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Title: Freiluftleben
Author: Nansen, Fridtjof
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Freiluftleben" ***


  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1920 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
    Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche
    Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert;
    fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert.

    Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter der Übersichtlichkeit
    halber an den Anfang des Buches verschoben.

    Besondere Schriftschnitte wurden in der vorliegenden Fassung mit
    den folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet:

      gesperrt:  +Pluszeichen+
      Antiqua:   ~Tilden~

  ####################################################################



                             Freiluftleben



                            Fridtjof Nansen

                             Freiluftleben

                            [Illustration]

                   Leipzig ♢ F. A. Brockhaus ♢ 1920



Von diesem Buch sind dreihundert Exemplare auf Büttenpapier von Van
Gelder Zonen abgezogen, mit einem Bildnis des Verfassers in Kupferdruck
in Halbleder gebunden und handschriftlich numeriert worden.


              Copyright 1920 by F. A. Brockhaus, Leipzig.



Inhalt.


                                              Seite

    An den deutschen Leser                        5

    Auf Schneeschuhen übers Gebirge               9

    Von Bergen nach Kristiania                    9

    Von Kristiania zurück nach Voß               29

    Ein Menschenalter später                     54

    Haraldsets Jagdgeschichten                   62

    Winter im Gebirge                            88

    Nach Island und Jan Mayen                   104

    Herbstjagd in den Bergen                    144

    Auf der Auerhahnbalz                        161

    Im Bereich Rondanes und der Sölenberge      173


[Illustration]



An den deutschen Leser.


Wenn diese Blätter eine Mahnung enthalten, so ist es das alte
Losungswort: +Zurück zur Natur!+ Das einzige Heilmittel gegen die
Krankheit unserer Zeit.

Nur allzuvieles, was geschehen ist, seitdem diese Blätter geschrieben
wurden, scheint mir dies in unheimlichem Maße erwiesen zu haben.

Europa ist krank. Die weiße Rasse hat eine Fieberkrisis zu überstehen.
Die menschliche Gesellschaft zeigt an vielen Stellen die Symptome der
Auflösung.

Der Heiltrank kann nur aus den einfachen Tiefen der Natur geschöpft
werden.

Als Präsident Wilson die Vereinigten Staaten in den Krieg führte,
hoffte er die Welt dadurch „~safe for democracy~“ zu machen.

Die Welt aber wollte es anders.

Europa ist ein Chaos geworden, ein brodelnder Hexenkessel, in dem
Demokratie, Despotie, Militarismus und Anarchie in unheilschwangerem
Brei sich umeinanderwälzen, und niemand weiß, was in heftigsten
Entladungen explodieren wird.

Klarer als je zuvor hat sich erwiesen, daß der Krieg keine Heilung,
keine Erlösung bringen kann. Wohl vermag er eine drohende Krankheit
auszulösen. An ihrer Stelle aber schafft er zehn neue Krankheitskeime.
Er ist selber ein Fieber und keine Kur.

Die Seele der menschlichen Gesellschaft läßt sich nicht durch Bajonette
reformieren, und keine Idee, auch eine falsche nicht, kann durch
Maschinengewehre umgebracht werden.

Bernard Shaw soll kürzlich gesagt haben, er wisse nicht, was die
Bewohner der andern Planeten im Sinne hätten. Dessen sei er aber
sicher, daß sie unsern Planeten für ein Irrenhaus hielten.

Das gibt ein treffendes Bild des jetzigen Zustands unserer Erde.

Die Geisteskrankheit rührt aber von den falschen Grundanschauungen her.

Die Menschen sind auf Abwege geraten in ihrer wahnsinnigen Jagd nach
Macht.

Die Massen haben Kultur mit materieller Entwicklung verwechselt.
Letztere bringt die Macht des Überflusses, erstere die Schönheit der
Harmonie.

Nicht der Wille zur Macht, sondern der Wille zur Schönheit wird die
neue Zukunft schaffen:

    die Schönheit der großen, einfachen Lebenslinien, die alle
    Herrschgier, allen Flitterstaat, allen Überfluß abgestreift hat.

+Schließlich muß doch der Geist den Sieg erringen+:

    nicht +der+ Geist, der neue Gewaltmittel erfindet, neue
    Zerstörungsmaschinen, neue Sprengstoffe, neue Gase --,

    auch nicht +der+ Geist, der neue Industrien schafft, neue
    Verkehrsmittel erschließt, so nützlich er auch sein mag --,

    sondern +der+ Geist, der aus den alten, ewig jungen Urquellen der
    Natur schöpfend neue Lebenswerte formt:

die +Welt der Zukunft+, deren Symbol nicht mehr die raffende
Raubtierklaue ist, sondern die gebende Menschenhand --,

    in der die Klassenpolitiker und die Staatsmänner entdeckt haben,
    daß es +nicht nur Menschen+ gibt, +sondern auch Mitmenschen+ --,

    in der sie nicht nur mit den Lippen bekennen, sondern auch durch
    die Tat beweisen, daß sie anstatt die brutale Selbstsucht der
    Staaten, der Klassen, der Einzelnen, auch in der Politik die Lehre
    der Nächstenliebe vertreten, die da sagt:

+Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu.+

       *       *       *       *       *

Laßt uns, trotz der Finsternis, laßt uns nicht an der Morgendämmerung
zweifeln!

Noch gilt das Gesetz von der Kontinuität des Keimplasmas. Noch ist das
Geschlecht im Kern gesund und unverdorben. Nur die Lebensbedingungen,
die Grundlagen der Erziehung in den sogenannten Kulturzentren sind
naturwidrig.

Die Rettung liegt, jetzt wie immer, in der Losung:

Zurück zur Natur, zu den einfachen Grundwerten, auf denen alle
Schönheit des Lebens sich aufbaut.

Wie in Wissenschaft und Forschung, so auch im Menschenleben gilt es den
Naturgesetzen zu folgen. +Nicht wider die Natur heißt es zu wirken,
sondern im Bunde mit der Natur!+

    +Lysaker+, Weihnachten 1919.

    [Illustration: Unterschrift: Fridtjof Nansen]



Auf Schneeschuhen übers Gebirge


Von Bergen nach Kristiania.


    +Bergen+, im März 1884.

Es war am Sonnabend, 26. Januar, in diesem Jahre des Heils 1884. Ich
ging abends vom Museum nach Hause. Der Regen peitschte mir das Gesicht
mit einer Heftigkeit, die selbst hier in Bergen ungewöhnlich war. Am
Himmel jagten schwarze Wolken. Das Thermometer zeigte viele Grade
Wärme, das Barometer sank und sank und stand auf Erdbeben. Wahrhaftig
ein Wetter, das der Verzweiflung nahebringen konnte. Das sollte also
der norwegische Winter sein!

Die Geschäftsleute hasteten die Straße entlang, den Regenschirm gegen
den Wind, den Kopf tief zwischen den Schultern. Nach vollbrachter
Wochenarbeit strebten sie dem gemütlichen Heim zu.

Morgen war Sonntag. Erst noch einen Abstecher nach dem Postamt, um nach
Post zu fragen; dann nach Hause, um es mir gemütlich zu machen und alle
Schlechtigkeit der Welt und des Wetters zu vergessen.

Ich hatte mich im Lehnstuhl zurechtgesetzt. Einen flüchtigen Blick in
das eben angekommene Sportblatt; dann wollte ich mich in meine Studien
vertiefen. Doch was stand da? Schneeschuhwettlauf auf der Husebyhöhe am
4. Februar. War es möglich? Sollte es wirklich irgendwo in norwegischen
Landen Schneeschuhbahn geben?

Schneeschuhe und Schneeschuhbahn waren wohl das, was noch vor einem
Augenblick meinen Gedanken am fernsten gelegen hatte. Nun ergriff es
mich mit unwiderstehlicher Gewalt: Lockend weiß stand der Nadelwald
unter der Schneedecke; die Dörfer mit den Halden, Hügeln und den Bergen
lagen blank und weiß da und glitzerten im Sonnenschein. Alles so frisch
und so leicht in der klingenden Winterkälte...

       *       *       *       *       *

Der Sonntag kam und brachte noch mehr Sturm und Regen. Am nächsten
Morgen wollte ich aufs Meer hinaus zur Tiefseeforschung. Aber die
Gedanken gaben keine Ruhe. Ich mußte in den Zeitungen der letzten Tage
nach den Wetterberichten schauen. Nein, Wärmegrade übers ganze Land,
nirgends konnte es Schneeschuhbahn geben. Da unternahm ich lieber meine
Meerfahrt.

Am Nachmittag aber half nichts mehr: fort mußte ich, und ich ging
zum Oberhaupt des Museums, zum alten Doktor Danielsen. Er war
verständnisvoll wie immer, und ich bekam Reiseurlaub. Nun galt es,
alles für meine Abwesenheit zu ordnen, dann konnte ich am nächsten
Morgen um halb sieben Uhr mit dem Zuge abfahren.

Alle vernünftigen Freunde meinten natürlich, es sei Wahnsinn, in dieser
Zeit über das Gebirge reisen zu wollen, und schüttelten den Kopf --
aber Jugend hat keine Tugend...

Endlich saß ich im Abteil, und es ging nach Voß hinauf. Der Regen
trommelte auf das Wagendach. Na ja, ein schönes Schneeschuhwetter
das! Aber höher oben würde es wohl besser werden. Durch Tunnels und
Einschnitte ging es, an Abgründen vorüber, die engen Fjorde entlang.
Als wir weiter hinaufkamen, begannen die Abhänge der Berge hoch oben
weiß zu werden. Das hob sofort die Hoffnung: im Gebirge gab es sicher
Kälte und Schnee.

Um zwölf Uhr brachen der Hund und ich von Voß auf. Wir schlugen den
Weg durch das Rauntal ein; von dort wollten wir nach Hol im Hallingtal
hinübergehen. Das ist ein etwas weiter Weg übers Gebirge. Dafür wird
aber der Weg nach dem Ostland um so kürzer.

Die Schneeschuhe auf den Schultern, stieg ich getrost in rieselndem
Regen aufwärts. Es würde schon besser werden, wenn ich erst ins Gebirge
hinaufkam; dorthin wollte ich bis zum Abend gelangen. Ich ging und
ging, aber beständig lag der Nebel dicht und schwer über den Abhängen
zu beiden Seiten des Tals, und die Regentropfen fielen gleich schwer
und ungemütlich.

Unterwegs fragte ich, ob jemand wisse, wie die Schneeschuhbahn im
Gebirge sei. Aber man schüttelte nur den Kopf und meinte, bei solchem
Wetter sei nicht ans Gebirge zu denken.

Als ich mich dem Sverresteig näherte und es noch nicht aussah, als
wenn es besser werden sollte, dachte ich, es sei doch vielleicht
vernünftiger, umzukehren und den Weg über Gudvangen und von da
ins Lärtal einzuschlagen. Von dort konnte ich auf der Poststraße
weiterkommen, mochte dann das Wetter sein wie es wolle.

Gedacht, getan. Und da ich auch einen Pferdehändler mit Pferd und
Schlitten traf, der auf demselben Weg nach dem Ostland wollte und sich
erbot, die Schneeschuhe mitzunehmen, so ging ja alles in schönster
Ordnung.

Am Abend erreichte ich Vinje. Hier war schon gute Schneeschuhbahn, nur
war es noch etwas zu mild. Der Mann mit den Schneeschuhen und noch
ein Pferdehändler, der sich angeschlossen hatte, übernachteten auf
dem Nachbarhof. Sie versprachen bei mir vorzusprechen, bevor sie am
nächsten Morgen aufbrachen.

Nach der ungewohnten Bewegung schlief ich gut. Der Tag war schon
ziemlich weit vorgeschritten, als ich erwachte. Ich richtete mich auf,
um durchs Fenster zu schauen. Doch was für ein Anblick: Eisblumen an
den Fenstern! Es war unmöglich hindurchzusehen. In aller Eile stand ich
auf und durch Reiben und Hauchen taute ich soviel von dem Fenster auf,
daß ich erkennen konnte: es war klares Frostwetter mit Neuschnee. Das
gab einen Jubel...

Hastig verzehrte ich das Frühstück, und dann sprang ich nach dem
Nachbarhof hinüber, um die Schneeschuhe zu holen; nun sollte es nach
Gudvangen gehen. Aber ach, die Männer waren vor einer halben Stunde
abgefahren und hatten die Schneeschuhe mitgenommen.

Das kühlte mir das Blut ab. Aber wenn ich sie noch vor dem
Stalheimhügel einzuholen vermochte, dann konnte ich dort ja doch noch
die Schneeschuhe gebrauchen. Aber bis dahin war es nur eine Meile[1],
und da ist eine halbe Stunde ein großer Vorsprung.

  [1] Unter „Meile“ wird hier und im folgenden die alte norwegische
      Meile = 11 Kilometer verstanden.

Ich eilte die Anhöhen hinan. Es war schwer, im Schnee zu gehen; aber
das Wetter war herrlich. Ringsum strahlten die Berge blendend weiß in
der Sonne. Die Nadelbäume standen feierlich still unter der Decke von
Neuschnee. Es war Winter, strahlender Winter, und ihn hatte ich ja
gesucht. Auch der Hund freute sich des Lebens und wälzte sich im Schnee.

Aber ach so tot, so öde! Nirgends ein Schneeschuhläufer, nirgends
eine Schneeschuhspur zu sehen. Gab es denn hier keine Menschen? Doch
da lagen ja viele Gehöfte. Aber die Männer verschlafen wohl in dieser
Gegend des Landes den größten Teil des Winters. Dunkel und leblos
stehen die Gehöfte auf dem weißen Schnee; nur der Rauch steigt träge
aus den Schornsteinen auf. Die Weiberleute arbeiten, während das
Mannsvolk in den Stuben herumhockt. Draußen breitet sich eine glänzende
Schneeschuhbahn, und im Gebirge gibt es Wild genug. Welches Winterleben
könnte sich hier entfalten, wenn sie nur die Schneeschuhe gebrauchen
lernten!..

Weiter ging es an schneebedeckten Abhängen entlang, über fischreiche
Wasser, die unter Eis und Schnee schliefen und auf den Sommer warteten.
Und dann durch kleine schöne Wälder. Hier und da lief eine Hasenspur
über den Weg. Puß hatte es jetzt schwer, im Schnee vorwärtszukommen,
der Arme.

Nach und nach holte ich die Männer mit meinen Schneeschuhen soweit ein,
daß ich sie in den Windungen der Straße erkennen konnte. Ich begann zu
springen und erreichte sie auch wirklich.

Welcher Jubel, die Schneeschuhe unter den Füßen zu fühlen -- und erst,
wenn ich eine Anhöhe hinabsauste! Das war wahrhaftig ein anderes Leben,
als in Bergen durch Regen und Schmutz zu waten. Die Schlitten waren
bald außer Sicht.

Aber dort war Gelegenheit zu einem schönen Sprung über den Weg. Die
Lust, die alten Künste zu probieren, erwachte mit einem Male: erst
hinauf und dann hinunter. O wie gut es tut, sich dem Himmel näher zu
fühlen! Aber der Rucksack muß herunter. Noch höher, noch geschwinder,
und nun -- hopp -- wie eine Möwe herabschweben! Ja, man fühlt: noch ist
Kraft und Saft in den steifgewordenen Gliedern.

Doch nun war es mit einem Male auf den Höfen ringsum lebendig geworden.
Wie im Frühjahr die Ameisen aus dem Bau, so wimmelten sie heraus, Junge
und Alte; alle mußten sie sehen, was das war, das da oben sprang.

Ich hatte Durst bekommen und steuerte dem nächsten Gehöft zu. Und nun
gab es wieder ein Wettrennen in das Haus hinein. Einer vor dem andern,
alle auf einmal; nur ein alter Mann stand noch da, als ich ankam.

„Wie heißt dieser Hof?“

„Du kannst aber schneeschuhlaufen.“

„Wie weit ist es wohl bis Gudvangen?“

„Wo kommst du denn her?“

„Ich komme von Bergen und will nach dem Ostland. -- Glaubst du, daß ich
hier etwas Milch bekommen kann?“

„Du willst also übers Gebirge? Das sind feine Schneeschuhe. Was ist
denn heute für Wetter?“

Nein, ich mußte wohl hineingehen. Vielleicht ging es dort besser.

Ich schnallte die Schneeschuhe ab und trat in eine Stube, die der Dunst
von Menschen und Tieren erfüllte. Die Wände entlang und oben in den
Betten standen, saßen und lagen Frauen und Männer, Mädchen und Knaben.
Auf dem Boden krabbelten Kinder im Verein mit Ferkeln und Hühnern und
andern Tieren.

„Kann ich einen Tropfen Milch bekommen?“

Eine lange Pause. Dann kommt von einer Frau die langgezogene Antwort:

„Ich weiß nicht.“

Das gab mir Hoffnung.

„Habt ihr denn nicht etwas Milch?“

„O ja, die haben wir wohl.“

„Kann ich denn etwas kaufen?“

„Willst du vielleicht saure Milch haben?“

„Danke, am liebsten möchte ich süße, wenn es geht.“

„O ja, die kannst du schon haben.“

Dann geht sie endlich zu einem Gesims, um eine Kanne herunterzunehmen;
die Milch war gut und tat gut.

„Wieviel bin ich schuldig?“

„Ich weiß nicht. Es ist ja nicht des Bezahlens wert.“

Ich legte einige Pfennige auf den Tisch und bedankte mich.

„Nein, das ist zuviel.“ Als sie aber sah, daß ich verschwand, rief sie
hinterdrein:

„Ja, dann also vielen Dank.“

Draußen umstanden eine Menge Männer meine Schneeschuhe. Sie waren von
den Gehöften ringsum gekommen. Schneeschuhe und Bindung wurden an
allen Ecken und Enden untersucht, und als der Besitzer selber kam, der
auch.

Ich schnallte die Schneeschuhe an und fuhr die Anhöhe hinauf. Hinter
mir her hörte ich: „Das waren feine Schneeschuhe!“ „Was er für einen
kleinen Stock hat!“ „Wie groß der Hund ist!“ --

In Gesellschaft eines der Pferdehändler, der gerade gefahren kam, zog
ich weiter.

Wir waren in der Nähe von Stalheim. Das Gebirgstal mit den
kiefernbestandenen Abhängen lag tief unter Schnee. Unten im Grunde
strömte der Fluß, und oben erglänzten in der Sonne die gewaltigen Berge
weiß unter dem blauen Himmel. Das Tal ist hier wild und großartig. Vorn
rechts schnitt eine enge Schlucht in das Bergmassiv ein, umgeben von
wilden, zerrissenen Gipfeln. Wie ich so ging, dachte ich darüber nach,
wohin sie wohl führen könnte. Den Grund sah ich nicht; der verschwand
tief unten, aber die Berghänge gehörten zu den steilsten, deren ich
mich je erinnerte.

Unwillkürlich wurden die Augen von diesem Spalt angezogen. Durchfuhr
einen auch ein Kälteschauer, so oft man dahin sah, so konnte man sich
doch nicht davon abwenden.

Auf einmal blieb ich stehen. Vor meinen Füßen hörte der Weg auf. Ich
stand unmittelbar vor dem Schlund und sah plötzlich in einen Abgrund
hinab. Nie hätte ich geglaubt, daß durch diesen Spalt der Weg nach
Gudvangen ginge. Aber es mußte doch so sein. Ich wandte mich nach dem
Pferdehändler um, der mir folgte. Ja, es war wirklich so: wir standen
auf dem Gipfel des Stalheimhügels, am Ende des Närötals.

Ich schaute hinunter. Der Fluß und der Talgrund schlängelten sich
dort unten wie ein schmales Band. Ich blickte in die Runde: vorn
war das Närötal mit seinen steilen Wänden; über sie stürzten die
gefrorenen Gebirgsbäche in ihrem blaugrünen Winterstaat, hier und da
lag der Schnee auf Absätzen in weißen Streifen die vereisten Bergwände
entlang, und darüber hingen die Schneewächten, bereit, beim ersten
Tauwetter abzubrechen. Unmittelbar rechts war ein Schlund, in den der
Stalheimfall mit dumpfem Brausen unter der Eisdecke hinabstürzte. Ein
Stück weiter links donnerte ein anderer Wasserfall in eine ähnliche
Kluft. Gerade unter mir wand sich der Weg in kurzen Windungen von der
einen Schlucht zur andern, dem Talgrund zu. Über all das steigt der
Kegel des Jordalsgipfels empor, hoch und jäh, wie ein gewaltiger Riese.
Weiter hinten als Rahmen für diese vereiste, zugeschneite Gebirgskluft
erhoben sich die Bergspitzen und verschwanden in dunkeln, schweren
Wolken. Zuhöchst oben aber über dem Ganzen stand blau und klar der
Himmel, während die Sonne auf Schnee und Eis im Vordergrund spielte.

Als ich in Betrachtung versunken dastand, sagte eine Stimme hinter mir:
„Komm, laß mich deine Schneeschuhe probieren.“

„Nein, danke, mit denen werde ich selber fertig.“ Und ich begann
abwärts zu gleiten.

Es ging bergab, bald am Rande der einen Schlucht, bald nach der andern
hinüber. Es gab viele kurze Windungen. Bei jeder mußte man bremsen,
sich gut einwärts lehnen und dann mit um so größerer Schnelligkeit
weiterfahren, sobald es wieder geradeaus ging.

Unterwegs sauste das Bild eines Bauern an mir vorbei, der vor Schreck
ganz in die Bergwand hineingekrochen war.

Noch ehe ich recht zur Besinnung gekommen, war ich drunten auf dem
Talgrund. Von oben kam der Hund wie ein brauner Knäuel hinterher. Das
Pferd konnte ich nicht mehr sehen.

Ich fuhr weiter. Der Weg führt den Fluß entlang. Der Grund des Närötals
bis Gudvangen ist so flach, daß sich kaum eine Anhöhe findet. Der
Talboden ist schmal. Zuweilen ist gerade noch Platz für Fluß und
Straße, und auf beiden Seiten steigen die Gebirgswände schroff in die
Höhe. Hoch oben hängen die Schneewächten, zwischen ihnen ein Streifen
blauen Himmels.

Hier und da lagen große Schneelawinen. Sie folgen im Närötal rasch
aufeinander, und unglaublich sind die Geschichten, die man von ihnen zu
hören bekommt. Man muß sich geradezu wundern, daß Menschen hier leben
wollen, am Fuße dieses immer drohenden Berges. Aber sie gewöhnen sich
so daran, daß eine Lawine für sie etwa soviel bedeutet wie für uns ein
Gewitter. Wenn sie nur sehen, daß die Lawine nicht ihren Weg kreuzt, so
sind sie ruhig, wenn sie kommt, auch wenn der Boden unter ihnen wie bei
einem Erdbeben erzittert. Der Luftdruck, der der Lawine voranzugehen
pflegt, ist so stark, daß er weiter draußen, wie die Sage geht, Leute
auf die andere Seite des Fjords hinübergeworfen hat.

Die Lawinen können zuweilen so groß sein, daß sie den ganzen Fjord
füllen und Boote und was sie sonst auf ihrem Weg antreffen, unter sich
begraben.

Einmal konnte sich ein Dampfer nur mit knapper Not retten. Als
die Leute die Lawine kommen hörten, suchten sie unter Volldampf
zu entkommen. Im letzten Augenblick gelang es ihnen auch. Nur das
Achterende und ein Stück des Decks bis zur Kajütentreppe wurden mit
Schnee angefüllt. Im Nu war der ganze Fjord voller Schnee, und wäre der
Dampfer nur einige Schiffslängen zurück gewesen, so wäre er begraben
worden und wohl niemals wieder an die Oberfläche gekommen.

Eine große Lawine war kurz vor meiner Ankunft in dem Fjord
niedergegangen, und man bekam ordentlich Respekt davor, wie sie dort
lag und sich weiß leuchtend von den dunkeln Bergwänden an den Seiten
und dem schwarzen Wasser darunter abhob.

In Gudvangen zeigten sie mir auch einen großen Block, der vom Gebirge
herabgekommen war. Er hatte sich zu oberst auf dem Kamm losgelöst und
war in drei Sprüngen herabgesaust. Beim zweiten Sprung war er wie eine
Kanonenkugel quer durch beide Wände eines Hauses hindurchgegangen, mit
einer solchen Geschwindigkeit, daß die Löcher, die er geschlagen hatte,
nicht größer waren als er selbst. Beim dritten Sprung fuhr er durch
Dach und Wand eines andern Hauses, schlug eine Frau tot und eine zweite
zuschanden und bohrte sich dann in die Erde ein, wo er noch lag.

Von Gudvangen ging es mit dem Dampfschiff am sternklaren Abend durch
den Näröfjord und weiter nach dem Lärtal.

Am nächsten Morgen früh fuhr ich bei mäßiger Schneeschuhbahn durch das
Lärtal hinauf. Das Wetter war ganz gut, aber der Schnee war schlecht,
und der Weg wurde bald ganz schwarz, so daß ich die Schneeschuhe tragen
mußte. Auch hier ist es eng und wild, aber nicht so wie im Närötal.
Hier und da waren Lawinen niedergegangen, die nun weißleuchtend unten
an den Berghängen lagen.

Im Verlauf des Vormittags ließ ich mich bei einem kleinen Bach am Wege
nieder, holte den Proviant hervor und begann zu frühstücken. Eine tiefe
Schlucht durchschnitt die jähe Bergwand bis zum Gipfel hinauf. An den
gewaltigen Schneemassen konnte ich erkennen, daß eine große Lawine
niedergegangen war.

Wie ich eben in die Umgebung vertieft dasaß, dem Getöse des Wasserfalls
lauschte und an den Sommer dachte, da man mit der Angel am Fluß entlang
gehen konnte -- es gab hier so schöne Fischgumpen -- wurde ich von
einer gellenden Stimme aus meinen Träumen geweckt.

„Du bist wohl nicht recht bei Trost, dich hierher zu setzen, gerade
unter eine Lawine?“

Ich fuhr auf. Ein Bauer kam in schneller Fahrt auf einem Schlitten
vorüber.

„Ach, es wird wohl nicht so gefährlich sein.“

„Nicht gefährlich? O ja, es ist schon manchem hier schlecht gegangen.
Kommen die Lawinen herunter, dann füllen sie das ganze Tal.“

„Man hört wohl, wenn sie kommt, und kann dann flüchten?“

„Hören, wenn sie kommt? Mann, das geht so schnell wie ein
Büchsenschuß.“

Wie ich noch darüber nachdachte, kam wieder einer gefahren. Er trieb
das Pferd an und rief mir zu, ich möge sehen, daß ich weiterkomme.

Weiter oben traf ich einige Männer, die mir erzählten, die Schlucht
heiße Saueskluft und sei wegen ihrer Lawinen, die den ganzen Talgrund
sperren können, die gefürchtetste Stelle im Lärtal. Sie kämen vom
Gipfel herab und wüchsen durch den Schnee, der von beiden Seiten
herabstürze, und auf ihrem langen Weg könnten sie eine unheimliche
Größe erreichen. Was ich da sah, war nur der erste Absturz, der den Weg
für das ebnete, was nachkommt und das nun zu erwarten war. Da würde ich
etwas ganz anderes zu sehen bekommen.

So marschierte ich denn weiter. Bald konnte ich die Schneeschuhe wieder
anschnallen, und es ging nun schnell durch die wilden Gebirgsschluchten
hinauf. Der Fluß tief unten war mit Eis bedeckt, unter dem er einen
ruhigen Lauf hatte. Um die offenen Löcher herum und von Loch zu Loch
gingen Otterfährten. Hier lebt der Otter sommers und winters. Man
erschauert, wenn man in diese schwarzen Löcher hinabsieht und sich
vorstellt, man solle untertauchen und in diesem kalten Wasser leben.
Aber dem Otter geht es gewiß ganz gut, Fische gibt’s hier genug.

Auf einmal höre ich ein munteres lautes Zwitschern. Erstaunt sehe ich
mich um. Gibt es hier auch Vögel? Jetzt derselbe Klang wieder. Nicht
von den Bergwänden herab, nein, von unten her. Da fliegt wahrhaftig der
Sänger das Eis entlang, und nun taucht er mitten in den wilden Fall
hinein. Das war die Wasseramsel. Ihr ist das Leben nie zu schwer,
außer wenn der Fluß zufriert und sie kein offenes Wasser mehr findet.

Weiter oben, nach Borgund zu, beginnt sich das Tal zu weiten. Nachdem
ich an Huse vorübergekommen war, bog ich bei Vindhellen in den alten
Weg ein, der in steilen Windungen aufwärts führt, dafür aber viel
kürzer ist.

Über einen Felsrücken geht es an der andern Seite wieder bergab. Man
kann hier weit in das schöne Borgundtal hineinsehen; unten rechts liegt
die alte Holzkirche von Borgund, die neue Kirche unmittelbar neben ihr.
Sie ist schön im Sommer, aber schöner noch ist sie anzusehen in dem
weißen Winter, wenn ihre vielen Giebel und Dächer mit Schnee bedeckt
sind.

Es war schon längst dunkel geworden, als ich gegen sieben Uhr in Burlo
anlangte und die langen steilen Höhen zum Filefjell hinaufstieg.
Der Weg war schwierig. Die Beine, die noch nicht recht geschmeidig
waren, machten sich auch bemerkbar, und ich war den Tag über auf der
schlechten Bahn nicht wenig gegangen. Doch hatte ich es mir in den Kopf
gesetzt, die Nacht in Breistölen zu schlafen, und da mußte ich eben
gehen, bis ich dorthin kam.

Ich band die Schneeschuhe zusammen und zog sie hinter mir her. Wenn
nichts andres, so war es doch eine kleine Abwechslung, sie nicht mehr
beständig an den Füßen zu haben.

Bald begann die Bergweite sich vor mir auszubreiten, während hinten das
Tal im Dunkel lag. Über mir flimmerte der Sternhimmel und warf einen
unsichern Schein über die Berge. Die Nacht war still, kein anderer Laut
war zu hören als meine eigenen Schritte im Schnee.

Wie ganz anders war es doch, als ich im letzten Winter an Weihnachten
hier wanderte; es war just um dieselbe Tageszeit. Jetzt dieser tiefe
Friede. Man sieht geradezu in den Weltenraum hinein. Damals Sturm und
Schneetreiben, das ganze Bergland im Gestöber, so daß man nur ein paar
Armlängen weit sehen konnte. Der Gegenwind war so stark, daß man auf
den Schneeschuhen zurückgeworfen wurde; man mußte sie abschnallen,
um nur vorwärtszukommen. Der Hund jammerte und zitterte unter den
Windstößen.

Endlich erglänzten auch diesmal die Fenster von Breistölen lockend in
die Nacht hinein, und bald war ich unter Dach.

„Herrjesses, ist denn jemand noch so spät in der Nacht im Gebirge?“

„Jawohl, es ist einer da.“

„Ach nein, du bist’s? Du bist ja immer so spät unterwegs.“

Ich bekam Milch, und dann ging’s ins Bett. Es läßt sich nicht leugnen,
es gibt wenige Genüsse im Leben, die den übertreffen, sich nach einem
beschwerlichen Tag in einem guten Bett auszustrecken, nachdem man den
Durst gestillt und sich satt gegessen hat.

Am nächsten Morgen ging es über das Filefjell weiter nach Bjöberg.

Gerade als ich von Breistölen aufbrach, ging die Sonne auf und ergoß
ihre Röte über das Nebelmeer und die Berggipfel, die wie weißrote Zelte
aus dem Nebel aufragten. Das Tal, aus dem ich kam, lag ganz unter
den Nebelwogen verborgen. Über der Berglandschaft aber spaltete sich
der Nebel immer mehr und mehr, so daß die Sonne in breiten Streifen
durchdrang, während einzelne warmgetönte Nebelfetzen um die Gipfel
krochen.

Nun galt es, vom Westland Abschied zu nehmen. Nach Osten hatte ich nur
das weiße Hochland vor mir.

Wie ich in dieser Stille dastand, weckte mich auf einmal Lärm in
nächster Nähe; donnernd ging in dem Berge hinter mir eine Lawine herab;
der Rauch stieg zum Himmel an. Sie erreichte den Grund -- das Echo
erstarb im Schnee -- nur einige feine weiße Schneewolken umschwebten
noch die Bergwand.

Ich setzte meinen Marsch fort. Es war richtiges frisches Winterwetter.
Die Sonne glitzerte in Tausenden von Eisnadeln. Ringsum erhoben sich
die kuppelförmigen Berge in weißer Pracht. Alles lag im Sonnenlicht,
alles war glänzend weiß. Nur hier und da zogen schwarze Wolkenbüschel
um einzelne Berggipfel, während sich der Himmel darüber hellblau und
fleckenlos wölbte.

Ich fuhr über Bergrücken und Gipfel. Es war gerade kein kurzer Weg,
aber man konnte auf den Schneeschuhen stehen, und das war ja die
Hauptsache.

Um die Mittagszeit erreichte ich Bjöberg. Dort waren zwei Jäger aus dem
Lärtal auf der Schneehuhnjagd, und nach dem, was man auf dem Söller des
Hauses sah, war kein Mangel an Schneehühnern. Die Männer saßen, als
ich ankam, gerade bei Tisch und genossen offenbar das Leben, wie es
Jäger zu tun pflegen. Ich wurde sofort herzlich eingeladen, mit ihnen
zu speisen; dazu brauchte es keine große Überredung. Das Mahl war
freilich nicht zu verachten: frischer Renntierbraten von Fleisch, das
seit dem Herbst unter dem Schnee gelegen hatte und so frisch war, als
sei das Tier erst gestern erlegt, und dann mehrere andere Gerichte. An
Getränken fehlte es auch nicht; es gab Bier, Schnaps, Milch, Rotwein,
Sherry. Als wir den Durst gestillt und uns satt gegessen hatten, kamen
Kaffee und Zigarren. Und wahrhaftig, da brachte der alte Knut Bjöberg
aus dem Keller auch noch Curaçao herbei.

Das war eine andere Bewirtung als im vorigen Winter. Damals kam ich
auch auf Schneeschuhen mit einem Hund daher. Als ich in die Küche trat,
stand dort Bjöberg. Er sah mich von der Seite von oben bis unten an und
schielte nach dem Hund.

„Kann ich etwas zu essen bekommen?“ fragte ich.

„Dort kannst du dir nehmen“, antwortete er und zeigte auf den Tisch, wo
eine halbgeleerte Schüssel mit Grütze und etwas saure Milch in einem
Topfe stand. Ich sah die Schüssel an und sagte langsam:

„Ich bin ja gerade kein Kostverächter, aber wenn es angeht, möchte ich
doch am liebsten etwas Fleisch haben.“

Da warf mir Bjöberg einen scharfen Blick zu und fragte:

„Kannst du denn das Essen auch bezahlen?“

Ich erwiderte: „Freilich will ich bezahlen!“ Und da bekam ich denn
etwas gekochtes Fleisch.

Er hielt mich für einen Landstreicher, für deren Beköstigung sie auf
diesen Berghöfen vom Staate Bezahlung erhalten. Es konnte ja nicht
anders sein, wenn einer in der Winterszeit hier auf Schneeschuhen
daherkam, den Rucksack auf dem Rücken und mit so einem Hund! Aber jetzt
hatte der alte Bjöberg-König eine andere Ansicht von mir bekommen. Er
wußte gar nicht, was er alles mit mir anstellen sollte.

Ja, es war ein gemütlicher Mittag. Es ist eigentümlich: wenn Jäger
zusammenkommen, gibt es nicht viele Umstände; sie sind gleich gute
Freunde. Und manche Jagdgeschichte würzte das Mahl.

Die beiden Männer drangen immer mehr in mich, ich möchte dableiben
und mit auf die Schneehuhnjagd gehen. Flinte und Patronen sollte ich
erhalten, und schöne Hühner gebe es genug. Wahrhaftig, es gehörte
weniger dazu, ein Jägerherz in Brand zu setzen. Aber unterwegs begann
ich unschlüssig zu werden. War es nicht doch das beste, weiterzuziehen,
um zu dem Schneeschuhwettlauf zu kommen, den ich mir nun einmal in
den Kopf gesetzt hatte? Und so leid es mir tat, nahm ich Abschied von
diesen gemütlichen Menschen, dankte für all ihre Gastlichkeit und zog
weiter übers Gebirge nach dem Hemsetal zu.

Ich hatte mir’s in Bjöberg doch zu bequem gemacht. Es dämmerte schon,
die Sterne traten allmählich hervor, und der neue Mond stand im Süden
über dem Gebirge. Als ich an dem stillen Abend weiterwanderte, hörte
ich von der andern Seite des Tals herüber aus den Weidengebüschen das
Gack-gack-gack-gack der Schneehühner. Sie waren wohl dabei, sich für
die Nacht eine Unterkunft zu suchen.

So eine Bewirtung mag recht gemütlich sein, aber es fragt sich, ob sie
für den gut ist, der weiterwandern soll. Ich habe sonst eine gute
Lebensregel: Trink nicht viel und rauche nicht, wenn du einen langen
Weg vor dir hast. Heute hatte ich beides getan. Aber ich fühlte es auch
wie Blei in den Gliedern.

Es war spät, als ich Tuf im Hemsetal erreichte. Da ich entschlossen
war, am selben Abend noch weiterzukommen, um wenn möglich am nächsten
Tag Gulsvik zu erreichen, wollte ich hier am liebsten ein Pferd haben.

Die Lampe unter dem Balkendach erleuchtete matt den großen Raum, in
den ich trat. Um den Tisch herum saß eine ganze Gesellschaft, meist
Pferdehändler, die Karten spielten. Man schlug auf den Tisch, und das
Geld klirrte. Ich wurde sogleich eingeladen mitzutun, zog es aber
vor, weiterzukommen. Es gab saure Gesichter, daß man so spät noch
heraussollte; aber ein Pferd bekam ich. Die Fahrt in dieser sternklaren
Nacht war etwas kalt, leicht angezogen und müde wie ich war. Aber ab
und zu ein Dauerlauf half darüber hinweg.

Endlich blinkt ein Licht durch den Wald. Wir biegen auf einen Hofplatz
ein und sind an der Poststation Kleven. Mitternacht ist schon vorüber.
Alle Leute schlafen. Wir donnern gegen Türen und Fenster, erhalten aber
keine Antwort. Endlich werden einige Mägde wach. Licht wird angezündet.
Aber auch hier ist alles von Pferdehändlern besetzt, die ostwärts auf
die Märkte reisen. Nach einigen Unterhandlungen läßt sich doch noch
Unterkunft schaffen, und ich erhalte ein Bett und ein Fell.

Am nächsten Morgen gegen neun Uhr ging es wieder auf Schneeschuhen das
Hemsetal hinab. Die Berglehnen stiegen zu beiden Seiten gleichmäßig an.
Der Fichten- und Kiefernwald stand frisch und schön unter der Last
des Schnees. Da und dort lagen oben auf den Hängen Sennhütten in den
weißen Almwiesen, und im Talgrund murmelte der Fluß geschützt unter dem
Eis. Wie winterstill es war! Ja, nun bin ich zum norwegischen Winter
zurückgekehrt. Das Herz jubelt.

Dort ist ja bereits Rolfshus. Vielleicht ist es möglich, heute noch die
siebeneinhalb Meilen bis Gulsvik zurückzulegen. Es ist erst halb elf
Uhr; anderthalb Meilen in anderthalb Stunden, das verspricht Gutes. Mit
neuem Mut geht es durch das Hallingtal nach Nes.

Hier bekam ich ein kräftiges Mittagessen und hielt eine Stunde Rast,
dann ging’s die vier Meilen nach Gulsvik weiter.

Der Schnee fiel in weichen, dichten Flocken. Ich hatte Angst wegen
der Bahn. Die Schneeschuhe blieben schon etwas haften, aber es ging
vorwärts, und solange kann man ja zufrieden sein.

Spät in der Nacht kam ich endlich müde und durstig nach Gulsvik. Aber
nun war ich bald am Ziel: nur noch die vier Meilen über den Krödersee
und morgen mittag mit dem Zug weiter. Dann kann ich am Sonntag ausruhen
und mich für den Schneeschuhlauf am Montag etwas üben.

Ein paar Liter gute süße Milch, wie köstlich das schmeckt! Gibt es
wohl etwas Besseres? Und dann zu Bett gehen und die müden Glieder mit
Wohlbehagen in den Wolldecken ausstrecken!

Am nächsten Morgen war wieder klares Wetter. Die Sonne schien, als
ich um neun Uhr von Gulsvik aufbrach. Ich dachte an den Ringnesrücken
mit seinen lockenden Höhen. Aber die Zeit war zu knapp, um noch
den Dreiuhrzug zu erreichen. Deshalb war es am besten über das
Eis zu fahren; auf den Schneeschuhen ging es darüber in größter
Geschwindigkeit.

    Schimmernd weiß lag der Krödersee
    Unter den steilen Birkenhalden.

Und dann oben rundherum die Fichtenhänge und hoch über dem Ganzen der
weiße Noreberg. Ja, hier ist es schön, winters und sommers!

In Ringnes war ich gegen zwölf Uhr, und da es von dort noch eine Meile
bis Olberg ist, mußte ich mich beeilen. Von neuem ging es weiter, was
Glieder und Schneeschuhe nur leisten konnten, und in weniger als einer
Stunde war ich in Olberg. Ich hatte noch mehr als zwei Stunden bis zum
Abgang des Zugs und nur noch eine Meile zu laufen. Ich konnte bequem
einkehren und eine Weile ruhen.

Als ich in der Sofaecke saß, war die Versuchung zu stark. Es war
vielleicht doch gut, die letzte Meile zu fahren, und im Pelze des
Posthalters, die Schneeschuhe hinter mir, den Hund vor mir, sauste ich
im Schlitten in scharfem Trab übers Eis nach dem Bahnhof.


Von Kristiania zurück nach Voß.

Die Schlittenschellen klingelten munter in die Nacht hinaus. Vor mir
erstreckte sich das Krödereis blank in das Dunkel hinein. Hoch oben
strahlten die Sterne. Die Gedanken gingen im Takt mit den Schellen,
während ich im Schlitten saß.

Die Hauptstadt und ihr Lärm lagen hinter mir; es ging wieder hinauf in
die freien Berge. Die Tanzmusik des letzten Abends summte und hüpfte
noch in den Ohren.

Welcher Wechsel! Am Ufer des Krödersees unter den dunkeln Höhen
blinkten freundliche Lichter aus Höfen und Hütten in die Nacht hinein.
Welcher Friede! Wie still und ruhig fließt das Leben an diesen
Berglehnen dahin. In der Stadt dagegen....

Schwapp, schwapp, das Pferd trat durch die brüchige Eiskruste. Ich
schreckte aus meinen Gedanken auf, fuhr schärfer zu, und flott ging es
bald über Glatteis, bald über Krusteneis nach Olberg.

Am nächsten Morgen im Schlitten weiter über den Krödersee. Wie rasch
sich alles verändert! Als ich vor etwa anderthalb Wochen diesen Weg
kam, herrschte hier strenger Winter, und alles war weiß. Schwer lag der
Schnee im strahlenden Sonnenschein auf Wald und Busch. Jetzt aber war
alles schwarz und traurig, nur hier und da vereinzelte weiße Streifen.
Die Bäume standen nackt, die Dächer der Hütten waren ohne Schnee, das
Eis blank und naß, die Luft dunkel und regenschwer, und die Höhen mit
dem feuchten Nebeldach, wie waren sie düster und schwermütig! Der
lichte, frische Winter war verschwunden.

Das war wenig versprechend für den, der die Schneeschuhe gebrauchen
wollte....

Doch es wird sich schon machen. Auf den Höhen liegt Schnee --, und
schnell ging es das Hallingtal hinauf auf der gewölbten, blanken
Straße, wo es oft recht schwer war, den Schlitten in der Mitte des
Wegs zu halten, ohne in die Gräben zu geraten.

Lange Strecken konnten wir den Fluß hinauffahren; dort lag blankes
Schlittschuheis. Mehr und mehr ärgerte es mich, daß ich die
Schlittschuhe nicht mitgenommen hatte. Sicher hätte ich fast den ganzen
Weg vom Bahnhof über den Krödersee und den Fluß hinauf bis weit hinein
nach Ål laufen können. Das wäre eine lange Schlittschuhfahrt geworden.
Doch -- -- da trat das Pferd durchs Eis -- -- ein Ruck in die Zügel,
nach links, und wir waren geborgen. Man muß gut aufpassen. Nach dem
langen Tauwetter ist das Eis mit seinen Löchern jetzt heimtückisch.

Schon begann es zu dämmern, als wir am Nachmittag Nes erreichten. Aber
ich wollte noch die zwei Meilen bis Rolfshus zurücklegen und gern
die steifen Glieder wieder geschmeidig machen. Deshalb nahm ich die
Schneeschuhe auf die Schulter und marschierte weiter.

Es war dunkel, und der Weg war glatt und beschwerlich zu gehen. Vom
Fluß her vernahm ich den Lärm des Eises, dazu Rufe und Gelächter.
Schlittschuhläufer amüsierten sich offenbar gut, und auch die
Dunkelheit hatte sie nicht nach Hause getrieben.

Bald kam ich an einem Gehöft vorüber -- es mochte irgendeinem Beamten
gehören -- und hörte die gebietende Stimme einer Hausmutter ins Dunkel
hinausrufen: „Na, kommen sie noch nicht?“

Und eine Mädchenstimme antwortete im Hallingdialekt: „Nein, ich habe
mich schon heiser geschrien, aber sie wollen nicht gehorchen.“

Da stand die Kindheit mit einem Male lebendig vor mir. Ja, wenn das Eis
blank auf Fluß und Teich lag, war es nicht leicht, uns nach Hause zu
unsern Schularbeiten zu bringen....

Der Freitagmorgen brachte klares Wetter und einige Grade Kälte. Von
Rolfshus aufwärts lag soviel Schnee am Straßenrand, daß ich die
Schneeschuhe benutzen konnte.

Ich stand vor der Entscheidung: sollte ich wieder den Weg durchs
Hemsetal und über das Filefjell einschlagen? Das war ja das Sicherste,
aber auch etwas zu zahm. Nein, dann lieber durch Ål und über die
Hallingberge. Das Wetter lockte. Sicher gab es im Gebirge gute Bahn,
und man hat ja die Wahl zwischen drei Übergängen: über den Gjeiterücken
nach Aurland hinunter, oder über Nygard nach Eidfjord in Hardanger,
oder auch den längeren Weg über Vosseskavlen nach Voß hinab. Einer
davon mußte doch möglich sein...

Nach Sundre kam ich kurz nach Mittag; ich sprach hier mit dem
Posthalter, welcher Weg wohl der beste sei, doch müsse ich morgen
jenseits des Gebirges sein. Das sei unmöglich, meinte er; er war bloß
den Weg über Nygard nach Eidfjord gegangen; aber ich könnte Nygard
heute nicht erreichen, denn bis dahin seien es fünf Meilen, ich müsse
warten.

Nein, das dauerte zu lange. Dann wollte ich lieber nach Gudbrandsgard
fahren, dem höchsten Gehöft des Bezirks nach Sogn und Voß zu. Bis dahin
waren es vier Meilen, und von dort aus kam ich morgen wohl wenigstens
bis nach Aurland in Sogn, vielleicht sogar nach Voß. Dort war aber
der Posthalter nicht bekannt, und nie hatte er gehört, daß jemand im
Winter diesen Weg eingeschlagen hätte. Er glaubte auch nicht, daß
es ginge. Ich meinte, ich wolle es versuchen. Dann war es aber das
beste, ein Pferd bis Nerål, der letzten Station im Tal, zu nehmen,
um Gudbrandsgard vor Einbruch der Nacht zu erreichen und am nächsten
Morgen in aller Frühe aufbrechen zu können.

Ein Pferd bekam ich, und schnell genug ging es bis Nerål über das
blanke Eis der vielen Seen. Von dort mit frischem Pferd weiter nach
Gudbrandsgard. Aber nun war es spät am Nachmittag geworden, und es
dämmerte schon. Die Straße war gewölbt und vereist. An vielen Stellen
geht es durch enge Schluchten, die Bergwand an der einen, den Abgrund
und den Fluß auf der andern Seite. Man mußte vorsichtig fahren.

Diese Straße war vielleicht die, die König Sverre im 12. Jahrhundert
nach seinem Marsch übers Gebirge von Voß her mit seinen Anhängern, den
Birkenbeinern, gekommen war...

Der Weg wurde schlechter. Es war stockdunkel. Über den Bergen schien
sich ein Unwetter zusammenzuziehen. Das versprach für morgen nichts
Gutes.

Endlich waren wir auf dem Sundalsfjord, und in scharfem Trab ging es
nach Gudbrandsgard.

Ich trat in eine große gemütliche Stube. Auf dem Herd flammte ein
Scheiterhaufen harzigen Kiefernholzes. Sie hatten sich schon schlafen
gelegt, waren aber gleich aufgestanden. Von den nahe der Decke
angebrachten Betten sahen einige fragende Gesichter herab.

Etwas recht Gemütliches und Warmes haben diese alten Hallinghöfe,
und gerade Gudbrandsgard ist einer von den echten. Wände und Dach
sind schwarz von Feuer und Rauch, aber sie würden nur verlieren, wenn
sie frisch gescheuert würden. Diese braunen Holzwände und dieses
rauchgeschwärzte Balkendach bergen Erinnerungen.

Ich zog einen Stuhl an den Herd und streckte mich behaglich aus. Der
Hund kroch dicht an das Feuer heran, starrte hinein und machte sich’s
recht bequem.

Ich plauderte mit dem Bauern über die Aussichten, morgen übers Gebirge
zu kommen.

„Ja, nach Aurland kommst du wohl hinüber. Im Gebirge ist jetzt gute
Bahn.“

„Ich möchte am liebsten über Hallingskei und Vosseskavlen nach Voß,“
wandte ich ein.

„Das wirst du wohl nicht schaffen. Ich bin in der Gegend nicht bekannt
und habe auch nicht gehört, daß einer den Weg im Winter gegangen ist.
Du willst doch nicht etwa allein dorthinüber gehen?“

„Im Herbst vorigen Jahres bin ich schon dort gegangen. Wenn ich
aber einen Begleiter kriegen kann, so möchte ich gern einen guten
Schneeschuhläufer haben, der die Gegend kennt.“

„Hier im Tal wirst du nicht leicht einen finden, der dich jetzt übers
Gebirge nach Voß begleiten wollte. Der einzige wäre Andres Myrestöle.
Er treibt Renntierzucht und Schneehuhnjagd und ist im Gebirg überall
gut bekannt. Wenn er dich nicht begleiten will, so ist gewiß kein
andrer aufzutreiben.“

Nach Myrstöl waren es fünf Viertelmeilen. Es lag gerade auf meinem Weg
bei Strandefjord. Das beste war, am frühen Morgen aufzubrechen und
dort vorzusprechen. Die Frau versprach, mich um ½3 Uhr zu wecken und
etwas Essen bereitzuhalten.

Wie groß war meine Überraschung, als ich Rahmgrütze auf dem
Frühstückstisch vorfand.

„Du mußt mit dem vorliebnehmen, was da ist,“ sagte die Frau. „Grütze
hält lange vor, und dann wird man nicht durstig davon.“

Ja wahrhaftig, ich nahm vorlieb, wenn auch nicht gerade, weil ich
jetzt im Winter im Gebirge den Durst fürchtete. Aber ich sollte die
Richtigkeit ihres Wortes, daß Grütze auch für den Durst gut sei, noch
bestätigen müssen.

Die braven Menschen! Wie gut sie es meinten, und als ich mich
verabschiedete, ermahnten sie mich dringend, vorsichtig zu fahren!

Dann ging es in die mondhelle Nacht hinaus. Die Bahn war gut, der
Schnee hart. Bevor ich das Tal verließ, mußte ich mehrere Male fühlen,
daß Mondschein für Schneeschuhläufer heimtückisch ist. Der Schnee
leuchtete in silbernem Glanz, wo nicht Abhänge und Vertiefungen dem
Mond abgewandt waren. In den wenigen zerstreuten Waldstrecken warfen
die Bäume lange Schatten. Die Berglehne im Süden lag im Dunkel.

Ich sauste eine lange Anhöhe hinab. Erst durch ein Wäldchen, dann aufs
offene Feld hinaus. Aber auf einmal lag der Weg wieder im Schatten.
Dichtes Gebüsch stand zu beiden Seiten. Bums! Die Schneeschuhspitzen
rannten gegen einen Schneebuckel -- und ich lag auf der Nase. Nun, das
war nicht das einzige Mal.

Allmählich ließ ich das Tal mit den Bäumen und Büschen hinter mir. Im
Westen lag die Bergweite wogend vor mir. Wohin das Auge schaute, war
Schnee, Schnee, weißer, schimmernder Schnee.

Schnell ging es vorwärts. Mein Schatten tanzte neben mir her. Ich kam
auf einen Bergrücken hinauf; vor mir breitete sich westwärts weit
hinaus die weiße Fläche des Strandefjords, und den Hang hinunter ging
es gerade auf ihn zu. Die Schneeschuhe hüpften über die Schneewehen wie
über erstarrte Wogenkämme; es ging mit rasender Geschwindigkeit. -- Nun
war ich drunten auf dem Eise und hatte nur noch eine halbe Meile bis
Myrstöl.

Bald meldete sich über der Bergreihe im Osten der Tag mit tiefstem
Feuerrot, das nach und nach stärker und heller wurde. Berge und
Schneeflächen empfingen einen seltsam unwirklichen blauvioletten
Schein. Aber noch schien der Mond und warf lange Schatten.

Da lag auch schon Myrstöl. Ich ging um das Haus herum, um den Eingang
zu finden. Es sah ganz so aus wie ein Stall. Ich klopfte, man
antwortete, und ich öffnete die Tür. Ich sah in einen Raum mit Feuer
auf dem offenen Herd, einige Frauen standen dort. Ein scharfer Geruch
von Kühen schlug mir entgegen, und ich hörte die Tierlaute aus dem Raum
nebenan und aus dem Raum unter der Diele. Ein solches Zusammenleben von
Mensch und Vieh unter einem Dach hatte ich noch nie gesehen. Aber es
gab Wärme, und Holz war spärlich, so tief im Gebirge.

„Guten Morgen, ist der Bauer zu Hause?“

„Nein, er ist bei Sennhütten jenseits des Fjords. Sie sind dabei,
Renntiere zu zeichnen.“

Das Glück ist ein launischer Vogel. Die Renntierherde, die sie hier
halten, hatte ich nicht in Rechnung gesetzt.

„Wie weit ist es bis dahin?“

„So eine halbe Meile Wegs wird’s wohl sein.“

Hm, bis Voß waren es wohl sieben oder acht Meilen. Da noch zwei halbe
Meilen zuzulegen, war etwas viel. Ich mußte sofort weiterwandern.
Aber etwas Proviant und eine Schachtel Streichhölzer hätte ich gern
mitgehabt.

„Hast du etwas Proviant für mich zum Mitnehmen?“

„Da kann wohl Rat geschafft werden, wenn du mit dem vorliebnehmen
willst, was wir haben. Aber wohin willst du denn? Du willst doch nicht
etwa jetzt allein durchs Gebirge gehen?“

Jawohl, daran hätte ich gedacht, und die Bahn wäre im Gebirge jetzt
wohl gut.

„Ja, das ist sie, und wenn du den Weg kennst, so sind es nur drei
Meilen bis Aurland. Aber die Tage sind kurz, und es kann schwer werden,
bis zum Abend ans Ziel zu kommen.“

Nein, diesen Weg kenne ich nicht. Ich wollte über Hallingskeid,
Gröntalsee und über den Skavlen ins Rauntal hinab.

„Nein! Hat man so was gehört, +den+ Weg jetzt zu gehen! Wo soviel
Schnee im Gebirge liegt!“

Um so besser sei es, meinte ich, dann gäbe es doch gute
Schneeschuhbahn.

„Aber du kommst heute nicht hinüber, und was willst du dann tun?“

Darüber wollte ich unterwegs nachdenken. Sehe es allzu gefährlich aus,
dann könnte ich ja immer noch nach Aurland hinabfahren. Aber auf alle
Fälle möchte ich etwas Proviant mitnehmen.

„Und dann könntest du mir eine Schachtel Streichhölzer geben,“ sagte
ich zu dem jungen frischen Mädchen, das neben mir stand.

„Die sollst du haben,“ sagte sie und mit schelmischem Lächeln in den
Augen fügte sie hinzu: „Aber dann mußt du mir auch versprechen, nicht
übers Hochgebirge zu gehen.“

Das konnte ich nicht versprechen, so leid mir’s tat. Aber vorsichtig
fahren wollte ich und alles gut überlegen, wenn ich auf den
Gjeiterücken kam. Damit gab sie sich zufrieden, und ich erhielt die
Schachtel Streichhölzer, die mit einem Stück Käse und einigen Laiben
Fladenbrot in den Rucksack gestopft wurde. Dann verabschiedete ich mich
und fuhr wieder auf dem Eise weiter. Der Mondschein war vor dem Tage
verblichen.

Ich befand mich gerade am Ende des Strandefjords und wollte eben die
langen Hänge zum Gjeiterücken hinauf, der Wasserscheide zwischen
Hallingtal und Aurland -- da ging die Sonne auf, und ein Strahlenquell
ergoß sich über die Berge.

    „Was ist so klar wie das Licht, so rein wie der Morgengedanke?“

Ich zog durch das Tal, das sich gleichmäßig ansteigend aufwärts
windet. Die letzten Sennhütten lagen bald hinter mir. Es ging über ein
zugeschneites Gebirgswasser nach dem andern. Tief unter dem Schnee
brummte der Fluß.

Dann stand ich an der Wegscheide. Nun galt es Aurland oder Vosseskavlen.

Gerade vor mir eine weite Ebene. Draußen am Rande verschwanden die
Berge. Dort ging es abwärts nach Sogn zu. Auf diesem Wege konnte ich
das Tal schnell erreichen. -- Ich wandte mich um: weiß und lockend
breitete sich die Bergweite, Gipfel an Gipfel, wie ein Lager weißer
Zelte bis zum Himmelsrand, blaßrot und klar.

Weshalb den Umweg um Aurland und nicht geradeaus? Hatte ich früher in
Nebel und Regen hinübergefunden, so mußte ich doch jetzt bei klarem
Wetter und guter Schneeschuhbahn wohl auch ans Ziel kommen. Ging es
heute nicht, so ging es morgen, und Unterkunft konnte ich in den
Sennhütten von Hallingskeid oder in der Gröntalalm finden, und im
übrigen ist der trockene Schnee warm genug, wärmer als eine harte
Steinplatte im Herbst, wenn man bis auf die Haut durchnäßt ist.

Ich kam zu der heuschoberähnlichen Kuppel des Såta, die auf
dem Bergrücken gerade da liegt, wo die Täler von beiden Seiten
zusammentreffen. Man kann sie von weither sehen, und sie ist im Sommer
eine gute Wegmarke.

Dort lag in alten Zeiten zwischen zwei großen Blöcken die Hütte eines
englischen Lords. Es gab viele Renntiere, und manche schöne Tiere
wurden hierhergebracht, aber auch manche Saumlast Getränke aus dem
Tale. Die Hütte ist vergessen, das Dach eingestürzt; nur die niedrigen
Steinwände stehen noch. Doch jetzt ist alles tief unter dem Schnee
begraben, und kein lebendes Wesen streift hier vorüber, außer den
Renntieren.

Dort waren frische Fährten einer großen Herde. Wie sie den Schnee
aufgewirbelt hat, während sie davongejagt ist, soweit das Auge reicht!
Dort verlieren sich die Fährten in einem Seitental.

Wie der Wind ging es immer bergab über den hartgefrorenen Schnee auf
den kilometerlangen Abhängen. Viele Wochen lang hatte der Sturm den
Schnee fest zusammengepackt. Das Tauwetter hatte eine dünne Kruste
darübergelegt, und über diese war noch eine dünne Schicht losen Schnees
gekommen. Eine bessere Bahn konnte sich ein Schneeschuhläufer nicht
denken. Es ging fast von selbst, und ich konnte mich vom Wind, den ich
im Rücken hatte, treiben lassen. Zuweilen ging’s über lange flache Seen
zwischen den Bergen, dann wieder über lange Abhänge und durch jähe
Schluchten.

Aber was war das dort für eine Fährte? Wölfe, drei Wölfe! Es ist der
schlimmste Feind des Renntiers, und vor ihm waren sie wohl am Såta
mit solcher Geschwindigkeit geflohen. Die Wölfe scheinen zuzunehmen.
Voriges Jahr haben sie von der Herde zahmer Renntiere beim Strandefjord
drei Stück geholt, dieses Jahr bereits fünf.

Ich hatte darauf gerechnet, daß ich um vier Uhr auf der Höhe des
Vosseskavlen sein und bei Tageslicht ins Rauntal hinabkommen könnte.
Brach die Dunkelheit herein, dann mochte es schwierig genug werden,
sich hinabzufinden. Es war schon über zwei Uhr, und noch war ich
nicht bei den Hütten von Hallingskeid. Sie lagen mitten im Tal, und
ich konnte unmöglich vorübergekommen sein, ohne sie zu sehen. Gleich
hinterher sollte ich ja zum Gröntalsee mit Hütte kommen und dort zum
Vosseskavlen hinauf abbiegen.

Ich lief immer weiter, aber keine Hütte kam. Ich lief über einen See
nach dem andern; doch da ich kein Haus sah, kam es mir nicht in den
Sinn, daß einer von ihnen der Gröntalsee sein könnte. Zuletzt hatte ich
ihn im Herbst bei Regenwetter gesehen. Alle Berge ringsum waren schwarz
gewesen, nur Vosseskavlen im Südwesten hatte den weißen Kamm in das
Nebeldach hinaufgehoben. Jetzt war alles weiß in weiß, so daß ich ihn
nicht wiedererkannte. Ich mußte und wollte erst diese Hütten finden.

Es war schon nach drei Uhr -- es ging stark auf vier. Die Hoffnung,
noch heute hinüberzukommen, begann zu schwinden. Ich mußte sehen, die
Hütten zu erreichen und dort zu übernachten. Dort war wohl vom Herbst
her noch etwas Holz. Aber wo blieben sie nur? Sollte ich Zeit und
Entfernung so falsch berechnet haben?

Das Tal wandte sich ruhig weiter abwärts, und schneller und schneller
eilte ich ungeduldig vorwärts. Wieder war ich am Ende eines langen
Sees. Doch halt! Da vorn verlor ich den Grund unter den Füßen. Die
Schneewächte, auf der ich stand, hing über den Abgrund, und ich sah
unten keinen Grund. Hier war keine Möglichkeit, hinabzukommen. Der Fluß
schäumte und brauste unten durch eine enge Schlucht, jäh fielen die
Talwände ab.

War ich je zuvor hier gegangen? Nein, ich konnte mich nicht entsinnen.
Aber es mußte doch wohl so sein. Tal und Fluß gingen in dieser
Richtung, und ihnen mußte ich folgen, bis ich zu den Hütten kam.

Ich fand einen Abstieg. Er war sehr steil, und es galt sich
festzuhacken, den Stock in der einen, die Schneeschuhe in der andern
Hand.

Endlich war ich unten am Fluß. Doch hier stürzte die Talwand so scharf
zu den Wasserfällen ab, daß es schwer war, sich festzuhalten und nicht
in das schwarze Wasser drunten zu fallen. Ich stieß den Stock bis zum
Griff in den Schnee, und er hielt, wenn der Fuß den Grund verlor.

Da hing die Bergwand über den Fluß über. Hier mußte ich hinauf, wenn
ich vorwärts wollte. Es ging mir nicht in den Kopf, daß ich jemals hier
gewesen sein sollte, es konnte aber nicht anders sein; also kletterte
ich hinauf. Oben hing die Schneewächte über. Ich mußte den Stock so
weit innerhalb der Kante hineinstoßen, als ich nur konnte, dann die
Schneeschuhe daneben -- der Schnee war hart und hielt --, und dann galt
es, sich hinter diesen hinaufzuschwingen. Hierauf kam der Hund, der
auch hinaufgezogen werden mußte; damit war für dieses Mal uns beiden
geholfen.

Es kam nun wieder ein etwas flacheres Stück, und dann ging es mit
rasender Geschwindigkeit nach einem neuen See hinab. Als dieser
überwunden war, folgte wieder eine Schlucht, die noch schlimmer war als
die erste. Nach vielem Klettern kam ich auch hier vorüber und gelangte
an einen dritten See.

Nun ahnte ich aber doch allmählich ernstlich Unheil, wenn mir’s auch
nicht in den Kopf wollte, daß ich verkehrt gegangen sein sollte;
selbst der Anblick von Birken überzeugte mich nicht. Als ich aber am
Ende des Sees einen großen Birkenwald vorfand, dann auf einer Anhöhe
vor einer Schlucht von einer Tiefe von mehreren hundert Fuß stand
und in den dunklen Schlund eines engen, zu beiden Seiten mit Wald
bestandenen Tales hinabsah, da wurde mir klar, daß ich nach Sogn
hinabgekommen war und nicht mehr weit bis Kårdal im Flomstal haben
konnte. Aber das war doch nicht mein Weg, ich wollte ja über den
Vosseskavlen. Also umkehren! Ich mußte diese Nacht auf der Gröntalalm
Unterschlupf suchen.

Das Schlimmste war, daß ich nun wieder die Schluchten, die ich
herabgekommen war, hinauf mußte. War es aber herabgegangen, so kam ich
wohl auch wieder hinauf.

Die Dunkelheit brach schon herein. Es ging gegen sechs Uhr. Bleich
glitzerten die Sterne am blauen Gewölbe. Ich kletterte eine Bergwand
hinauf. Der Schnee war hart und glatt; trat ich hier fehl, dann ging
es direkt in den Wasserfall hinunter. Es wurde steiler und steiler;
dann aber hing die Schneewächte so über, daß ich über die Kante reichen
konnte. Stock und Schneeschuhe wurden fest eingerammt. Ich bekam am
Rande Halt für das eine Knie, und so schnell wie möglich zog ich mich
hinauf und war geborgen. Der Hund war glücklicherweise an einer andern
Stelle hinaufgelangt.

Bald befand ich mich wieder auf einem langen See. Alle Schwierigkeiten
waren überwunden. Jetzt galt es nur die Gröntalalm zu finden. Ich
erinnerte mich, sie lag am Uferrand, gerade unter einem Felsschrofen,
ich konnte sie also unmöglich verfehlen, wenn es auch dunkel war. Nur
die Sterne warfen einen schwachen Schimmer über die Schneefläche.

Über alle Seen aufwärts hielt ich mich am rechten Ufer und spähte
scharf aus, aber nichts anderes sah ich als Schnee und wieder Schnee
und hier und da schwarzes Gestein. Ein See nach dem andern kam -- eine
Almhütte fand ich nicht. Es war wie verhext. Ich mußte bald wieder im
Hallingtal sein.

Ich sah auf die Uhr. Ich konnte sie gerade noch erkennen, sie schien
½10 zu zeigen. Seit drei Uhr morgens waren wir unterwegs. Mochte es
mit der Alm sein wie es wollte; wir konnten auch da, wo wir waren, ein
weiches Bett finden, aber es ging ein beißender kalter Wind, und es
galt, sich vor ihm zu schützen.

Wo der Wind eine hohe harte Schneewehe an einem großen Blocke
zusammengetrieben hatte, grub ich mir ein Lager, zog eine Wolljacke
an, das einzige Kleidungsstück, das ich im Rucksack hatte, und schlief
sofort ein, den Sack unter dem Kopf, den Hund zusammengerollt neben mir.

Ich erwachte. Uff, war es kalt an den Beinen! Ich blickte empor und in
die Weite. Gewiß schien bereits der Mond über den Schneeflächen dort
oben. Ich konnte also ebensogut meine Fahrt fortsetzen.

Der Hund sah mich fragend an, rollte sich aber wieder zusammen. Er
hatte keine Lust, so früh aufzubrechen.

Es war drei Uhr. Ich lief auf und ab und stampfte mit den Beinen. Dann
wieder die Schneeschuhe angeschnallt. Ringsum leuchteten die Berge weiß
im Mondschein. Die Schattenseiten lagen in düsterem Halbdunkel.

Aber wo ging der Weg? Wer jetzt sehen könnte, was die Berggipfel da
oben von ihrer Höhe aus erblickten! Gestern abend mußte ich mich im
Dunkel in ein Nebental verirrt haben; dort schien es gerade aufzuhören.
Es war das beste, sich dessen zu versichern und dann auf demselben
Wege, auf dem ich gekommen war, zurückzugehen. Die Spur von gestern
mußte ich wiederfinden, wenn sie nicht verweht war.

Ich ging los und fand bestätigt, daß es ein Seitental war. Dann kehrte
ich nach dem letzten See zurück, über den ich gegangen war. Dort
waren Schneeschuhspuren. Ich sah mich um, eine Ähnlichkeit mit dem
Gröntalsee, so wie ich ihn in Erinnerung hatte, war wirklich vorhanden.
Die Berge schienen freilich etwas niedrig, aber dort auf der Südseite
erhob sich ja genau so ein steiler Fels wie über der Gröntalalm. Wo
aber waren die Häuser? Sie waren doch nicht etwa ganz eingeschneit?!

Am Fuße des steilen Felsens sah ich mich um. Da zeigte sich wirklich
eine Erhöhung. Ich stach mit dem Schneeschuhstock hinein und stieß auf
festen Boden. Ja, es war nicht unmöglich, daß da das Dach eines Hauses
war. Ich mußte hier ins Gebirge hinaufsteigen, und auf jeden Fall mußte
ich Umschau halten.

Ich stieg bergauf. Der Weg war steil und schwer zu gehen, und es
dauerte einige Zeit, bis ich den Gipfel erreichte. Aber welcher
Rundblick von dort oben! Unter dem ruhigen Glanze des Mondes breitete
sich die Bergweite nach allen Seiten wie ein erstarrtes Meer von weißen
Wellen, Rücken und Tälern mit Ebenen dazwischen -- und baute sich weit
draußen auf in Gipfeln und Gletschern, weiter und immer weiter, und am
äußersten Himmelssaume schwand alles in silbernem Schimmer. Der Schnee
leuchtete, die Firne glitzerten, die Täler aber lagen im Dunkel.

Nicht weit im Osten erhob der Hallingskarv seine gewaltige Masse.
Was dort im Süden blinkte, mußte der Hardangergletscher sein, dann
folgte wohl der große Osefirn. Im Westen aber erhob sich steil ein
hohes Gebirge mit einer ebenen Firnfläche auf dem Kamme, das mußte
Vosseskavlen sein. Gerade unter mir sank der Grund in das Dunkel hinab,
über mir wölbte sich der Himmel tiefblau mit Mond und Sternen.

Doch der Mondschein trügt. Es ist besser, den Tag zu erwarten und
Sicherheit über den Weg zu erhalten. Unterdessen kann man sich wieder
in den Schnee eingraben und einige Stunden schlafen.

Dann brach der Tag an, und es wurde so hell, daß ich deutlich sehen
konnte. Dort im Westen lag wirklich Vosseskavlen, darüber mußte ich
hinweg. Ich konnte also wieder hinabfahren und dann das Tal, das gerade
darauflos führt, entlang gehen; aber erst mußte ich etwas frühstücken.

Die Sonne kam, ein klarer Strahl drang durch den Raum und blitzte über
das Meer von Bergen. Die Gipfel erglühten. Ein wahrer Lichtstrom brach
herein.

Mit rasender Geschwindigkeit ging es ins Tal hinab, dann über einen See
nach dem andern zum Vosseskavlen. Nun fand ich mich wieder zurecht. Die
Hallingskeidalmen und die Gröntalalm waren offenbar ganz eingeschneit.

Endlich befand ich mich auf dem obersten Gebirgssee. Rundherum stiegen
die hohen Felswände auf. Überall lag schwerer Schnee; das gab einen
schwierigen Aufstieg, aber diesen Weg mußte ich gehen.

Schritt für Schritt kam ich aufwärts. Oft mußte ich in der harten
Schneewand Stufen treten und mich mit Stock und Schneeschuh festhacken.
Das Schlimmste waren die großen Schneewächten, und deren gab es
eine Menge. Da mußte ich mich am Schneeschuhstock über den Rand
hinaufschwingen. Der arme Hund! So lange es steil aufwärts ging, war
er auf seinen vier Beinen im Vorteil. Hing der Schnee aber über, dann
stand er ratlos da und begann zu winseln und zu heulen. Gewöhnlich fand
er aber bald irgendeine Stelle, wo er hinaufkommen konnte. Sonst mußte
ich mich oben auf den Bauch legen und ihn nachziehen. Ich mußte seinen
Mut bewundern; am Rande eines Abgrunds konnte er die Schneewand hinauf
die gewagtesten Sprünge machen; trat nur ein Fuß fehl, so mochte es
eine schlimme Reise in die Tiefe geben...

Endlich hatte ich das Schlimmste überwunden. Puh, war das heiß! Das
griff Arme und Beine an, und die Sonne briet. Ich empfand brennenden
Durst, und der Schnee labte wenig. Vor Freude darüber, so weit gekommen
zu sein, holte ich die Apfelsine hervor, die ich solange aufgespart
hatte. Sie war gefroren und hart wie eine Kokosnuß. Ich aß sie ganz,
Schale und Fleisch; mit Schnee gemischt war sie eine gute Erfrischung.

Am Rande des großen Gletschers, der sich nach dem Absturz zu
vorschiebt, wurden die Schneeschuhe wieder angeschnallt, und schräg
ging es die gleichmäßig ansteigende Fläche hinan.

Jetzt war ich oben. Der ebene Firn breitete sich vor mir. Im Westen
blitzten in weiter Ferne die Gipfel nach Voß zu, im Süden und Südosten
das Hardangergebirge mit dem Gletscher und der Osefirn, und hinter mir
hoben sich die schweren Formen des Hallingskarv vom Himmelsrande ab.
Unter mir sah ich den Gebirgskessel, den Bergsee und das Tal, durch das
ich heraufgekommen war. Welch frohes Gefühl, die Hindernisse überwunden
zu haben! Nun gab es keine mehr; nun nur noch bergab, den ganzen Weg
bis Vossevangen.

Hier über diese Berge muß, nach der geschichtlichen Überlieferung,
König Sverre irgendwo mit seinen Mannen, den Birkenbeinern, vor mehr
als 700 Jahren (1177) im November gezogen sein, als er sich vor dem
Feinde das Rauntal hinauf zurückziehen mußte.

„Da nahm König Sverre fünf Führer, die den Weg am besten kannten. Das
war aber auch notwendig, denn das Wetter wurde so schlimm, wie selten
geschieht. Es fiel unerhört viel Schnee... Sie verloren dort 120 Pferde
mit goldenen Sätteln und Zäumen, allerhand Kostbarkeiten, Mäntel,
Waffen und viele andere gute Dinge.“

Das alles hört sich nicht unglaubwürdig an. Für Pferde ist hier ein
schlechter Weg. Schlimmer wird es, wenn es weiterhin heißt:

„Dazu kam, daß sie nicht wußten, wo sie zogen, und nicht einmal Wasser
bekamen sie. Acht Tage lang genossen sie nichts anderes als Schnee.
Am Tage vor Allerheiligen wurde das Wetter so schlimm, so unerhört es
auch klingen mag, daß ein Mann davon den Tod fand, als das Wetter ihn
niederwarf und ihm an drei Stellen das Rückgrat brach. Wenn die Böen
kamen, blieb einem nichts anderes übrig, als sich in den Schnee zu
werfen und die Schilde so fest wie möglich über sich zu halten.“

Das ist eine kräftige Schilderung. Aber wenig glaubhaft ist, daß
Männer, und noch dazu wegkundige Männer, acht Tage lang durch dieses
Gebirge gezogen sein sollen, ohne irgendwo eine bewohnte Stelle
zu finden, mochte das Wetter auch noch so schlimm sein. So etwas
passiert berggewohnten Leuten kaum. Schlimmer ist, daß sie, im Gebirge
angekommen, angeblich kein Wasser finden konnten, anfangs November,
wo es in jedem Bach rieselt. Aber es verhält sich ja so, daß, als die
Saga von Abt Karl Jonsson niedergeschrieben wurde, „König Sverre selber
aufpaßte und sagte, was geschrieben werden sollte“...

Ich ging über den Firn und stand bald auf der andern Seite, wo er
in ununterbrochener glatter Fläche anderthalbtausend Fuß nach dem
Kaldesee abfällt -- immer schroffer und schroffer. Der Schnee war vom
Winde glatt und hart zusammengepackt; hier und da gab es einige Wehen,
zuweilen etwas Harscht. Es konnte schwer werden für die Schneeschuhe,
die Richtung einzuhalten. Aber immerhin -- es ging weiter und mit immer
größerer Geschwindigkeit. Bald flog ich über Wellenkämme, bald wieder
über ebenen Grund. Ich versuchte, die Geschwindigkeit durch einige
Bogen zu mäßigen, doch das half wenig. Auf dem harten Schnee rutschten
die Schneeschuhe nur seitwärts aus; deshalb lieber die Beine zusammen
und geradeaus.

Ich erreichte das Eis, und eine weite Strecke ging es darüber hin.
Nach vollendeter Fahrt zitterte ich an allen Gliedern. Ich schaute
nach oben. Weit droben auf der Höhe arbeitete sich ein dunkler Punkt
abwärts. Das war der Hund, der mir schleunigst nachkam.

Die Bahn wurde immer schlechter. Man merkte die Nähe des Meers. Der
Schnee wurde mehr und mehr von einer glatten Eiskruste bedeckt, die
für die Schneeschuhe sehr schlecht war und auch für die Hand, wenn man
ihr zu nahe kam. Doch schnell ging es durch die enge Schlucht, die vom
Kaldesee zur Opsetalm hinabführt, der höchstgelegenen Alm im Rauntal.

Auf einmal stand ich vor einem Abgrund. Von allen Seiten ging es
schroff hinab nach dem Tale tief unter mir. Die Schneewächte rundete
sich glatt vornüber, und ich fuhr zurück. Es war nicht sicher, ob sie
trug. Gab es hier einen Abstieg? Es sah schlimm aus. Aber vielleicht
ging es in einer engen Schlucht, wo die Schneewächte nicht überhing;
vorsichtig stieg ich Schritt für Schritt ab...

Nun folgten nur noch lange schöne Abhänge und schließlich die lange
Lehne zur Opsetalm hinab. Da gab es eine bedenkliche Geschwindigkeit.
Die Schneeschuhe rutschten auf dem gefrorenen Schnee. Ich fiel und
bekam von dem Harscht einige schlimme Risse am Handgelenk.

So war ich denn im Rauntal, und auf birkenbestandenen Halden, wo
die Schneehühner aufflatterten, glitt ich nach Kleivene hinab, dem
höchstgelegenen Gehöfte der Gemeinde.

Wie durstig ich war! Ich glaube, Sverres Mannen konnten kaum durstiger
gewesen sein. Nichts in der Welt ging jetzt über ein paar Liter süße
Milch.

Ich erreichte das erste Haus. Keine Menschenseele daheim. Bis zum
nächsten Gehöft waren es mehrere hundert Schritt. Das war zu weit. Ich
nahm die Schneeschuhe ab, trat ins Haus und holte mir vom Milchschrank
einen großen Topf süße Milch; ich trank und trank und aß etwas dazu,
und auch der Hund bekam seinen Teil.

Wie ich so auf der Holzbank saß und mir gütlich tat, kam eine Schar
kleiner Mädchen hereingestürzt. Wie angenagelt blieben sie stehen, als
sie mich und den Hund erblickten. Eine Weile standen sie mit offenem
Mund. Ich sagte Guten Tag, bekam aber keine Antwort. Dann stürmten sie
davon, so rasch es ging. Ich muß schrecklich ausgesehen haben.

Nach einiger Zeit erschien eine Frau. Vorsichtig öffnete sie die Tür
und kam herein, blieb aber unschlüssig stehen. Hinter ihr glotzten
einige von den erschrockenen Mädchengesichtern. Ich nickte freundlich:

„Guten Tag, du mußt entschuldigen; ich habe mir von deiner Milch
genommen, aber ich war so durstig und konnte nicht warten.“

„Na, Gott sei Lob und Dank, daß du ein Christenmensch bist; wir
glaubten schon, du wärest ein Troll und dein Hund ein Wolf oder sonst
ein Ungeheuer. Einen so großen Hund haben wir noch nie gesehen.“

Ich hatte einen rotbraunen irischen Setter mit mir.

„Du brauchst dich nicht zu fürchten, er beißt ebensowenig wie ich.“

„Aber wie bist du hierher gekommen?“

„Ich komme über Vosseskavlen aus dem Hallingtal.“

„Nein, hat man so etwas gehört!“...

Sie hatten mich weit oben in der Birkenhalde, in eine Wolke losen
Schnees gehüllt, auf den Schneeschuhen kommen sehen, und dann in
weitem Abstand den Hund in einer andern Schneewolke. Ich war ganz
vollgeschneit und weiß gewesen. Darum hatten sie mich für einen
Berggeist gehalten, der einen Wolf bei sich hatte, und da waren sie
denn nach dem nächsten Gehöfte gelaufen, da nur Frauen zu Hause waren.

Es war auch weiter kein Wunder. Niemals war jemand zur Winterszeit dort
durch das Tal gekommen und selten des Sommers, und einen Hund so groß
wie einen gewöhnlichen Hühnerhund hatten sie noch nie gesehen.

Bald wurden wir gute Freunde, und ich bekam alles, was ich haben
wollte, Milch und Essen.

Ich war müde, und eine halbe Stunde Schlaf konnte gut tun. Ich warf
mich aufs Bett und schlief.

Um vier Uhr ging es weiter. Aber hier im Tal wurde es bald dunkel, und
die Bahn und der Weg wurden für Schneeschuhe bei der Glätte und den
Buckeln immer mehr unmöglich. Als ich Vold erreichte, hielt ich es
daher für das beste, ein Pferd zu nehmen und wenn möglich die letzten
zwei Meilen zu fahren.

Ich trat in eine große Stube mit Lehmboden, in der ein gewaltiges Feuer
auf dem Herde knisterte. Ich wünschte Guten Abend und fragte nach einem
Pferd.

„Ja, das kannst du schon haben, aber doch nicht heute abend?“

„Doch,“ sagte ich, „ich möchte die Nacht in Vossevangen sein.“

„Nein, du, das laß bleiben, bei solcher Bahn und in solcher Dunkelheit
kann man nicht nach Vangen fahren. Der Weg geht gewölbt und vereist
neben dem Abgrund. Beim Sverresteig ist es am schlimmsten, dort ist es
schon am Tage schlecht genug.“

Ich blieb bei meinem Entschluß. Ich wollte noch am Abend ans Ziel
kommen. Konnte ich kein Pferd erhalten, so würde ich zu Fuß gehen.

Nach einiger Überredung gab der Bauer nach und sagte, er wolle es
versuchen.

Endlich brachen wir auf; aber der Weg war schlecht, das war richtig,
und dunkel war es auch. Wir mußten ungefähr ebensoviel gehen als
fahren, aber ich war müde und darum froh, so oft ich sitzen konnte.
Wir erreichten den gefürchteten Sverresteig; er war wirklich schlimm,
hatten wir ihn aber überwunden, dann ging es auf ebenem Wege weiter.

Wir gingen behutsam zu Werk; der Weg war steil und führte unmittelbar
neben dem Abgrund. Er war gewölbt und glatt; es war schwer, Fuß zu
fassen. Ließ man den Schlitten los, so konnte man leicht abrutschen.
Das Pferd aber mit seinem scharfen Beschlag stand fest auf den Beinen.
Wir konnten uns an den Zügeln und am Schlitten halten; so ging es
Schritt für Schritt abwärts.

Endlich waren wir unten. Wir konnten aufsitzen und bald waren wir in
Vossevangen. Es war schon ein Uhr nachts. Ich donnerte an die Tür. Es
dauerte eine Weile, bis sie geöffnet wurde. Die kurze, dicke Gestalt
des Hotelwirts stand in Unterhosen vor mir und rief verwundert: „Ach,
Sie sind so spät noch unterwegs?“

Ich sehnte mich nach einem guten Bett, das ich auch bekam. So tadellos
in der vergangenen Nacht das Lager auf dem Hallinggebirge gewesen sein
mochte, fand ich doch, in Fleischers Hotel in Vossevangen war es besser.


Ein Menschenalter später.

Mitte März 1916 saß ich abends in dem gemütlichen Gastzimmer des
Hotels in Finse und sprach davon, daß ich Lust hätte, noch einmal
auf Vosseskavlen zu stehen und wie in der Jugend Umschau zu halten
und dann den Abstieg auf Schneeschuhen zum Kaldesee hinab und weiter
zu versuchen. Andreas Klem, der Direktor von Haugastöl, mit dem ich
zusammen war, fing sofort Feuer. Wohl schneite es im Gebirge, im Westen
aber war klares Wetter, dessen versicherte er sich sofort durch das
Telephon.

„Fein-feine Schneeschuhbahn! Morgen früh ziehen wir los.“ Nun wohl!

Vor Sonnenaufgang kamen wir mit dem Zug über das Hochland nach Station
Hallingskeid, gerade der Stelle, wo ich an jenem Winterabend vor 32
Jahren nach einer eingeschneiten Sennhütte gesucht hatte, um dort die
Nacht zu verbringen. Auch jetzt hatte ich einen Hund mit.

Die Schneeschuhbahn war gut. Es ging die langen Lehnen von der
Station nach dem Gröntalsee hinab, dann über das Eis und das Tal zum
Vosseskavlen hinauf. Es war blauer Himmel, und bald kam die Sonne.
Ungefähr dasselbe Wetter und dieselbe Bahn wie damals, als ich zuletzt
hier fuhr. Nur schien mir der Weg vom Gröntalsee bis zum Skavlen viel
länger zu sein als damals.

Endlich waren wir beim höchsten Gebirgssee angelangt. Ja, ich fand mich
so ziemlich wieder zurecht. Da waren die schroffen Bergwände auf allen
Seiten und die lange schwere Steigung zum Skavlen hinauf; eine mächtige
Schneemenge war auch da. Aber trotzdem war es anders. Die Steigung
schien mir nicht ganz so schroff, wie ich sie in der Erinnerung hatte,
und dann hingen jetzt keine Schneewächten über. Es war leichter
hinaufzukommen, und der Hund hatte keine Schwierigkeiten.

Vom Vosseskavlen hatten wir dieselbe Aussicht über diese weiße
Bergweite wie einst. Sie war sogar noch wunderbarer, als ich sie in der
Erinnerung hatte, und Andreas Klem fand, nie habe er etwas Schöneres
gesehen, soviel er auch diese Berge durchstreift habe.

Die Fahrt über den Gletscher vom Rande der obersten weißen Fläche bis
zum Kaldesee hinab gestaltete sich noch großartiger, als ich mich
erinnern konnte.

Es war ein mächtiger Abhang, und wir bekamen eine tüchtige
Geschwindigkeit. Aus Leibeskräften bremsten wir mit dem Stock; es ging
aber schneller, als uns lieb war. Schneewehen waren auch viel mehr
vorhanden als jenes Mal, und es war schwer, die Herrschaft über die
Schneeschuhe zu behalten, während sie über die wellenförmige Fläche
tanzten und man sich auf den Stock stützte. Mitten in der schnellen
Fahrt rutschten die Schneeschuhe zu beiden Seiten einer Schneewehe
aus. Die Beine kamen immer weiter und weiter auseinander; es war, als
sollte man in der Mitte gespalten werden. Aber im letzten Augenblick,
bevor das Unheil eintrat, gelang es mir, die Schneeschuhe wieder
aneinanderzureißen... Klem erzählte mir später, ihm sei es ebenso
gegangen, aber auch er habe sich noch im letzten Augenblicke gerettet.

Wir fuhren nun mehrere Bogen, um die Geschwindigkeit etwas zu mäßigen.
Endlich ging es die letzte schroffe Böschung hinunter, gerade auf den
See zu, und in rasender Schußfahrt sausten wir weit aufs Eis hinaus.

Wir schauten zurück. Derselbe Anblick wie damals. Hoch oben ein
schwarzer Fleck, der Hund. Welch gewaltigen Eindruck machte nicht diese
Anhöhe, die von dort oben auf uns herabkam! Wir konnten den Anfang
nicht sehen.

Andreas Klem sagte, nie habe er einen „flotteren Lauf“ gehabt, aber man
fühlte es auch in den Beinen.

Seit ich das letzte Mal hier gefahren, waren viele von denen, die
am Bau der Bergenbahn beteiligt waren, in diese Gegend gereist, und
während der Arbeit am Gravehalstunnel war ja ein beständiger Verkehr
über das Gebirge hin und zurück.

Man hatte später mehrere leichtere Übergänge gefunden, besonders einen
Schneeschuhweg, der der Doktorweg hieß, nach dem ~Dr.~ Brunn,
dem Distriktsarzt von Ål, der damals Arzt bei der Tunnelunternehmung
war. Dieser Weg sollte weiter östlich vom Kaldesee nach dem Myrtal
hinabführen.

Ich wollte am liebsten meine alte Straße ziehen; deshalb fuhren wir
durch das enge Gebirgstal hinunter. Hier lag auf dem Schnee eine blanke
Eiskruste, die uns zwang, sehr behutsam zu fahren.

Endlich erreichten wir denselben Talkessel, in dem mir das letzte Mal
Halt geboten war. Aber es war wahrhaftig viel schlimmer, als ich mich
erinnern konnte. Wir kamen an dieselbe überhängende Schneewächte und
mußten zurück, und nirgends schien es einen Abstieg zu geben.

Wir versuchten es an einer Stelle, wo keine Wächte überhing, und kamen
auch ein Stück herab; aber die Schneewand fiel steil ab und hatte
streckenweise eine harte Eiskruste. Die Schneeschuhe in der einen Hand,
mußten wir Stufen in das Eis stampfen, während wir mit der andern Hand
den Stock hineintrieben, um uns an ihm zu halten. Ich war besser daran
als Klem. Da ich keinen Schneeteller am Stocke hatte, konnte ich diesen
tiefer hineinstoßen. Es ging ein scharfer Wind. Schlimme Windstöße
kamen über die Bergwand auf uns herab.

Schließlich wurde der Abfall so steil, daß es uns nicht mehr geheuer
war. Der Schnee war fast ganz vereist, und es war nicht leicht, Fuß
zu fassen. Wir ließen den Rucksack fahren, um auf alle Fälle ihn los
zu sein. Er sauste hinunter und wurde immer kleiner, bis er endlich
das Tal erreichte. Tief unten sahen wir ihn als einen schwarzen Punkt.
Denselben Weg würden wir nehmen, wenn ein Fuß ausglitt. Aber die
Schneewand war ganz glatt und ging allmählich in den Talgrund über.
Vielleicht war es doch nicht das Schlimmste, wenn wir uns auf den
Rücken legten und hinabrutschten, aber wir wollten uns nicht gern auf
das Experiment einlassen. Man konnte nicht wissen, was wir an Kleidung
noch am Leibe haben würden, wenn wir unten ankamen.

Wir sahen uns um. Oben unter der hängenden Wächte war eine Art Kluft.
Vielleicht war dort besser hinunterzukommen. Wir gingen zurück und
hinauf und machten den Versuch. Eine Weile ging es gut, aber da stürzte
der Hund über die Wächte hinab, überschlug sich in der Luft und fiel
auf einen kleinen Fels am Rande des Abgrunds. Dort faßte er Fuß und war
geborgen. Er war offenbar oben auf der Wächte infolge eines Windstoßes
ausgeglitten.

Bald wurde der Abstieg schroffer, der Schnee härter und verharscht, und
die Windstöße wurden nicht schwächer. Wir fanden es schlimm und wären
am liebsten zu der Stelle zurückgekehrt, wo wir es zuerst versucht
hatten. Aber nein, nun mußten wir da weiter, wo wir waren. Indem wir
eine Stufe nach der andern stampften, kamen wir auf die Felswand auf
der andern Seite der Kluft hinüber. Dort war der Schnee weicher und
der Abstieg leichter. Endlich konnten wir wieder die Schneeschuhe
anschnallen, und dann ging es zum Rucksack im Talgrunde hinab.

Ich konnte mich nicht entsinnen, damals, als ich hier allein ging,
etwas so Schlimmes erlebt zu haben wie den Abstieg in dieser Schlucht.
Es mußte aber wohl ebenso gewesen sein, und mich erfaßte beinahe
Bewunderung für mich selber, daß ich das geleistet hatte, ohne einen
tieferen Eindruck behalten zu haben.

Mit der Erinnerung ist es übrigens eine merkwürdige Sache. Den Aufstieg
hatte sie eher schlimmer gemacht als er war, aber die Hügel und Abhänge
abwärts um vieles geringer und leichter als in Wirklichkeit. Kommt das
vom Alter? Während die Schwierigkeiten des Aufstiegs nicht sonderlich
größer werden, ja dem ungeduldigen, unerfahrenen Jüngling vielleicht
schlimmer erscheinen, überwindet die Jugend im leichten Spiel alle
Schwierigkeiten des Abstiegs. Das Alter macht behutsamer.

Nun ging es einen schönen Abhang nach dem andern hinab und schließlich
noch die langen Halden nach Opset zu. Hier briet uns die Sonne, und wir
mußten uns von allen Hügeln fernhalten, die nicht im Schatten lagen.
Endlich erreichten wir den Talgrund und sollten nun zur Station Opset
hinauf. Die Schneeschuhe wollten nicht mehr gleiten. Wir versuchten es
auf alle Weise, sie in Gang zu bringen, aber schließlich mußten wir
verzweifelt nachgeben und stolperten hinauf, mit fußdickem Schnee unter
jedem Schneeschuh, bis wir endlich an die Eisenbahnlinie und an die
Häuser kamen.

Es war über eine Stunde, bis der Zug abging, mit dem wir nach Finse
zurückfuhren. Dort nahmen wir um halb drei Uhr ein üppiges Mahl ein.

                                *     *
                                   *

Welche Wandlung! Wie sich doch alles auf einmal ändern kann!

Seit Sverres Zeiten -- und schon lange vor ihm -- war hier oben bis vor
wenigen Jahren alles beim alten geblieben -- dieselbe Einsamkeit im
Winter über diesen Bergweiten.

Aber jetzt! Der Pfiff der Lokomotive durchgellt die Stille, keuchend
fahren die Züge hin und zurück. Der schwarze Steinkohlenrauch schlägt
zu den Tunnelmündungen heraus und steigt zum blauen Himmel empor -- und
die sogenannte Kultur mit ihren großen Hotels und ihren unvermeidlichen
„Touristen“ kriecht höher und höher in die Berge hinauf.

Ja freilich, es ist ja „bequem“ und „komfortabel“. Du kannst des
Abends in Kristiania zu Bett gehen und am frühen Morgen in Finse oder
Hallingskeid zum Frühstück aufstehen und am Vormittag einen Spaziergang
nach dem Hardangergletscher oder zum Vosseskavlen unternehmen. Das
bringt viele Leute ins Gebirge hinauf, die sonst nie dorthin gekommen
wären.

Aber ach, wenn nur nicht so vieles andere mitfolgte, was die Menschen
nicht hebt. Allerhand Luxus, Essen und Trinken und Toiletten und
Kartenspiel und Narrenstreiche! Jetzt gehen die Leute hinauf ins
Hochland, in eines dieser großen Hotels, um die Zeit totzuschlagen, und
tage- und wochenlang leben sie ein so lärmendes Leben, daß sie in die
Stadt hinabmüssen, um sich auszuruhen...

Die Bergweite, die den Menschengeist erhebt und ihm die großen,
einfachen Linien geben könnte, sehen die wenigsten. Ich glaube, sie war
doch wohl besser, die eingeschneite Almhütte, die ich suchte und nicht
fand...

Ich habe eine Erinnerung, die sich mir oft aufdrängt. Es war bei
der Heimkehr von der Nordpolfahrt. Fest auf Fest war in den Städten
gefeiert worden. Die „Fram“ glitt bei strahlendem Sonnenschein in den
breiten schönen Fjord von Drontheim hinein. Dampfer, über und über
flaggengeschmückt, schwarz von Menschen, fuhren den Heimkehrenden
entgegen. Hurra- und Hochrufe, Kanonensalut, Jubel ringsum zu Wasser
und zu Lande. Da trat Peter Hendriksen zu mir auf der Brücke heran.

„Du, N.“, sagte er, „schön mag das wohl sein, aber es ist zuviel Lärm.
Ich denke ans Eismeer. Dort hatten wir’s gut.“

Und er sah mich an, mit seltsamer Wehmut in den treuen Kinderaugen.

War es die Sehnsucht dorthin zurück, wo der Himmel so hoch war, die
Luft so rein, so einfach das Leben? -- Zurück in die Einsamkeit, in die
Stille, in die Größe?

[Illustration]



Haraldsets Jagdgeschichten


    September 1898.

Der Edelstein wird nicht blank ohne Schleifen und der Mann nicht
vollkommen ohne Prüfungen. So lautet bei den Chinesen eine Inschrift
im Tempel der ewigen Harmonie. Dann muß ich aber wirklich der
Vollkommenheit nahe gekommen sein; denn nie hat wohl ein Mann so viele
Prüfungen zu bestehen gehabt wie ich, bevor ich diese Reise antreten
konnte. Ich wollte ins Gebirge, um neue Jagdreviere zu besichtigen.

Erst hatte ich den halben Tag mit meiner Ausrüstung zu tun, dann vergaß
ich, sie nach der Bahnstation in der Stadt mit der Post befördern
zu lassen, und mußte daher zur Nachtzeit das Mädchen zum Landkrämer
schicken, um ein Pferd zu bekommen.

Endlich kam ich am Morgen weg. Erik Werenskiold und Moltke Moe wollten
mich ein Stück begleiten. Zunächst fuhren wir mit der Bahn nach
Kröderen. Ich hatte aber den Hundekuchen vergessen, und es mußte nach
Drammen telefoniert werden, damit uns ein Sack voll an den Zug gebracht
würde, wenn wir dort durchfuhren. Auch das kam in Ordnung.

Dann wäre uns an der Station Kröderen das Dampfschiff beinahe vor
unsern Augen davongefahren, während wir uns mit irgend etwas anderm
beschädigten.

Dann war der eine Koffer mit all meinem Gebirgsproviant bei Olberg
an Land gegangen, und ich mußte auf der Landebrücke von Gulsvik
stundenlang telefonieren, ohne die Sache in Ordnung bringen zu können,
und mußte die ganze Eisenbahnverwaltung in Bewegung setzen. Währenddem
saß der gute Moltke Moe an einer Kiste, die er als Tisch benutzte, und
schrieb an einer Eingabe, die er jemand versprochen, aber nicht vor der
Abreise fertig bekommen hatte -- nun mußte sie erledigt werden.

Endlich war auch das in Ordnung, und wir zogen durch das Hallingtal
hinauf. Doch da überfuhr ich meinen Hühnerhund Laila, und er schrie
so fürchterlich, daß ich schon dachte, nun sei dieser Jagdausflug
unmöglich gemacht. Es zeigte sich aber, daß kein Knochen gebrochen war;
ich nahm den Hund in den Wagen, und bald war er wieder bei bester Laune.

Dann begegneten uns mehrere große Kuhherden, und der andere Hund,
Jompa, ein kleiner Waterspaniel, rannte in den Wald. Wir mußten lange
Jagd auf ihn machen, bis wir ihn endlich wieder einfingen. Er war ganz
von Sinnen; soviel Kühe hatte er noch nie auf einmal gesehen.

Am Abend erreichten wir endlich Åvestrud. Hier entdeckte Moltke, daß er
noch für L. eine Eingabe an das Storting um ein Stipendium schreiben
müsse, um sie mit der ersten Post abzuschicken.

Das sah ihm ähnlich! Immer alles für andere, nichts für sich selbst.
Ermüdet von der langen, ungewohnten Reise und trotzdem unermüdlich in
seiner Güte für andere, setzte er sich hin und schrieb bis nachts halb
ein Uhr, während ein Mann vor der Tür wartete, um den Brief südwärts
nach Vik auf die Post zu bringen. Aber die Eingabe war auch so, wie
kein anderer sie schreiben konnte.

Am nächsten Tag (7. September) kamen wir nach Nes, und am Abend traf
der Koffer ein, von der Bahn mit Extrapost nachgeschickt.

In Nes hielt sich ein Schotte, Sir James F., mit Lady auf, um im
Sevrefall zu fischen. Er fand es einigermaßen unbequem, daß er Tag
für Tag die lange Strecke bis dort hinaus fahren mußte. Er war
seit dem 4. Juli da und wollte bis zum 26. September bleiben. Am
Nachmittag angelten er und die Lady im Flusse bei Nes ohne Erfolg.
Die Lady beklagte sich sehr darüber, daß sie nicht mit angeln könne;
aber sie wage es nicht, in Kniehosen zu gehen, sagte sie, um bei den
Bauern nicht anzustoßen. Für sie und Sir James war es eine große
Erleichterung, als ich versicherte, die Bauern würden es ertragen,
selbst wenn Lady die unerhörte Unanständigkeit begehen sollte, in Hosen
zu gehen.

Unser Hotelwirt in Nes war ein gewandter Mann, der sich fein
ausdrückte. Mein Hund Jompa sei „kongservastiv“, meinte er; er halte
sich an die Damen und wolle nichts mit den andern Kötern zu tun haben.
Eine Erklärung dafür, weshalb das besonders konservativ war, erhielt
ich nicht.

Übrigens erzählte er auch, wie er gelegentlich seine Gäste hinters
Licht führte. Er hatte einen einfachen Rotwein, den er sich mit zwei
Kronen die Flasche bezahlen ließ; der war ziemlich sauer. Einige
Engländer hatten gemäkelt und gefragt, ob er nicht einen teureren
Wein hätte. O ja! Er war in den Keller gegangen und hatte einige
Flaschen derselben Sorte, aber bestaubt und beschmutzt, hervorgeholt.
Die brachte er behutsam herein und sagte, sie kosteten vier Kronen die
Flasche. Da habe der Wein gut geschmeckt, behauptete er; das mit den
feinen Weinen sei meist Einbildung.

Am Freitagmorgen (9. September) kam die schlimmste Prüfung. Es galt,
Abschied zu nehmen von Erik Werenskiold und Moltke Moe, die wieder
zurück mußten, während ich mit Saumpferden westwärts ins Gebirge hinein
weiterreiste.

Im Rukketal sprach ich bei Ola Haraldset vor, den ich gern mit auf die
Jagd nehmen wollte. Es war aber nur die Frau zu Hause. Der Mann war
oben im Gebirge, um einige junge Hunde abzurichten. Aber in ein paar
Tagen werde er zurück sein, und dann käme er vielleicht nach. Also
ging ich allein weiter, an Liaset und Brynhilds-tjern vorüber nach der
Holmevaßhütte.

Am Sonnabend (10. September) streifte ich über alle Hügel und Spitzen
östlich des Holmesees, um nach Schneehühnern und nach der Brenbu-Alm zu
suchen, wo ich eigentlich bleiben wollte. Schneehühner fand ich nicht
viele, nur zwei Völker, aber die Alm fand ich endlich am Nachmittag.


    +Brenbu-Alm+, Sonntag, 11. September 1898.

Auf der Alm. Der Tag geht zur Neige. Auf dem Herde glimmt die Glut.
Die Hunde liegen auf dem Boden, müde von der Jagd, glücklich, daß sie
ausruhen können. Ich sitze auf dem Bett und schaue durchs Fenster auf
die Berge hinaus.

Draußen liegt Bergrücken hinter Bergrücken. Hier vorn zwischen den
niedrigen birkenbestandenen Anhöhen einige sumpfige Weiher, jetzt
dunkel und still nach dem Sturm, der noch die Wolken über die Rücken
jagt.

In weiter Ferne aber blinkt zwischen blauen Bergrücken ein goldener
See, gerade unter dem schmalen Lichtstreifen des Sonnenuntergangs, wie
ein lockendes Nixenauge. Es sendet Kunde und Grüße. In den goldenen
Fluten ist Ruhe für die brennende Menschenseele.

Ganz draußen am Rande des Horizonts liegt das blauschimmernde Gebirge
Hallingskarve mit glitzernden Firnen, der Gipfel noch verdeckt von
jagendem Nebel...

Da stürmen die Schafe und Ziegen in ganzen Herden auf die Wiese herein.
Wie sie vor ausgelassener Lebensfreude hüpfen und springen! Die Lämmer
umspringen die Mütter, als sei das Leben eitel Lust. Lustig bewegt
sich das kleine Schwänzchen, so oft sie unter den Bauch stoßen und die
Zitzen erwischen. Der Schafbock stößt mit den Hörnern gegen den Zaun,
daß es knallt, und rennt den Schafen nach.

Nun kommt die Melkerin mit dem Holzkübel, um die Ziegen zu melken,
die ruhig warten, bis sie daran sind. Unten an der Birkenhalde am
Rande des Moors trottet die Kuhherde daher, man hört von weither das
Schellengeläute und Brüllen.

Aber der Herbstabend wird dunkler, die Weiher dort unten noch
schwärzer und tiefer. Hoch oben jagen düstere Wolken. Und mitten darin
zwischen allem -- der Mensch, der in allem und in nichts sich selbst
wiederfindet, der weder träumender See noch jagende Wolke ist, aber
sinnloser als dies alles.

Rasch wird es dunkel, vereinzelte Regentropfen fallen auf die
Fensterscheibe. Bald kommt die Nacht und hüllt die Bergweite ein, die
schwarzen Weiher und das Nixenauge weit draußen.


    Montag abend, 12. September.

Wieder sitze ich hier am Fenster, wieder liegen die Hunde müde von
der Jagd auf dem Boden, und wieder dieses wundervolle Gefühl in den
Muskeln, wenn man die Glieder nach einem anstrengenden Tage streckt.
Man hat das Wohlbehagen des Tiers, das Glück des geschmeidigen Leibes
bei dem Gefühl, daß doch noch Spannkraft vorhanden ist -- den ewigen
Traum von Jugend...

Es ist auch eine Freude, als Wilder zu leben! Es ist der Naturmensch in
uns, der seinem Ursprung näher kommt.

Während ich so dasitze, gleitet Bild auf Bild aus dieser Bergwelt an
meinen Augen vorüber.

Ich sehe die Berge im Westen im herbstlichen Nebelregen. Es dunkelt
gegen Abend. Die Renntierherde lockt tief ins Gebirge hinein. Der
Nebel wird dichter und dichter. Man verirrt sich... Die Renntiere
verschwinden unter den Blöcken der Schutthalde; im Dunkel geht es
durch einen Bach nach dem andern, bis an den Leib im Eiswasser, der
Steinhütte zu. -- Endlich ist man am Ziel. Man hat Krampf in den
steifen Beinen und kommt nur mit Mühe vom letzten Fluß aus die Anhöhe
hinan. Die Hütte ist nicht besonders. Es tropft durchs Dach. Draußen
gießt es, und ich bin naß bis auf die Haut. Auch das Holz ist naß...
Endlich lodert das Feuer. Alle Kleider sind zum Trocknen aufgehangen,
nackt sitze ich am Herd und brate das Renntierfleisch am Spieß. Ich
esse es halb roh, während der rote Fleischsaft herabrinnt... Dann
werden Steine gewärmt und ins Bett getragen, dessen Grasfüllung
ganz naß getropft ist. Das gibt eine warme, aber freilich keine
ebene Unterlage. Der Körper muß sich in ~S~-Form biegen, um den
fallenden Tropfen zu entgehen. Am nächsten Tag geht es wieder hinter
dem Renntier her...

Schneebedeckt liegt die Bergweite im Sonnenschein blinkend da, Gipfel
hinter Gipfel, wie ein Lager von weißen Zelten am Himmelsrand, blaßgrün
und klar. Auf den Schneeschuhen kommt man leicht mit Windeseile
vorwärts...

Dann die Berge in der Winternacht unter dem Sternengewölbe. Ein Mann
und ein Hund suchen eine Hütte, die im Schnee verweht ist...

Und dann sehe ich die Bergweite im Schneesturm. Alles ist rauchender
Kampf, kein Weg zu erblicken. Die Windstöße fallen über einen her, daß
man auf den Schneeschuhen zurückgetrieben wird. Aber man muß vorwärts,
um eine geschützte Stelle zu finden...

Immer dasselbe freie, einfache Leben in reiner Luft, das dem
Ursprünglichen in uns wieder zu seinem Rechte verhilft.


    Mittwoch abend, 14. September.

Es gibt merkwürdig wenig Schneehühner. Gestern hatte ich den ganzen Tag
über das feinste Schneehuhnrevier, aber alles, was ich erbeutete, waren
fünf Hühner, und mehr waren auch nicht zu sehen.

Tief im Gebirge, jenseits des Holmesees, traf ich Haraldset, der auf
dem Wege hierher war. Ein vierschrötiger Mensch, etwas untermittelgroß.
Der Kopf sitzt gut auf starken Schultern; ein kräftiges Gesicht mit
Vollbart, das Haar unter dem Filzhute etwas verwildert. Erfahren in
allerhand Jagd und Fang, immer unterwegs in Wald und Berg, Sommer und
Winter, einer von diesen wandernden Gesellen, denen das Leben im Tal
zu eng und zu kleinlich ist. Es gibt mehrere der Art rundherum in den
norwegischen Gemeinden. Sie formen ihr Leben, wie sie selber wollen,
diese Männer, nicht wie andere es wollen. Das könnten wir wohl alle,
aber wir tun es nicht.

Er hatte ein Klappergestell von einem jungen englischen Setter mit, den
er dressieren sollte, einen feinen, schönen Hund, aber so mager, daß
man fürchten mußte, die Rippen könnten sich durchs Fell bohren. Er war
wählerisch im Fressen, und es kostete viel Mühe, ihn überhaupt dazu zu
bringen. Wir nannten ihn später den Knochenmann.

Heute morgen ging südlicher Wind mit Regen. Traurig und schwer hing
nasser Nebel an allen Spitzen. Dann schlug der Wind in kalten Nordwest
um; er wurde rauher und rauher und steigerte sich zu heulendem Sturm,
und der Himmel klärte sich zu kalter Bläue.

Den ganzen Tag durchstreiften wir das Gebirge, ohne viel zu finden;
nur hier und da einen vereinzelten Hahn. Erst als wir auf die höchsten
Bergrücken kamen, fanden wir einige kleine Hühnervölker. Aber der Wind
ging so stark, daß Hunde und Mann weggeweht wurden, und Haraldset
wurde beinahe umgeblasen, als er eine scharfe Wendung machen wollte,
um ein Schneehuhn zu schießen. Klein-Jompa überschlug sich, als er im
Weidengebüsch vorlaufen wollte, und es sah so aus, als sollte der arme
Knochenmann mitten entzwei geblasen werden.

Die Schneehühner hielten schlecht und strichen vor dem Winde ostwärts
über die Berge, soweit wir sehen konnten; Haraldset meinte, geradewegs
nach Schweden hinein. Viel Beute machten wir nicht. Auch einen Hasen
sahen wir hoch oben auf dem höchsten Gipfel, aber wie eine Wollflocke
sauste er davon.

Diesen Haraldset muß ich bewundern. Niemals bin ich mit einem
Bauernjäger zusammen gewesen, der sich so auf die Dressur von
Hühnerhunden verstand und ein so guter Flugschütze war. Ein tüchtiger
Kerl im Gebirge, wenn es galt, die Schneehühner aufzuspüren, und
ausdauernder zu Fuß als die meisten, das merkte ich heute. Aber
wahrhaftig, gut ist er auch in der Sennhütte. Ein frisches Wesen geht
von ihm aus, und er bringt Leben mit sich. Es nimmt kein Ende, was er
alles erzählen kann von dem, was er in Wald und Gebirge, meist auf der
Jagd, gesehen und erfahren hat, und die Worte fehlen ihm nicht.

Waldvögel und Schneehühner hat er viele geschossen und gefangen.
Hasenjagd hatte er stark betrieben und gute Hunde gehabt. Am eifrigsten
aber ist er hinter dem Fuchse hergewesen.

„Ich und der Bäcker,“ erzählte er, „der Bäcker Johannes dort unten in
Nes, weißt du, wir waren oft hinter dem Fuchse her. Ich habe wahrhaftig
manche muntere Fuchsjagd mitgemacht. So waren wir eines Jahres, ich und
der Bäcker, zusammen im Gebirge oberhalb Dökkji. Wir hatten zu der Zeit
zwei höllisch gute Hunde.

„Ja, das gab ein Gebell, als wir sie losließen. Aufwärts ging’s und ins
Gebirge hinein in fliegender Hatz, und dann wieder ein langes Stück
zurück.

„Wir wechselten gern die Hunde mitten in der Jagd. Wenn der erste Hund
sich und den Fuchs müde gejagt hatte, dann ließen wir den andern los.
Dann aber ging’s Reinecke schlecht, und er schlüpfte unter die großen
Blöcke der Steinhalde; er wußte sich nicht mehr zu helfen. Der Hund
aber bellte, daß es weithin schallte, und bald waren wir dann auch da.
Ja, da standen wir und überlegten.

„Wir hatten die Hunde gekoppelt und die Flinten weggelegt. Ich mußte in
die Steinhalde hineinkriechen und nachsehen, wie es ausschaute, und ich
stach mit einem Stocke hinein, und damit traf ich auf etwas Weiches. In
demselben Augenblick schlüpfte der Fuchs durch ein Loch auf der andern
Seite der Steinhalde heraus -- ein Sprung über einen großen Stein, und
fort war er. Ich auf, faßte die nächste Flinte, es war die Schrotflinte
vom Bäcker, und feuerte sie ab, fehlte aber, da ich nicht an sie
gewöhnt war, weißt du.

„Der Bäcker wurde so verwirrt, daß er die Koppel losließ. Die Hunde in
wilder Hatz bergab, die Leinen hinterherschleifend. Aber da gab es
ein Gebell, mein Lieber! Sie rannten wie der Wind, diese Hunde, und
verdammt gut waren sie.

„Gegenüber der kleinen Mühle ist im Berg eine Höhle. Dorthin ging
der Lauf, und hier fuhr der Fuchs hinein. Die Hunde machten einen
Heidenlärm, bis wir nachkamen und sie koppelten.

„Die Höhle ist aber tief. Es war nicht so leicht, bis zu dem Fuchs
hineinzugelangen, und wir hatten nichts, womit wir ihn fassen konnten.
Ich schnitzte mir einen langen Stock, mit dem ich hineinstechen wollte.
Der Bäcker aber lief ins Tal hinunter, um besseres Gerät zu holen.

„Unterdessen stach ich und stach, bis ich etwas Weiches fühlte, und
ich merkte, daß ich am Fuchse war. Ich bohrte so lange, bis ich den
Stock, in dessen Ende Haken eingeschnitten waren, fest in die Haare
gewickelt hatte, und bekam den Fuchs soweit heran, daß ich ihn bei den
Hinterläufen packen konnte. Dabei verbiß er sich aber in meine Finger
und blieb fest hängen, und ich zog die Hände so rasch zurück, daß ich
den Fuchs über mich warf und über die Hunde, die gekoppelt dastanden,
und weit in den Wald hinab. Die Hunde aber stießen ein wildes Geheul
aus, machten einen Sprung und kamen los -- und dann ging es unter
Heidengebell gerade nach dem Schulhause hinunter.

„Ich faßte die Flinte und eilte hinterdrein. An einer Wendung des Wegs
begegnete ich dem Bäcker; ich hätte ihn beinahe über den Haufen gerannt.

„‚Warum rennst du denn so wie der Teufel?‘ fragte er.

„‚Warum ich renne?‘ sagte ich. ‚Hörst du denn nicht das Gebell, mein
Lieber?‘ Und damit stürzten wir beide hinunter.

„Bei der Schule hättest du nun aber etwas erleben können. Da ging
die Jagd rund ums Haus herum. Vornweg der kleine Fuchs, hinterdrein
die Hunde. Der Schulmeister und die Kinder fuhren in der Schulstube
von einem Fenster zum andern und guckten. Das gab eine unruhige
Schulstunde. Als ich aber den Fuchs schoß, war der eine Hund umgekehrt
und wollte ihn von der andern Seite fangen.“

Mardern und Ottern hatte Haraldset auch oft nachgestellt.

„Aber der Otter ist ein schlauer Kerl, und es ist nicht leicht, an ihn
heranzukommen,“ sagte er, „und wenn du auch noch so gut weißt, wo er
seinen Bau hat, so ist es doch ein Glücksfall, wenn du ihn erwischst.
Er weiß ganz genau, wenn du in der Nähe bist, und dann kommt er nie.

„Den Eingang zu seinem Bau in der Steinhalde hat der Otter unter Wasser
an einer Gumpe des Flusses, und er taucht unter, sobald er dort hinein
will, und wenn er von dort kommt, so sieht er sich gut vor. Zuerst
kommt nur die Nasenspitze übers Wasser und dann, während er über den
Fluß schwimmt, etwa noch die beiden Augen, und dann kommt er so still
an Land, daß du es nicht einmal plätschern hörst.

„Manche mondhelle Nacht habe ich im Winter am Flusse gelegen und darauf
gewartet, daß er aus dem Loch im Eise auftauchen sollte, aber das ist
eine kalte Arbeit.

„Da nähte ich mir aus Fellen einen Schlafsack, so wie ich gehört habe,
daß man ihn am Nordpol gebrauchen soll, und diesen Sack erprobte ich
erst zu Hause auf dem Boden. Ja, hinein kam ich wohl, wenn er auch
etwas eng zu sein schien, und hübsch warm war es auch darin. Aber als
ich wieder heraus wollte, da wurde es schlimm. Soviel ich mich auch
abmühte, immer rollte ich wie ein Wickelkind auf dem Boden. Meine Frau
lachte sich halb zu Tode, und ich fluchte. Da mußte sie mir aus dem
Sack heraushelfen.

„Ich machte den Sack weiter und ging damit los. Es war eine bitterkalte
Nacht, aber der Sack war warm, und ich fand, er war wirklich eine
abgezeichnete Erfindung, wie ich so im Mondschein dalag und auf den
Otter wartete, der nicht kam, und mir der Atem fast im Halse gefror.

„Die Schuhe hatte ich vor mich hingestellt; aber als ich sie wieder
anziehen wollte, waren sie steif gefroren wie Holz, und wie ich mich
auch mühte, ich brachte sie nicht wieder an die Füße. Da half es
nichts, ich mußte auf Strümpfen nach Hause gehen. Als aber die Frau die
Tür öffnete und mich in bloßen Strümpfen stehen sah, den Sack in der
einen Hand, die Schuhe in der andern, da wurde sie böse und sagte: ‚Was
machst denn du für Geschichten?‘“

Wir sprachen auch vom Winter und vom Schneeschuhlauf.

„Eines Winters,“ sagte Haraldset, „unternahm ich mit dem Studenten H.
eine schneidige Schneeschuhwanderung. Das war einer, der konnte dir
fahren! Wir waren im Gebirge, nördlich vom Rukketal; er hatte Speise
und Trank bei sich und auch Schreibzeug. Er sollte nämlich für ein
Sportblatt schreiben, aber daraus wird wohl nichts geworden sein.

„Auf dem Heimweg, da kamen wir auf den Bergrücken oberhalb Nes, da
geht es, weißt du, schroff bergab. Ich warnte ihn, er sollte nicht
zu schnell fahren, aber er war keck. Wir hatten eine Flasche Punsch
mitgehabt, und er hatte wohl das meiste davon getrunken. Damit ging es
also abwärts.

„Ich fuhr behutsam, machte öfter eine Seitenwendung und versuchte, die
Geschwindigkeit zu mäßigen. Als ich aber ein Stück weiter hinabgekommen
war, wurde der Weg steiler und steiler, und die Geschwindigkeit stieg
unheimlich.

„So kam ich an eine Windung, die nach rechts abbiegt. Dort lag gerade
vor mir ein großer Block. Dem H. war es hier schlecht gegangen. Er war
drauflos gefahren und mit höllischer Geschwindigkeit gerade auf den
Block los, und da hatte er eine lange Luftreise gemacht.

„Wie ich nun dort hinunterkam und mich nach ihm umsah, da hing er
oben an einer Birke, so hoch, daß seine Haarspitzen gerade noch den
Boden berührten. Ich lachte, daß ich kaum noch stehen konnte. Er hatte
schon einige Zeit oben gehangen, als ich kam, und hätte es noch länger
gedauert, so wäre er weiß Gott draufgegangen.

„Ich mußte ihn abschneiden. Er hatte die Schneeschuhe festgebunden,
siehst du, und die waren oben an der Birke hängen geblieben.“


    Donnerstag, 15. September.

Heute geht der Wind im Gebirge zu scharf, als daß ich auf die Jagd
könnte. Die Schneehühner wollen nicht halten und stieben davon, daß man
sie nicht mehr sieht. Ich stieg auf den Berggipfel westlich von der
Alm, um die Beine zu bewegen. Welch frisches Wetter! Der Wind jagte in
Wirbelstößen über die Seen, daß sie weiß aufschäumten und der Gischt
wie stiebender Schnee in die Höhe stieg. Die Gischtwolken fegten in
wildem Tanze dahin, Windstoß um Windstoß, und ein Regenbogen stand in
ihnen. Oben rings um die Höhen sauste und heulte es. Auf dem obersten
Bergkamm, in der Scharte zwischen den Felsgipfeln, wo es steil nach
beiden Seiten abfällt, stürmte es so, daß ich mich im Moos niederhocken
mußte, um nicht die Bergwand hinabzusausen. Weit draußen in dem engen
Tale über dem Vatssee zog eine weiße Wolke; das war das Wasser das wie
Staub emporgepeitscht wurde.

Das Herz wird so wunderlich leicht in solchem Wetter. Es ist, als
schärfe das Wetter den Willen. Es ist eine Erfrischung, sich im Sturm
zu baden...

Hier sitze ich wieder, die Füße am Herd, und starre in die Glut,
während die Windstöße im Schornstein heulen. Ola Haraldset sitzt am
Fenster und erzählt Geschichten, und die Burschen und Mägde lachen.

Er erzählt von dem Dänen, der vor ein paar Jahren bei Rosenberg auf
Brynhilds-tjern zu Gaste war, und den er auf die Jagd begleitete.
Dieser Däne sah jeden Tag, den sie draußen waren, „wenigstens mehrere
hundert Schneehühner“. Wenn ein Volk aufflog und Haraldset sagte, es
könnten wohl acht oder zehn Stück sein, dann sagte der Däne: „Bist du
verrückt, Mensch, das waren doch wenigstens 30 oder 40.“ Er schoß und
schoß, brachte aber niemals eine Feder zur Erde, und jedesmal sagte er:
„Das war aber ein Teufelsschuß.“

„Aber da kriegte der Hund die Geschichte satt und wollte nicht mehr
hinaus und blieb uns vor den Füßen.“

Da gab Rosenberg dem Haraldset eine Flinte. Er sollte ihm helfen,
einige Schneehühner zur Strecke zu bringen, und den Hund wieder
aufzumuntern. Haraldset erhielt aber strengen Befehl, den Dänen zuerst
schießen zu lassen. Nun ja, dann ging +es+ in der Regel so, daß
der Däne zunächst einmal daneben schoß, und dann knallte gewöhnlich
sein zweiter Schuß mit dem des Haraldset zusammen, und dann fiel wohl
ein Schneehuhn herunter. Da sagte der Däne:

„Das ist doch des Teufels, daß ich nie mit dem ersten Schuß treffe.“

Eines Tages zog der Hund Schneehühnern über einigen Hügeln nach; es
dauerte etwas lange.

„Aber was ist denn das?“ sagte Haraldset, „ich glaube beinahe, das ist
ein Bär.“

„Wollen wir nach Hause gehen?“ sagte der Däne.

       *       *       *       *       *

Vor einigen Jahren ging Haraldset mit einem Deutschen auf die
Bärenjagd. Von ihm gab es viele Geschichten.

Sie waren drüben auf der Fjölabuhalde und streiften dort mehrere Wochen
lang nach einem Bären.

„Einen Hund wollte der Deutsche gegen den Bären nicht brauchen, der
verscheuche ihn nur. ‚Aber wir wollen den Bären dazu bringen, daß er zu
uns kommt, Ole,‘ sagte er und kaufte einen alten Bock.

„Dem schnitt er die Kehle durch und den Bauch auf, so daß die
Eingeweide sich herauswälzten. Dann band er ihm einen Strick um den
Hals, und diesen Bock mußte ich den ganzen Tag durch den Wald hin und
her schleifen. Dann würde der Bär kommen, meinte er. Na, mein Lieber,
ich schleifte den Bock Tag für Tag hinter mir her, bis nicht mehr viel
von ihm übrig war. Aber er war wohl verrückt, der Deutsche.

„Auf dem Rücken hatte ich eine ganze Wagenladung von allerhand Dingen,
die wir jeden Tag mit in den Wald hinausnahmen, wenn wir auch nicht
viel über die Wiese hinauskamen. Aber wir durften nichts zurücklassen,
sagte er. Küchen- und Blechgeschirr wie für ein ganzes Hotel: Töpfe und
Kessel und Löffel und Tassen und Bratpfannen und Gabeln und Messer und
Teller -- und all das mußte jeden Tag mit.

„Ja, sogar eine Säge hatte er bei sich, und Axt und Hammer und Zange
und große sechszöllige Nägel. Als ich aber die Nägel einpacken sollte,
da fragte ich, was er mit denen anfangen wolle. Nun, die brauchten wir,
wenn wir etwa eine Hütte bauen müßten. Und dann ein Bett! Ein ganzes
Feldbett mußte ich tragen, denn er konnte nichts in der Hütte lassen.

„Ich hatte mir einen Rucksack geliehen, der größer war als der, der
dort liegt. Aber der reichte nicht aus. Ich mußte noch einen großen
Sack dazu nehmen.

„Ich keuchte also unter einer ganzen Wagenladung daher, den Bock
schleppte ich an einem langen Strick hinterdrein, während das
Blechgeschirr in dem Sack auf dem Rücken klapperte. Man konnte uns wie
eine Schellenkuh von weitem hören. Währenddem blies er auf einer Pfeife
und meckerte wie ein Zicklein, das sollte den Bären anlocken, meinte er.

„Am Abend legten wir den Bock auf den Boden und setzten uns unter eine
Fichte, um auf den Bären zu lauern, und dort blieben wir sitzen, bis es
pechfinster geworden war.

„Zuweilen kam er auf den Einfall, auf den Anstand zu gehen, und ich
sollte tief in den Wald hinein und ihm den Bären zutreiben. Ich schlug
mit einem Stock auf die Fichtenstämme und rief: muh! muh!, wie ein
Ochse. Aber wenn ich dann zu laut brüllte, wurde er böse und schrie:

„‚Du bist ja rein verrückt, Ole, du darfst den Bären nicht zu sehr
erschrecken.‘

„Wenn wir zurückgingen, wollte er den Weg nach der Alm mit einem Kompaß
finden, den er hatte. Wie wir auch den Tag über gegangen waren, sollte
die Alm immer in der Richtung liegen, wie die Nadel am Vormittag
gezeigt hatte, als wir aufbrachen; du kannst dir vorstellen, wie das
ausging, und wenn wir dann lange nach seinem Kompaß gegangen waren und
uns verirrt hatten und es dunkel war, kriegte ich es satt. Ich fand
einen Ochsen oben an der Halde, den jagte ich vor mir her, und so kamen
wir schnurgerade nach der Alm. Das war der beste Kompaß.

„Jeden Abend sagte er: ‚Morgen müssen wir früh aufstehen, um einen
Bären zu finden, Ole.‘

„Am Morgen standen wir dann so zwischen neun und zehn Uhr auf, und bis
wir uns genügend gerüstet hatten, war es mindestens zwölf Uhr geworden.
Wenn es dann eins war, mußten wir Mittag essen. Es war gleichgültig,
wo wir waren; gewöhnlich waren wir noch nicht weit außerhalb der Wiese
gekommen. Wenn dann alles eingepackt war und ich die Wagenladung auf
dem Rücken hatte, dann war es spät am Nachmittag.

„Er war eben verrückt, verstehst du.

„Aber einmal kriegten wir doch wirklich einen Bären zu sehen; das war
oben am Waldrand. Der Deutsche ging voraus, und ich kam hinterdrein
gewankt mit meiner Wagenladung auf dem Buckel. Da bekam ich den Bären
zu Gesicht. Der Deutsche marschierte gemütlich auf freiem Feld, der Bär
würde ihn also bald gesehen haben.

„Ich sprang vor, hielt ihn zurück und sagte: ‚Da ist ein Bär!‘

„‚Was ist da weiter dabei?‘ sagte er, ‚suchen wir vielleicht nicht
einen Bären? Du bist viel zu hitzig, Ole,‘ sagte er.

„Dann überlegte ich, wie wir uns am besten an ihn heranpirschen könnten.

„‚Nein, du bist ganz verrückt, Ole, du verstehst ja auch gar nichts!
Ich werde ihn dazu bringen, daß er näher kommt,‘ sagte er.

„Damit legten wir uns hinter die aufrechtstehenden Wurzeln eines
umgestürzten Baumes, und er zog seine Pfeife hervor und meckerte wie
ein Zicklein. Da lagen wir nun. Der Bär kam herangewatschelt, blieb auf
einigen Steinen stehen und windete.

„‚Nun mußt du schießen,‘ sagte ich zum Deutschen.

„‚Du bist doch ganz verrückt! Ich werde ihn noch näher bringen,‘ und
damit meckerte er weiter.

„Ja, der Bär kam noch näher. Aber vor uns, in einer Entfernung von
dreißig Ellen war eine Talsenke, und dort witterte er unsere Spuren, so
daß er verscheucht wurde und fliehen wollte.

„Da fand ich, das sei doch gar zu verrückt, ergriff die mit Rundkugel
geladene Doppelflinte, die ich tragen und neben seine legen mußte, wenn
er schießen sollte. Aber er faßte die Flinte, drückte sie zu Boden und
sagte:

„‚Ich werde ihn schon zurückbekommen,‘ und damit fing er wieder an zu
meckern.

„So meckerte er den ganzen Abend, bis es dunkel wurde, und er wäre wohl
die ganze Nacht liegen geblieben, wenn ich nicht noch vor Nachtanbruch
nach Hause gewollt hätte.

„Eines Abends, als wir uns in einer Hütte unterhalb der Fjölabuhöhe
aufhielten, glaubte ich, mein Deutscher würde mir ganz draufgehen. Er
lag im Bett, das dort an der Wand stand. Ich legte eine Kiefernwurzel
auf das Feuer; sie sollte brennen, während ich oben in der Almhütte war
und etwas Milch holte.

„Dabei verging aber einige Zeit, weißt du. Die Alm lag etwas abseits,
und dann waren die Mägde gerade nicht zu Hause, und ich mußte warten.

„Als ich zurückkam, hörte ich schon von fern lautes Schreien, und ich
rannte hinunter.

„Da saß er im hintersten Zimmer und schrie mir zu, er verbrenne.
Während ich fort war, hatte die Kiefernwurzel angefangen etwas stark
zu brennen, und auch anderes Holz, das auf dem Herde lag. Da hatte er
Angst gekriegt, und da saß er nun und brüllte, als ich kam.

„‚Du bist mir der rechte,‘ sagte er ‚du willst mich verbrennen, während
du den Mädchen nachläufst. Wir jagen hier jetzt Bären, Ole, und nicht
Mädchen. Schaffe das Feuer hinaus. Zur Strafe wirst du ohne Abendessen
zu Bett gehen.‘

„Er war ganz wütend. Na, ich warf die Kiefernwurzel hinaus und legte
mich nieder. Aber auch dann sollte ich noch keine Ruhe bekommen. Ich
hatte nicht lange gelegen, da schrie er von neuem:

„‚Du mußt das Feuer löschen, ich kann ja nicht schlafen, solange es
leuchtet.‘

„Es knisterte und brannte noch ein wenig Holz auf dem Herde, verstehst
du. Ich nahm also einen Eimer Wasser und goß ihn auf den Herd. Die
Steine aber waren heiß, und es spritzte und prasselte, und die
glühenden Kohlen flogen nach allen Seiten. Da fuhr er im Bett auf und
drehte sich so um, daß die Asche ihm in die Augen flog. Da gab es nun
erst eine Aufregung. Er fing an zu weinen.

„‚Herrgott, nun hast du mir meine Augen zugrunde gerichtet!‘

„Ich mußte aus seiner Apotheke etwas holen, mit dem ich ihm die Augen
einschmierte, dann klagte er und rief:

„‚Du, Ole, du machst aber auch alles verkehrt!‘“ --

„Du bist aber wohl auch lange weggewesen? Gewiß warst du dort oben auf
der Alm gut bekannt, Haraldset,“ warf eine Magd ein und lachte.

„Ja, weißt du, es dauerte natürlich immer einige Zeit, denn die Mägde
waren gerade nicht zu Hause, als ich kam, und dann hatte ich einen
Pantoffel des Deutschen mit, den ich flicken lassen sollte.“

„Ach, du wirst den Mädchen wohl arg schön getan haben!“

„Nein, wahrhaftig nicht, aber ich kannte sie natürlich, und der
Deutsche war böse, weil sie von ihm nichts wissen wollten.“

„Als wir eines Morgens unterwegs waren, ging ich in die Hütte hinein,
und da hörte er, wie ich mit den Mägden scherzte. Als wir weitergingen,
fragte er:

„‚Sind die Mädchen hübsch, Ole?‘

„‚O ja!‘ erwiderte ich.

„‚Ich glaube, ich mache ihnen einen Besuch,‘ sagte er, und als wir
abends nach Hause kamen, sagte er: ‚Heute abend hole ich die Milch,
Ole.‘

„Nun, er nahm den Eimer und ging hinauf. Aber es dauerte nicht lange,
da kam er zurück, ohne Milch und ohne Eimer. Er sagte nicht viel,
setzte sich an den Herd und schaute ins Feuer.

„Nach einer Weile sagte er: ‚Die Mädchen waren verflucht tugendhaft.‘

„Sie hatten ihn hinausgeworfen, weißt du, und dann mußte ich die Milch
holen.

„‚Hat denn dein Deutscher jemals einen Bären geschossen?‘ fragte einer
der Burschen.

„‚Das fragte ich ihn auch einmal,‘ sagte Haraldset. Jawohl, er habe
zwei unten bei Åvestrud geschossen, sie aber nicht bekommen. Ich fragte
ihn, wie das habe geschehen können.

„‚Ja, ich kam auf eine Höhe,‘ sagte er, ‚und da bekam ich zwei Bären zu
Gesicht, die ich sofort schoß: bumm, bumm.‘

„Es war doch ärgerlich, daß es Bom[2] war,“ sagte ich.

  [2] Mit „Bom“ wird im Norwegischen der Fehlschuß bezeichnet.

„‚Nein, so ist es nicht zu verstehen,‘ sagte er, ‚es klang nur so.
Beide Bären fielen, aber später liefen sie davon.‘“


    Sonnabend, 17. September.

Ein wundervoller Tag. Keine Wolke am blauen Himmel. Die Bergweite
breitet sich in ihrem braungelben Herbstschmuck nach allen Seiten.
Menschen und Vieh sind von den Almen ringsum heimgekehrt. Haraldset
mußte auch nach Hause mit seinem Knochenmanne, der nicht fressen wollte.

Ich bin allein in der einsamen Pracht. Nur der Hund ist noch da, der
dort unten die Weidengebüsche durchsucht, und der Bursche, der hier
nebenan auf dem Hügel liegt. Er schläft gewiß bald in der Sonne.

Überall zwischen den braunen Höhen sind blaue Seen und Weiher
verstreut, die sich von dem Braungelb noch blauer abheben. Das Auge
folgt dem farbenreichen Teppich weithinaus; er geht in Wogen wie das
Meer, ein Rücken hinter dem andern, und verklingt in weiter Ferne.

Zwischen den Rücken lange tiefeingeschnittene Spalten, aus denen es wie
Brodem aufsteigt -- dort unten wohnen Menschen.

Immer blauer und blauer werden die Berge draußen, und ganz in der Ferne
die Schneeberge leuchten kühn und frisch im Sonnenschein. Der Blick
schweift frei nach allen Seiten, nichts engt ihn ein. Weit im Süden
steht hoch und einsam der Gausta.

Das Blaue dort im Dunst in Nordosten, das müssen die Rondanegipfel sein
-- und der dort, weiter im Norden, ist das nicht der Snehetta? Dann
wild und gewaltig das ganze Jotunheim mit dem Nautgardstind als Wächter
ganz im Osten; dann die Kalvåhögda und die Torfinsspitzen mit Firnen
und Gletschern. Weiter vorn erstrecken sich die Hemsetalberge westwärts
nach Voß zu, dann folgt Hallingskarve, breit und sicher, als könne
nichts seine Ruhe stören. Ruhig trägt er die Firnen auf seinem Rücken.
Am weitesten nach Westen aber liegt der Hardanger-Jökul mit seinem
mächtigen Gletscher, der wie ein einziges fleckenloses Laken alles
Dunkle unter sich eingehüllt hat. Weiß und glänzend -- wie ein Gruß aus
den Schneelanden im hohen Norden. Wie schön ist er jetzt im Sonnenglast!

Wie tut doch ein solcher Tag im Gebirge wohl! Frische Eindrücke ziehen
durchs Gehirn; sie fegen all das Eingesperrte hinaus und machen dich
frei.

Da steht der Hund! Bald flattern weiße Schneehuhnflügel über den
braunen Teppich.


    Am Abend.

Wieder auf der Alm. Die Kühe sind noch nicht heimgekommen. Vier
Pferde und ein Füllen weiden auf der Wiese. Auf dem Felsen über der
Alm klettern einige Ziegen und rupfen das Gras von der Bergwand. Eine
Schelle klingelt. Ab und zu meckert ein zartes Zicklein.

Eben geht die Sonne zwischen goldnen Wolken hinter dem Jökul unter. Der
goldene Schein verbreitet sich über die höchsten Gipfel. Der Bergrücken
hier gerade über dem Weiher erglüht wie rotes Gold.

Wie gelb schon das Birkenlaub geworden ist! Der Herbst hält seinen
Einzug, langsam und sicher.

Dunkel liegen die Moore und Weiher im Abendschatten. Dunkel krümmt sich
Bergrücken hinter Bergrücken dem Sonnenuntergang entgegen. Aber aus den
Tälern dazwischen steigt hell und dunstig der Brodem des Menschenlebens
herauf, und hell und blau liegen der Hallingsskarve und der Jökul dort
hinten, wo die Sonne untergeht.

Das ist ein Stück Norwegen, das ist das Land, das dir gehört, und es
ist so wie kein anderes....

       *       *       *       *       *

Langsam kommen die Ziegen die Wiese daher. Eine graue meckert fragend.
Sie glotzen und wundern sich. Die eine steckt ihr Maul in mein
Tagebuch hinein und verwischt die Tinte und reibt sich dann vergnügt
an meinem Knie. Na, bitte, jetzt weg ein bißchen! Da ist ja auch
die Schellenziege selber. Der Wind raschelt in dem Blatt, auf dem
ich schreibe, und erschreckt fährt sie zurück -- kommt dann wieder,
schnuppert und will gestreichelt sein. Nein, jetzt ruft die Magd, daß
die Forelle fertig ist.


    Sonntag, 18. September.

Von Süden her ziehen dunkle, drohende Wolkenbänke herauf. Der Nebel
treibt über die Bergrücken; bald haben wir Regenwetter. Ich bin jetzt
mit dieser Natur vertraut geworden und kenne sie in Sonnenschein und
Nebel. Auf dem Angesicht der Erde wohnen wir Menschen. Dieses hier ist
die Stirn, von den Zeiten gefurcht. Nun zieht sie die Kappe über.
Drunter ruhen die Erinnerungen der Jahrmillionen, die wir nur ahnen.
Und der tiefe Gebirgssee sieht dich an wie ein dunkles Auge. Er scheint
dir soviel zu sagen zu haben, aber du verstehst es nicht. Vielleicht
ist es nichts für dich, oder liegt vielleicht gar nichts in der Tiefe
des dunkeln Auges?


    Montag, 19. September.

Heimwärts. Weit draußen kehrt eine Herde ebenfalls aus dem Gebirge
zurück, der letzte Nachzügler, der noch auf einer Alm irgendwo oben in
Tunhövd gewesen ist.

Hör’, wie die Mägde locken und jodeln, um die Herde beisammenzuhalten.
Es geht ins Tal zurück. Wieder liegt das Gebirge einsam da und
verstreut sein rötliches Herbstgold unter treibenden Wolken -- und die
Nixenseen spiegeln den Himmel in ihren blauen Träumen...

[Illustration]



Winter im Gebirge


    Januar bis Februar 1900.

Es war am Dienstag, 30. Januar 1900. Von Bolkesjö wollte ich auf
Schneeschuhen nach Norden über den Bleberg hinunter zum Sörkjesee
fahren und dort einige Wochen in der Ormanhütte bleiben. Ein Bursche
namens Holgje kam als Träger mit. Als wir zur Blespitze hinaufstiegen,
herrschten dichtes Schneetreiben und starker Wind, und nichts war zu
sehen. Da lief ich lieber die langen Abhänge nach Bolkesjö zurück, in
der Hoffnung, am nächsten Tag besseres Wetter zu haben.

Am Mittwochmorgen machte ich mich mit Holgje wieder auf den Weg über
den Ble. Nun war es aber schlimmer geworden. Es schneite und wirbelte,
daß Himmel und Erde eine Schneemasse zu sein schienen und wir nicht
viele Schneeschuhlängen weit sehen konnten.

Holgje war leicht bekleidet; er sagte, er sei noch nie in einem solchen
Wetter draußen gewesen. Er hielt die Hand vors Gesicht, beugte sich
vornüber und stemmte die Schultern gegen die Windstöße, während wir so
gut es ging aufwärts stiegen. Als ich ihn einmal ansah, waren seine
Backen und Kinnladen ganz weiß. Ich rieb sie, bis der Blutumlauf wieder
in Gang kam. Doch wir waren noch nicht weit gegangen, als seine
Kinnladen wiederum ganz steif gefroren und von dem Treibschnee mit
einer Eiskruste bedeckt waren. Wieder knetete ich.

Aber das Wetter wurde schlechter statt besser. Es sah aus, als ginge
der Wind mitten durch den armen Holgje hindurch, und zum drittenmal
waren seine Kinnladen und Backen weiß, und von neuem mußte ich sie
kneten. Jetzt begann er aber zu wimmern und zu klagen. Er fand es
unheimlich.

Wir mußten in der Nähe der Blespitze sein; es herrschte aber ein
solcher Schneesturm, daß wir, selbst wenn wir bekannt gewesen wären,
Schwierigkeiten gehabt hätten, die Åkelischlucht zu finden, wo wir nach
dem Sörkjesee abbiegen mußten. Ich wagte es nicht, die Verantwortung
für den Burschen auf mich zu nehmen. Es blieb nichts anderes übrig, als
abermals umzukehren und wiederum abwärts zu rutschen. Jetzt hatten wir
den Wind im Rücken, und es ging schnell.

Am Abend kamen wir nach Bolkesjö zurück. Dort waren in diesen Tagen
viele Leute, Anwälte, Amtsrichter und Förster aus Kongsberg, Skien
und Kristiania. Es war Berufungsverhandlung in einer Sache wegen
Holzschlagrechts im Walde. Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Leute
über einen Nordpolfahrer lächelten, der zweimal wegen Schneesturms im
Blegebirge umkehrte.

Damit hatte ich genug von dem Weg die Abhänge hinauf, und Holgje hatte
sicherlich mehr als genug. Am nächsten Morgen wollte ich über Hovin
fahren. Aber der Posthalter vergaß, daß er mir einen Wagen versprochen
hatte. Er hatte sich wohl mit Torjus einen ordentlichen Rausch
angetrunken, da am Abend das Urteil in der Holzschlagsache gefallen
war und sie verloren hatten. Ich mußte mir aus dem Nachbarhotel einen
Wagen verschaffen und verspätete mich um einige Stunden. Aber nach
Fosso in Hovin kam ich trotzdem; dann ging es auf Schneeschuhen den
Abhang hinauf an Knutsgard und Nystöl vorbei über den Sörkjesee, und am
Nachmittag erreichte ich die Ormanhütte.

Dort traf ich Halvor Kåse aus Rollag im Numetal. Ich hatte ihn dorthin
bestellt, und er hatte seit Dienstag gewartet. Als ich aber auch am
Mittwoch nicht gekommen war, war er ins Dorf hinuntergestiegen, um sich
telephonisch nach mir zu erkundigen. Er habe nicht glauben können,
sagte er, daß ein Mann wie ich sich von dem bißchen Schneegestöber habe
abschrecken lassen.


    Freitagabend.

So bin ich also wieder im Gebirge. Schneeweiß und rein liegt es vor
mir, das weite Hochland, lange Schneeschuhbahnen und freier Himmel.
Weit weg, tief unten liegt das Tal.

Welch frisches, freies Leben! Warum ist es nicht immer so?

Man arbeitet, wenn man will und solange man will; nichts stört den
Arbeitsfrieden. Und ist man müde, dann auf Schneeschuhen hinein
zwischen die weißgekleideten ernsten Tannen, die Birkenhalden hinauf
über die Berge. Alles große, klare, reine Linien. Ja, warum richten wir
uns das Leben nicht so ein?

Draußen steht die schmale Sichel des neuen Mondes über dem
Gebirgsrande. Vom Süden, vom Åkeligipfel her, zieht ein Wolkenschleier
herüber. Bald ist es dunkel. Ich kann nur schwach noch die dunkeln
Umrisse der Tannen von der weißen Eisfläche unterscheiden.

Aber wie gemütlich ist es hier im Zimmer! Im Kamin knistert lustig
das Birkenholz und verbreitet Licht und Wärme. Es ist so warm, daß
sich auch die Fliegen wohl fühlen. Sie sind mitten in der Winterkälte
erwacht und summen unter dem Dach.

Wie gewöhnlich sitze ich da, starre in die Glut und folge den
flackernden Flammenzungen, die an den rußigen Platten hinanlecken, in
den Schornstein hinein.

Es ist, als hätte man immer so gesessen seit dem Winter in der Hütte
unter der Erde dort im Norden, im Franz-Joseph-Land. Aber der Raum ist
größer geworden. Man kann unter dem Dach aufrecht stehen. Die Tranlampe
ist verschwunden. Durch die Fenster kann man in den Winterabend
hinausschauen, und die Kleider, die schweren, fettgetränkten Kleider,
die fest am Leibe klebten, sind gewechselt; sie sind rein und weich und
trocken geworden. Unwillkürlich reckt man sich vor Wohlbehagen.

Aber das Leben dort im Norden war wohl auch frei und ungestört genug?
Ja, freilich; gleichwohl hielt es sich unter dem Mindestmaße der
täglichen Lebensnotwendigkeiten.

Wie viele unvernünftige Lebensbedürfnisse haben wir Kulturmenschen
uns zugelegt, während wir die wirklich nützlichen Dinge wie
Selbstverständlichkeiten gebrauchen, ohne zu bedenken, welche Güter sie
sind. Z. B. die Nägel! Dort im Norden bekamen wir das zu fühlen, als
wir sie uns selber aus Knochen herstellen mußten.

Und dann bedenkt, hier habe ich das, wovon wir damals als vom
Allerhöchsten träumten: eine Tür, eine senkrecht stehende Tür!

Ich muß daran denken, wie ich Morgen für Morgen den ganzen Winter und
Frühling hindurch im Schlafsack saß und mir die Lappenschuhe und die
fettigen, zerrissenen Kleider und Bärenfellfäustlinge anzog, und wie
mir davor graute, in den Hausgang hinauszugehen und mich durch das Loch
hindurchzuzwängen, das mit einer Bärenhaut zugedeckt war, auf die aber
der Wind Nacht für Nacht eine schwere, harte Schneewehe schichtete. Ach
ja, wie man sich da hoffnungslos nach einer senkrecht stehenden Tür
sehnte, die in Angeln ging und sich, mit einer einfachen Türklinke,
leicht öffnen und schließen ließ!

Im übrigen war es gar nicht so schlimm, wenn man bedenkt, daß wir
vom Winter eingeschlossen waren, ohne Proviant, nur mit Büchse und
Patronen, einem Messer und sonst mit leeren Fäusten.

Damals fand ich, daß gar nicht viel dazu gehörte, das Leben vollkommen
zu machen. Ich träumte einen seligen Traum davon, an einem Strande an
Land geworfen zu werden, mit Spaten und Hacke, einem Sack Mehl, einer
Büchse, Patronen, einem guten Messer mit Wetzstein, Nadel und Zwirn,
Seife, und auch mit Büchern und Schreibzeug, und ich fand, das Leben
müßte vollendet glücklich werden.

Ist es noch so?

Soviel Kleinliches hängt uns an den Beinen. Es ist, als gingen wir in
Dornengestrüpp.


    Montag, 5. Februar.

Wie schön der Schnee ist! Schau, wie fein und leicht er draußen
herabrieselt, wie weich die Decke liegt über Höhen, Steinen und
Rasenhügeln und über niedergebeugten Bäumen, über dem Eis auf dem See
und den alten Schneeschuhspuren in der Richtung, aus der ich gekommen
war. Alles ist leicht und behutsam mit dem reinen Teppich zugedeckt.
Und der Lärm der Welt liegt unendlich weit weg, er ist ausgeschaltet
-- hier wird jeder Laut gedämpft. Der Tannenwald und die Halden stehen
still und weiß im Sonntagsstaat, und der Åkeligipfel dort draußen
verschwindet ganz im Schneegeriesel.

Die Eisfläche leuchtet in kleinen Wellen im Sonnenschein, der auch
durch mein Fenster hereindringt und es auch hier unter der Stubendecke
licht und leicht und hoch macht. Und die Sonne steht dort oben in der
rieselnden Schneeglorie.

Drinnen und draußen herrscht feierlicher Sonntagsfriede, trotzdem
es Montag ist. Ja, wahrhaftig, es ist Montag, und dort unten auf
Holmenkollen bei Kristiania ist Schneeschuhlauf; da gibt’s Tausende
von Menschen, Pferde und Schlitten und Bankreihen, und Hurrarufe und
Gelächter.

Ja gewiß, das ist Leben und Frische, ein Bild von Schnee, von Winter
und norwegischer Jugend! Und was hat es nicht unserm Volke gegeben! Man
denke nur einige Jahre zurück, was die Jugend damals getrieben, und wie
tot es damals im Winter rings um die Städte und in den Tälern war; kaum
eine Schneeschuhspur in dem tiefen Schnee zu sehen. Und jetzt? -- Wenn
nur nicht soviel „Sport“ dabei wäre, „Rekorde“ und all das Unwesen,
das, wie die Fremdworte selber, aus der Fremde eingeführt ist -- das
verdeckt die Sonne....

Ich bin heute ganz allein. Halvor habe ich ins Tal nach Proviant
geschickt. In einem Umkreis von vielen Meilen kein lebendes Wesen.
Nur Meister Lampe sitzt im Schneewetter weiß und schön unter den
niedergeschneiten Tannenbüschen; er macht sich’s bequem, putzt sich und
sieht in die Sonne wie ich.

Weit weg, tief unter diesen weißen Flächen, wogt das Leben des
Menschengeschlechts...

       *       *       *       *       *

Ja, das Leben! Was haben wir daraus gemacht? Eine endlose Reihe von
Trivialitäten und Kleinlichkeiten! --

Und was haben wir uns gewünscht? Das Dasein einfacher zu gestalten,
damit wir das schaffen können, was wir eigentlich wollen, und daß die
Kräfte nicht unterwegs von allerhand Kleinlichkeiten aufgebraucht
würden, von all dem, was wir nicht wollen. Volle Entfaltung unserer
Kräfte, unserer Persönlichkeit, unseres innersten Wesens -- das, was
wohl die Bedingung für alles echte Lebensglück ist.

Wie weit sind wir gekommen? Es geht den verkehrten Weg. „Mach die
Schleppe länger, und du machst die Schwingen kürzer,“ heißt es. Aber
ist es nicht gerade die Schleppe, an der wir arbeiten? Jede neue
Erfindung kann wohl Erleichterung geben, vermehrt aber die Bedürfnisse
und bindet uns fester an Kleinlichkeiten. Das Leben wird immer
verwickelter.

Vom Zelt und dem Kamelhaarmantel sind wir weit abgekommen!

Und die Schwingen?

Die materielle Entwicklung hat in der lärmenden Gesellschaft Europas
die Übermacht. Und die geistige Entwicklung -- wer fragt nach ihr?
Äußerer Luxus, materielles Wohlbefinden sind, scheint es, Losung und
Ziel geworden, und für wie viele wiegt das nicht schwerer als manche
geistigen Werte?

Ein Beispiel! Wenn ich zu einem Freunde komme, und er bittet mich, zum
Abend zu bleiben, damit wir miteinander plaudern können, und er setzt
mir dann nur seine gewohnte Hafergrütze vor, müßte ich mich da nicht
geehrt fühlen? Denn er setzt voraus, daß ich, wie er, das als eine
Nebensache im Leben ansehe, und daß es Geist und Begabung sind, mit
denen zusammen zu sein schon ein Fest ist. Aber ob nicht manche es als
eine Beleidigung auffassen würden, daß man nicht mehr Staat mit ihnen
macht?

Wer hat den Willen und den Mut, einfach zu sein, wenn es nicht gerade
Mode ist?

+Mode!+ Man denke: eine „Kultur“, die Moden hat, den Stempel der
Unselbständigkeit, der verwaschenen Persönlichkeiten! Wendet nicht ein,
daß nur Frauen und närrische Mannsleute der Mode nachlaufen. O nein,
nicht nur in Kleidern, Essen, Trinken und dergleichen haben wir Moden.
Sie herrschen auch in der Kunst, in der Literatur, in der Wissenschaft,
ja in unsern Meinungen, in unserer „Überzeugung“...

Und es wird immer schlimmer. Mit den immer schneller werdenden
Verkehrsmitteln nimmt das Tempo unheimlich zu. Früher brauchte eine
neue Mode Jahre, um zu uns zu gelangen. Jetzt braucht sie ebenso viele
Tage oder Stunden; -- und unaufhörlich wechselt sie.

In dieser lärmenden Hetzjagd hat man keine Zeit, seine eigene Meinung
zu finden; so keucht man hinter derjenigen der letzten Mode her. Man
darf doch nicht etwa entdeckt werden, wie man dasitzt mit einem Hut
oder einer Ansicht oder einer Meinung oder einem Unterrock, die schon
altmodisch geworden sind!

Unser ganzes Leben ist darauf eingerichtet, auf andere zu wirken; es
ist nicht so eingerichtet, wie wir es selber wünschen könnten, sondern
so, wie die andern, der Haufe, es will. So wohnen wir, so kleiden wir
uns, so speisen wir, so schlafen wir, so arbeiten wir, so denken wir,
ja -- so lieben wir auch..

Wann kommt das neue Geschlecht, das all diese Zeitvergeudung
abschüttelt, das sein eigenes Leben lebt, es selbst ist, freie Männer
und Frauen, das das Kleine klein sein läßt und die Schönheit und
Harmonie ins Leben zurückführt?..

Wie soll das enden? Ohne Ruhe zur Verarbeitung der neuen Eindrücke,
ohne Selbstvertiefung kann sich wohl kein Mensch entwickeln. Aber wann
findet man +dazu+ die Ruhe in der modernen Gesellschaft?

Neue Eindrücke pflanzen sich immer schneller fort; wir bekommen jetzt
mehr von ihnen an einem Tage als früher in Monaten und Jahren. Sie
wimmeln heran mit dem Telegraphen, mit den Zeitungen, mit dem Telephon.
Und wenn wir in die Welt hinaus reisen, um den Horizont zu erweitern,
durchfahren wir in einer Woche mehr, als wir früher in einem Jahr sahen.

Und das arme Gehirn müht sich mit all diesem Stoffe ab. Es ist in der
Entwicklung nicht nachgefolgt. Sein Rauminhalt und seine Kräfte sind
so begrenzt wie sie früher waren, während der Stoff, die Eindrücke
unbegrenzt geworden sind -- es wird mit ihnen nicht mehr fertig.

Wir sehen, wir hören unendlich viel mehr, aber wir lernen weniger. Das
muß mit logischer Notwendigkeit zur Oberflächlichkeit führen; es wird
unmöglich, in die Tiefe zu gehen. Das gibt Mangel an Originalität,
Mangel an Persönlichkeit.

Und das Übel wächst, es wächst in geometrischer Progression. Wo soll
das enden?

Rousseau, du bist heute nötiger denn je zuvor! Damals war nur eine
kleine Oberschicht auf Abwege geraten, jetzt ist das ganze Leben der
Gesellschaft so geworden, daß es mit Eisenbahngeschwindigkeit den
verkehrten Weg einschlagen muß.

Ein größerer Geist muß kommen, der den Zug umlenkt und höher hinauf,
zur Vereinfachung, führt. Kommt er nicht, dann gehen die Menschen
zugrunde!


    Donnerstag.

Etwas Schnee rieselt so ziemlich jeden Tag -- als gefrorene Luft --,
und jeden Morgen lockt der neue Schneeteppich.

Halvor und ich ziehen in den Wald hinaus. So einsam und still und
lebensfern ist es zwischen den weißen, schneebelasteten Tannen.
Lautlos gleiten die Schneeschuhe über das weiche Mehl, eine Welt
in Flaumfedern. Es ist kalt, und der gefrorene Atem bleibt in der
erstarrten Luft hängen.

Auf der weißen Fläche kein Flecken. Nur hier und da die kleinen
Fährten eines Eichhörnchens, das über eine Waldlichtung gehüpft und
den nächsten Tannenstamm wieder hinaufgeklettert ist, und dann wie ein
dünner Strich einige winzige Trippelspuren einer Waldmaus. Man fühlt
gleichsam, welche Eile sie hatte, mit den kleinen Füßen von dem einen
Loch im Schnee, aus dem sie auftauchte, nach dem nächsten zu kommen, in
dem sie wieder verschwand.

Aber dort sind einige größere Fährten, immer zwei und zwei. Da ist das
Hermelin auf der Jagd gewesen. Aber auch sie verschwinden in einem Loch
im Schnee. Es ist einem, als könne man es pfeilgeschwind dahineilen
sehen. Man gewahrt fast nur den schwarzen Schwanz auf der weißen Fläche
und dann, wenn es auf einmal stehen bleibt, die schwarzen scharfen
Augen.

Auf weitere Entfernung kann man an einem Weidendickicht in einer
Moorsenke einige größere Spuren sehen. Da ist in der Morgendämmerung
Freund Lampe unterwegs gewesen; er hat die Hinterläufe möglichst
ausgebreitet, um nicht zu tief in den lockern Schnee zu sinken. Hier
ist er zwischen den Weidenbüschen und den Birkenruten im Moorlande hin
und her gehoppelt, hat an den jüngsten Schößlingen und an der Borke
geknabbert und einen richtigen Paß getreten. Es ist nicht ganz leicht,
sich zurechtzufinden und die Fährten zu verfolgen. Wir müssen das
Gestrüpp umschlagen, um die Endspur herausfinden.

Nun geht es geradeaus, ein Stück durch den Hochwald, dann hinter einer
Anhöhe in das Gestrüpp von Birken, Ebereschen und Espen hinein, wo
es abermals einen Wirrwarr von Fährten gibt. Wieder müssen wir die
Stelle umschlagen, und endlich finden wir weit oben die Fährte --
dann geht es die Halde hinan. Hier ist Lampe eine lange Strecke in
seiner eigenen Spur zurückgekommen, und siehe -- dort hat er einen
mächtigen Hopser seitwärts gemacht, vier, fünf lange Sprünge nach
dem dichten, verschneiten Tannenbusch zu, auf das Moor hinaus. Dort
hat er sich hineingesetzt. Jenseits des Busches aber führt die Spur
selbstverständlich weiter. Er ist oben davongesaust, daß der Schnee
stäubte. Wir haben ihn schon verscheucht; er sitzt jetzt, da es dem
Frühling zugeht, zu locker, und wir können ihn kaum im Lager fassen.

Nun jagen wir. Halvor treibt, und ich stehe auf Anstand. Er schlägt an,
möglichst genau wie ein Hund. Das Gebell steigt die Halde hinan. Es
klingt so dumpf und tot in der weißen Stille. Er treibt nicht rasch,
aber dann macht auch der Hase in dem weichen Schnee nicht so lange
Touren.

Schau, dort kommt Lampe angezottelt, so weiß und fein und still, dort
an dem Moorrand, zwischen dem schneebedeckten Tannengestrüpp. Er bleibt
liegen, setzt sich auf zwei Läufe, hält den Kopf seitwärts und lauscht
den wunderlichen Lauten Halvors, der auf Schneeschuhen die Fährten
entlang die Halde herunterkommt. Dann läßt er sich wieder behutsam auf
alle viere nieder und kommt auf mich zugehoppelt....

Am Abend sitze ich wie gewöhnlich vor dem Kamin und starre in das
Feuer, und der Mond scheint durchs Fenster herein. So gleiten die Tage
vorbei, und wir merken es nicht.

Gestern abend kamen zwei Männer. Sie blieben über Nacht in der
Almhütte, die Wanderern immer offen steht. Die Leute waren aus
Telemarken und jagten Marder, die sie auf dem Spürschnee fingen. Das
ist eine lohnende Jagd, denn Marderfell steht jetzt hoch im Preise.
Sie hatten nur einen Sack mit zum Fang. Ein Gewehr sei nichts nütze,
meinten sie, damit schieße man nur Löcher in den Pelz. Sie verfolgen
die Spur des Marders bis zu dem hohlen Baum, in den er tagsüber
gekrochen ist, dann binden sie den Sack vor die Öffnung und klopfen an
den Baum, bis der Marder herausspringt, in den Sack hinein. Auf diese
Weise hatten die zwei Männer viele Marder gefangen.


    Dienstag.

Der Proviant fing an knapp zu werden. Halvor und ich mußten ins
Tal hinunter, um mehr zu holen. Es gab eine besonders schöne
Schneeschuhbahn. Leicht war der Aufstieg die Halden hinan vom Sörkjesee
nach Synhövd, dann über das Bortal nach dem Staveberg, und bald
standen wir an dem Absturz über Rollag im Numetal und sollten nun die
abschüssigen Steige zu den Fikkanhöfen hinab. Hier geht es sehr steil
abwärts, und der Abstieg ist lang und beschwerlich; auch war Holz
hinabgefahren worden, was die Sache nicht besser machte. Zu beiden
Seiten des Wegs stand meist Nadelwald, der so dicht und unwegsam war,
daß man dort nicht vorwärts kommen konnte. Es blieb also nichts anderes
übrig, als auf dem Steig zu bleiben.

Halvor meinte, das klügste sei, sich einen ordentlichen Tannenbusch
abzuhauen und darauf abzufahren, so wie es die Mägde oft tun, wenn
sie solche Wege auf Schneeschuhen hinab wollen. Ja, ein solcher
Tannenbusch war wohl eine gute Bremse; aber einer, der ein richtiger
Schneeschuhläufer sein wollte, konnte doch nicht gut zu einem solchen
Mittel greifen!

So ging es denn hinunter. Ich sollte aber bald bereuen, daß ich nicht
doch den Busch genommen hatte. Es ging immer steiler abwärts, und was
ich auch tat, um zu bremsen, mit gleich großer Geschwindigkeit sauste
ich weiter. Ich setzte Schneepflug, ich ritt aus Leibeskräften auf
dem Stock, ich riß die Hacken aus den Schneeschuhen heraus und setzte
sie auf den Boden, aber der Weg war hart, und es ging so ziemlich
gleich schnell abwärts, ob ich seitwärts oder geradeaus fuhr. Die
Windungen mäßigten wohl etwas die Geschwindigkeit, aber dann kamen
lange Strecken, wo es in gerader Linie hinabging, und da gab es keine
Barmherzigkeit. Zu beiden Seiten stand das Gestrüpp dicht wie eine
Mauer, und es war nicht daran zu denken, die Schneeschuhspitzen dorthin
zu lenken. Ich bremste so gut es ging; Arme und Kreuz taten weh, wie
ich so auf dem Stocke ritt, aber mit Windeseile sauste ich hinab.

Schließlich flog ich über den Haufen, aber trotzdem ging es noch ein
langes Stück weiter hinab. Halvor kam nach und fuhr an mir vorüber.
Merkwürdig, wie der Bursche mit den alten Kieferschneeschuhen und
ohne Bindung zurechtkommt. -- Dann geht es wieder hinab, aber besser
ist es wahrhaftig nicht, und diese abschüssigen Bergwege nehmen kein
Ende. Mehr als einmal blieb mir nichts anderes übrig als vor Anker zu
gehen. Aber hinunter kam ich endlich doch, mit heilen Gliedern und
Schneeschuhen. Ob auch mit Ehren? Das will ich nicht entscheiden.
Halvor war auf seinem Hilfsmittel lange vor mir unten.

In Fikkan versahen wir uns mit allem, was wir für eine neue Woche im
Gebirge brauchten, dann ging es denselben Steig wieder hinauf. War
es aber schon schwierig gewesen hinabzukommen, so war es aufwärts
wahrhaftig nicht leichter. Jetzt trugen wir ja auch einiges auf dem
Rücken. Es kostete viel Mühe, den Weg hinaufzukommen, den wir so
unheimlich schnell hinabgesaust waren.

Es war schon dunkel geworden, bevor wir oben anlangten; aber dann kam
der Mond, und im Mondschein ging es westwärts weiter. Es war eine
prächtige Schneeschuhbahn, die sich lohnte. Hoch und still und einsam
lag ringsum die Bergweite.

                                *     *
                                   *

Eines Morgens machten Halvor und ich uns wieder reisefertig. Wir
verschlossen das Haus und fuhren über den Sörkjesee die Åkelischlucht
hinauf über den Bleberg nach Kongsberg. Es ist das sechs, sieben
Meilen weit, und die Bahn war nicht die beste. Es gab auch etwas
Schneegestöber, und wir hatten ziemlich zu tragen. Aber vorwärts kamen
wir doch, wenn es auch länger dauerte, als wir erwartet hatten.

Es wurde dunkel, bevor wir über den Bleberg ins Jontal hinabkamen. Hier
glitten die Schneeschuhe besser, als wir erst auf die feste Straße
kamen, und wir fuhren scharf drauflos, um Kongsberg noch früh am Abend
zu erreichen. Wir fanden wohl, daß es am Lågenfluß entlang etwas kalt
war, beachteten das aber nicht weiter. Bei der starken Bewegung fiel
es uns nicht schwer, uns warm zu halten.

Als wir endlich das Grand Hotel in Kongsberg erreichten, empfing uns
der Wirt an der Tür mit den Worten:

„Nein, sind Sie heute bei so kaltem Wetter unterwegs?“

„Ist es denn so kalt?“

„Ja, das Thermometer zeigte heute nachmittag 36 Grad Kälte.“

Das hatten wir uns nicht gedacht! Da war es auch kein Wunder, daß die
Schneeschuhe etwas mühsam geglitten waren. Aber durstig und müde waren
wir, und wir tranken sofort mehrere Krüge Milch aus.

Dann lud ich Halvor zum Abendessen ein; es gab frischgebratene
Koteletten und allerhand leckere Dinge. Halvor stocherte in dem Essen
herum und aß nur wenig. Ich versuchte auch ein wenig zu essen, aber
es ging nur langsam, und beide plauderten wir, um unsern Zustand zu
verbergen. Die Sache war die, keiner von uns konnte essen. Wir waren in
der Kälte zu schnell gefahren, und dann hatten wir wohl auch zu viel
kalte Milch auf einmal hinuntergestürzt.

[Illustration]



Nach Island und Jan Mayen


    +Kristiania+, Juli 1900.

Der Ausdauer ~Dr.~ Johan Hjorts ist es endlich gelungen, den
norwegischen Staat zum Bau eines eigenen Dampfers für Meeresforschung
zu bewegen. Wenn man daran denkt, welche tiefe Bedeutung die
Verhältnisse des Meeres und ihre Veränderungen für unser ganzes Land
und nicht zum wenigsten für den Fischfang haben, so muß man sagen, daß
es hohe Zeit war.

Der Dampfer ist „Michael Sars“ getauft, nach unserm großen Bahnbrecher
in der Meeresforschung; er soll jetzt auf seine erste Fahrt hinaus.
Hjort hat mich gebeten, daran teilzunehmen, um mit Björn Helland-Hansen
die physischen Untersuchungen auszuführen. Er selbst will das Tierleben
und die Fischereiuntersuchungen übernehmen und Håken H. Gran die
botanischen Untersuchungen. Kapitän G. Sörensen soll den Dampfer führen.

Aber ach, welche Mühe kostet es immer, bis man zu einer solchen Fahrt
ausgerüstet ist. Neues aller Art muß hergestellt, ausgeprobt und
verbessert werden; man hat zu wählen und zu verwerfen. Alles muß völlig
instand sein, nichts darf vergessen werden. Das Gehirn wird schlaff und
leer, man fühlt sich erschöpft, noch ehe die Arbeit selbst beginnen
kann.

Der Dampfer fährt mit den andern um die Küste herum, soll aber nach
Geiranger hereinkommen.


    +Gudbrandstal+, 15. Juli.

Die Stadt, die Anstrengung und die Leere liegen hinter mir. Es geht
nordwärts durch das Gudbrandstal. Ich fahre die grüne, schäumende Otta
entlang...

Das Auge folgt den weißgrünen Wirbeln; man sieht sich wieder frisch
an diesem starken Willen, der seinen singenden Siegeslauf durch das
Tal, das er selbst gegraben hat, dahinzieht -- von keinem Hindernis
aufgehalten. Du bist wie das Menschenleben, wie das Mannesalter! Du
kommst aus der unbewußten Unschuld der Kindheit, aus dem weißen Schnee,
der die knorrige Härte des Gebirges bedeckte, als die Zeit nicht eilte.

Nun hastest du mit der Blindheit des Mannes durch dein Werk, brichst
dir selber den Weg und leistest deine Arbeit, um still ins Meer zu
verschwinden. Aber von neuem steigen deine Wasser, von neuem fällt
Schnee im Gebirge...

Über deinen schäumenden Lauf beugt sich geschmeidig und anmutig die
Hängebirke. Du gibst ihren Wurzeln Wasser und ihren Blättern Tau --
aber dann eilst du weiter......


    +Grjotli+, 16. Juli.

Wieder oben zwischen Bergen und Schnee. Die Sonne ging gerade unter,
und über dem Bergkamm erglühte der Gletscher in tiefem Karmin. Die
Flächen und der See unter mir liegen im kalten Abendschatten.

Kaum ist man den Gletschern wieder nahe, und sofort treibt der
Lebensmut neue Schößlinge, und das andere da unten wird dumpfe
Schlaffheit.

Was ist das für eine Zaubermacht? Als ich sie diesmal zuerst sah, die
dunkle Schlucht, die jähen Felswände und die weißen Gletscherflecken,
scharf begrenzt und hart, da kam das Unbehagen; es war wie: ach, mußt
du da hinein? Da lockten die fruchtbaren Felder und die lachenden
Birkenhaine... Aber jetzt -- wenn man zu den Gletschern hinübersieht,
wie sie bläulichweiß und kalt daliegen, nachdem die Sonnenglut
verschwunden ist -- da ist es, als fühle man sich wieder frei und
aufrecht. Kommt es vielleicht von der Luft, die so hoch über dem Meere
leichter ist?


    +Geiranger+, 17. Juli.

Regen und Nebel über den Bergen. Nichts ist zu sehen, und trotzdem ist
es schön, Mensch zu sein. Es ist so wunderlich: in Regen und Unwetter
wird einem oft am leichtesten zumute. Löst die feuchte Luft das trübe
Wetter im Innern auf? Nun ist es ganz fort...

Die Fahrt hier herab gehörte gewiß zum Großartigsten, was ich je sah,
wenn ich nur etwas davon hätte sehen können! Aber der Nebel war so
dicht, daß, als ich oben in der Schlucht stand und Wasserfälle auf
allen Seiten stürzten, ich über und unter mir nichts anderes als
wogende Wolken schaute. Ich ahnte nur, daß ich 3000 Fuß unter mir
das Tal und den Fjord hatte, da unten in der Tiefe, wo die grauen
Steinmassen verschwanden.

Einmal ging ein Riß durch die Nebelmasse, und ich erblickte tief,
tief unten ein grünblaues Band -- das mußte der Fluß sein, zu dem die
Wasserläufe sich über diese stürzenden, hängenden Schutthalden und
Bergwände hinabgewälzt hatten... Dann verschwand es wieder, und ich
hörte nur das Donnern stürzenden Wassers.

Es ist der ausgeprägteste Talkessel, durch den ich je, soweit ich mich
besinnen kann, gefahren bin. Die Wände im innersten Kessel steigen
etwa 2000 Fuß an, und das Tal spaltet sich dann in zwei, jedes mit
einem Fluß; keiner von diesen scheint sich tiefe Rinnen gegraben zu
haben. Die Zeit, seitdem der Talkessel vom Eise gebildet worden und der
Gletscher geschwunden war, war zu kurz; dazu kommt, daß der Abstand
von der Wasserscheide bis zum See so klein und das Gefäll groß ist,
daß also die Ausgrabung und der Transport von allen Seiten zu schnell
gegangen ist.

Es war die reine Polarlandschaft dort oben zwischen den Bergen. Die
Gletscher wälzten sich aus dem Nebel herab, die Bergwände standen nackt
und naß darunter, und dazu der schwarze Djupsee mit den zerstreuten
blaufüßigen Eisschollen. Man war wieder hoch im Norden in der Eiswelt.


    +Ålesund+, Sonntag, 22. Juli.

Ich liege seewärts auf einer Bergkuppe und lasse mich von der Sonne
braten. Weit draußen nach Nordosten breitet sich das Meer kühl-blau und
dunkel mit weißen Schaumkämmen.

Von Geiranger aus haben wir ozeanographische Untersuchungen im
Storfjord unternommen; jetzt sind wir hier. Gestern kamen wir halbwegs
bis Storeggen hinaus, um unsern Querschnitt durch das Meer nach Island
hinüber mit einer Reihe von ozeanographischen Stationen zu beginnen,
auf denen Lotungsreihen mit Temperaturbeobachtungen und Wasserproben
von der Oberfläche bis zum Meeresboden genommen werden.

Mehrere Tage hatte es Nordweststurm gegeben. Noch war hohe See, und
die Wogen gingen so hoch, daß sie auf mehrere Faden Tiefe Brandung
bildeten. Das war nicht gerade gemütlich für diejenigen von uns, die
nicht seefest waren. Aber die Arbeit wurde trotzdem geleistet, und wir
erledigten unsere fünfte Station auf dieser Reise gut genug...

       *       *       *       *       *

Hier ist es so still und friedlich. Unten ein kleiner gemütlicher Hafen
mit Speichern und Fischerhütten ringsum; draußen Schären und Holme, die
gelbbraun, mit eingesprengten grünen Flecken, sich von dem blauen Meer
abheben, auf dem es von Nordosten immer mehr zu wehen anfängt. Kein
Segelboot ist bei dem frischen Winde zu sehen; es ist ja Sonntag, und
die Leute sind in den Häusern und feiern.

Hier und da schlendern sonntäglich gekleidete Männer umher, die Hände
in den Hosentaschen, und spucken -- oder sie liegen auf einem Hügel in
der Sonne, die Hände unter dem Nacken, und starren ins Weite, oder sie
sitzen zu zwei und zwei zusammen, saugen an ihren Pfeifen und reden vom
Wind und von Fischfangaussichten. Sie haben in den letzten Wochen einen
überaus guten Fang von Langfischen gehabt.

Unten auf dem Hügel spielen einige Kinder. Ein keckes, halbwüchsiges
Mädchen mit roter, in der Sonne hell leuchtender Mütze übt auf
einer Ziehharmonika „Ja wir lieben dieses Land“; sie singt dazu und
marschiert auf und ab. Sie bewegt sich stramm und behend.

Dort kommt ein erwachsenes Mädchen im blauen Rock herauf; sie setzt
sich auf den Stein und will die Harmonika haben. Sie spielt nicht
besser.

Auf einmal aber wird sie eifrig; sie fährt auf, glättet das Kopftuch
und geht ein Stück nach unten. Ich sehe nach der entgegengesetzten
Seite. Dort unten auf dem Wege gehen zwei Mannsleute ruhig und
gemütlich. Sie werden wohl bald stehen bleiben? Jawohl, der eine bleibt
stehen, sieht hinauf und spuckt, die Hände in den Taschen, den Nacken
etwas gebeugt. Der andere bleibt weiter unten stehen.

Das Mädchen wendet sich und kehrt zurück; verwirrt sieht sie sich nach
den Kindern um, die sie ja nicht zu beaufsichtigen hat, bittet sie
zu kommen und will doch gar nicht, daß sie es tun. Dann geht sie im
Zickzack nach unten.

Das Mädchen mit der Harmonika will folgen, wird aber abgewiesen.
Dann geht es schneller und schneller, bis zum Stacheldrahtzaun. Dort
unterhalten sie sich, dann spazieren sie den Weg weiter hinunter und
verschwinden hinter den Häusern.

Später sehe ich sie unten im Hafen in einem Boot. Er setzt ein
rotbraunes verwittertes Segel, und bei gutem Wind geht es zu einer
Sonntagsfahrt über den glitzernden Fjord. Der blaue Rock leuchtet
frisch weit hinaus, aber die Freude ist ja blau. Das Leben ist
strahlendes blaues Sonnenlicht.

Wie gut es tut, zu faulenzen! -- Morgen geht es auf die See. Wir
wollen erst mit einer Reihe von Stationen einen Querschnitt durch
das Meer nach Island hinüber ziehen, dann soll es weiter nach Jan
Mayen gehen und zurück nach den Lofoten. Hjort und Gran wollen die
Verbreitung des Lebens im Meer und die Fischverhältnisse studieren,
Helland-Hansen und ich werden besonders das Verhältnis zwischen den
warmen und kalten Strömungen und Wassermassen zu ergründen suchen.

Wir alle haben neue Apparate, Instrumente und Methoden für die
Untersuchung des Meereslebens und der physikalischen und chemischen
Verhältnisse des Meeres erfunden, und Großes erwarten wir von dieser
Fahrt -- nach unserer Annahme dürfte sie wohl in der Meeresforschung
eine neue Zeit einleiten.


    +Auf dem Meer+ zwischen Norwegen und Island,
    Donnerstag, 26. Juli.

Das Leben ist mitunter licht. Wir haben den ersten Sieg auf unserer
Fahrt errungen! Heute nacht bekamen wir unsere Treibnetze voll von
Heringen, blanken, blinkenden, großen Heringen. Einen Kohlfisch fingen
wir auch und zwei große Dorsche, mitten auf See.

Hjort strahlte vor Stolz auf diese Bestätigung seiner Erwartung. Er
war zu dem Schluß gekommen, daß die Fischarten, die uns unsere großen
Fischereien liefern, nicht nur an die Bänke und Küstenstriche gebunden,
sondern über das ganze Meer verbreitet sind, auch über die großen
Tiefen, überall wo sie Lebensmöglichkeit finden. Er war darin bestärkt
worden durch das, was Bottlenose(Entenwal)-Fänger von Fischmengen
erzählten, die sie auf offener See gefunden hatten.

Hier haben wir also die sicheren Beweise. Auf einmal wird das Feld,
aus dem die Fischereien ihre Reichtümer holen, mächtig erweitert. Die
Fischmengen des Meeres scheinen noch unerschöpflicher zu sein, als wir
zu glauben gewagt hatten.

Nun bin ich gespannt auf den Rotfisch (~Sebastes norvegicus~) westlich
von Jan Mayen, wo ich im Jahre 1882 einen Klappmützenmagen voll von
frischen Rotfischen fand, die eben erst eingenommen sein mußten. Und
das war mitten in der Tiefsee. -- Und dann denke ich auch an alle die
Fische, die ich in den Magen von Eishaien fand, die wir damals in der
Dänemark-Straße zwischen Island und Grönland fingen.

Wir hielten ja Dorsche, Rotfische und ähnliches hauptsächlich für
Grundfische, und wir unterschieden sie von den sogenannten pelagischen
Fischen, die frei im Meere herumstreifen, wie z. B. die Makrele. Aber
nun werden sie ja so ziemlich alle pelagisch.

Es ist Windstille. Lange Dünungen wie wogender Stahl. Leise Schläge
gegen die Schiffswand, die Feuerkugel der Sonne geht in bläulichem
Purpur unter. Eissturmvögel schweben geschäftig auf stillen Schwingen
über dem Meeresspiegel, unablässig den Sonnenstreifen kreuzend, als
suchten sie etwas, was sie niemals finden. Aber du lieber Himmel, das
tun wir wohl alle....

Doch man muß schlafen. In wenigen Stunden kommt das Schleppnetz herauf,
und dann gilt es wieder die ganze Nacht zu arbeiten, Temperaturen zu
messen und Wasserproben aus der Tiefe zu holen. -- Schlafen, wie man
nur auf See schlafen kann.


    +Nördlich von Island+, Sonntag, 29. Juli.

Nebel, Nebel -- über uns, um uns -- Nebel, wohin wir schauen.

Aber fahr weiter durch den Nebel, während das Meer dir entgegenwogt und
dir Botschaft und Grüße bringt von der unsichtbaren Welt da hinten,
du weißt nicht woher -- dir Sehnsucht bringt, du weißt nicht wonach.
Du ahnst nur, daß es eine Sehnsucht gibt nach irgendwohin im Raum --
hinter, über dem Nebel, wo der Tag klar ist und die Sonne auf blinkende
Zinnen scheint.

Hallo, da wird in der Maschine halbe Fahrt signalisiert. Der Nebel
draußen ist dicht wie Brei. Wir können nur ein paar Schiffslängen vor
uns sehen.

Das ist der Eismeernebel. Das ist die Grenzscheide, wo die warmen,
salzigen Meeresströmungen des Südens mit den weißen Eisfeldern
zusammentreffen. Und Wogen kommen und Wogen gehen, wir sehen nicht
woher und wissen nicht wohin.

Irgendwo im Süden liegt Island, das Land der Sagas -- im Norden
liegt das Eis. Aber aus diesen wollgrauen Nebelmassen kommen kühne
Wikingerschiffe aus längst verschwundenen Zeiten mit niedrigem Segel
vorübergefahren -- wetterharte Kerle mit struppigem Bart, den Kopf frei
auf starken Schultern und scharfe Augen unter den Brauen -- Kerle,
denen das Leben ein Spiel ist, die aber auch den Tod nicht fürchten.

Da fährt der geächtete Eirik Raude, vierschrötig und zerlumpt, aber
mit zähem Willen; dir passen Nebel und Eis. Da steht Leif aufrecht und
ruhig am Achtersteven, der Verwegene mit den weiten Zielen und der
sicheren Überlegung. Du vermeidest am liebsten das Eis und suchst das
offene Fahrwasser.

       *       *       *       *       *

Sie verschwinden wieder im Nebelmeer, während Island dort im Süden
liegt und seine Erinnerungen an Tat und Missetat hegt.

       *       *       *       *       *

Nun wird in der Maschine wieder volle Fahrt signalisiert. Der Nebel hat
sich etwas gelichtet, die Schraube dreht sich in gesteigertem Tempo; es
geht neuen Zielen zu.

Setze Segel für den Tag der Arbeit, hinaus aus dem naßkalten Nebel! Sie
lebten ihr Leben und erfüllten es mit Abenteuern, laßt auch uns unser
Leben leben.

                                *     *
                                   *

Am Nachmittag endlich entdecken wir plötzlich Land vor uns. Es ist der
Fuß einer senkrechten Bergwand unten an der Meeresfläche, der aus dem
Nebel hervordunkelt.

Es ist Kap Nord, gerade das, was wir erwarteten. Wir sind in der
Tat nicht weit davon entfernt. Nun wissen wir, wo wir sind, und da
geht es weiter. Eine felsige Landzunge nach der andern tritt hervor,
senkrechte Basaltwände. Wir sahen in den Jökullfjord und in den
Isafjord hinein. Der Nebel lag auf allen höheren Bergspitzen, aber hier
und da leuchteten Firne und Gletscher aus den Nebelmassen hervor. Von
Nordosten ging eine frische Kühlte.

Ein Blick in den Önundarfjord hinein. Wild und zerrissen ist er, aber
jetzt ansprechender als das letztemal, als ich im Sturm dort war, im
Monat Mai vor zwölf Jahren, und die Berge mit Neuschnee bedeckt waren.

Draußen begegneten wir Ellefsens fünf Walfischfängern, starken, kleinen
Schiffen, die sich gut auf den Wellen schaukelten, Schaum am Bug.

Gegen Mitternacht ging es in den Dyrafjord hinein, aber ich erkannte
ihn nicht wieder. Der spitze Kegel dort war wohl die Myrumkuppe, die
Häusergruppen an Steuerbord mußten Högatal sein, aber ich entsann mich
nicht, daß es so bewohnt war.

Dort vorn erstreckt sich eine flache Landzunge, soweit wir das im
Dunkeln durch das Fernrohr erkennen können. Ja, nun kenne ich mich
wieder aus, das ist Thingeyre. Aber auch dort scheinen jetzt mehr
Häuser zu stehen, als ich in Erinnerung habe.

Wo ist Bergs Haus? Es muß wohl weiter da drinnen liegen. Ja, dort
liegt auch ein Dampfschiff vor Anker. Das muß einer von seinen
Walfischfängern sein. Nein, das ist ja eine Fabrikesse. Nein, es ist
doch ein Dampfer mit Schornstein.

Wir kommen näher. Ich starre nach Thingeyre hinüber. Ich erkenne
das Haus wieder, in dem wir wohnten und drei Mann zusammen in einem
Schlafsack auf der Diele einer Bodenkammer schliefen -- wo ich, auf
der Diele dieser Bodenkammer auf dem Bauche liegend, eine Abhandlung
über den „Hermaphroditismus des Schleimaals“ schrieb... Und auf einmal
stehen jene Tage mit all ihren unruhigen Erwartungen und unsicheren
Ahnungen leibhaftig vor mir.

Wir warteten damals auf das Schiff, das uns an die Ostküste Grönlands
bringen sollte, wo wir durchs Treibeis an Land wollten, um über das
Inlandeis zu gehen.

Es war im Grunde keine begehrenswerte Zeit. Keine Ruhe, um sich irgend
etwas zu widmen. Die Berghalden entlang unternahmen wir unsere Ausflüge
zu Pferd. Aber auch diese konnten wir nicht ganz genießen, ebensowenig
wie den Ritt zum Glåmugletscher. Wie eine Nebelwand lag es ja vor uns,
dieses Unbekannte, in das wir hinein-, durch das wir hindurchfahren
sollten -- wie die Nebelkappe jetzt dort über dem Glåmugletscher.

Aber der Dampfschiffsschornstein dort drinnen wurde doch zu einer
Fabrikesse, und das Helle dort oben an der Halde muß Bergs Haus sein.

Der Geruch sollte uns auch nicht lange darüber in Zweifel lassen, daß
wir in der Nähe einer Walfischfängerstation waren. Vorsichtig fuhren
wir ein und ankerten neben drei Walfischfängern, die dort vertäut lagen.

Gegen sechs Uhr morgens ging Kapitän Sörensen an Land und begrüßte
Berg. Dann mußten wir nach Thingeyre hinüber, um Kohlen zu bestellen
und meinen alten Wirt, den Holsteiner Herrn Wendel, zu begrüßen. Dann
zurück und vor Framnes anlegen; und drei Tage lang war das Leben eitel
Sonnenschein.

Im Grunde ein prächtiger Ort. Der Fjord voll von Fischen und Enten und
Seevögeln, Forellen in den Flüssen, Schneehühner auf den Bergen und
dann die herrlichen Ausflüge zu Pferd. Was will man noch mehr? Hier
mußte man leben können, unterdessen mochte die Welt weiterrollen. --
Die Chinesen schlachten Europäer ab und die Engländer Buren -- was
geht das uns hier an? Man hat Telegraph und Post vergessen -- und das
Telephon.


    Dienstag, 31. Juli 1900.

Ich besuchte einen alten Dichter, Sigvathor Grimsson. Er ist Bergs
nächster Nachbar und sein Pächter. Er ist 60 Jahre alt und hat in
seinem Äußern nicht gerade viel von einem Dichter. Als ich zu ihm kam,
stand er gerade gebückt da und mähte. Er war dabei, einen Rasenhügel
mit einer kurzen Sense zu barbieren, wie sie in Norwegen und Island
benutzt wird, wo die vielen Steine im Gras dazu nötigen.

Erst wurden die notwendigen einleitenden Bemerkungen über dies und
jenes erledigt. Er brachte seine Versicherung, daß er so vornehmen
Besuch nicht erwartet habe, in gutem Dänisch vor, wobei er ständig die
Anrede brauchte: „Mein guter Herr.“ Dann kamen wir ins Plaudern.

Ich fand, es müsse doch mühsam sein, eine Wiese zu mähen, die so dicht
mit Höckern bedeckt sei wie diese, und fragte, wie er dies Jahr für
Jahr tun könne.

Erstaunt entgegnete er, wie es denn anders gemacht werden könne. Ich
meinte, es müsse doch weit besser sein, das Feld flach zu pflügen.

„Nein, mein guter Herr, dann würde ja die Fläche, auf der Gras wachsen
kann, viel kleiner!“

Das war auch ein Gesichtspunkt. Aber sonst war das Pflügen in diesen
letzten Jahren hier nicht mehr unbekannt. Als ich vor zwölf Jahren
nach Grönland reiste, kaufte ich das einzige Pferd auf Island, das, wie
man sagte, vor einem Pflug erprobt war und daher ziehen konnte, was die
isländischen Pferde sonst nicht können.

Dann fragte er, ob ich ins Haus treten wolle. Durch den niedrigen,
gekrümmten dunkeln Gang, der sich fast wie der Hausgang einer
Eskimohütte ausnahm, kamen wir in einen Raum, der so niedrig war, daß
ich nicht aufrecht stehen konnte. Da lagen Bücher die Wände entlang in
Haufen aufgestapelt, meist uneingebunden, von verschiedener Art, von
Familienzeitschriften angefangen bis zu Sagas.

Dann ging es eine Treppe in das Obergeschoß hinauf, das ein gemeinsamer
Aufenthaltsort unter dem Dachboden war: Wohnstube, Arbeitszimmer und
Schlafraum für ihn und die ganze Familie.

Hier lag auf einem Tisch am Fenster sein Arbeitszeug, Feder und Tinte.
Wenn er aber schrieb, saß er auf einem Schemel und hielt ein Brett als
Schreibtisch im Schoß. Hier verbrachte er, soweit ich erfahren konnte,
den größten Teil des Winters und seine sonstige von Landarbeit freie
Zeit.

Er zog seine Manuskripte hervor, sechs dicke Bände über isländische
Priester, schön und dicht beschrieben; dazu kamen noch mehrere Bände
mit Nachträgen.

Über den Inhalt kann ich nicht urteilen. Aber eine Riesenarbeit ist
allein schon die Niederschrift, und sie ist geleistet ohne Hoffnung,
sie jemals gedruckt zu sehen. Es soll eine Arbeit sein, die er
kommenden Geschlechtern hinterläßt und die auf der Kopenhagener
Universitätsbibliothek aufbewahrt werden soll, wenn sie nicht etwa
jetzt der Reykjaviker Bibliothek übergeben wird.

Wahrhaftig, mich überkam Bewunderung für diesen alten Mann, wie er dort
in dem engen Zimmer stand. Für wen arbeitete er? Nicht für Ruhm -- es
müßte höchstens bei der Nachwelt sein. Etwa für die Menschheit?

Arm wie Hiob, in dieser Umgebung, den undichten Torf des Daches so
dicht über dem Kopf, daß er daran stieß. Nie hatte er studiert, nur
immer die Erde gegraben. Ja, wir arbeiten, weil wir müssen, sei es
selbst über isländische Priester.... Unsere Ziele werden groß genug,
wenn unsere Scheuklappen nur das Gesichtsfeld klein genug machen.

Undicht? Ja, das Torfdach war so undicht, daß er, wenn es regnete,
über das Manuskript gebeugt sitzen mußte, damit es nicht aufs Papier,
sondern auf seinen Rücken regnete.

+Das+ ist Island! Niedergedrückt von Erinnerungen, fast bis zur
Verkrüppelung, lebt es in der Vorzeit -- vergißt die Gegenwart -- und
braucht die kurze Sense.

                                *     *
                                   *

In der Nacht des 2. August fuhren wir in düsterer Stimmung wieder aus
dem Dyrafjord hinaus. Wir hatten im Laufe des Tages einen herrlichen
Ritt nach der Kirche und weiter unternommen, und die Familie Berg hatte
den Abend bei uns an Bord zugebracht.

Niemand hatte Lust abzufahren, und mehrere von uns hätten wohl gern
Sturm auf See gehabt, um wieder zurückkehren zu müssen. Aber die See
war schön, und im Norden träumte der Himmel nach Sonnenuntergang in
einer wehmutsvollen bleichen Röte. Ove Hjort sang: „Norweger wollen
fahren.“

Aber nicht immer wollen sie fahren.

Tags darauf machte ~Dr.~ Hjort einen ausgezeichneten Fang. Mit
dem großen Netz fing er im Verlauf einer Viertelstunde mitten in der
Dänemark-Straße, in der Grenzzone, wo sich der warme Irmingerstrom aus
dem Atlantischen Ozean und der Polarstrom begegnen, 128 Fischbruten,
meistens Dorscharten.

Dieser Fund ist von großer Bedeutung, denn er zeigt, daß die Brut von
den Bänken an der Küste, wo die Fische laichen, mit den Strömungen vom
Lande nordwärts ins Meer hinaustreibt, bis das Küstenwasser, das sie
mitführt, hier dem Wasser des Polarstroms begegnet. Die jungen Fische
leben nun ihr freies Leben im Meer, bis sie so groß werden, daß sie aus
eigenem Trieb wieder zu den Bänken zurückkehren.


    4. August 1900.

Gestern kamen wir bei glänzendem Sonnenschein und stiller See an
das Eis heran. Es war ein eigentümliches Gefühl, es wiederzusehen.
Am äußersten Rand trieben kleine lose Stücke, die von der warmen
See aufgezehrt wurden. Weiter weg aber erstreckten sich in düsterer
Eismeereinsamkeit schwere Schollen, unbetreten und ungesehen.

Ich schaute sie mir durchs Fernrohr an, diese weißen Eisflächen, die
ich so gut kannte. Ich überlegte, ob es leicht war, Boote darüber
hinwegzuziehen, und war mitten drin in unserer Fahrt übers Eis und
unserer Drift Grönland entlang vor zwölf Jahren.

Erst fühlte ich mich so überlegen, als Gran und die andern gern ins Eis
hinein wollten. Ich hatte gar nicht den Wunsch, da hinein zu kommen;
ich hatte dort nichts zu tun. Das einzige, was mich interessierte,
schien mir zu sein, ein Stück sibirisches Treibholz aufzufischen, das
im Wasser zwischen den Eisstücken trieb.

Wie ich aber so dastand und hinausstarrte, da überkam mich doch die
Sehnsucht, wieder dort drin zu sein, wieder von einer Scholle aus nach
Fortkommen auszuspähen -- es ist Spannung, Handlung in dem Leben dort...

Der Schraube wegen mußten wir wieder umkehren; sie konnte in den losen
Eisstücken abbrechen. Aber ich blieb stehen und starrte weiter, bis die
schweren Schollen außer Sicht waren.

Wir waren gerade an der Grenze, wo sich die kalte und die warme
Strömung begegnen. Auf der einen Seite der Polarstrom: aus weniger
salzhaltigem, leichterem Wasser bestehend, von den sibirischen Flüssen
gespeist, fließt er an der Oberfläche südwärts die grönländische
Ostküste entlang und trägt die großen Eismassen auf seinem Rücken. Auf
der andern Seite die warme Strömung, der Irmingerstrom genannt, die vom
Atlantischen Ozean nordwärts die Westküste Islands entlang zieht.

Hier fließt das kalte, aber süße und daher leichte Eismeerwasser auf
der Oberfläche, während das warme, salzige und daher schwerere Wasser
des Atlantischen Ozeans unter das Eismeerwasser untertaucht. Und
alles, was es auf seinem Rücken trägt, wird abgeschäumt und bleibt
längs der Grenzlinie liegen, so daß wir diese auf weite Entfernung
wie einen scharfen Schaumrand sehen können, wo die Wasserfläche
zittert und wirbelt. Tiefer unten sind die verschiedenen Schichten
durcheinandergeschoben, abwechselnd warme und kalte.

Heute nacht machten wir gerade in dieser Strömung eine Lotungsstation,
in der wir wie üblich eine vertikale Reihe von Temperaturbeobachtungen
anstellten und von der Oberfläche bis zum Meeresboden Wasserproben
entnahmen. Die Temperatur konnte hier an der Oberfläche in ein paar
Minuten von 3 Grad bis zu 10 Grad Wärme ansteigen.

Es war geplant, mehrere Stationen zu machen und dann nach Island
zurückzukehren. Aber das Wetter ist gut, wir müssen es ausnützen und
weiterkommen. Der Kurs wird daher nördlich von Island bis nach Jan
Mayen gesetzt.

Südlich von uns liegt Island, vor einer Weile im Sonnenschein, jetzt
im Nebel. Ein paar herrliche Tage hatten wir dort gehabt, ein sonniges
Leben. Von den Nebeln kamen wir und zu ihnen kehren wir zurück....

Die Ritte dort am schönen Fjord entlang über die ebenen Gebirgsflächen,
die grünen Täler, die muntere Fahrt, das ansteckende Gelächter, die
schneeblinkenden Berge und weit draußen das glitzernde Meer. Und das
Leben wurde jung und frei.... Man hatte das Gefühl, als könne man sich
hier für die Dauer niederlassen.

Und dann diese guten prächtigen Menschen, die unter freien
Verhältnissen aufgewachsen sind.

Man schließt die Augen und sieht Sonnenblicke über grünen Lehnen --
schroffe Basaltwände darüber -- niedrige isländische Bauernhöfe --
Isländer, die Heu einbringen -- eine graue, schlichte Kirche -- draußen
seewärts der Fjord. Vorn eine Reiterin, die in frischem Trab anführt,
und hinterdrein eine Reihe Reiter und Reiterinnen, und blaue Augen, die
vor Freude blitzen.

Das Bild wechselt -- und in wilder Karriere rast eine ganze Schar im
Wettrennen über den flachen Sandstrand, wo die Wellen die Pferdebeine
umspülen. Das Getrappel der raschen Pferdehufe klingt hart und
taktfest. Über den Himmel ziehen Gewitterböen, mit Nebel und Regen
im Gebirge, während die sinkende Sonne über den Meeresrand durch
Gewitterwolken einen Lichtstreifen auf glitzernde Wellen wirft. Hei,
Mann, ist das Leben schön und gesund!

Unter mir aber erklingt das einförmige Stampfen der Maschine, die uns
unbarmherzig nach Osten und nach Norden in den Eismeernebel hineinführt.

                                *     *
                                   *

Das Wetter hat sich wieder aufgeklärt. Der Gletscher am Land südöstlich
von Kap Nord leuchtet uns am Nachmittag entgegen, halb bedeckt von
Nebelwolken. Es war wie ein Gruß vom Franz-Joseph-Land: die schroffen,
schwarzen Basaltwände unten, darüber die große ebene Schneefläche und
dann der Gletscherkamm, der oben im Nebel verschwand.

Nun ging die Sonne im Meere unter; ein glühendes Stück Regenbogen in
einer blauen Gewitterwolke über den Berggipfeln; und dann einen kurzen
Augenblick, als die Sonne sank, die Wolken dort in Purpurglut und die
Bergspitzen blau, die See dunkel und frisch in der Brise und der Rauch
vom Schornstein wie eine rotgelbe Wolke, während im Nordwesten, wo
die Sonne verschwunden war, der ganze Himmel ein gelbroter Brand über
dunkelblauem Meere war.

                                *     *
                                   *

Es ist Mitternacht. Die See rollt blank und grün. Berge und Gletscher
im Süden stehen düsterblau und scharf. Kalte Schimmer von Schneeflecken
heben sich von einem dunkeln grünblauen Himmel ab. Island und der
Dyrafjord sind in Nacht gehüllt, aber im Norden träumt noch der Himmel
gelbrot und spiegelt sich in blanker See. Es ist Zeit zu schlafen.


    7. August 1900.

Wir kommen von Südwesten in einemfort durch Nebel über das Meer von
Island her. Kurzer Sonnenschein am Mittag und am Vormittag gestattete
uns einige Sonnenhöhenmessungen. Danach mußten wir auf der Höhe der
Insel Jan Mayen sein, aber etwas westlich. Die Temperatur scheint
freilich nicht darauf hinzudeuten, daß wir dem Eise nahe sind, denn das
Wasser ist warm, über 4 Grad, bis zu einer Tiefe von 20 Metern, und
warmes Wasser ist auch noch weiter unten in einer Tiefe von 100 Metern,
ja zum Teil bei 200 Metern.

Aber es muß doch so sein, so große Fehler können unsere astronomischen
Bestimmungen nicht aufweisen. Die Tiefe war 1207 Meter. Nach Osten zu
muß es weniger tief werden, und wir fahren ostwärts.

Aller Augen starrten in den Nebel vor uns, der sich bald etwas
lichtete, bald wieder verdichtete, so daß wir kaum zwei Seemeilen,
zuweilen nicht eine Meile weit sahen.

Zwei Stunden später, um drei Uhr nachmittags, war die Tiefe 1100 Meter;
wir konnten nicht mehr weit entfernt sein.

Eine Stunde später maß die Tiefe 1082 Meter; noch eine Stunde, und sie
war 914 Meter. Das ist spannend. Die Augen starren in den Nebel hinein.
Man glaubt eine Landzunge zu sehen, die bald kommt, bald verschwindet.

Die Tiefe wird allmählich geringer, bis auf 658 Meter. Der Kurs ist nun
genau nördlich, aber auf einmal wird das Wasser wieder tiefer.

Wo sind wir? Sind wir westlich oder östlich von der Insel? Nach dem
Besteck müßten wir etwas +östlich+ sein, aber der Kompaß scheint in
diesem Fahrwasser wenig zuverlässig. Nach den Sonnenhöhen müßten wir
nicht viele Meilen +westlich+ sein, und ein Sonnenblick, den wir am
Nachmittag hatten, ergab eine neue Beobachtung, die das bestätigt. Es
+muß+ richtig sein. Aber diese zunehmende Tiefe?

Trotzdem wollen wir nach Westen zurückhalten. Nimmt die Tiefe zu, dann
müssen wir westlich sein, und dann gilt es nur die Breite zu halten und
nach Osten zu gehen, bis wir auf Land treffen.

Etwas später ist die Tiefe ungefähr dieselbe, aber der Nebel zerstreut
sich ein wenig, und dort im Osten und Nordosten hält sich beständig ein
merkwürdig heller Schein, mit dunkeln Bänken nahe dem Horizont, der
Land mit Vorsprüngen ähnlich sehen könnte. Er kommt und verschwindet
immer auf derselben Stelle. Wir schlagen diese Richtung ein. Da muß
etwas sein; unterdessen gehen wir hinunter und essen.

Als wir bei Tisch sitzen, ruft der Kapitän, nun sehe er bestimmt Land.

Alle Mann hinauf! Es ist ebenso neblig wie vorher. Aber dort im Osten
erkennen wir am Horizont deutlich eine dunkle Landzunge. Bald wird sie
etwas deutlicher, bald verschwindet sie wieder fast ganz. Das ist Jan
Mayen! Aber wo? Nördlich oder südlich?

Wir steuern darauf los. Der Nebel kommt und nimmt sie weg. Dreiviertel
Stunde fahren wir und müßten nun unmittelbar davor sein. Aber nichts
sehen wir außer dichtem Nebel, und die Tiefe ist wieder größer geworden.

Wir sind froh, daß wir unzweifelhaft Land erblickt haben, nun können
wir kaum noch zwei Seemeilen entfernt sein. Wir müssen still liegen
und warten, während sich die Augen anstrengen, um das Land noch einmal
einen Augenblick zu sehen, und die Ohren, um womöglich die Brandung am
Strand zu hören.

Der Nebel wird bald leichter, bald dichter, aber nichts ist zu sehen
und zu hören, nur Nebel und Meer, mit einer schwachen Dünung aus
Nordwest.

Endlich zerstreut sich der Nebel wieder etwas, und man sieht von neuem
die runde Bergkuppe dunkel aus dem Nebel hervorscheinen -- nun ganz in
der Nähe. Dann tritt weiter nordwärts ein Stück Land dunkel hervor,
südlich aber nichts.

Sollten wir in der Nähe der Südspitze sein?

Bald wird der Nebel wieder ganz dicht. Wir können nichts erkennen
und wir können nichts anderes tun als liegen bleiben und warten.
Näher unter Land zu gehen, scheint bei solchem Wetter nicht ratsam.
Vielleicht bleiben wir hier die ganze Nacht liegen....

Das Land ist wieder ganz weg; wir waren ihm aber so nahe, daß wir die
Brandung am Strand sehen konnten. Wir gehen unter Deck.

Als ich später am Abend wieder auf Deck kam, konnte ich einen
Augenblick die Bergkuppe schärfer und dunkler sehen als zuvor. Nun
gewahrte ich auch ganz deutlich eine Landzunge weiter im Süden. Aber
dort, was war das? Dort vor der Landzunge? Eine Klippe, die aus der See
aufragt, und daneben noch ein niedrigerer Stein?

Das muß die Klippe an der Südostspitze des Landes sein. Ich rufe den
Kapitän. Er sieht sie auch, bald ganz deutlich, bald wieder draußen im
Nebel.

Kurz zuvor hatte der Steuermann einen Blick tun können auf den
Beerenberg selbst, oben im Nebelmeer, aber der Berg war sofort wieder
verschwunden.

Lange bleibe ich stehen und schaue. Alles ist wieder verschwunden. Nun
aber kommt ein Riß in den Nebel und siehe, jetzt wird die Spitze wieder
sichtbar und die Klippe davor mit einem Spalt in der Mitte und ein
kleinerer Fels südlich davon.

Nun ist kein Irrtum mehr möglich, und langsam dampfen wir nach Süden,
um südlich um die Insel herum auf die Ostseite zu kommen, wo im Schutz
des Landes gewiß klareres Wetter sein muß, denn der Wind kommt von
Westen.


    8. August 1900.

In der stillen grauhellen Nebelnacht fuhren wir langsam um die
Südspitze der Insel. Als wir weiter nach Osten kamen, wurde das Wetter
soweit klar, daß wir die grüngelben Abhänge des Berges oben in den
Senken zwischen den Gipfeln und Kratern auf dem Rücken des Landes sehen
konnten. Darunter waren die jähen Lavawände, die von Nebelschwaden
umgeben schwarz ins Meer abfielen.

Die Vorsprünge der Ostseite der Insel nach Norden zu traten nach
und nach mehr hervor. Der Bautastein, der dort vor der schroffen
Lavalandzunge aus der See aufragt, muß die „Leuchtturmklippe“ sein. Wir
spähen immer weiter hinaus, aber nordwärts wird kein Land mehr sichtbar.

Im Lee der Insel, auf der Ostseite, ist die See ganz glatt geworden,
und wie zu erwarten, ist das Wetter hier klarer.

Eine Nacht mit wunderlicher Nebelstimmung, so still und öde. Auf der
glatten Seefläche unter den schwarzen Lavawänden lagen gleich schwarzen
Flecken da und dort Alke und ein vereinzelter Krabbentaucher. Sie
schwammen mit Wohlbehagen -- zuweilen flatterten sie vor dem Schiffe
über den Wasserspiegel, konnten sich aber nur schwer erheben; es war zu
still -- und dann tauchten sie. Einer stieß seinen ärgerlichen Schrei
aus.

An den Lavawänden entlang hing oben eine helle Nebelschicht. Darüber
ragten hier und da die eigentümlichen Lavagipfel und Krater hervor,
mit ihren Töpfen voll Schnee. Jetzt werden sie ganz klar, und die
grüngelben Abhänge heben sich von der lichten Nebeldecke ab.

Wir halten, um eine Angelschnur auszuwerfen und zu prüfen, ob hier
Fische sind. Wie still wurde die Nacht, als die Schraube aufhörte zu
schlagen.

Ganz anders ist es hier als sonst irgendwo. Landeinwärts erhebt sich
dieses düstere Vulkanland, halb in Nebel gehüllt. Krater an Krater,
mit scharfen Kämmen dazwischen. Keine Täler, nur Kare, von den kleinen
Gletschern ausgehöhlt, und hier und da ein Bach, der keine Rinne
gegraben hat, sondern von der Schneedecke über die hohen Lavawände
in die See hinabstürzt, ein weißer Streifen auf schwarzem Grund.
Und am Fuße der Wände tiefe Spalten und Höhlen, darunter der glatte
Meeresspiegel. Oben darüber wälzt sich das Nebelmeer von Nordosten
her, und draußen liegen das blanke Meer und der Nebel. Es ist wie eine
ausgestorbene Welt auf dem Monde oder auf einem vergessenen Planeten.

So liegt sie hier durch die Jahrtausende, diese einsame Insel, dem
Menschenauge verborgen, und niemand erfährt, was sie im Wechsel der
Zeiten durchmacht.

Bei der Spannung der Erdkruste unter dem Meer wurden einst die
inneren glühenden Massen aus der Tiefe in einem Ausbruch nach dem
andern emporgetrieben. Das Meer stöhnte und zitterte in furchtbaren
Explosionen. Meerbeben folgten, gewaltige, berghohe Wellen wälzten
heran, zerschmetterten das Eis im Norden und warfen die schweren
Schollen in krachendem Tumult übereinander. -- -- --

Dann stieg die Lava in kochendem Nebel über die Meeresfläche.
Vulkankegel bauten sich auf, Aschenregen verfinsterte den Tag zur
Nacht. Höher stiegen die Vulkane, Krater an Krater öffnete sich. Aber
am gewaltigsten erhob sich ein Kegel; er stieg und stieg bis mehr als
2500 Meter über die Meeresfläche, es war der Beerenberg. Er wurde von
schweren Firnen und Gletschern bedeckt.

Bis in späte Zeiten hinein hat es Ausbrüche auf der Insel gegeben.
Lavaströme sind hervorgebrochen, Gletscher sind geschmolzen, und
Wassermassen mit Eis und Schutt sind in wildem Lauf hinuntergeschäumt.
Der Aschenregen hat den Schnee und das Eis weit in die See hinaus mit
dicken schwarzen Lagen bedeckt. Erde und Meer haben gezittert. Der
Erdkessel ist übergekocht, und die Stille der Polarnacht ist von dem
Brüllen und Krachen des ausströmenden Dampfes erschüttert worden. Diese
ganze Eiswelt war eingehüllt in das kochende, brausende Wolkengemisch...

       *       *       *       *       *

Kein Fisch! -- Wir dampfen wieder nordwärts, um in die „Treibholzbucht“
hineinzufahren. Vom Land im Norden erkennen wir im Nebel nur dann und
wann die Eierinsel.

Hjort war auch herausgekommen; stumm standen wir unter dem Nebeldach
auf der Brücke und schauten in diese fremde Welt hinein. Die Eierinsel
und die Lavalandzunge im Norden traten allmählich deutlich hervor.
Das mußte die „Lotsenbootklippe“ sein, der schwarze Fels, der wie ein
Segelschiff dort auf Backbordbug aus der See aufragte. Und dort weiter
nördlich ist die Bucht, in die wir hinein wollen.

Aber schau, nun zerstreut sich der Nebel! Er bekommt Risse, und aus den
Nebelmassen tritt höher und immer höher der Beerenberg mit weißblauen
Gletschern und schwarzer Lava dazwischen hervor; es ist, als ob er sich
auf uns herniederwälzte.

„Da, sehen Sie, Kapitän!“ Eine Weile sieht der Kapitän hin, ohne ein
Wort zu äußern, dann zuckt er die Achseln und sagt:

„Uff, ist das unheimlich! Es ist, als ob sich ein Ungeheuer auf einen
herabwälzte.“

Ja, hier ist Trollebotten, das Land der Reifriesen der norwegischen
Mythen. Etwas Derartiges habe ich wenigstens nirgends gesehen. Diese
weißen Gletscher mit blaugrauem Eis dazwischen, die unter dem Nebeldach
leuchten und sich nach allen Seiten unmittelbar ins Meer wälzen, hier
und da mit schwarzen Basaltwänden darunter,

    „Die düstere Welt, wo keine Sonne scheint.“

Wir fuhren in die Bucht hinein. Angelleinen wurden ausgelegt, und am
hellen Morgen gingen wir schlafen und träumten von lachenden Wiesen.

                                *     *
                                   *

Mit den Leinen fingen wir nichts. Mehrere Trawlzüge wurden unternommen,
aber auch sie ergaben keinen von unsern südlichen Fischen, nur kleine
~Aragonus Cottus~ und ähnliche in Mengen.

Wenn man an all die Fische denkt auf den Bänken bei Island, was nicht
viel weiter südlich ist, und bei Finmarken im Osten, was ebenso hoch im
Norden liegt -- ja oft bei Spitzbergen, noch viel weiter nördlich --,
dann konnte es nicht unwahrscheinlich dünken, daß auch auf den Bänken
bei dieser Vulkaninsel Fische vorhanden wären. Aber es scheint doch
nicht so zu sein. Die Tierwelt muß hier ziemlich arktisch sein, und für
unsere großen Fische gibt es wohl zuwenig Nahrung.

Am Nachmittag schossen Ove Hjort und ich unter den Lavawänden ein
halbes Hundert Alke. Das war doch wieder etwas, die Flinte gebrauchen
zu können und die Alke, einen nach dem andern, auf ihrer sausenden
Flucht an uns vorüber ins Wasser stürzen zu sehen.


    9. August 1900.

In der Nacht, während wir vor Anker lagen und einige Heringsnetze
ausgelegt hatten, mit denen wir aber auch nichts fingen, zogen einige
von uns wieder ins Land hinein. Zuerst die Lavawände entlang, um Alke
zu schießen.

Auf der Eierinsel gab es eine Bucht, die das Ödeste, Unheimlichste,
Verzaubertste ist, was ich je gesehen hatte. Unten ein schmaler, öder
Sandstrand mit einigen Stücken Treibholz, gleich verwitterten Knochen.
Darüber dunkelbraune Lava- oder Tuffwände, von Wasser und Frost in den
gekrümmtesten knorrigsten Formen zerfurcht, überall von oben bis unten
gewunden und gezerrt wie Knoten und Sehnen. Nichts Lebendes ist zu
schauen. Nicht ein einziger Schneefleck, alles ist jetzt um Mitternacht
dunkel, braun und düster.

Wahrlich, das ist der „Trolle-Botten“ im Norden, im „Nebelheim“. Hier
wohnen Drachen und wunderliche vorweltliche Tiere -- für jetzt lebende
Wesen keine Stätte des Bleibens.

Wir gingen weiter und dann wieder zurück -- überall dasselbe Bild.
Anderwärts saßen doch die Alke reihenweise übereinander und belebten
die Gegend. Aber hier gingen all die tiefen, krummen Furchen von oben
nach unten, so daß für Vögel kein Raum war.

Südlich, vor der Eierinsel, ragte ein gewaltiger Lavafels aus der See
empor, die seinen Fuß umspült und tiefe Löcher in ihn höhlt, so daß er
wohl bald umstürzen wird.

Weiter südlich, in der „Treibholzbucht“, gingen wir durch die Brandung
an Land und zogen das Boot auf den Strand, so gut wir konnten. Wir
gingen tief ins Land hinein, aber nie habe ich eine trostlosere
Landschaft gesehen, nur eine Fläche verwitterter Lava oder Asche,
schwarz und traurig, ohne einen Grashalm. Nur in weiter Ferne sahen
wir in den schwarzen Bergen grüngelbe Abhänge. Aber dorthin kamen wir
nicht, trotz unseres eifrigen Botanikers, der gern etwas für seine
Botanisiertrommel haben wollte.

Nebel lag auf allen Bergen ringsum. Nur über den Kämmen im Nordwesten
leuchtete die Sonnenröte unter dem Nebeldach und erinnerte daran, daß
es irgendwo in der Welt Sonnenschein gab. Aber das mußte weit, weit weg
sein.

Als wir gegen Morgen an Bord gingen, zerstreute sich der Nebel über den
Bergspitzen im Süden. Draußen im Nordosten färbte sich der Himmel rot
von der Sonne; in seiner Art war das ganz schön.

       *       *       *       *       *

Von Jan Mayen glaubten wir genug gesehen zu haben. Ganz hatte sich
uns der Beerenberg freilich nicht gezeigt, und vielleicht erhält, wer
ihn an einem Tag mit Sonnenschein zu sehen bekommt, ein anderes Bild
von der Insel. In meiner Erinnerung hat sich die Insel unauslöschlich
befestigt. Aber zu dieser Erinnerung werde ich wohl kaum gern
zurückkehren....

Im Verlauf des Tages führten wir neue Trawlzüge aus und fanden unter
anderm, daß hier die Algen bis in eine Tiefe von 90 bis 100 Meter
hinab wachsen. Das kommt daher, daß das Wasser infolge des dürftigen
Planktons so klar und durchsichtig ist und das Sonnenlicht daher im
Sommer in große Tiefen hinabdringen kann. Das Meer hat die Klarheit und
den Reichtum an Pflanzenleben, die Luft und Land entbehren müssen.

Am Nachmittag ließen wir die einsame, der Erinnerung bare Insel in
ihrer Nebelwelt zurück. Schnell verschwand sie unter dem Horizont im
Nebel, und es ging ostwärts nach Norwegen.

                                *     *
                                   *

Am Abend nahmen wir eine Temperaturreihe bis auf den Grund. Da
ereignete sich leider das Unglück, daß beim Heraufholen der Lotleine
mein neu erfundener Wasserschöpfer in voller Geschwindigkeit gegen den
Block des Flaschenzugs rannte, die Leine sprang aus, und das teure
Instrument mit seinen kostbaren Thermometern verschwand in der Tiefe.
Einen Augenblick gab es mir einen Stich ins Herz -- mein Blut stand
still; auf das Instrument war ja monatelange Arbeit verwandt. Aber
dann erinnerte ich mich, daß es nur ein Wasserschöpfer war, und wir
holten einen andern hervor. Die letzte Tiefenmessung mußte wiederholt
werden, und wir setzten sie bis zum Grunde in 1530 Meter Tiefe fort.
Und so war das Unglück nicht weiter groß. Aber trotzdem -- es war viel
verloren, und man hat mit genug Schwierigkeiten zu kämpfen.


    11. August 1900.

Wir dampfen in der Nacht mit voller Fahrt nach Osten über die große
rollende Wasserfläche. Auf einmal denke ich daran, daß es Sommer ist.
Und dies ist wieder ein Sommermorgen mit zunehmendem Licht und mit
blaugrauen echten Kumuluswolken. Weit hinten liegt der Nebel -- und
dort vorn baut die Sonnenröte ihr wunderbares Elfenland, blaue Berge
mit goldenen Kämmen, Sunde dazwischen, und hier und da segelnde Schiffe
von Wolken, die wieder verschwinden. Dort oben im Nebel hatte man den
Sommer ganz vergessen.

Nun starre ich in der zunehmenden Morgenröte in das lockende Wolkenland
hinein. Es ist, als steige Norwegen dort hinten über den Meeresrand.
Du herrliches Land! Es ist einem, als wäre man weit, weit weg gewesen,
seit du im Meer versankst.

Über uns segeln Raubmöwen in ihrem leichten Falkenflug (meist
~Stercorarius crepidatus~, seltener ~S. pomarinus~, fast alle mit
heller Brust, selten dunklere Formen).

Wie auf der Reise nach Island kommen sie hier in ganzen Scharen,
bis zu zehn und zwanzig auf einmal, und sind fast Alleinherrscher.
Von Eissturmvögeln sind verhältnismäßig wenige zu sehen, und von den
Stummelmöwen hier und da eine.

„Das ist ein totes Revier, hier gibt’s weder Vogel noch Fisch,“ sagt
der Steuermann, der neben mir auf der Brücke steht und Ausschau hält.

Vorn auf der Back stehen die Leute; sie unterhalten sich und sehen
ostwärts in den aufsteigenden Tag. Oben auf dem Anker sitzt Ove Hjort
und singt: „Schönes Tal“. Seine schlanke Gestalt hebt sich dunkel vom
Himmel und der hellen Meeresfläche ab.

Aber es ist bald vier Uhr, und ich muß wieder hinunter, um das Wasser
zu untersuchen, ob es in der Nähe des Golfstroms wärmer wird, oder ob
sich derselbe merkwürdige Wechsel zeigt wie früher......

       *       *       *       *       *

Es ist weiterhin dasselbe Mischungswasser.

Oben fliegen die Raubmöwen. Einmal kommt eine Stummelmöwe. Da stoßen
sie in wilder Jagd auf sie herab, bis sich das geplagte Tier auf das
Wasser legen muß. Sonst habe ich hier oft die Raubmöwen selber sich
dazu herablassen sehen, etwas im Wasser zu fischen, wenn sie keine
Stummelmöwen in der Nähe haben.

Aber dort kommt Ove Hjort mit der Gitarre und singt:

    Fade jum, fade jum, sagte der König,
    Fade jum, sagte Seine Majestät

und dann singt er: „Santa Lucia“ und „Wenn die Blätter leise rauschen“.

Dort draußen steigt der Atemdampf von Walfischen auf. Ein paar große
Wale ziehen ostwärts denselben Weg wie wir.


    Drei Uhr nachmittags.

Nach einer arbeitsreichen Nacht habe ich geschlafen und liege hier
auf dem Heck und schlucke Sonnenschein. Dunkelblaues Meer, hellblauer
Himmel, hoch oben weiße segelnde Sommerwolken und Norwegen im Osten
immer näher rückend, hinter dem scharfen blauen Meeresrand.

Dort vorn sind Netze zum Trocknen aufgehangen und heben sich schön
rotbraun von der blauen Fläche ab.

Die Sonne brät einen bis in die Seele hinein, und das Leben ist blau.
Kann man je zuviel Sonnenschein bekommen?

Hoch oben stoßen die dunkeln Raubmöwen ihre Klageschreie aus. Sie
folgen uns noch. Was willst du hier im Sonnenschein, du Alk, fliege
heim zu deinem Nebel und störe nicht die Sommerträume des Mannes.

Wie schön die Mastspitze golden gegen den blauen Himmel leuchtet! Sie
erinnert mich an die goldene Mastspitze der „Fram“, wenn ich sie vom
Eise her weit draußen in blauer Luft schaute. Es war so wunderbar
einsam, dieses Gold dort hoch oben in der kalten Luft -- ein Gruß aus
einer reicheren Welt. -- Segelt weiter, blinkende, goldene Träume!


    Am Abend.

Gerade jetzt etwas Freudiges.

Tagelang haben wir seit der Abfahrt von Jan Mayen nach Medusen
ausgespäht, Tag und Nacht. Nun sahen wir endlich die ersten. Das große
Netz muß hinaus, während wir zu Abend essen.

Gran untersucht das Oberflächenplankton. Große Freude! Plötzlich
tritt jetzt in Mengen ~Ceratium tripos~ auf, eine Kieselalge, die
das Meerleuchten hervorruft -- also Küstenwasser oder Wasser von den
Bänken. Gerade das, was wir nach den Medusen erwarten müssen.

Was wird das Netz bringen? Es wird hereingeholt. Große Spannung! Als
es dann aber voller Medusen war und es zwischen ihnen von Fischbrut
wimmelte, da herrschte an Bord wilde Freude. Gran lief herum und sang
und tanzte. Der Kapitän kam aus seiner Kajüte im bloßen Hemd heraus
und wollte es nicht glauben, bis ihm ein ganzer Teller voll wimmelnder
Fischbrut präsentiert wurde.

Ja selbst der junge Jakob mit seinem Zahngeschwür mußte, in ein großes
Tuch eingemummelt, hervorkommen und sich das Netz ansehen, das dieses
Wunder: Fischbrut, reine Dorschbrut mitten im Meer zwischen Norwegen
und Jan Mayen, mehr als zweihundert Seemeilen vom Lande, heraufgeholt
hatte. Die Freude steckte alle an Bord an. Ein neuer Schritt vorwärts
zum Verständnis des Meerestierlebens.

Es muß so vor sich gehen, daß im Frühjahr das Wasser an der Oberfläche
an den Küsten und über den Bänken durch die zunehmende Menge Flußwasser
vom Lande her stark gespeist wird. Außerdem wird dieses süße
Oberflächenwasser im ganzen Vorsommer stark von der Sonne erwärmt.
Auf diese Weise wird es viel leichter als das salzhaltige Wasser
und muß sich infolgedessen weiter ins Meer hinaus verbreiten als im
Winter. Dadurch kommt dieses Oberflächenwasser dazu, auch sein Plankton
mitzuführen, wie auch diese roten Medusen, ~Ceratium tripos~, und die
Dorschbrut, die im Frühjahr an den Bänken gelaicht ist.

Es ist übrigens eigentümlich, daß diese Dorschbrut, die also mit dem
Wasser forttreibt, sich meistens gerade unter den großen roten Medusen
aufhält, wo sie wohl bis zu einem gewissen Grad am besten geschützt ist.


    +Auf dem Meer+ zwischen Jan Mayen und Norwegen,
    12. August.

Gestern abend, hier mitten im Meer treibend, legten wir Leinen mit
Hunderten von Angelhaken aus, und heute früh holten wir sie herein und
fanden eine Menge Rotfische, große Sebastes norvegicus. Das hatten wir
gerade erwartet. Es war also richtig, daß der Rotfisch hier draußen
über den großen Meerestiefen lebt, etwa 80 bis 90 Meter tief, und in
solchen Mengen. Und das wissen die Seehunde, wenigstens die Klappmützen.

Der Himmel ist bewölkt, und das Meer lächelt nicht. Trübes Wetter
im Herzen -- weshalb? Und morgen sehen wir vielleicht Norwegen! Ich
habe wohl die letzte Nacht zuviel gearbeitet, und diese Tage zuwenig
geschlafen. -- Schwermut. -- Die See rollt bleigrau......

So viele Rätsel unter der ewig wogenden Fläche. Und wie wenig wissen
wir noch von dem, was da unten vorgeht und sich bewegt.

Droben im Polarmeer hatte ich durch fortlaufende Temperaturmessungen
der Wasserschichten in verschiedenen Tiefen eine Ahnung davon bekommen,
daß in diesen Schichten große Wellen gingen, von denen wir an der
Oberfläche des Meeres nichts merkten.

Nun haben wir, indem wir viele Stationen dicht nebeneinander machten,
diese Verhältnisse näher zu erforschen versucht. Es bestätigt sich,
daß es solche unbekannte Wellen in der Tiefe auf den Grenzen zwischen
den Schichten geben muß, so daß die schwereren Schichten unten in den
leichteren Schichten oben auf- und abwogen. Und die Wellen, die dort
unten langsam rollen, sind groß, sie können 40 und 50 Meter hoch sein;
ja, es ist die Frage, ob nicht zuweilen solche von 100 und 200 Meter
Höhe vorkommen.

Hier an der Oberfläche merken wir sie nicht. Man denke sich, daß wir
auf einmal solche Wellen daherrollen sehen. Aber das verhindert die
Schwerkraft. Der Gewichtsunterschied zwischen Wasser und Luft ist zu
groß; solche Wellen würden an der Oberfläche des Meeres, wo sie sich
in die Luft erheben sollten, zu schwer werden im Verhältnis zu der
Kraft, die sie vorwärts treibt. Und selbst wenn man sie sich durch
ein zufälliges Ereignis gebildet denken könnte -- z. B. durch einen
Vulkanausbruch auf dem Meeresboden oder durch ein Erdbeben --, würden
sie sofort zusammenfallen und eine entsprechende Höhe annehmen. Anders
dort unten, wo der Gewichtsunterschied zwischen der einen Schicht und
der andern so gering ist.

Wenn wir auf einem hohen Berge stehen, das Nebelmeer unter uns, und die
Sonne scheint darauf, dann können wir dort große Wellen sehen. Das sind
die Wellen in den Luftschichten. So ungefähr müssen wir es uns auch
unten im Meere denken....

Im übrigen ist es merkwürdig, wie regelmäßig verteilt wir die
Wasserschichten in der Tiefe gefunden haben; ganz anders gleichmäßig,
als alle früheren Untersuchungen erwarten ließen.

In allen Tiefen von mehr als 800 bis zu 1000 Metern ist das ganze
Nordmeer voll von kaltem Wasser, unter Null Grad, und die Temperatur
nimmt regelmäßig ab bis zum Grunde, wo sie ungefähr 1,2 Grad unter
Null ist. Der Salzgehalt ist überall bis zum Grunde fast genau
derselbe, und die Veränderungen in diesen tiefen Schichten von Ort
zu Ort sind verschwindend klein. Auch in den höheren Schichten
sind die Veränderungen immer gradweise und regelmäßig. Das sind
wichtige Entdeckungen; die Meeresforschung wird zu einer mehr exakten
Wissenschaft.

       *       *       *       *       *

Draußen nimmt die Dünung von Norden her zu. Der Himmel verfinstert
sich, und es beginnt zu wehen. Sollte es in der Nacht Sturm geben?

Durch die Wolkenschicht im Nordwesten dringt ein goldener Sonnenstrahl
und nach unten ein Lichtschleier, der ganz draußen am Meeresrand
glitzert; dann verschwindet er wieder. Die Abenddämmerung bricht an.
Das Meer wogt über seine Rätsel in die Nacht hinein.

Ove Hjort singt im Laboratorium, zwischen Helland-Hansens Flaschen am
Tisch sitzend, zur Gitarre: „Die Hütte ist geschlossen“, während die
Schraube uns ostwärts nach Norwegen arbeitet.

                                *     *
                                   *

Am Abend des 14. August kamen wir unter die Küste von Norwegen, diesem
Märchenlande des Nordens. Auf der See draußen begann es zu stürmen, wir
mußten daher unsere Arbeit auf der letzten Station etwas abkürzen.

Wir steuerten in den Sund hinein. Südlich lagen die Lofotenberge wild
und gezackt. Mit Firnen und Schneefeldern, fast bis zum Fuß herab,
stürzten sie aus dem Nebel in die See, im Bunde mit der Welt, aus der
wir kamen. Kein Platz für ein menschliches Heim -- das reine Trollheim.

Auf der Nordseite lag die Hasselinsel, weiße Häuser auf grünen Wiesen,
die gerundeten Anhöhen mit Birkenwald, Gras und Moos bis zur Spitze
hinauf begrünt, nicht ein nackter Fleck......

Ist das nördlich des Polarkreises? Wie wunderbar friedlich und
freundlich lächelt es uns entgegen an dem düstern Abend unter dem
dunkeln, drohenden Nebeldach, das sich von dem Trollheim im Süden nach
Norden erstreckt. Ein Gruß von Sommer und Frieden.

Ist +dies+ die Schönheit? Oder ist es das unbändig Wilde auf der andern
Seite? Oder das Große, Rollende, immer Wechselnde dort draußen?......
Ich weiß es nicht mehr. -- Aber hier ist Frieden, der dazu verlockt,
haltzumachen, sich umzusehen und zu ruhen.

Weiter drinnen der Fjord, waldbewachsene Anhöhen und dahinter der
Mösattel und Gipfel mit Gletschern, die in den Wolken verschwinden.

Es ging südwärts zwischen Holmen und Schären nach dem engen Raftsund,
die Bergwände in Nebel gehüllt. Nachts hielten wir in Hannö, um das
Morgengrauen zu erwarten.

Am Land erhielten wir vom Kaufmann die neuesten Zeitungen: König
Umberto erschossen, in China ungefähr alles beim alten, aber keine
Neuigkeiten von zu Hause.

Am nächsten Morgen steuerten wir in den Westfjord hinaus und westwärts
nach Svolvär. Ein steifer Wind, aufgeregte See, immer noch treibender
Nebel über den Bergspitzen, aber auch ein Sonnenstrahl.

Um acht Uhr morgens erreichten wir Svolvär. Das erste war, an Land zu
gehen und Telegramme aufzugeben. Endlich, am Nachmittag, kam Antwort
von zu Hause -- alles wohl! Am Abend veranstalteten die freundlichen
Menschen von Svolvär und Kabelvåg ein Fest für uns.

Am nächsten Morgen kam „Vesterålen“. Hjort, Kapitän Sörensen und die
andern begleiteten mich an Bord. Trotzdem es nach Süden ging, stimmte
die Trennung wehmütig, und lange winkten wir, bis „Vesterålen“ durch
die enge Einfahrt hinausfuhr. Die weiße Mütze Hjorts, der auf der
Brücke stand, verschwand hinter dem Holm, und das Schiff tauchte in die
Wogen, die in den Westfjord hineinrollten.

Der uns entgegenwehende steife Wind brachte uns drei Stunden
Verspätung, so daß wir schon darauf vorbereitet waren, in Drontheim
zu spät zum Zug zu kommen, trotzdem Kapitän Nielsen alles tat, um die
Verspätung einzuholen.

Am Freitagabend, 17. August, fuhren wir in den Drontheimfjord. Wie
friedlich und still es hier war! Der Fjord breit und schön, die Höhen
rundum mit Nadelwald bestanden, darunter Gehöfte, Wiesen und Äcker nach
dem Wasser zu. Ach dieses Forscherleben, ewig auf der Jagd nach allen
Rätseln, ein verwickelter, ruheloser Apparat! Man sehnt sich zurück
nach dem einfachen Leben. -- --

Der Zug hatte auf uns gewartet, und so ging es in der Nacht nach Süden,
den Gulafluß entlang.

Wie wohltuend war es, wieder zu den dunkeln Nächten zurückgekehrt zu
sein. Wie die Bergrücken dort oben sich schwarz von dem dämmernden
Himmel abheben! Vom Mond dringt etwas Gold durch die Wolke über der
Schlucht im Süden. Unten brummt der Fluß mit Stromschnellen und
schwarzen Gumpen zwischen den Tannen. Ich erkenne ein Boot. Sie fischen
jetzt wohl in der Nacht.

Ich liebe diese dunkle Nacht, wenn sie so sachte sich senkt,
alle Kleinlichkeit bedeckt und nur die großen einfachen Linien
durchschimmern läßt -- und die Sterne.

[Illustration]



Herbstjagd in den Bergen


    +Ormanhütte+, 24. September 1903.

Ein Waldtal tief im Gebirge, in dem noch nie das Lautgeben der Hunde
zur Hasenjagd von den Bergen widerhallte, hat seinen eigenen Reiz; es
ist eine stille Welt für sich.

Vorigen Herbst war ich eines Tags durch ein solches Tal gekommen.
Andres und ich waren oben im Gebirge auf der Hühnersuche gewesen und
hatten kein Glück gehabt. Die Schneehühner hielten nicht, und wenn sie
aufstanden, verschwanden sie im Nebel. Es war ein nasses, garstiges
Wetter.

Dann aber kamen wir unter das Nebeldach hinab in dieses Tal, wo
der Wald so still dastand, das Moos so weich und grün war, und der
Bach sich zwischen sanft abfallenden Hängen im flachen Talgrunde
schlängelte. Im Moor entdeckten wir Elchspuren. Wie geschützt und üppig
war es hier; kein Kampf, keine Hast.

Wir zogen unsern Proviant hervor, warfen uns unter einer Kiefer am
Rande des Moors in das Heidelbeergesträuch und steckten uns dann eine
Pfeife an. Ich hatte nur den einen Wunsch: hätte ich doch den Hasenhund
mitgenommen! Hier war so schöner Waldbestand, ein herrliches Revier,
die Jagd mußte hier leicht und ergiebig sein.

Seitdem lockte mich dieses Waldtal dort im Westen immer von neuem, und
so oft ich im Gebirge war, besonders am Nachmittag, schaute ich hinüber
zu diesen bewaldeten Abhängen zwischen den baumlosen Gebirgsflächen, wo
der Abend schon kühle Schatten warf.

Vorgestern früh brachen wir endlich auf, Andres und ich. Nun wollten
wir einen Versuch machen, erst mit den Schneehühnern und am nächsten
Morgen mit den Hasen. Es war so schönes Herbstwetter. Die Schneehühner
mußten jetzt in die Berglehnen hinaufgezogen sein. Wohl waren wir in
diesem Herbst schon einmal dort gewesen, ohne mehr als einige alte
Hühner zu finden, aber damals herrschte ein rasender Westwind.

Jetzt hegten wir große Erwartungen. Es ging über den Velebuberg und die
flachen Strecken mit Mooren und Hügeln hinter den Sötliseen -- aber
nirgends war etwas von Schneehühnern zu sehen.

Dann den Waldhang ins Tal hinab über Windbruch, Wipfel und Zweige; hier
und da gab es Hasenspuren, und Sang zog an der Koppel. Aber jetzt galt
es den Schneehühnern.

Auf Liset fanden wir eine Almhütte voll mit Heu, wo wir die Nacht
schlafen konnten. Wir legten unsere Sachen ab, aßen in aller Eile,
bevor wir hinaufzogen nach dem lockenden Weidengesträuch oben auf den
kahlen Höhen über der Waldgrenze.

Den ganzen Tag über trotteten wir über dieselben Strecken, wo wir
voriges Jahr um diese Zeit Volk um Volk gefunden hatten; aber kein
Schneehuhn war zu sehen, nicht einmal ein einsamer Hahn, kaum eine
Feder. Alles war hier wie ausgestorben. Nur an einer Stelle hatte ein
Volk Spuren hinterlassen, doch es war nirgends zu finden. Gab es zuviel
Füchse? Fuchslosung fanden wir an mehreren Stellen, und als wir das
letztemal hier waren, hörten wir den Fuchs die ganze Nacht oben in den
Halden bellen.

Aber herrliches Wetter war es. Die Sonne sengte auf die Gebirgsflächen
herab wie in Hochsommerzeiten. Dort im Westen lag im blauen Sommernebel
der Gausta mit seinen weißen Schneestreifen; die Berge von Telemarken
mit Skorve und Lifjell wogten südwärts in leichtem Dunst, und unter uns
die Waldrücken und Talsenken von Hovin, ein Meer von Tannenwäldern mit
goldenen Tupfen, den gelben Birken, die ihr Laub noch nicht verloren
hatten. Und mitten in den Wäldern lagen die blanken Seen still und
weltenfern.

Immer haben solche Weiher im Walde etwas Friedvolles, wenn man sie von
weitem sieht. Sie spiegeln den Himmel und spiegeln die Halden, und wenn
man nicht zu nahe kommt, möchte man beinahe glauben, der Wald ringsum
sei noch nicht angetastet von Menschenhand.

Eine solche Waldwelt sehe ich immer mit einem Gefühl, wie es etwa die
ersten Jäger gehabt haben müssen, wenn sie vor Tausenden von Jahren
herankamen und von der Höhe aus den gewaltigen dunklen Waldteppich
weithin wogen sahen -- mit seinen Mengen von Hochwild -- und ihnen
diese Seen entgegenblinkten, die großen Fischreichtum ahnen ließen.

Über dem Walde aber liegt die Bergweite jetzt rotbraun in den letzten
Farben des Herbstes, bevor der Schnee kommt. Die Bergbirke hat schon
fast das ganze Laub verloren, welk raschelt es unter den Füßen. Sollte
es den Schneehühnern im Gebirge zu trocken sein, und sind sie die
Abhänge hinabgezogen? Am Nachmittag fanden wir auf dem Heimweg nach der
Alm oben am Waldrand ein Volk und schossen einige Hühner.

Wir kochten das Abendessen draußen auf der Almwiese, streckten uns auf
dem Boden hin und rauchten....

Wie still und friedlich es war! Längst waren Menschen und Tiere von den
Almen heimgekehrt. Die Sterne erglänzten. Im Westen erhob sich über uns
dunkel der bewaldete Hang, darüber das kahle Gebirge.

Östlich, auf dem Velebuberg, dem Åkeligipfel und dem Ble, stand noch
tiefe Abendröte, aber bald verschwand sie.

Die Erde mit Tälern und Bergen und Wäldern und Seen lag da, eingehüllt
in die dunkle Herbstnacht.

All das sinnlose Gewimmel und Hasten war ausgelöscht. Nur die großen
Linien waren noch undeutlich zu erblicken unter dem glitzernden
Sternenhimmel, der ruhig und selbstverständlich alles Kleinliche in
Vergessenheit sinken läßt.

                                *     *
                                   *

Gegen fünf Uhr morgens waren wir wieder nach Sörset unterwegs. Noch
herrschte nächtliche Stille, kein Laut im Walde. Der Orion strahlte auf
uns herab, im Osten aber dämmerte schon der Tag.

Als wir an Sörset vorübergekommen waren, begann Sang unruhig zu
werden. Bald gab er Laut. Es war wohl ein Junghase, denn er ging so
unregelmäßig und versteckte sich im Dickicht; richtiges Büchsenlicht
war auch noch nicht. Es dauerte nicht lange, bis der Hund ihn unter
Steinen verbellte, und der Hase kam zur Strecke.

Wir zogen weiter, ließen den Hund wieder los, und bald fand Sang eine
neue Spur; mit hellem Laut ging es die Böschung hinan. Es wurden
anderthalb Kreislinien gemacht, denn der norwegische Hase läuft, wenn
gejagt, in großen Kreisen. Dann kam der Hase in langen Sprüngen den
Almsteig herab und fiel. An einigen offenen Stellen im Walde, etwas
weiter unten, wurde wieder eine Spur gefunden. Es dauerte nicht lange,
und das Treiben war neuerdings im vollen Gang. Nach einigen langen und
schwierigen Kreistouren hatte dieser Hase dasselbe Schicksal wie der
vorige.

       *       *       *       *       *

Ist es nicht merkwürdig, daß unser Gedächtnis sich so oft an Dinge
heftet, die wir zunächst vielleicht gar nicht weiter beachteten?

Was mir von diesem Jagdausflug am meisten vor Augen steht, ist, wie wir
uns gegen Mittag in der Sonnenhitze müde und schläfrig nach der Alm
zurückzogen. Der Hund lief irgendeiner Spur nach. Wir setzten uns ab
und zu und warteten auf ihn, ob er den Hasen wohl finden würde.

Es war sehr heiß, die Augenlider fielen uns zu, und zuweilen nickten
wir ein wenig. Das vergilbte Farnkraut stand hoch und dicht auf
Lichtungen an den Lehnen zwischen Windbruch und Tannenreisig.

Es war nicht leicht zu gehen. Bei solcher Trockenheit werden die
Stiefel sehr glatt. Unter den Birken raschelte das Laub, wenn wir
gingen, aber unter den Tannen war Schatten.

Dann kamen wir an den Bach in dem flachen Talgrund. Das erfrischte.
Welche Wonne ist doch so ein klarer rieselnder Waldbach an einem heißen
Tage!

Es war so erquickend, so friedlich, sich in dem dichten Gras am Ufer zu
lagern, wie auf einer kleinen Wiese mitten im Walde. Die Sonne spielt
mit frischen Lichtern in dem klaren, kühlen Wasser. Jeder Stein auf dem
Grunde ist sichtbar, und die Sonnenstrahlen, von den kleinen Wellen
gebrochen, glitzern über sie hin. Ein Bild der ewigen, lachenden Jugend.

Der Bach schlängelt sich dahin zwischen den flachen Sand- und
Kiesbänken. An den offenen Stellen wachsen an den Ufern Gras und etwas
Schilf, und unter den Bäumen grünes Moos und Farnkraut. Und die Tannen,
die hoch und schlank dastehen und schattenspendend ihre Zweige breiten,
spiegeln sich in dem dunkeln, stillen Wasser.

Diese Gumpen im Flußbett haben etwas unveränderlich Reines und
Frisches. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber so oft ich sie sehe,
drängt sich mir ein zufälliger Eindruck auf aus den Straßen Roms an
einem warmen, klaren sonnenheißen Junitag. Ich kam an einem dieser
vielen kleinen Marmorbecken vorüber, in denen aus einem Löwenmaul ein
Wasserstrahl springt. Ich sehe noch die Sonne auf dem Marmorboden
spielen, höre noch das Plätschern des Wassers.

Weshalb kommt mir das in den Sinn? Vielleicht versetzte mich damals
dieses frische, reine Wasser in dem kühlen, weißen Marmor im Nu aus
der großen Weltstadt mit all ihren Kulturdenkmälern und ermüdenden
Museen an einen klaren Bach mit murmelndem Wasser und weißen
Kieselsteinen, tief drinnen im Wald, wohin die Kultur nicht gelangt....

Ja, diese Freude am rieselnden, reinen Wasser -- an der Sonne, --
am blauen Himmel, -- am Waldfrieden -- sie ist vielleicht mit dem
Ursprünglichsten in unserm Wesen verwandt. Wenn wir nur von dieser
einfachen Freude mehr in das Leben zurückbringen könnten!

Worüber freuen wir uns denn sonst?

Plötzlich muß ich an ein Bild denken, das mir einst Erik Werenskiold
mit Worten malte. Ich sehe es aber, als habe er es mit seinem Pinsel
gemalt:

„Wir Menschen in den Städten, sind wir nicht wie Tiere, die in Kisten
leben? Erst schlafen wir in einer Kiste, dann schlüpfen wir hinaus
durch einen schmalen Zwischenraum und hinein wieder in eine andere
Kiste. Dort bleiben wir einige Stunden, dann kehren wir wieder in die
vorige Kiste zurück. Nach ein oder zwei Stunden geht’s wieder in eine
dritte Kiste. Wenn wir dort eine Weile gewesen sind, dann schnell
zurück in die vorige Kiste.“

Ja, genau so ist es. Und so vergehen die Jahre, drinnen in diesen
Kisten. Und das nennen wir das Leben! Und darin pflanzen wir uns fort
und schaffen neue Geschlechter, die dasselbe Kistenleben fortsetzen
sollen.

Und wenn es einmal so eine rechte Freude sein soll, dann schlüpft ein
Teil der Tiere in eine größere Kiste, um miteinander zu essen. Da
sitzen sie reihenweise auf ihren Hinterteilen, die Vorderpfoten auf
einem Brett, und stopfen fünf, zehn, fünfzehn verschiedene Sorten
Nahrung in sich hinein, je nach der Größe der Freude, und trinken
entsprechende Mengen starker Getränke, bis sie sich selbst und die
andern und die Kistenwelt in einem idiotischen Nebel sehen. -- Das
nennt man Fest....

       *       *       *       *       *

Aber dieser Bach rinnt Jahr um Jahr und gräbt langsam sein Tal, und der
Wald steht still, gilbt im Herbst und grünt im Frühling. Und wie viele
sehen den Bach außer dem großen Elch, der haltmacht und trinkt -- dem
kleinen Hasen, der angehoppelt kommt und im Grase äst -- und dem Fuchs,
der in der Dämmerung behutsam heranschleicht, um Hasen und Vögel zu
belauern?.....

Zu unsern Häupten ziehen die Drosselscharen hin und wieder. Sie sammeln
sich jetzt im Herbst. Keck und lebensfroh sind sie. Bald flöten sie
sich etwas zu, bald lachen und spotten sie kreuzvergnügt.

Warum findet ihr heuer das Leben so lustig, wo es doch so wenig
Vogelbeeren gibt? Vielleicht deswegen, weil ihr trotz allem dahin
zieht, wohin es euch gelüstet....

In einem Tannenwäldchen jenseits des Bachs fliegt der wunderliche
Unglückshäher von Zweig zu Zweig. In der Regel ist er stumm und still,
als trüge er das Geheimnis des Lebens. Zuweilen schlägt er einen
melodischen, wehmütigen Flötenton an, aber zu andern Zeiten bricht er
plötzlich in ein hitziges, schneidendes Lachen voller Zorn aus.

Rätselhafter Vogel! Aus dir werde ich niemals klug. Bist du vielleicht
der, der dem unsteten Menschengeiste am ähnlichsten ist?

Zuweilen, wenn ich im Walde sitze und du lautlos herangeschwebt kommst
und dich auf den Ast über mir setzst und den Kopf schief hältst und
herabsiehst, dann ist es, als müßtest du unbedingt etwas sagen. Aber
dann fliegst du wieder weiter zum nächsten Baum, ehe du es gesagt hast.
So geht es wohl auch mit uns. Wie oft finden wir keinen Ausdruck für
das, was auf dem Grunde unserer Seele liegt und am tiefsten in uns
ertönt......

Ab und zu kommt etwas wie der Versuch eines kleinen kühlenden Hauches.
Es rauscht schwach in den Baumwipfeln und zischelt leise im Farnkraut.
Aber es ist nur wie ein Luftschöpfen, und dann ist wieder alles still.

Oben zittert der Waldhang in der Sonnenhitze, wie er es Jahrtausende
getan hat, und die Insekten summen ihre alte ewige Lebensmelodie. Dann
fährt ein größerer Käfer in dürres Laub und raschelt darin. Der Kopf
sinkt tiefer; ach, es ist so schön zu sitzen -- wahrhaftig.....

Aber auf einmal fahren wir in die Höhe und ergreifen das Gewehr. Hat
jetzt doch der Hund in der Mittagshitze den Hasen aufgestoßen!

In voller Jagd geht es aufwärts. Alle Schläfrigkeit und Müdigkeit sind
wie weggewischt.....

                                *     *
                                   *

Auf dem Heimweg. Es dunkelt. Auf einmal stehen wir am Abhang. Dort
unten liegen die Ormanhütte und der Sörkjesee. Draußen nach dem Auslauf
zu glitzert ein Wasserstreifen im Mondschein, ebenso gerade unter uns
in der Bucht. Über dem See ein leichter Silberschleier, oben auf dem
Blegipfel eine dichte, weiße Wolke. Darüber groß und rund der Mond. Die
Berge dunkel, tiefblau.

Über allem der große Weltraum, unendlich und blau, -- nur vereinzelte
flimmernde Sterne. Im Osten blinkt gelb der Jupiter, gerade über dem
Bergkamm von Synhövd.

Wie hoch wölbt sich heute abend der Himmel! Man sieht die Erde wie
einen Punkt im Weltraum schweben.

Vor solch einem Hintergrund bewegen wir uns und beschäftigen wir uns
mit unsern kleinen Sorgen! Was werden sie in zwanzig, ja schon in zehn
Jahren bedeuten? In welcher Welt von Kleinlichkeiten leben wir und sind
wir verstrickt?

Nur eine solche Nacht -- so weit, so einfach! Hierher trachten wir
durch alles Hasten des Tages, ohne es zu wissen. Hier finden wir die
Befriedigung unseres Sehnens nach Schönheit und Harmonie.

„Wir steigen hinab, um uns zu finden“, sagt man. Hat nicht jeder von
uns, mag er noch so sehr Alltagsmensch sein, ein solches Heiligtum, in
das wir leise treten? Aber das bewahren wir für uns selbst und „steigen
hinab, um uns zu finden“.


    Montag, 5. Oktober 1903.

Der Tag war am Freitag gerade angebrochen, als Andres und ich uns
aufmachten. Wir wollten einen großen Ausflug nach Hovin hinunter
unternehmen und Hasen und Schneehühner jagen. Der Himmel war überzogen.
Vom Süden trieben dunkle Wolken heran, als wir über den Sörkjesee
ruderten. Es konnte Regen geben.

Als Trygve uns am andern Ufer ans Land gesetzt hatte und wir die Moore
hinaufgingen, hörten wir einen eigentümlichen Laut. Da war er wieder.
Andres meinte, es sei wohl ein Fuchs am andern Ufer. Ich dachte an eine
Lumme, aber eine solche war jetzt im Dunkeln nicht unterwegs.

Noch war kein Vogel wach. Oben auf dem Moor stand ein Schneehuhn
schreiend vor dem Hunde auf. Ich konnte es in der Dunkelheit gerade
noch weiß schimmern sehen.

Dann wurde es heller. Die Drosseln begannen zu erwachen und sich
miteinander zu unterhalten, und bald gab es ein lautes Drosselkonzert.
Aber der Hund, der draußen herumstrich, ließ nichts von sich hören. Der
Boden war feucht und versprach einen guten Jagdtag -- wenn nur kein
Regen kam.

Endlich hörten wir Sang in dem Abhang zwischen Lauvhövd und Grönli, und
bald war das Treiben im Gang. In großen Kreistouren ging es bergauf,
bergab, den waldlosen Höhen zu. Endlich kam ein guter Hase den Weg
flüchtig herab und fiel.

Noch drei Treiben gab es. Das Ergebnis waren vier Hasen; inzwischen
war es wohl zwölf Uhr mittag geworden. Aber nun begann es im Ernst zu
regnen; genieselt hatte es schon lange. Da gingen wir nach Rustaholte.

Der Hof war voller Kinder, die ins Haus liefen, als sie uns erblickten.
Es war Schule. Aber wir wurden in die Schulstube hineingeholt und
Kinder und Lehrerin solange hinausgejagt. All mein Bitten fruchtete
nichts. Später aber gelang es uns, in die Käserei zu schlüpfen und uns
auszuruhen.

Dort wurde uns etwas Essen gekocht, während wir uns mit Sveinung und
seinem Vater unterhielten, einem drolligen alten Hallingbauern, dem die
Rede aus dem zahnlosen Munde wie Wasser floß.

Während wir dort saßen, kam ein Mann mit einem Regenschirm und einem
Gewehr herein. Es war ein Gelegenheitsarbeiter, der angestellt
war, die Steuern einzutreiben und auszupfänden. Er hatte schon das
Remingtongewehr als Pfand genommen und sollte nun auch noch bei andern
Schafe pfänden.

Der Regen dauerte an, und da wir hier keine Unterkunft finden konnten,
gingen wir nach Knutsgard hinüber. Dort wurden wir von Tor, dem
Bruder Sveinungs, gut aufgenommen. Man würde uns die Nacht über schon
unterbringen.

Den ganzen Tag regnete es in Strömen. Wir vertrieben uns die Zeit,
so gut es ging, damit, daß wir an den Türen herumstanden, nach dem
Wetter ausschauten, im Garten Johannisbeeren aßen und mit den Kindern
plauderten, mit der kleinen schönen Ingeborg und den Zwillingen, die
seit vorigem Jahr stark gewachsen waren. Aber der Junge war doch der
prächtigere; zwei Jahre alt, bekam er noch Muttermilch. Das Mädchen war
wohl soviel Mühe nicht wert.

Am Abend bekamen Andres, Tor und ich einen Grog, und ein Gespräch
über die heurige Elchjagd entspann sich. Tor war von einer eigenen,
unbestimmbaren Art. Schwarzhaarig, hatte er etwas Mongolisches an
sich, während sein Bruder Sveinung ein blauäugiger Germane war.

Als ich Andres sagte, Tor sei doch gar so mager, er müsse zuviel auf
die Elchjagd gegangen sein, antwortete Andres, Tor sei nicht mehr recht
gesund gewesen seit dem Tage, da er vor einigen Jahren einen Knacks
bekommen habe. Er hatte sich in Kongsberg auf dem Markte herumgetrieben
und lag bei der Heimfahrt betrunken auf seinem vollgeladenen Wagen. Und
wäre ihm nicht jemand, der ihn auf der Heimfahrt sah, gefolgt, dann
wäre er damals wohl draufgegangen, denn als man ihn fand, war er fast
erfroren. Das Pferd hatte die Beine zwischen den Zügeln verwickelt und
konnte nicht weiter, und er lag besinnungslos auf dem Wagen. Es war
krachend kalt, und man fand ihn gerade noch im letzten Augenblick.
Seitdem ist er nicht wieder recht zu Kräften gekommen.

Ich lag lange wach und dachte über diesen Mann nach, während draußen
der Regen immer noch herabströmte. Das kränkliche Gesicht mit dem
halbscheuen Blick, den nervösen, hageren Zügen, den knochigen Schläfen,
den hohlen, knochigen Backen, dem unruhigen Wesen.

Was konnte ihm noch das Leben sein? Etwa diesen kleinen Gebirgshof zu
bewirtschaften und im Winter Holz zu fällen, oder sich herumzutreiben
und aufzuspielen, oder auf die Elchjagd zu gehen? Was ist seine
Jagdfreude? Ist es der Raubtierinstinkt, oder ist es der fahrende
Geselle, die rastlose Jagd nach etwas, das in der Ferne liegt? --

Als ich tags darauf zu seinem Bruder Sveinung kam, der mit seiner Frau
und der fünfjährigen Tochter gebückt auf dem Felde stand und Kartoffeln
ausnahm, tauchte bei mir dieselbe Frage auf. Ist dies da das Leben für
ihn? Es schien nicht gerade das zu sein, was am besten zu ihm paßte, zu
dem gewandten, kräftigen Burschen, der auf allen Tanzböden obenauf war,
den ich im Wald hinter dem Elch leicht wie einen Wolf laufen sah.

Als wir am Morgen ins Freie kamen, waren die Hänge unter dem Gråfjell
und Ble bis auf die Almwiesen hinab weiß. Hier unten hatte es die
ganze Nacht bis gegen Morgen geregnet; aber wir wollten die Hasenjagd
trotzdem versuchen.

Am Björsee fing Sang an Laut zu geben, und bald hatte er einen jungen
Hasen aufgestoßen, der sich aber noch drückte.

Als wir nach langem vergeblichem Treiben den Moorrand entlang wateten,
wo er liegen sollte, fuhr Sang mit der Schnauze in ein Tannendickicht
neben mir -- der Hase sprang heraus, ein helles Gekläff Sangs, der
Hühnerhund auch hinterdrein -- vier Schüsse von Andres und mir -- und
der Hase lag.

Einige Birkhühner fanden wir auch, aber dann gab es nichts mehr, und
wir machten uns auf den Heimweg. Es hatte zuviel geregnet.

Auch hier begannen Schneeflocken zu fallen, und wir waren noch nicht
weit über Rustaholte hinausgekommen, als der Boden schon ganz weiß war.
Bald lag der Schnee mehrere Zoll hoch.

Der Hühnerhund zog an. Es ging weiter und weiter über ein Moor und eine
Halde hinan. Im Schnee war keine Spur zu sehen. Was konnte es sein?
Ein Vogel mußte es sein. Aber der war hier gelaufen, bevor der Schnee
gekommen war. Endlich stieg ein großer Auerhahn auf.

Auf Grönli wollten wir zwei Hasen holen, die wir dort im Kuhstall
aufbewahrt hatten. Auf der Wiese lag tiefer Schnee wie mitten im
Winter, und im Wald fiel er dicht und still.

Alles Leben war verschwunden. Die Drossel, die gestern, trotz des
trüben Wetters, so geschäftig und so vergnügt gewesen war, war jetzt
fortgezogen. Auf dem Heimweg nach der Ormanhütte waren wir und die
Hunde die einzigen lebenden Wesen im Gebirge. So einsam wird es in
solchem Schneewetter.

Doch still, was war das? Wahrhaftig, Sang gab Laut trotz des Neuschnees
über den Spuren. Und nun wieder! Und bald begann das klingende Treiben
über den Grönlialmen.

Ich sah den Hasen weit draußen, ganz grau in dem weißen Schnee. Aber
der Hase will jetzt nur ungern aufs offene Feld hinaus. Am liebsten
schlüpft er ins Dickicht.

Andres schoß in die Tannen hinein, fehlte aber und rief den Hund.
Gleich darauf jagte Sang den Hasen aus seinem Versteck unter einer
umgewälzten Tannenwurzel dicht neben der Stelle, wo Andres stand und
schoß. Wie ging das zu? Der Hase kann sich doch nicht so schnell wieder
gedrückt haben? Es war ein Rätsel.

Wieder wurde es nichts. Wir wollten die Spur des Hasen verfolgen.
Das war aber nicht leicht. Es gab im Schnee zu viele Hasen- und
Hundespuren. Nun standen wir lange zu beiden Seiten eines Tannenbuschs
und unterhielten uns darüber, wo der Hase sich wohl gedrückt haben
könnte. Hier irgendwo mußte es sein. Der Hund kam herbei, steckte die
Nase in den Busch hinein, und zwischen uns fuhr der Hase heraus. Aber
da knallte es auch schon, und er lag.

Ich ging zu der Tannenwurzel, wo Sang den Hasen aufgestoßen hatte. Dort
war das Lager, aber keine Spur führte dahin. Also war es ein anderer
Hase, und der erste war noch da. Ich gab einen Schuß ab. Wir schrien,
und Sang lief hinaus.

Bald begann er oben auf einem Moor zu winseln. Es ging aufwärts, und
das Winseln nahm zu; dann folgte hier und da ein Gekläff und nun
klingendes Treiben. Wir gingen auf unsere Posten; ich dahin, wo der
vorige Hase gefallen war. Fünfmal ging es hier vorüber, hinauf und
hinunter, bevor ich zum Schuß kam; aber jetzt kam Lampe auf dem weißen
Schnee gerade auf mich zugelaufen und fiel.

Wahrhaftig, das hatten wir nicht erwartet! Zwei Hasen, bei vier Zoll
tiefem Schnee über den Spuren. Nun stapften wir im Schneewetter
heimwärts.

Bei unserer Ankunft wurden wir mit frohen Mienen empfangen, und es
wurde nur bedauert, daß wir so schlechtes Wetter gehabt hätten. Als
aber unsere Beute an Hasen und Schneehühnern hereingebracht wurde,
schien man uns nicht mehr zu bedauern.

                                *     *
                                   *

Und nun ist weiß und still der Winter da. Hier wird geschäftig
eingepackt, um ins Tal hinabzukommen.

Ich mußte heute morgen in den Spürschnee hinaus und Abschied nehmen.
Zwei Nächte lang hatte es geschneit. Es wäre wohl denkbar, daß der Hase
trotz des Schneewetters ein wenig unterwegs gewesen war.

Die Sonne brach durch und schien lockend auf die weißen Hänge herab.
Aber keine Hasenspur war zu sehen.

Wie still es in dem gepuderten Walde war! Nur ein paar feine
Meisenpfiffe ertönten auf einigen Tannen. Keine Spur auf dem weißen
Teppich, nur die von einem Eichhorn. Und dann die feinen Striche, die
eine Maus hinterlassen hatte. Die Zweige bogen sich unter dem Schnee.
Die Winterruhe war gekommen. Nur der Sörkjesee lag dort unten offen und
schwarz in all dem Weißen; Rauch stieg von ihm auf wie zur Winterszeit.

Wieder einmal ist dieses Gebirgsleben zu Ende, und es geht zu dem Lärm,
zu den Nichtigkeiten hinab, zu all dem, was man nicht will, nach dem
man sich nicht sehnt.

Das Auge schweift über die schneebedeckten Hänge. Die Berge glänzen in
der Sonne, während unten in den Tälern, in Hovin und im Numetal, auf
beiden Seiten schwarze Nebelschwaden ziehen.

Es ist ein schmerzliches Gefühl, fort zu müssen. Man möchte so gern
bleiben und sehen, wie der Winter sich festsetzt groß, weiß und rein...

Aber gehen wir nur. Um so schöner ist’s, wieder hier heraufzukommen,
fernab vom Tal, wo die lichten Birken wachsen und die dunkeln Tannen --
wo das Gebirge morgens und abends sich rötet, und die Nacht groß ist
und still......

[Illustration]



Auf der Auerhahnbalz


    Mai 1916.

Die Sonne senkte sich auf die Bergrücken herab, als der Jäger Johann
und ich von Örnelund in den Ankerwäldern in Smålene auf Jagd zogen. Wir
ruderten in südlicher Richtung über den See und schlugen den Weg nach
der Höhe bei Trettern ein, wo wir am Abend jagen wollten.

Gerade bei Sonnenuntergang kamen wir ans Ziel. Der Hügel mit mäßig
hohem Tannenwald fällt nach Westen hin gleichmäßig ab. Voriges Jahr
hatte man dort Holz geschlagen. Wipfel und Zweige lagen herum, und es
war nicht leicht zu finden, wo der Auerhahn seinen Balzplatz hatte; es
mußte ganz oben auf dem Rücken sein. Wir setzten uns auf dem Abhang am
Ostrand nieder. Dort mußten wir den Hahn einfallen hören, sowohl am
Bergrücken hier als auch im Wald im Osten unter uns.

Wir fanden einen geschützten Platz mit weiter Aussicht, wo wir gut
gedeckt saßen, jeder an seine Tanne gelehnt.

Im Nordwesten glühte noch der Himmel, aber es dämmerte, und langsam
kam die Nacht über den Wald dahergezogen. Es war nicht so windig wie
gestern abend, nur hier und da ging ein Rauschen durch die Baumwipfel.

Die Singdrossel war geschäftig; sie kam von einem Lied ins andere,
brachte bald hohes, munteres Gezwitscher und Geschwätz, bald lange
spottende Strophen -- vielleicht auf all die Greuel der Menschen, die
sie im Süden sah? --, und dann zitterten wieder tiefe Brusttöne durch
die Schwermut des Waldes. Das Rotkehlchen half dabei nach Kräften,
und es klang fast wie ein Wettstreit zwischen den beiden, aber die
Singdrossel gewann. Zwischenhinein ließ sich noch der und jener andere
Sänger hören.....

Dann wurde es allmählich still, nur hier und da trillerte durch
den Waldfrieden noch eine verspätete Strophe, die in einer Kehle
steckengeblieben war.

Des Himmels schwacher Purpurschein im Osten wurde dunkler, der
dunkelblaue Schatten der Erde zog höher und höher am Himmelsgewölbe
hinan.

Es duftete nach frischer Erde, nach Frühling und Nadelwald .....

Hoch oben zitterte furchtsam ein vereinzelter bleicher Stern. Unten
zwischen den Bäumen aber wurden die Schatten dichter; man konnte die
Blätter auf dem Waldboden nicht mehr unterscheiden.

Im Osten flossen die Bergrücken zu einer einzigen dunkeln Masse
zusammen. Ein vereinzelter Windstoß fuhr klagend durch die Stille.

Nun sollte eigentlich die Waldschnepfe streichen. Aber kein Pfiff
ertönte, kein Knorzen war zu hören.

Die Dämmerung wurde dichter. Wie feierlich ist dieses Herabsinken der
Nacht auf die Erde -- Tag für Tag -- und doch immer neu. Aber die
Gegenwartsseele hat keine Zeit, dem Walde und der Nacht zu lauschen.

Doch sieh! Da kommt er, der Zaubervogel, schwarz und groß, von irgendwo
draußen durch die Dämmerung über die Baumwipfel angestrichen. Wie
groß er aussieht! Wie der leibhaftige Waldgeist, mit dem geraden,
rauschenden Flug, mit dem gestreckten Hals und den gesträubten
Halsfedern. Und es geht gerade aufs Ziel los, hier herauf auf den
Bergrücken. Dort verschwand er hinter den Bäumen, und richtig, dort
fiel er ein. Es war kein kleiner Hahn.

Wieder ist es still. Wir sitzen unbeweglich und lauschen, ob nicht ein
Schnalzer ertönt, aber nichts ist zu hören. Da, noch ein Einschlag,
etwas ferner, und dann noch einer, weiter unten am Berg.

Wir saßen eine Weile, hörten aber keinen einzigen Schnalzer. Es war zu
weit weg. Lautlos schlichen wir den Kamm entlang weiter, aber immer
blieb es gleichmäßig still.

Pst, da ertönte ein Schnalzer, mehrere folgten. Wir schlichen näher,
aber es entstand kein Spiel. Es war etwas Wind aufgekommen, der durch
die Baumwipfel sauste. Es war nicht leicht zu hören. Und in der Nähe
von uns rieben sich zwei Kiefern aneinander, das klang täuschend so,
wie wenn ein Auerhahn mit dem Schnabel knappte. Dazwischenhinein
vernahmen wir den Auerhahn wirklich schnalzen, aber kein Glucksen.

Doch still! Da hörten wir einen weiter weg im Walde unter uns. Jetzt
wieder, schneller und schneller. Ein Glucksen ertönte! Das war ein
richtiges Spiel.

So lautlos wie möglich schlichen wir an den Rand und den Abhang hinab.
Bald waren wir so nahe, daß wir anfangen mußten, anzuspringen.

Endlich sind wir unten. Es geht über das Moor von Büschel zu Büschel,
jedesmal drei Sprünge nach jedem Glucksen.

Unmittelbar vor uns stehen über dem Waldrand der Halbmond und Jupiter
und scheinen auf uns herab, während der Wald unten ganz schwarz
daliegt. Aus dem Dunkel kommt der schwache, geisterhafte Laut. Dort
jenseits des Moors auf einem Baume muß der Hahn auffußen. Das Spiel
geht beständig weiter.

Wir kommen immer näher. Alle Nerven und Muskeln sind gespannt, das Auge
saugt sich in die Dunkelheit hinein. Aber wo ist er? Es ist unmöglich,
auf dem Hintergrunde des schwarzen Waldes etwas zu sehen.

Gerade unter dem Mond steht eine einsame kleine Kiefer am Rande des
Moors. Unter dem Stamm erkenne ich einen großen schwarzen Klumpen;
kann er das sein? Nein, der rührt sich ja nicht. Doch, dort hat sich
wirklich etwas bewegt. Beim nächsten Glucksen wurde das Gewehr gehoben
und gezielt. Wieder ein Glucksen, dann ein langer Lichtblitz im Dunkel
und ein Knall. Ein Klatschen, ein schwerer Fall ins Moor. Johann
springt hinzu und hebt ihn auf. Es ist ein großer Hahn.

Still bleiben wir stehen. Es ist ziemlich dunkel geworden, aber noch
ist es Zeit. Etwas weiter weg hatten wir einen andern Auerhahn spielen
hören, während wir den ersten angesprungen hatten. Wir lauschen. Aber
jetzt ist es ganz still. Er ist wohl vom Schuß vergrämt worden.
Wir gehen wieder den Berg hinauf und lauschen nach dem ersten. Dort
schnalzt er, aber spielen will er auch jetzt nicht. Hier und da wieder
ein Schnalzen, ein Spiel wird jedoch nicht daraus. Dann verstummt es
ganz. Auch der Auerhahn hält seine Nachtruhe. Da ist es wohl auch für
uns Zeit, und wir ziehen weiter.

Es ist noch ein gutes Stück Wegs bis zum Nordmoor, wo wir am Morgen
jagen wollen. Erst geht es über Schutthalden und nasse Moore, dann
durch ein steiles Tal mit einem Bach zwischen schroffen Bergwänden.
Wir kommen auf eine Anhöhe, so steil, daß wir hinaufklettern müssen,
zuweilen auf allen vieren.

Endlich geht es auf der andern Seite hinab. Hier hatten wir vorige
Nacht unter einer überhängenden Bergwand gute Unterkunft gefunden.
Aber jetzt war es bald ganz finster, und es war nicht leicht, vorwärts
zu kommen; bald ging es über gestürzte Baumstämme, bald über nassen
Moorboden. Wir tasteten uns die Bergwand entlang vorwärts und fanden
die Höhle.

Johann lief herum und klopfte alle dürren Kiefernstämme nach harzigem
Holz ab, bis er einen guten, fetten Stock fand. Jetzt, da der Wald so
feucht war, lohnte sich’s, damit ein Feuer anzumachen. Inzwischen brach
ich dürre Bäume und trug sie zusammen.

Bald flammte das Feuer vor der Bergwand. Tannenzweige gaben ein
trockenes Bett auf dem nassen Boden, und zwischen Berg und Feuer wurde
es hübsch warm. Dann kam der Kaffeekessel ins Kochen, und der Proviant
wurde hervorgeholt.

Nach dem langen Marsch machten wir es uns bequem. Johann erzählte seine
Erlebnisse mit Auerhähnen und Elchen in diesen Wäldern.

Der Feuerschein spielte die Bergwand hinauf und auf den Baumstämmen
drin im Walde. An der nächsten Tanne hing der Auerhahn an einem Ast.
Draußen war es schwarze Nacht.

Die Unterhaltung starb hin. Johann legte sich schlafen, bald hörte ich
seine regelmäßigen Atemzüge. Das Feuer fiel auch zusammen, nur hier
und da ein Aufflackern, wenn harziges Holz erfaßt wurde und zitternder
Lichtschein auf die Tannenstämme und zu den dunkeln Baumwipfeln hinauf
fiel.

Zwischen den Zweigen segelte der Halbmond..... Alle nächtlichen Laute
waren erstorben, nur ein Uhu schrie noch einige Male weit, weit weg....

       *       *       *       *       *

Groß, einfach, still -- der große Weltraum, das seit der Zeiten
Anbeginn Unveränderliche, vor dem alle Ziele der Menschen versinken.

Die Gedanken schweifen auf weiter Fahrt durch die Jahrtausende zurück,
weder Entfernung noch Zeit hält sie auf. Die Wälder waren größer,
unwegsamer, die Nacht hier zwischen den hohen Bäumen noch schwärzer.

Auch damals zogen Menschen nachts vielleicht gerade diese selbe
Bergwand entlang. Lautlos schleichen sie zwischen den Tannen wilden
Tieren gleich heran, elastischen Schrittes, halbnackt, in Felle
gekleidet; sie tragen Spieße und Beute. Sie nähern sich dieser Höhle,
brechen Zweige und dürre Bäume ab, machen Feuer an mit einigen
Holzstücken, die sie wie bei einem Drillbohrer aneinanderreiben.

Bald flammt ein großes Feuer auf. Sie tragen Zweige und Moos zu einem
Lager zusammen, während das Fleisch an Holzspießen gebraten wird, die
sie neben der Glut in den Boden stecken. Sie sprühen von Lebensmut
und Lebenslust, während sie lachen und wie Kinder schwatzen und die
Fleischstücke verschlingen, sobald sie gebraten sind.

In unbeschreiblichem Wohlbehagen strecken sie sich aus und lassen die
strahlende Wärme die nackten Glieder braten. Sie sind restlos glücklich
ohne beschwerliche Ziele, ohne lastende Pläne. Sie leben ein Jagdleben
mit seinen Mühen und seinen Freuden. Keine Sorgen über den Augenblick
hinaus; diese schwinden so rasch wie sie kommen.

Im Wechsel der Zeiten wurden der Menschen mehr, der Wälder weniger,
und das Wild wurde spärlicher. Mit den Wäldern, den Jagdtieren und
dem Leben des Wilden flohen aber auch das Glück und die Lebensfreude
immer mehr von den Menschen. Die jetzt bei dem Feuer sitzen, sind nicht
mehr die jungen, elastischen wilden Tiere, die von Lebensmut strotzen,
sie sind alt, niedergebeugt vom Drucke der Gesellschaft, erfüllt
von endlosen Rücksichten, Fesseln, Sorgen für sich und für andere,
von zerstörten Hoffnungen, fehlgeschlagenen Plänen -- von allerhand
Jämmerlichkeit, die sie nie losläßt. Die sinnlose Wehmut des Lebens.
Die Knospe, die springen sollte, hat keinen Saft. Ja, wohin ist im
Abendland die Freude geraten?

Aber laß nur draußen in der Nacht Schritte von Tieren laut werden,
einen Zweig knacken -- auf einmal steht er wieder straff wie eine
zitternde Stahlfeder, und blitzschnell, wie der Wilde seinen Spieß
faßte, ergreift er das Gewehr. Das Raubtier blitzt aus den Augen, die
ins Dunkel hinausspähen.

Ach ja, das Raubtier meldet sich wohl auf mancherlei Weise... Da ist
dieser Krieg! Auch dort rast das Raubtier. Aber hier ist es das Tier
in seiner Zerstörungslust, während es im Walde der Trieb war, den
Lebensunterhalt zu schaffen....

Der Mond schleicht zwischen den Tannen weiter. Es ist, als höre man
die Atemzüge der Natur. Kann unsere ganze Kultur uns etwas geben, was
die Schönheit einer Waldnacht aufwiegt? Aber die Fähigkeit, sie zu
würdigen, hat sie vielleicht doch entwickelt.

Noch ein paar Klötze auf das Feuer. Es flammt von neuem auf, und
ich lege mich nieder, um eine Weile zu schlafen, bevor wir wieder
aufbrechen.

                                *     *
                                   *

Ich fuhr auf, aber es war noch nicht zwei Uhr. Noch war ganz finstere
Nacht, und der Mond war westwärts hinter die Bergwand gezogen. Um halb
drei Uhr durften wir erwarten, daß der Auerhahn balzte. Es war nicht
viel mehr als eine Viertelstunde Wegs bis zum Ziel. So weckte ich denn
Johann. Im Nordosten begann es allmählich hell zu werden.

Wir dämpften das Feuer, indem wir die Klötze auseinanderzogen. Übrigens
bestand jetzt keine Gefahr, da der Wald so naß war. Dann gingen wir
hinab über das Tal am See vorüber. Auf dem Hang gegenüber sollte der
Auerhahn balzen.

Da ertönte ein langer pfeifender Klagelaut in der Luft. Johann kannte
ihn nicht. Wahrscheinlich war es ein Brachvogel, der strich. In der
Stille der Frühlingsnacht, während alles schläft, geht sein Weg vom
Süden nach dem Nordlandssommer. Sonst kein Laut.

Wir traten behutsam auf und vermieden es, den Fuß auf einen Zweig zu
setzen. Lautlos glitten wir zwischen den Bäumen vorwärts.

Es wurde etwas heller, aber noch war es still. Wir mußten noch ein
Stück gehen und so lange warten, bis der Wald mit den ersten Singvögeln
erwachte; dann wußten wir sicher, daß wir nicht zu früh zur Balz kamen
und störten.

Jetzt rief draußen im Osten der Kuckuck, und auf der andern Seite im
Süden von uns polterte ein Birkhahn. Aber den Auerhahn hörten wir
nicht. -- Dann kam das erste Morgengezwitscher, es war ein Rotkehlchen.
Nun ließ sich aber auch die Singdrossel hören, -- und beruhigt konnten
wir weitergehen....

Wir schlichen weiter und weiter vorwärts, aber kein Schnalzen von einem
Auerhahn. Die Birkhähne polterten, daß es klang, wie wenn siedendes
Wasser in einem Topf brodelte. Nicht weit von uns lachte und rief der
Kuckuck übermütig wie ein Verrückter. Singdrossel, Rotkehlchen und alle
andern Morgenvögel sangen aus voller Kehle.

Ja, jetzt war der Wald erwacht. Welcher Morgenjubel! Es war, als
wollten sich alle für den Regen und Sturm der letzten Tage schadlos
halten. Nur der Auerhahn schwieg still. Was war mit ihm los?

Da, platsch! Ein großer, schwarzer Vogel stieg aus der Tanne vor uns
auf. Da hatte er gefußt, ohne zu spielen -- und das an einem solchen
Morgen. Was in aller Welt mochte da los sein?

Lange standen wir mucksmäuschenstill. Es war Gefahr, daß der
abstreichende Hahn auch die andern Hähne zum Schweigen bringen würde.

Wieder schlichen wir ein Stück vorwärts. -- -- -- Da endlich ein
Schnalzer, nicht weit von uns; noch mehrere, schneller und immer
schneller, und dann ein Glucksen, +das volle Spiel war im Gang+!
Das ging nun so weiter, aber nicht regelmäßig.

Doch halt, dort links, etwas weiter entfernt, war noch einer; der
spielte frischer und regelmäßiger. Das beste war, ihn anzuschleichen.
Es war noch dunkel. Wir mußten behutsam gehen und uns gut vorsehen,
damit wir auf keinen Zweig traten.

Bald waren wir so nahe, daß wir uns in Sprüngen anschleichen mußten.
Der andere spielte auch, und wir fürchteten, ihn zu verscheuchen,
während wir den ersten ansprangen; dann wären beide erledigt. Wir
hielten uns links und kamen so näher.

Der Hahn spielte immer noch. Ich spähte angestrengt die Kiefer vor mir
hinan. Ich glaubte, er fuße oben unter dem Wipfel, konnte ihn aber
nicht sehen. Mit jedem Sprung kamen wir näher.

Nun war ich in unmittelbarer Nähe. Es war nicht ratsam, weiterzugehen.
Aber wie ich auch spähte, ich sah keinen Hahn.

Ich hockte mich nieder, um ihn vielleicht sich vom Himmel abheben zu
sehen. Da, ein Platsch, und er strich ab. Er hatte auf einem Zweige
unten am Kiefernstamm ganz frei aufgefußt, und ich hatte ihn nicht
erblickt. Vor Ärger hätte ich platzen mögen. Nun hatte er auch die
andern im Spiel gestört, und nichts mehr war zu hören.

Lange standen wir still, aber es kam nichts mehr. So pirschten wir denn
weiter und kamen auf einen Bergrücken hinauf. Dort standen wir lange
und horchten nach allen Seiten.

Doch still! Was war das für ein Ton? Strich da vielleicht die
Moorschnepfe?

„Das sind die Rehe,“ sagte Johann. „Sie sind draußen gewesen und haben
den Auerhahn so erschreckt, daß er heute morgen nicht spielte.“

Ich hörte das schwache Schmälen an drei Stellen unter uns; es mußten
mehrere sein, die einander riefen, aber wir sahen keines. Diese Rehe
sind hier in den Wäldern eine wahre Plage geworden; dabei ist es
nicht erlaubt, sie das ganze Jahr hindurch zu schießen. Anker klagt
sehr darüber. Es ist nicht mehr möglich, eine richtige Hasenjagd
zustandezubringen. Kaum läßt man die Hunde los, so kommen sie auf
Rehfährten, und dann geht es geradeaus, und die Hunde sind den ganzen
Tag weg. Nimmt man eine neue Koppel, so geht’s mit der oft genau so.

Wir mußten mehr nach Norden, vielleicht war dort ein Auerhahn zu hören.
Es war jetzt schon etwas heller geworden, aber noch war es Zeit.

Wir schlichen weiter und lauschten. Ein Stück weiter gekommen, hörten
wir das Schnalzen, „knepp -- knepp -- knepp-knepp“, und dann das
Glucksen, „kluck“, also volles Spiel! Wir pirschten uns heran. Das
Spiel ging weiter, und bald mußten wir anfangen zu springen.

Es ging über ein breites, nasses Moor, wo man genau aufpassen mußte,
auf welchem Büschel man bei jedem Sprunge landete. Es kam aber vor, daß
man bis zur Wade im Wasser steckenblieb, ohne sich vor dem nächsten
Glucksen bewegen zu können. Hörte der Hahn mitten im Spiel auf, so
zogen sich die Minuten in die Länge; man sank tiefer und tiefer ein,
und die Beine schmerzten, ohne daß man einen Fuß bewegen konnte. Dann
fing der Hahn wieder an, und wir kamen schließlich über das Moor und
den Abhang auf der andern Seite hinauf.

Da sahen wir den Hahn frei auf einem Aste auffußen. Der Abstand
war ziemlich groß, aber das Feld war so offen, daß man nicht näher
herankommen konnte. Ich mußte schießen. Beim nächsten Glucksen erfolgte
ein Knall, und klatschend fiel der Hahn zur Erde. Johann eilte davon,
ihn zu holen.

Es war nun schon so hell, daß kein Spiel mehr zu erwarten war. Auch ein
Sonnenspiel würde es nicht geben, denn im Osten war der Himmel dicht
bewölkt, und die Sonne konnte nicht durchdringen, als sie aufging.
Darum machte ich mich mit Johann auf den Heimweg.

[Illustration]



Im Bereich Rondanes und der Sölenberge


    Juli 1916.

Die Fahrt von den lachenden Mjöslandschaften das lange Gudbrandstal
hinauf bis Otta bietet nicht viele Überraschungen. Gutgehaltene
Gehöfte leuchten zu beiden Seiten des glitzernden Lågen. Das Leben
geht im Talgrund seinen gleichmäßigen, altgewohnten Gang. Der ziemlich
gelichtete Wald erstreckt sich auf beiden Seiten die Abhänge hinan bis
zum Rand des kahlen Gebirges.

Verläßt man aber diese Einförmigkeit und geht ein Seitental hinauf, wie
es die Waldschlucht ist, durch die sich die Ula ihren Weg vom Hochland
herab bricht, dann ist man bald in einer neuen Welt.

Durch ein einsames Waldtal kommt man am Fluß entlang aufwärts, der in
lauter Wasserfällen zur Seifensteinmühle unten im Tal hinabstürzt.

Hat man eine enge Bergpforte hinter sich, dann erweitert sich das Tal
etwas und wird oben flacher. Die großen weißen Terrassen zu beiden
Seiten mit den horizontalen Schichten zeigen, daß hier einmal, wohl
am Schluß der Eiszeit, ein großer Binnensee gewesen ist. Jetzt ist er
ausgetrocknet, da sich der Fluß einen freien Lauf gebahnt hat durch
diese Rinne im Berge, die wohl von einer Moräne aufgedämmt worden war,
oder vielleicht auch vom Eise, als das Tal draußen von einem Gletscher
angefüllt war.

Dann wird das Tal wieder enger, und es geht höher hinauf. Allmählich
wird der Wald niedriger und lichter, bald steht man an seinem oberen
Rand. Die Talschlucht erweitert sich. Nach oben wird es flacher, und
vom obersten Rücken, meint man, müsse man schon einen Ausblick auf die
Bergweite mit ihren Gipfeln haben.

Das Barometer war gestern gesunken, schwere Wolken zogen jetzt von
Osten her. Es mochte wohl Regen geben, aber es war gutes Wetter zum
Gehen.

Jenseits der Schlucht liegt eine Sennhütte in etwas lichtem Wald mit
flachen Mooren. Von da kommt man zur Mysualm hinauf. Im Birkenwald
steht Hütte an Hütte; rot angestrichen, mit grünem Torfdach, vorn
Fahnenstangen; sie sind von Stadtleuten gebaut, die sich hier im Sommer
aufhalten und die Gebirgsluft genießen, im Herbst auf die Jagd gehen
und zu Ostern Schneeschuh laufen.

Dann kommen die Touristenhütte und die Sennhütten. Aber der Weg führt
höher hinauf, ins kahle Gebirge. Bald ist man ganz oben, und die
Bergweite liegt wie eine Almwiese vor einem und wogt in weichen, mit
Heidekraut und Moos überwachsenen Wellen.

Über dem allen liegen die Berge. Dort ist Rondane! Wolkenhohe
Steinmassen wölben sich Kuppe an Kuppe über den Bergheiden mit tiefen
Spalten, mit Firnen und Talkesseln und Schutthalden -- eine Märchenwelt
für sich.

Dort ganz im Westen, sind das der Valsberg und die Bråkdalshöhe, wo
Per Gynt hauste? Dann sind das in der Mitte wohl Smiuhammer und die
Rondvaßhöhe mit den jäh abfallenden Hängen. Aber Diger-Ronden selbst
und Hög-Ronden sieht man nicht, die liegen hinten. Hier vorn im Osten
ist die Illmannhöhe.

Was für Berge! Sie tauchen fast zu plötzlich auf, nach dem kurzen
Aufstieg vom Tale. Die Brust weitet sich, der Mut und die Schwingen
wachsen.

Über welche Flächen schweift hier das Auge! Man fühlt sich so leicht,
als könne man fliegen, und die Gedanken schwimmen in der blauen Luft
bis weit nach Norden zu den festen Linien der Rondeberge.

Nach allen Seiten dehnt sich die Bergweite -- die Täler wie schmale
Risse in den Gebirgsflächen. Tief dort unten windet sich der Fluß des
Menschenlebens, weit, weit weg von hier oben. Hier atmet man frei, hier
bietet sich Ruhe für Auge und Herz.

Doch andere Bilder tauchen auf -- aus weiterer Ferne.... Festungen,
Schützengräben -- Berge von verstümmeltem Menschenfleisch.

Nein, nein, dem Furchtbaren da draußen entkommt man nicht, auch hier
nicht! Nirgends gibt es Frieden.

In all das, was man sieht, klingt der Jammer von Millionen von Frauen
hinein, die alles verloren haben -- den Geliebten, den Gatten.... Man
sieht verzweifelte Mütter nach ihren Söhnen suchen, ergraute gebeugte
Väter nach der Hoffnung ihres Stammes....

Ein Alpdrücken des Wahnsinns!.... und niemand kann es aufhalten --
niemand.

Schon erbeben die Grundlagen der Gesellschaft.... Die Völker Europas --
die „Träger der Kultur“ -- fressen einander auf; sie zertrampeln die
Kultur, sie legen Europa in Ruinen -- wem zum Vorteil?

Es ist wie eine Lawine, die auf ihrem Weg zum Abgrund immer mehr
mit sich fortreißt, Bäume, Wälder, Häuser, Gehöfte. Sie nimmt zu an
Furchtbarkeit; alle wissen, daß sie das ganze Tal begraben wird, aber
keine Macht kann sie aufhalten, sie +muß+ ihren Lauf vollenden.

Und wofür wird gekämpft? Für +Macht+! Nur für Macht! Wenigstens
die, die angefangen haben....

Konnte es denn anders kommen? Eine Kultur, die die +Macht+ als das
hohe Ziel der Völker setzt, kann die Menschheit nicht vorwärtsbringen;
sie mußte sie schließlich hierher führen -- dem Untergang entgegen.

Für die einzelnen wie für die Staaten galt als Forderung der freie,
rücksichtslose Wettlauf nach dem materiellen Erfolg um jeden Preis,
nach äußerer Macht, nach Glanz.

Um das Ziel zu erreichen, nahmen die Völker auf nichts anderes
mehr Rücksicht als auf sich selbst. Ideale, Moral konnte jeder mit
heiligem Recht mit Füßen treten, sobald nur sein Volk Vorteil davon
hatte. Da konnten feierliche Versprechen gebrochen werden, da konnte
gelogen, betrogen, da konnte gemordet werden mit Lug und Trug. Da wird
+der+ Mann zum Verräter, der nicht jedes Mittel anwenden will, um
die Gegner seines Volkes zu vernichten. Ja, wenn es notwendig war,
schadete es nichts, wenn einer die übrige Menschheit vernichtete,
sobald sein eigenes Volk Platz brauchte....

Der Feldruf ist: Nieder mit allen andern, wenn nur +wir+ in die Höhe
kommen!

Mit Notwendigkeit mußte das zu dieser Selbstvernichtung führen, sie
+mußten+ einander auffressen, sobald die Erde zu klein wurde und jeder
Platz besetzt war, als die letzten zur Krippe kamen und meinten, sie
hätten dasselbe Recht auf die fetten Bissen wie die andern.

Aber alle behaupten, sie seien in den Kampf hinein gezwungen worden,
sie kämpften für die hohen Ideale. Wie ist es so gekommen?

Es +mußte+ so kommen! +Europas Kultur hat versagt+; sie war innerlich
faul. Wie der kranke Baum im Walde stürzte sie zusammen, sobald der
Sturm losbrach.

Kultur? Ja, was ist sie denn, wenn sie nicht das wilde Tier meistert,
wenn sie es nicht fortführt aus der Barbarei? Das ist ja ihr innerstes
Wesen, ohne das ist sie eine leere Schale.

Aber nun rast das wilde Tier zügellos, der Fenriswolf ist los, häßlich
heult Garm am Eingang zur Unterwelt.

Der größte Sieg ist, sich selbst überwinden. Das gilt nicht nur für
den einzelnen, das gilt auch für die Völker, für die Gemeinschaft der
Menschen.

Wir führen einen steten Kampf, um die Naturkräfte zu meistern, um das
Dasein zu sichern. Aber die ohne Frage größten Unglücksfälle, das
schlimmste Elend +verdanken wir immer noch den Menschen selbst+, und
noch sind wir nicht dahin gelangt, das hindern zu können. Welch eine
furchtbare, demütigende Wahrheit!......

       *       *       *       *       *

Die schwere Nebelkappe über dem Smiuhammer wird dunkler, unten in
der Schlucht wird es blauschwarz. Es ist, als runzle der Berg die
Brauen......

Kann es wahr sein? -- Aber es sind ja +Großmächte+ -- und eine
Großmacht darf alles, was sie selbst für recht erklärt. Die Mehrheit
entscheidet über das Recht in der Welt. Eine Großmacht ist immer in
der Mehrheit, also hat sie immer recht -- und die kleinen Völker haben
unrecht. -- --

Nein, das führt im Kreise herum. Aber ich will ja vorwärts, ich will
weiter über diese moosbewachsenen Flächen, wo nichts den Fuß aufhält.

Über die Flächen und an den Bergwänden hinauf schweift der Blick.....
Hier gab es früher Renntiere genug, aber jetzt ist kein Tier zu sehen,
kein lebendes Wesen. Die Menschen haben alles vernichtet.

Ein herrliches Geschöpf, dieser Mensch..... plündern, rauben, Krieg
gegen die Tiere, Krieg gegen die Menschen..... Raubtier -- überall.....

       *       *       *       *       *

Und wie dieser Krieg alle Begriffe auf den Kopf stellt! Zu was für
Ungeheuern macht er uns!

Bekommt einer eine Uniform an, Kleider von einer gewissen Form und
Farbe, und dazu einen Befehl, dann hat er Recht zu allem möglichen. Er
kann aus der Luft Bomben auf friedliche Städte werfen, auf arbeitsame
Bürger, die nur ihrer Tagesarbeit nachgehen, er kann Wohnstätten,
Eigentum, Beruf vernichten.

Verteidigt sich aber einer, der keine Uniform anhat, schießt er auf die
Gewaltmenschen, dann ist das ein schändliches Verbrechen .... Fängt man
ihn, dann wird er nach Gesetz und Recht erschossen oder gehängt...

Es kocht in einem.... Aber selbst sonst gutherzige Menschen finden so
etwas in Ordnung, wenigstens schreien sie nicht.

Ist das die Kultur, in der die Welt weiterleben sollte? Dann lieber
verbluten..... dann lieber untergehen!

Mußte Europas Kultur bis zu diesem Wahnsinn führen -- und das
+mußte+ sie wohl, denn es waren ja erwachsene Männer und nicht
gedankenlose Kinder, die die Drähte in der Hand hielten --, ja, dann
war sie fertig und sie +mußte+ in den Schmelztiegel ....

Und wir, unser Volk? Sollen auch wir in den Mahlstrom hineingezogen
werden, bevor wir noch haben versuchen können, unsern Einsatz in der
Entwicklung der Welt zu leisten? Noch haben wir Norweger keine eigene
Kultur hervorgebracht, aber die Kräfte sind da, und groß genug liegen
die Aufgaben vor uns in der Zukunft -- wenn wir nur nicht an unserer
Seele Schaden nehmen, indem wir als Zuschauer dasitzen und uns mit dem
mästen, was vom Weltbrand abfällt.....

Bei uns herrschte dieselbe wilde Gier nach Gewinn, die den Krieg
entzündete; aber wir leben ohne die großen Gefühle, die ihn tragen.....

Dort draußen werden trotz aller Vernichtung doch Willen gehärtet,
dort werden Männer geschaffen. Die Völker kämpfen um ihr Leben,
-- da gibt es noch Ziele!..... Und sie erhalten ihre Taufe in dem
großen Leiden, in der Entsagung, in dem geduldigen, unbegrenzten
Opferwillen..... Aller Flitterstaat wird abgestreift, sie werden
zur Natur zurückgezwungen, zu dem einfacheren, gesunderen Leben in
Genügsamkeit.... Aber wir?...

Sollte aus dieser Berserkerwut des Wahnsinns doch etwas Gutes, eine
neue Zeit hervorgehen?

       *       *       *       *       *

Fertig, sagen sie? Sollte Europas Kultur fertig sein? Ist der
Mittelpunkt der Welt im Begriff verlegt zu werden?

Oder haben trotzdem die Völker die Kraft zur Erneuerung?

Die Welt hat früher gesehen, daß Völker, die für ihr Dasein, für
die Freiheit -- aber nicht für die Macht -- kämpfen, sich herrlich
entfalten können, wie die Griechen, wie Athen nach dem Kampf gegen die
Perser.

Aber die Welt hat auch gesehen, daß, wo ein Militärstaat, ein Sparta
oder ein Rom, den Sieg davontrug, der große Niedergang der Kultur
begann.

Ja, wer weiß, was kommt -- und was nützt es, darüber zu grübeln?

                                *     *
                                   *

Es geht schnell und leicht nach Osten. Ich komme über die Glitra, die
nach dem Gudbrandstal fließt, und wandere weiter aufwärts. Das einzige
lebende Wesen ist hier und da ein Morinell (~Eudromias morinellus~),
der zwischen den mit Heidekraut bedeckten Rücken davonläuft.

Bald erreichte ich die Wasserscheide zwischen der Glitra und dem
Musvollfluß, der nach Nordosten in den Atnesee fließt. Es öffnete
sich auch eine breite Talsenke ostwärts mit Aussicht nach Sollien
und dem Glommental. Im Norden aber thronten über allem die Berge von
Rondane. Können vielleicht sie dort oben von ihrer Höhe in die Zukunft
hineinschauen?

Ja, sag du mir, Diger-Ronden, was du siehst..... Die Zukunft, das
Kommende, ist es denn +nur+ Finsternis?

Oder vielleicht verbrennt das Alte und Verbrauchte, damit Neues an
seine Stelle treten kann? Aber woher soll dieses kommen?

Bleibt Kraft genug zurück, um das neue Geschlecht fortzupflanzen? -- --

Tausendmal die gleiche Frage, aber der unstete Gedanke erhält keine
Antwort. Es ist, als ob alles versage und versinke. Wir fühlen uns
todkrank.

Doch nein, welche Genesung in diesen Bergweiten! Man sieht sich wieder
gesund und stark an diesen Bergen, wie sie daliegen in ihrer breiten
sicheren Größe, fest, unverrückbar, wie sie die wechselnden Zeiten an
sich vorübersausen lassen, während sie unverändert bleiben.

Wenn abgelebte Kulturen einiger Völker zugrunde gehen, so ist das wohl
kein unersetzlicher Schaden. So etwas ist schon früher geschehen, und
noch leben die Menschen.

Sieh diese gewaltigen Gebirgsformen! Hier liegt die Erde, wie sie eben
vom Eise verlassen wurde, wie sie jahrtausendelang gelegen hat. Sie
birgt Möglichkeiten für neue arbeitende Geschlechter. Sorge dich nur
nicht! Wenn die, die waren, einander auffressen konnten, so ist es
wohl gut, daß neue kommen.

Aber woher sollen diese kommen? Wo finden wir die frischen
unverbrauchten Geschlechter?

Nein, wieder geht es im Kreise. Aber ich wollte ja zum Atnesee
hinunter.....

       *       *       *       *       *

Nach und nach tauchte etwas Birkengebüsch an den Talhängen auf. Der
Hund zog mehrmals vor Hühnern an, und die ängstliche Schneehuhnmutter
ging auf und lief mit hängenden Flügeln vor dem Hunde fort, um
ihn zu sich heranzulocken, weg von den Jungen. Ja, ich habe die
Schneehuhnmutter mit gesträubten Federn gerade auf den Hunderachen
zulaufen sehen, um auf ihn einzuhacken, wenn der Hund das Junge nehmen
wollte.

+Das+ ist Mut und Opferwille bis zum Tode. Können wir Menschen ihn
besser für unsere Nachkommen und für das Vaterland beweisen?

Weiter unten begegnete ich einer Herde Jungvieh, die am Flusse
weidete. Ohne auf den Hund zu achten, stürmten sie auf mich ein und
umringten mich, pusteten und schnauften und kamen mit dem Maul an
meine Hand heran, um sich streicheln zu lassen und Salz zu bekommen,
als ob sie lange Zeit keine Menschen gesehen hätten. Sie sind also
menschenfreundlich genug..... und wir?...

Sie folgten mir ins Tal hinab, so sehr ich sie auch wieder ins Gebirge
hinaufzuscheuchen versuchte.

                                *     *
                                   *

Auf der Björnhullhalde kam ich zu der ersten bewohnten Alm. Ich ging
ins Haus, um ein Schnitzmesser abzugeben, das ich unterwegs gefunden
hatte. In der Stube saß die Frau und nähte; der Mann verspeiste gerade
einen Fisch, den er im Bergsee gefangen hatte.

Sie hatten sechs Kühe und einige Ziegen auf der Alm; das Gehöft lag zu
oberst im Atnetal, und der Mann war, wie er sagte, der nächste Nachbar
von Hög-Ronden.

Auf ihrem Berghofe ernteten sie nichts als Heu und vielleicht noch
etwas Grünfutter. Der Anbau von Korn war nicht möglich, auch nicht
der von Kartoffeln. Was sie davon brauchten, mußten sie aus dem Tale
holen, und es waren jetzt teuere Zeiten. Aber man durfte trotzdem nicht
klagen, sie bekamen genug.

Ja, in seiner Art war es ein mühseliges Leben, und der Winter war
streng und lang -- aber das Leben so hoch oben im Gebirge ist auch
gesund. Die Luft ist rein, das Wasser gut, und wir sind frisch an Leib
und Seele, und so können wir, wie gesagt, nicht klagen.

Ich erwiderte, es sei erfreulich, so etwas zu hören. Es gibt viele,
die über die Lage des Bauern klagen, nicht zum wenigsten oben in den
Gebirgstälern. Manche Täler sind ja in den letzten Zeiten ziemlich
entvölkert worden; besonders die Jugend wandert nach Amerika aus oder
zieht auch in die Städte. Sie finden es zu Hause zu mühselig; die
Ansprüche ans Leben sind gestiegen. Was aber noch schlimmer ist, das
Leben ist ihnen zu langweilig geworden. Sie wollen lieber in der Stadt
hungern und frieren, denn dort gibt es so vieles, was anlockt.

Oh, er könne nicht sagen, daß es hier im Tal so schlimm gewesen sei.
In der letzten Zeit hätten sich sogar mehrere neu angesiedelt. Es habe
doch auch keinen Sinn, in diese häßlichen Städte zu ziehen, wenn man im
Gebirge sein eigener Herr sein und sein freies Leben haben könne.

Das waren erfrischende Worte von einem, der selbst dieses Leben lebte.
Daß der Hinweis auf die Gesundheit mehr als Gerede war, zeigt das hohe
Alter, das die Leute hier im Tal erreichen. Die Mutter dieses Mannes
wurde über 92 Jahre alt; mit 89 Jahren ging sie noch mit dem Vieh vom
Tal zur Alm, und sie war gesund und rührig in ihrer Arbeit.

Frohen Mutes zog ich weiter. Gäbe es nur viele von dieser Art in unserm
Volk, dann könnte Norwegen einer lichten Zukunft entgegensehen.

Ja, wenn wir die Lebensansicht dieses Nachbars von Hög-Ronden der
Jugend unserer Zeit einpflanzen könnten, dieser Jugend, die sich am
meisten damit beschäftigt, wie sie bei geringster Arbeit das meiste
Geld verdienen kann, um ihrer Genußsucht zu frönen. Wenn wir nur in
der Jugend auch die Liebe zu dem Lande erwecken könnten, zu dem Volk,
das sie hervorgebracht hat, wenn wir sie dazu bringen könnten, an
die Zukunft der Nation zu denken und daran, was aus der Rasse werden
könnte, und welche Pflichten, welche erhebenden Aufgaben sie da finden
könnte, anstatt nur an sich selbst und an ihre Gelüste zu denken.

Dieser kleinliche Egoismus, der sich Tag für Tag mehr in allen
Schichten verbreitet und die Gesellschaft entkräftet, in dieser Natur
müßte er sich abschälen.

Wenn einer Rondane dort im Westen sich vom Himmel abheben sieht, dann
muß er erkennen, daß zwischen solchen Bergen der Gesichtskreis ein
anderer wird, die Ziele größer, als in dem Hof einer Fabrikstadt, wo
das Auge den ganzen Tag nicht weiter schaut als bis zur nächsten Wand,
und wo der beständige Anblick von andern, die es besser haben, die
Unzufriedenheit nährt.

Gebt ihnen etwas von dem Naturleben zurück, das ihnen allen fehlt,
nach dem sich aber alle, bewußt und unbewußt, sehnen -- und die
Lebensauffassung wird gesunder, die Lebensfreude wird heller werden!...

                                *     *
                                   *

Nun ging es im Walde abwärts, und nach einer halben Stunde erreichte
ich die Musvollalm. Sie war voller Städter. Trotz der liebenswürdigen
Versicherung des Besitzers, daß er mir schon noch einen Platz und
ein gutes Bett verschaffen werde und sich gern mit mir unterhalten
wolle, war es doch für einen fahrenden Gesellen zu früh am Tage, um
haltzumachen. Die Hügel hinab wanderte ich weiter durch den Wald, und
bald war ich unten am Atnesee.

Hier stehen einige Fischerhütten, die Leuten aus Fron, aus dem
Gudbrandstal, gehören. Von alters her haben sie in diesem See das
Fischrecht. Es waren gerade einige Männer da, aber größere Fische
hatten sie nicht gefangen; das Wetter war zu still gewesen, auch stand
das Wasser zu hoch.

Ich hatte die Erlaubnis erhalten, das Boot des Besitzers der Musvollalm
zu benutzen; in ihm fuhr ich auf die andere Seite des Sees hinüber, wo
eine neue Ansiedlung sein sollte.

Eine gute Strecke aufwärts vom See fand ich endlich auch die Rodung
mitten im Wald. Zwei Männer hatten sich zusammengetan und hatten hier
vor zwei Jahren angefangen urbar zu machen. Sie hatten schon einen
guten Gerstenacker und Kartoffeln, und die Bäume waren auf einer großen
Fläche gefällt. Die Wurzeln staken noch im Boden, und noch genug Arbeit
war zu tun. Aber der Boden war gut, vielleicht etwas trocken, mit Sand
darunter. Eine gemütliche kleine Hütte war schon gebaut, und auch der
Stall war beinahe fertig. Als ich kam, saß der eine Mann auf dem Dach
und legte Planken.

Ja, er könne mich über den See nach Brenn rudern; er könne auch
sofort aufbrechen, müsse aber nur noch einmal ins Haus und sich etwas
herrichten. Er war verheiratet, sein Kamerad aber war noch ledig.
Sie hatten sich 16000 Quadratmeter Land gekauft, konnten einige Kühe
und ein Pferd halten und verrichteten im übrigen in der Hauptsache
Waldarbeit.

Es stärkt den Glauben an die Zukunft, wenn man hoch oben im Gebirge
eine solche neue Ansiedlung sieht. Der Anbau werde sich gut lohnen,
meinte er; die Heuernte sei in den meisten Jahren gut, die Kartoffeln
gediehen auch. Weniger gut stehe es mit dem Getreide, aber sie
schnitten es als Grünfutter, was sich auch lohne. Dann hätten sie
Fische im See und im übrigen, wie gesagt, Arbeit genug im Walde. Hier
sei es wahrhaftig nicht schwer zu leben.

Die Ruderstrecke über den Atnesee beträgt etwa 8 Kilometer.

Welcher Friede! Dort an der Nordseite liegt das schöne Nesset, wo einer
der wenigen großen Männer Norwegens, der Mathematiker Cato Guldberg,
gewohnt hat. Das war ihm ähnlich, sich gerade hier niederzulassen.
Diese einfache, aber großartige Natur entsprach seinem Wesen.

Breit und sicher liegen die Häuser oben auf dem grünen Wall, der sich
bis an den See hinunter erstreckt; sie leuchten rot im Walde. Zu beiden
Seiten ziehen die flachen Waldhänge bis zum kahlen Gebirge hinan.

Erst am Abend gelangte ich nach Brenn an der Atnebrücke und bekam für
die Nacht Quartier. Das Zimmer ging auf den Fluß hinaus. Das Wasser des
Falles donnerte unter der Brücke. Es stürzte in eine schöne Fischgumpe
hinab, die verlockend aussah. Kreis um Kreis stießen die Forellen auf
der blanken Wasserfläche oberhalb der Brücke. Die Nacht war still und
warm. Das war viel für ein Fischerherz, aber -- es hieß weiterziehen.
Es war das beste, sich schlafen zu legen.

Am nächsten Morgen fuhr ich im Wagen vom Atnetal über den Bergrücken
hinab ins Vulutal und weiter nach Sollien.

Nun geht es vom Gebirge, von dem weitgedehnten Hochland hinab ins Land
der ernsten großen Wälder.

Von der Skyßstation in Sollien fuhr ich mit frischem Pferd weiter, die
Hügel hinab ins Glommental. Wie bedauerlich wenig Zeit wir Menschen
brauchen, um unsere Lebensbedürfnisse zu steigern! Früher schien es
herrlich, mit Pferd und „Stuhlkarre“ zu reisen. Jetzt aber, nachdem wir
seit wenigen Jahren die Automobile haben, bewundert man die Geduld der
Menschen, die sich dareinfinden, ihre Zeit damit zu verlieren, sich in
einer Karre schütteln zu lassen und ein müdes Postpferd vorwärts zu
treiben.

Das Pferd, das ich hier bekommen hatte, war übrigens recht willig. Gern
ließ ich den kleinen erst zehnjährigen Kutscher fahren, denn er kannte
das Pferd wohl am besten.

Als es aber einen langen Hügel hinabtrottete, stolperte es, fiel in die
Knie, versuchte wiederaufzukommen, schlug aber dann einen Purzelbaum
und lag auf dem Rücken, die Beine in der Luft.

Ich sprang aus dem Wagen und hielt dem Pferd den Filzhut über die
Augen, damit es nicht zappeln und die Gabeldeichsel zerbrechen sollte.
Der kleine Kutscher war beherzt. Ein bißchen weinen mußte er ja,
gleichzeitig aber gab er mir mit der Miene des erwachsenen Mannes
Bescheid, wie ich das Pferd ausspannen müsse. Bald hatten wir das
Geschirr herunter, das Pferd wieder auf den Beinen und vorgespannt. Wir
stiegen ein und fuhren weiter.

Ein wunderliches Pferd, mitten auf ebenem Weg einen Purzelbaum zu
schlagen. Ich ergriff die Zügel, merkte aber bald, daß es leicht
stolperte und fest im Zügel gehalten werden mußte.

Sie hätten das Pferd eben erst aus der Stadt bekommen, sagte der Junge,
und er kenne es nicht. Wahrscheinlich war es ein Kutschpferd, das von
den Steinstraßen kranke Beine bekommen hatte; durch die Automobile
vertrieben, sollte es nun seine letzten Jahre als Postpferd hier auf
dem Lande abdienen, wohin das Automobil noch nicht gelangt war.

Aber nein, dieses Beförderungsmittel ist ein Überrest aus der
Vergangenheit. Bald wird das Automobil auch in diesem Tal, wie in allen
andern, siegreich seinen Einzug halten. Schließlich werden die Pferde
nur noch zur Holzbeförderung im Walde gebraucht werden; denn dahin
können die Autos noch nicht vordringen. Aber wer weiß, was kommen wird?
Wir haben schon merkwürdigere Dinge erlebt als die Beförderung von
Holzstämmen mit Automobilen.

Endlich kam ich an den Bahnhof Atna. Von dort ging es mit der Eisenbahn
südwärts nach Koppang und von da mit dem Automobil nach Åsheim am
Nordende des Storsjö im Äußeren Rental. Dort wollte ich einige Tage
bleiben und fischen.

                                *     *
                                   *


    +Åsheim+, 14. Juli.

Durch eine tiefe, bewaldete Schlucht an der Westseite der Sölenberge
bricht sich die Mistra ihren Weg von den weiten flacheren
Gebirgsstrecken im Norden. In einem großen Bogen geht es durch ein
enges Waldtal wie durch einen Riß in dem Bergmassiv zu dem schönen
Storsjö im Rental hinab.

Den Fluß ziehen große Forellen hinauf, und ich hatte Lust, es mit ihnen
zu versuchen. Aber es war am Fluß entlang unwegsam, und man mußte gut
bekannt sein, um die richtigen Gumpen zu finden, in denen die großen
Fische stehen.

Olav Åsheim kam lächelnd vom Telephon herein und sagte:

„Nun habe ich einen guten Begleiter für dich gefunden, den Schneider
hier im Ort. Einen bessern Fischer gibt es in dieser Gegend nicht. Er
findet das Wetter heute gut und ist bereit, mitzugehen, aber er wird
erst gegen ein Uhr frei, dann will er dich bei Misteregga treffen.“

Jawohl, das paßte mir gut. Ich hatte bis dahin auch noch einiges zu
besorgen.

„Du kannst meinen Sohn Klein-Olav nehmen, der wird dir den nächsten Weg
durch den Wald zeigen.“

„Er lahmt, der Schneider,“ fügte er hinzu, „er hat ein steifes Bein.
Aber darum brauchst du dich nicht weiter zu kümmern. Er klettert die
Bergwände hinauf und geht im Wald wie nur einer mit gesunden Beinen.
Auch einen bessern Jäger gibt es in unserer Gegend nicht.“

Etwa gegen zwölf Uhr zogen wir los, Klein-Olav und ich. Erst mußten
wir durch den Renafluß, da das Hochwasser im Frühjahr die Brücke
fortgerissen hatte. Dann ging es durch den Wald aufwärts. Es war eine
Brathitze, und man mußte die Kleider ablegen, soweit es ging. Je höher
wir hinaufkamen, um so gespannter wurde ich, diesen merkwürdigen
Schneider zu sehen.

Endlich erblickten wir die Häuser von Misteregga zwischen den Bäumen,
und als wir auf die Landstraße hinauskamen, erhob sich vom Straßenrand
ein junger Mann und wünschte „Guten Tag“.

Ein hübscher, stark gebauter Mensch von Mittelgröße, oder vielleicht
eher klein, im braunen Jagdanzug mit Kniehosen, mit blondem Knebelbart,
sonst glatt rasiert, mit lachenden, treuherzigen Augen.

Das war der Schneider Rikard Kvernnes, auch Rikard Odden genannt, nach
dem Haus nördlich vom Lomnessee, in dem er wohnte. Von dort war er auf
dem Rade gekommen. Er trug eine lange Angelrute aus Bambusrohr mit
Roller.

Wir gingen ostwärts die Anhöhen hinauf. Trotz seines steifen Beines
marschierte mein Begleiter leicht. Es schien ihn keine Anstrengung zu
kosten, Schritt zu halten.

Wir stiegen etwa anderthalb Stunden, bis wir vom Weg abbogen; dann ging
es die waldigen Berghänge nach dem engen Tal hinab, auf dessen Grund
tief unten die Mistra schäumt.

Im allgemeinen fließt die Mistra in gleichmäßigen Stromschnellen
schäumend über und zwischen runden Steinen, ohne tiefere Stellen.
Hier halten sich in der Hauptsache nur kleine Fische auf. Dann aber
verlangsamt der Fluß, oft in langen Abständen, seinen munteren Lauf in
langen Vertiefungen, in denen die großen Fische stehen.

Nachdem wir einen steilen Abhang hinabgeklettert waren, standen
wir endlich am Fluß. Der Schneider schlug vor, wir sollten erst
aufwärts von einer Gumpe zur andern gehen, um dann am Abend wieder
herunterzuwandern. Das taten wir, aber wir bekamen nicht einen großen
Fisch.

Es war drückend schwül. Schwere schwarze Wolken zogen sich im Osten
über der Schlucht zusammen. Man hatte das Gefühl, daß ein Gewitter im
Anzug war. Aber es standen Wolken vor der Sonne, und daher mußte jetzt
am Nachmittag gut fischen sein. Ich versuchte es erst mit der Fliege,
und dann benutzten wir Wurfköder mit Rotauge als Lockspeise, eine
Angelmethode, in der der Schneider Meister war. Aber wir hatten keinen
Erfolg.

Der einzige Fang, den ich sah, war ein großer Auerhahn, der gegen
meine Angelrute herangesaust kam, als ich auf einem Stein im Flusse
stand. Er war vom Hund auf dem Land hinter mir aufgestoßen worden. Ich
dachte daran, den Köder nach ihm zu werfen. Natürlich sollte er den
Köder nicht etwa verschlingen, ich konnte aber leicht die Schnur um ihn
werfen, so daß ihn die Angelhaken festhielten. Ich ließ es aber sein,
und er sauste den Fluß hinab und im Kiefernwald auf der andern Seite
hinauf.

Das wäre ein „Fischfang“ gewesen! Ich sehe ihn, wie er, die Schnur
um den Hals, draußen im Flusse Widerstand leistet, mit den Flügeln
schlägt, den Hals streckt, während ich ihn mit dem Roller heranziehe.
Das wäre ein Kampf geworden!

Es gab hier unheimlich viele Mücken, und sie bissen und stachen in
Gesicht und Hals, Hände und Waden, daß man kaum ruhig auf den Steinen
stehen und angeln konnte.

Es fielen schwere Tropfen, und ein gewaltiger Regenguß platschte auf
uns nieder, Schauer um Schauer. Auf einmal aber brach der Donner los,
daß es zwischen den Bergwänden in dem engen Tal hallte, und es dröhnte
Schlag auf Schlag; schließlich kamen Blitz und Donner fast gleichzeitig.

Der Schneider meinte, da brauche man sich nicht zu wundern, wenn die
Fische nicht hätten anbeißen wollen. Nun sei es ganz hoffnungslos zu
angeln.

Wir stiegen im Wald bis zu einer Holzhütte, um vor dem Regen Schutz zu
finden und etwas zu essen. Wir mußten uns gedulden, bis das Gewitter
vorüber war; vielleicht ging es dann mit dem Fischen besser.

Als der Regen nachgelassen hatte, kletterten wir wieder zum Fluß hinab,
hatten aber auch weiterhin kein Glück. Wir mußten uns noch eine Weile
gedulden und gingen etwas weiter hinauf, bis zu einer neuen großen
Fischgumpe. Der Schneider warf seinen Köder im unteren Teil der Gumpe,
ich versuchte mein Glück etwas weiter oben.

Da biß beim Schneider mitten in der stärksten Strömung ein großer Fisch
an. Es ging die Stromschnelle hinab, die ganze Schnur sauste vom Roller
herunter. Der Schneider mußte hinterdrein; er sprang von Stein zu Stein
und watete im Wasser oft bis an den Leib, so daß der Schaum um ihn
aufspritzte. Plötzlich stürzte er zwischen den Steinen, und nur die
Arme, die Schultern, der Kopf und die Angelrute waren über dem Wasser
zu sehen. Er sprang auf, und weiter ging es.

Dann wurde aber die Strömung zu stark; er mußte ans Land und die
Bergwand hinaufklimmen. Ich ergriff den Kescher und sprang hinterdrein.

Der Schneider kam um den Berg herum; er hatte einen Teil der Schnur
eingezogen, und der Fisch war in etwas stilleres Wasser gekommen. Aber
immer noch gab es recht starke Stromschnellen.

Er zog den Fisch ans Land heran. Mehrmals versuchte ich, mit dem
Kescher heranzukommen, aber dann ging es wieder fort, weiter und weiter
hinab.

Endlich fing der Fisch an, sich zu ergeben. Der Schneider zog ihn
wieder herein, ich bekam den Kescher unter den Fisch und zog ihn ans
Land. Wahrhaftig, eine schöne Forelle, fett und breit, mit kleinem
Kopf. Sie wog gut ihre drei Kilo.

Der Schneider hob den Fisch feierlich in die Höhe und überreichte ihn
mir. Den sollte ich, sagte er, als Gabe erhalten.

Wir gingen wieder aufwärts. Der Schneider warf noch einige Male den
Wurfköder in derselben Fischgumpe aus, ich weiter oben. Wieder stippte
ein Fisch an. Diesmal hing er nicht, aber der Schneider sah den
Schwanz, der groß war.

„Klein-Olav sah ihn auch, und hätte ich ihn herausbekommen, dann
hättest du gesehen, daß wir hier auch große Fische im Fluß haben. Er
war beträchtlich größer als der fünf Kilo schwere, den ich hier vor
einigen Tagen fing. Aber so ein großer Fisch beißt nicht mehr als
einmal an. Geht es dann fehl, dann beißt er nicht wieder. Wir müssen
ihm Zeit lassen und den Versuch auf dem Rückweg wiederholen.“

Wir gingen weiter hinauf. Oft fiel der Berg an den Gumpen sehr steil
ab. Von einem hohen Felsen aus warf ich den Köder in eine große schöne
Gumpe. Ich zog den Köder über den Strom hin. Platsch, da biß etwas
an; es gab mir einen Stoß durch den ganzen Körper. Die Rute stand wie
ein gespannter Bogen, und die Schnur sauste vom Roller. Nun galt es
festhalten, der Fisch wollte die Stromschnelle hinab.

Ich bekam ihn wieder in die Gumpe hinein. Er ging im Kreise. Während
ich so stramm als möglich hielt, kletterte ich die Bergwand bis zum
Ufer hinunter. Endlich wurde er müde; er kam gutwillig und wurde in den
Kescher hineingeholt; es war ein Fisch von etwa anderthalb Kilo.

Nun war aber nichts mehr zu machen, so oft wir es auch weiter oben
versuchten. Wir gingen wieder zurück, denn es war schon spät am Abend
geworden. Aber auch der große Fisch des Schneiders wollte nicht wieder
anbeißen, und so war nichts zu machen als heimzukehren.

Wir kletterten vom Fluß aus aufwärts, bis wir an eine Holzhütte kamen,
wo wir einen Bissen Abendbrot aßen.

Klein-Olav hatte einige kleine Fische mit der Fliege gefangen; er
triefte vor Nässe, war aber stolz auf den langen Ausflug. Dann
kletterten wir weiter hinauf bis zur Straße und wanderten heimwärts.

Als wir die langen steilen Hänge hinabgingen, erzählte der Schneider,
hier sei es gewesen, wo er das Bein gebrochen habe.

„Wie ist denn das zugegangen?“

„Ja, ich kam auf dem Rad daher, und da geriet hier oben auf der Höhe
die Bremse in Unordnung, und dann verlor ich auch das Pedal, und da
ging es in voller Geschwindigkeit alle diese steilen Hügel hinunter.“

„Aber warum versuchtest du nicht gleich seitwärts abzuspringen?“

„Ja, da sind auf beiden Seiten so häßliche Steine, und dann, weißt du,
meinte ich auch, ich würde schon mit der Geschichte fertig werden.“

„Du mußt aber diese steilen Hänge mit fürchterlicher Geschwindigkeit
hinabgesaust sein?“

„Ja, freilich ging es schnell.“

„Ich hörte von einem, der dich hatte hinabfahren sehen, es sei wie der
Blitz gegangen.“

„Akkurat da war es, wo dieser Seitenweg abbiegt; dort standen sie und
machten die Saumlast fertig, sie wollten zur Alm hinauf. Ich rief
ihnen zu, als ich da unten gefallen war, aber sie hörten mich nicht.“

„Sahen sie dir denn nicht nach?“

„Ach nein, sie glaubten wohl, es sei meine Gewohnheit, so schnell
zu fahren. Aber, weißt du, ich meinte, ich würde schon mit der
Sache fertig werden. Diesen schroffen Abhang hinunter nahm ja die
Geschwindigkeit furchtbar zu, und dann kam dort unten die Biegung,
die damals noch viel schlimmer war als jetzt, weil der Weg noch nicht
umgelegt war. Damals waren es zwei Biegungen, erst eine jäh nach links
und dann wieder eine jäh nach rechts. Ich lag flach auf dem Weg, erst
auf der einen Seite, dann auf der andern, und wahrhaftig -- es ging!
Aber dann sprang ein Felsen in den Weg vor; auf den fuhr ich los, wurde
heruntergeworfen und brach das Bein an zwei Stellen, über dem Knie und
darunter, Oberschenkel und Schienbein. Da blieb ich liegen; aber ich
hatte Glück, nicht länger als eine Stunde lag ich, da kam ein Mann, der
zur Alm hinauf wollte, und der hatte glücklicherweise einen Wagen mit
Federn, auf dem ich hinuntergefahren wurde.“

„Tat es nicht weh?“

„Ach nein, ich kann nicht sagen, daß es besonders weh tat, bis ich nach
Hause kam, aber dann fing das Blut zu strömen an. Es war gut, daß ich
damals einen so guten Doktor hatte; das Bein wurde so gut hergerichtet,
als nur möglich war. Aber mein Doktor sagte, mit Jagen und Radeln sei
es nun Schluß. Damit behielt er freilich nicht recht. Ich lag aber
lange, bis ich wieder gesund wurde.“

„Aber dein Bein war ja schon vorher verletzt?“

„Ja, ich hatte einmal mit dem Beil hineingehackt, und da entzündete
sich die Wunde, und das Knie wurde steif. Weißt du, das kam daher, daß
es schlecht behandelt wurde.“

Bei Misteregga trennten wir uns. Der Schneider fand hier sein Rad
wieder und fuhr davon, die Abhänge hinab. Es war kaum zu glauben, daß
er mit dem einen Bein fahren konnte; es war aber so kräftig entwickelt,
daß es zwei andere Beine aufwog.

Klein-Olav und ich gingen durch den Wald hinunter nach dem Storsjö.
Meine Gedanken waren bei dem Schneider, diesem merkwürdigen Mann. Welch
zäher Wille muß in seinem Körper leben!


    +Åsheim+, 18. Juli.

Einige Tage später (am Montag, 17. Juli) fuhr ich wieder zur Mistra
hinauf. Diesmal hatte ich in Åsheim ein Rad geliehen und fuhr auf der
Landstraße über die Kvernnesbrücke und Odden, wo der Schneider wohnt.
Es war ein Umweg von einer Meile.

Der Schneider stand auf dem Hofe; ich kam früher, als er erwartet
hatte. Er bat mich hereinzukommen und Platz zu nehmen, bis er sich
fertig gemacht habe.

Draußen und drinnen war alles in guter Ordnung. Das Haus liegt schön
auf einer kleinen Landzunge an der Südseite des Lomnessees. Draußen war
ein kleiner schöner Garten mit Blumenbeeten und Küchengarten.

Eine helle luftige Stube mit Waffen an den Wänden: eine
Winchester-Magazin-Hagelflinte, ein Büchsendrilling mit Zielfernrohr.
Damit schießt er im Winter die Auerhähne, das soll er besonders gut
verstehen. Mehrere andere Gewehre hingen auch da und Fischereigeräte.

Aber vom Schneiderhandwerk war nichts zu entdecken. Auf den Tischen
lagen Kataloge von Jagd- und Fischereigeräten. Man merkte, daß er
Junggeselle war.

An der Wand hing ein Diplom. Sollte es ein Schützendiplom sein? Aber
nein; wahrhaftig, das erinnerte doch etwas an den Schneider, es war ein
Diplom über einen vollendeten Zuschneidekursus in Kopenhagen. Also ganz
ausgelernt, und gewiß tüchtig im Handwerk wie in allem andern.

Nun ist er fertig. Kaffee in der Thermosflasche und zwei Flaschen
Bier im Rucksack, so zogen wir auf unsern Rädern in der Sonnenhitze
aufwärts. Man merkte es wahrhaftig nicht, daß er nur mit einem Bein
treten konnte. Ich hatte meine liebe Not, ihm die langen steilen
Anhöhen hinauf zu folgen, trotzdem ich an meinem Rad die Übersetzung
wechseln konnte. Die steilsten Hügel hinauf mußten wir freilich gehen.

Halbwegs oben hörten wir ein furchtbares Getrampel auf uns zukommen;
schneller als wir denken konnten, sprengte eine Koppel Pferde heran.
Wir mußten uns mit unsern Rädern schleunigst in den Graben werfen, um
nicht niedergetrampelt zu werden.

„Den Teufel auch, was mag das bedeuten?“

Aber da kam noch etwas hinterdrein -- ein Mann auf einem Motorrad.
Wahrhaftig der junge Tierarzt! Hatte der nichts Vernünftigeres zu tun,
als so die Pferde zu jagen?

„Wenn der lange so gefahren ist, dann sind sie versprengt,“ sagte der
Schneider.

Weiter oben begegneten wir einem alten Mann, der den Hut lüftete. Wir
grüßten.

„Guten Tag,“ sagte er, „willst du ins Gebirge?“

„Wir wollen an die Mistra angeln gehen,“ antwortete ich. „Kommst du
weit von Osten her?“

„Ich habe eine Stute nach Trysil gebracht.“

„Mußt du denn die Stuten so weit bringen?“

„Ja, dort ist ein tüchtiger Hengst. Sonst hätte ich sie freilich zum
Hengst im Rental, zum Romulus, geschafft, aber er ist vorige Woche
verendet; König Knut hat ihn so geschlagen, daß er einging.“

„Ja, ich hörte davon. Aber wie konnte es zugehen, daß die beiden
Hengste aneinander gerieten?“

„Man hatte schlecht aufgepaßt, weißt du, und da kamen sie zusammen.“

„Das war ein schwerer Verlust für den Besitzer?“

„Ach, er war für 2000 Kronen versichert; aber du weißt, das ist kein
Preis für so ein gutes Pferd. Aber die Besitzer waren Halstein Sjölie,
Simen Landet und andere Große, und für diese Reichen wollen einige
tausend Kronen nicht viel sagen.“

Wir mußten weiter und verabschiedeten uns.

„Guten Tag,“ sagte er und zog weiter bergab.

Als wir hoch genug gekommen waren, ließen wir die Räder stehen und
gingen zum Fluß hinunter. Es war gegen Nachmittag und Zeit, etwas zu
genießen.

Wir schlugen den Weg zu einer Holzhütte ein, um dort, vor Mücken
geschützt, unsern Proviant zu verzehren. Eine Flasche Bier legten wir
zum Kühlen in den Bach, während wir in die Hütte gingen.

Der Schneider ging voraus. Als er aber in die Türöffnung trat, hörte
ich ein fürchterliches Flattern. In der Hütte war ein Birkhahn. Vor
Schreck flog er erst in die eine Ecke und dann in die andere; im Dach
war ein Loch, durch das er hinaussauste. Dann fiel er draußen auf dem
Boden ein. Dort blieb er eine Weile und bedachte sich, dann strich er
durch den Wald ab.

Auer- und Birkhähne findet man oft in solchen Holzhütten. Neulich
hatte ein Junge einen Auerhahn in einer Hütte erschlagen, was freilich
ungesetzlich war.

Wir blieben nicht lange in der Hütte; es gab drin gar zu viele Mücken
und Bremsen, da war es draußen doch besser. Freilich war es auch da
schlimm, aber zuweilen kam doch ein Windstoß, der Erleichterung brachte.

Ein sicheres Mittel gegen Mücken hatte ich freilich auch mit,
Zitronellaöl, das die Engländer in den Tropen gegen Insekten verwenden
sollen. Ich hatte gerade eine Flasche von Christiansen von Elverum
bekommen, der am Storsjö angelte; er kannte das Öl von Malakka her, wo
er Gummiplantagen besitzt.

Gewiß, das Öl war gut. Ein oder zwei Stunden lang kam einem keine
Mücke zu nahe, wenn man sich ordentlich eingeschmiert hatte. Aber wir
mußten mit dem Vorrat sparen, bis wir zur Mistra kamen, wo das ernstere
Geschäft, das Angeln, vor sich gehen sollte. Wir wußten ja auch, daß am
Abend die Mückenplage noch schlimmer wird.

Das Essen schmeckte jetzt, aber noch mehr das Bier, das in dem Bach
schön kalt wurde. Wir beschlossen, auch gleich die zweite Flasche zu
leeren; es gab kein Widerstreben. Abends konnten wir dann den Kaffee
trinken. Die Sonne brannte heiß, der Himmel war wolkenlos, es hatte
also keine Eile, an den Fluß zu kommen und mit dem Angeln zu beginnen.

Wir wateten durch den Renfluß und kamen zu der Fischgumpe in der
Mistra. Wir beide verwandten Wurfköder, aber ohne Erfolg. Es war zu
klares Wetter, vielleicht wurde es gegen Abend besser.

Wir gingen flußabwärts.

Ich kam an eine große tiefe Gumpe unter einer jähen Bergwand, wo man
im Schatten stand. Hier mochten wohl große Fische stehen. Ich warf den
Köder nach der andern Seite hinüber und ließ ihn treiben, während ich
ihn hereinzog; er kam gerade dahin, wo ich ihn haben wollte.

Aber dort am Rand der Strömung? Ein schwerer Platsch, ein gelbes
Aufblinken, ein runder dunkler Rücken, ein breiter Schwanz schlug
aus dem Wasser auf. Es zog an, die Schnur lief vom Roller, und die
Angelrute stand rund wie ein Rad. Ich stemmte mich dagegen, soweit es
irgend anging. Es kam darauf an, den Fisch in der Gumpe zu behalten.
Kam er erst in die Stromschnelle hinab, dann war es ungewiß, ob ich mit
ihm fertig werden könnte, denn die Bergwand fiel senkrecht ab, und der
Fluß war tief und reißend, so daß es nicht leicht war zu folgen.

Am Rand der Stromschnelle kam es zum Kampf. Ich wußte, das einfache
Vorfach, wenn es auch dünn war, war gut, und die Schnur hielt wohl,
und eine geschlissene Bambusrute ist nicht leicht zu brechen. Das Ende
vom Liede war, daß ich den Fisch wieder in die Gumpe hineinbekam; dort
ging es blitzschnell im Kreise herum.

Während ich mit diesem Tanz beschäftigt war, sah ich den Schneider auf
der Bergwand über mir. Er kletterte herunter, um mir zu helfen.

Bald wurde die Forelle schwächer, und endlich zeigte sie den Bauch. Ich
zog sie direkt in den Kescher des Schneiders hinein. Sie kam ans Land;
groß und blank lag sie im Sand zwischen den Steinen, wand sich und
schlug. Sie war nahezu drei Kilo schwer.

„Das verdiente einen Trunk,“ meinte der Schneider, aber den Trunk
hatten wir nicht.

Wir gingen weiter abwärts, hatten aber weiter keinen Erfolg, weder der
Schneider noch ich. Wenn auch ihm nichts gelang, so war es gewiß nicht
deswegen, weil wir schlechte Fischer waren.

Inzwischen war es Nacht geworden; da war nichts weiter zu tun, als zu
Abend zu essen, und der warme Kaffee aus des Schneiders Thermosflasche
schmeckte gut, besonders da wir uns tüchtig mit dem Zitronellaöl
eingeschmiert hatten, so daß wir vor den Mücken Ruhe hatten.

Dann kletterten wir aus der Schlucht wieder hinauf, kamen auf die
Straße und fuhren durch die Sommernacht auf unsern Rädern nach Hause.
Wir konnten die Räder meistens einfach frei laufen lassen.

Wir machten noch einen Versuch in den Fischgumpen unterhalb der
Brücke bei Misteregga. Aber auch dort hatten wir keinen Erfolg, und so
radelten wir denn weiter abwärts.

Recht wehmütig nahm ich vom Schneider am Zaune seines gemütlichen
kleinen Anwesens auf der Landzunge Abschied. Ich bin sicher, daß wir
beide aus aufrichtigem Herzen „Auf Wiedersehen“ sagten.


    +Åsheim+, 19. Juli.

Mit zwei Damen fuhr ich nach dem Lövfjord, um Hechte zu fischen. Beim
Schuhmacher am Südende des Fjords sollten wir ein Boot bekommen. Als
wir kamen, war er nicht zu Hause, aber Kinder waren genug da. Sie
hatten gerade junge Rotaugen als Köder für uns gefangen, und einer der
Söhne konnte uns rudern.

Der Schuhmacher hatte sechzehn Kinder, die alle am Leben waren. Bevor
wir ruderten, kam er selber.

„Ja,“ sagte er, „es kann wohl sein, daß es heute Hechte zu fangen gibt.
Im übrigen aber ist es wunderlich mit dem Hecht. Er beißt nur bei
abnehmendem Mond an, und dann die ersten Tage des Neumond.“

Dann müßten wir ja Aussicht haben, meinte ich, es sei heute das letzte
Mondviertel.

Ja, erwiderte er, das sei wohl möglich. „Aber das Angeln taugt nichts
zwischen Neumond und abnehmendem Mond, denn da gehen dem Hecht die
Zähne ins Zahnfleisch und verschwinden ganz. Nur bei abnehmendem Mond
und bei Neumond kommen die Zähne wieder hervor, und dann beißt er an,
wie man sich leicht vorstellen kann.“

Im übrigen, meinte der Schuhmacher, gebe es im See große Hechte;
vielleicht könnten wir einen von den größten erwischen. Aber mit den
Geräten, die wir hätten, sei er nicht leicht ans Land zu bringen. „Denn
er ist schlau!“

Ich mußte diesem Mann, der so viele prächtige Kinder hatte, einige
anerkennende Worte sagen. Die wir sahen, waren wirklich schön, und
frisch sahen sie auch aus.

„Es tut not, daß die Leute hier im Tal viele Stiefeln zerreißen, wenn
du so viele Kinder zu ernähren hast.“

„Ach,“ sagte er, „mit dem Auskommen würde es hapern, wenn man bloß von
der Schuhmacherei leben sollte; da könnte man Hungers sterben. Man kann
nur in den freien Stunden Schuhmacher sein, im übrigen müssen wir vom
Walde leben.“

Dann stiegen wir ins Boot und fuhren zum See hinauf. Ein
achtzehnjähriger Sohn des Schuhmachers ruderte. Wir hatten aber
scharfen Gegenwind, deshalb ging es sehr langsam vorwärts, und wir
fingen nichts. Erst als wir am oberen Ende des Fjords den Wind in den
Rücken bekamen, ging es schneller, und sofort biß auch ein Fisch bei
einer der Damen an. Nach einer Weile brachten wir ihn ans Boot heran
und nahmen ihn mit dem Kescher herein. Es war ein Hecht von etwa zwei
Kilo.

Da der Wind zu stark war, wollten wir nicht unter der Brücke in den
Lomnessee hineinrudern. Wir hielten sonnige Mittagsrast auf einem
grasigen Hügel und fuhren dann wieder in den Lövfjord hinaus, den Wind
im Rücken; das Boot hatte genügende Geschwindigkeit.

Nicht lange dauerte es, da biß ein Fisch von etwa zwei Kilo an, den
wir auch ins Boot bekamen. Einige kleinere Hechte fingen wir ebenfalls.
Dann aber kam eine lange Strecke ohne Erfolg, und wir gelangten bis ans
Südende. Da wollten wir denn wieder ein Stück aufwärts, um zu sehen,
ob es dort nicht besser gehen würde, und fuhren querüber, um am andern
Ufer entlang zu rudern.

Mitten im Fjord sagte Frau S.:

„Da schnappt etwas, aber ich bin gewiß auf Grund geraten.“

Ich nahm die Angelrute, es schien wahrhaftig so zu sein, aber im selben
Augenblick sauste die Schnur vom Roller. Da war nicht der Grund gefaßt,
nein, die kleine Bambusrute stand krumm wie eine Peitsche. Ich bremste
aus Leibeskräften, mußte aber den Fisch gehen lassen und die Schnur
immer länger und länger geben. Es war ihm nicht zu widerstehen. Ich zog
ein, sobald es sich tun ließ, dann zog der Fisch aber wieder hinaus, so
stark, daß der Roller pfiff. Wahrhaftig, es mußte ein großer Fisch sein.

Der Bursche fragte, ob er nicht ans Land rudern solle; da müßte der
Fisch doch leichter hereinzubekommen sein; die Schnur werde jetzt so
lang.

„Bist du verrückt? Halte dich in der Mitte des Fjords und über der
tiefsten Stelle. Laß mich nur nicht auf den Grund kommen; denn dann
können wir dem Fisch gleich Lebewohl sagen. Rudere aufwärts, soviel du
kannst, damit wir nicht in den Strom hineintreiben.“

Wir waren in die Nähe des Ausflusses gekommen und spürten die Strömung.

Nach einer Weile wurde der Fisch schwächer, und ich konnte die Schnur
etwas einziehen; aber bald zog er wieder weiter weg, er hatte also
noch Kraft genug. Dann ging er in die Tiefe. Ich stemmte mich dagegen,
soviel es anging; die Schnur und das einfache Vorfach wurden sehr
angespannt. Hierauf zog ich wieder ein. Die Geschichte wiederholte sich
in einem fort.

Endlich kam er näher, quer vors Boot. Wir sahen ihn in seiner ganzen
Länge; er war wirklich groß. Dann schwamm er noch mehrmals weg und
wurde wieder hereingeholt; er kam schließlich ganz unter das Boot, und
wir mußten rasch wenden, um von ihm loszukommen.

Endlich ergab er sich einigermaßen und fing an, den Bauch zu zeigen;
aber wir hatten keinen Landungshaken, und der Kescher war viel zu
klein, um ihn hereinzuholen. Der Bursche versuchte es, er hielt den
Kescher unter den Schwanz. Als er ihn aber hob, glitt der Fisch heraus
und fuhr in die Tiefe. Ich bekam ihn wieder herauf, ein neuer Versuch
wurde mit dem Kescher unternommen. Viermal passierte die gleiche
Geschichte.

Dann bekam ich den Hecht wieder an die Bootseite. Noch einmal hält der
Bursche den Kescher unter den Schwanz, während ich den Kopf mit der
Schnur an dem Bootrand heraufziehe. Dann hopp, wir heben und wälzen ihn
herein, und da liegt der Fisch auf dem Boden des Bootes. Die Freude war
groß; wahrhaftig ein starker Fisch, er mochte etwa achteinhalb Kilo
haben.

Ein unheimlicher Anblick war es, wie er da im Boote lag und den Rachen
aufsperrte. Ja, dieser Hecht ist eine Großmacht, die personifizierte
Machtgier. Sieh nur den großen Rachen mit den häßlichen Zähnen!

Er darf alles tun, wozu er Lust hat; er verschlingt alles, was er
erreicht, und lebt gut auf Kosten anderer. Trotzdem aber wird er
eines Tags in solch feinen schwachen Dingen gefangen, weil er sich
verrechnete, als er auf ein armseliges kleines Rotauge losgehen
wollte......

Wir fuhren wieder den Lövfjord hinauf und fingen noch einige kleinere
Fische. Dann war es Schluß, und wir ruderten zum Schuhmacher und seinen
vielen Kindern zurück.

„Ja,“ meinte er, „das war ein guter Fang, aber es ist ja auch bald
abnehmender Mond, und drum ist es nicht weiter verwunderlich.“


    21. Juli.

Die Reise ging weiter ostwärts vom Storsjö längs der Mistraschlucht
hinauf über das Gebirge und hinunter zum Klarafluß.

Im Norden lagen hoch über der Bergweite die Sölenberge mit dem tiefen
engen Sölenpaß. Durch ihn nahmen vor Jahrhunderten die Pilger ihren
Weg auf ihrer langen Wanderung nordwärts zum Schrein des heiligen Olav
in Drontheim, wo sie für Leib und Seele Genesung suchten und auch oft
fanden.

Ach, wenn man ein solches Wunderheilmittel für das hoffnungslos kranke
Menschengeschlecht finden könnte, das jetzt aus eigener Schuld leidet,
ohne dem Halt gebieten zu können.

Die Zeiten ändern sich, die Menschen ändern sich, aber die Natur -- die
große einfache -- bleibt unveränderlich......


    +Viksalm+, 24. Juli.

Die Sonne stand schon über dem Waldrand im Osten und flutete gerade
ins Zimmer herein, als ich die Tür öffnete, um im Klarafluß ein
Morgenbad zu nehmen.

Welch wundervoll friedlicher Fleck auf dieser lärmenden Erde! Still und
ruhig liegen die Sennhütten auf der Wiesenfläche mitten in dem großen
Wald. Ein betauter Blumenteppich reicht die Wiese bis zum Flußrand
hinab. Draußen glitzert der Klarafluß wie ein breites Silberband; auf
der andern Seite steht der dunkle Wald in kühlem Schatten.

Man scheut sich, den Fuß auf diese morgenfrische Reinheit zu setzen und
den Tau von diesen zarten Blumenknospen zu treten. Man bleibt stehen,
weitet die Brust, saugt diesen Frieden ein und läßt sich die Sonne ins
Herz scheinen.

Aber dieser unermüdliche Fluß eilt ohne Rast und ohne Ruh weiter über
Rollsteine; seine Schaumkämme und Wirbel wechseln ununterbrochen und
doch bleiben sie immer dieselben.

Weshalb solche Hast, gerade hier? Nimm dir doch lieber etwas Zeit, du
starker Fluß!

    „Laß uns sachte gehen und gut Umschau halten,
    Sieh der Weg ist reich an lieblichen Gestalten.“

Aber wer kann das in seiner Manneskraft? Du hast es nur eilig, um rasch
durch dieses Land zu kommen, nach Schweden hinein.

Ist das ein wunderlicher Fluß! Alle großen Flüsse sonst haben sich im
Laufe der Zeiten tiefe Täler gegraben. Der Klarafluß aber hat seinen
Lauf geändert. In alten Zeiten floß er vom Fämundsee über den Drevsee
geradewegs nach Schweden hinein, dann aber hat er seinen Sinn geändert
und seinen Lauf über das graue, mit Renntiermoos bewachsene flache
weite Gebirgsland mit seinen runden Höhen und Senken genommen.

Aus dem Fämundsee fließt die Glöta durch unwegsame Moränen aus großen
Steinen in den Istersee und dann in den Galten. Daraus geht der
Klarafluß hervor. Durch flaches Waldland, endlose Kiefernwälder --
mit hohen, moosbewachsenen Bergen dazwischen -- fließt er zumeist in
allmählich fallenden Stromschnellen und stilleren Strecken, seltener in
größeren Wasserfällen mit anschließenden tiefen, schwarzen Gumpen für
die großen Fische.

Weiter draußen hat er eine größere Talentwicklung gefunden, erst das
Elvtal und dann Trysil. Aber auch dieses ist nicht tief und eng und es
ist ohne hohe Berge. Der höchste ist der Trysilberg.

So gleitet der Klarafluß hinein nach Schweden. Nicht alles was von
Norwegen kommt, ist wohl alle Zeit so willkommen gewesen wie diese
strömenden Wassermassen und ihre Tausende und Abertausende von
Holzstämmen. Es ist ja dieses norwegische Wasser, das den größten See
Schwedens, den Wenersee, mit bilden hilft, Schwedens größten Wasserfall
und die größte Kraftstation, den Trollhätta, und dieses Bauholz!....

Herrgott, wenn wir zwei kleinen Völker doch immer einsehen könnten,
um wieviel weiter wir kommen, wenn wir jederzeit bereit sind, Kraft
voneinander zu empfangen! --

Wie herrlich erfrischt es, in diesem Flusse auf dem hellen Grund zu
sitzen und die kühlen Wellen die Brust umrauschen zu lassen, während
die Sonne ins Wasser scheint und unten mit den Füßen spielt. Man
vernimmt das Jubeln des Pans in den stillen Wäldern.

Ich wollte zur Mißjöhöhe nördlich von den Sölenbergen hinüber; aber
es war zu heiß, um am Tage zu gehen. Ich wartete lieber bis zum Abend
und genoß inzwischen auf dieser Almwiese die Sonne und den Frieden und
träumte den Traum des Waldes.

Große Pläne hatte man gehabt. Ich sollte jetzt eigentlich weit weg
sein, unter der Tropensonne im Urwald, im Unbekannten, und war dann vom
Krieg verhindert worden.

Weshalb aber so weit weg? Hier ist Sonne genug und blauer Himmel, und
ewig jung ist die Natur, ewig neu -- wahrhaftig genug zu entdecken --
und dazu des Waldes große Einsamkeit und Schwermut.....

Im übrigen aber ist gerade hier der Wald jetzt nicht so dicht. Die
Menschen sind schlimm mit ihm umgegangen. Sie haben diese weiten
Kiefernheiden gelichtet, und es stehen keine großen Stämme mehr. Aber
so ist es ja fast überall. Wo sind Norwegens Wälder, die einst Schutz
gewährten?

Und trotzdem ist es doch der Wald, aus dem wir gekommen sind.
Ostwärts, immer weiter nach Osten erstreckt er sich. Unter seiner
ununterbrochenen Decke kannst du Monat für Monat wandern, Jahr für
Jahr, durch Schweden, Finnland, durch Rußland, über den Ural, durch
Sibirien, durch das Amurland, über Berge und Täler und endlose
Waldebenen bis an den Stillen Ozean.

Da sind wir, da bleiben wir wir selbst. Und will sich einer ein
Zukunftsheim erträumen, das er nie fand, dann ist es im Wald, das
Waldesrauschen von Jahrtausenden über dem Hüttendach, Tautropfen im
Farnkraut vor der Tür am Morgen, einen murmelnden Waldbach und kühle
kleine Gumpen über weißen rundgeschliffenen Steinen zwischen dem Moos,
und dann ein blanker See in der Stille des Waldes, wo der Fisch abends
plätschert und große Kreise stößt.

Wie dieses Leben die Menschen gesund und schön macht! Betrachte sie
nur alle, denen wir hier begegnen. Diese Bergljot hier auf der Alm,
hast du solch eine Königin je gesehen? So selten schön das Antlitz,
diese Augen, dieses Lächeln, gütig und zart und doch vertrauensvoll
und selbstsicher. Und dann dieser Körper, so wohlgebaut, so fest und
kräftig, und diese Haltung, dieser freie leichte Gang.

Nein wahrhaftig, die Menschen waren nicht geschaffen, in Städten zu
wohnen! Hier entfalten sie sich. Schicke sie in die Städte, und du
findest wieder bleiche verwaschene Gesichter, hängende schlenkernde
Körper, müden schleppenden Gang, falschen Staat und falsche Gefühle.

Daß sie hier oben so aussehen müssen, das verstehe ich; aber nicht
verstehe ich, daß Bergljot noch nicht verheiratet ist und keine Kinder
hat. Aber danach wagte ich sie nicht zu fragen.


    +Oberes Rental+, 25. Juli.

Am Abend, als es kühler geworden war, zog ich weiter. Ich stieg
den Waldhang nach Aursjövola hinauf, dann im kahlen Gebirge nach
Nordwesten. Dort war es leichter zu gehen, und es war auch mehr
Hoffnung auf einen Luftzug, der die Mücken und Bremsen etwas fernhalten
konnte.

Aber oben unter dem Sölen war es auch auf den kahlen Bergflächen
schwer vorwärts zu kommen. Eine Moräne nach der andern kam, mit großen
Steinen auf allen Seiten. Kämme, Rücken und Löcher, mit engen, tiefen,
von Gletscherflüssen geschnittenen Rinnen durch die Moränen, als ob das
Eis sie gestern verlassen hätte. Nur daß das Renntiermoos jetzt alles
überwachsen hatte, und es war schwer, durch das tiefe Moos zwischen all
diesen großen Steinen vorwärts zu stampfen.

So weit weg von den Menschen!

Aber auch bis hierher verfolgt einen der Lärm des Unwetters von dort
draußen. Europa verblutet sich.....

Eine Kraftprobe, sagen sie. Kraft worin? In Machtgier? In
Vorbereitungen, die andern niederzuschlagen und die Macht im
günstigsten Zeitpunkt an sich zu reißen?..... Ist das die Kraftprobe?

Sind das die Eigenschaften, die die Zukunft aufbauen sollen?

Inzwischen verströmt Europas edelstes Blut. Wer bleibt übrig? Wie soll
die Rasse werden, wenn gerade die tüchtigsten, die mutigsten Männer
ausgerottet werden?

Und das Leiden, das große heilige Leiden der Völker..... wird es von
Kräften verschuldet, die wir nicht meistern können, gleich denen, die
diese Moränen aufgebaut haben? Nein, +die Menschen selbst verschulden
es+! Wehe uns!.....

       *       *       *       *       *

Aber welche Nacht! Dort unten der Wald mit den Mooren auf den Flächen
bis hinab zum großen Sölensee, der sich weit nach Nordwesten erstreckt,
mit waldigen Vorsprüngen, mit baumbestandenen Inseln gleich spähenden
Kriegsschiffen -- das erinnert unheimlich an die, die draußen in der
Nordsee auf der Lauer liegen, um einander zu vernichten.

Die Wälder erstrecken sich weit hinaus, Rücken hinter Rücken,
glitzernde Seen dazwischen. Jenseits der inselüberstreuten Fläche
des Sölensees kommt der Galtensee, weiter draußen der Istersee und
am fernsten, zwischen blauen Bergrücken, die Lücke des Fämundsees,
der selbst nicht zu sehen ist. Über dem Steinrücken, auf dem ich
stehe, erhebt sich das Gebirge bis zu den Sölenbergen mit Schluchten,
Talkesseln und Schneefeldern.

Aber jenseits des Sölensees und der Waldflächen fern im Norden
verschwimmen hohe Berge: Gloföiken, Elgepiggen, Gråhögda, in blauem
Dunst unter dem Traum des Nachthimmels.

Wie die Bergweiten wogen! Sie steigen und sinken und steigen wieder
immer höher hinauf -- das ist Musik. Unwillkürlich erklingt im Herzen
das Preislied.....

Das Preislied? Ist es denn möglich? Kann eine Kultur, die eine Welt
geschaffen hat, so erhaben, so schön wie die Musik, eine Kultur, die im
Preislied immer höher steigt, bis sie in strahlenden Schönheitsjubel
ausbricht -- kann diese Kultur dieselbe sein, die diese brutale
Machtgier entfaltet, dieses Jagen nach äußerem Glanz?

Nein, und abermals nein! Das ist nicht die Kultur, das sind die alten
Instinkte des wilden Tiers, die die Massen irregeführt und die sie
durch die Macht der Suggestion auf Abwege mitgerissen haben. Sie haben
Telegraph, Telephon, Presse in ihrem Dienst, um ihr Gift mit der
Geschwindigkeit der Elektrizität zu verbreiten. Und der Haufe, der bei
der zunehmenden Hast der Gegenwart die eigene Meinung und Urteilskraft
verliert, unterliegt ihnen sofort.

Eine Wiedergeburt +muß+ kommen -- eine neue Zeit mit neuen
Idealen, in der die geistigen Werte wieder das Ziel bilden und die
materiellen nur Mittel werden -- in der der Mob und die Mittelmäßigkeit
nicht länger die Welt regieren, sondern die großen Geister die
Menschen auf größere Höhen mit weitem Ausblick führen -- in der jede
geistige Entdeckung, jeder Sieg in der Welt des Geistes mit derselben
Begeisterung begrüßt wird wie jetzt die materiellen Siege -- in der die
Menschen für ein größeres, schöneres, einfacheres Leben leben!

Aber die Hetzjagd des Alltags dort unten in den Städten, unter dem
Alpdruck des Geldes, verflacht die Menschen. Aus der Wüste, aus der
Einsamkeit, aus der einfachen Tiefe der Natur sind zu allen Zeiten die
neuen Männer gekommen.

Welch starker Ernst in einer solchen Nacht! Es ist, als höre man das
erhabene Lied des Weltraums selbst -- so hoch, so weit, so ätherisch
rein -- so wunderbar frei für Herz und Sinn.....

Aus dieser Welt müssen die Männer der neuen Zeit geboren werden, mit
den großen einfachen Linien -- aus einem Guß -- ohne die Zweideutigkeit
der doppelten Moral.....

Aus dieser nachtstillen Größe müssen die Gedanken sprießen, die dem
kommenden Geschlecht Gesundung bringen können.

[Illustration]



Werke von Fridtjof Nansen

im gleichen Verlag erschienen.


In Nacht und Eis.

    Die Norwegische Polarexpedition 1893-96. Reich illustriert
    mit einfarb. u. bunt. Abbild. u. Karten. 2 Bde. Neue Aufl. in
    Vorbereitung.

Das einzige Werk, in welchem Nansen selbst über die kühnste aller
Polarfahrten berichtet. Was in den beiden stattlichen Bänden enthalten
ist, klingt an die alten Sagen an, die uns von der urwüchsigen Kraft
und dem Wagemut germanischer Helden Kunde geben. Nansens Schilderungen
bieten in ihrer schlichten, ungekünstelten Darstellung ein großartiges
Bild des abenteuerlichen Lebens einer Handvoll mutiger Männer in den
Eiswüsten des Nordpols. Ein reich illustrierter dritter Band, gebunden
25 M., verfaßt von zweien seiner Begleiter, schildert das Leben an Bord
der „Fram“ nach Nansens Abschied und die tollkühne Schlittenreise des
berühmten Forschers.


Nebelheim.

    Entdeckung und Erforschung der nördlichen Länder und Meere. Reich
    illustr. mit einfarbigen u. bunten Abbild. 2 Bde. Geb. 50 M.

Auch auf dem neuen Gebiet ein Entdecker! Haben ihn Eisberge und Nebel
seinerzeit gereizt, Gesundheit und Leben einzusetzen, so reizten ihn
diesmal die geistigen Nebel, die von Anbeginn der Menschheit bis zum
Zeitalter der Renaissance über Deutschland und Norwegen, über der
Geschichte aller Länder Nordeuropas lagen. Eine südnördliche Durchfahrt
durch alle Wirrnisse dreitausendjähriger Geschichtschreibung, von den
Zeiten Homers bis zur völligen Aufklärung im 16. Jahrhundert, ist ihm
gelungen! Nicht nur der historische Geograph, sondern jeder Gebildete,
der für die altgermanische Welt des Nordens Interesse hat, wird das
Buch gern und oft lesen, das Ganze ist durchweht von dem Geist jener
alten Wikingerrecken, die auf ihren schlanken Booten hinaussteuerten
ins dunkle, geheimnisvolle Nordmeer, um Neuland zu suchen...


Sibirien, ein Zukunftsland.

    Reich illustriert mit einfarbigen Abbildungen u. Karten. Geb. 25 M.

Ein neuer Seeweg nach Sibirien -- die wirtschaftliche Erschließung
dieses ungeheuer reichen Landes und die gelbe Gefahr sind die
Probleme, die in dem Werke mit besonderer Ausführlichkeit und
Sachkenntnis behandelt werden. Auch dieses Werk besitzt alle Vorzüge
der meisterhaften Schilderung, die den großen Forscher auszeichnet.
Unterstützt durch die trefflichen Photographien entrollt sich ein
lebendiges Bild des „Landes der Zukunft“.


Druck von F. A. Brockhaus, Leipzig.





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