenes =Ganzes= sei, ja dass die Annahme von
verschiedenen Anlagen =desselben= Menschen nicht in der objektiven
Beschaffenheit des =Subjektes=, sondern nur in der subjektiven
Vorstellung des =Beobachters= desselben gegründet sei, welcher, um
sich die Uebersicht des Ganzen zu erleichtern, gewisse Abstufungen
festsetzen muss.

Aus dieser Ansicht folgt nun auch die Nothwendigkeit, den Satz, an
dessen Richtigkeit übrigens ohnehin Niemand zweifelt, hier besonders
auszusprechen, dass auch =kein einzelnes= Organ des Menschen ein
=für sich= bestehendes Ganzes, sondern nur immer ein Theil jenes
Wesens sei, welches wir =Mensch= nennen, und sich daher nur für den
=dritten= Beobachter als ein =Theil= jenes Wesens ausspricht, weil
es eine besondere Verrichtung übt, welche nur =dieses=, nicht aber
ein anderes Organ zu leisten im Stande ist. -- Nur das Auge übt die
Funktion des =Sehens=, nur das Ohr jene des =Hörens=, allein es lässt
sich nicht sagen, das =Auge= sieht, oder das =Ohr= hört, sondern, wenn
man nicht figürlich sprechen will, so muss man sagen: der =Mensch=
sieht =mittelst= des Auges, der Mensch hört =mittelst= des Ohres u. s.
w., welches mit anderen Worten so viel sagen will, als: er entwickelt
Vorstellungen, die einer Empfindung entsprechen, welche in dem
Angeregtwerden durch äussere Eindrücke =mittelst= des Auges, des Ohres
u. s. w. entstanden sind.

Jeder mögliche =neue= Eindruck, welchen der Mensch durch die
Sinne erhält, trifft nun auf =alle= durch die früheren Eindrücke
veranlassten, noch =vorhandenen= Vorstellungen, und bildet mit diesen
ein =neues= Ganzes, wodurch daher in dem ganzen Wesen des Menschen
nothwendig eine =Veränderung= entsteht.

Diese Veränderung gibt sich nun durch jene Erscheinung kund, welche wir
=Ideenassociation= nennen, und bezüglich deren uns die Erfahrung lehrt,
dass jeder Eindruck, dessen sich der Mensch bewusst wird, somit jede
Empfindung eine =eigene= Ideenassociation zur Folge hat.

So richtig diese Erfahrung ist, so wenig darf man sich dadurch
verleiten lassen, diese Erscheinung als etwas =Selbstständiges= zu
betrachten, sondern sie ist, von Fall zu Fall, eine Wirkung der
=Gesammtthätigkeit= eines Menschen, auf welche jedes =einzelne=
(physische) =Organ= so gut seinen Einfluss hat, als auf die entstandene
Empfindung selbst. Der etwa an Kopfschmerzen leidende Mensch empfindet
bei dem Lärme einer Trommel etwas Anderes, als der Gesunde, der blosse
Anblick einer Trommel wird ihm daher eine andere Ideenassociation
erregen, als wenn er gesund wäre u. s. w.

Die Richtigkeit dieser Ansicht ergibt sich aber noch mehr daraus,
wenn man erwägt, welche =Rückwirkung= die Ideenassociation auf die
physischen Organe hat, denn es gibt bekanntlich Nachrichten, die im
Stande sind, einen Gesunden krank und einen Kranken gesund zu machen.
Es ergibt sich daher, dass es sehr irrig wäre, anzunehmen, dass
an der Ideenassociation nicht auch die =körperlichen= Organe ihren
wesentlichen Antheil haben, dass daher die =Ideenassociation selbst=,
wie jeder andere Zustand, eine Veränderung im =Gesammtleben= des
Menschen sei.

Hieraus ergibt sich nun der weitere Satz, dass bei jedem Eindrucke,
welchen der Mensch erfährt, sich eine =doppelte= Wirkung in Bezug auf
das Individuum als Ideenassociation aussprechen wird, nämlich nach der
Art und Weise, wie er das =Organ= affizirt, welches denselben aufnimmt,
und auf welche =Disposition des Gesammtlebens=, d. i. auf welche
allgemeine =Stimmung= er in dem Augenblicke trifft, als er aufgenommen
wird, insbesondere aber, welche =Vorstellungen= bei seinem Eintritte
bereits =vorhanden= oder auch =nicht= vorhanden sind[38].

  [38] Die Ideenassociation ist eines der wichtigsten Momente,
      welche auf die Stimmung des Menschen einwirken, allein es ist
      nicht das =einzige=, denn ausser dem Zustande der Krankheit
      können physische Eindrücke vorhanden sein, welche einen
      mächtigen Einfluss auf die allgemeine Stimmung ausüben, ohne
      dass es der Mensch gewahrt. Manche That, im Zorne verübt,
      würde unterblieben sein, wenn sich das Subjekt statt in einem
      von Tabakqualm erfüllten Lokale in freier Luft befunden
      hätte. -- Wo es sich also um Erforschung der Stimmung
      eines Menschen zur Ausmittlung des Umstandes handelt, ob er
      zurechnungsfähig war, müssen =alle= Umstände, daher auch
      solche =Neben=umstände berücksichtigt und bezüglich ihres
      Einflusses gewürdiget werden, welche auf die Stimmung der
      physischen Organe von Einfluss waren.

Da sich nun die Handlungsweise des Menschen nach diesen beiden
Momenten, nämlich nach der Beschaffenheit des wirklich vorhandenen
äusseren Eindruckes und nach der Stimmung richten kann, in welcher
er aufgenommen wird, so ergibt sich, dass, um das Verhältniss
der Handlungsweise zu einem dritten Gegenstande, z. B. zu einem
Strafgesetze, zu beurtheilen, es unumgänglich nothwendig ist, über die
=Stimmung= des Menschen in dem =Augenblicke=, als irgend ein =äusserer
Eindruck= eine gewisse Handlungsweise bei ihm hervorbrachte, im Klaren
zu sein, um dadurch die Gewissheit zu erlangen, welche Vorstellungen
auf seine Thätigkeit wirkten, und welche etwa bei einem Andern gewirkt
hätten, bei diesem Individuum aber =nicht= vorhanden waren.

Zur Ausmittlung dieses Verhältnisses ist nun insbesondere die
Betrachtung gewisser Gemüthszustände vom objektiven Gesichtspunkte
geeignet.

Ich erlaube mir zu diesem Ende über folgende Gemüthszustände, nämlich
über

         =Affekte= und =Leidenschaften= und =Schwärmerei=

Einiges zu sagen, Zustände, welche in der Regel nicht unter die
Krankheiten gehören.

Dieser Darstellung folgen einige Bemerkungen über Blödsinn und
Dummheit, weil diese Zustände nur zum Theile in die Kategorie von
Krankheiten gehören.

Diesen folgen einige Worte über einige wirkliche krankhafte Zustände,
nämlich _monomania_ und fixe Idee, ferner Melancholie und _mania
occulta_, weil, ungeachtet diese Zustände zu den entschieden
krankhaften gehören, es doch in einzelnen Fällen zweifelhaft sein kann,
ob und wiefern ihr blosses Vorhandensein die Strafbarkeit in Bezug
auf eine bestimmte That aufzuheben geeignet sei; endlich Einiges über
verstellte Gemüthszustände und Berauschung.

Bei jedem dieser Zustände habe ich mich bemüht, so viel es mir möglich
war, die besondern Modificationen anzugeben, welche der juridische
Zweck einer solchen Erhebung erfordert, um zu einem, dem Zwecke dieser
Erhebung entsprechenden Resultate zu gelangen, welcher Darstellung
sodann einige im gleichen Sinne gesprochene Worte über verstellten
Wahnsinn und über den Hang zu gewissen Verbrechen folgen.



A. Affekte.


§. 65.

Das Wort Affekt, zu deutsch =angeregt sein= (nicht Anregung), bedarf in
diesem allgemeinen Sinne keiner Erklärung. Gewöhnlich wird es jedoch in
einem engeren Sinne genommen, wo es das spezielle, sich durch gewisse
Aeusserungen kund gebende =Angeregtsein eines bestimmten Triebes=,
eines animalische Wesens bezeichnet, wo dann dieser Begriff durch die
Benennung der Aeusserung der Empfindung des in solcher Art angeregten
Individuums näher bestimmt wird. Man unterscheidet auf diese Art einen
Affekt des Schreckens, des Zornes, der Furcht, der Freude etc.

Es wäre nun wohl eine vergebene Mühe, die charakteristischen
Merkmale aufzusuchen, wodurch sich die einzelnen Affekte von einander
unterscheiden, denn Jedem steht frei, die Zahl dieser Benennungen
nach Gutdünken zu vermehren oder zu vermindern, die Wissenschaft,
wenigstens die Rechtskunde, wird dabei weder gewinnen noch verlieren,
so wenig als die Heilkunde dadurch gewinnen oder verlieren wird, wenn
man mehr oder weniger Krankheitsformen, welche aber alle auf dieselbe
Weise geheilt werden, aufstellt, wenn man nur in erster Beziehung das
charakteristische Merkmal des sich äussernden =speziellen Triebes=
nicht aus dem Auge verliert.

Damit nämlich ein Trieb sich so entschieden äussere, dass man ihn von
seiner Aeusserung mit Bestimmtheit zu erkennen vermag, muss nothwendig
vorausgesetzt werden, dass dieser Trieb mehr als =andere= Triebe
angeregt gewesen sei, und dass daher das =Gleichgewicht der Funktionen
gestört wurde=.

Diese Erscheinung ist nun, und zwar auf zweierlei Art, möglich, nämlich
dadurch, dass ein Trieb in seiner natürlichen Aeusserung =gehemmt= und
dadurch zu einer sonst =nicht normalen Stärke= gebracht wurde, oder
dass ein der =natürlichen Entwicklung= des Triebes entgegenstehendes
Hinderniss plötzlich =aufgehoben= wird.

In dieser Rücksicht lassen sich die Affekte, jedoch ohne viel Gewinn
für die Wissenschaft, in angenehme und unangenehme, und je nachdem
das Hinderniss plötzlich oder allmälig eintritt oder gehoben wird, in
erregende und deprimirende eintheilen u. s. w.

Wichtiger als diese Eintheilungen wird es für den Zweck der
richterlichen Erhebung sein, das =Vorhandensein= des Affektes und
dessen =Einfluss auf den Willen= des Individuums zu bestimmen, zu
welchem Behufe folgende Bemerkungen nicht überflüssig sein dürften.


§. 66.

Wenn wir diejenigen Erscheinungen betrachten, welche man als Affekte
bezeichnet, so finden wir, wie bereits im vorigen Paragraph angegeben
wurde, als gemeinschaftliches Merkmal eine Empfindung eines =angeregten
Triebes=, d. i. (laut §. 10) das Bewusstwerden der =Befreiung= oder
der =Hemmung= eines sich äussernden Triebes durch einen =äusseren
Eindruck=. Der Affekt gehört also in das Gebiet der =Vorstellung=,
und kann sich daher nur nach den Gesetzen der Vorstellungsthätigkeit
äussern, d. h. er wird und =muss= auf die äussere Thätigkeit
=reagiren=.

Die einzige Art und Weise, wie die Vorstellung eines angeregten Triebes
auf die äussere Thätigkeit reagiren kann, ist nun der Natur der Sache
nach, dass er diese zur Befriedigung, wo diese möglich ist, und zur
Hinwegräumung des Hindernisses, wo ein solches vorhanden ist, antreibt.
-- Die eine oder die andere Wirkung =muss= also erfolgen, und wo
sie nicht erfolgt, kann dieses Nichterfolgen nur darin seinen Grund
haben, weil Vorstellungen vorhanden waren, welche hinlängliche Stärke
besitzen, um diese Wirkung des Affektes zu =beseitigen=.

=Mangeln= aber solche Vorstellungen, so ist es ganz =undenkbar=, dass
der Affekt sich nicht =gerade so= äussern sollte, wie es nothwendig
ist, um, und zwar auf dem möglich =kürzesten= Wege, zu seiner, d. i.
des angeregten Triebes, =Befriedigung= zu gelangen.

Soll daher eine im Affekte begangene That strafbar sein, so muss
vor Allem nachgewiesen werden, dass bei dem Menschen, welcher die
That beging, wirklich zur Zeit der Begehung der That Vorstellungen
=vorhanden= waren, welche genug Stärke besessen haben, ihn von der
Hingebung an den Einfluss seines Affektes abzuhalten, wenn er nur
=gewollt= hätte.

Dieser Beweis ist auch in dem Falle, wo das wirkliche Eintreten eines
Affektes nachgewiesen wird, meistens gar nicht schwierig, es wolle
daher der verehrte Leser wegen der Konsequenzen, welche daraus etwa
hervorgehen, dass die Motivirung einer That durch den Affekt hier so zu
sagen als ein Grund der Straflosigkeit dargestellt wird, sich immerhin
einstweilen beruhigen, und mit Aufgebung aller Besorgnisse weiter
lesen.


§. 67.

Zur Richtigstellung des Umstandes, ob wirklich bei dem Individuum,
welches eine bestimmte Handlung verübte, Vorstellungen vorhanden
waren, welche hinreichend stark waren, ihn von der Begehung der That
abzuhalten, wenn er ihrem Impulse hätte folgen =wollen=, hat man nun
zwei Anhaltspunkte, nämlich _a_) die durch die Beschaffenheit der
menschlichen Natur =überhaupt= bedingte Stimmung in Bezug auf die
vollbrachte That; _b_) die durch die =individuellen= Verhältnisse
des betreffenden Subjektes bedingte Stimmung desselben in gleicher
Beziehung.

In erster Beziehung darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass der
Mensch, wie dies bei §. 20 erwähnt ist, immer ein =ganzes=, nicht ein
getheiltes Wesen ist, dass daher kein Eindruck denkbar ist, der nicht
sein =ganzes= Wesen affizirte. Wenn daher irgend ein Eindruck auf ihn
wirkt, so kann dieser wohl eine bestimmte Funktion besonders anregen,
immer bleibt jedoch der =ganze= Mensch angeregt, er wird daher immer
als =Mensch=, niemals als =Thier= empfinden, und es werden daher seine
Affekte ebenfalls immer die =Affekte eines Menschen=, niemals die
Affekte eines Thieres sein.

Zu den charakteristischen Merkmalen der Menschheit gehören nun
einerseits =deutlichere= und =lebhaftere= Vorstellungen, somit eine
viel lebhaftere und reichlichere Ideenassociation, und wie bei §. 20
nachgewiesen wurde, darunter die jedenfalls sehr lebhafte Vorstellung
des Vorhandenseins der =sittlichen Freiheit=; es ist daher nur im
=Ausnahmsfalle=, dessen Möglichkeit im folgenden Paragraph näher
erörtert wird, denkbar, dass der Mensch auch im Affekte =ohne= das
Bewusstsein der sittlichen Freiheit handle.

Begeht daher der Mensch im Affekte eine strafbare Handlung, so bleibt
er dennoch strafbar, weil er gegen das Sittengesetz, dessen Bewusstsein
ihm =seiner Natur nach= auch im Affekte =nicht= mangelte, gehandelt
hat; der Affekt beweist dann gegen die Strafbarkeit seiner Handlung
nichts weiter, als dass es ihm =etwas schwerer= gewesen ist, auch in
diesem Falle dem Sittengesetze zu folgen; es beweiset aber gar nichts
=gegen= die Strafbarkeit seiner Handlung, wenn er bei sonst =ruhigem=
Zustande die That =beschloss=, und sich willkürlich, um die That
sicherer zu begehen, in einen Affekt versetzte. Ein Fall der letzteren
Art wäre z. B., wenn Jemand beschlossen hätte, einen Anderen zu
ermorden, dazu aber im ruhigen Gemüthszustande nicht sich entschliessen
zu können fühlend, mit diesem einen Streit anfängt, um in dem dadurch
hervorgerufenen Affekt des Zornes die zum Morde nöthige Stimmung zu
gewinnen[39], eben so wenig gereicht es zur Entschuldigung, wenn er
zwar im Affekte die That beschloss, jedoch dabei das Bewusstsein hatte,
dass die That unerlaubt sei, welches Bewusstsein auch durch den Affekt
nicht nothwendig aufgehoben wird.

  [39] Ganz Dasselbe gilt in dem Falle, wo Jemand, welcher einen
      Affekt, z. B. jenen des Zornes, in sich entstehen fühlt,
      und dabei die Neigung gewahrt, dem Andern etwas anzuthun,
      sich, obwohl es ihm möglich war, durch Entfernung etc. der
      Gefahr, von diesem Drange überwältigt zu werden, =nicht=
      entzieht. Das Strafbare liegt hier in seiner =Unthätigkeit=,
      mit der er sich einem Zustande =hingibt=, von welchem er
      fühlt, dass er dem Anderen gefährlich werden kann. Etwas ganz
      Aehnliches findet bei der Trunkenheit Statt. Fühlt nämlich
      Jemand beim ersten Glase die Lust, einen Anderen zu prügeln,
      und er trinkt, obwohl er bemerkt, dass diese Lust durch den
      Wein entstanden ist, noch ein zweites, und prügelt ihn dann
      wirklich, so liegt das Strafbare in jenem Trinken des zweiten
      Glases, und die Berauschung, die darauf folgt, kann diesen
      Akt nicht entschuldigen.

Vom Gesichtspunkte der =menschlichen Natur= aus betrachtet kann daher
der =Affekt nie= die Straflosigkeit wegen eines begangenen Verbrechens
begründen.


§. 68.

Anders stellt sich die Sache dar, wenn man die Wirkung des Affektes
von dem Standpunkte der durch die =individuellen= Verhältnisse des
betreffenden Subjektes bedingten =Stimmung= desselben betrachtet.

Der Mensch ist nämlich in seiner Totalität nicht =blos= ein sittliches,
sondern er ist auch ein =sinnliches= Wesen, während er sich nämlich
in dem Stoffe, aus welchem seine Vorstellungen gewebt sind, dadurch,
dass diesem Stoffe wirklich ein Uebersinnliches =beigemischt= ist,
wesentlich von dem Thiere =unterscheidet=, muss die Entwicklung der
Vorstellungen, da hiezu die wirklich sinnlichen Organe das Werkzeug
sind, =auch den organischen Gesetzen= gehorchen.

Unter diese Gesetze gehört es nun auch, dass zwar keine Affektion des
=einen= Organes, ohne den =Gesammt=organismus zu berühren, möglich ist,
dass aber in dem Masse, als das einzelne Organ =stärker= berührt wird,
die Berührung, welche der Gesammtorganismus dadurch erleidet, =weniger
empfunden wird=, und dass daher, je heftiger ein Affekt hervortritt, um
so geringer das Bewusstsein von dem Eindrucke, welchen das Gesammtleben
dadurch erfährt, werde, am Ende aber, wenn der Affekt auf das Höchste
gestiegen ist, auf den Nullpunkt herabsinken muss.

Auch bei dem höchsten Affekte sind daher die Vorstellungen des
Sittlichen nicht =ausgeschlossen=, in dem Masse jedoch, als der Affekt
steigt, werden alle Vorstellungen, die mit dem Gegenstande des Affektes
nicht im unmittelbaren Zusammenhange sind, =schwächer= werden, und
daher minder im Stande sein, auf die Thätigkeit, welche der Affekt
fordert, hemmend zu wirken, und daher im =heftigsten= Grade des
Affektes ihre Wirksamkeit ganz =verlieren=.


§. 69.

Je heftiger ferner der Affekt ist, um so weniger können durch solchen
selbst =andere= Vorstellungen =erzeugt= werden, als solche, welche
sich eben auf die Entwicklung des sich äussernden Triebes[40] beziehen.
Wenn also in dem Augenblicke, als ein solcher Affekt =eintritt=, nicht
schon bestimmte sittliche Vorstellungen, und zwar mit einem gewissen
Grade von Intensität vorhanden sind, so werden sie auch die Wirkung des
Affektes nach Aussen zu nicht =hemmen= können.

  [40] Es steht wohl dieser Ansicht nicht entgegen, dass man nicht
      immer _a priori_ angeben kann, welcher Trieb angeregt werden
      muss, um irgend einen mit einem bestimmten Namen bezeichneten
      Affekt, z. B. Schrecken, zu erzeugen, ja dass zur
      Hervorbringung eines mit einem bestimmten Namen bezeichneten
      Affektes =verschiedene= Triebe geeignet sind.

      Es ist bei der Lebensart des Menschen immerhin denkbar, dass die
      die Anstrebung eines bestimmten Gegenstandes eine Komplikation
      =mehrerer= Triebe sei, und dass es schwer, ja unmöglich
      ist, denjenigen herauszufinden, der da =vorzugsweise=
      angeregt war, allein dies beweiset wohl nichts gegen die
      ausgesprochene Ansicht, sondern höchstens dafür, dass die
      verschiedenen Benennungen der Affekte von keinem praktischen
      Werthe sind.

Der Grund eines solchen Mangels der Entwicklung sittlicher
Vorstellungen gegenüber dem Affekte kann jedoch auch in der
subjektiven Beschaffenheit des Individuums liegen, welches entweder
durch natürlichen =Stumpfsinn= (Dummheit) oder durch Mangel an Statt
gefundenem Eintritte deutlicher sittlicher Vorstellungen (Roheit) wenig
derlei Produkte in sich aufgenommen hat, wo dann ein weit geringerer
Grad des Affektes hinreicht, die im vorigen Paragraph angedeutete
Wirkung zu erzeugen.

Eben dieselbe Folge kann in dem Falle eintreten, wo bereits eine
=krankhafte Disposition= im Menschen vorhanden ist, durch welche eine,
wenn auch nicht vollkommen die Objektivität der Auffassung aufhebende,
jedoch theilweise Geistesverwirrung entsteht, oder wodurch die sonst
gewöhnliche Entwicklung der Ideenassociation entweder gehemmt (wenn
auch nicht aufgehoben), oder nach einer besonderen Richtung geleitet,
oder an der Verfolgung einer gewissen Richtung gehindert wird.
Einiges in dieser Art wird beinahe jeder nur einigermassen erhebliche
Krankheitszustand, so wie auch Trunkenheit, wenn sie auch den Menschen
der Besinnung noch nicht vollständig beraubt hat, bewirken.

Da nun, wie es bei §. 20 gezeigt wurde, die Vorstellung Desjenigen,
was unter gewissen Verhältnissen das Sittengesetz von dem Menschen
fordert, auf doppeltem Wege zum Bewusstsein gelangt, nämlich durch das
eigene Sittlichkeitsgefühl und durch traditionelle Mittheilung, dass
unter gewissen Verhältnissen ein gewisses Benehmen den Forderungen des
Sittengesetzes entspreche oder nicht entspreche, so kann es geschehen,
dass einem in einem heftigen Affekte befangenen Subjekte nur die =durch
Tradition= erhaltene Vorstellung seiner Verpflichtung zum Bewusstsein
kommt, während das =Gefühl=, welches dieses bestimmte Verhalten von ihm
fordert, sich gar nicht, oder doch nicht mit solcher Energie, äussert,
dass das Subjekt eine Empfindung von der hierdurch erfolgten Anregung
erhielte.

Da nun in solchen Fällen die Erinnerung an die blos =traditionell=
überkommene Vorstellung ohne besondere =Anregung= bleiben wird,
so ist es dann ganz natürlich, dass sie der durch den =Affekt=
hervorgebrachten Anregung entweder =gar keinen= oder nur einen
=ganz unbedeutenden= Widerstand zu leisten vermag, eine Stimmung,
durch welche allein die Thatsache sich erklären lässt, dass zuweilen
ein Subjekt angibt: ich wusste, dass dasjenige, welches ich that,
Unrecht sei, allein ich konnte nicht anders -- eine Stimmung, deren
psychologische Möglichkeit sich daher nicht schlechterdings läugnen
lässt.


§. 70.

Dasjenige, welches hier von dem Einflusse der Affekte auf die Macht der
sittlichen Vorstellungen in Bezug auf eine bestimmte Handlungsweise
gilt, gilt um so mehr dann, wenn es sich um die Macht der =Mittel=
handelt, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Der =Zorn= ist
bekanntlich der schlechteste Fechter. Eben so geht es aber beinahe
in allen Fällen, wo es sich darum handelt, ein taugliches Mittel zur
Erreichung eines bestimmten Zweckes während der Dauer eines Affektes
aufzufinden.

Bei dem =Schrecken=, welchen eine entstandene Feuersbrunst verursacht,
geschieht es nicht selten, dass Leute ihr Geld oder ihr Geschmeide
liegen lassen und irgend einen werthlosen Plunder mit grosser
Anstrengung ihrer Kräfte forttragen. Mir selbst kam die Thatsache vor,
dass Jemand bei einer solchen Gelegenheit einen Korb voll Porzellain
über die Kellertreppe hinab ausleerte.

Es ergibt sich daher folgender, für die Rechtspflege höchst
folgenreicher Satz:

Ein Affekt kann möglicher Weise entweder für sich allein, oder in
Verbindung mit andern, bei dem demselben unterworfenen Individuum Statt
findenden, auf seine Stimmung wirkenden Einflüssen, die Wirkung haben,
dass für den Augenblick, in welchem der Affekt seine Wirkung auf die
äussere Thätigkeit äussert, =die Vorstellung von der Unsittlichkeit
oder von sonstigen Eigenschaften der Handlung= (somit also insbesondere
von der =Unrechtmässigkeit= derselben) ganz =unmächtig= zur Bestimmung
seiner Thätigkeit, in Betreff der seinem Affekte entsprechenden
=Handlungsweise=, bleibt.


§. 71.

Aus diesem Satze, dessen Richtigkeit nach dem Vorausgegangenen kaum
mehr einem erheblichen Zweifel unterworfen sein dürfte, ergibt sich nun
eine, für die Erhebung eines solchen Zustandes zu dem Ende, um hiernach
die =Strafbarkeit= einer Handlung auszumitteln, höchst wichtige Folge.

Es kann nämlich keinem Zweifel unterliegen, dass das Entstehen der
Affekte nicht nothwendig die Folge eines =Krankheitszustandes= ist,
sondern vielmehr in dem =natürlichen= Verhältnisse des Menschen
zur Aussenwelt beruhe, dass daher zur Beurtheilung der =Gewalt= des
Affektes die Materialien =zunächst= nicht im Gebiete der Pathologie,
sondern recht eigentlich im Gebiete der durch die =gewöhnliche
Lebenserfahrung= gewonnenen Resultate entnommen werden müssen;
es ergibt sich aber auch, dass bei dem Umstande, wie wir gehört
haben, auch solche Zustände, welche wirklich in das Gebiet der
Pathologie gehören, auf die Wirkung der Affekte, insbesondere auf
Ausschliessung von solchen Vorstellungen, welche ohne Vorhandensein
dieses pathologischen Zustandes der Aeusserung des Affektes
=entgegengetreten= wären, von grossem Einflusse sein können, dort, wo
ein solcher Zustand =vermuthet= wird, auch die Erhebung die Beiziehung
eines =Arztes= erfordere, dessen Aufgabe es dann sein wird, =nicht
blos nach pathologischen Grundsätzen allein=, sondern mit genauer
Berücksichtigung =aller= auf die That Beziehung nehmender Umstände
darzustellen, =welche= Vorstellungen die That veranlassten, welche
Vorstellungen, die etwa sonst geeignet waren, das Subjekt von der That
=abzuhalten=, =mangelten=, oder =zu wenig intensiv= waren, um der That,
als dem natürlichen Produkt des Affektes, hemmend entgegenzutreten,
und =warum=, insbesondere aus welchen =pathologischen= Gründen sich für
diesen Abgang ausgesprochen werden müsse.

Wird aber diese Aufgabe in dieser Art mit Umsicht gelöst, so lässt
sich auch erwarten, dass mit dieser Darstellung dem Bedürfnisse der
Rechtspflege vollkommen entsprochen sein wird, indem in dem Falle,
wenn eine solche Darstellung vorliegt, der Ausspruch des Richters:
ist die That zurechenbar oder nicht? keinem, oder doch mindestens
keinem erheblichen Anstande mehr unterliegen kann, denn es kann nicht
bezweifelt werden, dass dort, wo die Vorstellung von der Strafbarkeit
der Handlung nicht vorhanden oder erwiesenermassen nach seiner Stimmung
unwirksam bleiben musste, auch die Zufügung der Strafe ihren Zweck
verfehlen würde, der doch nur darin liegt, von der Begehung einer
Handlung in Fällen abzuhalten, wo eine Abhaltung möglich ist, und zur
Möglichkeit gehören eben sowohl die psychischen als die physischen
Naturgesetze.

Als ein Beispiel dieser Art Erhebung dürfte etwa der Fall dienen, in
welchem bei einer Statt gefundenen Rauferei Jemand von einem Anderen so
heftig am Halse gewürgt wird, dass er zu ersticken glaubt, dabei aber
doch so viele Besinnung behält, sich zu erinnern, dass er ein Messer im
Sacke habe, dieses zieht und dem Anderen einige Stiche beibringt, von
denen Dieser todt bleibt.

Hier lehrt die gewöhnliche Lebenserfahrung, dass das Gewürgtwerden eine
sehr beängstigende Empfindung hervorbringt, welche die Thätigkeit der
Menschen dahin bestimmt, sich aus dieser Lage zu =befreien=. -- Zur
Richtigstellung dieses Umstandes bedarf es nun eben nicht nothwendig
des ärztlichen Ausspruches. Es bedarf aber des ärztlichen Ausspruches
zur Erhebung des Umstandes, ob nach den vorhandenen Spuren oder sonst
nach der Art und Weise, wie das Würgen Statt hatte, insbesondere nach
der physischen Beschaffenheit des gewürgten Subjektes, es denkbar sei,
dass die Beängstigung einen =so hohen Grad= gewonnen habe, dass ihm
unter anderen, vielleicht nach den Statt gefundenen Verhältnissen etwa
wirklich vorhandenen Hilfsmitteln gerade nur das Eine, der Gebrauch des
Messers nämlich, beigefallen sei etc.



B. Leidenschaften.


§. 72.

=Was ist Leidenschaft?= Jede Wissenschaft, in welcher dieses Wort
vorkommt, hat darüber ihre eigenen Ansichten, welche jenen anderer
Wissenschaften oft schnurgerade entgegengesetzt sind. Die Moral
findet in den Leidenschaften gerade den Weg, welcher den Menschen
von seiner Bestimmung ablenkt, während der Geschichtschreiber in den
menschlichen Leidenschaften gerade das Vehikel erblickt, welches ihn
seiner Bestimmung zuführt u. s. w., und die Physiologie beweiset, dass
gewisse Leidenschaften eine =nothwendige= Folge gewisser =organischer=
Verhältnisse sind, und ohne diese Verhältnisse gar nicht eintreten
=können=.

Um nun bei diesen abweichenden Ansichten einen festen Grund zu finden,
auf welchem man diesem Gegenstande die richtige Seite abzugewinnen
vermag, erübrigt nichts, als solche Thatsachen aufzusuchen, welche
hierüber ein hinreichendes Licht gewähren, und zugleich so allgemein
bekannt oder doch Jedermann so vor Augen liegend sind, dass sie nicht
wohl bestritten werden können.

=Leidenschaft und Affekt sind verschiedene Begriffe.= Es gibt nämlich
Affekte =ohne= Leidenschaft, auch sind die =Thiere= mancherlei
Affekten unterworfen, Niemand hat jedoch von einer =Leidenschaft eines
Thieres= im Ernste gesprochen[41]. Es ist also das Vorhandensein
von Leidenschaften eine Erscheinung, welche man dem Menschen =im
Unterschiede= von dem Thiere zuschreibt.

  [41] Man sagt zwar: der eitle Pfau, das stolze Pferd u. s.
      w., allein der Grund ist kein anderer, als weil ein eitler
      Mensch in seinem Betragen eine Aehnlichkeit mit dem nach
      unseren Begriffen wirklich schönen Pfau hat, auch man die
      Bemerkung gemacht zu haben glaubt, dass mancher Mensch,
      welcher stolz ist, auf eine ähnliche Art nickt, wie ein
      geputztes Schlittenpferd. Indess, der arme Pfau geht so, wie
      er gehen muss, weil ihm der schwere Schweif nachschleppt,
      und ein Esel, welchem man den Kopf durch ein Gebiss in die
      Höhe bindet und überdies noch einiges Bänderwerk anhängt,
      das ihn auf der Stirne und in die langen Ohren kitzelt, wird
      zuverlässig auch einige superbe Bewegungen machen.

      Eher könnte man davon sprechen, dass ein Jagdhund
      leidenschaftlich gerne jage u. s. w., allein auch dieses
      ist nur figürlich gesprochen, denn das Jagen ist hier
      die =einzige= Fähigkeit, die ein solches Thier, und zwar
      zufolge eines physischen Bedürfnisses, instinktmässig
      übt; eine solche Vorliebe eines Thieres für eine gewisse
      Thätigkeit =sieht daher wohl aus= wie Leidenschaft, ist aber
      in Wirklichkeit nur eine sich ganz =unbewusst= äussernde
      physische Thätigkeit.

Man spricht aber ferner von der Leidenschaft als etwas, welches der
Mensch zum Besten der Sittlichkeit =bekämpfen= soll, es muss daher
unter Leidenschaft ein Zustand verstanden werden, welcher in naher
Beziehung mit der =Sittlichkeit= steht.

Man nennt ferner einen Menschen =leidenschaftlich=, wenn er von allen,
oder doch verhältnissmässig von =vielen= Gegenständen, mit welchen er
in Berührung kommt, so heftig angeregt wird, dass er dann Dinge, welche
sonst entweder wirklich zur Sache gehört hätten oder für ihn doch sonst
von Wichtigkeit gewesen wären, =nicht mehr berücksichtigt=. Man sagt,
ein Mensch habe für einen =bestimmten Gegenstand= eine Leidenschaft,
wenn er, um diesen Gegenstand zu erreichen, Dinge =unberücksichtigt=
lässt, die er nach =vernünftiger= Beurtheilung der Sache nicht hätte
ausser Acht lassen sollen.

Die Leidenschaft besteht aber endlich nicht in dem =Streben des
Affektes= nach Befriedigung, denn Niemand spricht bei Jemanden, welcher
nun schon ein paar Tage gehungert hat, von einer Leidenschaft für das
Essen, so wenig, als man von Jemanden, der auf einer schiefen Fläche
steht, sagt, er habe einen =Trieb= zum Fallen, sondern man erkennt an,
dass der Mensch im ersten Falle nothwendig einen heftigen Trieb zum
Essen empfinden müsse, im letzteren aber durch eine äussere Gewalt zum
Umfallen bestimmt wurde.

Ein aufgeregter Trieb kann endlich wohl Leidenschaften =veranlassen=,
allein es lässt sich nicht sagen, dass eben ein aufgeregter Trieb immer
die =Quelle= der Leidenschaften sein müsse, denn bei den meisten jener
Zustände, welche man als Leidenschaften bezeichnet, lässt sich gar
nicht einmal nachweisen, =dass= ein und =welcher= Trieb ihnen zu Grunde
liegen soll, z. B. bei der Leidenschaft des Spieles, des Trunkes u. s.
w., ja es lässt sich nach dem, was eben gesagt wurde, behaupten, dass,
wenn eine Handlungsweise =blos= durch einen aufgeregten Trieb bedingt
wird, diese Veranlassung =nur= Affekt und =niemals= Leidenschaft
=genannt= werden könne.

Dagegen aber ist der Umstand unverkennbar, dass man =Zustände=
als Leidenschaften bezeichnet, welche, wie oben erwähnt, gar nicht
aus bestimmten =Trieben=, sondern nur aus solchen =Vorstellungen=
hervorgehen, welche selbst nur die Folge einer =langen= und oft
sehr =komplicirten= Reihe von Vorstellungen sind, z. B. Eifersucht,
Herrschsucht, Geiz u. s. w., ja wir begegnen sogar der Erscheinung,
dass der in Leidenschaft befangene Mensch im Stande ist, die
=stärksten Triebe zu unterdrücken=, wenn sie dem Ziele seiner
Leidenschaft entgegen sind, und zwar tritt hier noch der besonders zu
berücksichtigende Umstand ein, dass diese Wirkung der Leidenschaft
sich in um so höherem Grade und in desto grösserem Umfange gewahren
lässt, je mehr der Gegenstand, welchen die Leidenschaft anstrebt, sich
als ein =Begriff= darstellt, und daher =entfernt= ist, der Gegenstand
eines bestimmten =Triebes= zu sein. Der =Wollüstling=, welcher einem
bestimmten Gegenstände nachstrebt, wird gewöhnlich noch Musse genug
behalten, noch =andere= Dinge zu treiben und sich noch =anderen
Genüssen= hingeben; der =Ehrgeizige= wird =blos= seinem Ehrgeize
leben, und was dieser Leidenschaft =nicht= dient, für schal und seines
Strebens unwürdig halten.

Es ergibt sich daher aus allen diesen Daten, dass Leidenschaft
keineswegs ein =physischer= Hang des Menschen, sondern ein, durchaus
durch seine =Vorstellungsthätigkeit= erzeugtes Resultat sei, welches
durch =physische= Triebe wohl =veranlasst=, niemals aber durch diese
Veranlassung =allein= hervorgebracht sein kann. -- Will man daher
Leidenschaft definiren, so kann eine solche Definition nicht anders
lauten, als: Leidenschaft sei derjenige Zustand des Menschen, in
welchem er den Gegenstand einer ihm einen Genuss versprechenden
=Vorstellung= mit =Unterordnung= jedes diesen Gegenstand nicht
berührenden Strebens, anzustreben sich angeregt fühlt.


§. 73.

Es folgt jedoch aus dieser Ansicht von dem Wesen der Leidenschaft, dass
dieser Zustand, eben weil derselbe ein rein psychischer Zustand ist,
nur nach psychischen Gesetzen betrachtet und beurtheilt werden könne.
Es folgt daher, weil gerade in der Region der Vorstellungsthätigkeit
(wie dies bei §. 58 nachgewiesen wurde) das der menschlichen Natur
nothwendige, und dieselbe charakterisirende =Gleichgewicht herrscht=,
dort, wo =nur= Leidenschaft, nicht aber ein durch einen äusseren
Eindruck bedingter =Affekt=, auf den Menschen wirkt, das Bewusstsein
der Freiheit und Selbstbestimmung =niemals= aufgehoben sein könne,
sondern dass der Zustand des Menschen, welcher eine Leidenschaft in
sich entwickelt hat, sich immer so gestalten wird, dass er zwar sich
der =Anregung zur Erstrebung= des Gegenstandes derselben bewusst ist,
zugleich aber auch sich dabei als ein =freies= Wesen fühlt, welches,
wenn er sich die Lust der Erreichung versagen =will=, sich dieselbe
auch versagen =kann=.

Leidenschaft ist daher als solche =niemals= ein moralischer Zwang für
den Menschen, und daher =niemals= ein Grund, welcher die =Strafbarkeit=
einer Handlung, welche zur Erreichung des Gegenstandes der Leidenschaft
unternommen wurde, =aufhebt=.

Diese Ansicht ergibt sich nun ausser aus der eben angeführten Rücksicht
noch insbesondere aus der Betrachtung der früher bezeichneten Zustände,
welche man Leidenschaft nennt. Keiner darunter ist unmittelbar aus
dem =Bedürfnisse= der menschlichen Natur hervorgegangen, sondern jeder
darunter kann nur durch eine Kombination von Begriffen entstanden sein,
er muss daher die mannigfaltigsten, d. i. alle dem Menschen =seiner
Natur nach= möglichen, und daher insbesondere diejenigen Vorstellungen
in sich begreifen, welche mit dem Bewusstsein seiner =sittlichen
Freiheit= verbunden sind.

Umgekehrt lässt sich aber behaupten, dass das =Entstehen einer
Leidenschaft= ohne die Bedingung des =freien= Hingebens an den
Gegenstand derselben gar nicht einmal =denkbar= ist, -- denn wo kein
freies Ergeben an die Macht einer Vorstellung Statt findet, kann diese
entweder auf die Thätigkeit des Menschen =gar nicht= wirken, oder
sie wirkt -- wie gewisse Affekte -- so schnell und so heftig, dass
die Wirksamkeit jeder anderen Vorstellung =ausgeschlossen= ist, nicht
aber in der Art, dass sich alle anderen Vorstellungen, ohne aus dem
Bewusstsein zu verschwinden, nur dem durch die herrschende Vorstellung
angeregten Streben =unterordnen=. Ist sich der Mensch aber anderer
Vorstellungen =bewusst=, und er folgt ihnen =nicht=, wenn sie einer
bestimmten Vorstellung entgegengesetzt sind, so handelt er nicht mehr
auf eine bestimmte Weise so und nicht anders, weil er nicht anders
=kann=, sondern weil er nicht anders handeln =will=, d. h. weil er der
ihm =minder= zusagenden Vorstellung, gegenüber der ihm =angenehmeren=,
keine Macht einzuräumen entschlossen ist; er entsagt somit der in der
minder intensiven Vorstellung enthaltenen =Aufforderung= zu Gunsten
der =ersteren=, und wenn diese =minder= intensive Vorstellung jene
der =sittlichen= Autorität ist, so begibt er sich daher =ungezwungen=
seiner sittlichen Freiheit, er handelt also mit =Willen= unsittlich.

Betrachten wir aber nun _in concreto_ alle jene Zustände, welche
man als Leidenschaften unter bestimmten Benennungen bezeichnet,
so ist nicht ein einziger darunter, von welchem sich sagen liesse,
dass er plötzlich entstehen könne, sondern jeder darunter setzt ein
wiederholtes freiwilliges Nachgeben gegen gewisse Anregungen, und
dort, wo das Endresultat ein Unsittliches ist, sogar ein wiederholtes
unsittliches Handeln, oder mindestens wiederholte Gedankensünden
voraus. -- Selbst die Leidenschaft der Liebe, obwohl derselben ein
mächtiger, sinnlicher Trieb zunächst zu Grunde liegt, macht hievon
keine Ausnahme. _Shakespeare_ lässt, um es wahrscheinlich zu machen,
dass sein _Romeo_ im Augenblicke von einer heftigen Leidenschaft
für _Julien_ ergriffen wird, denselben früher für eine _Rosalinde_
schwärmen, -- die Leidenschaft war also schon vorhanden, als er
_Julien_ erblickte, nur der Gegenstand wechselte. Ausserdem finden
sich Beispiele von unwiderstehlicher, im Augenblicke entstandener,
unvertilgbarer Liebe, in _Lafontaine'schen_ und ähnlichen Romanen und
-- sonst nirgends[42].

  [42] _De mortuis nil nisi bene_, ist ein Spruch, den sich jeder
      lebende Autor gegenwärtig halten sollte, ich will daher
      auch diesem Autor nicht zu nahe treten, der in seinen
      eben so thränen- als bändereichen Romanen denn doch nur
      die Stimmung seines Zeitalters ausdrückte, welcher selbst
      _Schiller_ in seiner _Louise_ in etwa huldigte; so viel
      dürfte jedoch gewiss sein, dass von dieser Seite betrachtet,
      jeden Leser, der einen solchen Roman durchblättert --
      ihn durchzu=lesen= wird wohl schwerlich Jemand von meinen
      verehrten Lesern Heldenmuth genug besitzen, -- wenigstens
      ein angenehmes Gefühl anwandeln wird, -- das Gefühl nämlich,
      dass das Zeitalter, in dem man so =dachte= und so =schrieb=,
      =glücklicherweise= vorüber sei.


§. 74

Obwohl aus dem bisher Gesagten sich wohl der unbezweifelte Schluss
ergibt, dass Leidenschaft die Strafbarkeit einer Handlung niemals
aufzuheben vermag, so gilt diese Behauptung doch nur von der
=Leidenschaft als solcher=, z. B. in Bezug eines Geizigen, welcher,
weil er sich von seinem Mammon nicht trennen will, einem Anderen sein
Geld vorenthält, nicht aber auch dann, wenn dadurch Gemüthszustände
=hervorgerufen= werden, welche, einmal vorhanden, =selbstständig= auf
die Vorstellungsthätigkeit wirken, und dann eine strafbare Handlung zur
Folge haben. Diese Zustände können nämlich von der Art sein, dass sich
mit Bestimmtheit sagen lässt, ihr Eintritt sei eben so wenig in der
Absicht Desjenigen gelegen, welcher sich der =Leidenschaft= hingibt,
als es in der Absicht Desjenigen, welcher sich blos aus Neigung
zum Trunke voll betrinkt, gelegen ist, in diesem Zustande das Haus
anzuzünden. -- Es lassen sich daher in Beziehung auf die Wirkung der
Leidenschaften folgende Momente unterscheiden:

I. Es kann geschehen, dass ein Mensch, welcher sich einer Leidenschaft
hingibt, von dem Gegenstande derselben so ergriffen wird, dass der
ganze Komplex der Vorstellungen, durch welche seine Handlung sich als
eine unsittliche darstellt, ihm =gar nicht erscheint=, d. h. dass der
Mensch sich hier in dem Zustande des Vergessens[43] befindet. In einem
solchen Zustande lässt sich nicht sagen, dass der Mensch der Forderung
der Sittlichkeit nicht folgen =wollte=, sondern er =konnte= dieser
Forderung nicht folgen, weil sie an ihn in diesem Augenblicke =nicht
gestellt= wurde.

  [43] Es ist ein Umstand, welcher alle Beachtung verdient, dass
      man für den Begriff des Vergessens in allen Sprachen ein
      eigenes Wort hat, während doch der richtige Begriff jener des
      =nicht Erinnerns= ist, denn das Vergessene wird in =jedem=
      Falle =wieder zur Erinnerung=, wenn gewisse vermittelnde
      Vorstellungen mit gehöriger Lebendigkeit angeregt werden. Wie
      ist es denn aber möglich, dass der Mensch alle Vorstellung
      der wirklich empfundenen Eindrücke, welche sich noch dazu
      in seiner Seele, wie in einem Kaleidoskope in's Unendliche
      combiniren, so festhalten kann, dass er sie bei gehöriger
      Anregung wiederfindet? -- Das =wie= lässt sich nun nicht
      erklären, allein es ist auch möglich, die unendliche Zahl
      der Sterne mit Einem Blicke zu übersehen, es lässt sich
      daher auch die Möglichkeit nicht bestreiten, dass es in dem
      unbegreiflichen Wesen des Menschen Raum für ein Unendliches
      gibt.

Ob aber ein solcher Zustand wirklich vorhanden war, muss nach den über
die Beurtheilung und Erhebung der =Affekte= aufgestellten Grundsätze
beurtheilt werden. Die Vermuthung gilt immer für die =Regel=, das
=Erinnern=. Es muss also die Erhebung von der Voraussetzung ausgehen,
dass der Beschuldigte sich wirklich erinnert habe, dass die That
unsittlich sei, und hiernach die Frage gestellt werden.

II. Die Leidenschaft kann durch die aufgeregten Vorstellungen auf den
Trieb =zurückwirken=, und dadurch einen heftigen Affekt =erzeugen=,
besonders wenn die Anregung dazu durch einen äusseren Eindruck
=plötzlich= gegeben wird.

III. Die Leidenschaft kann durch die Rückwirkung der
Vorstellungsthätigkeit auf den Organismus =Krankheiten=, und
unter diesen wirklichen =Wahnsinn= erzeugen, in welchem von einer
Strafverhängung, mindestens von dem Standpunkte aus, in welchem sich
dritte Personen im Verhältnisse zu den Kranken befinden[44], keine Rede
ist.

  [44] Es lässt sich schwer beweisen, dass ein Wahnsinniger in
      dem Kreise der Vorstellungen, in welchem er sich zu drehen
      vermag, nicht auch =moralisch= oder =unmoralisch= handeln
      könne und wirklich handle. Man betrachte den Wahnsinn einer
      Mutter, die über den Tod ihrer Kinder in diesen Zustand
      verfällt, und jenen eines Schlemmers, der am _delirium
      tremens_ leidet, und man wird sich von der Richtigkeit dieser
      Ansicht überzeugen. Nur von =Strafe= kann keine Rede sein,
      denn diese würde ein nach dem Sinne des =Ideenganges= des
      =Tollhäuslers= verfasstes Strafgesetzbuch voraussetzen, und
      dieses wäre denn doch eine sonderbare Idee.


§. 75.

Bisher wurde nur immer davon gesprochen, wie die =sittliche=
Strafbarkeit der in verschiedenen Gemüthszuständen vorkommenden
Handlungen zu beurtheilen sei, der =strafrechtlichen= Beurtheilung
solcher Fälle aber nur im Vorbeigehen erwähnt.

Der Grund, warum die sittliche Zurechnungsfähigkeit bisher nur
=vorzugsweise= berücksichtigt werden konnte, ist, weil aus der
menschlichen Natur =als solcher= wohl die =Sittlichkeit=, nicht aber
das =Recht= abgeleitet werden kann, da der Begriff des Rechtes erst
dadurch entsteht, dass =mehrere= Menschen zusammen leben.

Nur aus der =Vereinigung= mehrerer Menschen, und zwar, wenn sich
dieselben in eine Verbindung begeben, welche man unter der Benennung
=Staat= versteht, ist aber ein positives Recht, und insbesondere
ein =Strafrecht= denkbar, indem dann der Einzelne das Recht der
unbeschränkten Selbstverteidigung zu dem Ende aufgibt, damit der Staat
ihm den nöthigen Schutz verleiht, welcher Aufgabe der Staat dadurch
entspricht, dass er gewisse Handlungen unter Androhung von Strafe
verbietet.

Der Grund, aus welchem daher der Staat eine Handlung verbietet, und
auf die Uebertretung des Verbotes eine Strafe setzt, ist daher, auf das
=Wollen= derjenigen Staatsbürger zu wirken, welche allenfalls geneigt
sind, eine Handlung zu begehen, welche der Staat als schädlich für
einen oder mehrere Staatsbewohner oder für den Staatsverband selbst
erkennt.

Da nun sehr viele Handlungen, welche unsittlich sind, auch
zugleich schädlich für Andere wirken, so ist es natürlich, dass die
=Unterlassung= von vielen Handlungen bei Androhung von Strafe =geboten=
ist -- welche =zugleich= unsittlich sind; allein der Grund der Strafe
ist =nicht= die Unsittlichkeit, sondern die =Schädlichkeit= der
Handlung.

Aus eben diesem Gesichtspunkte findet sich der Staat auch nach Massgabe
der bestehenden Verhältnisse veranlasst, Handlungen bei Strafe zu
verbieten, welche an und für sich ganz und gar =nicht= sittenwidrig
sind, aber wegen den obwaltenden Verhältnissen =schädlich= werden, z.
B. Ueberschreitung des Pestkordons u. dgl.

Die Handlungen, welche für den Staat schädlich werden können, sind
nun von zweierlei Art, nämlich solche, deren Schädlichkeit =Jeder=
von seinem Standpunkte aus gewahren kann, z. B. Aufruhr, Mord, Raub,
Diebstahl etc., oder dieses Verhältniss ist von seinem Standpunkte
aus =nicht= erkennbar, sondern sie wird =vorläufig= nur von der
Staatsverwaltung bemerkt, -- von dieser Art wäre z. B. der Umstand,
dass in einem Orte die Pest ausgebrochen ist, welchen Umstand die
Staatsverwaltung früher erfährt, als die einzelnen Bewohner.

Die =erste= Gattung der Handlungen kann der Staat nach den Forderungen
der Gerechtigkeit auch dann strafen, wenn Demjenigen, welcher eine
solche That begeht, das Bestehen eines =Gesetzes= hierüber =nicht=
bekannt gewesen wäre, denn Jeder kennt die =sittliche= Verpflichtung,
nichts zu thun, wodurch für den Anderen oder für das Allgemeine
Nachtheil entsteht. Handelt er daher gegen sein Pflichtgefühl, so ist
dann die =rechtliche= Strafe die physische Folge seiner Unsittlichkeit.
Das Vorgeben, dass das Individuum die Handlung zwar für =schädlich=,
aber nicht für =unsittlich= gehalten habe, würde als widersinnig gar
nicht in Betrachtung kommen.

Erklärt aber das Individuum, dass es die Handlung =nicht= für schädlich
gehalten habe, und ergibt sich, dass ihm das dagegen obwaltende
Strafgesetz wirklich =unbekannt= gewesen sei, so wird zwar der Umstand,
dass er die That für unsittlich gehalten habe, nicht die =Strafbarkeit=
begründen, wohl aber in den meisten Fällen den Weg bahnen, dass er auch
die Kenntniss der Schädlichkeit derselben zugebe, weil die meisten
unsittlichen Handlungen eben darum unsittlich erscheinen, =weil= sie
schädlich sind.

Ist jedoch zwar nicht zu erweisen, dass das Individuum die
Schädlichkeit oder Unsittlichkeit einer Handlung gekannt habe, es wird
aber bewiesen, dass er das, eine Strafe auf die Handlung anordnende
Gesetz gekannt habe, so ist er darum strafbar, weil es das ihm bekannte
=Gesetz= übertreten hat.

Bei Gesetzen, deren Grund nur die, auf besondere Verhältnisse
sich gründende Schädlichkeit einer gewissen Handlung ist, wird die
Strafbarkeit des Individuums natürlich nur davon abhängen, ob er das
verbietende Gesetz gekannt habe, oder dasselbe zu kennen schuldig
gewesen ist.


§. 76.

Die Fragen, auf welche es bei Bestimmung der Strafbarkeit einer
gewissen Willensbestimmung ankommt, können daher sein:

1. Hat das Individuum das Gesetz gekannt, welches diese Handlung
verbietet, oder doch die Schädlichkeit der Handlung eingesehen?

2. Hat es seine Thätigkeit als eine solche erkannt, wodurch gegen
ein Gesetz gehandelt wird, oder als eine solche welche Schaden
hervorzubringen geeignet war?

Diese Punkte müssen richtig gestellt werden, und hiezu kann man die
ärztliche Intervention benöthigen, um auszumitteln:

Ob das Individuum nach seiner physischen und psychischen Beschaffenheit
geeignet war _a_) das Gesetz, _b_) die Bedeutung seiner eigenen
Thätigkeit und insbesondere den Nachtheil derselben, _c_) das
Verhältniss seiner Handlung zum Gesetze aufzufassen, und _d_), ob
diese Vorstellungen nach seiner und individuellen Stimmung hinreichende
Energie gehabt haben, um neben der Statt gefundenen Anregung wirksam
sein zu können (§. 70).

Der Ausspruch, das Individuum sei zur Zeit der That wahnsinnig
gewesen, befreit, sofern er gegründet ist, das Individuum nicht nur
von der Strafe, sondern, sofern derselbe noch vor der eingeleiteten
Untersuchung erfolgt, wie wir bei §. 47 gesehen haben, auch von der
Untersuchung.

Ausser diesem Ausspruche gibt es jedoch noch andere, welche im Vereine
mit dem Gerichte zu geben sein werden, welche mindestens die Befreiung
von der Strafe bewirken können, als:

1. Es sei durch eine im Augenblicke entstandene heftige Einwirkung,
entweder durch einen sinnlichen Eindruck von Aussen oder durch eine
erregte Vorstellung ein bestimmter Trieb so angeregt worden, dass gar
keine andere Vorstellung als jene, welche dem Trieb entsprach, mit
einiger Intensivität hervortreten konnte. In diese Klasse gehört der
bei §. 70 bemerkte Fall des Würgens.

2. Eine bei sehr gereiztem Zustande plötzlich hinzutretende Anregung,
wodurch ein Trieb, nach der Beschaffenheit der Anregung zu schliessen,
wenn auch im minderen Grade gereizt wird.

Hier gleicht der Mensch einem Gefässe, welches bis zum Rande gefüllt
ist. Ein Tropfen dazu und es geht über, d. h. der angeregte Trieb
findet keine Vorstellung mehr, welche ihm das Gegengewicht zu halten
vermochte, hier mangeln alle Vorstellungen, welche das Gesetz als
Bedingung der Strafe voraussetzt, denn der Mensch hat hier (im
Augenblicke) ohne freie Besinnung gehandelt, wenn er auch bei der
Handlung selbst nicht ohne alle Wahl der Mittel zu Werke ging.

Eine solche Thätigkeit kann nun allerdings nicht zurechenbar sein,
allein sie ist nicht =deswegen= nicht zurechenbar, weil der Mensch
=krank= ist, sondern aus dem Grunde, weil besondere Verhältnisse
wirkten, welche ihn in eine zwar durchaus naturgemässe, jedoch so
gestaltete Aufregung versetzten, welche ihn unfähig machten, das
durch seine Thätigkeit herbeigeführte widerrechtliche Verhältniss
=aufzufassen= oder zu =vermeiden=.

Auch in diesem Falle kann das Gutachten des Arztes von erheblichen
Folgen für die Rechtspflege sein, indem es aus =physiologischen=
Daten die besondere Disposition des Individuums für eine gewisse
Art Aufregung und die darauf herbeigeführte Unmöglichkeit des
Vorhandenseins einer hinlänglich intensiven Vorstellung, welche
das Individuum von der Begehung der Rechtsverletzung abzuhalten im
Stande gewesen wäre, nachweiset. -- In diese Klasse würde übrigens
der bezüglich des Dichters _Alfieri_ erzählte Fall gehören, wo sich,
wahrscheinlich durch Betrachtung des physischen und psychischen
Organismus desselben und das durch den obgewalteten, durch die
angeführten Verhältnisse herbeigeführten höchsten Grad von Aufregung
die Wahrscheinlichkeit hätte darstellen lassen, dass derselbe sich in
einem Zustande befand, welcher jenem gleichkam, in welcher sich ein im
heftigen Fieber-Paroxismus liegender Kranker befindet, welcher durch
eine geringe äussere Veranlassung in einen Zustand von Wuth versetzt
wird, welchem keine Vorstellung Schranken zu setzen im Stande ist.

3. Es ist endlich noch der Fall denkbar, dass sich ein Mensch
nicht in einem Zustande befindet, wo er =allen= Vorstellungen in
der Art unzugänglich ist, dass sich sagen liesse, dass er =keiner=
Forderung des Rechtsgesetzes sich bewusst sei, dass aber gerade jene
Vorstellungen mangelten, welche nöthig gewesen wären, ihn von der
Begehung derjenigen Rechtsverletzung, welche er wirklich begangen hat,
zurückzuhalten, oder doch zu verhindern, dass er die nachtheilige Folge
so weit trieb, als sie wirklich vorliegt.

Wenn z. B. Jemand von sehr heftigem Temperamente, und dabei
sehr kräftigem Körperbau, durch wiederholte Kränkungen von sehr
empfindlicher Art gereizt wird, so kann es geschehen, dass er noch mit
=freiem Entschlusse= sich bestimmt, dem Beleidiger mit dem Stocke, den
er, der Beleidigte, gerade in der Hand hält, einen Schlag zu versetzen,
dabei aber in der heftigen Aufregung, in welcher er sich befindet,
vergisst, welches Gewicht der Stock hat, und inwiefern er seine Kraft
mässigen muss, um nicht mehr als seine Absicht, den Beleidiger zu
beschimpfen und ihm einigen körperlichen Schmerz zu verursachen, zu
erreichen. Wird nun der Beleidiger durch einen solchen Schlag getödtet,
oder schwer beschädigt, so kommt eigentlich nur der Umstand, dass er
schlug, auf Rechnung des Vorsatzes des Beleidigten, der Umstand, dass
er mit einem gefährlichen Werkzeuge und so stark schlug, dass diese
nachtheilige Folge daraus entstand, kommt auf Rechnung der ohne sein
Verschulden verursachten Aufregung, es kann ihm daher nur zugerechnet
werden, dass er, ungeachtet er fühlte in einem Zustande zu sein,
welcher eine sorgfältigere Bemessung seiner Kraft nicht gestattete,
es nicht unterliess, davon einen unter diesen Umständen gefährlichen
Gebrauch zu machen.

Obwohl nun diese Rücksicht in den wenigsten Fällen das =Wesen=
des verübten Verbrechens =ändern= wird, so wird sie doch als ein,
seine Strafbarkeit mildernder Umstand erscheinen, muss daher durch
die Untersuchung herausgestellt, und in ihrem vollen Umfange der
Beurtheilung zugänglich gemacht werden.

Der medizinische Theil der Erhebung erhält daher die Aufgabe,
sich über das wirklich vorhandene Uebermass an Körperkraft bei
dem Verbrechen, und über dessen Disposition zu heftigen, auf seine
körperliche Thätigkeit Einfluss nehmenden Gemüthsbewegungen, mit
sorgfältiger Prüfung der allenfalls vorhandenen, richterlicher Seits
erhobenen Thatsachen über bereits Statt gefundene ähnliche Ausbrüche
auszusprechen, und, wenn es der Richter unterlassen haben sollte,
ähnliche Daten aufzusuchen, den Richter auf die Nothwendigkeit solcher
Erhebungen in seinem Befunde ausdrücklich aufmerksam zu machen, und sie
dadurch herbeizuführen.

4. Wie bereits erörtert wurde, ist =Leidenschaft= wohl ein
prä-disponirendes Moment zu heftigen Gemüthsbewegungen, und diese
letzteren können Verbrechen veranlassen, niemals darf aber gesagt
werden, dass die =Leidenschaft= der Grund der Rechtsverletzung sei,
da dieser Grund ohne den Eintritt einer solchen, das Bewusstsein
aufhebenden, momentanen Gemüthsbewegung nur in dem Umstande liegt, dass
der Verbrecher sich dem Hange nach Erreichung des Gegenstandes seiner
Leidenschaft mit freiem Entschlusse hingab. Es muss also der Arzt,
welcher ein Gutachten über den Gemüthszustand eines solchen Individuums
abzugeben hat, immer die Leidenschaft vom Affekt zu unterscheiden
wissen, und sein Gutachten so abgeben, dass diese Unterscheidung für
den Leser auch klar hervortrete.

5. Von der Leidenschaft ist der Hang zu gewissen Verbrechen wesentlich
verschieden, denn Leidenschaft setzt immer die Richtung nach einem
individuell bestimmten äusseren Gegenstande, oder nach einer ebenso
individuell bestimmten Richtung der physischen oder psychischen
Thätigkeit voraus. Das =Verbrechen= aber, es möge wie immer Namen
haben, ist immer ein allgemeiner Begriff von einer ganzen Gattung
unter einander in materieller Beziehung wesentlich verschiedener
Handlungen. Derjenige, welcher z. B. einen besondern Hang zeigt zu
=morden=, wird nicht auf alle mögliche Weise morden, wozu sich ihm
Gelegenheit darbietet, sondern gewisse Methoden darin üben; Derjenige,
welcher einen Hang hat zu stehlen, stiehlt nicht alles Mögliche, was
er stehlen kann, sondern nur gewisse Gegenstände, oder unter gewissen
Verhältnissen. Es ist also nicht sowohl das Vergnügen an der Verübung
des =Verbrechens=, was ihn zu seiner Thätigkeit antreibt, sondern es
sind gewisse materielle Beziehungen, welche ihn zu der =bestimmten=
That veranlassen.

Da jedoch dieser Gegenstand eine besondere Besprechung erfordert,
so ist derselbe im Verlaufe dieses Aufsatzes unter einer besondern
Aufschrift behandelt.

6. Es kann nie genug empfohlen werden, bei einem Gutachten über
Gemüthszustände alle Ausdrücke zu vermeiden, deren psychologische
Richtigkeit einem gegründeten Bedenken unterliegt, sondern wenn
ein Zustand sich so gestaltet, dass derselbe unter keinem anerkannt
richtigen, und allgemein unter derselben Bedeutung anerkannten und
angenommenen Ausdrucke subsumirt werden kann, ist es unerlässlich,
diesem Mangel dadurch abzuhelfen, dass eine in das möglichste Detail
gehende, alle bekannt gewordenen, oder sich als wahrscheinlich
darbietenden Nebenumstände umfassende Schilderung des Zustandes, mit
Einem Worte, dass ein =Bild der Sache=, und nicht =Worte= gegeben
werden. Nur auf diese Weise lassen sich die ganz unlogischen, und
daher unwahren Ausdrücke, halbe Freiheit, halber Wille u. dgl.,
welche nur geeignet sind, eine für die Rechtspflege höchst schädliche
Begriffsverwirrung zu veranlassen, vermeiden, da alle diese Funktionen
eben so wenig, wie dies am gehörigen Orte nachgewiesen wurde, einer
=Theilung= fähig sind, als der Begriff der =Sittlichkeit=; der Mensch
kann das sittliche Princip noch wenig entwickelt haben, er kann aber
nicht =halb= sittlich handeln, denn dort wo auf eine Handlung der
Begriff von Sittlichkeit angewendet werden kann, lässt sich nur sagen,
er sei sittlich oder unsittlich. Der Wille kann durch psychische
Zustände so beschränkt sein, dass er nur in einer gewissen Beziehung
und in einem gewissen Grade auf die Thätigkeit eines Menschen Einfluss
zu nehmen vermag; dies ist möglich, wo man aber dieses Verhältniss
gewahrt, steht auch nichts entgegen, die Gründe durch Anführung von
thatsächlichen Umständen auseinander zu setzen, warum in dem speziellen
Falle der Wille gerade so weit, und nicht weiter, oder nicht in einem
höheren Grade seinen Einfluss zu äussern vermochte, und man wird, wenn
Derjenige, welchem eine solche Schilderung zu geben obliegt, anders
die nöthigen psychologischen und anderen Kenntnisse besitzt, welche
zur allseitigen Auffassung eines solchen Gegenstandes gehören, und
die nöthigen Daten hiezu aufzufinden und zu würdigen versteht, immer
zu dem Resultate kommen, dass es des Ausspruches, der Mensch habe nur
mit halbem Willen gehandelt, eben so wenig bedarf, als sich bestimmt
finden, einen Ausspruch über einen Divisor des Willens zu geben oder zu
verlangen.

7. Bei der Darstellung muss immer so zu Werke gegangen werden, dass
=ohne= Einbeziehung der =That=, um welche es sich handelt, =diese= als
eine nothwendige Folge der bei dem Subjekte beobachteten Abnormitäten,
in Verbindung mit den auf die Hervorbringung der That influirenden
Verhältnisse nachgewiesen werde, nicht aber dass, wie es auch schon
geschehen ist, die That selbst als einer der Gründe erklärt wird,
aus welchen der Wahnsinn folgen soll. -- Obwohl es nicht geläugnet
werden kann, dass ein solches Verfahren den Gesetzen einer richtigen
Beweisführung widerstreitet, deren Regeln ein jeder ärztlicher Befund
entsprechen muss, so ist es doch nicht unerhört, dass etwas dergleichen
geschehen sei. Da aber in dem Falle, wo das Thema, welches zu beweisen
ist, nämlich: die That NN. ist eine „Folge des Wahnsinns” -- wieder in
den Beweissätzen oder gar im Schlusse vorkommt, z. B. es würde gesagt,
weil der A die Thaten BCD und die That NN. beging, so folgt dass er
wahnsinnig sei -- das ganze Raisonnement und daher auch der darauf
gestützte Schluss den Gesetzen der Logik widerstreitet, so folgt,
dass dieser Fehler nothwendig vermieden werden muss, weil sonst das
Gutachten, als auf einem erweislichen Fehlschlusse beruhend, seine
Giltigkeit verliert. -- Dieser Fehler rührt, wo er Statt findet, von
gar nichts Anderem her, als weil man das eigentliche Thema, zu dessen
Erörterung die ganze Erhebung Statt hatte, entweder sich nicht klar zu
machen verstand, oder wieder aus den Augen verlor, und Beides ist nach
der bisherigen Darstellung eben nicht schwer zu vermeiden.



C. Schwärmerei.


§. 77.

Es ist in der That nicht leicht zu sagen, was unter diesem Zustande
zu verstehen sei. So viel ist indessen gewiss, dass man von keiner
Schwärmerei für das Spielen, für das Trinken spricht, und dass
man jedenfalls darunter ein lebhaftes Anstreben eines Gegenstandes
versteht, welcher anderen Menschen keineswegs einer so aufgeregten
Thätigkeit werth scheint. Schwärmerei dürfte daher etwa so viel, als
eine Leidenschaft für einen sittlichen, oder wenigstens dem Schwärmer
selbst sittlich scheinenden Gegenstand bedeuten.

Da nun Leidenschaft dem Menschen =natürlich= ist, so ist es auch die
=Schwärmerei=, welche übrigens gerade darum, weil ihr Gegenstand
zunächst ein nicht sinnlicher ist, eine besondere Thätigkeit der
Einbildungskraft, und daher auch eine solche allgemeine Disposition
des Individuums, durch welche eine besonders lebhafte Thätigkeit der
Einbildungskraft bedingt ist, voraussetzen wird, woher es zuverlässig
kommt, dass man sich Schwärmerei nicht ohne den Begriff von dem
Nachjagen nach einem Phantasiegebilde denken kann, und dass überhaupt
dieser Zustand nur bei phantasiereichen Leuten vorkommt.

Dieser Zustand ist nun an und für sich kein =krankhafter=
Gemüthszustand, er kann aber sowohl aus einer krankhaften Verstimmung
=entstehen=, als eine krankhafte Verstimmung =zur Folge haben=, wie
dieses in der Abhandlung _B._ nachgewiesen wurde, es lässt sich daher
nicht läugnen, dass durch Schwärmerei, d. h. durch die, in Folge dieses
Zustandes verursachte Krankheit verbrecherische Handlungen veranlasst
werden können.

Darüber kann nun wohl kein vernünftiger Zweifel obwalten, so wie an dem
Umstande, dass es sich dann um die Frage handeln wird, ist der Mensch,
indem er diese Handlung verübte, =wahnsinnig= gewesen, oder befand er
sich in einem, wenn auch durch Schwärmerei erzeugten, Zustande heftigen
=Affektes=, in welchem er in einer Stimmung war, worin sittliche
Vorstellungen oder doch jene von der rechtswidrigen Schädlichkeit
der That nicht mehr dem Ausbruche seines Affektes Einhalt zu thun
vermochten.

Dies ist nun allerdings die sich als nothwendig ergebende Ansicht
der Sache, durch welche, wenn sie gehörig durchgeführt wird, sich
zuverlässig ein für die richterliche Entscheidung vollkommen genügendes
Resultat wird erzielen lassen.

Gewöhnlich betrachtet man den Gegenstand jedoch noch von einer anderen
Seite, man stellt sich nämlich die Frage auf: =ist es möglich, dass
ein Mensch, ohne wahnsinnig zu sein, eine ihm offenbar als unsittlich
bekannte That=, z. B. einen Mord, =zur Erreichung eines sittlichen
Zweckes begehen, und diese= in den Augen eines jeden anderen Menschen
als unsittlich erscheinende =That für sittlich halten könne=, und darum
straflos bleiben müsse (oder mit anderen Worten unzurechenbar sei)?

Dies ist nun viel auf einmal gefragt, viel mehr als man vernünftiger
Weise fragen sollte, und noch dazu auf eine recht suggestive Weise
gefragt, wodurch demjenigen, welcher die Mühe scheut, die Frage in
allen ihren Punkten gehörig zu beleuchten, für den letzten Punkt eine
Antwort in den Mund gelegt wird, weil sich in der That nicht verkennen
lässt, dass aus den übrigen Theilen der Frage sich wirklich keine
Anhaltspunkte ergeben, um diesen letzten Punkt beantworten zu können.

Wir wollen daher die Frage in ihre einzelnen Theile zerlegen und sehen,
in welchen Verhältnissen sie zur Rechtspflege sich befinden.

Die Frage schliesst nämlich in ihrem ersten Theile: ist es möglich,
dass ein Mensch zu einem sittlichen Zwecke eine unsittliche Handlung
begehen könne? die Unterscheidung in sich: _a_) ist es möglich, dass
ein Mensch zu einem sittlichen Zwecke eine Handlung begehen könne,
die er selbst für unsittlich erkennt, oder _b_) ist es möglich, dass
er in der Aufregung, in welcher er den sittlichen Zweck anstrebt, den
Umstand, dass das Mittel, dessen er sich bedient, ein unsittliches sei,
übersehen könne?

Das Letztere kann man im Allgemeinen bejahen, ohne dass die Bejahung
gerade irgend einen wesentlichen Nachtheil bringen könnte, denn
der Mensch, welcher sittlich zu handeln entschlossen ist, wird sich
schwerlich bedeutende Uebersehen dieser Art zu Schulden kommen lassen,
er wird allenfalls fremdes Geld verschenken, weil er =vergisst=, dass
es nicht ihm gehört, nicht aber, um einen Menschen aus dem Wasser zu
ziehen, einen anderen, der nicht schwimmen kann, hineinwerfen.

Der erste Punkt muss aber geradezu verneint werden, denn jeder Mensch
fühlt, dass er selbst nicht das =Mittel= ist, um einzelne sittliche
Zwecke zu erreichen, sondern dass er für =seine Person= sittlich zu
sein habe. Handelt er daher für seine Person =unsittlich=, so handelt
er gegen die Bestimmung, zu welcher er selbst auf der Welt ist.

So viel zur Beantwortung der Frage vom moralischen Gesichtspunkte aus,
von welchem daher nothwendig die Frage dahin beantwortet werden muss,
dass Derjenige, welcher zu einem sittlichen Zwecke unsittlich handelt,
schon dadurch sich gegen die Sittlichkeit verfehlt, weil er aus seinen
Schranken als Mensch hinaustritt, und sich, ohne die göttliche Weisheit
zu besitzen, die göttliche Gerechtigkeit zu exequiren anmasst.

Eine Frage, welche nun so gestellt ist, dass man darauf ja und nein
antworten, und in beiden Fällen Recht haben kann, ist entschieden
mangelhaft gestellt.

Noch weniger ist aber die Tendenz dieser Frage zu billigen, nämlich,
der Schlusssatz: wenn es nicht möglich ist, dass Jemand mit dem
Bestreben einen sittlichen Zweck zu erreichen, unsittlich gehandelt
hat, -- so muss Derjenige, welcher eine solche That begangen hat,
wahnsinnig und daher unzurechenbar sein; diese Wendung ist sogar den
logischen Gesetzen entgegen, denn es heisst nach einer logischen Formel
ausgedrückt dieser Schluss folgendermassen:

Ein wirklich sittlicher Mensch handelt nicht unsittlich zu einem
sittlichen Zwecke.

Ein Wahnsinniger =kann= zu einem ihm als sittlich erscheinenden
Zwecke unsittlich handeln, -- folglich ist Derjenige, welcher zu einem
sittlichen Zwecke unsittlich handelt, wahnsinnig.

Welcher vernünftige Mensch wird so schliessen, es folgt daher in der
That nichts weiter aus dieser Formel, als dass unter die möglichen
Fälle, in welchen sich jemand einer unsittlichen Handlung zur
Erreichung eines sittlichen Zweckes bedient, auch dieser gehören kann,
dass der Mensch wahnsinnig und daher an und für sich unzurechenbar ist,
nicht aber, dass es in =allen= Fällen so sei.

Wo daher ein solcher Fall vorkommt, wird es allerdings auch zur Aufgabe
der Erhebung gehören, auszumitteln, ob der Mensch nicht wahnsinnig
und daher überhaupt, oder doch in Betreff seiner That unzurechenbar
sei, allein wenn aus den hierüber angestellten Erhebungen sich das
Vorhandensein eines wirklichen Wahnsinns nicht herausstellt, so folgt
auch gar nichts, um die Zurechenbarkeit in Zweifel zu ziehen.


§. 78.

Dieses Resultat ergibt sich, wenn man die Sache vom sittlichen
Gesichtspunkte betrachtet. Noch weniger ergeben sich aber Gründe für
die nicht Zurechenbarkeit einer solchen That vom psychologischen und
vom rechtlichen Gesichtspunkte aus betrachtet.

In erster Beziehung lässt sich nämlich nicht verkennen, dass keine
Vorstellung des Menschen eine =rein= sittliche ist, sondern jede
Vorstellung ist nur zum Theil ein sittliches Bild. Es ist wohl nicht
zweifelhaft, dass Jemand, welcher einen Anderen mit Gefahr seines
Lebens aus dem Wasser zieht, sehr sittlich handle, allein die Motive,
welche ihn zu dieser Rettung bestimmten, liegen doch wohl auch in
=anderen= Vorstellungen, als z. B. in dem erregten sympathetischen
Gefühle, in der Vorstellung der Freude, welche der Gerettete und seine
Angehörigen haben werden, auch hat vielleicht der Gedanke an den Ruhm,
der durch eine solche That zu erwerben ist, einigen Antheil. -- Es
liegt auch gar nicht in der menschlichen Natur, grosse Entschlüsse
zu fassen, wenn nicht lebhafte Vorstellungen auf ihn wirken, und dazu
gehören allerdings auch =sinnliche= Bilder (§. 20).

Dieses Verhältniss benimmt nun der That allerdings nicht ihren
sittlichen =Werth=, da es sehr möglich ist, dass =ohne= das rege
Pflichtgefühl die That ungeachtet der =übrigen= Aufforderungen
=unterblieben= wäre; kein Mensch, nicht einmal das handelnde Subjekt
selbst, sondern nur Gott allein sieht aber, wie viel wirklich
Sittliches an der Handlung war.

Strebt nun ein Mensch nach einem Zwecke, von dem sich wirklich
annehmen lässt, dass er ihn für sittlich gehalten habe, so lässt sich
wohl eben so wenig bestimmen, ob es das =Sittliche=, was er daran
gewahrte, gewesen ist, was sein Bestreben bestimmte, oder das mit
Erreichung des Zweckes =sinnlich Angenehme=. Es kann daher sehr wohl
geschehen, dass gerade diese =letztere= Vorstellung, ohne dass er es
selbst ganz klar erfahren hätte, ihn bestimmt habe, den ordentlichen
Weg des fortwährenden Anwendens =sittlicher= Mittel zu =verlassen=,
oder das Sittliche an dem Zwecke selbst =aufzugeben=, nachdem er die
Ueberzeugung gewann, dass er ihn auf dem Pfade der Sittlichkeit nicht
erreichen kann, und sich zur Anwendung eines unsittlichen Mittels, den
Weg abzukürzen, oder sich einen neuen Weg zu bahnen, und in diesem
Falle ist seine That nichts weiter, als ein =unsittliches= Mittel
zur Erreichung eines =egoistischen=, wenn auch gerade nicht objektiv
=unsittlichen= Zweckes. -- Er bleibt daher für das angeordnete =Mittel=
eben so sehr in moralischer Beziehung =verantwortlich=, als für die
nachtheilige Folge rechtlich =strafbar=.

So schwierig nun für jeden Dritten die Unterscheidung sein wird, ob
nicht ein solches Individuum über den Umstand, dass es nicht sittlich
erlaubt sei, zum Besten eines sittlichen Zweckes ein =bestimmtes=
Mittel anzuwenden, sich etwa in einem =Irrthume= befand, so wenig
schwierig scheint die Frage in =rechtlicher= Beziehung zu beantworten,
ob ein Mensch =strafbar= ist, wenn er zur Erreichung eines sittlichen
Zweckes sich eines Schaden bringenden Mittels bediente.

In =sittlicher= Beziehung wird der Mensch zur Begehung oder
Unterlassung einer Handlung durch sein =Gefühl= oder seine =Grundsätze=
bestimmt, welche von einem Dritten am Ende doch nie vollständig
controllirt werden können. Der Staat fordert von seinen Unterthanen
jedoch nicht =Gefühle= oder =Grundsätze=, sondern =Handlungen=
und =Unterlassungen=. Begeht nun Jemand, wie es sehr vielfältig
geschieht, keine gesetzwidrigen Handlungen aus dem Grunde, weil er,
und zwar mit Recht, die bürgerlich strafbaren Handlungen =zugleich
für unsittlich hält=, so ist er ein um so besserer Bürger, und eines
besonderen Vertrauens würdig. Begeht er aber verbotene Handlungen,
oder macht er sich strafbarer Unterlassungen schuldig, weil er
sie =nicht= für unsittlich hält, so legt er dadurch an den Tag,
dass seine =Sittlichkeit keine= hinlängliche Bürgschaft für die
=Unschädlichkeit= seines Benehmens gewähre, und setzt daher den Staat
in die Nothwendigkeit, diejenigen Massregeln anzuwenden, wodurch er und
Seinesgleichen =genügende= Motive zu einem legalen Benehmen erhalten,
nämlich die Zufügung der für die Begehung oder Unterlassung gewisser
Handlungen angedrohten Strafen.


§. 79.

Wir kehren nun wieder zu dem als Schwärmerei bezeichneten
Gemüthszustände zurück, und wollen nun die besonderen Modificationen
betrachten, welche die gerichtlich medizinische Untersuchung eines
Individuums, welches in diesem Zustande ein Verbrechen begangen hat,
berücksichtigen müsse.

Es lässt sich nämlich nicht verkennen, dass der als =Schwärmerei=
bekannte Zustand eben darum, weil derselbe besonders die Thätigkeit
der Einbildungskraft in Anspruch nimmt, von gewissen Erscheinungen
begleitet sein werde, welche bei =anderen= Leidenschaften, welche
gewöhnlich =materielle= Bedürfnisse und Wünsche zum Gegenstande haben,
oder doch durch materielle Bedürfnisse und Wünsche =veranlasst= werden,
entweder =gar nicht=, oder doch in viel =geringerem Grade= vorkommen.

Wir wenden uns daher unmittelbar an eine Erscheinung, in welcher
die vorherrschende Thätigkeit der Einbildungskraft unverkennbar ist,
nämlich den =Traum=.

Wem ist es nicht schon begegnet, dass er, nach der Anhörung einer
Erzählung von einem Verbrechen, nicht nur =von der That= geträumt,
sondern im Traume =selbst= das =handelnde= Individuum war, ihm dabei
wohl =einfiel=, dass dasjenige, was er da beginne, nicht in der Ordnung
sei, dieser Gedanke ihn aber doch =nicht hinderte=, die That mit allen
den Nebenumständen, wie er sie gehört oder gelesen hatte, zu Ende zu
führen.

Diese Erscheinung erklärt sich nun allerdings dadurch, dass die
im Schlafe wirkende Vorstellungsthätigkeit nur die That mit ihren
Nebenumständen, nicht aber auch diejenigen sittlichen Vorstellungen
reproduzirte, welche im Wachen die Ausführung einer solchen That bei
ihm zuverlässig unmöglich gemacht haben würden.

Es frägt sich aber, ob der Mensch nicht auch wachend träumen und in
einem solchen wachenden Schlummer nicht auch Thaten verüben könne,
welche er bei vollkommen =reger= Besinnung zuverlässig =unterlassen=
hätte.

Folgende zwei Fälle, welche sich bei der, nunmehr kaum dem Namen nach
mehr bekannten Sekte der Pöschlianer[45] zutrugen, scheinen für die
Bejahung dieser Frage zu sprechen.

  [45] Die Pöschlianer, welche in den Jahren 1816 und 1817 sich
      insbesondere in einigen Gegenden des Inn- und Traunviertels
      in Oberösterreich bemerkbar machten, hatten eine eigene
      Gattung von Schwärmerei entwickelt, in der sie insbesondere
      die Erringung der Unschuld vor dem Sündenfall als möglich
      hielten, ferner die Lehre annahmen, dass die Begebenheiten,
      von welchen die heilige Schrift erzählt, sich wieder
      erneuern, und die göttlichen oder sonst zu göttlichen Zwecken
      auf Erden gewesenen Personen wieder in der Gestalt des einen
      oder andern von ihnen sich zeigen müssen. So war nun der
      eine von ihnen Gott Vater (ich hatte später im Jahre 1833
      das Vergnügen, ihn und einen anderen, welcher der Apostel
      Johannes war, persönlich kennen zu lernen; der erste war
      ein stattlicher Mann), ein anderer war Christus, ein Mädchen
      die Jungfrau Maria u. s. w. Eine der vorzüglichsten Rollen
      darunter spielte _Pöschl_, welcher, ein anerkannt frommer
      und geachteter Mann, den unglücklichen Buchhändler _Palm_,
      welcher zu Braunau auf Befehl des damaligen Herrschers der
      Franzosen erschossen wurde, zum Tode vorbereitete. -- Ich
      habe mit Augenzeugen über diese Begebenheit gesprochen, --
      es mag erschütternd genug gewesen sein. -- Die Exekution des
      Unglücklichen, welcher in der landgerichtlichen Frohnveste
      zu Braunau sich im Verhafte befand, wurde mit möglichster
      Beschleunigung betrieben. Die Gattin des Unglücklichen kam
      in Begleitung von zwei Kindern und brachte die Begnadigung
      an als das Exekutionskommando vom Richtplatze zurückkehrte,
      nachdem die ersten Schüsse den Verurtheilten nur verwundet,
      und erst wiederholte ihn getödtet hatten. Für _Pöschl_ hatten
      diese Szenen eine entschiedene Gemüthskrankheit zur Folge,
      in der er von jener Schwärmerei, welche in den Drangsalen des
      Krieges, denen diese Gegenden fortdauernd unterworfen waren,
      ihr ursprüngliches Motiv fand, fortgerissen wurde.

      Den weisen Bemühungen der österreichischen Regierung gelang
      es, durch die verfügten zweckmässigen Einschreitungen
      der weltlichen Gerichte, so wie der Geistlichkeit, diesem
      Unwesen, welches, wie aus den oben im Texte gelieferten
      Erzählungen erhellt, die furchtbarsten Folgen hatte, zu
      steuern, ohne dass nur ein einziger Derjenigen, welche sich
      dabei betheiligt hatten, eine Strafe erlitten hätte. (Sieh
      hierüber die hievon handelnde Schrift des Herrn Professors
      _Talat_ in Landshut.)

Der Held des ersten dieser Fälle (er wurde mir von dem damaligen Herrn
Bezirksarzte, jetzt quieszirten k. k. Kreisarzte, Dr. _Maffei_, der
dabei selbst intervenirte, mitgetheilt) war ein Bauer, welcher sich
einbildete der Erzvater Abraham zu sein, und wie Dieser den Beruf
zu haben, seinen kleinen Sohn zu schlachten. In Ermanglung eines
Berges ging er auf das flache Dach seines Hauses, errichtete dort
einen Scheiterhaufen, führte seinen Sohn hinauf und hatte schon das
Schlachtmesser in Bereitschaft. -- Sein Beginnen war jedoch glücklicher
Weise von einem Nachbar bemerkt worden, der davon sogleich dem
Gerichte die Anzeige machte, welches zum Glücke nicht weit entfernt
war. -- Man verfügte sich eiligst an Ort und Stelle, fand das Haus
verschlossen, ihn selbst aber eben im Begriffe das Opfer an seinem
Sohne zu vollziehen. -- Das Eindringen in sein Haus würde die That
beschleuniget haben, man verfiel daher auf das Mittel, dass einer der
Anwesenden auf das Dach des gegenüberstehenden Hauses stieg, mit einer
Flinte auf ihn anschlug und ihn zu erschiessen drohte. Dies störte ihn
etwas in seinem Wahnsinne, er starrte den Mann mit der Flinte an, der
seine Drohungen wiederholte. -- Indess waren Leute mit einer Leiter
auf das Dach gestiegen und überfielen ihn von rückwärts, und so war das
Opfer gerettet. Er selbst wurde der ärztlichen Behandlung übergeben und
wieder zu Vernunft gebracht.

Der andere Fall besteht in folgendem Ereignisse:

Einige solche Schwärmer hatten sich in einem Hause zur Nachtszeit
versammelt und übten ihre inspirirten Predigten.

Mit Einemmale fiel ihnen bei, dass ein alter Mann, der in ihrer Nähe
sein Haus hatte, nichts von ihrem neuen Glauben wissen wolle, und sie
waren bald einverstanden, dass dieser jetzt bekehrt werden müsse. Sie
begaben sich nun, unter ihnen ein achtzehnjähriges Mädchen, zu dem
Hause desselben, und verlangten, er solle herauskommen. Erst als sie
ihm drohten das Haus anzuzünden, öffnete er die Thüre und fragte sie,
was sie wollen. Er solle mit ihnen kommen, ihren neuen Glauben annehmen
u. s. w. Der Unglückliche antwortete ihnen nun, dass er von ihnen
nichts wissen wolle -- da trat jenes junge Mädchen hervor und schlug
ihn mit dem Ausrufe: „Der Geist befiehlt, der Ungläubige muss sterben!”
mit einer Hacke zum Kopfe, dass er tödtlich getroffen zu Boden stürzte.

Derlei Erscheinungen sind wohl entschieden wahnsinnige Thaten,
allein lässt sich wohl annehmen, dass Hunderte von Menschen zugleich
wahnsinnig wurden[46]?

  [46] Die Geschichte der Cholera und die Beschreibungen des
      _Boccaccio_ von der Pest liefern ähnliche Begebenheiten.

Solche Szenen ereigneten sich in mehr als Einer Versammlung, sie
loosten wer von ihnen als Opfer sterben müsse, und wen das Loos traf,
liess sich ruhig langsam tödten. Einer der mit der Erhebung dieser
That beauftragten Inquirenten, der gegenwärtig pensionirte Herr k. k.
Pfleger von Neumarkt, _Joseph Gruber_, hatte sich in den Verhaftort
begeben, um eine Mutter, welche einer Versammlung beigewohnt hatte, in
welcher ein solches Opfer gebracht worden, und nun mit den Uebrigen in
einem grossen Saale in Verhaft gebracht war, zum Verhöre abzuholen.
-- Alle lagen auf den Knien und es herrschte Todtenstille. Als er
nun mit dieser Verhafteten, welche ihr Kind auf den Armen hatte, das
Arrestlokale verlassen wollte, sprang, als der Gerichtsdiener die Thüre
öffnete, ihr Mann hervor, riss dem wachestehenden Soldaten das Bajonnet
vom Gewehre und brachte seiner Frau einen Stich bei, der dem Kinde
gegolten hatte, damit, wie er sich ausdrückte, die Seele des Kindes
nicht in die Hände der Ungläubigen falle.

Kann man nun wohl annehmen, dass Hunderte von Menschen zugleich
von demselben Wahne befallen werden, wenn dieser ein Produkt einer
=Krankheit= sein soll? -- Die Leute waren früher vernünftig und wurden
es wieder, als man sie in eine vernünftigere Umgebung brachte, auch
trugen ihre Thaten zu entschieden das Gepräge ihrer schwärmerischen
Ansichten, als dass man nicht eben diese ihre Schwärmerei als die
einzige Ursache ihrer Thaten betrachten sollte, sondern es lässt sich,
besonders wenn man die Thaten betrachtet, die sie verübten, als sie
_in corpore_ versammelt waren, nichts Anderes behaupten, als dass
sie alle in einen Zustand versetzt waren, in welchem sie willenlos,
sobald nur der Eine aus ihnen einen Impuls gab, welcher dem Ideengange
ihrer Schwärmerei entsprach, diesem zu folgen und ihn auszuführen sich
gedrungen fühlten, wobei nur Jeder nach seinem eigenen Ideengange etwas
Weniges dazu oder davon that. Sie waren recht eigentlich im Zustande
des wachenden Traumes, in welchem sie ihre Thaten gerade so begingen,
wie sie ihnen ihre Phantasie vorgaukelte.

Wie bereits oben erwähnt wurde, habe ich selbst solche Individuen
gekannt, welche dieser Schwärmerei anhingen. Sie waren zwar von ihrer
früheren Schwärmerei geheilt, allein sie waren düster und träumerisch
gestimmt, gerade =wie es nach einem schweren Traume= zu geschehen
pflegt.


§. 80.

Was jedoch die krankhafte Aeusserung, welche durch den exaltirten
Zustand der Schwärmerei bei jenen Individuen entstanden war, vollkommen
charakterisirt, ist der Umstand, dass sie ihre Thaten eben so
ausführten, wie sie von ihnen =ursprünglich= konzipirt wurden, ohne
dabei irgend einen materiellen Zweck erreichen zu wollen; Derjenige,
welcher seinen Sohn schlachten wollte, schoss ihn nicht etwa mit einer
Pistole todt, sondern er benahm sich ganz so, wie sein Vorbild es
ihm darstellte. -- Hierauf muss man daher sehen, wenn es sich darum
handelt auszumitteln, ob eine bestimmte That eine Folge der durch die
Schwärmerei hervorgebrachten Lähmung der Willenskraft war. -- Ist
eine solche That nicht irgend einem Vorbilde ähnlich oder in allen
ihren Theilen nicht eine Folge des eingetretenen Impulses, sondern
hat der Thäter zwischen den Mitteln in der Verübung seines Verbrechens
=gewählt=, oder wird dadurch ein materieller Nutzen erreicht, so ist
sie nach aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr eine unwillkürliche Folge
seiner schwärmerischen Aufregung, sondern ist mit =Willen= vollbracht
und daher strafbar. -- Dieser Unterschied muss bei der Erhebung daher
berücksichtiget und verfolgt werden, um eine vorgegebene unwillkürliche
Handlungsweise von einer willkürlichen zu unterscheiden.

Im Uebrigen dürfte die Schwärmerei, d. h. dasjenige Individuum, welches
aus solcher ein Verbrechen verübte, nach denjenigen Grundsätzen
zu beurtheilen sein, welche in den bisherigen Abhandlungen über
Gemüthszustände erörtert wurden.



D. Blödsinn.


§. 81.

Wie schon die Benennung ausdrückt, ist dieser Zustand eine Abnormität
der =Sinnes=thätigkeit, und da die Natur des Menschen so beschaffen
ist, dass die geistige und physische Thätigkeit des Menschen sich in
innigster Beziehung befinden, so ist gegen die Möglichkeit des hierin
bezeichneten Zustandes nicht das Mindeste zu erinnern, ja es lässt
sich hierdurch vollkommen begreiflich machen, dass gewisse Störungen
des =äusseren= Sinnes =gewissen= Störungen des =inneren= Sinnes
entsprechen, =andere= Funktionen aber dabei =ungestört= bleiben.

Die Erklärung, =wie= dies geschieht, ist nun wohl für die gerichtliche
Erhebung ganz überflüssig, diese wird sich vielmehr in einem solchen
Falle auf nachfolgende Punkte zu erstrecken haben:

1. Ist der Zustand des Beschuldigten von der Art, dass ihm überhaupt
jede Kenntniss von der Bedeutung seiner Thätigkeit abgesprochen werden
muss?

2. Ist im Falle der Verneinung dieser Frage seine That nicht von
der Art, dass sie gerade dem =Mangel= an =jenen= Vorstellungen ihr
Dasein verdankt, durch welche sich der Blödsinn bei =diesem= Menschen
charakterisirt, z. B. ein Blödsinniger, welcher sich durch besondere
Gleichgiltigkeit gegen die Leiden seiner Nebenmenschen auszeichnet,
lässt ein von ihm zufällig in's Wasser gestossenes Kind umkommen.

3. Ist sein Blödsinn von der Art, dass eine seine Thätigkeit reizende
Vorstellung nur darum zur That wurde, weil ihm alle jene Vorstellungen
mangelten, durch welche die Ausführung der That gehindert, oder doch
seine Thätigkeit so modifizirt worden wäre, dass sie nicht diese
verbrecherische Wirkung gehabt hätte. Als nähere Beleuchtung dieses
Satzes erlaube ich mir auf den dritten dieser Abhandlung folgenden
Kriminalfall, den Vatermord des _M. Krotz_, hinzudeuten.

4. Ist der Blödsinn nicht etwa mit einer =fixen Idee= oder =Monomanie=
verbunden, oder ergibt sich etwa aus den Erhebungen, dass der
Blödsinnige von einer herrschenden Vorstellung befangen ist, welche
das Verbrechen bedingte, und eben darum, weil sie die =einzige= ist,
welche er mit einiger Energie zu entwickeln vermag, aus Mangel jeder
=anderen= intensiven Vorstellung, welche dieser das Gleichgewicht zu
halten vermochte, ihn mit =Nothwendigkeit= zur Verübung des Verbrechens
bestimmte. In diese Klasse gehört offenbar der Fall, wo eine dritte
Person auf ein solches Individuum eine grosse psychische Macht ausübt
und es zur Verübung der That aufforderte.


§. 82.

Als Mittel, diese Fragen zu beantworten, ist nun wohl die ärztliche
Untersuchung der =physischen= Beschaffenheit unumgänglich nothwendig,
allein diese wird, den Fall des entschiedenen Kretinismus ausgenommen,
nicht =genügen=. -- Ebensowenig wird eine blosse mit ihm angestellte
=Unterredung= genügen, um hierüber ins Klare zu kommen, sondern es
wird nothwendig sein, alles dasjenige zu beobachten, was im §. 43 und
den folgenden hierüber angedeutet wurde, denn nur die Aufstellung des
=vollständigen Bildes= eines solchen Zustandes vermag über das richtige
Verhältniss desselben zu seiner That die nöthigen Anhaltspunkte zu
geben.

Nicht genug kann man aber vor einem Fehler warnen, welcher bei
solchen Erhebungen nicht selten begangen wird, und welcher darin
besteht, dass man eine Art =Katechisirung= mit einem solchen Menschen
anstellt, und wenn er darin erträglich =besteht=, insbesondere Fragen,
welche sich auf sein =Verbrechen= beziehen, so beantwortet, dass
aus den Antworten hervorgeht, er habe die =Benennung=, welche die
That führt, unter die =Rubrik= der unerlaubten Handlungen in seiner
Gedächtnisstafel eingetragen, und wenn er dabei noch auf Fragen, die
sich auf das gewöhnliche Treiben beziehen, ziemlich passende Antworten
gibt, sogleich den Schluss zu ziehen -- also ist der Mensch im Stande
gewesen, das =Gesetzwidrige= seiner That =einzusehen=.

Denkt man sich noch dazu, dass der Richter in seinem Verhöre dasjenige,
was der Inquisit =unzusammenhängend= und widersinnig =vorbringt=,
in zusammenhängender Erzählung zu Protokoll diktirt, so kann man
wohl nicht ohne ängstliche Empfindung auf die Folgen denken, welche,
besonders bei =wichtigen= Verbrechen, eine solche Prozedur haben kann.
Jedes Spruchgericht dürfte, besonders wenn etwa aus Zeugenaussagen
oder durch den beliebten Beisatz im Gutachten: „der Mensch sei zwar
auf einer sehr niederen Stufe der Bildung, aber sonst von richtigem
Urtheile,” sich im Vergleiche mit dem Inhalte des Verhörsprotokolles
ein solches Bedenken ergibt, sich bestimmt finden, eine genaue Erhebung
über den Gemüthszustand zu verlangen, und sich die =protokollarische
Verhandlung hierüber vorlegen zu lassen=, damit es in die ihm sonst
unmögliche Lage komme, entweder =selbst= beurtheilen zu können, ob
wirklich mit Sachkenntniss vorgegangen worden sei, oder hierüber ein
=Fakultätsgutachten= einholen könne, ehe es, besonders bei solchen
Verbrechen, worauf =Todesstrafe= oder eine langjährige Kerkerstrafe
verhängt werden muss, eine =Verurtheilung= ausspricht.

Der Grund aber, aus welchem ein solches Verfahren, wie es oben erwähnt
wurde, nicht genügend scheint, um ein verlässliches Urtheil über die
Zurechnungsfähigkeit des Subjektes darauf zu gründen, ist der bereits
bei §. 20 entwickelte. Es lässt sich nämlich die Möglichkeit nicht
verkennen, dass bei dem Unterrichte, welchen ein solches Subjekt in der
Schule erhält, sich gewisse Lehren, d. h. die =Worte=, in welchen diese
Lehren gegeben sind, seinem Gedächtnisse einprägen, und dass, wenn die
ihm wohl =wohlbekannte Frage= gestellt wird, diese =Worte=, welche
die Antwort hierauf bilden, reproduzirt und von ihm =ausgesprochen=
werden. -- Geschieht dieses, so beweiset es nichts weiter, als dass ihm
nicht =alles Gedächtniss= mangle, nicht aber, dass er die behaltenen
Worte =verstehe=, d. h. ihren Sinn =fühle=, und noch weniger, dass sie
auch dort irgend eine =Wirkung= auf seine Handlungsweise zu äussern
vermögen, wenn irgend ein =wirklich= vorhandenes =Gefühl= ihn zu
einer, wenn auch widersinnigen, Thätigkeit veranlasst. Es kann sein,
dass ein Blödsinniger, welcher einen Anderen getödtet hat, die zehn
Gebote weiss, es ist auch möglich, dass er nach der Frage: „Welches
Gebot glaubst Du übertreten zu haben?” bei dem fünften Gebote richtig
einfällt; es kann sich aber auch treffen, dass er über seine Antwort
=Freude= äussert, wenn er aus den Mienen der Fragenden die Bestätigung
entnimmt, dass er seine Lektion richtig gekannt habe.

Es ergibt sich daher bei einer solchen Erhebung die Nothwendigkeit
eines zwischen Arzt und Richter durchaus =gemeinschaftlichen=
Verfahrens. Nur die Beurtheilung der physischen Beschaffenheit bleibe
dem Arzte =allein= überlassen, bei allen sonstigen Erhebungen muss,
und zwar in der Art, wie es zu geschehen hat, wenn der Thatbestand
über einen für die Untersuchung wichtigen Umstand erhoben werden soll,
mit steter Intervenirung der =Gerichtspersonen=, und mit sogleicher
=Aufzeichnung= der angewendeten Prozedur und der gewonnenen Resultate
verfahren werden, zwar nicht gerade im Wege eines artikulirten
=Verhöres=, aber doch so, dass das Gericht unmittelbar von den
Ergebnissen =Kenntniss= erhalte. Wo sich daher eine Unterredung
des Gefangenen mit dem Arzte allein oder mit seinen Angehörigen als
zweckmässig zeigt, ist sie zu gestatten, es auch so einzuleiten, dass
das Subjekt sich unbeachtet =glaubt=, dass er es aber nicht wirklich
=ist=, überhaupt aber so zu verfahren, wie dieses bei §. 43 und den
folgenden bezüglich der Erhebung des Wahnsinnes dargestellt wurde.


§. 83.

Dass übrigens Blödsinn, dann Roheit und Mangel an Ausbildung nicht mit
einander verwechselt werden dürfen, bedarf keiner Erinnerung. Um aber
nicht in einen solchen Fehler zu verfallen, ist es nothwendig, dass man
mit dem Subjekte in dem =Dialekte= spreche, den es zu hören =gewohnt=
ist, nicht um Dinge frage, von denen es vielleicht nie etwas =gehört=
hat, und bei Dingen, die nicht unbekannt sein können, sich =solcher=
Ausdrücke bediene, die es zu hören =gewohnt= ist, sonst erhält man
entweder gar keine oder verkehrte Antworten. Gibt ein solcher Mensch
scheinbar unpassende Antworten, so forsche man nach, ob nach den
ihm zugänglichen Begriffen nicht etwa doch ein vernünftiger Sinn in
seinen Worten liege. -- Es gehört also zu einer solchen Unterredung,
dass Derjenige, welcher sie einleitet, genau mit den Sitten und der
Lebensweise derjenigen Klasse in demjenigen Orte, in welchem sie Statt
fand, bekannt ist, widrigens man unmöglich zu einem entscheidenden
Resultate gelangen kann.


§. 84.

Derjenige Zustand, welchen man als =Dummheit= bezeichnet, kommt im
Wesentlichen, wenigstens in =rechtlicher= Beziehung, mit dem Blödsinne
überein, denn es ist dies ein Zustand, welcher ebenfalls aus einer
mangelhaften Anlage des Menschen entspringt, und daher in keinem
Verschulden desselben begründet ist. -- Der physiologische Unterschied
zwischen diesen beiden Zuständen hat aber mit der rechtlichen Bedeutung
eines solchen Zustandes nichts zu schaffen.



E. Monomanie. Fixe Idee.


§. 85.

Was im Allgemeinen vom Wahnsinne gesagt wurde, gilt auch von diesem
Zustande, insbesondere wird, sofern es sich um die Beurtheilung des
Einflusses eines solchen Zustandes auf die Zurechenbarkeit einer
bestimmten That handelt, Vieles von Demjenigen anzuwenden sein, was
von dem Zustande des Blödsinnes gesagt wurde. Namentlich werden aber
folgende zwei Fragen zu beantworten sein:

_a_) Ist wirklich eine und welche fixe Idee, oder welche Art von
Monomanie vorhanden?

_b_) Entspricht die That der herrschenden fixen Idee oder Monomanie in
der Art, dass sie durchaus nur als ein Produkt der durch diesen Zustand
im Verhältnisse zu den eingetretenen Umständen angeregten Thätigkeit
ist?

Ist jedoch die That von der Art, dass sie =nicht= als eine erweisliche
Folge der herrschenden fixen Idee oder der herrschenden Monomanie
betrachtet werden kann, so ist es für den richterlichen Zweck nicht
hinreichend, nur auszusprechen, es lasse sich kein erweislicher
Zusammenhang darthun, sondern es muss der =positive= Beweis geliefert
werden, dass ein solcher Zusammenhang =entschieden nicht bestehe=, und
wenn sich dieser Beweis =nicht= liefern lässt, so muss ärztlicherseits
ausdrücklich erklärt werden, dass und warum dieses nicht möglich sei.

Der Grund, aus welchem in diesem Falle für den richterlichen Zweck
eine solche entschiedene Erklärung nothwendig ist, liegt darin,
dass dort, wo einmal die Erscheinung zu bemerken ist, dass von
einem Individuum, welches in seiner äusserlichen Thätigkeit so
weit von anderen Menschen abweicht, dass es gegen die Verhältnisse
der Aussenwelt seine Vorstellungen für etwas Wirkliches oder die
Erscheinungen der Aussenwelt für etwas Unwirkliches hält, nothwendig
vermuthet werden muss, dass seine ganze Vorstellungsthätigkeit auf ganz
=anderen=, für dritte Personen, zuverlässig aber für den =Richter= ganz
=unzugänglichen= Prinzipien beruhe.

Diese Voraussetzung, welche sich durch die Natur der Sache von selbst
rechtfertigt, kann insofern =irrig= sein, als die Arzneikunde möglicher
Weise Wege entdeckt haben kann, um hierin klar zu sehen. Damit aber
der Richter in einem solchen Falle seine durch die Natur der Sache
begründete =Vermuthung aufgeben= könne und dürfe, ist das Geringste,
was er zu fordern berechtiget und verpflichtet ist, eine =entschiedene
Erklärung= von Seite der Kunstverständigen, =dass= und =warum= seine
Vermuthung in diesem Falle =irrig= sei.

Uebrigens dürfte es kaum von wesentlichen Folgen für die Rechtspflege
sein, zwischen Monomania und fixer Idee scharf zu unterscheiden.
Die erste Art von Geisteszerrüttung scheint sich mehr auf =äussere=
Thätigkeit, die letztere mehr auf die =Vorstellungs=thätigkeit zu
beziehen, sofern sie aber auf die =äussere= Thätigkeit, auf die es
hier allein ankommt, von einigem Einflusse sind, dürften sie wohl das
=Gleiche= bedeuten.



F. Melancholie. Mania occulta.


§. 86.

Dieser Zustand bedeutet eigentlich eine Krankheit, welche noch in keine
=Thätigkeit= ausgeartet ist, welche aber, sofern sie eine gesetzwidrige
Thätigkeit zur Folge hat, entweder nach dem unter der vorigen
Aufschrift bezeichneten Grundsatze, oder nach denjenigen Grundsätzen,
welche über Wahnsinn überhaupt oder über Affekte und Leidenschaften
ausgesprochen wurden, in =rechtlicher= Beziehung zu betrachten kommt.
Jedenfalls war es ein Missgriff, dass man diesen Zuständen eine
=besondere Abtheilung= in der =gerichtlichen= Arzneikunde widmete,
insbesondere aber, dass man von _Mania occulta_ als einer =besonderen=
Erscheinung sprach, als ob der Umstand, dass eine Krankheit noch nicht
so heftig ist, dass man sie gewahr wird, oder weil der Leidende bisher
nur an Theilen befallen wurde, die man nicht =sieht=, im Mindesten
etwas an der =Natur= der Krankheit änderte! -- Die Krankheit, welche im
Zunehmen ist, wird und muss sich =einmal äussern=, =wann= und =wo= sie
sich aber so kräftig äussert, dass ihr Vorhandensein von einem Dritten
=bemerkt= wird, ist wenigstens nach meiner unmassgeblichen Meinung
zur Bestimmung des =Charakters= der Krankheit sehr gleichgiltig, wenn
die Art und Weise, =wie= sie sich äussert, an ihrem Charakter keinen
Zweifel lässt, denn das erstere hängt von Zufällen ab, die mit der
Entstehungsart und dem Entwicklungsgange der Krankheit vielleicht
gar nichts gemein haben. Es kann daher allerdings geschehen, dass
die =erste= Erscheinung, welche die Existenz der Mania bei einem
Individuum kundgibt, ein =Verbrechen= ist, was er begeht, allein es
folgt auch nicht im Mindesten daraus, dass er nicht schon =früher=
mit =derselben= Mania behaftet war, sondern nur, dass die Personen,
welche seine Umgebung bildeten, nicht Scharfblick genug besassen,
dieselbe zu =entdecken=, und dieser Umstand ist doch wahrlich nicht
erheblich genug, und überhaupt zu sehr dem Zufalle unterworfen, um
darauf eine =wissenschaftliche= Eintheilung zu gründen, die eben darum,
weil sie eines jeden Grundes entbehrt, welcher für die =richterliche
Beurtheilung= von irgend einer Bedeutung ist, nur schaden, in keiner
Beziehung aber nützen kann.



G. Berauschung.


§. 87.

Berauschung ist ein durch Genussmittel künstlich hervorgerufener
ungewöhnlicher Zustand der =Aufregung= oder =Herabstimmung= der
Organe, welcher auf die Vorstellungsthätigkeit ebenfalls einwirken
kann, so dass dadurch entweder im Allgemeinen ein =schnellerer= Gang
der Vorstellungen erfolgt, oder dass gewisse Vorstellungen zu einer
besondern =Energie= gesteigert werden, andere aber dadurch nothwendiger
Weise an der sonst =gewöhnlichen= Energie =verlieren=. -- Da nun ein
Aehnliches auch in Bezug der =einzelnen Organe= Statt finden kann, so
ergibt sich, dass die Berauschung in ihren Folgen nach aussen nach
denselben Grundsätzen beurtheilt werden muss, wie Gemüthszustände
überhaupt, denn wenn man nur die in diesem Zustande verübte That
selbst betrachtet, so erscheint sie als eine in einem =ungewöhnlichen=
Gemüthszustande Statt gefundene Wirkung der Kraftentwicklung eines
Menschen, und der =Gemüthszustand= selbst aber als die =Folge= einer
Statt gefundenen =Aufregung des Organismus=.

Die Veranlassung zu dieser Aufregung ist in dem Falle, als sich
nicht ergibt, dass sie der Mensch =absichtlich= herbeigeführt hat,
um zur Verübung der That =gestimmt= zu sein, entweder ein blosser
=Zufall=, welcher daher für die Beurtheilung des Verhältnisses der
Willensäusserung in Bezug auf die That von =gar keiner= Bedeutung
ist, oder es ist der Mensch nur dadurch strafbar, weil er sich
durch seine =Nachlässigkeit=, mit welcher er sich dem =Gelüste= nach
unmässigem Genusse hingab, der Gefahr aussetzte, in einen Zustand
der Bewusstlosigkeit zu gerathen, in welchem er den Ausbruch seiner
natürlichen Kraft nicht mehr zu regeln vermag[47]. Diese Art von
strafbarer =Unterlassung= hat daher mit der Strafbarkeit derjenigen
Thätigkeit, welche er in diesem selbstverschuldeten Zustande =ausübte=,
nichts mehr gemein. Die gerichtliche Erhebung wird daher in solchen
Fällen zwei Momente auf verschiedenen Wegen auszumitteln haben, nämlich
_a_) ob in der Thätigkeit, durch welche er sich die Trunkenheit zuzog,
eine strafbare Unterlassung liege, und _b_) ob die That, welche er
beging, in einer, =wenn auch= durch die Trunkenheit hervorgebrachten
=Sinnenverwirrung= motivirt sei.

  [47] Siehe hierüber die Anmerkung bei §. 67.

Das österreichische Strafgesetz spricht sich hierüber folgendermassen
aus:

§. 120, II. Theil des Strafgesetzbuches: „Trunkenheit ist an Demjenigen
zu bestrafen, der in der Berauschung eine Handlung ausgeübt hat, die
ihm ausser diesem Zustande als Verbrechen zugerechnet würde.”

Es erhellt daher, dass das Gesetz das Faktum der Trunkenheit überhaupt
als eine zu missbilligende Handlung erkennt, die Sträflichkeit der
dieser Thatsache zu Grunde liegenden Nachlässigkeit aber auf den Fall
beschränkt, wenn in diesem Zustande eine Handlung begangen wurde,
welche den objektiven Thatbestand eines Verbrechens bildet.

Diese Ausschliessung der Strafe für die =Handlung selbst= tritt aber
nur insofern ein, als die Trunkenheit oder Berauschung nicht selbst
als ein von dem Thäter gewähltes =Mittel= zur sicheren Verübung des
Verbrechens war, denn das Gesetz erklärt ferner als von Strafe für
das Verbrechen befreiend im §. 2: _c_) eine volle, =ohne Absicht auf
das Verbrechen= zugezogene Berauschung. Betrinkt sich aber Jemand,
um ein Verbrechen auszuführen, zu welchem ihm sonst die nöthige
Entschlossenheit fehlen würde, so ist die Thatsache des Betrinkens
für ihn dasjenige, was eine Feuerwaffe für seine Hand ist, denn
Mancher, welcher zu feige ist, einen Anderen anzugreifen, würde ohne
das Vertrauen auf die Kraft der Kugel, welche der Druck seines Fingers
weiter befördert, die That unterlassen.

Das Gesetz fordert =volle= Berauschung, damit eine in der Trunkenheit
begangene, sich sonst als Verbrechen darstellende Handlung oder
Unterlassung =nicht= als Verbrechen zugerechnet werden könne, und was
=volle= Trunkenheit ist, erklärt sich durch den Nachsatz des §. 2,
_lit. b_) dahin, dass darunter eine =Sinnenverwirrung=, in welcher
der Thäter sich seiner =Handlung= nicht bewusst war, verstanden werde;
wenn er also in eine Art =Tobsucht= verfiel, oder in einen =Irrthum=
gerieth, der ihm in diesem Augenblicke seine Handlung als eine erlaubte
erscheinen liess, z. B. er eignet sich die Dose eines Anderen zu, weil
er in den Wahn geräth, sie gekauft zu haben.

Es kommt daher bei Beurtheilung des =rechtlichen= Einflusses der
Trunkenheit nicht gerade immer auf den Ausspruch an, dass die
=Trunkenheit= eine volle Besinnungslosigkeit zur Folge hatte,
sondern vielmehr darauf, ob der Mensch in Bezug auf die ihm zur
Last liegende =Thatsache= sich in einer Sinnenverwirrung befand, in
welcher ihm seine Thätigkeit nicht als Verbrechen erschien, und in
dieser Beziehung lässt es sich dann sagen, dass der Ausspruch über den
Einfluss der Trunkenheit auf seine Zurechnungslosigkeit auf zweifache
Art sich gestalten könne, nämlich _a_) es sei nach seiner physischen
Beschaffenheit und nach der Quantität und Qualität des zu sich
genommenen Getränkes gewiss, dass er sich in einem =alles= Bewusstsein
seiner Handlungen ausschliessenden Zustande befand, oder _b_) es ergäbe
sich aus seiner körperlichen und geistigen Beschaffenheit, verbunden
mit anderen Umständen, z. B. seiner augenblicklichen, durch andere
Ereignisse bedingten Stimmung im Verhältnisse zur That selbst, welche
etwa zu ihrer richtigen Beurtheilung einen gewissen Grad Umsicht
verlangte, dass er das Bewusstsein seiner Handlung =nicht= hatte.

Hieraus folgt nun, dass die Erhebung über den Einfluss der
Berauschung in Bezug auf die Erhebung des Einflusses anderer Arten
von Sinnenverwirrung sich nur darin unterscheide, dass bei der ersten
auch ausgemittelt werden muss, ob die Trunkenheit eine in =Absicht auf
das Verbrechen zugezogene= war, welche Rücksicht bei anderen Arten von
Sinnenverwirrungen in der Regel wegfällt.



H. Unwiderstehlicher Hang zu gewissen Verbrechen.


§. 88.

Die _Gall_'sche Schädellehre hat ein Diebsorgan, ein Organ der
Mordsucht etc. ausgemittelt, die Aufstellung dieses Grundsatzes kann
jedoch nur auf der Wahrnehmung beruhen, dass man bei einigen Dieben ein
solches craniologisches Organ wahrnahm, das man bei einigen Menschen,
welche keine Diebe waren, nicht bemerkte. Ob es jedoch nicht sehr viele
Personen gibt, welche mit demselben Organe versehen sind, und doch nie
eine Lust zum Stehlen hatten, bleibt immerhin zweifelhaft, daher der
ganze Grundsatz an und für sich von gar keinem wesentlichen Nutzen für
die Rechtspflege ist.

Von ähnlicher Erheblichkeit ist es mit den Grundsätzen, welche die
Physiognomik über derlei Anlagen des Menschen aufgestellt hat, denn
ein geübtes Auge kann wohl den Hang zu gewissen =Affekten= bei einem
Menschen entdecken, welche =Thaten= aber diese Affekte hervorbringen
werden, lässt sich unmöglich aus der Physiognomie entnehmen, da diese
Thaten von =Zufälligkeiten des Lebens= abhängen, die man eben so wenig
aus der Physiognomie voraussagen kann, als die Zukunft eines Menschen
aus dem Kaffeesatze. Ob nun ein Mensch gewisse Verbrechen begehen
werde, hängt nun zuverlässig von äusseren Zufälligkeiten ab, welche
sich unmöglich vorhersehen lassen, ja manche Verbrechen sind in der
That von der Art, dass ein seltenes und für manchen Menschen sogar
unmögliches Zusammentreffen von Umständen dazu gehört, um die Begehung
derselben nur denkbar zu machen.

Ehe man also sich die Mühe gibt, physiologische Thatsachen in Betreff
der Anlage zu Verbrechen aufzusuchen, ist es zuverlässig sehr rathsam,
die Beschaffenheit der möglichen =Verbrechen selbst= zu betrachten,
um daraus zu entnehmen, ob wirklich in einer oder der anderen Art der
Verbrechen Motive für das menschliche Begehrungsvermögen vorhanden
sind, welche die =besondere Disposition= eines Menschen zu dessen
Begehung denkbar erscheinen lassen, und worin diese Disposition
bestehen könne, ein Verfahren, dem man die Möglichkeit des Gelingens
eben so wenig absprechen kann, als man es für unmöglich halten wird,
einem Menschen aus der Betrachtung seiner Gesichtszüge vorherzusagen,
ob er auf Andere einen angenehmen oder unangenehmen Eindruck machen
werde.


§. 89.

Wenn man von einem besonderen Hange zum Verbrechen spricht, so kann man
darunter doch wohl nur einen Hang zu derjenigen Gattung von Handlungen
verstehen, welche das Gesetz unter einer bestimmten Benennung als
Verbrechen bezeichnet, zum Diebstahl, zur Brandlegung etc., man darf
aber damit denjenigen Zustand nicht verwechseln, welcher den Menschen
mit einem besonderen Drange zur Entwicklung seiner =Thatkraft= nach
Aussen erfüllt, in welchem Zustande dem Menschen =jede= derartige
Manifestation, =abgesehen= von ihrem Gegenstande, angenehm und
wünschenswert ist. Dies ist offenbar der Zustand der Jugend in der
Periode der =Pubertäts-Entwicklung=. Wenn in diesem Zeitalter des
Menschen, in welchem der Augenblick, d. h. die Wirkung der vorhandenen
Anregung noch eine grössere Rolle spielt, als im späteren Leben, und
wo der Drang, sich thätig zu äussern, mit Einem Worte der Drang, sich
der eigenen Kraft an ihrer Wirkung zu freuen, gewöhnlich den Gedanken
an dasjenige, was dadurch hervorgebracht wird, überwiegt, zuweilen
auch =Verbrechen= begangen werden, so darf man sich darüber gar nicht
wundern, oder die Ursache einer solchen Aeusserung in einer besonderen
=krankhaften= Verstimmung suchen, sondern vielmehr muss man darüber
erstaunen, dass nicht =mehr= Verbrechen, als wirklich von jungen Leuten
begangen werden, durch die jugendliche Kraftperiode, verbunden mit dem
leichten Sinne der Jugend, ihre Veranlassung finden.

Der Grund dieser Erscheinung liegt nun einerseits in der Erziehung,
andererseits aber in der geringen Anziehungskraft, welche die meisten
Verbrechen für die Jugend haben. Selbst denjenigen gesetzwidrigen
Handlungen, welche die Jugend wirklich begeht, z. B. Obstdiebstahl,
Beschädigungen fremden Eigenthumes u. s. w., liegen so nahe und
überwiegende Motive zu Grunde, dass man gar nicht in Zweifel sein kann,
dass kein besonderer Hang zur verbrecherischen =That=, sondern nur der
augenblickliche =Genuss=, welcher durch die Handlung erworben werden
soll, die Neigung, seine Geschicklichkeit zu üben oder zu zeigen,
verbunden mit dem Leichtsinne der Jugend, welcher weder die Vorstellung
der Folgen, welche die That in entfernterer Beziehung haben kann, noch
jene auf die allgemeinen Verhältnisse der Gesellschaft, welche dadurch
beeinträchtigt werden, aufkommen lässt, die That veranlassen. Mir ist
selbst der Fall vorgekommen, dass einige Burschen, welche im Begriffe
waren einen Obstgarten zu bestehlen, einen Kerl gewahr wurden, welcher
in einen Weinkeller einbrach und ihn sogleich für seine That tüchtig
durchprügelten. Sie schienen also ganz und gar nicht zu bemerken, dass
dasjenige, welches jener Kerl that, und das, was sie selber thaten, im
Wesentlichen Eines und Dasselbe war.

Etwas Aehnliches wie bei der Pubertäts-Entwicklung kann bei der
Hysterie und dergleichen Krankheitszuständen eintreten.


§. 90.

Doch der verehrte Leser möge selbst urtheilen, und die Physiognomie
jener Handlungen, welche das österreichische Strafgesetzbuch und
eben so die Gesetzgebungen aller Nationen beiläufig mit denselben
Benennungen als Verbrechen erklären, näher betrachten:

Das österreichische Strafgesetzbuch erklärt folgende Handlungen als
Verbrechen:

1. Hochverrath und andere die öffentliche Ruhe störende Handlungen.

2. Aufstand und Aufruhr.

3. Oeffentliche Gewaltthätigkeit (hierher gehören: Gewaltthätigkeit
gegen die Obrigkeit oder Wache, gewaltsame Verletzungen des
unbeweglichen Eigenthumes unter gewissen erschwerenden Umständen,
ebenso gewaltsame Störungen des Hausfriedens, unbefugte Einschränkung
der persönlichen Freiheit, Entführung).

4. Rückkehr eines Verwiesenen.

5. Missbrauch der Amtsgewalt.

6. Verfälschung öffentlicher Kreditspapiere.

7. Münzverfälschung.

8. Religionsstörung.

9. Nothzucht und andere Unzuchtfälle (insbesondere gewisse Gattungen
von =Unzucht wider die Natur=).

10. =Mord und Todtschlag.=

11. Abtreibung der Leibesfrucht.

12. Weglegung eines Kindes.

13. =Verwundung= oder andere =körperliche Verletzungen=.

14. Zweikampf.

15. =Brandlegung.=

16. =Diebstahl= und Veruntreuung.

17. Raub.

18. Betrug.

19. Zweifache Ehe.

20. Verleumdung.

21. Verbrechern geleisteter Vorschub.

Es bedarf wohl keines besonderen Scharfsinnes, um die Ueberzeugung zu
erhalten, dass mehrere dieser Verbrechen unmöglich aus einem besondern
Hange dazu, sondern nur dann entstehen können, wenn Umstände vorhanden
sind, wo die Begehung dieser als Verbrechen bezeichneten Handlung
einen Vortheil gewährt, dass daher die meisten dieser Verbrechen nur
unter der Voraussetzung denkbar sind, dass sie als =Mittel= zu einem
=ausserhalb= des Verbrechens liegenden Zweck erscheinen, der entweder
=nur= durch das Verbrechen, oder doch unter den Verhältnissen, in
welchen sich der Verbrecher befindet, auf =kürzerem= Wege durch das
Verbrechen, als durch erlaubte Mittel, erreicht wird.

Das Verbrechen der Rückkehr eines Verwiesenen gehört insbesondere
zur letzten Art, denn die meisten Menschen, nämlich alle die, welche
=nicht= verwiesen sind, können dieses Verbrechen =gar nicht begehen=,
und selbst Derjenige, welcher es begehen kann, vollbringt dasselbe
durch eine Handlung, welche jedem =nicht= Verwiesenen =erlaubt= ist,
nämlich durch Ueberschreitung der Landesgrenze. Das Motiv, welches
denselben zur Begehung dieses Verbrechens bestimmt, kann daher kein
anderes sein als derselbe Beweggrund, welcher einen Anderen zur
=erlaubten= Handlung der Grenzüberschreitung veranlasst hätte.

Das Gegentheil tritt bei der Vorschubsleistung ein. Hier hat der
Verbrecher den Zweck, einen anderen Menschen der bürgerlichen Strafe
zu entziehen, und darum ist seine Handlung sträflich; das Materielle
der Handlung ist etwas durchaus den Umständen Angemessenes, nämlich
Verbergung, Unterstützung u. dgl., somit Thätigkeiten, welche ohne
diesen Zweck vollkommen erlaubt sein würden.

Die mit 1., 2., 3. bezeichneten, die Sicherheit des Staates
verletzenden Handlungen sind nur in der Voraussetzung denkbar,
dass der Verbrecher dadurch etwas erreichen will, welches ihm ohne
dieses Verbrechen zu erreichen unmöglich, zweifelhaft oder zu mühsam
scheint. Wer mit Demjenigen, welches die Obrigkeit durchsetzen will,
einverstanden ist, und nicht etwa zu irgend einem Zwecke es für
tauglich hält, die Thätigkeit der Obrigkeit zu vereiteln, wird sich,
sofern er nicht wahnsinnig ist, nicht derselben gewaltsam widersetzen.
Wenn sich aber Jemand gewaltthätig widersetzt, so thut er es auf
dieselbe Art und Weise, wie es die Umstände mit sich bringen, er kämpft
mit der Wache, ruft Leute zu Hilfe, um seinen Widerstand kräftiger zu
machen etc., lauter Handlungen, welche keine andere Anziehungskraft
haben, als wenn sie unter Umständen begangen wurden, wo sie nicht
als Verbrechen behandelt werden könnten, z. B. zur Abwehrung einer
unerlaubten Gewaltthätigkeit.

Kreditspapiere werden nachgemacht oder falsche Münzen werden geprägt
nicht des =Vergnügens des Nachmachens= oder des Prägens wegen,
sondern wegen des =Nutzens=, welchen die =Verausgabung= derselben
schaffen soll, denn wenn auch der Fall denkbar ist, dass Jemand ein
unwiderstehliches Bedürfniss zu zeichnen fühlt, so kann er diesem
Bedürfnisse eben so gut durch Nachzeichnung eines Kupferstiches
genügen. Sollte aber auch jemals der Fall vorkommen, dass Jemand,
der kein anderes Original findet, als eben eine Banknote, diese
nachzeichnet und sich dann durch seinen unwiderstehlichen Hang zum
Zeichnen entschuldigt, so lässt sich doch nur sagen, weil er keine
Gelegenheit hatte, einem Talente auf eine erlaubte Art zu genügen, ist
er auf eine unerlaubte Manifestation desselben verfallen, nicht aber
er habe einen unwiderstehlichen Hang zum Verbrechen der Verfälschung
öffentlicher Kreditspapiere gehabt.

Wer eine bestehende Religionsübung stört, thut dieses entweder aus
Fanatismus oder aus Mutwillen, um Unfug zu machen. Er muss aber im
letzteren Falle wissen, dass eine =Religionsübung= dadurch gestört
wird, sonst hört die That auf ein Verbrechen zu sein. In beiden Fällen,
so wie auch dann, wenn eine Aufforderung dritter Personen eintritt,
setzt dieses Verbrechen eine Kombination von Begriffen voraus, deren
Komplex gar nicht in der Anlage der menschlichen Natur begründet
sind, sondern welche zu ihrem Bestehen eine Menge von Zufälligkeiten
voraussetzt, die auf gar keine bestimmte natürliche =Anlage=
zurückwirken.

Zur Abtreibung der Leibesfrucht kann unmöglich ein besonderer =Hang=
Statt finden, da an und für sich die That nichts sinnlich Angenehmes
enthält und nur durch die Vorstellung des Unangenehmen, welches
durch die That vermieden werden soll, veranlasst werden kann. Das
=Materielle= der Handlung ist nichts Anderes, als was bei jeder
Krankheit geschieht. Es werden Arzneistoffe eingenommen etc., und mit
Einem Worte Thätigkeiten geübt, die nur durch den =Zweck=, welchen sie
erreichen sollen, sträflich sind.

Die Weglegung eines Kindes ist nur dann ein Verbrechen, wenn sie zu
dem =Zwecke= geschieht, um dasselbe der Gefahr des Todes auszusetzen,
oder um seine Rettung dem Zufalle zu überlassen. Wer also den einen
oder den anderen Zweck nicht hat, =kann= dieses Verbrechen gar nicht
begehen, somit auch keinen Hang dazu haben. Von einem =Hange= zu diesem
Verbrechen kann daher nur insofern die Rede sein, als man überhaupt
von einem Hange zur Tödtung oder Verletzung sprechen kann, von welchen
später die Rede sein wird.

Schwerlich hat man noch von einem unwiderstehlichen Hange zum
Zweikampfe gesprochen. Es gibt allerdings Raufbolde, die sich ihrer
natürlichen Kraft und Geschicklichkeit in Raufhändeln erfreuen, allein
diese Gemüthsstimmung =entsteht= nicht aus dem =Hang= zum Raufen,
sondern im Gegentheile ihr Hang zum Raufen ist die =Folge= einer
herrsch- oder rachsüchtigen, oder zornigen Gemüthsstimmung, es ist
daher ihre Neigung zu derlei Unternehmungen nur =eine= der durch ihre
Gemüthsstimmung bedingten Aeusserungen. Es wäre daher eben so unrichtig
zu sagen, dieselbe entspringe aus einem besonderen Hange zu diesem
Verbrechen, als wenn man von Jemanden, welcher überhaupt sehr genäschig
ist und =alles= Süsse gern verzehrt, sagen wollte, er habe einen
besonderen Hang, =Zucker= zu naschen.

Diebstahl, Raub, Betrug gehören in psychologischer Beziehung, wie in
der Folge gezeigt wird, in Eine Klasse.

Dass es einen besonderen Hang zum Verbrechen der =zweifachen Ehe=, d.
i. zu derjenigen Handlung gebe, durch welche eine bereits verheiratete
Person, noch ehe das Eheband gelöst ist, einen zweiten =Ehevertrag=
schliesst, oder dass Jemand sich mit einer Person blos aus dem Grunde
trauen liesse, =weil sie schon verheiratet und noch nicht verwitwet
ist=, ist sicher noch keinem vernünftigen Menschen eingefallen. Die
Leidenschaft oder das Verlangen nach der Mitgift kann allerdings ein
sehr kräftiges =Motiv= sein, dieses Verbrechen zu begehen, dann aber
ist es nicht mehr der Hang zum =Verbrechen= dieses Namens, sondern
der Hang zu etwas ganz Anderem, welches den Menschen veranlasste, eine
seinem =Zwecke= dienende Handlung =ungeachtet= ihrer Sträflichkeit zu
unternehmen.

Es gibt ferner allerdings Leute genug, welche ihrem Nächsten Dinge
nachsagen, welche seinem Rufe nachtheilig sind, von deren Unwahrheit
sie überzeugt sind, weil sie dieselben selbst erfunden haben. Allein
diese Handlung ist nur dann ein Verbrechen, wenn sie mit der Absicht
geschieht, denselben als Verbrecher der obrigkeitlichen Nachforschung
auszusetzen, und nur dann eine schwere Polizeiübertretung, wenn durch
die Unbestimmtheit in Bezug auf die Folge der Beschuldigung der gute
Name angegriffen wird, ohne dass jedoch eine wirkliche Untersuchung
dadurch veranlasst worden wäre, oder wenn die Anschuldigung zwar zur
gerichtlichen Untersuchung, aber nicht zu jener wegen eines Verbrechens
führt.

Ein Hang zum =Verbrechen= der Verleumdung wäre daher eine spezielle
Neigung, andere Leute zum Gegenstande einer gerichtlichen Untersuchung
zu machen, und eine solche spezielle Neigung wird sich doch wohl
schwerlich aus irgend einer physischen oder psychischen Anlage, es sei
denn jene des ausgebildeten =Wahnsinns=, erklären lassen.

Die blosse Sucht, den guten Namen des Nebenmenschen zu verunglimpfen,
entspringt aber ihrerseits aus zu bekannten Motiven, als dass man
zu ihrer Erklärung einen speziellen Hang anzunehmen brauchte. -- Die
Sucht zu spotten, sich selbst einen Vortheil auf Kosten des Anderen
zuzuwenden, das Bedürfniss etwas zu sagen, was die Anderen interessirt,
verbunden mit einer Dosis Leichtsinn, endlich Neid und Schadenfreude
genügen vollkommen, um diese Erscheinung zu erklären.

Vergehen, welche blos in Unachtsamkeit ihren Grund haben, wie die
meisten schweren Polizeiübertretungen, gehören nicht hierher, es sind
also an und für sich sehr wenige sträfliche Handlungen, von welchen
sich Erfahrungen aufweisen lassen, dass dazu ein besonderer Hang bei
manchen Personen bestehe, und diese sind:

1. Verbrechen, welche die Geschlechtslust veranlasst.

2. Verbrechen, welche in Verletzung des Körpers, und

3. des Eigenthumes dritter Personen bestehen.

4. Verbrechen der Brandlegung[48].

  [48] Ich bitte meine =juridischen= Leser, sich an den Umstand,
      dass dieses letztere Verbrechen hier abgesondert behandelt
      wird, nicht zu stossen, da mir sehr wohl bekannt ist,
      dass die Brandlegung ebenfalls unter die das Eigenthum
      verletzenden Verbrechen gehört; der Grund, warum dasselbe
      hier abgesondert wird, ergibt sich im Verlaufe der
      Darstellung.


§. 91.

1. Was die durch die =Geschlechtslust= veranlassten Verbrechen
betrifft, so gibt insbesondere das =Verbrechen der Unzucht wider
die Natur= den eigentlichen Typus derjenigen Handlungen ab, welche
in gewissen Fällen aus einem =Hange= zur Verübung eines =bestimmten
Verbrechens= entspringen können.

Wenn man nämlich von einem =Hange= zur Verübung eines bestimmten
Verbrechens spricht, so versteht man, sofern man diesem Hange einen
gewissen =rechtlichen= Einfluss auf die Strafzurechnung einräumt, nicht
etwa ein Produkt eines bereits ausgesprochenen =Wahnsinns=, z. B. eine
fixe Idee, sondern man nimmt an, dass der Mensch mit Ausnahme jenes
Hanges sonst normale Geisteskräfte und normale physische Funktionen
äussert, denn ist einmal das Vorhandensein einer Gemüthskrankheit
ausgesprochen, deren =Produkt= ein solcher Hang ist, so kann kein
Zweifel mehr sein, dass jener =Gemüthszustand=, somit die =Ursache=,
die =Folge=, nämlich die in Folge eines solchen Hanges geäusserte
Thätigkeit als unzurechenbar darstelle.

Soll daher der Hang zu einem gewissen Verbrechen eine =rechtliche=
Bedeutung haben, so muss er sich bei dem davon behafteten Subjekte
gewissermassen als =isolirte= Thatsache darstellen.

Was nun insbesondere das oben berührte Verbrechen betrifft, so leidet
die Thatsache keinen Zweifel, dass es Menschen gibt, welche den Weg
naturgemässer Befriedigung des Geschlechtstriebes verlassend, sich
einer naturwidrigen Befriedigung hingeben, und dabei nicht nur die
Fähigkeit zur naturgemässen Befriedigung verlieren, sondern bei ihrer
entarteten Aeusserung nicht nur diejenige heftige Leidenschaft äussern,
welche der ordentlichen Entwicklung des Geschlechtstriebes natürlich
ist, sondern eben dadurch, weil durch ihr natur- und sittenwidriges
Treiben sowohl das sittliche Gefühl, als auch der Geist abgestumpft
wird, in einen Zustand verfallen, welchem man zu viel Ehre anthut, wenn
man ihn „viehisch” nennt, da das „Vieh” doch immer auf dem natürlichen
Wege bleibt.

Genug, bei diesem Verbrechen spricht es sich klar aus, dass der
sich demselben hingebende Mensch dabei nichts Anderes will, als =das
Verbrechen selbst=, d. h. er will nichts Anderes als die naturwidrige
Sünde, in der er zugleich seinen Zweck findet, nicht aber dadurch einen
=anderen= Zweck erreichen.

Die zur Strafmilderung gereichende Rücksicht kann hier offenbar nur
darin liegen, dass bei dem zur Verhandlung kommenden Akte der Mensch
bereits einen so hohen Grad von geistiger Abstumpfung erreicht hatte,
dass es ihm nicht möglich war, sich von der ekelhaften Sünde durch
irgend eine Vorstellung abhalten zu lassen, weil er entweder nicht im
Stande war, eine solche zu reproduziren, oder so von der Vorstellung
seiner Sünde befangen war, dass keine Vorstellung mehr gegenüber
derselben eine hinlängliche Intensivität erlangt.

Dass es solche Abscheu erregende Subjekte gebe, wird wenigstens
keiner meiner medizinischen Leser bezweifeln. Ich selbst lernte ein
Paar dieser Art kennen. Der eine davon studirte schon in den höheren
Schulen, -- =wie= kann man sich denken. -- Ein junger Mann, der das
saure Geschäft hatte ihn zu unterrichten, war manchmal genöthigt, ihn
bei dem Ohre zu zupfen, um seine Gedanken auf die gehörige Bahn zu
bringen, was er sich jedoch ohne Widerrede gefallen liess. Der andere,
ein junger Mann, 23 Jahre alt, in glänzenden Vermögensumständen, hatte
die Kräfte und den Verstand eines Kindes von etwa 6 Jahren, eine etwas
laute unvermuthete Anrede brachte epileptische Zufälle bei ihm hervor,
er konnte nur auf den Arm seines Begleiters gestützt gehen, und --
seine Sünde wiederholte er täglich, ungeachtet er stets die heftigsten
Rückgratschmerzen darauf empfand, wie man mich versicherte.

Handelt es sich bei Fällen, welche diese Sünde als Verbrechen
darstellen, daher um den Umstand, inwiefern wirklich ein
=unwiderstehlicher= Hang ihn zu der That veranlasste, so müssen solche
und ähnliche Daten, wie die vorbenannten, aufgesucht und hieraus, und
überhaupt aus der Beschaffenheit der physischen Organe und geistigen
Kräfte argumentirt werden, ob und inwiefern das Subjekt wirklich nicht
im Stande war, seinem, durch die Uebung des naturwidrigen Lasters
erworbenen Hange Widerstand zu leisten.


§. 92.

Bei dem eigentlichen Verbrechen der =Nothzucht=, welches nämlich darin
besteht, dass eine Weibsperson durch angethane Gewalt, gefährliche
Drohung, oder arglistige Betäubung der Sinne ausser Stand gesetzt
wird, den Lüsten des Angreifers Widerstand zu leisten, ist es durchaus
=unmöglich=, diese That durch einen unüberwindlichen Hang zur Verübung
des =Verbrechens= zu erklären. -- Es ist der Fall möglich, dass Jemand
einen sehr heftigen Trieb hat, mit einer Person den Coitus zu pflegen,
das Verbrechen bleibt aber dann doch nur das =Mittel=, diesen Zweck zu
erreichen.

Hier darf daher niemals gesagt werden, der Mensch habe einen
besonderen Hang zu diesem =Verbrechen=, sondern es kann höchstens
zuweilen der Fall eintreten, dass der Mensch, der sich in heftiger
Geschlechtsaufregung befindet, und auf keine andere Weise zum Ziele
gelangen konnte, durch die Heftigkeit seines Triebes zum Verbrechen
=hingerissen= wird. Hier werden daher zur Bemessung des Grades seiner
Strafbarkeit diejenigen Momente hervorgehoben werden müssen, in welchen
sich die ungewöhnliche Heftigkeit seines Triebes im Allgemeinen
kundgibt oder -gab, und die in dem speziellen Falle besonders
eingetretenen diesfälligen Momente berücksichtigt werden müssen.


§. 93.

2. Dass die Erfahrung wirklich Beispiele von Menschen liefere, welche
ein Vergnügen an =Grausamkeiten=[49] besitzen, leidet keinen Zweifel,
es kann also wohl geschehen, dass ein Individuum in gerichtliche
Untersuchung kommt, welches über einen Mord ertappt, keinen anderen
Grund seines Verbrechens anzugeben weiss, als eine unüberwindliche
Mordlust.

  [49] Das Kennzeichen, durch welches ein solcher Hang sich
      kundgibt, seinerseits aber wieder Nahrung erhält, ist die
      Thierquälerei; dies letztere Moment ist sehr bedeutungsvoll,
      denn es kann keinem Zweifel unterliegen, dass das Bestreben,
      sich durch Quälen schwacher Geschöpfe das Bewusstsein seiner
      Ueberlegenheit zu verschaffen, und die Gewohnheit, sich
      an diesem Bewusstsein zu ergötzen, eine höchst gefährliche
      Stimmung erzeugen müsse.

Da ein solcher Fall nothwendig eine ärztliche Intervenirung bedarf, so
ist es wichtig, über den Zweck dieser Erhebung im Klaren zu sein.

Die erste Frage ist in einem solchen Falle immer: ist der Mensch nicht
etwa =wahnsinnig=? und zur richtigen Beantwortung dieser Frage wird
dann dasjenige zu berücksichtigen sein, welches im Verlaufe dieser
Darstellung hierüber gesagt wurde.

Lautet nun die Antwort dahin, es sei =keine= Spur des Wahnsinns zu
finden, wodurch dann diese Mordsucht als eine isolirte Thatsache zu
stehen kommt, so handelt es sich darum, richtig zu stellen, ob es
möglich ist, dass eine solche Mordsucht bei einem sonst =normalen=
Menschen bestehen und sich thätig äussern könne, ohne dass der Mensch
vermag, ihren Ausbruch durch seinen Willen zu hindern.

Um bei dieser wichtigen Sache nicht irre zu gehen, darf man nicht
übersehen, dass es =zweierlei= Arten des Mordes der =Erscheinung=
und der physiologischen Motivirung nach gibt, nämlich den
=gewalttätigen= Mord, und jenen, welcher durch Anwendung einer gewissen
=Geschicklichkeit= vollbracht wird, wie z. B. =Giftmord=, oder der
Mord durch =Erschiessen= u. s. w. Eine jede von diesen beiden Arten
setzt bei dem Mörder eine wesentlich von der anderen =verschiedene=
Gemüthsstimmung voraus. -- Bei der ersten ist es nämlich =physische
Aufregung=, welche -- wie es im Felde bei den Kriegern der Fall ist --
=ohne= Verschulden durch den Anblick des Blutes, durch den Gedanken
an die Todesgefahr entstehen kann. Jeder etwas heftige Mensch, der
von Räubern angefallen, einen oder ein Paar davon zusammenhaut, wird
schwerlich den dritten mehr schonen. Das Gewaltige der That, die Fülle
von Kraft, deren sich der Mensch durch die Besiegung eines Feindes
bewusst wird, muss nothwendig eine Anregung mit sich führen, welche
dort, wo sich eine ähnliche Veranlassung zeigt, zur Wiederholung
stimmt. Tritt hier nun sittliche Roheit, ein verwildertes Gemüth hinzu,
so lässt es sich allerdings denken, dass der Mensch, um sich noch
einmal jenes Bewusstsein der Fülle seiner Kraft zu verschaffen, sich
angeregt fühlt, =ohne= sonstiges Motiv einen neuen Mord zu begehen, und
dass er eben wegen seiner sittlichen Roheit bei einer sich zeigenden
Gelegenheit diesen Drang unwiderstehlich angibt, oder dass er bei einem
sonst sehr =geringen= Motive sich zur Begehung eines Mordes angeregt
und bestimmt fühlt. -- Das Merkmal, dass ein =geringes= Motiv den
Menschen bestimmte, d. h. ein solches, welches bei einem Anderen nicht
eine so grässliche That veranlasste, ist übrigens hier von wesentlicher
Bedeutung, denn hatte er ein für seine Verhältnisse =wichtiges= Motiv,
so ist ohnehin die Voraussetzung, dass die That Mittel zum Zwecke war,
ihre Zurechenbarkeit wird daher nicht zweifelhaft sein.

Jedoch auch in der erstbezeichneten Voraussetzung erscheint eine solche
That immerhin psychisch =motivirt=, es ist daher kein Grund vorhanden,
das Motiv der That als =unbegreiflich= in den Bereich der =Krankheiten=
zu versetzen, und es wird sich dann nur darum handeln, auszumitteln,
ob der Mensch wirklich von einem so heftigen =Affekte= ergriffen war,
welcher ihm alle Besinnung bezüglich der Gesetzwidrigkeit seiner
That raubte. Ein solcher Fall wird daher lediglich nach denjenigen
Grundsätzen sowohl von Seite des Richters, als von jener des Arztes
zu beurtheilen sein, welche in der Lehre von den Affekten dargestellt
wurden.

Anders verhält sich die Sache bei der =zweiten= Gattung. -- Hier
=mangelt= offenbar das die vorige charakterisirende Merkmal des
Bewusstseins =physischer= Kraftentwicklung, sondern es tritt hier
nur das Bewusstsein der Macht des =Wissens= und der erworbenen
=Geschicklichkeit= ein. -- Der Giftmischer fühlt, dass er mit dem
Staube, den zwei Finger fassen, der Schütze, dass er mit dem Drucke
seines Fingers ein Leben vernichten kann. Bei der ersten Gattung des
Mordes gehört offenbar der Anblick des =Todeskampfes= des Opfers mit
unter die Motive der That, der =leidenschaftliche Giftmischer= bleibt
kalt bei dessen Todesqual, und vermeidet auch wohl den Anblick; bei dem
ersten ist das =Morden=, bei dem letzteren der =Tod= dasjenige, welches
ihm Genuss gewährt.

Zu der ersten Gattung gehört Roheit als nothwendige Bedingung,
die letztere Gattung erfordert, dass der Mensch nicht in der
starken =Erregung=, sondern im Gegentheile in dem Bewusstsein der
=Unterdrückung= menschlicher Gefühle einen Genuss finde.

Dieser Zustand ist nun allerdings =möglich=, denn er ist die grässliche
Parodie der Sittlichkeit. So wie nämlich der Sittliche in dem
Bewusstsein der Entsagung mancher Wünsche sich seiner Unabhängigkeit
bewusst wird, und dieses Bewusstsein ihm ein =angenehmes= Gefühl
gewährt, so kann auch der Bösewicht sich durch das Bewusstsein,
dass ihn gewisse menschliche Gefühle =nicht mehr anregen=, in einem
gewissen Grade behaglich fühlen, und sich der ihm hiedurch gewordenen
Ueberlegenheit freuen.

Auch dieser Zustand ist daher =ohne= Annahme einer =Gemüthskrankheit=
psychologisch zu erklären, schwerlich werden jedoch, den Fall
ausgenommen, wo der Mensch in wirklichen Wahnsinn verfallen ist, sich
Motive der Strafmilderung finden lassen, denn der Mensch handelt
=frei=, da er mit =Bewusstsein= dem bösen Principe huldigte, er
hat sich freiwillig zum Teufel gemacht, und wenn er glaubte, einer
=unwiderstehlichen= Macht zu folgen, so war es nur jene, die er
=selbst= heraufbeschwor, und der er alles dasjenige =freiwillig=
zum Opfer brachte, was dem Menschen sonst in Stunden der Versuchung
zum Schilde dient. -- Nur die Furcht vor Strafe kann noch auf solche
Menschen wirken, sie mögen daher jener Menschheit zur Sühne fallen,
welche sie sich selbst zum frevelhaften Opfer gebracht haben.


§. 94.

3. Was den Hang zum =Diebstahl=, Veruntreuung und wohl auch vielleicht
zu =Betrügereien= betrifft, so lässt sich deren Vorhandensein bei
manchen Menschen allerdings nicht in Abrede stellen, allein auch hier
lässt sich nicht behaupten, dass dieser Hang, wo er sich zeigt, und
nicht allein die =Folge= eines sich als Geistesverwirrung darstellenden
Krankheitszustandes ist, als ein Hang zu diesem =Verbrechen=, oder zu
dieser schweren Polizeiübertretung (sofern der Werth des Gutes 25 fl.
nicht übersteigt, oder die That nicht unter besonderen erschwerenden
Umständen begangen wird) betrachtet werden könne.

Damit nämlich eine Handlung als Diebstahl betrachtet werden kann,
müssen folgende Momente eintreten: _a_) es muss von Jemanden um seines
Vortheils willen, _b_) fremdes (bewegliches) Gut, _c_) aus eines andern
Besitz, _d_) ohne dessen Einwilligung =entzogen= werden.

Hier muss also Derjenige, welcher als Dieb soll betrachtet werden,
fünferlei Begriffe in sich entwickelt haben, und es gehörte also, um
den Hang zum Diebstahl als eine =Anlage= anzunehmen, dazu, dass man
zugibt, es könne ein Mensch von Natur so gestimmt sein, dass ihm die
Vorstellungen, welche diesen fünf Begriffen entsprechen, durchaus
widerstreiten.

Dieses ist nun in der That von =einer= natürlichen Anlage viel
gefordert. -- Die Unmöglichkeit der Annahme einer solchen natürlichen
Anlage ergibt sich aber noch mehr, wenn man die Vorstellungen, welche
diesen Begriffen entsprechen, näher analysirt.

Dass der Mensch geneigt ist, um seines Vortheils willen zu handeln,
ist ganz natürlich und bedarf nicht der Voraussetzung eines besonderen
Hanges bei irgend einem Menschen, es ist dies ein allgemeines Merkmal
aller Handlungen des Menschen, denn auch die sittlichen geschehen zu
Gunsten eines, wenn auch unmateriellen Gutes.

Dass es ferner möglich ist, zwischen =eigenem= und =fremdem= Gute zu
unterscheiden, setzt nothwendig voraus, dass der Mensch den Begriff des
=Eigenthums= in sich entwickelt habe. Dieser Begriff folgt nun nicht
nothwendig aus der =menschlichen Natur= als solcher, wie etwa jener der
Sittlichkeit, sondern aus der Natur des =geselligen Verhältnisses=,
und erst von der Beschaffenheit des letzteren wird es abhängen, was,
d. i. =welche= Sachen ein Gegenstand des Eigenthums werden können. --
Selbst in unserem entwickelten geselligen Zustande ist nicht =alles=
Eigenthum, über welches Jemand zu disponiren berechtigt ist. Niemanden
fällt es ein, dass es verboten sein könnte aus dem Brunnen zu trinken,
der einem Anderen gehört, sich in den Schatten eines Baumes zu setzen
u. s. w.

Der Grund davon ist, weil die Gegenstände, von denen hier die Rede ist,
z. B. das abfliessende Wasser u. s. w., keinen Werth, oder doch keinen
solchen Werth haben, dass diese unbedeutende Benützungsart von irgend
einem merkbaren Einflusse für den Dritten sein könnte. Gäbe es einen
Goldbrunnen, so würde sich bald dessen Besitzer auch die unbedeutendste
Consumtion verbieten.

=Welche= Gegenstände nun aber so viel Werth haben, dass sie als
Eigenthum von einzelnen Personen angesprochen werden mögen, hängt
lediglich davon ab, ob und wieferne sie die Mühe einer besonderen
Besitzergreifung lohnen, denn wenn sich auch Niemanden das Recht
absprechen lässt, so steht doch weder zu erwarten, noch zu vermuthen,
dass Jemand Sachen, welche für ihn ganz werthlos sind, weil er sie
in jedem Augenblicke sich zur Genüge verschaffen kann, zu einem
Gegenstande einer besonderen Besitzergreifung machen werde; so wird auf
einer ganz mit Wald bewachsenen Insel, welche nur von wenigen Personen
bewohnt wird, sich wohl Niemand die Mühe geben, diejenigen Bäume, die
er umzuhauen gedenkt, in grösserer Anzahl früher zu bezeichnen.

Es folgt daher, dass der Begriff, ob und was Eigenthum sei, erst durch
das gesellige Verhältniss entwickelt wurde, und zwar dadurch, dass
man zuerst das =Bedürfniss= fühlte, einen Gegenstand mit Ausschluss
Anderer zu besitzen, und das Verhältniss, welches dadurch zwischen dem
Besitzergreifer und dritten Personen in =Bezug= auf die fragliche Sache
entstand, Eigenthum =nannte=. Das Gebot: du sollst nicht =stehlen=,
kann daher nur dort und =insofern= übertreten werden, als der Begriff
des Eigenthums entwickelt ist, während das Gebot: du sollst nicht
=tödten=, überall und ohne Ausnahme gilt, wo ein Mensch dem andern
begegnet.

Dasjenige, was aber nur durch Aeusserlichkeiten bedingt ist, davon
lässt sich nicht sagen, dass es mit einer menschlichen =Anlage= in so
naher Verbindung ist, dass es durch sein blosses Dasein eine natürliche
Anlage so aufregen könne, dass der blosse =Begriff= im Stande wäre,
abgesehen von den Wünschen, welche die einzelnen Vorstellungen in ihm
erzeugen, ihn schon zu einer die Aufhebung des =Begriffes= bezweckenden
Thätigkeit zu veranlassen. -- Es kann eine Idiosynkrasie geben gegen
=Spinnen=, nicht aber gegen den =Begriff= des =Eigenthums=.

Wir haben hier daher zwei Begriffe, welche nothwendig zum Verbrechen
des Diebstahls gehören, von denen sich nachweisen lässt, dass sie mit
dem =sinnlichen= Hange eines Menschen nichts zu schaffen haben, weil
der eine zu allgemein ist, um einem speciellen Hange zum Gegenstande
dienen zu können, der andere aber eine reine Abstraction ist, zu deren
richtiger Auffassung eine bedeutende Menge anderer abstracter Begriffe
gehört; es lässt sich daher mit vollkommener Bestimmtheit sagen, dass
zu derjenigen Handlung, =welche das Gesetz als Diebstahl erklärt=, von
welcher also in gerichtlich-medicinischer Beziehung allein die Rede
sein kann, ein besonderer Hang =gar nicht denkbar= ist.


§. 95.

Indess der Hang zu Diebereien steht als Thatsache da, welche Niemand
läugnet, man muss daher die Sache von einem anderen Gesichtspunkte
auffassen, nämlich zu erforschen suchen, worin denn das Motiv oder
die Motive liegen, welche den Menschen veranlassen können diejenige
Thätigkeit auszuüben, welche den =materiellen=, den =objektiven=
Thatbestand des Diebstahls bilden.

Das Materielle dieser Handlung besteht nun in folgenden Momenten:

1. In der Besitzergreifung einer Sache.

2. In der Besitzergreifung einer Sache, von der der Thäter sich bewusst
ist, dass er sie nicht an sich bringen =soll=.

3. In der Entziehung derselben =ohne= Wissen und Willen, oder (wodurch
sich das Verbrechen als Raub charakterisiren kann) =gegen= den Willen,
und mit Beseitigung des =Widerstandes= des Besitzers.

Jeder dieser drei Momente kann für sich betrachtet etwas Reizendes für
manchen Menschen haben, so dass der =eine= dieser Momente ihn bestimmt,
die Bedingungen zu erfüllen, welche in den beiden =übrigen= Momenten
enthalten sind, obgleich dieselben sonst für ihn nicht besonders
anziehend wären.

Bei dem =ersten= dieser Momente lässt sich aber noch der Unterschied
gewahren, dass man aus dem doppelten Grunde den Besitz einer Sache
ergreifen kann, nämlich um sie zu =haben=, oder um sie zu =gebrauchen=,
d. i. entweder um ihrer selbst willen, oder um sich damit irgend einen
Genuss zu verschaffen.

Die Handlung des Diebstahls wird daher nach ihren Motiven folgende
Erscheinungen darbieten:

Die letzte Gattung von dem Merkmale _a_) charakterisirt den wahren
=Dieb=, dem das Verbrechen das Mittel zum Zwecke des Genusses ist. Er
stiehlt nicht um zu stehlen, sondern um den gestohlenen Gegenstand zu
verwenden, wird sich auch in der Wahl Desjenigen, =was= er stiehlt,
nur darin beschränken, dass er nur Sachen stiehlt, die ihm nach seinen
Verhältnissen Vortheil versprechen, Gegenstände aber, deren Gebahrung
ihm nicht geläufig ist, liegen lassen. Diese Art des Diebstahls ist
kein Gegenstand eines =besonderen Hanges=, sondern sie erklärt sich
vollkommen aus dem natürlichen Bestreben, sich mit der möglichst
geringen Anstrengung Vortheil zu verschaffen. Zunächst stiehlt also
der Dieb dasjenige am liebsten, was seiner Denkungsweise am meisten
zusagt. Trifft es sich nun dabei, dass durch irgend einen Eindruck
sich der Diebstahl =gewisser= Gegenstände als besonders =schmählich=
seiner Phantasie eingedrückt hat, so wird er diese =nicht=, oder
doch nur im Nothfalle stehlen, und bei =je mehr= Gegenständen er
diese Ansicht wirklich hat, um so geringer wird die Anzahl derjenigen
Gegenstände sein, bezüglich deren er sich kein Gewissen daraus
macht, sich derselben auch dann zu bemächtigen, wenn er weiss, dass
sie bereits Jemands Eigenthum sind. Immer aber muss berücksichtigt
werden, dass der gewöhnliche Dieb nicht etwa darum stiehlt, weil er
dem =Eigenthumsrechte= im Allgemeinen den Krieg erklärt hat, sondern
nur des =Gegenstandes= willen, den er auf keine andere Art zu bekommen
weiss. Wenn also der eine Dieb blos Pferde, ein anderer blos Uhren, ein
dritter -- wie mir selbst ein solches Individuum vorkam, das Eisenzeug
mit grösster Beschwerde meilenweit nach seiner Behausung trug -- nur
Eisenzeug stiehlt, so liegt die Veranlassung zu dieser Erscheinung in
einem vollkommen normalen Gange menschlicher Vorstellungen. Er stiehlt
blos den einen Gegenstand, weil bezüglich dieser Art von Diebstahl
seine moralische Abneigung bereits =überwunden= ist, und er stiehlt
andere Gegenstände nicht, weil er in ihrer Beziehung erst noch einen
moralischen Widerstand =zu überwinden hat=.

Die erste Abteilung des Merkmales _a_), wo Jemand eine Sache blos darum
stiehlt, um sie zu =haben=, kommt mit der vorigen auf Eins hinaus,
wenn der =Besitz= allein irgend einen Vortheil gewährt, z. B. der
Gegenstand des Diebstahls ein Kleinod ist, mit welchem man Staat machen
kann; indess ist hier bereits der Fall denkbar, dass Jemand durch eine
Art Idiosynkrasie geleitet, einen unwiderstehlichen Trieb fühlt, die
=Sache= in seine Gewalt zu bekommen. Dieser Zustand ist möglich, da er,
wie die Erfahrung lehrt, wirklich vorkommt, und lässt sich allerdings
nur aus irgend einer Abnormität im Menschen erklären, welche eben
darum, weil sie eine Abnormität ist, und zwar ganz die Natur der fixen
Idee an sich hat, auch nach den hierüber dargestellten Grundsätzen
erhoben werden muss.

Das Erste, worauf es dabei ankommt, ist die Nachweisung, dass der
Mensch wirklich nur in Folge eines solchen Einflusses handle, und
das =Mittel=, diese Nachweisung zu liefern, ist der Umstand, dass
der Mensch wirklich nur diese =bestimmte= Sache, oder doch nur =eine=
bestimmte Gattung von Sachen, =wo= er sie findet, sich zueigne, und
die Nachweisung des Abganges aller =sonstigen= Motive zu dieser Art von
Thätigkeit.

Das Gegenstück zu diesem Zustande ist jene Art von Dieberei, welche
nicht selten die Begleiterin desjenigen Zustandes ist, welchen man
=Knauserei= nennt, und welcher in einem sehr grossen Abscheu vor
=kleinen= Ausgaben besteht, welcher Abscheu sich entweder darauf
bezieht, dass man kleine =Geldausgaben= oder die Verwendung =gewisser=
Gegenstände, z. B. eines Bogens feinen Briefpapiers, der Federkiele
u. s. w. scheut. Wenn durch eine solche Stimmung der Mensch zu kleinen
Diebereien verleitet wird, so liegt der Grund in der Vorstellung, dass
einerseits durch die Aneignung des fremden Gegenstandes dieser Art
die Verwendung des =eigenen= überflüssig gemacht wird, andererseits
aber dass der Andere, weil derselbe keinen solchen Werth auf diesen
Gegenstand legt, den Abgang nicht rügen, und daher die Entfremdung,
auch wenn er sie bemerkte, stillschweigend gestatten werde. -- Weit
davon, dass ein solcher Zustand =selten= genannt werden kann, findet
man ihn oft bei Leuten, bei welchen man etwas dergleichen in der That
nicht vermuthen sollte. Derlei Aeusserungen gehören in die sehr weite
Gattung der =Schmutzereien=, und fallen daher nur dort besonders
auf, wo sie ein besonderes lächerliches Ansehen haben, oder wo sie
Denjenigen, welcher sich ihnen ergibt, einmal veranlassen, das durch
ein stillschweigendes Uebereinkommen der Gesellschaft festgesetzte
Mass zu überschreiten, oder endlich wenn sie auf ein Subjekt gerathen,
weiches auf eine ähnliche Weise, wie jene, denkt und fühlt.

Kommt nun eine solche Thatsache zur gerichtlichen Erhebung, so
wäre es wohl kaum die richtige Ansicht, wenn man sie als eine Folge
irgend einer Abnormität betrachten würde, sondern sie ist in Wahrheit
nichts Anderes, als eine Folge des =Sichgehenlassens= in dem Hange
zu Schmutzereien, und verdient daher nur höchstens insofern eine
Entschuldigung, als der Thäter voraussetzen konnte, dass ihm der
Beeinträchtigte auch im Falle der Entdeckung die Sache hingehen lassen
werde.


§. 96.

So wenig sich, wie bereits früher bemerkt wurde, eine eigentliche
Idiosynkrasie wider den Begriff des Eigenthums denken lässt, so ist
doch der Fall möglich, dass Jemanden eine Sache, so lange er sich
bewusst ist, sie auf erlaubtem Wege nicht haben zu können, viel besser
gefällt, als wenn er sie hat oder auf eine erlaubte Weise haben kann.
_Nitimur in vetitum_ etc. ist ein längst bekannter Satz. Stiehlt nun
Jemand eine Sache, die er sich nach dem Zustande seines Vermögens
leicht hätte kaufen können, so liegt dieser That wahrscheinlich die
Erfahrung zu Grunde, dass ihm eine Sache, auf =rechtliche= Weise
erworben, bei weitem =nicht= so viel Vergnügen mache, als wenn er sie
auf eine unerlaubte Weise erwirbt.

So psychologisch richtig nun eine solche Ansicht an und für sich ist,
so wenig wird sie als ein Grund der Straflosigkeit erscheinen, wohl
aber kann es geschehen, dass die fortwährende Uebung in Kleinigkeiten
oder unter Verhältnissen, wodurch der Thäter straflos blieb, eine
solche =Gewohnheit= in dieser Art Praxis zur Folge hatten, dass er
endlich stiehlt, wie ein Anderer eine Prise Tabak nimmt, ohne etwas
dabei zu denken.

Tritt jedoch wirkliches =Bewusstsein= ein, und hat der Thäter
gewusst, dass er stehle, entschuldigt sich aber mit unwiderstehlichem
Hange, fremdes Eigenthum sich zuzueignen, so ist entweder eine
wirkliche =Krankheit= vorhanden, deren =Folge= dieser Zustand der
unwiderstehlichen Bestimmung ist, oder es hat doch nur an =Willen=
gefehlt, dem Hange Widerstand zu leisten, und die Strafe kann um
so weniger vermieden werden, als nicht zu läugnen ist, dass die
Vorstellung davon geeignet ist, den Widerstand gegen die Neigung
beträchtlich zu verstärken.


§. 97.

Nicht minder als die in den vorigen Paragraphen ausgesprochenen Motive
kann die Rücksicht auf die =Schwierigkeit=, welche zu überwinden, auf
die Gefahr, welche zu bestehen ist, um in den Besitz einer Sache zu
gelangen, Manchen bestimmen, sich einen Diebstahl zu erlauben, und
zu dieser „einladenden” Gefahr gehört auch die Vermeidung der auf
das „Ertapptwerden” gesetzten Strafen. Auch der Diebstahl hat seine
poetische Seite; man denke an manche Diebereien, welche sich die
Kinder erlauben, und man wird diese Bemerkung richtig finden. Schon
die Griechen scheinen deren Richtigkeit erkannt zu haben, weil sie
den Diebstahl zu einer eigenen Gottheit erhoben. Es kann sich daher
allerdings treffen, dass das Motiv, welches den Menschen zum Diebstahl
treibt, nicht eigentlich der =Diebstahl=, d. h. die Zueignung der
fremden Sache, sondern die =Ausführung= der Besitzergreifung ist;
es ist daher allerdings der Fall denkbar, dass ein Mensch, welcher
einen oder mehrere Diebstähle verübte, nur darum stahl, weil ihn die
Schwierigkeiten der Ausführung dieser That ausserordentlich anzogen.


§. 98.

Das Verbrechen der Brandlegung kann begangen werden: _a_) aus
demjenigen Motive, aus welchem sonst jedes Verbrechen entspringt,
nämlich zu dem Zwecke, um dadurch einen Vortheil zu erzielen oder
irgend eine Leidenschaft, z. B. Rache, zu befriedigen; _b_) aus
Vergnügen, brennen zu sehen; _c_) aus dem Drange, mit leichter Mühe
eine grosse Wirkung hervorzubringen.

Das erste Motiv bedarf keiner besondern Erörterung, denn wenn ein
solches Motiv zu Grunde liegt, das Verbrechen daher als Mittel zum
Zwecke erscheint, so lässt sich von keiner besonderen =Neigung= zur
=Brandlegung= mehr sprechen, sondern es lässt sich höchstens sagen,
dass der Verbrecher, seiner individuellen Stimmung oder Stellung nach,
dieses Mittel einem anderen =vorgezogen= habe, welcher Umstand in
rechtlicher Beziehung keinen wesentlichen Unterschied begründen wird,
so wenig als es einen Unterschied macht, dass ein geschickter Schütze
es vorzieht, einen Menschen zu erschiessen, als ihn zu erschlagen, wenn
er einmal des Vorsatzes zu tödten überwiesen ist.

Dass ein Mensch einen besonderen Geschmack an einem grossartigen
=Feuer= haben könne, ist ganz in der menschlichen Natur gegründet.
Jede Feuersbrunst hat an und für sich etwas Erhabenes, und auch für
Jedermann etwas Anziehendes. Jeder würde auch dieses Gefühl in sich
wahrnehmen, wenn es nicht durch den Anblick des Unglückes der dadurch
betroffenen Personen, und durch das Bewusstsein der eigenen Gefahr,
seiner Person, seiner Angehörigen und des Eigenthums wieder aufgehoben
würde.

Diese Ansicht der Sache ist so wahr, dass ich mich darüber auf das
eigene Bewusstsein jedes meiner verehrten Leser zu berufen erlaube.

Es kann nun allerdings Menschen geben, bei welchen diese letzten
Rücksichten so in den Hintergrund treten, und vielleicht gar nicht
vorhanden sind, dass auf sie blos der Gedanke nach dem Genusse des
Schauspieles, welches sie sich durch die Brandlegung verschaffen
können, einwirkt.

Da jedoch nicht zu läugnen ist, dass die Vorstellung des Unglücks,
welches eine Feuersbrunst mit sich bringt, sich bei jedem nicht
ganz geistesschwachen Menschen mit dem Gedanken daran verbindet, so
folgt, dass nur Derjenige sich durch eine solche Vorstellung zur
Brandlegung wird bestimmen lassen, der entweder wirklich im hohen
Grade geistesschwach ist oder an einer Geisteszerrüttung, oder,
was das Nämliche ist, an einer Krankheit leidet, welche =zuweilen=
eine Geisteszerrüttung, d. i. einen solchen Zustand zur Folge hat,
in welchem er nicht im Stande ist Vorstellungen zu produziren oder
festzuhalten, welche die Wirkung der einzigen, welche lebhaft auf ihn
einwirkt, hemmen könnte. -- Solche Stimmung mag durch den Zustand der
Hysterie, Melancholie etc. erfolgen.

Ganz etwas Aehnliches findet bei dem dritten Motive, dem Gedanken an
die durch den Brand entstehende =Verwirrung= Statt, und diese Ansicht
der Sache macht es erklärlich, wie ein Mensch nach gelegtem Brande nun
selbst thätig löschen hilft, denn diese Mithilfe kann sehr wesentlich
mit zu dem ganzen Bilde gehören, welches er sich von seiner That
entworfen hat.


§. 99.

Die Anwendung und der Nutzen des bisher Gesagten ergibt sich
sehr leicht, wenn man den Zweck jeder gerichtlich-medizinischen
Erhebung betrachtet, in welcher Beziehung es in dem Falle, wo es
sich darum handelt, die =Gemüthsverfassung= eines Menschen, welcher
eine bestimmte That begangen hat, zum Behufe der Bestimmung über
die =Zurechnungsfähigkeit= klar darzustellen, es offenbar nicht
gleichgiltig ist, ob man von einer =richtigen= oder von einer
unrichtigen Ansicht ausgeht. Es mag immerhin für Denjenigen, welchem
etwas gestohlen oder das Haus angezündet wurde, oder dem man eine
Verletzung beibrachte, sehr gleichgiltig sein, warum ihm diese
Beschädigung zugefügt wurde, für den Richter, welcher den Thäter
bestrafen soll, ist es sehr nothwendig, das Motiv der Handlung genau
und richtig zu erfahren. Wird nun von dem Arzte erklärt, es sei die
That aus einem besonderen Hange zu gewissen Verbrechen entstanden, so
ist diese Erklärung eben so wenig eine genaue, als eine richtige, denn
=es gibt keinen natürlichen Hang zu Verbrechen, weder überhaupt noch zu
speziellen Verbrechen insbesondere=, sondern es kann nur einen Hang zu
gewissen =Handlungen= geben, welche unter =gewissen Umständen auch= als
Verbrechen erscheinen können, =weil= sie sich unter gewissen Umständen
nicht ohne Verletzung fremder Rechte in der Art, dass sie dann ein mit
einem bestimmten Namen bezeichnetes Verbrechen darstellen, ausführen
lassen.

Nimmt man aber diese Ansicht nicht als die richtige an, und bleibt bei
jener, wo man von einem Diebssinne, von einem Hange zum Brandlegen
spricht, so lauft man Gefahr, entweder Handlungen, die vollkommen
zurechenbar sind, als die Folge einer natürlichen unwiderstehlichen
Anlage zu erklären, z. B. in dem Falle, wo Jemand eine Idiosynkrasie
für eine gewisse Sache besitzt, und sich dieselbe wo er kann zueignet,
und nun aus einem anderen Motive eine ganz verschiedene Sache, z.
B. eine Summe Geldes stiehlt, oder man erklärt eine Handlung für
zurechenbar, d. h. nicht aus einem unwiderstehlichen Drange erfolgt,
die im Grunde nach dem Verhältnisse, in welchem sich die Beschaffenheit
des Gesammtorganismus eines Menschen zu einer gewissen vorherrschenden
Anlage, unter gewissen gegebenen Umständen befindet, für eine freie
Handlung, die es im Grunde entweder gar nicht ist, oder doch nur in
sehr geringem Grade als eine selbstständige Handlung erscheint, weil
man keine solche Anlage wahrnimmt, welche den Menschen als mit dem
Diebssinne etc. behaftet darstellt. -- Solche Fälle kommen insbesondere
bei sehr jugendlichen Verbrechern, bei hysterischen Frauenspersonen,
bei Schwangeren etc. vor. Man kann und darf nicht sagen, dass die
Jugend oder hysterische Frauenspersonen als solche eine besondere
Anlage zum Brandlegen besitzen, denn unter tausend Jünglingen und
derartigen Frauenspersonen sind gewiss neunhundert neunundneunzig,
denen das Brandlegen nie eingefallen ist, es kann aber Fälle geben,
wo -- insbesondere vorausgegangene -- Beispiele so auf ihre Phantasie
wirken, dass sie bei dem wenig entwickelten oder überreizten Zustande
ihrer Geisteskräfte sich nicht enthalten =können=, dem Triebe der
=Nachahmung= zu folgen; sie ahmen hier nach, weil =der Effekt der
That ihrer Phantasie imponirt= und sie sich von diesem Bilde nicht
losmachen können. Es ist hier weder Pyromanie noch sonst eine wirkliche
Geistesverwirrung, so wenig als bei Demjenigen, welcher gähnt, weil er
einen Anderen gähnen sieht, ein besonderer Sinn für das Gähnen.

Will man daher nicht zahllose Sinne für gewisse Handlungen, darunter
wieder zahllose unbegründete Ausnahmen annehmen, und dadurch in
zahllose Inkonsequenzen verfallen, so muss man nothwendig alle derlei
willkürliche Annahmen bei Seite setzen und den Zustand eines solchen
Inquisiten vom rein menschlichen Gesichtspunkte in der Art darstellen,
dass genau erhelle, was er eigentlich mit seiner Handlung, die nun
als Verbrechen erscheint, erreichen wollte. Wo man dieses =kann=,
ist die Aufgabe der Erhebung gelös't, wenn es möglich ist, darzuthun,
ob und inwiefern wirklich ein unwiderstehlicher Hang, eben dieses zu
wollen, zu Grunde lag, und wo es nicht möglich ist, so tief in seine
geistige Thätigkeit einzudringen, um hierüber in's Klare zu kommen,
ist es vollkommen =unnütz=, diese seine Stimmung dadurch zu erklären,
dass man ihr eine =Benennung= gibt, von welcher sich, wie z. B. vom
Diebssinne, nachweisen lässt, dass ihr ein reeller Gemüthszustand in
der Wirklichkeit =nicht= entspreche, und dadurch Verwirrung in die
Rechtspflege zu bringen.



_I. Daemonomania._


§. 100.

Derjenige Zustand, in welchem Jemand ein überirdisches Wesen ausser
sich zu sehen oder zu hören vermeint, gehört, wie jede andere fixe
Idee, in das Gebiet der Pathologie, und ist daher kein Gegenstand der
gerichtlichen Arzneikunde.

Irrig wäre es jedoch, ein solches Vorgeben, z. B. dass ein Verbrecher
behauptet, eine Gestalt gesehen oder eine Stimme gehört zu haben,
welche ihn zur Begehung des Verbrechens aufforderte, geradezu für
eine lügenhafte Vorspieglung oder für das Produkt einer =krankhaften=
Verstimmung des geistigen Zustandes eines solchen Menschen zu erklären,
da zur Erklärung dieser Erscheinung allerdings noch eine dritte
Möglichkeit vorhanden ist.

Man darf nämlich nicht übersehen, dass solche Vorgeben, wenn sie nicht
von hysterischen Frauenzimmern oder überhaupt von solchen Personen
gemacht werden, an deren normalen Geisteskräften man ohnehin zu
zweifeln Ursache hat, doch nur vorzugsweise bei Mord und Brandlegung
vorzukommen pflegen. Schwerlich wird noch ein Fall vorgekommen sein,
dass ein Verfertiger falscher Wechsel oder ein Taschendieb solche
Erscheinungen gesehen oder gehört zu haben vorgibt, oder wenn ein
solches Vorgeben bei ähnlichen Verbrechen vorkommt und dasselbe nicht
auf einer Lüge beruht, so ist der Grund dazu meistens in dem inneren
Kampfe enthalten, den es einen sonst ehrlichen Menschen kostet, ehe er
sich zur Begehung eines solchen Verbrechens entschliesst. Nun gibt es
aber im Inneren des Menschen zuverlässig einen grösseren Widerstand,
ehe sich der Mensch entschliesst, einen persönlichen Angriff auf seinen
Nebenmenschen zu unternehmen, oder einen Brand zu verursachen, als
irgend etwas zu beginnen, welches weniger den sympathetischen Gefühlen
entgegen ist, als ein Mord, der weniger furchtbar auftritt, als eine
Feuersbrunst. Es ist also ganz natürlich, dass, so lange ein Mensch mit
dem Entschlusse, ein solches Verbrechen zu begehen, umgeht, oder wenn
er zur Ausführung schreitet, und endlich gar wenn er das Verbrechen
vollführt hat, sein ganzes Wesen und insbesondere seine geistige
Thätigkeit in die heftigste Aufregung geräth. -- In diesem Zustande
werden nun natürlich gewisse sonst im Hintergrunde seiner geistigen
Thätigkeit schlummernde Bilder, wenn sie sonst mit Demjenigen,
welches er beginnen will, in einigem Zusammenhange stehen, zu einer
Lebendigkeit gesteigert, welche es ihm bei dem sonstigen, durch sein
der sittlichen Natur widerstreitendes Beginnen verstörten Zustande
unmöglich machen, sich von deren Nichtrealität zu überzeugen.

Dies sind längst bekannte Dinge, und auf diese Art werden solche
Erscheinungen auch gewöhnlich erklärt, die Erklärung ist auch
vollkommen richtig, denn es erklärt sich dadurch auch noch manches
Andere, z. B. die nicht seltene Erscheinung, dass Jemand, der eine
zur Ausführung des Verbrechens dienende, mit sehr wenig körperlicher
Anstrengung verbundene Verrichtung ausübt, sich dabei im Schweisse
gebadet fühlt, dass es ihm in einer warmen Sommernacht kalt überläuft
u. dgl.

Es gibt jedoch ausser dieser psychologischen noch eine in der That
der =Aeusserlichkeit= angehörige Veranlassung solcher Erscheinungen,
die man bei solchen Fällen oft viel zu wenig würdigt, ich meine
jene Täuschungen des Gesichtes und Gehöres, denen fast jeder Mensch
unterworfen ist, welche auf einer Aehnlichkeit, welche die zufällige
Zusammenstellung mancher Gegenstände mit solchen dritten Gegenständen
hervorbringt, die wir bereits gesehen, gehört oder uns doch schon
vorgestellt haben, beruhen. Betrachtet man z. B. eine einfache oder
doppelte Reihe aufgehäufter Garben auf einem Felde in Mondbeleuchtung,
so kann man gar nicht umhin, darin eine Prozession verhüllter
weiblicher Gestalten, denen ein weites Gewand nachschleppt, zu
erblicken; es gehört die feste Ueberzeugung dazu, dass es Garben sind,
um nicht an die Wahrheit des Gesehenen zu glauben; hört man einige
Personen im richtigen Takte dreschen, und es fällt uns eine Melodie
bei, die in diesem Takte spielt, so hört man die Melodie selbst und
kann nicht umhin, immer die Melodie fort zu hören, so lange Jene im
Dreschen den Takt einhalten.

Bei derlei Dingen kommt es nun vorzüglich auf die Thätigkeit der
Einbildungskraft und auf die Bilder an, die darin schlummern und
durch solche Zufälligkeiten aufgeweckt werden, =ob= man etwas sieht
oder hört, und =was= dieses Gesehene oder Gehörte sein soll; es kann
sein, dass während der Eine gar nichts sieht, der Andere bereits eine
bestimmte Gestalt entdeckt hat und es gar nicht mehr =vermag=, die
wahrgenommene Gestalt =nicht= mehr zu entdecken.

Ein Beispiel dieser Art ist insbesondere jene Abbildung des Grabmahles
eines bekannten Helden, wo innerhalb der Bäume, welche darauf stehen,
dessen Schatten erscheint. Hat man diese Schattengestalt einmal
herausgefunden, so ist es ganz unmöglich, den Kupferstich oder das
Gemälde zu betrachten, =ohne= diese Gestalt zu sehen, und doch gibt es
Leute, welche ungeachtet aller Mühe, die sich ein Anderer gibt, ihnen
die Umrisse dieser Schattengestalt zu zeigen, doch nichts sehen, als
ein paar Bäume und einen Strauch zwischen ihnen.

Da hier dies Gemälde =absichtlich= so eingerichtet ist, dass die
Schattengestalt sich ausdrückt, so kann man nicht sagen, dass
Diejenigen, welche die Gestalt =sehen=, in einer Täuschung befangen
sind, sondern umgekehrt, Diejenigen, welche die Gestalt =nicht= sehen,
sind Diejenigen, welche sich in der Täuschung befinden, dass nichts zu
sehen sei.

Was nun hier durch die Kunst geschah, kann auch durch Zufall geschehen.
Wer daher in einem solchen Falle eine Gestalt sieht oder einen
bestimmten Ton hört, hält daher nicht etwa eine bestimmte Vorstellung
für etwas Reelles, sondern er sieht oder hört =wirklich=, und sein
Fehler besteht nur darin, dass er nicht noch andere Sinne zu Hilfe
nahm, um sich von der Realität des Gesehenen oder Gehörten, oder von
dem Umstande, dass dieses sein Sehen oder Hören nur auf der Täuschung
eines einzelnen Sinnes beruhe, zu überzeugen.

Sagt also ein Verbrecher, dass eine Gestalt zur Nachtzeit im Zimmer
gestanden sei u. dgl., so liegt daher gar nichts =Unmögliches= darin,
dass er die Gestalt wirklich =gesehen= habe, weil ihm die Gestalt, d.
i. deren Umrisse durch irgend eine Reflexion der Lichtstrahlen wirklich
gegeben war, und der Umstand, dass ein Anderer, der vielleicht bei ihm
war, dieselbe =nicht= erblickte, beweiset ganz und gar nicht, dass der
Erste diese Gestalt nicht wirklich gesehen haben könne.

Da es nun um so leichter ist, solche Gestalten zu erblicken, je
aufgeregter die Phantasie ist, und da ferner gerade der Gedanke an die
Ausführung gewisser Verbrechen eine starke Aufregung der Phantasie mit
sich bringt, so sind derlei Visionen zuverlässig eine ganz natürliche,
ohne Krankheit des Geistes mögliche, subjektiv =richtige Thatsache=.

Von dieser Seite betrachtet erklärt sich Manches vollkommen, wozu man
ohne Berücksichtigung dieser Thatsache vergebens den Schlüssel sucht,
insbesondere manche Geistererscheinung.

Folgender Fall gehört offenbar in die Klasse dieser Thatsachen.

Der Sohn eines Bauers hatte seinen Vater ermordet, um sich einen
Beutel mit Geld zuzueignen, den dieser in seiner Truhe hatte. Er wurde
alsbald nach verübter That ergriffen, und gestand sein Verbrechen mit
allen Nebenumständen; obwohl jedoch nicht die geringste Spur einer
Geisteszerrüttung an ihm wahrzunehmen war, so gab er doch in Bezug
des Geldbeutels an, dieser sei, als er die Truhe öffnete und darnach
greifen wollte, davongelaufen und dann verschwunden, und bei dieser
Behauptung blieb er, ungeachtet aller gemachten Gegenvorstellungen.

Sollte hier nicht etwas Aehnliches eingetreten sein? Der Beutel konnte
nun wohl nicht davonlaufen, allein es konnte der Fall sein, dass
nicht der Beutel, wohl aber eine Ratte oder eine Maus in der Truhe
war, die er in seiner Aufregung bei dem ersten Blicke, den er auf die
Truhe machte, für den Beutel hielt, und die davon lief, als die Truhe
geöffnet wurde; seine Angabe, dass der Beutel davonlief, war dann
subjektiv richtig.

Schwerer, als solche Irrthümer durch den =Gesichtssinn=, sind indess
dergleichen Irrthümer durch den =Gehörssinn= möglich, obgleich es
leichter ist, durch das Gehör als durch das Gesicht =getäuscht= zu
werden.

Der Gesichtssinn ist nämlich immerwährend =thätig=, man sieht niemals
=nichts=, sondern nur ein Blinder =sieht nicht=. Wenn man die Augen
zumacht oder in einem Gemache ist, wo kein Licht brennt und keine
Fenster sind, so sieht man die Finsterniss, man sieht =schwarz=. Hört
man aber =nichts=, so hört man auch nicht, und zwar so lange nicht,
als nicht das Trommelfell durch einen Schall affizirt wird; man hört
etwas, es ist aber möglich, dass man nicht unterscheide, mit welcher
Art von Tönen das Gehörte Aehnlichkeit habe, oder dass man durch die
Aehnlichkeit der Töne verleitet wird zu glauben, eine gewisse Art
Schall gehört zu haben. -- Dieser Mangel an Unterscheidung kann jedoch
nur so weit reichen, als der durch den Schall hervorgebrachte Ton
selbst =unbestimmt= auf das Ohr wirkt, und kann daher nur von einem
ebenfalls unbestimmten Tone nicht scharf unterschieden werden, man
kann z. B. im Zweifel sein, ob dasjenige, was man hört, der Ton einer
Trommel oder das Rauschen eines Wassers, der Pfiff eines Windes oder
der Ruf einer Stimme sei, schwerlich aber ist eine solche Verwechslung
eines Klanges mit einzelnen gesprochenen =Worten= möglich. Wenn also
Jemand z. B. behauptet, im Gesange eines Vogels gewisse =Worte= gehört
zu haben, so lässt sich diese Erscheinung wohl nur durch einen sehr
hohen Grad =wahrscheinlich krankhafter= Aufregung der Einbildungskraft
erklären, wenn der Vogel, welcher Worte gesprochen haben soll, nicht
etwa ein Guckguck, welcher nichts Anderes als seinen Namen rief, oder
ein abgerichteter Papagei gewesen ist. Man kann in Gegenständen,
welche klingen, mit einer nicht krankhaften Einbildungskraft wohl
=musikalische= Töne, auch wohl Melodien, nicht aber Worte =wirklich=
hören, denn wenn _Schiller_ sagt:

  „Da lebte mir der Baum, die Rose,
  Da =sang= der Quelle Silberfall,”

so glauben wir gerne seinen Worten; wäre es möglich gewesen, dass
der Dichter gesagt hätte: da =sprach= die Quelle, oder gar, =was= sie
gesprochen, so würde man das Gedicht wahrscheinlich nicht weiter lesen,
denn Niemand würde es ihm glauben.

Hieraus folgt, dass in dem Falle, als ein Beschuldigter behauptet,
irgend eine ausserordentliche Erscheinung =gesehen= zu haben, und
wenn sonst keine Spuren einer Geisteszerrüttung an ihm wahrzunehmen
sind, die Wahrscheinlichkeit für eine wirkliche, durch eine zufällige
Aehnlichkeit hervorgebrachte Wahrnehmung, dagegen bei gehörten =Worten=
die Wahrscheinlichkeit für eine verstörte =Einbildungskraft= einträte,
und zwar in dem Grade mehr für eine =krankhafte= Störung, als der
Beschuldigte die Worte =bestimmt= gehört zu haben behauptet, und nicht
etwa selbst im Zweifel ist, ob er sie auch wirklich =gehört= habe.

Es ist indess nicht unmöglich, dass Jemand etwas, welches ihm im
Augenblicke des Sehens oder Hörens eine auffallende Aehnlichkeit
mit irgend einem bereits Gesehenen oder Gehörten darbot, in =diesem
Augenblicke= nicht wirklich für etwas Reelles hält, später aber durch
seine Einbildungskraft verleitet wird, zu glauben, dass dasjenige,
welches ihm im Augenblicke des Sehens oder Hörens nicht als etwas
Wirkliches vorkam, doch etwas Wirkliches gewesen sei. Gibt es
doch Leute, die, wenn sie irgend eine Begebenheit mit einer Menge
Uebertreibungen einige Mal erzählt haben, am Ende selbst glauben,
es sei dabei wirklich gerade so zugegangen, wie sie die Begebenheit
Anderen zum Besten geben. Ich selbst hörte einmal mit grösstem
Vergnügen der Erzählung eines alten Soldaten zu, der behauptete, er sei
einmal schon todt gewesen. Das Wahre an der Sache schien zu sein, dass
er nach einer erhaltenen Wunde in der Schlacht sich todt stellte und
wahrscheinlich einige Zeit lang das Bewusstsein verloren hatte.

Derlei Spiele der Einbildungskraft sind nun aber ebenfalls nicht
selten, und es können dadurch, besonders wenn Derjenige, welcher
sie vorbringt, abergläubisch oder sonst auf einer geringen Stufe der
Bildung befindlich ist, manchmal von ihm Dinge, als von ihm wirklich
erlebt, behauptet werden, welche, wie man glauben sollte, nur einem
Tollhäusler beifallen können, ohne dass derselbe deswegen wirklich an
einer Geisteszerrüttung leidet.

Es folgt daher, dass, wenn derlei Erscheinungen von Beschuldigten
behauptet werden, deren Nichtrealität jedem Vernünftigen klar ist,
man =deswegen allein= noch nicht Ursache hat, eine Geisteszerrüttung
vorauszusetzen, sondern dass man vielmehr trachten muss, diejenigen
Verhältnisse, welche derlei Angaben bei dem Beschuldigten zur
subjektiven Wahrheit machten, zu erheben, und so viel als möglich
richtigzustellen, welches einerseits dadurch geschehen kann, dass
man die Lokalumstände, unter welchen derlei Erscheinungen Statt
gehabt sollen, sorgfältig untersucht, andererseits aber den sonstigen
Charakter eines solchen Individuums, z. B. ob er sonst in seinen
Angaben von der Wahrheit abzuweichen pflegt, ob er abergläubisch und
in welcher Art abergläubisch ist, oder ob er sich einer besonderen
Leichtgläubigkeit hingibt u. dgl., durch Vernehmungen von Zeugen u. s.
w. darzulegen sich bestrebt.



_K. Verstellter Wahnsinn._


§. 101.

Der verstellte Wahnsinn ist eben so wenig ein =Wahnsinn=, als eine
=verstellte= Krankheit ein besonderer =pathologischer= Zustand ist,
sondern diese Verstellung ist eine aus freiem Willen hervorgebrachte
=That=, so gut als das Spielen einer Rolle auf dem Theater. Ob nun
ein Zustand, welcher im Aeusseren die Thätigkeiten des Wahnsinnes
nachahmt, ein =wahrer= oder ein =verstellter= sei, wird im Wesentlichen
nach pathologischen Grundsätzen beurtheilt werden müssen, nämlich
ob sich derjenige Komplex von Erscheinungen darbiete, welcher nach
pathologischen Erfahrungen immer =vereinigt= angetroffen wird;
ausserdem muss ein solcher Zustand auch nach denjenigen Grundsätzen
beobachtet werden, welche sich aus der =Natur der Sache= ergeben, um
überhaupt eine Verstellung zu =entdecken=.

Die =erste= Rücksicht, welche man daher bei Erhebung eines solchen
Zustandes zu nehmen hat, wird daher wohl immer darin liegen, ob =alle=
Erscheinungen vorhanden sind, welche die =Pathologie= als einen
solchen abnormen Zustand begleitend entdeckt hat, ergibt sich aber
dann noch ein =Zweifel=, oder lässt sich die Möglichkeit denken, dass
der Zustand, welchen der vorgebliche Patient äussert, ihm zu einem
bestimmten Zwecke dienen könne, so muss nachgeforscht werden, ob der
Zustand schon =früher= vorhanden war, als er den in Frage stehenden
Zweck anzustreben begann, oder nicht. Ist =Letzteres= der Fall, so
entsteht jedenfalls der Verdacht einer absichtlichen =Täuschung=,
welche Voraussetzung auch dann viele Wahrscheinlichkeit erhält, wenn
der Zustand selbst ihm irgend einen =Vortheil=, z. B. die Erhaltung
einer Versorgung, zu gewähren verspricht.

Je mehr nun von dieser Art Gründe eintreten, um eine =Verstellung=
für wahrscheinlich zu halten, um so genauer muss die pathologische
Beobachtung sich gestalten, es erhalten aber überhaupt alle diejenigen
Personen, welche die Umgebung eines solchen in gerichtlicher
Untersuchung befindlichen Menschen bilden, die Aufgabe, ihre
Beobachtung dahin zu richten, jeder Verstellung auf die Spur zu kommen,
wozu folgende Rücksichten nicht unerheblich sein dürften.

Jede Krankheit, wohin auch der Wahnsinn gehört, ist ein
Originalzustand, d. h. der Mensch braucht, um die verschiedenen
Aeusserungen und Symptome der Krankheit darzustellen, nicht etwa ein
besonderes Nachdenken oder einen besonderen Entschluss, sondern alles
dieses lernt sich ohne alle Bemühung von selbst; dagegen ist jede
Verstellung eine =Nachahmung=, welche, wie alle Nachahmungen, entweder
hinter dem Originale zurückbleibt, oder gewisse Seiten des Originals
verzerrt. -- Wer übrigens nicht ein vollendeter Künstler ist, wird
mehr oder weniger in einem solchen Falle ein =bestimmtes= Original
=kopiren=.

Hat man daher den Fall eines wahrscheinlich verstellten Wahnsinnes,
so forsche man nach, ob das Individuum, bei dem man die Verstellung
vermuthet, nicht etwa in der Lage war, ein ähnliches Original
beobachtet zu haben. Findet man diesen Umstand bestätigt, so suche man
sich nähere Notizen über das fragliche Original zu verschaffen, und
bringe den Ersteren dann in Lagen, zu denen ihm sein Original nicht
gesessen ist. Sehr möglicher Weise wird er aus der Rolle fallen. --
Solche Originale können übrigens sowohl wirklich lebende Personen,
als solche sein, welche aus Büchern entnommen sind, man frage daher
bei gewissen Personen sein Gedächtniss, ob man nicht etwas Aehnliches
irgendwo gelesen habe.

Verstellung ist wie jede der Individualität nicht angemessene
Thätigkeit etwas =Lästiges= für den Menschen, ein unbequem anliegendes
Kleid, das man auszieht, wenn man schlafen geht. Man beobachte daher
ein solches Individuum vorzüglich zu der Zeit, wo er sich unbemerkt
glaubt, ob er nicht eine Blösse gibt.

Wer Wahnsinn oder eine andere Krankheit simulirt, hat gewöhnlich einen
für ihn wichtigen =Zweck=. Je wichtiger dem Menschen eine Sache ist,
um so mehr vernachlässigt er =Kleinigkeiten=, die mit der Sache, um
die es sich handelt, nichts zu schaffen haben. Man beobachte daher
Kleinigkeiten, in denen sich seine Thätigkeit ausspricht[50]. Wenn
man in dieser Art seine Beobachtungen fortzusetzen nicht ermüdet,
wird man selten seinen Zweck verfehlen und nicht nöthig haben, seine
Zuflucht zur Anwendung von schmerzhaften Mitteln zu nehmen, die zur
Richtigstellung des =Verdachtes= nie gebilligt werden können[51].

  [50] Ich erinnere mich gehört zu haben, dass man bei einem
      jungen Manne, der sich -- ich glaube als Spion zur Zeit der
      Kriegsjahre -- als Frauenzimmer angezogen hatte und seine
      Rolle recht gut spielte, dadurch Veranlassung fand, sein
      Geschlecht in Zweifel zu ziehen, weil er, als er einmal sich
      mit dem Stuhle, auf dem er sass, einem Tische nahen wollte,
      =zwischen den Schenkeln= nach dem Sessel griff, anstatt die
      bei solchen Gelegenheiten bei Frauenzimmern ihren Kleidern
      angemessene Bewegung, den Stuhl mit dem =Fusse= zu rücken, zu
      machen.

  [51] Ein Mann, welcher schon Monate lang zu schlafen schien,
      wurde dadurch des Betruges überwiesen, dass der Arzt,
      welcher ihn besichtigte, sich gegen seine Zuhörer über die
      Sonderbarkeit des Falles und insbesondere darüber aussprach,
      dass die Wirklichkeit des Schlafes ganz zweifellos sei.
      Er schilderte dabei die einzelnen Symptome, welche die
      Wirklichkeit ausser Zweifel setzen, zeigte sie am Körper des
      Schlafenden, und als er damit bis zu dem Gesichte gekommen
      war, sprach er zu dem Schlafenden: „Zeige die Zunge,” und --
      er zeigte sie wirklich.

Eben so verdient der Umstand Berücksichtigung, dass der sich
Verstellende seine Verstellungskunst nicht selten gegenüber von
Personen zu üben unterlässt, welchen er nicht Scharfsinn oder Interesse
genug zutraut, ihn zu beobachten. Man unterlasse daher nicht, solche
Personen, wozu insbesondere =Kinder= gehören, wo es nöthig ist, zu
seiner Beobachtung zu benützen.



Schlussbemerkung.


§. 102.

Obwohl ich nicht im Mindesten zweifle, dass sich über einzelne
Gemüthszustände noch Vieles und Nützliches sagen lasse, so dürfte doch
das bisher Gesagte genügen, um anzudeuten, worauf es bei der Erhebung
gewisser Gemüthszustände in rechtlicher Beziehung eigentlich ankomme.
Eine vollständige Exemplifikation zu liefern, in welcher zugleich eine
vollkommene praktische Anweisung enthalten wäre, wie in einzelnen
Fällen diese Aufgabe zu lösen ist, überschreitet die Grenzen dieses
Werkes um so mehr, als hierzu die Anwendung medizinischer Kenntnisse
nöthig wäre, die ich nicht besitze; ich kann mir daher nur die
Bemerkung erlauben, dass in vorkommenden Fällen, wo sich ergibt, dass
mehrere solcher von mir geschilderter Gemüthszustände thätig waren,
auch alle diejenigen Grundsätze, welche ich in Bezug auf die einzelnen
derartigen Gemüthsstimmungen schilderte, Anwendung finden werden. Mein
Zweck, den ich bei diesen Erörterungen verfolgte, war, wie es sich von
einem Autor voraussetzen lässt, welcher für einen solchen Leserkreis
sich zu schreiben berufen fühlt, wie von jenen, für welchen dieses Werk
bestimmt ist, nicht, eigenes Nachdenken überflüssig zu machen, sondern
im Gegenteile dieses zu veranlassen und höchstens zuweilen die Bahn zu
bezeichnen, auf welcher die eigene Forschung ihr Ziel verfolgen muss,
um nicht auf Abwege zu gerathen.

Mehr also, um dem Leser die Beruhigung zu geben, dass der von mir
angedeutete Weg wirklich zu dem richtigen Ziele führe, als in dem
Bestreben, dadurch dem Leser ein Muster zu geben, wie er sich in
praktischen Fällen zu benehmen habe, erlaubte ich mir die drei
nachfolgenden, durchaus wirklichen Kriminalakten entnommenen Fälle
mitzutheilen.

Der erste Fall mit dem wahnsinnigen Brandstifter _Joseph G._ ist in
mancher Beziehung auf eine ungenügende Weise erhoben. Ich erlaubte
mir die Fehler zu rügen und die Gründe beizusetzen, warum und worin
gefehlt wurde, und wie ähnliche Missgriffe zu vermeiden sind. -- Der
zweite Fall, unstreitig von Seite des Untersuchungsrichters ohne Tadel
geführt, lässt von Seite der ärztlichen Begutachtung viel zu wünschen
übrig; ich bestrebte mich, zu zeigen, wie es, wenigstens nach meiner
geringen Einsicht, hätte besser gemacht werden können.

Der dritte Fall, mit _Matthäus Grotz_, ist von Seite des Richters
sowohl als von Seite des Arztes mit solcher Umsicht und solcher
Sachkenntniss behandelt, dass er in der That als Muster zur Nachahmung
empfohlen zu werden verdient.

Der vierte Fall gehört der neuesten Zeit an.



V.

Kriminalfälle mit Erhebung des Irrsinnes.


A.

Der wahnsinnige Brandstifter Joseph G.[52].

  [52] Aus dem Werke: „Merkwürdige Kriminalfälle,” von Dr.
      _Pfister_, Stadtdirektor in Heidelberg.

Am 27. Jänner 1810 machte der Ortsseelsorger im O--thale dem
grundherrlich von G.'schen Amte zu G. folgende Anzeige: „_Joseph G._
ist mir längst als ein bösartiger und gefährlicher Narr bekannt,
ich brachte ihn nun durch Zureden und kleine Geschenke dahin, ihn
geschwätzig zu machen, und da vertraute er mir, dass er

1. seiner Mutter eigenes Haus durch in Lumpen gewickeltes Feuer
angezündet habe. Eben so wurde

2. das Berghaus des Nachbarn _Lorenz S._, in welchem seine Mutter
nachher mit den Kindern aus Barmherzigkeit aufgenommen wurde, von ihm
angezündet;

3. seien es noch nicht vier Wochen, so hat er wieder im Sinne gehabt,
einen oder zwei Bauernhöfe anzuzünden, welches ihn aber jetzt reue, so
dass er versichere, es nie thun zu wollen.

Da jedoch der Versicherung des _Joseph G._ bei seinem Geisteszustände
nicht zu trauen sei, so werde, =um Unglück zu verhüten=, das Amt
hiervon in Kenntniss gesetzt.”

_G._ wurde nun am 29. Jänner zu Verhaft gebracht. Es ergab sich,
dass wirklich das Haus der Mutter des _Joseph G._ im Jänner 1803,
und ungefähr vier Wochen darauf das Berghaus des _Lorenz S._ (am 19.
Februar 1803) abgebrannt sei. -- Beide Brände hatten sich daher schon
vor sieben Jahren ereignet. _Joseph G._ wurde übrigens als dasjenige
Individuum erkannt, welches das Amt X. bereits in das Irrenhaus
unterzubringen versucht habe.

_Joseph G._ wurde nun verhört, da jedoch seine Aussagen nur summarisch
eingetragen wurden, so genügt die Anschauung des wesentlichen Inhaltes
desselben, welcher in Folgendem bestand:

_Joseph_, seinen Zunamen wusste er nicht anzugeben, Sohn des Webers
_Michael_, welcher ein vagabundirendes Leben führt, und dessen
Eheweibes _Johanna_, lebt in dürftigen Umständen. In der Schule hat
er nichts gelernt. Er hat an ein paar Orten gedient, war aber wieder
fortgerannt, er sei ledig, habe, wenn es sein konnte, gebettelt. Er
habe Niemanden etwas gestohlen. Zu A. habe er sich in den Bach gelegt,
um sich zu ersäufen, die Bauern haben ihn wieder herausgethan. Einmal
hat er sich in dem Hause des _H._ im J--thale gehängt, ein altes Weib
hat ihn wieder losgemacht, zwei Knechte haben ihm gesagt, dass er sich
hängen soll. Als er einmal in Z. aus der Kirche kam, hat er sich wieder
gehängt, die Leute haben ihn herabgenommen. Das Leben sei ihm ganz
verleidet gewesen, weil sein Bruder, der Weber _Hanns_, so mit seiner
Mutter und ihm umgeht und sie schlägt.

Ueber die Feuersbrünste äusserte er sich in einem späteren Verhöre,
dass er den ersten Brand um die Mittagszeit angelegt habe, nachdem
sich sein ältester Bruder _Johann_ entfernt hatte; den Brand habe er
mit brennenden Kohlen gelegt, die er unter einem Hafen in der Küche
hervorgenommen und in einen Lumpen gewickelt, welchen er schon am
Morgen zu diesem Zwecke zu sich gesteckt, in das neben dem Hause
befindliche Stroh warf. Dieses fing sogleich an zu brennen. Seine
Mutter ergriff die Flucht, er aber blieb, ungeachtet ihres Zurufes,
zurück; er hatte, wie er sagte, eben Lust zu verbrennen, da ihm aber
seine Mutter zurief, so fiel ihn die Reue an, er änderte deshalb seinen
Entschluss und sprang aus dem Hause fort. Er half seiner Mutter jedoch
nicht, als sie ein Schwein aus dem Stalle rettete, da er, nach seiner
Angabe, zu erschrocken war, weil er das Haus angezündet hatte.

=Frage=: Warum er das Haus angezündet habe.

=Antwort=: Ich zündete es aus dem Grunde an, damit mein ältester Bruder
das Haus nicht bekomme, da dieser mich und die Mutter misshandelt
hatte.

=Frage=: Ob er nicht bedacht habe, dass er durch das Anzünden des
Hauses seine Mutter selbst unglücklich mache.

=Antwort=: Es fiel mir freilich bei, aber der Zorn gegen meinen Bruder
wegen den von ihm erlittenen Misshandlungen =überwog= den Gedanken.

=Frage=: Ob er nicht bedachte, dass er sich durch das Anzünden,
dadurch dass seine in der Kiste der Mutter verwahrten Kleider auch mit
verbrannten, =selbst= schade.

=Antwort=: Dieses fiel mir zwar auch ein, aber ich that es doch, wie
schon gesagt, in =Hinsicht= meines Bruders.

=Joseph G.= war indess wegen Mangel an Gefängnissen (freilich ein
etwas sonderbarer Mangel bei einem Kriminalgerichte) einem Bürger in
Verwahrung gegeben worden. -- Am 26. Februar wurde das Verhör wegen des
Brandes im Berghäuschen gehalten. -- Seine Angabe bestand in Folgendem:

„Ich legte im Berghause zweimal Feuer an. Es war schon finstere
Nacht, als ich allein in der Küche war und auf Geheiss meiner Mutter
Suppe kochen musste. Bei dieser Gelegenheit fiel mir mein Bruder,
der _Johann_, ein, und ich dachte: „Wart', Bruder, nun will ich das
Berghaus anzünden, damit du nicht mehr =hinein= und mich =d'rin=
schlagen kannst.” Aus Zorn gegen meinen Bruder _Johann_ steckte ich in
der Stube kurz vorher einen Lumpen, ohne dass es meine Mutter bemerkte,
in den Hosensack, und in der Küche ergriff ich in aller Eile aus dem
Ofen, worin ich die Suppe kochte, eine feurige Kohle; wickelte sie in
den Lumpen und warf sie augenblicklich durch den Rauchfang, welcher nur
sechs Schuh vom Boden der Küche entfernt war, auf das Dach. Diese Kohle
zündete aber das Haus nicht an, weil sie nur neben demselben auf die
blosse Erde fiel. Der Bruder _Christian_ hatte die Kohle hinabfallen
gesehen, und auf seinen Ruf lief ich auch hinaus und half ihm die Kohle
auslöschen. -- Am anderen Tage, als ich allein zu Hause war, nahm
ich wieder eine Kohle aus dem Ofen und steckte sie, in einen Lumpen
gewickelt, in das Strohdach. -- Um keinen Verdacht zu erregen, sprach
ich mit meinem Bruder _Mathes_ gleichgiltige Sachen; als ich aus der
Nebenkammer das Feuer aufgehen sah, rief ich dem _Mathes_ zu: „Komm,
Mathes, es brennt.” -- Ich half nun dem _Mathes_ beim Heraustragen der
Kleider, weil es mich reute, dass ich das Berghaus angezündet hatte.
Indessen kamen Leute herbei -- die Hilfe war jedoch vergebens.”

So weit die Erzählung des _Joseph G._ über seine Thaten, mit welcher
die Erhebungen des Gerichtes über den Statt gefundenen Vorgang ziemlich
übereinstimmten.

Am 20. März 1810 fand noch ein Verhör Statt, aus welchem wir folgende
Fragen und Antworten herausheben:

=Frage=: Warum er diese Brandstiftung so lange verschwiegen habe.

=Antwort=: Weil ich fürchtete, in's Zuchthaus zu kommen.

=Frage=: Er habe angegeben, dass ihn der erste Brand sehr gereut habe,
warum er gleich darauf den zweiten gestiftet habe.

=Antwort=: Mein Bruder _Johann_ hat mich eben in diesem Berghause
geschlagen, und darum nahm ich es mir aus Zorn gegen denselben vor,
damit er nicht mehr dahinkomme[53].

  [53] Die ganz natürliche Frage: „Dein Bruder konnte dich ja auch
      anderswo schlagen!” wurde nicht gestellt.

=Frage=: Ob er nicht gewusst habe, dass die Brandstiftung ein schweres
Verbrechen ist.

=Antwort=: Ja.

=Frage=: Warum er es doch begangen.

=Antwort=: Hätte mein Bruder mich nicht geschlagen, die beiden Häuser
stünden noch.

=Frage=: In welcher Gemüthsstimmung er gewesen sei, als er sich habe
erhängen wollen.

=Antwort=: Ich war damals nicht bei Sinnen und wusste nicht, was
ich that. Als ich hingegen das Haus meiner Mutter und das Berghaus
anzündete, war ich meiner Handlungen wohl bewusst[54].

  [54] Schwerlich wurde die Antwort =so= gegeben. Ueberhaupt ist
      es gefehlt, einen etwas blödsinnigen Menschen so geradezu um
      seine Gemüthsstimmung zu fragen. Er versteht die Frage nicht.

=Frage=: Warum er sich schon zu wiederholten Malen habe umbringen
wollen.

=Antwort=: Das Leben ist mir eben verleidet, wenn ich mit meinem bösen
Zustande befallen werde, und ich komme dann gewöhnlich ganz von Sinnen.

=Frage=: Was er zu seiner Entschuldigung und Rechtfertigung anzugeben
habe.

=Antwort=: Ich weiss nichts anzugeben, als dass mich mein Bruder
_Johann_ durch seine Misshandlungen zum Zorne gereizt hat.

Am 22. März registrirte das Kriminalgericht ein Attestat des Physikus
zu den Akten, worin gesagt wird, dass Inquisit sowohl in physischer
Hinsicht ohne Gebrechen und Krankheit sei, als auch in einem
dreiviertelstündigen Tentamen[55] seine inneren Sinne unverletzt[56]
und dermal ohne Fehler gefunden worden seien[57]. -- Hierauf wurde der
Akt dem Obergerichte zur Urtheilsschöpfung vorgelegt[58].

  [55] Auf die Dauer des Tentamens kam es nicht an, sondern auf
      seinen Inhalt.

  [56] Ein sonderbarer Ausdruck.

  [57] Der verehrte Leser wolle gefälligst den §. 82 des über den
      Irrsinn handelnden Aufsatzes nachlesen.

  [58] Die Untersuchung hatte vor keinem österreichischen Gerichte
      Statt gefunden; wäre es der Fall gewesen, so hätte die
      Urtheilsschöpfung von dem Kriminalgerichte erster Instanz
      Statt finden müssen, und wäre dann erst das Urtheil dem
      Obergerichte vorzulegen gewesen. (Siehe mein „Handbuch der
      gerichtsarzneilichen Wissenschaft” §. 12.)

Am 14. September 1810 erstattete der dortige Referent seinen Vortrag,
und stellte sich zur Ausmittlung der Zurechenbarkeit des Inquisiten und
Bemessung der Strafe folgende Fragen:

_a_) Ist Inquisit wahnsinnig?

_b_) Ist er es anhaltend oder nur zeitlich?

_c_) War er es, als er die erwähnten Brände theils veranlasste, theils
versuchte[59]?

  [59] Nur dieser Punkt konnte für die Zurechnung der That
      entscheiden, die anderen beiden Punkte sind nur Vorfragen,
      deren Beantwortung zu jener dieses letzten Punktes führen
      =konnte=, aber dazu nicht absolut nothwendig war, da, wenn
      der Wahnsinn zur Zeit der That konstatirt ist, sein sonstiger
      Wahnsinn von keinem wesentlichen Einflusse mehr ist. Ueber
      alle diese Punkte wäre aber ein =ärztliches= Gutachten
      nothwendig gewesen.

_d_) In welcher Geisteslage hat er seine Geständnisse abgelegt?

_Ad a_) und _b_) deponirt die Mutter des Inquisiten hierüber Folgendes:
Ja, es ist wahr, zu Zeiten ist er ganz von Sinnen, und besonders wenn
der Frühling anrückt; zu Zeiten ist er ganz bei Sinnen, wie jeder
andere gesunde Mensch; und

dieser mein Sohn war schon von Kindheit an mit dieser Krankheit
behaftet, und je älter er wurde, um so mehr hat sie zugenommen.

Eben so sagt _Johann G._, Bruder des Inquisiten: Er ist mit dieser
Krankheit bereits von Jugend auf behaftet, er wird aber nur zu Zeiten
damit befallen, wo er sich dann bald erstechen, bald erhängen will[60],
und zu anderen Zeiten ist er wieder ganz bei sich, spricht sodann ganz
vernünftig und führt sich ordentlich auf.

  [60] Er hatte auch gesagt, dass er eben Lust hatte, zu
      =verbrennen=, man hätte daher fragen sollen, ob er nicht auch
      dieses Gelüste geäussert habe, überhaupt aber hätte der Zeuge
      aufgefordert werden sollen, die Thatsache, auf welche sich
      seine Angabe stützt, umständlich zu erzählen.

Eben so sagt der zweite Bruder des Inquisiten: Er selbst sagt: Das
Leben ist mir halt verleidet, wenn ich mit meinem bösen Zustande
behaftet werde, und ich komme gewöhnlich bei demselben =ganz von
Sinnen=.

Und dann wieder: Ich that solches (d. i. ich wollte mich erhängen oder
ersäufen), wann ich mit dieser Krankheit behaftet wurde.

Hieraus ergibt sich nun nach der Ansicht des Referenten, dass eine
chronische Geistesabwesenheit, ein Wahnsinn, eine Verrücktheit des
Inquisiten nicht zweifelhaft sei[61].

  [61] Viel zu viel geschlossen für einen Justizreferenten. Es
      folgt aus diesen Daten nichts weiter, als dass bei _Joseph
      G._ sich Erscheinungen zeigen, welche, um ihre Bedeutung
      richtig zu stellen, der Prüfung ärztlicher Personen bedürfen,
      welche also vor Allem einzuleiten komme.

_Ad c_) Ungeachtet dieses Umstandes kann es jedoch (nach Ansicht des
Referenten) nicht zweifelhaft sein, dass er die Brände =frei= von einem
solchen Zustande nicht nur verübt und versucht, sondern auch einbekannt
habe. Weder die Mutter noch die Brüder des Inquisiten wollen Spuren des
Wahnsinnes bei ihm entdeckt haben, als die Brände Statt hatten[62],
und er, der seinen gesunden von seinem kranken Zustande wohl zu
unterscheiden weiss (?), gesteht, dass er jede dieser Brandlegungen
mit Wissen und Willen, ohne von seinem sonstigen Paroxismus etwas zu
spüren, verübt habe. Er gibt sogar das Motiv seiner That -- Hass gegen
seinen Bruder -- an[63].

  [62] Was würden wohl die Bemerkungen der Mutter und Brüder, wenn
      sie für das Gegentheil, nämlich die Verrücktheit, gelautet
      hätten, bewiesen haben? Offenbar nichts. Nun wird gar der
      Umstand, dass sie =nichts= bemerken, ungeachtet der früheren
      Annahme einer Geistesverwirrung (ob sie chronisch sei, konnte
      doch wohl der Referent nicht entscheiden), als ein Beweis für
      die =Geistesfreiheit= angenommen.

  [63] Dass der Inquisit ein Motiv hatte, beweiset wohl nichts
      gegen den Wahnsinn. Auch der Wahnsinnige handelt nach
      Motiven. Es sind wahnsinnige Motive, aber es sind Motive.

Die Art selbst, wie er seine Entschlüsse ausgeführt, enthält die
deutlichsten Beweise von Ueberlegung und Vorsatz[64] mit Beseitigung
alles dessen, was den Verdacht auf ihn leiten konnte.

  [64] Ueberlegung und Vorsatz finden auch bei Wahnsinnigen Statt,
      wenn es sich um Ausführung ihrer wahnsinnigen Ideen handelt,
      denn sie gehen dabei nicht selten mit einer Konsequenz und
      einer Verschmitztheit zu Werke, deren sich ein Vernünftiger
      nicht schämen dürfte.

_Ad d_) Inquisit hat ferner die vollkommene Erinnerung alles dessen,
was er gethan. Wahnsinn hat aber keine Erinnerung[65]. Auch entwickelte
er, nach dem Zeugnisse des Untersuchungsrichters, bei Ablegung des
Geständnisses nicht die mindeste Geisteszerrüttung.

  [65] Wieder eine Behauptung, die dem Justizreferenten
      auszusprechen nicht zukam, die aber auch nicht einmal wahr
      ist.

=Das Zeugniss des Amtsphysikus setzt den sowohl physisch als
psychologisch gesunden Zustand des Inquisiten vollends ausser allen
Zweifel[66].=

  [66] Wir erinnern noch einmal an den §. 82, der in der früheren
      Anmerkung erwähnt ist.

Der Inquisit sei also für zurechnungsfähig, und in Betreff des
Geständnisses für geistesfrei zu halten, und daher nur insofern einer
Strafmilderung würdig, als er bei Verübung der Verbrechen kaum das
fünfzehnte Jahr überschritten hatte.

Die Selbstmordversuche seien zu umgehen, eben so wie die geäusserten
Vorsätze, die Höfe des Schultheissen in M. anzuzünden, weil die
Ersteren nur polizeilich, die Letzteren aber gar nicht strafbar seien,
da keine äussere entsprechende Thätigkeit sie begleitete.

Der Referent trug auf dreissigjährige Zuchthausstrafe mit Willkomm' und
Abschied (d. i. Prügel und Schläge) an.

Das Kollegium konformirte sich jedoch mit dem Antrage des Referenten
=nicht=, sondern verordnete:

1. Die Lebensweise des Inquisiten von seiner frühesten Jugend bis
zu seiner Verhaftung durch glaubwürdige Zeugen zu Protokoll zu
bringen[67].

  [67] Noch zweckmässiger wäre es gewesen, zugleich die Mittheilung
      des Aktes an eine Sanitätsperson und von dieser die Abgabe
      eines Gutachtens über den wahrscheinlichen Geisteszustand des
      _Joseph G._ zur Zeit der verübten Brandlegungen auf Grundlage
      der Aktenergebnisse und eigener Untersuchung des Inquisiten,
      zu verlangen.

2. Die Selbstmordversuche näher zu erheben.

Dies geschah nun.

_Ad._ 1. Erklärten die Vorgesetzten von _G._, dass _Joseph G._
gewöhnlich alle Monate einmal vom Wahnsinne befallen worden, und dieser
habe dann immer einige Tage über angehalten. In diesem Zustande sei er
auf Bergen und in Wäldern herumgelaufen und habe wie ein Vieh gebrüllt.
Mitunter habe er sich in seinem Wahnsinne auch geäussert, dass er
sich hängen wolle, den Teufel gerufen, dass er ihn holen solle, und
Gott gelästert, dass er ihn nicht sterben lasse. Im gesunden Zustande
habe er wenig gegessen und sei arbeitsam und ordentlich gewesen. Am
stärksten habe ihn der Wahnsinn im Frühling und Herbste befallen.

Die nächsten Nachbarn erklärten Aehnliches.

Der =Schulmeister= gab an: Der _Joseph G._ war sehr unfleissig und
lernte kaum die Buchstaben kennen. So lange er die Schule besuchte,
war er meines Wissens nicht krank, aber ein einfältiger Bursche und
boshaft gegen die übrigen Schulkinder. Einen Wahnsinn bemerkte ich an
ihm nicht. Vor ungefähr drei Jahren kam er einmal zu mir und trug einen
Strick und Brodsack bei sich; ich fragte ihn, was er mit dem Stricke
wolle, worauf er sagte, ich will mich hängen, weil mich Gott nicht
sterben lassen will, wenn mich nur der Teufel holte. Der _Joseph G._
ist ein wahrer Schalksnarr[68], setzte der Schulmeister bei.

  [68] Die Belege zu dieser Behauptung finden sich später vor.

Die Mutter des _G._ fügte zu ihren früher erwähnten Angaben noch bei,
sie vermuthe, dass er die Krankheit mit auf die Welt gebracht habe,
denn als sie mit ihm schwanger ging, war sie wegen der gräulichen
Schulden ihres Mannes sehr melancholisch, und hatte noch besonders
vielen Kummer und Verdruss darüber, dass ihr Mann öfters äusserte, er
wolle sich hängen.

Der Pfarrer aus G. sagte, _Joseph G._ habe sich in der Schule sehr
halsstärrig und boshaft gezeigt, so dass weder Ermahnungen noch Schläge
bei ihm gefruchtet haben. Er habe durchaus keine Empfänglichkeit für
den Unterricht gezeigt. So lange er denselben kenne, sei er wahnsinnig
gewesen und habe vorzugsweise die Neigung blicken lassen, Anderen zu
schaden, wogegen weder Drohung noch Strafe gefruchtet hätten, er könne
sich jedoch einzelner Handlungen der Art nicht mehr erinnern. Uebrigens
habe er bei der Mutter des _Joseph G._ ähnliche Zufälle bemerkt[69],
welches wahrscheinlich ihren Mann verleitet habe, sie zu verlassen.

  [69] Dieser Angabe wurde nicht weiter nachgeforscht, was sehr zu
      tadeln ist, höchst wahrscheinlich aber nicht unterblieben
      wäre, wenn dasjenige Statt gefunden hätte, worauf in der
      nächstvorigen Anmerkung hingedeutet ist.

Die Erhebungen über die Selbstmordversuche liefern folgende Resultate:

1. Wegen dem Erhängen im Buchenwalde im U--thale konnte nichts erhoben
werden, da die Zeugen, welche den Vorfall gesehen hatten, nicht mehr
aufzufinden waren.

2. Wegen dem Erhängen im J--thale erklärte die alte Frau _Katharina
S._: der _Joseph G._ heischte bei ihr ein Almosen, die Knechte
entgegneten ihm hierauf, ob er seinen Haftpfennig schon habe, worauf
er sagte: Nein, das Leben ist mir verleidet. Aus Narrheit entgegneten
ihm hierauf die Knechte, er solle sich hängen, dort an der Wand hänge
ein Strick. Er nahm diesen Strick machte ihn an den Nagel fest und
liess sich wieder herab. -- Ich zankte nun mit den Knechten, und warnte
den _Joseph G._, von seinen Streichen abzulassen, allein er trieb sein
Wesen fort. Endlich kam ihm jedoch der Strick zu nahe, so dass ihm Blut
aus der Nase floss. Als ich dieses sah, nahm ich eine Ofengabel und
ging zankend damit auf ihn los. Auf dieses machte er sich vom Stricke
los, sprang vor den Spiegel und lachte laut, ich aber trieb ihn zum
Hause hinaus. Im Fortgehen jauchzte er hell auf[70].

  [70] Ein Beleg zu des Schulmeisters Behauptung, dass _Joseph G._
      ein Schalksnarr sei.

3. Wegen dem Erhängen in Q. ergab es sich, dass er keineswegs schon
gehangen sei, sondern angetroffen wurde, als er an dem herabgezogenen
Aste eines Apfelbaumes ein Seil angemacht und es sich um den Hals
geschlungen hatte. Noch hielt er den Ast mit der Hand fest. Hätte
er ihn losgelassen, so hätte der Ast ihn aufziehen und ihm Schaden
thun können. Die Zeugen riefen ihm zu, er solle sich losmachen, sonst
bekomme er Schläge, und so machte er das Seil von seinem Halse und
nachher von dem Aste los.

Die auf solche Art vervollständigten Akten legte das Kriminalamt am 10.
November dem Obergerichte vor, an welches indess von der Verwaltung des
Zuchthauses, in welches _Joseph G._ einstweilen untergebracht worden
war, folgender Bericht erstattet wurde:

„Vom Anfange seiner Einlieferung bis auf die Zeit, wo die Verwaltung
ihn durch Geldversprechung zum Arbeiten bestimmte, staunte _Joseph
G._ mit verirrten Augen vielmal und oft halbe Stunden lang an einen
gewissen Punkt hin, ohne Jemand gewahr zu werden, bis man auf ihn
zulief und ihn anredete, dann gab er, wenn man ihn anredete, weiter
keine Antwort als Ja und Nein. Wollte man von ihm etwas wissen, so
musste man ihn von Wort zu Wort auf seine Reden helfen, denn er scheint
das Gedächtniss nicht zu besitzen, dass er eine Konstruktion ordentlich
nach einander hersagen könnte.”

„Oefters, und besonders wenn der Mond wächst, verlässt ihn seine wenige
Heiterkeit, und er verfällt in eine Art Trübsinn und Hypochondrie, in
welcher er sich zu entleiben wünscht.”

„Eines Tages vor ungefähr fünf Wochen war er ebenfalls des Lebens
müde, lief geradezu an den mitten im Zimmer stehenden Pfosten, woran
ein für die Züchtlinge bestimmtes Messer zum Brotschneiden an Ketten
befestigt hängt, setzte es an die Kehle und wollte eben zuschneiden,
als glücklicherweise ein anderer Gefangener es gewahr wurde, und ihm
noch zur rechten Zeit das Mordinstrument entwand.”

„Ein anderes Mal fällt ihm ein, dass er durch Hungerleiden sein Leben
verkürzen wolle, und er ass auch wirklich mehrere Tage nichts, bis ihn
der Hunger überwältigte und er der Natur nicht länger mehr Trotz bieten
konnte.”

„Sein Verhalten ist übrigens ruhig, gerade wie bei Kindern beschaffen,
welche bei Spielsachen sich aufhalten und die Zeit vertreiben können,
oder durch Versprechungen und Schenkungen Alles von sich erzwecken
lassen. So z. B. findet er sein grösstes Vergnügen mit Glinkern
oder Rieblingen, welche er unter Tages bei sich trägt und während
des Schlafes unter seinem Kopfe verwahrt. Die Verwaltung konnte
ihn übrigens blos durch Schenkung einiger Kreuzer zum Wollschlumpen
vermögen, die er in guter Verwahr zu seinen Glinkern legt.”

„Uebrigens ist und bleibt _Joseph G._ ein äusserst blödsinniger,
einfältiger und sinnloser Mensch.”

Das Obergericht trug nun dem Lokalbeamten auf, in Gegenwart des
Medizinalreferenten mit _G._ noch einige auf dessen Seelenzustand
passende Verhöre vorzunehmen, wonächst dann der Medizinalreferent
mit seinem Gutachten sowohl über diese Verhöre als über das in den
Akten[71] über den Gemüthszustand des _Joseph G._ Vorkommende zu hören
sei.

  [71] Warum nur aus den Akten? Der Geisteszustand liess sich doch
      noch sicherer durch Untersuchung der Person des _Joseph
      G._ erfahren, und dazu waren nicht nur =Verhöre=, sondern
      überhaupt Beobachtungen über, und Unterredungen mit dem
      _Joseph G._ nothwendig.

Die ernannten Kommissarien fanden es, wie sie in ihrem Protokolle vom
28. Hornung 1811 bemerkten, nothwendig, das zu untersuchende Subjekt
hinsichtlich seiner Fassungskraft kennen zu lernen, um sich bei der
Wahl der Materie der an ihn zu stellenden Fragen darnach richten zu
können[72]. Man liess ihn also vorführen: er war heiter, seine Mienen,
Gestikulationen und die Art sich auszudrücken[73] zeigten jedoch
einen höchst einfältigen, blödsinnigen Menschen. Ueberhaupt zeigte
er den niedersten Grad des Erkenntnissvermögens, und man abstrahirte
hieraus die Nothwendigkeit, in der Wahl der Verhörsmaterialen zu
den einfachsten Begriffen herabzusteigen und nur nach und nach sich
Begriffen zu nähern, aus welchen auf eine grössere Denkkraft des
Inquisiten geschlossen werden könne[74]. Uebrigens glaubte man sich
über solche Gegenstände verbreiten zu müssen[75], welche über die
im gewöhnlichen Leben vorkommenden, sodann über die religiösen und
moralischen Begriffe des Inquisiten, endlich insbesondere über die von
ihm verübten Verbrechen[76] einigen Aufschluss zu geben im Stande sein
möchten.

  [72] Darüber konnte die Ansicht der Person des _Joseph G._ keinen
      Aufschluss geben, fing man aber eine Unterredung an, so war
      dies schon der Anfang der Untersuchung, wozu also dieser
      Eingang des Protokolles?

  [73] Wie drückte er sich aus, worin bestanden die
      Gestikulationen? -- Die Erklärung hierüber hätte zu
      Protokoll genommen werden sollen, denn ob die Ausdrücke und
      Gestikulationen einfältig sind oder nicht, gehört eben so gut
      vor das Forum des Richters, als vor jenes des Arztes.

  [74] Die Kommissarien waren nicht klar darüber, wie sie die
      Sache angreifen sollen, und befanden sich daher in einiger
      Verlegenheit -- dies ist der langen Rede kurzer Sinn. Es
      handelte sich nicht darum, den _Joseph G._ zu unterrichten,
      sondern ihn zum =Reden= zu bringen; dazu gab aber eine Frage
      nach seinen Glinkern oder nach seinem gesammelten Gelde
      zuverlässig ein besseres Exordium, als in allen sokratischen
      Unterrichtsmethoden zu finden sein kann.

  [75] Die Kommissarien hatten sich über gar nichts zu verbreiten,
      sondern nur zu bewirken, dass _Joseph G._ sich über etwas
      verbreite.

  [76] Diese gingen die Kommissarien nichts an. Höchstens konnten
      sie sich Einiges hierüber von _Joseph G._ erzählen lassen, um
      den Ausdruck, mit welchem er es that, zu beobachten.

=Frage=: Wie er heisse.

=Antwort=: Sepp heiss' ich, aber mit dem Zunamen sell weiss ich nicht.

=Frage=: Was ein Zuname sei.

=Antwort=: Sell weiss ich nicht.

=Frage=: Ob er nie gehört, dass die Leute zwei Namen haben.

=Antwort=: Nein.

=Frage=: Ob er noch Eltern habe.

=Antwort=: Ja, zwei Brüder, einen Vater und zwei Schwestern.

=Frage=: Ob er keine Mutter habe.

=Antwort=: Ajjo, ich hab' noch eine Mutter.

=Frage=: Wie sein Vater mit dem Zunamen heisse.

=Antwort=: Sell weiss ich nicht.

=Frage=: Er (Inquisit) heisse _G._, wie er glaube, dass sein Vater mit
dem Zunamen geheissen.

=Antwort=: Sell weiss ich nicht.

Nun stellte _Joseph G._ einmal eine Frage an die Kommissarien, deren
Zweckmässigkeit Jedermann bei weitem mehr einleuchten wird, als jene
des Fragens der Kommissarien nach dem Zunamen; er fragte nämlich:

„Ob er das Leben verschuldet habe, und wenn er es verschuldet habe,
so möge man es ihm lieber nehmen, als ihn länger im Zuchthause sitzen
lassen.” -- Als er die Frage, woher er dies vermuthe, dahin beantwortet
hatte, dass es ihm ein Sträfling im Zuchthause gesagt habe, fing er an
allerlei undeutliches Zeug zu schwatzen, so dass man ihn nur schwer
beruhigen konnte. -- Als man damit einigermassen zurechtgekommen zu
sein glaubte, erfolgte von Seite der Kommissarien an ihn die

=Frage=: Ob er nie gehört habe, dass die Kinder den Namen ihrer Eltern
führen.

=Antwort= (nach langem Besinnen): Ich kann mich jetzt nicht darauf
verstehen[77].

  [77] Diese Antwort wird so wenig Jemanden befremden, der bedenkt,
      dass _Joseph G._ in dem Augenblicke sein Todesurtheil zu
      hören vermuthet hatte, als er wirklich Mühe haben wird,
      das System der Kommissarien zu verstehen, die sich durch
      diesen deutlichen Wink über die im Inneren des _Joseph
      G._ herrschende Vorstellung nicht bestimmen liessen, ihm
      gleich die Frage zu stellen: „Warum glaubst du denn, dass
      man dich am Leben strafen wird?” und dann nach Massgabe der
      erfolgenden Antwort fortzufahren. -- Mancher sehr vernünftige
      Mensch, der sein Todesurtheil zu hören fürchtet, oder die
      zweifelhafte Beruhigung erhält, dass es sich =vor der Hand=
      noch nicht um seinen Kopf handle, wird auf ähnliche seinem
      Interesse eben so fern stehende Dinge, wie der Gebrauch von
      Zunamen, nicht um ein Haar besser antworten.

=Frage=: Ob er nicht glaube, dass sein Vater auch _G._ heisse.

Während die Frage diktirt wurde, sagte _Joseph G._ von freien Stücken:
„Mein Bruder ist mit der Mutter auch wüst gewesen, er hat sie gewürgt
und auf die Bank niedergesetzt.”

Auf Wiederholung der Frage:

=Antwort=: Sell weiss ich nicht.

=Frage=: Wie alt er sei.

=Antwort=: Sell weiss ich nicht.

Nun folgte eine ähnliche Abhandlung über die =Zeit=, nämlich wie viel
Tage das Jahr, wie viel Tage die Woche habe etc., die er bald schlecht,
bald besser beantwortet.

=Frage=: Was ist der Sonntag für ein Tag?

=Antwort=: Dass wir sollen in die Kirche gehen und beten.

=Frage=: Was heisst das: beten?

=Antwort=: Den Rosenkranz-Vaterunser thu' ich beten.

=Frage=: Er soll das Vaterunser beten.

=Antwort= (betet es ohne Anstoss zu Ende).

=Frage=: Wer denn das sei, der Vater im Himmel.

=Antwort= (nach gemachter Erklärung der Frage[78]): Gott.

  [78] Vermuthlich hatte man das ihm aus der Schule bekannte
      Schlagwort getroffen, auf das er mit seinem Wort einzufallen
      gewohnt war.

=Frage=: Warum er zu Gott bete.

=Antwort=: Dass ich in den Himmel komme.

=Frage=: Wann man in den Himmel kommt.

=Antwort=: Wenn man todt ist, geht die Seel' in den Himmel hinauf.

=Frage=: Ob alle Seelen in den Himmel kommen.

=Antwort=: Alle Menschen kommen in den Himmel.

=Frage=: Ob er nie etwas von der Hölle gehört habe.

=Antwort=: Ja freilich, wenn man flucht und wüst thut, kommt man in die
Höll'.

=Frage=: Wohin er gern kommen möchte.

=Antwort=: In den Himmel möcht' ich.

=Frage=: Wie er sich dann aufführen müsse.

=Antwort=: Brav beten.

=Frage=: Ob er nicht auch Niemanden etwas zu leid thun dürfe.

=Antwort=: Ajjo, Niemanden etwas zu leid thun.

Hiermit schlossen die Kommissarien das Verhör, wie sie es nannten,
setzten es aber am 26. Februar noch weiter fort.

=Frage=: Was er mit dem Gelde gemacht hat, was man ihm am Schlusse des
letzten Verhöres geschenkt hat[79]?

  [79] Hätte sollen im Akte bemerkt werden.

=Antwort=: I hab's wölle vertrinke. Sie haben mir noch kein' Wein
gebracht.

=Frage=: Wie viel es gewesen sei.

=Antwort=: Ein Zwölfer und ein Sechser[80].

  [80] Es ist durchaus nicht in der Ordnung, eine Antwort im
      Provinzialdialekte, die andere in der reinen Sprache zu
      protokolliren. Nur wo ein Missverständniss möglich ist,
      muss der Ausdruck des Inquisiten beibehalten werden. Bei
      =diesem= Verhöre wäre es aber entschieden besser gewesen,
      ganz den Provinzialdialekt beizubehalten, weil es hier darauf
      ankam, aus dem =gebrauchten Ausdrucke= den Geisteszustand zu
      beurtheilen.

=Frage=: Ob er Freude am Gelde habe.

=Antwort=: 's Geld isch no mei Freud'.

=Frage=: Warum ihn das Geld freue.

=Antwort=: Darum! -- dass ich allig Geld hab'.

=Frage=: Was er mit dem Gelde mache.

=Antwort=: Ich trink' Bier d'rum und Wein.

=Frage=: Ob er sich sonst nichts anschaffe.

=Antwort=: Manchmal ein' Rettich oder ein' Zwiebel.

=Frage=: Ob er nicht bessere Kleider zu haben wünsche.

=Antwort=: Ja.

=Frage=: Warum.

=Antwort=: Dass ich auch hübsch wäre und nit so wüst daher käme.

=Frage=: Ob er glaube, dass er sich für einen Zwölfer oder Sechser
bessere Kleider schaffen könne.

=Antwort=: 's isch z'weni.

=Frage=: Wie viel Geld er dazu brauche.

=Antwort=: Ich meine so Ein' Gulden.

=Frage=: Wer ihm bisher die Kleider angeschafft habe.

=Antwort=: Die Mutter.

=Frage=: Ob sonst Niemand.

=Antwort=: In des Cheizbauern Haus hab' ich ein wenig gedient und ein
Brusttuch erhalten. Ich bin aber wieder fortgerennt.

=Frage=: Warum.

=Antwort= (lachend): Ich bin halt herumgelaufen wieder.

=Frage=: Ob ihm das Herumlaufen besser gefalle, als das Schaffen.

=Antwort=: Ich schaffe lieber, ich hab' Freud' am Schaffen.

=Frage=: Warum er doch das Herumlaufen dem Schaffen vorgezogen.

=Antwort=: Ich hab' halt müssen herumlaufen, was ich angestellt habe,
hat mich gedrückt, es ist mir alleweil Angst gewesen.

=Frage=: Was ihm Angst gemacht.

=Antwort= (lachend): Dass ich's Haus anzunden hab'.

=Frage=: Warum ihm Angst gewesen.

=Antwort=: Darum, es ist mir im Kopf gesteckt, dass wenn ich stürb',
ich in die Höll' komm'.

=Frage=: Woher er gewusst habe, dass er deswegen in die Hölle komme.

=Antwort=: Weil's eine Sünde ist, weil's nicht recht ist.

=Frage=: Wer ihm dieses gesagt habe.

=Antwort=: Kein Mensch hat mir es gesagt, kein Mensch, kein Mensch.

=Frage=: Woher es ihm denn bekannt war.

=Antwort=: Sell isch nicht recht, wenn mer's Haus anzünden thut.

=Frage=: Warum es nicht recht sei.

=Antwort=: Weil ich meiner Mutter ihr' Sache verbrannt habe, weil es
eine grosse Sünd' ist.

=Frage=: Wann ihm dieses in den Sinn gekommen ist[81].

  [81] Es bedarf wohl keiner besonderen Erinnerung, um zu bemerken,
      dass der in Bezug auf =diesen= Gegenstand gewählte Ideengang
      sehr zweckmässig war.

=Antwort=: Wie ich's thun g'habt hab', ist mir's in den Sinn gekommen,
dass es nicht recht ist.

=Frage=: Warum es ihm erst hintennach in den Sinn gekommen ist[82]?

  [82] Besser wäre es gewesen, zu fragen, ob es ihm nicht schon
      früher eingefallen ist, denn die Frage, warum Jemandem etwas
      =nicht= eingefallen ist, wird auch ein Vernünftiger in den
      wenigsten Fällen beantworten können.

=Antwort=: Es hat mich halt im Gewissen gedruckt, und ich hab' es
müssen sagen.

=Frage=: Warum er es so lange verschwiegen habe.

=Antwort=: Ich hab' gefürchtet ich werd eingesperrt, hernach hab' ich's
müssen sagen, ich hab' keine Ruh' gehabt.

=Frage=: Woher er gewusst hat, dass er eingesperrt werde.

=Antwort=: In L. hab' ich einmal Einen prügeln g'sehen, der auch
e' Haus anzunden hat, derselbe hat zwanzig Jahr (Zuchthausstrafe)
überkommen.

=Frage=: Ob es vor oder nach seiner Brandlegung war.

=Antwort=: Ich hab' d'Häuser schon lang' anzunden g'habt.

=Frage=: Ob er also wirklich seiner Mutter Haus angezunden habe.

=Antwort= (lachend): Jo, ich hab's anzunden, jo, ich hab's anzunden.

=Frage=: Warum er es angezunden.

=Antwort=: Warum ich's thun hab'? Mein Bruder hat mich g'schlagen. Wann
er mich nicht g'schlagen hätt', hätt' ich's nicht thun; 's hat mich
schon vielmal g'reut.

=Frage=: Er hat ja damit nur seiner Mutter, nicht seinem Bruder Schaden
gethan.

=Antwort=: Mein Bruder ist auch darin gewesen; ich hab's gethan, dass
er nimmer hineinkommen sollt'.

=Frage=: Das Haus habe ja nicht seinem Bruder gehört.

=Antwort=: Er ist doch d'rinne g'west, er hat drinne gewoben, er ist
ein Weber.

=Frage=: Wann ihm beigefallen, das Haus seiner Mutter anzuzünden.

=Antwort=: Er hat mich gar wüst g'schlagen, da bin i gangen und hab's
anzunden.

=Frage=: Ob es ihm nicht eingefallen, dass es eine Sünde ist.

=Antwort=: Es ist mir freili eing'fallen.

=Frage=: Wann es ihm eingefallen.

=Antwort=: Wie ich's than g'habt hab', is mir's eingefallen.

=Frage=: Ob er nicht auch vor der That daran gedacht habe.

=Antwort=: Nein.

=Frage=: Ob das Anzünden des mütterlichen Hauses das einzige Böse sei,
das er begangen habe.

=Antwort= (lachend): Nein, ich hab' noch eins anzunden, das Berghaus
des _Lorenz S._

=Frage=: Warum er dies gethan habe.

=Antwort=: Mein Bruder hat mich auch in dem Haus g'schlagen, da hab'
ich's halt im Zorn gethan.

=Frage:= Ob er schon gebeichtet habe.

=Antwort:= Ja, aber ich bin aus der Kirche weggelaufen.

=Frage:= Warum?

=Antwort:= Weil mir Angst gewesen ist.

=Frage:= Wofür er sich gefürchtet habe.

=Antwort:= Ich fürchtete, ich sag's nicht recht, was ich gesündigt
hab'. (Lachend.)

=Frage:= Was er für eine Sünde halte.

=Antwort:= Wenn mer flucht[83].

  [83] Fluchen fiel ihm als eine Sünde bei, vermuthlich weil er
      beim Schulunterrichte öfter davon reden gehört hat, vom
      Brandlegen war weniger die Rede gewesen, daher ihm diese Art
      Sünde nicht eher beifiel, als bis er daran erinnert wurde.

=Frage:= Ob er schon geflucht habe.

=Antwort:= Schon vielmal.

=Frage:= Ob er nicht glaube, dass der Mutter Haus anzünden eine Sünde
sei.

=Antwort:= Das Fluchen ist Sünde, der Mutter Haus anzünden ist Sünde.

=Frage:= Ob er von den zehn Geboten nichts gehört habe.

=Antwort:= Freili hab' i davon gehört, die Mutter hat sie mit mir betet.

=Frage:= Er solle sie hersagen.

=Antwort:= (Er rezitirt einige Gebote unverständlich her.)

=Frage:= Ob er gehört hat, dass Tödten eine Sünde ist.

=Antwort:= Sell han i g'hört, dass Tödten eine grosse Sünde ist.

=Frage:= Ob er schon Jemanden etwas zu leid gethan habe.

=Antwort= (zuerst): Nein, nein! (Gleich darauf:) Ajjo, ich hab' mich e'
mal g'henkt.

=Frage:= Warum?

=Antwort:= Das Leben ist mir verleid't gewesen.

=Frage:= Warum es nicht erlaubt ist, sich selbst das Leben zu nehmen.

=Antwort:= Weil Niemand sich selbst darf richten.

=Frage:= Woher er dieses wisse.

=Antwort:= Sie haben's g'sagt, wie ich mich g'henkt hab' g'habt.

=Frage:= Ob er nicht erst neuerdings einen Versuch gemacht habe, sich
das Leben zu nehmen.

=Antwort:= Ja, im Zuchthaus hab' ich mir wollen die Gurgel abhau'n.

=Frage:= Warum er dies habe thun wollen.

=Antwort:= Weil mer halt Alles verleid't g'wesen ist.

=Frage:= Er habe ja aber doch gewusst, dass dies eine Sünde ist.

=Antwort:= 's ischt halt so an mich komme.

=Frage:= Ob es öfter so an ihn komme.

=Antwort:= Ja wohl, i hab' allweil lange Zeit.

NB. Hier wurde _Joseph G._ sehr düster, und man fand nöthig, davon
abzubrechen.

=Frage:= Ob er sich allenfalls über etwas im Zuchthause zu beschweren
habe.

=Antwort:= Nein, 's geht mer nix ab[84].

  [84] Ich glaubte diese Vernehmung wenigstens ihrem wesentlichen
      Inhalte nach wörtlich geben zu müssen, weil sie -- wie die
      Verhörenden einmal im Zuge waren -- in der That zweckmässig
      gepflogen ist, und es daher manchem Leser, der noch nicht in
      der Lage war, einem solchen Akte beizuwohnen, manche auch für
      andere Fälle brauchbare Winke zu geben geeignet sein dürfte.

Die Kommissarien schlossen hiermit diese Vernehmung mit der Bemerkung:
sie glauben, dass die abgehaltenen Verhöre hinreichen, um den
auffallenden Blödsinn und den geringen Grad des Erkenntnissvermögens
des Inquisiten zu beurkunden.

Der Medizinalkommissär erstattete nun folgendes Gutachten:

Aus dem Erwägen der Untersuchungsakten; aus den Beobachtungen bei den
Verhören des _Joseph G._; aus seiner bald freudigen, lächelnden Miene,
wo es keinen Stoff zur Freude und zum Lachen gab; aus der plötzlichen
Abänderung der Miene in starren, auf einem ganz unbedeutenden
Gegenstand haftenden, bald ängstlichen Blick; aus seinen Geberden
und seinem Betragen bei Beantwortung seines Verhöres; aus dem öfteren
Mangel seiner Fassungsfähigkeit für die deutlichsten Fragen, bis man
ihm solche auf mehrfache Art wiederholte, und ihm solchermassen das
Gedächtniss aufweckte; endlich aus seinem so schnellen Ueberfalle von
einer Art Wahnsinnes, das er nach der Beantwortung der Frage (wegen
dem Zunamen) sich im Geiste verirrte, und dann schnell trotzend
den Tod forderte, wenn er ihn verschuldet habe[85], sich hierzu
höchst gefasst zeigte, und nachhin weinend viel ungereimtes Zeug
schwatzte, aus welcher Gemüthsstimmung man ihn nur langsam, mit guten
Vorstellungen, mit Schmeicheln und Versprechungen von Geldschenkungen
wieder zu guter Laune bringen konnte[86]; ferner noch vorzüglich aus
dem wahnsinnigen Beginnen des Inquisiten bei dem ersten Brande, ob er
seiner ihm zurufenden Mutter folgen und sich aus dem brennenden Hause
retten wolle, und dem Martertode so gleichgiltig entgegensah -- aus
allen diesen Daten stimmt Referent in seinem Resultate mit dem des
Civilkommissärs, der Zuchthausverwaltung und des Zuchthaus-Physikates
dahin ganz überein, dass _Joseph G._ ein höchst einfältiger
und durchaus blödsinniger Mensch mit dem niedersten Grade des
Erkenntnissvermögens, ja als ein sogenannter Halbverrückter anzusehen
sei, wie er dieses im niedersten und höchsten Grade von Jugend auf
war, wobei ihn dennoch augenblicklich ein solcher Tiefsinn und Grad
von Narrheit befallen kann, dass er seiner inneren Sinne gar nicht
mehr mächtig ist und sogar sich selbst gefährlich wird, wie er denn
wiederholte Versuche gegen sein Leben machte.

  [85] Aus dieser Antwort folgt eben so wenig etwas für
      die Behauptung der Geisteszerrüttung, als aus der
      vorausgegangenen düsteren Stimmung. Er fürchtete, sein
      =Todesurtheil= zu vernehmen, und etwa noch dazu die sogleiche
      Exekution. Dies war natürlich und erklärt seine Stimmung
      vollkommen. Er musste dem gefürchteten Schlage etwas
      entgegensetzen, und das war =Trotz=. Der Schlag erfolgte
      nicht, er brach nun in sich zusammen und redete verwirrt.
      Dies war eben so natürlich. Man muss sich wundern, wie man
      diese naheliegende Erklärung übersehen konnte.

  [86] Davon sagt das Protokoll nichts. Uebrigens ist es
      wenigstens nach meiner unmassgeblichen Meinung ein grosser
      Beweis =für= den Blödsinn, dass sich _Joseph G._ nach in
      seinem Sinne so begründeter Besorgniss vor der Ankündigung
      eines Todesurtheiles, und nach der durch die freudige
      Ueberraschung der Versicherung des Gegentheiles, sich
      der hierdurch entstandenen Verwirrung wieder durch so
      unbedeutende Veranlassungen, wie Schmeicheln und Anbietung
      kleiner Geschenke, so weit entreissen konnte, dass er
      später auf den Gegenstand gar nicht mehr zurückkam. Ein
      Vernünftiger, welcher in der Lage des _G._ die Ankündigung
      des Todesurtheiles erwartet und den Tod gefürchtet hätte,
      würde dies nicht im Stande gewesen sein. Dass es aber _Joseph
      G._ vermochte, zeigt, dass er selbst für den Gedanken des
      vorschwebenden Todes zu stupid war.

Aus diesem und dem Angeführten (aus der oben zitirten Frage des
Verhöres) erachtet Referent, dass, wenn _Joseph G._ sich in seinem
Betragen und Sprechen die Zeit vor und nach Anlegung des Brandes auch
von ziemlichem Verstande ausgewiesen habe, =man hieraus dennoch nicht
unfehlbar= auf seinen =Geisteszustand in der Mittelzeit bei Anlegung
der Brände folgern könne=, wie auch Keiner, der ihn nur vor oder
nach der obigen Zeitfrist (nach dem Vorgange bei der zitirten Frage)
beobachtet hatte, auf den Vorgang seiner Geistesverwirrung in der
Zwischenzeit hätte schliessen können.

Das Obergericht forderte noch die Aufklärung, wie es komme,
dass _Joseph G._, welcher in seinem Verhöre als eine mit
Verstandesfähigkeit begabte, aller Ueberlegung fähige Person in einem
gesunden Gemüthszustande erscheine, nun als ein Mensch geschildert
werde, welcher nicht einmal im gesunden Zustande die gewöhnliche
Verstandesfähigkeit besitzt, im kranken aber wahnsinnig und
melancholisch ist.

Diese Aufklärung gab das Kriminalgericht (der Medizinalreferent wurde
nicht vernommen, was sehr zu tadeln ist) dahin:

1. dass die ersteren Verhöre die Antworten nur der Wesenheit nach,
ohne auch den Provinzialdialekt nachzuahmen, sonst aber ganz getreu,
enthalten;

2. die bessere Verpflegung im Arreste gegen die spätere im Zuchthause,
wo er noch von der Bestrafung anderer Verbrecher Zeuge war, auf ihn
vortheilhaft gewirkt habe, wodurch die Differenz in den ärztlichen
Arbitrien entstanden sein mag;

3. auch in den letzten Protokollen sich mehrere Antworten finden,
welche eben von keiner Geistesverwirrung zeigen.

       *       *       *       *       *

Das Obergericht fand sich hierdurch genügend in die Lage gesetzt,
ein Urtheil zu fällen[87], und erkannte, mit Berücksichtigung der
Jugend des Inquisiten (er war zur Zeit der Aburtheilung 22 Jahre),
der Verschiedenheit der bei der Untersuchung der Kommissarien und des
Kriminalamtes gefundenen Resultate[88], den _Joseph G._ wegen seiner
offenbar in lichten Zwischenräumen[89] begangenen Verbrechen mit
einer achtjährigen schweren Zuchthausstrafe zu belegen, jedoch mit der
Beschränkung, ihn vorläufig in dem Zuchthause noch nicht als Sträfling
zu behandeln, sondern unter ärztlicher Aufsicht für Veredlung seiner
Seelenkräfte zu sorgen.

  [87] Es wäre offenbar in der Ordnung gewesen, auch dem
      Medizinalreferenten den Bericht des Kriminalgerichtes
      zur Begutachtung vorzulegen, und auch die Aeusserung des
      Physikus, welcher das erste Gutachten ausgestellt hatte,
      unter Mittheilung der weiteren Erhebungen einzuholen.
      Ueberhaupt hätte bei der Erhebung des zweiten Befundes dieser
      Physikus sollen beigezogen werden, damit man erfahren hätte,
      ob sich wirklich eine wesentliche Veränderung mit _Joseph
      G._ zugetragen habe, denn es steht sehr zu bezweifeln, dass
      diese Veränderung =wesentlich= war, wenn man anders annimmt,
      dass -- wie es sehr möglich ist -- _Joseph G._ in einem blos
      mündlich und daher mit weniger Feierlichkeit als bei einem
      Verhöre geführten Gespräche, besonders wenn es zweckmässiger
      geleitet war, sich leichter ausdrückte, als im letzteren
      Falle.

  [88] =Ob= eine Differenz zwischen dem Kriminalgerichte und den
      Kommissarien bestand, war gleichgiltig. Es handelte sich
      darum, =worin= die Differenz bestand, und da sie darin
      bestand, dass das Erstere sagte, _J. G._ sei =gescheid=,
      die Letzteren, er sei ein =Narr=, so handelte es sich
      hauptsächlich darum, wer =Recht= habe, und daher, ob diese
      Differenz nicht behoben werden könne. -- Der Weg dazu ist in
      der vorigen Anmerkung angedeutet worden.

      Die Differenz wäre aber gar nicht entstanden, wenn man die
      Untersuchung des _Joseph G._ mit einer ärztlichen Erhebung
      des Gemüthszustandes =begonnen= und dieselbe bis zum Schlusse
      im Einvernehmen mit dem Arzte fortgesetzt, bei Protokollirung
      seiner Aussage seine Ausdrücke =wörtlich= aufgenommen und
      sich nicht mit dem ersten ganz oberflächlichen Parere begnügt
      hätte, dessen Oberflächlichkeit sich dadurch nachweist,
      dass es nicht nur auf den bereits =notorisch= wahnsinnigen
      _Joseph G._, sondern beinahe auf jeden gesunden Menschen
      passt. Ein Parere aber, welches bei dem =bekannten= Bestehen
      einer Krankheit bei einem Individuum, ohne sich über ihr
      Vorhandensein oder Nichtvorhandensein nur mit Einem Worte
      auszusprechen, hinausgeht, ist =oberflächlich=.

  [89] Das ärztliche Gutachten, welches ganz entschieden das
      Gegentheil sagte, blieb unberücksichtigt.

Dieser Antrag wurde höheren Ortes auch genehmigt, und zugleich
angeordnet, das Urtheil erst nach hinlänglich gebessertem Zustande des
_Joseph G._ kund zu machen.

Dieser Zeitpunkt war aber nach sechs Jahren noch nicht gekommen.

       *       *       *       *       *

Der verehrte Leser wird mit dem Verfasser die Ansicht theilen,
dass dieses Urtheil keineswegs ein den Prinzipien der Gerechtigkeit
entsprechendes war. Der Grund seiner Schöpfung liegt aber offenbar
darin, dass die =Differenz= der Ansicht des Kriminalgerichtes mit dem
Medizinalreferenten nicht zu beheben versucht wurde, oder sofern dies
nicht möglich war, der Ausspruch des Medizinalreferenten, als des
eigentlichen Sachkundigen, nicht als der =giltige= angenommen wurde.

Der Standpunkt, von welchem die Sache schon vom Anbeginne der
Untersuchung hätte angegriffen werden sollen, wäre nach meiner Meinung
folgender gewesen:

_Joseph G._ hatte sich zu zwei Brandlegungen bekannt. Diese Brände
hatten wirklich Statt gefunden. -- _Joseph G._ war notorisch von Zeit
zu Zeit verrückt, oder benahm sich doch so, dass man ihn dafür =halten=
musste.

Diese drei Thatsachen mussten daher als die Grundlage weiterer
Untersuchung dienen. Es handelte sich also vor allem Anderen darum,
durch =ärztliche= Erhebung auszumitteln, ob man seinen Zustand für so
geartet halten könne, dass anzunehmen sei, er wisse was er =sagt=.

Dazu gehörte nun vor Allem eine Prüfung seiner =Aussagen= durch einen
zum Verhöre zugezogenen Arzt, nicht aber genügte es, dass er, wenn
auch drei Viertelstunden lang, erst längere Zeit =nach= dem Verhöre von
einem Arzte geprüft wurde, denn es lässt sich die Möglichkeit denken,
dass diese Prüfung gerade während eines =lichten= Zwischenraumes Statt
hatte, in welchem er, wenn er wäre verhört worden, das Geständniss
nicht abgelegt haben würde.

Da nun wohl die Brände, nicht aber auch der Umstand, dass die Brände
=gelegt= waren, erhoben wurden, auch sonst kein Umstand vorlag, welcher
ihn als den Thäter bezeichnete, so war diese Lücke =wesentlich=, und
konnte auch nicht durch das von den Kommissarien aufgenommene Verhör
als ergänzt betrachtet werden, weil zufolge dieses Verhöres _Joseph
G._ entschieden als mit abwechselnder Sinnenverwirrung behaftet erkannt
wurde.

Es fehlte daher die =erste= Bedingung zur Verurtheilung, die
Gewissheit, dass das Geständniss =wahr= sei, und dieser Mangel hätte
sollen auf die früher erwähnte Art und Weise behoben werden.

Was nun den Zustand bei Verübung der That betraf, so stand, auch
abgesehen von dem früher gerügten Mangel objektiver Gewissheit über
die Wahrheit des =Geständnisses=, noch der Umstand entgegen, dass aus
den Erhebungen hervorging, _Joseph G._ sei schon seit seiner früheren
Jugend im =Allgemeinen= schwachsinnig, =zuweilen= jedoch entschieden
=närrisch= gewesen.

Es hätte nun sollen ein besonderes Gutachten über den Umstand
erhoben werden, ob aus den durch die Aussagen seiner Mutter etc. sich
ergebenden Umständen sich die Gewissheit einer bereits zu =jener Zeit=
Statt gefundenen, wenn auch intermittirenden =Geisteszerrüttung=, oder
doch deren Wahrscheinlichkeit ergäbe, und dann im wahrscheinlichen
Falle der Bejahung, unter Mittheilung der Akten an den Arzt, an diesen
die Frage gestellt werden sollen, ob sich bei einem Menschen, welcher,
wie _Joseph G._, zugleich schwachsinnig und zeitweise vollkommen
verrückt ist, bezüglich dieser That unter den Umständen, unter welchen
sie begangen wurde, mit Gewissheit darstelle, =dass er damals in einem
lichten Zwischenraume gewesen sei=.

Der Arzt hätte zur Beantwortung dieser Frage wahrscheinlich eine
umständlichere Vernehmung mehrerer Zeugen bedurft, welches, und zwar
mit =Beiziehung des Arztes=, hätte geschehen müssen, dann aber wäre
höchst wahrscheinlich der Ausspruch erfolgt: „dass sich bei einem so
schwachsinnigen und zeitweise wirklich =verrückten= Subjekte unmöglich
bestimmen lasse, dass er bei dieser That, welcher noch dazu ein
=widersinniges= Motiv zu Grunde liegt, in einem lichten Zwischenraume
sich befunden habe, weil er sich dabei, wenigstens bei dem ersten
Brande, auf eine ähnliche Art benahm, wie bei den Selbstmordversuchen.”

Dieser Ausspruch hätte nun die Sache, und zwar =dahin= entschieden,
dass gegen _Joseph G._ nicht weiter wäre prozessirt worden, da man
dann die Ueberzeugung gewonnen hätte, dass sowohl der objektive als der
subjektive Thatbestand mangle.

Nimmt man aber selbst an, dass das Geständniss richtig ist, ja dass
sich Alles gerade so verhält, wie _Joseph G._ angibt, so erscheint
dieser als ein höchst =schwachsinniges= Geschöpf, welches nur =wenigen=
Vorstellungen zugänglich ist. =Eine= von diesen wenigen war die des
=Zornes= gegen seinen Bruder, weil er ihn geschlagen hatte, alle
anderen, die ihm doch so nahe gelegen, z. B. dass der Brand des Hauses
seinem Bruder nur =wenig=, ihm selbst und seiner Mutter und Anderen
aber =sehr viel= schaden, blieben von seiner =Seele fern=, um so
mehr mussten alle Vorstellungen von der Unsittlichkeit der Handlung
(er wusste, dass Fluchen eine Sünde sei und fluchte dennoch, von der
Sündlichkeit des Brandlegens hatte er, wenigstens nach seinem Wissen,
nichts gehört), und eben darum auch von der =Rechtswidrigkeit=, von
welcher er gar =keinen= Begriff hatte, ausgeschlossen sein. Er fasste
den Entschluss als ein =Schwachkopf= und führte ihn aus mit der
=Konsequenz eines Wahnsinnigen=, für den ausser dem, was zu seiner
fixen Idee passt, nichts vorhanden ist.

Ein solcher Entschluss kann nun, ungeachtet der wirklichen Ausführung,
nicht bestraft werden, weil gegen ein solches Subjekt jede bürgerliche
Strafe =wirkungslos= bleibt und bleiben muss.

Zur Ausmittlung des Zustandes zur Zeit der That geschah nun in der
vorliegenden Untersuchung zu wenig, und der gegenwärtige Zustand des
_Joseph G._ war wieder von zu geringer Bedeutung für dasjenige, was
vor sieben Jahren geschehen war; so geschah es nun lediglich durch
die unrichtige Art der Auffassung des Gegenstandes, dass _Joseph G._
verurtheilt wurde, der sonst der Verurtheilung zuverlässig entgangen
wäre.



B.

_Der Brudermörder Kaspar Roth_[90].

  [90] Aus dem „Archive des Kriminalrechtes,” mitgetheilt von Dr.
      _E. F. Scuchay_, Advokaten in Frankfurt a. M., wo sich der
      Fall ereignete.



I. =Lebensgeschichte des _Kaspar Roth_ bis zur völligen Entwicklung
seiner Seelenstörung.=


§. 1.

_Kaspar Roth_ ist der Sohn eines dürftigen Schneidermeisters zu
Frankfurt a. M., welcher ihn in zweiter Ehe, und zwar in seinem 57.
Jahre, gezeugt hat.

Schon in seiner frühesten Kindheit wurde er von einem Nervenfieber
befallen, und die gleiche Krankheit wiederholte sich in seinem 11.
Jahre. Der von Natur nicht starke Körperbau des Knaben wurde durch
diese Krankheiten geschwächt, und auf der anderen Seite dessen
Entwicklung weder durch nahrhafte Kost noch durch gesunde Wohnung
befördert. Im Gegentheile hatte er das gemeinsame Schicksal armer
Kinder in grossen Städten: keine frische Luft, keine freie Bewegung,
kraftlose Speisen, erkünstelte Bedürfnisse und -- lasterhafte
Gewohnheiten.

Gegen seinen Vater finden sich keine besonders nachtheiligen Zeugnisse
in den Akten, sein Einfluss auf den Sohn war durch die Stumpfheit
seines Alters beinahe Null; die Mutter dagegen ist eine für ihren
Stand gebildete und gottesfürchtige Frau, so dass durch die häusliche
Erziehung wenigstens nicht nachtheilig auf die moralische Seite seines
Charakters scheint eingewirkt worden zu sein. Allein in seinem zehnten
Jahre erlernte er von einem anderen Jungen das Laster der Onanie.
Er war damals noch in einer Trivialschule, besuchte aber darauf das
Gymnasium und wurde hier von dem Lehrer der Religion (jedoch ohne
persönliche Beziehung) auf die nachtheiligen Folgen aufmerksam gemacht.
Von dieser Zeit an, seinem 14. Jahre, bestrebte er sich, jenes Laster
abzulegen, und es gelang ihm nach einem jährigen Kampfe. Nicht weniger
suchte er in anderer Beziehung der Anleitung seiner Lehrer zu folgen.
Seine geistigen Fähigkeiten waren gering, jedoch gelang es ihm durch
unermüdlichen Fleiss, in den alten Sprachen bedeutende Fortschritte
zu machen, sieben Preise zu erringen, und einer der ausgezeichneten,
leider! auch der geliebten Schüler zu werden. Die angestrengte Arbeit
war denn wieder eine Ursache, den Körper des jungen _Roth_ noch mehr zu
schwächen, so dass er sich in einem höchst elenden Zustande gerade zu
einer Zeit befand, wo er neuer Kräfte und neuer Anstrengung am meisten
bedurft hätte, nämlich als die Schulstudien sich ihrem Ende nahten und
die der Universität beginnen sollten. Obwohl er in seinem 19. Jahre,
um Ostern 1825, eine Abschiedsrede von dem Gymnasium gehalten hatte,
besuchte er dasselbe doch noch bis Ostern 1826, allein schon mit den
häufigsten durch seine Kränklichkeit veranlassten Unterbrechungen[91].
Zu den damals eingetretenen Unterleibs-, Nerven- und Gehirnleiden
gesellte sich ein neues Erwachen des Geschlechtstriebes, und dieser
wirkte, obwohl von dem unglücklichen Jüngling standhaft bekämpft, mit
erschütternder Kraft auf den schon allgemein affizirten Körper zurück.

  [91] In dieser Zeit schrieb er einen Brief an einen seiner
      Lehrer, worin er folgende Schilderung seines Zustandes gibt:

      „Der Unterleib ist verhärtet, die Gedärme scheinen schlaff
      und sich gesenkt zu haben, Verstopfung ist gewöhnlich, der
      Kopf ist wie von Dunst umzogen, die Nerven wie angespannt
      und krampfig. Wenn der Schmerz stark wird, so schmerzt die
      Gehirnhaut auch.”

_Kaspar Roth_ befand sich um diese Zeit in einem erbarmungswürdigen
Zustande, in dessen Krisis die schaudervolle That fällt, welche der
Gegenstand nachfolgender Blätter ist.

Ehe ich diesen Zustand näher beschreibe, wende ich mich noch etwas
zurück, um auch die innere Lebensgeschichte desselben bis zu dieser
Periode zu verfolgen und einige andere Thatsachen anzugeben, die von
wesentlichem Einflusse auf Vollbringung jener That waren, oder ihre
Ursachen näher beleuchten.


§. 2.

Dass die geistigen Fähigkeiten des _Kaspar Roth_ nie ausgezeichnet
waren, ist schon berührt worden. Dessen ungeachtet brachte er es
in manchen gelehrten Studien weit, in anderen dagegen konnte er
nicht vorwärts kommen. Charakteristisch ist, dass ihm immer die
Mathematik =gänzlich unzugänglich= war, und dass er darin auch nicht
die einfachsten Sätze begreifen konnte, wogegen er sich gern mit
Aufsätzen in deutscher Sprache befasste, und durch grossen Fleiss
einer der ersten Stylisten wurde. Jedoch war auch in diesen Aufsätzen
keine produktive Kraft, sondern nur ängstliche Sorgfalt für die
Sprachwendungen zu erkennen, so dass seine vertrautesten Briefe immer
von Korrekturen wimmelten. Einer seiner Lehrer sagt in einem nach der
Ermordung des Bruders über ihn gegebenen Bericht, dass zuweilen seine
Gedanken wie still gestanden, und man ihm auch nicht das Leichteste
hätte begreiflich machen können. Bei solchen zum Philosophiren gewiss
nicht geeigneten Anlagen hatte er dazu dennoch einen unglücklichen
Hang. Es ging ihm damit wie dem Zauberlehrling: Zweifel konnte er
leicht heraufbeschwören aus dem unendlichen Ideenreiche über die
Natur und Bestimmung des Menschen -- sie zu lösen war er nicht im
Stande; ohne Lösung ruhen und vertrauen auf die Vorsehung gelang
ihm gleichfalls nicht. Dieser innere Zwiespalt erschütterte, wie
begreiflich, sein Denkvermögen. Besonders einflussreich auf sein und
seines unglücklichen Bruders Schicksal scheint aber die Idee =von einer
ewigen und unzertrennlichen Verbindung des Geistes und des Körpers
geworden= zu sein.

Mit dem Hinscheiden und dem Untergange des Letzteren dachte er sich
auch den Untergang des Ersteren verbunden[92].

  [92] Viele in den Akten enthaltene Aufsätze und Briefe zeigen
      jenen unglücklichen Hang des _Roth_ zur Philosophie. In
      Bezug auf die angeführte Idee ist wichtig, dass er einst
      einem seiner Lehrer den Widerwillen gegen die Mathematik
      dadurch erklärt hat: =bei der Idee der Einheit= entstünden
      in ihm die allerbeunruhigendsten Zweifel. Ferner ist von
      grosser Wichtigkeit das hier folgende Aktenstück, welches
      verschiedene, an sich selbst von _Roth_ gerichtete und
      sich selbst im Namen der Philosophie, der Medizin und der
      Theologie beantwortete Fragen enthält:

         „Ist es erlaubt, Solche, von denen man sagt, dass
        ihre übersinnliche Natur, wenn sie noch länger
        mit der Körperwelt in Verbindung stehe, verloren
        gehe, von dieser Körperwelt zu trennen? Sorgfalt
        bei der Untersuchung (das könnte denn gewiss bei
        scharfblickenden Aerzten eine grosse Frage sein).
        Wer spricht von einer solchen Vernichtung des
        Uebersinnlichen statt des Irdischen?

                            =Der Philosoph.=

         Frage wegen Erlaubtheit des Selbstmordes für Solche,
        die sich unrettbar erkennen.

                               =Theolog.=

         Dürfen sie denn keine Erlösung glauben?”

      Dieses Aktenstück scheint sich zum Theile auf _Kaspar Roth_
      selbst zu beziehen, auf die früher getriebene Onanie, daher
      entstandene und gefühlte Schwächung seines Körpers, Furcht
      vor der Vernichtung seiner übersinnlichen Natur mit der
      irdischen, und daher, zur Errettung, der gefasste Gedanke des
      Selbstmordes. Es findet sich noch ein anderer Aufsatz in den
      Akten, der also beginnt:

                  „Du nahst heran, mein letzter Tag!”

      mithin gleichfalls auf den Vorsatz zum Selbstmorde zu deuten
      scheint. Auch machte _Roth_ in dem Gefängnisse dazu einen
      schwachen Versuch, bei dem er jedoch dergestalt zu brüllen
      anfing, dass der Gefangenenwärter herbeikam, ehe er sich ein
      bedeutendes Leid zugefügt hatte. Er verlangte darauf Wache,
      um sich nicht selbst überlassen zu bleiben. Uebrigens hatte
      einer seiner Lehrer, nach einer langen Unterredung, die
      Ueberzeugung gefasst, dass _Roth_ =keinen Selbstmord begehen
      könne=.

Jene Idee wurde durch folgenden Umstand von der grössten Bedeutung
für _Roth_: er hatte das erlernte Laster der Onanie, damals, als er
dessen Sündlichkeit nicht kannte, seinem jüngeren Bruder _Remigius_
weiter gelehrt. Später von den nachtheiligen Folgen dieses Lasters
unterrichtet, wollte er es demselben auch wieder abgewöhnen. Es gelang
ihm nicht. Er merkte nun, wie sich dessen Munterkeit in mürrisches
Wesen, seine Lebendigkeit in Zerstreuung veränderte, wie sein
Gedächtniss schwächer wurde, seine Gesundheit herabsank, häufige Brust-
und Leibschmerzen sich einstellten. Er fürchtete sonach den Untergang
der sinnlichen und übersinnlichen Natur seines geliebten Bruders
zugleich; er hielt dessen Tod für die einzige mögliche Errettung[93].

  [93] Sieh die Eingangsworte des in der vorigen Note angeführten
      Aktenstückes:

         „Ist es erlaubt, Solche, von denen man sagt, dass ihre
        übersinnliche Natur, wenn sie noch länger mit der
        Körperwelt in Verbindung stehe, verloren gehe?”

      Stünde hier: =ist es Solchen erlaubt=, so wären diese Worte
      auf _Kaspar Roth_ selbst, auf Selbstmord zu beziehen.
      Da aber steht: =ist es erlaubt, Solche=, so sind sie auf
      einen Dritten (auf _Remigius Roth_) zu beziehen und so zu
      interpretiren:

         „Ist es erlaubt, Solche, deren übersinnliche Natur bei
        einer längeren Verbindung mit der Körperwelt verloren
        geht, von dieser Körperwelt zu trennen?”


§. 3.

So weit sich die Lebensgeschichte des _Kaspar Roth_ in den Akten
verfolgen lässt, zeigte er immer ein sehr weiches, folgsames und
religiöses Gemüth und ein sehr reges Pflichtgefühl. Dieses bewog ihn,
dem Laster der Onanie zu entsagen, nachdem er dessen Sündlichkeit
erfahren hatte, und in den Knabenjahren den ernstlichen Kampf mit
einem schon durch =vierjährige= Uebung zu grosser Höhe gesteigerten
Sinnenreiz zu beginnen. Nach Verlauf eines Jahres, wo seine moralische
Willenskraft bald siegte, bald erlag, gewann sie die entschiedene
Ueberhand, die Sinnlichkeit war überwunden.

Es kommt in den sämmtlichen Akten nicht eine Spur irgend einer
leidenschaftlichen Aufwallung des zum Brudermörder gewordenen Jünglings
vor. Seine Geschwister liebten ihn, und nie hatte er mit ihnen einen
ernstlichen Streit, seine Freunde achteten ihn, seine Eltern --
verehrten ihn, seine Lehrer schätzten ihn, viele Leute niederen Standes
bewunderten ihn, eben sowohl wegen seiner feineren sittlichen Bildung,
als wegen seiner Kenntnisse; in den angesehensten Häusern gab er
Unterricht und erwarb sich durch sein bescheidenes Benehmen Freunde.

Seine religiösen Gesinnungen waren rein, wie sich aus vielen
vorgefundenen Aufsätzen und Briefen ergibt.

Durch dieses in vielen Beziehungen reine Gemüth zieht sich jedoch
von früher Jugend herauf ein dunkler Streif kränkelnder Schwermuth,
frühreifer und überspannter Empfindelei.

Man erkennt die unter dem Gefühle der früheren Sünde und der
Zerknirschung, so wie durch übertriebene geistige Anregung
emporgeschossene, aber matte und welke Treibhauspflanze. Peinlich ist
besonders dieses Ringen nach Oben und zum Erfassen des Unendlichen bei
der innewohnenden Gedankenarmuth des unglücklichen _Roth_.

Ob die Entwicklung dieses kränkelnden Gemüthszustandes bis zur völligen
Krankheit mehr eine Folge dessen war, dass er bei seinem Bruder das von
ihm erlernte zerstörende Laster nicht mehr tilgen konnte, so wie, dass
er bei zunehmenden Jahren in sich selbst den Sinnenreiz mit doppelter
Kraft erwachen fühlte und ihn auf's Neue bekämpfen musste, oder ob
daran sein durch vieles Sitzen und durch die früher getriebene Onanie
angegriffener Unterleib und die eingetretenen hypochondrischen Leiden
Schuld waren, lässt sich nicht mit Gewissheit bestimmen. Wahrscheinlich
wirkten alle diese Ursachen zusammen.


§. 4.

Eine auffallende Reizbarkeit des Gefühles bei dem leisesten Tadel
bemerkten und rügten zuerst um Ostern 1824 einige Lehrer des
Gymnasiums. Der sonst folgsame Jüngling konnte jedoch diesen Fehler
nicht ablegen, vielmehr stieg seine Reizbarkeit.

Zur selben Zeit fingen seine geistigen Kräfte offenbar an mehr
herabzusinken; Zerstreuung, Schwierigkeit im Festhalten und
Aneinanderknüpfen der Ideen, Ermüdung durch jede anhaltende Arbeit,
nahmen zu.

Jene Progressionsrede (um Ostern 1825) umfasste einen reichhaltigen
Stoff: über die christlichen Märtyrer, war aber in der Ausführung
äusserst dürftig und schwach. _Roth_ hatte seine ganze Kraft und seinen
ganzen Fleiss daran gesetzt, sie umgearbeitet und wieder umgearbeitet,
aber es wurde doch nur ein glatter Rahmen zu einem matten Bilde.
Die Anstrengung der darauf gewandten Arbeit blieb ihm noch lange
fühlbar. Er schränkte die Zahl seiner Unterrichtsstunden ein, obwohl
er in den dürftigsten Verhältnissen war. Die Vorbereitung zu seinen
Universitätsstudien ging so wenig von der Hand und wurde mit solcher
Zerstreuung betrieben, dass er die Autoren der Werke wieder vergass,
die er lange und anhaltend studirt hatte. Festhalten seiner Gedanken,
ohne äussere Beschäftigung durch die Feder, wurde ihm immer schwerer.

Das Selbstgefühl einer geistigen und körperlichen Ermattung
erzeugte eine grosse Mutlosigkeit und Melancholie; die Trauer über
seinen früheren Fall vereinte sich mit dem Abscheu vor der wieder
erwachenden Sinnlichkeit, und erzeugte ein Chaos trüber und verwirrter
Gedanken[94].

  [94] Man war bemüht gewesen, ihm ein Stipendium zum Studiren
      zu verschaffen. Er schrieb zu dieser Zeit an einen seiner
      Lehrer, worin er erklärte, dass er der reine Jüngling nicht
      mehr sei, für den man ihn halte, dass er früher Onanie
      getrieben, und dass man also jenes Stipendium (welches er
      später aus anderen Ursachen nicht erhielt) einem Würdigeren
      zuwenden möchte.

Die Nächte brachte er mit Wachen und Weinen zu, welches oft so laut
wurde, dass es seine bekümmerten Eltern aus dem Schlafe erweckte.

Vorzüglich richteten sich seine Gedanken auf den durch sein Beispiel
verdorbenen Bruder _Remigius_. Freilich, Gedanken, die den Festesten
erschüttern und den Gottvertrauendsten niederwerfen konnten! Sein
Bruder, sein geliebter Bruder, durch ihn dem zeitigen und -- nach
seinem Wahne -- auch dem ewigen Verderben dahingegeben! Und keine
Rettung!

Früher wollte er Theologie studiren, jetzt wandten sich seine Ideen
zur Pädagogik, wobei er (nach mehreren früheren Notizen) vorzüglich im
Sinne getragen zu haben scheint, dass er die an seinem Bruder begangene
Sünde durch Bewahrung anderer Kinder wieder austilgen möchte, und dies
wollte er gleich beginnen, ohne sich vorher durch Universitätsstudien
auszubilden[95].

  [95] Er war so fest in dieser Idee, dass einer seiner älteren
      Freunde, der sie ihm ohne allen Erfolg auszureden suchte,
      und auf die wohlmeinendsten Gegengründe von dem sonst so
      sanftmüthigen Jüngling nur immer ein eigensinniges: „Ich will
      es aber, ich kann es aber!” zur Antwort erhielt, diese Idee
      schon damals als eine fixe betrachtete.

Später dachte er auch daran, Rechtswissenschaft zu studiren, und
arbeitete deshalb kurze Zeit bei einem Advokaten. Dass er den Geschmack
an einer seinem ganzen Wesen so widerstreitenden Wissenschaft bald
verlor, ist leicht zu begreifen; nicht so, wie er dazu kam.

Dieses Schwanken über die Wahl eines Standes fiel in die Zeit, nachdem
er das Gymnasium gänzlich verlassen hatte (Ostern 1826) und der Kampf
in seinem Inneren wurde nun immer heftiger, es nahte die Entscheidung.


§. 5.

Den 12. Juni 1826 wollte sein Bruder _Remigius_ auf dem Marktschiffe
nach Hanau fahren, um das dortige Lamboyfest zu schauen[96].

  [96] Dieser Vorfall ist allein durch die späteren freiwilligen
      Geständnisse des _Kaspar Roth_ bekannt, und nur was
      die äusseren Thatsachen betrifft durch andere Zeugnisse
      bestätiget worden.

_Kaspar Roth_ erbot sich, ihn zu begleiten, bat aber, dass sie lieber
zu Fuss gehen möchten. Die Nothwendigkeit, _Remigius_ von der ewigen
Vernichtung durch den Tod zu retten, war nunmehr feste Ueberzeugung
bei Jenem geworden; er hatte beschlossen, das Instrument des Todes und
der Rettung zu werden; auf jenem Gange nach Hanau wollte er den Mord
vollbringen. Aber noch redeten gegen die Ausführung innere Stimmen
seines Herzens.

Nicht weit von Frankfurt wollte er umkehren. _Remigius_ bat ihn,
weiter zu gehen. Sie gingen, und _Kaspar_ dachte nun wieder in Hanau zu
bleiben, sich dort durch Informiren der Kinder zu erhalten und seinen
Bruder unter beständige Aufsicht zu nehmen. Dann siegten abermals
die Mordgedanken; er fühlte den Moment der Entscheidung nahen -- da
stiegen schwarze Gewitterwolken empor, sie erkennt er als ein Zeichen
des göttlichen Unwillens über sein Vorhaben, und umarmt weinend seinen
Bruder mit den Worten:

„Lasse uns zurückkehren! Du bist ja mein lieber Bruder!”

_Remigius_ getraute sich nicht mehr der Rückkehr zu widersprechen,
er fühlte die Bewegung in der Brust seines Bruders und das
Ausserordentliche in seinem Wesen. Gerührt, erschüttert, bang, folgte
er gern zur Heimat.

Niemand durfte dort _Kaspar_ über jenen Vorgang befragen. Jede
Erinnerung daran war ihm augenscheinlich schmerzvoll und beängstigend.

Seine Stille und sein dumpfes Hinbrüten nahm seitdem zu; am 24. Juni
war er plötzlich verschwunden; die Eltern vermutheten Selbstmord.

Nach einigen Tagen schrieb das Justizamt in Königstein an das
Polizeiamt zu Frankfurt, dass man in der Gegend einen geisteskranken
Menschen, ohne Pass, festgehalten habe, und liess einen Tag später
_Kaspar Roth_ auf dem Schub nach Frankfurt zurückbringen.

Die Ursache, warum er sich so heimlich entfernte und seine Eltern
dadurch in die grösste Besorgniss versetzte, ist schwer auszumitteln;
er schrieb wenige Tage zuvor an einen Freund in Idstein, dass er ihn
besuchen wolle, und nahm am 24. Juni auch wirklich den Weg dahin. Warum
verbarg er denn ein so einfaches Vorhaben?

Der wahrscheinlichste Grund ist, dass er den ihn immer umlagernden
Mordgedanken entfliehen wollte. Diese Gedanken traute er sich
Niemandem zu offenbaren. Statt aber nur sie zu verbergen, verbarg er,
in Folge der schon herrschenden Geistesverwirrung, seine vorhabende
Reise selbst. Da er von mehreren seiner Lehrer nach der Rückkehr um
die Ursache seines heimlichen Verschwindens befragt wurde, gab er
freilich jene beängstigenden Mordgedanken nicht an, so wie es überhaupt
bemerkenswerth ist, dass er sie vor der That ganz heimlich hielt.
Er behauptete vielmehr, dass er verschiedenen, seiner Keuschheit von
mehreren Mädchen und Frauen gemachten Nachstellungen habe entrinnen
wollen. Diese Nachstellungen waren jedoch lediglich in seiner
Einbildung gegründet; die in ihm mit neuer Macht erwachte Sinnenlust
hatte er auf Andere übertragen (seine subjektiven Gefühle objektirt).

Alles, was er von seinem Zustande während jener kurzen Abwesenheit
später erzählt hat, deutet darauf hin, dass damals der Sinnenreiz eine
furchtbare Höhe und eine alle anderen Fähigkeiten verwirrende Kraft
erreicht hatte. Es mag also auch darin zum Theile eine Veranlassung
seiner plötzlichen Entfernung gelegen haben.

Jene Erzählung ist folgende: _Roth_ begab sich am 24. Juni auf den
Weg nach Idstein; da er auf dem Gipfel des Stauffen (eines unweit
Königstein gelegenen Berges) angelangt war, erschienen ihm plötzlich
alle Gegenstände doppelt, Bäume und Blumen begannen mit ihm zu reden,
er fühlte, dass er so nicht unter Menschen gehen könne, und folgte Berg
auf Berg ab dem Gesange der Vögel; sie sangen von seiner Keuschheit.
Dann begegnete er, als Engel, zwei Jungfrauen, und hielt ihnen eine
blaue Blume entgegen; endlich sank er ermüdet in einen Busch. Hier war
es ihm, als müsse er sich seiner gebrüsteten Keuschheit entledigen,
gleichsam seinen Stolz auf Tugend durch Sünde büssen. Im Wahnsinne
beging er zum ersten Male wieder Onanie. Kaum war aber der Reiz
befriediget, so erhielt wieder Alles eine andere Gestalt vor seinen
Augen; wahnsinnige Reue folgte der unwillkürlichen Sünde; zur Busse
wollte er sich zuerst als Rinderhirt, dann als Schweinhirt verdingen.
Die Frau (aus dem Dorfe Elhalten), welcher er diesen Dienst anerbot,
ahnte seinen Zustand, lud ihn zu sich in's Haus und übergab ihn
dem Schulzen des Dorfes, dieser dem Amte zu Königstein. Aus seiner
zerrissenen und durchnässten Kleidung (zwei Tage war er durch Wald
und Busch geirrt und beim Verfolgen einer grünen Wasserlibelle in
einen Bach gefallen), seinem sonderbaren, obwohl nicht unvernünftigen
Benehmen, seinem hartnäckigen Zurückweisen aller Speise, davon er doch
zwei Tage lang nichts genossen -- schlossen die Behörden und Bauern zu
Königstein und Elhalten, dass er geisteskrank sei.



II. =Zustand des _Kaspar Roth_ kurz vor und während des von demselben
verübten Brudermordes.=


§. 6.

Als _K. Roth_ nach Frankfurt zurückgebracht war, zeigten sich zwar
keine so offenen Spuren dieses kranken Zustandes mehr -- er kehrte
zu seinen gewöhnlichen Beschäftigungen mit anscheinender Ruhe und
Fassung zurück, doch war es gerade damals, wo sein sonderbares Wesen,
seine angenommene Heiterkeit, sein oft verzerrtes Lachen, verbunden
mit einem scheuen und ängstlichen Benehmen[97], seinem Arzte und
mehreren seiner Lehrer auffiel; auch gab er damals, wenn er den Fragen
über sein Verschwinden nach Königstein nicht ausweichen konnte, jene
widersinnigen Gründe an, die oben berührt wurden. Zu Hause war sein
Benehmen durchaus verschlossen und still. Seine Verwandten indessen
hofften noch immer auf eine Wiederherstellung.

  [97] Vor der Gegenwart eines kleines Mädchens, welches er sonst
      geliebt hatte, schien er sich wahrhaft zu fürchten.

Weil ihm Bewegung und Erheiterung angerathen ward, ermunterte
ihn seine Schwester am 18. Juli 1826 zu einem Spaziergange in den
öffentlichen Anlagen. An diesem Tage, so wie wahrscheinlich auch an
den vorhergehenden, bewegten _Roth_ wieder die trüben Gedanken über
das Schicksal seines Bruders _Remigius_, der zu einem Schreiner in
die Lehre gekommen war, jedoch die Anstrengung der Arbeit nicht wohl
ertragen konnte. Die Idee, dass diesen nur der Tod erretten könne, war
mit doppelter Gewalt zurückgekehrt.

Die bessere Einsicht des unglücklichen Jünglings, wodurch er diese
Idee hätte verscheuchen sollen, war noch mehr zerfallen. Sonderbare
Vorstellungen über göttliche Mittheilungen durch Zeichen der äusseren
Natur hatten sich festgesetzt[98] und waren in Verbindung mit den
düsteren Mordgedanken getreten.

  [98] _Roth_ erinnerte sich dessen, was er in _Xenophon's_
      Memorabilien über den =Dämon=, die =innere Stimme= des
      _=Sokrates=_, gelesen.

Des Einflusses, welchen das Aufsteigen eines Gewitters bei seinem Gange
mit _Remigius_ nach Hanau hatte, ist schon erwähnt worden, ebenso,
dass er auf dem Gipfel des Stauffen die Stimme der Bäume und Vögel
vernommen; dass der Gesang der Letzteren einen inneren Sinn habe und
göttliche Worte verkünde, dieses war zu dieser Zeit in ihm eine fixe
Idee geworden[99].

  [99] Unter fixer Idee wird verstanden, wenn ein =sonst nicht
      unvernünftiger Mensch= gewisse, der Vernunft widerstreitende
      Ansichten hat, die er selbst nicht durch Schlüsse des
      Verstandes angenommen und auf diese gebaut hat, sondern die
      er im Wahne als etwas Positives anerkennt. Ist der Mensch
      völlig unvernünftig, so gibt es keine =einzelnen= fixen Ideen
      mehr, diese verlieren sich in der Masse von Unvernunft.
      _Roth_ verrichtete damals noch alle seine gewöhnlichen
      Beschäftigungen mit Besonnenheit, sprach auch über die
      meisten Gegenstände mit aller Klarheit, nur nicht, wenn man
      auf die Ursachen seiner heimlichen Entfernung kam. Er war
      also im =Ganzen= vernünftig, nur nicht in Bezug auf spezielle
      Gegenstände. Eben so stand es mit ihm auch nach seiner
      schaudervollen That, und so steht es auch noch jetzt. In
      Bezug des Glaubens an Vogelsang sind seine in dem Verhöre am
      16. August gegebenen Antworten wichtig.

         =Frage=: Ob er nicht geglaubt, dass die Vögel nur
      instinktmässig gesungen.

         =Antwort=: Damals sei er nicht anders zu glauben im Stande
      gewesen (nämlich, als dass die Vögel nicht instinktmässig
      sängen), zumal er aus den Schriften der Alten gewusst, dass
      diese grosses Gewicht auf den Gesang der Vögel gelegt und 14
      Tage vorher in _Xenophon's_ Memorabilien eine darauf Bezug
      habende Stelle: _de daemone Socratis_, gelesen. =Auch jetzt
      sehe er nicht ein, dass der Gesang der Vögel zufällig sei, er
      hätte denselben nur nicht so auslegen sollen!= Er sei noch in
      seiner Meinung ungewiss, allein die That hätte er doch nicht
      thun sollen.

Auf der einen Seite nun die düsteren Gedanken über das zeitliche und
ewige Verderben seines Bruders, über die einzige Möglichkeit von dessen
Errettung durch den Tod, über seinen eigenen Beruf: das Instrument
dieser Rettung zu werden, im Sinne tragend; auf der anderen Seite
zur Ausführung dieser von höherer Pflicht erheischten Gräuelthat
durch äussere zufällige Zeichen der Natur bald abgeschreckt, bald
dazu hingezogen, bald durch sie die göttliche Missbilligung, bald
die göttliche Billigung seines Vorhabens erkennend; mit einem so
schwankenden Ruder in den reissenden Wellen seines bis in die Tiefe
erschütterten Gefühles und seiner gewaltig drängenden Gedanken wurde
_Roth_, obwohl seine innere Stimme noch immer der That widerstrebte,
dennoch zu ihr fortgerissen.


§. 7.

Nach dem Spaziergange mit seiner Schwester war er ruhiger nach Hause
gekommen; um 10 Uhr Morgens stiegen die Gedanken wieder mit Uebermacht
empor; er war mit seinem Bruder allein im Zimmer, ergriff den
Stiefelknecht seines Vaters und hob ihn mit Verzerrung seines Gesichtes
und knirschenden Zähnen. _Remigius_ glaubte, er wolle sich selbst ein
Leid zufügen und fiel ihm mit den Worten in die Arme:

„Thue dir doch nichts!”

Erschüttert von den Worten des seine Gefahr nicht ahnenden Bruders
liess _Kaspar_ den schon zum Morde gehobenen Arm sinken, beide Brüder
weinten, der eine den anderen betrauernd.

Nachmittags suchte _Kaspar_ seine immer wieder aufsteigenden
Mordgedanken abermals durch einen Spaziergang zu zerstreuen, aber an
einem Weiher in den öffentlichen Anlagen vernahm er den Gesang eines
Vogels, dessen Lieblichkeit er auf das göttliche Wohlgefallen an seinem
Vorhaben deutete, mithin in diesem auf's Neue bestärkt wurde. Abends
5 Uhr gab er eine Unterrichtsstunde, während welcher Niemand zu Hause
war, als sein Bruder _Remigius_, der, erschöpft und schlummernd, seinen
Kopf auf den Tisch gelehnt hatte. Dieser Umstand führte entscheidend zu
dem traurigen Ende des Armen. Seine Erschöpfung musste in dem düsteren
Bruder mit neuer Kraft den Gedanken erwecken, dass das Laster der
Onanie seinen Körper der Vernichtung entgegenführe; mit der Vernichtung
des Körpers sah Jener auch die Seele dahinschwinden. Der Schlummer
des Unglücklichen bot auf der anderen Seite das Bild der ewigen Ruhe
durch den Tod. Von diesen Gedanken erfasst, durch den Unterricht (den
er mit der grössten Anstrengung und sichtbarer Zerstreuung fortsetzte)
an die Stelle gefesselt, gewann der Sturm in _Kaspar's_ Innerem
völlige Ueberhand, er war nun seiner nicht mehr mächtig. Kaum hat
der Schüler das Zimmer verlassen, so ergreift er ein schweres Holz in
der benachbarten Küche, springt mit gellendem furchtbaren Schrei auf
_Remigius_ los, und schmettert ihn mit wenigen Schlägen todt zu Boden.
Während der That glaubt er ihn als Engel zum Himmel schweben zu sehen,
wirft sich weinend auf die Leiche, überlässt ruhig den auf das Geschrei
herbeieilenden Männern das Mordinstrument und sagt wiederholt:

„Ihm ist wohl; er ist gut aufgehoben, er ist im Himmel!”



III. =Zustand des _Kaspar Roth_ nach dem Brudermorde.=


§. 8.

_Kaspar Roth_ war unmittelbar nach dem grausamen Morde seines Bruders,
der nur noch einige Zeichen des konvulsivischen Lebens gegeben hatte,
nicht aber zum Bewusstsein zurückgekehrt war, in das Gefängniss
abgeführt worden, ohne den geringsten Widerstand und ohne die mindesten
Anstalten zur Flucht. Wer sollte bei einem von Natur so gutmüthigen,
seinen Eltern und vorzüglich seiner Mutter so anhänglichen Jüngling,
der offenbar den Bruder nur aus Liebe erschlagen hatte, nicht nach der
That die grösste Reue, nicht beim Anblicke der Mutter, die an einem
Tage zwei Söhne, und den einen durch den anderen, verloren hatte, die
grösste Erschütterung vermuthen? -- Davon zeigte sich keine Spur. Er
bedauerte die Mutter, er war gerührt bei dem Gedanken an den geliebten
Bruder, aber Reue über die That zeigte er nicht, und hat sie eigentlich
nie gezeigt.

Mehrmals ist er später, wie es scheint in lichten Zwischenmomenten,
zu der Ansicht gekommen, dass er das Schicksal seines Bruders hätte
Gott überlassen sollen, so wie er auch vorher oft gegen den Entschluss
angekämpft hatte, aber die Reue, welche ein das Gute wollender Mensch
bei dem Gefühle eines =wider besseres= Wissen verübten Unrechts und
eines =schuldvoll verursachten= unersetzlichen Verlustes empfindet,
dieses herbe und erschütternde Gefühl hat sich niemals bei _Kaspar
Roth_ gezeigt. Dass sein Bruder sterben musste, dass ihm der Tod eine
Wohlthat, eine Errettung war: davon war er zu aller Zeit, und davon
ist er, wenn nicht Alles trügt, noch jetzt überzeugt. Deshalb konnte
er wohl zweifeln über seinen eigenen Beruf zu dieser Errettung, niemals
aber beklagen, dass sein Bruder diese Welt verlassen habe[100].

  [100] Merkwürdig ist ein Zettel, welchen er einige Tage nach der
      That schrieb: _Quod perpetrari scelus rectum non esse divinis
      humanisque legibus intelligo confiteor [et me poenit], et me
      amentia raptum hoc fecisse pluribus probare cum postuletur
      suscepturus sum._ Der exaltirte Zustand, in welchen _Roth_
      vor der That und durch die That gerathen war, die Flut
      der wilden Gedanken und Gefühle hatte sich gelegt und Ebbe
      war eingetreten. Auf der Bank des Gefängnisses, wo ihn der
      _Physicus prim._ eine Stunde nach der That besucht hatte,
      konnte ihn nicht die Erinnerung an seine unglückliche Mutter
      und selbst nicht an die noch fortdauernden körperlichen
      Leiden seines geliebten Bruders erschüttern. Gott, sagte er,
      habe ihm die schwere That befohlen, sein Bruder werde nun
      selig sein. Einige Tage darauf schrieb er nun jenen Zettel.
      Bemerkenswerth ist, dass auf diesem die Worte: „_et me
      poenit_” wieder ausgestrichen sind.


§. 9.

In den Verhören, welche bald nach der Erschlagung des _Remigius
Roth_ veranstaltet wurden, ergab sich durch einstimmige Aussage
aller vernommenen Zeugen, dass dessen Mörder immer die sanfteste
Gemüthsart gezeigt, und namentlich mit dem Erschlagenen im besten
Einverständnisse, ohne allen Streit, gelebt hatte; dass er die Menschen
im Allgemeinen nicht hasste, seine Verwandten, insbesondere aber den
Bruder _Remigius_, aufrichtig liebte.

Seinen bedenklichen Geisteszustand hatten zwar, namentlich nach der
Rückkehr von Königstein, einige seiner Lehrer bemerkt; allein von der
finsteren Richtung, welche seine Gedanken im Stillen genommen hatten,
auch nicht das Mindeste geahnt. Alle Aufschlüsse hierüber, so wie
seinen Glauben an göttliche Offenbarungen durch die äussere Natur,
sind erst von ihm selbst nach der That gegeben worden, jedoch mit der
vollkommensten inneren Uebereinstimmung, und mit einem unverkenntlichen
Streben nach Wahrheit.

In dem ersten Verhöre antwortete er auf die Frage: warum er diese
grausenvolle That gethan: „Weil mein Bruder selig werden sollte und ich
das an ihm wieder gut machen wollte, was ich an ihm verdorben; das muss
man ja! Ich habe weinen und es doch thun müssen.”

Die furchtbarste Gemüthsbewegung offenbarte sich immer in ihm, wenn er
näher über das befragt wurde, was er denn eigentlich an seinem Bruder
verbrochen, und was er denn gut machen wollen. Erst im zweiten Verhöre
konnte er dieses Geständniss in gebrochenen Worten ablegen. Seine
Erschütterung vor Scham und bitterer Reue stieg hier auf den höchsten
Grad.

Mit der wahrhaftesten Genauigkeit schilderte er seinen inneren
Zustand kurz vor der That. Der Untersuchungsrichter brauchte für seine
Mordgedanken den Ausdruck =Vorsatz=. Hierauf bemerkte er:

„Sie nennen es Vorsatz, dieses war es aber nicht, sondern es hat
mich während der Lektion so gefasst, um es gleich nach der Lektion
auszuführen, die ich jedoch desfalls nicht abgekürzt.”

Bei Vorlesung des Protokolls bemerkte er hierzu:

„Ich kann nicht genau unterscheiden, ob Gefühl oder Vorsatz mich
überwältigt hat. Ich glaubte etwas Gutes gethan zu haben; ich weiss für
mein damaliges Gefühl keine andere Benennung.”

Nämlich ein Vorsatz zur That war allerdings schon lange bei _Kaspar
Roth_ vorhanden, er glaubte sie zur Rettung seines Bruders nothwendig;
aber die Ausführung geschah durch die Ueberwältigung des Affektes
(Gefühl).

Einer seiner Lehrer besuchte ihn mehrmals allein in dem Gefängnisse,
und gab den Inhalt seiner Unterredungen mit ihm zu den Akten. Nichts
war ihm schrecklicher, als der Gedanke, welcher ihm auch einst während
des Lesens einer Predigt gekommen war: dass ihn vielleicht nicht Gott,
sondern Satan zur That getrieben, und dass der Böse in ihm sei.

Uebrigens stieg eine Zeit lang während des Aufenthaltes im Gefängnisse
seine Sinnenverrückung, wovon sich in jenen Unterredungen die
deutlichsten Spuren zeigten. Vorzüglich trat auch hier, wie so
häufig bei solchen Zuständen, das Verwechseln des Subjektiven mit
dem Objektiven, und dieses mit jenem hervor. Seine Gedanken wurden
ihm zugerufen, er glaubte selbst zu sprechen, was er las. Bei jener
zunehmenden Geistesverwirrung schweiften auch seine Gedanken von dem
Morde seines Bruders auf den seiner übrigen Verwandten; der Zweifel
über ihre ewige Seligkeit, welcher bei dem Bruder noch ein scheinbar
vernünftiges Gewand getragen hatte, bemächtigte sich seiner ganz
ohne begründendes Motiv, so wie Sorge um ihr irdisches Fortkommen. Er
fürchtete sich vor dem Anblicke seiner Mutter und rief im Schmerze:

„Ich kann doch nicht immer ein Würgeengel sein!”

Später kehrte wieder ein ruhiger Zustand zurück, und gegenwärtig
besucht ihn seine Mutter zuweilen.



IV. =Gutachten der Medizinalbehörde über die Ursachen und die
Beschaffenheit der Seelenstörung des _Kaspar Roth_.=


§. 10.

Die Medizinalbehörde zu Frankfurt am Main hatte in ihrem
Sektionsberichte vom 19. Juli 1826 ausgesprochen:

„Dass _Remigius Roth_ an den am Abend vorher erhaltenen Wunden eines
nothwendig schnellen und unaufhaltsamen Todes gestorben sei.”

Nach vollendeter Untersuchung wurden ihr von dem Appellationsgerichte
daselbst (der ersten Instanz in peinlichen Fällen) folgende Fragen
vorgelegt:

„Ob die Geisteskräfte des _Kaspar Roth_ verletzt seien; von welcher
Beschaffenheit und welchem Grade in solchem Falle die Geisteszerrüttung
sei, und in welchem Zusammenhange sie mit der von _Roth_ begangenen
Ermordung seines Bruders stehen möchte.”

Diese Fragen wurden in einem ausführlichen Gutachten wieder
beantwortet, welches in seinem ersten Theile das Leben des _Kaspar
Roth_ vor und nach der That, so wie sein Benehmen während derselben,
historisch darstellte.

Hier wurde zuerst hervorgehoben die schwächliche Konstitution
desselben, seine Zeugung im 57. Lebensjahre seines Vaters, dessen
Tochter erster Ehe gleichfalls schon in dem Irrenhause wegen
Geisteskrankheit eine Zeitlang befindlich gewesen; ferner seine
früheren Nervenkrankheiten, die von ihm getriebene Onanie, seine
dürftige Lebensweise und sein angestrengtes Arbeiten, welche Umstände
zusammen die Entwicklung einer Seelenstörung hinlänglich erklärten.

Nachgewiesen wurde sodann, wie solche wirklich schon bei seinem
Abschiede vom Gymnasium (um Ostern 1825) begonnen hatte, und von dieser
Zeit bis zum Gange mit dem Bruder nach dem Lamboyfeste, am 12. Juni
1826, der kränkliche Zustand des _K. Roth_ mit schweren Gemüthsleiden
verknüpft war und sich bei ihm vielfache Spuren eines hohen Grades von
Hypochondrie zeigten.

Endlich wurden alle diese Krankheitssymptome und der Ausbruch des
Uebels in den Begebenheiten bei jenem Gange nach dem Lamboyfeste,
dem Verschwinden nach Königstein, der Erschlagung des Bruders und dem
späteren Verhalten des _Kaspar Roth_ weiter verfolgt.

In einem zweiten Theile jenes Gutachtens wurden sodann die Ansichten
berühmter Lehrer der Arzneikunde über einen solchen Gemüthszustand
dargelegt, und zwar vorzüglich folgende:

Nicht allein das Vorstellungsvermögen, sondern auch andere Grundkräfte
der Seele könnten angegriffen werden, weshalb die Quelle der
Freiheitslosigkeit nicht immer in einem zerrütteten Verstande zu suchen
sei, wie auch schon die Melancholie und Manie an und für sich bewiesen.
Deshalb könnte auch als Kriterium freier Handlungen nicht allein der
Verstand gelten. -- Hierzu wurden als Autoritäten angeführt:

_Masius_, „Grundsätze der gerichtlichen Arzneiwissenschaft,” Bd. II.,
2. Abtheilung S. 485, 538.

_Heinroth_, „System der psychologisch-gerichtlichen Medizin,” S. 133.
Der Affekt könne bei einer Seelenstörung bald in den Regionen des
Geistes, bald in denen des Gemüthes und bald in denen des Willens
vorherrschend primär sein.

Zu den Affektionen des Geistes gehören: Blödsinn, Wahnwitz,
Verrücktheit, Narrheit; zu denen des Gemüthes: Wahnsinn und
Melancholie; zu denen des Willens: Manie und Willenlosigkeit[101].

  [101] Diese Eintheilung der Seelenstörungen entspricht
      ganz derjenigen, welche _Heinroth_ annimmt („System der
      psychologisch-gerichtlichen Medizin” §. 40 und 41), wo man
      also das Nähere darüber nachsehen kann.

Als Veranlassung zu psychischen Störungen kämen vor: erbliche Anlagen,
fehlerhafte Kultur der Seelenkräfte, Temperament (vorzüglich das
cholerische und melancholische), ferner die alienirte Stimmung des
Nervensystems (Hypochondrie und Hysterie).

Die Hypochondrie stehe zwischen psychischen und physischen Uebeln
gleichsam in der Mitte, besonders der Melancholie und dem Wahnwitze
nahe. Der im Unterleibe kranke Hypochondrist habe das Gefühl
herannahenden Unglückes, grosser begangener Verbrechen, woraus sich
oft ein Zustand völliger Verwirrung, ein blinder Drang, der qualvollen
Angst auf irgend eine Art zu entgehen, erzeuge.

Sehr ähnliche psychische Symptome erschienen in der Melancholie,
nämlich ebenfalls das Gefühl eingebildeter Verbrechen, herannahenden
Unglückes, verbunden mit verkehrten Ideen, wodurch der Melancholische
zum Selbstmord oder zum Morde Anderer getrieben werde, im Wahne,
dass er diese befreien wolle, oder dass es ihm Gott befohlen habe. --
Als Autorität wird hier angeführt: _Böhmer_, „_Medit. in const. Cur.
crimin._” §. 865, und schliesslich wurden die körperlichen Symptome
dargestellt, welche man bei Melancholischen gewöhnlich findet.

In einem dritten Theile jenes Gutachtens wurde entwickelt, dass die
in dem vorhergehenden Theile angeführten möglichen Ursachen einer
psychischen Störung: 1. erbliche Anlage, 2. fehlerhafte Ausbildung
der Seelenkräfte, 3. melancholisches Temperament und 4. Hypochondrie,
laut der in dem ersten Theile des Gutachtens gegebenen historischen
Lebensdarstellung des _Kaspar Roth_, alle bei diesem unglücklichen
Jünglinge vereinigt vorhanden wären, und da, nach _Meckel's_ „Beiträgen
zur gerichtlichen Psychologie,” S. 38 u. f., der Mangel egoistischer
Motive in zweifelhaften Fällen allein schon zu Gunsten eines
Angeklagten entscheide, so stehe als Beantwortung der aufgeworfenen
Frage fest: „dass die Geisteskräfte des _Kaspar Roth_ verletzt[102]
seien und gewesen wären, und dass der hohe Grad von Melancholie und
Geisteszerrüttung insofern im innigsten Zusammenhange mit der von ihm
begangenen Ermordung seines Bruders stehe, als _Roth_ der Freiheit
und Selbstbestimmung hierdurch immer mehr beraubt worden, und in einem
völlig gebundenen Zustande die That verübt habe[103].

  [102] Von Geisteszuständen gebraucht, ein sonderbarer Ausdruck.

  [103] Nach dem Zwecke, den das Gutachten erreichen sollte,
      handelte es sich nicht um den Zusammenhang der Melancholie
      mit der Ermordung, sondern es hätte gesagt werden sollen:
      „=Die Ermordung= des _Remigius_ durch _Kaspar_ ist eine
      =Folge= von dessen Melancholie und Geisteszerrüttung.” oder:
      sie ist =keine Folge=, nicht aber dürfte von einem blossen
      =Zusammenhange= gesprochen werden. Die richterliche =Frage=:
      in welchem Zusammenhange etc. hätte übrigens noch dahin
      ergänzt werden sollen: ob sich die Ermordung des _Remigius_
      durch _Kaspar_ zu dessen Melancholie und zu seinen verwirrten
      Gedanken und Ansichten nicht entschieden wie Wirkung und
      Ursache verhalte.

Diesem Gutachten wurde noch ein Anhang über die sogenannte _amentia
occulta_ beigefügt, mit Bezug auf _Platner_ („_Quest. med. for._”),
wornach diese sogenannte _amentia occulta_ als eine noch unreife
persönliche[104] Krankheit zu betrachten, und der partielle Wahnsinn
daher zu erklären wäre, dass oft wiederkehrende Gefühle und Affekte
sogar die Freiheit eines Gesunden eine Zeit lang in Anspruch nehmen
können[105].

  [104] Gibt es auch andere als persönliche Krankheiten, d. h.
      Krankheiten einer Person, wenn es sich überhaupt um den
      Zustand eines menschlichen Individuums handelt?

  [105] Eine mehr als kühne Hypothese!

Wenn nun die unreife Seelenstörung den damit Behafteten an Verrichtung
seiner Lebensgeschäfte hindert[106], oder die fixe Idee auf seine
Handlungen Einflüsse äussere, so höre die Zurechnung auf. (_Heinroth's_
„System der psychologisch-gerichtlichen Medizin,” §.64 und 65.)

  [106] So dürfte sie nach unserer Ansicht wohl nicht mehr eine
      =unreife= genannt werden. Reif oder unreif auf Krankheiten
      angewendet, sind nur relative Begriffe, insofern man eine
      bestimmte Krankheitsform berücksichtigt, sie können aber
      nicht angewendet werden, sofern man den normalen geistigen
      oder körperlichen Zustand berücksichtigt. Der =normale=
      Zustand ist =vorhanden= oder er ist =nicht= vorhanden,
      und dies Letztere ist bei jeder Störung der Gesundheit der
      Fall. Der Mensch, welcher von einer leichten Unpässlichkeit
      befallen ist, ist =nicht= mehr gesund, sondern er ist
      =krank=, und insofern er krank ist, ist die Krankheit auch
      =reif=. Der Arzt mag mit Recht in dieser Unpässlichkeit den
      Vorläufer einer wichtigeren Krankheit erblicken, welche
      sich eben entwickelt; den Richter, welcher es nur damit
      zu thun haben kann, ob eine zu einem gewissen Zeitpunkte
      Statt gefundene Handlung eines Individuums die Folge des
      =wirklich vorhandenen= Zustandes ist, geht es offenbar
      nicht das Mindeste an, welche =pathologische Zukunft= dieser
      gegenwärtige Zustand darbietet. Man sieht hieraus, dass der
      Unterschied von reifen oder unreifen Seelenstörungen gar
      nicht in die gerichtliche Medizin gehört.

       *       *       *       *       *

Wir übergehen nun dasjenige, was der Defensor zu Gunsten des _Kaspar
Roth_ anführt, und welches sich im Wesentlichen auf die allerdings
nicht unbegründete Behauptung beschränkte, dass bei den Grundsätzen,
welche er in seiner Erziehung angenommen und in seinem sonstigen
Lebenswandel an den Tag gelegt hatte, eine solche That durchaus nicht
motivirt sei, und daher nur als Folge einer Seelenstörung erklärt
werden könne.



V. =Urtheilspruch.=


§. 11.

Nachdem diese Verteidigungsschrift eingelangt war, wurden die Akten zum
Spruche an die juristische Fakultät zu Tübingen versandt.

Diese Fakultät bemerkte, nachdem in den Entscheidungsgründen der
faktische Hergang der ganzen Sache auf das Genaueste angegeben war, in
der juristischen Beurtheilung vorzüglich das Folgende:

Der objektive Thatbestand des angeschuldigten Verbrechens sei gewiss;
in Bezug auf den subjektiven Thatbestand erkläre das ärztliche
Gutachten den Inquisiten für unzurechnungsfähig. Die Streitfrage,
ob der Richter gegen ein solches Gutachten entscheiden dürfe, könne
hier umgangen werden, da keine verschiedene Ansicht des Richters
obwalte. Eine Prüfung des ärztlichen Gutachtens erschiene aber schon
deshalb als nothwendig, weil solches auf ungegründeten faktischen
Voraussetzungen beruhen, oder aus anderen Gründen als unzulänglich
erscheinen könne, wornach denn eine weitere Erklärung einer anderen
Medizinalbehörde erforderlich werden würde. -- Ebenso könne die
Streitfrage über Vermuthung der Zurechnungsfähigkeit und über das
qualifizirte Geständniss hier umgangen werden, weil selbst Diejenigen,
welche Zurechenbarkeit vermutheten und dem Inquisiten den Beweis der
Qualifikation seines Geständnisses aufbürden wollten, im =vorliegenden
Falle= seine Aussagen über seinen Zustand und seine Motive als wahr
annehmen müssten; denn seine Wahrhaftigkeit bezeugten sämmtliche Akten,
die Zeugnisse seiner Lehrer, Eltern und Freunde, seine Vorgefundenen
Skripturen, die genaue Uebereinstimmung aller erwiesenen Thatsachen
mit diesen Aussagen, und dass Erstere nur durch Letztere erklärt werden
könnten.

Nach diesen Vorbemerkungen schritten nun die Entscheidungsgründe zur
näheren Beurtheilung der Sache selbst:

Die Medizinalbehörde habe zwar in ihrem Gutachten gesagt, dass sich
kein egoistischer Zweck der fraglichen That auffinden liesse, und dass
dieses allein für sich, wenn der Zustand des Inquisiten zweifelhaft
wäre, sprechen und entscheiden würde. Diesem Grundsatze scheine auch
_Heinroth_ („System der psychologisch-gerichtlichen Medizin,” S. 277)
beizustimmen.

Allein, wenn zwar unzweifelhaft sei, dass das Dasein eines egoistischen
Motivs ein Beweisgrund der Zurechenbarkeit sei, so könne man doch den
Satz keineswegs umkehren, und schon den Mangel eines solchen an sich
für einen Beweisgrund der Zurechnungslosigkeit erklären.

(_Hitzig_, „Zeitschrift für die Kriminal-Rechtspflege,” Bd. I., S. 267.
_Mittermaier_, „_Disquis. de alienat. ment._” _p. 53, sqq._)

So z. B. sei die That _Sand's_ nach der Aeusserung von _Heinroth_ (in
der Schrift gegen _Mark_ und für _Klarus_, S. 39) rein aus einer der
Vernunft angehörigen und an sich nicht widersinnigen Idee, nämlich aus
der Idee der Freiheit, hervorgegangen[107].

  [107] Die weiter folgenden Zweifelsgründe gebe ich der grösseren
      Genauigkeit wegen wörtlich an.

„Ohne Beachtung der Nebenumstände könnte die That des Inquisiten eben
so erscheinen, nämlich aus der Ueberzeugung hervorgegangen, dass sein
Bruder äusserlich in diesem Leben nicht glücklich werden könne, und
innerlich und moralisch jeden Tag nur mehr in Versunkenheit gerathen,
und sofort sein Seelenheil gefährdet werde, dass es also für denselben
in jeder Hinsicht besser sei, er sterbe. Er fasste, wie es scheint,
aus brüderlicher Liebe den Entschluss, den Bruder zu tödten. Er
kämpfte aber gegen diesen Entschluss an, weil er, wie es scheint,
ihn nach göttlichen und menschlichen Gesetzen für unrecht hält, und
überwindet ihn mehrmals. =Wo aber noch Kampf ist, da ist in der Regel
noch Freiheit.= Es ist hier in keiner Beziehung die Freiheit, weder
des Urtheiles noch des Willens, aufgehoben, sondern es entschloss sich
hier Inquisit zu einer That, bei der er gegen das Gesetz blos seinen
individuellen Ansichten und besonderen Gefühlen, wenn gleich in einem
Affekte, aber doch nicht durch wahre Seelenstörung krankhaft bestimmt
folgte. Zwar, möchte man dagegen einwenden, deutet die Auslegung des
Vogelgesanges vor der That, deutet die Ruhe bei seinem Ertapptwerden
und bei seiner Verhaftung, ferner die Stimmen, welche, wie Herr
Professor _H._ berichtet, Inquisit in seinem Gefängnisse hören, und
die Visionen, die er daselbst haben will, auf Gemüthskrankheit hin,
allein auch hier scheint wieder gesagt werden zu können, dass hieraus
sich noch nicht auf Seelenstörung schliessen lässt. Denn was die
Stimme betrifft, so sind solche Einbildungen, fremde Stimmen zu hören,
namentlich bei Personen, die, wie Inquisit, an Unterleibsbeschwerden
leiden, gar nicht seltene Erscheinungen, und lassen an sich noch gar
nicht auf wahre Seelenstörung schliessen. (_Klarus_, S. 41, 46, 47,
„Ueber die Zurechnungsfähigkeit des Mörders _Woyzeck_.”) Was aber
die Visionen des Inquisiten im Gefängnisse betrifft, welche sich
sämmtlich auf seine That beziehen, so lassen sich solche eben so leicht
durch eine aufgeregte Phantasie des über eine verbrecherische That
bekümmerten und wehmüthigen Thäters erklären. Eben so scheint es mit
der Auslegung des Vogelgesanges zu sein. Es könnte dieses auch ein
blosses Hineintragen des Subjektiven in etwas Objektives sein, das auch
noch gar nicht an sich Seelenstörung beweist. Was aber die Ruhe, mit
der er sich ertappen und verhaften liess, betrifft, so könnte man sich
daraus erklären, dass er entweder unmöglich, oder doch seinem Inneren
nicht zusprechend fand, den Händen der Gerichte sich zu entziehen.
-- Freilich ist nicht zu läugnen, dass Inquisit zur Zeit der That und
vorher körperlich krank und auch allerdings geistig nicht ganz gesund
gewesen; ob aber diese Krankheit eine die Zurechenbarkeit, die Freiheit
im Urtheile oder Wollen und Handeln aufhebende war, dies scheint
auf den ersten Anblick zweifelhaft. Alle die Uebel, woran Inquisit
litt, sind noch keine Beweise wahrer Seelenstörung, sondern, wie
_Klarus_ a. a. O. S. 43 sagt: „blos Symptome der Hypochondrie, welche,
wie unzählige Erfahrungen bei den achtbarsten, geistreichsten und
thätigsten Männern lehren, den freien Gebrauch des Verstandes und die
Selbstbestimmung nicht hemmen oder gar aufheben.”


§. 12.

Nachdem nun auch in den Zweifelsgründen erwähnt worden war, dass
Inquisit kurz vor der That zu allen gewöhnlichen Geschäften fähig
gewesen, zum Unterrichte und zum zusammenhängenden Sprechen und
Schreiben, lenkt das Urtheil zu den die Freisprechung bestimmenden
Motiven folgendermassen ein:

„So scheint, wenn wir die einzelnen Erscheinungen beim Inquisiten
als einzelne und isolirte herausheben, das Resultat auf
Zurechnungslosigkeit nicht zu führen. Allein ganz anders wird
das Resultat, wenn man jene Erscheinungen, wie man muss, in ihrem
Zusammenhange alle als zugleich beim Inquisiten vorhanden betrachtet,
und dann noch einige andere ebenfalls vorhandene Fakta hinzunimmt.”

Diese besonderen Fakta wurden in der Entweichung des Inquisiten
nach Königstein und seinem Benehmen während derselben, auch bei der
Erschlagung seines Bruders, gefunden, und der Zustand desselben als
ein anfangs hypochondrischer, dann in Melancholie übergegangener
geschildert, mit welchem sich eine fixe, mit unwiderstehlicher Gewalt
treibende Idee und Verrücktheit verbunden habe.

Die in _Heinroth's_ System, S. 199 u. f., 299 u. f., 350, im „Lehrbuche
der Seelenstörungen,” Th. I. S. 330 u. f., angegebenen Symptome der
Melancholie wurden, als in dem Inquisiten vorhanden, aufgeführt, und
noch besonders des Versuches zum Selbstmorde gedacht. Ueberhaupt habe
(nach _Klarus_, a. a. O. S. 49) ein blinder (mithin entschuldigender)
Antrieb zu der verbrecherischen Handlung in dem Inquisiten Statt
gefunden, indem bei der Uebermacht ungewöhnlicher und individueller
Anreizungen, die gewöhnlichen und egoistischen Motive dazu gefehlt
hätten. _Amentia occulta_ könne aber nicht angenommen werden, da sich
der Wahnsinn schon bei der Entweichung nach Königstein offenbart habe,
und auch später von einem scharfen Auge nicht schwer zu entdecken
gewesen sei.

Hierauf wurde der vorliegende Fall noch mit mehreren anderen,
namentlich mit dem des _Woyzeck_ und _Schmolling_, verglichen, ferner
bemerkt, =dass man in dem Gutachten der Medizinalbehörde eine spezielle
Beweisführung über die Geisteskrankheit des Inquisiten in ihren
besonderen Verhältnissen zu seiner That vermisse=, und sodann folgendes
Urtheil gefällt:

Dass Inquisit, _Kaspar Roth_, wegen Mangel des Requisites der
Zurechenbarkeit, von dem ihm angeschuldigten Verbrechen der
Tödtung und aller Strafe freizusprechen sei, und die Kosten
des verhängten Inquisitionsprozesses der Fiskus zu tragen habe;
Inquisit der Medizinalpolizeibehörde zur Vorkehrung der geeigneten
Sicherheitsmassregeln übergeben werden solle.


V. R. W.

So zweckmässig diese Untersuchung geführt erscheint, und so sehr sie in
ihrem Resultate die Ansicht des verehrten Lesers befriedigen dürfte,
so sehr scheint doch auch die Bemerkung des Referenten: dass man in
dem Gutachten der Medizinalbehörde eine spezielle Beweisführung über
die Geisteskrankheit des Inquisiten, =in ihren Verhältnissen zu seiner
That, vermisse=, gegründet, denn es lässt sich nicht verkennen, dass
das Endurtheil nur darum den Inquisiten für nichtschuldig erklärte,
weil man seine =That= als eine Folge seiner =Krankheit= ansah.

Dies war die ohne Zweifel richtige Ansicht des =Gerichtes=, nicht aber
der ausdrückliche Ausspruch des =Medizinalkollegiums=, denn dieses
sagte nichts Anderes, als: der hohe Grad von Melancholie des _K. R._
hat denselben der Geistesfreiheit immer mehr beraubt, und steht mit der
That insofern in Verbindung, als er in einem völlig gebundenen Zustande
die That verübt habe; dies heisst mit anderen Worten: _Kaspar Roth_ hat
die That in einem gebundenen Zustande verübt, =weil= er in einem hohen
Grade von Melancholie und Geisteszerrüttung sich befand.

Dieser Ausspruch ist nun nichts Anderes, als eine Tautologie, denn er
sagt nichts weiter, als: er hat die That in einem gebundenen Zustande
verübt, weil er sie in einem gebundenen Zustande verübt hat; über den
Umstand aber, =dass= er in einem gebundenen Zustande war, wird nichts
weiter gesagt, als: die physischen Veranlassungen zur melancholischen
Stimmung waren bei _Kaspar Roth_ vorhanden; eines der Zeichen der
Melancholie, nämlich dass der Leidende sich zur Ermordung Anderer
bestimmt fühlt, sei nebst anderen vorhanden.

Da man nun in zweifelhaften Fällen zu Gunsten des Angeklagten
entscheiden muss und keine egoistischen Motive da sind, so sei er als
in einem gebundenen Zustande befindlich anzunehmen.

       *       *       *       *       *

Es bedarf nun wohl keiner Erinnerung, dass die letzten beiden Gründe
ganz und gar nicht im Stande sind, ein =ärztliches= Gutachten zu
motiviren; es erübrigt daher nur der erstere Grund, nach welchem das
Gutachten ungefähr so viel sagt, als: _Kaspar Roth_ hat darum seinen
Bruder in einem =gebundenen= Zustande umgebracht, weil er aus dem
Grunde, =dass er ihn umgebracht hat=, für in einem gebundenen Zustande
befindlich gehalten werden muss.

Zu solchen Resultaten kommt man nun, wenn, anstatt eine freie,
selbstständige Beurtheilung des Gegenstandes eintreten zu lassen, sich
lediglich an die Beantwortung der richterlichen Fragen gehalten wird.

Viel zweckmässiger würden die Kunstverständigen gethan haben, wenn sie
ihrem Befunde etwa folgende Form gegeben hätten:

Es erhellt aus den Daten des Untersuchungsaktes, dass _Kaspar Roth_
an und für sich schon mit einem sehr sensiblen Naturell begabt,
sich in früher Zeit dem Laster der Onanie ergeben habe, woraus nach
medizinischen Erfahrungen eine Schwächung der Körperkräfte in vielen
Fällen zu erfolgen pflegt, bei _K. R._ aber wirklich erfolgt ist, wie
dies aus seiner Lebensgeschichte mit grösster Bestimmtheit hervorgeht.

Dass dieses Laster, besonders wenn es, wie bei _Kaspar Roth_, mit
einer so auffallenden Schwächung des Körpers verbunden ist, auch auf
die geistigen Fähigkeiten den nachtheiligsten Einfluss äussere, ist
gleichfalls durch medizinische Erfahrungen erwiesen, und dass sich
die geistigen Fähigkeiten des _K. R._ in einem sehr herabgestimmten
Zustande befinden und befunden haben, zeigt die Beobachtung so wie die
Lebensgeschichte desselben.

Ein Mensch, der bei so schwachen, insbesondere durch das Laster
der Onanie noch mehr herabgestimmten Geistesfähigkeiten, noch eine
dieser Veranlassung ohnehin vollkommen entsprechende Anlage zur
Hypochondrie, und durch diese zur Melancholie, besitzt, welche, wie
bei _K. R._, noch dazu bedeutend ausgebildet ist, ist nun an und für
sich wirklichen Seelenstörungen mehr ausgesetzt, als jeder Andere, da
diese physischen Anlagen schon an und für sich eine, wenn auch minder
bemerkbare Seelenstörung zur Folge haben, durch welche der Leidende
zu Befürchtungen etc. veranlasst wird, zu welchen keine =objektive=,
sondern nur die subjektive Veranlassung durch seine Krankheit besteht.

Für die entschiedene Entwicklung einer Geisteszerrüttung sind nun unter
solchen Verhältnissen insbesondere solche Umstände besonders günstig,
bei welchen durch eine =reelle=, immer wiederkehrende oder fortdauernde
Veranlassung das Gemüth des Leidenden heftig angeregt wird, denn bei
einem ohnehin der nöthigen Energie entbehrenden Gemüthe ist es noch
weniger, als bei einem im gewöhnlichen Zustande des Gleichgewichtes
befindlichen möglich, der durch dieses =wirkliche= Leiden entstehenden
traurigen Stimmung und den dadurch entstehenden Gedanken etwas
entgegenzusetzen, wodurch der Mensch im Stande bliebe, die seinen
sonstigen Verhältnissen entsprechende Haltung zu bewahren.

Ein solches =wirkliches= Leiden war nun bei _K. R._ allerdings
vorhanden. Es war die =Reue= über die Verführung seines Bruders,
verbunden mit dem fortwährenden Anblicke der =traurigen Folgen= dieser
Verführung.

In dieser seiner traurigen Stimmung war es nun, nach der sonstigen
Beschaffenheit seines Charakters und seiner Geistesentwicklung, ganz
natürlich, dass er zu metaphysischen Spekulationen seine Zuflucht nahm,
und unter diesen erfasste er, unglückseliger Weise, den Gedanken, „dass
die übersinnliche Natur durch die sinnliche in einem Menschen zu Grunde
gehen könne.” Die natürliche Folge davon war der Schluss: „dass es
erlaubt, ja sogar Pflicht sein könne, die sinnliche Natur zu zerstören,
um die übersinnliche zu retten.”

Anfänglich hatten diese Gedanken lediglich die Beschaffenheit eines
anderen Problems, bezüglich dessen, wenigstens nach dem Ideengange
des _K. R._, _pro_ und _contra_ Gründe vorhanden waren, allein in
dem sichtbaren Verfalle des geistigen und körperlichen Zustandes
seines Bruders lag für _K. R._ eine viel zu heftige Veranlassung zur
=Anwendung= dieses Satzes, als dass der Gedanke, dass er nun berufen
sei, seinen Bruder durch Zerstörung seiner =sinnlichen= Natur zu
retten, nicht die blos =spekulative= Forschung verdrängt hätte, welche,
wie man aus den schwachen Verstandeskräften und der Art und Weise, wie
er dabei zu Werke ging, schliessen muss, ihn nie zu einem Resultate,
sondern immer nur im Kreise herumführen konnte.

Durch diesen Gedanken erhielt seine durch die bereits berührten
physischen und moralischen Einwirkungen bedingte melancholische
Stimmung eine =bestimmte Richtung=, und zwar eine für seinen Zustand
um so gefährlichere, weil bei der schwächlichen Beschaffenheit der
geistigen und physischen Kräfte des _K. R._ der Gedanke an eine so
fürchterliche That, wie die Ermordung seines geliebten Bruders, ihn bis
in die innersten Tiefen seines Wesens erschüttern musste.

Sein noch nicht gänzlich erloschenes klares Bewusstsein kämpfte nun
wohl gegen den Gedanken an den Brudermord, allein mit schwachen,
ungleichen Kräften, denn die noch vorhandene ruhige Ueberlegung war
durch das Sophisma, welches er sich selbst geschaffen hatte, gelähmt.
Es war also nur sein moralisches, jedoch ganz unklares Gefühl, so
wie die Sympathie für seinen Bruder, welches noch der Ausführung
entgegenstand.

Dieser Gegensatz in seinem Inneren, welcher noch durch den
fortdauernden Anblick der physischen und moralischen Zerstörung seines
Bruders immer heftiger werden musste, musste nothwendig von einer ihm
jedes klare Bewusstsein raubenden Aufregung begleitet sein, und war
es auch, wie sein sinnloses Herumirren und seine physische Aufregung
zeigt, in welcher er das Laster der Onanie wiederholte.

Wie sehr diese Aufregung sich aller seiner Geisteskräfte bemächtigt
hatte, zeigt der Umstand, dass bereits bei ihm jene Erscheinung
eintrat, welche sonst wirklich den Wahnsinn charakterisirt, dass er
nämlich seine subjektiven Empfindungen für etwas Objektives nahm,
nämlich denjenigen Gedanken, der ihn nun ausschliesslich beschäftigte,
sich von dem Gesange der Vögel zugeflüstert wähnte etc.

_K. R._ musste in solchen Augenblicken bei dieser aufgeregten Stimmung
und bei dieser bereits sich nach Aussen kundgebenden Macht derselben,
wirklich als ein sinnenverwirrter Mensch betrachtet werden, und wenn
er damals nicht schon die That beging, so kann dieses Unterlassen nur
entweder dem Mangel an Gelegenheit oder dem Umstande zugeschrieben
werden, dass seine krankhafte Stimmung noch nicht gänzlich den
Widerstand überwältigt hatte, welchen sein moralisches Gefühl, seine
Sympathie für den Bruder, und überhaupt der Gedanke an das Entsetzliche
der That noch ihrer Vollziehung entgegensetzte.

Bei diesem Zustande konnte es daher gar nicht anders kommen, als
dass bei einer wiederholten und mächtigen Aufregung von Aussen dieser
ohnehin immer schwächer werdende Widerstand durch die bereits zur fixen
Idee gewordene Vorstellung von der Nothwendigkeit dieses Mordes besiegt
werden musste. Die Anregung fand sich durch den Anblick der Erschöpfung
und des Schlafes seines Bruders, und so wurde die That vollendet,
welche sich bei _K. R._ als eine reine und einzige Folge seines
krankhaften Seelenzustandes darstellt, weil ohne diesen alle übrigen
äusseren und inneren Momente die That =nicht= veranlasst hätten,
=durch= denselben aber er dahin gebracht wurde, dass der Gedanke an
den Brudermord bei ihm zur fixen Idee wurde, welche einen seiner ihm
=möglichen= Willenskraft nicht mehr gehorchenden Einfluss auf seine
äussere Thätigkeit äusserte.

Durch diese Darstellung ergibt sich nun folgende Beantwortung der
gerichtlichen Fragen:

1. Dass es keinem Zweifel unterworfen sei, dass die Geisteskräfte des
_K. R._ sich in einem verletzten, nämlich in einem krankhaften Zustande
zur Zeit der Verübung der That befunden haben.

2. Dass seine Geisteskräfte und überhaupt sein Zustand der That sich
so beschaffen darstellte, dass er in Dingen, welche in irgend einer
Beziehung zu seiner herrschenden Vorstellung standen, zu keiner anderen
äusseren selbstständigen Thätigkeit fähig war, als jener, zu welcher
ihn die ihn beherrschende Vorstellung bestimmte.

3. Dass die That daher einzig als Folge der =krankhaften Verstimmung=
seiner Seelenkräfte angesehen werden müsse.

       *       *       *       *       *

So lautete das Gutachten nun =nicht=; dass aber die Untersuchung
dennoch mit einem Resultate endigte, welches eine Entscheidung
lieferte, welche eben so lautete, als sie hätte erfolgen müssen, wenn
das Gutachten auf eine ähnliche Weise, als wie es oben steht, gelautet
hätte, lag nur in dem =glücklichen= Ereignisse, dass der Inquirent
sowohl, als das urtheilende Kollegium selbst mit tiefer psychologischer
Anschauung zu Werke gingen, und dadurch das =Mangelhafte=, welches in
dem, wie man zu sagen pflegt, =sehr auf Schrauben gestellten=, und wie
oben gezeigt wurde, nicht einmal den Gesetzen der Logik entsprechenden
ärztlichen Ausspruch lag, glücklich ergänzte, denn es lässt sich nicht
verkennen, dass in dem =ärztlichen= Ausspruche die nöthigen Elemente
zur Schuldloserklärung des _K. R._ =nicht= enthalten waren.

Nicht jeder Richter besitzt jedoch eine solche psychologische
Anschauung, wie der Inquirent, welcher diese Untersuchung führte,
und bedarf daher, um den richtigen Gesichtspunkt zu treffen, eine
weit umfassendere Unterstützung von Seite der Aerzte, als sie im
vorliegenden Falle gegeben wurde, wenn nicht die ganze Untersuchung
=vergriffen= werden soll. -- Wie der Arzt es aber anstellen kann und
soll, um diese Unterstützung zu leisten, ist in dem vorigen Aufsatze
angedeutet.



C.

_Matthäus Grotz, ein Epileptiker, erschlägt seinen leiblichen
Vater_[108].


  [108] Aus dem „neuen Archive des Kriminalrechtes vom Jahre 1830,”
      vom Herrn Vicedirektor _v. Weber_ in Tübingen.

In dem Dorfe Thieringen, zum würtembergischen Oberamte Balingen
gehörig, geschah in der Nacht vom 22. auf den 23. April 1827 folgende
Missethat:

Der Sohn des dortigen Nachtwächters sah in dieser Nacht um 1 Uhr zum
Fenster hinaus, in der Nähe der Wohnung des Webers _Grotz_, eines
Witwers und Vaters eines einzigen bereits erwachsenen Sohnes, Namens
_Matthäus_, der sich bei ihm aufhielt; er bemerkte nun, dass zwei
Mannspersonen einander nachsprangen, und hörte dann rufen, zuerst: „O!
_Matthäus!_ Da lieg' ich!” und gleich darauf weiter: „O, schlägt mich
mein Bube zu todt!”

Bald nach Diesem kam der Nachtwächter selbst nach Hause, und als ihm
sein Sohn erzählt hatte, was er eben gehört, gingen sie noch mit einem
Schaarwächter vor das Haus des Webers _Grotz_ und klopften an der
Hausthüre, durch die sie einen Augenblick zuvor Jemanden hatten in's
Haus springen gesehen; gleichwohl regte sich Niemand in demselbem. Nun
kam ein anderer Schaarwächter herbei; Alle riefen und klopften jetzt
wiederholt an der Hausthüre und drohten, sie einzusprengen. Jetzt erst
öffnete der Sohn _Grotz_ das Fenster und fragte was sie wollten, sich
dabei stellend, als wache er eben vom Schlafe auf. Auf die Frage, wo
sein Vater sei, erwiderte er sodann, dieser liege im Hausären, habe ein
Loch im Kopfe; auch öffnete er sofort die Hausthüre.

Hier fanden nun die Herbeigekommenen den alten _Grotz_ in dem Aeren
(der Hausflur) auf dem Rücken liegend, mit dem Kopfe auf der steinernen
ersten Stufe der Treppe, die Füsse übereinander gelegt, mit am Körper
herabhängenden Händen und mit Kopfwunden bedeckt, todt hingestreckt.
Der Ortschirurg wurde herbeigeholt, es kamen auch noch andere Männer,
und nun wurde der Leichnam, unter Anleitung des Chirurgen, sorgfältig
in die Stube hinaufgetragen. Hier wusch Letzterer die Wunden am Körper
aus und hielt nach seiner Wahrnehmung dafür, dass derselbe schon seit
einer Stunde abgelebt sein müsse. Bis zur Vornahme der gerichtlichen
Leichenbeschau wurde dann der Leichnam in demselben Hause bewacht.

Der Sohn _Grotz_ hatte zwar sogleich bei der Ankunft der genannten
Männer ihnen ohne alle nähere Veranlassung geäussert, dass er über
seinen Vater hergefallen sei, dadurch ein blutiges Hemd bekommen
und dieses ausgezogen habe; man fand auch eine blutige Axt unter der
Treppe, so wie das blutige Hemd in der Kammer, worin Vater und Sohn
zusammen zu schlafen pflegten; dessen ungeachtet erklärte er, an dem
Tode seines Vaters unschuldig zu sein, bis zum Morgen vor seiner
Abführung an das Oberamtsgericht in Balingen. Nachdem er nun aber
zuerst geäussert, er werde, ob er gleich unschuldig sei, gestehen, wenn
man ihm nichts thun und ein Weib in's Haus geben wolle, so gestand er
darauf dem Dorfschulzen unter vier Augen die Tödtung seines leiblichen
Vaters ein, und erzählte die That umständlich. Diese umständliche
Erzählung wiederholte er bald nachher auch vor dem untersuchenden
Oberamtsgerichte.

Bevor wir jedoch diese Erzählung und überhaupt das =Nähere der That=
anführen, scheint es angemessen, vorerst über die Persönlichkeit des
jungen _Grotz_, dessen Erziehung und früheren Lebenswandel Folgendes
aus den aktenmässigen Erforschungen zu erwähnen.

Der junge _Matthäus Grotz_, das einzige Kind seines nicht unvermögenden
und für einen rechtschaffenen Mann bekannt gewesenen Vaters,
evangelischer Religion, war zur Zeit der That beinahe 28 Jahre alt,
und lebte, noch unverheirathet, bei seinem Vater. Er hatte die Schule
und Kinderlehre fleissig besucht und wurde im gewöhnlichen Alter
konfirmirt. Er galt zu jener Zeit für einen gesitteten Menschen und
für einen der fähigsten Schüler, der im Lesen und Schreiben gute
Fortschritte gemacht hatte. Nach der Konfirmation erlernte er bei
seinem Vater das Weberhandwerk, und wurde auch darin zum Gesellen
gemacht. Doch blieb er nie lange in fremden Diensten und arbeitete auch
bisweilen als Taglöhner. Er machte sich in dieser Zeit eines kleinen
Gelddiebstahles auf einem Pachthofe, wo er als Taglöhner arbeitete,
schuldig, und wurde dafür mit einer kurzen Gefängnissstrafe belegt.
Seit acht Jahren hielt er sich immer in Thieringen auf und arbeitete
mit dem Vater theils in der Werkstätte, theils auf dem Felde.

Indessen erklärte der Ortsvorstand bei der gerichtlichen Untersuchung:
dass _Grotz_ schon seit 15 Jahren an dem fallenden Weh (der Epilepsie)
leide, seine Eltern hätten jedoch dieses Uebel immer zu verheimlichen
gesucht, und erst im Jahre 1820 sei es wirklich =dorfkundig= geworden,
dass derselbe gedachte Krankheit habe. Es fanden sich auch mehrere
Zeugen, die zu verschiedenen Zeiten und auch schon vor mehreren Jahren
epileptische Anfälle bei _Grotz_ wahrgenommen hatten. Nach ihrer
Beschreibung dauerten dergleichen Anfälle bei ihm einen Vaterunser
lang bis zu einer halben Stunde. Während derselben sei er ganz
bewusstlos gewesen, vor ihrem Eintritte habe man nichts Auffallendes
an ihm bemerkt. Wenn die Anfälle dagegen vorübergegangen, sei _Grotz_
fortgesprungen, habe keine Antwort gegeben, nicht mehr gewusst, was er
thun solle, und sei manchmal noch eine Viertelstunde lang weggewesen.

_Grotz_ selbst fing in der gerichtlichen Untersuchung aus freien
Stücken von seinem Uebel, das er =Gichter= nannte, zu reden an,
und äusserte sich darüber also: er sei daheim oft umgefallen und
wie maustodt gewesen, dann sei er aber alsbald wieder wohl gewesen.
Wenn ihn die Gichter todt gemacht haben, so habe es, meine er, einen
Vaterunser lang gedauert. Es habe schon Tage gegeben, an welchen er
sie zwei- bis dreimal bekommen habe. Sie seien überhaupt nie lange
ausgeblieben. Wenn der Mond hell geschienen, habe er sie nicht viel,
wenn dieser aber finster gewesen sei, habe er sie viel bekommen. Wann
diese Krankheit überhaupt bei ihm den Anfang genommen, wollte er aber
nicht wissen, und obschon ein Zeuge behauptete, _Grotz_ habe auch
den Anfall an dem Tage vor der Nacht, worin er seinen Vater tödtete,
gehabt, doch nicht so stark wie sonst, so wollte sich _Grotz_ auch
dessen nicht mehr erinnern.

Obschon mit der Epilepsie behaftet, arbeitete er dennoch immer fleissig
auf seinem Handwerke, und verdiente seinem Vater dadurch viel Geld, wie
er sich dessen selbst auch vor Gericht rühmte. Dabei liebte er aber,
was er nicht in Abrede zog, den Branntwein sehr. Sein Vater hütete
ihn jedoch immer möglichst davor, so dass er nicht oft dergleichen
zu trinken bekam. Ueberhaupt hielten ihn, nach glaubwürdigen
Zeugenaussagen, seine Eltern (seine Mutter starb erst vor einigen
Jahren) unter einer steten und strengen Aufsicht, und liessen ihn
selten irgendwo allein hingehen; gleichwohl sei er, sagen eben diese
Zeugen, bisweilen, wenn er Geld gehabt habe, in's Bäckerhaus gesprungen
und habe da einen halben oder auch einen ganzen Schoppen Branntwein auf
einmal ausgetrunken, wie ein Vieh.

Um diese grosse Neigung zum Branntweintrinken zu befriedigen,
entwendete er schon seit längerer Zeit seinem Vater öfters Geld im
Betrage von 3, 6 bis 24 Kreuzern, wofür er dann in dem Bäckerhause sich
Branntwein und Brot geben liess.

Um diese Geldentwendungen zu bewerkstelligen, wartete er jedesmal die
Zeit ab, bis sein Vater im Bette lage, dann ging er zur Thüre hinaus,
um demselben glauben zu machen, dass er auf den Abtritt gehe, und
bei dieser Gelegenheit nahm er nun das Geld aus dessen daliegenden
Beinkleidern.

Dieses Verfahren erzählte er selbst, ganz übereinstimmend mit den
Aussagen einiger Anverwandten, die auch darum wussten, und bemerkte
weiter: bisweilen habe sein Vater dergleichen Entwendungen entdeckt,
bisweilen auch nicht. Wenn er es aber bemerkt habe, habe derselbe
grausig gethan. So oft er aber seinem Vater Geld genommen, habe er
auch etwas verdient gehabt. Sein Vater habe ihm jedoch nie etwas Geld
gegeben; „er hätte ihm wohl auch einen Kreuzer geben dürfen, denn er
habe ihm Alles verdient durch's Weben.” Hierüber hätte er sich denn
auch manchmal, wie bezeugt wurde, gegen andere Personen beschwert.

Uebrigens gab er weiter an, sein Vater sei meistens gut gegen ihn
gewesen, und er habe auch seinen Vater schier immer leiden mögen.
Nur wenn er etwas nicht recht gethan, habe ihn derselbe ausgezankt.
Auch gehen die Zeugenaussagen durchgängig dahin, dass Vater und Sohn
im Wesentlichen gut miteinander gestanden seien, und der Vater dem
Sohne nur Zurechtweisungen gegeben habe, wenn er dazu Grund gehabt.
Indessen erklärte der Ortsvorstand noch insbesondere: der alte
_Grotz_ habe sich einmal, beiläufig vor einem Jahre, jedoch mit dem
Beifügen, dass er keine ämtlichen Vorkehrungen verlange, bei ihm
über seinen Sohn beklagt, dass dieser öfters gegen ihn meisterlos sei
und sich seinen Anordnungen nicht immer fügen wolle. Hierbei habe er
bemerkt, dass er seinem Sohne schon mehrere Mal gedroht, er wolle ihn
bei dem Schultheissen verklagen, was auch bisher geholfen habe. Im
vorangegangenen Winter habe der alte _Grotz_, im Vertrauen, über die
epileptischen Zustände seines Sohnes geklagt, und dass derselbe dabei
seit einigen Jahren so vergesslich sei.

Gegen eben diesen Schultheissen betrug sich, nach dessen Angabe, der
junge _Grotz_, immer sehr gut, und erwies ihm stets eine =besondere
Achtung=, wenn er ihm begegnete, wogegen es auch der Schultheiss gegen
ihn an Ermahnungen zu seinem Besten nicht fehlen liess. Bemerkenswerth
ist aber ferner, dass sich _Grotz_, wie er im Verhöre selbst erklärte,
schon seit einiger Zeit mit Heirathsgedanken beschäftiget hatte, die
er jedoch vor seinem Vater geheim hielt. Eine bestimmte Weibsperson
will er dabei nicht im Auge gehabt, sondern nur gedacht haben: er
heirathe, wenn er Jemanden bekomme. Einmal, erklärte er indess in
dieser Beziehung weiter, habe er zwar auch seinem Vater so etwas von
seiner Absicht zu heirathen gesagt, dieser ihm aber erwiedert, dass
er nirgends eine Person bekomme, und er (der Vater) ihn fortschicken
würde. Dann habe er gedacht, er schweige lieber, und habe überhaupt
die Sache aus sein lassen. Uebrigens besorgte dem alten _Grotz_ seit
seinem Witwenstande eine ledige Weibsperson die Haushaltung, ohne
jedoch im Hause zu schlafen. Nach ihrer Angabe soll ihr auch der
Witwer Heirathsanträge gemacht, sie aber noch nicht ihr Jawort gegeben
gehabt haben; der junge _Grotz_ erfuhr zwar nichts Näheres davon, doch
besorgte er wohl eine Wiederverheirathung seines Vaters, und dass dann
=das Vermögen an andere Leute komme=. Durch Zeugen ist ferner erhoben,
dass _Grotz_ ungefähr ein Jahr vor der verübten Tödtung seines Vaters
demselben einmal von der Werkstatt entlief, im Freien mit sonderbaren
Blicken und auffallenden Geberden herumsprang und nur mit Mühe von
einigen ihm begegnenden Einwohnern des Dorfes wieder nach Hause
gebracht werden konnte.

Uebrigens gibt ihm die Ortsobrigkeit das Zeugniss, dass er ein
fleissiger Arbeiter gewesen, so lange er nicht mit dem fallenden Weh
behaftet war, und dass er sich sowohl gegen seinen Vater als gegen
andere Personen im Ganzen ordentlich betragen habe. Zugleich erklärte
sie sich aber auch =hinsichtlich des physischen Zustandes= des _Grotz_
dahin: dass derselbe, so lange er mit der Epilepsie befallen sei,
kaum den nothdürftigsten Verstand zum geselligen Leben besessen habe.
Und auf ähnliche Weise sprachen sich darüber Verwandte und andere
Zeugen aus, indem sie erklärten, dass sich zwar bei _Grotz_ in seinem
bisherigen Leben keine Spuren von Verrücktheit gezeigt hätten, dass
er aber schwache Verstandeskräfte und ein sehr schwaches Gedächtniss
habe, welches Alles wahrscheinlich durch den epileptischen Zustand
allmälig herbeigeführt worden sei. Zum Zorne, bemerkten sie weiter,
sei er zwar nicht besonders geneigt gewesen, doch habe er öfters einen
eigenthümlichen scharfen Blick gehabt, mit dem er Andere anstarrte,
wenn er über etwas, welches man ihn thun hiess oder an ihm tadelte,
unzufrieden war. Wenn man ihn im ersteren Falle fragte: „Thust du das?”
habe er nur geantwortet: „Wenn ich muss.”

=Die Geschichte der That selbst= und der damit in Verbindung stehenden
Umstände ist nun diese:

Am Sonntage (den 22. April), an dem Tage der That, bemerkte die
Haushälterin des alten _Grotz_ an dessen Sohn gegen sonst durchaus
nichts Auffallendes. Nur einmal hatte derselbe, nach ihrer Aussage,
einen epileptischen Anfall, der nicht stark war, indem _Grotz_ nur
umfiel und sogleich wieder aufstand. Er selbst wollte nachher von
diesem Anfalle gar nichts wissen. Uebrigens war er an diesem Tage
gestimmt wie immer, und sprach, wie sonst auch, nicht viel; er und sein
Vater betrugen sich gegeneinander wie gewöhnlich, und die Haushälterin
bemerkte nicht im Geringsten, dass Beide einander geärgert oder gezankt
hätten. Den Nachmittag brachten Vater und Sohn in einem Nachbarhause
ganz einig mit einander zu, und gegen 7 Uhr Abends gingen sie, wie
gewöhnlich an den Sonntagen, zusammen in die Branntweinschenke und
tranken, nach den Zeugenaussagen, mit einander nicht mehr als einen
halben Schoppen Branntwein, wozu sie Brot assen.

Sie waren auch da freundlich beisammen, und gingen um 10 Uhr, ohne
dass sie, wie mehrere Zeugen versichern, im Mindesten betrunken gewesen
wären, mit einander ruhig nach Hause.

Die nun zu Hause, wo jetzt Vater und Sohn allein waren, dem Verbrechen
zunächst vorangegangenen Umstände blieben durch die vor Gericht
geschehenen Aussagen des jungen _Grotz_ in einiges Dunkel gehüllt,
während er dagegen die That selbst, jedoch nur allmälig auf wiederholte
Fragen, umständlich und klar eingestand.

Als sie in jener Nacht nach Hause gekommen, gibt nämlich derselbe
zuerst an, seien er und sein Vater miteinander in das gemeinschaftliche
Bett gegangen und hätten geschlafen. Dann habe ihn sein Vater durch
Schütteln aufgeweckt und mit ihm Händel angefangen, zu welcher Zeit
aber dies geschehen, wusste er nicht anzugeben; dass übrigens das Bett
wirklich in jener Nacht gebraucht wurde, davon fand man nachher noch
Spuren.

Auf die verschiedenen, deshalb an _Grotz_ gemachten Fragen blieb
derselbe auch anfänglich bei der bestimmten Behauptung stehen, dass
nach dem Erwachen sein Vater in der Kammer am Bette mit ihm Streit
angefangen habe, sehr erzürnt gewesen sei, ihn gescholten und ihm
erklärt habe: =er gehe nun zum Schulzen, lasse ihn aus dem Hause jagen
und lasse ihn nicht mehr herein=.

Ueber die =Veranlassung= dieses Aufweckens und dieses zornigen
Ausbruches seines Vaters gab jedoch _Grotz_ vorerst keinen genügenden
Aufschluss. Er erklärte in dieser Beziehung, er wisse den Anfang nicht,
sein Vater habe ihn aber verscholten, er wisse selber nicht, warum
sein Vater so erzürnt gewesen sei, derselbe habe aber viel Branntwein
getrunken gehabt.

Auf den Vorhalt aber, dass sein Vater damals nicht betrunken gewesen
sein könne und doch einen Grund gehabt haben müsse, warum er über ihn
unzufrieden gewesen sei, äusserte er nur: „ich habe ihm Geld genommen,
schätz' wohl --” und legte dann auf weitere Fragen folgende nähere
Geständnisse ab:

Nachdem sie des Nachts von dem Bäcker nach Hause gekommen, habe er aus
den Hosen des Vaters, die auf der Bank in der Stube gelegen seien,
ihm Geld aus seinem Beutel genommen und habe es in seinen eigenen
Beutel gethan, damit er es habe, wenn er es brauche; wozu er es aber
gebrauchen wolle, das habe er noch nicht gewusst. Wo sein Vater gerade
gewesen, als er das Geld genommen habe, wisse er nicht. Sein Vater habe
die Entwendung wahrgenommen, indem er in seine Hosen gelangt und den
Geldsäckel nimmer gefunden habe. Hierauf habe sein Vater ihn gezankt
und ihm erklärt, er verklage ihn beim Schulzen und lasse ihn fortjagen,
und wie er dann so darüber gelärmt habe, habe er ihn =todtgeschlagen=,
und zwar aus dem Grunde, weil er so gelärmt und gebalgt (gezankt) und
gesagt habe: er wolle ihn fortthun lassen. Alles Geld, erklärte _Grotz_
weiter, habe er seinem Vater anfangs nicht aus dem Beutel genommen,
erst wie er seinen Vater todtgeschlagen gehabt, habe er es vollends
genommen.

Obschon nun _Grotz_ auch in weiteren Verhören und Aussagen über die
Veranlassung und die Motive des an seinem Vater begangenen Verbrechens
wieder variirte, obige Geständnisse zum Theile widerrief, und auch
wieder bestätigte, somit über die Veranlassungs- und Bestimmungsgründe
zur That kein ganz sicherer und vollkommener Aufschluss unmittelbar
von ihm selbst erhalten werden konnte (wie auch aus seiner psychischen
Individualität leicht erklärbar ist), so ist doch so viel mit grosser
Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass zur Zeit des Entschlusses zur That
bei dem _Grotz_ eine zornige, feindselig aufgeregte Stimmung gegen
seinen Vater und grosse Angst vor dem Herbeikommen des Schultheissen
Statt gefunden haben müsse; denn so äussert er einmal bestimmt: „Weil
er (der Vater) gesagt hat, er wolle mich aus dem Hause jagen lassen
und nimmer hineinlassen, da bin ich zornig geworden über ihn;” und
ein anderes Mal erwiederte er auf einige Fragen hinsichtlich seiner
etwaigen Reue über die That: „Weil wir eben einander feind geworden
sind; weil er gesagt hat, er wolle mich fortjagen lassen. Es sei ihm
Angst gewesen wegen des Vogtes, wenn der in's Haus komme; er habe
freilich eine grosse Sünde gethan, dass er seinen Vater todtgeschlagen;
jetzt reue es ihn, wenn er so darüber nachdenke.”

Auch gestand er später noch ein, ehe er seinen Vater todtgeschlagen,
habe er (nach gefasstem Entschlusse zur That) bei sich gedacht: wenn
es Niemand gesehen hat, dann sage ich, er wäre gestorben. Er habe auch
gedacht, es gebe genug Leute, die auch zu ihm gehen wegen dem Kochen,
und ein Weibsbild, das ihm koche. An eine bestimmte Weibsperson und
an's Heirathen habe er aber damals noch nicht gedacht.

Ueber die =Vollführung der That= ist nun Folgendes das Resultat der von
ihm mit Bestimmtheit abgelegten Geständnisse.

Nachdem ihm sein Vater die obenerwähnte drohende Erklärung gemacht
hatte, stand derselbe vom Bette auf und ging mit der Aeusserung, dass
er sich nun zum Schulzen begeben werde, die Treppe hinab und zum Hause
hinaus. Sein Sohn folgte ihm aber unangekleidet und nur im Hemde mit
dem schon jetzt gefassten Vorsatze, ihn zu tödten, alsbald nach,
ohne gegen seinen Vater etwas zu äussern. Sein Weg führte von der
Stubenkammer in die Stube, aus derselben über den nur vier Schritte
langen oberen Hausgang und die zwölf Stufen hohe Treppe hinab in den
unteren Hausgang. Nahe an der Treppe geht, wenn man von derselben
herabkommt, rechts hinein in den sieben Schuh langen Hausgang die Thüre
zu dem Webergewölbe. In Letzteres, worin damals, wie gewöhnlich, der
Schlüssel stak, ging der junge _Grotz_, und holte daraus eine unter
einigen daselbst befindlichen Aexten =gewählte= Axt der schwersten
Art, um damit seinen Vater todtzuschlagen: Mit dieser Axt in der
Hand, die er auch nachher bei der gerichtlichen Untersuchung als das
=Werkzeug= seines Verbrechens anerkannte, ging er nun seinem Vater
nach, welcher, wie er angibt, sprang, und traf ihn vor dem Hause des
Nachbars _Oppler_. Dieses Haus liegt der Richtung des Weges, der zu der
Wohnung des Schultheissen führt, =entgegengesetzt=, über der Strasse
hinüber, etwas abwärts von dem Hause des _Grotz_. Wie und warum der
alte _Grotz_ zu diesem Hause gekommen, darüber erklärt sich der Sohn
nicht genügend. Indess erreichte dieser seinen Vater, als derselbe ganz
nahe an dem Thore der mit dem Hause des _Oppler_ verbundenen Scheuer
war, und versetzte ihm dort mit der Haube, d. i. dem breiten Theile
der Axt, zwei Streiche =hinten auf den Kopf=, ohne dass er dabei gegen
seinen Vater eine Aeusserung machte. Dieser soll nun aber, so wie
er die Streiche erhalten, arg gelärmt und auf seinen Sohn geschimpft
haben, was dann Letzteren, wie er sagt, noch in der Vollbringung der
That bestärkte. Er führte dann seinen Vater, der nach den Streichen
noch laufen konnte, indem er ihn über den Hals herum hielt, quer
über die Strasse hinüber, neun Schritte weit bis nahe an die Ecke der
gleichfalls mit dem Hause verbundenen eigenen Scheuer (wo sich nachher
auch starke Blutspuren fanden), und dort versetzte er demselben mit der
Haube der Axt drei weitere Streiche =vornehin an den Kopf=, überall,
wie er sagt, wo es hin ging. Auch nach diesen weiteren Streichen fiel
der Vater, nach der Behauptung des Sohnes, noch nicht um, sondern lief
noch zwölf Schritte weit zu seinem Hause hin, wobei aber das Blut
von ihm strömte, und besonders die Thürschwelle, die Thür am Hause
und den Eingang des Hauses selbst stark befleckte. Jetzt aber war der
Verletzte nicht mehr im Stande weiter zu laufen. -- Damit nun, erzählt
der Thäter weiter, die Leute nicht sähen, dass sein Vater blute, und
dass sie etwas mit einander haben, fasste er, mit dem Gesichte gegen
des Vaters Gesicht gekehrt, denselben unter den Schultern um den Leib,
trug ihn zur Thüre hinein, durch den Hausgang bis zur Treppe, und dort
liess er ihn fallen, so dass der Verletzte mit Kopf und Schultern auf
die untersten Stufen der Treppe zu liegen kam und das Gesicht in die
Höhe kehrte. Er lebte noch etwas, und rief noch, nach des Thäters
Behauptung, indem er durch den Hausgang geschleppt worden, seinem
Sohne zu: „Du Hund!” Nachdem nun dieser zuvor die Hausthür zugeschlagen
hatte, damit, wie er sagt, Niemand hereinkomme, schlug er seinen Vater,
wie er sich selbst ausdrückte, an der Stiege =vollends= todt, indem
er ihm in der schon beschriebenen Lage mit der Haube der Axt noch
drei Streiche vornehin an den Kopf versetzte. Die Ueberzeugung, dass
sein Vater durch diese Streiche vollends getödtet worden sei, sprach
_Grotz_ wiederholt und insbesondere mit den Worten aus: „Und Alles
ist nun aus gewesen.” Nach diesem nahm er dem Getödteten, kurz ehe die
Wächter herbeikamen, das Geld vollends aus dem in dessen Hosentaschen
befindlichen Beutel, so viel noch darin war, und zwar, wie er
wiederholt erklärte, damit er es gewiss habe, dass es niemand Anderer
bekomme, da so Leute zu ihm hineingeschrien haben.

Die Axt, womit er die That verübt hatte, verbarg er blos unter der
Stiege, wo sie auch bald nachher gefunden wurde. Nach der Verbergung
der Axt begab er sich in die Schlafkammer und zog dort, weil sein
Hemd blutig geworden war, ein frisches an, damit (wie er sagte)
Niemand das Blut sehen sollte. Jenes Hemd fand sich auch nachher in
der Schlafkammer vor, an der ganzen Vorderseite und vorzüglich an der
Brust sehr blutig. Als sich _Grotz_ dieses Hemdes entledigt hatte,
hielt er sich, ohne dass er sich wieder in das Bett legte, theils in
der Wohnstube auf dem Lotterbette auf, theils auch einige Zeit auf der
Bühne, wohin er von der Küche aus eilte, um sich zu verstecken, als er
vor dem Hause Lärmen hörte. Dort verweilte er aber nicht lange, sondern
ging bald wieder, durch das Lärmen und Anklopfen der herbeigekommenen
Wächter beunruhigt, hinunter in die Stube und öffnete sodann, wie schon
erzählt worden, die Hausthüre.

Am anderen Morgen wurde nun derselbe zu dem Untersuchungsgerichte
abgeführt, und am folgenden Tage die =Legalinspektion= und =Sektion=
des Getödteten, eines 66jährigen Mannes, der von einer sehr
kräftigen und gesunden Körperbeschaffenheit gewesen, in gehöriger
Form vorgenommen. Nach dem Befunde dieser Leichenschau erklärten die
obduzirenden Aerzte die am Leichnam wahrgenommenen Wunden für =absolut
tödtlich=, und gaben dann ihr Schlussurtheil dahin ab: dass der Tod
des alten _Grotz_ =die unvermeidliche Folge= der ihm von seinem Sohne
beigebrachten Verletzungen gewesen sei.

Nach diesem Resultate der Leichenschau und nach den oben angegebenen
ausführlichen und wiederholten Bekenntnissen des jungen _Grotz_,
verbunden mit den übrigen erhobenen Umständen, war somit in diesem
Falle der =Thatbestand= einer von _Grotz_ an seinem Vater verübten
=vorsätzlichen Tödtung= ausser Zweifel gestellt. Nicht eben so leicht
konnte aber die Frage entschieden werden, ob diese vorsätzliche Tödtung
für einen wirklichen Mord oder nur für eine im Affekte begangene
Tödtung, d. i. einen Todtschlag, anzunehmen sei, denn für die eine
und für die andere dieser Annahmen gab die sehr genaue gerichtliche
Untersuchung, wobei jedoch die Individualität des Angeschuldigten, wie
seine oben dargelegten verschiedenen Aussagen selbst beweisen, manche
Schwierigkeiten darbot, mehrere Momente an die Hand, doch würde eine
ohne Zweifel überwiegende Zahl und die Beschaffenheit der für einen
blossen Todtschlag sprechenden Daten den Entscheidungsrichter, wenn
er sich über diesen Punkt näher auszusprechen aufgefordert gewesen
wäre, zu dieser Annahme eines blossen Todtschlages wohl bestimmt
haben. Allein die Frage über diesen Punkt bedurfte unter den übrigen
gegebenen Umständen eigentlich keiner besonderen Entscheidung,
weil es sich in dem vorliegenden Falle hauptsächlich und vor Allem
um die durchgreifende Frage handelte, ob der, der Tödtung seines
Vaters geständige _Grotz_ überhaupt, und in Bezug auf diese That
insbesondere, für =zurechnungsfähig= anzunehmen sei, denn =gegen=
seine Zurechnungsfähigkeit hatten sich allerdings aus seinem ganzen
Benehmen während der Untersuchung, und vorzüglich aus einzelnen bei
derselben von ihm geschehenen auffallenden Aeusserungen, so wie aus den
über seine Persönlichkeit, seine epileptischen Anfälle, geschwächten
Geisteskräfte und seine bisherige Aufführung erhobenen näheren Notizen,
so bedeutende Zweifel ergeben, dass sich für das Entscheidungsgericht
diese Frage wegen der Zurechnungsfähigkeit des Angeschuldigten als
die eigentlich zu fixirende und zu lösende =Hauptfrage= darbot. In
Beziehung hierauf haben wir daher noch folgendes Nähere zu bemerken.

Während des Transportes nach Balingen (zur gerichtlichen Untersuchung)
sagte _Grotz_ einmal zu seinen Begleitern: „Jetzt will ich weiben (ein
Weib nehmen), jetzt darf ich weiben; mein Vater hat mich nicht wollen
weiben lassen; jetzt bin ich Meister, jetzt gehört die Sache Alles
mein.” Ein anderes Mal fragte er sie aber auch: „Bringt man mich um?
Thut man mir etwas?” und äusserte dabei lebhaft den Wunsch, dass er nur
noch leben dürfte.

Im ersten gerichtlichen Verhöre sprach er, gegen seine Gewohnheit und
bäuerische Uebung, in möglichst reindeutschen Ausdrücken, und gab
dabei manche ungereimte Antworten, doch legte er allmälig auf eine
zwar abgebrochene, aber doch deutliche Weise das Geständniss seines
Verbrechens ab. In einem weiteren Verhöre benahm er sich jedoch sehr
verschlossen, antwortete häufig auf die ihm vorgelegten Fragen: „ich
weiss mit Wissen nix (nichts),” und machte auch öfters sinnlose,
ungereimte Aeusserungen. In anderen späteren Verhören sprach er
dagegen wieder mit Zusammenhang, und wiederholte seine Geständnisse mit
aufrichtiger Reumüthigkeit. Uebrigens bekam er auch einige Male während
der Verhöre selbst seine epileptischen Anfälle, und neben seinen in
mehreren Verhören abgelegten klaren Geständnissen kamen immer auch von
Zeit zu Zeit sonderbare Aeusserungen zum Vorscheine. So sagte er z. B.
einem Gerichtsbeisitzer, der zugleich Webermeister, folglich von seiner
Profession ist: „So, Ihr seid mein Obermeister; wenn ich einmal ein
Weib habe, will ich auch zu Euch kommen.” Gegen den inquirirenden und
zugleich protokollirenden Oberamtsrichter zeigte er sich bald finster
bald auffallend zutraulich, nannte denselben bald Ihr, bald Sie, und
heftete insbesondere seine Aufmerksamkeit auf dessen Protokolliren. Er
sagte ihm unter Anderem: „Ich meine, Ihr solltet doch einmal aufhören
mit dem Schreiben, es wird ja so gross wie ein Buch, aus dem man beten
kann.” Anzeigen von seinem schwachen Gedächtnisse ergaben sich auch
bei den Verhören, und er selbst beschwerte sich dabei öfters über
sein schlechtes Gedächtniss, indem er z. B. sagte: wenn man ihn viel
frage, erinnere er sich nichts; und ein anderes Mal: „Wenn man so viel
denken muss und schreibt, du lieber Gott! ich weiss nichts mehr, man
mag mich fragen, was man will.” Bei wichtigeren Fragen, welche seine
Besinnungskraft in Anspruch nahmen, wurde er zuweilen ungeduldig,
zornig, gab aber doch Auskunft; auch bemerkte der Inquirent überhaupt,
dass _Grotz_ bei Fragen, die sein Gedächtniss anstrengten oder Vorhalte
enthielten, einsylbig und verdriesslich war, und zuweilen einen
ihm eigenthümlichen zornigen Blick machte; wogegen er, wenn man den
Gegenstand der Fragen auf eine ihm angenehme Weise wechselte, zu seiner
etwas grinsenden, tölpischen Freundlichkeit überging, die er besonders
auch dann annahm, wenn er von seiner Freilassung sprach. Häufig gab
er in den Verhören den dringenden Wunsch zu erkennen, bald wieder nach
Hause entlassen zu werden; erzählte dabei, wie er sich dann in seinem
väterlichen Hause beschäftigen würde, und erklärte auf die ihm deshalb
gemachten Fragen: „es wäre freilich grausig, im Hause seines getödteten
Vaters zu sein, aber er wüsste sonst nirgends hin.” Reumüthig über
die That zeigte er sich jedoch im Ganzen nicht; nur traten zuweilen
Augenblicke ein, wo einige Gewissensvorwürfe, gemischt aber mit Angst
über die Folgen seiner That, bemerkbar wurden. In einem der letzten
Verhöre machte ihm der Inquirent nähere Instanzen über seine Kenntniss
der Strafbarkeit des verübten Verbrechens. Als er zu diesem Behufe
über die zehn Gebote befragt wurde, wollte er sie anfangs nicht kennen,
zeigte aber doch nachher das Gegentheil. Auf die Frage, was vom Tödten
darin stehe, sagte er das Gebot her: du sollst deinen Vater und Mutter
ehren; auf wiederholte Fragen das: du sollst nicht stehlen; endlich
aber, nachdem man ihm vorgesagt hatte: du sollst nicht -- fügte er
hinzu: „tödten.” Auf die Frage, ob er bei der That an die zehn Gebote
gedacht habe, erklärte er: „Ich habe nichts gedacht.” Die Frage: ob
er nicht gedacht habe, dass es eine grosse Sünde sei, was er gethan,
beantwortete er damit: „Ich sage nicht Nein und nicht Ja; ich weiss
nichts davon; da könnt Ihr schreiben, was Ihr wollt, ich hab' an nichts
so gedacht.” Auf die Frage: ob er denke, dass er eine grosse Strafe
verdient habe, sagte er: „Ich denke es jetzt freilich; er wisse aber
nicht, was für eine Strafe man ihm gebe; es reue ihn, dass er seinen
Vater todtgeschlagen habe.” Gegen das Ende der Untersuchung zeigte sich
bei ihm vorzügliche Angst über sein Schicksal. Als er nun um diese Zeit
mit einem ihm näher bekannten Einwohner von Thieringen konfrontirt
wurde, sagte er zu diesem: „Ich habe jetzt immer gebeten, Gott solle
es mir eingeben, wer schuldig sei daran, ich oder mein Vater, weil
er immer so gebalgt (gezankt) hat; ich habe das ganze Büchle (das
Spruchbuch) ausgebetet, und da ist es eben immer gekommen, dass ich
=es habe thun müssen=, weil er so gebalgt hat.” Und nun erzählte und
zeigte er näher dem Inquirenten, dass er in seinem Gefängnisse durch
Aufschlagen von Zahlen im Spruchbuche und durch Losen mit Strohhalmen
darüber, ob er oder =sein Vater= schuldig sei, Entscheidung gesucht
habe, und dass es richtig so ausgefallen, dass sein Vater also schuldig
gewesen sei. Er zeigte sich mit diesen Versuchen sehr zufrieden,
und schien der Sache völlig Glauben beizumessen. Gleichwohl gab er
hinwieder auf eine spätere Frage: warum er an diese Proben glaube, die
Antwort: „Ja, weil es mir so fürgegangen ist; ich glaube es weiter
nicht, ich sag's nur.” Auf die Frage im Schlussverhöre: ob er nicht
denke, eine grosse Strafe verdient zu haben, antwortete er: „Ich glaube
nicht,” und auf die weitere Frage: ob er sich mit etwas vertheidigen
könne: „Ich weiss nix mehr, und wenn man nix weiss, kann man auch nix
sagen.”

Gegen das Ende der Untersuchung bewies sich _Grotz_ einmal so
unbotmässig gegen einen seiner Wächter, und hielt ihn am Wamms, weil
dieser Wächter nicht mehr geduldet hatte, dass _Grotz_ sein Wasser
statt in den Nachtstuhl vor der Thüre abschlage. In der darauffolgenden
Nacht lief er von 12 Uhr bis Morgens 7 Uhr schlaflos im Gefängnisse
auf und ab, verlangte vom Wächter, er solle ihm aufschliessen, er wolle
nach Thieringen, er bleibe nicht mehr in diesem Hause; er hatte dabei
die Beinkleider offen, sah in den =leeren= Nachtstuhl und äusserte:
es sei so viel Wasser darin, er könne nicht fort wegen dem Wasser. Als
ihm dabei der Wächter mit einem Stecken drohte, erklärte er: er wisse
nichts, er thue ihm nichts, und zeigte überhaupt Spuren davon, dass
er nicht recht bei sich war. Er hatte auch weiterhin manche unruhige
Nächte, und konnte wegen gestörter Phantasie nicht schlafen, was er
selbst mit den Worten erzählte: er könne nicht schlafen, er habe so
Angst, und es komme Nachts ein Männlein zu ihm, das sage, er müsse
sterben. So lange sein Untersuchungsarrest gedauert, hatte er, mit
wenigen Ausnahmen, jeden Tag wenigstens einen epileptischen Anfall, oft
auch zwei, etliche Male drei. Die gewöhnliche Dauer dieser Anfälle war
einige Minuten, und einmal eine Viertelstunde. Uebrigens zeigten diese
Anfälle in ihren Erscheinungen nichts besonders Abweichendes von denen
anderer Epileptiker; sie stellten sich ebenfalls häufiger und heftiger
dann ein, wenn _Grotz_ in Folge der Verhöre oder anderer Veranlassungen
in Zorn gerathen war.

Spuren von wirklicher =Verrücktheit= wollte der Inquirent während des
ganzes Laufes der Untersuchung an _Grotz_ nicht bemerkt haben. Dagegen
ergab sich ihm deutlich, dass derselbe an Gedächtnissschwäche und
Stumpfheit der Geisteskräfte überhaupt leide. Er schilderte ihn auch
in seinem ganzen Benehmen als ziemlich tölpisch, launisch und zum Zorne
geneigt, und wenn er im Zorne sei, habe sein Blick etwas Bösartiges und
Grausendes.

Das Gutachten des =Oberamtsarztes= über den Seelenzustand des von
ihm während der Untersuchung mehrmals beobachteten Angeschuldigten
ging im Wesentlichen auf den Grund seiner Beobachtungen und auch der
aus den Akten geschöpften Notizen dahin: derselbe sei weder als ganz
noch als periodisch wahnsinnig, auch nicht als wirklich blödsinnig
anzusehen. Dagegen habe schon bei ihm vor der Zeit der That =Dummheit=
(Stupidität) Statt gefunden. Ausserdem sei aber derselbe zur Zeit
der That neben seiner Dummheit in einem wirklichen Zustande eines
=ausserordentlichen Antriebes= zur That gewesen, in welchen Zustand der
_Grotz_ von dem Getödteten durch Furcht, Argwohn, Zorn und eine Art von
Verzweiflung gebracht worden, und habe somit auch unbestritten die That
in diesem kranken Seelenzustande und in einem Furor (in der Raserei)
verübt.

Mit diesem gerichtsärztlichen Gutachten konnte sich indessen, bei
der Wichtigkeit der Sache, der Kriminalsenat des Gerichtshofes zu
Tübingen nicht begnügen, sondern fand zum Behufe seines definitiven
richterlichen Ausspruches in Ansehung der Zurechnungsfähigkeit des
_Grotz_ auch noch die Einholung des Gutachtens der =medizinischen
Fakultät= daselbst nöthig. In dieser Beziehung wurde dieselbe, unter
Mittheilung sämmtlicher Akten, insbesondere um die Beantwortung
folgender Fragen ersucht:

1. ob der Angeschuldigte an dauernder Geisteskrankheit oder
Geistesschwäche leide, und im bejahenden Falle

2. an welcher Art;

3. in wie weit dadurch dessen Willensfreiheit als aufgehoben zu
betrachten sei, und

4. ob nicht der Angeschuldigte zu der Zeit, als er den Entschluss zu
dem Verbrechen gefasst und ausgeführt, in einem Zustande =völliger
Unfreiheit= seiner Seele gehandelt habe.

Diese Fragen beantwortete nun die Fakultät mit aller durch die Sache
gebotenen Genauigkeit und Umsicht, und der Inhalt ihres Gutachtens, den
wir um seines psychologischen Interesses willen in allen Hauptpunkten
hier ausheben, ist dieser:

„Die bei dem _Grotz_ schon vor mehreren Jahren eingetretenen und sich
so häufig wiederholenden epileptischen Anfälle bezeichneten in ihrer
Erscheinung ganz diejenige Art von Fallsucht, bei welcher das =Gehirn
selbst= die Ursache des Uebels enthalte, und wo es nicht blos aus
Mitleidenschaft von einem anderen Theile des Nervensystemes aus leide;
dass aber besonders diese Art von Epilepsie allmälig immer mehr das
Gedächtniss und zuletzt den Verstand selbst schwäche, und am Ende zu
wirklichem dauerndem Blödsinne führe, sei eine allgemeine Beobachtung.
Diesem Erfahrungsgrundsatze entsprechend, hätten sich denn auch nach
den aktenmässigen Notizen die Seelenkräfte des _Grotz_ schon vor
seiner That mehr und mehr =abnehmend= gezeigt. Da nun derselbe ausser
seiner Epilepsie nie krank gewesen, aber nachdem ihn dieses Uebel
befallen, immer unbrauchbarer geworden sei, so könne man mit Sicherheit
die =erste= der obigen Fragen dahin beantworten: der Verbrecher ist
ein Kranker und leidet, auch ausser seinen epileptischen Anfällen,
durch diese seine körperliche Krankheit an erkennbarer =dauernder
Geistesschwäche=.

Diese aber ist bei ihm, ausser Gedächtnissschwäche, auch
Verstandesschwäche, und zwar in letzterer Bedeutung zugleich =Dummheit=
und =Blödsinn=, insofern man unter =Dummheit= (im engeren Sinne)
diejenige Beschränktheit des Verstandes begreift, bei welcher ein
Mensch sich unfähig der nöthigen Umsicht im Handeln zeigt, weil er
immer nur =einen= Gegenstand auf einmal aufzufassen vermag, wobei
er zwar nicht ohne Causalnexus handelt, aber ohne alle Klugheit
verfährt, eben weil er nicht fähig ist wahrzunehmen, dass auch andere
gleichzeitige Umstände so wichtigen Einfluss haben, dass sein Handeln,
sobald er jene ausser Acht lässt, völlig den vorgesetzten Zweck
verfehlen muss. In einigem Gegensatze zur Dummheit wird mit Recht
der =Blödsinn= dahin bestimmt, dass er eine Geistesschwäche ist, die
hindert, überhaupt vernünftige Folgerungen aus dem, was man wahrnimmt,
zu ziehen, auch wenn das noch vorhandene Wahrnehmungsvermögen nicht
blos einen beschränkten Gegenstand umfasst, wie dieses die Dummheit
thut. Im höheren Grade von Blödsinn fehlt es zwar schon an der
gehörigen Kraft des Wahrnehmungsvermögens für äussere Gegenstände,
in den mittleren Graden des Blödsinnes kann aber die Wahrnehmung
für mehrere gleichzeitige äussere Gegenstände noch hinreichend
vorhanden sein. Der Blödsinnige vermag aber überhaupt nicht das,
was er wahrnimmt, verständig so zu bearbeiten, dass ein Resultat
seines Nachdenkens dadurch entstände, welches seinen Willen zu einem
zweckmässigen Handeln zu bestimmen vermöchte.

Mehr oder minder Schwäche aller Seelenfunktionen begleitet nothwendig
den Blödsinn, aber nicht nothwendig die Dummheit, die trotz der
Beschränktheit ihres geistigen Wahrnehmungsvermögens in Hinsicht ihres
einzelnen Gegenstandes sehr energisch handeln kann.

Hartnäckigkeit bei einem einmal gefassten Entschlusse ist sogar bei
der Dummheit sehr gewöhnlich, aber auch natürlich, da bei ihr die
Seele unfähig ist, einen Entschluss durch Vergleichung mit anderen und
mit den entfernteren wahrscheinlichen Folgen zu berichtigen. Insofern
=will= zwar immer der Dumme, aber im Verhältnisse zum Grade seiner
Dummheit nur mit Einseitigkeit, d. h. ohne vorausgegangene =Wahl=, die
er nicht vornehmen =kann=. Vergesslichkeit und Gedächtnissschwäche sind
die gewöhnlichen Begleiter des Blödsinnes, weil Schwäche des Hirnes
zunächst auch Gedächtnissschwäche verursacht, und nun wieder nichts so
sehr den Gebrauch des Verstandes einschläfert, als wenn Wahrgenommenes
nicht mehr verglichen werden kann mit anderen Thatsachen, die das
Gedächtniss liefern sollte. Bei der Dummheit ist aber nicht nothwendig
eben so sehr allgemeine Gedächtnissschwäche, wenigstens nicht für den
einzelnen einmal eingeprägten Gegenstand, vorhanden. -- „=Ich habe
nicht daran gedacht=,” sagt der Dumme bei dem einfachsten Vorhalte,
den man ihm macht; der Blödsinnige aber antwortet: „=Ich habe an
nichts gedacht.=” Bei dem Kranken nun, von dem hier die Rede ist,
spricht ein allgemeines Abgestumpftsein, eine allgemeine Schwäche
seiner Seelenfähigkeiten für einen bedeutenden Grad von Blödsinn. Doch
hat er dabei eine Neigung, seine geringe Geistesthätigkeit auf eine
unbesonnene Art auf einzelne Gegenstände mit Eifer anzuwenden, z. B.
auf die Aussicht auf die Erbschaft von seinem erschlagenen Vater; auf
die, ein Weib zu nehmen; auf den Wunsch, aus seinem Gefängnisse ohne
Weiteres wieder nach Hause entlassen zu werden.

Er ist also in bedeutendem Grade =blödsinnig= und in noch höherem
=dumm=. Zwei Vorstellungen spielen eine Hauptrolle in seiner Seele: er
hätte gern ein Weib gehabt; mehr aber als darüber hatte er ohne Zweifel
Sorge, weil er wusste er sei der einzige Erbe seines Vaters, dass das
ihm künftig zufallende Vermögen nicht durch Wiederverheirathung seines
Vaters an andere Leute komme.

Bei der Vollführung des Verbrechens wusste _Grotz_ zwar wohl, was er
thun wollte und was er that. Allein wie unfähig er war, auch nur an
das Allernächste daneben zu denken, welcher tiefe Grad von Dummheit
also bei ihm Statt hatte, ergibt sich schon ausser vielem Anderen
daraus, dass er glaube konnte, man werde seinen Vater, der blutend mit
so viel furchtbaren Wunden an der Treppe lag, ohne weitere Nachfrage
für gestorben oder todtgefallen halten, dass er denselben im Hausären
liegen liess und die Axt, womit er ihn erschlagen hatte, nur unter die
Treppe steckte, wo sie Jedermann gleich finden konnte.

Dass er aber auch im bedeutenden Grade überhaupt =blödsinnig= sei, wenn
Blödsinn in dem oben angeführten Sinne genommen werde, ergebe sich aus
dem Benehmen und vielen Aussagen des Angeschuldigten während der ganzen
Untersuchung.

Wenn auf der anderen Seite der Verbrecher in seinem Dorfe nicht
gerade als völlig blödsinnig bekannt war, und in den Verhören selbst
einzelne Aeusserungen von ihm vorkommen, die wenigstens einige
Verstandesreflexionen verrathen, so kommt hier dagegen in Rechnung,
dass der Verbrecher nicht an einem angebornen oder schon in der
frühesten Jugend vorhandenen, oder aus einem plötzlichen, durch eine
Krankheit entstandenen, schlagflussartigen Blödsinne leidet, sondern
dass er früher, noch am Ende der Schulzeit, =gute Fähigkeiten= hatte,
und dass Epilepsie nur allmälig den Verstand schwächt. Vieles wird er
also aus Gewohnheit noch vernünftig thun, und das, was im gemeinen
Leben verhandelt wird, gleichsam mechanisch besorgen können, ohne
von anderen Leuten darin abzuweichen. Da auch sein Verstand nicht in
völliger gleichförmiger Allgemeinheit zum Blödsinn herabgesunken zu
sein scheint, so wird er sogar in einzelnen, ihm besonders wichtigen
Dingen immer noch einige Spuren von Ueberlegung zeigen können, bis etwa
die zunehmenden Folgen seiner Krankheit ihn zum völligen simpelhaften
Blödsinn, falls er nicht früher seinen Anfällen unterliegt, werden
gebracht haben.

Es könnte jedoch immer noch die Frage gemacht werden, ob nicht der
Verbrecher sich nur =blödsinnig stelle=; allein die Gewissheit, dass
er schon vor der That epileptische Anfälle hatte, nach ihnen häufig in
einem verwirrten Zustande sich befand, dass er durch sie an Gedächtniss
und Verstand geschwächt wurde, dass dieselbe gleichsam nothwendig
sogleich entdeckt werden musste: alle diese Umstände entfernen
völlig den Verdacht, als ob das ganze Benehmen des Verbrechers blosse
Verstellung sei. Dazu kommt, dass alle Blödsinnigen und Verrückten
zuweilen etwas Boshaftes zeigen, und nicht selten wirklich sich
zu verstellen suchen, dass aber Leute gemeinen Standes, sobald sie
an einem vollkommen Blödsinnigen und Verrückten so etwas bemerken,
sogleich nun schliessen, die ganze Krankheit sei nichts als Bosheit und
Verstellung.

Wichtiger wird hier die Untersuchung, ob _Grotz_ nicht zuweilen
=verrückt=, nicht blos blödsinnig sei, um so mehr, als Fallsucht und
Verrücktheit nicht ganz selten miteinander verbunden sind. In diesem
Falle wäre nicht blos davon die Rede, dass _Grotz_ gewöhnlich nach
seinen Anfällen zwar wieder aufsteht und willkürlich seine Glieder
bewegt, aber eine kurze Zeit lang sein Bewusstsein offenbar noch nicht
völlig wieder hat, nicht wahrnimmt, was eigentlich äusserlich mit ihm
vorgeht, und auch nachher von diesem Zustande gar nichts mehr weiss.
Es wäre die Rede davon, ob _Grotz_ nicht auch zuweilen längere Perioden
von eigentlicher Verrücktheit hätte, in welchen er unwillkürlich, oder
nach falschen ihm vorschwebenden Einbildungen handeln müsste, und wobei
er doch zugleich die äusseren Verhältnisse mehr oder minder deutlich
wahrnehme, auch wenn die Periode vorüber wäre, mehr oder minder dessen,
was in ihr vorgegangen, sich noch erinnern könnte, was fast immer bei
eigentlichem Wahnsinne der Fall ist.

Es kommen auch in den Akten einige Vorfälle (die auch oben angeführt
worden) vor, welche es sehr wahrscheinlich machen, dass zuweilen
etwas der Art in dem Kranken vorgehe, und insbesondere zeigen die
gegen das Ende der Untersuchung bei _Grotz_ vorgekommenen nächtlichen
Auftritte und Visionen, dass wenigstens in dieser Zeit der Kranke einem
eigentlich =verwirrten Zustande= sich immer mehr näherte, dass also
um so wahrscheinlicher auch schon früher wenigstens eine Neigung zu
längeren Anfällen von wirklicher Verrücktheit bei ihm Statt hatte.”

Hierauf wurde die =zweite= der oben bemerkten Fragen von der
medizinischen Fakultät dahin beantwortet:

„Die dauernde Geisteskrankheit oder Geistesschwäche ist eine
=allgemeine Abnahme seiner Seelenkräfte=, besonders =sehr grosse
Gedächtnissschwäche=; ausserdem Schwäche der =Ueberlegungskraft=
überhaupt, vorzüglich aber =Beschränktheit= derselben blos auf den
nächsten, den Inquisiten gerade stark interessirenden Gegenstand
mit Unfähigkeit, auch die natürlichsten Folgen davon einzusehen, und
endlich =Stumpfheit alles moralischen Gefühles=. Der Inquisit ist im
=höchsten Grade dumm= und =moralisch stumpfsinnig=, überhaupt aber
in bedeutendem Grade =blödsinnig=. Diese durch Epilepsie erzeugte
krankhafte Abnahme seiner Geisteskräfte droht zugleich gegenwärtig
immer mehr in ausbrechende Krankheit derselben, d. h. der allgemeinen
Schwäche des Gehirns ungeachtet, in =einseitige= und die Freiheit
der Seele aufhebende Aufreizung der Hirnfunktion, in =wirkliche
Verrücktheit=, besonders der Einbildung und selbst der unwillkürlichen
Triebe =überzugehen=.”

In Bezug auf die aufgestellte =dritte= Frage wird bemerkt:

„Selbst jetzt findet noch keine =dauernde=, wirklich krankhafte
Verrücktheit bei dem Inquisiten Statt. Dummheit aber allein hebt
nicht an sich das moralische Gefühl auf, sie also lässt selbst
in der Beschränkung, dass der Wille nur nach =einer= Vorstellung
handeln kann, die Einsprache des Gefühles von Recht oder Unrecht, ob
überhaupt gehandelt werden solle, noch zu. Blödsinn stumpft zwar, sich
überlassen, gleichförmig Wahrnehmung, Ueberlegung, moralisches Gefühl
und Willen ab, damit aber lässt er noch ein relatives Gleichgewicht
zwischen den verschiedenen Seelenfähigkeiten zu, womit Freiheit der
Wahl oder Willensfreiheit in ihm entsprechendem Grade doch noch möglich
bleibt. Damit ist auch bei dem Inquisiten anzunehmen, =dass weder
ehemals, noch jetzt im gewöhnlichen Leben=, wenn nichts seinen geringen
Grad von Ueberlegungsfähigkeit Uebersteigendes vorkommt, und wenn er
nicht einen Anfall, weder von halber Bewusstlosigkeit, wie nach seinen
Paroxismen von Fallsucht, noch von verwirrter Unruhe, wie sie sich
in neuerer Zeit bei ihm ausspricht, hat, =seine Willensfreiheit nicht
absolut aufgehoben sei=.

Aber bei der krankhaften Dummheit, dem Blödsinne und der Abstumpfung
des moralischen Gefühles, worin der Inquisit durch die Epilepsie
verfallen ist, können =eben so leicht= Vorfälle sich ereignen, deren
Eindruck seine schwache Ueberlegungskraft =übersteigt=, die völlig
sein moralisches Gefühl übertäuben, seinen schwachen Verstand ganz
gefangennehmen und ihn gänzlich blos dem Antriebe, den Furcht oder eine
andere überwältigende Gemüthsaffektion erzeugt, überlassen, in welchem
Falle er dann keine Kraft, also auch kein =Mittel= mehr hätte, anders
als dieser Furcht gemäss zu handeln. In solchem Falle wird er =keine
Willensfreiheit mehr besitzen=, selbst wenn er dabei das Bewusstsein
des =einen=, hierbei seine ganze Seele unwillkürlich und ausschliessend
erfüllenden Gedanken, so wie der äusseren Umstände und seiner eigenen
Handlungen behielte, und deswegen nachher noch angeben könnte, wie es
zugegangen sei.

Wenn also nach der ganzen Ansicht des Seelenzustandes des gegenwärtigen
Verbrechers, wie sie aus den Akten hervorgeht, die =dritte Frage=
dahin beantwortet werden muss, dass bei dem Inquisiten Alles auf
die =jedesmaligen Umstände= ankommt, ob Willensfreiheit, also auch
Zurechnung bei ihm Statt finde, oder ob jene im minderen oder höheren
Grade beschränkt sei oder ganz aufgehoben, so wird, bemerkt nun das
Gutachten weiter, auch die =vierte Frage=: „Erscheint es nicht als
zweifelhaft oder gar als wahrscheinlich, dass der Angeschuldigte
zur Zeit, als er den Entschluss, seinen Vater zu tödten, fasste
und ausführte, sogar in einem Zustande völliger =Unfreiheit= seiner
Seele handelte?” blos aus der wahrscheinlichen Stärke der damaligen
Beweggründe zu dieser einzelnen That, aus ihren Verhältnissen zu
der Geistesschwäche und Krankheit des Verbrechers zu der Zeit,
oder aus ihrem wahrscheinlichen Einflusse auf Erregung einer, wenn
schon vorübergehenden, doch wirklich krankhaften Verrücktheit sich
beantworten lassen.

Der Verbrecher beging seine That nicht in der Trunkenheit, ungeachtet
er den Branntwein sehr liebte, wie überhaupt Blödsinnige stark
aufreizende Sinneseindrücke lieben, und wie die aus den gemeinen
Ständen namentlich gern Branntwein zu sich nehmen, weil sie ein dunkles
Gefühl ihrer Kopfschwäche haben; und obschon der Inquisit am Abend
vor seiner That mit seinem Vater in der Branntweinschenke gewesen war
und dort getrunken hatte. Es wird ausdrücklich durch Zeugenaussagen
bestätigt, dass weder der Vater noch der Sohn von jenem Branntweine
im =Mindesten betrunken= geworden seien. Eben so wenig bestand eine
eingewurzelte Feindschaft zwischen ihm und seinem Vater. Zwar hielt
dieser ihn unter genauer Aufsicht, zankte viel mit ihm, drohte öfters,
ihn wegzujagen, und der Sohn beschwert sich, dass er ihm so wenig oder
beinahe kein Geld gegeben habe, ungeachtet er dem Vater mit seiner
Weberarbeit so Vieles verdiente. Gleichwohl lebten Beide friedlich
miteinander, und der Sohn gibt selbst an: der Vater sei meistens gut
gegen ihn gewesen. „Er (der Sohn) habe ihn (den Vater) schier immer
leiden mögen. Der Vater sei meistens nur mit ihm verzürnt gewesen,
manchmal habe er aber auch nichts gesagt.”

Aber der Inquisit =fürchtete= sich so sehr vor allem =Zanke= selbst,
dass er, aus Abneigung vor solchem, lieber seinen Wunsch, ein Weib
zu nehmen, unterdrückte, so viel dieser Gedanke zu heiraten ihn auch,
wie selbst seine oben angeführten Aeusserungen nach der That zeigen,
beschäftigte.

Am meisten fürchtete er aber, =von seinem Vater aus dem Hause gejagt
zu werden und um sein Erbtheil dadurch zu kommen=; was freilich einem
Menschen, der wusste, dass er an einer für unheilbar gehaltenen
Krankheit leide, und der ohne Zweifel, dunkel wenigstens, seiner
zunehmenden Verstandesschwäche selbst zuweilen sich bewusst wurde,
nicht viel weniger, als ein völliger Untergang erscheinen musste.

Da er, wie schon angeführt wurde, eine zweite Heirat seines Vaters
vorauszusehen glaubte, so besorgte er, wenn er nicht mehr im Hause sein
würde, dass dann um so gewisser an Fremde das Vermögen kommen werde,
welches nach des Vaters Tod ihm gehört haben würde.

Erst jetzt, an dem Abende vor der That, nahm er sich vor, seinen Vater
todtzuschlagen. „Am =Abend=,” sagt er, „ist es geschehen; so ist es
angegangen: dass er =gebalgt= hat, und hat gesagt, =er wolle mich
fortjagen, und wenn so was ist, da weiss man nimmer, was man thut=.”

Auch lange nachher noch gibt er bei Gelegenheit, als er in seinem
Gefängnisse durch das Loos mit dem Gebetbuche und den Strohhalmen
erfahren wollte, ob er oder der Vater Schuld gehabt habe, an: da ist es
denn immer gekommen, dass ich's hab' =thun müssen=, weil er so gebalgt
hat.

Eben so, als er im Verhöre weinte und über die Ursache befragt wurde,
antwortete er: „Ich muss eben greinen, dass ich so was hab' =müssen
thun= -- und so da (im Gefängnisse) sein muss.”

Jene Beweggründe zu der Tödtung und ihr Einfluss auf den Seelenzustand
des Verbrechers ergeben sich bei aller Verwirrung und dem theilweisen
Widerspruche, der nicht selten in den Aussagen des verstandesschwachen
Inquisiten herrscht, allein konstant und klar. Das Verbrechen war
nicht vorbereitet, nicht vorbedacht, und wenn nach des Verbrechers oben
angeführten Aeusserungen, als er verhaftet abgeführt wurde, es scheinen
könnte, als wäre vielleicht der Entschluss zu dem Verbrechen schon
vorher, und zwar zu dem Zwecke, ein Weib nach des Vaters Tod nehmen und
ihn beerben zu können, gefasst worden, so widerspricht solcher Annahme
das, was in den Aussagen des Inquisiten beharrlich sich gleich bleibt;
auch die innere Uebereinstimmung dieser einfältigen Angaben unter sich
und mit dem ganzen Seelenzustande des Kranken, wie er sich auch durch
andere Umstände darstellt, spricht gegen eine solche Vermuthung. Jene
Aussagen des Inquisiten erscheinen um so mehr als blosse Aeusserungen
blödsinniger Freude über Errettung von dem gedrohten höchsten Uebel,
dem, durch Wegjagen um die Erbschaft zu kommen, als hierbei auf
die dümmste Art der Inquisit als Folge der Errettung diese für ihn
wichtigsten, heiteren Aussichten in die Zukunft sich vormalt. Jetzt
durfte er ja auch keine Furcht mehr haben, von seinem Vater wegen
seiner Heiratspläne =ausgezankt= zu werden, was zu vermeiden ihm doch
noch mehr am Herzen lag, als selbst ein Weib zu nehmen; denn auch
auf die Fragen: „Was habt Ihr wegen des Heiratens (damals, als der
Vater ihn deswegen ausgezankt hatte) weiter bei euch gedacht? Dachtet
ihr, ihr wolltet doch heiraten, oder habt ihr den Gedanken (damals)
aufgegeben?” antwortete er: „Nichts mehr habe ich gedacht, aus sein
lassen, ich hab' an nichts mehr gedacht.”

Der Inquisit gibt zwar selbst an, er sei bei der That zornig auf seinen
Vater gewesen, doch scheint es kein Anfall solchen blinden Zornes
gewesen zu sein, dass er darin nicht mehr gewusst habe, was er thue;
er gibt zu bestimmt den Zweck an, warum er die That begangen habe.
Und obschon er im Verhöre und im Gefängnisse leicht zornig wurde,
und selbst durch solche zornige Stimmung häufiger seine epileptischen
Anfälle bekam, so brach doch nie -- einen Fall offenbarer Verwirrung
im Gefängnisse ausgenommen -- sein Zorn in Heftigkeit oder in ein
Toben aus, in welchem er blos aus Zorn seiner nicht recht mächtig
gewesen wäre. Da auch keine Spur vorkommt, dass die That in einem
jener oben angeführten Anfalle geschehen wäre, wo der Kranke längere
Zeit untermischt seiner bewusst und doch dabei auch krankhaft verwirrt
ist, so scheint die Meinung des Oberamtsarztes, als sei die ganze That
wirklich „=in einem Furor, in der Raserei=” verübt worden, nicht ganz
begründet zu sein, denn =Verwirrtes= kommt bei der ganzen That, wenn
man die Verstandesschwäche des Inquisiten und den Zweck, den er seinen
eigenen Angaben nach vorhatte, beachtet, eigentlich gar nichts vor.
Auch hatte der Kranke am Tage des Verbrechens nur Vormittags einen
nicht starken, ihm sonst auch gewöhnlichen epileptischen Anfall. Er und
sein Vater betrugen sich den Tag über gegen einander wie gewöhnlich,
und ein Weibsbild, das dem Vater die Haushaltung führte, spürte nicht
das Geringste, dass sie wären übereinander erzürnt gewesen. Auch
Nachmittag zeigte sich nichts Auffallendes an dem Inquisiten, er hatte
auch einen epileptischen Anfall, und zwischen ihm und seinem Vater
war Einigkeit. Selbst Abends, als Vater und Sohn mit einander in der
Branntweinschenke waren, waren sie in ganz gewöhnlicher Verfassung,
gegenseitig sehr friedlich, und insbesondere der Sohn ganz ordentlich;
sogar noch beim Nachhausegehen Nachts um 10 Uhr verhielten sie sich
eben so. Auch bemerkte man, da die That bald entdeckt wurde, gleich
nach ihr am Angeschuldigten nichts Auffallendes. Sogar wollte er damals
die That mit einiger Schlauheit läugnen, sagte: „sein Vater habe ein
Loch in den Kopf gefallen. Er (der Sohn) habe das fallende Weh gehabt,
und sei die Stiege herab auf seinen Vater hingefallen.”

Nur nach völlig vollbrachter Tödtung scheint der Sohn, wahrscheinlich
aber erst durch die Grausamkeit seiner That selbst, einige
Augenblicke lang =verwirrt= geworden zu sein, wenn er nicht anders
aus Gedächtnissschwäche Umstände, die vorfielen, als schon Leute
hingekommen waren, mit Umständen, die, während er noch allein war,
sollten vorgekommen sein, späterhin beim Verhöre verwechselt hat. Er
gibt nämlich an, er habe seinem ermordeten Vater (zur Zeit, wo er noch
allein mit diesem im Hause war) das Geld genommen, „=weil so Leut 'rein
geschrien haben zu mir=.”

Späterhin sagte er, nachdem er angegeben, wo er seinem Vater noch drei
Streiche gegeben habe, und nun gefragt wurde, ob damals schon die
Wächter dazu gekommen seien: „Nicht gerad' Wächter, eben Leut', und
haben grausig gebalget.” Aber selbst wenn dieses nicht Verwechslung
der Zeit und der Umstände ist, wenn es Verwirrung war, so ist zu
bemerken, dass sie nicht während des Todtschlages, sondern erst
wie der Vater schon todt war, eintrat, und schon, ehe bald darauf
die Wächter kamen, wieder aufgehört haben musste. Wenn nun gleich
kein Anfall von eigentlicher =Raserei= als Grund des Verbrechens
angenommen werden kann, so muss doch schon das Grässliche eines
Vatermordes[109], besonders eines so grausamen, als dieser ist, und
wenn er aus so nichtiger Veranlassung auf eine so ganz unkluge Art
begangen wird, den Verdacht erwecken, dass es mit den Seelenkräften des
Thäters nicht richtig könne gewesen sein. Der Blödsinn des Inquisiten
war offenbar so gross, dass er ihn nicht einsehen liess, dass sein
Vater noch Nachts nicht werde zum Vogt gehen und werde ihn fortjagen
lassen, dass der Vogt nicht einen einzigen Sohn ohne Weiteres werde
fortjagen dürfen, und dass sein Vater ihm also mit seinem Weggehen nur
heftig drohen wolle. Der Inquisit musste, eben wegen seiner grossen
Verstandesschwäche, glauben, dass Alles dem Buchstaben nach und
sogleich so folgen werde, wie der Vater drohte. Er musste also auch
glauben, im Augenblicke werde für ihn das grösste Unglück, das sein
ganzes künftiges Leben bedrohe, erfolgen, und weil er unfähig war,
durch Ueberlegung auf einen anderen Gedanken zu kommen, =so musste
er völlig dieser seiner Furcht sich hingeben=, und zwar in einer
Gemüthsstimmung, wo ihm schon das Zanken des Vaters und die Drohung mit
dem Vogte den grössten Widerwillen erregt hatte. Seine fast thierische
Dummheit =musste= ihn nun beim einfachsten Schlusse stehen bleiben
lassen: das drohende Unglück lasse sich nicht anders verhindern, als
wenn der Vater =gleich jetzt= verhindert werde, es herbeizuführen.
Der =Vater= selbst =konnte= dabei =nicht= in Betracht kommen, da der
nämliche Blödsinn selbst nachher noch den Angeschuldigten hinderte,
die Strafbarkeit des Todtschlages eines Vaters auch nur einzusehen
(so gänzlich also auch das moralische Gefühl des Sohnes abgestumpft
und geschwächt hatte), und da derselbe dumme Blödsinn hinderte, dass
der Sohn hätte überhaupt verschiedenartige Gedanken oder Vorstellungen
von der Sache gleichzeitig nach einander sich machen =können=. =Einen=
Gedanken hatte er aber schon, der seine ganze Seele schnell erfüllte,
den der Furcht für eigene Existenz. Also =konnte= in seiner Seele
kein innerer Streit entstehen, es =konnte= in ihr damals nichts
für den Vater sprechen. Der Sohn =musste= sich also unwillkürlich
entschliessen, um sich zu retten, =den Vater sogleich unthätig zu
machen, das Unglück auszuführen=. Daher gab er auch so oft bei der
Untersuchung auf alle Fragen, ob er denn sonst bei seinem Entschlusse
oder seiner That an nichts weiter gedacht habe, zur Antwort: =er
habe an nichts gedacht=. Zurückhalten konnte er den Vater nicht, weil
dieser, den Akten nach, ein sehr starker Mann war, so viel sah er wohl
noch ein. Aber von hinten todtschlagen konnte er ihn, wenn er eine Axt
nahm, das begriff diese, alle die wenige noch mögliche Ueberlegung
auf einen Punkt der Selbsterhaltung beschränkende Dummheit. Weitere
Auskunftsmittel, als dieses nächste, =konnten= dem Blödsinnigen, der
an nichts Weiteres denken konnte, nicht einfallen. =Er musste also,
weil er keine Wahl zwischen verschiedenen Empfindungen und Gedanken,
sondern nur Eine Empfindung und Eine Vorstellung hatte und haben
konnte=, da ihn doch die grösste Furcht, die sich seiner ganzen Seele
bemächtigt hatte, sogleich zum Handeln trieb, =den Vater todtschlagen=,
weil ihm unglücklicher Weise nur dieses einfiel und nichts Zweites
dabei einfallen =konnte=. Er =musste= nun in seiner zornigen Angst
dieses mit all' dem Eifer und der Beharrlichkeit, was der aufgeregten
Dummheit eigen ist, thun, ohne dass er daran denken =konnte=, dass er
durch seine Handlung seinen ganzen eigentlichen Zweck selbst wieder
vernichte, und er das gefürchtete Unglück, sein Haus und Vermögen zu
verlieren und kein Weib zu bekommen, viel gewisser selbst herbeiführe.

  [109] Es bedarf hier wohl kaum der Bemerkung, dass in diesem
      medizinischen Gutachten mit den Ausdrücken Mord und
      Todtschlag nicht genau die unterscheidenden Begriffe von Mord
      und Todtschlag verbunden sind.

Dass dieses der eigentliche Hergang der That gewesen sei, ergibt
sich aus der Betrachtung aller Aussagen und des sonstigen Benehmens
des Inquisiten. Es kann ihm bei der That der Gedanke immerhin dunkel
vorgeschwebt haben, dass, da er seinem Vater, der ehemals Schulden
hatte, so viel verdient habe, das Erbe, dessen ihn dieser berauben
wolle, eigentlich sein sei, und dass, wenn er jetzt den Vater so gewiss
verhindere, ihn unglücklich zu machen, jener auch für immer daran
verhindert sei. Der Inquisit konnte in seiner Dummheit hoffen, mit dem
Tode des Vaters sei er selbst überhaupt für immer aller Besorgnisse,
die ihn früher schon so manchmal gepeinigt hatten, überhoben. Es ist
ebensowohl gewiss, dass der gerade jetzt durch das Zanken wieder
erweckte augenblickliche Hass gegen seinen Vater, da dieser alles
seiner Seele Unangenehme in der Zeit auf ihn gehäuft hatte, seinen
Entschluss vollends zum einzigen ihm möglichen Gedanken erhob, und auch
gar kein moralisches Gefühl mehr aufkommen liess.

Höchstens schienen seine Sinne noch etwas „Grausiges” beim Schlagen
und beim Anblicke des Blutes empfunden zu haben, daher ihn vielleicht
am Ende des Todtschlages einige oben bemerkte Verwirrung befiel. Aber
selbst im Gefängnisse noch musste ihn der Oberamtsrichter erst fragen,
ob es ihm denn nicht grausig wäre, in dem Hause zu sein, wo er den
Vater todtgeschlagen, bis er zugab: „Grausig wäre es mir g'sein, aber
sonst weiss ich nirgends hin.”

Wäre es blos Zorn gewesen, der etwa schnell den Inquisiten übermannt
hätte, so wäre nach der argen That mit dem Aufhören des Zornes früher
oder später verhältnissmässige Reue erfolgt. Da dieses nicht der Fall
war, da der Inquisit gleichsam erst mit Mühe durch den Oberamtsrichter
darauf geleitet werden musste, so beweist dieses wohl noch mehr,
dass der Inquisit so gut lange nachher noch, wenigstens dunkel, sich
bewusst blieb, er habe damals bei seinem Verstande nicht anders
denken, empfinden und handeln können. Auch kommt in den Aussagen
des Inquisiten nie etwas vor, das anzeigte, er habe seinem Vater
gleichsam nur zur Wiedervergeltung Leid zufügen wollen; der Eifer,
womit er ihn nur „=gewiss todt haben wollte=,” zeigt im Gegentheile,
dass der herrschende Gedanke bei der schrecklichen That blos der an
die sicherste Abwendung des dem Inquisiten selbst drohenden grossen
Unglückes war.

Daher weiss er auch in der ganzen Untersuchung nur das noch mit
Bestimmtheit anzugeben, was Bezug auf diesen einzigen Gedanken und auf
das Mittel, nämlich auf das „Gewisstodthaben” des Vaters, hat; in allen
übrigen Umständen: in dem Geldwegnehmen, in der Zeit, wann der Vater
zum Balgen angefangen, ob er und der Vater schon im Bette gewesen u.
s. w., verwickelt er sich immer in Widersprüche, offenbar weil diese
unwesentlichen Umstände noch nicht tiefen Eindruck genug auf sein
schwaches, damals noch nicht stark genug erregtes Vorstellungsvermögen
gemacht hatten.

Dabei ist aber schon angezeigt worden, dass die That selbst auch nicht
in eigentlicher kranker Verwirrung, die gar nicht mehr weiss, was sie
thut, geschah. Wäre zuletzt eine solche auch eingetreten, so ist sie
mehr als zufällige Folge, welche durch die That hervorgebracht wurde,
anzusehen, als dass sie die That veranlasst hätte, ohne dass deswegen
in anderen Fällen eine offenbare Verwirrung, wie solche ein Jahr
vor der That und nach ihr den Inquisiten im Gefängnisse befiel, ein
Entstehen derselben auch aus der Krankheit in Zweifel gezogen werden
könnte. Einerlei Ursache, nämlich seine Hirnkrankheit, verursacht
seine blödsinnige Dummheit, die im einzelnen Falle in ihrer Art noch
konsequent und mit Bewusstsein des Zweckes verfahren kann, so wie,
zuweilen gesteigert, die Annäherung zu vorübergehender eigentlicher
Verrücktheit.

Wenn aber dieser Todtschlag selbst keiner damaligen eigentlichen
Verrücktheit, die das Bewusstsein aufhebt, zugeschrieben werden kann,
so war dessen ungeachtet die Seele des Inquisiten damals bei dieser
That =ganz unfrei=, denn Freiheit der Seele kann nicht ohne Wahl
zwischen Gegenüberstehendem bestehen; wo aber nur =Ein= Gedanke oder
nur =Eine= Vorstellung möglich ist, da ist keine Wahl mehr möglich,
sondern es findet völlige Gebundenheit des Willens Statt.”

Nach allem Diesem beantwortete die Fakultät die ihr vorgelegte =vierte=
Frage dahin: es sei anzunehmen, dass der Angeschuldigte zur Zeit, als
er den Entschluss, seinen Vater zu tödten, fasste und ausführte, in
einem Zustande =völliger Unfreiheit= seiner Seele gehandelt habe. Sie
schloss dann ihr Gutachten mit der Aeusserung: dass, da _Grotz_ bei der
fraglichen That seinem kranken Zustande gemäss habe handeln =müssen=,
so würden ihm wohl auch die daraus =nothwendig= unter den damals
gegebenen Umständen entspringenden Ereignisse =nicht zugerechnet=
werden können. Aber eben deswegen sei er ein für die Sicherheit
Anderer =gefährlicher= Kranker, den der Staat so lange verwahren und
in eine Lage versetzen müsse, wo ihm das Vollbringen ähnlicher Thaten,
fühlte er sich auch dazu gedrungen, unmöglich werde, bis einmal seine
Krankheit selbst ihn erlöse. Diese sei aber wegen ihrer langen Dauer,
und ihrer Art nach (=als idiopathische Hirnepilepsie=) für unheilbar zu
achten.

Auf den Grund dieses Gutachtens, welches nach seiner sorgfältigen
Ausführung und bestimmten Fassung für den Richter keinen Zweifel mehr
über die =Zurechnungsfähigkeit= des _Grotz_ übrig lassen konnte, fasste
sonach der Kriminalsenat des hiesigen Gerichtshofes, ohne den Ausspruch
eines =förmlichen Urtheiles= angemessen zu finden, blos den Beschluss:
den Angeschuldigten rücksichtlich der an seinem Vater verübten Tödtung,
als einer im Zustande völliger Zurechnungslosigkeit beschlossenen und
vollbrachten That, straflos zu belassen, die erwachsenen Arrest- und
Untersuchungskosten aus seinem Vermögen zu erheben, und ihn sofort als
einen der öffentlichen Sicherheit gefährlichen und wohl unheilbaren
Kranken der polizeilichen Behörde Behufs seiner Verwahrung in dem
Irrenhause oder einer anderen angemessenen Anstalt zu übergeben.

In Gemässheit dieses Beschlusses wurde dann _Grotz_ in das =Irrenhaus
zu Zwiefalten= überliefert, wo er sich auch jetzt noch befindet[110].

  [110] Der Verfasser dieser Darstellung hat im April 1829 (nur
      kurz vor dem Niederschreiben derselben) die würtembergische
      Irrenanstalt in Zwiefalten besucht, und dort den
      epileptischen _Grotz_ selbst gesehen und gesprochen. Er
      musste dadurch in seiner Ueberzeugung von der Richtigkeit
      des Urtheiles der hiesigen medizinischen Fakultät über den
      körperlichen und physischen Zustand dieses Menschen und
      dessen nothwendige Verwahrung im Irrenhause nur noch mehr
      bestärkt werden. _Grotz_ sah ihn beim Eintritte in seine
      Zelle, wo er halb auf dem Bette lag, mit finsterem und
      ziemlich stierem Blicke an, gab auf einige allgemeine Fragen
      nur mit Widerwillen abgebrochene Antworten, und die allmälig
      an ihn gebrachten speziellen Fragen: warum er hier sei, was
      er gethan habe, wo sein Vater sei u. s. w., erwiderte er
      stets auf gleiche Weise mit: „Ich weiss noiz (nichts).” Dass
      er sich auf den grässlichen Vorgang mit seinem Vater gar
      nicht mehr einlasse, und davon auch gar keine Erinnerung mehr
      zu haben scheint, wurde auch von den Aufsehern versichert.
      Seine epileptischen Anfälle sind übrigens dort noch eben so
      häufig und stark wie früher.



D.

_Der phränologisch untersuchte Brandleger J. Kläger, nebst Bemerkungen
über das Heimweh._


Noch bevor dieses Werk vollendet war, erschien in der „Allgemeinen
Zeitung” vom 3. Dezember 1845 nachfolgender Artikel, welcher eine
Nachricht bringt, an deren Möglichkeit ich sowohl, als wahrscheinlich
der grösste Theil meiner verehrten Leser, gezweifelt haben würde,
dass man es nämlich im Ernste unternommen habe, die Phränologie zur
Ausmittlung der Zurechnungsfähigkeit eines Verbrechers in Bezug auf
seine verübte That anzuwenden.

Der Artikel, von dem die Rede ist, lautet folgendermassen:

„=Würtemberg.= (Tübingen.) Vor Kurzem stand hier wiederum ein
jugendlicher, kaum 15 Jahre alter Verbrecher vor Gericht, der
Brandlegung geständig. -- Er habe, sagt der Beschuldigte, während
seiner zwölftägigen Abwesenheit von seinen Eltern arg Heimweh
gehabt; als seine Eltern nicht darauf hätten eingehen wollen, ihn
zurückzurufen, sei es ihm in den Sinn gekommen, dass er durch Anzünden
des Hauses sich die Rückkehr sichern könne. Zwei Tage vor dem Brande
habe ihm geträumt, das Ritterwirthshaus stehe in Flammen und seine
Kleider seien verbrannt. Als das Heimweh wieder über ihn gekommen,
habe er sich auf die Bühne geschlichen und dort ein Zündhölzchen
in's Stroh gehalten. Nach der That sei er ruhig hinab gegangen,
habe die Stiefel ausgezogen und der Magd zum Reinigen übergeben,
um durch solche Unbefangenheit den Verdacht von sich abzulenken.
Sonst habe er geglaubt, höchstens der Dachstuhl werde niederbrennen,
nicht aber das ganze Haus. =Das Gutachten des Oberamtsarztes hatte
zu seiner Entschuldigung angeführt, dass die starke Entwicklung des
Mittelhauptwirbels sich nach _Carus_ dem Verbrechertypus nähere=, die
Entwicklungsjahre die natürliche Anlage[111] zum Ausbruche gebracht
hätten, und ausserdem das krankhafte Heimweh einen Zustand des
Irrsinnes herbeigeführt haben kann[112]. Die medizinische Fakultät in
Tübingen verwarf aber solche Argumentation auf das Bestimmteste, und
bemerkte dagegen, dass die Kopfformation des Beschuldigten auch nach
_Carus_[113] nicht auf Inklination zu Verbrechen hinweise; übrigens
sei die ganze Phränologie in solcher Beziehung zweifelhaft, Heimweh
beeinträchtige die Zurechnungsfähigkeit nicht, und die körperliche
Entwicklung des Verbrechers stehe durchaus im normalen Verhältnisse.
Das Streben des oberamtsärztlichen Gutachtens sei offenbar darauf
gerichtet, den Begriff der Pyromanie zu retten, sie könne solche
nicht anerkennen. -- Der Gerichtshof verurtheilte den Beschuldigten zu
siebenjähriger Zuchthausstrafe.”

  [111] Welche Anlage? Die Anlage zum Verbrecher=typus=? Was lag
      daran, so lange nicht bewiesen ist, dass dem Typus auch
      Handlungen entsprechen =müssen=.

  [112] Das war es eben, worüber das ärztliche Zeugniss verlangt
      wurde; man wollte ohne Zweifel von Seite des Gerichtes
      wissen, ob ein solcher Zustand =vorhanden war= oder nicht,
      als man den Arzt fragte, denn dass der Junge irrsinnig
      gewesen sein =könne=, hat wohl Niemand bezweifelt.

  [113] Wenn auch Dr. _Carus_, was ich sehr bezweifle, von einem
      =Verbrechertypus= gesprochen haben, und nicht vielmehr die
      physische Anlage zu gewissen, den Verhältnissen und insofern
      auch den Gesetzen trotzenden Handlungen gemeint haben sollte,
      so ist und bleibt dies doch nur die Ansicht eines =einzelnen=
      Mannes, und kann noch dazu sehr leicht missverstanden werden.
      Uebrigens ist der Schluss von einem Verbrechertypus auf einen
      unwiderstehlichen Hang zum Begehen eines Verbrechens falsch,
      denn der Verbrechertypus kann höchstens so viel bedeuten,
      als: Jeder, der dieses Verbrechen beging, hatte diesen Typus;
      es folgt daher höchstens (und dies ist mehr als man zugeben
      kann): Jeder, der den Typus nicht hat, hat auch keinen Hang
      zu dem Verbrechen; falsch geschlossen ist es aber, zu sagen:
      wer den Typus hat, habe auch den Hang zu dem Verbrechen. Ein
      solcher Schluss wäre ungefähr eben so richtig, als wenn man
      sagen würde: ein Bär hat braune Haare, der X hat auch braune
      Haare, folglich ist der X ein Bär.

       *       *       *       *       *

Da unter den im Verlaufe des von Gemüthszuständen handelnden Aufsatzes
das =Heimweh= nicht vorkommt, so glaube ich hierüber erinnern
zu müssen, dass dasselbe in seiner Entstehung nicht etwa eine
=Krankheit=, sondern derjenige Gemüthszustand ist, der nothwendig
bei jedem nicht ganz gefühllosen Menschen entstehen muss, welcher
aus gewohnten ihm liebgewordenen Verhältnissen hinaustritt, welche
Empfindung den natürlichen Wunsch erzeugt, wieder in die gewohnten
Verhältnisse zurückzutreten. -- Ob dieser Wunsch entsteht, wird von der
Lebhaftigkeit des früheren Eindruckes, von dem Kontraste der Gegenwart
und von der moralischen Gewalt, welche der Mensch über seine Phantasie
hat, ferner von dem Grade seiner Empfänglichkeit für äussere Eindrücke
überhaupt, und endlich von dem grösseren oder geringeren Kreise
abhängen, in welchem er seine Vorstellungen zu üben gewohnt ist. Der
Gebirgsbewohner, dessen Vorstellungen in jene, welche ihm seine Berge
liefern, wie mit einem natürlichen Rahmen eingefasst sind, wird mehr
zum Heimweh geneigt sein, als der Flachländer, dessen Phantasie nicht
mit so stereotypen Randzeichnungen in ihren Thätigkeiten versehen ist,
der Letztere vermisst daher nicht immer etwas, wenn er seine physische
Existenz ändert, wohl aber empfindet ein Flachländer, welcher mit
Einemmale in das Gebirge versetzt wird, ein Etwas in seinem Inneren,
welches etwa ein in einem Käfige eingesperrter Vogel empfinden mag; es
ist nicht Heimweh, wohl aber ein Sehnen, einmal wieder frei in der Welt
umher sehen zu können.

Das Heimweh ist daher nichts Anderes, als das Gefühl der Entbehrung
des Anblickes gewisser sehr bestimmter Gegenstände, und unterscheidet
sich daher von der Sehnsucht, aus einer gewissen Lage zu kommen,
dadurch, dass es eine Sehnsucht nach etwas =Positivem= ist, während
die Unbehaglichkeit eines anderen Menschen, welcher irgendwo
verweilen muss, wo er lieber nicht wäre, nur ein =negativer= Zustand,
nämlich das Hinwegwünschen gewisser unbehaglicher Eindrücke ist. Die
Richtigkeit dieser Bemerkung ergibt sich auch durch den Umstand, den
ich mehr als einmal zu beobachten Gelegenheit hatte, dass nämlich
der Gebirgsbewohner schon von Heimweh geplagt wird, wenn er nur von
dem Thale A, in dem er geboren ist, in das nur ein paar Meilen davon
entfernte Thal B versetzt wird, welche Erscheinung sich dadurch
erklärt, weil er bei der Beschränktheit des Lokales, in dem er lebt,
und bei der geringen Anzahl von Familien, die es bewohnen, gewohnt
ist, eben so jeden einzelnen Menschen, als jeden einzelnen Felsen
genau zu kennen, es ihm daher ganz unerträglich scheinen muss, unter
Verhältnissen zu leben, wo er die Menschen erst kennen lernen soll,
was sich früher Alles von selbst machte, und wo ein jeder Berg nach
dem Grundsatze, dass es nicht zwei ganz gleiche Gegenstände gibt, eine
andere geometrische Figur hat.

Hierin liegt die entschiedene Veranlassung des Heimwehes; es ist eine
Sehnsucht nach einem Komplex bestimmter Gegenstände, und ist eben darum
von weit dauerhafterer Wirkung, als jede andere Sehnsucht nach einem
einzelnen bestimmten Gegenstande, z. B. nach einer abwesenden oder
verstorbenen Geliebten u. s. w., weil es auch viel mehr Gegenstände
gibt, die ihm das Entbehrte in Erinnerung bringen. Jeder Stein sieht am
Ende dem anderen gleich und ruft ihm die Steine seiner Heimat zurück,
jede Hirtenschalmei hat am Ende einige Aehnlichkeit mit dem Kuhreigen,
eine Kuh brüllt wie die andere. Es ist eine auffallende Erscheinung,
dass diejenigen Gebirgsbewohner, welche wegen eines Vergehens
eingesperrt sind, viel weniger am Heimweh leiden, als diejenigen,
welche entfernt von ihrer Heimat frei herumgehen; die Nothwendigkeit,
sich mit ihren eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen, und der Mangel
an Gegenständen, welche sie an ihre Heimat erinnern, weil sie ausser
den Mauern ihres Gefängnisses sonst nichts zu sehen bekommen, erklärt
jedoch diese Erscheinung vollkommen.

Heimweh ist also eine Sehnsucht nach Etwas, welches nicht da ist,
und zwar nach Gegenständen, die dem Menschen durch seine Gewohnheit
und Ungewohntheit, sich ohne dieselben im Leben zu bewegen, schwer zu
entbehren sind. Dieser Zustand ist aber ein ganz natürlicher, wenn man
die Verhältnisse betrachtet, in welchen ein solcher Mensch früher zu
leben gewohnt war. Es ist also auch ganz natürlich, dass ein solcher
Mensch wieder in seine vorige Lage zu kommen wünscht. Darin liegt aber
weder mehr noch weniger Motiv zur Begehung eines Verbrechens, als bei
jedem anderen Menschen vorhanden ist, welcher irgend ein Uebel von sich
zu entfernen, oder irgend ein wahres oder erträumtes Glück zu erreichen
strebt.

Heimweh kann aber so wie jede andere nicht gestillte Sehnsucht durch
seine Rückwirkung auf den Organismus Krankheiten, und zwar um so mehr
Krankheiten erzeugen, welche sich durch ein gestörtes Seelenvermögen
aussprechen, weil dasselbe überhaupt grösstentheils durch die
Seelenthätigkeit entsteht. Dies =kann= geschehen, es =muss= aber nicht
geschehen, wie es unzählige Beispiele von Leuten gibt, die allerdings
an Heimweh leiden, sich aber durchaus vernünftig benehmen.

Wo also in einem bestimmten Falle nichts mehr vorliegt, als dass
Jemand am Heimweh leide, so folgt auch daraus nichts mehr, als dass
er eine Anlage habe, krank zu werden, =dass= er aber krank wurde, dass
diese Krankheit eine Seelen=störung=, und dass diese Seelenstörung der
einzige Grund eines bestimmten Verbrechens sei, muss ganz auf dieselbe
Art, nicht durch das Vorhandensein des =Heimwehs=, sondern durch
=andere= Thatsachen, welche für die Verübung des Verbrechens als Folge
der Seelenstörung sprechen, geliefert werden, wie es in anderen Fällen,
wo ein solcher Beweis zu liefern ist, zu geschehen hat.

Es erhellt daher, dass man sehr Unrecht hat, das Heimweh ohne Weiteres
für eine Krankheit zu halten, und dass man noch mehr gegen die
Gerechtigkeitspflege sich versündige, wenn man dem einzigen Umstande,
dass Jemand sich nach seiner Heimat sehne, irgend einen rechtlichen
Einfluss einräumt, ohne weitere, für das Vorhandensein einer
Seelenstörung sprechende Thatsachen zu verlangen.

       *       *       *       *       *

Ganz sonderbar muss es jedoch jeden Leser überraschen, die
=Phränologie= zur Ausmittlung der Zurechnungsfähigkeit angewendet zu
sehen. Man wird unwillkürlich dadurch an jene Gerichtssitzung erinnert,
wovon in den „physiognomischen Reisen[114]” Erwähnung geschieht, bei
welcher man gegen einen Kerl, welcher auf falsche Brandbriefe gebettelt
hatte, mit der Tortur vorgehen wollte, weil seine Physiognomie von
der Art war, dass man ihn für den Bösewicht halten musste, der den
Kelch vergiftet habe. Der vermeintliche Giftmischer entsprang, und
nachträglich zeigte es sich, dass das vermeintliche Gift nichts
Anderes, als ein ganz unschädlicher Staub gewesen sei, der durch einen
Zufall in den Kelch der protestantischen Kirche gerathen war.

  [114] _Musäus_' „Physiognomische Reisen.”

Phränologie und Physiognomik können möglicher Weise irgendwo gute
Erfolge haben, denn jede Forschung, welche mit Eifer und einem tieferen
Eingehen in die Sache betrieben wird, kann durch einen glücklichen
Zufall auf eine wichtige Entdeckung führen.

Im Mittelalter forschte man nach Universalarzneien, und erfand das
Schiesspulver, welches eine sehr wichtige Entdeckung ist, und wodurch
das Problem der Auffindung einer Universalarznei, wenn man sich nicht
an der Form der Dispensirung und an der allerdings etwas heftigen
Primärwirkung stossen will, sogar als gelöst betrachtet werden kann.
So kann auch die Phränologie zu wichtigen psychologischen Entdeckungen
führen, allein ehe diese Entdeckungen gemacht und über allem Zweifel
erhaben begründet sind, ist es widersinnig, darauf Resultate für das
praktische Leben, am wenigsten in der Art gründen zu wollen, dass man
den Weg einer praktischen, bewährten Beobachtung =verlässt=, und um
die Wahrheit zu entdecken, zur Phränologie seine Zuflucht nimmt. Das
Höchste, welches in dieser Art jemals erreicht werden kann, wird nur
darin bestehen, dass einzelne Menschen, welche mit einer sehr scharfen
Beobachtungsgabe begabt sind, und dem phränologischen Studium einen
wesentlichen Theil ihres Lebens gewidmet haben, das Vorhandensein oder
den Abgang gewisser =Anlagen= bei einem Subjekte entdecken werden.

Selbst diese Kenntniss bleibt aber für die Rechtspflege =unfruchtbar=,
da Niemand zweifelt, dass Derjenige, welcher eine gewisse That beging,
irgend eine Anlage zu derselben =müsse= gehabt haben, da ohne Anlage zu
Etwas gar kein Streben zur Ausführung =denkbar= ist. Ein Mann, dessen
Sexualsystem nicht entwickelt ist, wird keine Nothzucht begehen, dies
ist gewiss, allein daraus folgt nicht im Mindesten, dass Derjenige,
welcher dieses Verbrechen begeht, darum, weil er durch seinen _Stimulus
sexualis_ dazu veranlasst wurde, auch nothwendig das Verbrechen habe
begehen =müssen=. Was man also durch die phränologische Untersuchung im
besten Falle zum Behufe der Rechtspflege erfahren kann, ist daher eine
Thatsache, die ohnehin Niemand bezweifelt, nämlich, dass ohne Anlage
zu einer bestimmten Thätigkeit eine solche niemals erfolgen wird,
der Schluss aber, ob die Anlage wirklich so =überwiegend= sei, dass
der Mensch unter allen möglichen Verhältnissen dieser Anlage gemäss
handeln oder irgend eine Thätigkeit unterlassen =muss=, wie etwa ein
Blindgeborner unter allen möglichen Verhältnissen keine Thätigkeit üben
kann, wozu die Funktion des Sehens gehört, bleibt immer =ausserhalb=
der Grenzen der Phränologie, da es unmöglich ist, durch die Befühlung
oder Betrachtung der Schädelknochen auch die Stärke der auf den
Menschen =sonst= einwirkenden Verhältnisse zu berechnen.

Leistet aber die Phränologie dieses =nicht=, so kann sie auch nichts
über die Möglichkeit, von der natürlichen Freiheit des Willens =gegen=
die Anlage, welche die Schädelknochen ausdrücken, Gebrauch zu machen,
entscheiden, und könnte daher höchstens dort von einigem Einflusse
sein, wo entschiedene =Missbildungen=, wie z. B. bei Kretins, vorhanden
sind, welche Missbildungen aber bisher ohne phränologisches Studium auf
einem anderen Wege entdeckt wurden.

Selbst in der Hand des =Meisters= kann die Phränologie daher nur in
solchen Fällen für die Rechtspflege etwas Entscheidendes leisten, wo
man auch auf =anderen= Wegen =Dasselbe= erfahren kann; ausser diesen
Fällen, wo man ihrer jedoch =nicht bedarf=, wird sie, auch von der
Hand des Meisters geübt, nie zu einer =Entscheidung= führen, und
könnte höchstens dort von einiger Bedeutung sein, wenn ein Subjekt eine
charakteristische Art von Thätigkeit =wiederholt= ausübte, und dadurch
auf die Vermuthung führt, dass ihr eine =krankhafte= Verstimmung zu
Grunde liege, um nachzuweisen, dass =auch= die Wirbelformation bei dem
Subjekte eben so gestaltet sei, wie bei anderen Subjekten, bei welchen
sich eine =ähnliche krankhafte= Aeusserung gewahren liess, woraus sich
dann, in =Verbindung= mit anderen Erhebungen, der Schluss rechtfertigen
liesse, die verübte That sei die Folge einer durch eine =besondere=
Anlage eingetretenen =krankhaften= Verstimmung gewesen. Der Ausspruch
des Phränologen wäre hiermit höchstens =einer= von den Gründen, das
Subjekt für =krank= zu halten, welcher wohl in Verbindung =mit= den
übrigen Erhebungen, niemals aber =ohne= oder gar =gegen= dieselben
berücksichtigt werden könnte.

Selbst dieses gilt nur höchstens in dem Falle, wo ein Mann, welcher
entschiedene Proben von Erfahrungen in dieser Beziehung abgelegt hat,
derlei ausspricht; es ist also selbst diese =unbedeutende= Giltigkeit
des Einflusses des phränologischen Wissens nur ein =Ausnahmsfall=.
Dagegen erscheint der Ausspruch eines jeden Anderen, bei welchem diese
Voraussetzung nicht auf eine vollkommen erprobte und anerkannte Weise
eintritt, als vollkommen =bedeutungslos=, denn es ist zuverlässig
nicht leichter, ohne eigene vielfältige Beobachtung nur einigermassen
ein erträgliches Resultat aus der Konstruktion der Wirbelknochen zu
abstrahiren, als -- das Wetter zu prophezeien. Ein Uebersehen einer
ganz unbedeutenden veränderten Lage dieser Theile muss nothwendig zu
eben so grossen Missgriffen führen, als wenn man z. B. übersieht, dass
die Scala eines Barometers, statt nach Pariser, nach Wiener Zollen
eingetheilt ist. Wer Vorliebe für derlei Beobachtungen hat, wird
freilich nicht in Verlegenheit sein, auch die unrichtigsten Aussprüche
zu rechtfertigen, und in dieser Beziehung wird es der Phränologie ohne
Zweifel so ergehen, wie es der Physiognomik erging. _Lavater_ erkannte
in der Physiognomie _Gellert's_, dessen Rechtschaffenheit über allem
Tadel erhaben war, die Züge eines Erzspitzbuben, und _Gellert_ in
seiner Gutmüthigkeit erklärte, dass er in seiner Kindheit wirklich
einige Diebereien verübt habe. Was beweist also ein solches Urtheil,
welches der Wirklichkeit so ganz entgegen ist? Auf diese Art lässt es
sich auch rechtfertigen, wenn man in der Physiognomie eines _Cartouche_
die Züge eines grundehrlichen Mannes erblickt, denn wahrscheinlich gab
es eine Zeit, wo _Cartouche_ noch nicht gestohlen hat. Es ist nicht
schwer, ein Prophet zu sein, wenn =falsche= Voraussagungen auch für
Prophezeiungen gelten; wer sich aber darnach richten wollte, bleibt
angeführt.


Gedruckt bei J. P. =Sollinger=.





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Die gerichtliche Arzneikunde in ihrem Verhältnisse zur Rechtspflege, mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Gesetzgebung - Zum Gebrauche für Ärzte, Wundärzte und Rechtskundige - dargestellt und mit entscheidenden Thatsachen begründet" ***

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