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Title: Ein livländisch Herz - Katharina I. von Russland Author: Freimark, Hans Language: German As this book started as an ASCII text book there are no pictures available. *** Start of this LibraryBlog Digital Book "Ein livländisch Herz - Katharina I. von Russland" *** [Illustration] Ein livländisch Herz [Illustration: Kaiserin Katharina I. von Rußland Nach einer Federzeichnung von J. Rigaud] Ein livländisch Herz Katharina I. von Russland Geschichtlicher Roman von Hans Freimark Siebzehntes bis einundzwanzigstes Tausend [Illustration] Verlag von Rich. Bong, Berlin W. Alle Rechte, auch das der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Copyright 1918 by Rich. Bong, Berlin. Druck von Hallberg & Büchting in Leipzig I. Vor Narwa schanzten die Russen. Der Zar Schulter an Schulter mit seinen Preobraschenskern. Die Leute waren nicht eben emsig beim Werke. Es fegte ein widriger, naßkalter Nordwest von der See her über die livländische Ebene, ließ das Gebein erstarren und lähmte die Finger. Unverdrossen nur der eine: Zar Peter. Witternd sogen seine Nasenflügel den herben Salzgeruch, den der Wind mit sich trug. Die festen breiten Hände stießen den Spaten mit verbissenem Eifer in den angefrorenen Boden. Der Oktober ging zu Ende. Seit einem Monat lag er vor der schwedischen Festung, und der leichte Sieg, den er sich erhofft hatte, wollte sich noch immer nicht einstellen. Klatschend warf er die abgestochenen Schollen um sich her zu Haufen. Stunde um Stunde stand er schon im kleinlichsten Fronwerk. Der Schweiß rann in Strömen über seine aufgewühlten Züge. Einer der Garden, sein Nachbar, trat dicht an ihn heran, hob den schmutzigen, fettigen Ärmel und fuhr ihm wischend über das feuchte Gesicht. Dabei murrte er gutmütig: »Solltest dich schonen, Väterchen, deine Kraft sparen.« Peters Augen blitzten den Mann an: »Narwa muß mein werden. Morgen.« Der große ungeschlachte Mensch nickte bedachtsam: »Der heilige Nikolaus behüte dich, Väterchen. Du bist zu eilig. Das Korn wird auch nicht in einem Tage gedroschen, und schließlich sitzt du doch am Tisch und ißt das Brot aus dem feinen Mehl.« Über die rechte Wange des Zaren lief ein heftiges Zucken, die Schläfenadern schwollen zu dicken Schlangen, stoßend kamen die Worte aus dem zusammengepreßten Munde: »Nicht immer ist der der Essende, der der Dreschende war.« Der Preobraschensker stieß gelassen die mächtigen Schultern in die Höhe: »Wie's der Herr gibt. Was der Vater sät, ist Gut den Seinen. Einen rechten Vater freut das Säen um des Sattwerdens seiner Kinder willen.« Die Schippe flog beiseite. Die Fäuste des Zaren packten den Mann und rückten sich die derbe Gestalt gerade vors Gesicht: »Sage das noch einmal!« Gehorsam wiederholte der Gardist den Spruch: »Einen rechten Vater freut das Säen um des Sattwerdens seiner Kinder willen.« Ganz langsam sagte er es, einfach, voll gläubiger Zuversicht. Im Gesicht des Zaren jagte ein Zucken das andere. Die Finger, die den Soldaten hielten, bohrten sich krampfig in die klebrige erdige Wolle von dessen Schafpelz. Der Atem fuhr in heißen Wellen aus der schwer ringenden Brust. Den Mann focht dies seltsame Wesen nicht an. Gleich einer Bildsäule hielt er sich. Unverändert war in seinen groben Zügen der Ausdruck grenzenlosen Vertrauens. Ein helles, strahlendes Licht brach aus den großen tiefen Augen Peters! Er bezwang den Aufruhr seiner Glieder: »Rußland wird satt werden.« Der Soldat senkte den dicken Schädel und bekreuzte sich demütig: »Der Herr sei mit dir, Väterchen.« »Er wird es sein!« Peter reckte sich. Seine Rechte riß den Rock auf, das Hemd, entblößte die Brust dem feucht andringenden Luftstrom: »Er muß es sein, weil ich es will!« – Am Abend wurden die Geschütze in ihre Stellungen gebracht, und am Morgen löste der Zar den ersten Schuß aus ihnen. Ein Hagel von Eisen wurde gegen Narwa ausgeschüttet. Tag für Tag. Wütend fuhren die Kugeln gegen die dicken hartgefügten Mauern, wühlten sich gierig in die fest gestampften Wälle, rissen an Stein und Erde, zerrten und bohrten. Durch wollten sie, durch. Narwa hielt stand. Brandbomben folgten den Kugeln. Glühend stiegen sie auf, schwangen sich zischend empor. Ein schrilles, höllisches Pfeifen umtobte ihren Flug durch die Luft. Und wo sie einschlugen, sprang die Flamme hoch. Giftig gelb, düster rot. Brenzlicher dicker Qualm brach ihr nach. Stickend zog der ekle Dunst durch die Straßen der geängstigten Stadt. Bange schlugen die Herzen. Aber kein Mund wagte von Übergabe zu reden. Eilfertig lief, wer laufen konnte, schwang die Eimer durch die Kette und half, die züngelnde Glut löschen. Manche Nacht hindurch. Viele Nächte lang. Narwa ergab sich nicht. Mit eiserner Hand hütete der schwedische Befehlshaber, Graf Horn, seinem Könige das Herz Livlands. Wochen verrannen. Ein Monat. Narwa trotzte. Verbissenen Gesichts schritt der Zar durch die Laufgräben, spähte von den Schanzen gegen den hartnäckigen Gegner. Er hätte gern seine Leute geschont. Es waren ihrer nicht allzuviele. Aber lange konnte er nicht mehr zuwarten. Schon hieß es, Entsatz nahe von der Küste. Zwar er hatte dafür gesorgt, daß den Schweden der Weg nicht leicht wurde. Die Straßen waren zerstört, die Dörfer verbrannt, das Vieh weggeführt worden. Zwischen dem Meer und Narwa gab es keinen Brocken Brot, kein Stück Speck mehr. Da war kein Haus, nicht einmal ein Baum, der Schutz geboten hätte. Nur Wüste. Wüste. Die dünnen Lippen Peters verzogen sich zu einem böhmischen Schmunzeln: die hungrigen Mägen der Feinde würden seine Verbündeten sein. Dennoch war es besser, Narwa zu haben, ehe sie eintrafen. Der Sturm mußte gewagt werden. Mochte es ein paar tausend Mann kosten. Achtsam prüfte er die zerfetzten Erdwerke, die zusammengeschossenen Gräben. Nicht die geringste Abbröckelung der Mauer entging seinem Scharfblick. Lange verweilte er gegenüber dem Osttore. Spähte und spähte. Seine schütteren Brauen zogen sich hoch hinauf. Die spitzen, tabakgedunkelten Zähne nagten an dem Rohr der tönernen holländischen Pfeife. Vom Walle der Festung war der Beobachter erspäht worden. Einer, zwei, drei, ein ganzes Dutzend lagen im Anschlag auf ihn, doch keinem kam er recht in den Schuß. Jetzt aber im Eifer seines Prüfens, gänzlich der Gefahr vergessend, stellte er sich bloß. Die Kugeln pfiffen. Aus einem Dutzend Flinten. Eine traf. Die Pfeife des Zaren. Mit einem leisen Klack schlug sie gegen das Rohr. Dicht vor dem Munde brach es ab. Peter schüttelte unwillig den Kopf: ein schlechter Schütze. Der Kerl müßte mir hängen, wenn ich ihn hätte. – In weitem Bogen spie er das Mundstück aus. Der Sturm war beschlossen. Noch einmal wurde Narwa zur Übergabe aufgefordert. Der Bote kam lange nicht zurück. Als er endlich gegen Abend erschien, brachte er die Botschaft: Graf Horn hoffe noch vor Anbruch des kommenden Morgens die Ehre zu haben, Seine Zarische Majestät in seinem Hause begrüßen zu können! – Dem Zaren, der mit dem General Repnin, den sächsisch-polnischen Abgesandten Langen und Hallart und dem österreichischen Geschäftsträger Pleyer bei Tafel saß, stieg die Röte der Überraschung brennend ins Gesicht: »Das nenne ich Vernunft. Der Mann spart mir Mannschaften. Ich werd's ihm lohnen. Er ist mit Auszeichnung zu behandeln.« Der große, breitschultrige General Weyde, der den Unterhändler in Empfang genommen hatte, machte ein ziemlich betretenes Gesicht. Er kannte die tobend ausbrechende Heftigkeit seines Herrn, wenn diesem etwas wider den Strich ging, und er, der sich in der Schlacht dem ärgsten Kugelregen ohne Wimperzucken aussetzte, wurde blaß bei dem bloßen Gedanken, er könne zur Ursache einer der fessellosen Rasereien des Zaren werden. Sein verlegenes Schweigen ließ Peter stutzen. Blick und Stimme wurden scharf: »Oder bist du anderer Ansicht, Adam ...?« »Der Graf ... die Schweden ...« Weydes Atem ging hörbar. Peters Augen traten fast aus ihren Höhlen. Sie ließen den armen General nicht los. Über dessen dickes, rotes Gesicht zogen zwei helle Tropfen ihre glänzende Bahn. Er schwitzte vor Angst. Und niemand kam ihm zu Hilfe, bis endlich Pleyer, halb und halb den Zusammenhang erratend, hinwarf, die Einladung des schwedischen Befehlshabers sei wohl anders zu verstehen. Dieser Beistand gab Weyde seine Fassung wieder. »Horn will nichts von Unterwerfung wissen. Er rechnet mit dem Eintreffen des Ersatzes noch vor morgen, meint, daß wir von der offenen Zange gegen die Mauern gequetscht werden und uns ihm auf Gnade und Ungnade ergeben müssen.« Krachend sauste Peters Rechte auf den Tisch. Er warf sich gegen die Lehne seines Sessels, daß sie ächzte: »Der Witz ist köstlich. Ich werde den Grafen Horn zu meinem Narren machen; er wird mir viele heitere Stunden verschaffen.« Schütternd stieß das Lachen aus ihm. Sein Hals färbte sich blaurot, die Adern an den Schläfen schwollen zu dicken Strängen: »Wein! Branntwein!« schrie er gurgelnd. Eilfertig sprangen die Ordonnanzen herbei und füllten den weiten, tiefen Becher des Zaren mit dem von ihm geliebten Gemisch von Wein, Branntwein und Pfeffer. »Da, komm her!« Peter winkte Weyde. »Du hast eine Stärkung verdient.« Er hielt ihm den Kelch hin. Der General griff danach. »Halt!« Der Zar fiel ihm in den Arm: »Worauf wirst du trinken?« »Auf ...« Weyde gehörte nicht zu den Schlagfertigen, »auf dein Wohl, Väterchen.« »Auf den Sieg, du Dummkopf! Und nun sauf!« Die Gläser klangen und klirrten zurück auf den Tisch. Von einem zum andern hasteten die Diener. Der Zar goß den scharf gewürzten Trank gleich Wasser hinunter. Keiner seiner Gäste durfte feiern. Lauernd jagten seine Blicke hin und her. Dem Säumigen wurde doppelt geschenkt. Die Stimmung trieb zur Ausgelassenheit. Repnin lag mehr als er saß in seinem Sessel und schwatzte laut und polternd von der Einnahme Narwas und dem Siege über die Schweden: »Ins Meer schmeißen wir die Bande, einfach ins Meer!« »Wir ...« Weyde versuchte, ihn zu übertrumpfen, »wir ...« Aber sein umnebeltes Hirn gebar nicht einen Gedanken. »Wir!« wiederholte er und hämmerte sich vor die Brust, daß es dröhnte: »Wir!« Des Zaren Blicke flackerten. Er warf sich mit dem ganzen Körper über den Tisch, schob rücksichtslos Schüsseln, Teller, Humpen beiseite und streckte die Hände den sächsischen Generälen hin: »Trinkt, Freunde, trinkt! Ihr werdet Zeugen eines glorreichen Sieges sein.« »Wir wünschen nichts sehnlicher, als unserm Souverän die glückliche Viktoria der moskowitischen Waffen melden zu können,« entgegnete der geschmeidige Langen, der sich seine Nüchternheit noch ziemlich bewahrt hatte. Der General Hallart, sein Gefährte, verstand sich weniger gut auf zierliche Rede. Er brummte bissig: »Der Flankenstoß ist die Hauptsache.« »Den führt Scheremetjef!« Der Zar ruckte den Kopf in den Nacken. »Und was dem entläuft, will ich mit dem Dampf der Suppenkessel fangen.« »Pawel,« er wendete sich gegen einen der Diener, einen schlanken jungen Polen. »Die Küchenmeister sollen strammes Feuer unter die Kohlsuppe machen. Der nahrhafte Geruch muß auf drei Meilen in der Runde zu spüren sein.« »Ew. Majestät sollten die Lockung nicht zu stark machen.« Pleyer kniff zwinkernd die Lider zusammen. »Der Schwede ist nicht gewöhnt, seinen Tisch mit andern zu teilen.« »Bah! Er wird sich daran gewöhnen müssen. Und will er nicht,« Peters Gestalt dehnte sich breit, »um so besser. Narwa hab ich. Livland wird mein. Und Ingermanland. Und Karelien. Und ...« Ein seltsamer Zug trat in sein Gesicht. Erstarrend und versteinernd. Die Augen weit offen, blicklos über das Nächste in eine fremde Ferne schauend. Einzig die Lippen fuhren fort, sich zu bewegen: »... Finnland und ...« Die Worte waren nur noch ein Raunen. Magische Beschwörungen voll brennenden Willens, schoben sie sich dunkel zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervor: »... Schweden. Nordland. Das Meer. Das weite Meer. Das Nordmeer. Das Meer im Süden. Konstantinopel. Schiras. Delhi.« Vor dem nach innengekehrten Blick vollendete sich ein ungeheurer Traum. Blind tastete die Rechte nach dem Becher. Doch sowie die Finger dessen Fuß zwischen sich fühlten, packten sie ihn mit festem Griff. Eisern spannten sich die Sehnen der Hand, hoben den Pokal und schütteten den beizenden Wein mit einem Guß in die Kehle: »Auf das Wohl der Welt!« Verwundert über diesen Zutrunk zögerten die fremdländischen Tischgenossen, Bescheid zu tun. In Langens und des Österreichers Mienen malte sich mißtrauische Bestürzung: wohin jagte die Phantasie des Moskowiters? Peter runzelte unwillig die Stirn. Gebieterisch streckte er ihnen den neugefüllten Humpen entgegen: »Auf das Wohl der Welt!« Die Gläser wurden geleert. Noch einmal. Und noch einmal. Der Zeltvorhang war sacht beiseite gezogen werden. Durch den Spalt schaute das fragende Gesicht einer Ordonnanz. Auf einen Wink Repnins trat der Mann zurück und ließ einen Kurier ein. Schweiß und Schmutz bedeckten die abgehetzten Züge. Die Knie des Boten wankten beim Näherkommen. Flüsternd richtete er Repnin seinen Auftrag aus. Der kugelrunde massige Kopf des Generals nickte. Plötzlich fuhr er aus seiner bequemen, halb liegenden Haltung auf. Im Nu war der Rausch verflogen: »Eine ganz verdammte Zeitung!« Die Augenbrauen des Zaren ruckten empor, fragend richtete er seine Blicke auf den Erregten. Der schob die Achseln ungewiß in die Höhe: »Die Schweden waren schneller, Majestät, als wir vermuteten. Scheremetjefs Korps ist zu spät gekommen. Es hat den Anmarsch der Schweden nicht mehr verhindern können. Sie sind im Anzuge. Und«, seine Stimme klang belegt, »der König an ihrer Spitze.« Der Zar schnellte vom Sitz: »Der König selber! Das gibt ein Fest!« Er war ganz Leben und Bewegung: »Auf, meine Herren! Alarm! Alarm! Ich will meinem Herrn Vetter die Suppe heiß anrichten lassen.« Pleyer und Langen erhoben sich steif. Des Österreichers Mienen waren voll Bedenklichkeit, der Sachse bemühte sich, seine Beunruhigung über den darauf losstürmenden Angriffseifer des Verbündeten Polens hinter einem zustimmenden Lächeln zu verbergen. Die Mahnung fiel ihm schwer in den Sinn, die ihm beim Abschied von Warschau der Livländer Patkul mit auf den Weg gegeben hatte: Sorgen sie dafür, daß Sie dem russischen Bären die Pfoten binden, damit ihm nicht in seinen Krallen bleibt, was für uns bestimmt ist! Für uns. Das hieß bei Patkul: für Livland. So dachte nun freilich August der Starke, dem die Gelüste des livländischen Adels, sich von Schweden zu trennen, sehr gelegen kamen, das Wort nicht zu verstehen. Ihm hieß: für uns, für mich. Wenn nicht für mich als polnischer König, so als Herzog und Kurfürst von Sachsen. Am allerwenigsten aber hatte er vor, dem Moskowiter in die Hände zu arbeiten. Ein allzu rascher Sieg über die Schweden war gewiß nicht nach seinem Wunsche, wenn er nicht der Sieger war. – Langen biß sich ärgerlich auf die Lippen: er spürte mit einem Male das geheime Gewicht seiner Mission unliebsam. Aus dem weiteren Verhör, das Repnin mit dem Kurier angestellt hatte, tönten gerade einige Zahlen herüber: 7000 Mann Fußvolk, mehr als 1000 Reiter, alle gut gerüstet, 30 kleine und 6 große Stücke mit doppelter Bemannung. Die Falten in seinem Diplomatengesicht vertieften sich: die Russen waren in mehr als dreifacher Übermacht. Gleichviel, der Zar durfte nicht siegen. Narwa und Karl XII. war zu viel auf einmal. »Der Kampf wird schwer werden,« wendete er sich gegen Peter, »doch um so heller wird der Ruhm Ew. Majestät erstrahlen.« »Der Kampf wird schwer ...« Der ehrliche Hallart wäre fast in ein schallendes Gelächter ausgebrochen, da traf ihn ein hart verweisender Blick aus Langens Glimmaugen. Der alte Haudegen schluckte an seiner Rede und würgte sein Lachen hinunter: ein verteufeltes Gewerbe, die Diplomatie. Immer Kniffe und Schliche. Daß gerade der König ihn mit abgeordnet. Dumm, dumm. Nun hätte er bald eine Eselei gemacht. Wo der Langen nur hinauswollte? – Eine grenzenlose Bekümmernis malte sich in seinen offenen Zügen. Auf den Zaren, der diesen Ausdruck des Seelenschmerzes des alten Generals nach dessen Worten anders deuten mußte, blieb dieser Anblick nicht ohne Wirkung: war Karl unüberwindlich? Wenn diesen erprobten Krieger eine solche Mutlosigkeit befiel bei dem Gedanken, ihm gegenüberzustehen, konnte er dann hoffen, den sieggewohnten Gegner zu bezwingen? Er, der schon den ersten Stoß zu spät geführt hatte. Zwar an Zahl war seine Macht der des andern überlegen. Aber an Ausbildung? Hatte er nicht auch geglaubt, Narwa im ersten Anlauf zu überrennen? Und lag nun seit Monaten davor. – Ein unbehagliches Gefühl der Unsicherheit kroch in ihm auf. »Sie widerraten den Angriff?« Es klang nicht wie eine Frage, eher wie eine Bitte: laßt mich nicht irre an mir werden. Langen wehrte übertreibend mit aufgehobenen Händen: »Ich würde mich sträflich wider die Instruktion meines erhabenen Souveräns verfehlen, wollte ich dem Genie Ew. Majestät und der strategischen Kunst der moskowitischen Feldherrn« – eine leichte Handbewegung deutete auf den schnarchenden Weyde und auf Repnin, dessen Unruhe seine völlige Fassungslosigkeit verriet – »in den Arm fallen.« [Illustration: Phot. Franz Hanfstaengl, München Gründung Petersburgs durch Peter den Großen Nach einem Gemälde von R. von Kotzebue] Die dick aufgetragene Schmeichelei in Gemeinschaft mit dem offenbaren Spott taten die gewünschte Wirkung. Die Ratlosigkeit Peters steigerte sich sichtlich. Heftig fingerte seine Rechte an den Knöpfen seines Rockes, und der Kopf kehrte sich zuckend gegen die Schulter. [Illustration: König August I. von Polen Nach einem Gemälde v. Louis de Sylvestre] Der dem Zaren zunächst stehende Pleyer suchte langsam beiseite zu weichen: er kannte diese Anzeichen. Es dauerte nicht mehr lange, so brach der Krampf aus. [Illustration: Johann Reinhold Patkul Nach einem zeitgenössischen Gemälde] Doch so vorsichtig er auch verfuhr, Peter merkte die Absicht. Hart packte er den Gesandten und zwang ihn stehen zu bleiben: [Illustration: König Karl XII. v. Schweden Nach einem Stich von J. v. Schley] »Bist du auch gegen mich?« Seine Zunge ging schwer, lallend, zerhackte die Silben. [Illustration: Hetman Mazeppa Nach einer zeitgenössischen Zeichnung] Ehe Pleyer noch antworten konnte, wurde der Zeltvorhang ungestüm zurückgeschlagen und der etwas schweratmige kleine Herzog von Croy hastete auf seinen kurzen dicken Beinen herein: »Verzeihung, Ew. Majestät, wenn ich es wage, unangemeldet eine wichtige Besprechung zu stören. Das Lager ist in Verwirrung. Die tollsten Gerüchte schwirren durch die Luft. Scheremetjef geschlagen, die Schweden im Anmarsch, ja vielleicht schon in unserm Rücken, ein drohender Ausfall. Haben Ew. Majestät sichere Kunde?« Er erhielt keinen Bescheid. Peters Hand ließ langsam die Pleyers aus ihrem schmerzenden Griff, aber nur um des Herzogs Rechte zu ergreifen. Fest. Wie ein Ertrinkender sich an einen Strohhalm klammert: »Karl – rückt – an. – Ich will ihm entgegen.« Gellend schrie er die letzten Worte heraus. »Mit diesen Truppen, die schon jetzt fast vor Angst vergehen?« Der Zar starrte auf den Sprecher, als sähe er das Gesicht eines dem Abgrunde entstiegenen Gespenstes. Ohne die Blicke von ihm zu lösen, befahl er: »Papier! Tinte!« Beides wurde gebracht. »Repnin. Schreibe.« Jeder Laut kam erquält, zerrissen, undeutlich aus dem in Pein verzerrten Munde: »Hiermit übergebe ich den Oberbefehl meiner vor Narwa liegenden Armee dem Herrn Herzog von Croy ...« »Ew. Majestät ...« Weiter kam der Einwand des Überraschten nicht. Unter der Faust des Zaren brannten die Knochen seines Handgelenks, und die knirschenden Zähne Peters weissagten einem Widersprechenden nichts Gutes. »Der Herzog soll den Feind hinhalten, aber die Belagerung der Festung Narwa schleunigst zum siegreichen Abschluß bringen.« Wieder versuchte der unversehens mit einem verantwortungsvollen Amt Beglückte sich gegen diesen zwiespältigen, undurchführbaren Befehl zu wehren, abermals kam sein Einspruch über einen schüchternen Ansatz nicht hinaus. »Hast du?« Repnin erhob sich und reichte dem Zaren die Feder. Eine Sekunde lang schwankte sie in dessen Hand über dem Bogen. Dann fuhr sie mit scharfen, schnellen Hieben nieder und fügte den Namenszug. »Da.« Peter schob dem Herzoge die Urkunde zu. »Da.« Mit einer umständlichen höfischen Verneigung wollte dieser die Rolle entgegennehmen. Doch ein Zuruf Pleyers mahnte zur Vorsicht. Schon flog sie ihm vor die Füße. Kaum einen Augenblick später brach der Zar in wilden Zuckungen zusammen. Durch die fletschenden Zähne flockte blasiger Schaum. Die Nasenflügel blähten sich zum Zerspringen. Keuchend ächzte die Brust wider einen unsichtbaren Feind. Und schneller und schneller das kochende Stoßen des Atems. Die Glieder biegen sich, bäumen sich, schieben, drängen den Leib empor und schmettern ihn mit Wut zu Boden. In heftigem Schleudern fahren die Fäuste durch die Luft, schlagen und dröhnen im Takt gegen den Estrich. Immer rasender das Toben, immer jäher Flug und Fall. Krachend prellt der Schädel auf und nieder, auf und nieder, unaufhörlich in hämmerndem Wirbel. Und plötzlich ein würgender Ruck, ein fliehendes windendes Zappeln von Arm und Bein. Stille. Bleich, lasch, gleich einem ausgespienen Brocken der ohnmächtige Körper. Kaum von einem Hauch bewegt. Langsam, ganz langsam kam Peter wieder zu sich. Suchend haschten die Hände nach einer Nähe, einem stützenden Halt. Niemand war bei ihm als der junge polnische Diener. Weiße, kühle Hände deckte er über die schmerzende Stirn. Peter hob die Lider, schwer, mühevoll: »Du?« Mit den Händen, die noch von der überstandenen Not bebten, zog er das junge, helle Gesicht an sich. Dicht, ganz dicht. Und wie aus Abgrundstiefen stieg es lechzend: »Leben.« II. Der Novembersturm fauchte über die Heide, die sich um Pskoff zieht. Wütend trieb er den mit Schnee untermischten Regen in dicken nebligen Schwaden vor sich her. Klatschend fielen die eisigen Schauer auf ein einsames Gefährt, das in dem aufgeweichten Boden kaum vorwärts kam. Schlamm klebte sich in großen Klumpen an die Räder, die Pferde versanken bis zu den Knien in dem morastigen Grund und blieben ein über das andere Mal mit zitternden Flanken stehen. Die Insassen schienen es eilig zu haben. Denn bei jedem solchen Aufenthalt ertönte eine treibende Stimme aus dem Innern des Wagens, und der Kutscher antwortete jedesmal: Wie du willst, Väterchen! schwang die Peitsche und ließ sie erbarmungslos auf den Rücken der geplagten Tiere tanzen. Und mit jedem Halt hagelten die Hiebe dichter. Eben war ein besonders kräftiger Schlag auf das eine Stangenpferd niedergeklatscht. Heftig warf sich das ins Zeug und zog und riß an den Strängen. Das Gestell hob sich an der einen Seite, kam ins Schwanken. Ein Knirren, ein splitterndes Krachen. Langsam neigte sich die Kutsche und sank ihrer ganzen Breite nach in den Kot. Die Achse war gebrochen. Fluchend und im selben Atemzuge alle Heiligen anrufend, raffte sich der Kutscher auf und mühte sich, die Tür der Kalesche, an der schon ungeduldig gerüttelt wurde, zu öffnen. Es war kein leichtes Stück Arbeit. Erst nach langem Zerren und Stemmen ging sie auf und entlud den Inhalt: einen großen, hochgewachsenen Herrn und einen schlanken, jungen Menschen. Der Herr stand sogleich wieder auf seinen Beinen: »Wo sind wir, Grischka?« Der Kutscher fuhr mit seinen groben Handschuhen über das Gesicht, um es von dem ärgsten Schmutz zu säubern und spie bedachtsam beiseite: »Das mag Gott wissen, Väterchen. Mein Kopf ist von dem verdammten Sturm, den uns der Teufel auf den Pelz gehetzt hat, so dumm, daß ich kaum noch weiß, wo rechts und wo links an meinem Leibe ist.« »Dort ist ein Licht.« Der Diener, der inzwischen auf die Füße gekommen war, deutete auf einen massigen Schatten, der in dem frühen sinkenden Tag durch das schneeige Gestiebe dunkelte und in dessen Mitte ein kleiner trübroter Punkt erglänzte. »Gehen wir!« Der Herr schlug den Mantel fester um sich: »Du wartest hier, Grischka, bis wir Leute schicken.« »Wie du willst, Väterchen.« Der mit festen Tritten Davonstapfende hört die ergebene Antwort nicht mehr. Geradeswegs durch Pfützen und Lachen strebte er dem nahen Obdach entgegen. Nach ein paar hundert Schritten war es erreicht. In der ebenerdigen Stube saß auf der Ofenbank ein hageres, langaufgeschossenes Mädel. Die eckigen Arme hatte es hinter dem Kopf verschränkt, der auf dem dicken, brandroten Haar wie auf einem Kissen lag. Sie träumte vor sich hin. Aber ihre Träume mußten sehr bestimmte und bewußte sein, denn in den grünlichgrauen Augen war keine Spur von weicher Versonnenheit, kühl und fest waren sie auf das unsichtbare Ziel gerichtet. Der Eintritt der Fremden war ihr kein Anlaß, ihre bequeme Stellung zu verändern, nur ihr Blick richtete sich forschend auf die Ankömmlinge. »Bist du allein?« Peters Ton war ungeduldig. Sie schürzte launisch die Lippen: »Wäre ich allein, könntet Ihr mich nicht fragen, ob ich es wäre.« »Albernes Ding! Wo ist dein Vater?« Der offenbare Ärger ihres Gegenübers belustigte sie. Sie lachte, ihre Oberlippe zog sich weit von den festen spitzen Zähnen zurück. »Wo ist dein Vater?« Peters Miene wurde drohend. »Da müßt Ihr Euch bei meiner Mutter erkundigen, vielleicht kann sie es Euch sagen. Ich,« sie schob die schmalen Schultern verächtlich in die Höhe, ihr Blick wurde feindselig, »ich weiß nichts von ihm.« »Wo ist deine Mutter?« »Mit den Schwestern und dem Bruder ins Holz.« Sie rümpfte die Nase: »Die haben Angst vor den Schweden.« »Schweden? In der Nähe?« Die Kleine horchte auf. Der dringliche Ton des Fragers hatte ihr allerhand verraten. »Ja,« gab sie lässig Bescheid, »sie schweifen durch die Gegend.« »Verdammt.« Peter stampfte den Boden. »Kannst du uns einen Wagen beschaffen.« Sie deutete mit der Schulter gegen den Hof: »Im Schuppen.« Ohne einen Befehl Peters abzuwarten, eilte Pawel Jaguschinski hinaus, das Gefährt für die Weiterreise herzurichten. Die Augen der Kleinen wanderten musternd über ihren Gast, der sich einen Schemel in die Nähe des Ofens gezogen hatte und hoch und mächtig vor ihr saß. »Wird der Herr die Fahrt in einem Bauernwagen vertragen?« Peter zuckte unwillkürlich zusammen: »Warum nennst du mich Herr?« »Weil Ihr es seid.« Unmutig brummte er: »Was dir nicht einfällt. Ich bin ein einfacher Unteroffizier.« Sie lachte. Es bereitete ihr Spaß, den großen starken Mann zu sticheln: »Wollt Ihr das auch den Schweden erzählen, wenn sie Euch fangen?« »Kröte!« Er sprang auf und packte den Schemel: »Bin ich in eine Falle geraten, soll es dir übel gehen.« Sie hob gelassen die Schultern: »Es sähe Euch ähnlich, einen andern für Eure eigene Dummheit und Unvorsichtigkeit büßen zu lassen.« Sie nahm eine überlegene Miene an: »Seid nicht so wild. Setzt Euch ruhig. Ihr braucht keine Angst zu haben. Die Schweden dürfen Euch nichts tun, wenn sie kommen; Ihr gefallt mir.« Ein tolles Frauenzimmer! In Peter kämpften Beschämung über die einfältige Rolle, die er spielte, und die Lust an dem kecken Gebaren des eben den Kinderschuhen entwachsenen Dinges vor ihm: was das sich in seiner Einfalt zutraute. »Du willst mich schützen?« Er lachte verlegen. Ein dunkles Rot stieg bis zu seinen Schläfen: »Wenn dich ein Mann mit dem kleinen Finger anrührt, fällst du um.« Sie hob die Lider zu einem kühlen, beherrschten Blick: »Wenn er es fertig bringt, mich anzurühren.« Stärker brannte das Rot in seinen wettergebräunten Wangen. Sie zog die Oberlippe zurück, ihre Nasenflügel bebten leise: »Aber du gefällst mir. Und darum will ich dir helfen.« Sie sprang mit beiden Füßen zugleich auf den Boden, trat rasch auf ihn zu und tippte mit spitzen Fingern auf die Tressen und Verzierungen seiner Uniform. »Damit jetzt im Lande herum zu kutschieren, ist gefährlich. Ich werde dir etwas anderes geben.« Aus einer Truhe, die neben dem Ofen stand, holte sie Rock, Hemd und Hose: »Meines Bruders Sonntagsstaat. Er wird wüten, wenn er es erfährt. Pah,« sie schnippte mit den Fingern, »ich lache ihn aus. Wütende Menschen haben keinen Kopf. Da,« sie warf dem Gaste das Bündel zu, »zieh dich um.« Peter hatte sich erhoben. Er kam sich vor wie ein gescholtener Junge. Es war kein sehr erhebendes Gefühl. Unsicher schob er den Kleiderpacken von einem Arm auf den andern. Die Kleine maß ihn verwundert: »Worauf wartest du noch? Zieh dich um. Meinst du, ich wüßte nicht, was ein Mann ist?« Sie lachte hell, girrend: »Ich tue dir nichts.« »Weibsbild!« Die Kleider flogen auf den Boden. Da war kein Junge mehr. Der versank in dem Manne. Ein Brennen und Sieden rann durch Peter hin. Der starke Körper zitterte in Begier. Kopfschüttelnd, ohne ihn aus den Augen zu lassen, wich das Mädchen ein paar Schritte zurück: »Ich habe geglaubt, die Herren seien feiner als die Bauern, aber nun sehe ich, daß es genau solche Tölpel sind.« »Weib!« Peter wollte mit geballten Fäusten auf die Spötterin zu. Sie kehrte ihm langsam den Rücken und ging zum Fenster: »Hab dich nicht! Beeile dich lieber mit dem Anziehen. Die Pferde rühren sich bereits im Geschirr.« Keuchend, an allen Gliedern bebend, stand Peter mitten im Zimmer. Er kam sich unsäglich albern vor: was hielt ihn ab, diesem boshaften Frauenzimmer seinen Willen aufzuzwingen? Oder hatte er ihr gegenüber gar keinen Willen? Ein dumpfes Ahnen beschlich ihn, daß diesem Wesen nicht mit Gewalt beizukommen war, weil es sogar die Lust in seiner Gewalt hatte. Er biß sich die Lippen blutig: da war nichts zu machen. – Er warf den Kopf in den Nacken: was kam es auch darauf an? Er würde das Erlebnis bald vergessen haben. – Zornig zerrte er an Rock und Wams, sich ihrer zu entledigen. Doch das durchnäßte Tuch klebte am Körper. Er riß und zog, fluchte und stieß mit den Füßen den Boden. Die Kleine hatte sich vom Fenster abgewendet und genoß das Schauspiel mit heller Freude. »Du wirst nie etwas fertig bringen, wenn du nicht Geduld lernst.« Damit half sie ihm. Du wirst nie etwas fertig bringen, wenn du nicht Geduld lernst! Er sah das Geschöpf vor sich plötzlich mit andern Augen an. Unvermittelt kam ihm die Frage: »Wie heißt du?« Sie wiegte sich in den Hüften: »Brauchst du einen Namen, um dich zu erinnern?« Ihr Leib dehnte sich zu ihm hin, daß er ihn fast streifte: »Du wirst mich nicht vergessen.« Den großen, starken Mann überrann ein Schauer. Seine Glieder flogen. Doch der kühle, beherrschte Blick der grünlichgrauen Augen hielt ihn in Bann. Nur sein Atem stöhnte durch die zusammengebissenen Zähne. Von draußen kamen Schritte. Jaguschinski erschien und meldete, daß der Wagen zur Abfahrt bereit sei. Mit einem Ruck kehrte Peter sich ab. Im Hinausgehen wendete er noch einmal den Kopf: »Ich werde dich nicht vergessen.« Die Tür fiel ins Schloß. Tritte verklangen. Räder begannen zu knirren, Hufe patschten in klitschigen Lehm. Ferner. Ferner. Unbeweglich blieb das Mädchen in der Mitte der Stube, bis jedes Geräusch erstorben war. Stille. Mit raschen Griffen nahm sie die zurückgebliebenen Kleider Peters, trug sie zur Truhe und legte sie sorgsam hinein. Der Deckel schlug zu. Und mit sicherem Schwunge saß sie oben auf dem Kasten. * * * * * Tausend Lichter. Und widerstrahlend der weiche, warme Schimmer in den hohen Spiegeln rings im Saale. Flirrend der Glanz. Schmeichelnd fließt er um diademgeschmückte Stirnen, über weiße, leuchtende Nacken und wogende Busen. Diamanten blitzen, Ordenssterne funkeln. Die breiten blauen, orangenen, roten und grünen Ritterbänder über den Uniformen und den Diplomatenfräcken glühen, und die rauschenden Schleppen, die weiten malven- und topasfarbenen Röcke, die knisternden Seidenspenzer und die Samtmieder der Damen gleißen auf in dem spielenden Schein. Tanz. Hell und lockend die Geigen. Jubelnd die Flöten. Dunkel und zärtlich die Klarinette. Dumpf, stöhnend in Sehnsucht die Oboe. Ein Wiegen und Schmiegen der Paare. Leicht die Schritte, behende die Füße. Ein Suchen und Fliehen, ein Meiden und Sichfinden. Heiß die Hände, glühend die Wangen. Schneller der Puls, rascher der Atem. Jauchzend steigt die Woge der Lust. Alexander Menschikoff schwimmt mit ihr, läßt sich tragen, hoch hinauf, hin zur Erfüllung kühnster Träume. Seine schlanke, sehnige Gestalt ist überall. Eben noch im heiteren Geplänkel mit der schönen Mons, der kleinen Freundin des Zaren, gleich darauf im Gespräch mit Campredon, dem französischen Gesandten. Die Spitzen der Sloboda, der Ausländervorstadt von Moskau, hatte er zu Gaste gebeten. Den holländischen Residenten, die deutschen Kaufherren, die französischen Emigrierten, die Anhänger des schottischen Prätendenten, die Führer der polnischen Dissidenten, alle, die ihre Zukunft an die Zukunft Rußlands geknüpft haben und die helfen werden, sie zu bauen. Heute gilt es, den ersten Sieg der neuen Herrschaft zu feiern. Den nahen Sieg. Narwa steht vor dem Fall. Das war die Botschaft, die am Morgen der Kurier dem Herzbruder des Zaren überbracht hatte. Menschikoff ergriff den Augenblick, wie er sich bot. Rußlands junger Ruhm war die Staffel, die ihn zur Höhe führte. Er schlang seinen Arm um Darja Arsenjef, Glut im Blick und Glut auf den Lippen, und drehte sich mit ihr in wilden, raschen Wirbeln durch den Schwarm der Tanzenden. Willig ließ sie sich von seinem brausenden Sturm tragen, hintragen durch das kreisende Gewühl der andern, hinweg von ihnen, hinein in eine flammendurchlohte, rasende Seligkeit. Mitten in dem tollen Trubel waren sie allein. Sein Mund dicht an ihrem Ohr: »Daschka.« Sie hob die langen, dunklen Wimpern: »Du bist glücklich!« Seine Augen strahlten: »Rußland ist auf dem Wege nach Europa!« Sie lächelte in stolzer Freude: »Und du führst es an.« Ein Schatten düsterte seine starken Züge: »Ich wollte, ich könnte es.« Er warf die Oberlippe auf, seine Miene wurde leichtsinnig: »Ein Spiel um einen Thron. Ach, Daschka, das Spiel ist mein Glück!« »Deines.« Sie preßte ihre Stirn an seinen Hals, dicht, damit sie das ungebärdige Pochen seines Blutes spürte. Peitschend drang ihr der herrische Takt durch den Leib. Enger noch drängte sie zu ihm hin. Sein Schnurbarthaar kitzelte ihre Wange. Sie seufzte. Er kannte die Sorge, der es galt: »Denkst du schon wieder an morgen?« »An morgen,« sie nickte, »wo du zu Anisia oder zu Barbutschka oder zu der dicken Deutschen Liebling sagst.« »Heute ist heute,« er schwenkte sie jagend herum. »Heute ist mein Herz dein. Morgen? Ich frage heute nicht nach dem Morgen. Sei du mir neu jeden Tag, wie es das Morgen ist, und ich werde dich ewig lieben.« Ihre weichen, runden Schultern zogen sich hoch und sanken lässig zurück: »So lockst du alle.« Er lachte. Tief, dunkel: »So locke ich auch mich.« Im Gedränge wurde die hohe Gestalt seines sibirischen Pförtners sichtbar. Sofort verhielt Menschikoff den Schritt: eine Nachricht? Ihm konnte keine Kunde eine Störung sein. Jede, die kam, brachte Neues, forderte Neues von ihm. Der Pförtner meldet einen Bauern, der Seine Gnaden zu sprechen wünsche. »Was hat der Kerl!« »Er wollte nicht heraus mit der Sprache, sagte nur, es sei dringend, er komme vom Zaren.« »Vom Zaren. Warum sagst du das nicht gleich, Tölpel! In mein Kabinett mit ihm.« Eine flüchtige Neigung an seine Tänzerin, und schon wand sich Menschikoff geschmeidig durch das Gewühl nach seinem Arbeitszimmer. Wartete. Nach einer Weile kam der Sibirier: Der Bauer sei nicht zu bewegen, ihm zu folgen. Er fordere, daß Seine Gnaden sich zu ihm begebe. »Wirf den Rüpel aus dem Hause!« schrie Menschikoff wütend, rannte aber doch, dem Pförtner voran, über die Stiegen hinab in die Loge neben dem Eingang. In dem kleinen, engen Raum saß ein junger livländischer Bauer in langschößigem, blauem Tuchrock, die Pelzmütze tief über die Ohren gezogen, das Gesicht auf die im Schoß gefalteten Hände geneigt. »Hund, Sohn eines Hundes,« der zornige Hausherr packte ihn derb, »ich werde dich lehren, mir Befehle zu erteilen.« Der Bauer hob langsam den Kopf. »Majestät.« Menschikoff fuhr zurück. Der Zar schüttelte schmerzlich den Kopf: »Ich verdiene diesen Titel nicht. Ich habe mein Heer in Stich gelassen.« »Und Narwa?« Menschikoff war der Zusammenhang nicht klar. »Narwa ist fest in der Schweden Hand. Karl triumphiert.« »Unsinn!« Kaum war dies Wort heraus, so hatte er Peters Fäuste auf seinen Schultern, die ihn rüttelten und schüttelten, daß ihm Hören und Sehen verging. »So, Unsinn? Es muß wohl Unsinn sein? Ich störe dem Herrn Leichtfuß ein Fest, und das liebt der gnädige Herr nicht. Ich werde dir lehren, mich unsinnig zu heißen.« Die breite Hand des Zaren hob sich. Der Geschulmeisterte zuckte mit keiner Wimper: »Schlage zu. Vielleicht lernst du an mir, wie du Karl von Schweden schlagen mußt.« Der bereite Arm sank herab. Ein Schimpfwort zwischen den Zähnen zerknirschend, kehrte sich der Zar gegen die Wand. Eine lange Weile blieb Stille. Menschikoff wußte, jetzt arbeitete das Nachdenken in seinem Freunde und Herrn. Er hütete sich, störend einzugreifen. Endlich klang es murrend über die Schulter hin zu ihm: »Du hältst mich für feige? Du hast recht. Ich habe meinen Posten vor dem Feinde verlassen.« »Warum?« Warum? Peter begriff seine Flucht jetzt selbst nicht mehr. Die Gründe der andern, die ihm zu eigenen geworden waren, hatten an Gewicht verloren. Warum ließ er Heer, Sieg, unermeßlichen Ruhm und wählte statt dessen schmähliches Entweichen, Schande und Untergang? Er suchte nach Antwort und fand nur die Bedenken der Ängstlichen, der Zaudernden und der geflissentlichen Schwarzmaler: »Karl ist ein Feldherr. Ich bin es nicht.« »Du wirst es an ihm werden!« »Seine Soldaten sind erprobt, sind nach allen Regeln der Kunst ausgebildet, die meinen, eine zusammengewürfelte Schar, die mit Gewehr und Säbel spielen, aber nicht ernstlich fechten können.« Menschikoff lachte, tief, herzlich. »Du lachst!« Der Zar fuhr herum, Purpurröte auf dem weiten Gesicht, die rechte Wange entstellt von wildem Zucken: »Du kannst lachen, und mein Heer ist vernichtet, zerstreut in alle Winde, Karl auf dem Wege nach Moskau?« Wärmer noch wurde das Lachen: »Und wenn er mit seinen Schweden in den Kreml einzöge, du bist der Zar, du! Und du wirst ihn besiegen, denn mit dir ist Rußlands unerschöpfliche Kraft!« Eine Sekunde war es, als schwankte Peter. Dann riß er Menschikoff an sich: »Herzbruder! Freund! Mann! Du glaubst ...« »Ich glaube nicht, was ich weiß!« Die Gestalt des Zaren reckte sich: »Schreibzeug her!« Und nun flogen die Befehle. An den Patriarchen: Beschlagnahmung der Klosterglocken und des bronzenen Kirchengeräts. An die Gemeinden: Vorschriften über neue Aushebung von Mannschaften und Ausschreibung neuer Steuern auf die langen Bärte und Kaftans. An den Hetman der Kosaken: um Stellung von Hilfstruppen. An den Fürsten Galizin, Gesandten in Wien: »Sollte der schwedische König durch Vermittlung des deutschen Kaisers uns Frieden antragen, so wirst du als Preis unseres Eingehens auf solch Angebot Livland mit Narwa, Kolywan und Dorpat fordern.« Menschikoff schlug mit der Hand breit auf das Papier: »Das ist russisch gesprochen.« Er kniff die Lider zwinkernd zusammen: »Soll ich das Fest absagen lassen?« Die Feder flog auf den Tisch, daß die Tinte spritzte. Peter war aufgesprungen. Breitbeinig stand er, den Körper hoch aufgerichtet, die Brust gewölbt von mächtigem Atemzuge: »Laß Böller schießen! Der Zar hat einen Sieg errungen!« III. Ein schwüler Sommer brütete über Livland. Die weiten Felder standen in weißem, zitterndem Glast, und die Straßen der kleinen Städte dunsteten vor Hitze. Es war, als wolle die schwere Glut die neue Zeit garkochen, die für das alte deutsche Ordensgebiet heraufkam. Im Sturm und mit Gewalt kam sie über das Land. Und der den Sturm antrieb und die Gewalt hetzte, war der moskowitische Zar. Nur zwei Winter waren vorbeigegangen, seit die Russen bei Narwa die raschen und festen Schläge des schwedischen Karl zu spüren bekommen hatten. Wie Spreu war ihr übermächtiges Heer vor dem Siegbewußten in alle Winde verflogen. Doch der schnelle Triumph gedieh Schweden nicht zum Heile. Vom Kampfeseifer verblendet, hastete Karl von Schlacht zu Schlacht. Dänemark hatte er im Frieden zu Travendal gebändigt, den Moskowiter in Livland erledigt, nun ging es gegen den polnischen König. Verklungene Wasaträume wachten in seinem Blute auf. Begehrte er auch nicht die polnische Krone, so wollte er doch der Schirmherr dieses vielbegehrten und hoch mit Gold, Blut und Falschheiten aller Art bezahlten Kleinods sein. Ein Herrscher von seinen Gnaden sollte den polnischen Thron an Stelle Augusts von Sachsen einnehmen. Tiefer und tiefer verstrickte er sich in das Netz der polnischen Wirren. Er, der gewohnt war, gerade seines Wegs zu gehen, fand sich plötzlich inmitten des Hin und Wider der Parteiungen der polnischen Großen. Und über diesem Treiben wurde er der Gefahr nicht gewahr, die sich in seinem Rücken regte und reckte. Die Lehre von Narwa hatte sich Peter eingebrannt. Er war nicht der Mann, der eine üble Erfahrung vergaß. In aller Stille arbeitete er daran, die Scharte auszuwetzen. Während Karl sich die Hände immer fester mit Verpflichtungen gegenüber seinen polnischen Anhängern band, lernte Peter, die seinen von Tag zu Tag freier bewegen. Was seinen Russen gefehlt hatte, wurde ihnen beigebracht. Hessen und Schweizer, Westfalen und Sachsen bildeten ihm seine Soldaten. An den Grenzen Livlands sammelte sich Trupp bei Trupp. Ein neues Heer, ein anderes als vor Narwa lag, eines, das nicht nur Ergebenheit für den Zaren, das Zucht und Zug in sich hatte. Und es wuchs. An Schlagfertigkeit und Masse. Es schwoll an, gleich einem Strom vor einem Stauwehr. Unversehens brach es über die Dämme. Weithin jagte die Springflut. Und der dem Schwalle hätte gebieten können, war fern, handelte und stritt für eine fremde Krone und hatte des Griffes nicht acht, der seine eigene ihrer köstlichsten Juwelen beraubte. Angstvoll lauschte das sich selbst überlassene Land auf den dumpfpochenden Tritt der heranmarschierenden Bataillone. Wohin der Russe trat, gingen Scheuern und Speicher in Flammen auf. Kein Haus war sicher, daß ihm nicht der rote Hahn aufs Dach gesetzt wurde. Wer laufen konnte, lief und suchte Schutz in den nächsten festen Städten. Zitternd und bangend hockten die Flüchtigen dort zwischen den Bürgern, scheuchten sie auf aus ihrem gelassenen Behagen und steckten sie an mit der Unruhe, die ihr aufgetriebenes Blut erfüllte. Niemand hatte mehr Lust zur Arbeit. Die Weiber liefen von der Backschüssel und den Waschtrögen vor die Türen, die Männer ließen Hammer und Hobel liegen und sammelten sich an den Straßenecken. Wozu werkeln und sich schinden, wenn am Ende vor Abend noch der Russe da war. Mochten die Kinder schreien. Staken sie erst auf den Spießen der Kosaken, würden sie schon stille werden. Die tollsten Gerüchte durchschwirrten die Luft und wurden hastig weitergegeben mit verzerrten, aufgelösten Mienen. Eine jähe Gier nach dem Gräßlichen befiel diese aus dem gewohnten Geleise geworfenen Menschen. Fiebrig, mit witternden Nasenflügeln sogen sie die grauenvollen Kunden ein, peitschten sich immer tiefer hinein in den Schrecken, um der lähmenden Ungewißheit ihres nächsten Schicksals zu entfliehen. Jede Stunde warteten sie, daß das Furchtbare sich erfülle und Greuel und Gemetzel die friedliche Arbeit langer Jahre verschlänge. Die Stunden vergingen. Die Tage. Die Drohung verlor an Wucht über die Gemüter. Langsam lenkte das Leben in seine alten Bahnen. Vielleicht ging das Ungemach noch einmal vorüber oder wendete sich zum Nachbar hin, nach Karelien, nach Kurland. Mochte der Blitz in das fremde Haus schlagen, wenn nur das eigene verschont blieb. Die Männer schafften wieder in ihren Werkstätten, die Frauen am Herd und im Hause, aber sie waren nicht mehr dieselben wie vordem. Es gab Augenblicke, wo die Hände von dem gewohnten Geschäft fahrig abirrten, die Augen plötzlich wie bei einem aus tiefem Traum Erwachenden sich weiteten und starr eine unbekannte Welt zu enträtseln suchten. Die Menschen waren unsicher geworden an ihrem Dasein. Mit Grauen wendeten die Alten den Blick von der Zukunft. Aber die jungen Herzen jauchzten. Sie spürten: unter Blut und Tränen kam ein neuer Tag herauf, ihr Tag. Um den großen Mund Katharina Skawronskas zuckte ein Lächeln: sie fürchtete sich vor dem Neuen nicht, mochte es immerhin in Gestalt der Russen erscheinen. Ihre schmalen Lippen verzogen sich spöttisch: es waren auch nur Männer! Tiefer drückte sie den von dichtem, rotem Haar umbauschten Kopf wider das dunkle Grün des Gaisblattes. Ah! Sie dehnte die Arme. Das enge Miederkleid spannte sich über den vollen Brüsten. Ihre grünlichen Augen bekamen einen hellen Glanz. Eine Erinnerung war ihr in den Sinn gefallen, von einem Abend, einem düstren, regenfeuchten Novemberabend, da Schnee und Sturm ums Haus tobten. Da stand er vor ihr, der Russe. In ihrem Blick blitzte es auf: nein, vor den Russen hatte sie keine Angst. Lässig rückte sie die Glieder, streckte und schob sich zurecht auf der Weidenbank. Der Mittag glutete. Langsam sanken ihr die Lider. Noch einmal hob sie sie: »Halte gut Wache.« Der dreizehnjährige Knabe, der in dem Eingang zur Laube an der Erde hockte, nickte ernsthaft. Die Gerte, die seine hageren, verzehrten Finger schwangen, klatschte aufgeregt gegen die Pfosten. Zischend stieß er zwischen den Zähnen hervor: »Keiner darf dir was tun!« Unbeweglich saß der kindliche Hüter. Verwandte das Auge nicht von der Schläferin, nur die Gerte in seiner Linken wippte leise. Ein grünlich schillernder, großer Brummer summte in die Laube und zog seine Kreise. Mit flirrenden Flügeln verhielt er über dem prallen, festen Fuß, der rosig unter dem kurzen, derben Rock sich vorschob. Doch nur einen Augenblick. Eilig surrte er weiter, nistete eine kurze Weile auf dem weißen Busentuch, das unter dem sachten Wellen des Atmens sanft sich hob und senkte, und richtete dann seine Fahrt gegen das leuchtende Gekräusel über der weiß schimmernden Stirn. Dort verweilte er, tastete mit den haarigen Zangen seiner Füße über die klare, samtene Haut. Ein leichtes Zittern rüttelte die Schlafende, der Kopf kehrte sich zur Seite. Erschreckt flog der Brummer auf. Mit großem, erstauntem Blick war der Knabe dem Schauspiel gefolgt. Jetzt schob er sich mühsam in die Höhe, tappte mit den ungelenken, ungleichen Gliedern auf Katharina zu. Die schmale, enge Brust keuchte mit kurzen, heftigen Stößen. Bebend stand er vor dem Ziel seiner Wanderung. Die Gerte, die er fest umklammert hielt, wippte stärker. Tanzend huschte ihre feine Spitze über Katharinens Wange. Erschauernd zuckte sie zusammen. Ein greller, kicksender Laut brach zwischen den lückigen, schwarzgefleckten Zähnen des kleinen Peinigers hervor. Seine schartige Oberlippe zog sich in jäher Freude weit zurück. Ein schüttelndes Beben rann durch den verwachsenen Körper. Der wehe, verkniffene Zug um seinen Mund war plötzlich aufgelöst in süchtiges Verlangen. Schmatzend sogen die Lippen aneinander. Sacht drängte er seine Hand gegen den atmenden Leib. Finger bei Finger kroch sie, ein kleines, braunes, lüsternes Ungetier, langsam höher, und wand sich durch Rüschen und Falbeln. Sie hatte eben den Rand des wogenden Ausschnittes erreicht und hob sich wollüstig zuckend, als das Knirren des Sandes auf dem Gartenwege sie erschreckt zusammenfahren ließ. Gleich einem Mehlsack plumpste der in seinem geheimen Spiel Gestörte zu Boden und kroch, so schnell es sein lahmes Bein zugab, zu seinem Wächtersitz zurück. Im Eingang der Laube erschien ein schlanker, junger Mann, einer der Zöglinge des Propstes Glück, in dessen Hause Katharina nach dem Tode ihrer Mutter Aufnahme gefunden hatte. Der Kleine maß den frischen, blonden Menschen feindselig: »Katha schläft.« Arnd Albedyll biß sich ärgerlich auf die Lippen. Er bemühte sich, zu tun, als habe er gar nicht gewußt, daß jemand und wer in der Laube sei. »So, die Katja ist da herinnen?« Er streckte den Kopf vor, um ihren Anblick in dem grünen Dämmer zu erhaschen. Schnippend fuhr ihm die Gerte ins Gesicht. »Verfluchter Balg!« er suchte die Rute zu packen und an sich zu reißen, »sticht dich der Hafer?« »Du sollst nicht zu Katha,« zischte der Knabe. »Glaubst du, ich weiß nicht, warum du kommst?« Seine Augen glühten böse: »Ich weiß alles. Ich weiß, daß du ihr nachläufst auf Schritt und Tritt, ich habe gehört, wie du sie angebettelt hast, sie soll des Nachts ihre Tür auflassen.« Der junge Baron mühte sich ein Lachen ab: »Schau, wie du lügen kannst.« Die Weide in der Hand des kleinen Eifersüchtigen zerknickte: »Ich werde es dem Vater sagen.« »Untersteh dich!« Mit geballten Fäusten wollte der Erregte auf den hämischen Widersacher ein. »Junker Albedyll,« eine breite Hand legte sich mahnend auf seine Schulter. Arnd fuhr herum, bleich, verstört: »Herr Präzeptor!« Der Präzeptor Wurm musterte ihn kühl: »Habt Ihr Eure Aufgaben schon erledigt, Junker? Ich bin sonst solchen Fleiß nicht an Euch gewöhnt.« Der Geschulmeisterte stammelte etwas von drückender Glut und Luftschöpfen. »In der Laube ist die Luft noch schwüler.« Der junge Baron warf den Kopf in den Nacken und antwortete mit Betonung: »Der Herr Präzeptor muß das freilich besser wissen als ich.« Ein Blitz zuckte von Auge zu Auge. Kein Blick wich dem andern. Der Präzeptor hob die Hand. Der Junker stand wie ein junger Stier mit gebeugtem Nacken, bereit, sich beim ersten Schlag auf den Nebenbuhler zu stürzen. Das Kürtchen kreischte laut auf vor Vergnügen. Sein Geschrei weckte Katharina. Mit einem Ruck fuhr sie auf und war sofort auf den Füßen. Wiegenden Schrittes trat sie zwischen die Kampfhähne. Ihr Lächeln ging vom einen zum andern. Helles Rot schoß in beiden auf. Katharina streckte die Hände. Ihre Hüften schaukelten leicht: »Ich liebe es nicht, wenn meine Freunde sich streiten.« Ein ächzender Laut klang zu ihr hinauf, ein verzerrtes Gesicht sank gegen ihre Knie. Ihr kleiner, eifernder Beschützer. In rascher Umfassung zog sie das erstarrte Körperchen an sich. Sie war die Anfälle seiner Sucht gewohnt. Stundenlang hatten sie ihn sonst geplagt, den armen Leib in wilden Schauern geschüttelt, bis kaum noch Atem in dem wehen Gemächte war. Kein Mittel hatte dagegen verfangen wollen. Als sie zum erstenmal des rasenden Tobens ansichtig geworden war, hatte sie gemeint, der Leibhaftige habe sein Spiel mit dem Kinde, dann aber hatte sie es entschlossen in ihre Arme genommen und an sich gedrückt, fest, ganz fest. Das hatte den ärgsten Sturm gebrochen. Auch diesmal schien der drohende Ausbruch gebannt. Gleichwohl sprangen der Präzeptor und der Junker eilfertig zu Hilfe, faßten und hielten die Glieder, die in kurzen, heftigen Stößen zu zappeln begannen. Im Eifer ihrer Verrichtung kamen sie näher und näher zu Katharina hin. Diese rührte sich nicht, nur das kupfrige Gekraus über ihren Schläfen streifte bald die Stirn des einen, bald den Nacken des andern ihrer Helfer. Dann flammten deren Stirnen höher auf, und die Hände, die stützen sollten, bebten ärger als das vom Krampf geworfene Wesen. »Gerad, als ob sie's vom Satan gelernt hätt'!« Der Gärtnerbursche, der, Rechen und Hacke geschultert, vom Felde heimkam, blieb mitten auf dem Wege, der zur Laube führte, stehen: »Es gibt kein Mannsbild, dem sie nicht das Herz im Leibe umkehrte,« knirschte er hervor. »Verdammt!« Er schob die kurze Holzpfeife in die andere Mundecke und spie aus. »Und kein Loskommen ist. Kein Loskommen. Ist sie aber erst mein Weib,« die Finger spannten sich um die Hacke, »sie mag sich vorsehen. Bei Gott, sie mag sich vorsehen.« Der brave Johann Kruse, dessen Vater und Ältervater schon in Diensten der Marienburger Propstei gestanden hatten, war nicht der einzige, dem der Gedanken kam, daß es mit der Katharina Skawronska noch mal ein übles Ende nehmen würde wenn sie nicht ... Über dieses Wenn wurde er sich freilich nicht klar. Ebensowenig wie sein Herr, der Propst, der, um seine Predigt zum morgigen Sonntag zu memorieren, den Garten aufgesucht hatte und dabei gleichfalls des verräterischen Schauspiels ansichtig geworden war. Seine geistliche Würde verhinderte es, daß er sich im Fluchen Luft machte, ja er empfand die gewisse Beklemmung, die seine breite Brust bei dem unerwarteten Anblick der augenscheinlichen Erregung seines Präzeptors und seines Zöglings bedrängte, mit einem gewissen Staunen. Schon wollte er auf die Gruppe zu und die beiden jungen Leute an ihre Arbeit weisen, als er plötzlich den Schritt verhielt: trieb ihn nur die Sorge um das Heil der andern? Die Predigtaufzeichnungen in seiner Hand knitterten unter dem herrischen Griff, mit dem er die plötzliche Erkenntnis zwang: »Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon die Ehe gebrochen in seinem Herzen,« murmelte er düster und wendete sich mit heftigem Ruck ab. Ein schwerfälliger Schritt folgte ihm tappend. »Herr!« Der Propst sah über die Schulter zurück: »Was gibt's, Kruse?« Der Gärtner zupfte ihn am Ärmel: »Herr,« seine Stimme war dunkel vor Groll, »seht Ihr, wie die Tochter Baals ihre Lust hat mit den Söhnen Davids. Endet das Ärgernis, damit die Gemeinschaft der Gläubigen nicht Anstoß nehme und Euch einen Verderber heiße.« »Kruse,« die breite Rechte des Propstes sank schwer auf die Schulter des Knechtes, »du mutest dir viel zu. Das Weib ist listiger als die Schlangen.« »Ich werde ihr den Kopf zertreten.« »Und sie wird dich in die Ferse stechen.« Die Brust des Gärtners hob und senkte sich in stürmischem Atmen: »Und wenn ich daran zugrunde gehe, sie muß mein werden.« Der Propst nickte. Ein Würgen war in seiner Kehle, und doch sagte er klar und fest: »Du sollst deinen Willen haben.« – Es war Abend geworden. Der Propst ging in seinem Studierzimmer mit harten Schritten hin und wieder. In dem halben Dämmer des scheidenden Tages leuchteten vom Schreibtisch die weißen Blätter der Handschrift zu der morgigen Predigt. So oft der Blick des ruhelos in der Stubenenge Umgetriebenen diesen hellen Fleck streifte, wich er unsicher aus: Lehren! Leiten! Ein schweres Stöhnen unterdrückend, deckte der Propst die Hand über die wie in verhehltem Fieber brennenden Augen. Er fühlte den Grund seiner Seele wanken. Wie war es möglich, daß in ihm, der hoch im Dasein stand, der sich längst jenseits jeder Anfechtung vermeint hatte, plötzlich ein wilder Brand entflammte, nach einem Weibe, dessen Vater er hätte sein können? Seine Fäuste ballten sich schmerzhaft: verfluchter Tag, da ihm der langaufgeschossene Balg im Hause des Ringener Kantors entgegengetreten war, ihn angelacht und ihm erklärt hatte: ich gehe mit dir. Einfach: ich gehe mit dir! Weil der Kantor nicht wußte, wie er den zugelaufenen Nachlaß der Gutsmagd des Herrn auf Rosen neben seinen eigenen acht Göhren durchbringen sollte. Hätte er nur damals auf seine Frau gehört, die sich mit Händen und Füßen sträubte, den Wechselbalg eines adligen Taugenichts und einer hörigen Dirne aufzunehmen. Er aber war erzürnt gewesen ob ihrer unchristlichen Härte. Tagelang hatte er kein Wort mit ihr gesprochen. Nie war das bis dahin in ihrer langen Ehe vorgekommen. Die Frau hatte getrotzt, geweint und sich schließlich seinem Wunsche gefügt. Es war alles gut gegangen. Das Mädel hatte es verstanden, im Handumdrehen auch das Herz sich zu gewinnen, das ihm nicht sehr zugetan gewesen war. Es dauerte noch keine paar Wochen, da sang die Pröpstin das Lob des Fremdlings. Mit allen ging es so. Im ganzen Kirchspiel war keiner, der dem Mädel eine böse Miene gezeigt hätte. Wo es hinkam, leuchteten die Blicke der Männer, und die Frauensleute rissen sich um seine Freundschaft. Es hatte zuweilen wahrhaftig so ausgesehen, als könne das Ding hexen. Der Propst blieb neben dem Fenster stehen, die Stirn, hinter der es zuckte und arbeitete, gegen den offenstehenden Flügel gepreßt: War es nicht fast Hexerei, wie sie seinen Jungen, dieses Häufchen Elend, nach sich gezogen hatte? Sie brauchte ihn nur anzurühren, und im ärgsten Toben wurde er ruhig. Wie ein Wunder Gottes war es ihm erst erschienen. Jetzt wußte er, woher das Wunder kam. Das Zucken seines eigenen Herzens hatte es ihm offenbart. Ihm, dem Vorbilde der Gemeinde. Ein kurzes, gequältes Lachen brach aus dem zusammengepreßten Munde: »Ein Vorbild!« Seine Nägel bohrten sich in das Holz des Fensterrahmens. Er durfte sich nicht an sich beirren. Wohl pochte sein Herz stärker, aber noch hatte er es in der Gewalt. Und er würde dafür sorgen, daß er es in der Gewalt behielt. Das Versprechen, das er seinem Gärtner gegeben hatte, mußte erfüllt werden. Bald mußte es erfüllt werden. Leise fiel ein rasches, helles Pochen in seine Gedanken und leicht und sacht ging die Tür auf. Ein milder, warmer Schein drang in das Zimmer und scheuchte die abendliche Dunkelheit vor die Fenster, hinaus unter Büsche und Bäume. Katharina, den grünbeschirmten Leuchter in der Hand, trat über die Schwelle. Weich und behende glitt sie durch den Raum. Die Blicke des Propstes hingen an ihren Bewegungen. Ihm war, als sähe er sie zum ersten Male. Eben so behutsam, wie sie gekommen, wollte sie sich zurückziehen, da gewahrte sie, wie der Propst die Hand hob, als müsse er sie halten. Unwillkürlich verweilte sie. Jetzt erst wurde sich der Propst dieser Bewegung bewußt. Er fühlte: er mußte eine Erklärung geben. Was, was nur? Ah, Kruses Werbung, die nahe Hochzeit. Seine Zunge mühte sich schwer um die Worte. Mit jedem einzelnen türmte er den wehrenden Wall zwischen sich und der gefährlichen Lockung. Jedes einzelne mußte er sich abringen. Katharina hatte verwundert aufgehorcht: woher auf einmal dieses Drängen auf Erfüllung eines Wunsches, den zu gewähren sie nicht eilig hatte. Bisher hatte der Propst ihr beigestanden, den Ungeduldigen zu zügeln, wenn er allzu heftig in seinem Anliegen wurde. Jetzt redete er ihm das Wort? Was hatte sich ereignet? Der stillschweigende Widerstand verwirrte den Propst. Seine Rede stockte, brach ab und verstummte endlich ganz. Eine peinvolle Stille entstand. Der Propst glaubte, sein Herz klopfen zu hören. Immer lauter erhob sich der pochende Schwall, wuchs zu einem Klingen und Dröhnen. Keuchend jagte die Brust des Propstes, ihm war, als müsse er in seinem eigenen Blute ersticken. Krallend zerrte seine Rechte an der Halsbinde. Die dünnen, durchsichtigen Lider Katharinas glitten langsam zu einem kühlen, erstaunten Blick auf. Doch rasch wandelte blitzschnelles Begreifen den fragenden Schimmer der grünlichen Augen in flackerndes Glimmen: es galt, den Vorteil der Stunde zu nützen! Ihr Gesicht nahm einen kindlich-bänglichen Ausdruck an: »Ich bin dem Geschick dankbar, das mich auch in dem neuen Stande der fürsorgenden Huld des väterlichen Freundes nicht entzieht.« Die Schmeichelrede tat vor dem Propste einen Abgrund auf. Was Schranke hatte werden sollen, drohte Brücke zu werden. Seine Blicke hingen brennend an der biegsamen, geschmeidigen Gestalt vor ihm: wahrlich, sie war schön, schön wie Bathseba. Die Finger des Propstes bogen sich ineinander: er durfte, er wollte nicht schwach werden gleich David. Als suche er Halt und Stütze, drängte er den mächtigen Rücken gegen den hochlehnigen Stuhl vor dem Schreibtisch. Hastig, fast heftig antwortete er Katharina, ängstlich bemüht, mit jedem Vorschlag weiteren Raum zwischen ihr und sich zu bringen. Die Enge der Marienburger Verhältnisse, die Notwendigkeit voranzustreben, ein größerer Wirkungskreis, Empfehlungen an Freunde in Riga, ein Gütchen bei der Stadt, eine angesehene Stellung und reiches Auskommen. – Erschöpft schwieg er. Nicht eine Miene hatte sich in Katharinas Gesicht verzogen, nur das Gleißen in ihren Blicken funkelte herrischer. Um das verräterische Glühen zu verbergen, haschte sie nach der Hand des Propstes, um sich mit einem leichten Dank über sie zu beugen. Doch wie von Klammern wurde sie emporgerissen. Er hatte sie gepackt und hielt sie mit eisernen Fäusten. Armeslänge zwischen seinem Munde und dem andern, dessen Süße zu kosten es ihn hinriß. Langsam neigte sich seine Stirn. Der Zoll, den er der Schwachheit menschlicher Natur entrichtete. Aber seine Hände rückten die gefährliche Bezauberung unerbittlich von ihm ab. – Die Tür war hinter Katharina ins Schloß gefallen. Leicht, beschwingt, Tanz in den Füßen, eilte sie den Gang hinunter. Auf der Schwelle zum Garten blieb sie stehen. Duftatmend, mondglanzübergossen tat er sich vor ihr auf. Tausend zarte verliebte Töne riefen durch die Nacht. Alle Sinne spannten sich zum Genuß. Schweigend öffneten sich Katharinas Lippen und gaben die kleinen harten weißen Zähne frei. – Im Arbeitszimmer des Propstes fiel der friedliche Schein der Lichter auf die zuckend im Schoß gefalteten Hände. In dem grünlichen Schimmer des Schirmes aber hob sich ein erhaben geweihtes Antlitz, in dem jeder Wunsch verstummt war in der Bitte um Gnade. IV. Katharinas Hochzeitstag war gekommen. Glühend rot stieg sein Morgen aus dem weißlichen Dunst, den die Nacht über den erntereifen Feldern zurückgelassen hatte. Vor den ersten Strahlen der Sonne wich das schwebende Wallen, wandelte sich in kühlen Tau, den die Erde durstig einsog, und durch die schwindenden Schleier schwangen sich die Lerchen, stiegen hinauf, hoch hinauf in den strahlend blauen Himmel, um ihren Weckruf über das Land zu jubeln. Es war ein eiliges Wecken in jener Frühe. Mit den Lerchen um die Wette schlugen die Glocken und schmetterten die Böller. Immer dringender mahnte das Dröhnen, rief das Hallen. Sturm! hieß das: Sturm! Die Wolke, die wochen-, monatelang gewitterschwanger am Horizont gestanden hatte, zog in rasender Eile herbei: Scheremetjef mit seinen Truppen. Und vor ihnen her von Angst gejagt die Leute von Settinghof und Rosenhof, von Sommerpanlen und Romeskalm. Zu Fuß, zu Pferde, zu Wagen. Hochaufgetürmt den Hausrat und allerlei Kram auf Hucken und Gefährten. Kinder und Alte und die Kranken zwischen Kasten und Truhen, Heubündeln und Strohgarben. Das schob und drängte, weinte und zeterte, jammerte und fluchte. Auf allen Gesichtern die Schatten der friedlosen Nacht. Welk und müde die Züge, die Augen tief, fast erloschen in den Höhlen, stumpf der nahen Zuflucht zugekehrt, doch immer wieder herumgerissen von der Erinnerung an durchlebtes Schrecknis. Dunkel wälzte sich der Strom in die Stadt, zwängte sich in die Straßen und Gassen, füllte sie mit Not und Geschrei. [Illustration: Peter I. der Große Nach einem Stich von Jak. Houbraken] Katharina stand am Fenster, als der Schwarm sich vorüberschob. Sie hatte ihren kleinen Spiegel an den Riegel des offenen Flügels gehängt und war damit beschäftigt, ihr Haar aufzustecken. Über die hocherhobenen vollen Arme fluteten die schweren roten Wellen hinab auf den weißen, sanftgeschwungenen Nacken. Prall und fest spannten sich die runden Brüste unter dem zarten Leinen des Hemdes. Im Takt glitt der Kamm durch die dichten Strähnen. Katharina warf den Kopf zurück und zeigte ihrem Spiegelbilde die Zähne: hei, es ging lustig zu in der Welt. In dem winzigen engen Rahmen, darin der Spiegel ihr ein Stück der Straße einfing, wurde sie der Flüchtenden gewahr. Kleine verhuzelte Menschlein krochen über den Weg, zogen randvoll beladene Kärrchen, stießen und balgten sich vorwärts. Wurden immer mehr, wurden ein dichter wimmelnder Klumpen, hatten weder Arm noch Bein, nur Buckel, lauter Buckel, hochaufgetürmte Buckel. Sie kümmerte sich nicht um das, was unten, dort, wo das unglückliche Volk sein bißchen Dasein durch die rettende Gasse schleifte, in Wahrheit vorging, unverwandt blieb ihr Blick auf den putzigen Widerschein gerichtet. Sie lachte, lachte, lachte –. Eine jauchzende Tollheit befiel sie. Sie sprang durchs Zimmer, wirbelte sich im Kreise und klatschte in die Hände: einen solchen Hochzeitstag hatte sobald keine. [Illustration: Fürstin Darja Menschikoff Nach einem Stich von A. Dubow] In ihre Ausgelassenheit fuhr das Gellen schriller Trompetenstöße. Zugleich wurde das drängende Lärmen auf der Straße eiliger. Mit einem Ruck stand sie. Die hellen Brauen zogen sich nachdenklich zusammen: ob auch an sie bald die Reihe kam, zu wandern? [Illustration: Graf Scheremetjef Nach einer Lithographie von Langlume] Sie stieß die Schultern mit einer abtuenden Bewegung hoch: was konnte ihr geschehen? Ihr, nichts. Wohl aber dem, der in zwei Stunden ihr Mann sein würde. Er sah schmuck aus in der Trompeteruniform. Schade, daß er sie mit Unlust trug. Er meinte, ein junger Ehegatte habe andere Pflichten, als sich in Gefahr zu begeben. Er hatte Angst, daß er seinen Platz neben ihr allzubald würde verlassen müssen. – Sie nickte, während sie ihre krausen, ruscheligen Haare langsam zu einem dicken Knoten schlang: sie brauchte nicht zu sorgen, daß sie allein bleiben würde. War es nicht der Johann Kruse, so war es ... Ihre Brust dehnte sich. Sie beendete den Gedanken nicht, aber der feste, bestimmte Ausdruck ihrer Züge zeigte, daß sie in ihrem Geiste Möglichkeiten erwog, die weit über das Dasein einer behäbigen Gärtnersfrau hinausgingen. – [Illustration: Fürst Alexander Menschikoff Nach einer Lithographie von Langlume] Die Trauung in der Marienkirche war vorüber. Die Pröpstin hatte im Gartensaal ihres Hauses eine kleine Tafel herrichten lassen. Daran saßen neben dem Hochzeitspaare und den Zugehörigen des pröpstlichen Hauses die Ehrengäste: die betagten Eltern des Gärtners, der Oberst und der Major des schwedischen Regimentes, dem Kruse angehörte, und einige Leutnants, die der Oberst von der Kirche her auf ihre Bitten hin mitgebracht hatte. Die jungen wie die alten Herren hatten nur Augen für die Braut, kaum daß des Bräutigams in den kurzen Trinksprüchen, die seine Regimentsoberen hielten, gedacht wurde. Steif, mit einem bösen, verbissenen Gesicht saß Johann Kruse wie angenagelt auf seinem Stuhl. So oft Katharinens Wohl ausgebracht wurde, hob er den dicken Glashumpen, der vor ihm stand, und leerte ihn mit einem Zuge. Je mehr er trank, um so argwöhnischer belauerten seine runden, rollenden Knopfaugen die ihm gegenübersitzende Katharina. [Illustration: Graf Apraxin Nach einer Lithographie von Langlume] Diese unterhielt sich vorzüglich. Der Wein trieb das Blut in rascherem Schlage durch ihre Adern und lockte eine leichte Röte in ihre Wangen. Und die offenkundige Bewunderung der vornehmen Offiziere schmeichelte ihr nicht wenig. Je ingrimmiger ihr Angetrauter dreinsah, um so mutwilliger scherzte sie. Seine närrische, ungelenke Art verdroß sie: wahrhaftig, er benahm sich wie ein Bauer. Sie bemühte sich angelegentlich, sein Ungeschick auszugleichen. Es gelang ihr vortrefflich. Sie plauderte mit ihren Nachbarn, dem Obersten und dem Major, als sei sie einen derartigen Umgang von klein auf gewöhnt, rückte ihnen mit allerlei wißbegierigen Fragen über Verteidigungsanstalten und Angriffsmaßnahmen, Stärke und Bewegungen der Russen, Aussichten und Absichten der Schweden auf den Leib und wußte ihren Lerneifer so mit Munterkeit zu würzen, daß die alten Haudegen ganz hingerissen waren. Besonders der Oberst vergaß völlig, wen er vor sich hatte, und kramte aus den Erinnerungen seiner lang vergangenen Jugend all die kleinen Künste der Hofmacherei hervor und brachte sie beflissen und mit heimlichem Stolz über seine wiederentdeckte Begabung zur Anwendung. Katharina machte sich einen Spaß daraus, ihn in seinen Bemühungen um ihre Gunst anzustacheln. Sie übersah geflissentlich die drohend auf sie gerichteten Blicke ihres Gatten: er sollte sich nicht einbilden, daß sie seine Sklavin sei. Laut und lustig antwortete sie dem schmeichelnden Necken des Obersten. Stieren Auges starrte der junge Gärtner auf das Paar. Schwere, dunkle Glut rückte über seinen Nacken bis in die Stirn hinauf, die Adern an den Schläfen schwollen zu dicken Strängen. Eben hatte der Oberst sein Glas erhoben und ein Hoch auf die Schönheit und die Liebe ausgebracht. Begeistert stimmten die jungen Leutnants ein. Der Junker von Albedyll reckte seinen Arm wie zum Schwur, seine Augen suchten Katharina. Und selbst der zurückhaltende Präzeptor drängte sich, mit Katharina anzustoßen. Schwerfällig hatte sich Kruse in seinem Stuhl hochgeschoben. Mit der Linken hielt er sich klammernd an der Tischkante, der Kopf beugte sich wie zum Stoß vor. Zitternd schwenkte die Rechte den Humpen, strebte hin, an Katharinas Glas zu klingen. Es gelang ihm nicht. Der Oberst war ihm im Wege. Die launige Ansprache, die er der Gefeierten hielt, wollte und wollte nicht enden. Da packte den andern die Wut. Mit einem dumpfen, abbrechenden Laut warf er den Becher nach dem Hinderlichen. Splitternd klirrten die Scherben über den Tisch, und der Wein färbte in breitem Gusse die festliche Tafel. Grelle Tropfen spritzten auf Katharinas Kleid. Alle sprangen auf. Ein paar der Offiziere zogen die Degen. Doch Katharina war schneller als die schlagfertigen Unbesonnenen. Über den Tisch hinweg ergriff sie Kruses geballte Fäuste. »Mein Mann hat dem Herrn Obersten für den freundlichen Trinkspruch danken wollen. Er ist ungewohnt des Wortes, und die Freude über das mir gespendete Lob«, der kühle, beherrschte Blick ihrer grünlichen Augen richtete sich voll auf den Obersten, »hat ihm den Sinn verwirrt. Der Herr Oberst wird es ihm daher nicht anrechnen, daß der beabsichtigte Dank etwas heftig ausfiel.« Der Oberst fühlte sich von der Höhe seiner Erinnerung herabgestürzt. Er nickte verlegen. In gesucht biedermännischem Tone kehrte er sich zu Kruse: »Er hat eine gescheite Frau, eine tapfere Frau, eine ...« Katharina schnitt die weitere Aufzählung ihrer Tugenden mit einem tiefen Knix ab, in dem sie vor dem alten Kavalier versank. Ein zweiter vor dem Propst und der Pröpstin, ein herzliches Umarmen der Eltern ihres Mannes, ein leichtes Grüßen und Neigen gegen die übrigen Festgenossen, die Feier war zu Ende. – Das junge Paar war mit sich allein. Allein in der kleinen, niederen Stube, deren Fenster in den Garten hinaussahen, durch die seine Pracht mit Blühen und Duften hineinströmte. Von den nahen Beeten zog der schwere, würzige Geruch des Heliotrops heran, und von den Büschen, die das Haus einrahmten, fiel der schwüle Hauch des Jasmins betäubend in die Enge der Zimmer. Über Rasen und Wegen lag die zärtliche Helle der Sommernacht. Die großen, roten und blaßblauen Häupter der hohen Mohnstauden schwammen leise, von sanftem Winde gewiegt, in dem goldenen Dämmer, und zwei kaum erschlossene Rosen, eine volle purpurne und eine weiche gelbe, neigten sich, auf benachbarten Stengeln schwankend, in kosendem Spiel zueinander. Katharina hockte auf einem niederen Schemel mitten in der Stube. Die Knie hatte sie angezogen, die Arme darum geschlagen und die Finger fest ineinander verschlungen. Wie leblos verharrte sie. Sie hörte das Umherschwanken des Trunkenen, hörte die lallenden, knurrenden Laute des Eifersüchtigen, das stoßende, ruckende Atmen des Gierigen. Ein feiner, lauernder Kitzel war in ihr: ob er es wagte, sie zu berühren? Und was würde er tun? Sacht drehte sie den Kopf über die Schulter. Er lehnte gegen die Bettwand. Mit zäher Mühe hielt er sich aufrecht. Die schweren, dicken Lider, die ihm jeden Augenblick zuzufallen drohten, riß er überweit auf. »Frau!«, murrte er, »Frau!« Katharina ließ die bloßen Füße auf den Boden klatschen. Kühl rannen die Falten des langen Hemdes über ihren heißen Körper. Sie reckte sich. Ihre Oberlippe kräuselte sich verächtlich. Nahe, ganz nahe glitt sie an den zum Griff ausgespannten Fingern vorüber und war mit einem Sprunge zwischen den Kissen. Eilig wollte der Genarrte ihr nach. Doch der Heftigkeit seiner Begierde entsprach nicht mehr die Gewandtheit seiner Glieder. Katharina war schneller als er. Sie wich aus, bog sich zurück, warf ihm die Betten an den Kopf, die Decken zwischen die Beine. Er verfing sich darin, strauchelte, arbeitete mit Händen und Füßen, sich zu befreien. Indessen hatte sie die weichen Wurfgeschosse wieder an sich gerissen, und das hastende Spiel begann aufs neue. Zuerst hatte sie es getrieben, weil sie den vom Rausch Umnebelten sich fernhalten wollte und hoffte, ihn zu ermüden. Dann reizte sie es. Sie hatte ihre Lust daran: wer würde Sieger bleiben? Schon wurden seine Bewegungen lässiger, sekundenlang schien es, als schliefe er, hingeworfen, wie er gerade lag, da gab sie sich eine Blöße, entwich einen Augenblick zu spät seinem Zupacken. Er ergriff sie. Mit beiden Fäusten preßte er ihre Schultern zusammen und riß sie zu sich. Alles Blut wich aus ihren Lippen. Ein Schrei lag zwischen den erblaßten. Er wurde nicht geschrien, aber jede Fiber an ihr bäumte sich wider die Gewalt. Ein stummes, erbittertes Keuchen begann. Immer heftiger, immer wütender wurde der Kampf. Seine Sinne kamen ins Sieden. Eine Feuerwolke stieß aus dem erregten Leibe über ihr, drang auf sie ein, glühend, in flammendem Brande. Ihr Wehren brach ermattet, ihr Widerstand versagte. Ganz nah das Knirschen seiner Zähne, sein weinfeuchter Mund. Da: Wassersturz der Stunde! Trommelwirbel. Mit einem Stoß war sie frei: »Alarm!« Der plötzlich Ernüchterte hastete zum Fenster, lauschte in die Nacht hinaus. Von allen Seiten gellten die Signale. »Verdammt! Aus dem Hochzeitsbett reißen einen die Hunde.« Er kehrte sich ins Zimmer, schritt auf das Lager zu und warf sich hinein: »Sollen sie mich holen. Ich gehe nicht. Was kümmern uns ihre Schlachten. Mögen sie sich prügeln, wenn sie nicht miteinander auskommen können. Wir«, er griff nach Katharina, »haben Lustigeres zu tun. Was Frau?« Sie antwortete nicht. In feindlicher Abwehr hüllte sie sich fester in ihre Decken. Er stutzte. Langte noch einmal nach ihr. Schäkernd, verliebt. Sie bog aus. Ohne Hast, langsam, verächtliche Ablehnung in dem schönen Gesicht. Die Augen des Trompeters weiteten sich erschreckt. In plötzlichem Begreifen. Ein rauhes Lachen schlug auf. Brach hart ab: »Steht's so? Du bist froh, wenn du mich los bist? Je bälder, je besser?« Sie schwieg. Sie sah über ihn hinweg, weit hinweg. Das sprach deutlicher als jedes Wort. Wie unter einem Schlage duckte Kruse den eckigen Kopf zwischen die breiten Schultern. Stärker lärmten draußen die Trommeln. Er ruckte sich zusammen. Einen Augenblick wartete er noch. Auf einen Gruß, einen Händedruck zum Abschied. Katharina kniff die Lippen zusammen, hart, abweisend, nestelte die Hände in die Falten des Hemdes. – – Er war gegangen. Sein Schritt war verklungen. Sie saß auf dem Bettrand und ließ die Beine baumeln. Ihre Brust dehnte sich, als wäre eine Last von ihr genommen. Vom Fenster her kam ein raschelndes Geräusch. Ein Kopf wurde sichtbar, ein schlanker, geschmeidiger Körper. Der Junker von Albedyll. Mit einem Sprunge war er im Zimmer, stürzte auf Katharina zu, umschlang sie, flehte und bettelte mit Blick und Gebärde. Sie antwortete nicht, schloß nur die Augen und bot sich seinen Küssen dar. Rauschend brauste der Sturm seines ersten lodernden Gefühls über sie hin. Taumelnd glitten seine fiebernden Hände durch ihre Haare, saugte sein Mund den Duft ihres Leibes. Ihren Nacken, ihre Brust sengten seine glühenden Lippen. Keuchend barg sich sein Haupt in ihrem Schoße. Wie ein Schlag fuhr es durch seinen Körper, trieb ihn auf, stark und verlangend. Seine Arme reckten sich, sie an sich zu ziehen. Jäh richtete sie sich auf, schüttelte die süße Betäubung ab. Zu weit fast hatte sie sich in ihr verloren. Bestürzt, Tränen der Enttäuschung in den wundersüchtig großen knabenhaften Augen, stand der Junker vor ihr: »Habe ich dir weh getan?« Katharina wehrte leicht: »Frühlingssturm tut nicht weh.« »Und dennoch ...« »Dennoch. Der Sommer ist reicher als der Frühling.« Sie sagte es verloren, über ihn hin. Er faßte nur die Verheißung, die in den sehnsüchtigen Worten lag. Seine Brust schwoll. »Meines Sommers willst du warten?« »Des Sommers ...« Ihr Mund öffnete sich durstig. Sie verstummte. »Du sein Preis.« Ungestüm riß er sie an sich, eilte trunken von Hoffnung davon. »Sommer,« flüsternd fielen die Laute in die Stille um sie her. »Wer wird ihn mir bringen? Der Bauer nicht und nicht der Junker. Einer ist, der, wollte ich, brächte ihn mir.« – – V. Marienburg stand vor dem Fall. Auf allen Seiten von den Russen eingeschlossen, keine Hoffnung auf Entsatz, kein Brot und nur noch ein Geringes an Munition, das nicht mehr zur Verteidigung, nur noch eben dazu reichte, dem Gegner den letzten Trumpf zu bieten und Schloß und Basteien in die Luft zu sprengen. Die tapfere Gegenwehr der Besatzung hatte ihr und den Bürgern freien Abzug erstritten. Mit Sack und Pack, so viel jede Schulter tragen konnte, zogen sie an dem Sieger vorüber. Zuerst die Soldaten. Müde, verfallene Gesichter über zerschlissenen verschmutzten Uniformen. In stumpfem Trott trabten die von den schlaflosen Wochen beschwerten Füße. Doch vor dem Sieger straffte sich der Tritt, mühten sich die gebeugten Gestalten, sich aufzurichten, faßten die erschlafften Finger fester Säbel und Flinte. Aus manchem Auge brach ein Glänzen, rief dem Überwinder zu: wir sehen uns wieder, wahre dich! Breitbeinig, auf seinen Pallasch gestützt, erwies der russische Feldmarschall den Abziehenden die Ehre. Die Hand am Hute, grüßte er die Tapferen. Nach den Soldaten die Bürger. Voran der Bürgermeister und der Propst. Auf samtnem Kissen bot der Bürgermeister dem Feldherrn die Schlüssel der Stadt. Scheremetjef nahm sie mit einer gewollt gelassenen Bewegung und reichte sie seinem Adjutanten: »Dem Zaren, und sage ihm,« die rauhe Stimme hob sich, »der Zugang zur Hochzeitskammer sei aufgetan, der Bräutigam möge nicht säumen und kommen, sein Fest mit dem livländischen Herzen zu halten. Diesmal, dafür stehe ich,« er stieß den Pallasch in den Boden, »wird die Schöne sich ihm ergeben.« »Willig wird sie dem Starken sich verbinden, wenn er ihr gewährt, in seinem Hause in Freiheit nach ihrer Art zu leben.« Der Propst stand hoch aufgerichtet vor Scheremetjef. Die buschigen Brauen des Feldmarschalls zogen sich dicht zusammen: »Was will der Pfaffe?« »Dem Zaren und meinem Lande dienen. Je besser sie einander verstehen,« der Propst deutete auf eine slawische Bibel, die er mit sich trug, »um so eher werden sie ihren gegenseitigen Vorteil begreifen.« Scheremetjef hörte schon gar nicht mehr auf ihn, sein Blick war auf Katharina gefallen, die an der Seite der Pröpstin den Ausgang der Unterredung abwartete. Über dem einfachen dunklen Rock leuchtete der weiße Hals und das Goldhaar doppelt hell. »Wer ist das?« Ohne daß er sich umwendete, wußte der Propst, wen die Frage meinte. Er gab, so weit er es vermochte, Bescheid. »Gut, gut.« Die massige behaarte Rechte Scheremetjefs wehrte allzu breiten Erörterungen: »Es soll dir und den Deinen an nichts fehlen, Pfaff, Rußland kann tüchtige Leute gebrauchen. Das Mädel wirst du freilich entbehren müssen. Uns ist ein schönes Gesicht zur Labsal mehr vonnöten als dir. – Wir werden schon gute Freunde werden!« grüßend winkte er zu Katharina hin. Diese verstand nicht eine Silbe des russischen Zurufes, aber sie begriff seinen Sinn und sie lächelte. Mit einem Lächeln ließ sich auf alles antworten. Es sah aus wie ein Versprechen und verpflichtete gleichwohl zu nichts. – Die Marienburger Bürger waren, in Gruppen eingeteilt, von einem Adjutanten fortgeführt worden. Nach Moskau. Nur Katharina und noch einige Frauen wurden zurückgehalten. Manche blieben auch freiwillig. Was sie einst besessen, woran ihr Herz gehangen hatte, war nicht mehr. Der Mann gefallen, gefangen oder zu neuen Kämpfen fortgerissen, Haus und Hof zerstört, die Nachbarn hierhin verstreut und dahin. Niemandem galten sie mehr etwas, wie sollten sie selber sich etwas gelten? Verzweifelt warfen sie sich fort. Dem ersten besten an den Hals. Froh, daß er sie haben mochte. Sie, die jahraus, jahrein sorglich des Morgen gedacht hatten, auf weit hinaus, verblendeten sich vor ihm. Heute, nur heute einen Arm um sich fühlen, war die Zärtlichkeit noch so rauh, der Liebhaber noch so wüst. Es war ein Mensch, der sie fortnahm aus der grenzenlosen Verlassenheit und sie für Augenblicke ihr Elend vergessen ließ. Vergessen. In den trüben Wirrsalen ungezügelter Lust hofften sie ihre Not und ihren Jammer zu ertränken. Gingen sie dabei zugrunde, um so besser, so waren sie aller Pein ledig. Und sie lockten mit den Augen, aus denen noch die Tränen flossen, und flüsterten Liebesworte mit den Lippen, die in Weh zuckten. Keiner der Reiter und Bombardiere und Musketiere stieß sich daran. Weiber waren Weiber. Lagen sie erst an ihrer Brust, würden sie aufhören zu flennen. Ein paar tüchtige Schnäpse, und sie kreischten vor Vergnügen. Ehe es Abend war, war aller Kummer verflogen. Hei, die Fideln! die würden ihnen die Füße leicht machen. Eins, zwei, eins, zwei, hoppla im Takt! Es sollte ein lustiges Leben werden. Und der eine nahm die Marie, der andere die Martha, der dritte die Liese um den Leib, tat barsch und freundlich, wie es gerade seine Art war, schwenkte und drängte sie und zog mit ihr von dannen; nach den Branntweinbuden und den Tanzzelten. Zu jeder Grete fand sich ein Hans. Katharina, die, die Hände aufgestützt, lässig an einem Schanzkorb lehnte, hob leicht die Schultern: Die armen Weiber! Da liefen sie hin mit irgendeinem, der ihnen ein bißchen schön tat. So billig gab sie sich nicht. Sie brauchte sich nicht billig zu geben. Sie konnte wählen. Nicht zwischen zweien und dreien, zu Dutzenden umringten die Russen sie, stießen und schoben sich, starten und glotzten und versuchten, mit plumpen Scherzen ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie sah sie alle und sah dennoch keinen. Nicht einen, der ihr wert erschien, ihm einen Blick zu schenken. Sie schätzte genau: hinauf wollte sie und nicht hinab; diese Leute aber waren keine Staffeln zur Höhe. – Gleichmütig, als sei sie allein, begann sie ein Liedchen zu summen. Die Soldaten wurden unruhig. Sie spürten das Mißachtende dieser scheinbaren Harmlosigkeit. »Will das Frauenzimmer uns zum Narren machen,« schalt ein schnauzbärtiger Wachtmeister. »Sie wartet, daß der Alte ihr eine Kutsche und Lakaien schickt,« höhnt ein schmucker Gardist. »Da kann sie warten, bis sie alt und grau wird«, lacht sein Nachbar. »Der Brummbär macht bald einmal verliebte Nasenlöcher, aber wenn er erst über seinen Plänen sitzt, denkt er nicht mehr daran.« »Du!« ein Unteroffizier schob sich dicht an Katharina heran, »tu dich nicht gar so rar. Besser als ein vielbeschäftigter Feldmarschall ist ein Reitersmann, der Zeit für die Liebe hat. Und Lust, Mädel, Lust.« Der Ton des Liedes wurde übermütig, die eine Fußspitze der Trällernden wippte auf und nieder im Takt: »Und lädst du mich zum Branntewein Und lädst du mich zum Bier, Ich dank' für Bier und Branntewein Und bleibe lieber hier. Und bietest du mir gar dein Herz – Du irrst dich, lieber Freund, Und treibst ein wenig weit den Scherz: So war es nicht gemeint!« Dem Unteroffizier blähte sich der Hals purpurn. Blieb ihm auch der Text fremd, die Weise war deutlich genug. »Luder!« »Die Dirne dünkt sich zu gut für einen Soldaten,« hetzte es an seiner Seite. »Generalsliebchen möchte sie spielen.« »Was, General,« schrie ein dritter, ein baumlanger Kerl, erbost, »wenn's darauf ankommt, steh ich meinen Mann besser als der.« Immer enger wurde der Kreis um Katharina, immer bedrohlicher die Gebärden, immer lauter die stachelnden Reden: sollte ein Weib sie zum besten halten? Jeden gelüstete es, ihr zu beweisen, daß auch die Schönste nicht ungestraft ihr Spiel treibt, aber keiner gönnte dem andern, diesen Beweis zu erbringen. Stärker als die Begierde des einzelnen war der Neid aller auf den Begünstigten. Gleich einer aufgeregten Meute schob und trieb der Schwarm um die eine. Die von Verlangen durchwühlten Leiber flogen, heißer Dunst schlug aus ihnen, näßte die Stirnen, klebte die Haare an die Schläfen und zündete einen flackernden Glanz in den stieren Augen an. Aus manchem Munde troff Speichel. Die Maske der Gleichmütigkeit und Überlegenheit wich nicht von Katharinas Zügen, obwohl jeder Sinn auf der Lauer lag, den Durchschlupf zu erspähen, der aus diesem gefährlichen Ring führte. Der Laut eines raschen, schwingenden Trittes drang an ihr Ohr. Ein Federbusch wurde über dem Gewühl sichtbar: ein General. Mit einem Sprung war sie auf dem Schanzkorb. Ein Rufen und Schreien. Hundert Arme streckten sich nach ihr. Der Offizier kehrte sich um, stutzte: das war ja eine Schönheit, um die die Burschen sich balgten. Wahrhaftig zu schade für deren grobe Fäuste. – Im nächsten Augenblick war er mitten unter den Soldaten. Ihren Alexaschka erkennen und Platz machen war eins. Wie durch eine Ehrengarde schritt Menschikoff auf Katharina zu. Mit einem Scherz wollte er ihr seine Begleitung anbieten. Sie hob die dünnen Lider. Ein Blick streifte ihn aus diesen kühlen, grauen Augen, herrisch, fordernd. Und wie unter einem Zwange zog er den Hut und bot der Unbekannten, der Landflüchtigen, der Soldatendirne den Arm. Fest und entschlossen legte sie ihre Hand hinein, ging sicher an seiner Seite. Ein brüllendes Krachen riß Menschikoffs Kopf herum. Flammen schlugen aus der Erde. Eine Wolke von Steinen, Dreck und Staub. Marienburg war in die Luft gesprengt. Erschüttert neigte der Mann sich zu seiner Begleiterin: »Eure Heimat ging in Trümmer.« Katharina wendete sich nicht um. Ihre Stimme war hell: »Meine Heimat liegt vor mir.« VI. Seit Peter den Türmen der Kremlkirchen die ehernen Zungen ausgerissen hatte, um aus ihnen Kanonen zu gießen, konnten die ehrwürdigen Hüter des Alten ihrem Schmerze über die fluchwürdigen Neuerungen nicht mehr durch wehmütiges Geläut Luft machen, das die Gläubigen zur Buße mahnte und zu dringenden Gebeten wider die Anschläge des Antichristen anhielt. All ihren Schmerz und ihren Zorn mußten sie nun im Schwingen der Weihrauchkessel entladen. Je stärker der schwüle, schwere Duft aufquoll und die winzigen Höfe, die engen, von düsteren Gebäuden umstellten Plätze füllte, um so zorngeschwellter waren die Herzen der Bischöfe und Äbte. Mit den Schwaden des süßlichen Dampfes strömten sie wortlos ihre Klagen über das Unheil in die Welt, das sie betroffen hatte. Und kein Schloß, kein Riegel wehrte dieser Kunde. Durch die kleinste Ritze zwängte sie sich in die verschlossensten Gemächer und quälte die allzu weichen Gemüter. Die Klerisei hatte viel zu klagen. Mit dem gottlosen Bartscheren und dem Wüten gegen die altrussische Tracht hatte das Übel angefangen. Dann hatte der Kriegsteufel den Zaren gepackt und zu dem Frevel angestiftet, sich um seiner ehrgeizigen und eigensüchtigen Zwecke willen an dem Gut der Kirche zu vergreifen. Er kannte nur sich und seinen Willen. Nichts war ihm heilig. Was sich ihm entgegenstellte, stieß er beiseite. Die Greuel, die er begangen, waren nicht zu zählen. Seine Gattin hatte er verstoßen. Die Ärmste, die keiner Fehler schuldig war als ihrer Abneigung gegen seine rasende Neuerungssucht, warf er in eine Haft, die heilig hieß, weil das Elend, das sie aufnahm, Kloster genannt wurde. Nicht einmal ihren Namen ließ ihr der wider die Vergangenheit Wütende. Sterben sollte diese, sterben. Und alles, was ihr zugehörte. Wenn nicht in Wahrheit, so doch im Wesen. Eudoxia war ihm tot. Die Nonne Helena mochte da sein, irgendwo in einem Winkel. Eine lebendig Begrabene unter lebendig Toten. Sein Wille brauste über sie hinweg. Wohin? Weiten, hohen Zielen, dem Glücke und der Mehrung Rußlands zu! – priesen die einen. – – Ins Verderben! – weissagten die andern und fluchten seinen Freunden und nannten sie falsch. Wer waren seine Freunde? Fremde waren es. Schweizer, Schotten, Holländer, Litauer, Polen, Deutsche. Nicht einer ein Russe vom alten Schlage. Nur junges Volk, dem er den Kopf verdreht hatte und das gleich ihm die alte Zucht und Sitte, die Moskoviens Schutz und Stärke war, mit Füßen trat. Verächter des Glaubens wie er, Genossen von Ketzern, Ketzer gar selber. Das die Diener, die Berater, die Günstlinge des Sohnes des Mütterchens Moskau. Ach, er war ihr Sohn nicht mehr. Losgesagt hatte er sich von ihr. Verleugnete sie, setzte ihr eine Nebenbuhlerin. Der Schändliche, der Verräter! In den Sümpfen des Nordens, am Finnischen Meer, wo kein Christenmensch hausen mochte, wo Zauberer und Heiden in Nebel und Wasser ihr Unwesen trieben, in der wüsten Einöde, die er den gottverdammten Schweden abgejagt hatte, da hatte er eine Stadt begründet. Eine Stadt, die an Moskaus Stelle treten sollte. Aus allen Teilen des Landes holte der Arge sich die frömmsten und bravsten Menschenkinder, zwang sie, ihre angestammten Sitze zu verlassen und sich inmitten von Luch und Moor anzusiedeln. Häuser mußten sie bauen, auf Pfählen im Morast, und anstatt, wie sie es gewohnt waren, auf einer Straße von einem Hause zum andern zu gehen, mußten sie zu Wasser fahren. Sie waren es nicht gewohnt und viele ertranken. Ohne in ihrer letzten Stunde für das Heil ihrer Seele sorgen zu können. O, er war ein schlimmer Verderber. Wen er nicht im Wasser um den rechten Glauben brachte, den brachte er mit neumodischen Bräuchen darum. Ohne Schleier gingen die Frauen in der neuen Stadt – Sankt Petersburg hatte er sie genannt, als ob er ein Niemicz war – und kamen mit den Männern zusammen, aßen und tranken und tanzten mit ihnen, tanzten, wie die schamlosen Ausländerinnen in der Sloboda. Die Sloboda. Da war das Ärgernis ausgekommen, da hatte er das Gift eingesogen, und nun war er ganz in den Krallen des Gottseibeiuns. Wehe! Wehe! Wehe! Die weichen Züge des Thronfolgers, dem die dicken, fettigen Weihrauchwolken die Klagen der heiligen Väter in sein Kremlgemach trugen, verzogen sich schmerzlich. Die blassen Hände, auf denen die blauen Adern in hohen Strängen standen, schoben die buntseidene Decke dichter um die schon im Hochsommer frierenden Füße und faßten den schweren Folianten, der auf seinen Knien lag, fester. Tiefer neigte sich das bleiche Gesicht über das Buch. Er las, langsam und mit gestautem Atem. Seite um Seite wandten die hageren, langen Finger mit andächtiger, ehrfürchtiger Bewegung um. Auf seinen Wangen bildeten sich harte, rote Flecken, in seine Augen trat ein grelles, verzücktes Glänzen. Raum und Zeit versanken um ihn. Eine andere vollkommenere Welt als die der körperlichen Wirklichkeit nahm ihn auf. Er hörte nicht das scharfe Öffnen der Tür, nicht den festen, bestimmten Schritt, der auf ihn zukam. Mit verschränkten Armen betrachtete Peter seinen Sohn: »Du bist eifrig in deinen Studien, das muß ich dir lassen.« Bei dem ersten Ton der Stimme seines Vaters fuhr Alexei zusammen. Sein Mund ging auf wie zu einem Schrei, doch raffte er sich rasch zusammen und stammelte leise eine Entschuldigung. Eine unwirsche Bewegung unterbrach ihn. »Was liest du?« Peter griff nach dem Folianten. Wie schützend breitete Alexei seine Hände über das geliebte Buch. Doch sein Widerstand war nicht von Dauer. Scheu sah er beiseite, als sein Vater, ohne sich um seine Abwehr zu kümmern, das Werk ergriff und den Titel aufschlug. »Heiligenlegenden!« Ein schallendes Lachen folgte. »Geschichten von Narren und Betrügern sollte es heißen.« Alexei wurde aschfahl. »Wo sind die Bücher, die ich dir gegeben habe?« »Dort.« Der Zarewitsch wies auf ein niederes Tischchen unter dem Fenster, auf dem französische und deutsche Werke über Festungsbau und Kriegswesen aufgestapelt waren. Die drohende Frage des Vaters hatte seinen Trotz geweckt. »Ich habe keinen Gefallen an diesen Dingen,« murrte er leise. Der Foliant flog in eine Ecke. »Diese Ausgeburten verwirrter Hirne behagen dir besser? Freilich, es ist bequemer, in der Stube zu hocken, zu beten und Psalmen zu plärren, als über die Erde zu laufen und dem Pack, das sich auf ihr herumtreibt, Vernunft beizubringen.« Alexei antwortete nicht. Er saß in seinem Sessel, steif, kerzengerade, die Augen halb geschlossen, gleichsam erstarrt. »Hat der Herr Sohn die Sprache verloren?« Peter unterdrückte nur noch mühsam seinen Groll. Keine Miene regte sich in Alexeis Gesicht: Schweigen! befahl er sich: Schweigen! Die erhabenen Märtyrer hatten Schwereres erlitten, als ihm auferlegt wurde zu tragen. Und hatten für ihre Peiniger Worte des Segens gehabt. O, wie weit stand er ihnen, die er bewunderte, die ihm Vorbild waren, nach. Auf seiner Zunge hatte er den beizenden Geschmack des Hasses. Seine Zähne bohrten sich in die Lippen. »Bengel!« Peter schüttelte die geballten Fäuste dicht vor dem in Stummheit Verharrenden. »Hast du vergessen, wer vor dir steht? Du? Weißt du nicht, daß ich mit dir machen kann, was ich will? Bildest du dir ein, ich werde mit dir sanfter verfahren als mit allen andern, weil du Blut von meinem Blute bist?« Er riß ihm die Decke von den Knien, stieß ihn hoch: »Elendes Gewächs! Aber wie soll's anders sein«, das Zimmer dröhnte unter seinem Hin- und Widerschreiten, »von Weibern verzärtelt, von den Pfaffen verzogen.« Er blieb vor dem Sohne stehen, seine Stimme war schneidend: »Nimm dich zusammen. Meine Geduld ist nicht unendlich wie die deiner Heiligen mit der Schafsnatur. Ich will, daß du wirst, wie ich dich brauche.« Und da der Zarewitsch noch immer nicht sprach, schrie er, ihn schüttelnd: »Mann sollst du endlich werden. Verstehst du? Mann!« »Ich verstehe,« Alexei sagte es mit dumpfer Schwere, »daß das in meiner Sprache heißt: ein Mörder!« »Hund!« Peters Rechte hob sich zum Schlage: »Wenn du nicht so jämmerlich wärst.« Er kehrte sich ab und ließ den Arm sinken: »Es ist zum Ekeln.« Er trat zum Fenster, stieß den Riegel auf. Ein Zucken drehte ihm den Kopf zur Schulter: »Widerlich. Draußen wie drinnen derselbe labrige Gestank. Da kann ja kein Mann dabei gedeihen.« Er besann sich, daß er einen großen Teil der Schuld daran trug, wenn sein Sohn nicht geraten war, wie er ihn sich wünschte. Jahrelang hatte er sich kaum um ihn gekümmert. Sein Ton wurde milder: »Das Mönchsgewäsch mußt du dir aus dem Sinn schlagen. Mit Singen und Beten schafft keiner ein großes Reich. Soll Rußland etwas in der Welt bedeuten, so darf sein Herrscher vor nichts zurückschrecken.« Langsam hoben sich Alexeis Lider, voll sah er den Vater an. Es waren ernste, schmerzvolle Augen, die sich auf Peter richteten. Diese stumme Anklage traf den Zaren schwerer, als eine Flut von Vorwürfen es vermocht hätte. Er verstockte sich mit Heftigkeit dagegen: »Was siehst du mich so an? Du sollst mich nicht so ansehen! Du hast kein Recht dazu!« Schreiend trieb er sich in Zorn: »Kein Recht hast du dazu!« Vom Platz her kam der dumpfe Schall vieler Tritte und das dunkle Klirren von Ketten, die sich aneinanderrieben. Es war ein Trupp geflüchteter Strelitzen, die irgendwo an einem Ende des weiten Reiches aufgegriffen und zurückgeschleppt worden waren, um hingerichtet zu werden. Peters Züge verzerrten sich zur Fratze. Er packte die schmächtigen Schultern Alexeis, zerrte ihn zum Fenster und bog ihm mit gewaltigem Griff Kopf und Leib über die Brüstung: »Da! So wird es dir gehen, wenn du dich nicht änderst!« Der unter seiner Faust sich Windende schloß die Augen. Ein schmerzliches Stöhnen entrang sich ihm. Verächtlich stieß Peter ihn, daß er taumelte und zu Boden stürzte: »Das will mein Sohn sein! Mein Sohn!« Ein leises raschelndes Geräusch ließ ihn sich umsehen. In der Tür, die zu den Schlafgemächern des Zarewitsch führte, war der Beichtvater Alexeis erschienen. Mit gespielter Demut verneigte Peter sich: »Der ehrwürdige Vater Ignatiew.« Seine Stimme war voll Hohn: »Ihr kommt zu guter Zeit, Euer Zögling bedarf Eures Zuspruches.« Der kleine Mann blieb unbeweglich auf der Schwelle. Sein vogelartiges Gesicht war beim Anblick des Zaren noch spitzer geworden: »Solche Tröstung hat dein Sohn stets vonnöten, Peter Michaelowitsch, wenn du ihm die Gnade deines seltenen Besuches schenkst.« »Wenn ihn schon meine Gnade zu Boden wirft,« der Zar trat hart an den Mönch heran, »wie wird es ihm ergehen, wenn ich ungnädig bin? – Schurken,« bohrend richteten sich seine Blicke auf den Pater, »ich durchschaue euch, ihr seid bange um eure Macht. Einen aufrechten Mann könnt ihr nicht vertragen. Ich bin eurer Schlauheit entschlüpft. Nun wollt ihr mir mit dem da,« er wies auf den Hingeworfenen, »ein Gewicht anhängen. Hütet euch! Treibt es nicht zu weit. Der roten Treppe gegenüber sind noch ein paar Galgen frei.« Schmetternd schlug die Tür hinter ihm ins Schloß. Die Drohung hatte den Pater nicht erschreckt. Keine Miene verzog sich in seinem Gesicht. Langsam, jedes Wort im gleichen Tone murmelte er: »Auf der roten Treppe haben deine Füße im Blut gestanden, Peter Michaelowitsch, als du noch ein Kind warst. Du wirst durch Blut gehen dein Lebelang.« Seine Stimme schlug um: »Daß es nicht das meine ist,« er nickte vor sich hin, »dafür werde ich Sorge tragen.« Ein leiser, wehevoller Laut rief ihn an die Seite des Zarewitschs. Stützend legte er den Arm um den Bebenden. Der Verstörte klammerte sich an sein Gewand, preßte aufschluchzend den Kopf zwischen die dunklen Falten: »Ich wünschte, ich wäre tot. Oder,« er hob das Gesicht, ein seltsam starrer Ausdruck war darin, »oder mein Vater wäre es.« Sachte legte sich die Linke des Paters auf den Scheitel des Knienden. Seine Rechte schlug das Kreuz: »Gott sei uns Sündern gnädig, das wünschen wir alle.« – – VII. Der Zar war dem gräßlichen Schalle nachgeeilt, den der müde Trott der Gefangenen und das klagende Klirren ihrer Fesseln in den stickigen Gängen des Kreml wachrief. Seine Sinne lechzten nach einem starken Rausch. Den gab nicht Wein, nicht die lärmende Verbrüderung mit den Zechgenossen, selbst das ungestüme und harte Umfangen einer Frau schenkte ihm den nicht, den brachte einzig das Gefühl, Herr zu sein über Leben und Tod. Nicht das durch das Bewußtsein seiner Herrschermacht vermittelte, sondern das gegenständliche, wo das Dasein eines Menschenwesens von dem Heben seiner Hand, dem Winken seiner Augen abhing, wo es bei ihm stand, in freier Laune den ärgsten Schädling zu begnadigen und einen Schuldlosen qualvoller Marter zu überantworten. In seinen Ohren ballten sich die Schreie der Gepeinigten, das Stöhnen der Geräderten. Ein funkelnder Glanz war in seinen Augen: Blut! Blut hatte er schmecken müssen von Jugend an. Nie hatte er die Nacht vergessen, da seine Mutter im Hemd auf bloßen Füßen, ihn im Arm, durch den Kreml irrte. Brandrot war die Nacht und war voll Qualm und beizendem Rauch und wüstem, trunkenem Geschrei. Taumelnd gröhlte sinnberaubte Rachsucht durch die Gassen, brannte und mordete. In Strömen floß das Blut. Und im Innern hockte die Spinne, die nach seinem Leben trachtete, auf seidenen Kissen, reckte und dehnte den weichen, wollüstigen Leib und harrte mit schläfrig blinzelnden Augen der ersehnten Botschaft. Und dann war doch alles anders gekommen. Den Streich, der ihm gelten sollte, hatte seiner Mutter Bruder aufgefangen. Mit gespaltenem Schädel war er zu Boden getaumelt. Kleine weißliche Flöckchen spritzten auf und blieben auf seinem seidenen Nachtkleid hängen. Eine funkelnde Schneide war über ihm. Einen Augenblick lang. Ehe sie sich senken konnte, war sie verschwunden. Irgendeine starke Faust hatte dazwischen gegriffen. Gewirr und Getümmel folgte. Wurde ärger und ärger. Gräßlich verzerrte Gesichter wuchsen vor ihm auf, sanken und hoben sich wieder. Stiere, glotzende Augen, breite aufgerissene Mäuler, und aus allen quoll ein dickes, klebriges Rot. Und plötzlich wirbelte dies grausige Bild um. Die weite Halle der Kirche, in die es gedrängt war, rückte zurück, Freie tat sich auf, Sterne glimmten vom schwarzblauen Himmel, hastige Fackeln und Waffengetön liefen zur Seite, Häuser stürzten an ihm vorbei, Höfe und Plätze rannten unter ihm dahin, ein Tor riß auf, ein dunkler Gang schluckte ihn ein, spie ihn aus durch ein anderes Tor, hin vor ein tobendes, johlendes, jubelndes Schreien. Seinen Namen hörte er sich entgegenschlagen und den seines Bruders Iwan. Er blickte um sich und gewahrte die kleine verkrümmte Gestalt neben seiner Mutter. Und dann stand auch er, hielt die scheu verbogenen Finger des Stiefbruders in seinen geraden festen Händen und horchte auf das nicht endenwollende Zurufen. Mit einem Male aber wurde er gewahr, daß seine nackten Füße in Nässe patschten, in einer dunklen, schlüpfrigen Nässe. Blut. Und die andere Nacht war in seinem Gedächtnis unverwischt, wo er in seinem Asyl in Preobraschenskoje, vom Soldaten- und Matrosenspiel müde, aus dem tiefen, festen Schlaf der Jugend durch die Schreckensnachricht aufgestört wurde, seine Schwester nahe mit den Strelitzen, ihn gefangenzunehmen und zu entthronen. Sie und immer wieder sie. Wie er dem Bette entrann, stürzte er aufs Pferd, jagte durch die Nacht. Zum Troizka-Kloster. Eine Nacht voll Bangen und verzweifeltem Ringen um Rettung. Der Morgen entschied gegen Sophie. Die Spinne hatte sich in ihrem eigenen Netz gefangen. Das Kloster nahm sie auf. Ihrer Helfer und Gefährten wartete die Folter. Da hatte Peter die Lust gelernt am Tode. Am Tode der andern. Ihr jammerndes Zerbrechen, ihr bettelndes Sichbeugen unter seinem unerbittlichen Willen bestätigte ihm, daß er lebte. Er, er, nicht die andern, die geplant hatten, ihn zu vernichten, um auf seinem Leibe ihren Sitz um so fester zu begründen. Jeder von der Qual entpreßte Laut hatte ihm wie Musik in den Ohren geklungen. Er sang den Triumph seiner Schlauheit und seiner Gewalt. Er hatte gerädert, gevierteilt, gefoltert, hatte in Willkür fast Toten das Dasein wieder gelassen, von Angst Zermürbten eine entwertete Freiheit höhnend geschenkt und hatte das Ächzen der Gepeinigten, die erquälte Freude der Halbzerstörten eingesogen gleich der Luft. Leben! Leben, und wenn Hunderttausende ihr Leben und von ihrem Leben geben mußten für das seine. Immer ungezügelter kam ihm der Durst. Als die Strelitzen sich für seine Schwester erhoben, erstickte er ihre Zweifel an seiner Herrschaft durch Strang und Schwert. Zu Hunderten grinsten die schauerlichen Masken ihrer Köpfe von den Toren des Kreml, und ihre Leichname verwitterten in den rostigen Ketten der Galgen, die die Märkte einringten. In Moskau baumelte der Tod auf jedem freien Platze, den ein paar sich kreuzende Gassen ließen. Jahre waren seitdem vergangen, und noch hatte das Morden kein Ende. Wieder und wieder reckten sich aus der Vergangenheit Hände, die den neuen flügelschlagenden Geist dämpfen wollten in die alte Enge und das dumpfe Beharren. Und der entbunden in die Weite Stürmende hatte in sich keine Fessel. Er besaß nicht die Möglichkeit, mit Geduld und Güte zu überwinden, er vermochte nur rasch und eifernd zu vergelten. Wie ihm geschehen sollte, tat er den andern. Moskovien mußte sterben, damit er und sein Rußland lebten. Hart tönten die Schritte des Zaren durch die schmalen muffigen Gassen, in denen der Kot schuhhoch sich häufte und Feuchtigkeit und Schimmel mannshoch an den Häusern hinauffraßen. Hastig eilte er vorwärts. Der Trupp der Gefangenen war längst außer Hörweite. Das beirrte ihn nicht. Er kannte ihn und sein Ziel: den Hof des Fürsten Romodanowski, des andern Zaren. Dazu hatte er ihn gemacht. Im Scherz. Damals in Preobraschenskoje, als er noch kein Herrscher war, ihn nur spielte. Einen König von Preßburg hatte es da gegeben und einen Metropoliten. Preßburg war die Festung, die sich der Bombardier Peter Michailoff um sein Obdach mit seinen Genossen geschanzt hatte, vorahnend, daß sie ihm nützlich sein konnte gegen überraschende Gelüste seiner Schwester-Regentin. Eine Burg muß einen König haben. Peter bestimmte Feodor Romodanowski dazu. Zum Metropoliten setzte er seinen ehemaligen Erzieher Sotof ein. Während der verlumpte und dem Trunke verfallene Sotof in seiner ständigen Bezechtheit so viel Klarheit hatte, die Satire zu erkennen, nahm Romodanowski die Sache gewaltig ernst und ließ von ihr auch nicht ab, als die Tage des Jugendübermutes weit hinter dem Schöpfer seines Königtums lagen. Eine Schrulle mehr zu den vielen, die er hatte. Peter wehrte sie ihm nicht. Sie war ihm gelegen. Dieser König von seinen Gnaden wachte eifrig über seine Würde, aber nicht minder bedacht war er auf die Wahrung der seines Herrn. Wehe dem, der sich dawider verging. Der Zar mochte verzeihen, sein Stellvertreter kannte kein Erbarmen. Tag und Nacht war er bereit, sein furchtbares Amt zu üben. Wie ein Luchs in seinem Bau saß er finster und verschlossen in seinem Hause und lauerte auf die Opfer, die des Zaren Zorn ihm zuschickte. Dieses Haus, plump, ungefüge, aus mächtigen, klobigen Stämmen, das Dach weit heruntergezogen, von dicken Balken getragen, die in grellbemalte gräuliche Fratzen ausliefen. In dem Düster dieses Daches war dicht neben dem Eingang ein erhöhter Sitz. Dort thronte der Vizezar. Gleich einem Götzenbilde. Hoch, hager, eisig und eisgrau. Unbewegt. Kaum, daß der Kopf sich wendete, die Lippen zu einem harten Befehl sich öffneten. Nur die dürren Finger zuckten auf den knochigen Knien, zogen und zerrten an dem langen Rock, knitterten dessen zobelverbrämten Saum, zupften rastlos kleine Flocken aus Pelz und Samt, wirbelten sie ruhelos zwischen den zitternden Spitzen und ließen sie achtlos entrollen, um gleich darauf dasselbe Treiben mit erneuter Hast zu beginnen. Die eingebrachten Strelitzen waren in einer Ecke des Hofes zusammengedrängt, umringt von den Knechten des Fürsten, die für das Henkergeschäft ebensogut geschult waren wie für die Wolfs- und Bärenjagden ihres barbarischen Herrn. Für sie gab es in Ausübung ihres Amtes kaum eine Überraschung. Sie waren das Schreien und Lamentieren nicht minder gewohnt als das Fluchen und wütende Aufbegehren. Mit Griffen, die die jahrelange Übung verrieten, lösten sie den Verurteilten die Fesseln, teilten sie in Haufen, trieben die einen hier, die andern dahin, je nachdem ein Wink des Fürsten sie anwies. Kein Widerstand wurde rege. Dumpf und stumpf ließen die Gefangenen mit sich geschehen, was über sie beschlossen war. Nur zwei von den Strelitzen wollten sich durchaus nicht voneinander trennen. »Zusammen sterben!« forderte der ältere wild. Und der andere, ein blutjunger, warf die Arme um seinen Beschützer und hing wie leblos an seinem Halse. Ein Brüllen brach aus der Kehle des Mannes. Er duckte sich und schnellte die Last im Arme mit einem mächtigen Schwung über den Kreis der Knechte hinweg. Mit ein paar Sprüngen gewann er den Eingang. Schon glaubte er sich gerettet, da hoben sich die beiden zottligen Wächter, die er vordem nicht gewahrt hatte, mit murrendem Brummen auf ihre Hinterfüße. Verzweifelt rannten die Blicke des Gestellten in der Runde. Es gab kein Entrinnen. Er warf den Kopf in den Nacken und riß mit einer jähen Bewegung den Knaben, der noch immer ohne Bewegung an seiner Brust lag, an sich. Würgend umschnürte seine Rechte den schlanken biegsamen Hals. Sekundenlang öffneten sich zwei große lichtblaue Augen in tödlichem Erschrecken. Doch wie sie den Freund erkannten, leuchtete ein helles, dankbares Glänzen in ihnen auf, und ein sanftes Lächeln glättete das gequälte Zucken des Mundes. Fest, fest preßte die braune Faust den Atem aus dem jungen Leibe. Ein letztes Bäumen, ein rüttelndes Sinken der Glieder. Der Liebesdienst war getan. Langsam ließ der Strelitze den entseelten Körper seines jungen Kameraden zur Erde gleiten. Ein Brandeisen sauste auf ihn nieder. Zischend bohrte es sich ins Fleisch. Ein Regen von Knutenhieben folgte. Der Strelitze schüttelte die Pein von sich ab, wie die raschen Tropfen eines Sommerregens. Mit zwei Faustschlägen, rechts und links, verschaffte er sich Raum: »Gebt Ruhe, Bande, meiner seid ihr sicher.« Und ohne sich um die andrängenden Knechte zu kümmern, schritt er auf das Rad zu, das unweit des Sitzes des Fürsten aufgerichtet war. »An die Arbeit, Bursche!« Der fette gedrungene Sibirier, der auf der Erde kauernd vor sich hindämmerte, bekam einen festen Puff in die Magengegend. Heulend fuhr er auf, das schläfrige Gesicht verwandelte sich böse, die kleinen schlitzigen Augen glimmten tückisch. »Fang an!« Der Strelitze hatte den Rock abgeworfen: »Der Herr wird ungeduldig und du mußt es büßen. Brauchst dich aber nicht zu beeilen, mir die Seele aus dem Leibe zu rädern. Habe ich den Herrn um einen Spaß gebracht, so mag er ihn an mir doppelt haben. Ihm zu Gefallen werde ich ein paar Gesichter schneiden, daß er seine Freude daran hat. Also los,« er warf sich unter das Rad, »mit dem Knochenknacken«. Der Sibirier fletschte die gelben spitzen Zähne. Doch ehe er noch dem Befehl nachkommen konnte, schallte es vom Eingang her: »Hand von dem Mann!« Der Zar hatte, unbelästigt von seinen alten Bekannten, den Bären, den Hof betreten und unbemerkt dem Schauspiel beigewohnt. Der Strelitze war ihm merkwürdig geworden. Und noch einmal tönte es: »Der Mann ist mein!« Vom Hochsitz des Fürsten her kam ein leises zähes Knurren. Die grauen wirren Brauenwülste schoben sich weit in die Höhe. »Seit wann erläßt du dir den Gruß, Peter Michailoff?« Bei den belfernden Lauten riß der Zar sich zusammen, sprang mit gespreizten Beinen vor den Fürsten hin und schwenkte den Dreispitz: »Ew. Majestät wollen gnädigst meine Verfehlung nachsehen. Ich lege Ew. Majestät meine untertänigste Huldigung zu Füßen.« Peter verneigte sich, tief, sehr tief. Einmal, zweimal, dreimal. Romodanowski murrte etwas Unverständliches, doch der Zar hatte sich, ohne die Erwiderung auf den nachgeholten Gruß abzuwarten, zu dem Strelitzen gewendet. »Braver Kerl, brav!« Er klopfte ihm auf die Schulter: »Sie sollten dir –« er wies mit der Rechten im Kreis, »den Sohn nicht quälen.« Der Strelitze hob kaum den Kopf: »Es war nicht mein Blut.« »Freundschaft?« Des Zaren Gesicht war dicht über dem Liegenden. Der Mann nickte schweratmend. Peters Augen weiteten sich. Leise, verloren, wie entrückt fragte er: »Solche Treue gibt es?« Und zurückkehrend in die Wirklichkeit: »Du hast ihn sehr geliebt?« Der Mund des Strelitzen bewegte sich, aber er brachte keine Worte hervor, nur die Lippen bebten, und über das verwitterte Gesicht rannen zwei Tränen. »Wärest du mir so treu gewesen?« Der Zar richtete sich auf. »Du hast es nicht gewollt, Herr!« sagte der Strelitze ruhig. »Wir hatten mit den Moskauer Gesellen nichts zu tun, wir wollten nichts wider dich. Wir saßen in Tula, taten unseren Dienst wie seit Väterzeiten. Da kam dein Befehl, der uns alle für vogelfrei erklärte. Alle. Herr, was haben wir außer dem Leben. Wir hatten dir das deine nicht nehmen wollen, warum sollten wir uns das unsere nehmen lassen. Wir gingen fort. Weit. Dachten, bessere Zeit zu erwarten, wo du uns zurückrufen würdest. Du gönntest uns keine Rast. Immer waren die Hetzer hinter uns her. Da mußten wir uns wehren. Sie waren mehr als wir. So haben sie uns gefangen. Du darfst zufrieden sein, du hast deinen Willen. Nun laß ein Ende machen.« Er schloß die Augen. »Für dich ist das Ende noch zu früh. Du wirst mir noch dienen.« [Illustration: Hinrichtung der Strelitzen Nach einem Gemälde von V. J. Ssurikoff] Der Strelitze regte sich nicht. »Steh auf Mann; du bist frei!« »Ich mag nicht frei sein!« Der Strelitze neigte die Stirn zur Seite. »Ich will sein, wo Milli ist.« Und wie eine Bitte, noch einmal: »Laß ein Ende machen.« Und zu dem Sibirier: »Stoß zu!« [Illustration: Ansicht von Moskau Nach einer zeitgenössischen Darstellung] Der streckte die Hand nach dem Rade. Im selben Augenblick warf ihn ein Schlag beiseite, eine Klinge schnitt blitzend durch die Luft, und der Kopf des Strelitzen rollte in den Sand. Vom Degen des Zaren tropfte das Blut. Auf seinem Stuhle hatte sich der Fürst zu seiner ganzen Länge emporgereckt: [Illustration: Der Kreml Nach einer zeitgenössischen Darstellung] »Du hast dich heute zum zweiten Male vergangen, Peter Michailoff.« Die heisere Stimme wurde grollend: »Diesem Manne stand das Schwert nicht zu.« In Peters Zügen zuckte es bedrohlich: »Keife nicht, Majestät, ich habe es ihm zugebilligt.« »Du hast hier niemandem etwas zuzubilligen,« kam es böse zurück. »Majestät,« der Zar winkte gebieterisch, »erinnere dich, daß du es aus meinem Willen bist.« Er begann zu pfeifen, die Blicke in unablässiger Drohung auf den Fürsten gerichtet: »Tanze!« Ton um Ton quoll aus dem spottend gespitzten Munde. Ein Menuett. »Tanze!« Zähneknirschend stieg der Fürst von seinem Hochsitz herab. Sein Gesicht war fahl, er bebte an allen Gliedern, aber er wagte nicht, dem Gebote des Zaren zu trotzen. Mit knickenden Knien schritt er im Takte und stampfte mit den eisenbeschlagenen Stiefeln stolpernd die zierlichen Tanzfiguren. Verächtlich hob sich die Lippe des Zaren: »Das sind meine Freunde,« murmelte er. »Narren und Feiglinge. Oder –,« er lächelte bitter, »Gauner.« Sein Blick streifte das blutige Haupt des erschlagenen Strelitzen: »Die Besten muß ich morden, weil sie gegen mich sind. Dieser Kopf,« schüttelnd stieß er die Fäuste vor sich hin, »dieser Kopf! Könnte ich ihn eintauschen. Meines Sohnes Kopf gäbe ich dafür. Meines Sohnes Kopf!« VIII. Im Gartensaal des Palastes Menschikoff saßen die Freundinnen des Fürsten beisammen. Es waren ihrer vier: die dunkle, weiche, schwermütige Darja Arsenieff, ihre Schwester Barbara, Anisia Tolstoj, die, alle Eifersucht begrabend, ihre Nachfolgerinnen in der Gunst des flattersüchtigen Alexaschka bemutterte, und, als neuester Zuwachs des Kreises, Katharina Trubatschoff, wie die Frauen das Marienburger Mitbringsel des Fürsten nach ihrem entschwundenen Trompetergatten getauft hatten. Die reife und üppige Anisia hatte ihre Fülle in dem Halbrund eines Sofas zwischen einer Unmenge großer und kleiner Kissen vor jedem unbehaglichen Druck geborgen. Die etwas zu kurzen und ein wenig zu großen Füße baumelten unter dem gesteiften Rock, wie die Klöppel einer Glocke. Ganz rhythmisch schlenkerten sie: rechts, links, rechts, links, rechts, rechts, links. Genau nach der Melodie des Liedes, das die gewandten Finger Barbaras auf den drei Saiten der Balalaika klimperten. Stockte die Spielerin, so hielten auch die Füße in ihrem Pendeln inne, und das runde, staunende Gesicht der »Tante Anisia« wurde noch staunender. Mit offenem Munde wartete sie auf den nächsten Ton, um ihm nur ja mit richtigem Ausschlag das Geleit zu geben. Allmählich schien es, als ob die Mundsperre sie befallen sollte. Barbara griff andauernd daneben, brach ab, begann von neuem und ließ schließlich die Balalaika lachend in den Schoß sinken: »Tantchen hat Hunger!« Katharina schob sogleich den Stickrahmen, vor dem sie saß, beiseite, steckte die lange Nadel mit dem blauen Seidenfaden fest in den gelben Kanevas und erhob sich: »Armes Tantchen! Ist es schlimm? Soll der Gärtner uns Pfirsiche bringen? Er sagte mir gestern: noch einen Tag, und sie wären reif. Oder magst du lieber eine Creme oder eine Torte?« »Geh, Schelm,« Anisias kurze, quabblige Hand schlug tätschelnd nach ihr, »du willst mich foppen. Eben sind wir von Tische aufgestanden, ich kann kaum Luft holen, so voll ist mir, da sprichst du von Pfirsichen. Von einer Creme ...« Die kleinen Augen schlossen sich entzückt, und die dicke, gedrungene Zungenspitze schob sich leckend über die breiten Lippen. »Nun Tantchen, du sollst ja nicht essen, nur so,« Katharina zwinkerte ihr verständnisvoll zu, »zum Zeitvertreib.« »Ach, Gold!« Der umfängliche Busen Anisias dehnte sich in einem sehnsüchtig schmelzenden Seufzer. Der Mutwillen stach Katharina. Schmachtend bog sie den Kopf zurück, daß die hochgetürmten Haare, auf denen eine kleine, weiße Haube lustig schaukelte, in den Nacken wuchteten und flötete: »Eine Creme sollst du haben, eine Creme –,« und wirbelte, auf den hohen Hacken ihrer Bänderschuhe sich drehend, zur Tür hinaus. Anisias volle Züge glänzten in Behagen. »Sie ist reizend.« Darja, die auf einem Bärenfell ruhte, schlug die weißen, dunkelbewimperten Lider auf und bekräftigte den Ausruf. Auch Barbara tat es, aber ihre Zustimmung hatte einen leisen boshaften Unterton, der Darja auffiel. Sie richtete sich halb aus ihrer liegenden Stellung auf und sah die Schwester erstaunt an: »Was hast du gegen das Mädchen? Es ist freundlich und gefällig.« Barbara nickte: »Die Katharina müßte ein solches Dummchen sein wie du, Herzblatt, was sie nicht ist, wenn sie es darauf anlegte, es mit uns zu verderben. So fest sitzt sie nicht im Sattel, daß sie das wagen könnte. Wir haben ältere Rechte.« Anisia machte eine müde Handbewegung: »Rechte, Täubchen? Wo ist die Frau, die an einen Mann Rechte hat? Wenn eine darauf pochen könnte, wäre ich es. Und ...« »Nein, Tantchen,« die scharfen Züge der dunkelhäutigen Barbara spannten sich, »du kannst das nicht. Der Ton liegt auf dem Nichtkönnen. Du bist eine gute Seele, lebst in den Tag und denkst nicht an das Morgen. Ich denke daran. Und, ich bin überzeugt, die Katharina denkt auch daran. O, sie ist klug. Sie wird nichts gegen uns unternehmen. Sie wird immer liebenswürdig sein, immer bereit scheinen, uns den Vorrang zu gönnen, aber mit einem Male werden wir überflüssig sein. Ganz und gar überflüssig. Und es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als zu gehen. In aller Freundschaft zu gehen. Das fürchte ich.« In Darjas Augen standen Tränen: »Du bist schlecht, Barbutschka. Stets mußt du einen in Angst jagen. Fort von Alexaschka, fort? Ich, fort?« Aufschluchzend barg sie den Kopf zwischen den Armen. »Närrchen,« Barbara beugte sich zärtlich über die Schwester, »sei ohne Sorge, er soll dir nicht genommen werden.« »Ach, du, dann tust du etwas Böses gegen die Katja, und das mag ich auch nicht. Sie ist gut, und du sollst ...« Barbaras Brauen zogen sich zu einem geraden Strich zusammen, von der Nase zu den Mundwinkeln liefen zwei harte Linien: »Wenn ich's täte, tät ich's für dich. Doch beruhige dich, was ich vorhabe, kann ihr nur zum Vorteil gereichen. Und es wird es, wie ich sie einschätze.« Die schlaffen Züge Anisias belebten sich: »Du hast sie dem Großmogul zugedacht?« »Gott,« Barbara lachte in ihrer abbrechenden, rauhen Weise, »Tantchen wird scharfsichtig.« »Du wirst dich verrechnen, Töchterchen, du wirst dich verrechnen. Der Alexaschka ist wie ein Ohrwurm hinter dem livländischen Herzchen her. Die roten Haare haben ihn in Brand gesteckt. Dagegen kommen Daschkas Seelenaugen und dein Schnurrbärtchen nicht auf. Wenn du nicht machen kannst, daß sie sich schwarz färbt, läßt er sie dem Peter nicht.« »Hast du schon erlebt, daß der ihn um Erlaubnis fragt? Er gibt seine Feste in seines Freundes Palast, er bewirtet seine Gäste an des Freundes Tischen, aus dessen Garten holt er sich die besten Früchte und wir ...« Sie richtete die grauen Augen voll auf Anisia. Die kuschelte sich verlegen tiefer in ihre Kissen: »Der Zar ist der Zar, Kindchen. Und seine Leidenschaft ...« »Ist wie ein Sturm.« Erschauernd zog Darja das Bärenfell dichter um sich her. »Der ihn zugrunde richten wird.« Barbara sagte es hart und bestimmt. »Er braucht eine Frau, die ihn zu zügeln weiß.« »Und das soll das rote Kätchen werden?« Barbara antwortete nicht. Weder Anisia noch Darja brauchten zu wissen, daß sie sich selber für die Frau hielt, die es verstand, den moskowitischen Zaren nach ihrem Willen und Wunsche zu leiten. Katharina war ihr nur Mittel zum Zweck. Auch war sie sich klar darüber, daß sie oft derartiger Mittlerinnen bedürfen würde. In seinen Begierden war Peter unersättlich. – Ein hochmütig abtuender Zug legte sich um ihren scharfgeschnittenen Mund: was tat es? Mochte er seine Brunst ausrasen mit wem er wollte, wenn ihr blieb, seine Herrin zu sein. Die Livländerin würde ihm in die Augen stechen. Rücksichtslos, wie stets, würde er sie nehmen wollen. Diesmal würde es nicht ohne Strauß mit seinem Liebesgenossen abgehen. Wenn sie geschickt vermittelte, hatte sie bei ihm einen Stein im Brette. Und die Livländerin würde ihr dankbar sein. Benützte sie diese Stimmung klug und gelang es ihr weiter, das Spielzeug zur rechten Zeit beiseitezuschieben – es fand sich unter den höheren Bediensteten des Zaren gewiß ein bereitwilliger Abnehmer – und es durch eine neue Freundin zu ersetzen, so verpflichtete sie sich den kaiserlichen Liebhaber mit jedem Male mehr und bekam ihn schließlich völlig in ihre Hand. Freilich, gewagt war das Unternehmen. Es konnte auch gegen sie ausschlagen. – Sie hob die Schultern: die nähere Gefahr drängte. Alexaschkas Verliebtheit in die Rote mußte ein Riegel vorgeschoben werden. An das Teilen war Darja gewöhnt, seinen völligen Verlust würde sie nicht ertragen. Und dazu kam es – sie sah klar, nur zu klar –, wenn die Livländerin im Hause blieb. »Die Prinzessin!« Dieser Ruf Anisias riß sie aus ihren Gedanken. Sie beugte sich vor. Vom Gewächshaus her kam Katharina. An ihrem Arm hing leicht und lässig ein kleines, glänzendes Körbchen aus buntem Strohgeflecht, aus dem über dem dunklen Grün der Weinblätter die roten Samtbacken der Pfirsiche schimmerten. Sie ging schlendernd ohne jede Hast, mit weichen, ein wenig wiegenden Tritten, ganz wie eine Dame, und einem unbefangenen Beobachter wäre es schwer gewesen, einen Unterschied zwischen dem livländischen Bauernmädchen und ihrer Begleiterin, der Prinzessin Natalie, der Lieblingsschwester Peters, herauszufinden. Die Prinzessin, eine große Blumenliebhaberin, war ein häufiger Gast in den Treibhäusern des Fürsten, die sie, dem Beispiel ihres Bruders folgend, fast zu ihren eigenen rechnete. Gut einen Kopf größer als Katharina, war sie gezwungen, auf diese herabzusehen, aber weder in ihren Mienen, noch in ihrer Haltung kam irgendwelcher Hochmut zum Ausdruck. Angelegentlich sprach sie auf die Jüngere ein. Langsam, wiederholt stehenbleibend, näherten sie sich dem Gartensaal. Barbara Arsenieffs Brauen zogen sich zu einem dunklen, geraden Strich zusammen: »Es ist geradezu, als ob sie etwas an sich hat. Alles läuft ihr zu.« Hätte sie hören können, was die Prinzessin mit der Nebenbuhlerin ihrer Schwester so dringlich zu besprechen hatte, sie würde in ihrer Meinung von der Gefährlichkeit der Livländerin erheblich bestärkt worden sein. Dabei gingen die nächsten Absichten der Prinzessin in bezug auf Katharina mit denen Barbara Arsenieffs gleich, nur im Ziele entfernten sie sich voneinander. Auch die Prinzessin fand es an der Zeit, daß ihr Bruder dem wüsten, ausschweifenden Treiben, dem er sich in Gemeinschaft mit seinen holländischen Kapitänen und mit schnapsdurstigen Dienern und Soldaten seiner Garde ergab, entrückt würde. Das Vielerlei und noch mehr die Wahllosigkeit seines Liebebedürfnisses waren ihr ein Dorn im Auge. Ermahnungen fruchteten nichts. Er war ihnen nicht unzugänglich. Doch seine Willigkeit bedurfte zu ihrer Unterstützung eines Ersatzes für die Vergnügungen, auf die er verzichten sollte. Dieser Ersatz hatte bisher gefehlt. In Katharina schien er der Prinzessin gegeben. Sie war wie geschaffen für Peter. Reizvoll und dabei von einer Sicherheit und Derbheit, die ihm Schach zu bieten und ihn in Schach zu halten verstehen würde, ohne von jedem groben Wort und festen Griff ein Aufhebens zu machen. Keine Gemahlin zwar für einen Zaren, aber eine Kameradin für einen Reformer, die nicht von ihrer Vergangenheit gebunden, mit ihm durch dick und dünn ging. Eine aufrechte und starke Gefährtin, die ohne Schüchternheit seine rauhen Freuden teilte und ihn damit von allen ärgerlichen und ihn zerreibenden Zerstreuungen zurückhielt. Eine Genossin, die ihm ein Heim bereitete, wo er zur Ruhe kam von seiner Umgetriebenheit und Kraft sammeln konnte zu neuen Werken. Alle diese Aufgaben konnte Katharina, wenn sie wollte, leicht lösen. Daran zweifelte die Prinzessin nicht. Es kam jetzt nur darauf an, ihr dieses Wollen nahezulegen und schmackhaft zu machen. Die Besorgnis, daß das Bauernmädchen über solcher Erhöhung jede Zurückhaltung verlieren und die selbstverständlichen Grenzen ihrer Stellung zum Zaren überschreiten könnte, kam der Prinzessin nicht. – Musternd glitt ihr Blick zur Seite: da war in Schreiten und Gebärde ein unwillkürliches Maß. Sie stellte es mit Erstaunen fest: woher das Mädchen nur diese kühle, bestimmte Art hatte? Von ihrem Aufenthalte in dem Hause des Propstes wohl kaum und erst recht nicht von ihrem Eintagsgatten. Gleichviel: sie war recht, wie sie war. Und würde sie auftrumpfen, nun, wenn sie es gegen den übermütigen Alexaschka und gegen die überhebliche Arsenieff tat, es konnte bloß von Nutzen sein. Denen war eine Dämpfung not. Die Prinzessin durchschaute deren Machenschaften. Peter durfte säen, die Ernte sollte Alexander Menschikoff einheimsen. So hatte der Ehrgeiz der schnurrbärtigen Barbara es ausgesonnen, und ihr heimlich angebeteter Held sagte nicht nein zu diesem Plänchen. Das alles war in ihren Gedanken, während sie der anteilsvollen Hörerin die guten Eigenschaften ihres Bruders rühmte, seine Fehler beklagte und mit Schmerz seiner Verlassenheit gedachte, in der die Untugenden üppig ins Kraut schossen. »Freundinnen,« sie seufzte, »und Freunde, die sich so nennen, hat er mehr als ihm gut sind, aber ein wahrhaft liebevolles Herz ist nicht sein eigen. Und doch, ich meine, das wäre eine schöne Aufgabe für eine Frau.« Katharina, obwohl sie die Frage verstand, die mit alledem an sie gerichtet wurde, antwortete nicht sogleich. Ihre Lider sanken, ein wägendes Prüfen trat in den kühlen Blick der grünen Augen. Ganz langsam, mit Bedacht, hob sie ihn und richtete ihn ruhig auf die Prinzessin: »Es wäre eine schöne Aufgabe, wenn es um den Mann lohnt.« Diese überaus sachliche Erklärung verblüffte die Prinzessin einigermaßen, sie erwiderte darauf mit einem etwas gezwungenen Nicken. Zu der Angelegenheit sprach sie kein Wort mehr. Dennoch war sie in ihrem Plane nicht beirrt, eher noch bestärkt worden. Schneller, als sie es dachte, reifte er der Verwirklichung entgegen. Bereits seit Tagen hieß es, der Zar habe den Kriegsschauplatz im Norden verlassen und befinde sich auf der Rückkehr nach Moskau. Gleich allen, die Peter kannten, gab die Prinzessin auf dieses Gerede nichts. Sie wußte, ihr Bruder liebte es, dergleichen auszustreuen. Es sollte keiner sich vor ihm sicher wähnen. Nur diese beständige Bedrohung hielt seine lässige Beamtenschaft bei der Pflicht und beugte allzu großen Gesetzwidrigkeiten vor. Die Rücken der mancherlei Räte bis hinauf zu den höchsten Beamten mußten immer ein leises, ahnungsvolles Jucken verspüren, damit sie sich bemühten, der allzu nachdrücklichen Bekanntschaft mit seinem Stocke auszuweichen. Deshalb schreckte er sie gern durch eine scheinbare Allgegenwärtigkeit. Tauchte unvermutet auf und verschwand ebenso überraschend, kündigte sein Kommen an, blieb aus und erschien, wenn niemand mehr ihn erwartete. Diese Unberechenbarkeit bewirkte schließlich, daß seine Anmeldungen keinen Glauben fanden. Prinzessin Natalie hatte noch einen besonderen Grund, der einlaufenden Nachricht zu mißtrauen: Peter lag vor Narwa, das Unbezwungene endlich zu bezwingen. Graf Horn war auch diesmal ein hartnäckiger Gegner. Obwohl er auf Ersatz nicht hoffen durfte und den Russen der Sieg sicher war. Mit dem Falle der Festung aber hatte es noch gute Weile. Peters letzter Brief an die Schwester klagte, daß er noch wochenlang den sehnsuchtsvollen Anbeter werde spielen müssen. – Nein, es war sicher wieder müßiges Geschwätz, das von seiner nahen Ankunft fabelte. An ihrer Sänfte vorüber raste ein hochrädriger Jagdwagen. Des Zaren Gefährt. Die Prinzessin befahl zu halten. Doch ehe die Träger die Sänfte abgesetzt hatten, war der Wagen vorüber. Einen Augenblick grüßte sie das zurückgewendete Gesicht des Bruders. Es war hell, freudig. Er winkte und rief ihr jubelnd ein Wort zu. Sie verstand es nicht, aber sie wußte: Sieg! Er hatte wieder einen Schritt vorwärts getan. – Eine kleine Schwäche befiel sie, ihre Knie zitterten: vorwärts, nur vorwärts peitschte er. Ihre Finger bogen sich ineinander. Zum Gebet. Demütig neigte sie die Stirn und flehte, daß seinem Streben Bestand werde. Und während sie betete, gingen ihre Gedanken zu dem Mädchen im Hause Menschikoffs, das ihr geschickt erschien, seine Unrast zu lindern, sein Ungestüm zu bannen. Einstweilen tobte das noch unbehindert. Aufreizend pfiff die Peitsche über den Pferdeköpfen, trieb die Tiere zu rasendem Lauf. Der Wagen stieß und schleuderte auf der unebenen Straße. Peter lachte, zeigte die Zähne und schrie zu Menschikoff, der hinter ihm saß: »Nun der Herr Graf am eigenen Leibe spüren, wie schlecht der Weg nach Eurem Palaste beschaffen ist, werdet Ihr ihn wohl aufbessern lassen.« Der Herumgeschüttelte nickte mit verkniffenen Lippen und wünschte den Übermut des Zaren zum Teufel. Zum Glück währte die Plage nicht lange. Im Schwunge lenkte Peter durch die Einfahrt und vor den Palast, brachte mit einem Riß, so daß sie fast kerzengerade in die Höhe stiegen, die Pferde zum Stehen, warf Menschikoff die Zügel zu, war mit einem Sprunge vom Wagen und mit einem zweiten gewaltigen Satze über die Treppen im Hause. »Tauben! Meine Tauben! Wo sind meine Tauben!« Sein lärmendes Rufen füllte die Hallen und Gänge. Barbara kehrte sich lauschend zur Tür, hob sich halb von ihrem Sitz: »Das klingt ...« Darja war aufgesprungen, bebend, wie gebannt schaute sie nach der Tür: »Der Zar!« Und leise: »Alexaschka!« »Tauben! Meine Tauben!« Näher und näher kam der Ruf. Anisia schob seufzend den Teller mit der Creme zurück und mühte sich aus ihrer bequemen Stellung auf. Glättend strich sie über die etwas gedrückten Falten und Rüschen ihres bauschigen Kleides: »Es lohnt zwar nicht, er richtet es einem doch gleich wieder zu.« Sie stupfte Katharina mit dem Ellenbogen: »Der Zar kommt.« »Der Zar?« Katharina fuhr ruhig fort, die sauber geschälten Pfirsiche auf einem silbernen Teller zu spalten: »Er schreit wie ein Wilder.« »Und ist auch nicht viel besser.« »Tauben!« Die Tür sprang auf. Peter stand auf der Schwelle. Die grünen Augen Katharinas starrten einen Herzschlag lang, dann deckten die bläulich weißen Lider ihr glimmendes Zucken. Tiefer beugte sie sich über den Teller. Ein ganz zartes Rot stieg langsam in ihr an. Trotz aller Gegenwehr. Und ihr Blut pochte schneller. »Tauben! Meine Tauben!« Peter breitete die Arme nach rechts und links, preßte des Tantchens umfänglichen Busen und hastete mit den Lippen über Darjas zuckenden Mund. »Und das Bärbchen? Das schöne Bärbchen? Will es dem Väterchen keinen Willkommen bieten?« Er faßte nach den kurzen, borstigen, dunklen Härchen, die sich unter ihrer starken Nase kräuselten. Sie ließ es widerwillig geschehen und bot ihm flüchtig die Wange. Er klopfte ihr tätschelnd das Kinn: »Braves Bärbchen! Braves Töchterchen,« höhnte er leise. Doch gleich darauf wurde er ernst: »Freue dich, Barbara Arsenieff. Meine Tauben, freut euch! Rußland ist gewachsen! Narwa ist in meiner Hand. Das Meer grüßt Rußland. Livland ist mein. Sein Herz gehört mir.« Jubelnd schrie Barbara auf. Darja und Anisia umarmten glückwünschend den Zaren, umarmten Menschikoff, der herzugekommen war. Freudig ging Fragen und Antworten durcheinander. In das erregte Wirren fiel ein kühler Ton: »Narwa ist nicht Livland!« Katharina sagte es. »Eine alte Sage meldet: nur dem wird Livland zu eigen, der ein livländisch Weib heimführt. Darum ist es nicht schwedisch geworden und wird nicht russisch werden, sondern bleiben, was es ist!« Der Klang der Stimme weckte in Peter ein Erinnern. Aber es wurde nicht hell, und er war nicht der Mann, sich mit Grübeleien aufzuhalten. »Wer ist das Mädchen?« Er fragte es scharf. Barbara legte den Arm um Katharina und drängte sie mit leichtem Zwange näher: »Eine schöne Gefangene des Zaren.« Ein halblauter Fluch entfuhr Menschikoff über diese Schmeichelei. Drohend richteten sich seine Blicke auf die Freundin. Sie winkte mit den Augen, trat rasch auf ihn zu und preßte seine Hand: »Der Preis lohnt den Einsatz,« zischte sie dicht an seinem Ohr. Die geballten Fäuste des Günstlings preßten sich noch fester zusammen. Seine Brust rang unterdrückt. Er hob den Kopf. Er glaubte Barbara zu verstehen: Katharina sollte die Delila des zarischen Simson werden. Seine Blicke glühten: dafür war ihm das Liebste feil. »Meine Gefangene!« Peter betrachtete wohlgefällig die unerwartete Siegesbeute. »Ich weiß nicht, ob das Kriegsrecht Ew. Majestät gebietet, mich zu den Gefangenen zu rechnen, aber ich weiß, daß das Gastrecht fordert, dem Freunde des Hauses einen guten Willkommen darzubringen.« Mit einer anmutigen Bewegung bot sie ihm den Teller mit den Pfirsichen. Peters Augen wanderten hin und her zwischen ihrer sauberen Gestalt und dem zierlich hergerichteten Obst: »Die Frucht sieht lecker aus.« Ein leichtes Rot stieg in Katharinas Wangen: »Möchte sie Ew. Majestät angenehm zu essen sein und gut bekommen.« IX. Das Freudengelage war lang geworden. Erst die schauernde Kühle der Frühe trieb die Runde auf. Durch die Säle und Gänge des Palastes, in denen das Flackerlicht der Kerzen bereits vor dem ersten Schimmer des Tages zu erbleichen begann, schwankten die übernächtigen, verfallenen Gestalten. Es war als speie die Mitternacht ihre Gespenster wider den Morgen aus. Wankend, auf unsicheren Füßen, tappten die späten Gäste zu ihren Ruhestätten. Die trüben, schwimmenden Augen glotzten stier, die welken Züge waren zu einem blöden Lächeln auseinandergezerrt. Fassungslos grinste es in den sich langsam hellenden Dämmer: war da nicht etwas gewesen, das wie Lust geschienen hatte? Späße waren durch die branntweinduftende Luft gewirbelt, grelle, saftige Späße, die tollen, johlenden Beifall geweckt hatten. Frauenarme hatten sich um Männernacken geschlungen, Männerlippen sich an Frauenbusen gedrängt, heiße, glühende, von Wein und Verlangen feuchte Lippen. Schwül die Glut, brennend der Durst und lechzend die Gier der Leiber. Und nun: Scherben, zerdrückte, zertretene Rosen, zerwühlte Kleider, eine fade, üble Süße von vergossenem Wein. Ekel, Ekel an allem. Froheit, Freude, Freundschaft zu wüstem Schall geworden. Jeder wendete sich von jedem, taumelte fort, in irgendeine Ecke, zu bleiernem Schlaf. Der Zar wurde geleitet. Von Jaguschinski und Katharina. Der Pole, den die Jahre etwas fett hatten werden lassen, hielt sich selber nur mit Mühe gerade. Die ganze Last ruhte auf Katharina. Sie trug sie mit Munterkeit. Ihrem kräftigen, unverbrauchten Körper hatten Wein und Schnaps nichts anzuhaben vermocht, trotzdem sie wacker Bescheid getan hatte, so oft der Zar oder einer der andern Herren ihr zugetrunken hatte. Sie war dabei freilich mit Schlauheit zu Werke gegangen. Ständig hatte sie mehrere Gläser vor sich stehen gehabt, halbvolle und fast leere, die sie nach Gefallen schob und drehte. So konnte sie jeden Zutrunk bis auf den Rest erwidern, ohne sich zu übernehmen und war nüchterner geblieben als alle andern. Peter bemerkte es mit Staunen. Vertraulich kniff er Jaguschinski in den Arm: »Pan Pawel, schau dir mal das Mütterchen an, ich glaube, Pan Pawel –,« seine Zunge folgte nicht mehr richtig seinem Willen, »ich glaube, das Mütterchen nimmt es mit dir und mir und noch ein halb Dutzend solcher Gesellen, wie wir jetzt sind, auf. Sieh, sieh dir mal an,« er versuchte Katharinas Rechte, die ihm fest um die Schultern unter der Achsel durchgriff, zu tätscheln, »sieh, wie die zupackt, was die hält, läßt sie nicht wieder los.« Der Herr Oberstleutnant, welchen Rang Jaguschinski inzwischen erlangt hatte, warf einen schiefen Blick auf die verdächtig klare Begleiterin und murrte etwas von intriganten Weibern. Damit kam er bei dem Zaren schlecht an. Fluchend bohrte der ihm die Faust in die Seite, und fast wäre es zum Streit zwischen beiden gekommen, wenn Katharina nicht kurz entschlossen den Polen beiseite geschoben und ihm geboten hätte, sich zu entfernen. Der sonst so Zungenfertige schien für eine Weile die Sprache verloren zu haben, dann aber ging die Mühlschleuder um so kräftiger los. Die Schimpfworte flogen nur so: russisch, polnisch, lettisch, deutsch. Der Vorrat des Sprachgewandten war unerschöpflich. Er zeterte noch, als Katharina mit dem Zaren längst außer Hörweite war und die Tür zu den Gemächern, die für den Herrscher im Palaste seines Günstlings stets bereit waren, sich hinter dem Paare geschlossen hatte. Schwer war Peter auf sein Bett gesunken, hatte sich aber sogleich wieder aufgerichtet, um sich seines Überrockes zu entledigen. Mit hastigen Fingern zog und zerrte er daran. »Du wirst es nie zu etwas bringen, wenn du nicht Geduld lernst!« Eine etwas spöttische, kindliche Stimme hatte es gesprochen. Mit beiden Händen die Kante des Bettes ergreifend, beugte Peter sich weit vor und starrte der Sprecherin in die kühlen, unbewegten Züge. Die Berauschtheit schien plötzlich von ihm abzufallen. Wie aus tiefem Traum erwachend klang die Frage: »Du?« »Hast du mich vergessen?« Katharina wiegte sich in den Hüften, reckte die Arme und verschlang sie hinter der lodernden Flamme ihrer Haare. Ihr Leib dehnte sich. »Konntest du mich vergessen?« »Ich mußte es!« Seine Zähne knirschten. Er zerrte sich an den Pfosten des Bettes empor, »warum kamst du nicht? Ich habe nach dir gebrannt!« Sie nickte voll Hohn: »Die Glut hat dir das Gedächtnis ausgezehrt.« Er erwiderte nicht. Ingrimmig, eigensinnig stieß er heraus: »Warum hast du mich warten lassen? Du!« Sie hob die Schultern. Ein berauschender Duftstrom stürzte von ihrem Leibe auf ihn ein. Heiß stieg Erregung in ihm auf. Ein kaltes Lächeln spielte um ihre Lippen: »Du wirst noch länger warten müssen.« »Kanaille!« Blindlings faßte er zur Seite, bekam die Kristallkaraffe mit Ungarwein zu packen, die auf seinem Nachttisch stand und schleuderte sie ihr vor die Füße. Die Splitter und der gelbe, klebrige Wein spritzten über ihre Bänderschuhe. »Ew. Majestät belieben eine seltsame Unterhaltung.« Der eisige Ton traf ihn wie ein Peitschenhieb. »Weib!« Mit einem Ruck riß er sie an sich, seine blutunterlaufenen Augen waren dicht über ihr: »Ich kann dich zwingen, mir zu Willen zu sein.« Sie schrie nicht, sie regte sich nicht, versuchte sich nicht aus der Zange seiner Finger zu winden. »Tu es, Zar,« sie sagte es eisern ruhig, »wenn du wünschst, daß ich dich hasse.« Seine Hand sank wie geschlagen herab. Leichenblässe überzog sein Gesicht, und in rascher Verwandlung zerbrach das gewalttätige, harte Wesen. Der Jammer, der ihn stets befiel, wenn sein begehrlicher Wille an Schranken stieß, brach über ihn herein. Zuckend drehte er ihm den Kopf wider die Schulter, stieß ihn in die Knie. Mit einem Blick erkannte Katharina, was sich bereiten wollte. Es trieb sie nicht in schnelle Flucht, wie sonst jeden aus Peters Umgebung. Ihr waren diese Zufälle ja kein ungewohntes Schauspiel, und was dem Sohne des Propstes Glück das Leiden gelindert, mochte auch dem Zaren helfen. Ohne Besinnen bettete sie die schleudernden Glieder in ihren Armen. Alle geflissentliche Zurückhaltung, alle bewußte, stachelnde Abwehr wich von ihr. Nun der große, starke Mann ihr hilflos hingegeben war, öffnete ein weicher Glanz die beherrschten Züge. Zärtlich hielt sie den Ungebärdigen. Die kleine, runde Perücke, die er trug, war herabgeglitten und hatte die kurzen Haare freigegeben. Mit sachter Hand fuhr sie über das dunkle Gewirr. Wieder und wieder. Ganz leise, ganz sanft. Unablässig. Bis das stoßende Aufbäumen ebbte, das Keuchen des Atems still wurde und die erschöpfte Natur hinüberlenkte in den Schlaf. Unbeweglich hockte sie ... Durch Stunden. Es galt ihre Zukunft. Erst gegen Mittag erwachte der Zar. Gestärkt, erquickt. Verhalten, beinahe zögernd, kam die Bitte: »Bleibe bei mir.« Statt aller Antwort strich sie ihm über die in Bangen gefurchte Stirn. Wie eine Mutter dem trostsuchenden Kinde: langsam, freundlich, fest. X. Die Zeit war weiter geschritten. Ruhe hatte sie den geplagten Landen nicht gebracht. In Polen, in Litauen, in Sachsen, in den Ostseegebieten und auf russischem Boden waren die Heerhaufen des Zaren, Karls und Augusts des Starken hin- und wiedergezogen und hatten versucht, einander so viel als möglich Abbruch zu tun. Doch noch stand die Wage gleich. Während Peter im Norden aus Livland und Estland sich die besten Stücke herausfetzte, sich langsam zum Meer und gegen Finnland vortastete, sich in den eroberten Strecken wie zu Hause gebärdete, Huldigungen entgegennahm und eifrig mit dem Ausbau des mitten im feindlichen Gebiet gelegenen Petersburg beschäftigt war, entriß Karl seinem Duzbruder und Verbündeten die polnische Krone, suchte ihn in seinen Erblanden heim und zwang ihn zum Frieden von Altranstädt. Des einen Gegners ledig, wendete er seine ganze Stärke seinem gefährlichsten Widersacher zu. Der Herbst 1707 sah ihn auf dem Marsche nach Rußland. Durch Schlesien und Polen rückten seine Kriegsvölker in breiter Linie vor. Von Kurland her drückte sein General Lewenhaupt auf die russische Macht. Langsam, aber unausweichlich drängten sie die zarischen Truppen vor sich her. Über Grodno und Wilna, über die Beresina, hinter Smolensk wich der Zar. Vergeblich hatte er versucht, bei Golowtschin und Dobroje den Vormarsch der Schweden aufzuhalten. Trotz tapferer Gegenwehr war er geschlagen worden. Seitdem gab es keinen Halt mehr. Unaufhaltsam ging es zurück. Zurück. Mit feinen buntköpfigen Nadeln merkte Barbara Arsenieff die Staffel des russischen Mißgeschicks an. Sie saß in ihrem Boudoir und hantierte eifrig über der Karte, die die Westgrenzen des Reiches zeigte. Ihr gegenüber die Fürstin Dolska. Die war seit Jahren eine bekannte Erscheinung in der Gesellschaft der Sloboda. Wo sich eine politische Intrige anspann, hatte sie ihre Hand dazwischen. Diesmal galt es die Durchführung eines Planes, der im Schoße der Familie Sobiesky ausgebrütet, den Segen des Papstes, die Zustimmung des Kaisers Leopold gefunden hatte und bestimmt war, der Beruhigung Europas zu dienen. In den Häuptern, die dem Heiratsentwurf einer ehrgeizigen Großmutter zustimmten, malte sich die Erledigung der Angelegenheit sehr einfach: Peter wurde mit Jakob Sobieskys Tochter, Karl von Schweden mit einer österreichischen Prinzessin beglückt, und alles kam in schönste Ordnung. Die jüngsten Kriegsereignisse waren nun freilich der geheimen Mission der Fürstin nicht günstig gewesen. Sie fand das begreiflich. Um so mehr erstaunte sie das Vergnügen, mit dem Barbara Arsenieff das Vorrücken Karls anzeichnete. »Wenn man Sie so sieht, Liebe,« bemerkte sie verwundert, »möchte man meinen, Sie freuten sich über den Triumph der Schweden. Dabei müssen Sie doch befürchten, sie eines Tages in Moskau zu haben.« »Und?« Barbara tat, als verstände sie die Verblüffung der andern nicht: »Finden Sie das schrecklich? Ich wäre froh. Auf andere Weise bekomme ich den berühmten Helden vorläufig wohl noch lange nicht zu Gesicht.« Die Fürstin hatte Mühe, ihre Empörung zu unterdrücken: »Diese Schmach Ihres Vaterlandes wäre Ihnen ein willkommenes Schauspiel?« »Schon mancher Eroberer ist in Moskau eingezogen,« entgegnete Barbara ruhig, »keiner ist darin heimisch geworden.« »Aber bedenken Sie nicht die Folgen? Die kaum gemachten Eroberungen im Norden wären verloren.« »Was Rußland im Norden einbüßt,« der Blick der Russin wurde lauernd, »wird ihm der Süden ersetzen.« Was sie bezweckte, erfolgte. Die Fürstin horchte auf: »Will der Zar von der Krim Besitz ergreifen?« »Später auch das, zunächst aber liegt es näher ...« »Näher? Da liegt ... –« »Die Ukraine, ganz recht.« »Der Zar sollte daran denken ...« »Den Bundesgenossen in einen Vasallen zu verwandeln? Ich weiß nicht, ob er daran denkt, ich bezweifle es sogar. Aber eines Tages wird er daran denken müssen.« Dieser Hieb galt der Freundin Mazeppas. Und er saß. Die Fürstin wurde unter der Schminke bleich. »Phantasien!« Es kam gereizt heraus, und sie eilte, von dem Gespräch loszukommen. Barbara Arsenieff machte es ihr leicht. Was sie wollte, war ihr gelungen: der lästigen Mission der Fürstin, die ihre eigenen Absichten zu durchkreuzen drohte, war ein Ende bereitet. Denn die Polin würde nicht säumen, ihren alten Freund vor der vermeintlich ihm drohenden Gefahr zu warnen. Gut so: der Pfeil flog, er würde treffen. Nun galt es, den andern Bogen zu spannen. Mit langen, festen Schritten querte sie die Zimmer, trat bei Menschikoff ein. Er drehte nicht den Kopf nach ihr, er erkannte sie an dem harten, polternden Gang: »Was bringst du, Barbutschka?« Sie war dicht an seinen Stuhl getreten, sah auf ihn nieder. »Wie stehst du zu Mazeppa!« »Wozu fragst du? Du weißt es so gut wie ich.« »Das Jahrgehalt das er dir gibt, damit du ihm den Zaren geneigt erhältst, ist nicht eben reichlich.« Menschikoff setzte sich gerade im Sessel auf: »Barbutschka, seid ihr schon wieder in Nöten?« »Wer spricht davon? Ich rede von Jan Stepanowitsch. Er sollte weniger knauserig sein. Wer einen Herzogshut wünscht, muß es sich etwas kosten lassen.« »Einen Herzogshut? Mazeppa? Du träumst!« »Vielleicht.« »Den Alten noch mächtiger werden lassen als er ist? Er wird sich hüten.« »Der Alte braucht Ihn nicht. Er setzt es auch ohne Ihn durch.« »Das hieße, wider Ihn und wäre Verrat!« »An Ihm? Die Ukraine ist nicht russische Erde, ihr Hetman gehorcht niemandem als sich selber.« Menschikoff sann vor sich hin: »Er vermag es nicht aus sich.« »Meinst du, er fände keinen Bundesgenossen!« »Den Schweden?« Ungläubig schüttelte Menschikoff den Kopf. »So weit denkt der Kosake nicht.« »Du bist sehr sicher. Aber wenn nun ein andrer so weit gedacht und Sorge getragen hat, sein Denken ihm beizubringen?« »Wer?« Sie war von seinem Stuhl zurückgewichen, hielt sich nur mit den Händen an den Knäufen und lachte. Dumpf, schütternd. Er starrte verdutzt: »Du? – Bist du närrisch?« Schüttelnd zerrte er ihr Handgelenk: »Willst du Rußland ins Verderben stürzen? Ist's nicht genug an dem schwedischen Bedränger? Was kitzelt dich, Mazeppa aufzuhetzen?« Sein Drohen endete ihr Lachen nicht: »Seit wann bist du blind? Was bis jetzt Polen für Karl war, wird die Ukraine werden: der Stein an seinem Fuße. Er wird seine Bewegungen hemmen, er wird ihn zum Rande des Abgrunds ziehen und du, und du,« sie dehnte die Worte, »wirst ihn hinunterstoßen.« Schwer atmend strich Menschikoff über die Stirn: »Das – hast – du – für mich getan?« Der zitternde Klang seiner Stimme erregte Barbara Übelkeit, abwehrend streckte sie die Arme: »Nicht diesen Dank, nicht mir. An Darja denke, sie liebt dich. Du bist ihr alles.« »Und dir? Bin ich nichts?« Die Frage verriet Zweifel, der Ton, in dem sie gestellt wurde, drückte Gewißheit aus. Barbara war zornig. Ihre Brauen zogen sich dicht zusammen: »Du weißt, daß nur ich selber mir etwas gelte,« antwortete sie böse, kehrte sich scharf um und ging hinaus. Eitler Männerhochmut! Ihre Fäuste ballten sich: wie er sich blähte in dem Wahn, daß auch sie ihm zu Füßen liege. Wie er gnädig bereit war, ihr für ihre Dienste eine Hand voll Liebe zuzuwerfen. – Ein kurzes galliges Lachen stieß aus ihr: läppische Gaukelei. Ein Wesen wie sie, liebte kein Mann. Ihre Züge verhärteten sich: es sollte sie keiner lieben. Keiner. Sie wollte nicht Liebe, Macht wollte sie und Herrschaft. Der Mächtigste sollte ihr Geschöpf sein, ihres. Und der Mächtigste neben dem Zaren – ihre Blicke wurden starr – über dem Zaren würde Alexander Menschikoff sein. Alexander. Alexaschka! – Mit einem stöhnenden Laut warf sie sich auf ihr Bett. Keine Träne brach aus den brennenden Augen, sie schluchzte nicht, kein Zucken bewegte ihre Lippen, nur das weiße Leinen der Kissen riß unter dem scharfen schneidenden Zerren ihrer Zähne. – – * * * * * Der Pfeil flog. Durch die Steppen trabte eine Reiterschar. Kosaken. In ihrer Mitte der Hetman Mazeppa. Hinter ihm unter dichter Bewachung ein verhängter Wagen. Die mächtigen Räder drückten sich tief in den Boden. Die Last, die sie führten, war schwer. In riesiger eisenbeschlagener Truhe der Goldschatz des Hetmans. Venezianische Zechinen, römische Dublonen, türkische Piaster und russische Rubel. Vorsichtig wich der Zug russischem Gebiete aus. Trabte und trabte. Mit kurzem Rasten. Von fern her schimmerten goldene Kreuze aufragenden Türmen. Hoch über Sumpf und Morast. Minsk. Mazeppa riß sein Pferd am Zügel. Bäumend stand es. Mit ihm die andern. Eine Wolke von Mücken stürzte sich auf Mensch und Tier. Grüne giftig schillernde Fliegen, dickleibige Bremsen bohrten ihre spitzen Rüssel durch Haut und Fell. Widrigkeiten, die nur der erlitt, der zögernd stille hielt. Das Roß Mazeppas stieg. Die Sporen seines Herrn trieben es hoch. Mit einem gewaltigen Satz sauste es vorwärts. Dem Ziele entgegen. Kurz vor der Stadt breitete sich das Lager. Graben, Schanzen, schußbereite Stücke, Zelte, Posten, Runden, Soldaten zu Hauf, Pferde und Geschütze, Klirren der Waffen, Rufen und Schreien und der rasche bestimmte Ton der Befehle. Und über allem hell und rauschend vor dem Winde die schwedischen Farben. Die Kohlenaugen des Hetmans glühten auf. Ein Wink brachte den Fahnenträger an seine Seite. Eilig streifte der Gerufene die wettersichere Hülle von dem Feldzeichen. Markig umspannte Mazeppas Faust den Griff, reckte die flatternde Standarte hoch über sein Haupt. »Für die Freiheit der Ukraine.« Von den Verschanzungen antworteten jubelnde Zurufe. Langsam, Schritt bei Schritt ritt der Trupp durch die Lagergassen, näherte sich dem Zelte des Königs. Knatternd fuhren die Leinwandflügel des Eingangs auf. Karl trat heraus. Groß, ragend. Mazeppa war vom Pferde gesprungen. Breit, wuchtig ging er auf ihn zu. Lüftete den Hut, neigte sich um eine Spanne: »Majestät.« Bereit streckte Karl ihm die Rechte entgegen. Fest schlug Mazeppa ein. Lange hielten sich die Hände. »Ich bringe mich selbst und was mein ist,« der Hetman wies auf den Wagen, »und mich begleitet der Wunsch von dreißigtausend Kosaken, die darauf brennen, mit den Schweden für die Gerechtigkeit zu kämpfen.« »Sie folgen Euch?« »Ihre Pferde sind gesattelt, ihre Lanzen geschärft, ihre Säbel geschliffen. Des Feindes Blöße grinst ihnen entgegen.« Karls offenes Gesicht spannte sich: »Den Ausweichenden von Süden her packen, zum Stehen bringen, seine Macht vernichten?« Der lange Graf Piper, Schwedens Kanzler, war neben den König getreten. Er kannte dessen eigenwilligen Einfälle, seine allzu rasch fertigen Entschließungen. Und fürchtete sie. Besorgt, mahnend wagte er Einwände. Sie glitten am Ohre seines Herrn vorüber. Ungehört. Er war jedem nahen Laut entführt. Das Unbegrenzte hatte sich vor ihm aufgetan. Weiten, wo er reiten konnte Tag und Nacht, Tage und Nächte, wild, ungestüm, zügellos, losgebunden, allein, allein mit sich und seinem schrankenlosen Willen. Alles Blut war aus seiner Stirn gewichen. Fern, fremd der Blick seiner Augen. Graf Piper verstummte: jeder Einspruch war vergebens. – Der Pfeil hatte sein Ziel erreicht. XI. Die Herrschaft des Zaren wankte. Die Stöße, die Karls Erfolge ihr versetzt hatten, ermutigten die unzufriedenen Geister, die es an allen Ecken und Enden des weiten Reiches gab, sich zu regen. An den Südostgrenzen gärte es schon lange. Die Steuerauflagen waren mit jedem Jahr drückender, die Anforderungen für den geordneten Kriegsdienst immer häufiger geworden. Das mißbehagte den halbwilden Stämmen jener Bezirke. Die altrussische Partei säumte nicht, die Mißstimmung zu schüren. Sie hoffte, ihre Suppe an diesem Feuer zu kochen. Die neuen Beamten, die Peter überall an die Stelle der alten setzte, ihre Art, sich in westlichem Geschmack zu kleiden, ihre geflissentlich zur Schau getragene Freigeistigkeit verletzte die an den alten Bräuchen und Sitten hängende Menge. Die Begünstigung der Ausländer, die der Zar übte, goß Öl in die Flammen. Die beschränkten Gemüter glaubten den Hetzreden kaum minder beschränkter Popen, daß es mit alledem auf ihre Rechtgläubigkeit abgesehen sei, daß den gottverdammten Ketzern ihr Land, ja ihre Frauen zugedacht seien. Diese Heiden, die schauerlichen Götzendienst trieben, hatten den Zaren behext und völlig in ihren Bann gezwungen. Mit Entsetzen erzählte einer dem andern von den greulichen Bildern, die in den Häusern der »Deutschen«, für die ihnen alle Fremden galten, aufgerichtet wären und die diese Gottesleugner anbeteten. – Die Allongeperücken der modischen Herren auf den hohen Perückenstöcken waren die Ursache dieses verhängnisvollen Irrtums. Und immer neue Nahrung erhielt die einmal entzündete Phantasie der Volksmassen. Von beamteter Seite wurde den altrussisch Gekleideten das Betreten der Kirchen verweigert. Der Feldzug gegen die Bärte wurde vom Adel auf das niedere Volk ausgedehnt. Das schlug dem Fasse den Boden aus. In Astrachan kam es zu Zusammenrottungen. Mit einer Hetze gegen die »Deutschen« begann es, und mit der Vertreibung der zarischen Beamten endete es. Der Aufruhr war fertig. Er breitete sich rasch aus. Wie ein Flackerfeuer. Sprang von einem Ort zum andern über, bis die ganze Gegend am Kaspischen Meer in heller Empörung war. Und nun der Abfall der Ukraine. Der Grund unter den Füßen des Zaren schien zu schwinden. Was seinen Vorfahren die Strelitzen gewesen, waren ihm die Kosaken geworden, eine zu jeder Zeit bereite Heeresmacht, seine gefährlichste Waffe. Jetzt kehrte sie sich gegen ihn. Peter erhielt die Nachricht mitten in einem Gespräch mit seiner Stiefschwester Anna Iwanowna. »Du lügst, Iwan Gawrilowitsch,« herrschte er den Überbringer, den Leiter der »Behörde für ausländische Gesandte«, wie das auswärtige Amt zu jener Zeit in Rußland hieß, an: »Der Hetman hat dich wohl zu schlecht bezahlt?« Diese Anschuldigung hatte nicht die erwartete Wirkung. Golowkin wurde weder rot noch blaß. Ohne mit der Wimper zu zucken erklärte er: »Es lohnt sich nicht, um den Hetman zu lügen, weder für noch gegen ihn. Was er mir gab, reichte kaum für Tee.« »Ich kenne Euren Tee,« knirschte der Zar und riß dem Minister die Mappe mit den Depeschen aus der Hand. Ein heftiges Blättern, ein rasches Überfliegen der Mitteilungen. Er wußte genug. »Wenn ich ihn zu fassen bekomme ...« die Lehne, um die sich seine Finger gekrallt hatten, splitterte unter ihrem Druck: »Gezücht!« Er schrie es wild: »Ich habe es genährt! Großgezogen! Groß gemacht!« Die Erregung fuhr zuckend durch seinen Körper. Blutunterlaufen quollen ihm die Augen aus den Höhlen. Golowkin wurde aschfahl vor Angst, mit einer unsicheren Verneigung zog er sich zurück und drückte zitternd die Tür hinter sich ins Schloß. Der Zar war viel zu eingenommen von seinem Zorn, um es gewahr zu werden. Die Prinzessin rümpfte die Nase: Männer! dachte sie, Männer wollen das sein. Der eine gebärdet sich wie ein eigensinniges Kind, das seine erste Enttäuschung erlebt, und der andere läuft vor dem Ungebärdigen davon. Laut sagte sie: »Was hast du dich, Petruschka? Triff deine Maßnahmen, und die Schwenkung des Hetmans braucht dich nicht zu schrecken. Sei froh, daß du es frühzeitig erfährst.« »Daß er mich verraten konnte.« Peter schüttelte stöhnend die geballten Fäuste vor sich hin. »Unsere besten Freunde hassen uns am meisten,« entgegnete die Prinzessin gelassen, »weil sie am schmerzlichsten unter unseren Schwächen leiden und am genauesten die Mängel unserer Tugenden kennen. Wir sind ihnen keine Götter.« Und als der Zar nur ein verbissenes Schweigen auf ihre Rede hatte, setzte sie hinzu: »Du machst diese Erfahrung nicht zum ersten Male und wirst sie noch öfter machen müssen, vielleicht sogar von solchen, die du gleich dir selber hältst.« Die Zähne des Zaren schlugen gegeneinander. Es war, als schüttle ihn ein Frost. Gewaltsam zwang er sich zur Ruhe: »Menschikoff?« »Dein Herzbruder.« Die Prinzessin nickte. »Du hast Verdacht?« ganz langsam fragte er es. Jede Silbe war schwer von Drohung. »Dir wird nicht für den Verdacht genügen,« die Prinzessin hob die vollen Schultern, »was mir Gewißheit ist. Golowkin war nicht der einzige, der ein Jahrgehalt von Mazeppa empfing. Auch ...« »Auch der Fürst. Ich weiß es.« »Warum schmähst du den einen und schweigst bei dem andern?« »Der Golowkin«, Peters Miene verzog sich verächtlich, »ist ein Geizhals, der für sich zusammenscharrt, mein Alexaschka behält nichts. Das Geld rollt und kommt unter die Leute; so nützt es meinem Lande.« »Achtung vor dieser Staatskunst.« »Sie mag nicht gefällig sein. Sie ist klug!« »Nun, weshalb erbost du dich dann über ihr neuestes Stück? Der Verrat Mazeppas ist Menschikoffs Werk.« Der Zar fuhr auf: »Wer sagt das?« »Der und jener raunt es. Mir ist es klar. Je mehr du in Not bist, um so dringender bedarfst du des großen Feldherrn. Er wird sich schon mit dem Hetman verständigt haben, wo und wie dieser sich von ihm schlagen läßt. Dem glorreichen Sieger ist es nachher ein leichtes, für den reuigen Unterlegenen Verzeihung zu erwirken. Mazeppa behält, was er hatte, und der Fürst erhält zu seinen vielen Titeln einen neuen. Er wird Herzog. Wonach es ihn schon lange gelüstet. Am Ende,« sie warf es verloren hin, »gelüstete es ihn nach noch mehr.« Peters Stirn furchte sich: »Er ist schnell gestiegen, zu schnell ...« Er brach ab, machte eine wischende Bewegung mit der Hand und begann von anderem zu sprechen: von seiner Absicht, eine Schule für Ingenieure in Moskau zu begründen, von der Notwendigkeit, eine Abordnung nach Deutschland und Holland zu senden, um sich über die Verarbeitung von Wolle zu unterrichten und von der Anlage neuer Manufakturen. Die Prinzessin bog den Kopf zur Seite. Sie mußte lächeln: dieser gespielte Gleichmut mochte einen andern täuschen, sie nicht. – Sie hatte recht. Die angenommene Maske fiel, sobald Peter allein war. Am Ende gelüstet es ihn nach noch mehr. Wie ein Stachel hatten sich diese Worte in sein Hirn gebohrt: des Herzbruders Ehrgeiz war maßlos, er kannte ihn. Warum sollte er haltmachen vor seinem Throne? Hatte er ihn nicht selber gelehrt, nichts für unerreichbar zu halten? Aus dem armen litauischen Adligen, der die Pasteten austrug, mit deren Bäckerei sich sein Vater in dem fremden Moskau ernährte, hatte er aus Wohlgefallen an seiner raschen frischen Art seinen Adjutanten, seinen Kammerherrn gemacht. Freund war er ihm geworden, und er hatte ihn beschenkt, womit er ihn nur beschenken konnte. Mit seinem Vertrauen und allen Würden, die er zu vergeben hatte. Er selber stand zurück. Er war der einfache Unteroffizier, Peter Michailoff, in der ersten Gesandtschaft, die er in die Hauptstädte Europas gesandt hatte und in deren Mitte Alexander Menschikoff glänzte. Er baute Rußland eine Flotte, ihr Admiral war Alexander Menschikoff. Er wollte es so, er gönnte ihm diesen Kling und Klang von Titeln und Orden, Reichtümern und Ehren. Er liebte den Glanz an seinen Freunden. Je heller sie strahlten, um so weniger brauchte er ins Licht zu treten. Den Schein der Macht ließ er ihnen gern, um so fester hielt er die Macht. Es war keinem zu raten, daran zu rühren. – Er stützte den Kopf in die Hände und sann grübelnd vor sich hin: sollte Alexaschka es wagen? – Der Tag war verblichen. Der trübe Dämmer des Abends ging ins Dunkel über, und in der Schwärze wuchs und wucherte das Mißtrauen. Schritte nahten und zogen sich vorsichtig zurück: irgendein Diener, der den Zaren zu stören fürchtete. – Peter wurde der Unsichtbare zum Späher. Laute klangen auf und verwehten wieder: Wetterfahnen, die im Winde knarrten, eigenwillige Türangeln und Fensterriegel, die kreischten, eine Diele, die ächzte – der Zar hörte daraus geheimnisvolle Signale, die Lauscher und Spione einander gaben. Mit vorgebeugtem Oberkörper saß er in dem Sessel, horchte angestrengt in die tiefer und tiefer werdende Finsternis: waren da nicht Stimmen hinter der Tür? Flüsterte dort nicht jemand? Wer? Wer? Dem überreizten Ohre wurde jedes Geräusch zu verräterischer Rede. Was raunte? was wisperte es? Er, ein ungetreuer Gatte, ein schlechter Vater? Würgend zwängte es ihm die Kehle: war es Eudoxia, die sich rächen wollte? War es Alexei, der ihn haßte? Bohrend starrten seine Blicke. In der Düsterkeit ballten sich Schatten. Ihm war, als schlüge rings um ihn ein heimliches höhnisches Lachen auf. Verzerrte Larven grinsten. Unter der Perücke sträubten sich ihm die Haare, kalter Schweiß rann über seine Stirn, die Zähne schlugen gegeneinander. Er schob sich aus dem Sessel empor: kamen sie nicht? Streckten sie nicht die kralligen Finger nach ihm, die Bleichen, Blutlosen, über deren lebendige Leichname er hinweggeschritten war auf seinem Wege? – Langsam wich er zurück vor dem gespenstischen Drohen. Er flog wie im Fieber. Aus seinem Blute schlugen die Schauer der Angst über ihn hin. In seinem Gewissen war keine Gewißheit überwindender Güte. Bangen nur war und sträfliche Furcht. Bebend lehnte er an der Tür, tastete nach der Klinke. Sie gab nach. Licht brach herein, warf den Spuk zurück. Aufatmend stand Peter: was vergangen war, war tot, seine Stunde war vorüber, es konnte ihm nichts mehr anhaben. Doch die innere Unruhe ließ sich so leicht nicht beschwichtigen. Ja, es war, als brächte die Helle sie erst recht zum Gedeihen. Was dem ersten Schreck nur eine ungeheuerliche Drohung war, die sich vergeltend aus der Vergangenheit reckte, das wurde dem näheren Betrachten ein Verhängnis, daran die Zukunft spann. Er hatte die Depeschen, die Golowkin gebracht hatte, nochmals vorgenommen und sie sorgfältig mit früheren Meldungen verglichen. Akten über Akten häuften sich um ihn. Harmlose Berichte erhielten plötzlich Wichtigkeit, belanglose Bemerkungen rückten in das Licht versteckter Andeutungen, und mit einem Male fühlte er sich im Mittelpunkte einer weitgreifenden Verschwörung. Alle hatten daran teil, alle. Mazeppa und Menschikoff, Eudoxia und Alexei, Karl XII. und August der Starke, seine Minister und Generäle, der Metropolit nicht minder wie sein geringster Diener. Jeder wob an dem Netz, darin sein Schicksal sich verfangen mußte. Keinem konnte, niemandem durfte er trauen. Niemandem? Ein warmes Strömen quoll von seinem Herzen auf: Katharina! Und auf einmal kam ihm sein Spüren und Suchen in den verstaubten Blättern, sein Grübeln über die einzelnen Wendungen in den Briefen seiner Residenten und Agenten unsäglich albern vor. Ein paar kräftige Püffe brachten den Aktenwust um ihn her ins Wanken. Die Arme in die Seite gestemmt, sah er dem Purzeln der Packen zu, dann drehte er sich um, griff nach Hut und Mantel und ging hinaus. In die Nacht. * * * * * Das Haus der Postmeisterin Fademrecht in der Sloboda lag in tiefem Schlummer. Nur hinter zwei Fenstern im ersten Stock, die auf den Garten, der Jausa zu, hinausgingen, flimmerte Licht. Dort hatte der Zar bald nach der ersten Begegnung seine neue Freundin untergebracht. Katharina mochte nicht schlafen. Sie hockte in dem breiten, französischen Bett, die Arme um die Knie geschlungen und das volle runde Kinn darauf gestützt. Die gelbseidene Steppdecke war zurückgeschoben, unter dem dünnen Batist des Hemdes lugten die rosigen Nägel der kleinen Füße hervor. Sie sann vor sich hin. Der Abend hatte ihr nachdenkliche Nachrichten gebracht, durch die Postmeisterin, die in der Stadt gewesen war. Es hieß, der Zar habe einen Schlaganfall erlitten und liege im Sterben. Die alte Frau hatte bedrückt die Hände gerungen: »Bewahre uns der Himmel, daß es wahr ist. Der Zarewitsch haßt die Fremden. Besteigt er den Thron, so sind wir keinen Augenblick mehr unseres Lebens sicher. Die Popen werden schon dafür sorgen, daß wir alle hängen müssen.« Der Zarewitsch haßt die Fremden! In Katharinas Augen glimmte es auf: sie haßte er nicht. Ihr fiel die Begegnung ein, die sie beim Fürsten Wolchonski mit ihm gehabt hatte. Ihre erste mit dem Sohne des Zaren. Vor wenigen Wochen. Scheu, schüchtern war der stille, junge Mensch dem Gewühl der ausgelassenen Gesellschaft ausgewichen. In eine der tiefen Fensternischen hatte er sich geflüchtet. Verloren lehnte er dort, die überschlanken Finger gequält ineinander gewunden. Die überlaute Lust der andern peinigte ihn. Ein Zug von Ekel stand auf dem schmalen Gesicht. Er tat ihr leid. Sie trat zu ihm, und da sie wußte, daß ein religiöses Gespräch ihm das liebste war, hatte sie ihm von ihrem bevorstehenden Übertritt zur rechtgläubigen Kirche gesprochen. Die dünnen, blutleeren Lider des Zarewitsch waren gesenkt geblieben, aber in die blassen Wangen stieg ein feines Rot der Freude: »Madame haben einen guten Entschluß gefaßt.« Und nach einer Weile fragte er, wer ihre Paten seien. Ihr war die Zeremonie zu wenig wichtig. Sie vollzog sie, weil die Klugheit es gebot. Die Einzelheiten zu ordnen überließ sie der Prinzessin Natalie, die ihr den Schritt nahegelegt hatte. Sie erwiderte daher, daß diese wohl Patin sein würde. »Wenn ich der zweite Zeuge Ihrer Bekehrung sein dürfte?« Leise, fast hauchend brachte der Zarewitsch die Bitte vor, während das zarte Flammen bis in seine Stirn flutete. »Ew. Zarische Hoheit wollen für mich beten?« Sie hatte sich leicht zu ihm, den sie etwas überragte, niedergeneigt. »Meine innigsten Bitten würden die dem Heile gewonnene Seele begleiten.« Langsam hoben sich seine dunklen Wimpern, und die schwermütigen, dunklen Augen richteten sich voll auf sie. Sie hatte ihm die Hand hingestreckt. Zum Dank. Zögernd hatte er die seine hineingelegt, von Glut übergossen und am ganzen Leibe zitternd. Eine kalte, feuchtende Hand. – Katharina haschte mit den Schultern nach den geklöppelten Stegen des Hemdes, das ihr herabgeglitten war und die volle, weiße Rundung des Nackens und die festen Brüste freigab: nein, der Zarewitsch haßte sie nicht. Sie schüttelte die rote Wucht ihrer Haare, daß sie wie ein Mantel um sie flossen: ihr war nicht bange um ihren Weg. Nur wer sich selber aufgibt, den gibt das Schicksal auf. Und wie eine Antwort auf ihre Gedanken klang vom Flusse her, der träge und schwer am Garten vorbeizog, ein Plätschern durch die Stille. Katharina hob lauschend den Kopf. Der Ruderschlag war verstummt. Wohl ein Fischer, der auf nächtlichen Fang fuhr. – Dennoch war eine Unruhe in ihr Blut gekommen, die sie nicht länger im Bette litt. Mit beiden Füßen sprang sie vom Lager: Licht! Sie begann die Kerzen der venezianischen Girandolen, die zwischen dem Fenster und zu den Seiten der Tür und des breiten Spiegels hingen, zu entzünden. Flamme um Flamme flackte auf, strömte ihren weichen, warmen Schein über sie hin. Der Spiegel sammelte die helle Flut, und sie drehte sich berauscht in dem wonnigen Glanz. Jauchzend warf sie die Arme empor. Doch die Gebärde erstarrte. Alles Blut wich ihr zum Herzen. In dem funkelnden Glas, das ihr Bild zurückwarf, stand noch ein zweites Gesicht, düster, verzerrt von Verlangen. Nur einen Augenblick, dann hatte sie sich wieder: »Ew. Majestät wählen eine seltsame Stunde zum Besuch.« Die Kühle ihrer Worte ging an dem Zaren vorüber. Er wollte sprechen. Es wurden nur losgerissene, stammelnde Laute. Zauber. Dieses von innen quellende Beben verwandelte Katharina aufs neue. Die geflissentliche Herbheit fiel von ihr ab: »Kommt mein Freund auch spät, er ist mir angenehm.« Ganz Güte und zärtliches Mitgefühl, drängte sie ihn auf einen der niederen mit chinesischer Seide bezogenen Hocker, saß neben ihm, zu ihm hingeneigt, daß ihr Haar ihn streifte. Ihre Stimme schmeichelte: »Hat der Tag dir weh getan?« Den starken Mann schüttelte es, er brach in die Knie, preßte die Stirn in ihren Schoß: »Der Tag und die Nacht.« Seine Hände verwühlten sich in den Falten ihres Hemdes. »Jede Stunde mästet sich an mir. In Falschheit und Hinterlist. Herr nennen sie mich, weil der Schatten meiner Kraft ihre trüben Geschäfte deckt. Herr!« »Bin ich's?« »Was? Was bin ich?« Die kurze Perücke war ihm in den Nacken gesunken, seine eigenen, kurzen, straffen Strähnen fielen dunkel in ein totenblasses Antlitz, in dem nur die Augen weit in brennender Frage glühten. Sänftigend legten sich Katharinas Finger über die pulsenden Adern an seinen Schläfen. Eine tröstende Erwiderung wollte über ihre Lippen, doch die Flut seiner Erregung achtete keines Haltes: »Bin ich ein Mensch? Ein Mensch schafft, und danach hat er Ruhe. Mich treibt's. Immerzu. Durch Tag und Nacht. Der Tag raubt mir die Geduld und die Nacht betrügt mich um den Frieden. Ich kann nicht schlafen. Nicht schlafen. Nur in Dumpfheit falle ich. Aber in mir bohrt's und stachelt's. Es. Es. Was ist das Es? Dann muß ich auf, hinaus. Muß zimmern, hobeln, muß aufs wilde Wasser, muß knuten, knuten.« Der stöhnende Mund zuckte: »Und für wen dies alles, für wen?« Tief beugte sich Katharina über den verzweifelnden Frager. Der feurige Strom ihrer Haare stürzte über ihn hin, hüllte ihn ein in Duft: »Für deinen Sohn!« »Katarinuschka!« Alle Qual, alle Ungewißheit war ausgelöscht. Beseligt breitete Peter ihr die Arme entgegen. Sie sank nicht hinein. Nur ihr Blick tauchte in den seinen, fest, bewußt, beherrscht. »Den Erben deines Werkes kann die Geliebte dir nicht schenken, ihn kann dir nur die Gattin gebären.« »Du bist es!« Peters Verlangen duldete keine Schranke mehr. In diesem Augenblicke war er bereit, jede zu überspringen, die ihn von seinem Ziele trennte. »Vor aller Welt?« »Vor aller Welt.« Und in plötzlichem Einfall riß er sein Tagebuch, das er in dem Aufschlag seines Ärmels ständig mit sich führte, hervor und warf rasch einige Zeilen auf das Papier. »Da!« Er fetzte das Blatt heraus: »Hiermit erkläre ich Katharina, die Trompeterin, für meine Ehefrau und sichere der Nachkommenschaft aus meiner Verbindung mit ihr alle Rechte ehelicher Geburt zu.« Er las überstürzt, drängend. Ohne eine Miene zu verziehen, lauschte Katharina. Sie zählte die Worte, da sie sie bei ihrer Unkenntnis der Schrift nicht lesen konnte. Es war eines mehr. Breit stand es unter allen, sicher, mannhaft. Mit einem lockenden Lächeln sah sie von den Buchstaben auf Peter, von Peter auf die Buchstaben. Ihr Finger wies: P–e–t–e–r. Er nickte. »Peter!« Eine Sekunde lang schloß sie die Lider. Wie überwältigt von dem Ausblick, der sich ihr eröffnete. Nur eine Sekunde lang. Dann hoben sich die hellen Wimpern wieder. Ohne Hast nahm sie die Verschreibung an sich, erhob sich, zog den Knienden mit sich empor. Es war, als richte sie sich zu ihrer eigentlichen Größe auf. Ein Zucken der Schulter. Spitzen und Batist glitt an ihr herab. In heller Schönheit stand sie in der Helle. Ihr Kopf sank in den Nacken, ihre Lippen öffneten sich, weich, zärtlich. Ein süß schluchzender Laut: »Peter!« Der Zar lag an ihrer Brust, die glühende Stirn zu ihrem Herzen geneigt: »Gnädigste Frau!« XII. Die Schweden lagen vor Pultawa. Sie mußten die Stadt haben. Die Stadt, ihre Gräben, ihre Schanzen, ihre Geschütze, ihre Kasematten und ihre Magazine. Ihre Magazine. Das war es. Das Glück, das dem abenteuerlichen Zuge Karls anfangs hold gewesen war, hatte sich langsam von ihm gewendet. Seit einem Jahre häufte sich Elend zu Elend. Unfaßbar waren die Russen der schwedischen Tapferkeit ausgewichen, hatten sie nach sich gezogen in Einöden und Wüsteneien, hatten die nach mannhaftem Ringen Begierigen zu fruchtlosen Verfolgungen gereizt und ihre wache Kraft ermüdet. Mählich war die schwächer geworden. Das zielbewußte Vorwärts hatte sich in ein zweckloses Hin und Her verwandelt. Der feste Verband und Zusammenhalt der Heeresglieder lockerte sich. Beschwert von Unlust schritten die wunden Füße nur langsam aus. Regen stürzte und Wind fegte daher. Die Kleider vermorschten, das Riemenzeug verdarb, die Schuhe brachen und ließen die Nässe ein. Krankheit nistete sich ein, vergiftete das Blut und verzehrte das Mark. Mit schmerzenden Hirnen und wunden Füßen schoben sich die Massen weiter. Wohin? Vorwärts? Rückwärts? Niemand wußte es. Einer nur war, der jagte vor ihnen her, ruhelos, rastlos, Flammen im Blick. Er suchte den Sieg. Den Sieg, der ihn floh. Und wie sie ihm nachfolgten, ohne Freude, ohne Lust, da kam es über sie aus den Weiten der Steppen, aus dem Dunkel der Wälder. Kleine, verwegene Trupps. Die Vorhut traf es, die Nachhut, die Flankendeckung. Es waren keine Gefechte, keine Scharmützel. Nadelstiche waren es, lächerliche Nadelstiche. Sie schmerzten nicht. Aber sie reizten. Sie reizten zum Rasendwerden. Doch aller Zorn verpuffte ins Leere. Ein Schwarm Hornissen ließ sich eher fangen, als diese Kosaken auf ihren kleinen, schnellen Pferden. Die Kosaken, die ihnen hätten Verbündete sein sollen und die ihren Hetman verlassen hatten, als er sie aufrief, mit ihnen zu ziehen. Ein Geächteter seines Volkes, barg er sich in der Mitte der Schweden, und die Waffen, die er bestimmt hatte, ihre Macht zu mehren, kehrten sich gegen sie. Ein Unheil zum andern. Das Schlimmste, der Hunger fraß in den Eingeweiden, höhlte die Wangen, schnürte die Leiber zusammen, daß sie sich wanden in Weh, niederstürzten am Wege und in Schmerzen verendeten. Tote, Tote, die keines Feindes Auge gesehen hatten, die von keiner Feindeskugel, keinem Feindeshiebe getroffen waren, zeichneten die Straßen, die die Schweden durch die Steppe gezogen waren. Drei Tagemärsche vor Pultawa hatte es sich ereignet. Der König war an den Reihen seiner Soldaten vorübergesprengt. Wild, jäh, wie immer. Da hatte einer der Soldaten, ein alter, grauhaariger Mann, sein Brot hochgehalten und es dem Könige hingestreckt mit finsterer Frage. Der hatte sein Pferd gezügelt, das eisenharte, verschimmelte Stück ergriffen, es Bissen um Bissen verzehrt. »Es ist nicht gut, aber es läßt sich essen!« Das hatte der König gesagt. Drei Tage vor Pultawa. Und nun lag drüben die Stadt. Die reiche Stadt. Die Stadt, in deren Gewölben Pulver und Blei, Lederzeug und Schuhe, Kleider und wärmende Decken lagen. Und Mehl. Und Brot. Brot. Die Schweden mußten Pultawa haben. Sie mußten es haben. Die Schweden berannten Pultawa. Zäh, verbissen, ingrimmig. Pultawa mußte ihnen gehören, ehe die Russen kamen. Die Russen. In dichten Scharen rückten sie an. Von Norden, von Westen, von Südwesten. Unter Scheremetjef, unter Menschikoff, unter Dolgorucki, unter Galizin, unter dem Zaren. Rückten an und drängten gegen die Stadt. Drängten und zwängten, schmiedeten den Ring, den eisernen Ring, der schwedischen Mut erwürgen, schwedischen Hochsinn erdrosseln sollte. Es kam zur Schlacht. Singend zogen die Schweden auf. Ihr sieggewohnter König hielt den Sieg in Händen. Ihre Augen suchten ihn. Wo war der unbeugsame Ungebeugte? Wo? Wo ritt er auf seinem hohen Pferde? Vergebens gingen die Blicke auf Wanderschaft. Der König konnte nicht zu Pferde sitzen. In einer Sänfte ließ er sich auf das Schlachtfeld tragen. Eine Wunde am Fuß, die er kurz zuvor davongetragen hatte, forderte Bedacht. Der König in einer Sänfte! Die aufrechten Stirnen senkten, die hochgemuten Blicke trübten sich: unser König in einer Sänfte! Die Herzen schlug es mit Bangen, die Schwerter mit Stumpfheit. Und nicht genug daran. Auch die Lenkung versagte. Befehl kreuzte Befehl. Vom Grafen Rhenschiöld dieser, vom Grafen Lewenhaupt jener. Plätze, die gestürmt waren, wurden aufgegeben, Schanzen, die genommen waren, wurden geräumt. Hin und her wirbelten zwei ungleiche Willen die Truppen über den Plan. Zwei Willen? Drei, vier, zehn, hundert. Kein Wille galt, wo einer sich versagt hatte, zu gelten. Jeder war Wind für sich, blies die Wellen nach seinem Gefallen. Tausend, Tausende von Wellen. Jagte sie auf. Hierhin, dorthin. Kreisend schlugen sie gegeneinander, hemmten sich, brachen sich, verrannen, verströmten. Nutzlos. Sinnlos. Immer ärger der Trubel, immer rettungsloser die Verwirrung. Kein Halt, keine Wehr mehr. Gewühl von Menschen, Pferden, Wagen. Verstrickung und Knäuel. Fluchen und Schreien über der treibenden Flut. Fort. Fort. Die Fahnen schleifen durch den Staub, die Geschütze bleiben stecken, Karren und Gefährte stehen verlassen. Ballast. Unaufhaltsam die Flucht. Durch die sich stoßenden Reihen bahnen Reiter einen Weg. Der Sänfte des Königs. Sie wankt und schwankt. Eilig. Eilig. Hinter ihr, über den Nacken seines Rappen gebeugt, tief, tief, Hetman Mazeppa. Das Ende ist da. Das Ende. – Am Abend des Tages saß der Zar in seinem Zelte, schrieb, auf den Knien, an den Admiral Apraxin: »Karl hat Phaetons Schicksal getroffen. Jetzt erst ist der Grundstein von Petersburg befestigt!« XIII. Der Sieg von Pultawa hatte die Augen Europas auf Rußland gelenkt. Der westliche Handel begann die östlichen Gebiete beachtenswert zu finden. Die Stadt an der Newa lockte Käufer und Verkäufer. Ein weites, unermeßliches Reich bot seine Schätze dar, es wartete auf die Wagemutigen, die bereit waren, sie zu heben. Abenteurer oder ehrliche Makler, es galt gleich, wer nur die Kraft hatte, Funken aus dem Stein zu schlagen und Leben in der Öde zu wecken. Die Tür nach dem Meer war durchgebrochen, war gesichert. Wer kam, war willkommen. Der Schiffsverkehr durch das Finnische Meer mehrte sich von Monat zu Monat. Der Lotse, der sein Heim unweit der Mündung des Stromes aufgeschlagen hatte, hatte tüchtig zu tun. Zu jeder Tagesstunde winkten die Flaggen der fremden Segler, und zur Nacht riefen ihre Böller nach dem Lenker durch das unbekannte Gewässer. Der Lotse hatte seine helle Freude an den vielen Schiffen, die über die weißen Wogen herangeschwommen kamen und nach der Stadt, nach seiner Stadt wollten. Und es gab selten einen Kapitän, dessen Brigg er an Untiefen und Sandbänken vorüber in den sicheren Hafen geleitet hatte, der nicht sein Gast war. In dem Häuschen, das mit rotgeschindeltem Dach und grünem Gebälk weit in die Bucht hinausprangte, war immer der Tisch gedeckt. Von den hohen Borden, die rings an den mit weißem Leinen bespannten Wänden des Zimmers umliefen, blinkten geputzte holländische Zinnteller, auf der breiten, flandrischen Kredenz standen gefüllte Humpen mit spanischem und ungarischem Wein und Schalen mit Früchten. Auch ein Imbiß war immer bereit: gesulzter Fisch, etwas kaltes, gedämpftes Fleisch oder kleine mit Pilzen und gedünstetem Schinken gefüllte Pastetchen, die die Hausfrau nach einem besonderen Rezept ihrer livländischen Heimat zubereitet hatte. Sie waren dem Lotsen die liebste Speise. Immer wieder langte er zu und nötigte den Besucher, zuzulangen: »Sie müssen heiß gegessen werden, Mynheer. Wie alles Gute. Wenn wir das auf uns warten lassen, wird's lau und fad. Zugreifen, zugreifen.« Der gastfreundlich Bedrängte, ein wetterharter, holländischer Seebär, wischte sich umständlich mit einer Ecke des buntgeblümten Tischtuchs die Nässe des Genevers aus dem weißen Schnauzbart und kniff zwinkernd das eine Auge ein: »Ein guter Wahlspruch,« er langte nach der Schüssel und schob sich einen reichlichen Teil des duftenden Gebäcks auf den Teller. »Wer den befolgt, braucht nicht zu besorgen, daß es ihm mangelt.« Er spießt eines der Törtchen auf die Gabel und erledigte es in zwei Bissen: »Bloß verdammt niedlich sind die Dinger.« Der Lotse nickte: »Macht nichts, das Kleine schluckt sich besser und liegt nicht so schwer im Magen. Und es läßt sich gut eins nach dem andern verspeisen.« Kauend stimmte der Holländer zu, lehnte auch nicht ab, als die Hausfrau ihm noch eine Portion Pastetchen vorlegte, nur bat er sich dazu einen weiteren Schluck Genever aus. Die Lotsin wollte ihn in das kleine Glas, das dafür bereitstand, füllen, doch auf einen Wink ihres Gatten nahm sie einen schwerfüßigen, farbigen Becher, der eingeschliffen eine bacchantische Szene zeigte. Ehe sie ihn dem Holländer reichte, hob sie ihn an die Lippen: »Der Schiffahrt Gedeihen!« »Das ist eine gute Rede, Myfrouw, der muß ich gründlich Bescheid tun!« Der Alte leerte den Pokal in einem Zuge. »Ein feines Stück,« lobte er, nachdem er ihn niedergesetzt hatte und drehte ihn betrachtend. »Er stammt von einem genuesischen Schoner,« erläuterte der Hausherr. »Es war vor einem Jahr etwa. Das erste Schiff, das ich nach der Schlacht bei Pultawa hereinführte.« »Es brachte gewürzten griechischen Wein.« Die Hausfrau wies auf ihren Mann: »Ihr könnt's Euch denken, Kapitän, ich hatte meine liebe Not, ihn von dem feurigen Zeug loszubekommen.« Der Seemann lachte. Es war ein tiefes, sattes Brummen: »Glaub's wohl, Myfrouw. Salzluft macht die Kehle trocken. Und so ein weitgereister Wein ...,« er schnalzte mit der Zunge. »Das verstehen freilich die Frauen nicht. Aber ich hab was, das wird Euch gefallen.« Er bückte sich und zog von der Wand her seinen Schnappsack an sich. Mit vieler Umständlichkeit knüpfte er die Bänder auf, nahm ein kleines in Seide eingeschlagenes Päckchen heraus und breitete es mit fast zärtlicher Feierlichkeit aus. Es war spinnwebfeines Leinen. Die Finger der Lotsin streichelten entzückt den Stoff. Derb schlug ihr der Gatte auf die Schulter: »Nimm's, Katja, nimm's.« Und neckend fügte er hinzu: »Hast dir nicht träumen lassen, daß so was mal an deinen Leib kommt.« Sie wandte den Kopf, sah ihm in die Augen: »Dir hat auch manches nicht geträumt.« Er nickte: »Daß ich einmal soviel Behagen haben werde. Freilich, du bist ja geradeswegs vom Glück hergekommen.« Ein heiteres Lächeln hob ihre Lippen, leise drückte sie seine Hand, die neben der ihren lag. [Illustration: Kleiderreform in Rußland Nach einem Gemälde von G. von Unruh] Der Holländer hatte inzwischen weiter in der Unergründlichkeit seines Beutels gekramt und brachte jetzt einen kurzen, dreikantigen Dolch zum Vorschein. Er steckte in geflochtener Scheide und zeigte als Griff einen greulichen, grellbemalten Götzen. »Für Euch, Mann.« »Was ist das für ein Ungetüm?« »Ein Fetisch der Heiden auf Madagaskar.« Die Züge des Lotsen spannten sich, sein Gesicht war eitel Frage. [Illustration: Der Newskij-Prospekt in Petersburg – Das Haus Peters des Großen Nach zeitgenössischen Darstellungen] Der alte Seefahrer ließ sich nicht bitten, zu berichten: von Rotterdam aus hatte er seinen Kutter gesteuert, durch den Kanal, hinunter nach Spanien, vorüber an Teneriffa, ums Kap der guten Hoffnung. Indien lockte. Da taucht abseits die Insel auf, unweit der afrikanischen Küste. Ein üppiges Land. Reich an Schätzen. Schöne Frauen. Seltene Erze. »Das Volk weiß nicht wohin mit seinem Überfluß.« Gebannt hing der Lotse an den Lippen des Erzählers: »Wenn ich eine Flotte ausrüstete ...« Wie im Traum kam es aus schwerer Brust. Der Holländer hieb auf den Tisch, daß es dröhnte: »Ihr eine Flotte, Mann?« Der Lotse riß sich aus seiner Benommenheit, ein purpurner Schein dunkelte die gebräunten Wangen: »Selbstverständlich, der Zar. Aber Ihr müßt wissen, Kapitän,« er tupfte dem andern auf den Arm, »der Zar und ich sind so gut Freund miteinander, daß ich manchmal beinahe glaube, wir sind ein und derselbe.« »Herr, das wäre ein Spaß,« brummte der Alte. In seine Unbefangenheit fiel nicht der leiseste Dämmer einer Ahnung. »Und Ihr meint, Euer Zar würde eine Expedition ausschicken?« Die Abenteurerlust blitzte ihm aus den Augen. »Es wird ihm zu weit sein,« zweifelnd wiegt er den Kopf, »hinter Afrika.« Mit ihren schönen, festen Händen strich Katharina das Tischtuch vor sich glatt: »Für den Zaren ist nichts zu weit. Die Armenier bitten um seinen Schutz, der Hospodar der Walachei sucht Anschluß an ihn, die Serben schicken Boten, die Söhne der Schwarzen Berge wenden sich um Hilfe an ihn, die Griechen hoffen, daß er das oströmische Reich erneuere ...« Sie brach ab. Die Tür hatte sich geöffnet, auf der Schwelle stand der Kammerherr Jaguschinski. Das lasche, gedunsene Gesicht war gerötet. »Ew. Majestät ...« Der Holländer sprang auf, polternd stürzte sein Stuhl: »Der Zar, ich war beim Zaren zu Gast?« Er mußte sich am Tische halten. Die Überraschung war ihm in die Knie gefahren. »... vom Khan der Kalmücken ist eine Gesandtschaft eingetroffen,« beendete Jaguschinski, der an dergleichen Vorfälle gewöhnt war, seine Meldung. »Sie bieten einen Freundschaftsvertrag an. Der Khan öffnet uns die Grenzen seiner Länder und damit den nächsten Weg nach China.« »Da hört Ihr's,« Katharina rüttelte den Holländer, der immer noch nicht völlig Herr seiner Verblüffung geworden war, an der Schulter: »die Straße nach China tut sich auf, und Madagaskar sollte uns zu weit sein? – Nichts ist zu weit, was unser Wille ergreift!« In Peters Augen leuchtete es auf: »Kamerad,« sagte er und preßte ihre Hand mit festem Druck: »Kamerad!« * * * * * Jaguschinski hatte den Gast mit nach Petersburg genommen, ihn, wie es der Zar befohlen hatte, durch ein Gelage in der Admiralität zu feiern. Peter und Katharina waren allein. Es ging zum Abend. Linde Wärme lag über dem sanft zur Bucht sich senkenden Strande. In kleinen Wellen spielte die See mit dem weißen Sande. Wie es einem Lotsen und seinem Weibe nach vollbrachtem Tagwerk ziemt, saßen der Zar und Katharina auf der Bank vor dem Hause. Katharina, die nie müßig blieb, mit einer Knüpfarbeit beschäftigt. Um sie her in dem kleinen Garten dufteten Levkojen und Balsaminen. Ein milder, würziger Geruch zog durch die leicht bewegte Luft. Das Meer lag spiegelnd in der sich neigenden Sonne. Weit und grenzenlos. Nur gegen Osten blitzte ab und zu ein helles Segel auf: heimkehrende Fischer, die in die Newa einliefen. Vom Strande herauf tönte das Jauchzen von Kinderstimmen, schwarze Pünktchen rannten und purzelten durcheinander und rappelten sich wieder auf die spieleifrigen Beine. Sonst Stille. Leise klirrten die Nadeln unter Katharinas geschäftigen Fingern. »Muder!« Peter umfaßte die Emsige und lehnte sich an sie. »Muder,« liebkosend strich er über den fraulich gewölbten Leib. Wie in Abwehr richtete sich Katharina steif auf. »Dich freut das Wachsen.« Ihre Stimme klang herbe. »Dich nicht?« »Du denkst nur an dich. Ich muß an das Werdende denken. Immer und immer. Wozu wird es?« Der Zar wies hinüber, woher die Stimmen ihrer Kinder Anna und Elisabeth tönten, die mit der Prinzessin Maria, der Tochter Menschikoffs und seiner Gattin Darja sich tummelten: »Sie vergnügen sich.« »So scheint es.« »Ist es anders?« Die vollen Schultern Katharinas hoben sich zuckend: »Lisenka ist noch ein Rotznäschen, das nichts versteht. Aber Anja kommt oft mit roten Augen heim. Das Mariechen deines Herzbruders ist ein kleiner gehässiger Balg.« »Kinderzank. Das ist wie Aprilwetter.« Katharina warf den Kopf in den Nacken. Der feste Blick ihrer grünen Augen faßte Peter: »Es sind deine Kinder, gegen die sie ihr Gift spritzt.« Vom Strande her klangen schrille Aufschreie, vier Füßchen trabten eilig gegen das Haus. »Väterchen! Väterchen, liebes!« Atemlos klammerte sich die vierjährige Anna an Peters Knie. Dicke Tränen liefen über ihre Wangen. Die zweijährige Elisabeth bildete heulend die Begleitung. »Was haben meine Eingeweidchen?« Der Zar zog die Kinder auf seinen Schoß. »Wer tut meinen Würmlein was?« Schluchzend, stockend brachte Anna eine ärgerliche Geschichte heraus. Sie hatten friedlich zu dritt mit der Prinzessin Marie gespielt, dann hatte es Streit gesetzt, und als Anna mit ihrem Väterchen, dem Zaren, gedroht hatte, hatte die kratzbürstige kleine Menschikoff nach ihr geschlagen und sie »frechen Bankert« geheißen. »Bankert hat sie gesagt, Väterchen, Bankert? Was ist das?« Die Knüpfarbeit Katharinas rollte zu Boden. Ihr Busen flog. Doch sie zwang den Sturm: »Das ist Gräfin Barbaras Schule. Sie haßt mich, weil ich mich nicht zu ihrem Werkzeug gemacht habe. Nun möchte sie ihre Schuhe an mir abputzen. Darf sie das?« Der Ton der Frage machte sie zur Forderung. Der Zar fühlte, was auf dem Spiele stand. Sein Antlitz war tiefernst, er legte die Rechte wie zum Schwur auf die Häupter der Kinder: »Bei Gott, sie wird dir die Schleppe tragen.« – – – Ein halbes Jahr danach luden der Kammerherr Jaguschinski und der Admiralitätschef Kikin zur kirchlichen Einsegnung der Ehe des Zaren mit Katharina Alexejewna. Die Zeremonie fand in der Kapelle des Palastes Menschikoff statt. Prinzessin Natalie, die Witwe des Zaren Iwan, der Vizeadmiral Cruys und ein Konteradmiral waren die Trauzeugen. Abends war großer Empfang bei Hofe und Galatafel. Zum ersten Male übten die der Zarin zugeteilten Ehrendamen ihr Amt. Es waren die Fürstin Galizin und die Gräfin Barbara Arsenieff. XIV. Fürst Menschikoff schien fester als je in der Gunst des Zaren zu stehen. Sein geschicktes Eingreifen in der Schlacht bei Pultawa hatte ihm den Herzogstitel von Ingermanland eingetragen, und nun war er gar vor kurzem zum Erzieher des Zarewitsch ernannt worden. Gegen die Übernahme dieses Amtes hatte der Fürst sich vergeblich zu sträuben versucht. »Ich weiß,« hatte der Zar ihm auf seine Einwendungen erwidert, »daß es keine leichte Aufgabe ist, die deiner wartet, aber ich wäre ein schlechter Freund meiner Freunde, wenn ich ihnen nicht immer neue Möglichkeiten gäbe, ihre Freundschaft zu bewähren.« Es hatte scherzend geklungen, und der Fürst hatte auch dazu wie zu einem Scherze gelacht. Erst als sich ergab, daß der Zar bei seiner Absicht beharrte, hatte sich ihm die unangenehme Empfindung aufgedrängt, daß dahinter etwas wie eine Prüfung stecke, und auch jene Äußerung dünkte ihm nunmehr nicht harmlos, sondern von hinterhältigem Hohne. Der Zar hatte in der Tat eine Probe vor. Die Übertragung des Erzieheramtes an den selbstbewußten Fürsten war wohl berechnet. Peter wußte genau, wie sehr sein vom Geschick und von ihm verwöhnter Günstling den unfähigen Thronfolger verachtete. Er ermaß mit Vorbedacht die Kränkung, die für jenen, der sich gut genug für einen Herrscherthron dünkte, darin lag, daß er bestimmt wurde, mit seinen Fähigkeiten den Mängeln offenbaren Ungenügens abzuhelfen. Was wie eine Ehrung aussah, mußte als Demütigung wirken. Und sollte es. Übermut sollte gedämpft, hochfliegende Hoffnungen beschnitten werden. Es war ein gefährliches Experiment. Und der, dessen er sich dazu bediente, war sein Sohn. – Peter blickte finster, seine Lippen preßten sich hart zusammen. In seinem Herzen sprach keine Stimme für den Erben seines Blutes. War dessen Dasein schon zuvor voll Leid gewesen, jetzt wurde es ihm zur Qual gemacht. Es war, als habe Menschikoff die geheimsten Wünsche seines Herrn erraten und beeile sich, sie der Erfüllung zu nähern, so sehr zielte seine Erziehung darauf ab, zu zerstören. Zu allem, was dem Prinzen widrig war, zwang er ihn. Von seinen stillen Studien riß er ihn fort zu wüsten Gelagen, schleppte den Scheuen und Schüchternen in die Gesellschaft ausgepichteter Trinker und verbuhlter Weiber. Mit gesenkten Lidern saß der Unglückliche auf seinem Stuhle. Er wollte nicht sehen, wollte selbst nicht mit den Blicken teilhaben an der Sünde um ihn her, und konnte doch nicht hindern, daß das verliebte Kosen, die lüsternen Seufzer und das Stöhnen der Wollust an sein Ohr drangen. Verzweifelt rang er die schmalen Finger zu heißem Gebet ineinander. Vergebens. Ein seufzender Flüsterlaut in seiner Nähe, ein zärtliches Ächzen verwirrte ihm die Gedanken. Wider seinen Willen kamen seine Sinne ins Sieden. Glühendheiß stieg es in ihm auf. Ungewohnte Begierden begannen sich in ihm zu regen. Er erschrak. Zitternd suchte sein Blick den Mentor. Der bot den Becher: »Brand muß gelöscht werden!« Und an seiner andern Seite lockte ein Frauenmund: »Brand muß gelöscht werden!« Er erbebte, als habe er das Gesicht der Meduse geschaut und griff nach dem Pokal. Doch der gepfefferte Wein brannte wie Feuer in der Kehle und die schwählende Not in seinem Leibe stieg. Ratlos, hilflos, ein wehes Zucken um den schmalen Mund, Tränen in den Augen sank er in die ausgebreiteten Arme des Weibes. Zuflucht suchte er und fand Begierde. Entsetzt wendete er sich ab. Da warf ihn der Ekel nieder. In Strömen brach es aus seinem Munde, ohne Aufhören, wie wenn er sich selber ausspeien wollte. Über und über besudelt, wand er sich am Boden, leichenblaß, mit stierem Blick und flatternden Lippen. Und sein Erzieher stand über ihm und stieß mit dem Fuß nach ihm: »Eines Zaren Sohn!« Das war Menschikoffs Rache für das unerbetene Amt. Und Tag für Tag kühlte er sein Mütchen neu an dem Gehaßten. Der geringste Widerspruch, ja auch nur der zaghafteste Versuch eines Einwandes gegen seine willkürlichen Anordnungen trugen dem Prinzen die schmählichsten Strafen ein. Mehr als einmal brannten auf dessen Wangen breite Striemen von den Fingern des Fürsten, der Ungehaltene warf den bestürzten Zögling zu Boden, schleifte ihn an den Haaren durch das Zimmer und stieß ihn mit dem Kopfe gegen die Wand. Es war kaum möglich, noch eine Steigerung der Plagen zu ersinnen, die dem Ärmsten das Leben verbitterten. Menschikoffs zornige Gereiztheit hatte es fertig gebracht. Es war das Schlimmste, was er dem Prinzen antun konnte. Er hatte ihm angekündigt, er müsse sich bereit halten, zur Armee zu gehen. Und da der Prinz diese Anordnung mit einem stundenlangen Weinkrampf beantwortet hatte, war sie dahin verschärft worden, daß er an den Kampfhandlungen an der Front teilzunehmen habe. Alexei war der Verzweiflung nahe: töten, seine Hand sollte töten? Er starrte auf seine Finger, er streckte, er krümmte sie. Sie kamen ihm vor wie Ungeheuer, denen ein Übermächtiger befehlen konnte, sich wider ihn zu empören. Würden sie tun, was jener Schreckliche forderte? Er prüfte sie aufmerksam, er beobachtete sie, wenn sie scheinbar ruhten, und er belauerte ihr Bewegen, ihr Spielen. Und je mehr er sich mit ihnen beschäftigte, um so stärker wurde in ihm die Angst, sie könnten sich ohne seinen Willen, gegen seinen Willen zu Abscheulichem gebrauchen lassen. Seine Rechte wurde ihm ein Gegenstand der Furcht und des Abscheus. Das war die Hand, die die Waffe führte, die dem Nebenmenschen nach dem Leben trachtete. Er vergaß, daß dieselbe Hand es ist, die die Feder führt, die Wohltaten reicht. Er gewahrte nur noch ihre blutigen Absichten. Ein Schauder überlief ihn, wenn er seine Rechte ansah, er begann die Fürchterliche zu hassen. War sie nicht da in ihrer schauerlichen Lüsternheit des Nehmens, so konnte keiner ihn zwingen, Böses zu tun wider seinen Willen. Wenn er sich ihrer entledigte. – – Der Gedanke nistete in ihm. Er saß und sann. Vor ihm auf dem Tische lag ein geladenes Terzerol. Menschikoff hatte es dort hingelegt. Recht auffällig. Um den Prinzen zu entsetzen. Der Anblick hatte ihn auch beinahe umgeworfen. Auf wankenden Knien war er näher geschlichen, das Mordwerkzeug mit einem Tuche zu bedecken. Da war es ihm durch den Kopf geschossen: ein Griff, ein Druck und du bist frei! – Totenblaß hatte er an der Wand gelehnt, den Blick wie gebannt auf den spiegelblank geputzten Lauf der Waffe gerichtet: frei? War Tod Freiheit? Überwindung war Freiheit! Er wollte das Zeichen des Kreuzes machen, doch die Rechte hing ihm wie gelähmt herab. Er schlug es mit der Linken. Spähend forschten seine Augen nach der andern Seite: hatte sich dort der Teufel festgesetzt? Die eben noch so leblosen Finger zuckten: es gelüstete sie, das tötende Spielzeug zu betasten. In seltsamer Neugier über sich selber gab er ihnen nach. Wie mochte es sich anfühlen? Vorsichtig fingerte seine Rechte daran herum. Es war glatt und kühl. Wie die Hände einer Mutter, die sie um die schmerzende Stirn ihres Kindes legt. Leise nahm die Hand die Waffe auf, wog sie. Dabei drehte sie sich, drohte zu fallen. Hastig packte er zu, bekam den Kolben zu fassen, und wie von magischer Gewalt berührt, spannten sich die Sehnen. Ächzend sank der Zarewitsch auf einen Sitz: das Unheil war geschehen. Der Böse hatte Macht über seine Hand. Sie war bereit, zu töten. Weh ihm! Große Tropfen rannen aus seinen Augen: er würde zum Mörder werden. Zum Mörder! Mußte er das dulden? So dein Auge dich ärgert, reiße es aus und wirf es von dir! Und so deine Hand ... Er dachte nicht weiter. Mit einem Ruck entwand seine Linke der Rechten die Waffe und drückte ab. Blitz, Rauch und Knall. Etwas Hartes schlug den Arm beiseite. Warm rieselte das Blut aus dem zerschmetterten Gelenk. In dicken Tropfen färbte es den Teppich. Der Zarewitsch sah staunend auf das ungehemmte Quellen. Das floß und floß. Jäh zuckte es ihm durch den Sinn: Wer Menschenblut vergießt ... Ohnmächtig stürzte er zu Boden. – Die Wohltat der völligen Entrückung blieb ihm nicht lange gegönnt. Das Getöse des Schusses hatte die Dienerschaft und deren Geschrei den Fürsten herbeigerufen. Er stieß die Lamentierenden, die sich mit Essigäther und feuchten Schwämmen um die Erweckung des Prinzen bemühten, beiseite und brachte die vor ihrer Tat geflüchtete Seele mit rauher Faust in die Wirklichkeit zurück. Er fragte nicht lange um das Wie und Warum des Geschehens. Ihm war es klar. Wütend zerrte er den noch halb Bewußtlosen empor: »Feigling, jämmerlicher Feigling.« In Alexei bäumte sich etwas gegen diese Schmähung, der schmerzhaft verzogene Mund preßte heraus: »Ich bin nicht feige.« Eisiger Spott antwortete ihm: »Du hast recht, du bist schlimmer als das, du bist ein Vaterlandsverräter.« Der Zarewitsch zuckte wie unter einem Schlage zusammen: »Vaterlandsverräter!« Der schwächlich Schwankende richtete sich steil auf, die umflorten Augen blickten plötzlich klar: »Den Namen gebt dem, den ihr meinen Vater nennt. Wie er meine Mutter verraten hat, verrät er Rußland. Um des Fremden willen. An die Fremden. – Ich hasse ihn. O, ich hasse ihn!« »Natter!« Menschikoffs Finger krallten nach seinem Halse. Ein hagerer Arm, eine eckige Schulter schoben sich zwischen ihn und den Bedrohten. Ein bärtig überschatteter Mund rief warnend seinen Namen. Es war Gräfin Barbara. Unwillig kehrte der Fürst sich ab: »Giftiges Gewürm soll man vernichten, wo man es findet. Ich danke es dir nicht, daß du mich daran gehindert hast. Und ob Er es dir danken wird oder,« ein verächtlicher Blick streifte Alexei, »jener ...« Achselzuckend ging er hinaus. »Du wirst es mir danken.« Barbara Arsenieff murmelte es ihm nach, während sie sich mit sicherer Sachlichkeit um die Wunde des Zarewitsch bemühte. Über die dunklen klebrigen Krusten der Schußöffnung sickerte noch immer ein fadendünnes rotes Gerinnsel. Aus einem der Schränke nahm sie ein kleines leinenes Tuch, zerriß es rasch in kurze flockige Streifen und preßte sie auf die Wundränder. Ein zweites Tuch kam dicht darüber. Die ruhige Selbstverständlichkeit, mit der sie sich um ihn bemühte, versetzte Alexei geradezu in Bestürzung. Noch nie hatte sich jemand in Fürsorge seiner angenommen, etwas zu seinen Gunsten getan. Jeder, der sich ihm genähert hatte, wollte etwas von ihm, im Guten oder Üblen, hatte ihm geschmeichelt oder ihn mißhandelt, aber jedem war er der Zarewitsch gewesen, keinem der nach einer teilnehmenden Seele hungernde Mensch. In seinem Gesicht arbeitete es. Gräfin Barbara hatte angestrengt acht auf sein Mienenspiel. Es war nicht schwer zu erraten, was in ihm vorging. Sich tiefer über den Verband bückend, als wolle sie ihn auf seinen Sitz prüfen, flüsterte sie geheimnisvoll: »Die Mutter grüßt dich, Alexei Petrowitsch.« Eine Blutwelle dunkelte das blasse Antlitz des Zarewitsch, sein Herzschlag stockte: »Meine Mutter,« stammelte er, »meine Mutter? Sie hat nie nach mir gefragt.« »Jeden Tag fragt sie nach ihrem Sohne, aber alle Boten, die ihr Herz sandte, waren unverläßlich. Ihr Ruf hat das Ohr, für das er bestimmt war, nicht erreicht.« »Jetzt ruft mich meine Mutter, gerade jetzt.« Alexei war noch immer fassungslos. Gleich einem Wunder war ihm dieser Gruß von der Mutter. Die tiefe Angst über die rasche Tat, die ihn überfallen und niedergeworfen hatte, war beschwichtigt: seine Mutter hatte ihn gerufen! Eine Rechtfertigung war es ihm. Gräfin Barbara hatte sein Gesicht nicht aus den Augen gelassen. Sie war zufrieden mit dem, was ihre Worte ausgelöst hatten. Nun unterstrich sie sie noch: »Die Mutter sehnt sich nach ihrem Kinde.« Sie wußte nicht, ob Eudoxia Lapuchin sich sehnte, nicht, ob sie sich nach ihrem Kinde sehnte. Vielleicht hatte die Nonne Helena in der Klosterhaft längst vergessen, daß sie einmal Zarin war, frei war, einen Gatten gehabt hatte und einen Sohn. Sie wußte nichts von der Verstoßenen, als daß sie lebte. Aber sie wußte, daß in dem Herzen des einsamen Jünglings vor ihr eine ewig unterdrückte Sehnsucht nach der Mutter brannte. Und wer es verstand, diese Sehnsucht klug zu nähren, zu schüren, der konnte den Sohn in Empörung wider den Vater treiben, er konnte das Mitgefühl einer glücklicheren Nebenbuhlerin für den Unglücklichen wachrufen, ihr Geschick mit ihm verknüpfen und, wenn er ihn im rechten Augenblicke fallen ließ, sie stürzen und sich den Dank des vom Verrate der Seinen bedrohten Herrschers erwerben. – Ein hartes Lächeln zog ihre bärtige Oberlippe über die festen starken Zähne zurück: »Eine Seele sehnt sich.« Die erschreckende Verwandlung ihrer Züge entging dem Zarewitsch, er hörte nur das heiße Verlangen in ihrer Stimme, in der Stimme der Botin seiner Mutter. Ein Tränenschwall brach aus seinen Augen, und mit einem wilden Aufschluchzen sank sein Oberkörper vornüber in den Schoß der Gräfin. XV. Barbara Arsenieff war seit einiger Zeit überaus beschäftigt. »Ich kenne meine gelassene Schwester gar nicht mehr wieder,« klagte die Fürstin Darja ihrem Gatten. »Nie ist sie daheim. Morgens nicht, mittags nicht, und abends habe ich sie seit Wochen nicht gesehen. Bald sitzt sie in der Admiralität und hat mit Kikin Besprechungen über die Unterbringung der Kinder verunglückter Seeleute, Naryschkin zu Gefallen treibt sie mit ihm französische Konversation, für den alten Lapuchin sammelt sie Heiligenbilder, dem Generalinquisitor hat sie sich für die Führung seiner Geheimakten als Sekretärin zur Verfügung gestellt und mit dem Fürsten Wolchonski spielt sie bis in die Nacht hinein Karten, damit er seine Gicht vergißt. Sie reibt sich auf. Und keine Vorstellungen halten sie zurück.« Sie schüttelte verzagt den Kopf: »Sie muß sehr unglücklich sein.« »Närrchen,« Menschikoff nahm sie in den Arm und streichelte ihre Wangen, »deine Barbutschka opfert sich weder auf noch ist sie unglücklich. Im Gegenteil. Sie lebt ihrem Vergnügen. Es gibt für sie kein größeres als gut eingefädelte Ränke. Und augenblicklich ist sie eifrig dabei, welche anzuzetteln. Gegen mich.« Er lachte tief und voll. Darja barg sich in seinem Arm, ihre Augen hingen an dem angebetenen Manne, ganz dicht schmeichelte sie sich an ihn: »Du hast recht zu lachen, Barbutschka tut nichts gegen dich.« Er nickte ihr zu, wie einem Kinde, dem man gern zu Willen ist, um es bei guter Laune zu erhalten. »Es mag sein. Ich bin sogar überzeugt, sie redet sich das selber ein. Was ich sehe und erfahre ist freilich, daß sie alle meine versteckten und offenen Feinde aufhetzt und die Herzen für den bedauernswerten Sohn des Zaren,« seine Stimme war satt von Hohn, »in Wallung versetzt. Mag sie. Es schiert mich nicht, wie diese Leute über mich denken. Ich weiß, daß sie mich hassen. Als Ausländer und als den Mächtigsten nach dem Zaren.« Er ließ lässig die Achseln fallen. »Ihr Haß ist mir ebensoviel wert wie ihre Freundschaft, es ist der Sockel für Alexander Menschikoff.« [Illustration: Peter der Große und sein Sohn Alexei Nach einem Gemälde von Nikolai Ge] »Und gegen ihn unternimmt meine Barbutschka nichts.« Die Fürstin strahlte ihren Gatten an: »Das bringt sie nicht über sich. Das nicht.« [Illustration: Plan der russisch-türkischen Stellungen am Pruth Nach einer zeitgenössischen Darstellung] Bei dieser Meinung blieb sie, mochte auch der Augenschein noch so sehr dawider sprechen. Denn allmählich sammelte Gräfin Barbara alle unzufriedenen Gemüter, und davon gab es nicht wenig, und die Begegnungen und Besprechungen, die es zwischen den einzelnen und ganzen Gruppen gab, wuchsen sich mehr und mehr zu einer Verschwörung aus, deren Mittelpunkt und Seele sie war. Es war nicht leicht gewesen, die verschiedenen widerstreitenden Interessen zu vereinen, obwohl die Mißstimmung über die herrschenden Zustände im Volke und unter dem eingesessenen Adel allgemein war. Zwar hatte nach dem Siege bei Pultawa Handel und Wandel einen großen Aufschwung genommen, aber dieser Vorteil kam ausschließlich den regsameren Eingewanderten zugute, das übrige Land seufzte nach wie vor unter Druck und Last des Krieges. Damals, vor fast zwei Jahren, hatte jedermann aufgeatmet und auf ein Ende des Ringens gehofft. Vergeblich. Die Kriegsrüstungen gingen weiter. Wer nur irgend wehrfähig war, mußte zu den Fahnen. Die Steuern und Lasten zur Erhaltung der Truppen wuchsen ins Unermeßliche. Das Volk war der ständigen Kämpfe müde, und die Angehörigen des alten Adels sahen in ihnen geradezu die Wurzel aller Übel, unter denen sie seit elf Jahren seufzten. Die kriegerischen Unternehmungen hatten den Zaren zu den verhaßten Reformen gedrängt. Wollte er über Schweden siegen, so mußte er alle Kräfte des Reiches zusammenfassen, er mußte aus dem gewaltigen Körper herausholen, was in ihm lag. Da halfen ihm die schwerfälligen und an der Überlieferung hängenden Häupter der einheimischen Aristokratie wenig. Er brauchte Menschen von Gewandtheit und mit lebhaftem Geiste. Er riß die Stauwehren nieder, die Rußland bisher von der übrigen Welt abgeschnitten hatten, und die Flut der adligen und bürgerlichen Abenteurer ergoß sich über das Land. Bald saßen die Ausländer an allen einflußreichen Stellen. Fast die ganze höhere Verwaltung war in ihren Händen. Es änderte wenig daran, daß er im Senat eine Körperschaft schuf, in der die verschiedenen Verwaltungszweige zusammenliefen und deren Mitglieder aus den alten Familien genommen waren. Das Gebilde diente mehr zum Schmuck und zur wirksamen Umrahmung seines selbstherrlichen Tuns, als daß es wirklichen Nutzen gebracht hätte. Zu bestimmenden Handlungen wurde die Versammlung befohlen, oder sie wurden nachdrücklich bei ihr angeregt. Erlaubte sie sich, eigene Entschließungen zu fassen, so konnten die Beteiligten von Glück sagen, wenn der Zar über diesen Eingriff in seine Rechte hinwegsah. Diese Einrichtung, bestimmt, die Grollenden und Mißgünstigen zu besänftigen und durch die scheinbare Beteiligung an der Macht mit der neuen Richtung zu versöhnen, hatte sie noch mehr erbittert, eben weil sie sich mit dem Schein begnügen sollten, während sie die verhaßten Fremden im Besitze der Macht sahen. Die Menschikoff und Schafirof, die Ostermann und Bruce, die Devier und Lewenwolde spielten die großen Herren, und die Trubetzkois und die Bestutscheffs, die Dolgoruckis und Galizins, die Repnins und Schtscherbatoffs sollten sich vor ihnen bücken. Das wurmte, und dieser Wurm fraß schon lange an ihnen. Im stillen ballten sie die Faust und verwünschten die Reformen und ihren Urheber. Die abgeneigte Stimmung wuchs von Tag zu Tag. Die von Karl XII., der sich nach seiner Niederlage in den Schutz der Hohen Pforte begeben hatte, seit zwei Jahren betriebene und kürzlich erfolgte Kriegsansage der Türkei war nicht geeignet, die feindlichen Gefühle der Altrussen zu unterdrücken. Sie sahen nur neue Blutopfer vor Augen, deren Früchte, wie immer, den Fremden in den Schoß fallen würden. Die Vertreibung dieser Schmarotzer und die Beseitigung der Ursache ihres Gedeihens rückte in das Licht einer völkisch rettenden Tat. Nur darüber war man sich innerhalb der beteiligten Kreise nicht einig: sollte Rußland das von Peter Eroberte behalten, oder sollte es sich, wie die völlig von der Überlieferung Beherrschten eiferten, auf den ursprünglichen Besitzstand Moskoviens beschränken? Die Alten, wie der Fürst Wolchonski, nannten jeden einen Ketzer am Volkstum, der von dem Berufe Rußlands zur Weltgeltung sprach. Die Jungen hingegen lehnten es ab, so töricht zu sein, das Gewonnene aufzugeben. Sie strebten lediglich danach, die jetzigen Inhaber der hohen Stellen und Würden beiseitezuschieben und sich an die vollen Krippen zu setzen. So gingen die Wünsche gegeneinander, und der feste, zielsetzende Wille fehlte. Gräfin Barbara trug ihn in die Reihen der Unzufriedenen. Für den Zarewitsch! Das klang nach Ergebenheit und rechtfertigte den Widerstand. Die Gräfin wurde nicht müde, den Unglücklichen vor den Ohren der Mißvergnügten zu beklagen und sein qualvolles Los auszumalen. Sie beschuldigte sich in den heftigsten Ausdrücken unverzeihlicher Lässigkeit, daß sie nicht längst den Vergewaltigungen des Ärmsten durch ihren Schwager entgegengetreten sei und fand nur eine mangelhafte Entschuldigung in dem unbegrenzten Vertrauen, das sie bisher zu dem Gatten ihrer Schwester gehabt habe. »Ich war blind,« sagte sie mit ihrer tiefen, dunklen Stimme, die stets voll verhaltenen Schmerzes war, »blind, wie wir es alle waren. Aber ein Augenblick hat mich sehend gemacht. Wie der Fürst den Prinzen zwingen wollte, wider seine Natur zu handeln, so werden die Fremden Rußland zu ihrem Knecht machen und es zu Diensten mißbrauchen, die seiner Seele schaden.« Der greise Fürst Wolchonski nickte: »Die Fremden bringen uns kein Heil. Ihre Geschäftigkeit sät Unruhe in uns hinein. Was ihnen durch Gewohnheit gedeiht, vergiftet unser Blut. Es wird wild und stürmt ins Uferlose. So verschwenden wir alle Kraft. Bleiben wir, was wir waren, so wird Europa weniger von uns sprechen, ja es wird uns vielleicht verachten, wie ehedem, wir aber werden glücklicher sein.« Es war gut, daß seine altersschwachen Augen nicht sahen, wie sich die Züge der Gräfin verzerrten. Er fühlte nur ihre eiskalten Lippen auf seiner Hand und hörte ein erregtes Beben in der sonst so gleichmäßigen Stimme, die ihn bat, dem von aller Welt verlassenen Prinzen zu einer Begegnung mit seiner Mutter zu verhelfen. Die Gräfin hatte sich nur ungern zu diesem Schritt verstanden, sie fürchtete Unbesonnenheiten von seiten des Prinzen, auch stand es völlig außer Berechnung, wie die ehemalige Zarin sich zu ihrem Sohne verhalten würde. Aber andererseits drohten ebenso von einer Verweigerung der Erfüllung dieses Wunsches Gefahren. Nun die Sehnsucht des Zarewitsch ihren Angelpunkt gefunden hatte, verlangte er ungeduldig nach einem Wiedersehen mit der halbvergessenen Mutter. Die Gräfin verhehlte dem Fürsten ihre Bedenken nicht. Er wußte sie zu zerstreuen: der Sohn eines Jugendfreundes, ein Major Glebof, hatte den Bezirk des Klosters Susdal, das der ehemaligen Zarin zum Aufenthalt angewiesen war, als Musterungskommissar unter sich. Wenn der Prinz es über sich bringen wollte, Interesse am Verwaltungswesen zu bezeigen, so ließ es sich einrichten, daß er dem Major als Beisitzer zugeteilt wurde. Auf diese Weise konnte unauffällig ein Zusammentreffen erfolgen. Die Gräfin dankte. Nach Wochonski war sie bei Kikin, lag ihm, von dem sie wußte, daß er bei Katharina nicht ohne Einfluß war, in den Ohren, deren Teilnahme für den Prinzen wachzurufen. Sie verstand es, ihm begreiflich zu machen, daß sie selber, obwohl sie im Ehrendamendienst fast täglich um die Gattin des Zaren war, bei deren Abneigung gegen sie weit weniger wirksame Fürsprache tun würde als er. Bereitwillig ließ sich der eitle Admiralitätschef bereden. Es wurde auf dem Umweg über ihn wirklich erreicht, daß Katharina sich bei dem Zaren für den Prinzen verwendete, ihm Verzeihung erwirkte und die Erlaubnis, sich nach seinem Gefallen in den Verwaltungszweigen unterrichten zu dürfen. »Wer die Menschen nicht nach ihrer Art zu benützen weiß, ist ein schlechter Baumeister,« hatte sie ihrem Gatten vorgehalten. »Der Prinz wird nie ein guter Soldat sein.« »So soll er auch nicht Zar werden.« »Das zu bestimmen ist dein Recht.« Er hatte sie, die schon wieder guter Hoffnung war, zärtlich in seine Arme gezogen: »Könnte ich mich doch seiner erst bedienen. Oder wird es wieder ein Mädchen sein?« Sie bog den Kopf auf, voll Selbstbewußtsein: »Eine Frau wird die Krone so gut tragen wie ein Mann.« Peter antwortete nicht. Nur ein verschmitztes Lächeln spielte um seinen Mund. Katharina nahm sein Schweigen für Gewährung ihrer Bitte. Am Abend hatte Kikin ein paar Zeilen, die ihn benachrichtigten, daß Fürst Menschikoff angewiesen werden würde, dem Zarewitsch keine Schwierigkeiten in der Wahl seiner Verwaltungsstudien zu bereiten. Nach ihrem Diktate mußte Gräfin Barbara, die gerade Dienst hatte, sie schreiben. Sie tat es mit mühsam unterdrücktem Triumphgefühl: die Knoten des Netzes, das sie strickte, knüpften sich gut. Und immer fester zogen sich die Fäden, immer dichter wurden die Maschen. Beim Fürsten Wolchonski kamen die Verschworenen zusammen und berieten. Die Gelegenheit zu einem entscheidenden Schlage war günstig. Der Zar, dessen Abreise zum Heere nahe bevorstand, weilte fast allein in der Hauptstadt. Die fremden und die ihm ergebenen russischen Generale waren mit der ganzen Truppenmacht bereits nach dem Süden abgezogen, wo sie bald von türkischen Truppen gebunden sein würden. Einem Thronwechsel stand also ein ernstliches Hindernis nicht entgegen. Dennoch fand eine derartige Übereilung nur matte Zustimmung. Die meisten waren dafür, den Ausgang des Feldzuges abzuwarten. Vielleicht besorgten die Türken das gefährliche Geschäft. Es hieß, daß sie sich in großen Massen in Bewegung gesetzt hätten und daß die Tataren sie durch gewaltigen Zuzug verstärkten. »Warum sollen wir Sünde auf uns laden,« sagte der Fürst Wolchonski schwer und langsam, »es ist schon mancher stolz und übermütig ausgegangen, die Welt unter seine Füße zu bringen. Gott hat ihnen noch allen Halt geboten.« Die junge finnische Bedienerin, die der Fürst nie von sich ließ und die die Aufgabe hatte, seine gichtisch schmerzenden und ständig frierenden Füße in ihrem Schoße zu wärmen, ließ ihre Augen verwundert über die Runde der Bedenklichen laufen: »Gebt Eurem Zaren ein Weib, das sich vor der Sünde nicht fürchtet, und er wird tun, wie sie es will.« »Was redest du da!« Der Fürst stieß der vor ihm Knienden unwillig mit dem Fuß gegen den Leib. »Das ist knapp aus dem Ei gekrochen und sticht schon wie ein Basilisk.« Doch der Kammerherr Naryschkin lobte den Rat, und der Großinquisitor stimmte ihm bei. »Aber welches Weib,« setzte er mit einem Stoßseufzer fragend hinzu, »wird es fertig bringen, das livländische Herz auszustechen?« Eine grelle, hohe Stimme rief spitz: »Ich!« »Wer?« Der Großinquisitor sucht mit den kurzsichtigen Augen. »Die Afranisja,« erläuterte der Kammerherr. »Das Mädel hat wahrhaftig den Teufel im Leibe.« Der Fürst grollte: »Hört nicht auf das Geschwätz. Sie ist unsinnig.« Die dunklen, flinken Augen der Finnin schossen böse Blitze zu ihrem Herrn. Sie schob tückisch die breite, aufgeworfene Lippe vor: »Ich bin nicht unsinnig.« Es klang wie das Knurren eines gereizten Hundes. »Unsinnig nicht,« der Senator Apraxin hatte sie prüfend beaugenscheinigt, »aber zu mager. Der Zar schwärmt dafür nicht. Warte noch ein paar Jährchen, Dingelchen, vielleicht machst du dann dein Glück. Vorerst muß uns eine andere den Dienst leisten.« Naryschkin schmunzelte: »Die Frau des Dschentschiks Tschernitscheff ist jung, sehr hübsch und,« er dehnte die Worte, »gefällig. Auch ist sie ein dankbares Gemüt und bleibt alten Freunden treu. Bei Hofe ist sie kaum bekannt. Wenn sie dem Zaren in geeigneter Weise vorgeführt würde ...« »Sie trägt sich zu französisch,« mäkelte Lapuchin. »Um so besser. Diesem Reiz wird der Zar am ehesten erliegen,« entschied der Großinquisitor. Ein unterdrücktes Kichern erscholl. »Was hast du?« Der Fürst bohrte der Finnin die Hacken in die Seiten, daß sie ächzte. »Ach, nichts, Väterchen, es entfuhr mir nur so.« Er hob drohend die Faust: »Ich kenne dich, die Bosheit hat aus dir gelacht.« – * * * * * Wenige Tage später gab die Admiralität dem Zaren vor seiner Ausreise zum Heer ein Abschiedsfest. Es war ein üppiges Mahl. Ein Gericht drängte das andere, und alle Arten von Wein und Branntwein wirbelten in hirn- und sinnverwirrendem Wechsel durcheinander. Der Abend war schon weit vorgerückt und noch stand das Hauptgericht aus. Sechs Grenadiere trugen es auf einer eigens geflochtenen Unterlage aus Weidenruten herein. Eine riesige Pastete. Die Kunst des französischen Koches hat das mächtige Gebäck mit allerlei sinnigen Bildern verziert. Da waren die Zimmermannsaxt und der Kompas, der Anker, flammende Herzen und schnäbelnde Tauben. Dies alles aber bildet nur den Rahmen zu dem Mittelstück: einer überzuckerten Darstellung von Leda und dem Schwan. Die Leda auf der Pastete war jedoch keine Griechin. Und über dem göttergleichen Schwan schwebte die Krone des heiligen Wladimir: der Zar befruchtete Rußland. Peters weingerötetes Gesicht glühte: er war nicht abgeneigt, seinen Russen den Willen zu tun. Mit einem einzigen Schnitt öffnete er die Pastete. Die beiden Hälften schlugen glatt auseinander. Auf dem Boden hockte fast völlig nackt, mit gespreizten Beinen ein Weib. Nur die Füße und die festen prallen Waden bis zur Mitte der Schenkel waren mit dunkelvioletten Strümpfen bekleidet, und auf dem modisch getürmten Haar schwankte ein zarter Blumenhut. »Ah!« des Zaren Blicke flackerten über die lockende Erscheinung hin: »Diese Füllung lasse ich mir gefallen.« Die Hockende bog den Leib zurück, und mit einer leichten zeichnenden Gebärde hauchte sie wollüstig: »Alles für den Zaren.« Im selben Augenblick schwebte sie samt dem geflochtenen Tortenboden, von Peter emporgehoben, über der Tafel. Sechs Grenadiere hatten unter der Last geächzt. Peters Brust tat nicht einen Atemzug mehr als sonst. Auf zwei Armen trug er hinaus, was zwölf Arme Mühe gehabt hatten, hineinzuschleppen. Langsam trug er es. Schritt um Schritt. Ein Vorhang wich zur Seite. Ein Vorhang fiel zu. Die Nachspeise hielt der Zar allein. * * * * * Durch den Kammerherrn Naryschkin kam die Kunde über die Vorgänge bei der Galatafel zum Fürsten Wolchonski. Afranisja hörte dem Bericht mit lüsterner Spannung zu. Ihr breiter Mund verzog sich in lautlosem Grinsen. Der Fürst las in ihrem Gesicht: »Du weißt etwas,« fuhr er auf sie ein und zerrte sie an den Haaren. Sie fauchte auf und suchte sich dem unsanften Griff zu entwinden: »Du wirst es schon bald genug erfahren, Väterchen, denn es läßt sich nicht verbergen. Die Generalmajorin Tschernitscheff trägt sich nicht nur französisch, sie hat auch,« ihre Stimme überschlug sich kicksend, »die französische Krankheit.« Ein Fußtritt warf sie zu Boden: »Bestie!« XVI. Am 1. Juli hatten die Russen den Dnjestr überschritten, am 7. Juli schlugen sie bei Faltschi und Husch in der Walachei das Lager auf. Sieben Tage lang waren sie durch schattenlose, wasserlose Wüste gezogen. Sieben Tage lang. Die Sonne hatte gebrannt, vom Abend bis zum Morgen, erbarmungslos. Hatte niedergesengt auf Mensch und Tier. Und kein Trunk, keine Erquickung. Ringsum nur dürres, verbranntes Gras und heißer, stäubender Sand. Er beizte die Lider, er bohrte sich in die Nasen, er fraß in den Kehlen, dörrte den Schlund. Jeder Atemzug war Schmerz, stach und peinigte. Zitternd, keuchend drängten die Scharen vorwärts. Dorthin, wo die Ebene zu Ende schien, wo leichte Hügel sich hoben, wo hinter den Hügeln Täler sich bargen, Täler mit grünen Matten und einem silbern rauschenden Bach, einem Rinnsal, einer Quelle. Die Nasenflügel bebten, die starrenden Augen brannten, die von Durst gequälten Leiber beugten sich nach vorne, taumelnd hasteten, stampften die Füße, die bleischweren, dampfenden Füße, klommen die Hügel hinan und standen, wankend, mit brechenden Knien. Ebene, neue Ebene breitete sich vor ihnen, braune, trockene Halme raschelten boshaft, und große, bröckelnde Erdrisse grinsten höhnisch. Seit sieben Tagen krochen sie von Ebene zu Ebene, seit sieben Tagen schmachteten sie nach einer Neige Wasser. Seit sieben langen Tagen. Nun ging es nicht weiter. Wo sie standen, warfen sich die Leute hin. Lagen. Müde. In trotziger Müdigkeit. Die Unteroffiziere kamen, sprachen zu, baten, wurden barsch, befahlen. Keiner rührte sich. Stumpf ließen die Ermatteten den Schwall über sich hinbrausen, kaum, daß eine Miene in ihrem Gesicht sich verzog, ein Lid sich hob. Achselzuckend ließen die Unteroffiziere von ihnen ab, ratlos, ungewiß, was zu tun sei. Einer nur, ein großer, starker Sibirier, konnte sich nicht halten, redete sich in Zorn, griff zur Knute, schlug auf die Liegenden ein: »Auf, ihr faulen Hunde! Auf!« Ein Stoß traf ihn gegen das Kinn, ein zweiter gegen den Magen. Er knickte in die Knie. Ein Dutzend über ihn her mit wildem Geschrei. »Gebt's dem Satan! Tüchtig! Haut ihm die langen Zähne ins Maul, daß er erstickt! Wir Hunde! Er selber Hund! Sohn von einem Hunde! Aas!« Es regnete Hiebe auf den Sibirier. Immer mehr knäulten sich über dem zu Boden Gezerrten, ihm eins auszuwischen. »Brüder,« ein alter Soldat vom Ssemjenowschen Regiment drängte sich vor, schob sich zwischen die Wütenden und ihr Opfer, »Brüder, schlagt euren Bruder nicht.« »Er hat uns geschlagen!« »Brüder, schlug er euch, so schlug er, weil er selber geschlagen ist. Brüder, wir sind alle geschlagen!« – Und die Offiziere kamen, schrien und fluchten, ließen die blanke Waffe sausen. Wunden klafften und Blut troff, aber die Schneiden wurden stumpf an den harten Schädeln. Ein General sprengt heran. Versuchte es mit Lockung: »Kameraden! Einen Tag noch. Zwei. Und wir fassen die Türken, schmeißen sie in die Sümpfe. Dann ist der Weg frei nach Konstantinopel. Einen Tag noch, Kameraden!« »Jetzt nennt er uns Kameraden,« grollte eine Stimme, »sonst heißt er uns Schweine.« Der General überhörte geflissentlich den Einruf, spornte sein Pferd: »Vorwärts, Kameraden! Nach Konstantinopel!« Sein Pferd bekam einen klatschenden Hieb auf das Hinterteil, daß es stieg. Im selben Augenblick faßte eine Hand in die Zügel und zerrte es herum: »Wir wollen nicht nach Konstantinopel, wir wollen heim!« »Heim! Wir wollen heim! Zu unsern Frauen! Zu unsern Kindern!« Noch einmal setzte der General an: »Bedenkt, daß die Türken ...« Seine Stimme versank in dem tobenden Geschrei: »Heim! Heim! Wir wollen heim!« Wie eine Springflut stieg das Geschrei an, brauste und brandete. Peter trat in die Tür des Reisewagens, der ihm und Katharina, die ihn begleitete, zur Wohnung diente, horchte auf das schwellende Schallen. Schon eilte der General herbei, saß ab, erstattete Bericht. Leichenblaß wurde Peter, die Erregung machte ihn zittern, riß seinen Kopf in heftigem Zucken zur Schulter: »Bande,« zischte er, »Bande!«, und packte seinen Stock fester. Vergeblich. Er beschwor den Sturm nicht. An allen Gliedern bebend, kehrte er zurück, warf sich auf die breiten Polster des Wagens, biß in die Kissen, schäumte: »Undankbares Volk!« »Es ist nicht undankbar,« Katharina umfing den rüttelnden Leib, bettete seinen Kopf in ihren Schoß, strich ihm über Stirn und Haar, »es versteht nur deine Ziele nicht. Dem Bauern ist sein Dorf der Himmel, dem Städter seine Stadt, alle Fremde ist ihnen Grauen und Elend. Sie ergreift nicht, was dich erschüttert, und was dich über alle Grenzen reißt, bewegt sie kaum. Du kannst sie wohl aufrühren und für eine Weile aus ihrem Gleichgewicht bringen, aber dann ist ihr Drang zur Beharrung stärker als die Kraft deines Treibens. Der Strom strebt in sein altes Bett zurück, und nichts vermag ihn aufzuhalten.« Peter hatte die Augen geschlossen. Still lag er an ihrer Brust. Leise flatterten seine Lippen: »Er muß aufgehalten werden. Er darf mir jetzt nicht versagen. Jetzt nicht. Es ist unser aller Verderben.« Katharina sann. Eine starke Falte grub sich zwischen ihre Brauen: »Ich werde mit ihnen reden.« Sie ging. Wo sie sich sehen ließ, wurde sie umringt. Und ehe sie noch zum Sprechen kam, war ihre Absicht verschlungen von der flehenden Bitte: »Mutter! Mütterchen! Hilf du. Dich hört der Zar. Sage du ihm: wir wollen heim! Heim, Mütterchen!« Und tausend Augen bettelten, abertausend Hände streckten sich in dem einzigen Wunsch: Heim, heim! Auf Schritt und Tritt liefen sie ihr zur Seite, eilten ihr nach, und immer nur das eine klang an ihr Ohr, immer nur das eine aus all dem Klagen: »Unsere Frauen kennen den Mann nicht mehr! Die Kinder vergessen den Vater! Das Vieh verdirbt! Der Acker verkommt! Alles geht zugrunde! Wir alle gehen zugrunde!« Der Jammer droht sie zu überwältigen. Sie gab sich einen Ruck: »Auch meine Kinder rufen nach mir, und ich verlasse meinen Platz doch nicht.« Ein ausgemergelter Graubart trat vor sie hin, ganz dicht: »Bist ein tapferes Weib, Mütterchen, ist keiner der's anders sagt. Aber es ist zweierlei: tapfer zu sein als Herr nach seinem Willen und tapfer sein zu müssen, weil's ein anderer befiehlt. Wir brauchen uns nicht zu schämen, wir haben bewiesen, daß wir tapfer sind. Nun ist's genug. Nun wollen wir wieder zu den Unsern, wie die andern zu den Ihren wollen. Jeder in sein Land. Die Ernte wartet auf uns, die Erde braucht uns. Wir wollen heim.« »Ihr werdet heimkommen, nur ...« Der alte Soldat schnitt ihr hart die Rede ab: »Kein Wenn und Aber, Mütterchen. Wir wollen heim. Erlaubt's der Zar nicht, so gehen wir ohne seine Erlaubnis.« »Ihr werdet heimkommen.« »Alle?« der Graubart war mißtrauisch. »Alle!« Sie trat vor Peter mit der Forderung, ihr Versprechen wahr zu machen. Er stöhnte: »Es ist unmöglich, unmöglich!« »Wir müssen wagen, es möglich zu machen, weil wir ohne sie nichts wagen können,« bestand Katharina. Peters Gesicht verzerrte sich jäh, unmenschlich: »Ich wollte, die Türken kämen und erschlügen uns alle!« Das Schicksal nahm ihn beim Wort. Die Türken kamen. Vorgeschobene Streiftruppen hatten sie gesichtet. Das wirkte gleich einer Peitsche. Den Müdesten trieb ihr Schlag auf, dem Heimatsüchtigsten. Wer sich nicht wehrte, dem halfen die Türken zur Heimkehr, aber zu einer, die er sich nicht gewünscht hatte. Das Schanzzeug flog von den Wagen. Fiebernde Hände schwangen Hacken und Spaten, hieben und stachen wider den mürben Sand, türmten den haltlos rinnenden, stampften Wall und Sicherung aus dem Boden. Die Nacht kam. Die erste kühle, nach sieben glühenden. Von den Sümpfen, die die Lagernden vom Pruth trennten, stiegen feuchte Dünste. Zogen und sanken. Schauerten Frost in das erschlaffte Gebein. Der Morgen hauchte wie Eis. Und dann stieg die Sonne. Groß und rot und böse. Und flammte. Und fern aus der Ebene flammte es zurück. Breit und golden. Der Halbmond. Die Türken waren da. Die Türken. Hornruf und das Schlachtgeschrei der Janitscharen. Klingend das Spiel und brausend wie ein Atem: »Allah il Allah!« Wie das Wetter warfen sich die türkischen Scharen auf die moldauischen Hilfsvölker, jagten sie in die Sümpfe, fegten sich die Bahn frei zu den Russen. Die standen und warteten. Auf den Angriff. Er blieb aus. Stunde um Stunde warteten sie in zermürbender Pein. Bis zur Nacht. Eine schlimme Nacht, eine üble Nacht. Grell blinkten die Sterne, schadenfreudig, tanzten über dem Russenheer und lachten. Lachten. Schatten zogen durch die Steppe heran. Im Rücken der Russen. Sammelten sich, schlossen sich zusammen. Dumpf ratterte und dröhnte es durchs Türkenlager, wälzte sich mit plumpen Füßen auf jede Anhöhe, streckte und reckte sich und sperrte das bläkende Maul gegen die Eingekreisten. Eine schlimme Nacht, eine üble Nacht. Kein Schlaf. In keinem Auge. Jeder wachte. In dem großen Zelte, das für Peter und Katharina aufgeschlagen worden war, waren in dem großen Hauptraum der Zar und seine Generäle zum Kriegsrat versammelt. Der Vorhang am Eingang wehte auf und nieder, als zerre ein Wirbelsturm an ihm. Bote auf Bote stürzte herein, hinaus. Jeder, der ging, nahm eine Hoffnung mit. Jeder der kam, brachte sie erschlagen zurück. Über die mächtigen Karten, die auf dem riesigen Tisch gebreitet waren, liefen die Blicke. Des Zaren, Menschikoffs, Scheremetjefs, Dolgoruckis und all der hohen Generäle. Liefen und suchten nach einem Auswege. Und fanden keinen. Hüben die Sümpfe, drüben die Steppe, vor ihnen die Türken. Und hinter ihnen – hinter ihnen – – [Illustration: Kaiserin Katharina I. von Rußland Nach einem Stich von Jak. Houbraken] Keiner wagte es zu denken, keiner auszusprechen, jeder beschwichtigte die lähmende Sorge über die erschreckenden Meldungen der Vorposten: es sind nur schwärmende Trupps, räuberisches Gesindel. Der Weg, der Rückweg ist frei! – Eine schlimme Nacht, eine üble Nacht. Jäh wich sie dem Morgen. Die letzte erlogene Hoffnung starb. [Illustration: Prinzessin Elisabeth Nach einem Stich von E. Tschemesow] Die Schatten hatten sich zur Wirklichkeit verdichtet, sperrten den Rückweg. Gellend brach der Schrei aus dem Lager: »Die Tataren! Die Tataren!« Die im Zelte fuhren von den Sitzen, griffen nach den Säbeln. Doch so gut sollte es ihnen nicht werden. [Illustration: Prinzessin Anna Nach einem Stich von M. Bernigeroth] Der Lärm erstarb. Schweigen. Erstickendes Schweigen. Die kampfbereiten Fäuste um die Degenknäufe lockerten sich, sanken lasch herab. Die Blicke suchten nicht mehr. Sie flohen von den Karten, die keinen Ausweg mehr zeigten, und flohen einander. [Illustration: Herzog Karl Friedrich von Holstein-Gottorp Nach einem Stich von M. Bernigeroth] Schwer, jeder abgekehrt von dem andern, saßen die Siegverwöhnten in der Runde mit gebeugten Stirnen. Das Ende war da. Schlimmer als Karls bei Pultawa. Für sie gab es kein Entrinnen. Zusammenkartätscht wurden sie von den Kanonen der Türken. Der Schwede hatte sich gerächt. – Der Vorhang, der den hinteren Teil des Zeltes von dem Beratungsraum trennte, rauschte auf. Katharina. Wie in einem Rahmen stand sie vor dem schweren buntflimmernden Teppich. Niemand wendete sich ihr zu. Tiefer noch neigten sich die Nacken. Langsam kam sie an den Tisch, stützte die Hände auf, blickte von einem zum andern. Ihre Augen funkelten. Leicht beugte sie sich vor. »Seid Ihr nun fertig mit Eurer männlichen Kunst, ihr Männer? Weiß euer Witz nicht weiter?« Ihre Stimme wurde hart: »Ihr versteht nur zu siegen, wenn ihr den Gegner schlagen könnt.« »Und noch eins verstehen wir, Gossudarina,« Menschikoff sprach, »wir verstehen zu sterben.« »Sterben,« Katharina hielt seinen Blick fest, »es wäre besser, Alexander Danilowitsch, du sagtest, wir verstehen zu leben. Aber das,« ihre Hand zog einen Kreis, der weit über die Gegenwärtigen hinausdeutete, »versteht ihr Männer nicht. Ihr wißt ja auch nichts,« tiefer Schmerz dunkelte ihre Worte, »vom langen Tragen und Reifen. Ihr vernichtet in einer Stunde mehr Leben, als wir in Jahren unter Weh gebären und großziehen. Wahrlich, ihr verdientet, daß ihr erleidet, was ihr so oft über andere gebracht habt.« »Unsinniges Geschwätz!« Peter war aufgesprungen, breit ihr gegenüber, »wenn du nichts Besseres weißt, scher dich zum Teufel.« Voll Hoheit richtete sich Katharina auf: »Ich weiß Besseres. Ich habe versprochen, daß alle heimkommen, und ich halte mein Versprechen.« Der Zar faßte sich mit taumelnder Gebärde an die Stirn: »Willst du stärker als mein Heer sein?« »Ich bin es.« »Was hast du vor?« »Euch loszukaufen.« Sie zog die Schultern hoch, warf den Kopf in den Nacken: »Von einem Manne.« Der Ausruf schlug gleich einer Bombe ein. Alle fuhren von ihren Sitzen auf, drängten zu ihr hin. Die Stimmen wirrten durcheinander: »Der Großvezier hat den Sieg in der Hand, er ist nicht der Narr, sich ihn abhandeln zu lassen! – Seine Furcht vor der seidnen Schnur ist größer als seine Habgier! – Im ganzen Lager ist nicht so viel, wie wir ihm wert sind!« Katharina lächelte in den Sturm. Aus ihren Haaren löste sie das funkelnde Diadem, ein Geschenk des Zaren zur Einsegnung ihrer Verbindung, streifte den Schmuck vom Halse, die Armbänder von den Handgelenken, die Ringe von den Fingern und warf die funkelnde Pracht auf den Tisch. »Gebt! Gebt!« Sie streckte die Hände aus. Von allen Seiten flogen ihr die Schätze zu. Blitzende Agraffen, kostbare Dosen, edelsteinbesetzte Dolche. Beutel und Börsen öffneten sich und rollten ihr Gold auf den Haufen. Aus dem Lager wurde herbeigeschafft, was nur von Wert war. Verzierte Zaumzeuge und Wehrgehänge, getriebene Becher, silberne Steigbügel, goldene Sporen. Ein Berg türmte sich vor ihr auf. Schimmernd, gleißend, lockend. War er Lockung genug? Zweifelnd wog Peter im Geiste die blinkende Pracht. »Und wenn es Mehemed Baltadschi zu wenig ist?« »Ich bringe es ihm,« sagte Katharina fest, überzeugt, ihrer Macht bewußt. Peters Blick ging über sie hin: ja, sie würde es zwingen und müßte sie ... Er dachte den Gedanken nicht zu Ende. Sein Herzschlag stockte. Sein Mund Öffnete sich weit, doch kein Laut kam heraus, nur ein stöhnendes Gurgeln. Er begriff plötzlich, was Katharina ihm war, daß er jeden Preis zahlen konnte, nur diesen einen, nur sie nicht. Sie verstand seine Not. Sacht trat sie zu ihm hin, faßte still seine Hand. Das gab ihm Sicherheit. Er kehrte den Kopf und blickte sie an, lange. Da war nichts als eine Mutter, die ihren Kindern helfen wollte. Langsam beugte er die Knie. Erschüttert. Neigte sich und küßte den Saum ihres Kleides: »Dein Herz, O, dein Herz!« XVII. Im Schloß zu Torgau war zur Hochzeit des Zarewitsch Alexei mit der Prinzessin Charlotte von Braunschweig und Lüneburg gerüstet. Die Kurfürstin von Sachsen hatte es sich nicht nehmen lassen, ihrem Patenkinde diesen feierlichen Tag auszurichten. Bis ins kleinste hatte sie die Vorbereitungen überwacht und ihre mütterliche Sorgfalt ebensosehr der Rangordnung bei Tische wie dem Predigttexte des Schloßgeistlichen und dem Brautkleide der Prinzessin zugewendet. »Der Tag«, sagte sie dem Schloßprediger D. Eckardt, »soll ihr gut in der Erinnerung bleiben, mag es nachher kommen, wie es will.« Sie seufzte. Mit mildem Tadel verwies der Geistliche diese schwächlichen Befürchtungen: »Wir Menschen sollen nicht zagen, wo Gott der Herr so sichtbarlich seinen Willen gezeigt hat.« »Lieber Doktor,« die Kurfürstin seufzte stärker, »Er nimmt das Gebaren eines sinnlosen Tieres für ein Zeichen des Himmels, ich vermag darin nichts zu sehen, als die Angst des armen Geschöpfes, das sich verflogen hatte.« Jetzt war das Seufzen an den Schloßprediger gekommen: über den hartnäckigen Unglauben seiner kurfürstlichen Herrin. Aber er unterdrückte es und erwiderte so sanft, wie es ihm in diesem Augenblicke möglich war: »Hat nicht der Herr durch eine Taube dem Noah das Aufhören der Sintflut verkündet? Und war es nicht eine Taube, die bei der Taufe im Jordan herniederstieg?« Die Kurfürstin konnte nicht umhin, dies zu bejahen, jedoch meinte sie, es seien sozusagen himmlische Tauben gewesen, während die im Braunschweiger Schloß verflogene sich sehr irdisch benommen habe, hatte sie doch auf dem Erdglobus in Herzog Albrechts Zimmer nicht nur Fußspuren in den Gegenden der Tatarei, sondern auch noch andere deutliche Merkmale ihrer Bedrängnis hinterlassen. Nun wurde D. Eckardt doch ungeduldig. Er hatte auf dieses Ereignis ein langes Hochzeitscarmen gedichtet und war nicht der Mann, sich von der Zweifelsucht der Kurfürstin um den Witz seines mühevollen Verseschmiedens bringen zu lassen. »Wer das Walten Gottes nicht im Tun des niedersten Wurmes erkennt, den werden eine Legion Engel nicht von des Herrn Allmacht und Weisheit überzeugen,« erinnerte er mit Strenge, kehrte seine Würde als geistlicher Berater heraus und hielt die Kurfürstin ernstlich an, das ohnedies durch die bevorstehende Trennung von Heimat und Freunden bange Gemüt der Prinzessin durch die Äußerung eigener Bedenklichkeiten nicht noch stärker zu verstören: »Eines solchen unchristlichen Verhaltens werden sich Ew. Kurfürstliche Gnaden nicht schuldig machen wollen.« »Nein,« sagte die Kurfürstin bestimmt und völlig überwunden. Es gab für sie nichts Ruchloseres als unchristliches Tun. Dabei konnte sie es freilich nicht hindern, daß ihr zuweilen der ketzerische Gedanke aufstieg, es ginge jenen, die sich wie ihr Gemahl August über jede von Sitte und Gesetz gezogene Schranke hinwegsetzten, weit besser auf dieser Erde, als denen, die sich mühten, alle Gebote zu halten. Für sie hatte die Welt nur Demütigung über Demütigung, und die andern feierte und bewunderte sie als die Starken. Dennoch hätte die Kurfürstin nicht mit den prahlerischen Verächtern der Tugend tauschen mögen. Aus ihrem Leide wuchs ihr Stolz. »Es ist unser Ruhm, getreu zu sein!« Die Prinzessin Charlotte neigte den bräutlich geschmückten Scheitel vor der Kurfürstin, die ihr diesen Wahrspruch wie einen Segen mit auf den neuen Lebensweg gab. Das leise Rot der Erwartung auf ihren Wangen vertiefte sich, als sie erwiderte: »Es wird mir nicht schwer fallen, getreu zu sein. Ich liebe ihn.« »Liebe!« Die Kurfürstin drückte die schmale gelbliche Hand fest auf ihren gepreßt sich hebenden Busen. Der Seufzer, der ihr entfliehen wollte, durfte die Ohren der Prinzessin nicht erreichen. Doch sie konnte sich die Warnung nicht versagen: »Liebe ist rasch verraten und schnell enttäuscht. Immer gehört uns der Geliebte nur in dem einen einzigen Augenblick seiner Liebe, und er ist unserer Liebe verloren, wenn unsere Treue nicht mit ihm geht, auf welchen Wegen er auch wandelt.« Charlotte kannte, so jung sie war, die Schmerzen, aus denen der Kurfürstin diese Erkenntnis kam: ein Schicksal sprach. Sollte es auch das ihre sein? – Eiseskälte hauchte sie an. Die Fremde, in die ihre Straße führt, die ihr so wesensfern und ihm so nahe war. Würde sie ihn ihr lassen? – Die Knie wankten ihr, sie mußte sich setzen. »Kind,« die Kurfürstin erschrak: nun hatte sie doch aufgerührt, was besser geschlafen hätte, »du fürchtest dich?« In den Augen der Prinzessin standen Tränen, sie barg ihren Kopf an der Brust ihrer Patin: »Ich werde ganz allein dort sein, niemandem erwünscht, von vielen gehaßt und, ich fühle es, sie werden ihn mir abwendig machen.« »Lottl!« Die Kurfürstin war ganz außer sich über das Unheil, das sie angerichtet hatte, »so etwas darfst du nicht denken. Bist du nicht dem Zaren willkommen? Er erhofft von dir, daß du das Herz seines Sohnes ihm geneigt machen wirst. Und,« sie suchte alle Gründe, die Verzagte aufzurichten, zusammen, »hat dir nicht seine Gemahlin freundlich schreiben lassen, daß sie dich wie ihre eigene Tochter halten wolle.« Die Prinzessin schwieg. Aber ihre Mienen besagten deutlich, daß sie sich vor dieser Frau noch mehr bangte wie vor dem Zaren. Innerlich teilte die Kurfürstin ihre Befürchtungen: sie hatte manche schlimme Erfahrungen mit den durch Geist und Laune eines fürstlichen Verliebten Emporgekommenen gemacht. Laut aber trug sie zusammen, was zu Katharinas Gunsten zeugte: die Retterin vom Pruth galt viel beim Zaren. Es wäre ihr ein leichtes gewesen, den Zwiespalt zwischen ihm und seinem Sohne zu erweitern. Sie aber hatte ihren ganzen Einfluß aufgewendet, ein erträgliches Nebeneinander anzubahnen. Die Erlaubnis zur Reise nach Deutschland verdankte der Prinz ihrer Befürwortung, sie war dem Plane seiner Verbindung mit Charlotte von Anfang an geneigt gewesen. Der Prinz hielt viel von ihr. »Wenn er von ihr spricht, wird der Schweigsame ordentlich lebendig.« »Hast du es auch bemerkt?« Die Züge Charlottens waren gespannt. »Ja.« Eine ziemliche Verwirrung hatte sich der Kurfürstin bemächtigt: war denn jedes ihrer Worte bestimmt, die Ärmste zu verwunden? Sie suchte nach einer harmlosen Erklärung für des Prinzen Verhalten, das ihr Charlottens Frage in ein neues auffallendes Licht gerückt hatte: »Ich glaube,« sagte sie unsicher, »er bewundert ...« Die hellen Augen der Prinzessin weiteten sich geängstigt: »Bewunderung ...« Sie verstummte. Der Huissier vor der Tür hatte seinen Stab aufgestoßen. Die Flügel sprangen auf. Der Zarewitsch erschien mit den Herren seines Gefolges, die Braut einzuholen. Charlotte war aufgesprungen. Sie stand schwankend. Ein jäh ausbrechendes Schluchzen warf sie an des Prinzen Brust: »Du darfst mich nicht verlassen!« Alexei war fassungslos. Bleich, bebend, mit schlaff herabhängenden Armen blickte er verstört auf die Weinende: was war das? Was wollte sie? Schutz bei ihm? Sie sollte ihm Schutz sein. Vor dem Vater. – Er senkte die Stirn und nagte gepeinigt an der Unterlippe. Der Kurfürstin gab es einen Stich ins Herz: welch übler Anfang. Der Prinz schwieg und schwieg. Die Stille wurde beklemmend. Da raffte sich die Kurfürstin auf und mahnte: »Haltung, Kind!« Charlotte stützte sich schwer auf ihren Arm: »Verzeih,« ihr hilfeheischender Blick suchte in dem Gesicht ihres Verlobten nach einem letzten Trost, »daß ich dich erschreckt habe.« Er zuckte zusammen: »Du mußt Geduld mit mir haben,« murmelte er tonlos, »ich bin es nicht gewöhnt, einem andern Stütze zu sein. Aber ich werde es lernen,« er atmete tief, »ich muß es lernen. Denn sonst,« er stockte und sagte es dann doch, »bin ich verloren.« * * * * * Afranisja hatte schlechte Tage. Ihre neue Herrin, der der alte Fürst Wolchonski zum Lohn für ihre kleinen freundschaftlichen Opfer die zu vielem geschickte und zu allem bereite Dienerin abgetreten hatte, war unzufrieden. Nicht mit der Finnin, sondern mit dem Lauf der Dinge im allgemeinen und im besonderen. Es war der Gräfin Barbara nicht zu verdenken. Noch immer nicht hatte sie mit ihrem schlau ausgelegten Netz den entscheidenden Zug tun können. Ja, schlimmer als das, der Fisch, auf den sie es hauptsächlich abgesehen hatte, drohte, ihr durch die Maschen zu entschlüpfen. »Sie und wieder sie,« zischte sie ingrimmig. »Wüßte ich nicht, daß sie von meinen Plänen keine Ahnung hat, ich müßte vermuten, alles sei ihr offenbar. So überlegen begegnet sie mir. Ah,« sie preßte die Faust wider die Zähne, »wenn ich sie unter die Füße bekomme.« »Du würdest nicht über sie triumphieren, Herrin. Sie ist Livländerin. Die sind zäh.« »Boshaftes Ding!« Afranisja erhielt einen leichten Schlag, der jedoch mehr einer Liebkosung als einer Strafe glich. »Was willst du damit sagen?« Die Finnin duckte sich. Ihre dunklen Augen schillerten die Gräfin an: »Es gibt nur eine Rasse, die es mit ihnen aufnimmt: Die Finnen!« »Sieh an, da hinaus willst du! Gib dir keine Mühe, das livländische Herz schlägst du nicht aus dem Felde.« Afranisja wiegte zweifelnd die Schultern. »Nicht einmal die bleichsüchtige Deutsche, solange sie ihre Hand über sie hält,« setzte die Gräfin ärgerlich hinzu. Neugierig beugte sich die Dienerin ihr näher: »Ach ja, wie war's bei dem Empfang, Herrin, du hast noch gar nichts erzählt.« Ein hartes Lachen antwortete dieser Frage: »Wie es war? O, die liebe Familie schwimmt in Glück und Seligkeit. Diese Frau führt sie alle an der Nase herum. Sie macht aus dem Peter wahrhaftig einen Peter. Er ist Wachs in ihrer Hand. Die blonde Zimperliese heult sich an ihrem Busen aus, und der Jämmerling von Zarewitsch verschlingt sie anbetend mit den Blicken. Er, der sonst die Augen nicht aufzuschlagen wagt. Und warum? Weil es der gnädigsten Frau Stiefmutter beliebte, eine ehrliche Aufwallung seines Vaters in eine Rührszene umzuwandeln. O, dieses Weib!« Die Gräfin war aufgesprungen und ging mit ihren stampfenden Männerschritten im Zimmer auf und ab. Ihre Nasenflügel bebten. »Ja, sie versteht es, die Allerweltsmutter zu spielen,« schürte die Finnin die gehässige Erbitterung. »Wo du hinhörst, Herrin, sprechen die Leute vom Mütterchen Katharina.« »Ein schönes Mütterchen. Sie bemuttert sie alle, von dem fetten Ekel Jaguschinski bis zu dem jüngsten Pagen, dem Moens de la Croix. Alle. Und mit den Weibern ist es nicht anders. Die Galizin ist wie närrisch und schwärmt von ihrer Güte. Güte, es ist alles Berechnung. Oder ist es das etwa nicht, wenn sie andauernd diesem traurigen Gesellen Alexei beisteht? Paß nur auf, sobald sie dem Zaren mit einem Sohn aufwarten kann, kümmert sie sich nicht mehr um den jetzt so geflissentlich Beschützten. O, sie ist schlau. Jetzt streichelt sie noch mit Samtpfötchen, ist die Milde, die Versöhnende, laß sie nur erst ihr Ziel erreicht haben ...« Hochaufatmend blieb die Gräfin stehen. »Du hättest sie sehen sollen, wie sie sich wieder gebärdete.« Erwartungsgierig sah die Finnin zu ihr auf. »Es war schon spät. Der Zar hatte wie stets zum Schluß der Tafel das Gemisch befohlen. Es war kräftig Branntwein dazwischen. Er reichte es wie gewöhnlich selbst herum. Wie er der Deutschen die Schale gibt, weicht sie zurück und fällt beinahe in Ohnmacht. Der Zar war gut gelaunt. Er scherzte noch: ›Dem Zuckerpüppchen ist unser Wein zu stark?‹ Die Prinzessin schüttelte sich vor Widerwillen: ›Ich trinke keinen Schnaps!‹ ›Hoho!‹ der Zar wird ungemütlich, ›du trinkst keinen? Du wirst ihn trinken, meine Tochter. Ein guter Russe muß einen Schnaps vertragen, und ich hoffe, du willst eine gute Russin sein!‹ Das fade Dämchen schweigt, aber sie rührt keine Hand, ihm Bescheid zu tun. Er wird brandrot und fragt den Zarewitsch brüllend: ›Pariert deine Frau immer so schlecht?‹ Und der, der sich nie getraut zu widersprechen, entgegnet zwar stotternd, aber entgegnet doch: ›Ich zwinge Charlotte zu nichts, was ihr widerstrebt!‹ Der Zar ist außer sich, seine Augen rollen, jeder erwartet, in der nächsten Sekunde den Becher dem Dreisten an den Schädel fliegen zu sehen. Da beugt sich die Livländerin näher zur Schulter des Zaren: ›Du wünschtest ihn als Mann zu sehen. Er steht für seine Frau wie ein Mann!‹ Der Zar stutzt, dann nickt er: ›Du hast recht. Wie immer!‹ Er drückt dem Prinzen die Hand: ›Du hast brav gehandelt, mein Sohn‹, tätschelt der Prinzessin die Wange: ›Mein Töchterchen wird sich das Zieren abgewöhnen!‹ – Sie zieht die Zitternde an sich: ›Du mußt ihr Zeit gönnen.‹ – Und er erwidert völlig besänftigt: ›Was meine Katharina bittet, ist gewährt.‹ – Die liebe Familie ist einig. Und die ganze Hofgesellschaft strahlt in höchster Beglückung und ist hingerissen von dem erbaulichen Bilde.« Sie schüttelte sich: »Wie ein Aktschluß aus einem sentimentalen französischen Schmarren. Widerlich!« »Und es gibt nichts, was die Zärtlichen trennt?« Die Gräfin zuckte die Achseln: »Nichts außer dem lutherischen Widerglauben der Prinzessin. Doch das gilt vor dem Zaren nicht.« »Um so mehr vor dem Zarewitsch.« »Er hat, scheint's, seine Abneigung gegen die Ketzer überwunden.« »So muß man sie ihm schärfen!« »Du?« Afranisja lächelte verschmitzt: »Es ist mein sehnlichster Wunsch, der rechtgläubigen Kirche anzugehören.« »Schlange,« die Gräfin rüttelte sie an den Schultern, »ist das dein Gift?« Geschmeidig duckte sich die Finnin: »Ich hab's für dich!« Eine wilde Freude zuckte in den unschönen Zügen der Gräfin auf: »Stich zu, stich!« Ihr Blick wurde drohend: »Aber wehe dir, kehrst du deinen Zahn wider mich. Du bist mein,« sie schüttelte die Hand gegen das Mädchen. »Mein. Mein Eigen!« »Dein Eigen!« Afranisja mußte sich tief über die gebieterisch ausgestreckten Finger beugen, um vor der Wachsamkeit der Gräfin das listige Zwinkern ihrer hellbewimperten Lider zu verstecken. XVIII. Der Haushalt des Zarewitsch hatte einen Zuwachs erfahren. Eine neue Aufwäscherin war eingestellt worden. Der Zarewitsch würde von dieser Vermehrung seiner Bediensteten wohl kaum etwas erfahren haben, wenn das schlicht und einfach gekleidete Landmädchen ihm nicht dadurch aufgefallen wäre, daß er es beinahe Tag für Tag vor dem Bilde der heiligen Mutter Gottes von Kasan, das in einer Nische des Vorzimmers zu seinen Gemächern eingelassen war, in inbrünstigem Gebete gefunden hätte. Eine solche Frömmigkeit war nicht eben häufig unter den Eingeborenen der Bezirke um Petersburg, die, wenn sie nicht gar noch wüstestem Zauberglauben anhingen, als ehemalige Untertanen Schwedens der lutherischen Lehre ergeben waren. Des Prinzen Wißbegierde wuchs mit jeder Begegnung. War doch die Beterin so tief in ihre Andacht versenkt, daß sie dem Kommenden oder Gehenden, der vielfach geflissentlich in ihrer Nähe sich verweilte, nie, wie es sonst der Frauen Art ist, einen halben oder ganzen Blick zuwarf. Diese gläubige Hingabe beschämte den Prinzen: wie weit war er noch von der völligen Abgekehrtheit entfernt, die diesem Mädchen Natur geworden war. Ihm tötete ein leisestes Geräusch den Aufschwung der Seele. O, daß er von diesem Mädchen lernen könnte. Er sprach sie an. Langsam drehte Afranisja sich um. Ihr Blick ging an dem vor ihr Stehenden vorüber, als sei er noch in eine andere Welt gerichtet, glitt zurück, suchte, erkannte. »Heilige Mutter, der Zarewitsch!« Wie in höchster Not streckte sie flehend die Hände empor: »Nicht schlagen! Nicht schlagen!« Alexeis Mitleid wallte auf: »Armes Kind, haben die Menschen dich gewöhnt, nichts anderes von ihnen zu erwarten?« Seine dunklen Augen füllten sich mit Tränen: er erinnerte sich der bösen Jahre, die hinter ihm lagen, wo er nach einem einzigen guten Wort, nach einer kleinen Liebkosung verhungert war. – Er beugte sich zu der noch immer Knienden, hob sanft ihr Kinn: »Hast du niemanden, der dich gern hat?« Die Finnin schüttelte stumm den Kopf. In ihrem Gesicht malt sich hoffnungslose Verzweiflung: »Mich kann niemand gern haben.« »Dich, niemand gern haben? Eine so fromme Seele?« »Ach, Herr,« Afranisja stöhnte, »ich bin voller Sünden.« »Was hast du getan?« Der Zarewitsch zog seine Hand zurück, als habe er sich verbrannt. »Nichts, Herr!« Die Augen der Finnin nahmen einen kindlich einfältigen Ausdruck an: »Nichts habe ich getan.« »Und doch ...?« »Und doch bin ich verdammt. In Ewigkeit.« Sie warf sich auf die Erde und schluchzte: »Ich bin eine Ketzerin, eine Ketzerin!« Die Züge des Zarewitsch hellten sich auf: es galt, eine Seele zu gewinnen: »Du betest?« »Ich habe es den andern abgelauscht!« Sie rang die Hände: »Aber meine Gebete haben keine Kraft. Die heilige Mutter hört mich nicht. Sie stößt mich zurück.« Alexeis Mitgefühl schwoll. Er streckte die Arme, hob die Liegende auf: »Die heilige Mutter verschließt keiner Bitte ihr Ohr.« »Ich kann selig werden?« Afranisja hielt es für geraten, noch einen leisen Zweifel zu äußern. »Du wirst es!« entgegnete Alexei ernst. Sie stürzte ihm zu Füßen, umfing sie, bedeckte sie mit Küssen: »Du, du sagst es! Es ist wahr!« Welch jubelnder Eifer! – Er dachte es bewegt und konnte es sich nicht versagen, seiner Gattin davon zu sprechen. Nicht eigentlich mit der Absicht, ihr die Nachahmung dieses Vorbildes zu empfehlen, wohl aber mit dem leisen Wunsch, daß es sie zur Nacheiferung anregen möchte. Dabei gab er ein wenig zu deutlich seiner Freude Ausdruck. Das wirkte wie ein Stachel. »Es hat zu allen Zeiten verschwärmte Naturen gegeben,« erwiderte die Prinzessin ablehnend, »die sich an den einfachen Wahrheiten des Evangelium nicht genügen lassen mochten.« Der Zarewitsch erblaßte. Zum ersten Male tat sich deutlich die Kluft vor ihm auf, die ihrer beider Überzeugungen trennte. Er versuchte, eine Brücke zu schlagen: »Die Idee spricht zum Geiste, das liebende Herz bedarf der Gestalt.« Charlotte witterte in dieser Gleichung einen versteckten Vorwurf. Sie erhob sich unwillig: »Für verbuhlte Weiber mag das gelten. Ich brauche ihres Beispiels nicht.« Damit ließ sie den Zarewitsch allein. Bestürzt starrte er ihr nach. – Er ahnte nicht, wie genau sie das Richtige getroffen hatte, er spürte nur den Schmerz, den ihm diese häßliche Verkehrung der schönen Empfindung bereitete, die er gefühlt hatte. Freilich, wie hatte er erwarten können, daß sie ihn darin verstand, ihn, den Rechtgläubigen, sie, die ... [Illustration: Zarewitsch Thronfolger Alexei Petrowitsch Nach einem Stich von Uhlig] Er verhielt den Atem, er erwürgte den Gedanken, der blitzgleich den Abgrund zwischen ihm und ihr erhellte. Der sie schied, sie seit je geschieden hatte und auf ewig scheiden würde. [Illustration: Prinzessin Charlotte von Rußland geb. Prinzessin von Braunschweig-Lüneburg Nach einem zeitgenössischen Stich] Er wollte nicht sehen, wo Blindheit wohltat. So fest er aber die Augen verschloß, die Ohren ließen sich nicht verstopfen. Was er sich auszusprechen scheute, mußte er hören. Es war, als habe die Welt sich gegen seinen guten Willen verschworen. Aus jedem Gespräch schlug ihm das Wort Ketzerin entgegen. Es war kein Zufall. Afranisjas Bekehrung, die sie überall als des Zarewitschs Werk pries, hatte begreifliches Aufsehen erregt. Was Wunder, daß die nahen und die fernen Freunde, die Gläubigen wie die Spötter zu allerhand Vergleichen sich angeregt fühlten. Sie fielen nicht zugunsten der Prinzessin aus. Alexei mußte manche bittere Bemerkung über ihr unentwegtes Luthertum hinnehmen. Und er war so wenig dazu geschaffen, standhaft zu ertragen. Jeder solcher Aussprüche wurde ihm zum Vorwurf. Er war der Lässige im Glauben, der Ungetreue an seinem Volke. Er hatte dem Fremden aufs neue aus Schwachheit ein Tor geöffnet. [Illustration: Zarin Eudoxia Nach einem zeitgenössischen Gemälde] [Illustration: Graf Ostermann Nach einer Lithographie von Langlume] Buße. Buße. Er fastete, er kasteite sich. Er zog sich von seiner Gattin, er zog sich von seinem Vater, von Katharina zurück. Deren Güte, Peters Freundlichkeiten erschienen ihm jetzt als Fallstricke des Teufels, gelegt, um seine Seele, um Rußlands Seele zu fangen. Pater Ignatiew hielt wieder seinen Einzug bei ihm und mit ihm das abgekehrte, grübelnde, mönchische Wesen. [Illustration: Fürst Romodanowski Nach einer Lithographie von Langlume] Durch Charlottens Niederkunft wurde er für ein kurze Weile seiner selbstgewählten Abgeschiedenheit entrissen. Aber das Kind, das sie ihm gebar, war ein Mädchen. Wie ein Hohn dünkte es ihm, daß es gesunde und kräftige Glieder hatte und mit hellen Augen um sich blickte. Von wem kam ihm diese Kraft? Von der schmächtigen Mutter? Von ihm? Mißtrauisch sah er an seinem hageren Körper hinab. [Illustration: Fürst Dolgorucki Nach einer Lithographie von Langlume] Das Kammermädchen Euphrosyne, in das sich die Finnin Afranisja verwandelt hatte, hatte leichtes Spiel. Sie fügte zu der Klage, daß er die Herrin vernachlässige, den Trost, daß die Besuche des Bibliothekars Schuhmacher, der aus des Zaren Bücherei für geistige Nahrung der Prinzessin sorgte, jene ein wenig in der Einsamkeit erheitert hätten. Die langaufgeschossene Gestalt Alexeis knickte zusammen. Haltlos hing er in seinem Sessel: »Sie betrügt mich! Sie betrügt mich!« »Herr, liebster Herr!« Die Finnin flog auf ihn zu, wand flehend die Arme um seine Knie: »Das habe ich nicht gesagt. Das nicht!« Er starrte sie an: »Kannst du es leugnen?« Sie tat, als wolle sie antworten, könne sich aber zu keiner Lüge überwinden. Er nickte zu ihrem Schweigen. Stumpf, ergeben: »Ich habe es verdient.« Euphrosyne erpreßte ihren Augen ein paar Tränen, netzte seine Hände: »Mein armer Herr!« Alexei weinte laut auf. Weinend glitt er in ihre Arme, weinend sank er an ihre Brust. – Ganz unmerklich stieg Euphrosyne von der mitleidsvollen Beschwichtigerin seines Kummers zur unumschränkten Gebieterin seines Herzens auf. Nur einmal wurde ihre Herrschaft schwankend. Nach einem der heimlichen Besuche in Susdal, die ihm vor Jahren auf Verwendung des Fürsten Wolchonski der Major Glebof ermöglicht und die er nun, seit seiner Abwendung von Charlotte wie in Rückkehr zu seinem wahren Dasein wieder aufgenommen hatte. Von der Mutter kam ihm die Warnung, seiner Gattin ein ähnliches Schicksal zu bereiten, wie sie es noch erlitt. »Keiner hat das Recht, über einen andern zu richten. Wir bedürfen alle der Nachsicht,« mahnte sie. »Du nicht,« widersprach Alexei und bückte sich über ihre abgezehrten Finger, sie demütig zu küssen, »du nicht, du heilige Dulderin.« »Mein Kind,« die Zarin wehrte ängstlich. »Du weißt nichts,« ihre Stimme erstickte sich zum Murmeln, »von der Gewalt Gottes.« »Mutter!« Entsetzt starrte der Zarewitsch die sanften, ausgeglichenen Züge unter der Nonnenhaube an: so war doch Wahrheit, was die Welt von der Freundschaft der Zarin zu Glebof rannte? Eudoxia hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Doch nur eine kurze Weile. Als sie sie sinken ließ, leuchteten ihre Augen, verklärt von innerer Gewißheit: »Gott will nicht, daß wir ein ganzes Leben im Dunkel stehen. Soll ich das Licht löschen, daß er mir in meiner Finsternis angezündet hat? Er ist mächtiger als ich. Ich unterwerfe mich seiner Gnade.« – – Die Mutter! Auch die Mutter eine Sünderin! – Gegen diesen Gedanken empörte sich sein Inneres: trug nicht der die Schuld ihrer Sünde, der sie eigensüchtig und lieblos von sich gestoßen hatte? Er atmete schwer: und er, der jenem in keinem glich, in diesem einen hatte er ihm gleich gehandelt. – Er ließ den Kopf auf die Brust sinken: die Welt war voller Anfechtungen. Selig, wer sie fliehen durfte, aus eigener Wahl sich beschränkend. – Ein wehes Lächeln zog sich um den schmalen, festgeschlossenen Mund: dem Sohne des Zaren war selbst das verwehrt. Aber nicht das andere – er hob die schlaffen Lider, ein glückliches Leuchten war in seinen Augen – seine Fehler gut zu machen. Den Reuigen segnet Gott! – Für Charlotte ging ein neuer Liebesmorgen auf. Nur zu willig gab sie sich dem holden Traume, den die stillen, verhaltenen Zärtlichkeiten des Zarewitsch ihr erweckten, hin. Sie empfand einzig das eine: er kehrte zu ihr zurück! Sie fragte nicht, sie begehrte nichts, sie war glücklich ihm zu sein, was sie ihm gewesen war: Freundin, Geliebte, Gattin. Alles tat sie ihm zu Gefallen, was sie ihm an den Augen absehen konnte. Alles. Und wurde doch das quälende Gefühl nicht los, daß ihre Hingabe wertlos blieb ohne das Letzte: die Wandlung ihres Glaubens. Ein Schauer rüttelte sie, so oft sie daran dachte, und sie mußte oft daran denken, wenn sie allein waren und wenn er seine großen, dunklen Augen in heimlichem Erwarten auf sie gerichtet hielt. Sie spürte: in seiner Seele rang er mit ihr um das Letzte, um diese Schranke vor dem völligen Einssein. Und sie konnte und konnte es nicht über sich gewinnen, ihm darin zu Willen zu sein. Es wäre mehr als Hingabe, es wäre Aufgeben ihrer selbst gewesen. Das vermochte sie nicht. Sie sprach es aus. Schon zu lange meinte sie geschwiegen zu haben. Es kam ihr vor, als habe sie bereits damit Hoffnungen genährt, die zu erfüllen ihr nicht gegeben war. Und sie wollte nicht täuschen. Das sagte sie ihm: »Könntest du mir noch vertrauen, wenn ich mir untreu geworden bin? Müßtest du nicht befürchten, daß, wie ich mich verrate um deinetwillen, ich dich verrate um eines andern willen?« Bittend neigte sie sich zu ihm. Er wich zur Seite, blickte mit entsetzensweiten Augen in ihre unschuldsvollen Züge: trieb sie die Verstellung soweit, daß sie das Heiligste aufrief, ihn zu betrügen, ihn eine Schuldlosigkeit glauben zu machen, die ihr nicht anstand? Er erhob sich: mit der offenbaren Lüge durfte er keine Gemeinschaft halten. – Wortlos schritt er zur Tür, ging wortlos hinaus. Was war geschehen? Charlotte fragte es sich verzweifelt. Sie erhielt nie eine Antwort. Still trug sie ihr Geschick. Ihres und das des werdenden Lebens, das unter ihrem Herzen pulste. Sie war einsam, sehr einsam. Wie ein Fluch lag es auf ihr. Jedermann wich ihr aus. Die einen, weil ihr Gatte sie mied, die andern, weil der Zar ihr zürnte, daß sie es nicht verstanden hatte, seinen Absichten gemäß auf ihren Gatten einzuwirken. Die einzige, die sich weder an das Zürnen des einen, noch an die verächtliche Abwendung des andern kehrte, war Katharina. Auch in ihr reifte ein neues Dasein. Mütterlich neigte sich die Mutter der Mutter. Von ihrer aufrechten Art hätte sie so gern der Prinzessin eingeflößt: »Gib dich nicht der Schwäche hin,« bat sie, »dein Sohn muß starke Schultern haben.« Unmutig warf Charlotte, die in der letzten Zeit viel bettlägerig war, den Kopf zur Seite: »Ich werde keinen Sohn haben. Ich will keinen haben,« beharrte sie heftig, »er würde nur dem deinen den Platz rauben.« »Mein Sohn?« Um Katharinas Mund lief ein bitteres Zucken. »Mein Leib hat meinem Wunsche all die Zeit hindurch widerstritten. Mädchen, nur Mädchen hat er geboren. Warum sollte er jetzt erfüllen, was ich nicht mehr wünsche. – Nein, ich wünsche es nicht mehr,« sagte sie mit Ingrimm auf Charlottens erstaunten Blick. »Ich mag keinen siechen Sohn.« Ihre Rechte preßte sich zornig zur Faust. Zärtlich drückte Charlotte ihre Stirn gegen die geballte: »Ein blindwütender Zufall.« »Zufall, ja,« Katharina richtete sich auf über der Hingestreckten, »es fiel mir zu. Woher? Wenn ich es wüßte? Ich glaube nicht an ein blindes Wüten. Hätte es mich einmal getroffen. Aber so. Jahr um Jahr. Anuschka und Lisenka strotzten vor Gesundheit. Und plötzlich ...« Sie brach ab. »Es ist ein Verhängnis.« »Und doch hoffst du –?« Mit einem mächtigen Atemzuge befreite sich Katharina von den dunklen Besorgnissen. Ein schönes Lächeln hellte ihre Züge: »Eine Mutter hofft immer.« Und sich zu Charlotte neigend: »Ich hoffe für dich.« – – Ihre Hoffnung wurde belohnt. Charlotte genas eines Prinzen. Dr. Hofy, der Leibarzt Katharinas, leitete auf deren Anordnung die Entbindung. Er ließ seine Herrin sofort von dem erfreulichen Umstande benachrichtigen. Obwohl selbst in Erwartung ihrer Niederkunft, eilte Katharina, der Wöchnerin und dem Neugeborenen ihre Glückwünsche zu überbringen. Die Prinzessin bedurfte ihrer nicht. Sie war glücklich: sie hatte Rußland den Erben gegeben, den es von ihr erwartete. Der Zar würde zufrieden sein. Und unaufhörlich wiederholten die trockenen, rissigen Lippen der von heftigen Fieberschauern Geschüttelten: »Nun darf ich heim! Nun darf ich heim!« – Der Zar war zufrieden. Und seine Freude kannte keine Grenzen, als zwei Tage darauf seine Gattin ebenfalls einem Sohne das Leben gab. Zwar hatte er nicht so feste Glieder wie Charlottens, unansehnlich, die lasche, runzlige Haut von großen, dunklen Flecken bedeckt, lag er kläglich wimmernd in der Wiege. Doch Peter sah nur, daß es ein Knabe war. Er riß ihn auf, hob ihn hoch in die Höhe: »Mein Blut! Mein Fleisch und Blut!« Das Kind jammerte laut. Er schüttelte es ungeduldig: »Greine nicht, du bist eines Zaren Sohn.« Und als habe das Bündelchen Leben verstanden, schwieg es. Sorgsam bettete der Zar es in die Kissen. Von Wiege ging er zu Wiege. Er fühlte sich reich wie nie zuvor, fühlte den Beginn unendlicher Möglichkeiten in seiner Hand. Wahrlich, Unfähigkeit sollte ihnen den Weg nicht verbauen. Der Tüchtigkeit gehörte die Welt! Eine Woche danach wurde in allen Gemeinden Rußlands bekanntgegeben, daß es dem Zaren gefallen habe, das Recht der Erstgeburt aufzuheben, damit die Eltern jenes ihrer Kinder in ihren Besitz einzusetzen vermöchten, das nach seinen Fähigkeiten und Gaben am meisten geeignet sei, das Bestehende zu erhalten und zu mehren. * * * * * Der Zarewitsch erhielt die Kunde von diesem Ukas zugleich mit der Meldung vom Ableben seiner Gattin. Die eine wie die andere traf ihn kaum. Er war seit langem auf beides gefaßt gewesen. Er reichte das Manifest Euphrosyne: »Mein Sohn hat es eilig,« meinte er gleichgültig, »kaum geboren, tritt er schon mein Erbe an.« Die Finnin knirschte zornig mit den Zähnen: »Du solltest dir ein Beispiel daran nehmen.« »Ich?« Er starrte sie verständnislos an: »Ich? Gegen meinen Vater?« Sie packte ihn an den Schultern, rüttelte ihn rauh: »Begreifst du nicht? Er oder du! Er oder du!« Seine Augen weiteten sich in namenlosem Grauen, sein Mund öffnete sich wie zu einer Erwiderung, doch die Kinnlade sank nur schlaff herab. Mit einem ächzenden Gurgeln warf er die Arme um Euphrosynens Leib und barg den Kopf in ihrem Schoße. XIX. Die Heilquellen des waldeckischen Bades Pyrmont waren seit langem berühmt, aber noch nie hatten sie einen so gewaltigen Zustrom aus aller Herren Länder gesehen, wie im Sommer des Jahres 1717. Kein Zweifel: Europa sehnte sich nach Gesundung. Die noch immer nicht beendeten nordischen Wirren fraßen an seinem Leibe, saugten an seinen Kräften gleich einem bösen Geschwür, hatten bereits ein Volk nach dem andern in Mitleidenschaft gezogen und drohten, sich ständig weiter zu verbreiten, wenn dem Übel nicht Einhalt geboten wurde. Das spürten alle, sogar die Kabinette der mancherlei Regierungen. Und ihre Vertreter ergriff ein unbändiger Drang nach Genesung. Wie auf Verabredung fanden sich allerlei mehr oder minder offizielle Persönlichkeiten in dem kleinen deutschen Orte zur Kur ein. Sie kamen einzig ihrer Erholung, der Wiederherstellung ihrer angegriffenen Gesundheit halber, wie man sie stets aufs neue einander laut versichern hörte, wenn sie sich in den grasumwachsenen, baumumstandenen Wegen, die sich rings um die Badehäuser zogen, begegneten. Es war ein Winken und Grüßen hinüber und herüber, und selbst politische Gegner konnten nicht umhin, hier auf diesem neutralen Boden, wo jeder seine menschlichen Gebrechen spazieren führte oder doch behauptete, es zu tun, einige steife Höflichkeiten zu wechseln. Schon diese gaben geschäftigen Gemütern, die zufällig zum Augenzeugen geworden waren, jedesmal einen gern benutzten Anlaß, ihre Kombinationsgabe zu üben und sich in Prophezeiungen über die künftige Gestaltung der europäischen Lage zu ergehen. Was tat es, daß ihre Orakelsprüche vielleicht schon eine Stunde darauf von einem noch Phantasievolleren mit einer neuen packenderen Fassung übertrumpft wurden? Jedermann war sich darin einig, daß er sich noch nie so gut unterhalten habe wie in dieser Kurzeit. Sogar der harmloseste Beobachter konnte sich der allgemeinen Bewegung nicht entziehen, wenn während der morgendlichen oder mittäglichen Promenade ein Unterrichteter oder eine Wissende seinen einzig auf genaue Erledigung der Kurvorschriften gerichteten Schritt hemmte und ihm mit leise deutenden Augenwinken die Berühmtheiten wies, unter denen er bis dahin ahnungslos einhergepilgert war. Da erfuhr er, daß der kleine, gebückt einherschreitende Herr in dem unsauberen grünen Überrock, der im Gehen die langen Arme wie Windmühlenflügel schlenkerte und dessen einer Mundwinkel ständig zuckte, der russische Vizekanzler Schafirof sei, der dank seiner Sprachkenntnisse und seiner Anstelligkeit vom Markthelfer zu diesem Posten aufgestiegen war. Und der Hagere, Dürre, der neben ihm ging und den Schritt seiner langen Beine nur mühsam mit dem kurzen Trippeln des andern vereine, sei der Kanzleirat Ostermann, die rechte Hand des Zaren beim Abschlusse politischer Verträge. Und dort – der Wißbegierige mußte sein Gehör schärfen, denn die berichtende Stimme senkte sich zu Flüsterlauten herab, sprach sie doch von einem jener Zwischenträger der Politik, die ohne eigentlichen Auftrag oftmals mächtiger sind als die aller Welt bekannten Minister – dort stand neben der Gattin des russischen Gesandten im Haag, der Fürstin Kurakin, der holsteinische Graf Bassewitz. Schlank, jung und doch die Züge des schmalen feinen Gesichts bereits ein wenig müde, wie die eines Menschen, dem nichts fremd und der durch alle Schulen gegangen ist. Eben schritt an der Gruppe ein älterer, etwas fetter Herr vorüber. Die raschen, hastig hin- und herhuschenden Augen verschwanden fast hinter den dicken Wülsten des aufgedunsenen Gesichts. Die mächtige dunkelfarbige Allongeperücke, unter deren hitzender Last der Kurzatmige ächzte, hatte sich ein wenig verschoben und ließ brandrotes Borstenhaar sehen. Die Fürstin machte eine leise Bemerkung. Der Graf drehte nachlässig den Kopf. Doch kaum hatte er den langsam sich Weiterschiebenden erblickt, so fuhr die Rechte nach dem gestielten Einglas, das zwischen den Falten des Jabots im Ausschnitt der Weste steckte und hob es, wie um den gehabten Eindruck nachzuprüfen, an das Auge: »Er ist es.« Ein belustigtes Lächeln zuckte um den vollen Mund der Fürstin: »Wollen wir wetten, Graf, daß, sobald Sie außer Sicht sind, der fromme Herzog sich an mich heranpirscht, um mir den gleichen Wunsch vorzutragen, den Sie mir so dringend ans Herz legen?« Bassewitz krauste ärgerlich die Stirn: »Und werden Sie ihm erfüllen, was Sie mir abschlagen.« Die Hand der Fürstin schob sich leicht auf den Arm des Grafen: »Sie übertreiben, Bester. Ich habe Ihnen nichts abgeschlagen ...« »Aber Sie haben mir auch nichts zugesagt. –« Sie hob die Schultern: »Weil ich es nicht kann, Eigensinniger.« Er warf ihr einen schmachtenden Blick zu: »Meiner erlauchten Gönnerin ist bei dem Zaren nichts unmöglich.« »Unartiger,« sie stampfte mit dem Fuße, konnte sich jedoch nicht enthalten über die kindlich bittende Miene, die er aufgesetzt hatte, zu lächeln. Ihre gute Laune benützte er, sich über ihre Hand zu beugen und sie ehrfurchtsvoll und doch mit einem feinen bestimmten Druck seiner weichen Lippen zu küssen: »Haben Sie Dank, Freundin, daß Sie für mich sprechen werden.« Sie schauerte leicht unter der Berührung zusammen: »Was tut man nicht für seine Freunde.« »Und den Herzog von Ormond werden Sie hinhalten, bis ich Vortrag bei Sr. Majestät hatte?« Sie nickte: »Er ist es gewöhnt, überall zu spät zu kommen.« Der Graf empfahl sich. Gemächlich schlenderte er durch die Anlagen. Wo diese dichter wurden und in den Wald übergingen, saßen auf einer ziemlich im Gebüsch versteckten Bank zwei Herren im eifrigen Gespräch. Sowie sie des Grafen ansichtig wurden, erhoben sie sich und gingen ihm entgegen. Er begrüßte sie flüchtig: »Alles steht gut. Da der Fuchs nicht aus seinem Bau zu bringen ist, werde ich hineindringen.« Der ältere der Herren, mit dem strengen Beamtengesicht, hob erschreckt abwehrend die Hand: »Dieses Ungetüm ...« »Beruhigen Sie sich, Herr Geheimrat,« fiel Bassewitz dem Abgesandten des Landgrafen von Hessen-Kassel in die Rede: »Ich bin ein vorsichtiger Jäger.« Und sich an den andern, den schwedischen General Ranck, der jedoch seit einer Reihe von Jahren ebenfalls in hessischen Diensten stand, wendend, meinte er: »Aber zuweilen muß das Wild im Ansprung gestellt werden.« Der General neigte die breite Stirn zustimmend: »Um so mehr, wenn es gilt, des von allen Seiten Angegangenen zuerst habhaft zu werden.« »Bah, der Schleicher Ormond ist vorerst hors de concours gesetzt,« warf Bassewitz verächtlich hin. Ranck zog die Brauen hoch: »Sie vergessen, daß er in dem Leibarzt des Zaren einen stillen aber unablässig wirkenden Freund für sich hat.« »Der Dr. Areskin steht zurzeit bei der moskowitischen Majestät eben nicht in Gunst,« bemerkte Bassewitz gleichmütig. »Er hat den Ungeduldigen nicht im Handumdrehen von seinen Beschwerden befreien können, das wird er ihm lange nachtragen.« Doch Ranck blieb bedenklich: »Es ist nicht der Herzog allein. Gestern abend ist der Graf von Metsch von Wien her eingetroffen, und heute in aller Frühe sah ich die Kutsche des Grafen de la Marck vor dem ›Englischen Hof‹ halten.« »Verdammt! Dann ist es Zeit. Die Herren dürfen mir nicht den Weg ablaufen.« Er schwenkte den Dreispitz: »Auf Morgen! Ich hoffe, wir werden ein frisch-frohes Hallali blasen lassen können.« Wieder wehrte der Geheimrat ängstlich: »Jubeln wir nicht zu früh.« Der General klopfte dem Ängstlichen beruhigend auf die Schulter: »Seien Sie ohne Sorge,« und indem er dem federnden Ganges davon Schreitenden bewundernd nachsah: »Er ist einer der gewiegtesten Fallensteller Europas.« – So war es. Der Graf hatte das diplomatische Fallenstellen nicht umsonst bei seinem Herrn und Meister, dem Baron Görtz, der jetzt die rechte Hand Karls XII. und in diplomatischer Hinsicht der wahre Lenker der schwedischen Politik war, erlernt. Wie diesem, schwebte auch ihm ein gänzlich umgestaltetes Europa war. Für sich begehrte er dabei nicht viel, nur eben die Grafschaft Rantzau im Holsteinischen. Das heißt, das war so für den Anfang der Unterhandlungen gesagt, ohne damit späteren Möglichkeiten vorzugreifen. Er war nicht der Mann, sich die Grenzen seiner Zukunft zu enge zu stecken, wenn er die Macht hatte, seine Pläne ins Werk zu setzen. Nur bei einem, der ihm diese Macht geben konnte, durfte er auf Verständnis für seine weitschichtigen Entwürfe hoffen: bei dem Zaren. Ihn, der schon fast als Schiedsrichter Europas sich fühlte, den für sich zu gewinnen die Bevollmächtigten der Höfe und Kabinette wetteiferten, mußte es locken, durch ein paar geschickte Schachzüge sich zum Meister der Welt aufzuschwingen. – Des Grafen Schritt war schneller und schneller geworden, jetzt blieb er stehen. Ein unendlich selbstbewußtes hochmütiges Lächeln hob die weichen Lippen, während das leichte spanische Rohrstöckchen zwischen den spielenden Fingern seiner Rechten einen langsamen kreisenden Tanz ausführte. Zunächst freilich mußte Graf Bassewitz eine kleine Enttäuschung überwinden. Als er erfuhr, daß ihm die Fürsprache der Fürstin nicht sogleich den Weg zum Zaren, sondern zunächst nur den in den Salon Katharinas geöffnet hatte. Bei diesem Bescheide ließ er absichtlich mit einer schmollenden Drehung des Kopfes die Unterlippe hängen. Er wußte sehr genau, wie gut ihn diese Kleinjungensart kleidete und wie sehr sie der Fürstin schmeichelte, die sich ihren Günstlingen gegenüber in der Rolle der Herrin gefiel. Seine Berechnung erwies sich als richtig. Ein tändelnder Schlag gegen seine Wange machte den daraufliegenden Puder stäuben: »Undankbarer! Können Sie mehr verlangen, als zum Herzen des Zaren sprechen zu dürfen?« Er warf ihr einen feurigen Blick zu: »Ist der Zar ein Monstrum, daß er zwei Herzen besitzt?« »Er ist eines.« Die Fürstin seufzte unterdrückt: »Ach, Freund,« sie zog die schmalen Schultern des Grafen an sich und lehnte ihre Stirn an die seine: »Wir sind ihm Zeitvertreiber, sie ist ihm sein täglich Brot.« Bassewitz rümpfte die Nase: »Wie langweilig, alle Tage das gleiche zu essen.« – Dieses Vorurteil konnte keinen Bestand haben. Zwar noch auf der Schwelle des Empfangszimmers, bei der Meldung des Dieners, daß die gnädigste Frau zwar dem Unterrichte ihrer Töchter beiwohne, den Herrn Grafen aber gleichwohl zu empfangen wünsche, verzogen sich Bassewitz Mundwinkel spöttisch: welche Pose! dachte er und trat ein. Um einen großen runden Tisch saßen die Prinzessinnen Anna und Elisabeth mit ihrer Erzieherin, einer Revaler Bürgerstochter. Unweit davon, so daß sie die Gruppe im Auge hatte, in einem Erker vor ihrem Stickrahmen, Katharina. Die Nachmittagssonne, die hell vor den Fenstern spielte, warf ihren Schein auf die Arbeitende. Diese hatte den Kopf geneigt. Einer der bunten Seidenfäden hatte sich verfangen und es galt, ihn zu lösen, damit er nicht die glatte Zeichnung verwirrte. Über die gebeugte Stirn liefen die flirrenden Lichter und lockten das Gold ihres Haares zum Glühen. Es war, als brächen Flammen aus dem Haupte und schössen über ihm zu funkelnder Krone zusammen. Wie gebannt stand Bassewitz. Jeder Spott war aus seinen Zügen gewichen und hatte einem bei ihm seltenen Ausdruck der Befangenheit Platz gemacht. Katharina hatte sich erhoben und einige Schritte dem Gaste entgegengetan. In ruhigem, wägendem Prüfen umfaßte ihr Blick ihn. Den Grafen überkam die Empfindung, als tue sich ein kühler grüner See vor ihm auf. Und er versank in seiner Tiefe. Rettungslos. Verwirrung überkam ihn. Seine Verneigung fiel ehrerbietig aus, ehrerbietiger, als er sich der livländischen Bäuerin gegenüber vorgenommen hatte, und er stammelte verwirrt: »Majestät!« Mit einer leichten Gebärde wehrte Katharina der ihr nicht zustehenden Anrede: »Ich bin nur die Gattin eines einfachen Admirals.« Der Holsteiner riß sich zusammen: »Verzeihung, gnädigste Frau, ich kam aus dem Dunkel, da blendete mich die Sonne.« »Wagen Sie es getrost, hineinzuschauen,« Katharina wies auf einen Sessel sich gegenüber im Erker, »im hellsten Lichte sehen wir am klarsten.« Der sonst so Beredte fand keine Erwiderung. Nur seine Augen sprachen. Eine kleine Weile genoß Katharina diese unverhohlene Bewunderung mit Vergnügen. Doch da die Mädchen, besonders Elisabeth, anfingen, unaufmerksam zu werden, und die Frühreife der Mutter bezeichnende Blicke zuwarf, brach sie den Bann, in den der gewiegte Fallensteller geraten war, durch rasche Fragen nach den Reisen und Studien des Gastes. Noch völlig im Anschauen gefangen, dauerte es eine Weile, ehe Bassewitz, mühsam nach Antworten tastend, sich wieder zu sich zurechtgefunden hatte. Dann aber sprach er leicht, tändelnd und doch mit einer geschickten Betonung seiner Vortrefflichkeit. Er erzählte von dem jungen Herzog von Holstein, dem Neffen Karls von Schweden, dessen Erziehung er geleitet hatte. Angeregt hörte Katharina zu. Ihr Blick streifte die Prinzessin Anna: »Der Herzog soll sehr anschmiegsamen Wesens sein?« Diese Frage gab Bassewitz' Plänen eine neue Gestalt. Da war eine Lösung der nordischen Krise gegeben, an die bisher niemand gedacht hatte. Ah, der Geheimrat und der General würden staunen, wenn er ihnen diesen Prospekt vor Augen rückte. Und erst Görtz. Am Ende gelang es ihm sogar, diesen damit auszustechen. Schweden und Rußland vereint, konnten Europa Gesetze diktieren. – Er neigte die schmalen Schultern: »Gnädigste Frau belieben ein mildes Urteil. Der Herzog bedarf einer festen Hand.« Ein feines Wölben der Lippen dankte dem Grafen für sein Verständnis. Endlich hatte sie einen Bundesgenossen gefunden, der bereit war, ihr in ihrem Bemühen zu helfen, dem zerrissenen Europa den Frieden wiederzugeben. »Vereinigen ist besser als vernichten,« sagte sie bestimmt und begann, dem Grafen darzulegen, welche Schritte sie zunächst für erforderlich erachtete. XX. Durch Katharina war der Zar Unterhandlungen mit Schweden geneigt geworden. Der General Ranck war nach Holland zum Baron Görtz gereist, und Herr von Ketteler hatte dem Landgrafen von Hessen-Kassel die erfreuliche Nachricht überbracht. Von der Rolle, die dem jungen Herzoge von Holstein zugedacht war, hatte freilich weder der eine noch der andere Unterhändler eine Ahnung. Eine Überraschung Karls XII., die leicht in Widerspruch sich äußerte, mußte vermieden werden. Und der Landgraf durfte vollends über die geplante Verbindung vorzeitig nichts erfahren, da er in seinem Sohne, dem Gatten der Schwester Karls, den künftigen Träger der schwedischen Krone sah. Ja, nicht einmal Peter wußte von den Fühlern, die Katharina nach dem Holstein-Gottorpischen Hofe hatte ausstrecken lassen. Erst das Auftauchen des Herzogs in den Kurwegen Pyrmonts machte ihn stutzig. »Was will er hier?« Er fragte es barsch, als er Katharina von dem Eintreffen des Holsteiners berichtete: »Alle Welt drängt sich an mich. Kaum bin ich die Hessen mit ihren Anträgen los, setzt mir der dicke Ormond zu, daß ich seinem Stuart wieder auf den englischen Thron helfe. Herr von Metsch liegt mir in den Ohren, meine Truppen aus Mecklenburg zu ziehen, aber sein Kaiser läßt nicht versprechen, daß er, wie es seine Pflicht wäre, die rappelköpfischen Stände zum Gehorsam bringen wird; seinetwegen können sie Karl Leopold weiterhin auf dem Trocknen sitzen lassen. Der Graf de la Marck möchte ein Bündnis, von dem ich die Ehre und Frankreich allein den Nutzen hätte. Ich bin neugierig, wer mir den holsteinischen Gecken auf den Hals geschickt hat und mit welchem Anliegen er mich behelligen wird?« Peter war verbittert. An seinen Kräften zehrte das Übel, das ihm jener Nachtisch beim Feste in der Admiralität eingetragen hatte und das auch den Wassern von Pyrmont nicht weichen wollte. Und an seinem Herzen nagte verbissener Zorn. So oft er seines Sohnes gedachte, und Schafirof und Ostermann sorgten dafür, daß es recht häufig geschah, befiel ihn eine würgende Scham: wenn dieser einmal, nur einmal erwiesen hätte, daß er seines Blutes war. Hageldicht waren seit dem Erlaß, der das Recht der Erstgeburt aufhob, die Schläge auf den unfähigen Thronerben herabgesaust. Drohung war auf Drohung gefolgt. Vor jeder war Alexei zurückgewichen, hatte sich bereit erklärt, seinem Erbe zu entsagen, sich in ein Kloster zurückzuziehen. Beim Empfange dieser Nachricht hatte Peter mit den Fäusten auf den Tisch gehämmert: »Und das ist mein Sohn. Mein Sohn?« In dem glatten Gesicht Ostermanns verzog sich keine Miene: »Der Prinz unterwirft sich bedingungslos den Anordnungen Ew. Majestät.« Der Kopf des Zaren schlug auf die harte Eichenplatte. Wie betäubt lag er. Schweigend wartete der Kanzleirat. Er war zufrieden mit dem Erfolg seiner Meldung. Der Zarewitsch machte es seinen Gegnern leicht, ihn, von dessen Anhang sie für sich fürchten mußten, auszuschalten. Der Zar regte kein Glied. Röchelnd stieß sein Atem aus gepreßter Kehle. Ihm war, als halte eine übermächtige Hand seinen Hals umklammert und würge, würge. Und ein Gesicht war über ihm, grausam höhnend: das Schicksal! Fester und fester schloß sich der zwängende Griff. Ein schriller Schrei. Polternd flog der Stuhl zu Boden. Wild um sich schlagend, mit blutunterlaufenen Augen stand der Zar. Das Gespinst war zerrissen. Ostermann war einige Schritte zurückgewichen. Es war die einzige Bewegung, die seine innere Angst vor diesen Zufällen seines Herrn verriet. Die Lippe des Zaren zerrte sich auf, seine starken Zähne wurden frei: »Brauchst nicht davonzulaufen. Die Botschaft wird dir den Kopf nicht kosten. Ich sollte einen andern damit zahlen lassen. Er hätt's verdient. Kannst ihm das zu wissen tun. Und er soll mir das Kloster nennen, in das er sich begeben will.« Er lachte grell auf: »Ich werde es ihm einrichten lassen, daß seine Freunde, die ihn mir wider die Nase setzen möchten, sich ihre eigensinnigen Schädel daran blutig rennen, wenn sie versuchen sollten, ihn herauszuholen.« Ostermann hatte sich stumm verneigt. Und er und Schafirof hatten die Aufforderung derart abgefaßt, daß dem Zarewitsch klar werden mußte, es ginge um sein Leben. Hoffentlich trieben seine altrussischen Berater ihn zu offenem Widerstande. Dann bot sich endlich die ersehnte Gelegenheit, diese gefährlichen Fremdenfeinde gründlich unschädlich zu machen. Das war vor Wochen, bald vor Monaten gewesen. Der Zarewitsch hatte nicht geantwortet. Der Kanzleirat war beunruhigt: was ging in Rußland vor, während sein Herrscher am Pyrmonter Brunnen sich als Lenker der Geschicke Europas fühlte? Anfangs suchte er seine Besorgnis zu verhehlen. Bald aber erschien es ihm nützlicher, und der Kanzler teilte seine Meinung, sie dem Zaren nahezubringen. Scheit bei Scheit nährten sie dessen Erbitterung gegen den Sohn. Nie ließ Peter ein Wort fallen, aus dem sie sich etwas hätten deuten können, aber die brennende Röte, die die bloße Nennung des verhaßten Namens in sein Gesicht jagte und das jähe, tiefe Erblassen, das ihr folgte, sagten den eifrigen Schürern genug. Und keiner war um Peter, der sich bemüht hätte, die heimlich fressende Glut zu dämpfen. Allen in seiner Umgebung dünkte es vorteilhafter, den Zwiespalt zwischen ihm und seinem Sohn zu erweitern. Einzig Katharina wagte zuweilen eine Entschuldigung für den Unglücklichen. In der letzten Zeit freilich hatte auch sie sich zum Schweigen bestimmen müssen, wollte sie bei Peter nicht die dicht gesammelte Wut zu zerstörender Entladung bringen. Die Ankunft des Herzogs von Holstein kam ihr daher sehr gelegen. Das bedeutete Ablenkung. Doch galt es, den Zaren mit Behutsamkeit für ihr Vorhaben zu gewinnen. Sorgsam verfestigte sie den Faden, der gerade zu Ende war, an der Rückseite ihrer Stickerei, ehe sie ihm auf seine unmutige Frage antwortete: »Es muß nicht jeder, der an dich herantritt, geschickt sein. Und mancher, der wie ein Bittender kommt, könnte sich als ein Gebender erweisen.« »Der holsteinische Herzog!« Er zuckte abtuend die Schultern. »Der Erbe seines Oheims.« »Meinst du, daß er mir Schweden auf der flachen Hand entgegenträgt?« »Nun, dir gerade nicht,« gab sie langsam, jedes Wort wägend, zurück, »aber der Erwählten seines Herzens.« Er sprang auf, stellte sich breitbeinig vor sie hin: »Daß ihr Weiber das Kuppeln nicht lassen könnt.« Sie hob ruhig den Blick zu ihm auf: »Ihr Männer solltet uns dankbar dafür sein. Wenn wir's nicht täten, hätte eure zuschlagende Eigensucht die Erde bald in einen Trümmerhaufen verwandelt.« Ihre Mahnung hatte seine wunde Stelle getroffen. Seine folgende Erkundigung klang daher bissig: »Und wem hat deine mütterliche Weisheit ihm zur Erwählten erwählt?« »Anuschka!« »So, so. Hast du auch für Lisenka einen Freier in Bereitschaft?« Sein Spott brachte sie nicht auf. »Der Herzog von Chartres läßt in Polen für seine Kandidatur Stimmung machen. Ich würde ihn als Schwiegersohn willkommen heißen.« Sie durfte sich an seinem Erstaunen weiden. »Wahrhaftig,« sagte er, nachdem er die Überraschung verwunden hatte, in aufrichtiger Bewunderung, »du bist klüger als mein Kanzler.« Eine leichte Bewegung Katharinas wehrte dem Lobe: »Ich bin eine Mutter, die an ihre Kinder denkt.« Die feine, den Sinn vertiefende Betonung, die sie ihren Worten gab, entging Peter nicht. Er nickte: »Allmütterchen!« Scherzend neigte er sich zu ihr, da gewahrte er, wie sie erblaßte, ihre Züge sich spannten, er fuhr herum und sah eben noch die kleine zierliche Gestalt der Fürstin Galizin in der Tür, die sich unhörbar hinter ihm geöffnet hatte, verschwinden. Sofort war seine Eifersucht rege: »Was hat sie?« forschte er heftig. Katharina hatte sich erhoben, ihre Brauen waren ärgerlich zusammengezogen: »Sie ist eine ungeschickte Närrin!« Hastig wollte sie an ihm vorüber. Er hielt sie auf, legte seinen Arm auf den ihren: »Ich begleite dich.« Ein Zittern rann über sie hin. Sie mühte sich einen heiteren Ton ab: »Frauenangelegenheiten, die dich nur langweilen.« Sie suchte an ihm vorbei zur Türe zu kommen. Ehe es ihr gelang, ging diese auf und der Kanzler trat über die Schwelle. Katharina stockte der Fuß, sie wurde bleich bis in die Lippen: es gab nichts mehr zu verheimlichen. Das Unheil, das sie ihrem Gatten hatte verbergen wollen, war ruchbar geworden. Die unverhohlene Schadenfreude in dem verknitterten Gesicht Schafirofs sagte es ihr deutlich. Und schon keifte die hämische Stimme: »Der Zarewitsch ist ins Ausland geflohen.« Peter brüllte auf. »Der Hund!« Wütend kehrte er sich gegen Katharina. »Und du? Du hast darum gewußt?« Ein gräßliches Zucken zog seine Züge zusammen. Wie gefällt stürzte er zu Boden. Während Katharina sich um ihn bemühte, näherte sich Schafirof ihrem Ohre: »Ich hoffe mir den Dank der gnädigsten Frau verdient zu haben?« Er erhielt keine Antwort. Nur Katharinas Hand hob sich zu einer verächtlich scheuchenden Bewegung, als wehrte sie ein lästiges Insekt ab. Eine Weile noch verharrte der Kanzler lauernd, dann duckte er den kleinen schiefen Kopf zwischen die hohen Schultern und schob schlurfend hinaus. XXI. »Der Prinz hat nichts mehr eingestanden.« Die schlaffen Hängebacken des Generalleutnants Jaguschinski zitterten. Ein Fluch zerknirschte zwischen den Zähnen des Zaren. Vom Schreibtisch, vor dem er über dem Entwurf der Gründung der Akademie gesessen hatte, fuhr er herum, faßte den Meldenden scharf ins Auge. »Hast du ihn gründlich befragt?« Ein böses Glimmen war in seinem Blick. Der Pole nickte. Ihm war bänglich zumute. »Sieh mich an, Pan Pawel. Ich traue dir nicht.« Wie Eisenklammern hielten die Hände des Zaren seine Schultern. Die Kinnlade des Generalleutnants klappte haltlos herab: »Der Prinz,« er bebte an allen Gliedern, »verging uns vor Schwäche. Ich fürchtete ...« Ein Faustschlag traf ihn mitten ins Gesicht: »Memme! – Ich hab' mir's gedacht. Milde. Güte. Nachsicht. Wenn du nur keinen Schrei hörst! Was kümmert's dich, ob ich die Wahrheit erfahre. Die Wahrheit!« Bohrend preßte Peter die geballten Fäuste gegen die Schläfen. »Der Prinz beschwört, alles bekannt zu haben,« murmelte Jaguschinski und tupfte das rinnende Blut mit seinem Handschuh von der Stirn. »Er lügt,« Peter stieß ihn beiseite, »ich werde ihn selbst befragen.« Damit stürzte er hinaus. Mit schlotternden Knien hockte der Generalleutnant auf einem Sessel und rang fassungslos die weichlichen fetten Finger ineinander: »Er mordet ihn, er mordet den eignen Sohn.« Und den Kopf in die Hände bergend, stöhnte er jammernd: »Er wird uns alle umbringen. Alle.« Diese Befürchtung teilte der einstige Liebling des Zaren mit vielen. Seit Monaten lebte jedermann in Petersburg und Moskau in ständiger Todesangst. Mit Knute und Schwert wütete Peter gegen das, was er die Verschwörung des Zarewitsch nannte. Wie gelähmt ließen die Altrussen das grausige Strafgericht über sich ergehen. Keiner wagte zu fliehen. Und Peter griff wahllos in ihre Reihen. Glücklich der, der mit ein Dutzend Knutenhieben und Verbannung davon kam. Die unglückliche Eudoxia wurde öffentlich ausgepeitscht, der Major Glebof hingerichtet, ihr Bruder Abraham Lapuchin zum Tode verurteilt, Alexander Kikin wurde gerädert, die Fürstin Galizin entging der Knute nur durch die Fürbitte Katharinas. An diese selber wagte sich Peter nicht. Aber in seinem Innern wütete die Eifersucht. Er mißtraute ihr, er glaubte an ihr Mitleid für den Ärmsten nicht, er witterte Tieferes hinter ihrer Teilnahme, und jedes Mittel war ihm recht, seinem eigensinnigen Wahne Nahrung zu erspüren. Er wohnte den Verhören der der Verschwörung Angeschuldigten nur bei, um etwas in Erfahrung zu bringen, das sie belastete. Doch das Ergebnis war nichts. Nichts. Und dennoch fand er keine Ruhe. War sie nicht schlauer als die Schlausten, klüger als die Klügsten? Er biß sich die Lippen blutig, um nicht aufschreien zu müssen in Qual: wenn sie ihn dennoch betrogen hätte? Er mied sie, wich ihr aus, hielt sich sogar von seinen Töchtern und dem kleinen Peter Petrowitsch, der ständig kränkelte, fern. Dieses elende Häufchen Leben, das kaum stehen und jetzt im vierten Jahr nur mühselig lallen konnte, war ihm ein Vorwurf. Aber er kehrte ihn gegen Katharina. Er sog aus ihm Bestärkung seiner Zweifel an ihrer Treue. Und nun die Aussage der Finnin Euphrosyne: der Zarewitsch habe seine ganze Hoffnung auf die gnädigste Frau gesetzt gehabt! – Hieß das nicht Verrat? Zwar die Briefe, in der sein Sohn Katharina anflehte, bei dem Vater für ihn zu bitten, hatte er gelesen. Doch konnte es nicht nur Vorspiegelung gewesen sein, bestimmt, seinen Verdacht abzulenken, seine Wachsamkeit einzuschläfern? War nicht am Ende Ärgeres geplant? Es quoll ihm bitter zum Munde: hatten sie nicht seinen Koch zu bestechen versucht, daß er ihm Gift in die Speisen tue. Sie. Wer war das? Der alte Velten behauptete, die Bojaren. Log er nicht, so konnte er belogen worden sein. Wohin Peter blickte, sah er Trug und Täuschung. Er raste. Es genügte ihm nicht, daß der Zarewitsch allen seinen Rechten feierlich entsagt hatte. Schuld über Schuld häufte er auf ihn, belud das zaghafte Herz mit Verbrechen, die es in seinen zornigsten Träumen sich nicht erdichtet hatte, lastete seiner Ohnmacht die hochverräterischen Absichten seiner altrussischen Freunde auf, zerrte den Schwachen vor bestellte Richter und ließ seinen Mängeln das Urteil sprechen, als ob es Taten wären. Tod! Doch die Toten sind stumm und der erkaltete Mund kann nicht mehr Rechenschaft geben. Und Peter verschmachtet nach Gewißheit. Er mußte sie haben, und wenn er sie erpressen sollte. Was Jaguschinski und der Folter nicht gelungen war, würde er mit der Knute erzwingen. Unter dem Schlage, den sein Arm mit der neunschwänzigen Katze führte, waren die starrköpfigsten Verbrecher geständig geworden. Während er auf die Pferde einhieb, daß sie stiegen und den leichten zweirädrigen Wagen auf dem holprigen Wege von Petersburg nach Schlüsselburg zum Springen brachten, zerrten sich seine Lippen zu einem verächtlichen ingrimmigen Lächeln auseinander. – – In einer der Kasematten der Festung lag der Zarewitsch. Auf einer schmutzigen Matratze. Die von der Folterung überdehnten und verrenkten Glieder hingen kraftlos herab, als gehörten sie nicht zu dem hageren verzehrten Leibe, in dem das Herz nur noch mühsam und in heftigen Stößen zum Leben aufpochte. Der Kopf war zur Seite gedreht, über den eingefallenen Schläfen lagen die gekrümmten Adern gleich erwürgten Schlangen, und die tief in die Höhlen gesunkenen Augen starrten glasig ins Leere. »Ist er nicht mehr zu retten?« Die Frau des holländischen Tischlers der Festung, die die Mahlzeiten für den Eingekerkerten zu bereiten und die sich des Gequälten angenommen hatte, mühte sich, ihn weicher zu betten. Dr. Hofy, den Katharina sogleich geschickt hatte, nachdem sie von der Gattin des holländischen Gesandten, an die sich die Tischlersfrau gewendet, von dem Zustande des Zarewitsch erfahren hatte, verneinte kopfschüttelnd: »Es geht zu Ende. Gott sei Dank!« setzte er hinzu. Mit diesen Worten trat er auch dem Zaren entgegen. Peter hörte nicht auf ihn, und als der Arzt ihm den Weg vertreten wollte, nahm er ihn, hob ihn wie einen Federball auf und trug ihn hinaus. Die Tischlersfrau schlich schluchzend hinterdrein. Der Zar war allein mit dem Sterbenden. Lange stand er schweigend. Nicht ein Funken Mitleid regte sich in ihm. Rauh packte er den Haltlosen an. Ein wimmerndes Stöhnen entrang sich dem Gepeinigten. Dieses Jammern empörte den Zaren nur noch mehr. Unbekümmert um das Ächzen zerrte er ihn hoch: »Ich will wissen ...« Der müde Körper schwankte hin und her und drohte in sich zusammenzuknicken. Röchelnd hastete der Atem aus der zerquetschten Brust. Peter beugte sich dicht über den jäh Verfallenden, seine Augen bohrten sich in die fast erloschenen des Hinscheidenden: »Hast du Katharina Alexejewna geliebt?« Der herrische Ton riß den sinkenden Vorhang der Zeitlichkeit noch einmal zurück. Ein Rütteln sammelte die verworfenen Glieder, ruckend rafften sich die schlaffen, reckte sich der geschlagene Leib. In dem halb erloschenen Blick entzündete sich blitzend Erkennen. Und Haß sprang hervor. Weit öffnete sich der blutleere Mund. Wie zu einem langen gräßlichen Schrei: »Ich habe ...« Die Zähne schlossen sich über der Zunge, die im Augenblick des Todes ein vernichtetes Dasein mit einer Lüge hatte rächen wollen. Fest bissen sie sich ein. Mit einer letzten Anstrengung. Nickend sank der Kopf vornüber. Peter sprang auf. »Wirst du sprechen? Kanaille, wirst du sprechen!« Er packte die Knute, die ihm am Gürtel hing und hieb blindlings darauf zu: »Reden sollst du, reden!« Klatschend fielen die Hiebe. Die Bleikugeln der Stränge zogen breite Striemen über Stirn und Wangen. Eine Weile standen diese blutig in dem bläulichen Weiß der Haut. Dann verging das schrille Rot in ein fahles Grau. Alexei hatte ausgelitten. »Aas!« Brüllend fuhr der Schrei wider die Mauern. Äffend hallte er zurück. * * * * * Katharina hielt mit ihren Töchtern Tanzunterricht. Den kleinen Peter Petrowitsch zur Seite, der den ausschlagbesäten schmerzenden Kopf in der kühlen Seide ihrer weiten bauschenden Ärmel barg, sah sie den abgemessenen Schritten, dem Drehen und Neigen zu, in dem sich Anna und Elisabeth übten. Die zierliche Gestalt des französischen Tanzmeisters wippte vor den Prinzessinnen auf und nieder, während der Bogen behende über die Geige strich und leise zirpend die zärtliche Melodie eines Menuetts herauslockte. »Weicher, Hoheit, weicher die Bewegungen,« wurde die Prinzessin Anna ermahnt, Elisabeths kecke gelenke Art erhielt dagegen ein Bravo, Bravissimo nach dem andern. Von Katharina kam ermunterndes Lob. Sie hatte ihre Freude an den Fortschritten der Mädchen. Zumal Elisabeth machte sich. Die lässigere Anna bedurfte einiger Anweisung. Sie erhob sich, der Bequemen die Takte vorzutanzen. Ein heller Geigenton sang durch den Raum, heiter rannen die Takte. Katharina glitt, schwebte, bog und neigte sich. Jubelnd klatschte Elisabeth in die Hände: »Fein. – Still,« sie winkte dem fiedelnden Tanzmeister ab. Von den Vorzimmern her war ein unruhiges Laufen und Huschen an ihr Ohr gedrungen. Und schon stürzte die Fürstin Galizin tränenüberströmt ins Zimmer: »Gnädigste Frau! Der Zar ... der Zarewitsch. Er ist tot.« »Ermordet? Barmherziger Gott!« Die Prinzessin Anna hatte den unvorsichtigen Ausruf getan. Die Fürstin verschloß ihr den Mund: »Wollen Hoheit sich und uns alle verderben?« Sie zog die Mädchen und den Prinzen mit sich fort. Auch der Tanzmeister verschwand durch eine Seitentür. Es war nicht rätlich, dem Zorn des Zaren sich als Zielscheibe zu bieten. Katharina blieb allein. Durch die Gänge tönten die harten Tritte des Heimkehrenden. Fest legte Katharina ihre Hand auf das Herz, das unruhig aufklopfen wollte. Es mußte still, ganz still seinen Gang gehen. Gelassen langte sie nach ihrer Stickerei. Ungestüm dröhnte Peter herein. Sein Atem keuchte. Die Augen waren blutunterlaufen. In den Mundwinkeln hing flockiger Schaum. Hart blieb er vor Katharina stehen. Seine Zähne krachten unter dem wilden Biß, mit dem er sie zusammenpreßte. »Weib!« Er schwang die Faust über sie. Sie rührte sich nicht. Gleichmütig zog sie den Faden durch die Seide. Diese sichere Ruhe schlug ihn. Ein Bäumen war in ihm. Es mußte sich lösen. Schmetternd prallten seine eisernen Knöchel in den großen venezianischen Spiegel hinter ihr. Klirrend barst er in tausend Splitter. »Ist dein Haus dadurch schöner geworden, daß du eine seiner Kostbarkeiten zerstört hast?« Diese anklagende Frage zerriß den Schleier der Wut. Unerbittlich deutlich zeigte sie ihm seine Schuld. Ein Schauder schüttelte ihn. Vor dem klaren durchschauenden Blick Katharinas senkte er langsam die Lider. XXII. Karls XII. Ende in den Schanzen vor Frederikshall hatte die in Pyrmont angebahnten und in Lofö auf den Alandsinseln fortgeführten Friedensverhandlungen mit Schweden unterbrochen. Zum Vorteil Rußlands, das zwei Jahre später seine sämtlichen Forderungen bewilligt erhielt. Was es erobert hatte, blieb in seinem Besitz. Die Großmachtstellung Schwedens in der Ostsee war gebrochen. Das aufstrebende slawische Reich hatte die Erbschaft angetreten. Nach allen Seiten schwoll es über die Grenzen, drückte kraftvoll auf Polen, stand gegen die Türkei auf der Wacht, mühsam zurückgehalten von den am Pruth geschlossenen Verträgen. Was ihm von den Osmanen einstweilen zu nehmen verwehrt war, holte es sich von den Persern. Der Feldzug von 1722 kostete dem Schah zwei seiner reichsten westlichen Bezirke. Das Reich wuchs und wuchs. Doch noch immer war ihm kein Erbe bestimmt. Ein Jahr nach dem elenden Hingange des ehemaligen Zarewitsch war der kleine Peter Petrowitsch verschieden. Der Zar hatte sich wie ein Verzweifelter gebärdet. Die letzten Tage war er nicht vom Krankenlager gewichen, obwohl jeder Augenblick ihm mit Bitterkeit getränkt war. Nagend krallte ihm der Gedanke im Hirn, daß dieser hohnvolle Streich des Schicksals die Strafe sei für seine Vergehen an seinem ersten Sohne. Gleich einer Sühne unterzog er sich den peinlichsten Verrichtungen an dem winzigen Krankenbette. Nichts ersparte er sich. Keiner durfte dem wimmernden Kinde die geringste Handreichung tun. Er bettete es, er kühlte den fiebernden Kopf, er reinigte die offenen eiternden Stellen des vom Fieber verzehrten abgemagerten Körpers, er säuberte die verschmutzten Kissen und Decken. Alles, alles in der heimlich genährten Hoffnung, mit solcher Aufopferung das klägliche Verflackern des kargen Lebenslichtes verhindern zu können. Vergebene Mühe. Am 6. Mai 1719 erlosch die zitternde Flamme dieses Daseins, die nie hell gebrannt hatte. Wortlos, versteinert saß Peter neben dem Lager, die verkrümmten erkaltenden Finger des Kindes in seiner einen Hand bergend. »Er darf nicht sterben, Doktor, er darf nicht!« Dr. Hofy neigte schwer den Kopf: »Es ist zu Ende, Majestät.« Und er setzte die nämlichen Worte hinzu, die er einst am Sterbelager Alexeis gesprochen hatte: »Gott sei Dank!« Mit einer wilden Bewegung wollte der Zar auffahren. Der Arzt drückte ihn in den Sessel nieder. »Es war ein im Mutterleibe vergiftetes Leben.« »Von seiner Mutter?!« Das alte Mißtrauen sprang in Peter auf. »Durch die Schuld des Vaters!« sagte Dr. Hofy ernst. Stöhnend barg Peter das Gesicht in den Händen. Er rührte sich nicht, als die Leichenwäscher kamen, rührte sich nicht, als die Träger den Sarg holten, ihn in der Peter-Pauls-Kathedrale aufzubahren. Stumpf, leer saß er neben dem leeren Lager. Ostermann erschien mit Berichten. Aus London, aus Paris, aus dem Haag. Er bat, seinen Vortrag halten zu dürfen. Kein Wink, keine Bewegung verriet, daß Peter seine Anwesenheit überhaupt wahrgenommen hatte. Nach ihm wollte es Jaguschinski versuchen, den Zaren aus seiner Erstarrung zu reißen. Und danach Schafirof. Sie gelangten nicht mehr zu ihm. Peter hatte sich eingeschlossen. Über das Bett geworfen, den Kopf in die Kissen vergraben, lag er in dumpfem, lastendem Schmerz. Der Tag verging und noch einer und noch einer. Von allen Türmen der Stadt läuten die Glocken. Unabsehbar der Zug, der dem kleinen Peter Petrowitsch das letzte Geleit gab. Nur einer fehlte: der Zar. Und noch ein Tag verstrich. In den Vorzimmern harrten die Gesandten, in den Kanzleien häuften sich die Aktenstücke unerledigt. Niemand wagte eine Entscheidung ohne den alleinherrschenden Willen zu treffen, alle Staatsgeschäfte stockten. In der Stadt begann das Gerücht umzulaufen, der Zar habe in seiner Verzweiflung Hand an sich gelegt. Unruhe und Unsicherheit verbreitete sich in allen Kreisen. Die Lage war gefährlich. Kurz entschlossen berief Katharina den Senat. Dann drang sie mit Gewalt in das abgesperrte Gemach. Durch erbrochene Türen. Der gelle Ton des splitternden Holzes hatte Peter aufgeschreckt. Wie ein Gespenst schwankte er empor. Wirr umstarrte das kurze Haar das bleiche veränderte Gesicht. Ausdruckslos stierten die Augen auf die Eintretende. Katharinas Herz krampfte sich vor Weh zusammen. Aber sie unterdrückte ihren Schmerz: hier half nicht Mitleid, hier tat Stärke not. Sie ließ den Blick nicht von ihm: »Ich bin gekommen, dich an deine Pflicht zu erinnern.« Er antwortete ihr nicht. Mit einer trostlosen Gebärde wies er auf das verwaiste Bett. Sie trat an seine Seite, schlang den Arm um seine Schultern: »Über den einen Sohn darfst du der vielen nicht vergessen, die deiner Sorge bedürfen. Das Reich wartet auf dich.« Sanft suchte sie ihn mit sich zu ziehen. Er entwand sich ihr müde. Sie machte keinen Versuch, ihn zu halten: »Wenn dich in deinem Innern nichts zu deiner Aufgabe zwingt, ich vermag es nicht,« sagte sie scharf. »Aber notleiden soll sie nicht unter deiner eigensüchtigen Abkehr. Der Senat ist versammelt. Auf meinen Befehl.« Ihre Stimme wurde hallend: »Und er wird noch in dieser Stunde deinem Nachfolger den Treueid leisten.« Ein Zucken lief durch die grauen verstumpften Züge Peters. Wie erwachend fragte er: »Wem?« Und in schmerzlicher Klage: »Soll ein Kind mein Werk vertun?« Katharina richtete sich hoch auf vor ihm: »Ich stehe für dieses Kind.« Er sah sie an, fragend, forschend. Und hatte sich wieder gefunden: »Wahrlich, du sollst es, und niemand soll dir dieses Recht bestreiten dürfen.« – – Vier Jahre waren seitdem vergangen. Zu dem Titel eines moskowitischen Zaren hatte Peter den eines Kaisers von Rußland gefügt. Und nun sollte die, die solange nur sein Leben geteilt hatte, auch seine Würde mit ihm teilen. Bereits vor Wochen war der Hof von Petersburg nach Moskau übergesiedelt und hatte im Kreml Wohnung genommen. In den stickigen Dunst, der die langverschlossenen engen Gemächer, die düsteren Säle füllte, drang endlich einmal ein frischer Luftzug. Die schweren schwülen Schwaden, die gleich giftigem Brodem in den Räumen gehangen hatten, wurden hinausgeweht. Eine neue Welt begann sich zu entfalten. Schimmernde Seiden, prunkende Brokate spannten sich über die Wände. Alle Winkel erhellten sich, jede Düsternis schwand. Und durch die weit gewordenen Gänge raschelten die Schleppen und girrte verliebtes Lachen. Und in der Krönungskathedrale ein Rausch von Gold und Rot. Rot rann es von den Wänden. Rot brannte die Bekleidung der Estraden des Adels und der Gesandten der fremden Mächte. Rot glühte der Teppich zwischen dem Gestühl des Zaren und seiner Gattin und der Türe zum Allerheiligsten. Und über dem Rot ein Funkeln und Flirren von Gold. Ein Strom von Gold. Sturzbäche von Gold. Goldene Baldachine an goldenen Schnüren, goldene Ampeln schwingend an goldenen Ketten, und die goldenen Pfeiler strahlend im goldenen Lichte der golden leuchtenden Kuppel. Es war am Vorabend der Feier. Fernab von dem fieberhaften Hasten zur letzten Vollendung des Schmuckes, in den Gemächern Katharinas. Sie hatte die Ehrendamen frühzeitig entlassen. Sie wollte allein sein. Sie war allein. In dem Ankleidezimmer, geradeüber von dem in einer Nische angebrachten mächtigen dreiteiligen Spiegel, der aus vielen kleinen Stücken künstlich zusammengefügt war, war das Prachtkleid des kommenden Tages aufgestellt. Und daneben auf rotsamtnem Kissen, wie sie es befohlen hatte, lag die edelsteinübersäte Krone. Wie ein eigenes fremdes Wesen stand das Staatsgewand da. Die goldenen Flitter, mit denen es dicht an dicht besetzt war, ließen in den dunklen Spiegelwänden kurze Blitze aufzucken. Ein hartes Leuchten kam und ging, der Schein einer fernen, kühlen, selbstisch gepanzerten Hoheit. Ein Licht brach in das Dunkel. Die Tür hatte sich geöffnet. Den Armleuchter in der erhobenen Rechten, trat Katharina näher. Sie hatte keinen Schlaf finden können. Mit ihren weichen geschmeidigen Bewegungen glitt sie von Wand zu Wand, entzündete die Kerzen. Helle durchströmte den Raum. Stärker sprühte der prunkende Flimmer über der weißen Seide. Aber sein Schimmern war nicht mehr eng und abgezirkt, es verfloß mit dem weichen alles erfüllenden Glanze und sammelte sich wieder aus ihm zu reicherer erhöhter Schönheit. Katharinas Busen bebte unter dem feinen Batist ihres Hemdes. Ihre Nasenflügel zitterten erregt. Sie neigte sich über das bauschende Gebilde, hockte neben ihm nieder und lehnte den Kopf in seine weiten Falten. Gold floß zu Gold. In warmem Rieseln. Und löste die Starrheit des festgebannten, durchglühte, durchflutete es mit seinem Leben. Knisternd schmiegte sich der steife Prunk an den üppigen, atmenden Leib. Eine jauchzende Trunkenheit ergriff sie, eine überquellende zärtliche Trunkenheit. Sie tastete mit leisem Lachen in das Gefunkel, zog es um sich her, warf sich hinein wie in eine rasche rauschende Flut. Die goldenen Sterne sprangen, schwangen leichte Bogen und senkten sich kreiselnd. Goldener Staub rührte ihren Nacken, spielte um die weißen vollen Glieder, küßte ihr Arme, Hand und Fuß im Tanz. Wirbelnd fiel er zu Boden, lag, verwirrt, verirrt, nutzloser Tand. Ihre kindhafte Heiterkeit wandelte sich in Ernst. Was da verloren im Unrat verkam, war die Löhnung dreier Grenadiere! Sie schnellte auf ihre Füße. Stand schweigend: Wirken und schaffen! Sie schüttelte die Haare, wand sie auf über den geschwinden Fingern, türmte sie hoch. Bog sich in die wogende Pracht, zog sie um sich zusammen, trug sie mit ihren breiten, geschwungenen Hüften, ihren festen Schultern. Trug sie. Stark und stolz. Und langte nach der Krone. Langsam, bedacht, ohne Eile. Nahm sie an sich und hob sie über sich auf. Hoch über sich hinauf. Schwebend war sie über ihr. Hing über ihr. Ein Traum. Und senkte sich. Zögernd. Wie Träume Wirklichkeit werden. Und schwebte und hing. Stirn und Augen hingewendet, dem Unwirklichen zu, beschworen ihre Blicke es dem Willen. Er erfaßte, er hielt es, es hatte Gestalt. Die Krone ruhte auf ihrem Haupte. Als sei sie ihr von Ewigkeiten her bestimmt gewesen. Sie kehrte sich ihrem Spiegelbilde zu. Und sah. Da war ein Mensch. Reif. In der Fülle der Jahre. Ein Mensch, emporgestiegen aus Enge, Armut und Niedrigkeit und nun gekleidet in den Prunk der Macht und gekrönt mit dem Glanze der Herrschaft. Sie breitete die Arme weit und schloß sie. Über ihrem Herzen. Fest, ganz fest. XXIII. Peter starb. Es war ein schweres Sterben. Ein Sterben im Stehen. Er lag nicht. Zu viel Kraft war noch in ihm. Sie wollte sich nicht legen. Wütend griff sie um sich, zerbrach den jungen Kammerherrn Moens de la Croix, weil Katharina seiner frühlingshaften Schwärmerei die Sonne ihres Lächelns gegönnt hatte, und hetzte sich in mißtrauischer Eile von einer Grenze des weitgewordenen Reiches zur andern. Von Petersburg nach Astrachan, von Asow nach Moskau, von Riga und Reval nach den Bädern von Olonetz. Und vom Morgen bis zum Abend und manche Nacht hindurch zwang sie den versagenden Körper, geschäftig zu sein. Botschaften, Empfänge, Besichtigungen. Der Ausbau Kronstadts, die Arbeiten am Ladogakanal, die Verlobung der Prinzessin Anna mit dem Herzog von Holstein, die Förderung der geplanten Verbindung Elisabeths mit dem Herzoge von Chartres und das ständige diplomatische Ränkespiel mit den europäischen Mächten hielten Peter in Atem. Nur auf kurze Stunden warfen ihn die bohrenden Schmerzen in seinem Innern nieder. Noch fiebernd, fuhr er empor, und das Hetzen und Jagen begann aufs neue. Vor Lachta war ein Schiff gestrandet. Die Mannschaft bekam es nicht flott. Er gewahrte es. Sofort mußte seine Fregatte, in der er von Reval gekommen war, beidrehen. Er sandte Hilfe, half schließlich selber. Sechs Stunden lang stand er im eisigen Wasser. Das Schiff wurde frei. Er mußte an Bord getragen werden. Ohne Besinnung, geschüttelt von Frost- und Hitzeschauern, kam er in Petersburg an. Noch einmal erhob er sich, wankte in sein Arbeitszimmer, den Weltreisenden Bering zu empfangen. Gier, die nicht genug an Ländern und Völkern einschlingen konnte, stürzte sich über die Karten, auf denen der Schwede ihm die Richtung seiner geplanten Fahrt ins Eismeer wies. Jede Unterstützung sagte er ihm zu. Jede. Die knochendürren fiebrigen Finger bogen sich über den leeren weißen Flecken, die auf den Plänen die unbekannten Gebiete anzeigten: das alles würde ihm gehören. Ihm, mit allen Schätzen! – Nimmersatt brannte der Wille aus dem verzehrten Gesicht. Es war sein letztes Flammenzeichen. Jäh sank die Glut zur Asche. Furcht und Bangnis deckten sie zu. Beten mußte um ihn sein und Fürbitte. Priester kamen und gingen. Einmal ums andere nahm er das heilige Mahl, küßte die heiligen Bilder, empfing die Ölung und den Segen. Angstvoll irrten seine Gedanken durch sein Dasein. Suchten den Wert, der es wog, und fanden ihn nicht. Weit, so weit sein Reich, groß, so groß seine Macht, und nichts, das ihn aus der Verzweiflung rettete, das ihm das Grauen vom Herzen wälzte. Seine Blicke taumelten über die Menschen, die sein Lager umstanden. In jeder Miene las er die Abwendung, jeder Fuß schien schon gehoben, um fortzueilen: was kümmerte er sie noch? Lauernd spähten sie nach dem neuen Herrn aus. Er stöhnte laut. Ärzte neigten sich über ihn, eiliger murmelten die Lippen der Popen. Von niemandem kam Trost. Nur Worte. Worte. Er biß die Zähne zusammen. Die Wasser der Verschuldung stiegen. Ein fader süßlicher Geschmack war auf seiner Zunge. Ekel, widrig, faul. Blut. Alles Blut, das er vergossen hatte, in seinem Munde. Er würgte. Erstickung befiel ihn. Schreiend schlug er um sich. Der Gesang der Priester verwirrte sich, überrascht zögerten die Ärzte, zuzugreifen. Da kam eine Hand. Eine ruhige, sichere Hand. Katharina barg seinen Kopf an ihrer Brust, zog den ungebärdig zuckenden Leib in ihre Arme. Er wurde still. Wie ein Kind lag der Mächtige in der Umhegung der Liebe. »Ich glaube – ich hoffe –« Lallend zerbrachen die Laute. Es war vorbei. * * * * * »Er ist tot!« Halb ohnmächtig sank Schafirof im Arbeitszimmer des Kanzleirats Ostermann, zu dem er in voller Bestürzung geeilt war, auf einen Stuhl. Die Knie schlotterten ihm und die Kiefer schlugen ihm klappend gegeneinander. Von seiner hageren Höhe herab maß Ostermann den Kleinen spöttisch: »Hatten Ew. Exzellenz erwartet, das Schicksal werde uns zu Gefallen den Kaiser ewig am Leben lassen?« »Nein, ach nein,« der Kanzler weinte fast, »aber warum mußte er jetzt sterben? Gerade jetzt? Zu so ungelegener Zeit?« »Dem, der sich überflüssig fühlt,« erwiderte der Westfale höhnend, »und der sich nicht zu helfen weiß, ist jede Zeit ungelegen.« Schafirof entging die Bosheit, so sehr bedrückte ihn die Angst: »Sie wird mich nach Sibirien schicken,« jammerte er, »sie haßt mich. Lieber Freund,« er haschte nach Ostermanns Hand, »lege er ein gutes Wort für mich ein.« Die faunischen Lippen des Kanzleirats verzogen sich zu einem Grinsen. Doch er wußte es vorsichtig hinter einer bedientenhaften Verneigung zu verstecken: »Ew. Exzellenz, es ist an mir, um gütige Verwendung zu bitten, daß ich in meinem Amte bleibe.« Seine Stimme triefte von Ergebenheit. Aber gerade das gab seiner Weigerung den Stachel. »Ostermann,« Schafirof erhob sich. Er mußte sich an der Lehne des Stuhles halten. Die Füße wollten ihn nicht tragen: »Er weiß recht gut, daß er unentbehrlich ist, und daß jeder, wer es auch sei, der an die Regierung kommt, ihn braucht. Notwendig braucht. Ich bin ihm oft zu Gefallen gewesen. Ich hätte eine andere Antwort erwartet. Doch so ist es: dem gestürzten Esel gibt jeder einen Schlag.« In den säuerlichen Mienen des Kanzleirats zuckte und arbeitete es. Er hatte Mühe, sich das Lachen über diese nach seiner Meinung durchaus zutreffende Selbsteinschätzung des Kanzlers zu verbeißen. Doch seine Klugheit warnte ihn. Der um seinen Sturz Besorgte war noch nicht gestürzt. Es konnte auch anders kommen, als der Furchtsame wähnte. Sein faltenreiches Gesicht nahm einen gekränkten Ausdruck an: »Ew. Exzellenz belieben, meine aufrichtigste Ergebenheit zu verkennen.« Er schlug den roten Schlafrock, von dem er sich nur selten trennte, dichter um sich, beugte sich zu Schafirofs Ohr und flüsterte: »Niemand weiß, wem in den nächsten Stunden die Herrschaft zufallen wird. Noch ist nichts verloren, wenn wir nicht den Kopf verlieren.« Der Kanzler rang verzweifelt die Hände: »Gegen sie kommt keiner auf. Das Heer ist für sie, das Volk ist für sie ...« »Und wir sind für sie!« »Ich?!« Schafirof war entsetzt: »Ich soll mein eigenes Todesurteil schreiben?« »Die Kaiserin ist nicht kleinlich. Stehen Ew. Exzellenz ihr jetzt zur Seite, so wird sie bereitwillig den üblen Schachzug nach der Flucht des Zarewitsch vergessen.« »Sie geben mir Hoffnung?« Ostermann nickte: »Auf die Möglichkeit, viel gut zu machen.« – Gutmachen. Das war, worauf auch das Volk vertraute. Katharina würde das Land nicht in endlose Kriege stürzen, würde nicht um einer vermeintlichen Mehrung willen Hunderttausende von Menschen opfern. Frieden würde sein und die Werke des Friedens würden gedeihen. Ein Aufatmen ging durch das ganze Reich. Unbekümmert darum spannen die Gegner Katharinas ihre Ränke. Was kümmerte sie das Volk. Außer zu ihrer Verherrlichung war es nichts nütze. Mochte es sterben und verderben. Der mit Blut gedüngte Boden trug um so reicher. Und die Ernte fiel ihnen zu. Doch die Dolgoruckis gönnten den Golypins nicht den Platz bei Tische, und diese waren den Trubetzkois nicht grün, und die wieder bemühten sich, den Fürsten Repnin fernzuhalten. Der hetzte gegen die Apraxins und trachtete, die Golowins und Golowkins auszuschließen. Keiner gönnte dem andern einen Bissen, obwohl der Neid auf die »Ausländer« ihren Hunger stachelte. Das war die eine Partei. Die andere bildete Menschikoff und sein Anhang. Ihr Ziel, eine Regentschaft, die Katharina den Schein ließ, ihnen die Gewalt gab, sich ohne Rücksicht auf ein Recht zu bereichern. Gerüstet standen sie gegeneinander. Die Altrussen hatten den niederen Klerus aufgestachelt, wider die »Fremdenherrschaft« zu wettern. Menschikoff stützte sich auf seinen Einfluß bei den hauptstädtischen Truppen. Bassewitz, der im Hofstaate des Herzogs von Holstein in Petersburg weilte, wußte beiden zu begegnen. Den Wühlereien der Altrussen brach der Erzbischof Theophanes, den er gewonnen hatte und der sich mit seinem ganzen Ansehen für Katharina einsetzte, die Spitze ab. Und Menschikoffs Machenschaften wußte der ihm befreundete Buturlin, der Oberbefehlshaber der Garden, geschickt zu vereiteln, doch so, daß der Fürst des Glaubens blieb, die Mannschaften des preobraschenskischen und des ssemjenowschen Regiments für sich zu haben. Die Kassen ließ Bassewitz auf die Peter-Pauls-Festung schaffen. Er war auf alles gefaßt und bereit, jedem Schlage, der sich gegen die bewunderte und angebetete Frau richtete, zu begegnen. In jedem Lager hatte er Spürer und Zuträger. Die wichtigste Nachricht brachte ihm Jaguschinski: Katharina sollte gezwungen werden, die Herrschaft mit einem Adelsrate zu teilen. Von dem Generalleutnant erfuhr er auch, daß Menschikoff an die wachthabenden Truppen den Befehl hatte ergehen lassen, keinem, der im Palast weilte, den Ausgang zu gestatten, und den als Herrscher zu begrüßen, der sich an dem geöffneten Fenster des Beratungssaales zeigen würde. »Er sitzt davor,« Jaguschinski kniff zwinkernd die Lider ein, »und wahrhaftig, ich möchte niemandem raten, sich dem Fenster zu nähern. Er hat noch immer Bärenkräfte.« Mitleidig maß er die schmächtige Gestalt des Grafen. Bassewitz' bartlosen Knabenmund öffnete ein Lächeln. Aber er erwiderte nichts. Er hatte es eilig. Bei dem Dank an den Polen glitt eine mit Dukaten gefüllte kostbare Dose in dessen lange, ein wenig unsaubere Finger: »Die Kaiserin wird sich Ihrer Freundschaftsdienste erinnern.« Damit flog Bassewitz davon. Gleich einem Trompetenstoß schmetterte seine helle Stimme in die Stille des Sterbezimmers. »Menschikoff und die Bojaren haben sich versammelt! Es geht um Ew. Majestät Rechte!« Katharina hob kaum das tränenüberströmte Gesicht. Rasch ergänzte Bassewitz: »Und um die Rechte des kaiserlichen Enkels.« Das wirkte. Mit der flachen Hand strich Katharina über die verweinten Augen und preßte die Schläfen zusammen: »So ist es Zeit!« Sie stand vor Bassewitz, fest, gesammelt, entschlossen, dem Nachkommen des Zaren sein Erbe ungeschmälert zu wahren. Raschen starken Schrittes ging sie neben dem Hastenden durch die Gänge. Die Wachen, an denen sie vorüberkamen, präsentierten. Auf einen Wink des Grafen schlossen sie sich an. »Wozu das?« fragte Katharina verwundert. »Vorsicht ist stets gut!« gab Bassewitz zurück. Sie wehrte ab: »Ein Zuviel schadet leicht.« Flüsternd berichtete er ihr von den Absichten Menschikoffs und der Bedeutung des Mittelfensters. Sie senkte lässig die Achseln: »Seine Verwegenheit reicht nicht an mich heran.« Sie wies auf die Soldaten: »Zu Ihrer Beruhigung mögen sie hier bleiben. Es folgt mir niemand, außer Ihnen.« »Majestät!« In Bassewitz' Stimme bebte Sorge. Kühl schüttelte sie den Kopf: »Nein, Graf, keine Säbel, keine Gewehre. Ich siege durch andere Waffen. – Öffne!« Der Unteroffizier der Garde vor der hohen Flügeltür zum Beratungszimmer grüßte mit dem Degen. Aber er rührte keine Hand: »Niemand darf hinein ohne schriftliche Erlaubnis des Fürsten.« Wallend schoß das Blut in Bassewitz' Wangen. Er griff nach der Waffe. »Ruhe, Freund!« Katharina trat zwischen ihn und den hühnenhaften Menschen: »Nur kein Ungestüm.« Sie faßte den Unteroffizier fest ins Auge: »Wessen Haus ist das?« »Des Kaisers.« »Der Kaiser ist tot!« Der Mann bekreuzte sich: »Der heilige Nikolaus bitte für ihn. So gehört sein Haus Euch, Mütterchen.« »Gut. Und in meinem Hause bestimme ich, nicht Fürst Menschikoff. Öffne!« Ein tiefer Atemzug hob die breite Brust des Garden: »Majestät.« »Öffne! Es wird dir nichts von ihm geschehen.« Die Flügel schlugen auf. Katharina trat ein. Die um den mächtigen Tisch Versammelten sprangen von den Sitzen. Verwirrung, Bestürzung in aller Mienen. Nur Menschikoff hatte sich nicht erhoben. Aber die Hand, die den Stuhlgriff umspannte, zitterte leicht. Langsam ließ Katharina ihre Blicke wandern. Auf jedem einzelnen der Anwesenden blieben sie haften, als wollten sie sich sein Bild unauslöschlich einprägen. Ein unbehagliches Gefühl. Der alte Fürst Dolgorucki schüttelte es am ehesten ab. »Wir haben uns zusammengefunden, um zum Wohle des Vaterlandes ...«, begann er unsicher. »Zu beraten,« schnitt Katharina ihm das Wort ab. »Aber wie ich höre, seid ihr uneins, meine Kinder. Was der eine wünscht, ist dem andern entgegen. Die einen möchten mir Vorschriften machen, die andern erwarten, daß ich welche gebe. Ich werde weder dies tun, noch jenes dulden. Ich werde ausführen, wozu ich vom Zaren bestellt bin: euch den Kaiser zu erziehen!« »Wann hat der Zar dies bestimmt? – Wo? – Sein Testament! Sein Testament!« schrie es aufgeregt durcheinander. Katharinas Gestalt wuchs: »Die Krone, die er mir aufs Haupt gesetzt hat, ist sein Testament!« Sie sah in der Runde umher und sah in verwirrte, verlegen ausweichende Gesichter. Es zuckte um ihren Mund: »Es ist stickig im Saal. Mich wundert, daß ihr es ertragen mögt, meine Freunde. Ein frischer Luftzug tut not.« Sie umging den Tisch. Der hohe Stuhl, in dem Menschikoff saß, rückte, wie emporgewunden schoben sich seine breiten Schultern in die Höhe. Eine Sekunde lang schien es, als wolle er sich Katharina entgegenstürzen. Sie standen Auge in Auge. Es blitzte in den ihren auf: kalt, herrisch. Sie deutete auf das Fenster: »Darf ich Durchlaucht um eine Gefälligkeit bitten?« Menschikoff raffte sich. Mit zusammengebissenen Zähnen schlug er den Riegel herum und stieß die Fenster auf. An ihm vorüber beugte sich Katharina hinaus. Tosend schlugen die Trommler an. »Alarm?« Repnin fragte mit überkippender Stimme: »Wer hat ...« »Ich habe den Befehl gegeben!« Buturlin riß seinen Degen aus der Scheide und hieb die blanke Waffe auf den Tisch: »Im Namen der Kaiserin, der jeder Vaterlandsfreund gehorcht!« Niemand wagte eine Erwiderung, denn überwältigender als diese Drohung stürzte von draußen her der anschwellende Zuruf des Volkes herein: »Das Mütterchen! Heil unserm Mütterchen Katharina!« Das entschied. Menschikoff gab sich einen Ruck: ein Narr, der gegen den Strom zu schwimmen versucht. – Er trat neben die Umjubelte: »Es lebe die Kaiserin Katharina!« XXIV. Katharinas Werk war getan. Dem Enkel Peters war die Nachfolge gesichert. Auch gegen Menschikoff. Wie eine Träumende wandelte die Zarin durch die weißen Nächte das Frühlings. Ein Jahr war seit dem Tode des Zaren vergangen. Sie fühlte: auch ihre Zeit war nahe. Sie war müde. Müde der Menschen und der Tat. Gleich Schatten glitt alles an ihr vorüber. Das Gewesene und das Jetzt. Ein bunter Reigen. Und hatten doch alle, die ihn tanzten, leere Augen. Vorüber, vorüber. Alles? Sie dachte des jungen Moens de la Croix. Auch er dahin. Wirklich dahin? Kam er nicht dort aus dem Laubengange? Blond, hell, strahlend. Wie der Lenz selber. Sie breitete die Arme. Herrin, Kaiserin war sie gewesen. Er hatte sie zur Göttin gemacht. Gekniet hatte er vor ihr, hatte sie angebetet und hatte sie überwunden durch seinen Glauben an ihr Herz. Ein Blick, ein Gruß hatten ihn beseligt. Nichts hatte er von ihr begehrt, hatte immer nur gegeben, seinen Jubel, seine Freude über ihr Sein. In ihren Augen schimmerte es feucht. Und hatte sterben müssen wie ein Verbrecher. Sterben! Sie wickelte sich fröstelnd in ihren Mantel. Der Nebel, der von der Newa herzog, war kühl. Oder warum fror sie sonst? Hinter den Mauern der Admiralität hob sich der Mond. Bleich, verschwimmend im Dunst. Die ziehenden Schwaden huschten hin und wieder. Wer kam? Wer ging? Ein Lächeln zog um Katharinas Lippen: Ruhm, Glanz, Macht, Herrlichkeit. Gespinste. Was blieb? Sie legte die Hand auf ihr Herz. Es schlug schwer, langsam, als habe es Mühe, sich seiner Pflicht zu besinnen. Seine Mattheit bedrängte sie. Ihr Atem wurde ächzend. Von der Steinbank, auf der sie gesessen hatte, schob sie sich in die Höhe. Ihre Füße schmerzten. Sie biß die Zähne zusammen: Schmerz an jedem Tage. Das Gift, das Peter eingesogen hatte, fraß auch an ihr. Ein Schwindel drohte sie zu befallen. Sie lehnte die heiße Stirn an den feuchten Marmor. Hinter ihr wurden Tritte und eine Stimme laut: »Ew. Majestät bedürfen der Ruhe.« Sie wandte sich um. Sie kannte den Mahner. Menschikoff. Sie wußte, warum er um ihre Ruhe besorgt war. Der Geschäftige. Sie antwortete nicht. Sie löste sich von dem Halt. Der Mond hatte den schwebenden Brodem verscheucht. Klar und silbern lagen die Wege. Ein paar Schritte tat sie voran. Er hielt sie auf: »Wollen Ew. Majestät nicht nach Hause?« Sie sah ihn groß an und nickte langsam: »Ja, Fürst Menschikoff, ich will nach Hause, und ich gehe nach Hause.« Damit machte sie sich los von dem Störenden. Noch einmal erreichte sein Ruf ihr Ohr: »Majestät irren! Majestät müssen umkehren!« Etwas wie Ungeduld über den Unverstand faßte sie, sie entgegnete ruhig, und es waren beinahe dieselben Worte, die sie vor langen, fast vergessenen Jahren zu ihm gesagt hatte: »Mein Zuhause liegt vor mir.« Langsam, ganz langsam entfernte sie sich von ihm, der sie nicht mehr zu halten wagte, auf den weißschimmernden Pfaden, zwischen den von hellem Glast überronnenen Büschen und verschwand in der leuchtenden Nacht. – Am andern Morgen kauerte sie fiebernd in ihrem Bette. Menschikoff erschien zum Vortrag, und wie stets, lautete seine erste Frage nach der Begrüßung: »Was belieben Ew. Majestät zu trinken?« Eine unwillige Bewegung wies ihn ab: »Dein Rausch ist gemein!« Katharina lehnte sich in die Kissen, bog den glühenden Kopf zurück: »Ich hatte mir viel Lust gesonnen,« sie sprach halblaut, mehr zu sich, wie zu dem von ihrem Ton seltsam angerührten Hörer, »in Palästen, an goldbedeckten Tafeln, unter Kronen. Ich bin zur Wahrheit erwacht. Nichts gilt,« sie hob sich gegen Menschikoff auf, ihr Gesicht war dicht vor seinem in Bestürzung erstarrten, »nichts gilt als unser Herz.« Ihre Kraft versagte, die stützenden Hände gaben nach, sie sank zur Seite. Das aufgelöste flammende Haar floß über sie hin und verbarg ihr Antlitz. Benutzte Quellen: Bantisch-Kamensky, Nicolaus, Illustrations de la Russie ou galerie des Personages, Paris 1829. Beaumelle, Laurent de la, Lettre du Czar Pierre á Mr. de Voltaire, Toulouse 1761. Bergmann, Benj., Peter der Große als Mensch und Regent, 6 Teile, Königsberg 1823, Riga 1825/26 und Mitau 1829/30. 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Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Korrekturen: S. 29: Anisja → Anisia wo du zu {Anisia} oder zu Barbutschka S. 86: Barbara → Darja Weder Anisia noch {Darja} brauchten zu wissen S. 150: wie → wie sie und er wird tun, {wie sie} es will *** End of this LibraryBlog Digital Book "Ein livländisch Herz - Katharina I. von Russland" *** Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.