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Title: Deutsche Romantik - Eine Skizze
Author: Walzel, Oskar Franz
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Deutsche Romantik - Eine Skizze" ***


  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1908 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
    Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und
    altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
    unverändert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert.

    Das vollständige Verzeichnis der Reihe „Aus Natur und
    Geisteswelt“, auf welches zu Beginn des Bandes hingewisen wird,
    vorliegenden Buches finden sich lediglich diejenigen Anzeigen, die
    ausschließlich in diesem Band abgedruckt wurden.

    Besondere Schriftschnitte wurden in der vorliegenden Fassung mit
    den folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet:

        fett:     =Gleichheitszeichen=
        gesperrt: +Pluszeichen+
        Antiqua:  ~Tilden~

    Das Caret-Symbol (^) steht für ein nachfolgendes hochgestelltes
    Zeichen.

  ####################################################################



[Illustration]

Ein vollständiges Verzeichnis der Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt“
befindet sich am Schluß dieses Bandes.



Die Sammlung

„Aus Natur und Geisteswelt“


die nunmehr auf ein mehr denn zehnjähriges Bestehen zurückblicken
darf und jetzt 240 Bände umfaßt, von denen 60 bereits in zweiter bis
vierter Auflage vorliegen, verdankt ihr Entstehen dem Wunsche, an
der Erfüllung einer bedeutsamen sozialen Aufgabe mitzuwirken. Sie
soll an ihrem Teil der unserer Kultur aus der Scheidung in Kasten
drohender Gefahr begegnen helfen, soll dem Gelehrten es ermöglichen,
sich an weitere Kreise zu wenden, dem materiell arbeitenden Menschen
Gelegenheit bieten, mit den geistigen Errungenschaften in Fühlung zu
bleiben. Der Gefahr, der Halbbildung zu dienen, begegnet sie, indem sie
nicht in der Vorführung einer Fülle von Lehrstoff und Lehrsätzen oder
etwa gar unerwiesenen Hypothesen ihre Aufgabe sucht, sondern darin, dem
Leser Verständnis dafür zu vermitteln, wie die moderne Wissenschaft es
erreicht hat, über wichtige Fragen von allgemeinstem Interesse Licht
zu verbreiten. So lehrt sie nicht nur die zurzeit auf jene Fragen
erzielten Antworten kennen, sondern zugleich durch Begreifen der zur
Lösung verwandten Methoden ein selbständiges Urteil gewinnen über den
Grad der Zuverlässigkeit jener Antworten.

Es ist gewiß durchaus unmöglich und unnötig, daß alle Welt sich
mit geschichtlichen, naturwissenschaftlichen und philosophischen
Studien befasse. Es kommt nur darauf an, daß jeder Mensch an einem
Punkte sich über den engen Kreis, in den ihn heute meist der Beruf
einschließt, erhebt, an einem Punkte die Freiheit und Selbständigkeit
des geistigen Lebens gewinnt. In diesem Sinne bieten die einzelnen, in
sich abgeschlossenen Schriften gerade dem „Laien“ auf dem betreffenden
Gebiete in voller Anschaulichkeit und lebendiger Frische eine
gedrängte, aber anregende Übersicht.

Freilich kann diese gute und allein berechtigte Art der Popularisierung
der Wissenschaft nur von den ersten Kräften geleistet werden; in den
Dienst der mit der Sammlung verfolgten Aufgaben haben sich denn aber
auch in dankenswertester Weise von Anfang an die besten Namen gestellt,
und die Sammlung hat sich dieser Teilnahme dauernd zu erfreuen gehabt.

So wollen die schmucken, gehaltvollen Bände die Freude am Buche
wecken, sie wollen daran gewöhnen, einen kleinen Betrag, den man für
Erfüllung körperlicher Bedürfnisse nicht anzusehen pflegt, auch für die
Befriedigung geistiger anzuwenden. Durch den billigen Preis ermöglichen
sie tatsächlich jedem, auch dem wenig Begüterten, sich eine kleine
Bibliothek zu schaffen, die das für ihn Wertvollste „Aus Natur und
Geisteswelt“ vereinigt.

    Leipzig, 1908.                                      B. G. Teubner.



                       Aus Natur und Geisteswelt

     Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen

                             232. Bändchen


                           Deutsche Romantik

                              Eine Skizze

                                  von

                         ~Dr.~ Oskar F. Walzel

          ord. Professor der deutschen Sprache und Literatur
           an der Königl. Technischen Hochschule zu Dresden

                            [Illustration]

          Druck und Verlag von B. G. Teubner in Leipzig 1908



   Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, vorbehalten.



                             Albert Köster

                              zugeeignet



Vorwort.


Der Aufforderung, für die Sammlung „Aus Natur- und Geisteswelt“ eine
knappe Darstellung der deutschen Romantik zu liefern, sucht der
folgende Versuch nach Kräften nachzukommen. In den vorgeschriebenen
engen Grenzen konnte der ganze Reichtum romantischen Denkens und
Dichtens nicht zur Erscheinung gelangen. Die Forschung ist auf
diesem Gebiete im Augenblicke so eifrig tätig, daß Gegensätze
wissenschaftlicher Betrachtung sich mannigfach ergeben haben.
Den Standpunkt, den der Verfasser einnimmt, zu begründen, mußte
manches ausführlicher auseinandergesetzt werden, als es für die
Ökonomie des Büchleins gut war. Dem Zuge der Zeit entspricht es,
daß das Bild der Romantik hier mehr nach der gedanklichen als nach
der künstlerisch-schöpferischen Seite ausgeführt, mehr von den
theoretischen Anschauungen der Frühromantik als von den dichterischen
Leistungen der jüngeren Romantiker gesagt worden ist, so dankbar
das umgekehrte Vorgehen gerade bei einer Auseinandersetzung wäre,
die sich an weitere Kreise wendet. Doch dürfte auf dem Felde der
Erforschung der Romantik das Problem des Augenblicks zunächst in
der Aufgabe liegen, die Verbindungslinien zu ziehen, die von den
ersten Anfängen bis in die letzten Ausläufer sich erstrecken.
Die vertiefte Betrachtung der Frühromantik, die in den jüngsten
Jahrzehnten uns geschenkt worden ist, hat der älteren romantischen
Generation eine ganz neue Würdigung angedeihen und sie beträchtlich
wertvoller erscheinen lassen, als bis vor kurzem angenommen worden
war. Zugleich schien die Kluft, die zwischen ihr und den jüngeren
Genossen besteht, ins Unübersehbare zu wachsen. Heute liegt die Gefahr
nahe, daß der Begriff Romantik überhaupt in nichts zerfalle und daß
künftig nur noch von zusammenhanglosen Vertretern des deutschen
Geisteslebens und der deutschen Kunst in dem Zeitalter von 1795 bis
1830 gesprochen werde. Daß in solcher Spaltung und Trennung ein
zweckloses Zerstörungswerk geleistet würde, ist die Überzeugung des
Verfassers. Wie er selber es ansieht, das sucht er hier wenigstens
andeutend zu zeigen. Der Versuch, die Hauptzüge frühromantischer
Lebens- und Kunstanschauung zu zeichnen, nimmt den größten Teil der
Ausführungen ein; aber er soll doch auch nur zu einer Grundlage für
die Erörterung des Problems dienen, wie aus dem reichen Ideenschatze
der Frühromantik die künstlerischen Formungen der jüngeren Romantik
erwachsen. Was romantische Dichtung aus eigener Kraft und ohne die
Mithilfe der Theorie geschaffen hat, kommt dabei hoffentlich nicht
zu kurz. Der Gedanke, auf dem die ganze Darstellung ruht, ist von
einem anderen Gesichtspunkte aus erwogen in dem Aufsatz „Goethe und
das Problem der faustischen Natur“ (Internationale Wochenschrift 1908
Nr. 35). Entwickelungslinien zu zeichnen, wurde durchaus versucht.
Welche Bedeutung dem einzelnen Menschen und dem einzelnen Kunstwerk
im Zusammenhang der ganzen Romantik und damit im Zusammenhange des
Ganges deutscher Kunst und Kultur zukomme, das festzustellen erschien
innerhalb der vorgezeichneten Aufgabe als das lockendste Ziel.

Die reiche neuere Literatur über das Gebiet ist dankbar verwertet
worden, auch wenn sie nicht überall ausdrücklich angeführt ist. Der
Kenner wird leicht herausfinden, wo Nachweise anderer benützt, wo
eigene neue Anschauungen des Verfassers vorgetragen sind.

Kein Literarhistoriker, der ernst genommen sein will, wird ohne
gute und starke Gründe die Wege verlassen, die Wilhelm +Diltheys+
„Leben Schleiermachers“ (Berlin 1870) und Rudolf +Hayms+ „Romantische
Schule“ (ebenda 1870) vorgezeichnet haben. Daß neuere Fingerzeige
zu einer Erfassung der Romantik, die zunächst über Haym hinausgeht,
nicht unbeachtet geblieben sind, ist selbstverständlich. Ricarda
+Huchs+ Bücher „Die Blütezeit der Romantik“ und „Ausbreitung und
Verfall der Romantik“ (Leipzig 1899-1902) haben der Forschung einen
starken und glücklichen Anstoß gegeben. Karl +Joëls+ Buch „Nietzsche
und die Romantik“ (Jena und Leipzig 1905) und Marie +Joachimis+
„Weltanschauung der Romantik“ (ebenda 1905) bieten, von ganz
verschiedenen Voraussetzungen ausgehend und mit völlig gegensätzlicher
Methode arbeitend, eine Fülle neuer Gesichtspunkte. Ein Torso ist
Erwin +Kirchers+ „Philosophie der Romantik“ (ebenda 1906) geblieben;
mindestens aber durfte der Nachlaß des Frühverblichenen nicht in einer
Form herausgegeben werden, die den Unvorbereiteten irreführt, der
unvollständiges Exzerpt und selbständige Betrachtung Kirchers nicht
zu scheiden weiß. Von neueren Einzeluntersuchungen boten besondere
Anregung die Arbeiten von E. +Spenlé+ „Novalis“ (Paris 1904), W.
+Olshausen+ „Friedrich von Hardenbergs (Novalis) Beziehungen zur
Naturwissenschaft seiner Zeit“ (Leipziger Dissertation 1905), H.
+Simon+ „Der magische Idealismus. Studien zur Philosophie des Novalis“
(Heidelberg 1906), ferner J. +Rouge+ „~Frédéric Schlegel et la genèse
du romantisme allemand~ (1791-1797)“ (Paris 1904) und „Erläuterungen
zu Friedrich Schlegels Lucinde“ (Halle 1905) und M. +Joachimi-Dege+
„Deutsche Shakespeareprobleme“ (Leipzig 1907). Endlich hat Karl
+Lamprecht+ im 10. Bande seiner „Deutschen Geschichte“ (Berlin 1907)
dem Verfasser manche gern verwertete Belehrung geschenkt.

Um das Nachprüfen zu erleichtern, sind die Zitate aus den Schriften
der Romantiker genau belegt. Benutzt wurden neben den ersten Texten
die alten Gesamtausgaben der Werke Wilhelm Schlegels (Böcking),
Friedrich Schlegels (erste Gesamtausgabe), Tiecks, Brentanos,
Fouqués, Fichtes, Schellings, die neueren wissenschaftlichen
Editionen von Novalis (Minor) und Kleist (Minde-Pouet, Erich Schmidt
und Reinhold Steig), dann Minors Ausgaben der Berliner Vorlesungen
Wilhelm Schlegels, der Jugendschriften Friedrich Schlegels und der
Schriften Tiecks und Wackenroders (Deutsche Nationalliteratur Bd.
145) und meine Auswahl aus den Schriften der Schlegel (ebenda Bd.
143). Nähere Nachweise über diese Literatur finden sich in Goedekes
„Grundriß“ (Bd. 6 der 2. Auflage) und in R. M. Meyers „Grundriß der
neuen deutschen Literaturgeschichte“ (2. Auflage). An beiden Stellen
sind auch die größeren Briefsammlungen aus romantischer Zeit leicht
zu erkunden: Jonas und Dilthey (Schleiermacher), Waitz (Caroline),
Plitt (Schelling), Raich (Novalis und Dorothea), Walzel (Friedrich und
Wilhelm Schlegel), Steig (Arnim).

Dankbar sei hier noch der wertvollen Beihilfe gedacht, die bei der
Korrektur Frau ~Dr.~ Marie +Joachimi-Dege+ dem Verfasser hat zuteil
werden lassen.

                                                    =Oskar F. Walzel.=



Inhaltsverzeichnis.


                                                                   Seite

    Vorbemerkungen      1

        1. Gegensatz zum Sturm und Drang. Jacobi und die
           Romantik                                                    3

        2. Herder und die Romantik. Der Organismusgedanke             10

        3. Romantische Grundbegriffe: Proteisches, Magie,
           Sehnsucht nach dem Absoluten                               17

    I. Die erste und zweite Stufe der romantischen Theorie            25

        1. Friedrich Schlegels klassizistische Anfänge                25

        2. Friedrich Schlegels Bekenntnis zum Romantischen.
           Romantische Poesie, romantische Ironie,
           Transzendentalpoesie                                       31

    II. Die dritte Stufe der romantischen Theorie                     37

        1. Schleiermachers Anstoß                                     37

        2. Schelling und die Romantiker                               40

             ~a~) Ästhetische Weltanschauung und
                  Organismusbegriff                                   40

             ~b~) Die Naturphilosophie Schellings                     48

             ~c~) Der Schlegelianismus der Naturwissenschaften        53

        3. Poesie der Poesie. Romantischer Monismus                   59

    III. Die Programme der romantischen Ethik und Religion            65

        1. Schleiermacher. Lucinde. Frauenbildung                     65

        2. Stiftung einer neuen Religion. Hardenbergs geistliche
           Dichtung                                                   72

        3. Wendung zum Katholizismus, zum Mittelalter und
           Orient. Friedrich Schlegels spätere Konstruktionen
           der Entwickelung der Menschheit                            77

    IV. Tiecks und Wackenroders Anteil                                87

        1. Deutsches Mittelalter. Spanien                             87

        2. Romantische Malerei in Theorie und Praxis                  97

        3. Die Musik im romantischen Lichte. Die Lyrik und
           ihre Theorie                                              103

    V. Der politische und soziale Umschwung der Romantik.
       Romantische Staatswissenschaft im Zeitalter der
       Befreiungskriege und der Reaktion                             112

    VI. Die Dichtung der Frühromantik und der jüngeren
        Romantik, ihr Zusammenhang und ihr Gegensatz                 121

        1. Volksliedartige Lyrik                                     121

        2. Romantische Ironie und Naturphilosophie in der
           romantischen Dichtung                                     127

             ~a~) Drama                                              127

             ~b~) Roman und Lyrik. Heine                             130

             ~c~) Märchen                                            137

        3. Die Nachtseite der Natur. H. v. Kleist                    139

        4. Das Lebensproblem in Drama und Roman                      146

    Namenregister                                                    163

    Sachregister                                                     166



Vorbemerkungen.


Wilhelm Scherer charakterisierte einmal (Vorträge und Aufsätze S.
341 f.) die ganze Kultur- und Literaturperiode von 1770 bis 1815
als ein großes und einheitliches Ganze. Er zog Verbindungslinien,
die von der Literaturrevolution des Sturmes und Dranges zu der
Literaturrevolution der Romantik hinüberführen: Interesse für
Volkslieder und Volksbücher bei Herder, Goethe, Maler Müller,
Jung-Stilling und bei Tieck, bei den Herausgebern des „Wunderhorns“,
bei Görres und bei den Grimm; Goethes Eintreten für Erwin v. Steinbach
neben Wackenroders, Friedrich Schlegels und Boisserées Bemühungen um
altdeutsche Kunst; Schauerromantik, mit volkstümlicher Mythologie
ausgestattet, bei Schiller, Tieck, Kleist, Arnim, Hoffmann; Herder,
Goethe, Schleiermacher, Schelling, Görres, Kanne, Hegel vertreten
den deutschen Pantheismus; die Lehre vom genialen Subjekt, das keine
Regeln braucht, wird ästhetisch und ethisch während der ganzen Zeit
geltend gemacht; Justus Möser ist Vorläufer romantischer Politik; W. v.
Humboldt vindiziert dem Individuum die weitgehendsten Rechte, ebenso
wie Lavater und Schleiermacher für die Heilighaltung der Individualität
eintreten, während Freiherr v. Stein in gleichem Sinne den Neubau
des Staates auf der Grundlage der Selbstverwaltung beginnt. Diese
unverkennbaren Zusammenhänge haben etwas Bestechendes; wirklich hat
lange Zeit die Romantik nur für einen Nachhall der Sturm- und Drangzeit
gegolten. Neuere Zeit pflegt demgegenüber die Gegensätze beider
Perioden in den Vordergrund zu schieben. Da indes nicht alle Romantik
gleichmäßig zu dem Sturm und Drang in Kontrast gebracht werden kann,
scheint die neueste Forschung es vorzuziehen, die Romantik selber in
scharfgesonderte Gruppen aufzuteilen und besonders eine Romantik, die
der Genieperiode der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts näher steht,
und eine dieser Periode innerlich entfremdete Frühromantik zu scheiden.
Die Frühromantik erscheint dann als Antipode des Sturmes und Dranges,
im Gegensatz zur Blütezeit der romantischen Dichtung, unter der man vor
allem die jüngere Romantik versteht. Freilich läßt sich die Grenze
nicht scharf ziehen; und fraglich bleibt, ob etwa Clemens Brentano der
Frühromantik noch anzugliedern ist oder nicht.

Wie fremd dem Schlegelschen Kreise die Stürmer und Dränger geworden
waren, bezeugt das Athenaeumfragment 306: „Die Geschichte von den
Gergesener Säuen ist wohl eine sinnbildliche Prophezeiung von der
Periode der Kraftgenies, die sich nun glücklich in das Meer der
Vergessenheit gestürzt haben.“ Allein ein Glied der Schlegelschen
Gruppe, Ludwig Tieck, hat später die Schriften einzelner Stürmer und
Dränger gesammelt. Brentano vollends empfand es wie eine reizvolle
Wiederentdeckung, als er 1806 Lenzens „Neuen Menoza“ in die Hand
bekam, und er stellte ihn sofort hoch über die Versuche romantischer
Genossen: „Das Ding ist mir besonders merkwürdig, weil es ein rechter
Gegensatz der neuen Genialität ist, die so unendliche Dekoration und
Farben und Klimata und Ironie und all den Teufel braucht -- und dort
wie einfach.... Das Ganze rumpelt und rauscht und ist doch so leer und
so voll. Nimm dagegen die modernen Dramen, etwa Pellegrin [Fouqué],
Bernhardi -- was eine Menge, was eine Pracht! aber wie leer und tot.“
(R. Steig, Achim v. Arnim und Clemens Brentano S. 161.) So schrieb
Brentano an Arnim, der 1802 über ein wichtiges Denkmal der Frühromantik
scharf abgesprochen und dem Freunde (ebenda S. 41) offen bekannt hat,
daß er Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“ nach seinem ganzen Wesen
recht mittelmäßig, ja elend finde, wenngleich manches einzelne schön:
„Das dummgelehrte Bauerngeschwätz allenthalben, das Märchen endlich
mit seiner Langweiligkeit, wenn man es nicht erraten kann, und mit
seiner Unbedeutendheit, wenn man es nicht weiß.“ Brentano stimmte ohne
Rückhalt zu: „Über Ofterdingen denke ich wie du, alle Figuren sind drin
mit Fischschwänzen, alles Fleisch ist Lachs drin, ich empfinde einen
seltsamen physischen Ekel es zu lesen“ (ebenda S. 51). Solche Urteile
rücken Arnim und Brentano dem Sturm und Drang gewiß näher als der
Frühromantik.

Die Notwendigkeit, der Romantik neben der Genieperiode größere
Selbständigkeit zu leihen, ergab sich in dem Augenblicke, da neben
eine philologische Literarhistorik eine philosophisch geschulte trat.
Solange die philosophischen Gedankengänge deutscher Literatur nur eine
Aschenbrödelrolle in literarhistorischer Betrachtung spielten (und ganz
überwunden ist diese Phase noch nicht), blieben die Winke, die Dilthey
und Haym gegeben hatten, so gut wie unbeachtet. Dann aber wurde mit
jedem Schritt klarer, daß die Romantik auf ganz anderer philosophischer
Basis steht als der Sturm und Drang und daß schon aus diesem Grunde von
starken Gemeinsamkeiten die Rede nicht sein kann.

Abermals scheint nur die Frühromantik durch ihre philosophischen
Neigungen sich vom Sturm und Drang zu sondern. Sie entsteht in enger
Beziehung zu Fichte. Schleiermacher und Schelling gehören in ihre
Kreise. Friedrich Schlegel und Novalis, dann ihre Anhänger und Genossen
von der Art Hülsens spielen eine Rolle in der Geschichte der deutschen
Philosophie. Die spätere Romantik dagegen zeigt gelegentlich einen
Charakter, der von Spekulation nichts an sich hat. Trotzdem ist das
Gemeinsame, das alle Romantik verknüpft, in verwandten metaphysischen
Ansprüchen zu suchen; und dieser gemeinsame Zug unterscheidet die ganze
Romantik vom Sturm und Drang. Nicht etwa darf angenommen werden, daß
die Genieperiode der siebziger Jahre philosophisch ganz passiv gewesen
wäre. Hamann und Herder und mit ihnen Goethe sind lediglich Gegner
der Metaphysik, wie es die Philosophie ihrer Zeit mit sich brachte.
Die gesamte Romantik dagegen ist bedingt durch die neue metaphysische
Welle, die in Kant einsetzt und bis zu Hegel sich erstreckt.

Dieses einigende Band muß heute um so mehr festgehalten werden, da
einzelne Forscher nicht abgeneigt sind, die Romantik lediglich auf die
Frühromantik einzuschränken und eine Gemeinsamkeit der Bestrebungen,
die bisher durch den Namen Romantik verbunden worden waren, gänzlich zu
leugnen -- ein Vorgehen, durch das mit Unrecht die Geistesgeschichte
jener Tage in ein Konglomerat von Einzelheiten aufgelöst wird.


1. Gegensatz zum Sturm und Drang. Jacobi und die Romantik.

Wenn anders nicht die Romantik in völlig unvereinbare Teile zerspalten
werden soll, bleibt Kennzeichen der ganzen Bewegung, daß sie den
Ansprüchen der Vernunft ein durchaus anderes Recht werden läßt als die
Genieperiode.

Schon an der Stelle, die die ersten zarten Keime einer kommenden neuen
kulturellen Entwickelung zeigt, in +Friedrich Schlegels+ Briefen an
seinen Bruder Wilhelm vom Jahre 1792 und 1793, löst sich die neue
Weltanschauung von der älteren ab. Wilhelm Schlegel, der Freund
und Schüler Gottfried August Bürgers, steht damals noch auf dem
Standpunkt der Geniezeit, Friedrich sucht dem Bruder gegenüber die
neue Lehre zu vertreten. Wilhelm spielt sich als Vernunftverächter
auf und Friedrich weist nach, daß Wilhelm selber Vernunftforderungen
erhebe. Zwei Dinge möchte Friedrich (am 28. August 1793, S. 111) gegen
Wilhelm in Schutz nehmen: das System und das Ideal. „Ich weiß, der
schändliche Mißbrauch sinn- und seelenloser Vernünftler hat diese
Namen für dich sehr besudelt; aber du siehst nur darauf und verkennst,
verachtest ungerechterweise die köstlichen lauten Urkunden unsres
göttlichen Adels!“ Und er definiert: „Was wir in Werken, Handlungen
und Kunstwerken Seele heißen (im Gedichte nenne ich’s gern Herz),
im Menschen Geist und sittliche Würde, in der Schöpfung Gott, --
lebendigster Zusammenhang -- das ist in Begriffen System. Es gibt nur
+ein+ wirkliches System -- die große Verborgene, die ewige Natur, oder
die Wahrheit.“ In diesem Sinne fühlt Friedrich sich als Systematiker
und, überzeugt, „eine heilige Anlage der Menschheit“ in sich zu
tragen, bemerkt er gegen den Bruder: „Wir Leute sind also auch nicht
unnütz, wenn wir auch nicht so gute Beobachter sein sollten, wie ihr
Propheten.“ Die „Quelle des Ideals“ hingegen erblickt Friedrich in dem
„heißen Durst nach Ewigkeit“, in der „Sehnsucht nach Gott“. „Einige,
die es verkennen, wähnen es streite mit der Natur, die doch nur in
Eintracht mit dem Geiste das wahrhaft Große erzeugt.“ Wirklich huldigte
auch Wilhelm idealistisch einem „Streben nach dem Unerreichbaren“,
einer „Liebe zu dem Namenlosen“ (ebenda S. 126); aber noch meint er,
„die Vernunft leihe dem Ideal ja nichts“. Friedrich erwiderte: „Sie
leiht ihm weiter nichts, als daß sie es erzeugt. Denn was ist Vernunft
als Vermögen der Ideale?... und was ist Ideal, als Vernunftbegriff? --
Vernunft ist ja nicht nur ein Teil des Vorstellungsvermögens, sondern
auch ein Grundtrieb, der nach dem Ewigen.“

Als bewußter Vernunftmensch spricht Friedrich zu seinem Bruder,
der Vernunft abweist und doch von ihr erfüllt ist. Das ist der
Gegensatz, der zwischen der Generation des Sturmes und Dranges und der
Frühromantik waltet. Die Kulturträger der siebziger Jahre, voran Hamann
und Herder, spotten über Vernunft, die Frühromantiker bekennen sich mit
dem Kritiker Kant zu ihr; aber im Sinne Kants sind auch Hamann und
Herder Vernunftmenschen.

In denselben Tagen, da Friedrich dem Bruder das Wesen der Vernunft
erklären will, sagt er auch (Oktober 1793, S. 123): „Kants Lehre
war die erste, so ich etwas verstand, und ist die einzige, aus der
ich noch viel zu lernen hoffe.“ Von Kant hat Friedrich ebenso wie
Schiller gelernt, daß das Streben nach dem Ewigen und Unendlichen ein
Vernunftgebot ist. Schiller umschrieb kurz darauf in der Abhandlung
„Über naive und sentimentalische Dichtung“ das Wesen des Vernunft-
und Ideenmenschen, indem er den Idealisten in Gegensatz zum Realisten
stellte und dadurch verdeutlichte. Friedrich lernte schon 1793
den bewußten und den unbewußten Vernunftmenschen scheiden, da er
selbst, von Kant über seine Vernunftforderungen belehrt und darum
sich ihrer bewußt, in seinem Bruder wohl dasselbe Streben nach dem
Ewigen, nicht aber das Bewußtsein entdeckte, durch dieses Streben dem
Vernunftmenschen beigesellt zu sein.

Daß indes die Generation der siebziger Jahre die Vernunft ablehnen
konnte, ist ebenso auf Kants Rechnung zu schreiben wie die Tatsache,
daß der junge Friedrich Schlegel offen und unzweideutig zu Vernunft,
„System“, „Ideal“ sich bekannte. Zu Anfang der sechziger Jahre war Kant
durch die englische Erfahrungsphilosophie an der Metaphysik Wolffs
irre geworden; und als Herder mit ihm in Berührung kam, stand Kant
auf dem Punkte äußerster Annäherung an den Skeptizismus. Durch Kants
Vermittelung ging damals etwas von Humes Zweifel an der Vernunft auf
Herder über und durch Herder wiederum auf das Geistesleben der Zeit.
Wäre Kant in jenen Tagen weniger skeptisch gewesen, hätte er nicht
eben mißtrauisch von aller Metaphysik sich abgewendet, er hätte nicht
neben Sokrates-Hamann der Lehrer Herders werden können. Nie war Kant
geneigter, gleich Hamann ein sokratisches „Und sehe, daß wir nichts
wissen können“ zu betonen. Freilich arbeitete Kant sich rasch aus
solcher empiristisch-skeptischer Gedankengärung zu neuer Metaphysik
durch. Herder aber blieb zeitlebens empiristischer Skeptiker,
allerdings mit den idealistischen Bedürfnissen, die den faustischen
Naturen der Sturm- und Drangzeit ebenso eignen, wie einem Wilhelm
Schlegel.

Daß die Frühromantik, daß Friedrich Schlegel vom Anfang an hier
klar gesehen hat, ist das Verdienst des Kritikers Kant. Kant hat
das metaphysische Bedürfnis des Vernunftmenschen dargetan und
Friedrich Schlegel war durch Kant belehrt worden, Vernunft nicht
zum Gegenpol alles Großen, Starken und Hohen der menschlichen Seele
zu machen. Wiederum von Kant geleitet ist Friedrich sorgsam bemüht,
den Vernunftmenschen mit seinem Drang nach dem Unendlichen von dem
„herz- und marklosen Vernünftler“ zu sondern, bei dem der „sehr
wesentliche edle Trieb nach deutlichen Begriffen, nach klarer Einsicht“
„unnatürlich stark“ ist (S. 142). Friedrich Schlegel bekämpfte solchen
Vernunftkultus schon deshalb, weil er in ihm eine Einseitigkeit
erblickte. Denn gleichfalls schon im Oktober 1793 formulierte er (S.
125) seine Forderung harmonischer Allseitigkeit: „Ein Mensch hat so
viel Wert als Dasein, d. h. als Leben, Kraft und Gott in ihm ist. Hat
er aber auch viel Kraft und Leben, sind diese aber im Streite mit dem
Gott in ihm, so wird er immer ein häßlicher Mensch, ein verächtlicher
Dichter und sein Urteil schief sein.“

Schon sind wesentliche Bestimmungen des romantischen Menschen gewonnen;
und diese Bestimmungen finden sich bereits 1793 bei Friedrich Schlegel:
Der Romantiker ist Vernunftmensch im Sinne Kants und er ist sich dieser
Eigenheit bewußt; er kennt nicht das an Hume gemahnende Mißtrauen
des Stürmers und Drängers gegen die „Seifenblasen der Vernunft“. Er
will aber auch nicht einseitiger Vernünftler sein, weil er dadurch
der Totalität verlustig ginge. Die eigentümliche Verknüpfung von
klarem Bewußtsein über sein eigenes Ich und von starkem Bedürfnis, das
Unbewußte im Menschen nicht durch Vernünfteln zu zerstören, ist von
Ricarda Huch zum wesentlichen Merkmal der Frühromantik erhoben worden.
Hier wurde nur versucht, diese Eigenheit historisch abzuleiten: daß der
Sturm und Drang auf anderem Boden stehen mußte als die Frühromantik,
ergibt sich aus der gegensätzlichen Auffassung und Bewertung des
Begriffes „Vernunft“.

Schopenhauer definiert den Begriff des metaphysischen Bedürfnisses: der
menschliche Geist möchte das Ganze der Erfahrung in seinem innersten
Zusammenhange überschauen, die Erscheinungen in ihrer Gemeinsamkeit
überblicken und sich der Einheit bewußt werden, die darin zur
wechselnden Erscheinung kommt. Dieses Bedürfnis ist dem Stürmer und
Dränger genau so sehr eigen wie dem Romantiker. Aber nur der Romantiker
weiß, daß es aus den Wünschen der Vernunft keimt, während der Stürmer
und Dränger von Vernunft nichts wissen will und hamannisch über
Vernunft spottet. Und doch ist es nur metaphysisches Vernunftbedürfnis,
wenn Faust erkennen möchte, was die Welt im Innersten zusammenhält, und
alle Wirkenskraft und Samen schauen will.

Ricarda Huch hat die kühne Hoffnung der Romantiker, das Geheimste
zu erhellen, meisterlich dargetan. Sie waren mit voller Absicht
Geister+seher+, nicht bloß Geister+ahner+. Sie begnügten sich nicht
mit dem Gefühle, sondern unterwarfen es der Analyse. Dem Instinkt
gingen sie denkend nach. In Gegensatz zu ihnen wagen die Stürmer und
Dränger nicht, dem Gefühl einen Namen zu geben, überzeugt, daß Name
Schall und Rauch ist, umnebelnd Himmelsglut. Den Vertretern der älteren
Generation waren mit ehernem Griffel die Worte ins Herz geschrieben,
die in Rousseaus „Emile“ den Mittelpunkt der ~profession de foi du
vicaire savoyard~ darstellen: „~J’aperçois Dieu partout dans ses
œuvres; je le sens en moi, je le vois tout autour de moi; mais sitôt
que je veux le contempler en lui-même, sitôt que je veux chercher où il
est, ce qu’il est, quelle est sa substance, il m’échappe et mon esprit
troublé n’aperçoit plus rien.~“ Mit Rousseaus ~vicaire~ fürchteten die
Stürmer und Dränger ihr Gefühl zu zerstören, wenn sie es begrifflich zu
erfassen suchten. Der Romantiker kennt gleiche Furcht nicht, freilich
untergräbt die stete Analyse und Selbstanalyse sein Temperament. Der
Stürmer und Dränger ist und bleibt ein junger, von +einem+ starken
Gefühle getragener, kraftvoller, gewaltiger „Kerl“, der sich wohl
ahnungsvoll diesem Gefühle hingeben kann, seine eigenen Träume indes
nicht deuten will. Enthusiastische Begeisterung hebt ihn über alle
Gefühlskonstruktion hinaus; oder er bohrt sich auch wertherisch in
seinen Schmerz hinein und verliert sich ganz an ihn. Der Romantiker
dagegen will immer deuten; er hat immer ein Geheimnis zu enthüllen.
Seine Gefühle werden durch solche Enthüllung gedämpft und abgeschwächt,
aber er selber wird seelisch verfeinert.

Die starke Neigung zur Analyse des Gefühls hat die Romantik auf zwei
Gebieten besonders fruchtbar und ergebnisreich gemacht: auf dem Felde
der Kunstbetrachtung und auf dem Felde der Erfassung des Religiösen.
Da wie dort galt es, in die Tiefe des Unbewußten Licht zu tragen.
Das Verlangen nach denkenden Künstlern ist vielleicht nie vorher so
stark und doch wieder mit voller Anerkennung der Macht unbewußten
Schaffens zum Worte gelangt; und das Wesen der Religion hat keiner
vor ihm so scharf erfaßt wie +Schleiermacher+. Er konnte es, weil
er echt romantisch das Gefühl begrifflich zu deuten und zugleich in
seiner Besonderheit und in seinem Gegensatze zur Verstandesoperation zu
erfassen fähig war. Denn wenn auch romantische Analyse vor dem Gefühl
nicht scheu und ängstlich halt macht, so schlägt sie doch nicht ins
Rationalistische um und zieht nicht an die Tageshelle, was im Dunkel
der Brust bewahrt bleiben soll. Sehr fein bemerkt Ricarda Huch: „Wenn
das Wissen und Bewußtwerden allein den Romantiker machte, wie wäre
es möglich, daß sie mit gutem Gewissen den großen Krieg gegen die
Aufklärung hätten führen können, daß jeder beim Worte Romantik an den
geheimnisvollen lauschigen Wald des Märchens und der Sage denkt, in
den sie die Menschen wieder eingeführt haben; daß in ihrem Gefolge der
Zauber, die Magie, das Rätsel, die Sehnsucht -- alle die verschleierten
Gestalten des Unbewußten erscheinen? Das ist eben, was man niemals
vergessen darf, daß das Bewußtsein des Romantikers mit dem Gehalte des
Unbewußten erfüllt ist“ (Blütezeit der Romantik S. 99 f.). Vereinigung
von Fühlen und Wissen war das Ziel der Romantiker. Gewähr für die
Möglichkeit dieser Vereinigung leistete ihnen die Einsicht, daß auch
der vernunftfeindliche Stürmer und Dränger in dem Augenblick, da er
über die Grenzen der Sinnenwelt hinausgeht und das Übersinnliche durch
sein Gefühl erfassen möchte, ahnungslos einem Gebot der Vernunft folge.

Hier aber wurzelt auch die Möglichkeit, daß die Romantik einen
Weg zu +Friedrich Heinrich Jacobi+ fand. Der Gegner Kants, der
Gefühlsphilosoph, dessen Roman „Woldemar“ von Friedrich Schlegel 1796
freilich mit verletzender Schärfe abgelehnt worden ist, spielt doch
1793, in den zitierten Briefen, eine wichtige Rolle: sein älterer Roman
„Eduard Allwills Briefsammlung“ (1792) wird ausdrücklich gegen Wilhelms
entgegengesetztes Urteil ein Werk genannt, „dessen Seele das Ideal
und dessen einziger Inhalt die Vernunft ist“ (S. 126). Und wie sein
Werk zu den Dokumenten der Vernunft, so wird auch Jacobi selbst zu den
Vernunftmenschen gezählt, freilich wieder mit der kantischen Scheidung
von Vernunft und Verstand: „Jacobis Vernunft ist eins mit der feinsten
Sinnlichkeit, aber vielleicht nicht ganz mit dem Verstande“ (S. 142).
Die Romantik hat immer wieder an Jacobi anknüpfen können, ohne je ihm
ganz zuzustimmen. Fichte, Schelling, Schleiermacher bauen auf Jacobis
Grunde weiter, sie alle aber haben auch mit ihm ihre Waffen gekreuzt.

Keiner von den Romantikern steht Jacobi so nahe wie Schleiermacher.
Schon 1802 hat Hegel in Schleiermacher eine höhere Potenz Jacobis
festgestellt (Kritisches Journal 2, 1, 134 ff.). Ihr Berührungspunkt
liegt in einem Felde, das von der Romantik dem Gefühl allein
vorbehalten worden ist, in der Religion. „Beide fanden sich“, sagt
Dilthey (Leben Schleiermachers S. 332), „mit der Fülle ihres inneren
Lebens, ihrer ‚Mystik‘ im Gegensatz gegen alle Wissenschaft, die sie
umgab, und die Tiefe und Freiheit ihres Gemütslebens, die Schärfe
ihres Gedankens gestattete ihnen keinen nachgiebigen Vergleich. Beide
blieben sich des Zusammenhangs ihrer Mystik und ihrer Individualität
bewußt. Beide sahen in dieser Mystik gegenüber dem Idealismus nach
seinen verschiedenen Zweigen einen höheren Realismus gegründet.“ Aber
Jacobi war doch auch wiederum, ganz in Rousseaus Sinne, viel zu sehr
Gegner alles reflektierenden Denkens, als daß er mit der Romantik
hätte zusammen gehen können. Wie Rousseaus ~vicaire savoyard~ sagt er:
Licht ist in meinem Herzen, aber wenn ich es in meinen Kopf bringen
will, erlischt es. Jacobi bricht alle Brücken zwischen Glauben und
Wissen ab und setzt beide in einen vollkommenen und prinzipiellen
Widerspruch. Wohl möchte auch er den unendlichen und unbedingten
Weltinhalt erfassen; sein metaphysisches Bedürfnis ist aufs stärkste
entwickelt. Aber das Denken steht ihm bei diesem Bemühen nur im Wege
und lediglich der Glaube eröffnet ihm die gesuchte Bahn, ein Glaube,
der ausschließlich im individuellen Gefühle wurzelt. Er ist von dem
unauflösbaren Widerspruch zwischen dem philosophischen Gedanken und
der wahren Mystik überzeugt. Sehr richtig wendet daher Schleiermacher
(an Brinckmann 19. Juli 1800, Bd. 4, 73 f.) gegen Jacobi ein: „Der
scheinbare Streit der neueren Popularphilosophie gegen den Mystizismus
hat ihm die falsche Meinung beigebracht, als ob es in der Tat einen
Streit zwischen der Philosophie und der Mystik geben könne, da doch
im Gegenteil jede Philosophie denjenigen, der so weit sehen kann
und so weit gehen will, auf eine Mystik führt... Wollte Jacobi nur
dekretieren, daß Philosophie und Mystik gänzlich auseinander liegen,
und daß der ganze Schein ihres Zusammenhanges nur daher kommt, weil
sie sich in der Tangente berühren, so würde er aufhören gegen die
Philosophie unnütz zu polemisieren.“

So klar überblickt Schleiermacher das Verhältnis seiner religiösen
Grundansicht zum spekulativen System und ihre Unabhängigkeit vom
Beweis! Und das ist das Romantische in ihm, daß er wußte, was dem
Gefühl und was dem Denken angehöre, daß er beide Gebiete wohl zu
scheiden verstand und nicht das eine gegen das andere ausspielte. Auf
gleichem Boden steht schon 1793 Fr. Schlegel.

Gerade an Naturen von Jacobis Art mußte den kantisch geschulten
Romantikern früh klar werden, daß das metaphysische Bedürfnis des
Vernunftmenschen auch in Köpfen walte, die ihr starkes Gefühl
gegen alle Vernunftkonstruktion ausspielen. In Kants Schule war
Schleiermacher ebenso gegangen wie Fr. Schlegel; und beide sind nicht
lange in ihr geblieben. Derselbe Brief an Wilhelm Schlegel (Oktober
1793, S. 123), in dem Friedrich sich zu Kants Lehre bekennt, bringt
die wichtige Einschränkung: „Ich bin mit dem nicht eins, was ihr doch
zum Grunde liegt, die intelligible Freiheit, der regulative Gebrauch
der Ideen überhaupt, die reine Gesetzmäßigkeit als Triebfeder des
Willens.“ Es sind bis ins kleinste dieselben Gesichtspunkte, von
denen aus -- natürlich völlig unabhängig von Fr. Schlegel -- der
junge Schleiermacher seine Einwendungen gegen Kant erhebt. Auch
Schleiermacher setzt ein bei Kants „Kritik der praktischen Vernunft“,
er zerfasert kritisch die regulative Gottesidee und die Freiheitslehre
Kants (vgl. Dilthey, Leben Schleiermachers S. 131 f., Denkmale der
inneren Entwicklung Schleiermachers S. 6 ff., 19 ff.). Die Romantik
ist ohne Kant nicht zu denken, aber der Gegensatz zu Kant gibt ihr ein
eigenes Lebensrecht, ein Gegensatz, der vor allem auf ethischem Felde
waltete.


2. Herder und die Romantik. Der Organismusgedanke.

Wie Schiller wurden auch die Romantiker von Kants Ethik durch ihre
Überzeugung abgelenkt, daß nur harmonische Verbindung der Gegensätze
Vernunft und Sinnlichkeit, nicht einseitiges Vernunftmenschentum den
Menschen zu höchster sittlicher Stufe erheben könne. Und wie bei
Schiller (vgl. Säkularausgabe von Schillers Werken 11, S. IX ff.)
so steht auch bei den Romantikern der englische Denker Shaftesbury
hinter solcher Überzeugung. Abermals nähert sich die romantische Welt
an dieser Stelle der Generation der siebziger Jahre; denn machtvoll
hatte Hamann die Notwendigkeit der Totalität betont und verlangt, daß
alles, was der Mensch zu leisten unternehme, durch Tat oder Wort,
aus sämtlichen vereinigten Kräften entspringe; alles Vereinzelte sei
verwerflich. +Herder+ wie der ganze Sturm und Drang aber entnahm
diesem Gebot zunächst das Streben, vom trockenen Sinnen weg ins Leben
hineinzugehen, nicht bei Papier und Tinte zu weilen, sondern zur
schaffenden Tat sich zu erheben. Wiederum bedurfte es der sondernden
und orientierenden Kritik Kants, um hier Klarheit zu schaffen und die
Waffen zu bereiten, mit denen Schiller ebenso wie die Romantiker,
ethisch über Kant hinauszugehen bemüht, Kant selber bekämpften. Denn
wiederum drohte die Gefahr, daß deutsche Kultur durch Hamanns und
Herders Vernunftfeindlichkeit zur Ablehnung aller Spekulation gelange.
Romantische Totalität aber verlangt nicht bloß Gefühlsmenschen und
Tatnaturen, auch Denker und Betrachter. Ebenso erblickt Schiller
in dem Stürmer und Dränger einen Sinnen- und Triebmenschen, der zu
voller Harmonie menschlicher Anlagen und menschlicher Betätigung nicht
aufsteigen kann. Der Begriff der ästhetischen Erziehung, an sich von
Shaftesbury und über ihn weg von Plato abzuleiten, wird darum von
Schiller doch in steter Rücksicht auf die ethischen Vernunftforderungen
Kants formuliert. Und wenn die Romantik ihr Bildungsideal aufstellt,
so ist auch sie bemüht, diesen echt romantischen Begriff der „Bildung“
nicht nur den wechselnden und spielenden Gefühlsstimmungen zu
überlassen, sondern ein starkes geistiges Fundament ihm zu leihen. Da
wie dort spürt man, daß von Kants hohen ideellen Ansprüchen an den
Menschen ausgegangen wird, und daß dann erst von diesem Ausgangspunkte
ein Weg zu der „Natur“, zum „Gefühl“ der Stürmer und Dränger sich
eröffnet. Da wie dort wird indessen zuletzt der für alle Menschen
gültigen Moral Kants eine Ethik des Ausnahmemenschen, der Adelsnaturen
und genialen Persönlichkeiten gegenübergestellt. Solche Menschen
feierte man auch um 1770.

Einleuchtender ist darum die Übereinstimmung, in der Sturm und Drang
ebenso wie Romantik im Sinne Shaftesburys das Privilegium der großen
Persönlichkeit forderten. Windelband versäumt nicht (Geschichte der
neueren Philosophie 2^3, 299), bei der Würdigung von Schleiermachers
Ethik auf Shaftesbury hinzuweisen und Schleiermacher zuzubilligen, daß
er wohl auf viel reiferem Standpunkte als der Engländer, aber doch
als sein Nachfolger, durch die Betonung der Idee der Persönlichkeit
das Geheimnis seiner Zeit ausgesprochen habe, in der die großen und
originellen Individuen sich gewissermaßen drängen. Wohl führte das
Verlangen, daß jede Individualität sich voll ausleben solle, um 1770
wie um 1800 zu Willkür und Zügellosigkeit. Aber nicht gelegentliche
schlimme Folgerungen sollen die Ehrfurcht vor der Größe der Idee
beeinträchtigen, die dem Kultus der Persönlichkeit beiderseits zugrunde
liegt. Es ist die hohe Achtung vor dem Werte des Individuellen, des
Eigentümlichen, das dem Menschen auf seinen Lebensweg mitgegeben
ist. Aus diesem Gefühl heraus würdigt Hamann das Idiotistische
einzelner Menschen wie ganzer Völker; an gleicher Stelle erwächst
Herders Verständnis für alles Eigentümliche in Kunst und Leben. Und
die Bedeutung des Individuellen wird von den Romantikern, vor allem
von Schleiermacher, aufs nachdrücklichste zur Sprache gebracht. Auf
ethischem Gebiete bestehen sie in Widerspruch zu Kant auf dem Recht der
Persönlichkeit. Als Kunstbetrachter wetteifern sie mit Herder in der
Fähigkeit, sich in eigenwilligste Individualitäten einzufühlen. Der
weiche, anschmiegsame Wackenroder geht voran, der nur allzubewegliche
Tieck folgt ihm getreu nach und Wilhelm Schlegel steigert sich zu
allseitiger Aufnahmefähigkeit. Dabei sind sie im Geiste Herders
bestrebt, die Erscheinungen der Kunst aus ihren historischen
Voraussetzungen zu begreifen. Dem Recht der Persönlichkeit schaffen
sie als Historiker auch dann Raum, wenn sie zeigen, wo und warum die
Persönlichkeit nicht frei, sondern durch entwickelungsgeschichtliche
Momente gebunden war. Denn das ist romantische Geschichtsauffassung,
das geschichtlich Bedingte zwar in seinem Zusammenhange mit dem
Ganzen zu erblicken, es indessen nicht seines individuellen Wertes zu
berauben (vgl. A. Poetzsch, Studien zur frühromantischen Politik und
Geschichtsauffassung, 1907, S. 81).

Nicht nur im Verständnis für Individualität berühren sich Herder und
Schleiermacher. Zwei Jahre vor der Abfassung von Schleiermachers „Reden
über die Religion“ trug Herder in seiner letzten Sammlung „Christlicher
Schriften“ unter dem Titel „Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen“
Anschauungen vor, die unmittelbar an Schleiermacher heranreichen.
Wohl hat Schleiermacher durch tiefere Erfassung des religiösen Lebens
noch schärfer zwischen Religion und Lehrmeinung geschieden und das
religiöse Gefühl nicht bloß zur Metaphysik, auch zur Ethik in Gegensatz
gebracht. Aber Herder stellte, zu Lessing zurückkehrend, fest, etwas
anderes sei Religion, etwas anderes seien Lehrmeinungen, und Religion
sei der Kern des Christentums; damit war einerseits der Grundgedanke
Schleiermachers gegeben, anderseits die Anschauung des Mannes zu neuem
Leben aufgerufen, von dem Friedrich Schlegel (an Novalis 2. Dezember
1798, S. 86) sagte, keiner habe von der wahren, neuen Religion mehr
geahnt als er: „Nicht bloß Kant ist hier weit zurück, sondern auch
Fichte und Jacobi und Lavater. Einige Millionen der letzten Sorte in
den Schmelztiegel geschüttet, geben noch nicht so viel solide Materie
und reinen Äther der Religion, wie Lessing hatte.“

Herders Bedeutung für die Romantik liegt natürlich nicht nur in den
beiden erwähnten Momenten. Auf den ersten Blick scheint es sogar,
als ob die Romantik ohne Herder gar nicht möglich, als ob sie die
Erfüllung seiner Hoffnungen oder wenigstens das Ergebnis der von ihm
ausgestreuten Saat sei. Dem steht unvereinbar die geringe Anerkennung
entgegen, die er bei den Romantikern findet, und das Bewußtsein
eines unüberbrückbaren Gegensatzes, der zwischen beiden Parteien
waltet. Ob hier wirklich nur der schuldige Dank über dem Gegensatz
der Generationen vergessen worden ist? Eher träfe ein anderes zu;
viele Errungenschaften Herders waren schon so selbstverständlich
geworden, daß man bei ihrer Nutzung Herders nicht weiter gedachte.
Vielleicht hatte Friedrich Schlegel in dem Augenblicke, da er ein
Winckelmann der griechischen Dichtung zu werden sich anschickte,
selber vergessen, daß Herder in seinen Fragmenten zur Literatur ein
Menschenalter früher seinen Zeitgenossen dieselbe Aufgabe gestellt
hatte. Urteilt doch Friedrich Schlegel in einem flinken Überblick
über die Erforscher der Antike am 13. November 1793 (an Wilhelm, S.
141), Herder vereinige Kenntnis und Sinn, habe aber doch dafür nicht
viel gegeben. Noch weniger war im Gedächtnis der jüngeren Generation
haften geblieben, daß Herder vor allem die Straße zu Shakespeare, zur
altheimischen Poesie, zum Mittelalter und zum Volkslied eröffnet, ja
daß er noch die romantische Orientalistik vorbereitet hatte. Seine
„empfindsame Ästhetik“ (vgl. Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesungen 1,
47, 16 ff.) war ihnen verhaßt. Und wenn Friedrich Schlegel in einem
ersten historischen Versuche den „Ideen zur Philosophie der Geschichte
der Menschheit“ nachrühmt, daß sie „vieldurchdachte Erfahrung gegen
einseitige Vernunft aufs schönste in Schutz nehmen“, so lautet 1803
Wilhelms abschließendes Urteil, sie seien ein Buch, in dem weder Ideen,
noch Philosophie, noch Geschichte, noch Menschheit anzutreffen sei;
nicht einen neuen Anfang, sondern den Gipfel der falschen modernen
Geschichtsschreibung erkennt er in ihnen (Haym, Romantische Schule S.
848). Derselbe Wilhelm Schlegel hatte einst in Herders „Plastik“ eines
seiner Lieblingsbücher erblickt!

Am stärksten war merkwürdigerweise +Schelling+ des Dankes sich
bewußt, den er Herder schuldete. Mit voller Absicht hat er wohl
den Titel seiner ersten naturphilosophischen Schrift nach Herders
Hauptwerk geformt. Denn er erkannte das von ihm verwertete Herdersche
Gut auch dann, wenn es ihm aus zweiter Hand geboten wurde. Dem
Spinozabüchlein Herders und den „Ideen“ entstammt die Grundidee der
Naturphilosophie Schellings: die Durchgeistigung der Natur und die
Annahme der Naturbedingtheit des Geistes. Zwar wurde durch die Rede,
die der Professor an der Karlsschule zu Stuttgart Karl Fr. Kielmeyer
1793 „Über die Verhältnisse der organischen Kräfte untereinander in
der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Gesetze und Folgen
dieser Verhältnisse“ gehalten hat, Schelling nahegelegt, Natur und
Menschheit als +einen+ großen und einheitlichen Organismus zu fassen;
er selbst aber führte die Gedankengänge Kielmeyers auf Herder zurück.
Wirklich spinnen sich schon von Herders Aufsatz „Vom Erkennen und
Empfinden der menschlichen Seele“ (1778) und von seinem „Gott“ (1787)
Fäden hinüber zu Schelling und zu Novalis. Die Brücke vom Spinozismus
zur Naturphilosophie hat Herder schlagen helfen und er ward dadurch
ein Vorgänger des realistischen Umschwungs der Philosophie, der mit
Schelling beginnt. ~Post festum~ suchte Herder 1802 im 6. Stück der
„Adrastea“ auf seine Weise die Folgerungen aus den Prämissen zu
ziehen, die er selber Schelling gegeben hatte; aber dabei gestand er
anderen und sich nicht ein, daß Schelling, ihm vorauseilend, längst
dasselbe Geschäft besorgt hatte. Denn für Herder war in Schellings
Naturphilosophie durch die Schul- und Formelsprache, mit der sie
durchsetzt war, sein eigener Besitz und Anteil fremd und unkenntlich
geworden. So gingen auch diesmal wieder Menschen, die zu tiefstem
und innigstem gegenseitigen Verständnis bestimmt waren, kalt und
teilnahmslos ihre gesonderten Wege. Doch nach den erwähnten starken
Zusammenhängen der Naturphilosophie und des Herderschen Denkens
begreift man, daß ein Naturphilosoph von +J. W. Ritters+ Art nach
dem Tode seines Freundes Hardenberg in Herders Arme flüchtete und in
dessen Umgang volle Befriedigung fand. In den „Fragmenten aus dem
Nachlasse eines jungen Physikers“ (1810 1, XXXI ff.) hat Ritter, der
einzige Romantiker, der Herder im Innersten nahegetreten ist, diesem
Freundschaftsbunde ein Denkmal errichtet. Und obgleich Ritter selbst
ausdrücklich hervorhebt, daß er vor seinem ersten Besuche keine Zeile
Herderschen Schrifttums gelesen hatte und nachher von Herder nur auf
die „Älteste Urkunde des Menschengeschlechts“ hingewiesen worden sei,
so ergibt doch jedes Wort des dichterisch ausgeschmückten Berichtes,
daß beide nicht nur menschlich sich nahegekommen sind, sondern auch
ihre „Ideen zur kosmischen Geschichte des Menschen und der Erde“
miteinander ausgetauscht haben.

Aus der romantischen Naturphilosophie ist endlich noch die Erfüllung
eines Wunsches des jungen Herder erwachsen. In der dritten Sammlung
der „Fragmente über die neuere deutsche Literatur“ hatte er einst
die Möglichkeit einer +neuen Mythologie+ erwogen. Angeregt hatte ihn
ein unwillig polterndes Wort Hamanns: „Mythologie hin, Mythologie
her! Poesie ist eine Nachahmung der schönen Natur -- und Nieuwentyts,
Newtons und Buffons Offenbarungen werden doch wohl eine abgeschmackte
Fabellehre vertreten können? -- -- Freilich sollten sie es tun, und
würden es auch tun, wenn sie nur könnten. -- Warum geschieht es denn
nicht? -- Weil es unmöglich ist, sagen eure Poeten“ (Schriften,
herausgegeben von F. Roth, 2, 280). Klarer und genauer hatte Herder
verlangt, aus dem „Ozean von Erfindungen und Besonderheiten“, der
uns umfließt, aus der „neuen Welt der Entdeckungen“, die uns umgibt,
eine neue Mythologie zu schöpfen. Auch später tauchte der Gedanke bei
Herder wieder auf. Friedrich Schlegel und Schelling haben dann in der
Naturphilosophie, die ja gleichfalls mit den neuesten Entdeckungen
der Naturwissenschaft arbeitete, den Quell einer neuen künstlerischen
Symbolwelt gefunden, und Novalis hat in dem Märchen des „Ofterdingen“
mit dieser neuen Mythologie als erster dichterisch zu wirken sich
bemüht.

Daß die Frühromantiker der Herderschen Anregungen nicht mit
vollerem Danke gedachten, hatte noch einen besonderen Grund. Der
+Organismusgedanke+ enthüllt sich mehr und mehr als der Schlüssel
der romantischen Weltanschauung. Eben den Organismusgedanken
hat Herder bilden geholfen, aber nur Schelling scheint das ganz
erkannt zu haben. Die anderen Frühromantiker schrieben dieses
Verdienst vor allem auf +Goethes+ Rechnung. Wirklich gingen sie
dabei nicht fehl; nähere Betrachtung des allmählichen Werdens der
Idee, vor allem ihrer Evolution im Laufe des 18. Jahrhunderts,
lehrt, daß Goethe hier mindestens gleich starken Anteil wie Herder
hatte (vgl. Jubiläumsausgabe von Goethes Werken 36, S. XXXV ff.).
Die Frühromantiker, die im Gegensatz zu Schelling nicht von der
naturhistorischen, sondern von der ästhetischen Seite zunächst an den
Organismusbegriff herantraten, fanden ihn für ihre Zwecke deutlicher
entwickelt in Kundgebungen Goethes aus der Zeit nach der italienischen
Reise; am nächsten lag ihnen die von Goethe inspirierte Schrift „Über
die bildende Nachahmung des Schönen“ (1788) von +Karl Philipp Moritz+.
So stattete Wilhelm Schlegel denn in den Berliner Vorlesungen (1,
102 f.) in fast überschwenglicher Weise allen Dank an Moritz ab; ja
er verschwieg hier nicht nur Herders Verdienst um das Problem, auch
Goethe ward nicht genannt. „Die gesamte Natur ist... organisiert“,
heißt es hier, „aber das sehen wir nicht; sie ist eine Intelligenz wie
wir, das ahnden wir nur und gelangen erst durch Spekulation zur klaren
Einsicht. Wird nun Natur in dieser würdigsten Bedeutung genommen, nicht
als eine Masse von Produkten, sondern als das Produzierende selbst und
der Ausdruck Nachahmung ebenfalls in dem edleren Sinne, wo es nicht
heißt, die Äußerlichkeiten eines Menschen nachäffen, sondern sich die
Maximen seines Handelns zu eigen machen, so ist nichts mehr gegen den
Grundsatz einzuwenden, noch zu ihm hinzuzufügen: die Kunst soll die
Natur nachahmen. Das heißt nämlich, sie soll wie die Natur selbständig
schaffend, organisiert und organisierend, lebendige Werke bilden, die
nicht erst durch einen fremden Mechanismus, wie etwa eine Penduluhr,
sondern durch inwohnende Kraft, wie das Sonnensystem, beweglich sind.“
Knapp und populär ist hier der romantische Organismusgedanke in seiner
ästhetischen Anwendung, zugleich aber auch in seiner Schellingschen
Begründung zum Ausdruck gebracht. Und ohne Einschränkung wird Moritz
zugebilligt, daß er allein in diesem höchsten Sinne den Grundsatz der
Nachahmung für die Künste aufgestellt habe. Dennoch war Moritz nur
einer unter vielen, die an dem werdenden Gedanken des organischen
Kunstwerks gearbeitet hatten. Wilhelm Schlegel nennt indes ihn allein;
und dabei gebraucht er den Vergleich des Künstlers mit Prometheus, der
auch die Natur nachahmte, „als er den Menschen aus irdischem Ton formte
und ihn mit einem von der Sonne entwandten Funken belebte“ -- einen
Vergleich, der seit Shaftesbury mit dem ästhetischen Organismusproblem
gern verknüpft wird (vgl. Jubiläumsausgabe 36, S. XXXIV ff.) und Goethe
besonders geläufig war.

Doch auch Schelling fand bald in Goethes naturwissenschaftlichen
Arbeiten reichere Anregung als bei Herder. Kielmeyer, den er auf
Herder zurückzuführen sich berechtigt fühlte, steht ja selber Goethes
Anschauungen weit näher als denen Herders (vgl. E. A. Boucke, Goethes
Weltanschauung auf historischer Grundlage, 1907, S. 237 ff.). Und so
wurde von ästhetischer wie von naturwissenschaftlicher Seite Goethe
zuletzt überall da zum alleinigen Anreger der Romantiker gestempelt, wo
Herder mitschaffend nach gleichen Zielen gerungen hatte.


3. Romantische Grundbegriffe: Proteisches, Magie, Sehnsucht nach dem
Absoluten.

Zwei frühromantische Lieblingsideen weisen auf Shaftesbury und über
ihn auf Plato zurück: der Gedanke des harmonischen Menschen und der
Gedanke des Organismus, angewandt auf Natur und Kunst. Beide Ideen
sind dem Klassizismus und der Romantik gemein. Beide scheinen Gewähr
zu leisten, daß die Romantik ihr Dasein auf ebenso festem und sicherem
Grunde aufbaue wie der Klassizismus. Einheitliche, ausgeglichene
Persönlichkeiten, Menschen, deren Innenleben die innere Sicherheit
eines Naturprozesses an sich hat: dies ist als das Endziel romantischer
Lebenskunst gedacht. Wie kam es, daß die Romantiker in ihren äußeren
und inneren Lebenseigenheiten oft das gerade Gegenteil solcher in sich
ruhender Festigkeit darstellen?

Der Frühromantiker ist philosophisch viel zu gut geschult, als daß er
meinen könnte, das Ziel der Harmonie je zu erreichen. Wie Schiller
weiß auch Friedrich Schlegel, daß die seelische Harmonie ein Ideal
darstelle, dem man sich wohl nähern, in dessen Besitz man indes nie
gelangen kann. Die moderne Kulturwelt ist zu reich an Gegensätzen,
als daß der einzelne aus vollem Bewußtsein heraus zu jenem inneren
Ausgleich kommen könnte, der einst wie ein Geschenk des Himmels dem
Menschen zugefallen war. Da jedoch Harmonie Verbindung und Verknüpfung
der Gegensätze ist, meint der Romantiker dem Ideal der Harmonie näher
zu kommen, wenn er von einem Gegensatz zum anderen sich wendet und
ebenso rasch zum ersten zurückkehrt. Eben dieses Hin- und Herpendeln
zwischen den Extremen verpönt die klassische Ethik. Der Romantiker
hingegen glaubt auf solche Weise am besten der Gefahr der Einseitigkeit
zu entgehen, die zu meiden ja auch dem Klassizismus heiliges Gebot
war. Und so wird er zum Proteus, zum prinzipiellen Dualisten. Am 8.
Februar 1802 begründete Friedrich Schlegel seine Reise nach Frankreich
dem Freunde Schleiermacher gegenüber mit dem paradoxen und doch echt
romantischen Bekenntnis: „Aber sage mir, wie du so gegen unsere Reise
nach Frankreich sein kannst? Oder weißt du nicht, wie tief das mit
meinem Innersten zusammenhängt, und daß dieser Dualismus des Lebens,
den ich da suche, mir so gefehlt hat und ebenso notwendig ist, als
der Dualismus in meiner Kunst und meinem Wissen? Ich kann nur zwei
entgegengesetzte Leben leben oder gar keins.“ Schleiermachers Antwort
scheint gegen solche Verherrlichung des Widerspruchs scharf aufgetreten
zu sein. Dennoch zog Fr. Schlegel auch hier nur mit der ihm eigenen
Konsequenz die letzte Folgerung aus einem seiner Glaubenssätze.
Vergleicht ihn doch Wilhelm einmal mit einem Maulwurf, der sich immer
tiefer einwühle und von dem man nicht wissen könne, ob er nicht
unvermutet einmal bei den Antipoden zum Vorschein komme. Er selber aber
erblickt in Widersprüchen das Kennzeichen aufrichtiger Wahrheitsliebe
und Vielseitigkeit. Das ist romantisch; denn auch Tiecks William Lovell
erklärt, er sei wandelbarer als Proteus oder ein Chamäleon. Zugrunde
liegt all dem das Bewußtsein, daß Widersprüche nicht ausbleiben können,
wenn man immer feiner und feiner differenziert. Es kündigt sich Hegels
Philosophie und ihre Lehre vom Widerspruch, von dem steten Umschlagen
der Thesis in die Antithesis an; sie war vorbereitet, seitdem Kant,
Fichte und Schiller ihre Leser gewöhnt hatten, Gegensätze aufstellend
und zu einer höheren Einheit verbindend in triadischem Rhythmus zu
denken. Friedrich Schlegel verwertet selbst sehr früh die Kantischen
Kategorien Einheit, Vielheit, Allheit zu ethischer Spekulation und
möchte den Menschen von der Einheit zu ihrem Gegenpol, der Vielheit
führen, um ihn so der Allheit zu nähern (an Wilhelm, Oktober 1793,
S. 124). -- Noch in seinen philosophischen Vorlesungen von 1804/06
(Windischmann 1, 76. 93 f. 108) arbeitet er mit diesen Begriffen.
Sein Schüler Adam Müller tritt 1804 mit einem Buch „Die Lehre vom
Gegensatze“ auf den Plan. Auch Schellings Naturphilosophie kann den
Begriff des Gegensatzes nicht entbehren, für den sie die Formel der
Polarität -- wie Goethes naturwissenschaftliche Forschung -- benutzt.
Goethe selbst verwendet den Begriff der Polarität seit 1792, also
unabhängig von Schelling, vielmehr wahrscheinlich von Kant angeregt
(vgl. E. A. Boucke, Goethes Weltanschauung, S. 220 ff. 244 ff.).
Ob Schelling den Gedanken von Goethe übernommen hat, ist nicht mit
Sicherheit zu erweisen.

Menschlich liegt all dieser Verherrlichung des Gegensatzes, diesem
proteischen Wesen der Romantik das faustische Bewußtsein zugrunde:
„Wie ich beharre, bin ich Knecht.“ Volle Bewegungsfreiheit will sich
die Seele erhalten. Eine unendliche Bestimmbarkeit, die auch in den
Augen Schillers ein Vorzug ist, bleibt dem Menschen, der proteisch
sich wandeln kann, am sichersten gewahrt. „Ewig“, sagt Joël (S.
174), „ist nur der Wechsel; das Leben schwingt periodisch, und alles
Fühlen erschöpft sich in einer Richtung und drängt zu Umschlag und
Wiederumschlag... Die romantische Seele, das ist die Seele, die sich
ganz vom gesteigerten Lebensgefühl tragen läßt; sie ist wie ein in
rauschenden, glitzernden Wassern sich drehendes Rad.“

In letzter Linie aber ruht die proteische Beweglichkeit der
romantischen Seele auf dem Bewußtsein, sich jeden Augenblick über
sich selbst erheben zu können. In diesem Bewußtsein wurzelt auch die
romantische Ironie. Novalis sagt einmal, der Adel des Ich bestehe in
freier Erhebung über sich selbst. Fichtes Lehre von der intellektuellen
Anschauung hat die romantischen Genossen angeleitet, dem Spiele ihres
eigenen Ich jederzeit betrachtend zuzusehen. Dem 18. Jahrhundert war es
aber längst schon eigen gewesen, das Ich in ein beobachtendes und ein
beobachtetes zu zerspalten. Der Romantiker bleibt nur -- und das ist
das Neue -- nicht bei der Beobachtung stehen, sondern schreitet weiter,
sucht willkürlich und mit vollem Bewußtsein das Ich zu lenken, zu
stimmen, anzutreiben, in jede beliebige Situation zu versetzen. Fichtes
intellektuelle Anschauung wird für Novalis unter der Hand zu einer
Magie, die dem Menschen ermöglicht, sich auch physisch zu bestimmen.
Fichte definiert in der zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre
(Sämtliche Werke 1, 463), die intellektuelle Anschauung sei das
unmittelbare Bewußtsein, daß ich handle, und was ich handle: sie
ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es tue. „Ich kann keinen
Schritt tun, weder Hand noch Fuß bewegen, ohne die intellektuelle
Anschauung meines Selbstbewußtseins in diesen Handlungen; nur durch
diese Anschauung weiß ich, daß ich es tue, nur durch diese unterscheide
ich mein Handeln und in demselben mich von dem vorgefundenen Objekte
des Handelns.“ Novalis billigt Fichte zu, er habe den tätigen Gebrauch
des Denkorgans gelehrt und entdeckt (Minor 2, 193); aber er fragt
sich auch sofort, ob Fichte die Gesetze des tätigen Gebrauchs der
Organe überhaupt entdeckt habe. Er meint, auf dieselbe Art, wie wir
unser Denkorgan in beliebige Bewegung setzen, wie wir die Bewegungen
des Denkorgans in Gebärden äußern, in Handlungen ausprägen, auf eben
dieselbe Art müssen wir auch die inneren Organe unseres Körpers
bewegen, hemmen, vereinigen und vereinzeln lernen. Er denkt an die
Möglichkeit, eine willkürliche Herrschaft über einzelne, gewöhnlich
der Willkür entzogene Teile unseres Körpers zu erlangen. Er hält es
nicht für ausgeschlossen, daß der Mensch dann, wahrhaft unabhängig
von der Natur, imstande sein werde, verlorene Glieder zu restaurieren
und sich bloß durch seinen Willen zu töten. Kühne, überschwengliche
Hoffnungen erheben sich hier; der freien Selbstbestimmung des Menschen
werden weiteste Grenzen gezogen. Der Mann, der sich mit diesem Gedanken
getragen hat, ist selbst lange Zeit energisch bemüht gewesen, durch
den bloßen Willen zu sterben. Konnte die willkürliche Bestimmbarkeit
im romantischen Sinne, konnte der Wunsch, sich über sich selbst zu
erheben, dem Spiele der eigenen Seele zuzuschauen und es nach Willen zu
lenken, weiter getrieben werden? Und dennoch glaubte Novalis nur die
Gedanken Fichtes weiter zu denken, dann wohl auch die von Hemsterhuis.

Fichtes Lehre vom Ich, das das Nicht-Ich setzt, begegnet zustimmend
und bekräftigend sich in Hardenbergs Kopfe mit der Anschauung
seines Lieblingsphilosophen Hemsterhuis, daß die Wirklichkeit das
schöpferische Resultat unserer inneren und äußeren Organe sei. Unter
diesen Organen steht bei Hemsterhuis an erster Stelle das moralische
Organ. Den ~moral sense~ der Engländer aufnehmend, deutet das
moralische Organ auf Lockes innere Erfahrung; zugleich aber ist es der
Keim einer unendlichen Verbesserungsmöglichkeit des Menschen und einer
Annäherung an die Gottheit. Die Hoffnungen, die Hemsterhuis auf das
moralische Organ setzte, haben Novalis sehr eingeleuchtet. Er nennt sie
einmal (3, 182) „echt prophethisch“, ein andermal bucht er (3, 379),
augenscheinlich lebhaft interessiert, Hemsterhuis’ „Mutmaßungen von der
Perfektibilität und dem unendlich möglichen Gebrauch dieses Sinns“. Die
beiden philosophischen Theorien, die dem Menschen eine so große Macht
über die Erscheinungswelt liehen, haben Novalis immer mehr in seiner
Neigung bestärkt, die Ekstase zum Maßstab der menschlichen Kraft und
der Wirkungen menschlichen Willens zu machen. Er wird zum Magier im
strengsten Sinne des Wortes und stützt sich dabei auf die idealistische
Philosophie seiner Zeit; darum nennt er sein System „magischen
Idealismus“. Nur ein Dichter konnte so halsbrecherische Pfade des
Denkens wandeln und für Willenseffekte halten, was lediglich Werk der
Phantasie war. Daß da überall die Spuren des geheimen inneren Dranges
zu künstlerischer, genialer Schaffenstat zu bemerken seien, hebt sehr
richtig W. Olshausen hervor (Friedrich v. Hardenbergs Beziehungen zur
Naturwissenschaft seiner Zeit. Leipzig 1905, S. 70 f.). So ist denn
Novalis von der Philosophie zur Dichtung zurückgekehrt. Als Dichter
konnte er dem grenzenlosen Drange genügen, bestimmend und bedingend die
Wirklichkeit zu formen. Sobald er diese Tatsache erkannt hatte, wurde
ihm Philosophie und Poesie ein und dasselbe. Die Ästhetisierung der
Philosophie, die bei Friedrich Schlegel und besonders bei Schelling ein
Glaubenssatz von entscheidender Wichtigkeit wird, gewinnt aber auch
bei Novalis nicht etwa den Charakter einer Resignation. „Die Poesie
ist das echt absolut Reelle. Dies ist der Kern meiner Philosophie.
Je poetischer, je wahrer“, sagt er einmal (3, 11). Und ein andermal:
„Der poetische Philosoph ist ~en état de Créateur absolu~. Ein Kreis,
ein Triangel werden schon auf diese Weise kreiert. Es kommt ihnen
nichts zu, als was der Verfertiger ihnen zukommen läßt“ (3, 376).
Der Philosoph vergibt sich nichts und verzichtet auf nichts, wenn er
Poet wird. Denn Poesie ist Wahrheit. Einst hatte A. G. Baumgarten
Leibnizische psychologische Konstruktionen auf das Ästhetische
angewendet und die Kunst zu einer Vorstufe der Erkenntnis gemacht.
Schillers „Künstler“ trieben den Gedanken weiter und suchten darzutun,
daß der Mensch nur durch das Morgentor des Schönen in der Erkenntnis
Land dringe. Novalis aber ebenso wie Schelling schätzt die Poesie noch
weit höher ein; nicht bloß eine propädeutische Bedeutung komme ihr zu,
sie ist nicht nur ein Weg zur Erkenntnis, sondern Erkenntnis selbst.
Ein sehr dunkles und unklares Fragment (3, 176) sucht die Sphären der
beiden Begriffe abzugrenzen. Philosophie und Poesie verhalten sich
wie System und Leben. Der Poesie wird dabei nachgerühmt, sie schaffe
„die höchste Sympathie und Koaktivität, die innigste Gemeinschaft des
Endlichen und Unendlichen“.

Die „innigste Gemeinschaft des Endlichen und Unendlichen“ ist, was
der Romantiker vor allem anstrebt. Die Anschauung, daß Poesie das
„absolut Reelle“ sei, daß sie der Wahrheit gleichkomme, deutet nicht
bloß auf die philosophische Überzeugung, hinter den Dingen, hinter den
Erscheinungen der Sinnenwelt liege die wahre Welt. Sondern sie erkennt
in der Poesie tatsächlich ein Mittel, das Absolute zu erfassen. Hier
komme wirklich im Endlichen das Unendliche zur Geltung, hier werde das
Absolute zum Erlebnis.

Wilhelm Schlegel formuliert den romantischen Grundgedanken in den
Berliner Vorlesungen (1, 90): „Man halte das Unendliche nicht etwan
für eine philosophische Fiktion, man suche es nicht jenseits der Welt:
es umgibt uns überall, wir können ihm niemals entgehen; wir leben,
weben und sind im Unendlichen. Freilich haben wir seine Gewähr nur in
unsrer Vernunft und Phantasie; mit den äußern Sinnen und dem Verstande
können wir es nie ergreifen, denn diese bestehen eben nur durch ein
beständiges Setzen von Endlichkeiten und Verneinen des Unendlichen.“

In seinen Vorlesungen über „Philosophie der Geschichte“ (2, 155) hat
der alte Friedrich Schlegel 1828 beinahe strafend und rügend das Wesen
des Romantischen nach seiner mittelalterlichen ersten Erscheinungsform
in der Neigung zum Extrem oder dem Hange zum Absoluten gesucht, mag
dieser sich im Herrschen, Entscheiden und Glauben, überhaupt im
Willen oder im Wissen, Denken und Dichten offenbaren. Jetzt ist der
Hang zum Absoluten in seinen Augen ein mit der Liebe auch alles Leben
verwirrender und verschlingender Abgrund geworden, der das Mittelalter
von einem Extrem zum anderen fortriß. In seiner Jugend hat er so stark
wie Novalis diesem Hange nachgelebt; und auch ihm bedeutete damals all
sein Ringen nach dem Absoluten im Innersten nur den Wunsch, dieses
Absolute in irgendeiner Form und an irgendeiner Stelle zu erhaschen und
es in Erlebnis umzusetzen.

Der tiefste Grund all dieses Ringens und Strebens ist das Bewußtsein,
daß dem Menschen eine Bestimmung gegeben ist, die über die Grenzen des
Erdendaseins hinausreicht. Sehnsüchtig blickt der Romantiker über das
Erdendasein hinweg und sucht den Weg vom Endlichen zum Unendlichen.
Schon am 17. Mai 1792 bekennt Friedrich Schlegel seinem Bruder (S.
46) seine Sehnsucht nach dem Unendlichen. Und schon in diesen Tagen
verknüpft er diese Sehnsucht mit dem Begriff der Liebe. Das Herz
meine das unendliche Gut, das ihm fehle, im Geliebten zu finden:
diese Sehnsucht, diese Liebe gestattet dem Menschen ins Absolute und
Ewige hinüber zu greifen. Der Begriff der Sehnsucht ist in seiner
philosophischen Bedeutung ähnlich von Fichte erfaßt worden. Fichte
umschreibt ihn in der „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“
(1794, S. 303) als den „Trieb nach etwas völlig Unbekanntem, das sich
bloß durch ein Bedürfnis, durch ein Mißbehagen, durch eine Leere,
die Ausfüllung sucht, und nicht andeutet, woher? -- offenbart“.
Dieses Sehnen ist für Fichte Voraussetzung aller Erkenntnis und aller
Sittlichkeit; es ist die ursprüngliche, völlig unabhängige Äußerung
des im Ich liegenden Strebens. In der Feststellung dieser Sehnsucht
hat Fichte der Romantik das Mittel gegeben, ihr innerstes Wesen zu
erkennen. Denn in dem Drang des Vernunftmenschen nach dem Unendlichen
und Ewigen hat sich ja von Anfang an ein Kennzeichen der romantischen
Generation ergeben. Romantisch ist es fernerhin, daß der Vernunftmensch
sich dieser Zusammenhänge vollinhaltlich bewußt ist. Diesen Drang
nach dem Ewigen, dieses metaphysische Bedürfnis findet der Romantiker
da überall wieder, wo er Sehnsucht empfindet. Und so rückt denn auch
Liebe in den Kreis des metaphysischen Bedürfnisses hinein; zunächst
eine geistige Liebe im Sinne Platos und Plotins, eine Begeisterung
für das Erkennen, ein geistiger Zeugungstrieb, bestrebt, uns dem
Göttlichen zu nähern, eine sehnsuchtsvolle Liebe zum Göttlichen, eine
religiöse Liebe zum Unendlichen, wie Schleiermacher sie vertritt.
Diese mystische und der Mystik sehr geläufige Liebe bleibt aber nicht
bloß innerhalb der Grenzen des Religiösen stehen. Auch die Liebe des
Mannes zum Weibe gesellt sich hinzu. Und so erweitert sich romantische
Sehnsucht zu einem allumschlingenden Drange, der Erkenntnis, Religion
und Leidenschaft verknüpft. Darum führt Novalis’ Märchen von Hyazinth
und Rosenblütchen den Liebenden in die Arme der Geliebten, wenn er
das verschleierte Bild von Sais zu enthüllen, die volle Wahrheit zu
erkennen strebt. Darum konnte Novalis in dem Traume von der blauen
Blume alle romantische Sehnsucht nach dem Absoluten symbolisch
darlegen. All das aber liegt schon in Friedrichs Brief an Wilhelm vom
17. Mai 1792 vorgedeutet, der die Sehnsucht nach dem Unendlichen zu
einem Beweggrund der Liebe stempelt. In dieser romantisch gefaßten,
religiös gefärbten Liebe zu Gott und zum Weibe kommt die Sehnsucht des
Romantikers nach dem Absoluten zur Ruhe. Das Unendliche wird mithin
nach romantischem Glaubensbekenntnisse von der Vernunft gefordert und
gedanklich analysiert, von der Poesie veranschaulicht und in der Liebe
zum Erlebnis. Ein Glaubensbekenntnis der Sehnsucht, die über alles
Erdendasein in unermeßliche Weiten hinauszufliegen sich anschickt, der
aber in dieser Welt doch zweifach Erfüllung und Stillung werden kann:
durch Poesie und durch Liebe. Liebe ist dabei im göttlichen und im
menschlichen Sinne gefaßt, ist ebenso religiöse Liebe zu Gott wie rein
menschliche Liebe zum Weib.

Schon in diesen vorläufigen Ausführungen kennzeichnet sich die
Entwickelungsbahn, die von den Romantikern durchlaufen worden ist.
Ihr Verlangen nach der Erfassung des letzten Grundes, aus dem die
Welt erwachsen ist, stößt zunächst auf die festgefügten Mauern, in
denen Kant die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit gezogen
hat. Sie erfahren, daß ihre heiße Sehnsucht nach dem Ewigen und
Unendlichen Sehnsucht bleiben soll. Aus dieser Enttäuschung erwächst
die Lehre von der romantischen Ironie; sie bedeutet, daß der Romantiker
des unüberbrückbaren Gegensatzes seiner metaphysischen Ansprüche
und ihrer Erfüllung stets bewußt bleibt. Dennoch hält er Umschau
nach den Mitteln, die ihn dem Ewigen näher bringen können. Nun soll
die Stärke seines Geistes nicht länger nur auf das Bewußtsein sich
beschränken, daß er mehr will und fordert, als ihm je geschenkt wird.
Von verschiedenen Seiten vielmehr bieten sich Mittel und Wege, das
Absolute zu ergreifen. Liebe, religiös und geschlechtlich gefaßt,
und Poesie lassen den Romantiker das Absolute erleben. In der Liebe
und in der Poesie verschlingt sich das Zeitliche mit dem Ewigen, das
Endliche mit dem Unendlichen. Jetzt wird der romantische Ironiker
zum Seher und Propheten. Nun zeigt sich der „Adleroptimismus mit der
Devise ~Ascendam~“, von dem Ricarda Huch (1, 112) spricht und dem
sie nachrühmt, er mache die Romantik so ewig jung und herrlich. „Sie
zweifelten nicht, daß sie, wenn auch hundertmal geblendet und gelähmt,
einmal das Antlitz der Sonne berühren würden.“

Nicht dem kühlen, bedächtigen Denker eignen solche Hoffnungen; wären
die Romantiker, Schelling eingeschlossen, nicht Poeten gewesen, sie
hätten nie den Enthusiasmus besessen, der zu ihrer Lehre vom Erleben
des Ewigen gehört. Solchen Enthusiasmus verherrlicht Friedrich Schlegel
schon am 21. Juli 1791 in einem Briefe an den Bruder Wilhelm, und
Goethes „An Schwager Kronos“ zitierend, bekennt er: „Wenn wir im
Ernst alles Enthusiasmus unfähig sind, dann ist es die rechte Zeit
zur Abfahrt.“ Je näher die Frühromantik dem Unendlichen zu kommen
glaubt, desto häufiger erscheint der Begriff Enthusiasmus in Friedrich
Schlegels Äußerungen. In den letzten Aufsätzen des „Athenaeums“
kehrt er immer wieder. Novalis hat sogar den Gedanken einer „Kultur
des Enthusiasmus“ (3, 44) gefaßt. Die vierte These endlich, die Fr.
Schlegel am 14. März 1801 vor der Jenenser Fakultät vertrat, lautete:
„~Enthusiasmus est principium artis et scientiae.~“



I. Die erste und zweite Stufe der romantischen Theorie.


1. Friedrich Schlegels klassizistische Anfänge.

Völlig selbstverständlich ist, daß eine Gruppe von Schriftstellern,
der die Lebensfragen in erster Linie der Betrachtung stehen, in ihren
ästhetischen Betätigungen immer von neuem das Daseinsproblem aufwerfen
wird. Zu den unvereinbaren Widersprüchen der Romantik scheint zu
gehören, daß sie, wenn sie Kunst treibt, dies um der Kunst willen
tut, während doch im Hintergrunde stets die im vorigen Abschnitt
entwickelten Lebensfragen stehen. Nur höchst selten kann man die
Romantik bei einseitiger Verwertung der Formel ~l’art pour l’art~
antreffen. Zwar weigert sie sich wie der Klassizismus energisch, die
Kunst zur Dienerin unkünstlerischer Zwecke zu machen. Da sie indes die
Grenzen der Poesie ins Unendliche zu erweitern scheint, das ganze Leben
ins Poetische umzusetzen und die Poesie ins Leben hineinzutragen sucht,
ergibt sich ihr von selbst die Notwendigkeit, in poetischem Gewande das
Leben zu deuten.

Auch dann, wenn der junge Friedrich Schlegel literar- und
kulturhistorische Konstruktionen errichtet, spürt man deutlich,
daß ihm eigentlich und in erster Linie die Probleme romantischer
Lebensauffassung vorschweben. Friedrich Schlegel ist auch als Kultur-
und Literarhistoriker ein Pionier der romantischen Weltanschauung;
aber er ist so lange dem inneren Aufbau der Geschichte der Menschheit
und ihrer Poesie nachgegangen, daß andere, zunächst Schleiermacher,
Schelling und Novalis vor ihm an die Lösung der Aufgaben herantreten
konnten, die er selbst längst, zunächst in den Briefen an seinen
Bruder, formuliert hatte. Mindestens empfängt er viele seiner eigenen
Ideen, nachdem sie von anderen weitergebildet und schärfer erfaßt
waren, aus fremder Hand wieder, ehe er sie öffentlich darlegt. Und
darum hat ihm lange der Vorwurf angehangen, er sei nur der eifrige, oft
übereifrige Verwerter fremden Gutes gewesen, kein durchaus origineller
Geist -- eine Rolle, die tatsächlich nicht er, sondern sein Bruder
Wilhelm spielte.

Die romantische Theorie wurde von Friedrich Schlegel zunächst
literarästhetisch ausgebaut. Er möchte der Winckelmann der griechischen
Literatur werden; er liefert neben einer Fülle kleinerer Versuche
das großgedachte Fragment seiner „Geschichte der Poesie der Griechen
und Römer“ (1798). Dabei will er aber nicht nur charakterisieren
und beschreiben. Von Anfang an ist er auf systematisch-konstruktive
Historik aus. Die geschichtsphilosophischen Probleme, die dem 18.
Jahrhundert in erster Linie durch Rousseau ans Herz gelegt worden
waren, finden bei ihm Berücksichtigung und neue Lösungsversuche.

Rousseau hatte, nicht immer und nicht in seinen reifsten Kundgebungen,
aber in seinen wirksamsten Jugendaufsätzen eine überkultivierte Welt
zur Einfachheit des primitiven Daseins zurückgerufen. Auf lange Zeit
hinaus drehte sich die Geschichtsphilosophie dank Rousseaus Anstoß nur
um dies eine Problem. Das Glück der primitiven Gesellschaftsordnung
oder vielmehr -unordnung erschien sofort den deutschen Denkern wenig
glaubhaft. Der deutsche Idealismus verzichtete vollends früh darauf,
den Menschen zu einem zweifelhaften kulturlosen Glück zurückführen
zu wollen und suchte ihn im Gegenteil zu kulturell höherer geistiger
Vollkommenheit zu leiten. Kant, Fichte, Schiller, aber auch Hemsterhuis
wiesen diese Wege. Nicht Glück, sondern sittliche Güte, nicht ein
geistloses, goldenes Zeitalter der Vergangenheit, sondern ein
geisterfülltes der Zukunft wollte man erzielen (vgl. Säkularausgabe
11, S. LXII f.).

Dabei mußte freilich im Sinne Rousseaus zugestanden werden, daß
die Kultur den Menschen zwiespältig und einseitig gemacht habe. Es
blieb, wollte man diesen Nachteil nicht ruhig hinnehmen, nur übrig,
die verlorene Harmonie zum Zukunftsbild, zu einem Ideal zu machen,
dem der Mensch rastlos zuzustreben habe, das er aber niemals ganz
erreichen könne. Diese kulturhistorische Konstruktion deckt sich mit
den ethischen Theorien, die der Romantik wie dem Klassizismus eigen
sind. Oben (S. 17 ff.) ist dargelegt worden, wie die Romantik, bewußt,
volle Harmonie nie ganz erzielen zu können, in dem Reichtum eines
widerspruchsvollen, von Gegensatz zu Gegensatz eilenden Lebens Ersatz
für die Allseitigkeit der Harmonie suchte. So hätte es dem Romantiker
Friedrich Schlegel nahe gelegen, sofort für die zwar zwiespältige, aber
geistig reichere Beweglichkeit moderner Kultur gegen die schlichtere
Harmonie alter Kultur Partei zu nehmen. Merkwürdigerweise steht der
Romantiker in seinem Aufsatz „Über das Studium der griechischen Poesie“
(1797) gerade auf entgegengesetztem Standpunkte. Nicht aus Eigenem
ist er zu gerechterer Würdigung der modernen Kultur gelangt, sondern
zunächst durch Schillers Anregung. Er durchläuft, ehe er dieser
Anregung nachgibt, eine Periode „revolutionärer Objektivitätswut“;
und nur nachdem er sie überwunden hatte, ist in ihm der Romantiker zu
vollem Bewußtsein erwacht.

Der Aufsatz „Über das Studium der griechischen Poesie“ ist, wie die
Skizzen „Über die Grenzen des Schönen“ und „Vom Wert des Studiums
der Griechen und Römer“ bemüht, das Verhältnis antiker und moderner
Kunst und Kultur zu bestimmen. Dieselbe Aufgabe suchten in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts unter dem Impulse von Winckelmanns Deutung
der Antike nicht nur Herder, Goethe, Schiller, W. v. Humboldt, auch
Garve, Forster, Bouterweck und viele andere zu lösen. An die Stelle
von Rousseaus Gegenüberstellung eines primitiven, aber harmonisch
glücklichen Naturlebens und der vereinseitigenden, glückraubenden
Kultur trat in den Erörterungen über antik und modern die Antithese
antiker Harmonie und moderner Zwiespältigkeit. Winckelmanns Auffassung
von der edlen Einfalt und stillen Größe des Griechentums hatte es
ermöglicht, in Rousseaus Antithese für die primitive Harmonie der
Urvölker die künstlerisch geadelte Harmonie Griechenlands einzusetzen,
die ein würdigeres Vorbild für den hochgebildeten Sohn des 18.
Jahrhunderts darstellte, als die Geistesarmut der Primitiven. Die
seelischen Vorzüge der Primitiven, zunächst die volle Harmonie,
blieb diesem idealisierten Naturvolke alter Griechen bewahrt. Dabei
erblickte man die Griechen der Zeit des Sophokles und Pheidias auf
einer Stufe unbewußt triebartiger Kunst, die einer Gleichstellung
der Griechen und der Primitiven Rousseaus noch stärker entgegenkam.
Friedrich Schlegel legte wie Schiller, von diesen Voraussetzungen
ausgehend, Kants historischen Maßstab an die Antiken und Modernen und
fand dort „Natur“, hier „Kunst“, d. h. Künstlichkeit. Er nahm diese
Prädikate so ernst, daß er in dem Aufsatze „Vom Wert des Studiums der
Griechen und Römer“ der antiken Kulturentwickelung die Bewegung des
Kreislaufes, der modernen ein dauerndes Fortschreiten zugebilligte.
Denn naturgemäße, organische Entwickelung vollzieht sich nach Herder in
kreisförmiger Bahn, in der bewußten künstlichen Entwickelung hatte Kant
die Notwendigkeit fortwährenden Aufwärtssteigens gefunden.

Wenn aber Friedrich Schlegel antik und modern vergleicht, konstruiert
er nicht bloß, vielmehr sucht er das Wesen beider Arten in
anschauender Betrachtung zu ergründen. Und da gelangt er, ganz im
Sinne einer feinen Bemerkung Goethes (Italienische Reise, 17. Mai
1787) und wahrscheinlich angeregt von einer Beobachtung Bouterwecks,
zu der Erkenntnis, daß in der modernen Poesie ein Übergewicht des
Individuellen, Charakteristischen und Philosophischen herrsche, daß
sie auf das Interessante, Pikante und Frappante ausgehe. Sobald das
Interessante als auszeichnende Eigenheit der modernen Poesie erkannt
war, konnte Friedrich Schlegel nach Kants „Kritik der Urteilskraft“
erklären, daß moderne Poesie überhaupt mit dem Schönen nichts zu
tun habe; denn nach Kant erweckt das Schöne ein interesseloses
Wohlgefallen. So blieb der antiken Poesie allein das Vorrecht, der
Welt des Schönen anzugehören. Die moderne erschien ihr gegenüber als
manieriert; der Ausdruck entstammt einem Aufsatze Goethes aus der Zeit
nach Italien (Jubiläumsausgabe 33, 54 ff.). Und gleichfalls Goethischem
Sprachgebrauch entnommen ist es, wenn dieser manierierten Poesie des
Interessanten die klassische Poesie als objektiv entgegengestellt
wurde. Auch Chr. Gottfr. Körner, Schillers Freund, der damals ganz
unter dem Eindrucke von Goethes Ästhetik steht, liebt den Terminus
objektiv; von Körner hat Friedrich Schlegel in seiner Frühzeit starke
Impulse erfahren. Endlich enthüllte sich die griechische Poesie in
ihrer historischen Entwickelung, eben wegen ihrer Naturgemäßheit,
wegen ihres organischen, durch keinerlei fremde Absichten getrübten
Aufstiegs als „ewige Naturgeschichte des Geschmacks und der Kunst“.

Dem Griechentum und seiner Poesie war durch diese Ableitung eine
ausgezeichnete Sonderstellung zugewiesen, wie sie in gleicher Höhe kurz
vorher und wahrscheinlich unter W. v. Humboldts Einwirkung Schillers
Briefe „Über die ästhetische Erziehung“ (1795) gefordert hatten. Es war
darum nicht ganz gerecht von Schiller, wenn er in den „Xenien“ über
Fr. Schlegels Graekomanie spottete und die tiefere Wahrheit, die er
der Welt verkündet hatte, von Fr. Schlegel auf den Kopf gestellt sah.
Wohl aber hatte Schiller selbst inzwischen seinen Standpunkt geändert.
Die Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795/6)
erwog, welche Vorzüge trotz aller Bedeutung und Größe antiker Kunst und
Dichtung dem modernen Dichter übrigblieben; und sie fand diese Vorzüge
in der höheren geistigen Kultur, in dem stärker entwickelten Vernunft-
und Ideenmenschentum des modernen sentimentalischen gegenüber dem
antiken naiven Poeten.

Denn der Proportion Fr. Schlegels: „antik zu modern wie objektiv zu
interessant“ entspricht Schillers Proportion „antik zu modern wie
naiv zu sentimentalisch“. Irregeleitet durch die Erscheinungsdaten
der stoffverwandten Arbeiten Schillers und Schlegels hat man
fälschlich gemeint, Fr. Schlegel habe lediglich Schillers Aufstellung
weitergetrieben. Tatsächlich ist seine Konstruktion längst fertig
gewesen, ehe er Schillers Abhandlung las. Ferner aber geht Schillers
Proportion nicht wie die Schlegels auf die künstlerische Qualität
und den ästhetischen Eindruck antiker und moderner Dichtung; sondern
Schiller bleibt bei dem Naturgefühl stehen, das bei dem antiken
Dichter, eben weil er nach der Ansicht des 18. Jahrhunderts auf
dem Naturstandpunkt steht, ein naives, bei dem modernen, der aus
seiner zwiespältigen Kultur heraus nach der harmonischen Einheit der
Natur sich sehnt, ein sentimentalisches ist. Gesehen ist das aus
der Stimmungswelt des 18. Jahrhunderts, das in hervorragender Weise
sentimental, d. h. von Sehnsucht nach der Natur erfüllt war.

Der sentimentalische Sehnsuchtsmensch indessen ist aufs innigste
verwandt mit dem romantischen, sehnsuchterfüllten Vernunftmenschen.
Die künstlerische Bedeutung dieser Art Menschen und Dichter wird in
Schillers Abhandlung festgestellt. Und Fr. Schlegel erfuhr durch
Schiller, daß er den Sentimentalischen, den Modernen, die er zu
Vertretern des Interessanten, des Nichtschönen gestempelt hatte,
nicht gerecht geworden war. Der Romantiker hatte die Gruppe, zu der
die Romantiker selber zählen, schlechter behandelt als der Klassiker
Schiller. Und so bleibt Schiller das Verdienst, daß er der Romantik zur
Selbstbesinnung und zur Erkenntnis ihrer eignen Bedeutung verholfen
hat. Denn wirklich verschwindet Fr. Schlegels „Objektivitätswut“
sofort, und er tritt gleich nach der Veröffentlichung seiner Abhandlung
„Über das Studium der griechischen Poesie“ rückhaltslos auf die Seite
der Modernen, der Romantiker.

Freilich darf nicht übersehen werden, daß all die scharfen Worte, mit
denen Fr. Schlegel die Interessanten und Modernen in seiner Arbeit
bedenkt, nur verkappter Liebe entstammen. Eben weil sie ihm innerlich
doch näher stehen, verfährt er mit ihnen so grausam. Gehören doch seine
Lieblinge Dante und Shakespeare zu ihnen. Wohl weist er beiden eine
Ausnahmestellung unter den Modernen zu: Dantes „kolossalisches Werk“
ist ihm ein „erhabnes Phänomen in der trüben Nacht jenes eisernen
Zeitalters“, Shakespeare ist der „Gipfel der modernen Poesie“ (Minor
1, 98. 108). Doch Dante werden die „gothischen Begriffe des Barbaren“
vorgeworfen und von Shakespeare heißt es: „Wer seine Poesie als schöne
Kunst beurteilt, der gerät nur in tiefere Widersprüche... Wie die
Natur Schönes und Häßliches durcheinander mit gleich üppigem Reichtum
erzeugt, so auch Shakespeare. Keins seiner Dramen ist in Masse schön;
nie bestimmt Schönheit die Anordnung des Ganzen.“ Diese Nachteile hat
Fr. Schlegel rasch als Vorteile empfinden gelernt. Aber auch jetzt
ist er schon von bester Hoffnung für die neueste und die kommende
deutsche Poesie erfüllt. Die Hoffnung stützt sich auf „ein merkwürdiges
und großes Symptom“, auf Goethes Poesie, die in seinen Augen die
„Morgenröte echter Kunst und reiner Schönheit“ (ebenda S. 114) ist.
Wie das gemeint ist, zeigt Friedrichs Brief an Wilhelm vom 27. Februar
1794: „Das Problem unsrer Poesie scheint mir die Vereinigung des
Wesentlich-Modernen mit dem Wesentlich-Antiken; wenn ich hinzusetze,
daß Goethe, der erste einer ganz neuen Kunstperiode, einen Anfang
gemacht hat, sich diesem Ziele zu nähern, so wirst du mich wohl
verstehen“ (S. 170).

Auch diese Briefstelle offenbart, wie Fr. Schlegel zu Anfang an dem
klassischen Harmonieprinzip viel zu stark festhält, als daß ihm die
freie Bewegung zwischen den Gegensätzen, dieser echt romantische
Zug, begehenswert erscheinen könnte: wenn schon nicht harmonische
Objektivität, so doch Harmonie von antiker Objektivität und moderner
Subjektivität -- so meint er es 1794. Auch da berührt er sich aufs
innigste mit Schiller. Fichte war es vorbehalten, ihn zu neuen
Ansichten zu leiten.


2. Fr. Schlegels Bekenntnis zum Romantischen. Romantische Poesie,
romantische Ironie, Transzendentalpoesie.

Im Handumdrehen gewinnt Fr. Schlegel nach seinem „manierierten Hymnus
in Prosa auf das Objektive in der Poesie“ (Lyceumfragment 7) den
romantischen Standpunkt. Schiller verhilft ihm zu dieser Wendung, aber
ebensoviel Dank schuldet er +Fichte+.

Die oben (S. 19 ff.) entwickelten Fichteschen Elemente des
frühromantischen Glaubensbekenntnisses mußten notwendig einer
höheren Einschätzung der modernen Poesie dienen. Fichtes Begriff der
„intellektuellen Anschauung“ hob die Bedeutung des bewußten, mit voller
Selbstbestimmung schaffenden Dichters. Volle Freiheit und Beweglichkeit
des Menschen wurde gleichfalls durch Fichte nahegelegt. Wohl faßte
Fichte all das ethisch weit rigoristischer auf als die Romantiker;
sie aber fanden nur eine Stütze ihrer proteischen Wandelbarkeit und
der Leichtigkeit, mit der sie von Pol zu Pol schwebten, wenn Fichtes
Vorlesungen „Über die Bestimmung des Gelehrten“ (1794) behaupteten:
„Alles Vernunftlose sich zu unterwerfen, frei und nach seinem eigenem
Gesetze es zu beherrschen, ist letzter Endzweck des Menschen; welcher
letzte Endzweck völlig unerreichbar ist und ewig unerreichbar bleiben
muß, wenn der Mensch nicht aufhören soll, Mensch zu sein, und wenn er
nicht Gott werden soll... Aber er kann und soll diesem Ziele immer
näher kommen; und daher ist die Annäherung ins Unendliche zu diesem
Ziele seine wahre Bestimmung als Mensch.“ Im 116. Athenaeumfragment
hat Fr. Schlegel 1798 alle diese Kriterien von dem Menschen auf
die romantische Poesie übertragen: die romantische Poesie ist eine
progressive Universalpoesie, sie ist noch im Werden; ja das ist ihr
eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.
Keine Theorie kann sie erschöpfen und nur eine divinatorische Kritik
dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist
unendlich, wie sie allein frei ist und als ihr erstes Gesetz anerkennt,
daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Punkt für
Punkt kehren die Forderungen wieder, die Fichte an den Menschen und
an seine progressive Universalbetätigung stellt -- freilich mit jenem
Zusatz, der strenge Selbstzucht in freie Willensbetätigung umwandelt.
In demselben Fragment wird aber auch Fichtes intellektuelle Anschauung
zur Bestimmung des Wesens romantischer Poesie verwertet, die Reflexion
des denkenden und handelnden Menschen über sein Denken und Handeln,
die Fähigkeit, wie in einem Spiegel sich selbst zu betrachten. Denn
die romantische Poesie kann nach Fr. Schlegel am meisten zwischen dem
Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen
Interesse, auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte
schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer
endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Diese Poesie intellektueller
Anschauung gestattet vor allem dem romantischen Dichter, sich
jederzeit über sein Werk und über sein eigenes Schaffen zu erheben und
kritischen Blickes beide zu betrachten; sie gestattet mit einem Worte:
+romantische Ironie+.

Schon die „Geschichte der Poesie der Griechen und Römer“ gedenkt
der sokratischen Ironie, die „das Heiligste mit dem Fröhlichen und
Leichtfertigen zu verweben pflegt“ (Minor 1, 239, 15). Das 108.
Lyceumfragment definiert genauer: sie ist die einzige durchaus
unwillkürliche und doch durchaus besonnene Verstellung. Wer sie nicht
hat, dem bleibt sie auch nach dem offensten Geständnis ein Rätsel.
In ihr soll alles Scherz und alles Ernst sein, alles treuherzig
offen und tief verstellt. Sie enthält und erregt ein Gefühl von dem
unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten. Sie ist
die freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich
selbst weg. „Es ist ein sehr gutes Zeichen, wenn die harmonisch Platten
gar nicht wissen, wie sie diese stete Selbstparodie zu nehmen haben,
immer wieder von neuem glauben und mißglauben, bis sie schwindlicht
werden, den Scherz grade für Ernst und den Ernst für Scherz halten.“
Weiter deutet den Begriff das 42. Lyceumfragment: Die Poesie kann sich
durch Ironie bis zur Höhe der Philosophie erheben. „Es gibt alte und
moderne Gedichte, die durchgängig im ganzen und überall den göttlichen
Hauch der Ironie atmen. Es lebt in ihnen eine wirklich transzendentale
Buffonerie. Im Innern, die Stimmung, welche alles übersieht und sich
über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend
oder Genialität; im Äußeren, in der Ausführung die mimische Manier
eines gewöhnlichen guten italienischen Buffo.“ Noch ausführlicher
entwickelt der Aufsatz „Über die Unverständlichkeit“ (2, 392 f.) die
vorzüglichsten Arten der Ironie.

Es liegt auf der Hand, daß die romantische Ironie mit Fichtes
intellektueller Anschauung aufs innigste verbunden ist und mit der
Forderung, sich über sich selbst zu erheben, die von der Romantik aus
Fichtes Formel abgeleitet wird (s. oben S. 19 f.). Zugleich aber ist
die romantische Ironie Ergebnis des resignierten Bewußtseins, daß der
Vernunftmensch sein metaphysisches Bedürfnis nie ganz befriedigen, daß
er, im Endlichen befangen, niemals das Unendliche ausschöpfen kann.
Zwischen dem Unendlichen und jedem Versuche, es in Worte zu fassen,
bleibt auch für den Romantiker vorläufig noch eine unübersteigliche
Kluft bestehen. Der Geist des Menschen wird sich seiner
Unzulänglichkeit bewußt und mit weiser Selbstbeschränkung bringt er
seine Aussprüche in eine Form, die allein schon diese Unzulänglichkeit
zugesteht; das Zugeständnis der steten Unzulänglichkeit aber bleibt
der beste Beweis, daß der Mensch nicht in eitler Selbstbespiegelung
verharrt, sondern durch seinen Geist über die Schwächen seines Denkens
hinausgehoben wird. Es ist -- fichtisch gesprochen -- ein äußerstes und
letztes Mittel, durch sein Ich des Nicht-Ich Herr zu werden. Darum kann
Fr. Schlegel sagen, daß die Selbstbeschränkung für den Künstler und
für den Menschen das Notwendigste und das Höchste sei (Lyceumfragment
37). „Das Notwendigste: denn überall, wo man sich nicht selbst
beschränkt, beschränkt einen die Welt; wodurch man ein Knecht wird.
Das Höchste: denn man kann sich nur in den Punkten und an den Seiten
selbst beschränken, wo man unendliche Kraft hat, Selbstschöpfung und
Selbstvernichtung.“

Aus solcher Selbstbeschränkung erwächst durch romantische Ironie das
Bewußtsein unbeschränktester geistiger Freiheit. Indem der Romantiker
scheinbar sich ganz preisgibt, gelangt er zu höchster Beweglichkeit
und uneingeschränktester Selbstbestimmung. Es ist die höchste Stufe
freiester Menschlichkeit, die Schillers Briefe „Über die ästhetische
Erziehung des Menschen“ ins Auge fassen, wenn sie in der Betätigung
des Spieltriebes die reinste und stärkste Äußerung menschlichen Wesens
erkennen, wenn sie behaupten, daß der Mensch nur da ganz Mensch ist,
wo er spielt. Romantische Ironie wandelt die schwierigsten geistigen
und seelischen Denkprozesse auch in ein Spiel. Schillers Theorie vom
Spieltrieb aber wurzelt genau wie die Lehre von der romantischen
Ironie in Fichtes Denken.

Die romantische Ironie ermöglicht dem Menschen, frei und ungebunden
über den Dingen zu schweben. Die uneingeschränkte Beweglichkeit, die
den romantischen Proteusnaturen unentbehrlich ist, wird durch sie
gewahrt. Durch sie wird der Romantiker zur „Urbanität“ erzogen und
jeder „Illiberalität“ entzogen. Das Bildungsproblem der Romantik erhält
hier seinen eigensten Charakter: die von den Klassikern angestrebte
Harmonie ist nie völlig zu erreichen; man nähere sich ihr also durch
freieste Beweglichkeit. Und so fordert das 55. Lyceumfragment: „Ein
recht freier und gebildeter Mensch müßte sich selbst nach Belieben
philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch
oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich,
wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit und in jedem Grade.“

Ein hervorstechender Zug dieser romantischen, mit Ironie getränkten
Bildung ist der +Witz+. Ungezählte Spiegelungen des Witzes finden
sich in Fr. Schlegels Aufzeichnungen. Von dem Begriffe des Witzes,
der dem 18. Jahrhundert eignet und sich am besten mit dem Esprit der
Franzosen verbinden läßt, geht es empor zu einer Form des Witzes,
die unentbehrlicher Bestandteil der romantischen Weltanschauung
wird. So kann es im 116. Athenaeumfragment heißen: „Die romantische
Poesie ist unter den Künsten, was der Witz der Philosophie und die
Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist.“ Und das
16. Lyceumfragment stellt Witz neben Genie, Liebe und Glauben, macht
sie nicht zur Sache der Willkür, sondern der Freiheit und verlangt,
daß sie einst Künste und Wissenschaften werden müssen. Das 220.
Athenaeumfragment scheidet den rein poetischen Witz, der eine Erwartung
in nichts auflöst (Fr. Schlegel hat Kants Definition des Lachens,
Kritik der Urteilskraft § 54, im Auge), von dem weit gehaltvolleren
philosophischen Witze. Den Wert des philosophischen Witzes, den Fr.
Schlegel ebenso bei Bacon wie bei Leibniz und Kant zum Vater der
wichtigsten Entdeckungen machen möchte, schätzt er um so höher ein, da
ihm Philosophie nichts anderes ist als der Geist der Universalität,
die Wissenschaft aller sich ewig mischenden und wieder trennenden
Wissenschaften, eine logische Chemie. Eben seine und Hardenbergs
Fragmente sind der beste Beweis, welche Hoffnungen beide auf die
kühnsten Kombinationen einer solchen logischen Chemie gesetzt haben
(vgl. Olshausen S. 49 ff.).

Die romantische Poesie aber enthüllt sich nach den oben dargelegten
Voraussetzungen im 238. Athenaeumfragment als „+Transzendentalpoesie+“.
Wie die Transzendentalphilosophie kritisch ist und mit dem Produkte
auch das Produzierende darstellt und im System des transzendentalen
Gedanken zugleich eine Charakteristik des transzendentalen Denkens
enthält, so verbindet die Transzendentalpoesie „die in modernen
Dichtern nicht seltnen transzendentalen Materialien und Vorübungen zu
einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen
Reflexion und schönen Selbstbespiegelung, die sich im Pindar, den
lyrischen Fragmenten der Griechen und der alten Elegie, unter den
Neuern aber in Goethe findet“. In jeder ihrer Darstellungen soll die
Transzendentalpoesie sich selbst mit darstellen und überall zugleich
Poesie und Poesie der Poesie sein.

+Poesie der Poesie+ -- wieder eins der schwierigen Schlagworte
Fr. Schlegels. Im 238. Athenaeumfragment geht es unzweideutig auf
eine Poesie, die sich selbst zum Gegenstand der Darstellung macht,
in der wir den Dichter selbst am Handwerk sehen. Sofort sollte es
ja eine Lieblingsform romantischer Ironie werden, den Dichter und
das Dichtgeschäft in die Dichtung selbst zu versetzen, durch stete
Zerstörung des geschlossenen Kunstwerks und seiner Illusion, Dichter
und Leser sich über die Dichtung erheben zu lassen. Ein Dichten also
abermals im Sinne der intellektuellen Anschauung Fichtes! Der Dichter
beobachtet sein eigenes Schaffen und bringt es in die Dichtung hinein;
aber auch der Leser soll in voller Freiheit und Bewußtheit die Dichtung
als Dichtung und nur als Dichtung genießen. Die auch von Schiller und
Goethe vertretene Lehre, daß das Kunstwerk keine vollständige Täuschung
hervorbringen, sondern in dem Leser und Zuschauer das Gefühl wach
erhalten solle, daß er Kunst und nicht Wirklichkeit vor sich habe, ward
da bis auf ihre letzte Konsequenz verfolgt (vgl. auch W. Schlegels
Berliner Vorlesungen 1, 262, 15).

Als Poesie der Poesie erschien in diesem Sinne dem Kritiker Fr.
Schlegel Goethes „Wilhelm Meister“, wenn er (Minor 2, 171, 30 ff.)
an ihm beobachtete, daß der Dichter selbst die Personen und die
Begebenheiten so leicht und so launig nehme, den Helden fast nie ohne
Ironie erwähne und auf sein Meisterwerk von der Höhe seines Geistes
herablächle.

Aber Poesie der Poesie bedeutet bei Fr. Schlegel noch etwas anderes
und höheres; und zwar gleich in den Athenaeumfragmenten: „Goethes
rein poetische Poesie ist die vollständigste Poesie der Poesie“ (N.
247). Hier erscheint Poesie der Poesie als Gegensatz zu einer Poesie
der Unpoesie. Hier langt Fr. Schlegel nach der Lösung des schwersten
Problems aller Poetik, der Frage nach dem Wesen des Poetischen. Aber
noch ist er in dieser Fichteschen Phase seiner Theorie nicht imstande,
eine befriedigende Antwort zu geben. Er findet sie später (s. unten S.
59 ff.).

In der Theorie von der romantischen Ironie ist auch die romantische
Lehre vom +Genie+ begründet. Ein unbewußtes, traumhaft instinktiv
schaffendes Genie ist auf solchem Boden nicht denkbar. Alle Vorzüge,
die Fr. Schlegel in seiner objektiven Zeit dem triebartig schaffenden
Künstler nachgerühmt hatte, verlieren an Wert. Der Geniebegriff des
Sturmes und Dranges wird endgültig überwunden. Das Genie muß sich
in der Hand haben, muß fähig sein, sich selbst zu lenken. „Solange
der Künstler... begeistert ist, befindet er sich für die Mitteilung
wenigstens in einem illiberalen Zustande“ (Lyceumfragment 37). Und so
kann Fr. Schlegel nur bedauern, daß es Künstler gibt, die nicht etwa
zu groß von der Kunst denken (denn das sei unmöglich), aber doch nicht
frei genug sind, sich selbst über ihr Höchstes zu erheben (ebenda 87).

Mehr und mehr rückt Subjektivität an die Stelle, die in Friedrichs
erster Periode die Objektivität eingenommen hat. Die Dichter, die
damals als Antipoden der Griechen eine wenig ehrenvolle Rolle gespielt
hatten, kommen nun zu ganz anderer Würdigung, da ja der Wert des
Modernen voll erfaßt ist. Dasselbe Fragment des Athenaeum (247), das
Goethes rein poetische Poesie als die vollständigste Poesie der Poesie
bezeichnet, nennt Dantes prophetisches Gedicht das einzige System
der transzendentalen Poesie und immer noch das höchste seiner Art,
erklärt ferner, Shakespeares Universalität sei wie der Mittelpunkt der
romantischen Kunst, und findet in Dante, Shakespeare und Goethe den
großen Dreiklang der modernen Poesie.

Das „Gespräch über die Poesie“ (1800) hatte nicht viel zu diesem
Urteil hinzuzufügen. Cervantes, Ariost, Sterne, Jean Paul u. a.
dienen nur dazu, das Wesen dieser nun vollauf anerkannten modernen
und romantischen Poesie näher zu erläutern. Nun ergibt sich aber
eine neue Definition des Romantischen: romantisch ist, was uns einen
sentimentalen Stoff in einer phantastischen Form darstellt (Minor
2, 370, 43). Sie gemahnt noch immer an die von Fichte inspirierten
Definitionen der Athenaeumfragmente. Die Hoffnungen, die in dem
Aufsatze „Über das Studium der griechischen Poesie“ auf die
unmittelbare Gegenwart gesetzt worden waren, finden jetzt eine neue
Begründung; und auch hier wird auf den transzendentalen Idealismus
und auf Fichte gezielt. „Die Philosophie gelangte in wenigen kühnen
Schritten dahin, sich selbst und den Geist des Menschen zu verstehen,
in dessen Tiefe sie den Urquell der Phantasie und das Ideal der
Schönheit entdecken und so die Poesie deutlich anerkennen mußte, deren
Wesen und Dasein sie bisher auch nicht geahndet hatte“ (2, 353, 2).
Doch nicht nur an Fichte ist hier gedacht; es melden sich die Männer
an, die die dritte Phase von Fr. Schlegels Theorie wesentlich bedingen:
Schleiermacher, Schelling, Novalis.



II. Die dritte Stufe der romantischen Theorie.


1. Schleiermachers Anstoß.

Im Frühjahr 1799 schloß +Schleiermacher+ seine erste selbständige
Veröffentlichung ab. „Über die Religion. Reden an die Gebildeten
unter ihren Verächtern“ lautet der Titel. Aus Spinozastudien, die
Schleiermacher mit Fr. Schlegel gemeinsam betrieben hatte, ist das
Buch erwachsen; Fr. Schlegel hat, kritisch bemüht, mit großer Sorgfalt
den Druck überwacht. Spinozas Pantheismus oder Akosmismus behauptet,
alles Endliche sei im Unendlichen enthalten. Aus dieser dogmatischen
Behauptung erwächst Schleiermachers religiöse Forderung, in allem
Endlichen das Unendliche zu erblicken. Denn nur im religiösen Vorgang
werde das Unendliche erfaßt; und wenn der Sinn auf das Unendliche
gerichtet werde, entstehe Religion. Schleiermacher gründet seine
Behauptungen auf eine psychologische Analyse des Aktes der Wahrnehmung
und stellt in ihm den Augenblick fest, da im Menschen der Begriff des
Universums und mit ihm ein überströmendes mächtiges Gefühl aufgeht.
Religiös ist in dieser Betrachtungsweise ein Mensch, der von dem
Gefühl der Abhängigkeit vom Universum durchdrungen ist. Religion ist
mithin für Schleiermacher nicht Metaphysik und nicht Moral, sondern
Anschauen des Universums. Eine zwiefache Tendenz waltet: erstens, das
Unendliche, Ewige, Eine von dem Flusse der endlichen Dinge zu trennen,
damit es nicht in dessen Wellen untergehe; zweitens die Gegenwart des
Unendlichen, Ewigen, Einen in den endlichen Dingen zu erfassen und den
Widerstreit des Endlichen und Unendlichen zu lösen.

Auch das Individuelle ist unendlich, ist Ausdruck und Spiegel
des Unendlichen. Individualität im höheren Sinne, menschliche
Individualität entspringt aus der Vermählung des Unendlichen mit dem
Endlichen. Jeder Mensch ist Individualität. In jeder Individualität
sind aber nur die Kräfte gebunden, die das Wesen der Menschheit
ausmachen; daher ist jeder Mensch ein Kompendium der Menschheit. Wenn
der Mensch auch in sich selber das Unendliche gefunden hat, dann ist
die Religion vollendet. Der Strahl, an dem wir aus dem Unendlichen
ausgehen und als einzelne und besondere Wesen hingestellt werden, ist
die Stimme des Gewissens, die jedem seinen besonderen Beruf auferlegt
und durch die der unendliche Wille einfließt in das Endliche.

Selbstanschauung eröffnet uns die Anschauung des Unendlichen.
Selbstanschauung wird mithin zum Organ der sittlichen Bildung. Sie läßt
in der Individualität den Ausdruck und Spiegel des Universums erkennen.
„So oft ich ins innere Selbst den Blick zurückwende, bin ich zugleich
im Reich der Ewigkeit; ich schaue des Geistes Handeln an, das keine
Welt verwandeln und keine Zeit zerstören kann, das selbst erst Welt und
Zeit erschafft“, so heißt es in Schleiermachers „Monologen“ (1800),
die von der Betrachtung der Religion zur Formung seiner ethischen
Überzeugungen weiterschreiten.

Selbstanschauung und Anschauung des Universums sind Wechselbegriffe.
Nur aus der Selbstanschauung entspringt die volle und wahre Anschauung
des Universums; und allein vom Standpunkte des Universums aus wird das
Selbst in seinem wahren Wert als ewiger Gedanke gefaßt (Dilthey, Leben
Schleiermachers S. 314).

Ist aber jede menschliche Individualität ewiger Ausdruck und Spiegel
des Universums, so ergibt sich als Mittelpunkt des sittlichen
Vorganges Anschauung und Bejahung des ewigen Selbst mitten im Fluß von
vergänglichem Handeln und Leiden.

Selbstanschauung ist das Gewissen des freien Menschen. An dieser
Stelle berührt sich mit Schleiermachers Lehre von der Religion seine
Ethik. Ihr Kern ist: Ein Anspruch aller, die Menschenantlitz tragen,
besteht, daß das in ihnen angelegte Ideal freien Spielraum und freudige
Förderung erlange, daß Sinn und Liebe ihm begegnen und es tragen
(Dilthey S. 454). Vollendung des freien individuellen Willens ist die
Absicht dieser Ethik. „Immer mehr zu werden, was ich bin, das ist mein
einziger Wille; jede Handlung ist eine besondere Entwicklung dieses
+einen+ Willens. Begegne dann, was da wolle!“

Zu reifer Vollendung ist Schleiermachers Ethik in seinem posthumen
„Entwurf eines Systems der Sittenlehre“ gediehen. Die Forderungen
der „Monologen“ kehren wieder, wenn hier die sittliche Aufgabe des
Menschen in der vollendeten Ausbildung des Individuums gesucht wird,
das in dem Gleichgewichte seiner verschiedenen Kräfte sein inneres
Leben auszuleben hat. Jeder Mensch hat eine individuelle Aufgabe und
erfüllt sie in einer persönlichen Durchbildung, die alle Momente des
gemeinsamen Kulturlebens auf den einheitlichen Zweck der individuellen
Vollendung zu beziehen hat. Das Sittengesetz offenbart sich so als
innerlich notwendige Funktion des intelligenten Wesens. Nicht wie
bei Kant steht es mit dem Naturgesetze in prinzipiellem Gegensatz.
Den Entwickelungsgedanken der Leibniz, Herder und Schelling ethisch
deutend, läßt Schleiermacher +eine+ Linie der Vervollkommnung aus der
Natur in die Geschichte übergehen. Das Ideal ist nicht Vernichtung der
niederen Zwecke, sondern ihre harmonische Ausgleichung mit den höheren.
Eine gewisse Verwandtschaft mit Schillers Versuch, den Rigorismus Kants
zu mildern, ist nicht zu verkennen.

Aber nicht die Beziehung zu Schiller fällt hier in Betracht. Ebenso
kann die oben (S. 12) angedeutete Verwandtschaft mit Herder jetzt
übergangen werden. Auch der Fichteschen Anregung, die vor allem in
dem Begriff der Selbstanschauung sich zeigt, und der überraschenden
Verwandtschaft der Ethik Schleiermachers mit der von Fichtes
gleichzeitiger „Bestimmung des Menschen“ sei hier nicht näher gedacht.
Wichtiger ist zu ergründen, wie weit Schelling auf Schleiermachers
„Reden“ gewirkt hat. Denn von den Reden ist eine so mächtige Wirkung
auf die romantischen Genossen ausgeübt worden, daß nur bei schärfster
Beobachtung Schleiermachers Anteil an der romantischen Theorie von
dem Anteil Schellings zu trennen ist. Das Problem des Unendlichen,
des Universums tritt fortan in die erste Linie der Diskussion bei den
romantischen Genossen. Von dieser Stelle aus gehen die Versuche, den
Menschen mit dem Absoluten in enge Verbindung zu setzen. Schleiermacher
weist einen der Wege, auf denen im romantischen Sinne dem Menschen das
Absolute zugänglich wird (s. oben S. 23 f.).


2. Schelling und die Romantiker.


~a~) Ästhetische Weltanschauung und Organismusbegriff.

Drei Phasen von +Schellings+ Philosophie sind für die Geistesgeschichte
der Romantik von Wichtigkeit: erstens seine Naturphilosophie, dargelegt
besonders in den „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ (1797), in
der Abhandlung „Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik“
(1798), und in dem „Entwurf eines Systems der Naturphilosophie“
(1799); zweitens sein ästhetischer Idealismus, den seine Schrift
„System des transzendentalen Idealismus“ (1800) vorträgt; drittens
sein Identitätssystem, das zunächst in dem Aufsatze „Darstellung
meines Systems der Philosophie“ (1801), dann aber auch in einer Reihe
ergänzender Aufsätze auseinandergesetzt wurde. Auf der ersten Stufe
verknüpft Schelling Fichtes Wissenschaftslehre mit Herders und Goethes
vitalistischer Naturauffassung, auf der zweiten wendet er sich resolut
ins Ästhetische und gelangt zu Resultaten, die an Schillers Spekulation
gemahnen, die dritte Stufe ist von Spinoza bedingt.

Schellings +Naturphilosophie+ faßt die Natur als ein großes System
auf, das aus der Vernunft hervorgegangen ist. Die Natur wird als die
unbewußte Form des Vernunftlebens genommen, der die Tendenz eignet,
die bewußte Form zu erzeugen. Die Natur ist die Odyssee, in der nach
mancherlei Irrwegen der Geist zuletzt schlafend seine Heimat, d. h.
sich selbst findet. Philosophische Naturerkenntnis betrachtet diesmal
den ganzen Naturprozeß als ein zweckmäßiges Zusammenwirken von Kräften,
die von den niedersten Daseinsstufen zu den höchsten des animalischen
Lebens und des Bewußtseins führen. Die Natur muß dazu als ein großer
Organismus gedacht werden, dessen Teile die Aufgabe haben, Leben und
Bewußtsein hervorzurufen. Die Philosophie der Natur wird zur Geschichte
des werdenden Geistes, die verschiedenen Stufen des Naturlebens sind
als „Kategorien der Natur“ gefaßt, als die notwendigen Zwischenformen,
in denen die Vernunft aus dem Unbewußten ins Bewußte weiterschreitet.

Die Natur ist mithin die werdende Intelligenz. Die Entwickelung, die
sie zu durchlaufen hat, betrachtet das Einzelding nur als notwendiges
Mittel, nicht als Selbstzweck. Das Einzeldasein in der Natur ist
ein vorübergehender Augenblick, in dem das Wechselspiel der Kräfte
zum Stillstand kommt, um gleich wieder zu beginnen. In der Natur
besteht ein Antagonismus entgegengesetzter Kräfte. Grundform alles
natürlichen Geschehens ist aber nicht nur Dualismus und Polarität,
sondern auch Synthese dieser antagonistischen Momente. Damit wird
Fichtes triadischer Rhythmus von Thesis, Antithesis und Synthesis
zum Prinzip der Deduktion der Naturphilosophie. Zugleich wird ein
Lieblingsgedanke Goethes (s. oben S. 19) verwertet: Der Magnet als
untrennbare Vereinigung entgegengesetzt wirkender Kräfte erscheint
in Schellings Auge als der Typus der ganzen Naturkonstruktion.
Diese Naturanschauung ist dynamisch wie die Kants. Was als Seiendes
erscheint, ist ein Produkt des Tuns. Nicht ein Aggregat von Atomen
in mechanischen Beziehungen, sondern das einheitliche Leben einer
Urkraft ist das System der Natur. Die Denker, die von einer Weltseele
sprachen, deren lebendige Entfaltung das Universum sei, haben ähnliches
gemeint. Schellings Weltseele indes ist etwas anderes, ist das Ich,
das aus dem unbewußten Triebe zum bewußten Leben kommen will und das
durch alle Gestalten der anorganischen und organischen Natur zu dieser
Selbsterfassung emporsteigt.

Der ethischen Metaphysik Kants und Fichtes war der Gegensatz von
Natur und Geist unentbehrlich geblieben, obgleich auch sie die
Vernunftbedingtheit der Natur anerkennen mußten. Schelling machte
diesem Widerspruch ein Ende, indem er die Natur zu einem Vernunftprozeß
stempelte.

Die Naturphilosophie ist die Lehre vom Werden des Ich, der
+transzendentale Idealismus+ die Lehre vom Ich selbst. Weder im
Theoretischen noch im Praktischen kommt das Ich zu seiner höchsten
Entwickelung; da wie dort ist es einseitig. Nur in der ästhetischen
Funktion des Ich ist die Einseitigkeit jener beiden Tätigkeitsformen
aufgehoben. Denn das Genie ist die bewußtlos-bewußte Tätigkeit des
Ich; sein Produkt, die Kunst, ist die vollendete Darstellung vom Wesen
des Ich. Die Kunst zeigt das volle Gleichgewicht der bewußtlosen und
der bewußten Tätigkeit, das sonst in der Erfahrung nicht möglich, nur
in der Unendlichkeit denkbar ist. In der Kunst allein decken sich
sinnliche und geistige Welt; denn das Genie ist die Intelligenz,
die als Natur wirkt. So wird die Kunst zum höchsten Organon der
Philosophie; denn sie löst das Problem, an dem das philosophische
Denken arbeitet. Jedes wahre Kunstwerk ist eine zur vollkommenen
Ausgestaltung gelangte Erscheinung der absoluten Welteinheit. In ihm
ist der Gegensatz des Denktriebes und des Willenstriebes aufgehoben.

Die Kunst ist die Vollendung des Weltlebens, sie ist die reifste
Erscheinung des Ich, das den Urgrund aller Wirklichkeit bildet.
Das ästhetische Moment ist also für die Weltauffassung Schellings
bestimmend geworden.

In Schellings +Identitätssystem+ wird endlich die Stufe voll anerkannt,
zu der die Natur sich in den früheren Phasen seines Denkens allmählich
emporgerungen hat. Sie war durch seine Behandlung selbständig geworden
und stand dem Ich ebenbürtig gegenüber. Natur und Ich verlangen nunmehr
nach Ableitung aus einem gemeinsamen Grunde. Spinozas Lehre legte
Schelling nahe, in Natur und Geist die beiden Erscheinungsweisen des
Absoluten zu erkennen; und wie Spinoza nennt er das Absolute bald Gott.

Das Absolute ist bei Schelling weder ideal noch real, weder Geist
noch Natur, sondern die absolute Identität oder Indifferenz beider
Bestimmungen. Wie der ganze Magnet weder Nordmagnetismus noch
Südmagnetismus, sondern beides ist und in seinem Mittelpunkte ihre
Indifferenz enthält, so ist das Absolute die ungeschiedene Vereinigung
aller Gegensätze. Zugleich enthält das Absolute die Möglichkeit,
sich zu differenzieren und zu einem System der verschiedenen
Erscheinungen zu werden. In Schellings Anschauung entwickelt sich
die absolute Vernunft in zwei Reihen; in der einen überwiegt die
Natur, in der anderen der Geist. In keiner dieser differenzierten
besonderen Erscheinungen kommt das Absolute zu voller Darstellung: im
menschlichen Organismus z. B. überwiegt noch das physische, im besten
Werke eines Künstlers das ideelle Moment. Vollkommene Entfaltung der
absoluten Vernunft ist deshalb nur im Universum, in der Totalität der
Erscheinungen, möglich. Das Universum ist mithin der vollkommenste
aller Organismen und das vollkommenste Kunstwerk, es ist die Identität
des absoluten Organismus und des absoluten Kunstwerkes.

Die Naturphilosophie der Renaissance hat gleichfalls das Universum
als einen Organismus und als ein Kunstwerk betrachtet. Darum machte
Schelling 1802 den größten italienischen Naturphilosophen Giordano
Bruno zum Anwalt seiner Lehre, die Wahrheit und Schönheit gleichsetzte,
und entwickelte seinen ästhetischen Pantheismus in dem Dialog: „Bruno
oder über das natürliche und göttliche Prinzip der Dinge.“

Auf dieser dritten Stufe hat Schellings Philosophie die Fichtesche Form
abgetan; er geht nicht weiter vom Ich aus, sondern von der Natur, also
von dem, was früher von dem Ich realisiert wurde. Die Natur verlangt
jetzt, unabhängig vom subjektiven Bewußtsein erkannt zu werden. --

Selbstverständlich kommen für die Frage, wie weit Schleiermachers
„Reden“ und „Monologen“ von Schelling abhängig sind, nur Schriften der
ersten Phase, also aus der Zeit der Naturphilosophie, in Betracht.
Schleiermacher hat sie früh gelesen. Aber gewiß konnte er aus ihnen
nicht entnehmen, was Schelling nachmals mit deutlicher Beziehung
auf Schleiermacher als Verdienst der Naturphilosophie in Anspruch
genommen hat: die Erklärung der Welt unter Voraussetzung wahrhafter
Realität der in Raum, Zeit und Bewegung geordneten Außenwelt. Schelling
bezeichnete später den, der „die Erklärung der Welt damit beginnt, daß
er einen beträchtlichen Teil derselben gleich als nicht existierend
erklärt“, als einen „Chirurgen, der ein Glied, das er heilen soll,
lieber gleich abschneidet, weil dieses doch der kürzeste Weg sei,
jemand von der Ungelegenheit, die es ihm verursacht, zu befreien“.
Schleiermachers Ausgangspunkt, von dem aus er seine realistische
Freude am Endlichen sich erobert, ist die Religion. Und dieser
Ausgangspunkt war Schelling fremd. Noch mehr: Schellings Realismus
kommt in der dritten Phase, im Stadium der Identitätsphilosophie,
zum Durchbruch. Mag er sich früher schon vorbereiten, vielleicht
sogar ankündigen, ganz gewiß hat Schleiermacher +vor+ Schelling
seinen Realismus bekannt; vielleicht hat er -- neben anderen --
Schelling dadurch den Weg gewiesen. Wie Schleiermacher beschäftigt
sich Schelling allerdings schon in seinen ersten Schriften mit dem
Problem der sichtbaren Gegenwart des Unendlichen im Endlichen. Beide
sind bemüht, den Weg von dem einen Pol zum anderen zu finden. Abermals
aber gewinnt man den Eindruck, als ob der transzendentale Idealismus
und die Identitätsphilosophie Schellings der Anschauung Schleiermachers
näher ständen und die Frage, wie in endlicher Darstellung das
Unendliche festzuhalten sei, stärker in den Vordergrund schöben,
als die Naturphilosophie. Vielleicht ist dies unter Schleiermachers
Einfluß so geworden. Ganz gewiß vollzieht sich indes in Schellings
Urteil über Individualität eine Wandlung, die ihn Schleiermacher
näher bringt; mindestens bekannte sich noch die Naturphilosophie zu
einem Kredo, das der Individualität weit weniger günstig ist als
Schleiermachers Persönlichkeitslehre. Daneben waltet freilich eine
starke Übereinstimmung zwischen den „Reden“ Schleiermachers und der
„Weltseele“ Schellings in der Art und Weise, wie alles besondere Dasein
aus verschiedenen Mischungsverhältnissen der Gegensätze abgeleitet
wird. Und an dieser Stelle kann Schleiermacher von Schelling gefördert
worden sein.

Die Wendung zum Ästhetischen, die sich in der zweiten und dritten
Phase von Schellings romantischer Entwickelung vollzieht, ist schon
in den „Reden“ zu finden. Ausdrücklich hebt Schleiermacher die
Verwandtschaft hervor, die zwischen dem religiösen Vorgang und dem
ästhetischen Eindruck besteht. Richtet sich dort der Sinn auf das Wie
und Was der Erscheinung, auf den ungeteilten Eindruck eines Ganzen,
so findet auch das ästhetische Vermögen seine Befriedigung in der
bloßen Anschauung des Kunstwerkes oder der Natur, sofern sie als
künstlerisch hervorbringend gedacht wird („Reden“ 1. Auflage S. 149;
vgl. Dilthey, Leben Schleiermachers S. 304). Anschauung des Universums
und Anschauung des Kunstwerkes treten hier schon in Parallele. Gelernt
hat Schelling an dieser Stelle freilich nichts von Schleiermacher; denn
die Parallelisierung von Universum und Kunstwerk ist ihm von anderer
Seite in breiterer Ausführung geboten worden; eine an Mächtigkeit
die flüchtigen Bemerkungen Schleiermachers weit übertreffende
Hauptquelle der Philosophie Schellings kommt hier in Betracht: Goethe.
Künstlerisches Schaffen und Naturbetrachtung in eins zu schlingen, war
Goethe besonders seit Italien etwas Selbstverständliches.

Am schwierigsten zu lösen ist die Frage, wieweit die Romantiker
Schelling wegen seiner Fassung und Verwertung des +Organismusbegriffes+
verpflichtet sind. Ohne Zweifel hat keiner den Begriff so folgerichtig
und so allseitig entwickelt, wie Schelling. Doch ebenso gewiß ist Fr.
Schlegels Denken von Anfang an auf dasselbe Ziel gerichtet; ferner
verwertet er von früh auf ästhetisch den Begriff, der ja eine lange
Vorgeschichte in der Kunstlehre des 18. Jahrhunderts hat und von Goethe
und Herder, aber auch von Moritz an Schelling wie an Fr. Schlegel in
hochausgebildeter Form übergeben wird (s. oben S. 15 ff.).

Das Hauptmerkmal organischer Betrachtung ist der Wunsch, eine
Erscheinung als Ganzes zu begreifen, auf das Ganze und Einheitliche
bei der Betrachtung und Würdigung, sei’s der Welt, sei’s eines
Ausschnittes aus ihr, zu dringen. Das 116. Athenaeumfragment und die
Definition der romantischen Poesie, die es versucht, sind auf dem
Gedanken der vereinheitlichten Ganzheit aufgebaut. Und zwar ganz
gewiß, ohne daß Schelling auch nur entfernt als Anreger in Betracht
käme: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie.
Ihre Bestimmung ist..., alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu
vereinigen... Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten,
wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu
dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen
Gesang... Sie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig,
nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem
sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile
ähnlich organisiert...“ Aber noch viel früher drängt Fr. Schlegel auf
das Einheitliche, Ganze im Kunstwerk. Schon Mitte Mai 1793 schreibt
er an seinen Bruder (S. 86): „Es gibt nur zwei Gesetze für die
Dichtkunst. Eines derselben ist -- das Mannichfaltige muß zu innerer
Einheit notwendig verknüpft sein. Zu Einem muß alles hinwirken, und
aus diesem Einen jedes andern Dasein, Stelle und Bedeutung notwendig
folgen.“ Er nennt „das, wo alle Teile sich vereinigen, was das Ganze
belebt und zusammenhält“, das „Herz des Gedichtes“ und sucht es in
„Hamlet“, „Götz“, „Romeo“. „Ohne Natureinheit und Vernunfteinheit...
ist die höchste Schönheit der Anordnung unmöglich... Zu ihr gehört
die Verteilung in kleinere Ganze... Die Teile müssen in das größere
Ganze sanft verschweben, wie Wellen des Stromes.“ Die trocken
verstandesmäßigen, rein schematischen ästhetischen Kategorien Einheit
und Mannigfaltigkeit gewinnen unter Fr. Schlegels Hand neues Leben.
Divinatorisch schreitet er in der Richtung weiter, die Herder, Lenz,
Goethe in der Sturm- und Drangzeit eingeschlagen haben und in der
auch K. Ph. Moritz’ Spekulation sich bewegt. Auf ästhetischem Gebiete
steigert sich seine Erkenntnis und seine Verwertung der organischen
Ganzheit rasch und dauernd, bis er nicht nur das einzelne Kunstwerk,
sondern die ganze Kunst wie eine organische Einheit betrachtet. Stolz
sagt er 1804 in der Vorrede zum ersten Bande von „Lessings Gedanken und
Meinungen“ (S. 34): „Die Konstruktion und Erkenntnis des Ganzen [der
Kunst und Dichtkunst]... ist von uns als die eine und wesentlichste
Grundbedingung einer Kritik, welche ihre hohe Bestimmung wirklich
erfüllen soll, aufgestellt worden.“ Lessing wird dabei als Vorläufer
solchen Strebens in Anspruch genommen. Daß eine organische Konstruktion
des Ganzen der Kunst für Fr. Schlegel zugleich auch eine historische
Konstruktion bedeutete, ist selbstverständlich.

Der Wunsch, das Kunstwerk als organisches Ganze zu fassen, entspringt
abermals dem metaphysischen Bedürfnisse Fr. Schlegels. Ganz wie
Schopenhauer es umschreibt, möchte Fr. Schlegel das Kunstwerk in seinem
innersten Zusammenhange überschauen und der Einheit sich bewußt werden,
die darin zur wechselnden Erscheinung kommt. Vom einzelnen Kunstwerk
schreitet er alsbald folgerichtig zum Ganzen der Kunst weiter.

Hat indessen Fr. Schlegel vielleicht von Schelling gelernt, die
ganze Welt, das Universum, als Organismus zu fassen? In den „Ideen“
und im „Gespräch über die Poesie“, wo diese Anschauung immer wieder
auftaucht, zeigt sie sich sofort in der Form des ästhetischen
Idealismus Schellings: „Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne
Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich
selbst bildenden Kunstwerk“, sagt Lothario im „Gespräch“ (2, 364).
Und gleich im Eingang des „Gespräches“ (S. 339) erscheint die Erde
als das „eine Gedicht der Gottheit, dessen Teil und Blüte auch wir
sind“. Das Universum ein Kunstwerk! Schlegel ist zu dieser Überzeugung
doch wohl sicher in dem Augenblick gelangt, da Schleiermacher ihm das
Universum wieder nahegerückt hatte. Galt es doch auch diesmal nur
die alten, jetzt freilich mit neuem Lebensinhalt erfüllten Begriffe
in Friedrich wachzurufen; denn von Anfang an war er gewöhnt, seine
Anschauung von organischer Einheit über die Grenzen des Ästhetischen
hinaus auf die Erfassung der ganzen Welt anzuwenden. Der Brief an
Wilhelm vom 28. August 1793, der für die Begriffe System und Ideal
eine Lanze bricht, stellt die Gleichungen auf, die dann ebenso in den
„Ideen“ und im „Gespräch“ wie in Schellings ästhetischem Idealismus
wiederkehren: „Was wir in Werken, Handlungen und Kunstwerken Seele
heißen (im Gedichte nenne ich’s gern Herz), im Menschen Geist und
sittliche Würde, in der Schöpfung Gott, -- lebendigster Zusammenhang
-- das ist in Begriffen System. Es gibt nur +ein+ wirkliches System
-- die große Verborgene, die ewige Natur oder die Wahrheit. -- Aber
denke Dir alle menschlichen Gedanken als ein Ganzes, so leuchtet ein,
daß die Wahrheit, die vollendete Einheit das notwendige, obschon
nie erreichbare Ziel alles Denken ist!“ Ohne daß der Ausdruck selbst
erschienen, ist Schellings Universum als Totalität der Erscheinungen
hier vorweggenommen; und diesem Universum werden die Prädikate
zuerteilt, die Fr. Schlegel für das Kunstwerk gewonnen hat.

Ob und wieweit Schelling für die zweite und dritte Phase seiner
romantischen Periode etwas von Fr. Schlegel gelernt hat, wird wohl nie
ganz einwandfrei festzustellen sein, denn beide fußen auf der Ästhetik
und Naturerkenntnis Goethes und Herders. Nur scheint Fr. Schlegel
früher als Schelling die Verwandtschaft von Goethes künstlerischen und
naturwissenschaftlichen Denkformen erkannt zu haben; Schelling wurde
von Goethe selbst in diese Zusammenhänge eingeführt, aber nur nachdem
Fr. Schlegel längst die ganze Bedeutung des Organismusbegriffes nach
der Seite der Ästhetik wie nach der Seite der Naturerkenntnis erfaßt
hatte.

Und so darf denn auch die Lehre vom „Mittelpunkt“, die in der
organischen Weltanschauung Fr. Schlegels eine so große Rolle spielt,
unmittelbar auf ihre ersten Quellen, auf Goethe und auf Moritz (vgl.
Jubiläumsausgabe 36, S. XLIII), zurückgeleitet werden. Marie Joachimi
möchte (S. 33 ff.) diese Lehre vom Mittelpunkte, die „Zentrumslehre“,
zum eigentlichen Glaubensbekenntnis Fr. Schlegels machen. Auf ihre
Ausführungen sei hier verwiesen.

Wie Schleiermacher so erscheint also heute auch Fr. Schlegel
und mit ihm Novalis weniger abhängig von Schelling, als bis
vor kurzem angenommen worden war. Marie Joachimi behauptet
(S. 18) in Übereinstimmung mit Dilthey, daß Schlegel von der
Transzendentalphilosophie nichts gelernt habe und hält umgekehrt
Schlegel für den Anreger Schellings überall da, wo Schelling in
romantisch-ästhetischer Richtung über Fichte hinausgeht. Spenlé (S.
238 ff.) erweitert die Kluft, die nach den äußeren Zeugnissen zwischen
Hardenberg und Schelling bestand. Kircher, der schon 1903 (Euphorion
10, 313 ff.) das Unromantische in Schellings Denken angedeutet hatte,
meint in seinem Buche (S. 196, 214, 219, 224, 237) die auffallende
Erscheinung feststellen zu müssen, daß ein System von verwegenster
Intellektualität, das die ganze Fülle des Naturlebens in sich hell und
licht zu machen sucht, zu einer „romantischen Philosophie“ gestempelt
worden ist. Unleugbar bleibt nur die Übereinstimmung der eigentlichen
Romantiker mit Schelling auf dem Felde der Naturphilosophie; aber
auch da fallen heute die Abweichungen fast stärker auf als die
Gemeinsamkeiten. Olshausen (S. 13, 17) beobachtet, daß Novalis die
Sphäre Schellings eng erscheinen mußte neben der Universalität von
Fr. Schlegels Geist; ferner sei Novalis, als Schellings „Weltseele“
erschien, so weit in eigener Richtung fortgeschritten gewesen, daß die
Schrift, der Novalis an sich nahestand, keine tiefgehende Wirkung auf
ihn weiter tun konnte. H. Simon (S. IX f.) erinnert an Hardenbergs
Wort, daß trotz „echter Universaltendenz“ bei Schelling „ein
beschränkter Begriff der Natur“ vorausgesetzt sei. „Der theoretische
Naturmonismus Schellings“, sagt Simon, „war ganz gegen Novalis’
Überzeugung von der beginnenden Mannigfaltigkeit der Natur, die erst
allmählich „moralisch“ und Eins werden sollte. Für ihn ist die Natur
als Objekt... gar nicht als +eine+ Natur hinzustellen.“ Wollte Novalis
doch an Stelle von Schellings „Urduplizität“ (also seiner Polarität)
einen „Urinfinitismus“ der Natur annehmen. Auf der anderen Seite fanden
wiederum Novalis und Fr. Schlegel keine Anerkennung. Steffens spottete
(an Schelling; bei Plitt 1, 277) über den „Schlegelianismus der
Naturwissenschaften“, über die Sucht, die Natur gleichsam auf witzigen
Einfällen zu ertappen, Schelling selber aber erklärte 1802 angesichts
der ersten Sammlung von Novalis’ Schriften (Plitt 1, 431 f.), er könne
diese Frivolität gegen die Gegenstände nicht gut vertragen, an allen
herumzuriechen, ohne +einen+ zu durchdringen.


~b~) Die Naturphilosophie Schellings.

Die Naturphilosophie, sowohl die Schellings wie die Schlegels und
Hardenbergs zu würdigen, muß ein Blick auf die Entwickelung der
Naturwissenschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geworfen
werden. Novalis und Fr. Schlegel, aber auch Schelling wären minder kühn
in ihren naturphilosophischen Konstruktionen gewesen, hätten sie nicht
überraschend neuen, die ganze Anschauung der Naturvorgänge umstürzenden
Entdeckungen gegenübergestanden. In Perioden, da fast jeder Tag neue
Erkenntnisse auf naturwissenschaftlichem Gebiete zeitigt, beginnt die
wissenschaftliche Phantasie mit fieberhafter Schnelligkeit zu arbeiten.
Magie und Mystik stellen sich ein und überholen ungeduldig die
Ergebnisse der zwar rasch, aber für die Rastlosigkeit und den Übereifer
wissenschaftlicher Enthusiasten doch noch zu langsam fortschreitenden
Forschung.

Innerhalb der Physik hatte die Lehre von der Schwerkraft Kant 1755
und -- in abschließender Weise -- Laplace 1798 zu ihrer Hypothese von
der Entstehung des Sonnensystems geführt. Chladni versinnlichte 1787
die Schwingungszustände von Platten und Scheiben in den bekannten
Klangfiguren. 1789 führten Galvanis Froschexperimente zur Feststellung
einer tierischen Elektrizität; andere elektrische Erscheinungen
glaubte man an der Voltaschen Säule zu entdecken, bis Volta die
Identität beider Formen der Elektrizität nachwies. Die Chemie erfuhr
1774 durch Lavoisier eine gründliche Umgestaltung. Bis dahin hatte
die Theorie gegolten, daß Verbrennung die Wirkung eines besonderen
Prinzipes, des Phlogiston, sei. Man nahm an, daß bei der Verbrennung
das Phlogiston in die Luft entweiche und daß die zurückbleibende Asche
den eigentlichen Stoff des Körpers, ohne das Phlogiston, darstelle.
Lavoisier wies nach, daß die Asche nicht immer leichter sei als der
Körper vor der Verbrennung. Er erkannte auch, daß der verbrannte Stoff
um so viel schwerer ist, als die umgebende Luft leichter wird. Der
Luftbestandteil, der beim Verbrennungsprozeß hinzutritt, wurde in dem
von Priestley gleichzeitig entdeckten Sauerstoff festgestellt.

Um 1790 aber wurde noch eine andere Bewegung auf dem Felde der
Naturwissenschaften wichtig, die etwa ein Menschenalter vorher
eingesetzt hatte: die Verdrängung der mechanischen Naturanschauung
durch eine organische. Der große Berner Haller ging bahnbrechend voran;
auf medizinischem Felde hat er zuerst seine Wirkung ausgeübt. Er hatte
in der Irritabilität der Muskeln und in der Sensibilität der Nerven
zwei Erscheinungen entdeckt, die tief in das Wesen der organischen Welt
einführten. Drei Schulen erwuchsen aus seiner Entdeckung: die eine sah
in der Irritabilität eine Folge der Sensibilität, die andere, von dem
schottischen Arzt Brown geleitet, erblickte in der Irritabilität das
oberste Prinzip, die dritte suchte beide Gegensätze in einem höheren
Begriffe zu verschmelzen. Die erste führte alle Lebenserscheinungen auf
den Einfluß der Nerven zurück, die zweite wollte in der Muskelerregung
die Quelle finden, die dritte vertrat die vitalistische Theorie, indem
sie so Reizbarkeit wie Erregbarkeit zum Ausdruck einer allgemeinen
Lebenskraft erhob.

Die Brownsche Lehre schied zwei Krankheitstypen: zu starke und zu
schwache Erregbarkeit des Muskelsystems, Asthenie und Sthenie.
Die Unterscheidung gab der Naturphilosophie reiches Material zu
Untersuchung und Hypothese.

Der Vitalismus, vielfachster Deutung fähig, führte einerseits zu
Hahnemanns Homöopathie, anderseits entstammt ihm der Mesmerismus. Mit
bestem Gewissen und nach seinem besten Wissen hat Mesmer (1733-1815)
die auf falscher Deutung richtiger Beobachtungen ruhende Lehre vom
animalischen Magnetismus ausgebildet. Die Romantik ist bis zu Justinus
Kerner gern in seine Schule gegangen. Ein Irrtum Mesmers und seiner
Anhänger war es, bei Vorgängen, die lediglich auf Suggestion und
Hypnose ruhten, an Magnetismus zu denken. Doch eben die Fülle neuer
magnetischer, elektrischer, galvanischer Entdeckungen, die noch lange
nicht zu übersichtlicher Ordnung gediehen war, öffnete willkürlicher
Kombination und falscher Hypothese Tür und Tor. Waren dieselben
Erscheinungen doch auch der Anlaß, die dynamisch-organische Erklärung
der Naturvorgänge neben der mechanischen immer mächtiger hervortreten
zu lassen. In den organischen Disziplinen vor allem bemächtigte sich
die vitalistisch-organische Auffassung mehr und mehr der Herrschaft.

Goethe neigte von Anfang an zu dieser Auffassung. Er war gewohnt,
sich selbst der Natur einzuordnen. Und, obwohl nach Kräften
bemüht, innerhalb des Anschaulichen zu bleiben und die Grenzen der
Sinneserkenntnis zu wahren, suchte er die Typen herauszufinden, aus
denen Pflanzliches und Animalisches erwachsen sei. Entwickelungsreihen
aufzustellen, lag ihm fern, ebenso nach den Ursachen und Wirkungen
dieser Entwickelungsreihen zu forschen. Neben Goethes physiologische
Betrachtung trat in Fichtes Schriften eine psychologische
Naturphilosophie. Denn Fichtes triadisches Schema ist ebenso eine
primitive Form evolutionistischen Denkens wie Goethes Typentheorie und
dient in letzter Linie zur Erklärung des Werdens seelischer Prozesse.

Schelling endlich geht von physiologischer und psychologischer
Betrachtung weiter zum Aufbau einer Entwickelung und behandelt zu
diesem Zwecke die anorganische Natur ohne Zögern rein dynamisch.
Schritt für Schritt läßt er die anorganische Natur der organischen sich
nähern. Mit der zentrifugalen Kraft der Repulsion und der zentripetalen
der Attraktion setzt er ein. Aus ihrem Intensitätsverhältnisse leitet
er Schwere, Kohäsion und Elastizität, ja auch einen Teil der chemischen
Eigenschaften ab. Der ponderablen Materie tritt die imponderable (der
Äther) gegenüber; aus der Synthesis beider und aus ihrer gegenseitigen
Hemmung erwachsen Licht und Wärme. Die nächste Stufe (auf ihr tritt das
Grundgesetz der Dualität und Polarität zum erstenmal deutlich hervor)
bilden die elektrischen Erscheinungen, deren tieferen Grund Schelling
im Magnetismus sucht. Höchste Form der Polarität ist die chemische
Wirkung des elektrischen Prozesses. Den Übergang zur organischen Welt
bildet endlich der Galvanismus.

Innerhalb der organischen Welt lösen sich die drei Stufen der
Reproduktionsfähigkeit, Reizbarkeit, Sensibilität ab. Je höher die
Entwickelung steigt, desto geringer wird die Reproduktionsfähigkeit,
desto stärker die Sensibilität.

In dieser Stufenleiter vollzieht sich bei Schelling der Übergang vom
Unbewußtesten zum Bewußtesten, die allmähliche Durchgeistigung der
Natur. Wenn Schellings System mehr als ein augenblicklicher Einfall
sein wollte, mußte ein solcher Versuch, die Umbildung aus den niederen
in die höheren Formen zu konstruieren, gewagt werden. An die großartige
Konzeption der Naturphilosophie Schellings reicht diese Deduktion der
einzelnen Stufen ganz gewiß nicht heran. Wie wenig sie Schelling selbst
befriedigte, erhellt aus der Tatsache, daß er die Reihenfolge und die
Übergänge seiner Kategorien der Natur mehrfach verschob.

Schelling wollte ausdrücklich in der angeführten Stufenfolge eine
„Entwickelung“ zeichnen. Er hat sich aber nicht ausgesprochen, ob
dieser Übergang des Unvollkommenen in das Vollkommenere auch eine
historische Tatsache und ein zeitlicher Prozeß sei. Nicht um eine
Deszendenztheorie war es ihm zu tun, nicht eine kausale Erklärung
ist seine Absicht. Die Bedeutung, die dem einzelnen innerhalb des
Ganzen zukommt, möchte er ergründen. Teleologische Betrachtung war
für Kant nur als Mittel zum Zwecke der Auffindung des kausalen
Mechanismus zulässig gewesen; hier wird sie zu einem metaphysischen
Erklärungsprinzip.

Wie nahe Schelling den Konstruktionen der „Ideen“ Herders dabei kam,
dessen war er sich selber vollkommen bewußt. Wenn er auch durch
Kielmeyer sich besonders angeregt fühlte, so führte er doch selber auch
Kielmeyers Gedanken auf Herdersche Impulse zurück (s. oben S. 14).
Daß er auch Goethe aufs tiefste verpflichtet war, ist ihm wohl nur
allmählich im Verkehr mit Goethe klarer und klarer geworden. Durchaus
fremd war Herder und Goethe nur die Fichtesche Betrachtungsweise; nicht
nur der triadische Rhythmus, auch die transzendental-idealistische
Anschauung, die in der Phase der Naturphilosophie Schellings noch
führt und herrscht, die Überzeugung, daß das Ich das Nicht-Ich setze,
daß ohne das Ich von Natur keine Rede sein könne (vgl. E. A. Boucke,
Goethes Weltanschauung S. 187 f.).

Goethe hat trotzdem -- wie er Schelling am 27. September 1800 bekannte
-- sich entschieden zu Schellings Lehre hingezogen gefühlt, in der
er sein eigenes Gedankengut nicht übersehen konnte. „Ich wünsche
eine völlige Vereinigung“, setzte er damals hinzu. In dem Gedicht
„Weltseele“ hat Goethe dann dithyrambisch von der Durchgeistigung
der anorganischen Natur und von dem Aufstieg durch die Natur zur
Geisteswelt gesungen:

    Ihr greifet rasch nach ungeformten Erden
    Und wirket schöpf’risch jung,
    Daß sie belebt und stets belebter werden
    Im abgemeßnen Schwung.

    Und kreisend führt ihr in bewegten Lüften
    Den wandelbaren Flor
    Und schreibt dem Stein in allen seinen Grüften
    Die festen Formen vor.

    Nun alles sich mit göttlichem Erkühnen
    Zu übertreffen strebt;
    Das Wasser will, das unfruchtbare, grünen,
    Und jedes Stäubchen lebt.

    Und so verdrängt mit liebevollem Streiten
    Der feuchten Qualme Nacht!
    Nun glühen schon des Paradieses Weiten
    In überbunter Pracht.

    Wie regt sich bald, ein holdes Licht zu schauen,
    Gestaltenreiche Schar,
    Und ihr erstaunt, auf den beglückten Auen,
    Nun als das erste Paar.

Die „Deduktion des dynamischen Prozesses“, die Goethe in dem zitierten
Briefe an Schelling sich immer mehr aneignen zu können hoffte, ist hier
ins Dichterisch-Visionäre umgesetzt. Leicht erkennt man in Goethes
Strophen einzelne Phasen der Schellingschen Konstruktion; Goethe führt
sie bis zu der Stufe der Menschheit.

Am 20. Mai 1826 schrieb Goethe an Zelter über dieses Gedicht, es
stamme aus einer Zeit, „wo ein reicher jugendlicher Mut sich noch mit
dem Universum identifizierte, es auszufüllen, ja es in seinen Teilen
wieder hervorzubringen glaubte“. Und er kann ein Vierteljahrhundert
nach der Niederschrift des Gedichtes immer noch der Naturphilosophie
Schellings zubilligen: „Jener kühne Drang hat uns denn doch eine reine,
dauernde Einwirkung aufs Leben nachgelassen; und wie weit wir auch im
philosophischen Erkennen, dichterischen Behandeln vorgedrungen sein
mögen, so war es doch in der Zeit von Bedeutung und, wie ich tagtäglich
sehen kann, anregend und anleitend für manchen.“

Im einzelnen hat der Naturhistoriker Goethe die Schellingschen
„Kategorien der Natur“ nicht verwertet. Er blieb bei der Freude an
der Gesamtanschauung der Naturentwickelung stehen. Kopfschüttelnd
aber betrachten Söhne einer späteren Zeit die kühnen Kombinationen
Schellings, die ja sicher manche wissenschaftliche Entdeckung angeregt
haben, im wesentlichen doch ein ungreifbarer Schemen geblieben sind.
Man muß dieser Tatsache sich bewußt bleiben, will man Hardenbergs
noch kühnere Verknüpfungen nicht von vornherein zu undiskutierbaren
Paradoxen stempeln.


~c~) Der Schlegelianismus der Naturwissenschaften.

Etwas Beunruhigendes mußten ja die naturphilosophischen Kombinationen
Hardenbergs sogar für Schelling haben; und in den Fragmenten, die
1802 aus Hardenbergs Nachlasse in die Welt traten, war manches, was
der Augenblick geboren hatte, was der Augenblick aber auch wieder
vernichten sollte, für alle Zeiten als Denkresultat Hardenbergs
festgenagelt. Schelling war in mühsamer und mehrfach schwankender
Verwertung der neuesten Resultate der „Physik“ zu einem Aufbau
der Natur gelangt, in dem sie von Stufe zu Stufe ein allmähliches
Bewußterwerden zeigte. Menschliches war damit in die Natur
hineingetragen. Novalis und Fr. Schlegel gehen weiter: sie übertragen
nicht nur geistige Qualitäten auf die Natur, sie erblicken auch
Naturprozesse chemischer und elektrischer Art in geistigen Vorgängen;
sie suchen Menschliches zu deuten, indem sie es ins Naturleben
zurückversetzen. Novalis spricht nicht nur von der Toleranz und dem
Kosmopolitismus der Blumen, wirft nicht nur die Frage auf, ob die
Seelen der Pflanzenindividuen nicht vielleicht die ätherischen Öle
seien; er nennt auch Denken eine Muskelbewegung, Witz ist ihm geistige
Elektrizität, Denklehre entspricht der Meteorologie, er fragt: „Sollte
Denken oxydieren, Empfinden desoxydieren?“ (2, 215). Und wie er mit
Vorliebe das Verhältnis der Geschlechter auf die Natur überträgt, so
stellt er umgekehrt die These auf: „Das Weib ist unser Oxygen“ (2,
217). Es sind kühnste Kombinationen des philosophischen Witzes (s.
oben S. 34 f.), Versuche durch bloße Kombination ganz neue Wege der
Wissenschaft zu finden.

Weit eher als Schelling wurden für solche kühne Kombinationen Franz
Baader und Joh. Wilh. Ritter Stützen und Helfer Hardenbergs. Ihnen
beiden zollt er auch volle Anerkennung -- eine Anerkennung, mit der
Ritter gegenüber selbst die Wissenschaft von heute nicht kargt. Von
Baader heißt es in Hardenbergs Briefe an Fr. Schlegel vom 7. November
1798: „Seine Zauber binden wieder, Was des Blödsinns Schwert geteilt“;
augenscheinlich denkt Novalis auch hier an Vereinheitlichung der
Geisteswelt und der Natur. Von Ritter sagt Novalis’ Brief an Caroline
Schlegel vom 20. Januar 1799: „Ritter ist Ritter und wir sind nur
Knappen. Selbst Baader ist nur sein Dichter.“ Strengwissenschaftlich um
die Ergründung und Prüfung des neuentdeckten Phänomens des Galvanismus
bemüht, veröffentlichte Ritter 1798 den „Beweis, daß ein beständiger
Galvanismus den Lebensprozeß in dem Tierreich begleite“. Auch hier
war wieder der Nachweis versucht, daß die Natur das vollkommenste
organische System sei: „Wo ist eine Sonne, wo ist ein Atom, die nicht
Teil wäre, der nicht gehörte zu diesem organischen All, lebend in
keiner Zeit, jede Zeit fassend in sich?“ Novalis schritt von diesem
neuen Beweise der Alleinheitlichkeit der Natur sofort kühn zur
Aufstellung eines „Galvanismus des Geistes“.

Ritter sagt in seinen „Fragmenten aus dem Nachlaß eines jungen
Physikers“ (1810, 1, XVIII), wenn er von seiner ersten Berührung mit
Novalis zu sprechen hat: „Novalis und unser Freund verstanden sich den
Augenblick: fürs erste lag auch nicht die geringste Merkwürdigkeit
in ihrem Zusammenkommen; letzterem war schlechterdings nur eben,
als wenn er einmal laut mit sich selber sprechen könnte.“ Die
enge Geistesgemeinschaft beider Freunde wirft etwas Licht auf den
geheimnisvollen Begriff des „Galvanismus des Geistes“. Fr. Schlegel,
der allein den Terminus uns überliefert hat, scheint, wenn er zum
erstenmal des Begriffes in einem Briefe an Schleiermacher gedenkt,
selber über den Inhalt des Begriffes wenig im klaren zu sein (Aus
Schleiermachers Leben 3, 77); und eine zweite Erwähnung in einem
folgenden Briefe (ebd. S. 81) hilft auch nicht weiter: „Bei dem
Galvanism des Geistes kommt es natürlich nur darauf an, zu finden,
was Nerv und Muskel im Gemüt ist.“ Die dunkle Wendung deutet auf
die oben (S. 49) entwickelten Hallerschen Begriffe der Sensibilität
der Nerven und der Irritabilität der Muskeln, mit denen Novalis ja
ebenso wie Schellings Naturphilosophie arbeitet. Nicht viel weiter
helfen Fragmente Hardenbergs, wie: „Unser Denken ist schlechterdings
nur eine Galvanisation, eine Berührung des irdischen Geistes, der
geistigen Atmosphäre, durch einen himmlischen, außerirdischen
Geist“; oder: „Seele und Körper wirken galvanisch aufeinander,
wenigstens auf eine analoge Art, deren Gesetze aber in einer höhern
Region liegen“; oder: „Der Geist galvanisiert die Seele mittelst
der gröbern Sinne; seine Selbsttätigkeit ist Galvanism...“ (2,
214). Weiter führt die Vermutung Spenlés (S. 205, 210), daß Novalis
durch Ritter auf Mesmers „Magnetismus“ geleitet worden sei. Ritter
ist ja unter den naturphilosophischen Genossen den geheimnisvollen
Zusammenhängen zwischen Natur und Menschenseele, die jene Zeit in den
Erscheinungen des hypnotischen Schlafes zu finden glaubte, zuerst und
am energischsten nachgegangen und hat von ihnen Offenbarungen über
die Geheimnisse der anorganischen und der organischen Welt erwartet
(vgl. Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers 2, 81).
Spiritistisch gesprochen im Zustande des Trance, medizinisch gefaßt im
autohypnotischen Schlafe dachte Ritter und mit ihm Novalis („Lehrlinge
zu Sais“ 4, 26 f.) einen Zustand der „Unwillkür“ gefunden zu haben, in
dem die Seele das Absolute am reinsten anschaut. Das Bewußtsein des
Menschen in diesem Zustand der „Unwillkür“, fichtisch genommen: die
„intellektuelle Anschauung“ des Menschen, der im hypnotischen Schlafe
sich befindet, wurde so zum Schlüssel der Erkenntnis. Hier begegnet
sich die Linie, die von Fichte aus gezogen wird, mit der Linie, die
von der Mystik der Vitalisten, von Mesmer, ausgeht. Die wunderbaren
Wirkungen, die von Novalis’ „magischem Idealismus“ erwartet wurden,
die Steigerung der Fichteschen „intellektuellen Anschauung“ zu einer
magischen Kraft der Selbstbezauberung und der zauberhaften Lenkung der
Natur (s. oben S. 20 f.), fanden -- so meinten es die romantischen
Magier Novalis und Ritter -- ihre „physikalische“ Begründung, ihre
naturphilosophische Voraussetzung im tierischen Magnetismus, in dem
hypnotischen Schlafe oder -- wie sie es selbst nannten -- in der
willkürlosen ~clairvoyance~ der Somnambulen (vgl. Ritter a. a. O.
S. 83, 85).

Nun begreift man, warum Novalis auf „Ekstase“ solchen Wert legt. Nun
wird der Sinn seiner Gleichung klar: „Ekstase − Inneres Lichtphänomen
= intellektualer Anschauung“ (3, 186). Ausdrücklich ergänzt er ein
andermal Fichtes Denken durch den Begriff der Ekstase und sagt: „Ohne
Ekstase -- fesselndes, alles ersetzendes Bewußtsein -- ist es mit der
ganzen Philosophie nicht weit her“ (3, 219). In der Ekstase gewinnt
für Novalis die „intellektuelle Anschauung“ Fichtes einen erhöhten
Erkenntniswert. Der ekstatische Seher schaut Dinge, die jedem anderen
verborgen bleiben.

Die Betonung der Ekstase aber führte Novalis notwendig zu der Quelle
aller Mystik, zum Neuplatonismus. Das ganze Streben der Romantiker
weist auf ein übervernünftiges Erfassen der göttlichen Wahrheit, das
dem einzelnen Menschen in unmittelbarer Berührung mit der Gottheit
selbst zuteil wird -- eine Anschauung, die vom Neuplatonismus zuerst
aufgestellt worden ist. Schon Philon fordert, daß zu solchem Zwecke
die Seele sich nur leidend und empfangend verhalten dürfe, sich aller
Selbsttätigkeit zu enthalten habe. Bei solcher ἔκστασις wohnt nach
Philon der göttliche Geist im Menschen. Hinter diesem Zustand liegt
nach +Plotin+ alles Denken; die Ekstase ist Gottesgewißheit, selige
Ruhe in ihm.

Wenn darum Novalis einmal (Raich S. 102) die Namen nennt, an die
er selber die besten Verdienste um die Naturphilosophie knüpft, so
erscheint zuerst Fichte und Hemsterhuis, dann Spinoza. Nun aber heißt
es: „Plotin betrat, vielleicht durch Plato erregt, zuerst mit echtem
Geiste das Heiligtum und noch ist nach ihm keiner wieder so weit in
demselben vorgedrungen.“ Leibnizens Theodicee ist für Novalis nur „ein
herrlicher Versuch in diesem Felde“. Goethe aber „soll der Liturg
dieser Physik werden“.

Nirgends freilich fand Novalis sein eigenes Streben so ahnungsvoll
vorweggenommen wieder wie bei dem ~philosophus teutonicus~, bei +Jakob
Böhme+, und in dessen mystischer Hingabe an die Gottheit. Er hat ihn
nur zu Anfang des Jahres 1800 kennen gelernt, also viel zu spät, als
daß er noch Neues von ihm hätte lernen können. Entdeckt wurde Böhme
für die Romantik durch Tieck, und Tieck hat auch Novalis in Böhmes
Lehren eingeführt. Darum kann Hardenbergs Gedicht „An Tieck“ (1, 224
ff.) den Angesprochenen durch Böhme zum „Verkündiger der Morgenröte“
weihen lassen. Tieck selber aber hat in den Roman „Der Aufruhr in
den Cevennen“ (1826) sein eigenes Erlebnis verwoben und erzählt, wie
aus der Aufklärung heraus der Eintritt in Böhmes Welt wirkt. Fr.
Schlegel hingegen faßte einmal scharf und knapp zusammen, was der
naturphilosophische Kreis in dem Görlitzer Schuster fand (Philos.
Vorlesungen, herausgegeben von Windischmann 1, 428 f.): er erkennt
Böhme zu, daß er in der Anwendung des Idealismus auf die Natur und
in der tiefen Beziehung des menschlichen Gemüts auf sie ahnend die
Erkenntnisse neuester Entwickelung vorweggenommen habe. Natürlich denkt
Fr. Schlegel an die Übertragung der geistigen Qualitäten des Menschen
auf die Natur. „Aber noch viel merkwürdiger und charakteristischer“,
setzt Fr. Schlegel hinzu, „ist die Annäherung seiner Philosophie zur
Poesie... Böhme schloß sich durchgängig ganz an die poetische Ansicht
an; keine andere Philosophie kommt ihm darin gleich; keine ist so reich
an Allegorie und sinnbildlicher Bedeutung. Plato war nicht einmal
imstande, die griechischen Gottheiten und die Mythologie so edel und
tiefsinnig anzusehen, als wir jetzt; noch viel weniger sie so tief zu
deuten, wie J. Böhme das Sinnbildliche des Christentums gedeutet hat.“
Fr. Schlegel behauptet darum, Böhme sei ein „vollkommenerer Idealist“,
ein „größerer Deuter“ als Plato; mehr als alle anderen Dichter und
Autoren enthalte er die schönsten und bedeutendsten Allegorien.

Wirklich deutet Böhme chemische Begriffe psychologisch und
theosophisch, mit einer Kühnheit, die den Fragmenten Hardenbergs nichts
nachgibt. Seine Lehre geht von der Behauptung aus, daß Gutes und
Böses von der Gottheit stamme, Göttliches und Widergöttliches in Gott
enthalten sei, Süßes und Herbes, Licht und Finsternis. Das Süße setzt
er dem Quecksilber gleich und dieses wieder wird ihm zum Symbol der
organischen Natur, der Pflanzen, Tiere und Menschen; ebenso entspricht
dem Herben der „Salniter“, das unorganische Reich, das „Finstere“.
Jenes bedeutet in seinen Augen das Himmelreich, dieses die Hölle.
Mittelglied aber sei das lebendige Feuer, der „Sulphur“, sowohl als
zerstörendes Zornfeuer wie als wohltätiges Liebesfeuer. Zum Teil liegen
hier Symbole vor, die der Romantik bald geläufig geworden sind. Das
„Feuer“ im „Zentrum“ ist schon früh für Fr. Schlegel eine Form seiner
Lieblingsvorstellung vom „Mittelpunkt“. „Im Centro liegt das ew’ge
Feu’r verhüllet, Dem großen Vater ringt es stets entgegen Mit süßen
sehnsuchtsvollen Pulsesschlägen, Daß Blum’ und Baum zum blauen Äther
quillet“; so lautet es in Tiecks Sonett „An Friedrich Schlegel“, einer
Dichtung, die „wirklich Fr. Schlegels Innerstes erkannt“ hat (vgl.
Joachimi S. 48).

Fr. Schlegels Bemerkungen über Böhme weisen aber auch auf die
eigentliche Verwertung hin, die der „Schlegelianismus in den
Naturwissenschaften“ suchte und fand. Mag auch viel Willkür und
Phantastik in Novalis’ Analogien liegen, schließlich mündete all das
in das Reich der Poesie; der Poet Novalis durfte für sich das Recht
in Anspruch nehmen, eine dichterische „Physik“ als „Lehre von der
Phantasie“ auszugestalten und in dem phantasiereichsten Dichter den
eigentlichen physischen Magus zu entdecken. Der Poet -- so meint es
Novalis -- versteht die Natur besser als der wissenschaftliche Kopf.
War diese Behauptung zu kühn, wenn man in Goethe den „Liturgen“ der
neuen Physik erblickte?

Philosophie sollte in Poesie übergehen, sie sollte nicht bloß der
Erkenntnis dienen. Die Naturphilosophie aber erhielt die besondere
Aufgabe, eine +neue Mythologie+ zu schaffen.

Der Mangel einer Mythologie war von Klopstock und von Herder (s.
oben S. 15), aber auch von Schiller in den „Göttern Griechenlands“
zur Ursache der Trockenheit moderner Poesie gemacht worden. Wie
Mythologie zu neuem Leben erwachen könnte, weiß Fr. Schlegels „Rede
über die Mythologie“ im „Gespräch über die Poesie“ anzugeben. Aus der
tiefsten Tiefe des Geistes muß sie herausgebildet werden. „Es muß das
künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen,
ein neues Bette und Gefäß für den alten, ewigen Urquell der Poesie und
selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte
verhüllt“ (2, 358). Im Sinne Spinozas und der „jetzigen Physik“ soll
die alte Mythologie geschaut und dadurch neu belebt werden. Dazu
sollen auch die anderen Mythologien wieder erwachen, vor allem die des
Orients. „Welche neue Quelle von Poesie könnte uns aus Indien fließen,
wenn einige deutsche Künstler mit der Universalität und der Tiefe
des Sinns, mit dem Genie der Übersetzung, das ihnen eigen ist, die
Gelegenheit besäßen... Im Orient müssen wir das höchste Romantische
suchen“ (2, 362). Das Mittel aber, all diese Schätze neu zu beleben,
bleibt das „Studium der Physik“, „aus deren dynamischen Paradoxien
jetzt die heiligsten Offenbarungen der Natur von allen Seiten
ausbrechen“ (2, 363).

Wiederum hat Schelling gleichzeitig (im „System des transzendentalen
Idealismus“) die Mythologie das Mittelglied der Rückkehr der
Wissenschaft zur Poesie genannt. Wiederum kann nicht festgestellt
werden, ob Fr. Schlegel durch Schelling auf den Gedanken gekommen ist
oder nicht. Sicher hat Schelling ihn schon früher in sich getragen,
sicher aber auch Fr. Schlegel ihn kühner, allseitiger und weiteren
Blickes dargelegt. War doch seine und seines Freundes Novalis’
Naturphilosophie von Anfang an poetischer, phantasievoller gedacht als
die Schellings. Wohl hat Schelling in den Vorlesungen über Philosophie
der Kunst (1802/3) das ganze Thema reicher und zusammenhängender
dargelegt; aber damals stand er völlig auf den Schultern der
romantischen Genossen. Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesungen bemühten
sich dann mehrfach den neuen Begriff der naturphilosophischen
Mythologie zu verdeutlichen (1, 354 ff.; 2, 46 ff.).

In der poetischen Ausmünzung der Naturphilosophie lag vielleicht der
beste Gewinn, den die Poesie aus der romantischen Theorie ziehen
konnte. Mindestens war hier systematisch erfaßt, war von einem
höchsten geistigen Standpunkt aus festgelegt, was Poesie unbewußt
längst geübt hatte, was jetzt aber aus bewußter Kunst in reichster
Fülle der deutschen Dichtung zufallen sollte: die Verlebendigung und
Vermenschlichung der Natur. Nicht mit Unrecht hat man darum die ganze
Naturphilosophie als einen Versuch bezeichnet, die Natur poetisch zu
stilisieren, ihre Erscheinungen und Erzeugnisse in Reihen zu ordnen,
die bloß durch äußere Ähnlichkeit bestimmt wurden und bei denen
der Begriff der Entwickelung ganz aus dem Spiel blieb (vgl. A. E.
Schönbach, „Über Lesen und Bildung“, 7. Auflage, Graz 1905, S. 244).


3. Poesie der Poesie. Romantischer Monismus.

Schleiermachers „Reden“ haben auf die romantischen Genossen überhaupt,
nicht bloß auf Schelling, mächtig gewirkt. Sie erwecken zunächst in Fr.
Schlegel und Novalis die Liebe zum Universum; sie bestärken Novalis
und Tieck in ihren religiösen Neigungen und begegnen in Fr. Schlegel
verwandten Tendenzen; sie drängen Fr. Schlegel auf das Gebiet der Ethik
und werden so eine Voraussetzung der „Lucinde.“

Fr. Schlegels dritte Fragmentensammlung, die „Ideen“ im 1. Heft des
3. Bandes des „Athenaeum“ wird von Schleiermachers Universumlehre
getragen. Hier kommt zum Ausdruck, was man neuerdings (M.
Joachimi-Dege, Deutsche Shakespeareprobleme, 1907, S. 212 f.) den
Monismus der Romantik genannt hat. Weil -- wie später auch Schelling es
vorträgt -- im Endlichen allenthalben das Unendliche sich offenbart,
weil das Universum durch jede seiner Erscheinungen seine Herrlichkeit
erkennen läßt, lernt der Romantiker die Wirklichkeit lieben. Platonisch
hält der Klassizismus Schillers an einer Scheidung der „wirklichen“
und der „wahren“ Welt fest. Wohl kennt auch die Romantik diese
Scheidung, aber für sie ist die Möglichkeit gegeben, die wahre Welt in
der wirklichen zu schauen und sich ihrer zu freuen. Wenn Schiller dem
Dichter die wahre Welt im Gegensatz zur wirklichen zuweist, so ist Fr.
Schlegel überzeugt, daß die Poesie das höchste Wirkliche nicht erreiche
(Minor 2, 327). Ihm ist das Wirkliche eben nicht das Gewöhnliche
und Gemeine, das Schiller im Wirklichen allein erblickt; ihm ist es
durch die greifbare Beziehung auf das Unendliche geadelt. So wird
der Romantiker zum Genußfreudigen und Lebensbejaher. Er beginnt die
endliche Welt zu lieben, weil in ihr die Unendlichkeit sich spiegelt.

Liebe zum Unendlichen, Sehnsucht nach dem Unendlichen war längst Fr.
Schlegel eigen gewesen. Schon in dem Briefe vom 17. Mai 1792 bekennt
er sich seinem Bruder gegenüber dazu. Und schon damals verknüpft er
die Liebe zum Unendlichen mit der Liebe zum Freunde, mit der Liebe zur
Geliebten. Diese mystische Liebesphilosophie wird unter dem Eindrucke
der Reden Schleiermachers weiter ausgebaut. Die Sehnsucht nach dem
Unendlichen kommt innerhalb der endlichen Welt nirgends besser zur
Befriedigung als in der Liebe zum geliebten Weibe. Wiederum gibt
Schleiermacher den romantischen Genossen, Friedrich wie Novalis, nur
was sie selbst längst besaßen, freilich in geklärter und vertiefter
Form. Im Märchen von Hyazinth und Rosenblütchen und im Traum von
der blauen Blume, im „Ofterdingen“ überhaupt, ist nur künstlerisch
dargestellt, was Schleiermacher philosophisch abstrakt formuliert:
vergöttlicht, ins Unendliche erhoben wird das alltäglich Menschliche.
Auch natürlichste Liebe erscheint als göttliche Urkraft. „In seiner
Liebe zur Geliebten, in dieser unerklärlichen und doch allmächtigen
Lebenskraft, die ihn zur Geliebten zieht, erlebt der Romantiker
gewissermaßen nur einen Spezialfall der alles belebenden Gottheit“
(Joachimi S. 76).

Nicht nur der Liebesbegriff wird dank Schleiermacher schärfer gefaßt.
Auch die Poesie gelangt zu einer neuen Definition. Nun kann endlich
gesagt werden, was das Poetische ausmacht und worin die „Poesie der
Poesie“ begründet ist (vgl. oben S. 36 f.).

„Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem
unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk“,
sagt Lothario im „Gespräch über die Poesie“ (2, 364). Ludoviko
erwidert: „Mit andern Worten: alle Schönheit ist Allegorie. Das Höchste
kann man, eben weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen.“ Und
Lothario darauf: „Darum sind die innersten Mysterien aller Künste und
Wissenschaften ein Eigentum der Poesie.“

Da ist Schellings Ansicht von 1801 vorweggenommen, daß kein Werk
eines Künstlers das absolute Kunstwerk, das Universum, erreicht.
Da wird Schleiermachers religiöse Verehrung des Universums für die
Ergründung der Poesie verwertet. Die Poesie der Poesie ruht auf der
Beziehung zum Universum, zum Unendlichen. Darum ist alle Poesie
allegorisch oder, besser und unserem Sprachgebrauch entsprechender:
symbolisch. Sie zeigt im Bilde das Unendliche. So definiert denn auch
W. Schlegel in den Berliner Vorlesungen (1, 90): „Das Schöne ist eine
symbolische Darstellung des Unendlichen“; und zwar mit ausdrücklicher
und absichtlicher Umwandlung von Schellings Definition: Schönheit
ist das Unendliche endlich dargestellt. W. Schlegel kehrt da zu der
Formulierung seines Bruders zurück.

Da nun aber der Glanz des Unendlichen -- nach Schleiermacher -- auf
allem Endlichen ruht, so dehnt sich das Gebiet der Poesie mächtig in
die Weite. „Ist denn alles Poesie?“ kann eine der Teilnehmerinnen des
„Gespräches“ komisch entsetzt fragen (S. 354); und am Eingang des
„Gespräches“ (S. 338 f.) wird die Grenzenlosigkeit des Reiches der
Poesie in mächtigen Akkorden gefeiert: „Unermeßlich und unerschöpflich
ist die Welt der Poesie wie der Reichtum der belebenden Natur an
Gewächsen, Tieren und Bildungen jeglicher Art, Gestalt und Farbe.
Selbst die künstlichen Werke oder natürlichen Erzeugnisse, welche die
Form und den Namen von Gedichten tragen, wird nicht leicht auch der
umfassendste alle umfassen. Und was sind sie gegen die formlose und
bewußtlose Poesie, die sich in der Pflanze regt, im Lichte strahlt,
im Kinde lächelt, in der Blüte der Jugend schimmert, in der liebenden
Brust der Frauen glüht? -- Diese aber ist die erste, ursprüngliche,
ohne die es gewiß keine Poesie der Worte geben würde. Ja wir alle, die
wir Menschen sind, haben immer und ewig keinen andern Gegenstand und
keinen andern Stoff aller Tätigkeit und aller Freude, als das eine
Gedicht der Gottheit, dessen Teil und Blüte auch wir sind -- die Erde.
Die Musik des unendlichen Spielwerkes zu vernehmen, die Schönheit
des Gedichtes zu verstehen, sind wir fähig, weil auch ein Teil des
Dichters, ein Funke seines schaffenden Geistes in uns lebt und tief
unter der Asche der selbstgemachten Unvernunft mit heimlicher Gewalt zu
glühen niemals aufhört.“

Poesie der Poesie aber ist jetzt eine Poesie, die dieses Poetische der
Welt in sich faßt. In erster Linie tut dies die romantische Poesie.
Darum fordert Fr. Schlegel, daß alle Poesie romantisch sei (2, 373).
Und weil diese Poesie mit dem romantischen Sehnsuchtsbegriffe so innig
verschwistert ist, verlangt Fr. Schlegel nunmehr, daß das Romantische
einen sentimentalen Stoff darstelle. Nur dürfe man dabei nicht die
„gewöhnliche übel berüchtigte Bedeutung des Sentimentalen“ meinen,
„wo man fast alles unter dieser Benennung versteht, was auf eine
platte Weise rührend und tränenreich ist und voll von jenen familiären
Edelmutsgefühlen, in deren Bewußtsein Menschen ohne Charakter sich
so unaussprechlich glücklich und groß fühlen“ (2, 370 f.). Das
Sentimentale, das er selbst meint, umschreibt Fr. Schlegel: „Das was
uns anspricht, wo das Gefühl herrscht, und zwar nicht ein sinnliches,
sondern das geistige.“ Und indem er die Definition weiterspinnt, bietet
er die tiefsten und innigsten Gedanken, die er jemals über Poesie und
Romantik vorgebracht hat: „Die Quelle und Seele aller dieser Regungen
ist die Liebe, und der Geist der Liebe muß in der romantischen Poesie
überall unsichtbar sichtbar schweben... Die galanten Passionen, denen
man in den Dichtungen der Modernen... nirgends entgehn kann, sind
dabei grade das wenigste oder vielmehr sie sind nicht einmal der äußre
Buchstabe jenes Geistes, nach Gelegenheit auch wohl gar nichts oder
etwas sehr Unliebliches und Liebloses. Nein, es ist der heilige Hauch,
der uns in den Tönen der Musik berührt. Er läßt sich nicht gewaltsam
fassen und mechanisch greifen, aber er läßt sich freundlich locken von
sterblicher Schönheit und in sie verhüllen; und auch die Zauberworte
der Poesie können von seiner Kraft durchdrungen und beseelt werden.
Aber in dem Gedicht, wo er nicht überall ist oder überall sein könnte,
ist er gewiß gar nicht. Er ist ein unendliches Wesen und mit nichten
haftet und klebt sein Interesse nur an den Personen, den Begebenheiten
und Situationen und den individuellen Neigungen; für den wahren Dichter
ist alles dieses, so innig es auch seine Seele umschließen mag, nur
Hindeutung auf das Höhere, Unendliche, Hieroglyphen der +einen+ ewigen
Liebe und der heiligen Lebensfülle der bildenden Natur“ (2, 371). Das
geheimnisvollste Mysterium soll hier enthüllt werden; und wirklich hebt
mit zarten Fingern Fr. Schlegel die Decke empor, die es verbirgt. In
Worte will er fassen, was dem modernen Menschen die Poesie bedeutet.
Und die Begriffe, die auf unserem Wege uns bisher begegnet sind, die
Begriffe, durch die der Romantiker die Welt zu deuten sucht, stellen
sich fast vollzählig ein. Die Poesie und das Poetische ist mit einer
Stimmung der Sehnsucht aufs innigste verknüpft. Diese Sehnsucht zielt
auf ein Höheres, Unendliches. Das Streben nach dem Unendlichen, das
dem romantischen Vernunftmenschen eigen ist, findet in der Poesie
einen Widerhall. Die Poesie wird dadurch ein Analogon der Liebe
im romantisch-mystischen Sinne. Und in ihr naht dem Menschen das
Unendliche; zum Erlebnis wird ihm in der Poesie das Absolute; in keinem
Endlichen ist -- nach Schleiermachers Anschauung betrachtet -- das
Unendliche so gegenwärtig wie in der Poesie.

An dieser Stelle kündigt sich wohl am eindringlichsten innerhalb der
romantischen Spekulation an, daß und warum dem Romantiker Leben und
Denken, Natur und Philosophie zur Poesie hat werden müssen. Weit
ungenauer und unsicherer heißt es bei Novalis: „Der Sinn für Poesie
hat viel mit dem Sinn für Mystizismus gemein. Er ist der Sinn für das
Eigentümliche, Personelle, Unbekannte, Geheimnisvolle, zu Offenbarende,
das Notwendig-Zufällige. Er stellt das Undarstellbare dar. Er sieht
das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare usw.“ „Es gibt einen speziellen
Sinn für Poesie, eine poetische Stimmung in uns. Die Poesie ist
durchaus personell und darum unbeschreiblich und undefinissabel. Wer
es nicht unmittelbar weiß und fühlt, was Poesie ist, dem läßt sich
kein Begriff davon beibringen. Poesie ist Poesie“ (2, 298 f.). Novalis
kommt, das Geheimnis der Poesie zu beschreiben, nicht über negative
Merkmale hinaus. Fr. Schlegel wagt es, die negativen Elemente, die
Novalis erkennt, ins Positive umzudeuten. Für Novalis ist Poesie das
Unbeschreibliche, Unfaßbare; für Fr. Schlegel wird Poesie zur Lösung
des Rätsels, das von dem Unbeschreiblichen, dem Geheimnisvollsten uns
aufgegeben wird -- ein Symbol des Unendlichen.

Ist aber Poesie ein Abglanz des Unendlichen, gönnt sie uns einen Blick
in die Schönheit des größten Kunstwerkes, gestattet sie uns, „die Musik
des unendlichen Spielwerkes zu vernehmen“: dann ist es Aufgabe des
Dichters, des Künstlers überhaupt, seine Anschauung des Unendlichen
der Welt zu vermitteln. So wird der Künstler zum Mittler. „Ein
Mittler“, sagt die 44. Idee, „ist derjenige, der Göttliches in sich
wahrnimmt und sich selbst vernichtend preisgibt, um dieses Göttliche zu
verkündigen, mitzuteilen und darzustellen allen Menschen in Sitten und
Taten, in Worten und Werken.“ Aber nur wer sein Zentrum in sich hat,
kann der Aufgabe genügen. „Wem es da fehlt, der muß einen bestimmten
Führer und Mittler außer sich wählen“ (Idee 45). „Nur derjenige kann
ein Künstler sein, welcher eine eigne Religion, eine originelle
Ansicht des Unendlichen hat“ (Idee 13). So arbeitet Fr. Schlegel mit
Schleiermachers Anschauungen.

Das Genie erhält hier einen neuen Charakterzug. Die Fichteschen
Züge des Genies (s. oben S. 36) mit ihrer Neigung, ihrem Inhaber
etwas Schillerndes, Unsicheres, Schwankendes zu leihen, finden ihre
Ergänzung in der Forderung, daß der Künstler eine in sich geschlossene
Persönlichkeit, ein „organischer Geist“ (Athenaeumfragment 366) sei,
daß er ein festes Zentrum habe.

Und so verbinden sich die Strahlen, die aus der Schleiermacherschen,
Fr. Schlegelschen und Schellingschen Vergöttlichung des Unendlichen
hervorgehen, in einem Punkte. Hatte Fichte der Romantik zu grenzenloser
Selbstbestimmung und willkürlicher Freiheit verholfen, hatte er
zugleich eine Scheidewand zwischen dem Reich der Geistigkeit und dem
Reich der Natur aufgerichtet, so wich nunmehr nicht bloß solcher
Dualismus einem wirklichkeitsfrohen Monismus. Auch die grenzenlose und
unbeschränkte Willkür darf nicht länger ungestört walten. Organische
Einheit und Ganzheit, Verbindung und Verknüpfung der Teile zu einem
geschlossenen Ganzen mit einem festen und sicheren Mittelpunkte: diese
neuen Forderungen geben dem Romantiker seinen Halt. Sie weisen auf die
Stelle hin, an der der endliche Mensch das Ewige und Unendliche in sich
darstellt in einer nur ihm eigenen Form.

Stillen aber soll die neue Lehre die krankhafte Sehnsucht nach dem
Unendlichen. Die Seelenpein des Vernunftmenschen, der sein Ideal nie
erreichen kann, kommt zur Ruhe in der monistischen Verschmelzung
des Unendlichen und Endlichen. Die sehnsüchtige Liebe zum Ewigen,
zum Absoluten, zu Gott, zum Universum -- sie kann in der Liebe zum
Endlichen, zu dieser Welt ihren Frieden finden. Darum sinkt Hyazinth,
da er das Bild der Wahrheit zu enthüllen sucht, in Rosenblütchens Arme,
darum wird ihm in ihren Armen ein volles, ungetrübtes Glück.

Trotzdem bleibt romantische Poesie im wesentlichen eine Poesie der
Sehnsucht. Weit seltener als von der erfüllten, dichtet der romantische
Poet von der unerfüllten Sehnsucht, sei das nun eine rein räumliche
Sehnsucht nach der Ferne oder die Sehnsucht das Ewige, die Gottheit zu
erfassen, oder die Sehnsucht nach der Geliebten. Für die Charakteristik
dieser Sehnsuchtstimmungen haben die Romantiker feinste und subtilste
Worte gefunden, allen voran Novalis.

Die Liebe jedoch, die in diesen romantischen Gedankengängen eine solche
Rolle spielt, mußte notwendigerweise einmal zu allseitiger Betrachtung
kommen; es geschah in der „Lucinde“.



III. Die Programme der romantischen Ethik und Religion.


1. Schleiermacher. Lucinde. Frauenbildung.

Die romantischen Versuche, eine neue Ethik zu stiften, sind von Anfang
an aufs engste mit Schleiermacher verknüpft. Der Zusammenhang ist wohl
im Auge zu behalten, soll diesen romantischen Tendenzen nicht Unrecht
widerfahren. Das hohe Ziel, das Schleiermacher seiner Sittenlehre
gibt, fordert auch für die kühnsten sittlichen Paradoxe der Romantiker
verständnisvolle Würdigung; Worte wiederum von beleidigender Schärfe,
allerspitzeste Epigramme gegen die übliche Sittlichkeit hat vor allem
Schleiermacher geformt.

Aus Opposition gegen die bestehende Moral, gegen die Sittenlehre
der Aufklärungszeit, sind die Romantiker zu den Forderungen einer
neuen Ethik gelangt. Eben deshalb trägt die Mehrzahl ihrer ethischen
Kundgebungen denselben Charakter überspannender und übertreibender
Polemik, der den innerlich und auch äußerlich nahe verwandten
Versuchen Nietzsches eigen ist. Weit mehr noch als auf ästhetischem
oder naturhistorischem Felde fühlt ein kühner Neuerer auf dem Gebiete
der Sitte sich zu kräftiger Farbengebung angereizt. Die Umwertung aller
Werte vollzieht sich hier weit geräuschvoller als dort; schallende
Ohrfeigen ertönen da, während der literarische Revolutionär, der
naturphilosophische Neuerer mit weniger kräftigen und derben Waffen
in den Kampf zieht. Diesmal gilt es, den „Ökonomen der Moral“ ein
Schnippchen schlagen. Die Romantik zieht ins Feld gegen den „Philister“.

Schleiermachers Ethik, wie sie in den „Monologen“ und im „System
der Sittenlehre“ sich zeigt, fällt in erster Linie durch ihren
Gegensatz zu Kants Rigorismus ins Auge. Wie Schiller möchte auch
Schleiermacher eine Sittlichkeit der großen Persönlichkeit, der starken
Individualität vortragen, möchte dartun, daß auserlesene Naturen wohl
imstande sind, auf die stete Selbstkontrolle der Beobachtung des
kategorischen Imperativs zu verzichten. Schiller behält jedoch für
seine Ausnahmemenschen, für die „schönen Seelen“, das ultimum refugium
des kategorischen Imperativs bei, wenn sie durch den Affekt aus der
Bahn des normalen Lebens hinausgeworfen sind. Schleiermacher denkt an
eine organische Sittlichkeit, an eine Beachtung der Stimme, die aus dem
Innersten der menschlichen Individualität ertönt, des Gesetzes, das
mit Naturnotwendigkeit im Wesen der einzelnen Persönlichkeit gegeben
ist. Solcher organischer Sittlichkeit strebt auch Fr. Schlegel zu.
Aber er ist in frühromantischer Zeit weder zu klarer Erfassung noch zu
unzweideutiger Formulierung seiner Absichten gelangt. Obendrein nimmt
die Negation des Bestehenden in seinen ethischen Äußerungen weit mehr
Raum ein, als die Darlegung positiver ethischer Werte.

Im Gegensatz zu derselben Moral der Aufklärung, gegen die der Sturm und
Drang eifert, entwickelt sich die romantische Ethik. Darum übersieht
man auch hier leicht die feinen, aber scharfen Unterschiede. +Heinse+
und der Dichter der „Lucinde“ scheinen auf den ersten Blick enger
miteinander verwandt zu sein, als sie es tatsächlich sind.

Der Sturm und Drang, vor allem aber Heinse, steuert ins Uferlose.
Alle Schranken sollen niedergebrochen werden. Das „Herz“ allein wird
zum Gesetzgeber gemacht, das heißt: der Einfall des Augenblickes,
die Stimmung der einzelnen Stunde, nicht das durch Reflexion und
Selbstbeschauung erkannte Gesetz der eigenen Persönlichkeit. Ein
Philosoph des Genusses, wehrt sich Heinse gegen alles „bürgerliche
Wesen“ der Liebe. Die Ehe erscheint nur als „hartes Joch“, als „Tod bei
lebendigem Fleische“, eine „Gewohnheit und ein Gesetz“, das „bloß für
den Pöbel ist, eben weil er Pöbel ist, der sich nicht selbst regieren
kann“. Heinse will von solch „barbarischer Gesetzgebung“ nichts wissen;
er wünscht eine Republik, wo wenigstens Mann und Frau mit ihrer Liebe
heilig und frei sind. Diese Verherrlichung der freien Liebe bedeutet
selbstverständlich vor allem für das Weib eine völlige Umstürzung des
Bestehenden. Und in solchem Sinne entwickelt Heinse am Schlusse des
„Ardinghello“ die Prinzipien seiner idealen Republik, in der die Liebe
in allerhöchster Freiheit ihre Flügel schwingt.

Erheben sich die anderen Stürmer und Dränger nicht zu gleichen
Forderungen einer völlig gesetzlosen Freiheit des individuellen
Lebens, bleibt Goethe in der „Stella“, Schiller als Vertreter der
„Freigeisterei der Leidenschaft“ bei einer zahmeren Zulassung von
Ausnahmefällen stehen, so tönt doch aus der gesamten Dichtung der
Zeit ein Hymnus auf das starke, titanische Weib. Theoretisch und
prinzipiell hat ja nur Heinse das Glück der Unverheirateten verkündet,
die, eine Göttin, ganz Herr über sich selbst, in Gesellschaft mit den
verständigsten, schönsten, witzigsten und sinnreichsten Männern lebt
und ihre Kinder als freiwillige Kinder der Liebe mit Lust erzieht. Doch
die Machtfrauen der Dichtung jener Tage, voran Adelheid von Walldorf,
bezeugen unverkennbar, wie stark und wie verlockend der Gedanke einer
Weiblichkeit, die sich mutig über alle Schranken hinwegsetzt, damals
auf die Jugend gewirkt hat.

Die Romantik verkündet die Emanzipation der Frau und kämpft gegen
die bestehende Ehe. Aber sie sucht die Erhöhung des Weibes nicht in
geschlechtlicher Ungebundenheit und sie kämpft für die echte und wahre
gegen die falsche und konventionelle Ehe. Das oftzitierte Wort Fr.
Schlegels: „Es läßt sich nicht absehen, was man gegen eine Ehe ~à
quatre~ gründliches einwenden könnte“, enthält nicht die entscheidenden
Eigenheiten des romantischen Ehegedankens; es ist, aus seinem
Zusammenhange losgelöst, nur geeignet Mißverständnisse zu züchten.
Denn tatsächlich eifert das 34. Athenaeumfragment, dem es entnommen
ist, aus sittlichem Rigorismus gegen die bestehenden Ehen, die fast
alle nur „Konkubinate“ seien, „Ehen an der linken Hand oder vielmehr
provisorische Versuche und entfernte Annäherungen zu einer wirklichen
Ehe, deren eigentliches Wesen, nicht nach den Paradoxen dieses oder
jenes Systems, sondern nach allen geistlichen und weltlichen Rechten
darin besteht, daß mehre Personen nur eine werden sollen“. Also nicht
Frivolität, sondern strengste Anforderungen an die wahre und echte
Ehe haben Fr. Schlegel dieses Fragment diktiert; aus gleichen Gründen
wendet er sich gegen die Ansicht, daß der Staat die mißglückten
Eheversuche mit Gewalt zusammenhalten solle; er hindere dadurch die
Möglichkeit der Ehe selbst, „die durch neue, vielleicht glücklichere
Versuche befördert werden könnte“. Zu solchen neueren Versuchen
rechnet Fr. Schlegel auch eine Ehe ~à quatre~. Das heißt: um über die
Unsittlichkeit der Mehrzahl bestehender Ehen hinauszukommen, um sich
dieser Unsittlichkeit bewußt zu werden, wird provisorisch gestattet,
daß jeder Teil eines bestehenden gesetzlichen Ehebundes außerhalb der
Ehe nach der Persönlichkeit suche, mit der er wahrhaft +eine+ Person
werden möchte.

Fr. Schlegels eigentliche Meinung zeigt sich unverhüllter und ohne
die Neigung, für Übergangszustände Ausnahmegesetze zu geben in den
Paris-Kölner Vorlesungen (Windischmann 2, 353). Da heißt es: „Die
Ehescheidung ist eigentlich nicht möglich; die Ehe scheiden heißt nur
-- erklären, es sei keine Ehe gewesen; denn die Ehe ist unauflöslich,
das versteht sich von selbst.“ Hinzugefügt ist noch die Bemerkung:
„Auch maßt sich der Staat zu viel an, wenn er sich in die häuslichen
Verhältnisse mischt, die er eben nicht versteht und nicht zu beurteilen
vermag.“

Das Experiment der Ehe ~à quatre~, die Ehescheidung überhaupt, sollte
mithin nur Übergangserscheinung sein. Optimistisch hofft Fr. Schlegel,
daß die Zeit kommen werde, da alle Ehen „wirkliche“ Ehen sein würden.
Fichtes „Naturrecht“ (1796), dessen Anschauung von Ehe der Ansicht
Fr. Schlegels sehr nahe kommt, ja ihr vielleicht zum Vorbild gedient
hat, ist wesentlich radikaler: „Ist das Verhältnis“, heißt es da, „das
zwischen Eheleuten sein sollte, und welches das Wesen der Ehe ausmacht,
unbegrenzte Liebe von des Weibes, unbegrenzte Großmut von des Mannes
Seite, vernichtet, so ist dadurch die Ehe zwischen ihnen aufgehoben.
Also -- Eheleute scheiden sich selbst mit freiem Willen, wie sie
sich mit freiem Willen verbunden haben“ (Werke 3, 336). Denselben
Radikalismus atmet Schleiermachers „Idee zu einem Katechismus der
Vernunft für edle Frauen“ (Athenaeumfragment 364). „Merke auf den
Sabbat deines Herzens, daß du ihn feierst, und wenn sie dich halten, so
mache dich frei oder gehe zugrunde“, ruft Schleiermacher dem liebenden
Mädchen, aber doch auch der Frau zu, die durch ein gesetzliches Band
an den ungeliebten Mann gefesselt ist. Freilich warnt er: „Du sollst
keine Ehe schließen, die gebrochen werden müßte.“ Ihm ist die Ehe etwas
Heiliges; und er gäbe die bestehende Ehe nur auf, um Besseres für sie
einzutauschen. Völlig gleicher Ansicht ist Fr. Schlegels „+Lucinde+“
(1799): sie spottet über Unehen, mißachtet den Mann, der in der Frau
nur die Gattung, die Frau, die im Manne nur den Grad seiner natürlichen
Qualitäten erblickt; aber sie feiert auch die „echte Ehe“, deren
Voraussetzung ewige Liebe ist. Schleiermachers Verteidigungsschrift,
die „Vertrauten Briefe“ (1800) über die „Lucinde“, hatte nach dieser
Richtung nichts Wesentliches hinzuzufügen, wenn sie sich anschickte,
„in klaren und festen Linien eine Lebensphilosophie zu entwerfen,
welche der Frau, der Liebe, der Ehe und Freundschaft, der Scham und
der künstlerischen Darstellung der Liebe in der neuen Gesellschaft ihr
Wesen bestimmen sollte“ (Dilthey S. 497). Nicht im Gegensatz zu Fr.
Schlegels Roman, sondern in voller Übereinstimmung entspringt auch nach
Schleiermachers Ansicht aus der Ehe erst das kraftvollste tätige Leben.

Die Angriffe, die Fr. Schlegels „Lucinde“ erfahren hat, erfährt und
erfahren wird, gehen auch weniger gegen die Auffassung der Ehe, als
gegen die künstlerische Darstellung und gegen die Analyse der Liebe.
Daß Friedrich kein Erzähler ist, daß er weder mit seinem Vorbilde, den
Lehrjahren Wilhelm Meisters, noch etwa mit dem „Ofterdingen“ seines
Freundes Hardenberg wetteifern kann, wo es gilt epischen Verlauf
künstlerisch darzustellen, ist gewiß. Er selber wollte ein Werk des
„Witzes“ liefern, ein Produkt der „Willkür“ des Dichters, die kein
Gesetz über sich leidet. Die „Lucinde“ ist auch noch in anderem Sinne
mit den Fichteschen Elementen der romantischen Theorie verknüpft:
sie arbeitet mit dauernder Selbstbespiegelung, sie ist ein Roman der
intellektuellen Anschauung. Dieser Roman aber möchte die Liebe ebenso
allseitig zur Darlegung bringen, wie in Goethes „Meister“ das Theater,
in „Sternbald“ die Malerei erwogen wird. Und so gipfelt er in einer
impressionistisch-mimischen Wiedergabe der „schönsten Situation“. Die
Naturwahrheit der Darstellung, von Fr. Schlegel mit der ihm eigenen
Starrköpfigkeit durchgeführt, mag jeden abschrecken, der für solche
Stoffe die künstlerische Stilisierung der römischen „Elegien“ Goethes
wünscht. Uns indessen sind in den jüngsten zwanzig Jahren so viele
Versuche vorgelegt worden, in Romanform das Leben in allen seinen Zügen
zu erfassen, daß man die Rücksicht und Anpassungsfähigkeit des Lesers,
die hier etwas Selbstverständliches war, auch der „Lucinde“ gegenüber
walten lassen sollte. Auch der oft hervorgehobene Pedantismus der
Dichtung könnte in modernster Literatur leicht Gegenstücke finden.

Ziel und Zweck des ganzen Buches ist allseitige Beleuchtung der
Liebe. Und so erwägt es denn auch die Liebe, die nicht Ehe und
Fortpflanzung, sondern nur sich selbst zum Zweck hat. Anstoß kann da
nur nehmen, wer die romantische Auffassung der Liebe nicht kennt.
Ein übersinnlich-sinnlicher Freier, macht der Romantiker die Liebe
zur Religion; und zwar zur Religion im Sinne Schleiermachers. „Heute
fand ich“, schreibt Julius an Lucinde, „in einem französischen Buche
von zwei Liebenden den Ausdruck: „Sie waren einer dem anderen das
Universum.“ -- Wie fiel mir’s auf, rührend und zum Lächeln, daß,
was da so gedankenlos stand, bloß als eine Figur der Übertreibung,
in uns buchstäblich wahr geworden sei!“ (S. 243 f.) Der mystische
Liebesbegriff der Romantik gestattet, Höchstes und Niedrigstes,
Geistigstes und Sinnlichstes zu verknüpfen. Schleiermacher deutet fein
aus: „Sie wissen ja doch von Leib und Geist und der Identität beider,
und das ist doch das ganze Geheimnis.“ Das ist die metaphysische,
Schelling vorwegnehmende Voraussetzung des ethischen Grundgedankens,
auf den Schleiermacher die geistige Sinnlichkeit der „Lucinde“
zurückleitete, des Gedankens bildender Sittlichkeit, die die
Sinnlichkeit, die Phantasie, die Leidenschaft durch den Geist adelt,
nicht durch die bloße Gewalt des Gesetzes einschränkt.

Voraussetzung solcher Liebe, aber auch der „echten, wirklichen“ Ehe
ist freilich die geistige Hebung der Frau, die in der „Lucinde“ ebenso
gefordert wird, wie in Schleiermachers „Katechismus“. Bildung soll
der Frau zuteil, sie soll dem Manne geistig genähert, ihm ebenbürtig
gemacht werden. „Laß dich gelüsten nach der Männer Bildung, Kunst,
Weisheit und Ehre“, lautet das zehnte Gebot Schleiermachers. Ein Thema,
das von Anfang an Fr. Schlegels Forschen und Sinnen beschäftigt!

Auch hier geht er von der Antike aus. In zwei Aufsätzen, die ihren
Zusammenhang mit Plato und Hemsterhuis nicht verleugnen, spricht er
sich 1794 „Über die weiblichen Charaktere in den griechischen Dichtern“
und 1795 „Über die Diotima“ aus. Sokrates erscheint als Vertreter der
Anschauung, daß die Vollkommenheit beider Geschlechter nur +eine+,
Plato und die Stoiker bezeugen, daß die Bestimmung des weiblichen und
männlichen Geschlechts die gleiche sei. Und indem Fr. Schlegel mit
Plato und im Gegensatz zu Rousseau für die Frau öffentliche Erziehung,
dann Anteil an der Bildung, den Pflichten und Rechten der Männer
fordert, möchte er alle einseitige Männlichkeit und alle einseitige
Weiblichkeit abwehren. Das klassisch-romantische Ideal des harmonischen
Menschen wird auf die Frauenfrage angewendet, im Gegensatz zu Schillers
Klassizismus, der ganz inkonsequent die Frau in die Einseitigkeit
des Naiven bannte. Wieland war da dem Bildungsstreben der Frau weit
mehr entgegengekommen; und auch er hatte antike Frauengestalten wie
Aspasia ins Feld geführt. Schillers „Würde der Frauen“ wurde von dem
Rezensenten Fr. Schlegel mit dem scharfen Zusatz abgelehnt: „Männer
wie diese müßten an Händen und Beinen gebunden werden; solchen Frauen
ziemte Gängelband und Fallhut“ (2, 4). W. Schlegel parodierte witzig
das Gedicht Schillers (2, 172). Schärfer noch tritt das „Athenaeum“
für die Bildungsansprüche der Frau ein. Die Fragmente kommen vielfach
auf das Thema zu sprechen. Im ersten Heft des zweiten Bandes (1799)
schlägt dann Fr. Schlegel die Brücke von seinen Absichten, die Frau
zu bilden, zu Schleiermachers Religionsbegriff mit dem Aufsatze „Über
die Philosophie. An Dorothea“. Die Liebe zum Universum scheint nach
Friedrichs Ansicht der Frau besonders nahe zu liegen. Der Frau eignet,
meint er, die Innerlichkeit, die stille Regsamkeit alles Dichtens
und Trachtens, die für ihn die wesentliche Anlage zur Religion oder
vielmehr diese selbst bedeutet. „Wie dürfte man dir“, so spricht er
Dorothea mit unverkennbarem Anklange an die Katechisationsszene von
Goethes „Faust“ an, „die Religion bloß darum absprechen wollen, weil es
dir vielleicht an einer Antwort fehlen könnte, wenn man dich fragte, ob
du an Gott glaubst?“ (2, 323). Und so streng hält er auf seinen Satz:
Religion sei die wahre Tugend und Glückseligkeit der Frauen, daß er sie
zur Philosophie erziehen will, nicht zur Poesie: die Poesie sei wohl
der Erde gewogner, die Philosophie aber heiliger und gottverwandter.
Und „die Poesie der Dichter bedürfen die Frauen weniger, weil ihr
eigenstes Wesen Poesie ist“ (Idee 127).


2. Stiftung einer neuen Religion. Hardenbergs geistliche Dichtung.

Auch auf dem Gebiete der +Religion+ zeigt sich dieselbe Erscheinung,
die bei der Naturphilosophie und bei der Vergötterung und
Ästhetisierung des Universums zu beobachten war: es ist unendlich
schwer, genau anzugeben, von wem der erste Anstoß ausgegangen ist.
Diesmal vielleicht noch schwerer als sonst. Denn der Kreis der religiös
Begeisterten ist weiter: Schelling zwar kommt nicht in Betracht;
vielmehr sind mit Schleiermacher ungefähr gleichzeitig Fr. Schlegel
und Novalis bemüht, religiöser zu werden, dem Christentum neues Leben
abzugewinnen. Und Tieck bleibt nicht zurück; konnte er doch von ganz
anderer Seite, von der Betrachtung der bildenden Kunst, wie er sie
gemeinsam mit seinem frühverstorbenen Freunde Wackenroder geübt hatte,
sein Scherflein zu dem religiösen Enthusiasmus der Romantiker beitragen.

Am 15. November 1799 schrieb Dorothea von Jena aus an Schleiermacher:
„Das Christentum ist hier ~à l’ordre du jour~; die Herren sind etwas
toll. Tieck treibt die Religion wie Schiller das Schicksal; Hardenberg
glaubt, Tieck ist ganz und gar seiner Meinung; ich will aber wetten,
was einer will, sie verstehen sich selber nicht, und einander nicht.“
Kurz vorher hatte Fr. Schlegel dem Freunde berichtet, wie die „Reden“
auf Novalis gewirkt hätten: „Hardenberg hat Dich mit dem höchsten
Interesse studiert und ist ganz eingenommen, durchdrungen, begeistert
und entzündet. Er behauptet nichts an Dir tadeln zu können, und
insofern einig mit Dir zu sein. Doch damit wird es wohl so so stehen“
(3, 125). Schon diese Zeugnisse deuten an, daß die „Reden“ stark
gewirkt, daß sie aber auch einen wohlvorbereiteten Boden angetroffen
haben und daß wiederum die romantischen Genossen schon zu weit
auf dem Wege zu Religion und Christentum vorgeschritten waren, um
Schleiermachers Lehren uneingeschränkt aufzunehmen.

Wirklich schreibt Fr. Schlegel schon ein volles Jahr früher an Novalis
(20. Oktober 1798): „Was mich betrifft, so ist das Ziel meiner
literarischen Projekte eine neue Bibel zu schreiben und auf Muhameds
und Luthers Fußstapfen zu wandeln.“ Novalis antwortet am 7. November:
„Du schreibst von Deinem Bibelprojekt und ich bin auf meinem Studium
der Wissenschaft überhaupt und ihres Körpers, des Buchs -- ebenfalls
auf die Idee der Bibel geraten -- der Bibel als des Ideals jedweden
Buchs.“ Er erblickt in diesem Zusammentreffen ein auffallendes Beispiel
ihrer „inneren Symorganisation und Symevolution“. Fr. Schlegels Brief
vom 2. Dezember erkennt in dem „absichtslosen Zusammentreffen“ der
„biblischen Projekte“ „eines der auffallendsten Zeichen und Wunder“ des
„Einverständnisses“ beider Freunde, aber auch ihrer „Mißverständnisse“.
Denn Schlegel hatte sofort aus Hardenbergs Brief herausgelesen, daß
Novalis nur „in einem gewissen Sinne“ in der Bibel die „literarische
Zentralform und also das Ideal jedes Buchs“ finde. Schlegel selber
aber hatte „eine Bibel im Sinne, die nicht in gewissem Sinne, nicht
gleichsam, sondern ganz buchstäblich und in jedem Geist und Sinne Bibel
wäre“. Nicht um ein literarisches, sondern um ein biblisches, durchaus
religiöses Projekt handele es sich. „Ich denke eine neue Religion
zu stiften oder vielmehr sie verkündigen zu helfen: denn kommen und
siegen wird sie auch ohne mich. Meine Religion ist nicht von der Art,
daß sie die Philosophie und Poesie verschlucken wollte.“ Schlegel
findet, daß Gegenstände übrigbleiben, die weder Philosophie noch Poesie
behandeln kann. „Ein solcher Gegenstand scheint mir Gott, von dem ich
eine durchaus neue Ansicht habe.“ Sehr dunkel umschreibt Fr. Schlegel
die Bedingung, unter der er auf Hardenbergs volle Zustimmung rechnen
darf: „Die eigentliche Sache ist die, ob Du dich entschließen kannst,
wenigstens in einem gewissen Sinne das Christentum absolut negativ
zu setzen.“ Und prophetisch ruft er dem Freunde zu: „Vielleicht hast
du noch die Wahl, entweder der letzte Christ, der Brutus der alten
Religion, oder der Christus des neuen Evangeliums zu sein.“ Dieses neue
Evangelium rege sich schon; Schleiermacher arbeite an einem Werke über
die Religion, Tieck studiere Jakob Böhme; und die Synthesis von Goethe
und Fichte -- die Voraussetzung und der Ausgangspunkt der romantischen
Naturphilosophie (s. S. 40) -- könne nichts anderes ergeben als
Religion. Am 20. Januar 1799 erklärt dann Novalis, Friedrichs Meinung
von der Negativität der christlichen Religion sei vortrefflich. „Das
Christentum wird dadurch zum Range der Grundlage der projektierenden
Kraft eines neuen Weltgebäudes und Menschentums erhoben.“ „Absolute
Abstraktion, Annihilation des Jetzigen, Apotheose der Zukunft --
dieser eigentlichen, besseren Welt: dies ist der Kern der Geheiße
des Christentums, und hiermit schließt es sich an die Religion der
Antiquare, die Göttlichkeit der Antike, die Herstellung des Altertums,
als der zweite Hauptflügel an; beide halten das Universum, als den
Körper des Engels, in ewigem Schweben.“ Fr. Schlegel stimmt zu, daß
das Christentum eine Religion der Zukunft sei, wie die der Griechen
eine der Vergangenheit. „Aber ist sie nicht noch mehr eine Religion des
Todes, wie die klassische eine Religion des Lebens?“ „Vielleicht bist
du der erste Mensch in unserem Zeitalter, der Kunstsinn für den Tod
hat“ (S. 130).

Dunkle, mystische Bekenntnisse! Wir wundern uns nicht, daß die
Genossen dauernd auf gegenseitiges Mißverständnis gefaßt sind. Eine
Deutung erwächst aber aus den Werken, die solchem Gedankenaustausche
entsprangen.

Vor allem erhellt aus den zitierten Briefstellen, daß Fr. Schlegel und
Novalis den Impulsen Schleiermachers längst vorangeeilt waren. Auch
das persönliche Bekanntwerden Hardenbergs und Tiecks (im Sommer 1799)
kann nur bestätigend und weitertreibend auf Novalis gewirkt haben.
Aus herrnhutischer Umgebung hervortretend, von Zinzendorfs Gedanken
der „Konnexion mit dem historischen Christus“ früh berührt, mystisch
der Ergründung des „Mittlertums“ Christi hingegeben, findet Novalis
auch als einziger unter den Genossen sofort die dichterische Kraft, in
unvergänglicher künstlerischer Form auszudrücken, was ihm Religion und
Christentum bedeutet. Es entstehen seine +geistlichen Lieder+,
Offenbarungen zugleich der neuen Religion, der Vergöttlichung des
Universums, der sehnsüchtigen Liebe zum Ewigen, wie auch wunderbar
schlichte Bekenntnisse eines Gläubigen, dem in Christi Gestalt ein
Wegweiser zum Überirdischen erstanden ist. Fr. Schlegel hat den
hohen künstlerischen und menschlichen Wert der christlichen Sänge
Hardenbergs sofort erkannt und dem Freunde Schleiermacher (November
1799) gemeldet: „Auch christliche Lieder hat er uns gelesen; die sind
nun das Göttlichste, was er je gemacht. Die Poesie darin hat mit nichts
Ähnlichkeit, als mit den innigsten und tiefsten unter Goethens früheren
kleinen Gedichten.“

Weit deutlicher noch als in den geistlichen Liedern kommen die
Gedankenembryone der zwischen Fr. Schlegel und Novalis gewechselten
Briefe von Anfang 1799 in Novalis’ „+Hymnen an die Nacht+“ zu
dichterisch geklärter und vertiefter Gestaltung. Erlebtes Leid
verknüpft sich mit dem neuerrungenen religiösen Gefühl. Das Christentum
als „Grundlage der projektierenden Kraft eines neuen Weltgebäudes und
Menschentums“, sein Geheiß einer „absoluten Abstraktion, Annihilation
des Jetzigen“, die daraus erwachsende „Apotheose der Zukunft, dieser
eigentlichen besseren Welt“: all das ist in die „Hymnen“ hineinverwebt
und dazu auch das Verhältnis des Christentums zur Antike, zur „Religion
der Antiquare“. Und auch Fr. Schlegels Frage ist hier beantwortet,
ob das Christentum nicht noch mehr eine Religion des Todes ist, als
die klassische eine Religion des Lebens. Eben weil die Antike ganz
auf das Leben, auf das Diesseits gestellt ist, so ist ihr der Tod ein
Schreckbild, während Christus die Welt mit dem Todesgedanken ausgesöhnt
hat. Der Tod eröffnet dem Christusgläubigen den Eintritt in eine
höhere und bessere Welt; das Kreuz hat die Menschheit für die Ewigkeit
geboren. Schleiermachers Anschauung, daß das religiöse Gefühl uns
dem Unendlichen nahebringe, ist in den „Hymnen“ ganz und gar in die
Formen christlichen Glaubens umgesetzt: der Mittlertod Christi hat der
Menschheit den Weg ins Ewige eröffnet. Der Gedanke der Unendlichkeit,
symbolisiert in der Vorstellung eines jenseitigen Lebens, tröstet den
Dichter über den Verlust der Geliebten. Nur in diesem engen irdischen
Dasein hat er auf die Geliebte zu verzichten. Menschendasein aber
reicht weiter, reicht hinaus über die Grenzen des Irdischen. Und der
Tod sprengt die Fesseln dieses irdischen Lebens.

Freilich kommt diesmal nur die eine Seite von Schleiermachers Religion
zur Geltung: das Unendliche hebt über das Endliche empor, nicht die
andere: das Endliche ist uns lieb, weil das Unendliche sich in ihm
darstellt. Eine Dichtung des romantischen Monismus und der romantischen
Daseinsfreude sind die „Hymnen“ nicht. Novalis hat sie geschrieben,
erfüllt von der Idee eines freiwilligen, bewußt erstrebten Todes,
von dem Gedanken also, den das Ableben Sophiens von Kühn in ihm
ausgelöst hatte. Er hat sich zuletzt wieder mit der Welt des Diesseits
ausgesöhnt, freilich immer nur im Sinne Schleiermachers, für den auf
dieser Welt ein Abglanz der ewigen ruht. W. Schlegel umschreibt die
Stimmung der „Hymnen“ im achten Gedichte des „Totenopfers für Augusta
Böhmer“ (1, 136).

      Du schienest, losgerissen von der Erde,
    Mit leichten Geistertritten schon zu wandeln,
    Und ohne Tod der Sterblichkeit genesen.
    Du riefst hervor in dir durch geistig Handeln,
    Wie Zauberer durch Zeichen und Gebärde,
    Zum Herzvereine das entschwundne Wesen.

Solch gewolltes Sterben, solcher Tod, „durch geistig Handeln“ erstrebt,
ist auch das Ziel des „hohen Menschen“ in Jean Pauls „Unsichtbarer
Loge“. Ihn kennzeichnet „die Erhebung über die Erde, das Gefühl der
Geringfügigkeit alles irdischen Tuns, ... der Wunsch des Todes und der
Blick über die Wolken“ (Hempel 1, 184). Im Emanuel des „Hesperus“ hat
Jean Paul einen Menschen dieser Art gezeichnet. Zugleich begegnet sich
Novalis mit Böhmes Anschauung von der „Zerbrechlichkeit“.

Durch den Sündenfall ist „Zerbrechlichkeit“ in die Welt gekommen;
vorher waren die Dinge nur „ihr Äther“. Wenn die zerbrechliche Form
vergeht, dann wird die Seele wieder Äther und erkennt alle Herrlichkeit
in ungetrübter Helle. Alle Qual der Leidenschaft verschwindet mit
der Zerbrechung der Fesseln. Wie in fast aller Mystik verbindet
Platonisches und Christliches sich auch in diesen Anschauungen Böhmes.
Eine verwandte Verknüpfung liegt den „Hymnen“ zugrunde; daher rührt die
Ähnlichkeit. Unmittelbare Übernahme Böhmescher Lehren zeigt nur der
„+Ofterdingen+“. Der ganze Roman mit seinen Fortsetzungen hätte das
allmähliche Aufsteigen des Menschen, die schrittweise Erlösung aus
den Fesseln des irdischen Lebens zeichnen sollen. Für die Stufenfolge
dieses Aufstrebens dachte Novalis den Böhmeschen Begriff der dreifachen
Geburt zu nutzen. Die erste und zweite Stufe ist nicht rein vor dem
Herzen Gottes; die erste, die elementische, die Stufe des Todes, die
zweite, die siderische, die beiden Welten angehört. Auf der dritten,
der animalischen Stufe ersteht der zur Wiedergeburt reife Mensch. Zur
Erlangung der Seligkeit muß jeder Mensch alle drei Geburten durchmachen.

Daß sich diese Symbolik mit der aufsteigenden Entwickelungsreihe der
Naturphilosophie verknüpfen ließ, ist klar. Aus beiden Voraussetzungen
ergeben sich die Fiktionen, die den Schluß des „Ofterdingen“ bilden
sollten und die ohne diesen Kommentar sonderbar genug klingen:
Heinrich wird ein Stein, dann ein klingender Baum, dann ein goldener
Widder, endlich ein Mensch. Weibliche Aufopferung gestattet ihm, von
einer Stufe zur anderen weiterzugehen. Das Ewig-Weibliche zieht auch
Heinrich von Ofterdingen hinan.


3. Wendung zum Katholizismus, zum Mittelalter und Orient. Fr. Schlegels
spätere Konstruktionen der Entwickelung der Menschheit.

Novalis blieb bei dem Mystizismus der Unendlichkeits- und
Universumsreligion Schleiermachers nicht stehen. Schon hatte er
in den „Hymnen“ und in den geistlichen Liedern die Symbolwelt des
Christentums verwertet. Er hatte mithin nicht bei der Scheidung
von Moral und Theologie einerseits und von Religion anderseits mit
Schleiermacher halt gemacht, war vielmehr ins Konfessionelle weiter
gegangen. Aber auch innerhalb des christlichen Glaubensbekenntnisses
suchte er weiter das, was ihm zusagte, zu trennen von dem, was ihm
fremd war. Gleichzeitig mit den geistlichen Liedern kündigte Fr.
Schlegel den Aufsatz „+Die Christenheit oder Europa+“ von Novalis
dem Genossen Schleiermacher an (3, 133 f.) und führte ihn ausdrücklich
auf die „ungeheure Wirkung“ zurück, die von den „Reden“ auf Novalis
ausgeübt worden war. Der Aufsatz selber will die „Philanthropen und
Enzyklopädisten“ zu einem „Bruder“ führen; „der soll mit euch reden,
daß euch die Herzen aufgehn, und ihr eure abgestorbene, geliebte
Ahndung mit neuem Leibe bekleidet, wieder umfaßt und erkennt, was euch
vorschwebte und was der schwerfällige, irdische Verstand freilich euch
nicht haschen konnte“. Dieser Bruder „hat einen neuen +Schleier+ für
die Heilige +gemacht+, der ihren himmlischen Gliederbau anschmiegend
verrät und doch sie züchtiger als ein andrer verhüllt“ (2, 40 f.). Fest
muß man diesen Passus und den deutlichen Hinweis auf Schleiermacher
im Auge behalten, soll die Absicht des Aufsatzes nicht überspannt
werden. Er gibt eine kulturhistorische Konstruktion nach dem Rhythmus,
den Schillers Klassizismus, die Romantik Fr. Schlegels und Fichtes
Geschichtsphilosophie vorgezeichnet haben. Von primitiver, monotoner
Harmonie geht es weiter zur Disharmonie und endlich zu höherer
Allseitigkeit. Doch die alten Rubriken finden neue Ausfüllung. In
der ersten erscheint diesmal nicht das Griechentum, sondern das
katholische Mittelalter. Auf wenigen Seiten entwirft Novalis ein Bild
der „schönen, glänzenden Zeiten, wo Europa ein christliches Land
war, wo +eine+ Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil
bewohnte“. Diese „echtkatholischen oder echtchristlichen Zeiten“
sind mit dem romantischen Auge gesehen, das fortan auf Jahrzehnte
hinaus das Mittelalter ebenso sentimentalisch verklären sollte, wie
die Antike vom 18. Jahrhundert sentimental geschaut worden war. Die
Disharmonie, die jenem Zustande ein Ende machte, war notwendig; denn
nur durch sie konnte die Kulturentwickelung weiterschreiten. Trotzdem
erspart Hardenberg dem Protestantismus, der die Disharmonie mit sich
brachte, keinen Vorwurf. Luther habe den Geist des Christentums
verkannt; die Behauptung der heiligen Allgemeingültigkeit der
Bibel mischte die Philologie, die Buchstabenwissenschaft, in die
Religionsangelegenheiten und wirkte auszehrend auf den Sinn. Daher gebe
es nur wenige Lichtpunkte in der Geschichte des Protestantismus, so
Zinzendorf und Böhme. Dem Protestantismus gegenüber erhält sogar der
Orden der Jesuiten ein ehrenvolles Zeugnis; die Jesuiten erscheinen
als universalstrebende Vorkämpfer der katholischen religiösen Bildung.
Um so schlimmer ergeht es der Aufklärung. Bibel, Christentum und
Religion werden von den Aufklärern ebenso gehaßt und verketzert wie
Phantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit.
Im Kampf gegen die Aufklärung erstehe zurzeit die neue Harmonie.
Naturwissenschaft und Politik bezeugen, daß eine neue Zeit herankomme:
Naturwissenschaft natürlich im Sinne der Naturphilosophie genommen, die
Politik, weil Hardenberg hofft, daß die Christenheit wieder lebendig
und wirksam zu werden und eine sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf
Landesgrenzen zu bilden sich anschicke. In dieser Hoffnung auf die
„heilige Zeit des ewigen Friedens“ klingt der Aufsatz aus.

Auf Jahrzehnte hinaus war hier nicht nur die romantische Anschauung
des Mittelalters gegeben; auch die letzten religiös-politischen
Konsequenzen der Romantik waren vorweggenommen. Fr. Schlegel ist nur
langsam und allmählich zu gleichen Zielen gekommen. 1799 stand er der
Programmschrift Hardenbergs noch so romantisch-ironisch und überlegen
gegenüber, daß er Schellings Neigung unterstützte, ein Wort gegen
Novalis vorzubringen. Er schrieb an Schleiermacher (3, 134), Schelling
habe, da Hardenberg und Tieck „es so grimmig trieben mit ihrem Wesen“,
„einen neuen Anfall von seinem alten Enthusiasmus für die Irreligion
bekommen“ und fügte hinzu, daß er selber ihn darin aus allen Kräften
bestätige. „Drob hat er ein Epikurisch Glaubensbekenntnis in Hans
Sachs Goethes Manier entworfen“; das „+Epikurisch Glaubensbekenntniß
Heinz Widerporstens+“ (abgedruckt in Plitts Buche „Aus Schellings
Leben“ 1, 282 ff.) ist ein Protest des Verehrers der Natur, dem „nur
das wirklich und wahrhaft ist, was man kann mit den Händen betasten“,
gegen den Spiritualismus der Gottsucher, die sich ins Universum
verlieren wollen. Nur daß der Gegensatz viel feiner ist, als man auf
den ersten Blick meinen möchte. Denn obwohl alles auf einen frischen
Genuß der Sinnlichkeit angelegt scheint, kommt der Spiritualismus
Schellings doch auch bald zum Vorschein; besonders wenn die Weltseele
der Schellingschen Naturphilosophie sich selber charakterisiert und die
Alleinheit der Natur predigt:

    Ich bin der Gott, der sie [die Natur] im Busen hegt,
    Der Geist, der sich in allem bewegt.
    Vom ersten Ringen dunkler Kräfte
    Bis zum Erguß der ersten Lebenssäfte,
    Wo Kraft in Kraft und Stoff in Stoff verquillt,
    Die erste Blüt’, die erste Knospe schwillt,
    Zum ersten Strahl von neu gebornem Licht,
    Das durch die Nacht wie zweite Schöpfung bricht,
    Und aus den tausend Augen der Welt
    Den Himmel so Tag wie Nacht erhellt,
    Hinauf zu des Gedankens Jugendkraft,
    Wodurch Natur verjüngt sich wieder schafft,
    Ist +eine+ Kraft, +ein+ Pulsschlag nur, +ein+ Leben,
    Ein Wechselspiel von Hemmen und von Streben.

Standen indes die Schleiermacher und Novalis einem solchen
Glaubensbekenntnis wirklich so fern? Schelling schiebt übertreibend die
romantischen Genossen etwa an die Stelle, auf der F. H. Jacobi steht,
wenn er spottet:

    Deswegen mir nichts ist so sehr verhaßt
    Als so ein fremder fürnehmer Gast,
    Der auf der Welt herumstolziert
    Und schlechte Red’ im Munde führt
    Von der Natur und ihrem Wesen,
    Dünkt sich besonders auserlesen.
    Ist eine eigne Menschenklasse,
    Von eignem Sinn und geistlicher Rasse,
    Halten all’ andre für verloren,
    Haben ewigen Haß geschworen
    Der Materie und ihren Werken.

Aber das Ganze stellt ja nur einen übertreibenden Scherz dar, mag
es immerhin auf eine Kluft deuten, die, vorläufig noch leicht
überbrückbar, später mehr und mehr sich auftun sollte. Noch
betrachteten die romantischen Genossen solche Gegensätze und ihre
humoristische Darlegung so ganz vom Standpunkt des rein Geistigen,
um nicht zu sagen des Witzspiels, daß sie Novalis’ Bekenntnis neben
dem Schellings im „Athenaeum“ abzudrucken geneigt waren. Ihrer
„Philironie“ hätte solche Betonung der Gegensätze ihres eigenen
Glaubensbekenntnisses zugesagt. Da aber legte Goethe, den man um Rat
angegangen hatte, sein Veto ein, Goethe, der mit Heinz Widerporst im
Innersten gegen die romantischen Religiösen sich einig fühlte, der in
Schellings Gedicht Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein
finden mußte.

Die geistige Freiheit und „Philironie“ verschwand auf allen
beteiligten Seiten in dem Augenblick, da die Romantik von der
Diskussion der Ideen zur Tat weiterschritt. Fr. Schlegels Übertritt
ins katholische Lager setzte Hardenbergs Theorie in Praxis um. Um 1800
aber steht Schlegel diesem Schritt noch so fern, daß seine nächsten
kulturhistorischen Konstruktionen von dem Aufbau des Hardenbergschen
Aufsatzes weit abliegen; nur nach der Konversion nähert sich Schlegels
Geschichtsphilosophie dem Aufsatze „Die Christenheit oder Europa“.

Im Zeitalter des „Athenaeums“ hatte sich Fr. Schlegels erste
welthistorische Konstruktion im romantischen Sinne verschoben. Der
antiken Harmonie war Disharmonie gefolgt, aus dieser Disharmonie
aber leitete die Romantik, sei es, daß sie mit Fichte im Sinne der
romantischen Ironie freieste, allseitigste Beweglichkeit vertrat,
sei es, daß sie mit Schelling den organisch notwendigen Prozeß
steten Bewußterwerdens durchlebte, zu neuer Harmonie weiter. Diese
Konstruktion änderte sich in dem Augenblick, da der +Orient+ in den
Gesichtskreis Fr. Schlegels trat. Auch Novalis hat in seinen letzten
Kundgebungen immer wieder auf den Orient hingewiesen.

Wohl muß geschieden werden zwischen mystischen Andeutungen, die an ein
Lieblingsbuch Hardenbergs, an Jung-Stillings „Heimweh“ (1794) erinnern,
und unverhüllten, unzweideutigen Hinweisen auf Orient und Morgenland.
Jung-Stilling denkt an Christus und Christenglauben, wenn er vom Osten
und vom Morgenland redete; ähnlich meint es das zweite geistliche Lied
Hardenbergs, wenn es einsetzt: „Fern in Osten wird es helle“ (1, 64).
Mystisch mindestens, wenn auch nicht im Heimwehsinne Stillings, sagt
die 133. Idee: „Zunächst rede ich nur mit denen, die schon nach dem
Orient sehen.“ Und ebenso mystisch klingt das Nachwort der „Ideen“ aus,
die Widmung an Novalis: „Allen Künstlern gehört jede Lehre vom ewigen
Orient. Dich nenne ich statt aller andern“ (2, 307).

Realer erscheint der Orient und Indien in dem Aufsatze „Die
Christenheit oder Europa“ (2, 37. 39) und im „Ofterdingen“ (4, 142).
An östliche Kultur denkt Fr. Schlegel wirklich, wenn es im „Gespräch
über die Poesie“ (2, 362) heißt: „Im Orient müssen wir das höchste
Romantische suchen.“ Ebenso ist es mit dem Fragment Hardenbergs:
„Größere Einfachheit -- wenigere aber besser verteilte Massen der
Natur, des Lebens und der Menschen im Orient. Die orientalischen
Menschen, Lebensalter usw. unterscheiden sich sehr von den unsrigen“
(3, 298). Eben diese Beobachtung kehrt bei Fr. Schlegel wieder und wird
von ihm verwertet und weiter gedacht.

Der Aufsatz, der programmartig den ersten Band von Fr. Schlegels
„Europa“ (1803) eröffnet, sucht den Orient in die welthistorische
Konstruktion einzubeziehen und entdeckt in ihm eine Synthese der
Gegensätze, die in Europa walten und gewaltet haben. Was im Orient
aus +einer+ Quelle entspringt, sollte sich in Europa teilen und
künstlicher entfalten. Vorzügliche Eigenheiten der beiden Gegensätze
klassisches Altertum und moderne romantische Zeit sind in Indien
zur höchsten Schönheit vereint oder bestehen, ohne sich gegenseitig
auszuschließen, dicht nebeneinander. So finden die geistigste
Selbstvernichtung der Christen und der üppigste, wildeste Materialismus
in der Religion der Griechen ihr höheres Urbild in Indien. Fr.
Schlegel ist denn nicht abgeneigt, die europäische Trennung des
Klassischen und Romantischen unnatürlich und verwerflich zu finden.
Katholische Kunst und neueste Philosophie bezeugen ihm, daß eine
Verknüpfung von Klassischem und Romantischem wohl denkbar sei: die
katholische Religion habe sich den künstlerischen Glanz und Reiz, die
poetische Mannigfaltigkeit und Schönheit der griechischen Mythologie
und Gebräuche zu eigen gemacht, die Philosophie -- nicht nur der
Idealismus, auch schon Spinoza -- stimme mit der antiken Philosophie
derart überein, daß sie nur deren Fortsetzung zu sein scheine. Diese
Übereinstimmung alter und neuer Philosophie sei ja begreiflich, da die
Trennung und immer weiter getriebene Trennung des Einen und Ganzen
aller menschlichen Kräfte und Gedanken schon im Altertum einsetze.
Jetzt freilich sei die Trennung an der äußersten Grenze angelangt.
„Tiefer kann der Mensch nun nicht sinken.“ Pessimistischer als je
urteilt Fr. Schlegel hier über die Gegenwart: „Daraus, daß es so
weit gekommen ist, folgt mit nichten, daß es nun bald besser werden
müsse. Ferne sei es von uns, so eilfertig zu schließen. Wir werden im
Gegenteile nichts dagegen einwenden, wenn ein historischer Philosoph
nach reifer Beobachtung es am wahrscheinlichsten finden sollte, daß
das Geschlecht der Menschen in Europa sich keinesweges zum Bessern
erheben, sondern vielmehr nach einigen fruchtlosen Versuchen dazu in
immer wachsender Verschlimmerung durch die innere Verderbtheit endlich
auch äußerlich in einen Zustand von Schwäche und Elend versinken werde,
der nun nicht höher steigen kann, und in dem sie alsdann vielleicht
Jahrhunderte unverändert beharren oder doch erst durch eine Einwirkung
von außen herausgezogen werden möchten“ (S. 36). Eine Revolution müßte
vom Orient kommen: „Wir können es doch nicht vergessen haben, woher uns
bis jetzt noch jede Religion und jede Mythologie gekommen ist, d. h.
die Prinzipien des Lebens, die Wurzeln der Begriffe.“

Die Verknüpfung des Klassischen und Romantischen, die Beseitigung der
Schranken, die beide Begriffe trennen, ist ein natürliches Ergebnis von
Fr. Schlegels Sinnesart. Auf Allheit war er von Anfang aus gewesen,
größte Vielseitigkeit ist von vornherein sein Programm. Der Begriff
der romantischen „Universalpoesie“ deutet auf dieses Programm; das
„Gespräch über die Poesie“ hatte vollends den Begriff des Poetischen
fast ins Unermeßliche erweitert. Das Verbinden der Gegensätze,
die Fähigkeit sich jederzeit in jedem Sinne selbst bestimmen zu
können, ist Fr. Schlegels Lieblingstendenz gewesen, seitdem er seine
„revolutionäre Objektivitätswut“ überwunden hatte. Nun galt es Antikes
und Modernes, Klassisches und Romantisches auch in der Praxis aufs
kühnste zu binden. Das Probestück der neuen Theorie ist sein „Alarkos“
(1802). Schon das Versmaß strebt die Versöhnung der Gegensätze an. Der
spanische Rhythmus vereint sich mit dem Trimeter zu einem Kunstwerk.
Dem Formenreichtum der romantischen Dramen, der zunächst spanischen
Vorbildern abgesehen war, ersteht eine neue Erweiterung, die noch
in Goethes „Faust“, zunächst im dritten Akte des zweiten Teiles
künstlerisch fördernd wirkt.

Dem Einflusse der indischen Philosophie auf die europäische ist fortan
Fr. Schlegel mehrfach beobachtend gefolgt, so natürlich in dem Buche
„Über die Sprache und Weisheit der Indier“ (1808, S. 204 ff.) und
in der fünften Vorlesung über die „Geschichte der alten und neuen
Literatur“ (1815, I, 187 ff.). Das Problem des Entwickelungsganges der
Menschheit spielt ferner fast in allen seinen späteren Schriften eine
Rolle, so zunächst in den Paris-Kölner Vorlesungen. Die Umschreibung
des Begriffes „Romantisch“ gewinnt bei diesen Erwägungen neue Formen.
Immer stärker tritt das christliche oder vielmehr katholische Element
der Weltanschauung von Fr. Schlegels letzter Entwickelungsphase in
den Vordergrund. Und zwar dehnt sich infolgedessen sein Begriff des
Romantischen bald unendlich weit aus, bald zieht er sich wieder
zusammen. Das Problem der Harmonie wird dabei in wechselnder
Betrachtung immer neu gefaßt. Bald decken sich Harmonie und Romantik,
bald treten sie weit auseinander. Die weiteste Ausdehnung erfährt das
Romantische um die Mitte des zweiten Dezenniums des 19. Jahrhunderts.

Zu dieser Zeit ist Fr. Schlegel der in der „Europa“ aufgestellten
Behauptung, daß eine Verknüpfung des Klassischen und Romantischen
denkbar sei und daß der Katholizismus eine solche Verbindung
verwirkliche, in den Wiener Vorlesungen über „Geschichte der alten
und neuen Literatur“ (1815, 2, 128 ff.) weiter nachgegangen. Bei
Gelegenheit der spanischen Poesie wiederholt er die These, daß das
Romantische mit dem Alten und wahrhaft Antiken nicht streite. Das
Romantische aber beruht diesmal für Fr. Schlegel „auf dem mit dem
Christentum und durch dasselbe auch in der Poesie herrschenden
Liebesgefühl, in welchem selbst das Leiden nur als Mittel der
Verklärung erscheint, der tragische Ernst der alten Götterlehre und
heidnischen Vorzeit in ein heiteres Spiel der Phantasie sich auflöst
und dann auch unter den äußern Formen der Darstellung und der Sprache
solche gewählt werden, welche jenem inneren Liebesgefühl und Spiel
der Phantasie entsprechen“. Gedanken, die in dem „Gespräch über die
Poesie“ schon auftauchen, finden hier eine mehr und mehr katholische
Färbung. Der Katholizismus entwickelt sich Schritt für Schritt
zum Hort der Allseitigkeit, die Schlegel von Jugend auf anstrebt.
Dieser katholischen Romantik werden nunmehr die „Sage von Troja“ und
die homerischen Gesänge nahegerückt und „alles, was in indischen,
persischen und andern alten orientalischen oder europäischen Gedichten
wahrhaft poetisch ist“. „Wo irgend das höchste Leben mit Gefühl und
ahndungsvoller Begeisterung in seiner tieferen Bedeutung ergriffen
und dargestellt ist, da regen sich einzelne Anklänge wenigstens jener
göttlichen Liebe, deren Mittelpunkt und volle Harmonie wir freilich
erst im Christentum finden.“ Selbst in den Tragikern der Alten spürt er
jetzt Anklänge dieses Gefühls. Ja das Romantische, das nun vollends zur
Universalpoesie geworden ist, hat nur zwei Gegensätze: das fälschlich
unter uns wieder aufgestellte „Antikische“, das ohne innere Liebe bloß
die Form der Alten nachkünstelt, und das Moderne, das die Wirkung auf
das Leben zu erreichen glaubt, indem es sich ganz an die Gegenwart
anschließt und sich in die Wirklichkeit einengt.

Ein Zusatz der Ausgabe von 1822 (2, 128) geht noch weiter: nunmehr
wird die Harmonie der katholischen Dichtkunst noch über die der Antike
gesetzt. Die „allegorisch-christliche Dichtkunst“, die in Calderon
gipfelt, ist „keine bloße Natur- oder fragmentarisch zerstreute und
größtenteils unbewußte Volkspoesie, noch auch eine bloß mit der
äußeren Bilderhülle spielende, sondern eine zugleich den tiefen Sinn
erkennende, mithin wohlbewußte und wissende Poesie des Unsichtbaren“.
Was bei den Alten geschieden war, die strenge Symbolik der Mysterien
und die eigentliche Mythologie oder die „neue, sinnliche Heldenpoesie“,
ist hier vereinigt. Alles ist in ihr durch und durch symbolisch. Diese
Symbolik, die in dem Naturgeheimnis der Seele begründet ist, hat
auch Shakespeare erreicht, Calderon aber zur christlichen Verklärung
durchgeführt.

Es sind die alten, um 1800 gewonnenen Gesichtspunkte: die Darstellung
des Unendlichen im Endlichen, die Allseitigkeit, die Forderung einer
bewußten Poesie; aber alles spitzt sich jetzt auf den Katholizismus zu.
Religion, Liebe, Mittlertum -- alles war schon in den „Ideen“ verwertet
worden, alles das hatte dort dem Begriffe der romantischen Poesie
sich eingegliedert. Jetzt sind indes diese Vorstellungen verengt und
genauer, nicht im übertragenen, sondern im katholischen Sinne gefaßt.

Das katholische Kredo gestattet Schlegel noch ganz zuletzt, einen
höchsten Typus der Harmonie in katholischem Sinne welthistorisch zu
konstruieren. Ausführlich erwogen wird das Problem in den achtzehn
Wiener Vorlesungen von 1828 über „Philosophie der Geschichte“ (1829).
Nun hat er ganz die Formen katholischen Denkens angenommen; freilich
deckt sich manches auch mit Lehren Böhmes, auf die oben (S. 76) Bezug
genommen worden ist: Es ist Aufgabe der Philosophie, das verlorene
göttliche Ebenbild im Menschen wiederherzustellen. Aus freier Wahl
ist der Mensch durch den Sündenfall um die Herrschaft über die Natur
gekommen und unter sie herabgesunken. Verwilderung und Ausartung war
die Folge; ein Kampf der Urvölker, in der mosaischen Tradition als
Kampf der Kainiten und Sethiten berichtet, aber ebenso der ältesten
Tradition aller Völker zugrundeliegend, vollzieht sich. Doch auch der
einzelne Mensch wird uneinheitlich. Nur Genies, große Charaktere oder
gottinnige Menschen können sich wieder zur ursprünglichen Einheit
erheben. Das höhere Licht der göttlichen Wahrheit ward durch das
Christentum der Wissenschaft und dem Leben näher gebracht, nachdem
die Juden schon als Wegweiser zur Erkenntnis Gottes sich erwiesen
hatten. Das vierte Weltalter, an dessen Grenze Fr. Schlegel seine
Zeit setzt, wird den Sieg des Lichtes über die Finsternis bringen.
Voraussetzung der ganzen Konstruktion ist der Glaube an Christus und an
das Gnadengeheimnis der göttlichen Erlösung des Menschengeschlechtes.
Ohne diesen Glauben wäre die ganze Weltgeschichte „nichts als ein
Rätsel ohne Lösung, ein Labyrinth ohne Ausgang, ein großer Schutthaufen
aus den einzelnen Trümmern, Steinen und Bruchstücken von dem nun
unvollendet gebliebenen Bau, aus der großen Tragödie der Menschheit,
die alsdann gar kein Resultat haben würde“ (2, 9).

Innerhalb dieser Entwickelung, die eine letzte Umgestaltung der alten
Schillerschen und frühromantischen Konstruktion bedeutet, erscheint
eine Stufe der Harmonie, ein besonders begünstigtes Zeitalter, das alle
die Vorteile sein eigen nennt, mit denen Schiller und der junge Fr.
Schlegel die griechische Antike bedenken. Es ist das vorghibellinische
Mittelalter. Fr. Schlegel denkt an den Augenblick, da der deutsche
Stammescharakter und die germanische Natur- und Heldenkraft mit dem
römischen Weltverstande durch die christliche Liebe und religiöse
Gesinnung ganz in Harmonie gesetzt und in eins verschmolzen waren. Aus
dieser glücklichen Mischung gingen die großen und milden Charaktere
Karls des Großen und Alfreds hervor. Sobald die religiöse Macht
der christlichen Gesinnung nachließ, fielen die Elemente, die die
Menschheit zur Vereinigung gebracht hatten, wieder auseinander. Und in
dieser Zersplitterung wurzelt das Romantische; ihr entkeimt Dantes Werk
ebenso wie Baukunst und Malerei des Mittelalters.

Und doch erscheinen hier wiederum nur alte Thesen der frühromantischen
Zeit in neuem Lichte! Ganz überraschend aber ist die Übereinstimmung
einzelner Behauptungen Fr. Schlegels mit Hardenbergs Aufsatz: „Die
Christenheit oder Europa“. Wohl ist manches modifiziert, mindestens
historisch genauer umgrenzt; aber an beiden Stellen erscheint das
gläubige Mittelalter, die Zeit da Staat und Kirche Hand in Hand gehen,
als eine Epoche der Harmonie, gedacht wie das Griechentum der Briefe
„Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ oder der Abhandlung
„Über das Studium der griechischen Poesie“. Über ein Menschenalter weg
reichen sich Novalis und sein zum Ultramontanen gewordener Jugendfreund
die Hand. Kühne, hoch über der Erde schwebende Ahnungen Hardenbergs
sind jetzt zu Leitsätzen der ultramontanen Geschichtsphilosophie Fr.
Schlegels geworden.

Ein unvereinbarer Widerspruch besteht indes nicht zwischen dieser
letzten welthistorischen Konstruktion Fr. Schlegels und der Anschauung
des Romantischen in den Wiener Vorlesungen über „Geschichte der
alten und neueren Literatur“. Vielmehr handelt es sich nur um
den Gegensatz, der von Anfang an in der romantischen Fassung des
Begriffes „Harmonie“ liegt. Mit Schiller hat Fr. Schlegel in seiner
ersten „objektiven“ Zeit die Griechen zu Vertretern einer Harmonie
gestempelt, die alle Gegensätze zu voller Einheitlichkeit verknüpft.
Dann war ihm die proteusartige Beweglichkeit, die Fähigkeit von
einem Gegensatz zum anderen zu springen und das Widersprechendste zu
einer Einheit zu verknüpfen, als Ideal menschlicher Allseitigkeit
aufgegangen. Dieses Ideal liegt der romantischen Poesie zugrunde;
dieses Ideal findet er wieder im Orient, findet es in einem Reichtum
und in einer Fülle der Gegensätze, die selbst die Antike einseitig
erscheinen läßt. Im Organismus der orientalischen Kultur ist für
Fr. Schlegel der Zwischenraum zwischen den beiden Polen größer als
in irgendeinem anderen Kultursystem; und doch ist auch dieser ganze
Organismus nur +ein+ Magnet (s. oben S. 42). Nun kann er in den
Wiener Vorlesungen das Romantische überall da entdecken, wo ähnlicher
Reichtum sich zeigt. 1828 kehrt er zu der einheitlichen Harmonie
zurück, im Gegensatz zu der das Romantische wohl als reicher, aber
auch als zersplitterter erscheint. Und jetzt schreibt er, ultramontan
geworden, der Zeit des Mittelalters, in der germanisches Heldentum und
romanische Kirche Hand in Hand gehen, solche Harmonie, eine Harmonie im
klassischen Sinne, zu.

Vorweggenommen hatte diese Anschauung Hardenbergs Aufsatz „Die
Christenheit oder Europa“. Und schon aus diesem Grunde bezeichnet
er einen entscheidenden Schritt zur späteren katholischen Wendung
der Romantik hin. Seine Verherrlichung des katholischen Mittelalters
bereitet das Zeitalter der Bekehrungen und Konversionen vor.

Eine weitere Vorstufe bildet frühromantische Verklärung der
christlichen Malerei. Ist doch auch Novalis’ Aufsatz nicht unberührt
geblieben von den Hymnen, die der christlichen Malerei von ihren
frühromantischen Vergötterern gesungen worden sind.



IV. Tiecks und Wackenroders Anteil.


1. Deutsches Mittelalter. Spanien.

Ganz aus Eigenem hatte Novalis sein Bild des katholischen Mittelalters
nicht geschöpft. Die neue Freundschaft mit +Tieck+ trug da ihre ersten
Früchte. Tieck ließ in die romantische Gedankenwelt +Wackenroders+
Ströme münden. Es ist vielleicht das merkwürdigste Phänomen der ganzen
Entwickelungsgeschichte der deutschen Romantik, daß eine Haupttendenz,
die bald darauf alle anderen Bestrebungen der Frühromantik überwuchern,
der Mit- und Nachwelt als Mittelpunkt deutscher Romantik erscheinen
und ihr die nachhaltigsten kulturellen und künstlerischen Wirkungen
schenken sollte, von einem überzarten, kränklichen, früh dem Tode
verfallenen Jüngling ausgegangen ist, der mit den Führern der
frühromantischen Bewegung wenig oder gar keine Fühlung hatte, in seinem
innersten Wesen zu den romantischen Proteusnaturen nicht paßte. Fr.
Schlegel aber, der ihn nur flüchtig kennen lernte, hat den Nagel auf
den Kopf getroffen, als er Anfang November 1797 an seinen Bruder
schrieb (S. 307), ihm sei Wackenroder „der liebste aus dieser ganzen
Kunstschule“, d. h. aus dem Kreise Tiecks, und hinzusetzte: „Er hat
wohl mehr Genie als Tieck; aber dieser gewiß weit mehr Verstand.“

Bei keinem der Frühromantiker war die Gemütseite gleich stark, fast
einseitig entwickelt wie bei Wackenroder. Auch Hardenberg drängt es
energischer aus den Kreisen des Unbewußten zur Klarheit hin. Dennoch
steht er Wackenroder gewiß am nächsten; und der Zauber, den Tieck
bei der ersten Bekanntschaft auf Novalis ausgeübt hat, ruhte ohne
Zweifel auf den Eigenheiten Tiecks, die der Verkehr mit Wackenroder in
ihm ausgelöst hatte; Tieck selber aber fand in Novalis viel von dem
wieder, was er durch Wackenroders Tod verloren hatte, verstand sich
aber auch, der anpassungs- und wandlungsfähige, Novalis von der Seite
zu nehmen, von der er seinerzeit Wackenroder gewonnen hatte, eben
von der Seite des Gemüts. Als Gemütsmensch mit geringer Neigung zur
Selbstanalyse und „intellektueller Anschauung“ in Fichtes Sinne fühlte
Wackenroder auch unter allen Frühromantikern dem Sturm und Drang sich
am nächsten verwandt; und darum widmete er sich, verbunden mit Tieck,
der eigentlichen Weiterleitung der Lieblingsideen, in denen die Stürmer
und Dränger mit den Romantikern übereinkommen. Zunächst übernahm er das
Interesse der siebziger Jahre für altdeutsches Wesen, altdeutsche Kunst
und altdeutsche Dichtung.

Er ist da Schüler Herders und teilt mit seinem Lehrer die Fähigkeit,
individuelle Schönheit nachzufühlen, vor allem die nationale
Individualität in ihrer künstlerischen Ausprägung zu verstehen und zu
würdigen. Nicht einseitig lokalpatriotischer Nationalismus, sondern der
ernste Wille und die Begabung allseitiger Einfühlung ist Wackenroder
wie Herdern eigen. In den „+Herzensergießungen eines kunstliebenden
Klosterbruders+“ (1797, S. 106 f.) heißt es: „Uns, Söhnen dieses
Jahrhunderts, ist der Vorzug zuteil geworden, daß wir auf dem Gipfel
eines hohen Berges stehen, und daß viele Länder und viele Zeiten unsern
Augen offenbar, um uns herum und zu unseren Füßen ausgebreitet liegen.
So lasset uns denn dieses Glück benutzen und mit heitern Blicken über
alle Zeiten und Völker umherschweifen und uns bestreben, an allen
ihren mannigfaltigen Empfindungen und Werken der Empfindung immer das
Menschliche herauszufühlen.“

Zum Verständnis älterer deutscher Literatur wurde Wackenroder von
seinem Lehrer Erduin Julius Koch geführt. Schon Anfang Dezember
1792 gesteht er dem Freunde Tieck: „Da hab’ ich denn manche sehr
interessante Bekanntschaft mit altdeutschen Dichtern gemacht und
gesehn, daß dies Studium, mit einigem Geist betrieben, sehr viel
Anziehendes hat.“ Tieck antwortete wenig ermutigend, genau mit
demselben Einwand, den Schiller später der von Tieck besorgten
Sammlung der Minnelieder entgegenhielt (28. Dezember); er beklagt
die „erstaunliche Einförmigkeit“ der Minnesänger. „Es ist überhaupt
schon gar keine Empfehlung für den poetischen Geist dieses Zeitalters,
daß es nur diese eine Art von Gedichten gab, nur diesen Zirkel von
Empfindungen, in denen sich jeder wieder mit mehr oder weniger Glück
herumdrehte.“ Schwindel und Wüstheit des Kopfes sei die Folge, wenn
man sich mit vielen lange herumdrehe. Wackenroder indes ließ sich
nicht beirren; und wirklich wurde im Sommersemester 1793, das beide
Freunde zu Erlangen verbrachten, Tieck zu altdeutschen Studien bekehrt,
die sich zunächst allerdings den Volksbüchern zuwandten. Wackenroder
schritt inzwischen von altdeutscher Dichtung zu altdeutscher Kunst
weiter; neu erwachte in ihm die Liebe, die einst in und nach
Straßburg den jungen Goethe zum Bewunderer Erwins von Steinbach
und Dürers gemacht hatte. „Nicht bloß unter italienischem Himmel,
unter majestätischen Kuppeln und korinthischen Säulen -- auch unter
Spitzgewölben, krausverzierten Gebäuden und gotischen Türmen wächst
wahre Kunst hervor,“ erklären die „Herzensergießungen“ (S. 129). Von
gleichen Erwägungen aus hatte Heinse sich den Weg zu Rubens gebahnt.

Liebevoll in die Kunst deutschen Altertums, zunächst in die Malerei
Dürers eindringend, schuf sich Wackenroder ein gewiß idealisiertes,
aber doch stark gefühltes und von mächtiger Stimmung getragenes
Bild deutscher Vergangenheit. „Als Albrecht den Pinsel führte, da
war der Deutsche auf dem Völkerschauplatz unsers Weltteils noch ein
eigentümlicher und ausgezeichneter Charakter von festem Bestand; und
seinen Bildern ist nicht nur in Gesichtsbildung und im ganzen Äußeren,
sondern auch im inneren Geiste dieses ernsthafte, grade und kräftige
Wesen des deutschen Charakters treu und deutlich eingeprägt“ (S.
121 f.). Das ist die Stimmung, aus der heraus in Hardenbergs Aufsatz
„Die Christenheit oder Europa“ das deutsche Wesen alter Zeit gesehen
ist (s. oben S. 78); ebenso auch im „Ofterdingen“ und in mehreren
Jugenddichtungen Tiecks. Dieselbe Stimmung kehrt später noch in ihrer
höchsten künstlerischen Form wieder, wenn Moritz v. Schwind sein
Märchen von den sieben Raben oder seine schöne Melusine schafft oder
die Fresken aus dem Leben der heiligen Elisabeth auf der Wartburg. Da
klingt und singt es wirklich wie aus einer fernen schönen Welt. Es ist
gewiß nicht das wahre Mittelalter, sondern ein eingebildetes; aber es
ist doch noch etwas anderes als das „Mittelalter der Ritterdramen und
Ritterromane mit seinen physiognomielosen, verschwommenen Personen
und seinen einförmig biederen Gesinnungen“ (W. Scherer, Jakob Grimm,
2. Aufl. S. 60 f.). Denn die feine Seele Wackenroders hat diesem
deutschen Mittelalter einen Schimmer geliehen, der den derberen Händen
der Ritterdramatiker, selbst eines Maler Müller, nicht gegönnt war.
Wichtiger aber noch ist, daß Wackenroders verschönendes Auge auch die
Schlegel und Novalis gelehrt hat, das Mittelalter und das Deutschtum in
diese Stimmung zu tauchen.

Denn ehe Wackenroder durch Tiecks Vermittelung auf Hardenberg wirkt,
ist von einer Verklärung deutschen Mittelalters bei den Jenenser
Genossen nichts zu spüren. Wohl besteht von Anfang an ein starkes
Bewußtsein deutscher Kraft. Doch das 38. Lyceumfragment Fr. Schlegels
lautet: „An dem Urbilde der Deutschheit, welches einige große
vaterländische Erfinder aufgestellt haben, läßt sich nichts tadeln
als die falsche Stellung. Diese Deutschheit liegt nicht +hinter+
uns, sondern +vor+ uns.“ Und noch in die „Ideen“ ist Wackenroders
Glaubensbekenntnis nur zum Teil aufgegangen: „Nicht Herrmann und
Wodan sind die Nationalgötter der Deutschen, sondern die Kunst und
die Wissenschaft. Gedenke noch einmal an Keppler, Dürer, Luther,
Böhme; und dann an Lessing, Winckelmann, Goethe, Fichte. Nicht auf
die Sitten allein ist die Tugend anwendbar; sie gilt auch für Kunst
und Wissenschaft, die ihre Rechte und Pflichten haben. Und dieser
Geist, diese Kraft der Tugend unterscheidet eben den Deutschen in der
Behandlung der Kunst und der Wissenschaft“ (Nr. 135). Das ist die
Auffassung von deutscher Größe, deutscher Art und Kunst, die auch in
den Jugendbriefen Friedrichs an Wilhelm sich offenbart: nicht das
Germanische wird betont, nicht Klopstocks Teutonismus gepredigt,
sondern den Schöpfern der neueren deutschen Kultur gehuldigt. Dabei
macht sich die Ansicht geltend, die Novalis gern vertritt: Deutschland
ist im Begriff die geistige Führung Europas an sich zu nehmen. Um 1800
bekennt sich auch Schiller zu diesem Glauben und möchte Deutschlands
Größe feiern. „Der Deutsche“, sagt Novalis einmal (2, 124), „ist lange
das Hänschen gewesen. Er dürfte aber wohl bald der Hans aller Hänse
werden. Es geht ihm, wie es vielen dummen Kindern gehn soll: er wird
leben und klug sein, wenn seine frühklugen Geschwister längst vermodert
sind und er nun allein Herr im Hause ist.“ Fr. Schlegel und Novalis
sind durchaus nicht darauf aus, den Deutschen zu idealisieren. Am
besten spürt man den Unterschied, der zwischen ihnen und Wackenroder
auch noch zu der Zeit bestand, da das „Athenaeum“ zu Ende ging, in
der 120. Idee: „Der Geist unsrer alten Helden deutscher Kunst und
Wissenschaft muß der unsrige bleiben, solange wir Deutsche bleiben.
Der deutsche Künstler hat keinen Charakter oder den eines Albrecht
Dürer, Keppler, Hans Sachs, eines Luther und Jakob Böhme. Rechtlich,
treuherzig, gründlich, genau und tiefsinnig ist dieser Charakter, dabei
unschuldig und etwas ungeschickt. Nur bei den Deutschen ist es eine
Nationaleigenheit, die Kunst und die Wissenschaft bloß um der Kunst
und der Wissenschaft willen göttlich zu verehren.“ Noch ruht der Blick
zu scharf auf den Dingen, um Wackenroders Idealisierung zuzulassen.
Aus gleichem Gesichtspunkte ist Fr. Schlegels Mahngedicht „An die
Deutschen“ (Athenaeum 3, 165 ff.) gesehen. Dagegen atmen seine beiden
Sänge „Bei der Wartburg“ und „Am Rheine“ von 1802 (Europa 1, 1, 8 und
15) schon die ganze Stimmung Wackenroders und des „Ofterdingen“.

Aus dieser Stimmung wird die romantische Germanistik geboren.
Wackenroders Freund Tieck geht voran. Während Fr. Schlegel um 1800
sich noch wenig um altdeutsche Literatur kümmert, Wilhelm allerdings
schon einige Kenntnis verrät und da und dort ein bedeutsames Wort
über altdeutsche Poesie einschiebt, Hardenberg aber durch Wilhelm
die -- übrigens von ihm nicht verwertete -- Literatur über Heinrich
von Ofterdingen sich nachweisen läßt, tritt 1803 +Tieck+ als erster
mit einer Sammlung mittelhochdeutscher Poesie hervor, mit seinen
neubearbeiteten „+Minneliedern aus dem Schwäbischen Zeitalter+“. Mag
die halbschürige Übertragung ins Neuhochdeutsche uns heute unerträglich
sein, sicher bleibt die Vorrede (Kritische Schriften 1, 185 ff.) der
erste Versuch -- und ein sehr erfolgreicher obendrein -- die Dichtung
des deutschen Mittelalters in den Rahmen der romantischen Poesie
charakterisierend einzuordnen. Jakob Grimm wurde von der Skizze Tiecks
aufs tiefste ergriffen. Nicht das Wissen Tiecks, nicht seine kühnen und
mitunter ganz glücklichen Zusammenfassungen, auch nicht eine Bemerkung
über den Verfasser des Nibelungenliedes, die Lachmanns Forschungen
vorwegnimmt, nicht diese Einzelheiten mögen auf Grimm überwältigend
gewirkt haben; vielmehr die Gesamtanschauung des deutschen
Mittelalters, die durchaus im Geiste Wackenroders und Hardenbergs
gehalten ist. Für Tieck ist das Mittelalter vor allem eine Zeit, die
durch einen besonders innigen, empfänglichen und vielumfassenden Sinn
für Poesie ausgezeichnet war. „Der Ritterstand verband damals alle
Nationen in Europa, die Ritter reisten aus dem fernsten Norden bis
nach Spanien und Italien, die Kreuzzüge machten diesen Bund noch enger
und veranlaßten ein wunderbares Verhältnis zwischen dem Orient und dem
Abendlande; vom Norden sowie vom Morgen her kamen Sagen, die sich mit
den einheimischen vermischten, große Kriegsbegebenheiten, prächtige
Hofhaltungen, Fürsten und Kaiser, welche der Dichtkunst gewogen waren,
eine triumphierende Kirche, die Helden kanonisierte, alle diese
günstigen Umstände vereinigten sich, um dem freien unabhängigen Adel
und den wohlhabenden Bürgern ein glänzendes Leben zu erschaffen, in
welchem sich die erwachte Sehnsucht ungezwungen und freiwillig mit der
Poesie vermählte, um klarer und reiner die umgebende Wirklichkeit in
ihr abgespiegelt zu erkennen. Gläubige sangen vom Glauben und seinen
Wundern, Liebende von der Liebe, Ritter beschrieben ritterliche Taten
und Kämpfe, und liebende, gläubige Ritter waren ihre vorzüglichsten
Zuhörer“ (1, 195 f.).

Die starke Idealisierung des Mittelalters, die Tieck vornimmt, wird
um einige Grade von Wilhelm Schlegel in seinen Berliner Vorlesungen
von 1803/4 herabgestimmt. Auch er möchte die altdeutsche Dichtung in
den Rahmen der romantischen Poesie einfügen; unzweifelhaft hat er
sehr viel von Tiecks Vorrede gelernt. Besonders aber suchte er das
„wunderbare Verhältnis zwischen dem Orient und dem Abendlande“ des
näheren zu beschreiben und zu ergründen; die neuen Errungenschaften
Fr. Schlegels leihen ihm die Mittel, den Orient näher zu erfassen.
Den romantischen Geist des deutschen Mittelalters, den „ritterlichen
Geist“, wie Schlegel ihn nennt, diese „mehr als glänzende, wahrhaft
entzückende und bisher in der Geschichte beispiellose Erscheinung“
(3, 89) leitet er geradezu aus der „Kombination der kernigten und
redlichen Tapferkeit des deutschen Nordens mit dem Christentum, diesem
religiösen orientalischen Idealismus“ ab. Knapper und zugleich mit
weiterem Umblick beleuchtete W. Schlegel dasselbe Problem in der ersten
der Wiener Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1808).
Diesmal schreitet er zu einer kulturhistorischen Konstruktion weiter,
die nicht nur den „ritterlichen Geist“ auf eine echt romantische Formel
bringt, sondern von der Verbindung des nordischen und christlichen
Wesens die Eigenheiten des Romantischen überhaupt ableitet und von
diesem Gesichtspunkte aus die Antithese klassisch und romantisch ganz
neu formt: bei den Griechen war die menschliche Natur selbstgenügsam,
sie ahnte keinen Mangel und strebte nach keiner Vollkommenheit, die
sie durch eigene Kraft nicht erreichen konnte. In der christlichen
Ansicht hat die Anschauung des Unendlichen das Endliche vernichtet.
„Das Leben ist zur Schattenwelt und zur Nacht geworden, und erst
jenseits geht der ewige Tag des wesentlichen Daseins auf“ (S. 16).
Diese Religion macht deutlich, daß wir nach einer hier unerreichbaren
Glückseligkeit trachten, daß kein äußerer Gegenstand jemals unsere
Seele ganz wird erfüllen können. So entstehen Lieder der Schwermut,
wenn die Seele ihr Verlangen nach der fremd gewordenen Heimat ausatmet.
„Die Poesie der Alten war die des Besitzes, die unsrige ist die der
Sehnsucht; jene steht fest auf dem Boden der Gegenwart, diese wiegt
sich zwischen Erinnerung und Ahndung.“ Melancholie ist mithin das Wesen
der nordischen Poesie.

Auf lange Zeit hinaus bindend ist diese Auffassung der germanischen
Poesie geblieben. Noch wenn Richard Heinzel und Wilhelm Scherer das
Wesen und den Stil der germanischen Dichtung ergründen wollen, klingt
W. Schlegels Anschauung von der mittelalterlichen Sehnsuchtspoesie
an. Auf die romantische Dichtung der Fouqué und Uhland hat sie stark
gewirkt.

Die Freunde des germanischen Altertums am Anfang des 19. Jahrhunderts
spinnen indes vor allem den Faden Wackenroders und Hardenbergs weiter,
die Lehre von der „kernigten und redlichen Tapferkeit des deutschen
Nordens“; sie idealisieren das deutsche Mittelalter durchweg. Voran
gehen die Heidelberger und unter ihnen wiederum Görres. Doch sie fühlen
sich noch von einer neuen Strömung getragen, wenn sie das germanische
Wesen feiern: sie sind national und Freunde des deutschen Volkes
geworden.

Die Germanistik endlich hat sich von W. Schlegels Berliner Vorlesungen
ebenso anregen lassen, wie von Tiecks Minneliedern. Fr. H. v. d. Hagen
war W. Schlegels Zuhörer und hat seine Dankesschuld gern bekannt.

Tiecks Interesse für katholische Kunst und Dichtung bringt die Romantik
auch mit den spanischen Dichtern in Fühlung. Tieck erobert ihnen den
größten Dichter des Katholizismus, +Calderon+. Calderon tritt im
romantischen Bewußtsein als Nebenbuhler neben Shakespeare.

+Shakespeare+ steht für die Schlegel von Anfang an im Vordergrund;
Tieck war unabhängig von der Schlegel an ihn herangekommen. Schon 1796
veröffentlichte er seine Bearbeitung von Shakespeares „Sturm“ und
fügte eine „Abhandlung über Shakspears Behandlung des Wunderbaren“
hinzu. Ohne den Autor des Büchleins zu kennen, besprach W. Schlegel
es in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung (Werke 11, 16 ff.),
mit Einschränkungen billigend, und fällte das Gesamturteil: „Ungeachtet
dieser und ähnlicher Übereilungen wird der Verfasser, wenn er seine
Gedanken über Sh. mehr reifen läßt, gewiß viel Gutes für ihn leisten
können.“ Wie dann die gemeinsame Arbeit der Genossen zu neuen
Erkenntnissen führt, wie an Shakespeare die romantische Theorie der
Poesie erwächst und jede neue theoretische Errungenschaft Shakespeare
zugute kommt, entwickelte jüngst lichtvoll Marie Joachimi-Deges Buch
„Deutsche Shakespeare-Probleme im 18. Jahrhundert und im Zeitalter der
Romantik“ (Leipzig 1907).

Leider hat weder Tieck ein geplantes umfassendes Werk über Shakespeare
zur Ausführung gebracht, noch W. Schlegel in selbständiger Darstellung
zusammengefaßt, was er und seine Gefährten an Shakespeare erkannt
und in ihm gefunden hatten. So bleibt die Krone frühromantischer
Shakespearearbeit das Fragment einer Übertragung seiner Dramen, das
W. Schlegel mit Carolinens Hilfe 1797-1810 Deutschland geschenkt
hat: die auch heute noch unbestritten beste deutsche Übersetzung
eines ausländischen Klassikers. Alle Vorschläge, an ihre Stelle
etwas noch Vortrefflicheres zu setzen, sind bisher auf kleinere
Verbesserungsversuche beschränkt geblieben, denen etwas Problematisches
anhaftet. Denn W. Schlegel ist der außerordentliche Erfolg zugefallen,
Shakespeare in seiner Verdeutschung zum deutschen Klassiker zu
stempeln. Shakespeares Verse in Schlegels Übertragung sind uns so
geläufig und werden genau so häufig und so gewohnheitsmäßig als
Sentenzen im täglichen Leben angeführt wie die Verse Goethes und
Schillers. Die Ergänzung von Schlegels Übertragung, von Tiecks Tochter
Dorothea und Graf Wolf Baudissin besorgt und unter Ludwig Tiecks Namen
1825-33 zum erstenmal gedruckt, ruft energischer nach einem neuen
Übersetzer und konnte nur, weil sie von Schlegels Meisterleistung
getragen wurde, den dauernden Erfolg erringen, der auch ihr zufiel.

Doch auch W. Schlegel ist nie wieder als Übersetzer gleich erfolgreich
gewesen. Sein Dante ist leider nie zu Ende geführt worden. Sein
„Spanisches Theater“ (1803-1809) hat zwar die ersten korrekten
Versionen Calderons vorgelegt und der Wirkung Calderons auf deutsche
Dichtung die Bahn gebrochen. Doch ist, auch nachdem andere wie J.
D. Gries weitere Stücke des Spaniers übertragen hatten, Calderon
niemals der deutschen Welt so geläufig geworden wie Schlegels
Shakespeare. Deutlich läßt diese gegensätzliche Wirkung verspüren,
daß die Übersetzung Shakespeares durch Schlegel nur den Abschluß
einer deutschen Kulturleistung bedeutet, die um die Mitte des 18.
Jahrhunderts mit J. E. Schlegel und Lessing einsetzt, an der fast
alle großen Vertreter deutschen Geisteslebens der zweiten Hälfte des
Jahrhunderts beteiligt sind, während die Entdeckung Calderons weit
jüngeren Datums, im wesentlichen romantisches Verdienst ist. Tieck
geht voran. Tiecks spanische Studien begannen 1793. Er nahm sie 1797
auf, um Cervantes’ „Don Quixote“ zu übertragen. Die Arbeit erschien
1799-1801 und lieferte Fr. Schlegel neues Material zur Ergründung
der romantischen Poesie, zunächst im „Gespräch über die Poesie“. Von
Cervantes schritt Tieck weiter zum Drama und zur Lyrik Spaniens,
ebenso wie er, um Shakespeare besser zu würdigen, dessen Zeitgenossen,
Vorläufer und Nachfolger studierte. Nun eröffneten sich ihm „die
entzückenden Träume des Calderon und die wundersamen Bilder der
spanischen Poeten“ (Schriften 6, S. XVIII f.). Später hat er auf den
Gegensatz hingedeutet, den er zwischen Shakespeare und Calderon walten
sah: Calderon steht der Antike näher. „In Form und Anwendung der
drei dichterischen Elemente“ kann er mit den Alten verglichen werden.
„Welche lyrische Ausbrüche der Leidenschaft, der Liebe, der Andacht in
seinen Romanzen und kanzonenartigen Versen. Welche Malerei, welches
Feuer in eben diesen Lyren, Romanzen und Ottaven. Kein Schauspiel,
fast kein Akt ist ohne solche Prachtstücke, diese gehören recht
eigentlich zum Wesen des spanischen Drama“ (Kritische Schriften 2,
194 f.; Einleitung zu Lenzens Schriften). Tiecks Aufsatz „Das deutsche
Drama“ (ebenda 4, 183 ff.) geht noch weiter: die englische und die
spanische Bühne seien völlig entgegengesetzt. Die spanische Bühne ist
zu dem Kultus der Religion nie in scharfen Gegensatz getreten; Wunder,
Legenden und andere Elemente katholischen Glaubens sind im spanischen
Drama nichts Seltenes. Die individuelle Zeichnung der Charaktere, die
Motivierung, das notwendige Fortschreiten der Handlung, die Weisheit
des Planes englischer Dramatik werde ersetzt durch dialektischen
Scharfsinn, künstliche und ergreifende Gegensätze, große Erschütterung,
Anregung der geheimsten Kräfte der Phantasie und poetische Allegorie.
„In einer Staatsrevolution, dem Untergange eines Königs oder Reiches
suche man ja nicht jene tiefsinnigen und überzeugenden Motive des
Shakespeare, die uns ebensoviel Psychologie wie Politik entwickeln...:
sondern die Tatsache wird auf Treu und Glauben angenommen, die
Erklärung wird schon vorausgesetzt, und die Handlung an Legende und
Anekdote, Leidenschaft oder Liebe geknüpft.“ Die Leidenschaft hat bei
Calderon eine gewisse Norm; Shakespeare und Goethe sind inniger und
herzlicher. „Kurz, was dem verständigen Deutschen oder Engländer das
Wichtigste ist, wird vom Spanier als Nebensache behandelt oder gar
nicht beachtet, und was dem Spanier die wahre Poesie und Drama ist,
liegt uns so fern, daß wir uns erst daran gewöhnen müssen und nie unser
Erstaunen darüber ganz verlernen können.“ Augenscheinlich stellt sich
Tieck mit diesen scharfen Urteilen in Gegensatz zu W. Schlegel, der
enthusiastischer auch als sein Bruder für Calderon Partei genommen
hatte. Mindestens gelangt Fr. Schlegel sehr spät dazu, Calderon
zu verherrlichen. Tieck aber ist von der Überschätzung Calderons
abgekommen, weil er in der Schicksalstragödie eine schlimme Frucht der
Bewunderung spanischer Dramatik erkennen mußte (vgl. a. a. O. S.
211 ff.).

Wie fern Fr. Schlegel noch im „Gespräch über die Poesie“ Calderon
steht, beweist die Ergänzung, die er hier 1823 Calderon zuliebe
vornahm. Ursprünglich hieß es da: „In der Poesie ... gab es zwar vom
Lope de Vega bis zum Gozzi manche schätzbare Virtuosen, aber doch
keine Poeten und auch jene nur für die Bühne“ (2, 352). Nun wurde der
völlig gegenteilige Satz eingefügt: „Die einzige, glänzende Ausnahme
bildet Calderon, der spanische Shakespeare, als wahrer Künstler
und großer Dichter, der aus der chaotischen Fülle der spanischen
Schauspiele, durch die Tiefe der Phantasie sowie durch die klare Form,
ganz abgesondert und einzig in seiner Vollendung hervortritt“ (Werke
5, 246 f.). Noch in Fr. Schlegels Wiener Vorlesungen von 1812 sind
die Momente, die gegen Calderon sprechen, stark betont (2, 132 ff.).
Und abermals wird 1822 ein ganzer Absatz eingefügt, der höchstes Lob
Calderons enthält (Werke 2, 127 f.). Hier wird Calderon nicht bloß mit
Shakespeare und Dante auf eine Stufe gestellt; hier heißt es auch: „Im
Calderon, als dem letzten Nachklange wie im strahlenden Abendrot des
katholischen Mittelalters, hat eben jene Wiedergeburt und christliche
Verklärung der Phantasie, welche den Geist und die Poesie desselben
überhaupt charakterisiert, den vollen Gipfel ihrer Verherrlichung
erreicht.“

Weit schneller folgte W. Schlegel dem Hinweise Tiecks. Schon 1803
beginnt er seine Übertragung Calderons zu veröffentlichen. Gleichzeitig
bringt die „Europa“ eine Art Selbstanzeige, den Aufsatz „Über das
spanische Theater“ (1, 2, 72 ff.). Gleich diese erste ausführliche
romantische Äußerung über das spanische Drama setzt Calderon hoch über
Lope: ein ebenso fruchtbarer Kopf, ebenso fleißiger Schriftsteller wird
Calderon genannt, aber auch „ein ganz anderer Dichter, ein Dichter,
wenn es je einen gegeben hat“ (S. 79). Im 3. Zyklus der Berliner
Vorlesungen konnte W. Schlegel sich schon auf seine Übertragung
beziehen; doch bereits im ersten (1, 110) hatte er erklärt: „Calderon
kann uns als Beispiel eines von dem Shakespeareschen ganz verschiednen,
jedoch eben so vollendeten Stiles im romantischen Drama dienen.“ Die
Wiener Vorlesungen hatten den stolzen Worten des Aufsatzes der „Europa“
nur noch wenig hinzuzufügen (6, 384 ff.).


2. Romantische Malerei in Theorie und Praxis.

Wackenroders Verständnis für Individualität eröffnet ihm nicht nur den
Weg zu Dürer, auch zu der italienischen Malerei der Zeit vor Raffael.
Hier galt es nicht deutsches Wesen zu begreifen, überhaupt weniger
zu belehren als abzuwehren. Der Kampf gegen die Einseitigkeit der
Klassizisten war ja längst vor Wackenroder aufgenommen worden. Herder,
der junge Goethe, Heinse waren ihm vorangegangen. Aber die Lehre
Winckelmanns von der alleinseligmachenden Schönheit griechischer Kunst
hatte immer wieder neue Anhänger gefunden; Goethe neigte ihr am Ende
des Jahrhunderts, auch schon vor der Veröffentlichung der „Propyläen“
(1798-1800), stärker zu, als die Welt wissen konnte. Wackenroder fragt:
„Warum verdammt ihr den Indianer nicht, daß er indianisch und nicht
unsere Sprache redet? -- Und doch wollt ihr das Mittelalter verdammen,
daß es nicht solche Tempel baute wie Griechenland?“ (S. 102). Seine
eigene Fähigkeit, sich in Gegensätzliches einzufühlen, möchte er allen
einflößen: „O, so ahndet euch doch in die fremden Seelen hinein und
merket, daß ihr mit euren verkannten Brüdern die Geistesgaben aus
derselben Hand empfangen habt!“

W. Schlegels Anzeige der „Herzensergießungen“ in der Jenaischen
„Allgemeinen Literatur-Zeitung“ (Werke 10, 363 ff.) hat sich das
Programm, der Kunst aller Zeiten gerecht zu werden, sofort zu eigen
gemacht. Auf dem Felde der bildenden Kunst besser geschult als sein
Bruder, vertritt Wilhelm im „Athenaeum“ die neue, von Wackenroder
angeregte Anschauung. Im 2. Bande (1799) setzt das Gespräch „+Die
Gemälde+“ Wackenroders Theorie in Praxis um und wird zu einem
Lobeshymnus auf die italienischen Meisterwerke der Dresdner Galerie,
aber auch einer ganzen Reihe neuerer Gemälde anderer Nationen.
Nur Rubens stößt auf Skepsis. Der Ruf der Sistina Raffaels ist im
wesentlichen durch diese romantische Kundgebung bedingt; doch auch
Holbeins Madonna ist nicht beiseite gelassen. Der ganze Dialog geht auf
gemeinsame Studien zurück, die im Jahre 1798 die damals in Dresden fast
vollzählig anwesenden Frühromantiker in immer wiederholter Wanderung
durch die Galerie angestellt haben. Die Gemäldebeschreibungen und die
Äußerungen über Raffael sind Eigentum Carolinens. Wilhelm wetteifert
mit ihr in dichterischer Form: er kleidet typische Motive der modernen
Malerei, zunächst die von der katholischen Mythologie gegebenen
Situationen, in Sonette.

In den Berliner Vorlesungen erreicht W. Schlegels kunstgeschichtliche
und kunstcharakterisierende Arbeit ihre Höhe. Die historische Methode,
für die Wackenroder so gefühlswarm sich eingesetzt hatte, siegt auf der
ganzen Linie. Einer Beobachtung von Hemsterhuis folgend, stellte W.
Schlegel ebenda fest, alle moderne Kunst neige zum Pittoresken, alle
antike zum Plastischen (1, 156 f.). Darum entspreche es der Gegenwart,
die Malerei auf Kosten der Plastik zu pflegen, nicht -- wie Winckelmann
und seine Nachfolger es wünschten -- der Plastik allein zu dienen und
ihre Gesetze der Malerei auszulegen. Goethe, sonst auf saubere Trennung
der Kunstarten bedacht, war durch seine Vorliebe für antike Kunst
mehr und mehr auf die Wege Winckelmanns und dadurch zu Anforderungen
gekommen, die den Maler zu bildhauerischer Behandlungsweise drängten.
Die Romantiker hielten sich von gleichen Unfolgerichtigkeiten frei;
wie Herder wandten sie ihr Augenmerk auf die individuellen Eigenheiten
der Zeit und verwahrten sich dagegen, antike Neigungen der neueren
Zeit einzuimpfen. Sie kamen freilich dadurch in Gegensatz zu dem
„sächsisch-weimarischen Heidentum“ und dieser Gegensatz steigerte sich,
je mehr die Romantiker für die katholischen Motive der modernen Malerei
nicht nur aus künstlerischen, sondern auch aus konfessionellen Gründen
Partei nahmen. Fr. Schlegel ging da führend voran.

Ganz undogmatisch hatte Wackenroder auch den Katholizismus seines
historisch-individualistischen Verständnisses teilhaftig werden
lassen. Auch der Katholizismus sei Christentum! Freilich war ihm die
Religion der Maler früherer Zeit mehr als eine historische Tatsache. Er
suchte die Rolle zu bestimmen, die der Religion in ihrem Lebensgefühl
zufiel. Er war überzeugt, daß vor allen den alten deutschen Künstlern
ihre Kunst ein geheimnisvolles Sinnbild ihres Lebens gewesen sei.
„Ja, beides, ihre Kunst und ihr Leben, war bei ihnen in ein Werk
+eines+ Gusses zusammengeschmolzen, und in dieser innigen, stärkenden
Vereinigung ging ihr Dasein einen desto festeren und sichereren Gang
durch die flüchtige, umgebende Welt hindurch“ (Phantasien über die
Kunst, herausgegeben von J. Minor, S. 8). Der Glaube wird ihm so zu
einem Faktor, der die Form des Kunstwerkes und dessen Gefühlsgehalt
bestimmt.

Darum verlangte Wackenroder, daß Bildersäle Tempel seien, wo man in
stiller, schweigender Demut und in herzerhebender Einsamkeit die
großen Künstler bewundert. Aber nicht er, sondern Tieck legte einem
„jungen deutschen Maler“ die Frage in den Mund: „Kannst du ein hohes
Bild recht verstehen und mit heiliger Andacht es betrachten, ohne in
diesem Momente die Darstellung zu glauben?“ (S. 192). Der Fragesteller
läßt sich wie Schillers Mortimer durch den Zauber des katholischen
Kultus zu Rom in die Arme der katholischen Kirche führen. W. Schlegel
sah sich deshalb veranlaßt (Werke 10, 365 f.), Tieck und Wackenroder
gegen den Vorwurf zu schützen, ihre Kunstliebe habe eine Tendenz zum
Katholizismus. Und er fragte: „Wenn wir, der Forderung gemäß, daß der
Betrachter sich in die Welt des Dichters oder Künstlers versetzen
soll, sogar den mythologischen Träumen des Altertums gern ihr luftiges
Dasein gönnen, warum sollten wir nicht, einem Kunstwerke gegenüber,
an christlichen Sagen und Gebräuchen einen näheren Anteil nehmen,
die sonst unsrer Denkart fremd sind?“ Die Gedichte, die W. Schlegel
selber in das Gemäldegespräch eingefügt hat, erwecken allerdings nicht
den Eindruck, als ob ihm die katholische Denkart ganz fremd sei. Der
Anempfinder hat sich da mit solcher Energie in katholische Kunst
geworfen, daß er nachmals mit der Wendung, es sei nur ~prédilection
d’artiste~ für das Künstlerische des Stoffgebietes gewesen, sich
entschuldigen zu müssen glaubte. Selbstverständlich wurde Tieck
alsbald zum Vorkämpfer katholischer Kunst und formte das Epigramm:
„Der Protestant protestiert ja gegen alles Gute und besonders gegen
die Poesie“ (10, 275). Novalis Aufsatz „Die Christenheit oder Europa“
gewinnt hier von allen Seiten Stützen.

Fr. Schlegels Beschäftigung mit der Malerei aber setzt in einem
Augenblick ein, da er dem Katholizismus und dem Übertritt schon
näher und näher gekommen war. In seiner „Europa“ (1803-05) und in
seinem „Poetischen Taschenbuch für das Jahr 1806“ sind Fr. Schlegels
wichtigste Beiträge zur Charakteristik der bildenden Kunst enthalten.
Er führt im wesentlichen nur Wackenroders Ideen weiter aus und
wendet sie auf ein viel umfangreicheres Material an. Er geht über
die ~prédilection d’artiste~ hinaus und prüft die Renaissancekunst
weniger auf ihren künstlerischen als auf ihren religiösen Gehalt.
Darum ist ihm der „gottbegeisterte reine Jüngling“ Raffael lieber
als der reife. Darum nennt er die Malerei gern eine göttliche Kunst.
Unverkennbares Verdienst hat er um die Würdigung der altdeutschen
Kunstwerke sich erworben, die von den Boisserées gesammelt worden
waren. Ihre Bewertung und ihre historische Eingliederung hat er auf
lange Zeit hinaus bestimmt. Er vor allen hat Meister Stephan Locheners
Kölner Dombild neben die Sistina gestellt; ganz im Stile Winckelmanns
feierte er das Werk: „Man sieht, daß jene Zeit das Köstlichste und
Höchste in diesem Bilde aufbieten wollte, was sie vermochte, es ist
mit größter Liebe vollendet. Aber es ist auch entworfen im Geist und
unter der Begünstigung der göttlichen Liebe...; die Blüte der Anmut ist
diesem beglückten Meister erschienen, er hat das Auge der Schönheit
gesehen und von ihrem Hauch sind alle seine Bildungen übergossen. So
allein wie Raffael, der Maler der Lieblichkeit, unter den Italienern
steht, so einzig ist dieser unter den Deutschen.“ Nachdem er die
einzelnen Züge des Bildes in Worte gebracht, schließt Fr. Schlegel:
„Doch wie ließen sich alle Schönheiten dieses Gemäldes aufzählen oder
auch nur die Umrisse der Anordnung und des Gedankens einigermaßen
befriedigend beschreiben? In einem Werke wie diesem liegt die ganze
Kunst beschlossen; und etwas Vollkommneres, von Menschenhänden gemacht,
kann man nicht sehen“ (Europa 2, 2, 135 f.). Freilich hat Schlegel
später, da er doch noch strenger katholisch fühlen gelernt hatte, von
diesem hohen Lobe eher etwas zurückgenommen und auch dadurch bewiesen,
daß er nicht aus religiösen Gründen so enthusiastisch geworden war.
Die nazarenische Malerschule aber knüpfte an diese Bekenntnisse Fr.
Schlegels an; und von ihnen aus, mehr noch als von Wackenroders
Schriften, entwickelte sich das „neukatholische Künstlerwesen“, das
„klosterbruderisierende, sternbaldisierende Unwesen“, wie Goethe es
höhnisch nannte, bewußt, daß er im Urteil der Zeitgenossen gegen die
neue Richtung nicht aufkommen könne. Konnte doch Fr. Schlegel, nachdem
er 1819 den Nazarenismus noch einmal sachlich verteidigt hatte, 1825
den Sieg der Genossen verkündigen. Nunmehr freilich hat sich seine
Kunstanschauung so sehr verschoben, daß von allen Gesichtspunkten
Wackenroders nur noch der eine herrschend übriggeblieben ist: das
innere Licht der Beseelung. Es gilt jetzt in Friedrichs Auge weit mehr
als das bloße Talent der fruchtbaren Erfindung oder der Magie der Farbe.

Die propagandistische Tätigkeit im Gefolge Wackenroders hat Fr.
Schlegel nicht dazu kommen lassen, seine tiefste und prinzipielle
Kunstüberzeugung auf die bildende Kunst anzuwenden. Er überließ es
Schelling, der dem Nazarenismus im Innersten fremd gegenüberstand, den
Maler zu organischem Schaffen zu erziehen und von ihm zu verlangen,
daß er das Ganze im Auge habe und das einzelne danach entwerfe und
ausführe. Schellings Rede „Über das Verhältnis der bildenden Künste
zur Natur“ (1807) hat das Thema so formuliert, daß Goethe voll
zustimmen konnte; waren ja doch die Grundanschauungen, auf denen Fr.
Schlegels Theorie vom künstlerischen Organismus, vom Ganzen und von
seinen Teilen und von der wechselseitigen Verknüpfung beider erwachsen
war, von Goethe vorgetragen worden. Goethe jedoch konnte auch mit
dem romantischen Maler, der den Gedanken Schellings in Theorie und
Praxis auf seine Weise am nächsten gekommen war, sich verständigen,
mit Philipp Otto +Runge+. Runge, der Schüler Jens Juels, war von ganz
anderer Seite zu gleichen Zielen weitergeschritten. Wie ein zweiter
Schüler Juels, Kaspar David Friedrich, lernte Runge von seinem Lehrer,
die Umrisse der Landschaft im Lichte aufzulösen, die Landschaft nicht
weiter in festen Umrissen, überhaupt nicht in Gegenständen, sondern
als ein Ganzes von Farbentönen zu schauen. Wie fremd und überraschend
der Zeit und auch einem Romantiker Friedrichs Versuche waren, bezeugt
die aus einem Aufsatze Arnims und Brentanos gezogene Notiz von
Kleists „Abendblatt“ (13. Oktober 1810) „Empfindungen vor Friedrichs
Seelandschaft“ (Werke, herausgegeben von Erich Schmidt, 4, 230 f.;
vgl. auch Clemens Brentanos Schriften 4, 424 ff.). Man hat Runge
nachgerühmt, daß er alle wesentlichen Gedanken der Malerei des 19.
Jahrhunderts ahnend vorweggenommen habe. Wirklich ist er nicht bloß
durch sein Streben, Licht und Farbe durch intensivstes Studium der
Natur wie Goethe neu zu erfassen, nicht bloß durch seine, mit Goethe
und der Romantik ihn verknüpfende Theorie organischer Gestaltung, auch
durch eine symbolische Ornamentik, die abermals auf Schelling hinwies,
seiner Zeit vorangeeilt. Von den romantischen Genossen haben besonders
die Heidelberger ihm nahe gestanden. Aber nicht die künstlerischen
Ideen Runges, sondern die stofflichen Sympathien Wackenroders bedingen
die sogenannte romantische Malerei. Runges und Friedrichs Wirken
bleibt ein Seitentrieb, der viel später nur zu vollem Gedeihen kam.
Wie nahe an Goethe dieser Seitentrieb im Gegensatz zum Nazarenismus
heranwuchs, bezeugen die auf Runge und Friedrich aufbauenden „Briefe
über Landschaftsmalerei“ des Dresdner Physiologen und Malers +C. G.
Carus+ (1831 und 1835).

Carus knüpfte die Theorie der Landschaftsmalerei oder, wie er
es nannte, der Erdlebenbildkunst unmittelbar an Schellings
Naturphilosophie und an den Begriff der Weltseele an. Er meinte, die
Landschaft bekäme einen höheren und mächtigeren Sinn, wenn man in der
weiten, großen Oberfläche des Planeten das lebende geistige Prinzip
erkenne oder mindestens ahne. Dann verstehe man das geistige Band,
das die Regungen und Umgestaltungen des äußeren Naturlebens an die
Gefühlsschwankungen unseres Innern mit geheimer Gewalt feßle (vgl.
seine Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten 1, 181 f.). Er suchte
darum mit Friedrich ein seelisch erfaßtes Naturbild und in ihm zugleich
eine Darstellung des Wechsels im Leben der Landschaft nach Jahreszeit
und Stunde, nach Licht und Wetter. Nicht schöne und denkwürdige
Gegenden sollten den Vorwurf bilden; sondern Stimmungslandschaften
waren ihre Absicht. In den weiten pommerschen Ebenen war es Carus
aufgegangen, daß ein Ruisdael nur von einer armen Natur, mit Eichen,
Sand und Feld und Sumpf, gebildet werden konnte, während die reiche
Natur des Schweizerlandes lange Zeit auch nicht entfernt ähnliches
hervorgebracht habe (ebenda S. 261).

Carus und Friedrich stehen mit diesen echt romantischen Bemerkungen
neuester Kunst weit näher als der Nazarenismus.


3. Die Musik im romantischen Lichte. Die Lyrik und ihre Theorie.

Nicht nur zur Malerei hat Wackenroder den romantischen Genossen den
Weg gezeigt, auch zu der Kunstgattung, die gern zur romantischesten
gestempelt wird, zur +Musik+. Einem Menschen von starkem und gegen
Analyse sich wehrendem Gefühl mußte die Musik, und was sie in ihm
anregte, Herzensoffenbarung sein. Wieder scheinen nur Herder und
Heinse vor Wackenroder ein gleich starkes Verhältnis zu dieser Kunst
gehabt zu haben. Wackenroder war Schüler Faschs und Reichardts, des
Komponisten Goethescher Lieder und revolutionären Publizisten, dem
die „Xenien“ übel mitgespielt haben. In Reichardts Hause, zu dem
er bald in verwandtschaftliche Beziehungen trat, wurde Tieck mit
Musik übersättigt. Wackenroder aber lernte hier nicht so sehr der
Musik ihre Geheimnisse ablauschen als vielmehr diese in unberührter
Keuschheit bewahren. In den Aufsätzen der „Herzensergießungen“ und
der „Phantasien über die Kunst“, in denen Wackenroder von der Musik
spricht, wehrt er sich ausdrücklich dagegen, Tonstücke in Worten zu
erklären, „die reichere Sprache nach der ärmeren abzumessen und in
Worte aufzulösen, was Worte verachtet“ (Phantasien, herausgegeben von
J. Minor, S. 71). Und wie hat er es doch verstanden, die Stimmung
alter choralmäßiger Kirchenmusik in Worte zu bannen, „die wie ein
ewiges ~Miserere mei, Domine!~ klingt, und deren langsame, tiefe Töne
gleich sündenbeladenen Pilgrimen in tiefen Tälern dahinschleichen.
-- Ihre bußfertige Muse ruht lange auf denselben Akkorden; sie
getraut sich nur langsam die benachbarten zu ergreifen; aber jeder
neue Wechsel der Akkorde, auch der allereinfachste, wälzt in diesem
schweren, gewichtigen Fortgange unser ganzes Gemüt um, und die leise
vordringende Gewalt der Töne durchzittert uns mit bangen Schauern
und erschöpft den letzten Atem unseres gespannten Herzens. Manchmal
treten bittere, herzzerknirschende Akkorde dazwischen, wobei unsre
Seele ganz zusammenschrumpft vor Gott; aber dann lösen kristallhelle,
durchsichtige Klänge die Bande unseres Herzens wieder auf und trösten
und erheitern unser Inneres. Zuletzt endlich wird der Gang des Gesanges
noch langsamer als zuvor, und von +einem+ tiefen Grundton wie von
dem gerührten Gewissen festgehalten, windet sich die innige Demut in
mannigfach-verschlungenen Beugungen herum und kann sich von der schönen
Bußübung nicht trennen, -- bis sie endlich ihre ganze aufgelöste Seele
in einem langen, leise verhallenden Seufzer aushaucht -- --“ (S. 64).

Dieser Versuch, das erwirkte Gefühl festzuhalten, zeigt deutlich,
wie Wackenroder es meinte, wenn er warnend ausrief: „Wer das, was
sich nur von innen herausfühlen läßt, mit der Wünschelrute des
untersuchenden Verstandes entdecken will, der wird ewig nur Gedanken
über das Gefühl und nicht das Gefühl selber entdecken... Wie jedes
einzelne Kunstwerk nur durch dasselbe Gefühl, von dem es hervorgebracht
ward, erfaßt und innerlich ergriffen werden kann, so kann auch das
Gefühl überhaupt nur vom Gefühl erfaßt und ergriffen werden“ (S. 70).
Wohl klingt es unromantisch, wenn Wackenroder das fühlende Herz ein
„selbständiges verschlossenes göttliches Wesen“ nennt, „das von der
Vernunft nicht aufgeschlossen und gelöst werden kann“; doch wenn er
sich dagegen sträubt, den Gefühlsinhalt vernunftmäßig zu deuten, so
sucht er ihn doch zu vollem Bewußtsein zu erheben. Das Gefühl soll
Gefühl bleiben, aber als Gefühl auch ganz zur Erfassung gelangen. Denn
als Gefühl enthält es einen Erkenntniswert, der bei begrifflicher
Analyse verloren ginge. Wackenroder sucht zu verdeutlichen, was
er meint: „Ein fließender Strom soll mir zum Bilde dienen. Keine
menschliche Kunst vermag das Fließen eines mannigfaltigen Stroms,
nach allen den tausend einzelnen, glatten und bergigten, stürzenden
und schäumenden Wellen, mit Worten fürs Auge hinzuzeichnen, -- die
Sprache kann die Veränderungen nur dürftig zählen und nennen, nicht die
aneinanderhängenden Verwandlungen der Tropfen uns sichtbar vorbilden.
Und ebenso ist es mit dem geheimnisvollen Strome in den Tiefen des
menschlichen Gemütes beschaffen, die Sprache zählt und nennt und
beschreibt seine Verwandlungen in fremdem Stoff; -- die Tonkunst
strömt ihn uns selber vor. Sie greift beherzt in die geheimnisvolle
Harfe, schlägt in der dunkeln Welt bestimmte dunkle Wunderzeichen in
bestimmter Folge an, -- und die Saiten unseres Herzens erklingen, und
wir verstehen ihren Klang“ (S. 71). Ohne irgendwelche philosophischen
Ansprüche zielt Wackenroder ebendahin, wo Schellings ästhetischer
Idealismus und mit ihm die Ansicht Fr. Schlegels und Hardenbergs
steht: Kunst und Philosophie wird aufs innigste verknüpft, das
Kunstwerk zum Mittel der höheren Erkenntnis erhoben. Ja Wackenroder
berührt sich, über die Philosophie seiner Zeit hinauslangend, mit
+Schopenhauer+, der seinerseits nur Schellings Glaubensbekenntnis
weitertreibt. In künstlerischer Anschauung, in der ruhigen
Kontemplation verwandelt sich jedes einzelne Ding in seine Idee, in
seine ewige Form, in das Wesentliche und Bleibende, das ihm eignet. Die
Kunst gewährt so die Anschauung der ewigen Ideen, deren volle Erfassung
dem Denken nicht gegönnt ist. Allein unter den Künsten gibt die Musik
nach Schopenhauer noch mehr als ein Abbild der Ideen. Die Musik könnte,
auch wenn die Welt gar nicht wäre, doch bestehen. Sie ist „eine so
unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt
selbst es ist“. „Deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel
mächtiger und eindringlicher, als die der anderen Künste: denn diese
reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen“ (Die Welt als Wille und
Vorstellung, herausgegeben von E. Grisebach, 1, 340). Ganz im Sinne
Wackenroders, dann aber auch in überraschender Einstimmigkeit mit
Hardenbergs Anschauungen von der magischen und ekstatischen Erfassung
der Welt (s. oben S. 22 f. und 54 ff.) heißt es bei Schopenhauer: „Die
Erfindung der Melodie, die Aufdeckung aller tiefsten Geheimnisse des
menschlichen Wollens und Empfindens in ihr, ist das Werk des Genius,
dessen Wirken hier augenscheinlicher, als irgendwo, fern von aller
Reflexion und bewußter Absichtlichkeit liegt und eine Inspiration
heißen könnte. Der Begriff ist hier, wie überall in der Kunst,
unfruchtbar: der Komponist offenbart das innerste Wesen der Welt und
spricht die tiefste Weisheit aus, in einer Sprache, die seine Vernunft
nicht versteht; wie eine magnetische Somnambule Aufschlüsse gibt über
Dinge, von denen sie wachend keinen Begriff hat“ (ebenda S. 343).

Die große Rolle, die im Leben, im Empfinden, im Denken, im Glauben,
im Fühlen, im Dichten der Romantiker die Musik spielt (vgl. Joël S.
36 ff.), hängt mit der Wackenroderschen, Schopenhauer ankündigenden
Anschauung von Musik zusammen. Dunkle Vorahnung von Schopenhauers
Lehre meldet sich an, wenn Novalis vom „vollkommensten Bewußtsein“,
das „sich alles und nichts bewußt ist“, sagt: „Es ist Gesang, bloße
Modulation der Stimmungen -- wie dieser der Vokale oder Töne. Die
innere Selbstsprache kann dunkel, schwer und barbarisch -- und
griechisch und italienisch sein -- desto vollkommener, je mehr sie
sich dem Gesange nähert“ (2, 237). Und an Schopenhauers Durchführung
der Analogie von Musik und Erkenntnis gemahnt bis ins einzelnste das
Fragment Hardenbergs: „Die Betrachtung der Welt fängt im unendlichen,
absoluten Diskant, im Mittelpunkt an und steigt die Skala herunter; die
Betrachtung unsrer selbst fängt mit dem unendlichen, absoluten Baß an,
der Peripherie, und steigt die Skala aufwärts. Absolute Vereinigung des
Basses und Diskants, dies ist die Systole und Diastole des göttlichen
Lebens“ (2, 232 f.).

Tieck hat aus den Voraussetzungen, die Wackenroder ihm an die Hand gab,
seine Frage abgeleitet: „Ist es nun nicht gleichgültig, ob der Mensch
in Instrumentestönen oder in sogenannten Gedanken denkt?“ (S. 90).
Dichterisch geformt hat er dieses Paradoxon in den oft zitierten, oft
glossierten Versen:

    Liebe denkt in süßen Tönen,
    Denn Gedanken stehn zu fern,
    Nur in Tönen mag sie gern
    Alles was sie will verschönen.

Novalis geht weiter; er notiert: „Erzählungen, ohne Zusammenhang,
jedoch mit Assoziation, wie Träume. Gedichte, bloß wohlklingend und
voll schöner Worte, aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang --
höchstens einzelne Strophen verständlich -- wie lauter Bruchstücke
aus den verschiedenartigsten Dingen“ (2, 308). Besonders scheint ihm
solche Form für das Märchen zu taugen; es sei „wie ein Traumbild, ohne
Zusammenhang, ein Ensemble wunderbarer Dinge und Begebenheiten, z. B.
eine musikalische Phantasie, die harmonischen Folgen einer Äolsharfe,
die Natur selbst“. Tiecks „Sternbald“ wirft einmal den Gedanken hin,
man könnte sich ein Gesprächstück von mancherlei Tönen aussinnen (Minor
S. 284), und fragt ein andermal, warum eben Inhalt den Inhalt eines
Gedichtes ausmachen solle (S. 344). Im „Sternbald“ sucht dann das Wort
mit der Musik zu wetteifern, suchen Verse die Klangfarbe einzelner
Instrumente wiederzugeben, den Schalmeiklang, den Posthornschall,
die Waldhornmelodie, das Alphorn. Tiecks „Verkehrte Welt“ treibt das
Experiment weiter und setzt an den Anfang eine Symphonie in Worten;
die Zwischenaktsmusik wird mit gleichen Mitteln bestritten. Brentanos
„Gustav Wasa“ ahmt auch diesen Scherz Tiecks nach. In der symphonischen
Ouvertüre der „Verkehrten Welt“ aber heißt es unter der Überschrift
„~Violino Primo Solo~“: „Wie? Es wäre nicht erlaubt und möglich,
in Tönen zu denken und in Worten und Gedanken zu musizieren? O wie
schlecht wäre es dann mit uns Künstlern bestellt! Wie arme Sprache, wie
ärmere Musik!“ (5, 286).

Tieck vertritt in den „Phantasien“ auch seine Lehre von der
Verwandtschaft von Farbe und Musik: „Zu jeder schönen Darstellung mit
Farben gibt es gewiß ein verbrüdertes Tonstück, das mit dem Gemälde
gemeinschaftlich nur eine Seele hat“ (S. 45). Mutig und unentwegt ist
er auf dieser Bahn weitergeschritten und hat den Farben und Formen
Töne, den Tönen Farben geliehen. Im „Zerbino“ charakterisiert die
Flöte sich selber: „Unser Geist ist himmelblau, Führt dich in die
blaue Ferne“ (10, 291); und prinzipiell gilt im Garten der Poesie die
Gütergemeinschaft der Sinne (10, 251):

    Die Farbe klingt, die Form ertönt, jedwede
    Hat nach der Form und Farbe Zung’ und Rede.
      Was neidisch sonst der Götter Schluß getrennet,
    Hat Göttin Phantasie allhier vereint,
    So daß der Klang hier seine Farbe kennet,
    Durch jedes Blatt die süße Stimme scheint,
    Sich Farbe, Duft, Gesang Geschwister nennet.
    Umschlungen all sind alle nur +ein+ Freund,
    In sel’ger Poesie so fest verbündet,
    Daß jeder in dem Freund sich selber findet.

Die ~audition colorée~ wird hier mit allen ihr verwandten Erscheinungen
in den Garten der romantischen Poesie eingeführt.

Die hohe Bedeutung und der tiefe Sinn, die von den Romantikern der
Musik zugeschrieben wurden, wirkten ebenso auf ihren Stil wie auf Lyrik.

Romantische +Bildlichkeit+ holt ihren Stoff gern aus dem Gebiet der
Töne. Sie liebt es, das Sinnlichere und uns Geläufigere durch einen
Vergleich mit dem Unsinnlicheren und Unbekannteren, das Bekannte und
Gewöhnliche durch eine Zusammenstellung mit dem Fremden und Wunderbaren
aus der Sphäre der gemeinen Wirklichkeit herauszuheben und dem
Dargestellten dadurch Größe und Würde zu leihen (vgl. W. Schlegels
Berliner Vorlesungen 1, 290). Darum kann der Romantiker Sichtbares
und Anschauliches durch verwandte Töne zu deuten suchen. Er ist dazu
um so mehr berechtigt, da er die Außenwelt wirklich musikalisch
empfindet. Er hört besser und feiner als andere, leise und dumpfe
Geräusche tönen vernehmlicher an sein Ohr. Deshalb wandeln sich ihm
Gesichtswahrnehmungen in Rhythmus oder ein geistiger Vorgang nimmt
für sein Ohr die Melodie eines Musikstückes an, Gedankenverbindungen
aber und Gedankengegensätze erscheinen ihm wie symphonisch verbundene
Stimmen. Fr. Schlegels Besprechung von Goethes „Lehrjahren“ behandelt
das Dichtwerk wie ein Tonstück. Er verteidigt Tiecks „Sternbald“ gegen
Goethes Vorwurf, daß er nur „musikalische Wanderungen“ biete, mit der
lobenden Bemerkung, das Buch wolle nichts sein als eine süße Musik von
und für die Phantasie (Caroline 1, 227). W. Schlegel aber sagt von
den Liedern in Tiecks „Volksmärchen“: „Die Sprache hat sich gleichsam
alles Körperlichen begeben und löst sich in einen geistigen Hauch auf.
Die Worte scheinen kaum ausgesprochen zu werden, so daß es fast noch
zarter wie Gesang lautet: wenigstens ist es die unmittelbarste und
unauflöslichste Verschmelzung von Laut und Seele, und doch ziehn die
wunderbaren Melodien nicht unverstanden vorüber“ (12, 34).

Das Unklare und Unscharfe der romantischen Metapher entstammt noch
einer zweiten Veranlassung. Sie arbeitet gern mit der „neuen
Mythologie“ der romantischen „Physik“. Die Naturphilosophie schenkt
dem romantischen Bilderschatz eine Fülle von Symbolen, deren tieferer
Sinn uns ebenso dunkel ist, wie er der romantischen Generation geläufig
war. Görres entwickelt einen erdrückenden Reichtum von Bildlichkeit.
Und dauernd bemüht er sich, geheimste geistige Zusammenhänge durch
Zusammenhänge des Naturlebens zu verdeutlichen. Ihm ist es mehr als
eine Metapher, er glaubt tatsächlich im naturphilosophischen Sinne neue
Erkenntnis zu schaffen, wenn er Antike und moderne Welt wie Urgebirge
und Flözgebirge einander gegenüberstellt und den Gegensatz bis ins
kleinste ausdeutet. Um Görres’ Stil zu verstehen und zu würdigen,
muß beherzigt werden, daß die stete Parallelisierung geistiger und
physischer Vorgänge seiner naturphilosophischen Weltanschauung das
Gegebene und Selbstverständliche war. Wer in solche Anschauungswelt
sich nicht hineindenken kann, glaubt nur Schwulst und Phrase in
Görres’ Schriften zu finden (vgl. Euphorion 10, 792 ff.). Tatsächlich
galt es ihm, die neue Natursymbolik auszubauen. In dem Streben, die
Metapher neu zu schaffen und aus dem innigsten Empfinden der Zeit
abzuleiten, trifft Görres mit Jean Paul, seinem stilistischen Vorbilde,
zusammen. Und von Jean Paul weist der Weg zu Klopstock zurück, dessen
„schimmernde“ Gleichnisse romantische Bildlichkeit ankündigen.

„Noch zarter wie Gesang, die unmittelbarste und unauflöslichste
Verschmelzung von Laut und Seele“ -- so ist Tiecks Lyrik gedacht. Das
Lied soll wie Musik wirken, die Worte wetteifern mit der Melodie, die
Tonwirkung ist dem Dichter wichtiger als die Formung des Gedanklichen
und Stofflichen. Vor allem gilt dies von der Lyrik seiner Jugend; und
innerhalb dieser Gruppe kommen die Lieder seiner „Magelone“, dann
die des „Sternbald“ seinen Absichten am nächsten. Die Klangwirkung
wird ausgelöst durch freie Gestaltung des Rhythmus; von Verszeile zu
Verszeile kann dieser wechseln oder aber auch von Strophe zu Strophe.
Diese feinfühlige Stimmungspoesie kann und will ein einheitliches
metrisches Schema nicht durch ein ganzes Gedicht hindurch festhalten.
Das Auf- und Abwogen der Stimmung, der romantisch-proteische Wechsel
der Gefühlslage zeichnet sich ab, wenn Strophen von verschiedenem
Ethos zu +einem+ Liede sich verbinden. Daß solche Lyrik, die sich dem
Gange des Innenlebens weich anschmiegt, auch den Komponisten locken
kann, bezeugt Brahms’ Vertonung der Lieder der „Magelone“ (Opus 33).
Leidenschaft kann in dieser Form zur Geltung kommen, besser noch taugt
die Form dazu, Bild an Bild zu reihen, wie sie in verschwimmenden
Umrissen vor dem Auge des Dichters vorbeiziehen. Das Gedicht, das in
der ersten Auflage des „Sternbald“ am Anfang des zweiten Bandes steht,
beweist dies. In 75 Zeilen, die zum überwiegenden Teile in vierzeilige
Strophen geordnet sind, zum Teil aber auch Absätze von fünf und sechs
Zeilen bilden, „beweint“ nach seinem eigenen Kommentar der Dichter „in
diesen Worten seine weit entflohene Jugend, und seine Erinnerungen
legen sich als Töne und sanfte Bilder vor ihm hin.“ Die wechselnde
Stimmung malt sich in dem Wechsel der rhythmischen Gebilde, die bei
freudiger Stimmung raschere Bewegung, bei trauriger ein lässigeres
Tempo annehmen. Die Stimmung selber aber erwächst aus den Bildern, die
der Phantasie des Dichters sich aufdrängen. Hoffnungsvoll freudig setzt
das Gedicht ein:

    Aus Wolken winken Hände,
    An jedem Finger rote Rosen,
    Sie winken dir mit schmeichlerischem Kosen,
    Du stehst und fragst: wohin der Weg sich wende?

    Da singen alle Frühlingslüfte,
    Da duften und klingen die Blumendüfte,
    Lieblich Rauschen geht das Tal entlang:
    Sei mutig, nicht bang.

    Siehst du des Mondes Schimmer,
    Der Quellen hüpfendes Geflimmer?
    In Wolken hoch die goldnen Hügel,
    Der Morgenröte himmelbreite Flügel?

    Dir entgegen ziehn so Glück als Liebe,
    Dich als Beute mit goldenen Netzen zu fahn,
    So leise lieblich, daß keine Ausflucht bliebe,
    Umzingeln sie dich, bald ist’s um dich getan ...

Die Stimmung schlägt um; in düsteren Farben malt sich die Enttäuschung,
die all den Jugendhoffnungen folgt:

    Es ist, als wenn die Quellen schwiegen,
    Ihm dünkt, als dunkle Schatten stiegen
    Und löschten des Waldes grüne Flammen,
    Es falten die Blumen den Putz zusammen.

    Die freundlichen Blüten sind nun fort,
    Und Früchte stehn an selbigem Ort;
    Die Nachtigall versteckt die Gesänge im Wald,
    Nur Echo durch die Einsamkeit schallt ...

Eine schier gesetzlose Bilder- und Stimmungspoesie! Und doch verknüpft
sich mit dem Streben, in freiestem Schweifen sich gehen zu lassen, der
Wunsch rhythmisch die Stimmung genauer und schärfer zu erfassen und
wiederzugeben, als strengere Versgebilde es gestatten. Diese Lyrik
glaubt gelegentlich in den formreichen Gebilden des Minnesangs ein
Vorbild zu entdecken. Näher kommt sie den freien Rhythmen Klopstocks
und Goethes. Wohl läßt sie den Schwung vermissen, den Klopstock und
Goethe den freien Rhythmen einhauchen. Ferner legt sie sich die
Fessel des Reimes auf; diese wird freilich 1805 und 1806 in den
beiden Zyklen, die der italienischen Reise Tiecks entstammen, in den
„Reisegedichten eines Kranken“ (Gedichte 1834, 3, 98 ff.) und in der
„Rückkehr des Genesenden“ (ebenda S. 236 ff.) abgeworfen. Damit aber
verschwindet ein Ingrediens romantischer Lyrik, das der Klangmalerei
und dem musikalischen Charakter bestens gedient hatte. Tieck selbst
behauptet in der Vorrede zu den „Minneliedern“ (Krit. Schriften 1,
199), den Reim bedinge „die Liebe zum Ton und Klang, das Gefühl,
daß die ähnlich lautenden Worte in deutlicher oder geheimnisvoller
Verwandtschaft stehen müssen, das Bestreben, die Poesie in Musik, in
etwas Bestimmt-Unbestimmtes zu verwandeln“. Die romantische Lyrik
schwelgt daher gern im Reime, kann ihn nicht genug häufen, nicht
oft genug wiederkehren lassen, gefällt sich sogar in bedenklichem
Reimechospiel. Und aus gleichen Gründen huldigt sie der Assonanz, die
durch lange Versreihen durchgeführt und der Stimmungsmalerei noch weit
stärker, zuweilen bis zur Geschmacklosigkeit (Tiecks „Die Zeichen im
Walde“, Gedichte 1, 22 ff.) dienstbar gemacht wird.

Die Bewertung, die dem Reime zuteil ward, lockte die Romantiker auch
auf das Feld der romanischen metrischen Gebilde. Der erste Anstoß
rührt von G. A. Bürger her, er hat seinem Schüler W. Schlegel die
Übertragung und Verwertung des Sonetts, des weiteren aber auch die
Nachbildung romanischer Poesie und ihrer Formenwelt nahegelegt.
An sich war hier das Programm einer formstrengen Lyrik gegeben,
das von Tiecks musikalisch verschwimmender Weichheit weit abwich.
Wirklich sind größere Gegensätze als die Sonette und Stanzen des
sauberen Reimisten W. Schlegel und die Sänge der „Magelone“ und des
„Sternbald“ kaum zu denken. Dennoch konnte Tieck seiner musikalischen
Lyrik auch die romanischen Formen dienstbar machen. Kanzonen und
Balladen kamen der romantischen Neigung, im Reimspiel eine Bedeutung
zu suchen, noch mehr entgegen. Denn die tiefere Bedeutung sowohl der
Reim- und Assonanzbindungen wie der romanischen Strophengebilde zu
entdecken, war ein Lieblingsfeld romantischen Scharfsinns. Abermals
konnte da gezeigt werden, wie der Geist in der Form, das Unendliche
im Endlichen sich spiegelt. Eine Reim- und Assonanzsymbolik, eine
Symbolik der Strophenformen geht aus solchen Bestrebungen hervor. W.
Schlegel schreitet früh voran, zunächst nur als Metriker und Philologe
interessiert. Seine Betrachtungen über Metrik (7, 155 ff.) erwägen 1794
schon Probleme des seelischen Gehaltes des tönenden Sprachmaterials.
1795 folgen in den „Horen“ die „Briefe über Poesie, Silbenmaß und
Sprache“ (7, 98 ff.), 1798 erscheint im „Athenaeum“, polemisch gegen
Klopstock gewendet, „Der Wettstreit der Sprachen“ (7, 197 ff.), der
den musikalischen Wert der Kultursprachen zu messen versucht. In den
Berliner Vorlesungen hat W. Schlegel dann bei der Charakteristik
der italienischen Poesie (3, 186 ff.) das Ethos der italienischen
Strophenformen zu erfühlen und zu konstruieren sich bemüht, nicht ohne
von Formsymbolik in Mystik überzugreifen. Gleichzeitig erwog Tiecks
Schwager A. F. Bernhardi im zweiten Teil seiner „Sprachlehre“ (1803, S.
399 ff.) sowohl den tieferen Sinn von Alliteration, Assonanz und Reim
wie auch die Klangfarbe und die symbolische Bedeutung italienischer
und spanischer Strophen. Den Abschluß solcher romantischer Bemühung
bedeutet Kaspar Poggels geistreiche Schrift „Grundzüge einer Theorie
des Reims und der Gleichklänge mit besonderer Rücksicht auf Goethe“
(Münster 1836).



V. Der politische und soziale Umschwung der Romantik. Romantische
Staatswissenschaft im Zeitalter der Befreiungskriege und der Reaktion.


Am Anfang des 19. Jahrhunderts scheint der eben noch reiche und volle
Gedankenstrom der Romantik zu versiegen. Hardenbergs Tod (1801), Fr.
Schlegels Übersiedelung nach Paris (1802), die Berliner Vorlesungen
des Bruders und dessen Eintritt in den Kreis der Frau v. Staël, Tiecks
Abreise nach Italien (1804), Schellings Verbindung mit Caroline
und Berufung nach Würzburg (1803): all das bedeutet Abschluß und
Auseinandergehen. Die Fäden werden einzeln weitergesponnen, man treibt
diesen oder jenen Gedanken der romantischen Theorie vorwärts, aber die
grundlegende spekulative Epoche der Romantik ist im wesentlichen vorbei.

Nur ein ganz neues Element, das sich unversehens in überraschender
Macht entfaltete, konnte eine so völlige Wandlung herbeiführen. Noch
sind die Romantiker lange nicht so abgenützt, daß sie bloß versagen,
ohne für die Gedankenbildung, die sie aufgeben, sofort etwas anderes,
Vorwärtsleitendes, Umstürzendes einzusetzen. Nicht Schwäche und
Ermattung, sondern ein kühner Aufschwung tritt ein, ein Aufschwung
freilich, der den Gesichtskreis der Romantiker ebenso nach einer
Richtung verengt, wie er ihn nach der anderen erweitert.

Das Neue ist das politische, nationale und kollektivistische Interesse.
Die Romantiker beginnen gegen Napoleon Front zu machen, sie werden
sich ihrer nationalen Eigenheiten nicht bloß im ästhetischen, sondern
in politischem Sinne bewußt und sie fangen an, die Lehre von der
Ausbildung des auserlesenen Individuums durch die Anerkennung der
Bedeutung des Volkes, der Gesamtheit also, zu ergänzen. Deutsches
Volkstum wird fortan ihr Programm.

1810 veröffentlichte Turnvater Jahn ein Buch mit dem Titel „Das
Deutsche Volkstum“. Aber mehr als fünf Jahre reichen die Anregungen
zurück; und sie kommen unmittelbar aus dem Lager der Romantik.

Merkwürdig rasch geht es bei den Brüdern Schlegel vom Kosmopolitismus
zur nationalen Politik weiter. In ihren Anfängen hatten sie
kosmopolitisch sich für die französische Revolution interessiert.
Noch 1796 schrieb Fr. Schlegel für die Zeitschrift „Deutschland“
des „Sanskulotten“ Reichardt seinen „Versuch über den Begriff des
Republikanismus“. In abstrakter Deduktion knüpft er an Kants Wort an:
„Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“
(Minor 2, 57) und führt es in eherner Konsequenz weiter aus. Dann aber
wird völlige Abkehr von politischer Diskussion ein Schlagwort des
„Athenaeums“: „Nicht in die politische Welt verschleudere du Glauben
und Liebe, aber in der göttlichen Welt der Wissenschaft opfre dein
Innerstes in dem heiligen Feuerstrom ewiger Bildung“ (106. Idee).
Gleichzeitig kündigt sich schon die Wendung in dem romantischen
Interesse für Politik an: 1798 erscheinen im Juliheft der „Jahrbücher
der preußischen Monarchie unter der Regierung Friedrich Wilhelms
III.“ Fragmente Hardenbergs mit dem Titel „Glauben und Liebe oder der
König und die Königin“. Nun fühlt sich auch Fr. Schlegel gefesselt und
schreibt an den Verfasser: „Weniges ehre ich so, und weniges hat so auf
mich gewirkt“ (Raich S. 129 f.). Der Republikanismus ist verschwunden,
die kommende restaurative Staatstheorie der Romantiker kündigt sich an.

Aber noch fehlt das national-kollektivistische Empfinden. Die Königin
Luise, nicht das deutsche Volk bannt Hardenbergs Dichterauge, wie
sie das Auge Heinrich v. Kleists gefesselt hat. Wie die „Ideen“ das
nationale Problem formulieren, wie durch Wackenroder und Novalis
Interesse für altheimisches Wesen wachgerufen wird, ist oben (S. 77 f.,
89 ff.) angegeben. Wie fern man trotzdem einem nationalen, im Sinne
der Zeit patriotischen Empfinden noch stand, bezeugen feine Spottworte
W. Schlegels über Klopstocks und seiner Jünger „fanatischen, von aller
historischen Kenntnis des Charakters der Deutschen, ihrer jetzigen
Lage und ihrer ehemaligen Taten entblößten Patriotismus“ (Berliner
Vorlesungen 3, 21 f.). Ältere Polemik gegen Klopstocks chauvinistische
Verherrlichung der deutschen Sprache wieder aufnehmend, lächelt W.
Schlegel über Klopstocks Forderung, der deutsche Jüngling müsse sein
Vaterland jedem anderen vorziehen, wenn anders ein deutsches Mädchen
ihn lieben solle. Und er fragt ironisch: „Ist es denn ein so großer
Mangel keinen Nationalstolz zu haben? Sehen wir nicht, daß er bei
andern Völkern häufig auf Einseitigkeit, Beschränktheit, ja auf
bloßen Einbildungen beruht?“ Eher kündigt sich eine neue Zeit an,
wenn W. Schlegel die Notwendigkeit des Krieges, für den „schon manche
Philosophen ein Fürwort eingelegt“ hätten, behauptet (3, 93 ff.). Heißt
es ja doch auch in den nachgelassenen Entwürfen zum „Ofterdingen“: „Auf
Erden ist der Krieg zu Hause. Krieg muß auf Erden sein“ (4, 259).

Der Wendepunkt trat in dem Augenblick ein, da Fr. Schlegel
französischen Boden betrat. Die beiden Gedichte „Bei der Wartburg“ und
„Am Rhein“, die er 1803 in den ersten Aufsatz der „Europa“ (s. oben S.
91) aufgenommen hat, feiern alte deutsche Ritterzeit nicht allein in
dem verklärenden Sinne Wackenroders und Hardenbergs; sie sind national
aus dem Augenblick herausgedacht. Der Rhein gemahnt Fr. Schlegel daran,
was die Deutschen einst waren und was sie heute sein könnten.

Am 12. März 1806 erklärt nunmehr auch W. Schlegel in seinem
umfänglichen Bekenntnisbrief an Fouqué (8, 144 f.): Die Dichter
der letzten Epoche hätten die bloß spielende, müßige, träumerische
Phantasie allzusehr zum herrschenden Bestandteil ihrer Dichtungen
gemacht. Deutschland aber bedürfe im Augenblick einer durchaus
nicht träumerischen, sondern wachen, unmittelbaren, energischen und
besonders einer patriotischen Poesie. „Vielleicht sollte, solange
unsere nationale Selbständigkeit, ja die Fortdauer des deutschen Namens
so dringend bedroht wird, die Poesie bei uns ganz der Beredsamkeit
weichen, einer Beredsamkeit, wie z. B. in Müllers Vorrede zum vierten
Bande seiner Schweizergeschichte.“ Und dabei weist W. Schlegel auf die
beiden Gedichte seines Bruders hin.

Öffentlich vertrat W. Schlegel 1807 dieselben Ansichten in der
Rezension von Rostorfs Dichtergarten (12, 206 ff.). Und abermals konnte
er auf Verse seines Bruders sich beziehen. Die ganze Sammlung sei in
deren Sinne gedacht:

    Den Heldenruhm, den sie zu spät jetzt achten,
      Des deutschen Namens in den lichten Zeiten,
      Als Rittermut der Andacht sich verbunden,

    Die alte Schönheit, eh’ sie ganz verschwunden
      Zu retten fern von allen Eitelkeiten,
      Das sei des Dichters hohes Ziel und Trachten!

Fr. Schlegel steuert unmittelbar auf die Lyrik der Befreiungskriege
los. Gleich nach Jena, im selben Augenblick, da Arndt zu singen
beginnt, dichtet er seine Sänge „Gelübde“ und „Freiheit“ (9, 180, 182).
Fortan ist der patriotische Sang eng mit ihm verknüpft. Der Wiener
Gefolgsmann der Schlegel, Heinrich Joseph v. Collin, dichtet für den
Krieg von 1809, den Fr. Schlegel im Stabe Erzherzog Karls mitmachte,
seine „Lieder österreichischer Wehrmänner“. Im Hause Fr. Schlegels zu
Wien verkehren Theodor Körner und Eichendorff, ehe sie in den Krieg
ziehen. Max v. Schenkendorf trifft von allen Befreiungssängern den
romantisch-religiösen Ton Hardenbergs und Schlegels am besten und läßt
sich besonders von Schlegels „Freiheit“ zu seinem Sange „Freiheit, die
ich meine“ anregen.

Der entscheidende Anstoß zu kollektivistischer Betrachtung sollte indes
von dem Manne ausgehen, an den die einseitigsten individualistischen
Kundgebungen der Romantik anknüpften: von +Fichte+. Noch in seinem
„Naturrecht“ (1796) neigt Fichte so stark zu kosmopolitischen
Anschauungen, daß er für nationales Wesen nichts übrig hat. Der Staat
wird im wesentlichen von seiner polizeilichen Seite gefaßt. Dagegen
kündigt sich schon das Verlangen an, daß der Staat jedem seiner
Bürger das sittliche Grundrecht, von seiner Arbeit leben zu können,
gewährleiste. Diesen Grundgedanken des Sozialismus entwickelte Fichte
in seinem „Geschlossenen Handelsstaat“ (1800): der Staat habe die
gesamte Organisation der Arbeit in die Hand zu nehmen. Nunmehr wurde
ihm der Staat schon ein gesellschaftlicher Organismus, dessen Wesen er
dann in den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters“ (1806) tiefer
zu erfassen suchte. Die Napoleonischen Eroberungskriege trieben
ihn weiter. Sie legten ihm die Frage nahe, ob wie die einzelnen
Persönlichkeiten so auch die einzelnen Nationalitäten im Weltplan
eine besondere Bestimmung hätten; ob mit dieser Bestimmung die
Pflicht, sie zu erfüllen, und das Recht zu politischer Selbständigkeit
gegeben sei. Von diesem Probleme aus vorwärtsschreitend, gelangte
Fichte zu der Überzeugung, die deutsche Nation habe eine so mächtige
Kulturbestimmung, daß sie fast allein neben den Einseitigkeiten der
anderen Nationen zur Erfüllung des Ideals der Humanität berufen sei.
Nur von der Regeneration des deutschen Volkes erhofft er das Heil
für die verfahrenen Zustände des Zeitalters. Die Selbstbefreiung des
deutschen Geistes ist mithin die Pflicht, die der Nation von ihrer
Bestimmung auferlegt wird. Dazu müssen die Deutschen politische
Nationalität erwerben. Eine nationale Erziehung hat also den Boden für
die Zukunft vorzubereiten.

So lautet das Glaubensbekenntnis der „Reden an die deutsche Nation“
(1808). Mit einem Schlage war hier der nationale Gedanke und die
gesellschaftliche Betrachtung zu einem Ganzen verschmolzen; nicht
länger war es nur ein Appell an die vergangene Größe Deutschlands,
nicht länger nur der Anspruch, daß Deutschland die geistige Führung der
Welt zukomme (s. oben S. 90 f.). Aus dem Zustand der deutschen Nation,
aus den augenblicklichen gesellschaftlichen Verhältnissen und aus
den künftigen Aufgaben der Gesellschaft wurde die Pflicht nationalen
Fühlens abgeleitet. Hier war zum erstenmal uneingeschränkt die
Behauptung aufgestellt, daß eine Gelehrtenrepublik noch kein Ersatz für
einen Staat sei, daß die Vernichtung der politischen Selbständigkeit
der deutschen Nation auch die ganze Herrlichkeit deutscher Literatur
und Kunst in Frage stelle (vgl. R. Fester, Rousseau und die deutsche
Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1890, S. 151).

Doch noch von ganz anderer Seite gewöhnte man sich damals daran,
das deutsche Volk als Einheit im Gegensatz zu den einzelnen großen
Persönlichkeiten zu fassen und die Pflichten zu bedenken, die der
einzelne dieser Gesamtheit gegenüber hat. +Arnim+ geht da voran. Ihn
verband ein starkes Gefühl mit der Scholle, auf der er geboren war;
er besaß ein wirkliches Vaterland. Für dieses Vaterland sammelte
er schon 1806 Kriegslieder. Er war aber elastisch genug, dieses
echte Vaterlandsgefühl auf ganz Deutschland auszudehnen. Das ganze
Deutschland sollte der Freude teilhaftig werden, die er selber an
deutscher Art und Kunst hatte. Als erster unter den Romantikern beginnt
Arnim mit Bewußtsein nicht nur für den Gebildeten zu arbeiten, sondern
für das Volk und diesem nicht nur altes Volksgut wieder zuzuführen,
sondern auch aus der Welt der Gebildeten ihm zu schenken, was ihm
taugt. Das Dauernde suchte er auf: „Wir wollen“, heißt es 1805 in
seinem Aufsatze „Von Volksliedern“ (Deutsche Nationalliteratur 146,
1, 78), „allen alles wiedergeben, was im vieljährigen Fortrollen
seine Demantfestigkeit bewährt, nicht abgestumpft, nur farbespielend
geglättet alle Fugen und Ausschnitte hat zu dem allgemeinen Denkmale
des größten neueren Volkes, der Deutschen.“ Von einem begeisterten
Liebhaber altdeutschen Wesens wird da vor Fichte der Ton der „Reden an
die deutsche Nation“ angeschlagen.

Aus der Geschichte erwächst für Arnim der Begriff des deutschen
Volkstums. Er fühlt sich als Träger einer Tradition und möchte diese
Tradition bewahrt wissen. „Nur der Ruchlose“, heißt es in der „Gräfin
Dolores“ (1, 93), „fängt eine neue Welt an in sich, das Gute war
ewig.“ „Der wunderbare Zustand ohne Gegenwart“ (Werke 12, 29), den
die französische Revolution gezeitigt hat, scheint ihm verwerflich.
Er will von dem Kosmopolitismus, der „Europa zu einem schönen humanen
Ganzen zusammengefabelt“ hat (Dolores 1, 124), nichts wissen. All das
ist aus dem Lebensgefühl des märkischen Edelmanns geschaut; dabei nimmt
Arnim den Begriff des Adels im höchsten Sinne und hält den Adligen zu
Selbstbescheidung und Pflichterfüllung vor anderen berufen. Agrariertum
offenbart sich bei ihm in streng sittlicher, verpflichtender Form.
Seine ausgesprochene Vorliebe für das Land läßt ihn gegen Industrie
und Handel ungerecht werden; in ihr findet seine Abneigung gegen das
Judentum eine Stütze. Ein starkes Standesbewußtsein bestimmt auch
seine pädagogischen Gedanken. Nicht Menschen, sondern Deutsche will er
erziehen, nicht allseitige Entfaltung der Kräfte verlangt er wie die
Frühromantik, sondern nach Dienern des Vaterlandes ruft er, die in den
Grenzen ihres Standes nach dem Maße ihrer Kräfte wirken (vgl. Friedrich
Schultze, Die Gräfin Dolores, Leipzig 1904, S. 23 ff.).

Eng verwandt mit Arnims staatswissenschaftlichen Anschauungen sind
+Adam Müllers+ Lehren. Damm konnte Arnim mit Adam Müller und mit seinem
Standesgenossen Heinrich v. Kleist, dessen patriotische Begeisterung
lyrisch und dramatisch gleich machtvoll ertönte, zu dem gemeinsamen
Unternehmen der „Abendblätter“ (1810/11) sich verbinden. Durch Reinhold
Steigs Forschungen (Heinrich v. Kleists Berliner Kämpfe, Berlin
und Stuttgart 1901) ist heute klargestellt, daß die „Abendblätter“
nach Tendenz, Inhalt und Form das Organ der preußischen Junker in
ihrem Kampfe gegen den Minister Hardenberg darstellten, gegen seine
Politik, die im Sinne der von der französischen Revolution angeregten
Anschauungen dilettierte, wie auch gegen seine staatswissenschaftlichen
Ansichten, die auf Adam Smith begründet waren. Adam Müller drückte
dem Blatte seinen Stempel auf: prinzipielle Gegnerschaft gegen die
Revolution und gegen die Staatsanschauung Edmund Burkes, wesentliche
Erhaltung Preußens als eines Agrikulturstaates, keine Reform der
wirtschaftlichen Zustände im Sinne von Adam Smith; und all das
getragen von einem starken Patriotismus und von dem Wunsche, das
französische Joch abzuschütteln. Mag in dem Parteiblatte auch
gelegentlich junkerliche Interessenpolitik etwas einseitig sich
geltend machen, sicher ist es eine charakteristische und echte Urkunde
romantischer, politischer, patriotischer und nationalökonomischer
Tendenzen. Denn wie Arnim fast durchaus diesen Kundgebungen zustimmen
konnte, so deuten alle Äußerungen Adam Müllers auf das romantische
staatswissenschaftliche Glaubensbekenntnis, wie es sich nach 1800
entwickelt. Das konservative Agrariertum, das Adam Müller vertritt,
bereitet die reaktionäre Politik der Zeit nach 1815 vor. Herold dieser
Richtung ist Adam Müller in enger Verbindung mit Friedrich v. Gentz,
der rechten Hand Metternichs, mit Fr. Schlegel und mit Karl Ludwig v.
Haller geworden.

+Fr. Schlegel+ ging auch auf diesem Felde voran. In den Kölner
Vorlesungen von 1806 (Windischmann 2, 306-396) entwickelt er zum
erstenmal systematisch seine Ansichten über Natur- und Staatsrecht,
über Politik und Völkerrecht. Auch hier heißt es (S. 369): „Der Adel
gehört ganz zu dem Landmann; er ist nur der höhere Landmann.“ Auch hier
wird ständische Verfassung vertreten. Auch hier wird erklärt: „Die Art,
wie der Handel jetzt ausgeübt wird, ist dem Staatszwecke im höchsten
Grade gefährlich“ (S. 371). Allein vorläufig trennt noch eine weite
Kluft die Berliner Patrioten von Fr. Schlegel. Schlegel steht schon auf
einem mittelalterlich religiösen Standpunkte, er führt Gedanken und
Träume von Novalis’ Aufsatz „Die Christenheit oder Europa“ (s. oben
S. 77 f.) systematisch aus. Von dieser Stelle gab es vorläufig keine
Brücke zu Arnim, Kleist und Adam Müller. Adam Müller aber ist nachmals
in Schlegels Lager übergegangen.

Fundamentale Anschauungen der Frühromantik liegen den Ausführungen Fr.
Schlegels zugrunde: ein großer Organismus soll aufgebaut werden, in dem
alle Teile ineinander leben, ein kirchlich-staatliches Universalsystem.
Die organische Alleinheit, Gott, wird im christlichen Sinne genommen;
und zwar enthüllt sich, wie in Novalis’ Aufsatz, wie in den späteren
kulturhistorischen Konstruktionen Fr. Schlegels (s. oben S. 85 f.),
die mittelalterliche Welt als höchste Verkörperung der organischen
und harmonischen Verknüpfung geistlicher und weltlicher Gewalt. Dem
Katholizismus sollte nunmehr die Aufgabe zufallen, diese organische
Harmonie von neuem zu begründen. Die Religion wurde so zum organischen
Mittelpunkt des Lebens.

Diesem Glaubensbekenntnis ist die Kirche das erste und der Staat das
zweite. Alle Staatsgewalt kommt von Gott. In der Kirche erfüllt sich
jeder Zweck höchster geistiger Gemeinschaft; der Staat hat nur die
äußeren Bedingungen eines solchen Gemeinschaftslebens zu gewährleisten.
Er beschränkt sich darum auf die mittelalterlichen Staatsziele: Ordnung
und Recht, Friede und Gerechtigkeit.

„Schon in dieser keimhaften Entwicklung kündigt sich der zugleich
aristokratische und demokratische, der exklusive und der
Massencharakter namentlich des künftig vollentwickelten Klerikalismus,
zugleich aber auch die Möglichkeit einer Massenentwicklung jeder Art
des Konservatismus und damit das Geheimnis ihrer stärksten politischen
Wirkungen an“, sagt Lamprecht (Deutsche Geschichte 10, 449).

Von solchen Ansichten aus gelangt romantische Staatswissenschaft
rasch zu einem Standpunkte, der dem nationalen Streben der
Befreiungskriegszeit durchaus entgegengesetzt ist. Ein politischer
Universalismus löst die nationalen Begrenzungen wieder auf, die am
Anfang des 19. Jahrhunderts an die Stelle des Kosmopolitismus getreten
waren. Österreich sollte die universalistisch-klerikalen Ideale
erfüllen; seine bunte nationale Zusammensetzung schien dem Zwecke
dienlich zu sein.

Dagegen ging die kollektivistische Wendung vom Anfang des Jahrhunderts
nicht verloren. Wohl wird der Monarch zum Repräsentanten der großen
harmonischen Einheit erhoben, ja sogar der Gedanke erwogen, ob mit der
Würde des Herrschers auch die höchste Priesterwürde zu verknüpfen sei.
Nicht der Zwang der Gesetze, sondern die Autorität des Fürsten soll
ferner den Staat erhalten. Ein religiöser Absolutismus also, wie er im
16. Jahrhundert teils geplant, teils wirklich durchgeführt worden ist!
Jedoch ebenso wird die höchste Freiheit des einzelnen bei der festesten
Vereinigung aller gefordert und die Idee einer Repräsentation des
Volkes nach Ständen erwogen.

Die Romantik weist in diesen letzten Forderungen politischer Art nach,
daß sie mit dem Zeitgeist fortgeschritten ist. Das junge Deutschland
bekennt sich gleichfalls zu Kosmopolitismus und Kollektivismus.
Freilich ist es ebenso radikal und revolutionär gesinnt, wie die
Romantik der Reaktion dient. Aber die Probleme des Zeitalters werden
auf beiden Seiten gleich eifrig, wenn auch von ganz entgegengesetztem
Standpunkte erwogen. Stellt das junge Deutschland im wesentlichen ein
Weiterdenken frühromantischer Ideen dar, so konnte es doch schließlich,
um auf der Höhe des Zeitalters zu stehen, nichts anderes tun, als die
Zeitprobleme des Kosmopolitismus und Kollektivismus mit dem alten
romantischen Gedankenschatz und mit seinen revolutionären Strebungen
zu verknüpfen, mit Elementen, die von der Romantik selbst längst
preisgegeben worden waren. Wohl überholt das junge Deutschland auf
solche Weise die alternde Romantik, aber es bewährt sich auch in dieser
Verknüpfung nur als Epigone und erhärtet, daß die Romantik bis zuletzt
gewußt hat, wie die Fragen lauteten, die einer Lösung harrten.



VI. Die Dichtung der Frühromantik und der jüngeren Romantik, ihr
Zusammenhang und ihr Gegensatz.


1. Volksliedartige Lyrik.

Ein doppeltes Problem erhebt sich, wenn die Beziehung der romantischen
Gedankenwelt zur romantischen Dichtkunst, das Verhältnis von
Spekulation und Schaffen erwogen werden soll:

Ist die frühromantische Dichtung aus der Theorie erwachsen?

Steht die Dichtung der späteren romantischen Blütezeit überhaupt noch
im Zusammenhang mit der Theorie der Frühromantik?

Beide Fragen sind nicht schlichtweg zu bejahen oder zu verneinen.
Frühromantische Dichtung soll zum großen Teil die Theorie illustrieren;
aber sie nimmt auch theoretische Ergebnisse vorweg. Spätere romantische
Dichter fühlen sich mehrfach im Gegensatz zu der spekulativen Richtung
Fr. Schlegels, Schleiermachers und Hardenbergs; aber sie treiben
trotzdem Gedanken und Formen weiter, die im frühromantischen Lager ihre
Vorbereitung gefunden hatten.

Um den Zusammenhang frühromantischer Theorie und jüngerer Romantik
nicht zu verkennen, darf man allerdings nicht einzelne Worte aus ihrem
Zusammenhang herausheben und einseitig deuten. Arnim bekennt 1808 als
Herausgeber der „Zeitung für Einsiedler“ (Nr. 8, S. 58): „Der blinde
Streit zwischen sogenannten Romantikern und sogenannten Klassikern
endet sich; was übrig bleibt, das lebt, unsre Blätter werden sich
mit beiden und für beide beschäftigen; man lernt das Eigentümliche
beider Stämme wie in einzelnen Individuen erkennen, achten und sich
gegenseitig erläutern und in seiner Entwickelung erkennen.“ Ganz
irrig wäre es, in diesen Worten eine Absage, an die ältere Romantik
gerichtet, zu suchen. Vielmehr bekennt Arnim sich genau zu der
Anschauung, die Fr. Schlegel in der „Europa“ (s. oben S. 81 f.)
vertritt; und so verweist er denn ausdrücklich auf Fr. Schlegels „Werk
über Indien“, wo „diese Entwicklung“ dargestellt sei.

Gerne wird von Kurzsichtigen auch Uhland zu der Romantik überhaupt und
natürlich am stärksten zu der Theorie der Frühromantiker in Gegensatz
gestellt. Bestenfalls gibt man eine Verwandtschaft der behandelten
Stoffe und der verwerteten Formen zu. Uhland aber hat in einem
Jugendaufsatz den Begriff des Romantischen ganz und gar im Sinne der
Schlegel, Schleiermachers und Schellings umschrieben: er spricht von
der unendlichen Sehnsucht in die weite Ferne. „Der Geist des Menschen,
wohl fühlend, daß er nie das Unendliche in voller Klarheit in sich
auffassen wird, und müde des unbestimmt schweifenden Verlangens,
knüpft bald seine Sehnsucht an irdische Bilder, in denen ihm doch
ein Blick des Überirdischen aufzudämmern scheint... Dies mystische
Erscheinen unseres tiefsten Gemütes im Bilde, dies Hervortreten der
Weltgeister, diese Menschwerdung des Göttlichen, mit +einem+ Worte:
dies Ahnen des Unendlichen in den Anschauungen ist das Romantische“
(Werke, herausgegeben von L. Fränkel, 2, 347 f.). Sind das nicht
fast wortgetreu Schleiermachers Gedanken von der Gegenwart des
Unendlichen im Endlichen, ist das nicht im wesentlichen Fr. Schlegels
und Schellings Idee von der Symbolisierung des Unendlichen durch das
Endliche? Und ebenso ist aus den tiefsinnigsten Anschauungen der
Romantik, wie sie bei Novalis begegnen, das endgültige Urteil über die
Romantik geflossen, das Uhland fällt: „Die Romantik ist nicht bloß ein
phantastischer Wahn des Mittelalters; sie ist hohe, ewige Poesie, die
im Bilde darstellt, was Worte dürftig oder nimmer aussprechen, sie ist
das Buch seltsamer Zauberbilder, die uns im Verkehr erhalten mit der
dunkeln Geisterwelt; sie ist der schimmernde Regenbogen, die Brücke der
Götter, worauf, nach der Edda, sie zu den Sterblichen herab und die
Auserwählten zu ihnen empor steigen“ (S. 350 f.).

Mit welcher Andacht die jüngeren romantischen Konventikel von der Art
des Kreises Uhlands und Kerners in die Leitsätze der romantischen
Theorie sich versenkten und sie sich zu eigen zu machen suchten, das
beweist Uhlands Studie über das Romantische unwiderleglich (vgl.
insbesondere oben S. 93).

Noch unzweideutiger und klarer als der Zusammenhang der
frühromantischen Theorie und der Dichtung der jüngeren Romantiker
ist die Verbindung, die zwischen früherer und späterer romantischer
Dichtung besteht; nur wenige Entwickelungslinien der romantischen
Poesie setzen in späterer Zeit ein und sind nicht bis in das letzte
Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zurückzuverfolgen.

Vielleicht die stärkste Wendung vollzieht sich auf dem Gebiet der
Lyrik. Die spätere Romantik hat der deutschen Literatur einen
unschätzbaren Reichtum lyrischer Poesie geschenkt. Die deutsche
volkstümliche Lyrik des 19. Jahrhunderts entkeimt zum weitaus
überwiegenden Teile der Umwandlung, die sich im ersten Dezennium des
19. Jahrhunderts auf dem Felde romantischer Lyrik abspielte. Nicht die
Lyrik der Befreiungskriege kommt hier in Betracht; denn sie ist noch
von frühromantischer Hand gestiftet worden (s. oben S. 114 f.), wohl
aber die volksliedartige Lyrik.

Weder die musikalische Lyrik Tiecks, noch die formalen Kunststückchen
im romanischen Stil, wie zunächst die Schlegel sie schaffen, noch
Novalis’ schlicht treuherziger und doch so beziehungsreicher Sang
bereiten die volksliedartigen Lieder vor, die von den Schwaben, von
Eichendorff, Wilh. Müller, Heine gesungen worden sind. Vielmehr haben
merkwürdigerweise so Wackenroder und Tieck wie die beiden Schlegel die
dankbare Rolle der Wiedererwecker deutscher volksliedartiger Lyrik den
Herausgebern des „+Wunderhorns+“ überlassen.

Das von Wackenroder und Tieck angeregte Interesse für altdeutsche
Dichtung führte allerdings auch W. Schlegel noch am Ende des 18.
Jahrhunderts zu seinem Lehrer Bürger und zu Balladen im Stil des
Göttinger Hains zurück. Deutlicher aber als in seinem Aufsatze über
Bürger von 1800 (8, 64 ff.) brachte er den Wunsch nach einer Sammlung
deutscher Volkslyrik in der Art von Percys „~Reliques of ancient
English poetry~“ (1765) vor, als in den Berliner Vorlesungen über
„Romanzen und andere Volkslieder“ (3, 160 ff., 167) zu sprechen war.
Doch ebenso hatte Goethe am Ende des Jahrhunderts angefangen, sich
volksliedartigen Gedichten wieder zuzuwenden; in seinem und Wielands
„Taschenbuch auf das Jahr 1804“ aber wies er in Liedern, die sich an
Volkslied und Volksmelodie anlehnen, wie „Schäfers Klagelied“ und
„Bergschloß“, einen neuen Weg. Fr. Schlegels Rezension von Goethes
Werken in den Heidelbergischen Jahrbüchern von 1808 (Deutsche
Nationalliteratur 143, 376, 378) hob sofort die merkwürdige Mischung
des Lied- und Romanzenartigen an diesen Gedichten hervor: „Ein Lied,
das sich an irgend eine Volksmelodie anschließt, das nicht in der
eignen Person gedichtet ist, sondern in irgend einer, mehr oder
minder aus der romantischen Sage entlehnten, besonders wenn in diesem
mythischen Hintergrund irgend eine Geschichte andeutend vorausgesetzt
oder wohl gar teilweise erzählt wird, nähert sich durch diese
Bedingungen stufenweise immer mehr der Romanze und geht endlich ganz in
dieselbe über.“ Romanzenartige Lieder im Stil des „Bergschlosses“ und
von „Schäfers Klagelied“ bilden fortan eine Lieblingsform romantischer
Lyrik. Vor allem ist „Schäfers Klagelied“ von den romantischen
Sangesgenossen immer wieder nachgebildet, in Eingang und in einzelnen
Wendungen verwertet, weitergesungen und parodiert worden. Unter Goethes
Ägide trat denn auch 1806-08 die Sammlung deutscher Volkslyrik hervor,
die im Sinne jener Sänge einen weiteren entscheidenden Anstoß gab und
unentbehrliche Voraussetzung der romantischen wie überhaupt des größten
Teiles der modernen Lyrik wurde: „Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche
Lieder. Gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Mit einem
Anhange von Kinderliedern.“

Arnims freudiges Streben, dem deutschen Volke deutsche Poesie
zu vermitteln, verband sich in diesem Werke mit Brentanos früh
einsetzender Vorliebe für Volkslied und volksliedartige Poesie. Schon
Brentanos Roman „Godwi“ (1801/02) war von solchen Klängen durchzogen.
Die lyrischen Einlagen des Romans bewähren Brentanos geniale Kunst,
im Sinne des Volkes mythenbildend zu schaffen. Arnims Neigung zu
volksliedartig träumerischen, verschwimmenden Tönen, verbunden mit
Brentanos volkstümlicher Phantasie, verleitete die Herausgeber
dazu, energische Eingriffe in das Volksliedergut zu tun, das ihnen
vorlag, und „Ipsefakten“ in freier Verwertung echter Überlieferung
zu gestalten. Exakte Philologen riefen darum: „Betrug!“ Allein
Goethe erkannte sehr wohl, daß eben diese Eingriffe den Zeitgenossen
das alte Volkslied mundgerechter machten; und mit vollem Rechte
durften die Herausgeber feststellen, daß ihre „Ipsefakten“ selbst
von Kennern für echte Volkslieder gehalten wurden, ja ganz gewiß ist
die mächtigste Wirkung von Liedern des „Wunderhorns“ ausgegangen,
denen Arnim und Brentano den Stempel ihres Fühlens am stärksten
aufgedrückt hatten. Das klassische Beispiel ist und bleibt das Lied
„Zu Straßburg auf der Schanz’“, das unter dem Titel „Der Schweizer“
ins „Wunderhorn“ überging. Das Alphornmotiv ist da in ein derbes
Deserteurgedicht eingeschmuggelt und dadurch zu einem Lieblingsthema
sehnsüchtig-romantischen Sanges erhoben worden.

Wie wenig die Frühromantik geneigt war, dem Unternehmen Arnims und
Brentanos vollen Beifall zu zollen, erhellt aus der Anzeige, die
Fr. Schlegel in den Heidelbergischen Jahrbüchern 1808 der „Sammlung
deutscher Volkslieder“ von Büsching und v. d. Hagen widmete (Deutsche
Nationalliteratur 143, 361 ff.). Nicht nur wird hier die wohlwollende
Rezension, die Goethe in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung
von 1806 (Jubiläumsausgabe 36, 247 ff.) dem „Wunderhorn“ hatte zuteil
werden lassen, ironisch parodiert; den Sammlern wird auch vorgeworfen,
daß sie die Grenzen zu weit gezogen und Unbedeutendes aufgenommen
haben, als „Abweg“ des „Wunderhorns“ aber geradezu bezeichnet,
daß die Herausgeber „das Wesen des Volksliedes vorzüglich in die
Unverständlichkeit setzen, die sie nun nicht bloß lassen, wo sie
sich etwa schon findet, sondern geflissentlich aufsuchen, und nie
genug davon haben können, welches leicht zum Abgeschmackten führen
kann. Dieser Abweg findet natürlich nur bei den willkürlich ändernden
Sammlern statt oder bei denen, welche die Art und Weise des Volksliedes
in eigenen Gedichten absichtlich nachbilden zu können vermeinen.“

Dennoch haben Arnim und Brentano eben durch die von Fr. Schlegel
getadelten Bestrebungen der romantischen volksliedartigen Lyrik
ihr eigentümlichstes Problem gegeben. Denn fortan sucht man in
verschiedenster Form und in größerer oder geringerer Annäherung
„die Art und Weise des Volksliedes in eigenen Gedichten absichtlich
nachzubilden“. Bald entstehen Lieder, die in Strophenbau und Sprache
die Eigenwilligkeit des Volksliedes nachschaffen, bald ergeben sich
Formen, die volkstümlich sind ohne die „alten Sprachholperigkeiten
und Unbeholfenheiten“ zuzulassen (vgl. Heine an Wilhelm Müller, 7.
Juni 1826). Wenige treffen ohne Affektation den Ton des „zersungenen“
Volksliedes so glücklich wie Mörike; Heines Absicht ist, „reinen Klang“
und „wahre Einfachheit“ zu erzielen und er bekennt, daß diese Absicht
vor ihm von Wilhelm Müller am besten erreicht worden sei.

In der langen Reihe der Nachbildungsversuche herrscht weitaus der
Vierzeiler vor. Die Vorliebe für die vierzeilige Strophe wird von zwei
Strömungen unterstützt, die von ganz anderen Punkten ausgehen.

Dieselbe spanische Literatur, deren komplizierteste und mühsamste
metrische Bindungen von der Frühromantik mit Vorliebe nachgebildet
worden sind, macht neben dem deutschen Volkslied den gereimten
Vierzeiler zu einem Liebling der Blütezeit romantischer Lyrik. Und
zwar bieten diesmal frühromantische Versuche die erste Anregung. Nur
eine Auswahl aus der Fülle frühromantischer formaler Experimente
vollzog sich in späterer Zeit auch auf diesem Gebiet. Von all den
spanischen Formen, deren schwierigste und dem deutschen Sprach- und
Melodiegefühl am wenigsten entsprechende den Wagemut der Schlegel und
ihrer Genossen am meisten reizen, setzt sich später im wesentlichen
lediglich der trochäische, meist gereimte, zuweilen nur durch Assonanz
verknüpfte Vierzeiler durch. Großenteils wird er für romanzenartige
Gedichte verwertet, am ausgiebigsten von Brentano in den „Romanzen vom
Rosenkranz“.

Trochäische Vierzeiler mit Reimbindung werden der deutschen Lyrik
indessen auch durch Goethes „Westöstlichen Divan“ geläufig. Dem
romantischen Hinweis auf den Orient ist bekanntlich Goethes letzte
große lyrische Sammlung zu verdanken. Nur wendet er sich nicht der
von den Romantikern besonders geschätzten Poesie Indiens, sondern der
urwüchsigeren und primitiveren Dichtung und Kultur Persiens zu. Darum
blieben die romantischen Versuche, indische metrische Gebilde ins
Deutsche zu übertragen, für die deutsche Poesie unfruchtbar. Goethe
wiederum hat seinem „Divan“ nur in ganz geringem Umfang orientalische
Formen geschenkt. Das Gasel erscheint nur vereinzelt und in freier
Nachahmung. Wohl empfand auch er den Reiz der „zugemessenen Rhythmen“;
aber er fand auch, daß sie, „hohle Masken ohne Blut und Sinn“, schnell
„abscheulich widern“ („Nachbildung“, Jubiläumsausgabe 5, 22). So wandte
er sich zu schlichteren Formen eigener Erfindung und setzte in ihnen
fort, was er in den Gedichten für das „Taschenbuch auf das Jahr 1804“
begonnen hatte (vgl. K. Burdach, Jubiläumsausgabe 5, S. XXVI f.).
Ganz wie die „lieben kleinen Sänger“, die dem nach Osten pfeifenden
alten Dichter folgten, huldigte auch Heine rasch den Rhythmen des
„Divans“. Und wenn auch nach Goethe das Gasel eine reichere Pflege
fand, wenn vollends Rückert, nach W. Schlegels bissigem Urteil „aller
morgenländ’schen Zäune König“ (2, 218), den Reichtum orientalischer
Reimgebilde nachzuschaffen befähigt war: im wesentlichen hat spätere
romantische Dichtung dem Orient nur seinen exotischen Farbenzauber
abgesehen, wie Goethe bemüht im fernen Osten Patriarchenlust zu kosten.
Im übrigen aber ließ sie sich von dem mächtigen Strome tragen, dessen
Quellen zuletzt im deutschen Volkslied sprudeln.


2. Romantische Ironie und Naturphilosophie in der romantischen Dichtung.


~a~) Drama.

Die Lyrik ist der Ruhmestitel der jüngeren Romantiker; und in ihrer
Ausgestaltung bewährten sie sich den älteren Genossen gegenüber am
selbständigsten. Zwei Haupttendenzen der Theorie übernahmen sie dagegen
von ihren Vorgängern, die diese Haupttendenzen nicht nur gedanklich
entwickelt, sondern auch in Praxis umgesetzt hatten: die romantische
Ironie und die naturphilosophische Durchgeistigung der Natur.

Doch vielleicht könnte der Ausdruck „in Praxis um gesetzt“ zu
Mißverständnissen Anlaß geben. Denn tatsächlich erstehen im
frühromantischen Kreise Schöpfungen voll romantischer Ironie, ehe
Fr. Schlegel die Lehre von der Ironie weiter ausgeführt und zu einem
Grundsatz der Schule gemacht hat. Und Märchen von naturphilosophischem
Charakter werden geschrieben, ohne daß die Naturphilosophie,
sei es Schellings oder Fr. Schlegels und Hardenbergs, ihre
unbedingte Voraussetzung heißen könnte. Tieck spendet da wie dort
Exemplifizierungen der romantischen Theorie, die den Theoretikern
ausgezeichnet taugten, von ihnen aber nicht angeregt worden sind.

Tiecks vielbewegliches Talent war ja in erster Linie berufen, die
kühnen ästhetischen Gedankengänge der Genossen schöpferisch zu
poetischer Verwirklichung zu bringen. Er hat denn auch mehrfach diese
Aufgabe erfüllt. Um so notwendiger ist, seine Originalität voll
anzuerkennen, wo er aus Eigenem schafft.

Die einleuchtendste, nächstliegende und von der Romantik am
ausgiebigsten ausgenutzte Form der romantischen Ironie ist die
Zerstörung der dramatischen Illusion. Fr. Schlegels Definitionen der
romantischen Ironie (s. oben S. 32 ff.) hatten sich diesen Zug nicht
entgehen lassen, wenn sie auf „die mimische Manier eines gewöhnlichen
guten italienischen Buffo“ (Lyc.-Fgm. 42) sich bezogen. Ja schon
1794 verteidigte Fr. Schlegels Aufsatz „Vom ästhetischen Werte der
griechischen Komödie“ (1, 18) Aristophanes gegen den Vorwurf, „er
unterbreche oft die Täuschung“. Das liege, meint Schlegel, „in der
Natur der komischen Begeisterung“. „Diese Verletzung ist nicht
Ungeschicklichkeit, sondern besonnener Mutwille, überschäumende
Lebensfülle... Die höchste Regsamkeit des Lebens muß wirken,
muß zerstören; findet sie nichts außer sich, so wendet sie sich
zurück auf einen geliebten Gegenstand, auf sich selbst, ihr eigen
Werk; sie verletzt dann, um zu reizen, ohne zu zerstören. Dieser
charakteristische Zug des Lebens und der Freude wird in der Komödie
noch überdem bedeutend durch die Beziehung auf die Freiheit.“ Schon
hier verknüpft sich Illusionszerstörung mit den Fäden, aus denen später
der Begriff der romantischen Ironie gesponnen wurde, und erscheint als
wesentlicher Zug des Ideals der Komödie, das dem jungen Romantiker
vorschwebt. Denn von Anregungen Kants, Heydenreichs und Chr. G. Körners
unterstützt, verwirft derselbe Jugendaufsatz die zeitgenössische
Komödie, die mit den Reizen der Komik ernsthafte dramatische Handlungen
aus dem häuslichen Leben schmücke, während echte Komödie, zunächst die
griechische des Aristophanes, sich ihrer Fröhlichkeit nicht schäme und
einen Rausch der Fröhlichkeit darstelle.

Von diesem dauernd festgehaltenen Programm aus eröffneten die
Romantiker ebenso wie Schiller, der wahrscheinlich von Fr. Schlegel
den Anstoß erhielt, einen unerbittlichen Kampf gegen die rührseligen
Lustspiele Ifflands, Kotzebues und ihrer Nachbarn. Von der Aufstellung
des Gedankens einer Komödie voll reiner Fröhlichkeit zu seiner
Verwirklichung gelangten die Genossen aber nur mit Tiecks Hilfe. Sein
erster Versuch und zugleich das entscheidende Vorbild für fast alle
romantischen Lustspiele wurde „Der gestiefelte Kater, ein Kindermärchen
in drei Akten“ (1797). Allein ganz sicher ist bei der Abfassung des
satirischen Spiels, das auf jeder Seite der Bühnenillusion ins Gesicht
schlägt, nicht Fr. Schlegel der Leiter Tiecks gewesen. Vielmehr hatte
Tieck längst den burlesken Späßen Holbergs und Gozzis, dem „Triumph
der Empfindsamkeit“ von Goethe, dann aber auch dem „Sommernachtstraum“
Shakespeares, den ~comical satires~ von dessen Zeitgenossen Ben Jonson
und am stärksten den Hanswurstspielen es abgesehen, wie die Bühne mit
sich selbst Scherz treiben kann. Schon in dem Puppenspiel „Hanswurst
als Emigrant“ (1795), das 1855 in seinen „Nachgelassenen Schriften“
(1, 76 ff.) zum erstenmal gedruckt wurde, bereitet sich die Manier des
„Gestiefelten Katers“ vor.

Nun galt es nur noch, auf dem glücklich eröffneten Weg weiter zu
schreiten. Tieck selber ging sofort mit seinem „Zerbino“ und mit der
„Verkehrten Welt“ (1799) voran. W. Schlegel folgte mit „Ehrenpforte
und Triumphbogen für den Theaterpräsidenten v. Kotzebue“ (1800),
Brentano mit dem gleichfalls gegen Kotzebue gerichteten „Gustav
Wasa“ (1800). Die kaum übersehbare Reihe satirischer Dramoletts, die
gern die Form des Puppenspiels annehmen, bildet ein starkes Band der
Zusammengehörigkeit aller romantischen Gruppen. In Schwaben ist nicht
nur Kerner, auch der weit ernstere und einheitlichere Uhland in solchen
irrlichternden Scherzspielen zu Kundgebungen romantischer Ironie
gelangt. Endlich beginnt die Romantik in dieser Form über sich selbst
zu spotten; Eichendorff kündigt den Philistern im eigenen Lager den
Krieg an (1824). Grabbe verbindet „Scherz, Satire, Ironie und tiefere
Bedeutung“ (1827) zu einem stachlichten Witzspiel. Zuletzt mündet
die Bewegung an eben dem Punkte, auf den Fr. Schlegel von Anfang an
hingewiesen hatte: bei Aristophanes. Platens aristophanische Komödien
(1826-29) brechen eine Lanze mit der Romantik; aber durch die streng
aristophanische Form leuchtet allenthalben der Geist romantischer
Ironie, den am Ende des 18. Jahrhunderts Fr. Schlegel und Tieck zum
Kampf gegen die Bühnenbeherrscher der Zeit aufgerufen hatten.

Freilich war man sich im romantischen Lager bewußt, daß das Programm
einer reinen Komödie durch satirische Scherzspiele nicht ganz erfüllt
sei. Wohl nur Platen glaubte in seinen aristophanischen Komödien
wirklich alle Wünsche zu erfüllen, die den Gegnern der Rührkomödie
am Herzen lagen. An Versuchen, das Lustspiel von der persönlichen
literarischen Satire zu befreien, fehlte es nicht. So wandelte Tieck
zeitweilig auf den Pfaden der Lustspiele desselben Ben Jonson,
dessen comical satires zu den Vorbildern des „Gestiefelten Katers“
zählten. Wie wichtig den Romantikern das Problem der reinen Komödie
blieb, bezeugt ihr starkes Interesse für Goethes und Schillers
Preisausschreiben vom Jahre 1800, das ganz im romantischen Sinn ein
Intrigenlustspiel ohne Rührung forderte. Brentanos „Ponce de Leon“
gehörte zu den eingereichten Stücken. Erfüllt aber wurden alle
Wünsche, die von romantischer wie von klassischer Seite nach einem
Kunstwerk der Komik riefen, durch Kleists „Zerbrochenen Krug“ (1811).
Da ward endlich eine Komödie geboten, die weitab von den rührenden
Familienszenen der Kotzebueschen Richtung nur den Intellekt in Bewegung
setzte; die derberen Effekte der romantischen Ironie kommen nicht zur
Geltung, rein waltet der Humor in dem Stücke, das mit genialem Griffe
auch da nur zum Lachen zwingt, wo kriminalistische Motive einen nicht
lustspielmäßigen Ernst hervorzubringen drohen. Wohl weist auch der
Ausgang des „Zerbrochenen Krugs“ auf eine Verlobung hin. Aber nicht,
daß Ruprecht sein Evchen bekommt, ist der Zweck des Stückes, sondern
die Beantwortung der Frage: wird Richter Adam es verhindern, daß der
wahre Krugzertrümmerer entlarvt werde? Ein reines Verstandesproblem
also, das alle Rühreffekte ausschließt!


~b~) Roman und Lyrik. Heine.

Romantische Ironie in der Form der Illusionszerstörung fällt am
deutlichsten in Theaterstücken ins Auge; denn nirgends innerhalb
der Poesie ist Wirkliches und Wirklichkeitsanspruch so deutlich
zu verspüren, wie auf der Bühne. Trotzdem können auch andere
Dichtungsgattungen mit Illusionszerstörung arbeiten, d. h. mit einem
Schlage aus voller Hingabe an die Welt der Kunst uns in die Werkstatt
des Dichters versetzen, uns gleichsam einen Blick hinter die Kulissen
eröffnen. Als Fr. Schlegel verlangte, daß „Transzendentalpoesie“
das Produzierende zusammen mit dem Produkt darstelle (Ath.-Fgm.
238), dachte er sicher in erster Linie an den Roman, der ja nach
seiner Ansicht die ganze moderne Poesie „tingiert“ (Ath.-Fgm. 146).
Wirklich glaubte er in Goethes „Meister“ (2, 171, 30) durch die
Hülle der Dichtung den Dichter selbst zu erblicken, der von der
Höhe seines Geistes auf seine Schöpfung herablächele (s. oben S.
35). Weit kenntlicher offenbart sich, was Fr. Schlegel forderte, in
Jean Pauls Romanen; erscheint doch Jean Pauls humoristische Poesie
oft „gleich eingestreuten Liedern als Episode oder vernichtet als
Appendix das Buch“ (Ath.-Fgm. 421). Tatsächlich lernen die romantischen
Romandichter vor allem von Jean Paul die „Ironie des aus dem Stück
Fallens“, wie Brentano drastisch es nennt. Jean Paul läßt mit
Vorliebe auf „Dampfbäder der Rührung“ „Kühlbäder der Satire“ folgen;
seinen Humor definiert er selbst als das Ergebnis des Aufbrausens
beider Spiritus, wenn seine negativ elektrische Philosophie und
sein positiv elektrischer Enthusiasmus ins Gleichgewicht zu kommen
ringen. Lieblingsform von Jean Pauls Humor ist, die Person des
Dichters zwischen den Leser und die Erzählung zu schieben, von seinem
Dichtgeschäft, von seinen schriftstellerischen Mühen, von Ärger über
die Arbeit zu berichten. Jean Paul knüpft dabei nur an längst geübte
Gebräuche der komischen Poesie an, die in Prosa und lieber noch in
Versen innerhalb des Buches gern vom Buche, von seiner Entstehung, von
Buchdrucker- und Honorarfragen spricht. Da lernt zuletzt der Verfasser,
der den größten Teil seiner Dichtung nur als getreuer Kopist eines ihm
übergebenen Manuskriptes vorgelegt haben will, die Personen seiner
eigenen Schöpfung von Angesicht zu Angesicht kennen; sie selber aber
lesen, was er über sie niedergeschrieben hat. Cervantes, englische
komische Novellisten wie Smollet und englische Humoristen wie Sterne
arbeiten mit solchen Mitteln; deutsche Erzähler (Miller, Musäus) folgen
ihnen. Wielands Versdichtungen aber bieten, mannigfachen Anregungen
folgend, eine Musterkarte der verschiedenen Mittel, durch die der
Dichter in seine eigene Dichtung sich und seine Reflexionen einmischen
kann. Sterne vor allem hat seinem Landsmann Byron und dessen ganzer
Schule den Weg gewiesen, dann aber auch Jean Paul und den Romantikern,
endlich den Reiseschilderern von M. A. v. Thümmel bis zu Heine und über
diesen hinaus durch das junge Deutschland bis in unsere Tage gezeigt,
wie ein Erzähler das epische Nacheinander zu einer Nebensache, zu
einem Nichts herabdrücken und durch überwuchernde Reflexionen, durch
Selbstbetrachtung und Selbstdarstellung einen dünnen Erzählerfaden
hindurchspinnen kann. Im 421. Athenaeumfragment wird Jean Paul darum
auch vorgeworfen, daß er „nicht +eine+ Geschichte gut erzählen kann,
nur so was man gewöhnlich gut erzählen nennt“. Bald aber gefiel sich
romantische Novellistik in solcher unepischen Willkür; und schon die
„Lucinde“ zeigt starke Neigungen, Jean Paul durch Anwendung aller
Formen, nur nicht durch das epische Nacheinander fortschreitenden
Berichtes zu übertrumpfen. Auch der „Lucinde“ möchte man den Vorwurf
machen, daß ihr Verfasser nicht erzählen kann.

Die Manier Sternes und Jean Pauls wurde aber auf die Spitze getrieben
und überholt von Brentanos „verwildertem“ Roman „Godwi“. Da ergeben
sich -- wie bei Jean Paul -- seltsame Überraschungen, wenn zuletzt der
pseudonyme Verfasser Maria die Persönlichkeiten seines Berichtes zu
sehen bekommt; so ruft er, wenn er endlich den Titelhelden erblickt
hat, erstaunt aus: „Dies war also der Godwi, von dem ich so viel
geschrieben habe... Ich hatte ihn mir ganz anders vorgestellt.“ Nicht
nur wird im Buche -- wiederum ganz nach Jean Pauls Art -- das Buch
selber nach Kapitel oder Seitenzahl zitiert; Godwi erklärt: „Dies ist
der Teich, in den ich Seite 266 im ersten Bande falle“ oder fragt
Maria: „... was wollten Sie Seite 281 mit den stillen Lichtern?“;
oder man spricht von der Stelle, „wo Werdo Senne Seite 126 singt“.
Noch vermehrt werden die Spiegelungen und Widerspiegelungen, die nach
Fr. Schlegels Programm der romantischen Ironie eigen sind, indem
endlich auch der unter seine eigenen Geschöpfe versetzte Dichter
Maria stirbt. Er habe sich bei der Ausarbeitung des zweiten Teils
zu Tode gelangweilt, heißt es. Und eine fragmentarische Fortsetzung
erzählt seine letzte Krankheit. Energischer konnte der Dichter -- nach
romantischer Ansicht -- sich nicht über sich selbst erheben, als wenn
er sich selber sterben ließ und von seinem eigenen Tode berichtete.

Diese Scherze romantischironischer Erzählungen setzen sich -- und darum
verdienen sie nähere Beachtung -- durch Jahrzehnte fort. Immermanns
„Epigonen“ (1836) noch lassen gegen das Ende hin den Verfasser in den
Kreis seiner Romangestalten eintreten; die Beteiligten lesen, was
er über sie geschrieben hat und geraten durch irrige Auslegungen in
peinlichste Konflikte. Sogar noch Immermanns „Münchhausen“ (1838/39)
arbeitet mit dem Buchbinder, so wie einst Sterne und Jean Paul den
Buchdrucker herbeibemüht hatten. Immermanns Roman beginnt, angeblich
durch ein Versehen des Buchbinders, mit Kapitel 11; und erst nach dem
15. Kapitel folgen die ersten zehn. Eine Korrespondenz des Verfassers
mit dem Buchbinder darf nicht fehlen. Allerdings zielte dieser
Buchbinderscherz auf Pückler-Muskaus „Briefe eines Verstorbenen“
(1830 f.), die im ersten Bande die Nummern 25-48 bringen und im zweiten
die Nummern 1-24 nachtragen.

Unserem Gefühl erscheinen solche Scherze veraltet und wirkungsarm.
Dieses geistige Feuerwerk verpufft zu rasch, und wir haben nur den
Eindruck einer fast zwecklosen Zerstörung. Doch die Romantik selber
hat noch gelernt aus der Stimmungsbrechung stärkere Effekte zu holen.
+Heine+ war es vorbehalten, in Prosa und Vers die romantische Ironie
mit französischer Pointentechnik zu verknüpfen, die romantische
Stimmungsbrechung zur Schlußpointe zu verwerten. Am geläufigsten
sind jedermann die illusionzerstörenden Schlüsse seiner Gedichte. Am
Schlusse des „Seegespensts“ (Nordsee I, 10) will der Dichter, von
dem Anblick der tief unten im Meer erschauten Geliebten gefesselt,
sich ins Wasser stürzen; die Farbengebung ist stark genug, daß wir es
glauben; der Kapitän aber hält ihn zurück mit dem derbprosaischen,
die Stimmung des ganzen Gedichts zerstörenden Zuruf: „Doktor, sind
Sie des Teufels?“ Im „Goldenen Topf“ (1, 184) hatte E. T. A. Hoffmann
genau denselben Witz sich geleistet. Aber nur Heine erzielt mit
ihm einen blendenden Schlußeffekt. Schlußpointen, die witzig die
im Gedicht selber wachgerufene Stimmung vernichten, hatte schon
Gellert den Franzosen abgesehen; Heine erhebt die Schlußpointe ins
Romantische, indem er die Pointe gegen sich selbst, gegen das Ich des
Dichters kehrt, und indem er mit dem Gegensatz des konventionellen
Philistergefühls und des Enthusiasmus eines Dichterherzens arbeitet.
Mindestens ebenso schlagende Effekte erzielt Heines Prosa. Sterne liebt
die Aposiopese und den Gedankenstrich. Mehrere Zeilen Gedankenstriche
deuten geheimnisvoll auf unsagbare Erlebnisse hin. Heine fingiert, daß
die Zensur ihm seinen Text übel zusammengestrichen habe; das ganze 12.
Kapitel des Buches „Le Grand“ besteht fast nur aus Zensurstrichen, die
vorgeblich von dem Texte des Abschnitts nur die Worte: „Die deutschen
Zensoren -- -- -- Dummköpfe -- --“ übriglassen. Zu so spitzen Scherzen
hatte weder Sterne noch Jean Paul noch die Romantik den Buchdruckerwitz
ausgebeutet. Heine geht noch weiter: er bereitet Witzpointen seiner
Prosa viele Seiten früher vor. Die Anwendung des Hundegebets „O Hund,
du Hund -- du bist nicht gesund...“ auf König Ludwig von Bayern (Elster
4, 510) ist zehn volle Seiten früher angebahnt (S. 500) und wirkt eben
darum so treffend.

Unter Heines Hand ist die romantische Ironie zu ihren raffiniertesten
Wirkungen gelangt. Ein Formkünstler von ungewöhnlicher Virtuosität, hat
er in der romantischen Ironie ein Werkzeug gefunden, das seinem Witze
und seiner künstlerischen Anlage vorzüglich entsprach. Kunstreiche
Kunstlosigkeit ist das Kennzeichen seines ganzen Schaffens. Die
romantische Ironie aber entbindet die Willkür des Dichters und läßt
ihn zerstörungslustig vernichten, was er selbst erbaut hat. Bei
Heine wird der Schein der Willkür und Zerstörungslust festgehalten;
aber die Wirkungen dieser scheinbaren Willkür sind aufs genaueste
vorausberechnet. Selbst Brentano, der als Mensch und Dichter, in
Prosa und in Versen Heine urverwandt ist, hat nicht die Schlagkraft
und die Treffsicherheit von Heines Witz. Ihm wie allen romantischen
Ironikern, auch Tieck, genügte es, jeanpaulisch den Leser aus dem
Dampfbad der Rührung in das Kühlbad der Satire zu stürzen. Romantische
Freiheit bewährt sich in dem jähen Wechsel der Gegensätze. Es bleibt
aber bei einem steten Verneinen. Heines Witz gibt Positives auch in
der Negation. Und darum erscheint er wie ein spitzes Stilett neben
dem stumpfen Schwerte, als das uns heute meist der stimmungsbrechende
Effekt der romantischen Ironie sich offenbart.

Heine nimmt überhaupt die romantischen Tendenzen nur vom Standpunkt
des Künstlers, er sucht alle künstlerische Wirkung ihnen abzugewinnen,
deren sie fähig sind; aber er denkt nicht daran, die tieferen
Absichten zu erfüllen, auf die jene romantischen Tendenzen abgestellt
waren. Als romantischer Ironiker hat er sicher nie das Problem der
„Transzendentalpoesie“ erwogen. Ebenso war ihm gewiß romantische
Naturphilosophie wenig wichtig; aber den künstlerischen Reiz der
Naturbeseelung und -durchgeistigung, der Vermenschlichung der
Naturerscheinungen hat er stark empfunden und kundig zur Geltung
gebracht. Noch weit mehr als Tieck ist er der virtuose Schauspieler,
der alle Stimmungen, die seine Kunst verlangt, darstellen kann, ohne
ihr Sklave zu sein, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Das ganze
Repertoire romantischer Poesie kehrt bei Heine wieder; doch nur sehr
selten und nur in seinen ersten Anfängen glaubt er an die romantischen
Stimmungen, die er wachrufen will. Freier und freier bewegt er sich
in dem romantischen Zaubergarten der Poesie. Und darum hat er aus ihm
weit stärkere künstlerische Wirkungen geholt als die Romantiker, denen
der Geist wichtiger war als die Form, das Leben interessanter als die
Kunst. Eben darum ist er der Überwinder der Romantik geworden, weil
er ihr Bestes verwertet, ohne sich selber in die Fesseln der Romantik
werfen zu lassen. Verglichen mit Heine erscheint die große Mehrzahl der
echtesten Romantiker wie Dilettanten. Denn er besitzt „Architektonik
im höchsten Sinn, diejenige ausübende Kraft, welche erschafft, bildet,
konstituiert“; der Romantiker strenger Observanz „hat davon nur eine
Art von Ahnung, gibt sich aber durchaus dem Stoff dahin, anstatt ihn
zu beherrschen“ (Goethe, Schema über den Dilettantismus, Weimarische
Ausgabe 47, 326). Romantische Kunst wird oft durch die gedankliche
Last, die sie zu tragen hat, zu Boden gedrückt. Ein echter und großer
Dichter wie Novalis hält es für möglich, seine geheimnisvollsten
und intimsten, allerpersönlichsten und schwer nachzufühlenden
naturphilosophischen Überzeugungen in das Märchen des „Ofterdingen“
hineinzugeheimnissen. Daß er Märchen von entzückender Frische schaffen
kann, auch wenn er ihnen tiefen seelischen und ideellen Gehalt leiht,
bezeugt seine Erzählung von Hyazinth und Rosenblütchen. Im Märchen
des „Ofterdingen“ aber kommt die Poesie nicht zu ihrem Rechte; sie
ringt umsonst danach, eine künstlerische Form für kulturhistorische,
naturphilosophisch gerichtete Spekulation zu erobern.

Heine hingegen kümmert sich nicht um Schellings Naturphilosophie und
um den „Schlegelianismus der Naturwissenschaften“. Dennoch trifft er
mit künstlerischer Leichtigkeit das Ziel, das auch den Romantikern
vorschwebte: die Natur, anorganische wie organische, in ein menschlich
fühlendes, durchgeistigtes Reich der Poesie umzuschaffen. Er knüpft da
an, wo auch die romantischen Theoretiker das praktische Vorbild ihrer
poetischen „Physik“ fanden, zunächst bei Goethe. Von früh auf hatte
Goethes Lyrik in beseelten und vermenschlichten Naturerscheinungen
eben die neue Mythologie zu schaffen begonnen, nach der die Romantiker
verlangten. Goethe nahm für sich das Recht in Anspruch, mit
mythologischer Schöpfung an der Stelle einzusetzen, wo primitive Völker
ihre Mythologie sich zurechtgestalten: er lieh der Natur seine eigenen
Gefühle. Schon das Straßburger Gedicht „Willkommen und Abschied“ zeigt
Goethes mythenbildende Kraft:

    Der Abend wiegte schon die Erde
    Und an den Bergen hing die Nacht;
    Schon stund im Nebelkleid die Eiche
    Wie ein getürmter Riese da,
    Wo Finsternis aus dem Gesträuche
    Mit hundert schwarzen Augen sah.

    Der Mond von seinem Wolkenhügel
    Schien schläfrig aus dem Duft hervor,
    Die Winde schwangen leise Flügel,
    Umsausten schauerlich mein Ohr;
    Die Nacht schuf tausend Ungeheuer ...

In Goethes „Faust“ fand vollends der Naturphilosoph Schelling (Werke 5,
1, 731 ff.) einen ewig frischen Quell der Wissenschaft geöffnet und er
rief allen, die in das wahre Heiligtum der Natur dringen wollten, zu,
sich mit diesen Tönen aus einer höheren Welt zu nähren und in früher
Jugend die Kraft in sich zu saugen, die wie in dichten Lichtstrahlen
von diesem Gedichte ausgehe und das Innerste der Welt bewege.

Gleichzeitig mit Goethe schuf Hölty eine neue Mythologie des Frühlings.
Beide trieben weiter, was deutsches Volkslied und deutscher Minnesang
längst geübt hatten. Ist es doch urältester Brauch der Lyrik,
menschliches Leid und menschliche Freude in die Welt der Tiere und
Pflanzen hineinzulegen. Der Perser singt von dem Liebeswerben der
Nachtigall um die Rose, ganz wie im deutschen Volkslied der Knabe das
Röslein bricht oder das Käuzlein klagt, daß ihm der Ast entwichen, auf
dem es ruhen wollte. Blumen- und blütenreich, weist auch die Dichtung
des 17. Jahrhunderts der Romantik den Weg: Brentano kann von dem Liede
nicht loskommen, in dem der Schnitter Tod die Blüten hinmäht; Lenau
blickt bewundernd und eigene Kunst bewußt anknüpfend zur Natursymbolik
Friedrich Spees empor. (Vgl. L. A. Frankl, Zur Biographie N. Lenaus,
Wien 1885, S. 69.)

+Lenau+ ist vielleicht noch um ein wenig mehr romantischer
Theoretiker als Heine. Er will Natur und Menschenleben zu einem
dritten „Organischlebendigen“ verknüpfen, das symbolisch die höhere
geistige Einheit von Natur- und Menschenleben darstellt (Rezension von
Keils „Lyra und Harfe“, 1834). Seine Naturmythologie ist wesentlich
schärfer beobachtet und sinnlicher geschaut als die Heines. Alle
menschlichen Züge, die abstrakten Begriffen, wie dem Frühling oder der
Frühlingsmorgenstunde, aus liebevoller Beschauung der Natur geliehen
werden können, verbindet er zu einem Ganzen: er sieht diese Begriffe
wie Menschen sich bewegen, sich freuen, leiden und sterben. Heines
beseelter Zaubergarten ist ganz frei aus einer Phantasie erwachsen,
die jetzt die schwülen Düfte orientalischer Vegetation und dann die
kräftige Luft des deutschen Waldes atmen läßt. Bald kichern und kosen
die Veilchen, bald zittern die Lotosblumen zum Monde empor. Das
Firmament spielt mit; und das Lieblingsfeld von Heines Phantasie, das
Meer, schenkt ihm die kühnsten und die drastischsten Verquickungen von
menschlichem Brauche und Naturvorgang. Freie Phantasieschöpfung kommt
aber auch hier zur Mythenbildung: in dem echt Heineschen Mythos von
Luna und Sol (Die Nordsee I, 3), oder wenn christliche Glaubenssymbole
ins Leben der Tiere hineingedeutet werden (Neuer Frühling 9).


~c~) Märchen.

Das eigentliche Gebiet dichterischer Verwertung der neuen
naturphilosophischen Mythologie wird im romantischen Kreise das
+Märchen+. Goethes „Märchen“ (1796) in den „Unterhaltungen deutscher
Ausgewanderten“ wirkte als lockendes Vorbild. In seinem künstlerischem
Sinne spielte Goethe hier lediglich mit der Möglichkeit tieferer
Ausdeutung. Die Phantasie ahnt hinter den reichen Bildern des
„Märchens“ bedeutsame Anschauungen und legt ihnen gern unter, was
Goethe selber niemals hineingelegt hatte. Novalis aber oder Chamisso
in „Adelberts Fabel“ wollen wirklich ein Gedankengerippe mit den
Blüten der Märchenphantasie schmücken, sie wollen mit Märchensymbolen
Erkenntnis schaffen. Der romantische Magier soll sich als Philosoph
bewähren.

Freier schaltet Tieck mit naturphilosophischen Grundanschauungen.
Das Thema seiner Märchen, auf eine naturphilosophische Formel
gebracht, ist: zwischen dem Menschen und der Natur befindet sich
keine unübersteigliche Mauer, in der Natur herrscht ein Fühlen, das
dem menschlichen wesensverwandt ist, im Menschen lebt noch ein Stück
Natur. Wichtiger ist diesem Dichter, die Naturkraft im Menschen und das
menschliche Leben in der Natur von ihrer bedrückenden und zerstörenden
Seite zu zeigen, als das Befreiende der Naturphilosophie zu offenbaren,
die Geist in die Natur und natürliche Gesetzlichkeit ins Menschendasein
bringen will. In Tiecks Märchen gehen die Menschen an dem Grauen
zugrunde, das ihr seltsam widerspruchsvolles Verhältnis zur Natur in
ihnen wachruft.

Abermals muß Tieck zugebilligt werden, daß seine Anschauung von
Natur und Menschentum und durch diese das Hauptmotiv seiner Märchen
ihm zuteil geworden war, ehe er von romantischer Naturphilosophie
etwas wußte. Wie der „Gestiefelte Kater“ im rechten Augenblick
hervortrat, um der neuen Theorie der Ironie und der reinen Komödie
zum Exempel zu dienen, so kommt im selben Jahre 1797 Schellings erste
naturphilosophische Kundgebung und Tiecks „Blonder Eckbert“ heraus.
Mit dieser Dichtung beginnt Tieck eine Reihe von Naturmärchen, die er
im „Getreuen Eckart und dem Tannenhäuser“ (1799) und im „Runenberg“
(1803), dann in mehreren unbedeutenderen Versuchen fortsetzt. Mehr
und mehr findet sich in ihnen Tiecks Naturauffassung und die
Naturphilosophie zusammen. Die Welt des Bergmanns, den Schülern des
Freiberger Geologen A. G. Werner wert und wichtig, von Novalis im
„Ofterdingen“ verklärt, wird nun auch von Tieck erobert und entwickelt
sich zu einem Lieblingsschauplatz romantischer Naturbeseelung. Der
„Runenberg“ kommt auf solche Weise der Physik der Romantiker schon
so nahe, daß H. Steffens, Schellings getreuer Schüler („Was ich
erlebte“ 3, 22), ihn auf seine eigenen Erlebnisse und auf einen
Bericht zurückführen konnte, in dem er Tieck die Eindrücke einer
Seereise von Kopenhagen nach der Felsenküste Norwegens vorgetragen
hatte. Dennoch bleibt der bezeichnende Unterschied bestehen, daß
die Naturphilosophen das Licht des Bewußtseins in die Natur tragen
wollten, während Tieck dem Geiste des Menschen aus der Natur dumpfe
Betörung erwachsen läßt. Von entgegengesetzten Polen gehen sie aus:
dort erhebt man das Unbewußte in die Sphäre des Bewußtseins, hier
taucht die Phantasie in die berückenden Tiefen des Unbewußten hinab.
Aus innersten Gefühlserlebnissen Tiecks ist das erwachsen; es bereitet
sich allmählich vor und findet vor dem „Blonden Eckbert“ schon seinen
Ausdruck in dem Märchen „Nadir“ des „Almansur“ (1790) und in der
Geschichte „Der Fremde“ (1796), klingt auch in anderen jugendlichen
Versuchen an (vgl. R. Benz, Märchendichtung der Romantiker, Gotha,
1908, S. 102 ff.). Für den Zauber, für das Bestrickende und das Grauen
des einsamen Waldes finden die refrainartig wiederkehrenden Verse von
der „Waldeinsamkeit“ im „Blonden Eckbert“ einen so echt Tieckschen
Ausdruck, daß W. Schlegel scherzend in ihnen die Quintessenz von Tiecks
Dichtung feststellen durfte.

Neben den Zauber des Waldes tritt in Fouqués „Undine“ (1814) der
Zauber des Wassers. Fouqué geht stofflich über Tieck hinaus, aber
er hat nur eine romanhafte Geschichte zu erzählen, einen rührenden
Vorgang romantisch aufzuputzen und kann die tiefeindringenden
Stimmungswirkungen nicht auslösen, die Tiecks Naturmärchen bergen. Weit
dämonischer sind Hoffmanns Märchen geartet; auch er versetzt den Leser
an die Stelle, wo Bewußtes und Unbewußtes in untrennbarer Verschlingung
sich verknoten. Er kennt die Tiecksche Stimmung, die aus dem Gefühl der
Unsicherheit keimt, ob ein Erlebnis Wirklichkeit oder Traum ist. Darum
konnte er in den „Bergwerken von Falun“ (1819) dem „Runenberg“ Tiecks
eine kongeniale Leistung anreihen. Hoffmanns Märchendichtung aber wird
noch durch die Weiterbildung romantischer Anschauungen von Magie
bedingt, die an den Namen Gotthilf Heinrich v. Schuberts sich knüpft.
Schubert hat ja Hoffmann den Stoff zu den „Bergwerken von Falun“
geschenkt.


3. Die Nachtseite der Natur. H. v. Kleist.

Die Naturphilosophie lenkte im späteren romantischen Zeitalter immer
mehr psychologischen Untersuchungen zu. Schellings Anschauung, die
Natur sei eine bewußtlose Intelligenz, drängte seine Schüler zu
einer eingehenderen Prüfung der Regionen des geistigen Daseins, in
denen der Übergang zum Bewußtsein sich vollzieht. Den unbewußten
Untergrund des bewußten menschlichen Lebens untersuchen, hieß die
Entwickelungsstufe begreifen, durch die die organische Natur vom
vernünftigen Dasein getrennt wird. Solche psychologische Beobachtung
nannten die Romantiker: die „Nachtseite“ der Natur studieren. Man
bewegte sich dabei auf demselben Boden, der Tiecks Märchen trägt.
Man folgte zugleich den Anregungen, die Ritter und mit ihm Novalis
gegeben hatten. Durch Mesmer war Ritter zum Studium des tierischen
Magnetismus gekommen, hatte diesen in dem Treiben der Somnambulen
wiederzufinden geglaubt und war dann zu Experimenten weitergeschritten,
die ihn bis zur Verwertung der Wünschelrute führten. Steffens, Burdach,
Carus, vor allem Schubert bewegten sich mehr oder minder vorsichtig
auf dem gefährlichen Grunde. Schuberts „Ahndungen einer allgemeinen
Geschichte des Lebens“ (1806-21) und seine „Geschichte der Seele“
(1830) beschäftigten sich besonders mit der unbewußten Grundlage der
psychischen Störungen, mit den geheimnisvollen Erscheinungen des
Somnambulismus und mit dem rätselhaften Ineinandergreifen bewußter
und unbewußter Tätigkeit, das der menschlichen Psyche einen Platz
auf der schwankenden Grenze der natürlichen und der vernünftigen
Welt anzuweisen scheint. Schubert bot besonders in seinen „Ansichten
von der Nachtseite der Naturwissenschaft“ (1808) den dichterischen
Genossen eine wahre Fundgrube von psychologischen Problemen, die
nach künstlerischer Ausgestaltung verlangten. Seine „Symbolik
des Traumes“ (1814) kam vollends den Wünschen und Ansprüchen der
dichtenden Magier auf Schritt und Tritt entgegen. Da war tatsächlich
eine wissenschaftliche Betrachtung im Sinne von Hardenbergs magischem
Idealismus und seiner „Hymnen an die Nacht“ versucht. Schlaf, Traum,
traumähnliche Zustände, die Ekstase -- sie erschienen als Mittel
von Offenbarungen, die dem wachen Bewußtsein nicht zugänglich sind.
Schubert war überzeugt, daß im Traume die Seele schneller als der wache
irdische Mensch der Ewigkeit sich nähere. Ein Schritt weiter, und ein
Romantiker von Justinus Kerners Schlage konnte auch in Epilepsie und
Wahnsinn neue Quellen mystischer Erkenntnis aufzudecken glauben.

Die Nachtseite der Naturwissenschaft durfte um so mehr auf
dichterische Verwertung Anspruch erheben, da ja Goethe ihr in seinen
„Wahlverwandtschaften“ (1809) volle Würdigung und breite Verwertung
hatte angedeihen lassen.

Der ganze Roman beruht auf einer naturphilosophischen Konstruktion:
der chemische Begriff der Wahlverwandtschaft, der ~affinitas~ oder
~attractio electiva~, wird nicht nur symbolisch mit seelischen
Vorgängen verknüpft, vielmehr wird angenommen, daß im Geistigen wie
in der Natur +ein+ einheitliches Gesetz herrsche. Überall sei, so
meint Goethe (vgl. Goethejahrbuch 27, 195), nur +eine+ Natur, und auch
durch das Reich der heiteren Vernunftfreiheit zögen sich die Spuren
trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit unaufhaltsam hindurch. Das
heißt: Goethe betritt und erforscht den Boden, der den Romantikern
und Schubert als Nachtseite der Natur galt. Wirklich hat man erzählt,
Schelling habe Goethe die erste Anregung zu dem Romane gegeben. Nicht
nur indes der Titel und die Idee der Dichtung sind naturphilosophisch
gemeint. Eine ganze Reihe von Einzelphänomenen der „Nachtseite“ findet
Berücksichtigung; inbesondere der Magnetismus und der Somnambulismus
im Sinne Mesmers, Ritters und Schuberts ist ausgiebig verwertet. Ja
Ritters Experimente mit der Wünschelrute, von denen Goethe durch
Schellings gedruckte und durch Hegels mündliche Mitteilungen erfahren
hatte, sind einbezogen: Ottilie erscheint als magnetisch veranlagt, als
Somnambule oder -- wie neuere Pneumatologen sagen -- als gutes Medium
(vgl. ebenda S. 187 ff.).

Der Magnetiseur und die Somnambule kehren sofort nach Goethes Roman
wieder in Arnims „Gräfin Dolores“ (1809); mit verwandten Motiven sind
die „Kronenwächter“ (1817) Arnims und seine Novelle „Melück Marie
Blainville“ ausgestattet. In Brentanos „Romanzen vom Rosenkranz“
wird die tote Biondette mit „metallenen Scheiben“ wieder lebendig
gemacht. +Hoffmann+ veröffentlicht in den „Phantasiestücken in
Callots Manier“ (1814 f.) seinen „Magnetiseur“. In den „Bergwerken
zu Falun“ steigert Hoffmann noch die magischen Motive seiner Vorlage
Schubert. „Die Automate“ (Grisebach 7, 95) spricht mit ausdrücklichem
Bezug auf Schuberts „Ansichten“ von der Urzeit des menschlichen
Geschlechtes, da es noch in der ersten heiligen Harmonie mit der Natur
lebte und da die Natur das wunderbare Wesen, das sie geboren, noch
aus der Tiefe ihres Daseins nährte; damals umfing sie den Menschen
wie im Wehen einer ewigen Begeisterung mit heiliger Musik. Noch in
der Luftmusik oder Teufelsstimme auf Ceylon, die selbst dem ruhigsten
Beobachter tiefes Entsetzen einflöße, äußerten sich heutzutage jene
vernehmlichen Laute der Natur. Hoffmann will selbst in der Nähe des
Kurischen Haffs Ähnliches erlebt haben. Im „Unheimlichen Gast“ (8,
94 f.) gedenkt er wiederum der Teufelsstimme. Die „Phantasiestücke“ (1,
317) erwähnen ferner die Stimme des „inneren Poeten“, von dem Schuberts
„Symbolik des Traumes“ zu erzählen weiß. Die „seltsamen Leiden eines
Theaterdirektors“ (4, 40) verweilen des längeren bei diesem Phänomen,
bei diesem „redenden Gewissen“: „Der Spiritus familiaris hüpft aus dem
Inneren heraus und spricht, ein unabhängig Wesen, hinein mit sublimen
Redensarten.“ Die innere Stimme redet so laut, daß man sie wie einen
Ton aus fremdem Munde vernimmt. Hoffmanns Lieblingsvorstellung vom
Doppelgängertum -- er teilt sie mit Jean Paul -- begegnet sich hier mit
Anschauungen Schuberts.

Selten hat ja ein Romantiker dem Unterbewußtsein eine so körperlich
greifbare Form geliehen wie Hoffmann. Er scheint dadurch zu einem
unüberbrückbaren Dualismus zu gelangen. Zwiespältig beginnt sein Leben
und im Zwiespalt beharrt es. Mit zäher Energie behauptet Hoffmann sich
selbst, wahrt er seine Dichterexistenz mitten in völlig undichterischem
Berufe. Er selber ist klein, possierlich, fast häßlich und -- ein
Magier im Sinne Hardenbergs -- schafft er durch seine Dichterphantasie
sich um, läßt er durch die Kunst sich zeitweilig aus der unbequemen
Wohnung seines Geistes in die Welt des Schönen emportragen. Denselben
Prozeß durchlaufen in seinen Märchen typische Figuren, in deren
Erscheinung wir rasch Hoffmanns eigene Züge entdecken: der hagere
Archivarius Lindhorst im „Goldenen Topf“ mit seinen großen starren
Augen, die aus den knöchernen Höhlen des mageren, runzeligen Gesichts
wie aus einem Gehäuse hervorstrahlen, mit seinen kuriosen Redensarten
und mit seinem damastenen Schlafrock: er verwandelt sich unversehens in
die ehrfurchtgebietende Gestalt des majestätischen Salamanderfürsten
mit Königsmantel und Diadem. Er lebt ein doppeltes Leben; und wie
Lindhorst so sind die alte Liese, das Äpfelweib, und Serpentina,
die Tochter Lindhorsts, zugleich Figuren der Geisterwelt, ist in
„Klein-Zaches“ Frl. von Rosenschön die Fee Rosabelverde und Doktor
Prosper Alpanus ein Zauberer und Schüler Zoroasters, ist im „Meister
Floh“ die kokette Dörtje Elverdink eigentlich die Prinzessin Gamaheh
von Famagusta und Tochter des Königs Sekakis, ihr Verehrer George
Pepusch aber ist die Distel Zeherit. Durch die äußere Hülle den wahren
Kern zu erkennen, ist nur Auserlesenen gestattet, so dem Studenten
Anselmus im „Goldenen Topf“ und dem Peregrinus Tyß im „Meister Floh“.
Ihr innerer Sinn zeigt ihnen das wahre Bild, während die Philister,
die Konrektor Paulmann und Registrator Heerbrand, jede Deutung, die
über die Grenzen des gesunden Menschenverstandes hinausgeht, als Wahn
ablehnen; höchstens Alkohol kann sie für Augenblicke zu Sehern machen.
Urromantische Anschauungen finden da ihren dichterischen Ausdruck.
Novalis’ Überzeugung von der Magie der Dichtung, die dem Menschen
gestattet, über die Grenzen seiner Sinnesorgane hinauszuschreiten, von
dem Zustand künstlerischer Ekstase, der die Wahrheit reiner vermittelt
als alles Denken, liegt zugrunde. Und darum mündet echt romantisch
auch Hoffmanns Dualismus in Monismus. Mag er immer ein doppeltes
Leben geführt und in seinen Märchen das Leben im Licht des gesunden
Menschenverstandes zu dem Leben im Lichte des romantischen Sehers
in dauernden Gegensatz gebracht haben: das einzig Wahre blieb auch
ihm das Weltbild des Dichters. Und das Rittergut, das dem Studenten
Anselmus nach seiner Verbindung mit Serpentina zufällt, ist für ihn
wirklich das Wunderland Atlantis, in dem der Einklang aller Wesen
verwirklicht ist. Im strengsten Sinne Schleiermachers und Fr. Schlegels
ist der so oft als Phantast ausgebotene Hoffmann zugleich befähigt
gewesen, das Unendliche im Endlichen zu erblicken, und zwar in einem
Endlichen, das er mit schärfstem Auge beobachtet. Ihm eignet eine
Kraft des Schauens, die den Realismus späterer Jahrzehnte des 19.
Jahrhunderts, etwa die Fähigkeit Kellers und Otto Ludwigs, Originale
zu zeichnen, vorwegnimmt. Er studiert mit dem Vergrößerungsglase
wunderliche Erscheinungen, seltsame, unheimliche Menschen; und deutend
läßt er aus dem Wunderlichen das Wunderbare erwachsen, mit einer
Fähigkeit der Einfühlung, die in der Skizze „Des Vetters Eckfenster“ zu
divinatorischen Tiefblicken heimlichster Seelendeutung sich erhebt.

Diese Beobachtungsgabe läßt auch das Örtliche bei Hoffmann in viel
festeren und schärferen Umrissen erscheinen als bei der Mehrzahl seiner
romantischen Genossen. Und weil er das Wunder in eine realistisch
gezeichnete Umgebung versetzt, weil er es langsam aber sicher aus dem
bloß Wunderlichen keimen läßt, ist er zu der überraschenden Technik
gelangt, mitten im prosaischen Alltagsleben, in Örtlichkeiten von
Berlin oder Dresden, die jeder täglich beschreiten kann, das Wunder
lebensfähig und glaubhaft erscheinen zu lassen. Denn ebendeshalb glückt
es ihm, das Wunder wie etwas Erlebtes zu gestalten. Wohl hat auch Arnim
in „Isabelle von Ägypten“ (1811) und in den „Kronenwächtern“ die Welt
des Wunderbaren unmittelbar neben realistisch geschaute Wirklichkeit
gestellt; aber nur Chamissos „Peter Schlemihl“ (1814) reicht an
Hoffmanns Kunst heran, das Wunderbare aus dem Wunderlichen hervorgehen
und dadurch glaubhaft erscheinen zu lassen. Doch im Gegensatz auch zu
Chamisso bleibt Hoffmann der erste, der -- lange bevor der Zeitroman
zu solchen naturalistischen „Kühnheiten“ schritt -- in der Erzählung
die Namen von Berliner Straßen und Plätzen zu erwähnen wagt. Ist doch
dieser Romantiker, dieser Seher und Magier, einer der ersten, die
überhaupt Berlin in die höhere Literatur eingeführt haben.

Das scharf realistische Auge und die Neigung zur „Nachtseite der
Natur“ teilt Heinrich v. +Kleist+ mit Hoffmann, so groß auch sonst die
Gegensätze beider Begabungen sind. Freilich wäre es unrichtig, den
Gegensatz -- wie es oft geschieht -- zu übertreiben. Gern schließt man
Kleist aus dem romantischen Kreise aus und stellt ihn besonders zur
Frühromantik in Gegensatz. Das ist falsch.

Wenn metaphysisches Bedürfnis und das Bewußtsein dieses Bedürfnisses
den Romantiker bezeichnet, so sind diese Züge Kleist mindestens ebenso
eigen wie Hoffmann. Nur keimen sie bei ihm aus anderen Voraussetzungen.
Das entscheidende, Kleist auf das tiefste erschütternde
Gedankenerlebnis war der Eindruck, den Kants erkenntnistheoretische
Aufstellungen auf ihn machten; wichtigstes Zeugnis ist der Brief an
seine Braut Wilhelmine v. Zenge vom 22. März 1801. Einigermaßen mit
frühromantischen Thesen verwandt, wenn auch nicht aus romantischer
Quelle geschöpft war die Lebensanschauung, die er „schon als Knabe“
sich angeeignet hat: daß wir einst nach dem Tode von der Stufe der
Vervollkommnung, die wir auf diesem Sterne erreichten, auf einem
anderen weiter fortschreiten würden. Nach und nach sei es ihm
deshalb zur „Religion“ geworden, nie auf einen Augenblick hienieden
still zu stehen und unaufhörlich einem höheren Grade von Bildung
entgegenzugehen. Bildung schien ihm das einzige Ziel, das des
Bestrebens, Wahrheit der einzige Reichtum, der des Besitzes würdig
sei. Eben dieser Glaube, der Wahrheit teilhaftig zu werden, wurde
ihm von Kant genommen. Er suchte, was er aus Kants Kritik herauslas,
seiner Braut zu verdeutlichen: „Wenn alle Menschen statt der Augen
grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände,
welche sie dadurch erblicken, +sind+ grün -- und nie würden sie
entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind,
oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem
Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden,
ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns
nur so scheint. Ist das letzte, so +ist+ die Wahrheit, die wir hier
sammeln, nach dem Tode nicht mehr -- und alles Bestreben, ein Eigentum
zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich“ (5, 204).
Mit erschütternden Worten kündigt er an, wie diese Einsicht ihn tief in
seinem heiligsten Innern verwundet habe: „Mein einziges, mein höchstes
Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr.“ Ein faustisches
Erlebnis, dem Bescheid des Erdgeistes gleich wirkend, ward also auch
Kleist durch Kant zuteil, und ganz faustisch gesteht er am 23. März
1801 der Schwester: „Mich ekelt vor allem, was Wissen heißt“ (ebenda S.
207).

So tief und so schmerzvoll haben die Frühromantiker kaum die
Folgerungen aus Kants Lehre verspürt. Dennoch sind sie auch ihnen
Voraussetzung für ihr weiteres Denken und Ringen geworden. Mindestens
bewährt sich bei Kleist wie bei ihnen das echt romantische Bedürfnis,
das Absolute als begriffliche Wahrheit zu erfassen.

Für Kleist aber ergibt sich aus dem Gedankenerlebnisse die Grundlage
fast seiner ganzen späteren Dichtung. Einem Worte Goethes folgend,
hat man an Kleists Dramen und Novellen im einzelnen nachzuweisen
versucht, daß er auf Verwirrung des Gefühls ausgehe; und des weiteren
ward festgestellt, daß er das verwirrte Gefühl wieder zur Klarheit
führe. Nicht beachtet wurde, daß die Gefühlsverwirrung durchweg auf der
Unsicherheit beruht, in die der Mensch durch die unlösbare Frage: „Was
ist Wahrheit?“ versetzt wird. Das Thema von Kleists Dichtung könnte
umschrieben werden: welche seelischen Konflikte erwachsen aus der
Unmöglichkeit voller Erfassung der Wahrheit, welche ethischen Folgen
hat die theoretische Beschränktheit des Menschen? Verstandesirrtümer
werden zur Voraussetzung von sittlichen Krisen. Sinnestäuschung macht
die Schroffensteiner zu Mördern ihrer Kinder. Alkmene weiß nicht, daß
sie Jupiter in Amphitryons Gestalt umarmt hat, die Marquise von O...
ahnt wirklich nicht, wer der Vater ihres Kindes ist, ja sie verkennt
lange ihren eigenen Zustand. Kohlhaas hat irrige Anschauungen von dem
Begriff des Rechtes. Penthesilea glaubt tatsächlich Achill besiegt
zu haben. Der Graf von Strahl meint, der Traum habe ihm in Kunigunde
seine künftige Braut gezeigt. Homburg wird durch die Ungewißheit, ob
Sinnestäuschung oder wirkliches Erlebnis in der nächtlichen Krönung
durch Natalie sich abgespielt hat, zu allen weiteren Verwickelungen
getrieben. Ins Komische gewendet ist das Problem im „Zerbrochenen
Krug“: Das Spiel mit der Wahrheit kann so lange hinausgesponnen werden,
weil die Sinne des Menschen so unzuverlässig sind.

„Wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen“: so klingt es höhnisch
aus den Schroffensteinern (Vers 2705) uns entgegen. Solcher „Versehen“
ist Kleists Dichtung übervoll. Nur selten wird dies „Versehen“
unmöglich gemacht durch aufklärende Erhebung des Menschen über sich
selbst. Der seelische Läuterungsprozeß, den der Prinz von Homburg
durchläuft, läßt ihn über alles Irren und alle Fehlgriffe siegreich
emporsteigen. Meist aber zieht die Klarheit, wenn sie sich endlich
einstellt, nur die letzten Konsequenzen des tragischen Konflikts:
Penthesilea tötet sich selbst, Kohlhaas besteigt gefaßt und innerlich
gehoben das Schafott. Geläutert sind sie alle zuletzt wie Homburg, aber
nur er braucht den Gewinn nicht mit dem Tode zu bezahlen.

Eben weil menschliches Denken fehlgreift, ist volles Glück nur in dem
idyllischen Zustand des Unbewußtseins möglich. Diese idyllische Phase
kennzeichnet sich am deutlichsten in Käthchens unbeirrbarem Wesen. Das
Bewußtwerden führt zum Mißverständnis, führt zur Gefühlsverwirrung.
Alkmene und Penthesilea werden durch das helle Licht des Bewußtseins
in Tragik hineingetrieben. Romantisch offenbart sich als letztes Ziel
eine seelische Harmonie, die aus dem Bewußtsein emporkeimt, die alle
irdischen Schwächen überwunden hat.

Selbstverständlich führte der Gedanke von der Unsicherheit und dem
Trug der menschlichen Sinne Kleist zum Studium der „Nachtseite“. Eben
deshalb ist ihm Schubert so wichtig. Darum holt er sich aus Schuberts
13. Vorlesung über die Nachtseite der Naturwissenschaft den Stoff des
„Käthchen“. Der Graf von Strahl ist wieder der Magnetiseur, Käthchen
die Somnambule. Neben Schubert hat wahrscheinlich der Pneumatolog
Jung-Stilling durch seinen Roman „Theobald oder die Schwärmer“
(1784 f.) und der Physiolog Johann Christian Reil durch seine
„Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf
Geisteszerrüttungen“ (1803) Kleist geholfen, sein somnambules Käthchen
und den somnambulen Prinzen von Homburg zu gestalten. Gerade Reil
belehrte ihn über Sinnesstörungen und befruchtete dadurch Kleists
Denken, dem die Grenzen der Sinneserkenntnis durch Kant zum zentralen
Thema geworden waren (vgl. S. Wukadinovic, Kleiststudien, Stuttgart und
Berlin 1904, S. 150 ff., 186 ff.).


4. Das Lebensproblem in Drama und Roman.

Kleists künstlerische Begabung war stark genug, um die fast übermäßige
gedankliche Last seiner erkenntnistheoretischen Probleme zu tragen.
Nicht wie andere Romantiker bricht er als Dramatiker unter der Aufgabe
zusammen, das Leben zu deuten.

Der Gegensatz, in dem das romantische Drama zu der Bühne steht,
hat eine ganze Kette von Ursachen. Der Widerspruch, in dem man von
Anfang an zu den Bühnenbeherrschern der Zeit, zunächst zu Kotzebue,
sich fühlte, erschwerte sicherlich ein bescheidenes Anknüpfen an das
bestehende Theater. Wer wie Tieck im „Gestiefelten Kater“, in der
„Verkehrten Welt“ und im „Zerbino“ mit geistreichem Spott die mehr
oder minder notwendigen Anpassungsversuche übergossen hat, die der
Bühnenkonvention zuliebe von gewandten Theaterleuten zugelassen
werden, der hat es sich nicht leicht gemacht, ein bühnenfähiges Stück
zu schreiben, wenn er einmal nicht bloß zerstören, sondern selber
bauen will. Die Romantiker von Tiecks Art haben zu lange in der
Opposition gesessen, um die Regierung auf dem Theater mit Erfolg zu
übernehmen. Noch wesentlich erschwert wurde ihnen die Aufgabe durch
ihren Gegensatz zu Schillers Meisterdramen. Hier war wirkliche Kunst
mit der Fähigkeit verknüpft, das bestehende Theater zu beherrschen.
Wenn die Romantiker aufgaben, was ihnen an Schiller mißfiel, so boten
ihre Lieblingsdramatiker Shakespeare und Calderon wohl Mittel, das
Aufgegebene zu ersetzen. Mindestens hat Grillparzer gezeigt, wie aus
spanischer Dramatik ein bühnengerechtes Kunstwerk deutscher Zunge
Anregungen ziehen kann, die über Schiller hinausführen, Otto Ludwig
aber scharfen Auges die Vorteile erforscht, die dem modernen Dramatiker
durch das Studium Shakespeares sich ergeben, wenn er von vornherein
festhält, was Schiller von Shakespeare trennt. Den romantischen
Dramatikern aber ging weder an Shakespeare noch an Calderon die
Bühnenkunst auf, die Schiller von Anfang an angeboren war.

Schiller hatte in seiner Jugend genial herausgefühlt, später mit
vollem Bewußtsein aus dem Studium antiker Dramatik und alter wie
neuerer Theorie erschlossen, daß die tragische Form dank der
eigentümlichen Bedingungen bühnengemäßer mimischer Darstellung auf
einem scharf umgrenzten, von Anfang an genau berechneten Zusammenhang
von gegensätzlichen Tatsachen beruhe. Der antithetische Grundzug von
Schillers Denken deutete von vornherein auf dieses Ziel. Wenn irgendwo,
so war in der Tragödie ein freies Schweifen, eine lässige Hingabe an
den Stoff, ein liebevolles Ausmalen so lange verfehlt, als die strenge
gerade Linie, die zu dem Konflikte führt, noch nicht von dem Dichter
gezogen war. Der bezaubernde und betörende Reichtum Shakespearescher
Kunst hatte gleich bei den ersten starken Wirkungen, die sie nach
1760 ausübte, Shakespeares wunderbare Kraft der Wiedergabe des Lebens
bedeutsamer erscheinen lassen als seine Kunst, wirklich tragische
Situationen zu schaffen. Darum durfte Lessing in der „Hamburgischen
Dramaturgie“ (St. 38) sich auf die Worte des Aristoteles berufen, daß
die σύνθεσις oder σύστασις τῶν πραγμάτων Hauptsache für den Tragiker
sei (Poetik, Kap. 6). Schiller fand denn auch in der Bemerkung
des Aristoteles, daß bei der Tragödie auf die Verknüpfung der
Begebenheiten alles ankomme, den Nagel auf den Kopf getroffen (an
Goethe 5. Mai 1797). Trotz Lessing glaubte die Mehrheit der Stürmer
und Dränger, vor allem Goethe in seinem „Götz von Berlichingen“, trotz
Schiller meinten die Romantiker, daß in dem Kolorit und nicht in der
exakten Linienführung das Geheimnis der tragischen Dichtung liege.
Das Kolorit reich auszugestalten wurden die Romantiker von Calderon
vielleicht noch mehr als von Shakespeare angeleitet. Der Vorbericht,
mit dem Tieck 1828 seine Dramen einführt (1, XXVI ff.), offenbart ganz
unzweideutig, wie wichtig ihm der formale Schmuck war, den er ihnen
lieh, wie wenig er sich daneben um den Aufbau tragischer Konflikte
kümmerte.

Wohl hatte die romantische Shakespeareforschung längst sich von
den Fehlgriffen befreit, die kurz vor und auch unmittelbar nach
der „Hamburgischen Dramaturgie“ in der Beurteilung und Ergründung
der tragischen Form Shakespeares sich eingestellt hatten (vgl. M.
Joachimi-Dege, Deutsche Shakespeare-Probleme im XVIII. Jahrhundert und
im Zeitalter der Romantik, S. 158 ff.). Doch weil Fr. Schlegel und
seine Gehilfen allzu fein das Problem anpackten, diente ihre Forschung
nicht der lebendigen Bühne. Fr. Schlegels Zentrumstheorie, die Annahme
eines „Mittelpunkts“, der jedes Shakespearesche Drama beherrsche,
nützte der σύστασις τῶν πραγμάτων nicht, lehrte nicht, wie man
Begebenheiten zu unlösbaren tragischen Konflikten verknüpfe. Vielmehr
legte die Lehre den Romantikern nahe, eine gewiß künstlerische,
Shakespeare in hohem Grade eigene Tönung des ganzen Dramas auf
+eine+ Stimmung vor allem anderen anzustreben. Und ebensowenig
konnte diese feinfühlige Theorie verhindern, daß die Romantik ihr
Lieblingsproblem, die Darstellung und Ergründung des Lebensrätsels, zur
Hauptsache auch in der Tragödie erhob.

In den Wiener Vorlesungen von 1812 (2, 138) sagte Fr. Schlegel von
Shakespeare: „Wäre Verstand, Scharfsinn und Tiefsinn der Beobachtung,
insofern sie notwendig sind, das Leben charakteristisch aufzufassen,
die erste unter allen Eigenschaften des Dichters, so würde in dieser
schwerlich ein anderer sich ihm gleichstellen können.“ Die Dramen der
Romantik stellen das Leben dar, ohne es mit der ganzen Schärfe von
Shakespeares Auge zu sehen.

Streng dramatische Form im Sinne des Aristoteles, Lessings oder
Schillers war von vornherein ausgeschlossen. Denn die Forderung,
daß romantische Poesie alle getrennten Gattungen der Poesie wieder
vereinigen sollte, wurde gleich in Tiecks Dramen zu einer Hauptaufgabe.
Seine Vorliebe für Dramen mit epischen Einlagen („Perikles“,
Shakespeares „Wintermärchen“) und für den reichen lyrischen Schmuck des
spanischen Bühnenstücks erleichterte ihm, diese Aufgabe zu erfüllen.
Sehr richtig hat ferner Joh. Ranftl (L. Tiecks „Genoveva“, Graz 1899,
S. 141 f.) herausgefühlt, daß Tieck trotz der äußerlich dramatischen
Form episch denke, weil seine Dichtung ihm ein gelesenes Gedicht, nicht
ein dargestelltes Theaterstück bedeute. Ranftl selber hat freilich auch
das künstlerische Gesetz der „Genoveva“ herausgefunden (S. 149 ff.),
indem er die Symmetrie des Aufbaues und die durchgehende Verwertung
von Kontrastwirkungen aufzeigte. „Das scheinbar Verworrene entfaltet
sich nach geheimen höheren Gesetzen.“ Doch von streng tragischer
Architektonik kann natürlich trotzdem keine Rede sein.

Vielmehr soll „der ganze Umkreis des Lebens“ (Tiecks Schriften 1, S.
XXXIX) in diesen Kontrastwirkungen sich spiegeln; die Rätselfragen
des menschlichen Daseins wollen auch in der Tragödie zur Erörterung
kommen. Das romantische Denken spitzte sich -- wie wir gesehen haben
-- von Anfang an auf das Problem zu, wie der Mensch zu diesem Leben
ein Verhältnis finden könne. Seine letzte und höchste Lösung fand
das Problem in Schleiermachers Versuch, das irdische Leben, die
Endlichkeit, im Abglanz des Unendlichen zu sehen, im Endlichen das
Unendliche zu lieben. Doch dieser romantisch-monistische Anlauf zu
einer Aussöhnung mit der Welt blieb den Romantikern vielfach nur ein
ideales Programm. Sie fühlten sich trotzdem in stetem Gegensatz zu dem
Leben, das sich gegen ihre Zumutung wehrte, in Poesie umgesetzt zu
werden. Obgleich sie mit Goethe so gern von „Lebenskunst“ sprachen,
waren sie vielfach Lebensdilettanten. „Wilhelm Meisters Lehrjahre“
wurden die romantische Bibel, soweit der Held der „falschen Tendenz“
huldigte, Poesie im Leben verwirklichen zu wollen; da er zuletzt diese
Tendenz gegen Lebenskunst umtauschte, verwandelte sich den Romantikern
Goethes Roman in einen „Candide gegen die Poesie“. Im tiefsten Innern
verwandter war der romantischen Generation der Roman Tiecks, der,
abermals ehe es zur theoretischen Feststellung kam, das proteische
Wesen des Romantikers dichterisch erfaßte (s. oben S. 17 ff.), sein
„William Lovell“ (1795/96). In diesem Buche fand Fr. Schlegel einen
„Kampf der Prosa und der Poesie, wo die Prosa mit Füßen getreten wird
und die Poesie über sich selbst den Hals bricht“ (Athen.-Fgm. 418).
Ähnliche Schicksale wurden den Romantikern selber zuteil. „Lovell
ist“, sagte Fr. Schlegel, „ein vollkommner Phantast in jedem guten und
in jedem schlechten, in jedem schönen und in jedem häßlichen Sinne
des Worts.“ Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische
Dichtung“ umschreibt das Wesen des Phantasten: er verläßt die Natur
aus bloßer Willkür, um dem Eigensinne der Begierden und den Launen der
Einbildungskraft desto ungebundener nachgeben zu können. „Aber eben
darum, weil die Phantasterei keine Ausschweifung der Natur, sondern
der Freiheit ist, also aus einer an sich achtungswürdigen Anlage
entspringt, die ins Unendliche perfektibel ist, so führt sie auch zu
einem unendlichen Fall in eine bodenlose Tiefe und kann nur in einer
völligen Zerstörung sich endigen“ (Säkularausgabe 12, 263). Wirklich
stimmt Schillers Definition genau zu dem Lebensgange Lovells; die
Romantiker aber kamen in ihrem Leben den Wegen Lovells oft bedenklich
nahe. Lovell ist Solipsist: „Die Wesen sind, weil wir sie dachten“;
„Wir sind das Schicksal, das sie [die Welt] aufrecht hält“; „Die
Tugend ist nur, weil ich selber bin, Ein Widerschein in meinem innern
Sinn“; „Die Tugend ist nur, weil ich sie gedacht“ (6, 178). Solchem
Solipsismus ist Novalis in den Spekulationen seiner Fragmente nicht
immer mit Erfolg ausgewichen. Die unbegrenzte Macht, die er, von
Fichte ausgehend, dem Willen des Menschen zuschrieb, zeigt, wie viel
er mit Lovell gemein hatte. Mit Novalis urverwandt sind wiederum die
„hohen Menschen“ Jean Pauls (s. oben S. 76). Jean Paul aber hat die
Galerie problematischer Naturen jener Epoche um mehr als ein Bild
bereichert. Roquairol im „Titan“ ist nächster Nachbar Lovells, ist eine
so typische Gestalt, daß seine Züge noch bei Byron oder in Benjamin
Constants „Adolphe“ (1816) sich nachweisen lassen. Tiecks Lovell
und Jean Pauls problematische Naturen schreiten an der Spitze der
langen Reihe romantischer Romanhelden, die in den Erlebnissen Wilhelm
Meisters ihren Lebensdilettantismus bewähren. Goethes Eduard gesellt
sich zu ihnen. Sie alle quälen sich mit der Frage nach dem Sinn des
Daseins, nach den Mitteln, ein festes Verhältnis zu diesem Leben zu
gewinnen. Und dennoch hat keiner die Kraft, sein Leben mit fester Hand
zu formen; sie lassen sich treiben, sie scheinen von einem Verhängnis
weitergeschoben zu werden. Zuerst bringen die „Wahlverwandtschaften“
das Gebot energischerer Lebensführung den Romantikern nahe. Arnims
Graf Karl in der „Gräfin Dolores“ zeigt alsbald die festeren Züge des
echten Edelmanns von altem Schrot und Korn. Doch noch Eichendorff
läßt den Helden von „Ahnung und Gegenwart“ (1815) gut katholisch in
völligem Verzicht auf das tätige Leben enden, weil er zwar selber
zu ernst geworden ist, um die freie Ethik der ersten romantischen
Romane anzuerkennen, den Weg aber nicht findet, auf dem sein Held das
Leben als Sieger durchwandeln könnte. Nur in humorvollem Spotte war
es Eichendorff gegeben, sich über die ältere romantische Ansicht zu
erheben; und so dichtete er seinen „Taugenichts“ (1826).

Dieselben Probleme des Lebens, die der romantische Roman nicht müde
wird zu variieren -- Probleme, die noch Gottfried Kellers „Grünem
Heinrich“ zugrunde liegen --, sie werden auch im romantischen Drama
zur Hauptsache. Nur wurde diesem zum Hemmnis, was dem Roman einen
reichen und fruchtbaren Boden schuf. Der romantische Roman ist ebenso
vielgestaltig und interessant, wie das romantische Drama durch seine
Abschilderung des Lebens an tragischer Kraft verliert.

Die Romane, die dem Gefolge von Goethes „Lehrjahren“ angehören,
erreichen ihr Vorbild nach der Seite architektonischer Abrundung
freilich nicht. Hatte schon dieser Roman Goethes eine viel freiere
Komposition als „Werther“ und „Wahlverwandtschaften“, so gestatteten
sich die Romantiker doch noch ein weit unbekümmerteres Hin- und
Herschlendern, wenn sie nicht gar „schöne Willkür“ zum Prinzip erhoben.
Bei Jean Paul, der neben Goethe den romantischen Erziehungsroman am
stärksten befruchtete, war strengere Erzählungstechnik vollends nicht
zu lernen. Wohin aber mußte ein Drama geraten, das unwillkürlich und
gewohnheitsmäßig in die Art solcher Erzählungskunst sich verlor?

Von allen Problemen des Lebens, die da in Roman und Drama zur
Erwägung kamen, bot nur eines Handhaben zu strengerer Beobachtung
dramatischer Form: die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen.
Wenn auch in einseitigem und wenig rühmenswertem Sinne wurde denn
auch das Schicksalsmotiv ein Mittel, die Romantiker an die bestehende
Bühne zu gewöhnen. Ihre +Schicksalsdramen+ sind tatsächlich wirksame
Theaterstücke.

Die Schicksalstragödie ist eine der seltsamsten Wirkungen der
Romantik; die Romantiker selbst haben sie verleugnet, eben weil in
ihr ein starker nichtromantischer Einschuß sich zeigt. Sie verknüpft
Schillersche Lehre mit romantischen Ideen und Formen; sie übertreibt
da wie dort und endet in schlimmer äußerlicher Mache. Aber ihr erstes
Produkt stammt von einem hochbegabten Dichter; und in Grillparzers
„Ahnfrau“ nähert sie sich echter Kunst.

Wie tief die Schicksalstragödie in der Romantik wurzelt, bezeugen
Tiecks jugendliche Versuche „Der Abschied“ (1792) und „Karl von
Berneck“ (1795). Der Fatalismus des jungen Tieck, der sich im „Blonden
Eckbert“ noch stark kundgibt, seine Anschauung von der willenlosen
Gebundenheit des Menschen, dessen Leben von einer rätselhaften
Naturmacht geleitet wird, arbeitet bis ins einzelne den Dichtungen
Z. Werners, Müllners, Houwalds vor. Der Gegensatz Tiecks zu der
romantischen Philosophie, die das Licht des Geistes in die Natur, nicht
die Gebundenheit der Natur in das Menschenleben hineintragen wollte
(s. oben S. 137), zeigte sich in jenen Dramen noch stärker als in dem
Märchen. Tieck wühlt mit wahrer Wollust im Grauenhaften, während die
Schlegel, Novalis, Schleiermacher in ein freies Reich des Geistes
hinaufführen wollen.

Doch auch die kühnsten und gedankenfreiesten romantischen Denker waren
der Gefahr ausgesetzt, willensschwach von den Verhältnissen sich führen
zu lassen. Die strenge Ethik Kants war ihnen fremd, sie lauschten auf
die Stimme der Natur, die in ihrem Inneren sprach, sie scheuten sich,
gegen die Wünsche ihres Gefühlslebens aufzutreten, weil sie in ihm die
Kundgebungen des Gesetzes ihrer eigenen Persönlichkeit sahen. Eben die
Schwierigkeit, dieses Gesetz der eigenen Persönlichkeit zu erfassen,
läßt die Romantiker oft wie willenlose Instinktmenschen erscheinen.
Ricarda Huch hat (2, 131) ihnen vorgeworfen, daß sie das Leben nicht
selbsttätig formen, wie der Künstler mit seinem Stoffe verfährt, daß
sie nicht leben, sondern gelebt werden; und sie hat sich dabei auf ein
Wort bezogen, das die Günderode gegen Bettina ausspielte: „Du dünkst
mir der Lehm zu sein, den ein Gott bildend mit Füßen tritt.“

Überhaupt ist die romantische Weltanschauung weder ganz auf
dem Standpunkte der Willensfreiheit noch auf dem der völligen
Willensunfreiheit zu finden. Novalis scheint dem menschlichen Willen
grenzenlose Macht zuzugestehen und dabei neigt er, gleich Fr.
Schlegel und Schelling, zum Spinozismus. Die Schwierigkeit und die
Möglichkeit des Problems, wie Spinozismus und Willensfreiheit im
romantischen Denken sich verbinden konnten, berühren Fragmente von
Novalis: „Die lutherische Lehre von der moralischen Nullität des freien
Willens und dem ~servo arbitrio~ ist völlig einerlei mit der neuern
entgegenlaufenden Lehre von der moralischen Notwendigkeit des freien
Willens“ (3, 109). „Die Lehre von der Gnade und die Lehre vom freien
Willen widersprechen sich gar nicht, wenn sie recht verstanden werden;
beides gehört zu einem Ganzen und oft nezessitieren sie sich“ (3, 289);
„Die Lehre vom ~servo arbitrio~ ist realistisch und spinozistisch. Ihr
Gegensatz Vereinigung. Unmittelbare d. h. unbemerkbare, und mittelbare,
d. h. objektive Einwirkung Gottes, Inspiration“ (3, 296). Die dunklen
Andeutungen weisen durchaus auf eine Verbindung von Determinismus
und Willensfreiheit. Ebenso heißt es im „Ofterdingen“ aus dem Munde
Klingsohrs (4, 166 f.): „ein inniger Glaube an die menschliche
Regierung des Schicksals“ (d. h. an die Regierung des Menschen durch
ein menschlich geartetes, ihm innerlich verwandtes Schicksal) sei
dem Dichter unentbehrlich, „weil er sich das Schicksal nicht anders
vorstellen kann, wenn er reiflich darüber nachdenkt.“ Dann aber setzt
Klingsohr hinzu, und wir spüren auch hier, daß Goethe ihm zum Modell
gedient hat: „Wie weit entfernt ist diese heitere Gewißheit von jener
ängstlichen Ungewißheit, von jener blinden Furcht des Aberglaubens.
Und so ist auch die kühle, belebende Wärme eines dichterischen Gemüts
gerade das Widerspiel von jener wilden Hitze eines kränklichen
Herzens.“ Von Spinoza mächtig gepackt, hat auch Goethe sich vom
Determinismus nicht zum Aberglauben treiben lassen. Novalis aber fragt
wie Goethe, welche Verantwortung dem Menschen auch dann bleibt, wenn
er den Determinismus anerkennt, und er sucht als Dichter den Punkt,
von dem aus der dumpfe Wahnglaube der obengenannten Dichtungen Tiecks
sich überwinden lasse, auch wenn ein „Schicksal“ in höherem Sinne vom
Dichter nicht geleugnet wird.

Das Problem der Willensfreiheit steht natürlich im Mittelpunkt der
Spekulation des größten Ethikers der Romantik: +Schleiermacher+ hat
es schon in einem jugendlichen Versuche erwogen. Wie Spinoza und
Leibniz, Lessing und Hume, Goethe und Hegel verzichtete auch er auf
völlige Wahlfreiheit. Sein Determinismus aber gewann feste Gestalt, ehe
er Spinoza kannte, unabhängig auch von der Prädestinationslehre der
Reformierten (Dilthey S. 139). Er ist überzeugt, daß ein moralisches
Gefühlsleben, das unter der Voraussetzung freier Willkür steht, uns nur
eine ganz chimärische Möglichkeit willkürlicher Entschließungen biete,
während es zusammenhängende Arbeit an unserer Besserung unmöglich
mache. Nur die Einsicht in die Gesetzmäßigkeit menschlicher Handlungen
lehre eine Selbsttätigkeit kennen, die mit dem Wachstum des Charakters
selbst wächst. In den „Monologen“ ist die Frage vom Gesichtswinkel
der Weiterführung kantischer Ethik betrachtet, die sich dem Verfasser
inzwischen ergeben hatte (s. oben S. 37 ff.). Der 4. Monolog erhärtet,
daß es für den wahren Willen kein Schicksal gebe, ohne auf die
deterministische Grundansicht zu verzichten.

Schleiermacher hatte erkannt, daß jeder Mensch auf eigene Art die
Menschheit in sich darstellen soll, in einer ihm allein eigenen
Mischung ihrer Elemente. Bejahen und Gestalten der eigenen
Individualität wird darum Aufgabe des Menschen. Und wenn der Mensch
dies Ziel erreicht, dann kümmert es ihn nicht weiter, glücklich zu
sein. Wer sein Lebtag dem Glücke nachjagt, wird zum Sklaven des
Schicksals. Deshalb muß sich der Mensch von solchen Wünschen erst
frei machen. Es gilt nur, die in uns lebendigen Kräfte zu freier,
widerspruchsloser Entfaltung zu bringen, unserem Dasein den ganzen
Wert zu geben, der in uns angelegt ist. „Bei dem Denken eines solchen
Willens schwindet der Begriff des Schicksals.“ „Leid und Freude und
was sonst die Welt als Wohl und Wehe bezeichnet, müssen mir gleich
willkommen sein, weil jedes auf eigne Weise diesen Zweck erfüllt.“ Der
Verzicht auf eudämonistische Wünsche wird so zu einer Voraussetzung der
Freiheit.

Eine strenge, trotz ihrem Gegensatz zu Kant rigorose Ethik! Die
Durchführung des Gesetzes, das in jedes Menschen Brust schlummert, wird
zu einer schweren und ernsten Aufgabe. In ihrer Durchführung bewährt
der menschliche Geist seine Freiheit. Die moralische Notwendigkeit
des freien Willens wird -- wie Novalis es sagt -- hier wirklich mit
Determinismus eins.

Solche Askese zu üben, so völlig auf das Glück zu verzichten, war einem
großen Teile der romantischen Generation nicht gegeben. Vielleicht
hatte Schleiermacher selbst die Endlichkeit zu schön erscheinen lassen,
als daß man vor ihren Lockungen in sein Paradies des freien Willens
hätte fliehen wollen.

Wohl am wenigsten war Z. +Werners+ sophistische Natur geeignet, das
Gebot Schleiermachers zu erfüllen. Werner war von Anfang an darauf
aus, seine individuellen Neigungen in das stolze Gewand mystischer
Prinzipien zu hüllen und in der Terminologie Hardenbergs seine
Sinnlichkeit zu einer Religion umzustempeln. Abergläubisch genug, um
sich täglich Orakel zu machen, um später seine ewige Seligkeit nach dem
Regen oder Nichtregen eines Tages vorauszuberechnen, schielte er mit
steter Furcht nach dem Schicksal, das ihm auflauerte. Ein dauerndes
Schuldbewußtsein ließ ihn in jedem Vorgang die Ankündigung der
kommenden Strafe ahnen.

Dabei war Werner von allen Romantikern vielleicht die ausgesprochenste
Bühnenbegabung. Ein Praktikus wie Iffland erkannte ebenso wie Goethe
durch die verundeutlichende mystische Hülle seiner ersten Versuche,
daß Werner das Theater zu beherrschen verstehe. Goethe war überzeugt,
Werner sei berufen, Schillers Nachfolger zu werden, wenn er auf seine
Schrullen verzichte. Noch Grillparzer hat die Ansicht geteilt. Da indes
alle Versuche, Werner ins rechte Fahrwasser zu bringen, scheiterten,
entschloß sich Goethe, ihm eine genau umschriebene Aufgabe zu stellen
und ihm nicht nur streng einzuschärfen, daß er all sein verruchtes
Zeug diesmal weglasse, sondern auch Thema, Behandlung, Personenzahl,
Umfang bis ins kleinste zu bestimmen. Die Wirkung des Fluches sollte
dargestellt werden.

Augenscheinlich war Goethe bemüht, in seiner Aufgabe den
dramaturgischen Prinzipien Schillers Ausdruck zu verleihen. Schiller
meinte, seiner Überzeugung von der Notwendigkeit einer strengen
tragischen Verknüpfung der Begebenheiten nach antikem Vorbild am besten
durch Dichtungen gerecht zu werden, in denen die Motivierung auf einer
schicksalsartigen Zwangssituation beruhte. Darum ertönt in seinen
letzten Tragödien so gern das Wort Schicksal. Freilich war es ihm dabei
nicht um einen einseitigen Determinismus, sondern um eine unverrückbare
Motivierung zu tun. Trotzdem gelangte er auf der Suche nach einem
Stoffe, der die Vorteile des „König Ödipus“ von Sophokles aufwiese,
zuletzt zu den fatalistischen Motiven der „Braut von Messina“. Wenn
nun Goethe in der Wirkung des Fluches die „Triebfeder der griechischen
Tragödie“ erblickte und ihre dramatische Verwertung zu Werners Aufgabe
machte, wollte er augenscheinlich Werner eben dahin stellen, wo
Schiller zuletzt gestanden hatte.

Werner indes nahm das Schicksal von vornherein weit äußerlicher und
einseitiger als Schiller. Während Schiller das große, gigantische
Schicksal darstellen wollte, das den Menschen erhebt, wenn es ihn
zermalmt, während bei ihm -- streng kantisch -- die Willensfreiheit
und Selbstbestimmung des Helden gerade in dem Augenblick sich bewähren
sollte, da er physisch den äußeren Umständen erliegt, so zeichnete
Werner im „Vierundzwanzigsten Februar“ Figuren, die -- wie man
fein gesagt hat -- vom Schicksal magnetisiert sind wie Somnambule.
Die Selbstbestimmung sinkt auf ein Nichts zusammen; dafür sind die
Handlungen seiner Personen abhängig von Ort, Zeit und fluchbeladenen
Requisiten. Außerhalb des Menschen steht eine tückische Macht, die in
sein Leben hineinregiert und gegen die kein Widerstand fruchtet.

Derselbe Aberglaube herrscht in den Nachbildungen des
„Vierundzwanzigsten Februars“. An die Stelle einer beabsichtigten
Schicksalstragödie tritt ein Zufallsdrama. „Wo ist der“, so tönt es
noch aus Grillparzers „Ahnfrau“, „der sagen dürfe: So will ich’s, so
sei’s gemacht! Unsre Taten sind nur Würfe In des Zufalls blinde Nacht.“

Dennoch bleibt unleugbar, daß die Schicksalsstücke, voran Werners
„Vierundzwanzigster Februar“, mit der Bühne weit besser auskommen als
die Mehrzahl der romantischen Dramen. Schillers dramatische Prinzipien,
durch Goethe der Schicksalsdichtung zugeleitet, haben da gute Früchte
getragen. Der Theatererfolg ließ denn auch nichts zu wünschen übrig.
Gleich Tieck indes hat den inneren Zusammenhang Werners mit Schiller
dem Schicksalsdramatiker verdacht, den er schlechtweg (Krit. Schriften
4, 158) zu Schillers „Nachtreter“ stempelt. Dabei gesteht er zu, daß
Werner „mit großem Talent begabt“ war, daß er mindestens „gerade
treffliche Naturanlagen genug hatte, um als ein glänzendes Meteor
aufzusteigen“ (ebenda S. 214). Die gesamte Schicksalstragödie aber
steht für Tieck „auf einem so sonderbaren Punkt roher Barbarei, daß
sich in früheren Zeiten kaum etwas Ähnliches, selbst in Paris während
der Revolution, auf dem Theater wenigstens nicht, gemeldet hat“ (S.
144).

Es ist nachgerade zum Gemeinplatz geworden, den dramaturgischen
Kritiker Tieck zum Gegenpol des Dichters Tieck zu machen. Tatsächlich
verwirft Tieck in seiner Ablehnung der Schicksalsdramatik die
verwandten Versuche seiner Jugend. Freilich ist er nicht unmittelbar
für die Schicksalstragödie des 19. Jahrhunderts verantwortlich. Denn
eben diese Jugendversuche haben auf die Schicksalstragödie der Werner,
Müllner, Houwald usw. kaum gewirkt. Die Quellen der Schicksalstragödie
sind Schillers Vorbild, Goethes Wunsch und Werners Temperament. Tieck
gewann durch diesen Zusammenhang ein gewisses Recht, ebenso wie Börne
und Platen die Schicksalstragödie zu verurteilen. Schon der Eingang der
Erzählung „Schicksal“ (1795; 14, 3 f.) spricht sehr rationalistisch von
Schicksal und Zufall. Zwei Jahrzehnte später, im Prolog zum „Fortunat“
(1816), scherzt Tieck über Fortuna und ihren Diener, den „Zufall“.
Fortuna wird von sechs Klägern beschuldigt, sie in Unglück gestürzt
zu haben. Sie kann nachweisen, daß jeder aus freiem Entschlusse ihre
Gaben schlecht benutzt hat. Dem „Zufall“ hält der aufgeklärte Sekretär
entgegen, daß für den vernünftigen Menschen es gar keinen Zufall gebe.
Er aber wirft die Tische um, daß alle Skripturen in einem schwarzen
Meer von Tinte ersaufen... Dieser Prolog ist wohl das erste öffentliche
Bekenntnis, das Tieck gegen die Schicksalstragödie abgegeben hat. Er
entstammt einer Zeit, in der Tieck noch völlig im romantischen Sinne
dramatisch formt, und steht an der Spitze einer Dichtung, die von
Bühnengeschick wenig verrät; einer Dichtung, der wichtiger als alle
dramatische Formung die Frage nach dem Sinn und nach der Führung des
menschlichen Lebens ist.

Auch Z. Werners mystische Schrullen, „all sein verruchtes Zeug“,
wurzeln zuletzt in dem allgemein romantischen Wunsche, in der Tragödie
Daseinsprobleme zu beantworten. Auch er will die Bühne zur Kanzel
machen, um seine „Religion“ predigen zu können. Den Iffland und Goethe
erschien er nur darum bühnenfähiger als die große Mehrheit seiner
romantischen Genossen, weil er auf den Versuch verzichtete, im Rahmen
eines Theaterstückes das Leben so breit und so impressionistisch
wiederzugeben, wie es im Roman geschieht. Tiecks „Genoveva“ und
„Oktavian“ zeigen dagegen die Neigung, Andeutungen ihrer Quellen
zu ausführlichen, dramatisch zwecklosen und das Fortschreiten der
Handlung hemmenden Bildern des Lebens auszugestalten. Sein „Fortunat“
ist vollends ein in halb dramatische Form umgesetzter Roman der
romantischen Wilhelm Meister-Reihe. Auch hier ziehen Jünglinge,
falscher Tendenzen voll, ins Leben hinaus und erleiden, weil sie
Lebensdilettanten sind, immer wieder Schiffbruch; zwar Vater Fortunat
ringt sich zuletzt zu einer Art Lebenskunst empor, sein Sohn Andalosia
aber kann nicht verzichten, er bleibt der ruhe- und endlos Begehrende,
Suchende, sich Sehnende und geht zugrunde.

Das Leben selber soll hier wie -- um noch ein Beispiel zu nennen
-- in Arnims „Halle und Jerusalem“ (1811) seinen Reichtum vor uns
ausbreiten. Cardenio, der Held des zweiteiligen Stückes, dessen Stoff
Arnim von Andreas Gryphius übernahm, ist abermals ein Zwillingsbruder
der typischen romantischen Romanhelden, die beiden Frauengestalten,
zwischen die er gestellt ist, Olympia und Celinde, finden ihr
Ebenbild in ähnlichen gegensätzlichen Paaren der erzählenden
Erziehungsdichtungen. Was Cardenio erlebt, erwächst aus den Hemmnissen,
auf die eine geniale Natur trifft, wenn sie das Leben nach ihrem
Sinn gestalten will. Der Gegensatz zur Welt, zu ihrer Falschheit und
ihrer Konvention, treibt ihn zu tragischen Verwickelungen. Und auch
dieses Stück spottet jeglicher Bühnenmöglichkeit, schlägt den freien
Gang eines Romans ein und bedient sich lediglich, um den Anschein
dramatischer Bewegung zu wahren, der Monolog- und Dialogform. Sogar die
eingelegte Lyrik weist auf die „Lehrjahre“ und ihre Nachfolge hin. Wie
wenig die Generation der Zeit die Erfordernisse dramatischer Technik
ahnte, beweist Jakob Grimm, der am 22. Januar 1811 Arnim brieflich
bestätigte, er habe an „Halle und Jerusalem“ lebhaft erkannt, daß
Arnim bestimmt ein dramatisches Talent sei, und gleichzeitig aus dem
„Käthchen von Heilbronn“ die Überzeugung gewonnen, „daß der Heinrich
Kleist weiter kein Schauspiel mehr schreiben sollte“. Von dramatischem
Talente im Sinne der σύστασις τῶν πραγμάτων kann bei Arnim keine Rede
sein. Wie sollte auch zu der Prägnanz der Bühnenform ein Dichter
gelangen, der nach Brentanos scharfem, aber richtigem Wort seine Poesie
„allzusehr wie Wildfleisch wachsen ließ“. Dramatisches Leben in einer
einzelnen Szene zu erwecken glückt ihm wohl; und mit wunderbar feinem
und tiefblickendem Auge ist dem Leben da und dort in seinen Dramen --
wie in seinen Novellen und Romanen -- sein Intimstes abgelauscht. Die
Kunst des jungen Goethe und einzelner seiner Sturm- und Dranggefährten,
vor allem Lenzens, die Kunst, durch die der Anfänger Gerhart Hauptmann
sich den besten Teil seines Publikums gewonnen hat, waltet auch bei
Arnim: den Gestalten, die im dramatischen Zusammenhang vielleicht
nie ganz ihrer Aufgabe gerecht werden, Stimmungsmomente und Worte zu
leihen, die in gleicher Weise nie vorher dargestellt worden sind und
doch wie Offenbarungen ewig wiederkehrender Regungen der Menschenbrust
uns berühren. Nur fragt der Leser mehr als einmal erstaunt, was
diese Tiefblicke an der Stelle des Dramas sollen, an die Arnim sie
hingestellt hat.

Den romantischen theaterwidrigen Bemühungen gegenüber ist es schon ein
Vorzug, wenn Fouqué um seinen „Helden des Nordens“ (1810) nachträglich
-- am Schlusse des zweiten Teiles -- ein einigendes Band schlingt und
die Sigurdsage zu einer einzigen Kette von Schuld und Sühne macht;
Gudruna eröffnet diesen zusammenfassenden Blick (Ausgewählte Werke 2,
180):

    Wir war’n die Opfer, und wir wußten’s nicht.
    Nun liegen die, nun ist durch mich geschehn,
    Was nötig war; bald folg’ ich ihnen nach.
    Bist du blödsichtig? Oder siehst du nicht
    Aus Sigurds Totenfei’r den blut’gen Strahl
    Loswinden sich, in unzerreißbar’n Kreisen
    Verblendend und umwindend all den Stamm,
    Durch dessen Frevel er, der Held, erlag?
    Solch eine Tat wird nicht so leicht gebüßt.
    Die will auch den Schuldlosern, rechtet fort,
    So lang’ ein Kind, ein Weib der Frevler lebt,
    Und nur Ausrottung heißt ihr endlich Ziel.

Das ganze Leben und den Tod des Helden oder der Heldin darzustellen,
reizte die Romantiker spanische Dramatik noch mehr als Shakespeares
Königsdramen. „Leben und Tod der heiligen Genoveva“ heißt Tiecks Stück;
er dramatisiert sogar „Leben und Tod des kleinen Rotkäppchens“ (1800).
Fouqué bedient sich einmal des Titels „Historie vom edlen Ritter
Galmy und einer schönen Herzogin aus Bretagne“ (1806). Durchaus wird
da alte erzählende Überlieferung in eine dramatische Form umgesetzt,
der das Epische äußerlich und innerlich unverkennbar anhaftet. Dieses
Weiterdichten alter Epik deutet um so mehr auf eine völlige Verkennung
des Ethos der Tragödie, da man aus archaistischem Interesse und aus
religiöser Verehrung des alten Stoffes sich wohl hütete, energisch
ordnend einzugreifen. Fouqués Umdichtung der Sigurdsage kann da
ebenso als Beleg dienen wie die Mehrzahl der nordischen Dichtungen
Oehlenschlägers, der seinerseits in seinem „Aladdin“ (1808) das
Lebensproblem im Sinne des „Wilhelm Meister“ auf die Bühne bringt und
in dramatisierten Lehrjahren sich versucht.

Eine Dichtung von der Art der „Genoveva“ kommt aus gleichem
Grunde mit streng dramatischer Führung in Konflikt. Die
romantisch-mittelalterliche, religiöse Stimmung auszuwirken, wird
Tieck und vielen seiner Nachfolger wichtiger als alle Form. Sehr fein
beobachtete Solger, wie durch dieses Streben etwas Absichtliches und
Gewolltes in die „Genoveva“ kommt, das die künstlerische Wirkung
beschränkt Er behauptet mit Recht in seinem Briefe an Tieck vom 23.
November 1816 (Schriften und Briefwechsel 1, 465 f.), daß damals die
religiöse Sinnesart nicht ganz Tiecks „gegenwärtiger Zustand“, daß
er vielmehr nur von tiefer Sehnsucht nach dieser Sinnesart erfüllt
gewesen sei. „Das äußert sich auch in der Form, welche überall von
Erzählung eingeschlossen ist, und worin auch das Dramatische sich zu
sehr voneinander löst. Die Form ist doch nie zufällig; hier haben Sie
uns mit Absicht in die Einfalt und Liebe alter Zeiten versetzen wollen;
und gewiß, Sie würden uns die Zustände derselben nicht so deutlich
vorgestellt und ausgesprochen haben, wäre dies nicht durch einen
Gegensatz gegen etwas anderes geschehen, wodurch das Bewußtsein in sich
uneins gemacht und zu Reflexion veranlaßt wird... Die Charakteristik
sowohl einzelner Personen als des ganzen Zeitalters scheint mir oft
absichtlich.“

Wie wenig auch der Dramaturg Tieck befähigt war, den tieferen Sinn der
σύστασις τῶν πραγμάτων zu erfassen, wie wenig er den Begriff einer
genau berechneten, scharf umgrenzten Verknüpfung der dramatischen
Handlung im Sinne Schillers begriff, das erhellt aus den Wendungen, die
er selbst gebraucht, wenn er sichere Bühnentechnik umschreibt: er rühmt
Schröder nach, daß er Charaktere und Sachen trefflich und meisterhaft
zu entwickeln und vorzubereiten, die Handlung in jeder Szene und Rede
fortschreiten zu lassen verstehe (Krit. Schriften 4, 200). Genau die
gleichen Ausdrücke werden wenige Seiten (S. 203) später auf Schillers
Jugenddramen angewendet, die Tieck sehr hoch schätzt und denen er „eine
Fülle echten dramatischen Talentes“ nachrühmt, „jenes theatralischen
Instinktes, der alles vor unseren Augen und der Phantasie in Leben und
Tätigkeit setzt“. „In jeder Rede schreitet die Handlung vor, jede Frage
und Antwort gibt Theaterspiel, die Spannung steigt, alles, was hinter
dem Theater und in den Zwischenakten geschieht, belebt die sichtbar
gemachte Gegenwart.“ In dem „Fortschreiten“, in dem „Lebendigwerden
durch das Spiel“ erkennt er „Gaben, die dem Dichter mit der Geburt
geschenkt sein müssen, indem er sie nicht erwerben, nur ausbilden
kann“. Ohne Zweifel ist all das sehr fein beobachtet und trifft
wichtige Eigenheiten dramatischer Begabung; aber nicht den Kernpunkt,
nicht die Hauptsache. Und genauer hat sich Tieck über das Geheimnis der
dramatischen Kunst nie ausgesprochen.

An der Theaterfremdheit der romantischen Dramen trug zum Teil auch die
Tatsache Schuld, daß die Romantiker sich Goethe ebenso nahe fühlten,
wie sie Schiller fremd gegenüberstanden. Tieck hat später, nachdem er
in seinen Dramen dauernd als Schüler von Goethes Romandichtung sich
bewährt hatte, wohl erkannt, daß Goethes Tragödien keine eigentlichen
Bühnenstücke seien (Krit. Schriften 4, 198 f.). „Goethes wunderbare
Natur hätte wohl in seiner Poesie wenigstens ebensoviel aufopfern
müssen, wenn er die theatralische Wirkung gefunden hätte, als er durch
dieses Gelingen nur irgend gewinnen konnte.“ Der Theaterleiter Goethe
hat freilich den Romantikern ihr bühnenfremdes Wesen aufs bitterste
verdacht; am schlimmsten fuhr bei Goethe seltsamerweise Heinrich von
Kleist. Goethes Brief an Kleist vom 1. Februar 1808 tadelt scharf
angesichts der „Penthesilea“ die Neigung der Romantiker, auf ein
Theater zu warten, das da kommen soll. „Ein Jude, der auf den Messias,
ein Christ, der aufs neue Jerusalem, und ein Portugiese, der auf den
Don Sebastian wartet, machen mir kein größeres Mißbehagen.“ Doch wenn
der Weimarische Theaterintendant sich auch zu dem Glaubensbekenntnis
seines Theaterdirektors bekannte, daß, wer recht zu wirken denke, auf
das rechte Werkzeug halten müsse: als Dichter ist Goethe in den letzten
Jahrzehnten seines Wirkens völlig auf den Platz getreten, den Tieck ihm
anweist. Am 27. Juni 1810 gesteht er brieflich Kirms zu: „Ob ich aber,
da ich so viel andere Dinge vorhabe, mich wieder zu theatralischen
Arbeiten, wobei weder Freude, noch Genuß, noch Vorteil zu erwarten
ist, wenden möchte, glaub’ ich schwerlich.“ Der Roman lockte ihn mehr
als das Bühnenstück; dort durfte er seine Kunst frei walten lassen,
hier sah er sich den beengenden und ihm nicht selbstverständlichen
Gesetzen der Bühnenwirkung gegenüber. Und so fügte er begründend hinzu:
„Ich ziehe jetzt den Roman allem andern vor, weil einen dabei alles
begünstigt, was beim Theater dem Autor nur zum Nachteil gereicht.“

Entschloß er sich indes doch noch einmal, die dramatische Form zu
wählen, so näherte er sich romantischem Brauche mehr als der Praxis
Schillers. Einst in seiner Jugend war er als deutscher Shakespeare
begrüßt worden. Dann hatte er das dramatische Feld allmählich an
Schiller abgetreten. Als es ihm durchaus nicht glücken wollte,
Schillers Demetrius zu vollenden, da mochte ihm ganz klar geworden
sein, daß Schillers dramatische Begabung ein Element enthalte, das
ihm selbst fehlte. Seine letzten dramatischen Arbeiten, Ausgeführtes
und Fragmente, sind formal und inhaltlich romantisch gedacht. Der
Reichtum der Formen und die Tiefe des Lebensgehalts entsprechen
romantischer Neigung. Und so hat er denn im Abschluß des ersten und
in der Ausführung des zweiten Teiles seines „+Faust+“ das Höchste
geleistet, was aus dem undramatischen Programm des romantischen
Dramas erwachsen konnte. In vielgestaltiger romantischer Form,
Antikes und Neues bindend, ein unschätzbares Muster- und Meisterstück
der progressiven Universalpoesie, entwickelt der „Faust“ die
höchsten Daseinsprobleme, zeichnet er vor allem die Entwickelung des
romantischen Sehnsuchtsmenschen, dem dauerndes Aufwärtsstreben eignet,
der darum nie befriedigt sein kann und den das Ewig-Weibliche zum
Unendlichen hinaufträgt.

Dem Sturm und Drange der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts bleibt
der Ruhmestitel, daß die mächtigste Dichtung deutscher Sprache und
deutscher Nation ihm entkeimt. Die Romantik aber darf sich rühmen,
daß in ihrem Sinne dies Werk zu Ende geführt worden ist. Ruht um
des „Faust“ willen auf dem Sturm und Drange etwas wie der Glanz der
aufgehenden Sonne, so tritt im Lichte der Faustdichtung Goethes die
Romantik in die magische Beleuchtung des Gestirns, das am Ende seiner
Tageslaufbahn angelangt ist.

[Illustration]



Namenregister.


    Alfred, Kg. der Angelsachsen 86.

    Aristoteles 147 f.

    Ariost 36.

    Aristophanes 127 bis 129.

    Arndt, E. M. 115.

    Arnim, L. A. v. 1 f. 102. 117 f. 121. 123-125. 140. 143. 151. 158 f.
      -- A. u. Brentano: „Des Knaben Wunderhorn“ 1. 123 bis 125.

    Aspasia 71.


    Baader, Franz 54.

    Bacon 34.

    Baudissin, Wolf Graf 95.

    Baumgarten, A. G. 21.

    Benz, R. 138.

    Bernhardi, A. F. 2. 112.

    Bettina 152.

    Böhme, Jakob 56 bis 58. 73. 76. 78. 85. 90 f.

    Böhmer, Auguste 76.

    Boisserée, S. u. M. 1. 100.

    Boucke, C. A. 17. 19. 52.

    Bouterweck, Fr. 27 f.

    Brahms, Joh. 110.

    Brentano, Klemens (s. auch Arnim) 1 f. 102. 107. 123-126. 129-133.
    136. 140. 158.

    Brown 49 f.

    Bruno, Giordano 42.

    Brutus 73.

    Buffon 15.

    Burdach, K. 126.

    -- K. F. 139.

    Bürger, G. A. 4. 111. 123.

    Burke, Edmund 118.

    Büsching, J. G. G. 125.

    Byron 131. 150.


    Calderon 84. 94-97. 147 f.

    Carus, C. G. 102 f. 139.

    Cervantes 36. 95. 131.

    Chamisso, A. v. 137. 143.

    Chladni 49.

    Collin, H. J. v. 115.

    Constant, Benjamin 150.


    Dante 30. 36. 86. 95. 97.

    Dilthey, W. 3. 9 f. 38. 47. 154.

    Dürer, Albrecht 89 bis 91. 97.


    Edda 122.

    Eichendorff, Josef v. 115. 123. 129. 151.

    Erwin von Steinbach 1. 89.


    Fasch 103.

    Fester, R. 117.

    Fichte 3. 9-13. 18 bis 20. 23. 26. 31 bis 37. 39-41. 43. 50 f. 56.
    64. 68 f. 73. 77. 88. 90. 116 f.

    Forster, J. G. 27.

    Fouqué, Fr. de la Motte- 2. 93. 138. 159.

    Frankl, L. A. 136.

    Friedrich, Kaspar David 102 f.


    Galvani 49.

    Garve, Chr. 27.

    Gellert, Chr. F. 133.

    Gentz, Fr. v. 118.

    Görres, J. J. 1. 94. 109.

    Goethe 1. 3. 7. 16 f. 19. 25. 27 f. 30. 35 f. 40 f. 44 f. 47.
    50-53. 56. 58. 67. 69 f. 73 f. 90. 95 f. 98 f. 101 f. 108. 111.
    123-126. 129 f. 134-137. 140. 145. 148-151. 153. 155. 157 f. 161 f.
      -- „Faust“ 7. 19. 71. 83. 135 f. 144. 162.
      -- „Märchen“ 137.
      -- „Wahlverwandtschaften“ 140. 150 f.
      -- „Weltseele“ 52 f.
      -- „Werther“ 7. 151.
      -- „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ 35. 69. 108. 130. 149-151. 158.

    Gozzi 97. 128.

    Grabbe, Chr. D. 129.

    Gries, J. D. 95.

    Grillparzer, F. 147. 152. 155 f.

    Grimm, Jakob 1. 92. 158.

    Grimm, Wilhelm 1.

    Günderode, Karoline von 152.


    Hagen, Fr. H. von der 94. 125.

    Hahnemann 50.

    Haller, A. v. 49. 55.

    Haller, Karl Ludwig von 118.

    Hamann, J. G. 3-5. 11 f. 15.

    Hardenberg, Friedrich v. s. Novalis.

    Hardenberg, Fürst 118.

    Hardenberg-Rostorf, K. G. A. v. 115.

    Hauptmann, Gerhart 158.

    Haym, R. 3.

    Hegel, G. W. F. 1. 3. 9. 18. 140. 153.

    Heine, H. 123. 125 f. 132-136.

    Heinse, W. 66 f. 89. 98. 103.

    Heinzel, R. 93.

    Hemsterhuis, F. 20 f. 26. 56. 70. 99.

    Herder 1. 3-5. 10 bis 17. 27 f. 39 f. 44 f. 47. 51. 58. 88. 98 f.
    103.

    Herrmann (Arminius) 90.

    Heydenreich, K. H. 128.

    Hoffmann, E. T. A. 1. 133. 138 f. 141 bis 143.

    Holbein, H., der jüngere 98.

    Holberg, L. 128.

    Hölty, L. 136.

    Houwald, E. v. 152. 156.

    Huch, Ricarda 6-8. 24 f. 152.

    Hülsen, A. L. 3.

    Humboldt, W. v. 1. 27. 29.

    Hume, D. 5 f. 153.


    Iffland, W. L. 128. 155. 157.

    Immermann, K. 132.


    Jacobi, F. H. 3. 8 bis 10. 13. 79.

    Jahn, F. L. 113.

    Jean Paul 36. 76. 109. 130-132. 141. 150 f.

    Joachimi-Dege, Marie 47. 60 f. 94. 148.

    Joël, K. 19. 106.

    Jonson, Ben 128 f.

    Juel, Jens 102.

    Jung-Stilling, J. H. 1. 80 f. 146.


    Kanne, J. A. 1.

    Kant, I. 3. 5 f. 10 bis 12. 18. 26. 28. 34. 39. 41. 49. 51. 66.
    113. 128. 154. 156.

    Karl der Gr. 86.

    Karl, Erzherzog 115.

    Keller, Gottfried 143. 151.

    Keppler 90 f.

    Kerner, J. 50. 122. 129. 140.

    Kielmeyer, K. Fr. 14. 17. 51.

    Kircher, E. 47.

    Kleist, H. v. 1. 102. 114. 118. 129 f. 143-146. 158. 161.

    Klopstock 58. 90. 109. 112. 114.

    Koch, Erduin Julius 89.

    Körner, Chr. G. 28. 128.

    Körner, Theodor 115.

    Kotzebue, A. v. 128 f. 146.

    Kühn, Sophie v. 75.


    Lachmann, K. 92.

    Lamprecht, Karl 120.

    Laplace 49.

    Lavater 1. 13.

    Lavoisier 49.

    Leibniz 21. 34. 39. 56. 153.

    Lenau 136.

    Lenz, J. M. R. 2. 45. 158.

    Lessing 13. 45 f. 90. 95. 147 f. 153.

    Lochener, Stephan 101.

    Locke 21.

    Lope de Vega 97.

    Ludwig I., Kg. v. Bayern 133.

    Ludwig, Otto 143. 147.

    Luise, Königin 114.

    Luther, M. 73. 90 f. 153.


    Mesmer 50. 55. 139 f.

    Metternich, Fürst 118.

    Miller, J. M. 131.

    Mörike, E. 125.

    Moritz, K. Ph. 16. 44 f. 47.

    Möser, Johannes 1.

    Muhamed 73.

    Müller, Adam 19. 118 f.

    Müller, Friedrich (Maler) 1. 90.

    Müller, Johannes 115.

    Müller, Wilhelm 123. 125.

    Müllner, A. 152. 156.

    Musäus, J. K. A. 131.


    Napoleon I. 113. 116.

    Nibelungenlied 92.

    Nietzsche, Fr. 66.

    Nieuwentyt 15.

    Newton 15.

    Novalis 2 f. 14 f. 19 bis 22. 24-26. 34. 37. 47. 53-59
    (Naturphilosophie). 60. 63-65. 72-81 (Religion). 86 bis 93. 100.
    105 bis 107. 112. 114 bis 119. 121 f. 127. 134 f. 137-139. 141 f.
    150. 152 f. 155.
      -- „Die Christenheit oder Europa“ 77-80. 86 f. 90. 100. 119.
      -- „Geistliche Lieder“ 74-77. 81.
      -- „Hyazinth und Rosenblütchen“ 24. 60. 65. 135.
      -- „Hymnen an die Nacht“ 75-77. 139 f.
      -- „Ofterdingen“ 135. 138. 153.


    Oehlenschläger, Adam 159.

    Olshausen, W. 21. 35. 48.


    Percy 123.

    „Perikles, Prinz v. Tyrus“ 149.

    Pheidias 28.

    Philon 56.

    Pindar 35.

    Platen, A. Grf. v. 129. 157.

    Plato 11. 17. 23. 56 f. 70.

    Plotin 23. 56.

    Poggel, Kaspar 112.

    Poetzsch, A. 12.

    Priestley 49.

    Pückler-Muskau, Grf. 132.


    Raffael 98. 100 f.

    Ranftl, Joh. 149.

    Reichardt, J. F. 103. 113.

    Reil, Joh. Christ. 146.

    Ritter, J. W. 15. 54. 139 f.

    Rousseau 7. 9. 26. 28. 71.

    Rubens, P. P. 89.

    Rückert, F. 126.

    Ruisdael 103.

    Runge, Phil. Otto 102.


    Sachs, Hans 91.

    Schelling 1. 9. 14 bis 17. 19. 21 f. 25 f. 37. 39.
      -- Sch. u. die Romantiker 40 bis 48.
      -- Schs. Naturphilosophie 48-53. 59-61. 64. 72. 78-80. 101 bis
      103. 105. 112. 122. 127. 135. 137 f. 140. 152.

      -- „Heinz Widerporst“ 79 f.

    Schenkendorf, Max von 115.

    Scherer, Wilhelm 1. 90. 93.

    Schiller 1. 5. 26-31. 33. 39 f. 58. 60. 66 f. 71. 77. 85 f. 89. 91.
    95. 100. 128 f. 147 f. 150. 152-157. 160 bis 162.

    Schlegel, Caroline 94. 98. 112.

    Schlegel, Dorothea 71 f.

    Schlegel, Friedrich 1 bis 6. 8. 10. 13-15. 17-19. 21-25. 25 bis 31
    (Klassizistische Anfänge). 31-37 (Bekenntnis zum Romantischen).
    44-48 (Organismusgedanke). 53 f. 57-59. 59-65 (Dritte Stufe seiner
    Theorie). 66-72 (Ethik). 77-79. 80 bis 87 (Spätere historische
    Konstruktionen). 87 f. 90-92. 95-97. 99 bis 102. 105. 108. 112-115.
    118-120 (Politik). 121 bis 123. 125-130. 132. 142. 148-150. 152.
      -- „Alarkos“ 82 f.
      -- „Lucinde“ 59. 65. 69 f. 131.

    Schlegel, Joh. Elias 95. 138.

    Schlegel, Wilhelm 2 bis 4. 12-14. 22. 26. 35. 59. 61. 71. 75 f.
    90-100. 108. 111-115. 121 bis 123. 126. 128 f. 152.

    Schleiermacher 1. 3. 8-10. 12 f. 18. 23. 26. 37-39. 43 f. 46 f.
    59-61. 63 f. 67-70. 72-75. 77. 121 f. 142. 149. 152-154.

    Schönbach, A. E. 59.

    Schopenhauer 6. 46. 105 f.

    Schröder, F. L. 160.

    Schubert, G. H. v. 139-141. 146.

    Schultze, Friedrich 118.

    Schwind, Moritz v. 90.

    Shaftesbury 11 f. 17.

    Shakespeare 13. 30. 36. 45. 84. 94-97. 128. 147 f. 159. 162.

    Simon, H. 48.

    Smith, Adam 118.

    Smollet 131.

    Sokrates 5. 32. 71.

    Solger, F. 160.

    Sophokles 28. 155.

    Spee, Friedrich 136.

    Spenlé, E. 47. 55.

    Spinoza 14. 37. 40. 42. 56. 58. 82. 152 f.

    Staël, Mme. de 112.

    Steffens, H. 48. 138 f.

    Steig, Reinhold 118.

    Stein, Freiherr v. 1.

    Sterne, L. 36. 131 bis 133.


    Thümmel, M. A. v. 131.

    Tieck, Dorothea 95.

    Tieck, Ludwig 1 f. 12. 18. 56. 58 f. 72 bis 74. 79. 87-92. 94-96.
    99 f. 103. 106-112. 123. 127 f. 134. 137 bis 139. 146-150. 152 f.
    157. 159 bis 161.
      -- „Fortunat“ 157.
      -- „Sternbald“ 69. 107 f. 110.
      -- „William Lovell“ 18. 149 f.


    Uhland 93. 121 f. 129.


    Volta 49.


    Wackenroder 1. 12. 72. 87-93 (Altdeutsches). 97 bis 103 (Malerei).
    103 bis 106 (Musik). 114. 123.

    Werner, A. G. 138.

    Werner, Z. 152-157.

    Wieland 71. 123. 131.

    Winckelmann 13. 26 f. 90. 99. 101.

    Windelband, W. 12.

    Wodan 90.

    Wolff, Chr. 5.

    Wukadinovic, Sp. 146.


    Zinzendorf 74. 78.



Sachregister.


    Absolutes 17. 22-24. 39. 42. 65. 144.

    Agrariertum 117 bis 119.

    Alphorn 107. 124.

    Altdeutsches 1. 13. 85-94. 123-125.

    Antike 26-31. 36. 70 f. 74 f. 81 f. 84 bis 87. 93. 95 f. 98 f.

    ~Audition colorée~ 108.


    Baukunst 1. 86.

    Befreiungskriege 112-118.

    Berlin 143.

    Bergmannsleben 138.

    Bewußt und unbewußt 4-10. 36. 40-42. 138-146.

    Bibel 72 f. 78.

    Bildlichkeit 59. 108 f.

    Bildung 11. 113. 144.


    Christus, Christentum 73-75. 93.


    Deutschland, Junges 120. 131.

    Deutschtum 89-91. 113-117.

    Dresden 98. 143.

    Dualismus 18. 41. 51. 64. 141 f.


    Ehe 67-70.

    Ekstase 21. 56. 106. 142.

    Enthusiasmus 25.

    Erdlebenbildkunst 103.

    Ethik 10-12. 17 f. 38 f. 59. 65-72.


    Frauenfrage 67. 70 bis 72.

    Frühromantik und jüngere Romantik 1-3. 121-162.


    Galvanismus 49 f. 51. 54 f.

    Galvanismus des Geistes 54 f.

    Gasel 126.

    Gefühl s. Bewußt und unbewußt.

    Genie 1. 36. 41. 64. 85. 106.

    Germanistik 91-94.

    Goldenes Zeitalter 26 f.


    Hanswurst 128.

    Harmonie, Seelische 6. 10 f. 17 f. 27 f. 30 f. 34. 71. 80. 84 bis
    87. 119. 141. 146.

    Homöopathie 50.


    Identitätssystem 42 f.

    Illusionszerstörung, Stimmungsbrechung 35. 127-134.

    Indien 81-83. 121. 126.

    Individualität, Persönlichkeit 1. 12. 38 f. 43 f. 64. 66. 88. 113.
    115. 117.

    Intellektuelle Anschauung 19 f. 31 f. 35. 55 f. 69. 88.

    Ironie, Romantische 19 f. 24. 32-34. 80. 127-130 (Drama). 130-134
    (Roman u. Lyrik). 137.

    Irritabilität 49. 51. 55.


    Jesuiten 78.


    Katholizismus 77 f. 80. 83-87. 99 bis 101. 119 f.

    Klassisch s. Antike u. Romantisch.

    Kollektivismus siehe Soziales.

    Komödie 128-130. 137.

    Kosmopolitismus d. Romantik 113. 117. 120.

    Kunst 1. 7. 86 f. 97 bis 103.


    ~L’art pour l’art~ 25.

    Lebenskunst, Lebensproblem 25 f. 146 bis 162.

    Liebe 23 f. 60-65. 70. 77. 83 f. 162.

    Lyrik 109-112. 114 f. 122-126. 130.


    Magie 17. 19-21. 48. 55. 137. 139.

    Magischer Idealismus 21. 55. 139.

    Magnet, Magnetismus 41 f. 87.
      -- Animalischer Magnetismus 50. 55. 139-141. 146.

    Malerei 86 f. 97 bis 103.

    Märchen 137-139.

    Metaphysisches Bedürfnis 3. 5 f. 9 f. 23 f. 33. 46. 143 f.

    Metrik 111 f.

    Minnesang 89. 91 f. 94. 111. 136.

    Mittelalter 1. 13. 78. 86-94. 159 f.

    Mittelpunkt s. Zentrum.

    Monismus 60. 64 f. 75. 142. 149.

    Musik 103-108.

    Mythologie, Neue 15. 58. 109. 135 f.


    Nachtseite der Natur 139-146.

    Naturphilosophie 14 f. 40 ff. 48-53 (Schelling). 53 bis 58 (Novalis
    u. Fr. Schlegel). 73. 78. 109. 127. 134. 137 bis 139.

    Naturwissenschaft d. 18. Jahrhunderts 48-50.

    Nazarenismus 101 f.

    Neuplatonismus 56.


    Organismus, Organisch 10. 15-17. 42. 44-47. 49 f. 64. 66. 86 f. 101
    f. 136.

    Orient 58. 80-83. 92.


    Persien 126.

    Philister 66. 133. 142.

    Phlogiston 49.

    Poesie der Poesie 35 f. 59-65.

    Polarität 19. 41. 51.

    Politik, romantische 1. 78. 112-120.

    ~Prédilection d’artiste~ für katholische Kunst 100.

    Proteisches 17-19. 34. 149 f.

    Protestantismus 78. 100.


    Reaktion 112. 118 bis 120.

    Realismus 9. 14. 43 (philosophisch). 142 f. (ästhetisch).

    Reim 111 f.

    Religion 7-9. 12 f. 37-39. 43. 59. 71-81. 96. 119. 144. 157. 159 f.

    Revolution, Französische 113. 117 f.

    Roman 130-132. 149-151. 161.

    Romanisches (s. auch Spanien) 111 f.

    Romantisch (Definitionen) 29-37. 62. 80-87. 93. 121. R. und
    klassisch 81 f. 121.


    Schicksal u. Willensfreiheit 151-157.

    Schicksalstragödie 96. 151-158.

    Schlegelianismus d. Naturwissenschaften 48. 53-59. 135.

    Sehnsucht 17. 23-25. 29. 62 f. 65. 93. 122. 162.

    Sensibilität 49. 51. 55.

    Sentimentalisch 29. 62.

    Somnambulismus 55. 139 f. 146.

    Soziales 112-120.

    Spanien 83 f. 87. 95-97. 125 f. 159.

    Stimmungsbrechung s. Illusionszerstörung.

    Sturm und Drang 1-11. 36. 66 f. 88. 148. 158. 162.

    Σύνθεσις oder σύστασις τῶν πραγμάτων 147 f. 158. 160.


    Tod 74-76.

    Traum 139-141.

    Transzendentaler Idealismus 37. 41. 43.

    Transzendentalpoesie 35 f. 130. 134.


    Unendliches 22-24. 31. 33. 37-39. 43. 60-65. 75. 84. 93. 112. 122.
    142. 149. 162.

    Universum 37-39. 42. 44. 46 f. 52. 59 bis 61. 65. 70 f. 74.

    Universalpoesie 31. 162.


    Vitalismus 40. 49 f. 55.

    Volkslieder u. Volksbücher 1. 13. 89. 117. 121-126. 136.


    Wald 138.

    Wasser 138.

    Willensfreiheit und Determinismus 151-157.

    Witz 34 f. 69. 133.

    Wunderliches und Wunderbares 143.

    Wünschelrute 139 f.


    Zentrum, Mittelpunkt 47. 57. 64. 148.

[Illustration]


Druck von B. G. Teubner in Dresden.



Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin.


Das Erlebnis und die Dichtung

Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin

Vier Aufsätze von =Wilhelm Dilthey=.

[VI u. 455 S.] gr. 8. 1907. 2. erw. Aufl. Geh. M. 5.--, in Leinw. geb.
M. 6.--

„... Dieses tiefe und schöne Buch gewährt einen starken Reiz, Diltheys
feinfühlig wägende und leitende Hand das künstlerische Fazit so
außerordentlicher Phänomene im unmittelbaren Anschluß an die knappe,
großlinige Darstellung ihres Wesens und Lebens ziehen zu sehen. Hier,
das fühlt man auf Schritt und Tritt, liegt auch wahrhaft inneres
Erlebnis eines Mannes zugrunde, dessen eigene Geistesbeschaffenheit
ihn zum nachschöpferischen Eindringen in die Welt unserer Dichter und
Denker geradezu bestimmen mußte.... Was diesen auf einen Lebenszeitraum
von 40 Jahren verteilten -- man wendet hier das Wort fast instinktiv
an -- klassischen Aufsätzen ein ganz besonders edles Gepräge gibt, das
ist der goldene Schimmer geistiger Jugendfrische, der sie verklärt,
die lautere Verehrung unserer höchsten literarisch-künstlerischen
Kulturwerke, der den Ausdruck überall durchzittert. Hier schreibt
Ehrfurcht, und zwar lebendige Ehrfurcht, die sich den Geistern und
ihrem Werk in liebendem Erkenntnisdrange hingibt und weiß, warum sie es
tut.“

    (=Das literarische Echo.=)


Psychologie der Volksdichtung

Von Dr. Otto Böckel.

[VI u. 432 S.] gr. 8. 1906. Geh. M. 7.--, in Leinw. geb. M. 8.--

„Dies Buch ist so reichhaltig und dabei so übersichtlich klar geordnet
und so schlicht anmutig ohne allen Gelehrtendünkel und vielsprachigen
Ballast geschrieben, daß es sicherlich sehr viele mit Freude lesen
werden. Und niemand wird es ohne Wissensbereicherung aus der Hand
legen. Es hat doppelten Wert. Es bietet in seinem eigentlichen Texte
eine großartig umfassende Abhandlung über das Wesen des Volksliedes, in
seinen überaus zahlreichen Anmerkungen eine Bibliographie zum Thema und
somit einen Wegweiser für jeden, der die empfangenen Anregungen in ein
oder anderer Hinsicht zu gediegeneren Kenntnissen ausbauen will.“

    (=Tägliche Rundschau.=)

„Wie müßten doch Herder und Goethe, die Brüder Grimm und Uhland voll
Freude und voll Dankes sein über dieses Buch, die reife Frucht eines
dem Volkslied gewidmeten Lebenswerkes. Die Psyche des Volksliedes hat
sich ihm in ihrer vollen Klarheit und Totalität eröffnet, und so kommt
sie auch bei größtem Ernst der wissenschaftlichen Darstellung schön und
unwiderstehlich in ihrer Macht durch das ganze Buch zum Ausdruck: zur
Wirkung auf den Leser.“

    (=Frankfurter Zeitung.=)



Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin.


Gottfried Keller

=Sieben Vorlesungen= von Professor ~Dr.~ =Albert Köster=.

2. Auflage. Mit einer Reproduktion der Radierung Gottfried Kellers von
+Stauffer+-Bern in Heliogravüre

[VI u. 160 S.] gr. 8. 1907. In Leinwand geb. M. 3.20

„Wir besitzen eine große Anzahl von Biographien G. Kellers, aber keine,
welche in so kurzer, anziehender Form so klar und deutlich den Kern von
Kellers Leben und Werken darlegt, wie dies in den „sieben Vorlesungen“
geschieht, die K. hier in überarbeiteter Ausgabe zum zweiten Male in
die Welt sendet. Man mag das Büchlein wo immer aufschlagen und zu lesen
beginnen, so wird es fesseln durch die Tiefe der Auffassung, die sich
bei K. mit der Gabe einer flüssigen und eindringlichen Darstellung
paart.“

    (=Allgemeines Literaturblatt.=)

„Der Verfasser hat sich an den Ausspruch Gottfried Kellers gehalten,
wonach das schlichteste Buch über einen Dichter meist auch das
ehrlichste ist. Durch die schlichte und liebevolle, dabei mit klarem
kritischen Blick geschaute Darlegung des Lebens- und künstlerischen
Werdeganges des Dichters wird vor allem jenen, die Keller schon aus
seinen Werken lieben gelernt haben, die dichterische, wie die aus so
schweren Entwicklungskämpfen hervorgegangene menschliche Persönlichkeit
näher gerückt werden; für manches in seinen Werken wird ihnen ein
tieferes Verständnis aufgehen.“

    (=Schwäbischer Merkur.=)


Goethes Selbstzeugnisse

über seine Stellung zur Religion u. zu religiös-kirchlich. Fragen

In zeitlicher Folge zusammengestellt von ~D. Dr.~ =Theodor
Vogel=

3. Auflage. Mit Buchschmuck von E. +Kuithon+

[IV u. 262 S.] gr. 8. 1903. Geh. M. 3.20, in Leinw. geb. M. 4.--

„Wem daran liegt, daß die wahre Einsicht in Goethes Wesen und Art, das
echte und rechte Verständnis unseres Dichterfürsten immer mehr gewonnen
und die Erkenntnis seiner Größe immer klarer, sicherer und inniger
werde, der wird es mit lebhafter Freude begrüßen, daß die vorliegende
Schrift in neuer Auflage erschienen ist.... Das gesamte geistige und
soziale Leben unseres Volkes wird aus Vogels schönem Werke reichen
Gewinn ziehen, namentlich aber ist der Freund und Verehrer Goethes dem
Verfasser für seine mühevolle und selbstlose Arbeit zu wärmstem Danke
verpflichtet.“

    (=Otto Lyon i. d. Zeitschr. f. d. deutsch. Unterr.=)

„Die Arbeit eines feinen Geistes und eines tiefen Gemütes ist ganz dazu
geschaffen, manchem zur Aufklärung und zur Erbauung zu dienen.“

    (=Der Türmer.=)

„Es war mir ein Erbauungsbuch und wird es noch lange sein. Mehr kann
man kaum von einem Buch sagen.“

    (=Die Gesellschaft.=)



Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin.


„Aus Natur und Geisteswelt.“

Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen aus allen
Gebieten des Wissens. Jeder Band (v. 120-180 Seiten) ist in sich
abgeschlossen und einzeln käuflich.

Jeder Band geh. M. 1.--, in Leinwand geb. M. 1.25.

In der Sammlung sind u. a. erschienen:

    +Bruinier, J. W.+, das deutsche Volkslied. Über Wesen und
    Werden des deutschen Volksgesanges. 2. Auflage. (Nr. 7.)

    +Das Buchgewerbe+ und die Kultur. Sechs Vorträge gehalten im
    Auftrage des Deutschen Buchgewerbevereins. (Nr. 182.)

    +Hensel, P.+, Rousseau. Mit einem Bildnisse Rousseaus. (Nr.
    180.)

    +Kahle, B.+, Henrik Ibsen, Björnstjerne Björnson und ihre
    Zeitgenossen. Mit 7 Bildnissen auf 4 Tafeln. (Nr. 193.)

    +Krebs, C.+, Haydn, Mozart, Beethoven. Mit vier Bildnissen auf
    Tafeln. (Nr. 92.)

    +Külpe, O.+, Immanuel Kant; Darstellung und Würdigung. Mit
    einem Bildnisse Kants. (Nr. 146.)

    +v. Negelein, J.+, germanische Mythologie. (Nr. 95.)

    +Paulsen, Fr.+, das deutsche Bildungswesen in seiner
    geschichtlichen Entwickelung. (Nr. 100.)

    +Sieper, E.+, Shakespeare und seine Zeit. Mit 3 Tafeln und 3
    Textbildern. (Nr. 185.)

    +Uhl, W.+, Entstehung und Entwicklung unserer Muttersprache.
    Mit vielen Abbildungen im Text und auf Tafeln, sowie mit einer
    Karte. (Nr. 84.)

    +Unger, A. W.+, wie ein Buch entsteht. Mit 7 Tafeln und 26
    Abbildungen im Text. (Nr. 175.)

    +Weise, O.+, Schrift- und Buchwesen in alter und neuer Zeit.
    2. Aufl. Mit 37 Abbildungen. (Nr. 4.)

    +Witkowski, G.+, das deutsche Drama des neunzehnten
    Jahrhunderts. In seiner Entwicklung dargestellt. 2. Auflage. Mit
    einem Bildnis Hebbels. (Nr. 51.)

    +Ziegler, Th.+, Schiller. Mit dem Bildnis Schillers von
    Kügelgen in Heliogravüre. (Nr. 74.)


Nähere Angaben über diese Bände siehe im Anhang.



VERLAG VON B. G. TEUBNER IN LEIPZIG UND BERLIN.


ELEMENTARGESETZE DER BILDENDEN KUNST

GRUNDLAGEN EINER PRAKTISCHEN ÄSTHETIK

VON

HANS CORNELIUS


Mit 240 Abbildungen im Text und auf 13 Tafeln

[VIII u. 197 S.] gr. 8. 1908. Geh. M. 7.--, in Leinw. geb. M. 8.--

Arbeiten alle bildenden Künste für das Auge und beginnt alle Erkenntnis
der Dinge durch dieses mit der Erkenntnis von +Raum und Form+, so
muß die elementare +Aufgabe aller künstlerischen Gestaltung+ darin
bestehen, dem Auge dasjenige zu +geben+, was für die Erkenntnis
von Raum und Form +erforderlich+ ist und ihm +aus dem Wege zu
räumen+, was solcher Erkenntnis +im Wege steht+.

Die verschiedenen Forderungen, welche für die Lösung dieser Aufgabe
zu erfüllen sind, werden in dem vorliegenden Buche in Anknüpfung an
+Hildebrandsche+ Anschauungen systematisch entwickelt und an über
250 Beispielen und Gegenbeispielen aus allen Gebieten alter und neuer
Kunst, aus Malerei und Graphik, Plastik und Architektur, insbesondere
aber auch aus allen Zweigen kunstgewerblicher und kunstindustrieller
Tätigkeit, erläutert.

So wendet sich das Buch an Künstler, Kunstgewerbler und
Kunstindustrielle, an jeden, der sich in der Praxis mit irgendwelchen
künstlerischen Fragen auseinanderzusetzen hat, aber auch an jeden,
der sich mit dem oberflächlichen Gefallenfinden an Werken der Kunst
nicht begnügen, sondern sich der Gründe ablehnender oder zustimmender
Empfindung bewußt werden möchte.





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