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Title: Hüben und Drüben; Zweiter Band (2/3) - Neue gesammelte Erzählungen
Author: Gerstäcker, Friedrich
Language: German
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  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1868 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
    Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und
    altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
    unverändert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert.

    Umlaute in Großbuchstaben (Ä, Ö, Ü) werden in ihrer Umschreibung
    dargestellt (Ae, Oe, Ue).

    Besondere Schriftschnitte wurden in der vorliegenden Fassung mit
    den folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet:

      gesperrt:      _Unterstriche_
      Antiqua:       ~Tilden~

  ####################################################################



                           Hüben und Drüben.

                      Neue gesammelte Erzählungen

                                  von

                         Friedrich Gerstäcker.

                             Zweiter Band.

                            [Illustration]

                               Leipzig,

                       Arnoldische Buchhandlung.

                                 1868.



                               Leipzig,

                    Druck von Giesecke & Devrient.



Inhaltsverzeichniß.


                                  Seite

    1. Der verheirathete Doktor        1

    2. Ruine Wildenfels               70

    3. Herr Müller                   220

    4. Ein freundlicher Empfang      311



Der verheirathete Doktor.



Erstes Kapitel.

Zum Lindenbaum.


Schon im Jahre 39 war Pittsburg, im Staat Pennsylvanien, eine größere
Stadt, die sich besonders durch ihre Fabriken, Eisenwerke, wie
überhaupt eine außerordentliche Gewerbsthätigkeit auszeichnete, und in
der That seitdem so an Einwohnerzahl und Reichthum gewonnen hat, daß
sie jetzt zu den Hauptplätzen der Union gerechnet werden darf.

Von allem Anfang an hatten sich eine Menge Deutsche dorthin gezogen,
wie denn ja auch ganz Pennsylvanien vorzugsweise von unseren
Landsleuten bevölkert ist. Haben sie sich doch sogar in ihrem Uebergang
zur englischen Redeweise eine ganz eigene und merkwürdige Sprache
gebildet: das sogenannte Pennsylvanisch-Deutsch, das sie freilich nur
unter einander reden können, denn Amerikanern, wie der englischen
Sprache nicht mächtigen Deutschen bleibt sie gleich unverständlich.

Ursprünglich ließ sich auch in diesem Staat eine große Zahl jener
armen Teufel nieder, die im Befreiungskrieg der Union von deutschen
Fürsten an die Engländer verkauft wurden, aber in der Mehrzahl viel zu
klug waren, irgend welchen Heldenmuth gegen das für seine Unabhängkeit
kämpfende Volk zu entwickeln. Sie desertirten oder ließen sich gefangen
nehmen, wonach sie dann mit Vergnügen das Versprechen abgaben: in
diesem Kriege nicht mehr gegen die Amerikaner zu dienen, und bald im
Walde drin ihre kleine, freundliche Heimath gründeten. Abkömmlinge
von ihnen findet man noch überall, besonders in Pennsylvanien, und
sie sind sogar stolz darauf zu erzählen, daß ihre Vorväter zu den
Freiheitskämpfern übergingen.

So leicht nun auch die Deutschen in den vereinigten Staaten die
englische Sprache erlernen und mit den Amerikanern selber auf
freundschaftlichem Fuße leben, so finden sie es doch -- mit wenigen
Ausnahmen -- stets gemüthlicher, für ihre Geselligkeit die eigene
Landsmannschaft aufzusuchen, und besonders ihre Abende unter Deutschen
zuzubringen.

Das amerikanische und deutsche Leben läßt sich in der That nicht gut
vereinigen, denn Beider Neigungen liegen zu weit aus einander, und
schon die entsprechenden Wirthshäuser kennzeichnen Beide auf das
Entschiedenste.

Der Amerikaner ist rastlos in seinen Genüssen wie in seinem Geschäft,
und kennt in beiden keine Ruhe. Er arbeitet rasch, aber ebenso ißt er
auch, und verschlingt Mittags die Speisen weit eher, als daß er sie
ordentlich verzehrt. Eben so wenig hält er sich beim Trinken auf, und
so oft er auch über Tag einen Schenkstand besuchen mag, _er setzt sich
nie dazu_, läßt sich sein Glas einschenken, stürzt es hinab und geht
weiter.

Das verträgt der Deutsche nicht, weder daheim noch in Amerika, denn
er will seinen Stuhl und seinen Tisch haben, um, _was_ er genießt,
auch in aller Ruhe und Gemüthlichkeit zu verzehren, und sich dabei
gehörig auszusprechen. Sehr natürlich fühlt er sich -- mit _diesen_
Neigungen -- in amerikanischen Wirthshäusern, in denen er auch
meistens sein gewohntes Bier vermißt, nie recht wohl, und nur die
ächt amerikanisirten Deutschen (beiläufig gesagt der widerlichste
Menschenschlag von Renegaten, der sich auf der Welt nur denken läßt)
affektiren die amerikanische Sitte und halten es für unter ihrer Würde,
sich in ein deutsches Bierhaus zu setzen, in dem sie sich doch sonst
wohl genug fühlten.

In Pittsburg gab es nun schon damals verschiedene derartige deutsche
Lokale; den besten Ruf hatte aber jedenfalls der „Lindenbaum“, und
verdiente ihn auch, obgleich er von keinem _Wirth_, sondern nur von
einer _Wirthin_ gehalten wurde.

Die „Wittwe _Reuter_“ war nämlich eine Frau noch in ihren besten
Jahren, und verstand vollkommen einer solchen Wirthschaft vorzustehen.
Vor einem halben Jahrzehnt nach Amerika, eben verheirathet,
ausgewandert, hatte sie ihren Mann, wie sie kaum den Fuß auf
amerikanischen Boden gesetzt, an einem hitzigen Fieber verloren.
Sie war damals erst 22 Jahre alt, aber von festem, entschlossenem
Charakter, und außerdem nicht gewohnt, die Hände in den Schooß zu
legen. Sie verzagte auch deßhalb in dieser schweren Lebenssorge nicht,
sondern griff rüstig zu, um sich ihren Unterhalt selber und allein zu
erwerben. Anfangs wusch und nähte sie für fremde Leute, dann trat sie
als Wirthschafterin in ein sogenanntes Kost- oder Boardinghaus, und
verdiente sich, mit rastlosem Fleiß und eiserner Sparsamkeit, endlich
so viel, um selber ein ähnliches kleines Hotel, das gerade zum Verkauf
ausgeboten wurde, übernehmen zu können.

Dort ging es ihr gut. Der Ruf, wie vortrefflich und reinlich bei ihr
gekocht würde, verbreitete sich bald in Pittsburg, und da sie außerdem
die besten Getränke zu verhältnißmäßig billigen Preisen ausschenkte, so
konnte es nicht fehlen, daß sich ihr Geschäft hob und sie hübsches Geld
dabei verdiente.

Besonders hatte sie in ihrem Haus eine Anzahl von gebildeten
Landsleuten zu Gästen, die hier, aus sich selbst heraus und ohne
Statuten oder Beiträge, eine Art von Klub bildeten, und jeden fremden
Landsmann ebenfalls dorthin zogen. _Gemischt_ war die Gesellschaft
übrigens, das ließ sich nicht leugnen, aber nur in der Art, wie es
in Amerika „gemischte Gesellschaften“ gibt. An Bildung, Sitte und
Intelligenz paßten sie _Alle_ zusammen, nur in ihren Beschäftigungen
unterschieden sie sich allerdings bedeutender. So bestand denn
auch die kleine Zahl von Stammgästen, die sich allabendlich dort
zusammenfand, aus ein paar Aerzten, einem Apotheker, einem Advokaten,
einem Bankbeamten und einem Geistlichen, auch ein Baron war dabei, der
aber freilich das bescheidene Amt eines Zeitungsträgers bekleidete.
Außerdem gehörten zwei Kohlenarbeiter dazu -- daheim waren sie ~Dr.
philosophiae~ gewesen, dann ein Schmied -- der frühere Stallmeister
eines Herzogs von --, der Redakteur des Pittsburger Beobachters mit
zwei Setzern, wie noch ein paar junge Kaufleute -- und der Klub wurde
noch außerdem durch zeitweilige Fremde verstärkt.

So kamen dann und wann, wenn ihr Boot Pittsburg anlief, zwei Feuerleute
eines der Ohio-Dampfer in den Klub, die ihr saures Brod zwischen
Negern, Mulatten und Irländern hart genug verdienen mußten und in
ihren blauen Matrosenhemden und schottischen Mützen -- was wenigstens
das Aeußere betraf -- kaum recht in die Gesellschaft zu passen
schienen. Aber es waren prächtige junge Leute -- der Eine aus einer
altadeligen deutschen Familie stammend, der Andere ein junger Advokat,
und der englischen Sprache noch nicht mächtig genug, um hier schon zu
plaidiren. -- Und was that es dabei, daß sie in der schwersten und
niedrigsten Arbeit ihren zeitweiligen Beruf gesucht? Sie verdienten
sich ihr Brod _ehrlich_, und waren hier willkommener, als es mancher
befrackte Herr mit Stern und Ordensband gewesen wäre.

Und lustige Abende wurden da verlebt, das ist gewiß, denn keine
Etikette galt, kein steif gezwungener Ton konnte aufkommen, und doch
herrschte Anstand und Sitte, und es wäre Keinem zu rathen gewesen, die
zu verletzen -- die Thüre des „Lindenbaumes“ würde sich ihm nie wieder
geöffnet haben.

Zu den fleißigsten und ältesten Besuchern dieses wackeren deutschen
Wirthshauses gehörte übrigens ~Dr.~ Peters, und die übrigen Gäste
behaupteten auch, die Wittwe Reuter habe ihn mit als Inventar von
dem früheren Eigenthümer überliefert bekommen. Peters war überhaupt
in Pittsburg eine sehr bekannte Persönlichkeit, und seines trockenen
Humors wegen überall gern gesehen -- nur als Arzt schien er nicht
besonders zu reussiren -- er war nie sehr glücklich in seinen Kuren
und hatte dabei eine etwas rauhe Manier mit seinen Kranken umzugehen,
so daß ihm in der That _sehr_ viele freie Zeit blieb, und seine
Bekannten behaupten wollten, er habe die „Nachtklingel“ an seiner Thür
nur für eigenen Bedarf anbringen lassen, um nicht ausgeschlossen zu
werden, wenn er Abends spät aus seinem Wirthshaus käme.

Er lachte übrigens selber darüber, und konnte es auch recht gut mit
ansehen, denn wenn ihm seine Praxis wenig einbrachte, so besaß er
doch nicht allein ein kleines Kapital an baarem Gelde, sondern auch
noch außerdem einen sehr vortheilhaften Antheil an verschiedenen
benachbarten Kohlenminen. Das setzte ihn in den Stand, sorgenfrei zu
leben, und er lebte auch in der That so, und daß er das Wirthshaus zum
Lindenbaum so oft besuchte, war außerdem kein Zeichen einer Neigung zur
Unmäßigkeit, oder zur Schwelgerei. Er lebte im Gegentheil gewöhnlich
mäßig, und nur in fröhlicher Gesellschaft ließ er sich manchmal so weit
hinreißen, mit einem kleinen „Spitz“ nach Hause zu gehen. Eigentlich
betrunken hatte ihn noch Niemand gesehen.

Der Doktor war dabei ein seelenguter Mensch, und wer ihn näher kennen
lernte, gewann ihn auch lieb; außerdem ging er gern und immer auf einen
Scherz ein, selbst wenn er auf _seine_ Kosten ausgeführt wurde,
und konnte dann auf das Herzlichste mitlachen.

Uebrigens hatte er manche Eigenheiten -- keine aber, die einem
seiner Freunde je lästig werden durfte. So war er z. B. entsetzlich
abergläubisch, und ließ manchen Spott deßhalb über sich ergehen,
änderte sich aber nicht und nickte dabei nur immer geheimnißvoll mit
dem Kopf, als ob er es doch besser wisse, als alle die Anderen. So
hätte er sich nie zu dreizehn an einen Tisch gesetzt, nie an einem
Freitag irgend eine wichtige Handlung begonnen; er stieg gewissenhaft
jeden Morgen mit dem rechten Fuß zuerst aus seinem Bette, und was alte
würdige Frauen mit Nägelabschneiden, Salat essen an gewissen Tagen,
Eierschaalen zerdrücken und anderen dem ähnlichen Dingen vorschrieben,
beobachtete er auf das Peinlichste.

Trotzdem hatte ihn ein Jeder lieb und seine Freunde besonders, die
bald herausfühlten, daß er den „Lindenbaum“ nicht allein seiner guten
Getränke, sondern mehr noch der hübschen Wirthin wegen frequentire,
hegten die stille Hoffnung, daß er die doch undankbare ärztliche
Beschäftigung bald an den Nagel hängen und dafür den „Lindenbaum“
_mit_ der Frau Reuter übernehmen werde.

Grund genug hatten sie dafür, denn Peters war ein regelmäßiger Gast im
Hause -- ja mehr als das, er verplauderte auch manche müßige Stunde mit
der jungen Wittwe, und wurde zuletzt sogar zu einer Art von Factotum
im Hause. Die Frau hatte ihm nämlich oft geklagt, welche Noth sie
mit ihren Büchern und besonders mit dem Einkauf ihrer verschiedenen
Provisionen habe -- wozu eine Frau auch eigentlich nicht recht paßt
-- und er nahm sich von da ab bereitwillig ihrer an. Nicht allein
brachte er ihre Bücher in Ordnung und machte fast täglich die laufenden
Einträge, sondern er zeigte ihr auch noch manche Verbesserung in ihrer
Wirthschaft und gab ihr überdies durch seine große Bekanntschaft gute
Quellen an, von wo sie ihre Provisionen und Getränke in bester Qualität
und zu billigen Preisen bekommen konnte, ja verschaffte ihr sogar
in mehreren Häusern einen neuen und höchst vortheilhaften Kredit.
Er schien überhaupt -- wie die böse Welt wissen wollte -- viel mehr
Talent zu einer culinarischen wie medicinischen Thätigkeit zu haben,
und daß die Leute deßhalb eine Verbindung des Doktors mit der Wirthin
prophezeihten, war wohl natürlich -- und trotzdem fand sie nicht statt.

Aber weßhalb nicht? Er hatte sie gern; das leugnete er nicht einmal,
und seinen ärztlichen Beruf aufgeben und eine Wirthschaft übernehmen?
lieber Gott, da waren ganz andere Veränderungen in Situationen hier
in Amerika vorgekommen, und kamen noch jeden Tag vor. Die Frau Reuter
war ihm außerdem von Herzen gut, das konnte ein Kind sehen, und der
Doktor -- als rechtschaffener Mann in der ganzen Stadt bekannt --
eine Parthie, wie sie sich dieselbe nicht besser wünschen konnte und
wahrscheinlich auch nicht besser haben wollte, und trotzdem machte ihr
der Doktor keinen Antrag und Jahr nach Jahr verging.

~Dr.~ Peters schien sich aber selber nicht behaglich in dieser
Lage zu fühlen; er gab allerdings den Besuch des Lindenbaums nicht
auf und besorgte nach wie vor die Geschäfte der Wittwe auf das
Pünktlichste, so daß er jetzt schon als regelmäßiger Buchhalter und
Korrespondent derselben angesehen werden konnte, aber in seiner
sonstigen Stellung zu ihr hatte sich nichts verändert, und nur sein
eigenes Aussehen war nicht mehr so gut wie früher.

Sonst der behäbigste Mann in ganz Pittsburg, wurde er jetzt, ohne
daß er es hätte an leiblicher Nahrung fehlen lassen, auffallend
magerer, und das Schlimmste von Allem war, daß ihn auch seine frühere
Jovialität -- eine eigene Fertigkeit, sich über sich selber lustig zu
machen -- verließ. Er fing an melancholisch zu werden, und da er als
Norddeutscher am allerliebsten plattdeutsch sprach, so paßte das gar
nicht zu seinem ganzen übrigen Wesen.

Etwas _lag_ ihm auf dem Herzen, und die übrigen Gäste, denen er anfing
langweilig zu werden, begannen schon gemeinsam zu berathen, wie sie ihm
seine alte fröhliche Laune zurückgeben könnten.



Zweites Kapitel.

Des Doktors Bekenntniß.


Die Seele der Gesellschaft war der Apotheker, ein noch ziemlich junger,
aber gewandter Deutscher, der es in wenig Jahren möglich gemacht,
hier ein ganz bedeutendes Geschäft zu etabliren. Er stak voller Witz
und Laune, und hatte dabei bis jetzt den Doktor Peters zum treuen
Verbündeten gehabt. Der aber schien ihm vollständig abhanden zu kommen,
und den mußte er wiedergewinnen, koste es was es wolle.

Lange schon hatte er auch versucht, den Doktor zu einem Geständniß zu
bringen. So sehr dieser aber das Herz sonst immer auf der Zunge trug,
in dieser Angelegenheit hielt er es verschlossen, und Ohlers brachte
trotz allen Anspielungen, ja selbst direkten Fragen nichts aus ihm
heraus. Da kam eines Morgens Peters zu ihm in die Apotheke, wo er
ausnahmsweise einmal ein Rezept verschreiben mußte, grüßte, trat an den
Pult, rezeptirte, nahm dann seinen Hut und wollte die Apotheke wieder
verlassen. -- Es war Zeit geworden, daß er nach dem Lindenbaum hinüber
ging.

„Hör einmal, Doktor,“ sagte der Ohlers, der ihn schweigend beobachtet
hatte, und einen anderen, als den bisherigen Weg mit ihm einzuschlagen
beschloß, „Du kannst mir einen Gefallen thun.“

„So? was ist es?“ sagte der Doktor ruhig.

„Du verstehst doch was vom Wein?“

„Nur ein Bischen -- willst Du Wein kaufen?“

„Ich habe da eine Probe von Ungarwein geschickt bekommen,“ sagte
Ohlers, „und möchte Deine Meinung darüber hören. Hast Du einen
Augenblick Zeit?“

Der Doktor sah nach der Uhr.

„Eine Viertelstunde vielleicht -- wo ist er?“

„Oh gleich bei der Hand -- Du Carl, bring doch einmal eine Flasche
von dem Rothwein herauf, den ich gestern bekommen habe -- kannst auch
gleich den Limburger Käse mitbringen, er steht vorn links im Keller --
Du riechst ihn schon.“

„Donnerwetter, Ohlers, hast Du Limburger Käse?“

„Und was für welchen,“ sagte der Apotheker -- „direkt von Deutschland
importirt -- ich sage Dir, er stinkt durch’s Blech durch.“

„Kannst Du nichts davon ablassen?“

„Für die Wittwe? -- hm, ich denke wohl; für mich allein ist’s doch zu
viel -- nun wir wollen einmal sehen, komm’ jetzt herein, Dein Rezept
wird indessen gemacht.“

Der Doktor folgte, und Ohlers führte ihn in sein kleines Privatzimmer,
das er sich sehr bequem und nett hergerichtet hatte. Ein Sopha stand
darin mit zwei Lehnstühlen, ein kleines Regal mit verschiedenen feinen
Liqueuren befand sich in der Ecke, und auf einem Seitentisch fehlte
auch nicht eine Kiste mit guten Cigarren, auf die Ohlers überhaupt
etwas hielt. Der Doktor kannte das Plätzchen auch gut genug, und hatte
in früheren Zeiten manche Stunde hier mit dem Apotheker verplaudert
-- aber jetzt schon lange nicht mehr, denn seine Morgenstunden waren
ausschließlich dem Lindenbaum gewidmet gewesen.

Trotzdem heimelte es ihn an, als er hinein trat, und wie er nun gar
behaglich in der Sophaecke lehnte, mit dem ächten Limburger und einem
Glas delikaten funkelndem Ungarwein vor sich, überkam ihn ein Gefühl
so wie Heimweh, und er wurde ganz wehmüthig gestimmt. -- Aber der Wein
brachte ihn wieder zu sich.

„Junge, Junge,“ rief er, als er ihn erst vorsichtig und dann schon
dreister gekostet hatte, „das ist ja ein ganz delikater Wein -- wo hast
Du den her?“

„Direkt von Pesth verschrieben, kostet auch ein schönes Geld, bis er
hierher kommt -- aber nicht wahr, der schmeckt?“

Der Doktor antwortete nicht -- er that einen langen Zug und schob das
Glas dem Freunde nur mit dem einen Worte wieder zu: „famos!“

Und jetzt der Limburger Käse -- der Doktor thaute auf, und war lange
nicht so heiter gewesen. Den Augenblick mußte der Apotheker benützen.
Wie sein Freund nur eben ein paar Gläser getrunken hatte und das Feuer
in den Adern spürte, sagte er treuherzig:

„Nun höre einmal Peters -- jetzt beträgst Du Dich wieder wie ein
anderer vernünftiger Mensch auch, _was_ aber hat Dir die ganze
Zeit über in den Knochen gesteckt, daß Du herum gegangen bist, als ob
Dir die Petersilie verhagelt wäre.“

„Ach mein Junge,“ stöhnte der Doktor, und machte seinem Herzen durch
einen schweren Seufzer Luft.

„Nanu?“ sagte Ohlers, „Du schneidst ja ein Gesicht wie ein Laubfrosch,
wenn’s blitzt.“

„Ach Ohlers,“ seufzte der Doktor wieder, „laß uns von was Anderem reden
-- ich möchte gern auch einmal vergnügt sein.“

„Ja, das ist ja gerade die Sache,“ rief Ohlers, „weil ich Dich gern
wieder vergnügt haben _möchte_, muß ich mit Dir reden, und Dir die
Geschichte wie einen Zahn herausholen. Dir liegt was auf dem Herzen!
herunter damit! wir sind jetzt allein, und daß ich es gut mit Dir
meine, weißt Du.“

Der Doktor antwortete nicht -- er trank und seufzte nur, aber Ohlers
ließ ihn still zufrieden. Er war „angebohrt“ und die Dosis mußte jetzt
erst arbeiten, ehe sie wirken konnte. Peters schien indessen nicht in
gesprächiger Laune, der Limburger Käse mit dem kräftigen Schwarzbrod
nahm seine Kinnladen außerdem in Anspruch. Ohlers mußte einen neuen
Anlauf nehmen und beschloß dieses Mal gleich mitten hinein zu springen.

„Warum heirathest Du nicht“, sagte er plötzlich, und der Doktor sah
ihn starr an, ja brachte das schon gehobene Glas Wein nicht einmal zum
Munde.

„Ja, Du heirathest ja auch nicht,“ sagte er endlich.

„Das ist was Anderes,“ rief Ohlers entschieden -- „ich bin
achtundzwanzig, Du bist achtunddreißig Jahre alt -- ich habe eine
bestimmte Beschäftigung -- Du hast keine --“

„Danke Dir, bin ich nicht Arzt?“

„Bah, so viel für Deine ganze Praxis,“ sagte Ohlers mit dem Kopfe
schüttelnd, „Du hast ja nicht einmal Freude daran.“

„Das weiß Gott,“ stöhnte der Doktor wieder.

„Na, dann sei auch vernünftig,“ nickte ihm Ohlers zu und schenkte ihm
sein Glas wieder voll, „und mache der Geschichte einmal ein Ende. Du
bist bis über die Ohren in die Wittwe Reuter verschossen; sie ist Dir
ebenfalls gut und wartet schon seit ein paar Jahren darauf, daß Du um
sie anhalten sollst, weßhalb also nicht zugreifen? Du gäbest einen
famosen Wirth und Ihr würdet Geld Hand über Hand verdienen.“

Wieder seufzte der Doktor, aber er trank doch diesmal wenigstens dazu,
und sah dann eine ganze Weile stier vor sich nieder, so daß Ohlers
endlich unruhig wurde.

„Hör einmal,“ sagte er nach einer Weile, „die Sache kommt mir bald
bedenklich vor, und ich fange an zu glauben, daß doch am Ende etwas an
dem Gerücht ist, von dem man in der Stadt hier munkelt.“

„An dem Gerücht? an welchem Gerücht?“ frug Peters.

„Daß Du nur deßhalb nicht um die Wittwe anhieltest, weil Du -- schon
verheirathet wärst.“

„Unsinn,“ brummte der Doktor, mit dem Kopf schüttelnd, „wer sagt denn
das?“

„Wer sagt es nicht,“ meinte Ohlers, „denn sonst könnte man sich keinen
Grund denken, der Dich abhielte, der Quälerei ein Ende zu machen. Wenn
Du aber in Deutschland drüben schon eine Frau sitzen hättest, wäre das
freilich was Anderes.“

„Ihr seid Alle mit einander nicht recht bei Trost,“ rief der Doktor,
sich ganz in Gedanken selber wieder einschenkend, während er dabei die
dichten Rauchwolken von sich blies, „ich verheirathet -- ich wollte
ich wär’s, dann führte ich nicht mehr so ein Hundeleben wie jetzt --
aber’s geht nicht -- es geht wahrhaftig nicht.“

„_Was_ geht nicht? Mensch, so rück endlich einmal heraus,“ drängte
aber jetzt Ohlers. „Dir liegt was auf dem Herzen, das ist gewiß, und je
eher Du’s herunter schüttelst, desto besser. Ist Dir dann zu helfen,
so --“

„Mir ist _nicht_ zu helfen,“ sagte der Doktor finster, „aber --
wenn ich’s Dir auch erzählen wollte -- Du lachtest mich einfach aus.“

„Ich lache Dich aus? Ist es denn so was Komisches?“ frug Ohlers
gespannt.

„Komisch? Nein,“ sagte der Doktor, „aber -- es ist etwas, was ihr nicht
Alle begreift, was auch ein Zweiter und Dritter eigentlich begreifen
_kann_, denn es steht mit jenem unbekannten Etwas in Verbindung,
das uns umgibt, und das wir trotzdem mit unseren groben Sinnen nicht im
Stande sind zu erfassen.“

„Ich verstehe kein Wort davon,“ sagte der Apotheker kopfschüttelnd.

„Na gut, Ohlers, Du sollst es wissen,“ nickte Peters endlich, zum
Aeußersten entschlossen, „aber thu’ mir die einzige Liebe und lach
nicht, denn die Sache ist wirklich nicht komisch, da sie mich elend
und unglücklich macht mein ganzes Leben lang -- glaubst Du an Ahnungen?“

„Ne,“ sagte Ohlers, entschieden mit dem Kopf schüttelnd, „nur an
Congestionen nach dem Kopf. Glaubst Du dran?“

„Ja, Ohlers,“ sagte der Doktor feierlich, „und -- ich habe alle Ursache
dazu. Mein Großvater war ein Sonntagskind und verkehrte mit jener Welt,
die uns anderen armen Sterblichen meist immer verschlossen bleibt. Du
weißt aber, daß in der Natur nur zu oft Eigenschaften vom Großvater auf
den Enkel theilweise übererben, und einen _kleinen_ Theil der ihm
verliehenen Gaben scheine auch ich von ihm bekommen zu haben.“

Ohlers wollte etwas erwiedern. Es lag ihm schon auf der Zunge, aber der
Doktor war einmal im Gang -- er durfte ihn jetzt nicht böse machen oder
auch nur stören, und trommelte nur, um doch irgend eine Beschäftigung
zu haben, mit den Fingern auf den Tisch.

„Nun siehst Du, Ohlers,“ fuhr Peters zutraulich fort, „so hat er
den schwächsten Theil seiner Kraft auch auf mich vererbt -- das
Ahnungsvermögen. -- Ich sehe nichts wirklich, wie er es gethan hat;
ich kann mit jenen überirdischen Wesen und Kräften nicht selber in
Verbindung treten, aber ich _ahne_ sie, und ohne daß ich selber
weiß, woher es kommt, erhalte ich oft Verkündigungen kommender Dinge,
die in mein eigenes Leben eingreifen, und mich entweder vor einem
Unglück warnen, oder mir auch im anderen Fall ein Glück erschließen.“

„Aber guter Peters.“

„Unterbrich mich nicht, Ohlers,“ sagte der Doktor, und leerte langsam
sein Glas -- „ich habe die _Beweise_ dafür. Ohne einen Cent
Geld kam ich nach Amerika, ein armer Teufel, wie sie sich hier zu
Tausenden herumtreiben; englisch verstand ich fast gar nicht und die
Deutschen wollten nicht krank werden, oder _wenn_ ich einmal einen
Patienten bekam, starb er mir unter den Händen weg. Es ging mir damals
hundeschlecht, und ich hatte oft das Salz nicht zum Brod und noch
weniger das Brod selber. Da wurden hier in der Nähe Kohlenbergwerke
entdeckt, und was verstand _ich_ von solchen Dingen, wie ich mich
überhaupt nie um die Geologie bekümmert habe. Da war es mir eines
Tages, als ob mir Jemand den Rock anzog, den Hut aufsetzte und den
Stock in die Hand drückte -- ich _mußte_ hinaus in die Berge, ich
mochte wollen oder nicht, und dort -- ging ich direkt zu dem Platz,
dem ich Alles verdanke, was ich auf der Welt habe. Ohne, wie gesagt,
die Spur davon zu verstehen, _wußte_ ich, hier liegen Kohlen, ein
reicher Grundbesitzer in der Nachbarschaft, der mir als _deutschem
Doktor Alles_ zutraute, ging darauf ein, das Land, das _ich_
ihm zeigen würde, gemeinschaftlich mit mir anzugreifen und das Geld zum
ersten Betrieb herzugeben und der Erfolg übertraf in der That unsere
kühnsten Erwartungen.“

„Aber was hat das Alles mit der Wittwe Reuter zu thun?“ rief der
ungeduldig werdende Apotheker.

„Es sollte Dir nur einen Beweis liefern,“ sagte Peters, „daß ich
_wußte_, wo die Kohlen lagen, oder daß mich vielmehr mein
Ahnungsvermögen dorthin trieb, und ebenso _weiß_ ich, was mir
bevorsteht, wenn ich -- der Wittwe Reuter meine Hand reiche.“

Ohlers schüttelte mit dem Kopf.

„Ich bin noch so dumm wie zuvor,“ sagte er, „mir klingt Alles vor
den Ohren herum -- Du weißt, was Dir bevorsteht, wenn Du die Wittwe
heirathest? Und ist denn das gar so was Entsetzliches?“

„In dem Augenblick,“ sagte Peters feierlich, „wo ich mit ihr vor dem
Friedensrichter stehe, trifft mich der Schlag!“

„Na nu setz mich mal an Land!“ rief Ohlers, mit der Hand auf den
Tisch schlagend, „und das ist die einzige Ursache, weßhalb Du sie
_nicht_ heirathest?“

„Weil ich damit mein eigenes Todesurtheil unterschreiben würde,“
versicherte ruhig der Doktor.

Ohlers war aufgesprungen und lief eine Weile in dem engen Raum auf
und ab. Er kannte ja auch den Doktor so genau, und wußte recht gut,
wie entsetzlich schwer es war, ihn von einer seiner fixen Ideen
abzubringen. Trotzdem versuchte er jetzt, den unglückseligen Gedanken
durch alle nur erdenklichen Vernunftgründe zu bannen, aber ganz
natürlich ohne den geringsten Erfolg. Der Doktor hörte ihn ruhig und
lächelnd an, erwiederte aber auf Alles, was ihm Ohlers einwerfen
konnte, mit der größten Unbeweglichkeit:

„Was hilft es, lieber Freund; es ist einmal Bestimmung, und wir können
nicht dagegen ankämpfen.“

„Und daß Du die arme Frau selber damit unglücklich machst, genirt Dich
auch nicht?“ rief Ohlers endlich, als letztes, verzweifeltes Mittel.

„Die arme Frau?“ frug der Doktor verwundert.

„Nun daß sie Dich liebt,“ fuhr aber Ohlers fort, „kann doch ein Blinder
sehen; die ganze Stadt weiß es außerdem, und Du bringst sie, oder hast
sie vielmehr schon in das Gerede der Leute gebracht, die natürlich nie
an ein anständiges Verhältniß, sondern immer nur gleich am liebsten
das Allerschlimmste glauben. Aber was kümmert das Dich; Du, mit Deiner
fixen Idee im Kopf, daß Dich der Schlag rühren würde, -- und der Kerl
ist in den letzten Jahren hager geworden wie eine Latte, -- besuchst
sie Tag nach Tag, sitzest Stunden, ja ganze Morgen lang allein bei ihr,
und machst die Sache nur noch immer schlimmer.“

„Du hast Recht,“ sagte der Doktor plötzlich, und jetzt ebenfalls von
seinem Sitz aufstehend, „das muß ein Ende nehmen. Ich -- sehe ein, ich
bin es der Frau schuldig -- sie kann es von mir verlangen.“

„Was denn?“ frug Ohlers neugierig, denn er glaubte jetzt wirklich, daß
sein letztes Argument über Peters Bedenklichkeiten gesiegt hätte.

„Laß mich nur machen,“ sagte aber der Doktor, seinen Hut nehmend, „Du
sollst mit mir zufrieden sein. Ich bin ein ehrlicher Mann, und will wie
ein ehrlicher Mann handeln.“

„Und wohin gehst Du jetzt?“

„Zur Wittwe Reuter,“ sagte der Doktor, drückte sich den Hut in die
Stirn und verließ die Apotheke.



Drittes Kapitel.

Ein Plan zur Rettung.


Ohlers hatte noch in seiner Apotheke zu thun, mußte dem Doktor auch
Zeit lassen, um seinen Entschluß auszuführen, war aber doch ganz
entsetzlich neugierig geworden zu hören, wie die Sache abgelaufen,
und konnte es kaum erwarten, bis er sich selber an Ort und Stelle
überzeugen durfte.

Gegen Mittag lief er dann auch nach dem Lindenbaum hinüber -- angeblich
um dort zu essen, in Wirklichkeit aber, um von der Wittwe zu hören, wie
Alles abgelaufen.

Peters war nicht da -- sein Serviettenring, mit der Serviette drin,
lag auf dem leeren Teller, und die Wittwe Reuter ließ sich ebensowenig
sehen. Er frug das aufwartende Mädchen: „Die Frau sei oben auf ihrem
Zimmer,“ lautete die Antwort -- „nicht recht wohl“, wie sie hinzusetzte.

Ohlers stutzte. Das war keinenfalls ein _gutes_ Zeichen, er selber
aber viel zu wenig blöde, um sich mit solch’ dürftiger Nachricht zu
begnügen. Er verzehrte sein Mittagbrod und trank sein Quart Bier dazu,
wie gewöhnlich, dann ließ er sich Kaffee geben und las die Zeitung, bis
die Gäste das Zimmer verlassen hatten, und sagte dann ohne Weiteres
dem Mädchen, sie möchte ihn bei „der Frau“ einmal melden: er habe ihr
etwas Wichtiges mitzutheilen.

Das Mädchen wollte erst nicht; sie behauptete, die Frau liege auf
dem Bett und könne jetzt Niemanden sprechen; Ohlers ließ sich aber
nicht abweisen, und verlangte, daß sie ihr wenigstens seinen Auftrag
ausrichte und hinzu setze: „es sei des Doktors wegen.“

Das half. Das Mädchen ging hinauf und kam nach kaum zehn Minuten mit
der Antwort zurück, Frau Reuter würde es angenehm sein, ihn zu sprechen.

Angenehm -- die arme Frau hatte, als Ohlers hinauf kam, dicke,
rothgeweinte Augen. Ohlers trieb übrigens nie „Gefühlspolitik“. Er war
-- so jung er sein mochte -- durchaus praktischer Natur, und ohne sich
deßhalb auch bei irgend welcher unnöthigen Sentimentalität aufzuhalten,
sagte er gleich, sowie er nun in’s Zimmer trat:

„Entschuldigen Sie, Frau Reuter, daß ich mit der brennenden Cigarre zu
Ihnen komme, aber ich wußte nicht, ob Sie Schwefelhölzchen oben hatten,
und möchte gern etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen. War der Doktor
da?“

„Ja, Herr Ohlers,“ sagte die Wittwe, die ihm winkte, einen Stuhl zu
nehmen.

„Dank Ihnen,“ bemerkte Ohlers, sich setzend; „und was hat er Ihnen
gesagt?“

„Herr Ohlers,“ rief die Wittwe.

„Bitte, geniren Sie sich nicht,“ erwiederte aber der Apotheker -- „ich
weiß doch Alles, und kann Ihnen sogar wahrscheinlich über Manches, was
_Sie nicht_ wissen, Auskunft geben.“

„_Sie_ könnten mir des Doktors räthselhaftes Betragen erklären?“
rief die Wittwe wirklich erstaunt.

„Alles,“ versicherte Ohlers ruhig, „wenn Sie mir nur vorher erzählen,
was er gesagt hat. Daß ich es gut mit Ihnen allen Beiden meine, davon
sind Sie doch hoffentlich überzeugt.“

„Ich glaub es, Herr Ohlers -- ich glaub es,“ seufzte die arme Frau,
„aber trotzdem _kann_ ich Ihnen nicht viel erzählen. Er kam vor
etwa anderthalb Stunden in einer sehr erregten Stimmung zu mir. Es
schien mir fast, als ob er Wein getrunken hätte, und --“

„Und? Frau Reuter.“

„Und hat mir eine Menge von Dingen vorgesprochen, die ich gar nicht
verstanden.“

„Das sieht ihm ähnlich -- aber das Ende vom Liede?“

„Das Ende vom Lied war, daß er mir sagte, wie er mir von Herzen gut
wäre, und wüßte, daß er Zeitlebens unglücklich bleiben müsse, aber --
er könne mich nicht heirathen -- das Schicksal wolle es nicht, und um
mir nicht zu schaden, werde er mein Haus nicht mehr betreten.“

„Puffbohnen,“ sagte Ohlers erstaunt -- ein Ausdruck, den er nur bei der
größten Ueberraschung gebrauchte, „er will den Lindenbaum nicht mehr
betreten? Unsinn, da müßte er verrückter sein, als wofür ich ihn bis
jetzt selber gehalten.“

„Das waren seine eigenen Worte, Herr Ohlers.“

„Er ist wirklich übergeschnappt.“

„Und können Sie mir in der That einen Grund seines wunderlichen
Benehmens nennen?“ frug die Frau, die von Herzen betrübt schien -- „ich
weiß es mir nicht zu erklären, denn böse ist er nicht auf mich -- er
war so gerührt, daß ihm die Thränen in den Augen standen.“

„Böse -- weßhalb sollte er böse sein,“ brummte Ohlers; „nein, setzen
Sie sich einmal dahin, Frau Reuter, und dann will ich Ihnen die ganze
Mordgeschichte erzählen. Nachher können wir berathen, was jetzt mit dem
Doktor anzufangen ist.“

Die Frau setzte sich in ängstlicher Spannung ihm gegenüber, und Ohlers
erzählte ihr jetzt Alles ausführlich, was er heute Morgen mit dem
Doktor verhandelt, und welchen Grund ihm dieser selber gegen seine
Verheirathung angegeben habe. Daß er einfach an einer fixen Idee leide,
blieb natürlich außer aller Frage; aber wie die jetzt heben, denn
wirkliche Irrthümer kann man durch Thatsachen widerlegen, eine bloße
Phantasie aber bietet nirgends einen festen Halt, bei dem man sie
fassen könnte, und weicht jedem Griff elastisch aus.

Ohlers zerbrach sich den Kopf herüber und hinüber, aber sie kamen zu
keinem Resultat, bis der kleine Apotheker endlich in die Höhe sprang
und ausrief:

„Das hilft uns jetzt nichts, Frau Reuter, so viel seh’ ich ein, _wir_
Beide werden mit der Geschichte nicht allein fertig, aber eine Frage
müssen Sie mir vorher beantworten, damit _ich_ wenigstens weiß, woran
ich bin, und nachher verlassen Sie sich auf mich.“

„Was für eine Frage, Herr Ohlers.“

„Wollen _Sie_ den Doktor heirathen?“

„Aber Herr Ohlers.“

„Thun Sie mir den einzigen Gefallen und zieren Sie sich nicht; dazu ist
jetzt gar keine Gelegenheit und Veranlassung.“

„Aber Herr Ohlers, man sagt doch so etwas nicht so gerade heraus.“

„Gut, dann sagen Sie’s drum herum,“ meinte der Apotheker, „aber wissen
muß ich’s, wenn ich Ihnen beistehen soll.“

„Und nachher machen Sie sich unten über mich lustig,“ sagte die Frau,
die über und über roth geworden war.

„Herr du meine Güte,“ rief Ohlers, und fuhr sich mit der Hand durch die
Haare, „ist so eine Wittwe langweilig. Hier steht Jemand, der Ihnen und
dem Doktor helfen will, denn _der_ muß vor der Hand unter Vormundschaft
gestellt werden. Wollen Sie also Frau Doktorin werden oder nicht?“

„Und Sie haben mich nicht zum Besten?“

„Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf.“

„Gut denn,“ sagte Frau Reuter entschlossen, „ich will Ihnen glauben und
bedaure selber, daß Herr Peters eine so traurige -- wie soll ich denn
gleich sagen --“

„Zurückhaltung?“ ergänzte Ohlers.

„Nein,“ erröthete die Wittwe -- „eine so traurige Idee gefaßt hat,
die ihm vielleicht sein ganzes Lebensglück vergiftet. Was ich dazu
beitragen kann, ihn zu heilen, will ich von Herzen gern thun.“

„Davon ist ja aber gar nicht die Rede,“ sagte Ohlers, „wollen Sie ihn
_heirathen_?“

„Sie sind ein schrecklicher Mensch, Herr Ohlers,“ seufzte die Wittwe --
„von Zartgefühl haben Sie keine Spur.“

„Also _nicht_?“ sagte Ohlers, und nahm seinen Hut.

„Ja denn, in des Himmels Namen, wenn Sie mir das Messer so auf die
Brust setzen. Aber wie wollen Sie ihn von der unglücklichen Idee
heilen?“

„Das weiß ich selber noch nicht,“ erwiederte Ohlers, „die Hauptsache
ist, daß wir auf Ihre Unterstützung rechnen können, aber das Geseufze
und Gestöhne hab ich satt, und wir wollen jetzt sehen, ob wir nicht
wieder einen fidelen Menschen aus diesem Peters machen können.“

       *       *       *       *       *

Ohlers entwickelte von dieser Zeit an eine ungemeine Geschäftigkeit,
und hatte verschiedene geheime Unterredungen, besonders mit dem
Advokaten Dulzig und dem Pastor Umbreit. Auch der Feuermann des
Ohio-Dampfers, der junge Degmar, war in diesen Tagen nach Pittsburg
gekommen. Er hatte sein Boot, auf dem er sich mit eisernem Fleiß ein
paar hundert Dollar gespart, verlassen, und rüstete sich jetzt zu
einem Jagdzug nach Missouri, wohnte und aß aber indessen, da seine
Vorbereitungen jedenfalls ein paar Wochen in Anspruch nahmen, und er
sich von seinen gehabten Strapazen und der schweren Arbeit doch auch
erst einmal ordentlich ausruhen wollte, in der Zeit im Lindenbaum, und
war von Ohlers bald in die ganzen Verhältnisse eingeweiht.

Erleichtert wurde ihnen die Sache allerdings dadurch, daß ~Dr.~
Peters in der That sein Wort hielt, und das Haus der Wittwe Reuter
nicht mehr betrat. Er war überhaupt ein ganz anderer Mensch geworden:
trübe, in sich gebrochen, ging er umher, keine Spur mehr von der
früheren Laune und dem oft sprudelnden Humor; er sah dabei bleich und
elend aus, und es war augenscheinlich, daß ihm ein geheimer Kummer am
Herzen nage.

Auch die Frau Reuter hatte jetzt oft verweinte Augen, wenn sie
ihrem Geschäft auch wacker, wie bisher, vorstand, und alle Versuche
des Pastor Umbreit, dem Doktor einmal zum Herzen zu reden, blieben
erfolglos. Er sprach sogar davon, daß er Pittsburg ganz verlassen
wolle, um sich in der Nähe seiner Kohlenminen anzusiedeln, da seine
Gegenwart dorten von Zeit zu Zeit nöthig sei -- aber es dachte Niemand
daran, ihn dort zu gebrauchen, und es war das nur eine Ausrede, um von
Pittsburg -- vom Lindenbaum fortzukommen. -- Ging er freilich, so war
die ganze Sache verdorben, und das mußte deßhalb unter jeder Bedingung
verhindert werden.

Die vier Verbündeten, die sich übrigens das Wort gegeben hatten,
keine Silbe des ganzen Verhältnisses gegen irgend Jemanden zu
äußern, um weder ihren Freund, den Doktor, noch die wackere Frau zu
compromittiren, hielten jetzt Konferenzen bei verschlossener Thüre, und
Degmar, ein junger tollköpfiger Bursche und zu Allem fähig, machte da
einen Vorschlag, über den selbst Ohlers stutzig wurde, und den Pastor
Umbreit -- sonst auch nicht der Letzte, wo es einen Scherz auszuführen
galt -- im ersten Augenblick auf das Entschiedenste verwarf.

Der Plan war allerdings kühn genug und bestand darin, den Doktor,
der sich ja nur vor dem Moment der Trauung fürchtete, weil er die
feste Idee hatte, der Schlag würde ihn in dem Augenblick rühren, zu
verheirathen, ohne daß er selber etwas davon erführe, während er gegen
das ~fait accompli~ nachher nicht das Geringste würde einzuwenden
haben.

Das ging auf keinen Fall; die Trauung war eine zu heilige Sache, um
damit irgend einen Scherz zu treiben, und außerdem nicht giltig, wenn
die Betheiligten nicht bei vollem Bewußtsein ihr Jawort deutlich
sprachen. Der Gedanke schon sei wahnsinnig, und sie brauchten keine
weitere Zeit damit zu verlieren.

Degmar gab aber nicht nach.

„Es ist ja gar nicht nöthig,“ rief er aus, „daß wir ihn wirklich
trauen; wir machen ihm nur weiß, daß er von einem Friedensrichter
zusammengegeben sei, und die Frau besteht dann darauf, daß der
Geistliche auch noch seinen Segen darüber sprechen müsse.“

„Dann müssen wir ihn erst verrückt machen, ehe er etwas Derartiges
glauben würde,“ sagte Ohlers.

„Verrückt nicht, nur betrunken,“ lachte Degmar; „ich wette meinen Hals
darauf, daß es ausführbar ist.“

„Thorheit,“ sagte Umbreit, „selbst die Frau Reuter würde dazu nie
ihre Zustimmung geben, wollten _wir_ selbst auf einen solchen
tollköpfigen Gedanken eingehen.“

Ohlers war nachdenkend geworden. Gerade das Tolle dieses Planes sagte
ihm zu, und er überlegte sich im Geist die mögliche Ausführung.
Dulzig, der Advokat, war übrigens auch vollständig dagegen, da er
keine Möglichkeit eines günstigen Erfolges sah, wie auch ebenfalls
an Frau Reuters Zustimmung zweifelte. Die Verhandlung wurde zuletzt
abgebrochen, und Umbreit erklärte, noch einmal einen Versuch zu machen,
durch Vernunftgründe auf den Doktor einzuwirken -- er hätte seine
Vernunftgründe ebensogut einem Tisch vorpredigen können.

Nach der Berathung nahm Ohlers, ohne ein Wort zu sagen, Degmars Arm und
führte ihn in das nämliche Hinterstübchen hinüber, wo er damals mit
dem Doktor gesessen hatte. Ungarwein und Limburger Käse wurden auch
heute wieder wie an jenem Tag herauf beschworen, und die beiden jungen
Leute waren dabei so in ihre Unterredung vertieft, daß sie sogar das
Mittagessen darüber versäumten -- aber sie kamen zu einem Entschluß,
da ihnen Niemand opponirte, und alle ihnen noch entgegen stehenden
Schwierigkeiten hofften sie mit leichter Mühe zu besiegen.

Allerdings wollte Degmar nicht den „Pastor“ dabei haben, der ihnen,
wie er fürchtete, noch einen Querstrich durch das Ganze machen könne.
Ohlers aber, der seine Leute besser kannte, behauptete, ohne den nicht
fertig werden zu können, und da er es selber übernahm, die Wittwe
sowohl als den Geistlichen für ihren Plan zu gewinnen, fügte sich
Degmar endlich auch in dieser Hinsicht.



Viertes Kapitel.

Das Abschieds-Souper.


Ohlers hatte sich übrigens, mit ein paar Gläsern Ungarwein im Kopf,
die Sache viel leichter gedacht, als sie sich wirklich herausstellte.
Wie er, noch an dem nämlichen Nachmittag, zur Frau Reuter hinüber
ging, fühlte er doch, daß er zu einer solchen Aufgabe bei vollkommen
klarem Verstande sein müsse, und verschob deßhalb den ersten Sturmlauf
auf den nächsten Vormittag -- aber selbst da wurde er abgeschlagen.
Die Frau hörte kaum, um was es sich handelte, als sie sich auf das
Entschiedenste weigerte, dazu ihre Hand zu bieten. Sie sei, wie sie
jetzt offen und ohne Scheu gestand, dem Doktor recht von Herzen gut und
würde sich glücklich fühlen, seine Frau zu werden, aber -- sie könne,
um das zu erreichen, nie zu einem solchen Mittel ihre Zuflucht nehmen,
das sie später ja, wenn er es einmal erfahre, in der Achtung ihres
Gatten herabsetzen, ja ihr seine Liebe ganz entziehen müsse.

Ohlers kratzte sich verlegen hinter den Ohren. Der Einwurf war so
vernünftig und ehrlich dabei, daß all’ seine Spitzfindigkeiten scheel
und nichtig dagegen erschienen, und nach einer Stunde vergeblichen
Redens mußte er es in Verzweiflung aufgeben, die Hauptperson selber
ihrem Plan zu gewinnen. Seine letzte Zuflucht blieb jetzt der Pastor,
aber mit kaum besserem Erfolg. Umbreit gestand ihm allerdings
zu, daß -- wie er sich Alles ausgedacht -- nichts Unrechtes oder
Unehrenhaftes an der Handlung sei, da es ja überhaupt nur galt,
einen unglückseligen Wahn zu besiegen, und beide betreffende Theile,
aller Wahrscheinlichkeit nach, durch das Gelingen der List glücklich
gemacht würden, aber er selber werde sich nie dazu verstehen, der
Wittwe zuzureden. Früge _sie_ ihn darum, gut, so werde er ihr das
Nämliche sagen, was er jetzt Ohlers gesagt habe -- aber weiter nichts
-- und dabei blieb es.

Degmar war außer sich und Ohlers hatte die größte Mühe, ihn von einem
tollen Streich abzuhalten, da er es sich einmal in den Kopf gesetzt
hatte, der Wittwe einen Mann zu verschaffen. Er wollte auch absolut zum
Doktor gehen und diesem die Wahl lassen, augenblicklich um die Hand
der Frau Reuter anzuhalten, oder sich mit ihm zu schießen, und konnte
nur mit der größten Mühe überzeugt werden, daß er dadurch, wenn er den
beabsichtigten Bräutigam todtschieße, unmöglich seinen Zweck erreichen
würde.

Der Doktor selber nahm aber ihre Aufmerksamkeit bald auf sehr ernste
Weise in Anspruch, denn er wurde schwer krank und verfiel in ein
nervöses hitziges Fieber, das ihn an den Rand des Grabes brachte.
Erbärmliche Pflege hatte er außerdem gehabt, denn er wohnte in einem
Privatlogis mit einer alten halbtauben Magd zur Aufwartung, die kaum
dazu gebracht werden konnte, sein Zimmer rein zu halten, und sich um
den Kranken wenig oder gar nicht bekümmerte.

Degmar wich in der Zeit fast nicht von des Doktors Seite. Er ließ sich
seine Matratze hinüber schaffen und saß ganze Nächte bei ihm auf, und
nur Ohlers und Dölzig, wie auch zu Zeiten Einer der übrigen Stammgäste
aus dem Lindenbaum wechselten mit ihm ab, daß er sich manchmal die
nöthigste und unentbehrlichste Ruhe gönnen konnte. Der Arzt, der ihn
behandelte, zweifelte auch eine lange Zeit an seinem Wiederaufkommen;
endlich aber siegte seine urkräftige Natur doch, und er erholte sich
langsam.

Ohlers hatte ebenfalls manche Nacht an seinem Bett gewacht, und
seinen tollen Phantasien gelauscht. Alles aber, was er in seinem
besinnungslosen Zustand sprach, bezog sich nur immer auf den Lindenbaum
und auf jenen bösen Feind, der seines Schicksals Fäden in der Hand
hielt und mit seiner Keule bereit stand, um ihn -- sowie er nur den Arm
nach dem erhofften Glück ausstreckte -- erbarmungslos damit zu Boden
zu schlagen. Der arme Teufel fühlte sich, all’ seinen Reden nach,
namenlos unglücklich, und oft in ruhigen Stunden liefen ihm die hellen
Thränen an den Backen nieder.

Die Frau Reuter verbrachte indessen eine kaum minder schwere Zeit. Wie
gern hätte sie ihn gepflegt, aber durfte sie es denn? hatte sie ein
Recht dazu? Hundertmal stand sie auf dem Sprung, zu ihm zu eilen, aber
eben so oft verwarf sie auch den Entschluß, und saß so eines Abends
auch wieder, still weinend, in ihrer Kammer, als Ohlers zu ihr in’s
Zimmer trat und ruhig sagte:

„Bitte, Frau Reuter, setzen Sie einmal Ihr Bonnet auf und kommen Sie
mit mir.“

„Mit Ihnen, Herr Ohlers? wohin?“

„Wohin, zum Doktor natürlich -- wollen Sie ihn nicht noch einmal sehen?“

„Oh du großer Gott, ist er denn wirklich so krank,“ rief die Frau, die
Hände faltend.

„Wenn er’s überlebt, ist’s ein Wunder,“ sagte Ohlers, „ich glaub’ aber
nicht, daß er’s noch bis morgen früh macht.“

„Aber was _kann_ ich thun?“ rief die arme Frau in Verzweiflung.

„Jetzt gar nichts mehr,“ sagte der Apotheker, „als ihm vielleicht noch
einmal die Hand drücken. Wären Sie _früher_ meinem Rath gefolgt,
hätten Sie sich und _ihm_ das erspart.“

„Ach mein guter Herr Ohlers --“

„Setzen Sie Ihr Bonnet auf und kommen Sie; es ist keine Schande,
daß Sie einen alten Freund, der so treu bei Ihnen die langen Jahre
ausgehalten, auf seinem Sterbebett besuchen.“

„Ich gehe mit Ihnen, Herr Ohlers -- ich gehe mit Ihnen,“ rief die
Wittwe, aufgelöst in Thränen, und ohne weiter eine Silbe zu äußern,
setzte sie ihr Bonnet auf, warf ihren Mantel um und schritt der Wohnung
des Doktors zu.

Sie fanden Peters wirklich noch sehr leidend, aber doch nicht mehr
besinnungslos, und als er die Frau erkannte, flog ein mattes Lächeln
über seine bleichen Züge. Reden konnte er nicht, aber er drückte ihr
still die Hand, und schloß dann die Augen, als ob er schlafen wolle.
-- Sie mußten ihn auch in Ruhe lassen und durften ihn besonders nicht
aufregen. Als Ohlers aber die Wittwe nach Hause zurückbegleitete,
erzählte er ihr, mit was sich des Kranken Phantasien die ganze Zeit
beschäftigt, wie er sich elend und verlassen fühle, und doch nicht die
alte Furcht vor einem eingebildeten Schreckbild bewältigen könne, bis
er sie endlich so weit hatte, daß sie weinte, als ob ihr das Herz
brechen müsse -- dann empfahl er sich und ging wieder nach Hause.

Und der Doktor erholte sich wirklich. Degmar hatte -- als das
Schlimmste mit ihm überstanden war -- Briefe aus New-York bekommen,
die seine Anwesenheit dort nöthig machten. Er hielt sich aber nicht
lange da auf, und als er zurückkehrte, fand er den Doktor wieder
auf und munter, und außer einer etwas bleichen Gesichtsfarbe wohl
aussehend. Aber er hatte den „Lindenbaum“ noch nicht wieder betreten
-- die Wittwe seit jenem Abende, an dem sie _ihn_ besuchte, nicht
wieder gesehen, und traf jetzt alles Ernstes seine Vorbereitungen,
nicht allein Pittsburg, sondern überhaupt Pennsylvanien zu verlassen.
Der Antheil an den Kohlenminen blieb ihm, und war in sicheren Händen,
so daß er keine Uebervortheilung zu fürchten brauchte, und er selber
hatte, wie er sagte, die Absicht, nach Arkansas überzusiedeln, und sich
dort eine kleine Farm zu kaufen.

Seine Abreise war auf Montag in acht Tagen festgestellt, und Degmar,
der jetzt wieder mehrere Konferenzen mit Ohlers hatte, zu denen zuletzt
auch Pastor Umbreit gezogen wurde, schien _seine_ Abreise nach
Missouri auf den nämlichen Tag verlegt zu haben.

Zu dem Zwecke hatte er sich auch mit dem Doktor Peters verabredet,
am Sonntag Abend vorher ihren gemeinschaftlichen Freunden einen
Abschiedsschmauß zu geben, und der Doktor war damit vollkommen
einverstanden. Es handelte sich nur noch darum: in welchem Lokal,
denn anfangs weigerte er sich entschieden, diesen „Lebensabschnitt“
im Lindenbaum zu feiern. Ohlers aber und Alle, die er darüber sprach,
erklärten ihm auf das Bestimmteste, daß er gar keinen andern Ort wählen
_könne_, als den, wo sie schon so viele vergnügte Abende mitsammen
verlebt, daß wenigstens Keiner von ihnen Allen einen andern besuchen
würde, da sie nicht Willens wären, die Frau Reuter bis auf’s Blut zu
kränken.

Degmar selber entschied sich ebenfalls für den Lindenbaum; er habe, wie
er meinte, noch kein anderes Wirthshaus hier in Pittsburg betreten, und
wolle damit nicht den letzten Abend anfangen; es sei auch schon alles
dort bestellt, und wolle der Doktor absolut keinen Theil daran nehmen
-- und er begreife nicht, was er gegen den Lindenbaum habe -- so möge
er es auch selber dort absagen.

Der Doktor sah sich überstimmt -- und ließ sich vielleicht gern
überstimmen -- zog es ihn doch selber noch einmal zum alten Platz, und
Abschied von der Frau Reuter hätte er ja überdies nehmen müssen. Er
konnte doch die Stadt nicht verlassen, ohne sie noch einmal gesehen zu
haben.

Dabei blieb es also. Sonntag Abend um sieben Uhr sollten sie dort
zusammen kommen -- Montag Mittag ging der Dayton, ein kleiner guter
Dampfer, den Strom hinab bis Cairo, an der Mündung des Ohio in den
Mississippi, und auf dem wollten dann Beide zusammen Passage nehmen.
In Cairo fanden sie nachher jeden Tag Gelegenheit, mit einem der
Mississippidampfer entweder nach St. Louis gen Norden oder nach
Arkansas gen Süden weiter zu fahren.

Der Sonntag kam, und in dem Hause der Frau Reuter herrschte eine ganz
ungewöhnliche Thätigkeit, denn nicht allein wurde hergerichtet, was
Speisekammer und Küche vermochten, sondern die Wirthin selber schien
außerordentlich erregt und kam den ganzen Tag nicht von den Füßen.

Erst hatte sie dabei mit dem Herrn Ohlers eine lange Zusammenkunft,
dann, nach der Kirche, mit dem Pastor Umbreit, der endlich auch einer
günstigeren Auffassung der Sache gewonnen schien. Hatte er doch den
Doktor selber ein paar Mal in seiner Krankheit besucht, auch einmal
eine Nacht bei ihm gewacht und sich dabei wohl überzeugen können,
wie schwer der unglückselige Wahn auf seinem Geist lag, und wie
unmöglich es sein würde, ihn auf gewöhnlichem Wege zu bannen. Er selber
weigerte sich allerdings auf das Entschiedenste, mit dem eigentlichen
Plan irgend etwas zu thun zu haben -- wenn auch nichts weniger als
bigott, durfte er das schon seiner Stellung wegen nicht, der Gemeinde
gegenüber, wie aber jetzt alles modificirt worden, hatte er wenigstens
nichts mehr dagegen einzuwenden, und glaubte selber, daß es zum Guten
ausschlagen könne, noch dazu, da ihm die Frau erklärte, sie sei dem
Doktor wirklich von Herzen gut, und wolle selbst der Gefahr trotzen,
ihren guten Ruf zu gefährden, nur um ihn wieder gesund und vielleicht
glücklich zu machen.

So rückte der Abend heran, und eine der Hinterstuben des Hauses war
für die heutige kleine Gesellschaft hergerichtet, damit sie nicht im
gewöhnlichen Gastzimmer durch zufällig eintreffende Fremde gestört
würden. Die Gesellschaft hatte es sich aber ausbedungen, daß Frau
Reuter heute Abend selber an ihrem Tische präsidiren müsse, die beiden
scheidenden Gäste saßen dann -- der Doktor an ihrer Rechten und Degmar
an ihrer Linken -- Ohlers hatte seinen Platz neben dem des Doktors
belegt, Pastor Umbreit saß der Wittwe gegenüber, am andern Ende der
Tafel.

Ohlers hatte die Zettel geschrieben und die Plätze geordnet. Er war mit
Degmar noch allein im Zimmer.

„Hören Sie einmal, Degmar,“ sagte er, als das Mädchen, das eben eine
Anzahl Gläser herein gestellt hatte, wieder hinaus gegangen war,
„wissen Sie wohl, daß ich jetzt verfluchtes Herzklopfen kriege? Es ist
doch eigentlich eine verwünschte Geschichte, und wenn es schief geht,
kann ich nur meine Apotheke verkaufen und auswandern, denn hier im
Lindenbaum dürft’ ich mich nicht wieder blicken lassen.“

„Ach was schief gehen,“ lachte Degmar -- „einen Hauptspaß giebt’s, und
das Einzige, was mir leid thut, ist, daß ich morgen früh nicht die
erste Scene mit erleben kann.“

„Ja,“ sagte Ohlers, „Sie haben gut lachen, Sie scheeren sich den Henker
darum. Wenn hier was passirt, schultern Sie Ihr altes Schießeisen und
verschwinden im Urwald, aber _wir_ sitzen in der Falle drin, und
nachher wär’ der Teufel zu bezahlen und kein Pech heiß.“

„Haben Sie Furcht?“ lachte Degmar.

„Furcht,“ sagte Ohlers verächtlich -- „was heißt Furcht? Wenn ich mich
fürchtete, käm’ ich heute dem Lindenbaum nicht zu nahe, und da liegt
mein Couvert. Das Einzige, wovor ich mich wirklich fürchte, ist, daß
ich mich blamire, und das wäre eine ganz nichtswürdige Pastete -- ich
würde hier in Pittsburg meines Lebens wahrhaftig nicht wieder froh.
-- Aber es kann jetzt nichts mehr helfen,“ setzte er mit einem Seufzer
hinzu -- „der Stein rollt, und wir müssen ihn eben laufen lassen.“

Der Stein rollte wirklich, denn in diesem Augenblick kam der Doktor
selber, etwas verlegen zwar, da er sich hier so lange nicht hatte
blicken lassen, aber doch vollkommen entschlossen, heute, am letzten
Abend, noch ein fröhliches Gesicht zu zeigen, und Niemanden merken
zu lassen, wie weh und unbehaglich ihm eigentlich zu Muthe sei. In
Wirklichkeit war ihm aber ebenso zu Sinne, wie dem „Peter in der
Fremde“ beim Auswandern, und er fürchtete sich selber vor einem
Kreuzweg; aber es half jetzt einmal nichts: er hatte seinen Entschluß
gegen alle seine Freunde ausgesprochen, die Vorkehrungen waren
getroffen worden, und nach dem heutigen Abschiedsessen hätte er doch
überdies nicht länger in Pittsburg bleiben können, ohne sich lächerlich
zu machen. -- Nur ein wenig rasch war es ihm selber vorgekommen --
etwas zu rasch. Ein paar Tage würde er vielleicht noch zugegeben haben,
aber der verwünschte Degmar trieb ja so und schien so entsetzliche Eile
zu haben, daß er sich selber verleiten ließ, ihm die Zusage seines
Mitgehens zu geben. Jetzt war es geschehen, an der Sache nichts mehr
zu ändern -- und es war auch vielleicht das Beste so, denn was hätte
längeres Zögern überhaupt noch genützt.

Am Peinlichsten war ihm das erste Begegnen mit der Frau Reuter, denn
er fürchtete, daß sie ihm Vorwürfe seines langen Ausbleibens wegen
machen werde -- aber nichts derartiges geschah. Sie war freundlich, ja
herzlich gegen ihn wie immer, und frug ihn nur nach seiner Gesundheit,
und ob er sich jetzt wohl und kräftig genug fühle, eine so weite Reise
anzutreten.

Bald kamen auch die übrigen Gäste hinzu, und Peters, der die ganzen
letzten Wochen ein wahres Einsiedlerleben geführt, schien etwas
aufzuthauen, als er sich in dem alten befreundeten Kreise befand, und
von Allen so herzlich begrüßt wurde. Aber Niemand von Allen spielte
auch nur auf die baldige und beabsichtigte Trennung an. Es war, als
ob sie nur einfach einmal hier, wie vor alten Zeiten, wieder zusammen
gekommen wären, und keinen weiteren Zweck hätten, als sich zu amüsiren
-- wer dachte da an Abschiednehmen oder sonst etwas Trauriges.

Und jetzt wurde die Mahlzeit aufgetragen, und die Köchin hatte sich
heute wirklich selber übertroffen, denn Alles, was Wald, Feld oder
Strom bot, und sonst käuflich in der Stadt gewesen war, prangte auf
der unter ihrer Last fast brechenden Tafel. Trotzdem blieb die
Unterhaltung im Anfang sehr einsilbig, denn alle die Hauptpersonen, die
sonst Leben und Bewegung in das Ganze gebracht, saßen heute still und
mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, und mußten ordentlich geweckt
werden, um nur eine an sie gerichtete Frage zu beantworten.

Der junge Degmar schien noch der Einzige, dem man eine innere
Aufregung nicht anmerken konnte, und er wußte auch Ohlers zuletzt so
aufzurütteln, daß er sich wenigstens gewaltsam zusammen nahm. War es
doch den anderen Tischgästen schon aufgefallen, denn daß der Abschied
des Doktors ihn nicht so niedergedrückt haben konnte, lag auf der Hand.

Der Doktor war der Stillste von Allen und augenscheinlich gerührt.
Seine Nachbarin hatte ihn nach dem Verlauf seiner letzten Krankheit,
nach seinen nächsten Plänen und Hoffnungen gefragt, und die Augen
wurden ihm feucht, wenn er daran dachte, wie er ja _all’_ seinen
Hoffnungen und Plänen entsagen müsse, nur des einen entsetzlichen
Schreckbildes wegen, das sich drohend zwischen ihn und sein Glück
stellte.

Jetzt endlich wurde aber Ohlers wieder warm. Er hatte das erste,
unbehagliche Gefühl abgeschüttelt, und nur einmal in Gang gebracht, und
er fühlte sich wieder er selber. Selbst den Doktor brachte er zuletzt
mit seinen Späßen und Erzählungen zum Lachen, und je mehr der Wein den
Gästen in die Köpfe stieg, desto lauter und lustiger wurden sie, und
fingen zuletzt an, sich vortrefflich zu amüsiren.

Der Doktor selber hatte anfangs keinen Wein trinken wollen. Dagegen
wurde aber augenblicklich Protest eingelegt, ja sein anwesender Arzt,
Doktor Becker, erklärte sogar, daß er jetzt tüchtig guten und starken
Wein trinken müsse, um wieder zu Kräften zu kommen und die letzten
Nachwehen seiner Krankheit los zu werden.

Und der Wein schmeckte ihm -- Ohlers trank ihm wacker zu, und sorgte
dafür, daß sein Glas nie leer wurde -- ein Toast nach dem andern wurde
ausgebracht, und das Unglaubliche geschah: der Doktor fühlte sich so
angeregt, daß er _sang_.

Jetzt hielt es aber Frau Reuter an der Zeit, sich zurückzuziehen;
sie stand geräuschlos auf und verließ das Zimmer; die Mädchen wurden
ebenfalls abgerufen und einem der Kellner oder ~barkeeper~ die
Bedienung der Herren überlassen, und nun begann das eigentliche Gelage,
das etwa bis um Mitternacht dauerte, und eine eigene Wirkung auf
~Dr.~ Peters auszuüben schien.

Anfangs war er ganz ausgelassen und lachte und erzählte und sang, Alles
durcheinander -- zuletzt fing ihm die Zunge an schwer zu werden.
Ohlers mischte ihm ein Glas Limonade, die er auf einen Zug leerte; aber
er wurde bald sehr schläfrig. Er setzte sich von der Tafel ab auf das
Sopha, und schlug noch eine Weile mit dem rechten Fuß den Takt zu dem
Gesang der Uebrigen -- dann lag er ganz still, und zuletzt war er tief
und fest eingeschlafen. Niemand bekümmerte sich auch die erste halbe
Stunde um ihn, sobald aber Ohlers sah, daß der Kellner beschäftigt war
neuen Weinvorrath herbeizuschaffen -- und er selber gab ihm dazu noch
verschiedene Aufträge -- winkte er Degmar und Dölzig, und die drei
faßten den Schlafenden auf -- allerdings kein leichtes Stück Arbeit,
und trugen ihn hinaus.

„Hallo, wo wollt Ihr mit dem Doktor hin?“ lachte Einer der Zechenden.

„Ihn zu Bett bringen -- er liegt hier schlecht,“ sagte Ohlers, „wir
sind gleich wieder da,“ und durch die Thür verschwanden sie mit dem
Bewußtlosen.



Fünftes Kapitel.

Der nächste Morgen.


Es konnte kaum sechs Uhr am nächsten Morgen sein, als Frau Reuter schon
angekleidet unten im Gastzimmer war, und darauf sah, daß Alles wieder
in Ordnung gebracht und gelüftet wurde. Auch Geschirr und Messer,
Gabeln und Löffel revidirte sie ob nichts fehlte oder verkramt war, und
ließ die Weinreste vom letzten Abend dann hinüber in ein besonderes
Zimmer stellen.

Noch war sie damit beschäftigt, als Ohlers hereintrat, und eine Tasse
Kaffee bestellte.

„Gehen Sie damit in’s Nebenstübchen, Herr Ohlers,“ sagte die Wittwe,
„hier ist’s noch zu ungemüthlich -- er soll Ihnen gleich gebracht
werden.“

Die Wittwe folgte ihm dorthin, und wie er das Zimmer betrat, frug der
Apotheker rasch und leise:

„Schläft er noch?“

„Fest und gut,“ lautete die Antwort, „aber ich sage Ihnen, Herr Ohlers,
_mir_ ist zu Muthe, als ob ich sterben sollte.“

„Unsinn,“ sagte der Apotheker. „Sie sollen jetzt erst anfangen zu leben
-- aber weiß Ihr Mädchen darum?“

„Natürlich; sie _mußte_ es wissen -- aber ich kann mich auf sie
verlassen.“

„Desto besser: die kann uns also gleich helfen.“

„Helfen? mit was?“

„Sollen es gleich erfahren. -- Aber da kommt der Kaffee -- gehen Sie
nur langsam voran; ich folge gleich nach.“

Ohlers ließ nicht lange auf sich warten; sobald er die Dienstleute
unten wieder beschäftigt sah, stieg er die Treppe hinauf und öffnete
leise die Thür des Zimmers, in welchem der Doktor lag.

Es war ein netter, freundlicher Raum -- der Wirthin eigenes
Schlafgemach, aber der Doktor war noch nicht erwacht. Er schnarchte
leise, und Ohlers winkte der Frau, ihn nicht zu stören. Dann ging
er in eines der nächsten Zimmer -- hatte er sich doch gestern schon
vortrefflich orientirt -- und bat das auf dem Gang schon wartende
Mädchen, das dort stehende Bett mit anzufassen und in das Schlafzimmer
des Doktors zu tragen.

„Aber ich bitte Sie um Gotteswillen,“ rief Frau Reuter.

„Bst,“ flüsterte Ohlers wieder mit seinem alten Uebermuth, „verderben
Sie uns nicht die ganze Geschichte -- es _muß_ sein, um die
Täuschung zu vollenden. Nur leise und vorsichtig, denn wenn er
aufwacht, ist Alles verdorben.“

Die Beiden trugen jetzt schnell und geräuschlos das Bett in die
andere Kammer -- aber der Doktor schlief noch fest; er athmete schwer
und schien zu träumen, denn er hob einmal den Arm empor, ließ ihn
aber wieder sinken, und Ohlers drückte sich rasch der Thüre zu.
Der Schläfer erwachte aber noch nicht, und einen flüchtigen Blick
im Zimmer umherwerfend ging der Apotheker noch einmal zu dem eben
herein geschafften Bett, preßte und schob Decken und Kopfkissen durch
einander, als ob Jemand die Nacht darin geschlafen hätte, und der Frau
Reuter dann zuwinkend verließ er auf den Zehen das Gemach.

„Und was jetzt?“ frug die Frau, die ihm dort hinaus gefolgt war.

„Jetzt setzen Sie sich ganz ruhig vor Ihre Toilette,“ sagte Ohlers,
„und warten bis er aufwacht. Lange kann’s nicht mehr dauern, denn er
wird schon unruhig -- das Uebrige wissen Sie. Ist er vollkommen munter,
so klingeln Sie nur, wir kommen dann herauf, um Sie zu unterstützen.“

„Oh, wenn _das_ gut abläuft,“ seufzte die Frau.

„Verlassen Sie sich nur ganz auf uns,“ lachte der Apotheker.
„_Jetzt_ bin ich in meinem Element, denn das Einzige, wovor ich
wirklich Angst hatte, war, daß ihm das gestrige -- das viele Trinken
schaden könne. Das ist nicht geschehen; er sieht wohl und munter und
schläft sanft -- alles Uebrige ist Nebensache.“

„Und Pastor Umbreit?“

„Kommt um zehn Uhr, machen Sie sich nur keine Sorge, beste Frau Reuter,
wir _Alle_ stehen Ihnen bei, und Sie haben nicht das Geringste für
sich zu fürchten.“

„Wenn es nur erst vorüber wäre -- oh hätte ich Ihnen doch nicht
gefolgt, mich nicht überreden lassen.“

„Fort auf Ihren Posten,“ rief aber Ohlers, sie der Thür zuschiebend.
„Sie verderben sonst Alles und haben sich dann die Folgen selber
zuzuschreiben.“ -- Damit glitt er die Treppe hinunter und die Frau ging
mit schwerem Herzen in das Schlafzimmer zurück, setzte sich dort auf
den Stuhl vor ihrem kleinen Toilettspiegel, und löste sich die Haare
auf, die sie dann kämmte und wieder zu flechten anfing. Erst wie sie so
weit war, warf sie eine kleine Porzellan-Pomadenbüchse auf den Boden
nieder, rückte ihren Stuhl etwas laut zur Seite, hob sie auf und fuhr
dann, ohne sich umzusehen, in ihrer Beschäftigung fort.

Und wie sanft schlief Peters indessen -- er rührte sich nicht, und nur
das tiefe, regelmäßige Athmen seiner Brust verrieth, daß er lebe.

Jetzt fiel die Pomadenbüchse auf die Erde, und er öffnete, wie
erschreckt, die Augen, schloß sie aber gleich wieder, noch halb im
Schlafe. -- Jetzt wurde der Stuhl gerückt, und nach einer Weile hörte
er, wie Jemand leise aber deutlich seufzte.

Doktor Peters war munter geworden, aber er hielt die Augen noch
geschlossen, und überlegte sich nur im Stillen, wer denn in seinem
Zimmer sein könne. Die Gedanken gingen ihm auch noch bunt und wirr
durch den Kopf, denn mit der Erinnerung an seine letzte Krankheit
und der damals genossenen Pflege verschwamm in diesem Moment der
letztverflossene Abend, dessen Folgen er noch in seinen matten Gliedern
fühlte. Er besann sich auch jetzt vergebens darauf, wie er nur
möglicher Weise gestern Abend nach Hause gekommen sein könne, und mußte
sich gestehen, daß er auch nicht die Spur mehr davon wußte. -- Er war
doch nicht etwa betrunken gewesen?

Wieder hörte er einen leisen Seufzer und öffnete jetzt entschlossen die
Augen, denn er mußte doch wissen, wer hier in seinem Zimmer zu seufzen
hatte. Wie er aber den Kopf drehte, sah er eine Frau vor einem ihm
fremden Spiegel sitzen und sich die Haare machen -- und das Zimmer --
wo, um des Himmels willen, war er denn eigentlich?

Wieder schloß er die Augen und fing an sich ernstlich zu besinnen.
Wohin konnte er denn nur gerathen sein? war er schon auf dem
Dampfboote, das ihn nach Arkansas bringen sollte? -- unmöglich, die
Damenkajüte blieb dort vollkommen abgeschlossen, aber -- er mußte
jedenfalls geträumt haben. Wo wäre er in Wirklichkeit jemals aufgewacht
und hätte eine Dame sich die Haare machen sehen.

Wieder der Seufzer. Ordentlich erschreckt fuhr er von seinem Lager
empor und sah sich um -- ein Bett mit Gardinen und diese halb
zurückgeschlagen? Da drüben die Frau, die ihm den Rücken zudrehte, und
ganz unbekümmert ihre Toilette machte -- dazu vollkommen fremde, bunte
Gardinen -- an der Wand an verschiedenen Haken Frauenkleider -- dem
Doktor schwindelte es ordentlich, denn plötzlich kam ihm der furchtbare
Gedanke, daß er _wahnsinnig_ geworden wäre, und jetzt eine Menge
von Dingen sähe, die gar nicht existirten, und möglicher Weise nicht
einmal existiren _konnten_.

Zugleich aber erwachte der Gedanke in ihm, daß dies möglicher Weise
eine _Vision_ sein könne -- ein Truggebild seiner Sinne, das
schwinden würde, sobald er ordentlich erwache -- oder wenn er wirklich
schon jetzt wach wäre, das doch einem ruhigen Ueberlegen weichen müsse,
und er beschloß deßhalb, die ihn umgebenden Bilder fest und genau
seinem Geist einzuprägen, damit er später wenigstens, wenn Alles wieder
verschwunden wäre, die Erinnerung daran bewahre.

Dort drüben waren zwei Fenster mit heruntergelassenen Gardinen, die
wohl das Sonnenlicht hereinließen, aber das Zimmer von außen jedem
neugierigen Blick abschlossen. Neben der Thüre stand ein Waschtisch
mit einem Handtuch daneben, an der Wand hingen zwei Bilder, das eine
ein Herr mit einem grünen Frack, der einen auffallend schmalen Kragen
hatte, während das weiße Jabot weit vorstand -- der Herr war auch
sonderbar spitz frisirt, und in der hochgehobenen Hand hielt er einen
Blumenstrauß. Die Dame, ein sehr hübsches jugendliches Gesicht, hatte
eine Haube mit Spitzen auf, trug aber auch sehr altmodische Kleidung,
wie man sie nur auf alten Familienbildern findet. Und das war noch
nicht Alles -- dort an der Wand stand noch ein anderes Bett, in dem
augenscheinlich Jemand die Nacht geschlafen hatte. Die Decken waren
noch Alle verschoben -- wunderbar. Rechts an der Wand stand eine
Kommode mit einer Anzahl vergoldeter Tassen und zwei großen hübschen
Vasen -- der Doktor rieb sich die Augen -- das waren genau zwei solche
Vasen, wie er sie einmal zum Geburtstag der Frau Reuter geschenkt
hatte -- und die Frau -- war denn das nicht die Frau Reuter selber?
-- Er konnte ihr Gesicht von dort, wo er lag, nicht sehen, nicht
einmal im Spiegel, vor dem sie saß, aber die ganze Gestalt paßte zu
ihr -- auch das volle, kastanienbraune Haar, das sie jetzt eben,
zusammengeflochten auf ihrem Kopf, mit genau einer solchen Nadel
befestigte, wie die Wirthin im Lindenbaum zu tragen pflegte.

„Merkwürdig,“ dachte der Doktor, fiel wieder zurück auf sein Kissen
und starrte in die über dem Bett zusammengesteckten Gardinen hinauf.
Wie der Blitz fuhr er aber auf’s Neue in die Höhe, denn noch einmal
hörte er den Seufzer, und zwar so klar und deutlich, daß eine Täuschung
seiner Sinne nicht mehr möglich schien.

„Oh du mein Gott,“ sagte er leise vor sich hin, aber die Töne waren zu
dem Ohr der Frau gedrungen, und sich rasch umwendend -- sie hatte ihre
Frisur gerade beendet -- sprang sie von ihrem Stuhl auf und rief:

„Dem Himmel sei Dank -- Du bist wieder erwacht, Eduard?“

Eduard? Du? -- Das war die Wittwe, wie er nur ihr Gesicht sah -- aber
die Anrede, der Ausruf? Er schloß wieder die Augen, denn er mußte
träumen.

„Ach Eduard, welche Angst haben wir um Dich ausgestanden,“ sagte da die
Stimme wieder, und der Doktor fuhr in die Höhe, als ob er einen Schuß
bekommen hätte. Er richtete sich auf seinen Ellenbogen auf, und sah
sich wild und verstört um.

„Ja, aber um Gottes willen,“ rief er -- „Frau Reuter! Wie kommen Sie
denn?“

„Oh Gott sei gepriesen! er kommt wieder zu Verstand,“ sagte die Frau
mit gefalteten Händen -- „er kennt mich,“ und rasch trat sie zu dem
Glockenzug und läutete daran.

Der Doktor schüttelte mit dem Kopf. „Er kommt wieder zu Verstand!“
hatte sie gesagt, sollte er denn den schon einmal verloren gehabt
haben? Unwahrscheinlich kam ihm das gar nicht vor, wenn er sich seine
jetzige Situation überlegte, und er würde sogar weit eher geglaubt
haben, daß er ihn noch gar nicht wiedergefunden. Aber jetzt wurden
Schritte draußen laut: es klopfte an, und ehe er selber nur einen
Entschluß fassen konnte, hatte die Frau schon die Thür geöffnet, und
Ohlers, Degmar und Dölzig traten in’s Zimmer.

„Hurrah!“ rief Ohlers aus, wie er nun den Doktor sah -- „wieder frisch
und gesund: hab’ ich denn nicht recht gehabt? Ich _wußte_, daß es
ihm nicht schaden würde, denn es war nur ein kalter Schlag.“

„Ein kalter Schlag?“ wiederholte der Doktor verdutzt, und sah nur noch,
wie die Frau Reuter hinter den Herren das Zimmer verließ.

„Vor allen Dingen, Peters,“ sagte aber Ohlers feierlich, „haben wir
Dir Abbitte zu thun, daß wir damals das, was Du eine _Ahnung_
nanntest, bespöttelten und mißachteten.“

„Abbitte? Ahnung?“ rief der Doktor, „wollt Ihr mich wirklich verrückt
machen, oder bin ich es schon?“

„Und solltest Du Dich wirklich nicht mehr auf die Vorgänge des
gestrigen Abends besinnen?“ sagte Ohlers.

„Bester Ohlers,“ warf Degmar dazwischen, „das war genau so mit meinem
Bruder, von dem ich Ihnen heute Morgen erzählt habe, und den ein ganz
ähnlicher Anfall traf. Er erlangte nach kurzer Zeit seine vollständige
Besinnung wieder, aber was unmittelbar dem Anfall vorausgegangen, die
letzten drei oder vier Stunden waren seinem Gedächtniß vollständig
entschlüpft, und keine Spur davon mehr in seiner Erinnerung
zurückgeblieben.“

„Einen Anfall?“ rief Peters.

„Nun gestern Abend,“ sagte Ohlers ruhig, „wie Du erklärt hattest, daß
Du nicht reisen würdest, und der Wittwe Reuter die Hand reichtest --
gerade wie Euch der Friedensrichter als Mann und Frau zusammengab --“

„Als Mann und Frau?“ schrie Peters, und fuhr mit beiden Beinen aus dem
Bett, ebenso rasch aber auch wieder, einen scheuen Blick im Zimmer
umher werfend, zurück und sah die Freunde erstaunt, ja ordentlich
verstört an. Plötzlich aber glitt ein Lächeln über seine gutmüthigen
Züge, und dem Apotheker verschmitzt mit dem Finger drohend, sagte er:

„Ohlers, Du Schwerenöther, Du willst Dir gewiß einen Jux mit mir
machen.“

Degmar konnte sich nicht mehr halten, er platzte gerade heraus, rief
aber dabei:

„Nein, das ist zu komisch, jetzt weiß der nicht einmal, daß er
verheirathet ist.“

„Hören Sie, Degmar,“ sagte Ohlers ernst, „da ist gar nicht viel
Komisches dabei, und wir wollen wahrhaftig keine Zeit versäumen. Bleib
nur noch im Bett liegen, Peters, deck Dich warm zu und warte einen
Augenblick, ich will gleich nach dem Doktor Becker schicken, denn der
Anfall könnte doch sonst am Ende ernstere Folgen haben.“

„Thun Sie das, Ohlers,“ sagte Dölzig, der den Doktor indessen ernst und
fast traurig betrachtet hatte, „Degmar und ich bleiben indessen bei
ihm.“

„Zum Doktor schicken? und weßhalb?“ rief aber Peters, indem er sich
nach seinen Kleidern umsah, „ich bin so wohl wie ich je gewesen, und
will aufstehen. Wenn Jemand zum Doktor gehen muß, kann ich’s selber
thun; übrigens, wenn Ihr mich nicht verrückt _machen_ wollt, so
erzählt mir jetzt ruhig, was vorgegangen ist, und überlaßt dann das
Andere mir. -- Sie Dölzig sind der Vernünftigste von den Beiden, was
ist mit mir seit gestern Abend geschehen, und wo bin ich hier?“

„Ich könnte Ihnen die letzte Frage gleich zuerst beantworten,“ sagte
Dölzig ruhig, „aber lassen Sie uns lieber von vorn beginnen, denn ich
fange jetzt an, selber zu glauben, daß jener merkwürdige Zufall Ihre
Erinnerung für den Augenblick gestört oder doch umflort hat.“

„Merkwürdiger Zufall? welcher?“ sagte Peters.

„Erinnern Sie sich nicht mehr, gestern Ihren Entschluß geändert zu
haben, nach Arkansas zu gehen?“

„Keine Silbe,“ rief Peters rasch.

„Auch nicht, daß Sie der Wittwe Reuter einen Heirathsantrag gemacht,
als wir, Ohlers, Degmar und ich, mit Ihnen im anderen Zimmer waren,
wohinein Sie uns selber riefen?“

„Ich?“ rief Peters erschreckt.

„Und daß wir dann meinen Nachbar, den Friedensrichter Buttler, holen
ließen, und der Sie zusammengab?“

„Mich und die Wittwe?“ schrie Peters wieder in äußerstem Erstaunen.

„Und daß, wie er die Worte gesprochen, und Sie der früheren Frau
Reuter, jetzigen Frau Doktor Peters die Hand reichten, ein plötzlicher
Blutandrang nach dem Kopfe, oder Gott weiß was sonst, Sie erfaßt haben
muß, denn Sie brachen zusammen, als ob Sie vom Blitz erschlagen gewesen
wären.“

Der Doktor sah den Redenden stier an.

„Bei Gott!“ rief er, „und -- ich glaube Sie haben Recht -- ich fange
wirklich an, mich zu besinnen.“ -- Im Geist hatte er sich nämlich
diesen immer gefürchteten Augenblick so oft herauf beschworen, und
in seine Träume hinein verwebt, daß ihn die Erzählung desselben als
_Wirklichkeit_ gar nicht mehr so sehr überraschte. -- „Merkwürdig!
merkwürdig! Oh meine Ahnung! Siehst Du, Ohlers, habe ich damals nicht
Recht gehabt -- und Du lachtest?“

Ohlers mußte jetzt mit aller Gewalt, deren er fähig war, zurückhalten,
daß er nicht in diesem Moment wirklich herausbrach, aber Dölzig kam ihm
zu Hülfe und fiel rasch ein:

„Sie können sich unseren Schrecken denken. Von den übrigen Gästen waren
noch einzelne da, die wir doch nichts wollten merken lassen, wir trugen
Sie deßhalb rasch in Frau Reuters Schlafzimmer“ -- der Doktor warf
still und hochaufathmend den Blick umher -- „und die Angst der armen
Frau kann ich Ihnen gar nicht beschreiben,“ fuhr Dölzig fort -- „aber
Gott sei Dank, daß jetzt Alles so gut vorübergegangen ist. Sie sind
wirklich mit einem blauen Auge davon gekommen, Peters.“

„Merkwürdig, merkwürdig“ sagte immer noch, leise vor sich hin mit dem
Kopf schüttelnd, der Doktor, „und so wäre ich eigentlich verheirathet,
ohne daß ich selber etwas davon wüßte.“

„Aber Sie sagten ja eben, daß Sie sich darauf besinnen.“

„Ja, aber nur dunkel, ganz dunkel, und wo ist die Frau Reu -- wo ist
meine Frau?“

„Draußen,“ sagte Ohlers, „und in Todesangst, daß der Anfall böse Folgen
für Dich haben könnte.“

„Gute Frau,“ murmelte der Doktor leise vor sich hin, „aber Kinder --
thut mir den Gefallen und geht auf einen Augenblick hinaus, daß ich
aufstehe und mich ankleiden kann, mir schwindelt der Kopf noch; ich
muß mich erst mit kaltem Wasser waschen, daß ich wieder ordentlich zur
Besinnung komme. Sowie ich fertig bin, ruf ich Euch.“

Die Verbündeten waren froh, jetzt fortzukommen, denn Degmar besonders
konnte sich kaum länger ernsthaft halten. Der Doktor aber stand auf,
wusch sich und zog sich an, und wollte dann eben an der Klingel ziehen,
als es wieder an die Thür klopfte.

„Herein.“

Es war Ohlers.

„Hör einmal, Peters,“ sagte der Apotheker, und legte dem Doktor seine
Hand auf die Schulter, „ich habe eben mit Deiner Frau gesprochen.“

„Mit _meiner_ Frau, Ohlers?“ flüsterte Peters, und ein leises
Lächeln flog über seine Züge, „ich kann Dir gar nicht sagen, wie
sonderbar das klingt.“

„Na natürlich ist Dir der Ehestand noch neu,“ meinte der Apotheker,
„aber -- Du kennst ja die Frauen. Mit der Civilehe ist es eine
recht schöne Sache, aber wenn sie den Pfaffen nicht doch noch dabei
haben, glauben sie, daß die Geschichte nicht ordentlich geleimt und
verkittet wäre. Außerdem mit dem Zufall gestern Abend -- wenn auch
Alles in Ordnung ist -- und so läßt sie Dich fragen, ob Du etwas
dagegen hättest, wenn wir heute Morgen -- nachdem Ihr doch nun vor dem
Friedensrichter gestanden und die Sache eigentlich abgemacht ist --
noch einmal die kirchliche Trauung vornähmen. Wir Alle wissen ja recht
gut, daß es nicht nöthig ist, aber lieber Gott, die Frau beruhigt’s.“

„Ich habe auch nichts dagegen, Ohlers,“ sagte Peters freundlich, „ja
ich will Dir aufrichtig gestehen, daß ich, während Ihr unten waret,
schon selber daran gedacht habe, und Frau -- und meine Frau darum
bitten wollte. Das Verhängniß ist gesühnt -- ich _wußte_, welcher
Gefahr ich ausgesetzt war, und glaubte nie, daß sie so leicht an mir
vorübergehen würde. Jetzt ist es geschehen, und es würde mir selber
zur Beruhigung gereichen, nicht blos die dunklen, unbestimmten Umrisse
meiner Trauung im Gedächtniß zu bewahren, sondern die feierliche
Handlung auch bei vollem Bewußtsein noch einmal durchzumachen.“

„Bravo,“ sagte Ohlers, vergnügt in die Hände schlagend. „Umbreit ist
schon unten, in einer halben Stunde kann Alles abgemacht sein, und
weißt Du, was Ihr dann thut? Dann setzt ihr Euch auf den Dampfer Dayton
und macht eine kleine Vergnügungstour nach Cincinnati oder St. Louis,
oder wo Ihr sonst hin wollt, wir werden indessen schon hier zu Rechtens
sehen, daß im Lindenbaum Alles seinen ruhigen Gang geht. Wie? hab’ ich
Recht?“

„Guter Ohlers,“ sagte Peters, der tief gerührt schien, „mach und ordne
Du Alles an, wie Du es willst, ich füge mich Dir ganz, denn ich weiß,
daß Du es gut mit mir meinst.“

„Noch einmal Bravo,“ sagte der Apotheker, dem Doktor die Hand reichend,
„und darauf kannst Du Dich verlassen, mein alter Junge, denn gerade
_weil_ wir es gut mit Dir meinen, haben wir Dir ja auch so zugeredet.
Jetzt überlaß nur Alles mir -- bleibe noch einen Augenblick hier oben,
aber komm mit in das andere Zimmer herüber, denn Deine Frau muß sich
auch ein wenig anziehen, und bis zum Frühstück soll Alles abgemacht
sein.“

Ohlers hatte nicht zu viel versprochen; er trieb nach allen Seiten,
und während die Frau ihre Toilette machte, richtete er in einem der
Gastzimmer einen kleinen Altar her, an dem die heilige Handlung ohne
Schwierigkeit und mit Anstand vollzogen werden konnte. Degmar besorgte
indessen Blumen und sonstige Ausschmückung, Dölzig ging nach Haus,
um seine Frau und Schwägerin, die eine zur Zeugin, die andere zur
Brautjungfer abzuholen, und um halb elf Uhr führte er den kleinen Zug
in feierlicher Prozession in das wirklich festlich hergerichtete Gemach
hinüber.

Pastor Umbreit war dabei ebenfalls ein durchaus praktischer Mann, der
sich nie lange bei der Vorrede aushielt. Die Trauungsrede, die er
hielt, dauerte nicht länger als jede Trauungsrede eigentlich dauern
_sollte_, etwa zehn Minuten, denn was ihnen der Geistliche sagen
könnte, wissen die Brautleute schon außerdem, und haben es sich selber
oft genug gesagt, und jetzt zum ersten Mal, nachdem sie die von Umbreit
selber mitgebrachten Ringe gewechselt und der Segen über sie gesprochen
worden, umfaßte Peters seine erröthende Frau, drückte einen langen
Kuß auf ihre Stirn und flüsterte ihr zu, daß er sich recht -- recht
glücklich fühle, und sein ganzes Leben daran wenden wolle, sie ebenso
glücklich zu machen, und ihr für ihre Liebe zu danken.

Nach der Trauung wurde ein gemeinschaftliches Frühstück eingenommen,
dann ging Peters nach Hause, packte einen kleinen Koffer und schickte
ihn auf den Dampfer Dayton. Vom Lindenbaum aus geschah ein Gleiches,
und um ein Uhr Mittags, während das Gerücht der Trauung Pittsburg in
Erstaunen setzte, und ehe noch irgend ein neugieriger Bekannter oder
Stammgast anfragen und die Neuverlobten stören konnte, fuhren sie,
nur von Degmar begleitet, den „schönen Strom“ hinab der „Königin des
Westens“, Cincinnati, zu.

Drei Wochen blieben sie auf Reisen, und als Peters endlich mit seiner
jungen Frau zurückkehrte, war er ein ganz anderer Mensch geworden. Er
sah wirklich um zehn Jahre jünger aus, und mit der Gesundheit schien
auch sein fröhlicher heiterer Sinn zurückgekehrt.

Von da an übernahm er die Wirthschaft, die sich bald zu einer der
bedeutendsten in ganz Pittsburg hob, denn in dem Geschäft befand er
sich wirklich in seinem Element. Auch seine abergläubischen Neigungen
-- wenn sie auch nicht schwächer wurden, nahmen doch nie wieder einen
seiner Ruhe gefährlichen Charakter an. Aber er erfuhr auch nie, wie
er damals von den Freunden überlistet worden -- schon seiner wackeren
Frau zu liebe beobachteten diese unverbrüchliches Stillschweigen. --
Jetzt sind Beide todt. Die „Frau Doktorin,“ wie sie immer in der Stadt
genannt wurde, starb vor etwa drei Jahren, und Peters überlebte sie
nur um etwa zehn Monate, nachdem er ihr Andenken oft und oft gesegnet.
Dadurch wurden auch die damaligen Verbündeten ihres Wortes entbunden,
sie haben aber nie die gebrauchte List zu bereuen gehabt. Denn eine
glücklichere Ehe als sie Peters mit seiner Frau die langen Jahre führte
-- hat es wohl kaum je gegeben.



Ruine Wildenfels.



Erstes Kapitel.

In Wellheim.


In Wellheim, einem kleinen, reizend gelegenen Städtchen am Rhein,
war heute die Lese beendet worden und so reichlich ausgefallen, daß
allgemeiner Jubel im Orte herrschte. Die Sonne hatte auch den ganzen
Sommer und Herbst tüchtig auf die vollen, prachtvoll gebräunten Trauben
niedergebrannt, und man durfte auf einen Wein rechnen, der sich den
besten Jahrgängen an die Seite stellen konnte. Was Wunder denn, daß man
mit dem „alten“ Stoff aufzuräumen suchte, und die ziemlich zahlreichen
Wirthshäuser in dieser Zeit von munteren Zechern gefüllt waren.

Wellheim lag unmittelbar am Ufer des herrlichen Stromes an einem
außerordentlich sonnigen und günstigen Hang, und dicht darüber, so
daß man es selbst bergauf bequem in einer halben Stunde erreichen
konnte, stand eine jener alten, prächtigen Ruinen -- früher die
Geißel, jetzt die Zierde des Landes -- und schaute mit ihren weiten
öden Fensterhöhlen träumend auf das zu ihren Füßen ausgebreitete
wunderschöne Thal hinab.

Schade freilich, daß das alte Schloß so gar verfallen und
vernachlässigt war! Da auch dichtes Gebüsch umherwucherte und die
alten, steinernen Treppen im Innern dem Einsturz drohten, so daß nur
manchmal leichtsinnige junge Touristen das Wagstück versuchten, auf
ihnen hinauf zu klettern und die Aussicht von da oben zu genießen,
wurde die Ruine nur in seltenen Fällen einmal flüchtig von Fremden
besucht. Die Bewohner von Wellheim kamen überdies nicht hinauf,
und so wusch denn auch mit den Jahren der Regen den steilen, nie
ausgebesserten Pfad, der zu der Ruine führte, so aus, daß es zuletzt
ein eben solches Kunststück wurde, ihn zu erklimmen, wie die schon
halbzerstörten Treppen im Innern des alten Schlosses zu besteigen.

Etwas hatte die Burg aber, wie so viele jener romantischen Stellen
am Rhein: ihren Privat-Geist nämlich, und mit den Jahren, da man
durchreisenden Engländern doch etwas erzählen mußte, bildete sich eine
ordentliche kleine Sage aus.

Dieser zufolge sollte Hugo von Wildenfels, der letzte Raubgraf, der
von hier aus in der „guten alten Zeit“ friedliche Bürger überfallen
und geplündert hatte, endlich zu einem wunderbar schönen Burgfräulein
am anderen Ufer des Rheins in Liebe entbrannt sein und beschlossen
haben, seinem ruchlosen Leben zu entsagen. Ob er aber diesen guten und
löblichen Vorsatz auch später gehalten haben würde, wenn er seinen
Zweck, die Hand der Jungfrau, erreicht, weiß man nicht, denn er war
jedenfalls zu spät gekommen. Kaiser und Reich nämlich, der ewigen
Klagen müde, sandten ein paar helle Haufen von Rittern und Knappen
gegen die Veste, in der sich Hugo von Wildenfels mit großer Tapferkeit
vertheidigte. Schließlich jedoch, ob durch List oder Gewalt, sagt die
Chronik nicht, drangen die Belagerer in die Burg und übten Vergeltung
für jahrelangen Frevel. Während man den „rothen Hahn“ auf’s Dach
derselben pflanzte, wurde der Raubritter gefesselt in seinen eigenen
Hof geführt und dort, beim Schein der auflodernden Flammen, enthauptet,
der Körper aber nachher nicht begraben, sondern in ein brunnenartiges
Burgverließ geworfen, in welchem der Lebende viele unglückliche Opfer
hatte verschmachten lassen.

Das war das Ende des tapferen Hugo von Wildenfels, das irdische
wenigstens, denn es scheint, als ob ihn seine guten Vorsätze nicht im
Grabe ruhen ließen. Zu gewissen Zeiten im Jahre sollte er wenigstens
gesehen sein, wie er auf der hinausstarrenden Zinne seines verödeten
Schlosses stand und den eigenen Kopf hoch in der Hand nach jener Burg
hinüberhielt, in welcher die Auserwählte seines Herzens gewohnt. Ob er
sich, indem er ihr den abgeschlagenen Kopf zeigte, damit entschuldigen
wollte, daß er sein Wort nicht eingelöst und sie heimgeholt -- und
allerdings konnte ein solcher Fall als genügender Entschuldigungsgrund
gelten -- ob er, einem höheren Willen folgend, als abschreckendes
Beispiel herumgehen mußte und deßhalb nicht die ewige Ruhe fand, man
weiß es nicht. Soviel aber ist sicher, daß es keine alte und vielleicht
auch wenige junge Frauen in Wellheim gab, die nicht fest daran geglaubt
hätten, daß der kopflose Hugo von Wildenfels noch heutigen Tags -- oder
vielmehr Nachts -- dann und wann erschien, und man hätte Manchen im Ort
finden können, der bereit gewesen wäre selber zu beschwören, daß er das
entsetzliche Gespenst mit eigenen Augen gesehen.

Uebrigens schien der Ritter seine alte, unheilvolle Thätigkeit jetzt
wirklich eingestellt zu haben, denn wenn er sich einmal wieder auf
seiner Zinne irgend einem Nachtwandler zeigte, so bedeutete das, wie
man sich im Volk erzählte, jedesmal ein gutes Weinjahr, und die Kunde
wurde darum immer mit Freuden begrüßt. Drehte sich doch die ganze
Existenz der Leute um den Wein.

So war er auch heuer, und sogar zwei Mal, von zwei verschiedenen Leuten
gesehen worden; und wie hatte er dabei seinen Ruf bewährt! Es gab gar
nicht genug Gefäße im Orte, um nur den süßen Most zu fassen, und der
alte Wein schlechterer Jahrgänge wurde um einen Spottpreis verkauft,
nur um das Faß zu frischem Gebrauch frei zu bekommen.

Es dämmerte, und im „Burgverließ“, einer kleinen, aber sehr stark
besuchten Weinschenke in Wellheim, hatte sich schon ein Theil der
Stammgäste eingefunden, um dort, wie sie sich ausdrückten, „ihren
Schoppen“ zu trinken. Das Wort „Schoppen“ ist freilich gefällig, denn
es enthält gleich im Singular seinen Plural, und daß es nicht bei
einem, auch wohl nicht bei drei und vieren blieb, ist sicher.

Trotz der wachsenden Beschäftigung in der Wirthsstube schien aber
Rosel, des Wirthes liebliches Töchterlein, doch einen Augenblick Zeit
gewonnen zu haben, auf den Hof hinaus zu eilen und ein paar Worte mit
einem jungen Mann zu wechseln, der dort jedenfalls auf sie gewartet
haben mußte. Sie fürchtete sich auch gar nicht vor ihm, sondern legte
ihr Köpfchen ganz vertrauensvoll an seine Brust und litt es, daß er ihr
wieder und immer wieder die Stirn küßte; aber es war ihr doch nicht
freudig dabei zu Muthe, denn große helle Thränen standen ihr in den
Augen und rollten dann schwer an den Wangen hinab auf ihr Mieder.

Endlich, während er ihr liebe und gute Worte zugeflüstert, wand sie
sich aus seinem Arme.

„Ich muß fort, Bruno,“ sagte sie, sich mit der Schürze die
verrätherischen Thränen abtrocknend, „Du weißt, der Vater will es nicht
leiden, daß ich mit Dir spreche, und das Zimmer ist auch voller Gäste,
so daß die Bärbel gar nicht mit ihnen fertig wird, und mehr kommen
noch. Ein ganzes Boot voll ist den Nachmittag den Rhein hinaufgefahren,
Alle wollten heut Abend bei uns einkehren.“

„Drei Tage hab’ ich Dich jetzt nicht gesehen, Rosel, und kaum drei
Minuten kannst Du mir schenken,“ klagte der junge Mann; „das ist recht
hart.“

„Aber Du weißt ja doch, daß es nicht von mir abhängt, Bruno,“ bat das
Mädchen, „mir thut’s ja selber weh genug, aber kann ich es ändern? Leb’
wohl, ich bleib’ Dir gut, das ist sicher und Du hast mein Wort; nun
hab’ Geduld, und vielleicht wird Alles noch besser, als wir denken.“

„Besser als wir denken,“ seufzte der junge Mann; „o, wenn ich Dich hier
fortnehmen, wenn ich Dich zu meiner Mutter bringen dürfte, daß Du nur
der Gesellschaft erst enthoben wärest!“

„Hab’ nur keine Sorge um mich, Bruno,“ lächelte das junge Mädchen wohl
freundlich, aber zugleich auch recht wehmüthig, „ich bin hier schon gut
genug aufgehoben. Schau’ nur, daß Du was schaffst und vor Dich bringst,
ich halt’ treulich aus.“

„Und Dein Bruder --“

„Er ist nicht so schlimm, wie Du denkst,“ sagte das Mädchen treuherzig,
„ein bischen roh wohl, lieber Gott, er hat sich lange in der Welt
umhergetrieben, und daß ich den Menschen nicht heirathen will, den er
mir zugedacht, mag ihm auch ein wenig in die Krone gestiegen sein, aber
sie kennen die Rosel -- er und der Vater -- und wissen, daß sie, wenn
sie ’mal was gesagt hat, nie im Leben davon abzubringen ist, mag’s nun
biegen oder brechen.“

„Sie werden Dir so lange zureden --“

„Hab’ keine Angst, da zu dem Ohr geht’s hinein und zu dem wieder
heraus; in’s Herz hinunter kommt nichts, verlaß Dich darauf. Aber jetzt
muß ich fort, Jesus Maria, der da drinnen reißt mir noch die Klingel
ab. Es sind gewiß mehr Leute gekommen. Leb’ wohl, Bruno --“

„Und wann seh’ ich Dich wieder?“

„Bist Du morgen Abend noch hier?“

„Ja, aber den ganzen Tag soll ich --“

„Sei morgen früh um neun Uhr auf dem Wege nach der Ruine, vielleicht
mach’ ich’s möglich, daß ich ein halb Stündchen abkomme. Die Leut’
haben jetzt Werkeltags viel zu thun und da giebt’s bei uns mehr Zeit.
So, schütz’ Dich Gott, Bruno,“ und ihm die Lippen zum Kuß hinhaltend,
wand sie sich rasch aus seinem Arm und verschwand im Haus. Aber sie
sollte nicht unbemerkt wieder in’s Schenkzimmer schlüpfen, denn ihr
Vater, der eben mit einem großen Krug voll Wein aus dem Keller trat,
stand im Flur und sagte finster:

„So? Hatt’ ich Dir’s nicht verboten, Dich mit dem adligen Hungerleider
wieder einzulassen? und bist Du jetzt nicht draußen auf dem Hof bei ihm
gewesen? Durch die Kellerluke hab’ ich Euch gesehen.“

„Was kann er dafür, daß er adlig ist, Vater!“ sagte das Mädchen; „wenn
wir das kleine Von vor unserm Namen trügen, wär’ ich auch unschuldig
daran.“

„Aber er hat nichts als seinen Dünkel im Kopf,“ brummte der Wirth, „und
seiner Sippschaft sind wir ebenfalls ein Dorn im Auge.“

„Wenn er stolz wäre, hielt er doch nicht um die Wirthstochter an,“
sagte das Mädchen.

„Soll mich wohl noch bei dem Schreiber bedanken, daß er sich hier in
ein warmes Nest zu setzen denkt?“ knurrte der Wirth, „und kurz und
gut, ich leid’s nicht, daß Du zu ihm hältst. Er ist nicht stolz, Gott
bewahre, und als ich ihm anbot, er sollte hier bei mir eintreten und
die Wirthschaft lernen, was antwortete er da? Das dürfe er seiner
Familie nicht zu Leide thun. Ei, zum Geier! sie haben das Brod kaum,
was sie essen, und die alte, hochnäsige Baronin schleppt das alte,
schwarze Seidenkleid schon so lange, daß man jeden Faden daran erkennen
kann; aber versteht sich, Seide muß es sein und Spitzen drum herum
und Blumen und Federn auf dem Hut. Kommt er mir noch einmal über die
Schwelle, Gott straf’ mich, wenn ich ihm nicht schneller hinaushelfe,
als er eingetreten ist.“

„Aber Vater --“

„Jetzt marsch, fort mit Dir, da drinnen sitzt die Stube voll Gäste und
Du treibst Dich indessen draußen im Hof mit dem Lump herum; mach’, daß
Du hineinkommst, und nimm den Krug mit -- es ist guter.“

Rosel zögerte einen Moment; das Blut hatte bei den letzten Worten
ihre Wangen verlassen und ein eigenes Feuer glühte aus den dunklen
Augen des Mädchens -- aber es war ja ihr Vater -- sie durfte sich ihm
nicht widersetzen. Nur mit einem schweren, recht aus voller Brust
herausgeholten Seufzer nahm sie den Krug auf und ging an ihre Arbeit,
während der Wirth, Paul Jochus, langsam und sich selber wenig genug um
die zahlreichen Gäste kümmernd, in seine eigene Stube hinaufstieg und
sich dort einschloß.

Paul Jochus hatte eigentlich eine recht lange Zeit keinen besonders
guten Ruf in Wellheim gehabt, und gesellig verkehren mochten selbst
jetzt noch nur Wenige mit ihm. Er war rauh in seinem Wesen und
verschlossen, mit der üblen Angewohnheit dabei, daß er, wenn er mit
Jemandem sprach, ihm nie in’s Auge, sondern immer bald auf die rechte,
bald auf die linke Schulter sah. Außerdem blieb es in der kleinen
Stadt, wo derartige Familienverhältnisse nicht geheim gehalten werden
können, eine bekannte Thatsache, daß er seine verstorbene Frau, ein
liebes, sanftes Wesen, stets roh und unfreundlich behandelt hatte,
so daß sie sich, auch noch von Nahrungssorgen gequält, langsam aber
sicher zu Tode grämte.

Es mußte damals in der That mit Paul Jochus’ Verhältnissen scharf
bergunter gegangen sein; er hatte gespielt und viel Geld verloren
und sich dann dermaßen dem Trunk ergeben, daß sämmtliche anständige
Gäste sein Haus mieden und schon das Gerücht in der Stadt ging, das
„Burgverließ“ würde nächstens von Gerichtswegen öffentlich versteigert
werden, nur um die aufgelaufenen Schulden zu bezahlen.

Sein Sohn erster Ehe, Franz, war inzwischen draußen in der Fremde
gewesen; er hatte sich mit der Stiefmutter nicht vertragen können, weil
ihm diese das nicht wollte hingehen lassen, was sie bei dem Gatten
nicht hindern konnte. Er war Künstler geworden, wie er sich nannte, als
er zurückkam, Kupferstecher und Lithograph, und beabsichtigte, sich
jetzt am Rhein niederzulassen.

Da starb die Mutter, und erst nach ihrem Tode mochte Paul Jochus
wohl fühlen, was er an ihr gehabt, was er an ihr gesündigt, denn er
ging eine Weile wie gebrochen umher und hatte dabei das Trinken fast
ganz aufgegeben. Er sah auch wieder fleißig nach seiner Wirthschaft,
und wenn auch noch immer nur sehr wenig Gäste bei ihm einsprachen,
schien es doch als ob sich seine Umstände von Tag zu Tag wieder
besserten. Vom Verkauf des Grundstücks war keine Rede mehr, ja sogar
die aufgelaufenen Schulden wurden nach und nach abbezahlt, und da Rosel
indeß herangewachsen war und dem Schenkzimmer selber vorstehen konnte,
zog sie durch ihr freundliches Wesen bald wieder eine Menge Gäste
in’s Haus, doch ohne sich je das Geringste gegen einen derselben zu
vergeben. Ueberhaupt hatte das junge Mädchen trotz ihres zarten Alters
etwas ungemein Bestimmtes in ihrem ganzen Wesen, und die Wellheimer
wußten, was sie sagten, wenn sie die Rosel „ein wahres Prachtmädel“
nannten.

Wo nur der Jochus das viele Geld herbekam? So viel warf die Wirthschaft
doch nicht ab, das konnten sie ihm recht gut nachrechnen, und in
den letzten zwei Jahren hatte er sich ein Stück Weinberg nach dem
andern gekauft. Einige sagten zwar, der Sohn habe Geld mit aus der
Fremde gebracht; Andere wollten behaupten, der alte Jochus hätte eine
Erbschaft gemacht -- wo es aber auch herkam, von Jochus selber erfuhren
sie es nicht, denn der war eher noch verschlossener als sonst, aber
jetzt auch, was sich nicht läugnen ließ, ein vollkommen anderer und
ordentlicher Mensch geworden. Wenn er mehr Geld hatte als früher,
verthat und verpraßte er es nicht, sondern legte es auf vernünftige
Weise an, und da er keiner Seele mehr etwas schuldete, brauchte sich
auch Niemand darum zu kümmern, woher ihm seine Mittel flossen.

Franz, sein Sohn, war kurze Zeit bei ihm im Haus gewesen, und es hieß
einmal, er wolle sich in Wellheim selber etabliren. Der kleine Ort
würde ihm jedoch kaum Beschäftigung genug geboten haben, und wenn er je
den Plan gefaßt, gab er ihn wieder auf. Er hatte sich auch gleich einen
Compagnon mitgebracht, einen jungen Herrn aus Berlin, der sich immer
fein kleidete, immer Glacéhandschuh trug und sich natürlich gleich nach
den ersten vierundzwanzig Stunden sterblich in Rosel verliebte, ja, ihr
sogar seine Hand anbot und von dem Bruder lebhaft dabei unterstützt
wurde. Rosel mochte ihn aber vom ersten Augenblick an nicht leiden,
denn er hatte etwas Freches und Spöttisches in seinem Wesen, und als
er sogar noch zudringlich wurde, fertigte sie ihn so entschieden, auf
nicht mißzuverstehende Weise ab, daß er seine Werbung nothgedrungen
einstellen mußte.

Franz hatte danach einen heftigen Auftritt mit Rosel, und da sich die
Geschwister überhaupt nicht recht vertragen konnten, siedelten die
beiden jungen Männer nach Hellenhof, einer größeren Stadt, über, die
etwa anderthalb Stunden von Wellheim entfernt, doch tiefer im Land,
vom Rhein ab lag. Dort, hieß es, wollten sie sich niederlassen, und
dort blieben sie auch, und nur sehr selten kam Franz noch manchmal nach
Wellheim zum Besuch herüber, wobei er dann nie verfehlte der Schwester
von seinem Compagnon vorzureden, wenn gleich immer vergeblich.

Der alte Jochus hatte sich indessen fast ganz von dem „Geschäft“
zurückgezogen, bei dem er fast nur noch den Einkauf des nöthigen Weines
und das Keltern des eigenen besorgte. Sonst freilich saß er manchmal
bis Mitternacht und noch länger bei den Gästen unten in der Stube,
trank mit ihnen oder spielte Karten. Jetzt aber, seit er ordentlich
geworden, zog er sich an jedem Abend auf seine Stube zurück und mußte
dann auch jedenfalls gleich zu Bette gehen, denn man hörte ihn nie
lange in seinem Zimmer.

Heute schien er sich noch früher loszumachen. Er war den ganzen Tag
mürrisch und verdrießlich gewesen und hatte Stunden lang auf einem
Stuhl in der Ecke gesessen und vor sich niedergestarrt. Es ging ihm
jedenfalls etwas im Kopf herum, einem Menschen aber vertraute er’s
nicht an, am wenigsten der Rosel, wenn er sie auch sonst lieb genug
hatte. Diese wußte auch schon, daß solche böse Stunden -- und jetzt
öfter als früher -- wohl manchmal über ihn kamen. Wenn man ihn aber
dann in Ruhe ließ, gingen sie auch wieder von selber vorüber, und am
nächsten Morgen geschah es dann nicht selten, daß er lustig im Haus
herumpfiff und ein ganz anderer Mensch geworden schien.

Der Rosel war es deshalb recht lieb, daß er sich heute so früh
abschloß. Der böse Geist, der in ihm stak, mußte eben austoben, nachher
sah er die Welt wieder mit freundlicheren Augen an, und morgen ließ
sich vielleicht auch ein vernünftiges und ruhiges Wort mit ihm über
Bruno reden. Vor zehn Uhr stand der Vater doch nie auf, kam wenigstens,
schon seit langen Monden, nie früher zum Vorschein, und um neun
Uhr hatte sie ja Bruno auf den Weg bestellt. Da wollte sie mit ihm
Rücksprache nehmen, und wenn möglich, einen Plan für ihr künftiges
Leben fassen. Jetzt aber schüttelte sie alle die Gedanken ab, denn da
drinnen gab’s wahrlich genug zu thun und Bärbel, das Schenkmädchen, und
Caspar, ein armer Verwandter, den Jochus als angehenden Kellner ins
Haus genommen, hatten alle Hände voll Arbeit.



Zweites Kapitel.

Beim Wein.


Das Burgverließ, wie das Haus nach der Weinstube im ganzen Städtchen
genannt wurde, war eines jener altmodischen geschnörkelten
Giebelhäuser, wie man sie noch so häufig am Rheine findet. Es hatte
kleine, enge, steinerne Treppen und oben ziemlich kleine Zimmer, einen
mächtigen Keller aber unter dem Haus, und das Parterre ebenfalls
gewölbt gebaut, mit einem großen Zimmer links vom Eingang, das als
Schenkstube benutzt wurde, und einem kleinen rechts, welches früher
das Wohnzimmer von Rosel’s Mutter gewesen und jetzt nur, in seltenen
Fällen, als „gute Stube“ dienen mußte. Rosel hatte ihr Schlafzimmer
oben, und die Dienstleute schliefen hinten hinaus.

Das Haus selber lag nicht unmittelbar am Rhein, sondern stieß vielmehr
durch seinen Garten an ein kleines Haseldickicht, das, seiner nicht
günstigen Lage wegen, noch nicht zu Weinbergen benutzt worden war und
in einer engen Schlucht oder Delle fortlaufend, sich weiter oben an
den eigentlichen Wald anschloß. In früheren Jahrhunderten hatte die
Stadtmauer diesen Platz umgeben, und wenn sie auch jetzt an allen
den Stellen, die sich vortheilhaft zum Bebauen zeigten, fortgeräumt
worden war und keine Spur mehr zurückgelassen hatte, so hatte man
sich hier doch nicht die Mühe gegeben, die alten schweren Steine aus
dem Wege zu schaffen. Die Mauer verwitterte allerdings mit der Zeit,
aber das Geröll blieb liegen, und nur im Herbst war es über Tag ein
Haupttummelplatz der Wellheimer Jugend, da dort eine Unmasse herrlicher
Brombeeren wuchsen und die Haselnüsse ebenfalls ihre Anziehungskraft
ausübten.

Doch Niemand kümmerte sich heute mehr um den kleinen Garten, den Rosel
selber pflegte und auch trefflich in Stand hielt. Es war völlig dunkel
geworden und wenn sich im heißen Sommer die Gäste auch manchmal ihren
Schoppen hinaus in die freundliche Weinlaube nahmen und dort bis zehn
oder elf Uhr im Freien saßen, so trat der Herbst doch schon zu kühl
auf, um das jetzt noch zu gestatten.

So mochte es zehn Uhr geworden sein, und manche der älteren Stammgäste,
die gewohnt waren zu rechter Zeit in’s Bett zu gehen, hatten das
Burgverließ verlassen und ihren Heimweg angetreten. Dagegen war
frischer Zuwachs gekommen und das Boot, von dem der alte Jochus schon
zu Rosel gesprochen, von seiner etwas verspäteten Fahrt den Rhein
herab zurückgekehrt. Das junge Volk hatte den Abend oben in irgend
einer alten Ruine verbracht und auch wohl tüchtig dabei gezecht, aber
versäumt, noch etwas für den Heimweg mit in’s Boot zu nehmen und
natürlich auf der zweistündigen Fahrt wieder tüchtig Durst bekommen.

Es war eine lustige Reisegesellschaft aus Thüringen, auf einer
Vergnügungsfahrt begriffen und mit eben gerade genug Geld in der
Tasche, um den alten Vater Rhein zu besuchen und einmal auf ein paar
Tage Arbeit und sonstige Scherereien zu vergessen. Sie sangen dabei
ganz prächtige Lieder mit vollen melodischen Stimmen, und Rosel, die
gar so gern singen hörte, setzte sich nicht weit von ihnen auf den
Stuhl an’s Fenster und überließ der Bärbel jetzt vollständig das
Bedienen der Gäste, deren Reihen sich freilich schon gedünnt hatten.
Eigentlich fand man sonst um diese späte Stunde wenig Leben mehr in den
Weinhäusern von Wellheim, aber gerade die jungen munteren Fremden mit
ihren hellen Stimmen und prächtigen Liedern hielten auch heute manchen
alten Knaben länger als gewöhnlich bei seinem Schoppen, und selbst als
die Lieder verstummt waren, plauderte man noch zusammen.

Die Fremden wollten den morgenden Tag noch hier verbringen und erst
gegen Abend stromab gehen; sie erkundigten sich deshalb, was es in der
Nachbarschaft Sehenswerthes gäbe.

„Ei,“ rief da der Bäckermeister Bollharz, eine kleine kugelrunde
Gestalt, der, wenn er lachte, gar keine Augen im Gesicht zu haben
schien, weil sie vollkommen hinter den fettgepolsterten Backen
verschwanden, „da müßt Ihr jedenfalls einmal unsere Ruine besuchen, die
ist es schon der Mühe werth, und junges lustiges Volk wie Ihr seid,
klettert auch wohl die alten Treppen hinauf, und von da oben hat man
eine ganz wundervolle Aussicht.“

„Seid Ihr schon einmal oben gewesen, Meister Bollharz,“ lächelte Rosel,
die sich die kleine unbeholfene Gestalt auf der schmalen, geländerlosen
Treppe dachte.

„Gewiß bin ich, Jungfer Naseweis,“ nickte der behäbige Mann, „und das
mehr als einmal, und noch dazu hinauf gelaufen wie ein Wiesel -- das
sind aber freilich so ein Jahrer dreißig her und jetzt, mit meiner
Wohlbeleibtheit würde es auch nicht mehr so leicht gehen, keineswegs
so geschwind. Steigt nur auf meine Verantwortung hinauf und stattet
dem alten Nest einen Besuch ab -- es liegt so jetzt öde und einsam
genug zwischen den Büschen, und der alte Wildenfels muß schmähliche
Langeweile haben.“

„Wer?“ frug einer der Fremden, „der alte Wildenfels? wohnt denn Jemand
oben?“

„Wohnen? Gott soll uns bewahren, wer möchte in dem alten Eulenneste
wohnen,“ sagte ein anderer der Gäste, der Stadtschreiber Mahler, indem
er über seine Brille hinweg nach dem Fremden sah. „Hugo von Wildenfels,
wie der letzte Bewohner jener Raubburg hieß, soll dort, der Volkssage
nach, noch hausen und manchmal, den abgeschlagenen Kopf in der Hand,
auf den Zinnen spazieren gehen.“

„Alle Wetter, das wäre interessant, dem zu begegnen!“ lachte einer der
jungen Leute.

„Soll nur da hausen, Herr Stadtschreiber?“ sagte ein kleines graues
Männchen, das etwas abseits von den übrigen an seinem Schoppen saß und
bis jetzt ununterbrochen Wallnüsse dazu geknackt hatte; „ich dächte wir
hätten hier in Wellheim doch genügend Beweise, daß er wirklich gesehen
ist, denn die Achtbarkeit der Zeugen läßt sich nicht bestreiten.“

„Mein lieber Herr Registrator,“ rief ein junger Beamter, „wer hat ihn
denn eigentlich gesehen? Ihr Vetter der Apotheker, und was das für ein
Windbeutel ist, wissen wir Alle zusammen.“

„So?“ sagte das alte, etwas engbrüstige Männchen etwas gereizt, „und
meine Schwägerin -- Gott hab’ sie selig -- hat wohl nicht vor jetzt
drei Jahren fast den Tod vor Schreck gehabt, als sie eines Abends mit
einer Gesellschaft von Hellenhof herüberkam und in ihrem Uebermuth noch
einen Abstecher nach der Burg machte? Sie hat nachher sechs Wochen das
Bett hüten müssen, so war ihr der Schreck in die Glieder gefahren.“

„Na,“ nahm da noch ein Anderer des Registrators Partie, ein
pensionirter Steuerbeamter, der hier in Wellheim seine kleine Pension
verzehrte, „ich dächte doch, wir hätten auch in diesem nämlichen Jahr
Beweise genug, denn zweimal hat er sich da gezeigt und jedes Kind weiß,
was für ein gutes Weinjahr das jedesmal verspricht. Der alte Gärtner
Weber, dem gewiß Niemand nachsagen kann, daß er lügt, hat ihn selber
das eine Mal gesehen, und das zweite Mal Ihr eigener Bruder, Rosel, der
doch auch sonst nicht gerade abergläubisch ist.“

„Und ich glaub’s doch nicht,“ sagte Rosel, die beide Ellbogen mit den
Händen haltend, lächelnd dem Gespräch zugehört hatte, „und wenn’s
selber mein Bruder gesehen haben wollte.“

„Junges, übermüthiges Blut,“ sagte der alte Registrator, „glaubt nur
immer das, was es selber sieht, und selbst das nicht immer, muß erst
durch Schaden klug werden, und wenn ältere Leute etwas sagen so wird
gewöhnlich darüber gelacht und gespottet.“

„Ach, bester Herr Registrator,“ erwiderte Rosel freundlich, „glauben
Sie ja nicht, daß ich spotten wollte; nur die Geschichte von dem
Ritter, der den Kopf unter dem Arme tragen soll, kommt mir so wunderbar
vor, denn wenn dort oben noch etwas von dem alten Herrn von Wildenfels
umgeht, so kann es doch nur der Geist desselben sein und nicht
der Körper, und ein Geist kann doch wohl nicht mit abgeschlagenem
Kopf umherwandern, denn wer wäre im Stande einem Schatten den Kopf
abzuhauen.“

„Du redest gerade wie Du’s versteh’st, Kind,“ sagte der Registrator,
ein alter Stammgast des Hauses, der auch bei der Rosel Pathe gestanden
und sie oft auf dem Arme herumgetragen hatte, weshalb er sie auch
noch immer Du nannte. „Der Schatten ist doch nur der Wiederschein des
Körpers, und wenn man einem solchen den Kopf herunterschlägt, so kann
ihn doch der Schatten nicht aufbehalten. Der Schatten wird natürlich
nicht enthauptet, aber der Körper, und dadurch zugleich der Schatten.“

„Mein liebes Fräulein,“ bemerkte jetzt der alte Steuerbeamte, der
‚Herr Hauptcontroleur‘ in der Stadt betitelt wurde, da sich ein Mensch
ohne Titel nicht gut denken ließ und nie im Leben hätte auf Pension
Anspruch machen können, „Sie werden gewiß nicht leugnen wollen, daß es
Dinge auf Erden giebt, die unser Verstand zu schwach ist zu begreifen,
und daß wir durchaus noch nicht mit unseren Seelenkräften im Klaren
sind, in wie weit wir mit einer anderen Welt in Verbindung treten
können. Auch soll man Gott nicht versuchen, liebes Fräulein,“ setzte
der Alte ernst hinzu, „und ein guter Christ hat an den Stätten, wo der
Herr irrende Seelen zur Strafe umwandeln läßt, in der dafür bestimmten
Nacht nichts zu suchen.“

„Lassen Sie’s sein, Herr Hauptcontroleur,“ lachte der Bäckermeister;
„die Rosel ging auch nicht bei Nacht zu dem alten Schlosse hinauf. Bei
solchen unheimlichen Geschichten ist uns Allen nicht geheuer, und es
überläuft Einem schon ein ganz merkwürdiges Gefühl, wenn man einmal
Nachts im Holze draußen nur einem ganz gewöhnlichen Menschen begegnet
-- viel weniger denn in einem solchen alten Raubschloß, wo früher so
viele Unschuldige hingerichtet wurden und so viel Blut vergossen ist,
einem derartigen Gespenst mit dem Kopf unter dem Arme. Ich bin auch
nicht abergläubischer als Andere, aber ich glaube, mich rührte der
Schlag vor Schreck, wenn mir einmal eine solche Gestalt in den Weg
liefe.“

„Bah,“ sagte Rosel, verächtlich lächelnd, „Ihr urtheilt von Euch auf
Andere, Meister Bollharz. Ich bin nur ein Mädchen, aber wenn es eine
Wette gälte -- ich ginge selber hinauf und bewiese Euch, daß Ihr
Unrecht habt.“

„Hoho, Rosel,“ lachte der Bäckermeister, „das hab’ ich noch gar nicht
gewußt, daß Sie auch prahlen können. Wenn ich Sie nun beim Worte nähme?“

„Ei, so thut’s!“ rief das junge Mädchen, während ihr in der Erregung
des Augenblicks das Blut voll in Gesicht und Schläfe stieg -- „was ich
gesagt habe, habe ich gesagt.“

„Und Du wolltest jetzt bei Nacht allein hinauf in die Ruine gehen?“
rief der Registrator erschreckt. „Kind, versündige Dich nicht, denn
schon ein solcher Gedanke ist gottlos.“

„Weil sie weiß, daß sie Niemand beim Worte nimmt,“ lachte der
Bäckermeister. „He, Bärbel, gieb mir noch einen Schoppen -- das ist
aber wahrhaftig der letzte --“

Die jungen Fremden lachten -- nicht über Rosel’s Anerbieten, sondern
über den kleinen dicken Mann, der schon seit einer Stunde immer
seinen ‚letzten‘ Schoppen bestellte, und doch nicht vom Fleck zu
bringen war; das junge Mädchen aber, überhaupt heute Abend durch das
Zusammentreffen mit Bruno und die harten Worte des Vaters gereizt, rief
aus:

„Und wenn _ich_ Euch nun beim Worte nähme, Meister Bollharz? Ihr
habt die zwei schönen großen Orangenbäume, die Ihr mir immer nicht
verkaufen wolltet. Sollen die mein sein, wenn ich jetzt -- in diesem
Augenblick nach der Ruine hinauf und hinein gehe und Euch auf irgend
eine Art ein Zeichen bringe, daß ich dort gewesen?“

„Mädel, bist Du des hellen Teufels?“ sagte der Registrator erschreckt.

„Bravo, mein Fräulein!“ riefen lachend die jungen Leute, die noch immer
nicht an den Ernst der Sache dachten und sich nur über das verdutzte
Gesicht des kleinen dicken Bäckers amüsirten -- „er hat die Lust am
Wetten schon verloren.“

„So, meine Herren?“ sprach der Bäcker, ebenfalls mit einer tüchtigen
Schoppenladung im Kopfe, von seinem Stuhle aufspringend und mit der
Hand auf den Tisch schlagend, „das hat er aber noch lange nicht. Die
beiden Orangenbäume sollen Ihnen gehören, Rosel, wenn Sie jetzt -- und
es muß bald Mitternacht sein -- dort hinauf gehen, und ich will mein
Lebstag ein Lügner heißen, wenn ich sie nicht selber herunter schicke.“

„Gut,“ rief das junge Mädchen, entschlossen sich von ihrem Platze
erhebend, „ich gehe, die Wette gilt.“

„Wenn Sie aber _nicht_ hinaufgehen und wieder unverrichteter Sache
herunter kommen?“ frug der kleine Bäcker, dem doch schon um seine
vielleicht zu leichtsinnig versprochenen Orangenbäume bange wurde.

„Dann bekommen Sie von mir jenen Kuß,“ sagte das junge Mädchen -- und
während sich ihr Antlitz blutroth färbte, spielte doch zugleich ein
spöttisches Lächeln um ihre Lippen -- „um den Sie mich schon so oft
gebeten haben.“

Ein schallendes Gelächter belohnte die Abfertigung des kleinen Mannes.

Meister Bollharz war aber jetzt auch böse geworden. „Gut, Sie kleiner
Trotzkopf, Sie,“ sagte er, „jetzt wollen wir doch einmal sehen, ob
_die_ Sache mit Prahlen abgemacht ist. Wenn Sie hinauf in die
Ruine gehen und hinein in den Burghof, wo der steinerne Tisch steht,
und dort von den Schößlingen, die daneben aus dem Boden gewachsen
sind, einen abschneiden und mit herunter bringen, daß ich mich morgen
früh überzeugen kann, Sie sind wirklich oben gewesen, so haben Sie
bis morgen Mittag die Orangenstöcke im Hause und ich thue Ihnen
öffentliche Abbitte, Ihren Muth angezweifelt zu haben.“

„Topp!“ rief das Mädchen, „es gilt!“ und wandte sich rasch der Thür
zu; der alte Registrator ergriff sie aber noch am Arm und rief halb
bittend, halb ermahnend:

„Rosel, mach’ keinen dummen Streich! Dein Vater ist jetzt nicht hier,
daß er’s Dir verbieten könnte, aber ich leid’s ebenfalls nicht, und
wenn Du auf Deinem Trotzkopf bestehst, geh’ ich hinauf und weck’ ihn.“

„Nein, Jungfer Rosel,“ rief der Hauptcontroleur, „lassen Sie um Gottes
willen den Muthwillen bei Seite. Wissen Sie nicht die Geschichte von
dem jungen Mädchen, das auch Muth genug hatte und bei ähnlichem Anlaß
auf den Kirchhof hinausgeschickt wurde, um eine Gabel in das Grab
eines an dem Tage beerdigten Selbstmörders zu stoßen? In der Aufregung
stieß sie aber die Gabel durch ihr eigenes langes Kleid in den
Erdhügel, und als sie fort wollte und sich gehalten fühlte, glaubte sie
wahrscheinlich es sei der Todte, und brach vor Schreck und Entsetzen
selbst todt an dem Grab zusammen. Man soll mit solchen Dingen keinen
Scherz treiben!“

„Ich treibe auch gar keinen Scherz, Herr Hauptcontroleur,“ sagte das
junge Mädchen freundlich, doch bestimmt, „ich will mir die beiden
Orangenstöcke verdienen, dem Meister Bollharz zur Strafe, weil er mir
nicht zutraut, was er selber keine Courage hat auszuführen. Wo ich
aber gehe und stehe, bin ich in Gottes Hand, oben in meiner Kammer,
oder in der alten, öden Ruine, und da ich nicht zu fürchten brauche
dort bösen Menschen zu begegnen, so habe ich auch wahrlich keine Angst
vor etwa umgehenden Geistern, mit oder ohne Kopf. Lassen Sie mich los,
Herr Registrator, ich weiß, Sie meinen es gut mit mir, allein es hilft
Ihnen nichts; wenn die Rosel einmal was gesagt hat, so führt sie’s
auch durch, und weder Sie noch der Vater könnten mich jetzt daran
mehr hindern. Ehe Sie den wach kriegten, wäre ich übrigens schon den
halben Weg oben auf dem Burgberg. Gott befohlen miteinander, in einer
Stunde bin ich wieder da!“ Und ehe sie wirklich Einer daran verhindern
konnte, oder überhaupt mit sich einig war, ob sie nicht blos Scherz
trieb, sprang sie hinüber in das ‚gute Zimmer‘, wo sie Capuze und
Umschlagetuch liegen hatte, nahm aus der Küche ein Messer mit und eilte
flüchtigen Laufes die Straße hinab.

Die jungen Fremden fingen jetzt ebenfalls an, sich für das bildhübsche
junge Mädchen zu interessiren, und ein paar von ihnen griffen schon
nach ihren Hüten und erklärten, daß sie ihr wenigstens von Weitem
folgen wollten, damit ihr nicht etwa irgend etwas zustoßen könne.
Bäcker Bollharz aber, den es besonders ärgerte, daß Rosel ihn so vor
der ganzen Gesellschaft mit dem angebotenen Kuß bloßgestellt, rief, mit
der Faust auf den Tisch schlagend, dann gelte die Wette nichts; aber
sie sollten sie nur laufen lassen, die käme von selber wieder, und zwar
ohne Zeichen, dann könne das hochnäsige Ding aber auch ihren Kuß für
sich selber behalten, wie er seine Orangenstöcke, die er schon seiner
Frau wegen nicht einmal hergeben dürfe.

Eine merkwürdige Umwandlung hatte das Verschwinden des jungen Mädchens
in der Gesellschaft hervorgebracht, eine eigenthümliche Spannung,
denn man wußte nicht recht, ob man darüber lachen, oder um das junge,
waghalsige Ding besorgt sein sollte. Der alte Registrator fühlte sich
am unbehaglichsten; es kam ihm fast so vor, als ob er dem Mädchen hätte
wehren sollen, einen so unweiblichen, ja fast leichtfertigen Schritt
zu thun. Wenn ihr nun doch etwas zustieß, wenn sie am Ende gar den Tod
hatte vor Schrecken, mußte er sich dann nicht die bittersten Vorwürfe
machen, daß er dabei gesessen und den Leichtsinn geduldet hatte?

Die jungen Fremden erkundigten sich indessen nach der eigentlichen
Sage der Ruine, die ihnen der Hauptcontroleur auch auf das Genaueste
und Umständlichste erzählte, und sie erklärten dann, daß sie morgen
früh noch vor Tag aufbrechen würden, um mit der Morgendämmerung selber
oben zu sein und zu sehen, ob das junge Mädchen ihr Wort gelöst habe.
Der alte steinerne Tisch im Burghof war nicht zu verfehlen, und dicht
daneben sollte sie ja, zum Zeichen, daß sie dort gewesen, einen der
aufwuchernden Schößlinge abschneiden oder abbrechen.

Bei der Sage der Ruine blieb es in dieser Stimmung aber nicht, denn es
dachte natürlich jetzt Niemand daran fortzugehen, bis Rosel von ihrer
nächtlichen Wanderung zurückgekehrt sei, und darüber mußte jedenfalls
eine Stunde verstreichen. Der natürliche Ideengang der Gäste lenkte
sich mittlerweile auf andere Sagen und Spukgeschichten, an denen
der Hauptcontroleur, der sich in früheren Jahren viel an den wilden
Grenzdistricten aufgehalten, besonders reich war. Hauptsächlich wurden
solche Geschichten dabei hervorgehoben, bei welchen der Muthwille des
Menschen keck die Geisterwelt herausgefordert und dann, versteht sich,
immer den Kürzeren gezogen habe. Da war das alte Haus an der Grenze, in
dem früher ein berüchtigter Schmuggler gelebt, der bei einem Streifzug
erschossen wurde und später in seiner eigenen Wohnung umging, daß es
Niemand mehr darin aushalten konnte. O ja, ein junger, leichtfertiger
Franzose erbot sich den Geist zu bannen, aber Morgens fand man ihn
bleich und todt mitten in der Stube liegen, ohne das geringste Zeichen
einer Verletzung an seinem ganzen Körper. Und dann der junge Bursch,
der Nachts unter den Rabenstein gegangen war, um auch, in Folge einer
tollen Wette, einem der am Tage Gehenkten den Stiefel abzuziehen.
Der kam auch nicht zurück, und wenn er auch nicht todt blieb oder
wahnsinnig wurde, hat er doch nie in seinem Leben wieder gelacht
und ist von da an selbst wie eine Leiche herumgegangen, bleich und
elend und sich verzehrend, bis er endlich, noch in der Blüthe seiner
Jahre, starb, aber Niemandem erzählen wollte, was er draußen an jener
furchtbaren Stätte gesehen.

Auch der alte Registrator wurde dadurch von seinen eigenen
unbehaglichen Gedanken ab- und diesem Thema zugelenkt und wußte eine
solche Menge haarsträubender Geschichten, daß die kecke Rosel auf ihrer
nächtlichen Wanderung fast schon vergessen war, und das Schenkmädchen,
die Bärbel, immer wieder frischen Wein herbeischaffen mußte, um die
ausgetrockneten Kehlen zu erquicken. Und wie flink bediente heute
das sonst etwas träge oder langsame Mädchen die Gäste, denn nicht um
die Welt hätte sie eine der da drinnen erzählten Schauergeschichten
versäumen mögen, wenn’s ihr auch manchmal wie mit einer Gänsehaut über
den ganzen Körper lief.

„Jesus, meine Güte!“ sagte plötzlich der Hauptcontroleur, dem es
indessen einmal eingefallen war, nach der Uhr zu sehen. „Es ist ja
schon Eins vorbei und das Mädel, die Rosel, noch nicht zurück. Die
hätte doch wahrlich keine Stunde gebraucht, um hin und her zu laufen;
wenn ihr nur nichts passirt ist!“

Der alte Registrator war erschreckt von seinem Stuhle aufgesprungen.
„Schon Eins vorbei,“ stöhnte er, „wahrhaftig, Ihr Leute, jetzt... jetzt
wird mir auch nicht wohl bei der Sache. Wir hätten die tolle Dirne
nicht sollen gehen lassen! Der Himmel verhüte, daß dem Kinde etwas
geschehen ist, ich würde mein Lebtag nicht wieder ruhig.“

„Wir wollen ihr nach,“ rief einer der jungen Burschen. „Ist vielleicht
eine Laterne im Haus, die wir mitnehmen könnten, wenn wir sie oben
brauchen sollten? Der Mond scheint auch schon unterzugehen und wir
finden sonst am Ende den Weg nicht.“

Die jungen Leute waren aufgesprungen und griffen schon nach ihren
Hüten, und in der That hatte sich die ganze späte Gesellschaft erhoben,
denn die Angst um das junge Mädchen verdrängte alle anderen Gedanken.
Da öffnete sich plötzlich die Thür, und Rosel selber stand auf der
Schwelle, ernst und still, mit leichenbleichen Zügen. In der Hand trug
sie einen kleinen grünen Busch, den sie neben dem Bäcker auf den Tisch
warf, und sagte ruhig:

„Da, Meister Bollharz, ist Euer Zweig; ich werde mir morgen oder heute,
denn es ist wohl schon spät geworden, die Orangenstöcke holen. Ihr
könnt nachsehen oben, gerad’ unter dem steinernen Tisch weg hab’ ich
ihn abgeschnitten.“

„Aber Rosel, um Gotteswillen, wie siehst Du aus, Kind? Wie eine Leiche!
Was ist Dir geschehen?“ rief der Registrator.

„Mir geschehen? was sollte mir geschehen sein!“ sagte das Mädchen, „nur
müd’ bin ich geworden von dem weiten Weg. Bärbel, sieh’ gut nach dem
Licht, wenn die Gäste fort sind, und schließ’ die Thür ordentlich; ich
will schlafen gehen.“

„Aber Rosel, so erzählen Sie doch,“ bat jetzt der Hauptcontroleur,
der sie mit ängstlichen Blicken betrachtet hatte, denn etwas
Uebernatürliches mußte ihr begegnet sein, das Entsetzen stand ihr ja
noch an der Stirne geschrieben.

„Morgen, morgen,“ sagte das junge Mädchen ruhig. „Heute ist’s schon
zu spät geworden und es wird Zeit, daß wir schlafen gehen. Gute Nacht
mitsammen,“ und eines der schon fast niedergebrannten Lichter vom Tisch
aufgreifend, verließ sie damit das Zimmer und stieg langsam in ihr
eigenes Kämmerchen hinauf.



Drittes Kapitel.

In der Ruine.


Wir müssen zu dem Augenblick zurückkehren, wo Rosel, noch mit Trotz
und keckem Muth im Herzen, aus dem Hause sprang, um ihren einsamen
Weg anzutreten. Still lachte sie vor sich hin, wenn sie sich schon
im Geiste das erstaunte und verblüffte Gesicht des Meister Bollharz
ausmalte, sobald sie ihm das Wahrzeichen brachte und er nun sein Wort
halten und ihr die ihm so an’s Herz gewachsenen wundervollen Stöcke
ausliefern mußte. Schenken wollte sie ihm dieselben wahrlich nicht, das
war die gerechte Strafe, für das große Maul, das er immer führte und
für seine ewige Wichtigthuerei.

Im Anfang hatte sie auch leichten, bequemen Weg. Die breite Chaussee,
die nach Hellenhof führte, lief dicht unter dem Hügel hin, auf welchem
die Ruine lag, und erst von dort ab, wo sie jene verlassen mußte,
begann für sie die unbequeme Bahn, den ausgewaschenen, verwachsenen
Pfad hinan, vor dem sich mancher Fußgänger schon am hellen Tage scheute.

Der abnehmende Mond stand freilich noch am Himmel, aber leichtes
Gewölk jagte dann und wann darüber hin und warf seine wunderlichen
Schatten auf die Erde nieder. Furcht kannte sie trotzdem nicht, und
ebensowenig glaubte sie an die tollen Märchen des alten, gutmüthigen
Registrators und des verschrobenen Hauptcontroleurs und gar nun des
Stadtschreibers, der so voll von Aberglauben stak, daß er nichts im
Leben that, ohne vorher den Kalender dabei um Rath zu fragen. Seine
Nägel schnitt er sich nur am Freitag und würde ebenso leicht daran
gedacht haben, sich den Hals ab-, als die Hühneraugen bei abnehmendem
Monde auszuschneiden. „Unberufen“ war bei ihm das dritte Wort, und
wenn er Morgens auf’s Rathhaus ging und ihm unglücklicher Weise ein
Bauer mit einem Schwein begegnete, so bog er auch sicher in die nächste
Straße ein oder kehrte, wenn das nicht möglich war, lieber wieder um,
selbst beim schlechtesten Wetter den weitesten Umweg nicht scheuend,
ehe er sich der Gefahr und den unausbleiblichen Folgen eines solchen
Zusammentreffens ausgesetzt hätte.

Sie lachte still vor sich hin, als sie an all’ die tausend Rücksichten
dachte, die der alte Stadtschreiber im Leben nahm, und wie er sich wohl
betragen würde, wenn er jetzt, um ziemlich Mitternacht, den einsamen
Weg zu der Ruine einschlagen sollte. Er wäre freilich wohl durch keine
Summe Geldes zu bewegen gewesen, ein derartiges Wagstück zu unternehmen.

Wie stille und öde die Straße war, und was für große dunkle
Schattenflecke die daranstehenden Wallnußbäume darüber warfen! Keine
Menschenseele ließ sich blicken; die schliefen jetzt Alle in ihren
warmen Betten und verschlossenen Häusern und -- da hätte sie auch
hineingehört. Was für eine tolle Idee es von ihr gewesen war, mitten
in der Nacht den einsamen Gang zu thun, und nur aus Muthwillen, oder
vielleicht aus Trotz, um den Meister Bollharz zu ärgern! Und was der
Vater wohl morgen dazu sagen werde, wenn er es erfahre, und natürlich
erfuhr er’s, war doch morgen gewiß die ganze Stadt voll davon. Rosel
erschrak ordentlich bei dem Gedanken, denn das war ihr bis jetzt noch
nicht eingefallen, daß sie nun Tage lang in aller Welt Mund sein
würde. Unwillkührlich blieb sie mitten auf der Straße stehen; durfte
sie sich, als junges, unbescholtenes Mädchen dem aussetzen? Wenn sie
früher daran gedacht, hätte sie es sicher nicht gethan, jetzt war es
freilich zu spät, denn kehrte sie nun wieder um, so wurde sie von der
ganzen Gesellschaft ausgelacht, und das Gerede wäre doch das nämliche
geblieben.

„Nun läßt sich nichts daran ändern,“ sagte sie trotzig vor sich hin,
als sie wieder, aber langsamer als früher, vorwärts schritt. „Ich hätte
mir’s vorher erst ordentlich überlegen sollen, aber das Alles kam so
schnell. Wer denkt auch gleich daran, daß die Welt in Jedem ’was Böses
findet, ich wahrlich nicht, und der Vater wird schon auch nicht so arg
böse sein; mag er doch den Meister Bollharz ebenfalls nicht leiden,
und auf den war’s ja doch gemünzt. Und die Frau Bollharz, wie wird die
wüthend werden, wenn sie die Orangenstöcke herausgeben muß! Von der
kriegt’s der Meister ordentlich, das ist sicher, geschieht ihm aber
recht, dem alten verliebten Fleischklumpen dem.“

Da lag die Ruine. Wie sie eben um eine Biegung der Straße trat, konnte
sie die alten Mauerreste deutlich erkennen, und ordentlich wunderlich
sah es aus, wie der Mond jetzt gerade von der einen stehengebliebenen
Thurmmauer verdeckt wurde und sein helles Licht durch die enge
Schießscharte derselben warf.

„Ich muß wirklich ein wenig rascher gehen,“ flüsterte sie vor sich hin,
während sie ihren Schritt beschleunigte, „oder der Mond kommt hinter
die Berge, und dann reiß ich mir im Dunkeln auf dem Rückwege mein
ganzes Kleid in den häßlichen Büschen entzwei. Daß der Mond auch gerade
heute so früh untergeht!“

Sie hatte jetzt die Stelle erreicht, wo der alte Burgweg von der Straße
rechts abbog und sich, von hier aus noch allmählich, dann aber immer
steiler den Hügel hinanzog, bis endlich oben, dicht unter den frühern
Ringmauern, eine ordentliche Treppe in den Felsen gehauen war, die mit
zwanzig oder fünfundzwanzig Stufen auf die höchste Kuppe hinaufführte.

Der Hügel selber war meist mit Haselnußstauden, Birken und jungen
Buchen bewachsen; Nadelholz stand nur vereinzelt dazwischen, und in
früheren Jahren hätte man recht bequem bis zu den eingehauenen Stufen
selbst reiten können. Jetzt aber war der Weg, wie schon erwähnt, lange
vernachlässigt und seit ihn einmal ein Wolkenbruch fast zerstört, nicht
wieder ausgebessert worden, so daß die Romantik der alten Zeit (wenn
man sich wirklich zu ihr hinauf arbeiten wollte) schon hier unten am
Hügel begann und sich steigerte, je höher man daran emporklomm. Rosel
kannte ihn aber trotzdem, denn oft schon hatte sie, besonders mit ihrer
seligen Mutter, den Weg gemacht; der armen Frau war damals wohl recht
weh um’s Herz gewesen, an dem so vieler Gram und so viele Sorge nagten,
und Stunden lang hatte sie dann oben auf dem Hügel gesessen und auf das
freundliche Bild zu ihren Füßen hinausgeschaut, ohne selbst freundlich
davon berührt zu werden. Nur still vor sich hin geweint hatte sie dort,
und Rosel, den Kopf an ihre Schulter gelehnt, neben ihr gesessen und
ihren Arm um sie geschlungen.

Der Gedanke an die verlorene Mutter füllte jetzt allein ihre Brust.
Sie achtete kaum auf die Beschwerden des Wegs, und immer wieder dachte
sie der lieben Dulderin, die so gut, so unendlich gut mit ihr gewesen
und die sie doch so früh hatte in ihr Grab legen müssen. Und wie war
Alles seitdem anders in ihrem Haus geworden; besser wohl als früher,
denn Noth und Sorge kannte sie nicht mehr, auch trank der Vater nicht
mehr, was der armen Mutter so manche bittere Thräne gekostet. Er war
freundlicher als früher, thätiger in seinem Geschäft; die aber gerade,
deren tägliches Gebet das immer gewesen, hatte es nicht erleben dürfen,
und nie, nie wieder sollte sie in die treuen guten Augen schauen und
ihr Haupt an das Herz legen können, das für sie so warm geschlagen.

Sie fühlte bei den Erinnerungen den rauhen felsigen Boden nicht, über
den sie klomm, und hatte die Felsentreppe auf der Höhe erreicht, ehe
sie es selber dachte. Jetzt aber verlangte der Augenblick wieder
vollständig sein Recht, denn hoch über ihr ragten die dunklen
unheimlichen Mauern empor, und wenige Minuten später sollte sie den
Platz betreten, von welchem in den Köpfen der Menschen dort unten so
viele schreckliche Geschichten spukten.

Bah, was war es denn? ein alter verlassener Steinhaufen, weiter nichts.
Die Menschen, die ihn früher belebten, gute oder böse, schlummerten
lange den ewigen Schlaf, und Gott würde ihnen wahrlich nicht gestatten,
wenn sie schon zu Lebzeiten die Welt geärgert, auch noch nach dem Tode,
noch nach Jahrhunderten, herumzugehen und Schrecken und Entsetzen zu
verbreiten.

Rüstig erklomm sie die ersten Stufen, allein plötzlich hielt sie
horchend inne. Unten im Thal, in Wellheim, von wo der frische Ostwind
gerade herüberstrich, schlug die alte Stadtuhr. Deutlich konnte sie den
Ton der Glocke hören und zählte die Schläge: acht, neun, zehn, elf,
zwölf. Es war gerade Mitternacht und sie lächelte trotzig vor sich
hin, als sie an die verrufene und gefürchtete Geisterstunde dachte.
Kaum aber hob sie den Fuß, um die letzte Höhe zu erklimmen, als sie
wieder, und diesmal erschreckt, aufhorchte, denn ihr war es plötzlich,
als ob sie unter sich eine menschliche Stimme gehört hätte.

Waren ihr etwa einzelne Gäste aus ihres Vaters Hause gefolgt? Nein.
Deutlich erinnerte sie sich von der letzten Höhe einen Blick hinab auf
die vom Mond hellbeschienene Straße geworfen zu haben, wo sie jeden
dunklen Gegenstand sofort hätte erkennen müssen, aber nichts regte sich
dort, und so rasch wie sie den Gang erklommen, würde Niemand im Stand
gewesen sein, ihr zu folgen. Todtenstille lag auf der Welt; ihr Ohr
mußte sie getäuscht haben, und mit der Ueberzeugung klomm sie rasch die
wenigen Stufen noch empor, die sie von der Kuppe trennten.

Und da stand die alte Raubburg unmittelbar vor ihr, mit ihren zackigen
ausgebrochenen Mauern, dem alten Thurmrest, in welchem das entsetzliche
Verließ seine Opfer hielt, mit den epheuumrankten Söllern und den
hohlen Fensteraugen, und dort auf der breiten Zinne, auf die jetzt noch
das helle Mondlicht fiel, sollte der Volkssage nach jener blut- und
beutegierige Raubgraf seine Strafe abwandern und seinen Kopf, dort
drüben über den Rhein hinüber, der anderen Veste entgegenhalten.

Rosel blieb einen Moment stehen, theils um Athem zu schöpfen, die
hohen Stufen waren ihr sauer geworden, theils um sich erst wieder zu
orientiren, denn es kam ihr sonderbar vor, wie fremdartig der sonst so
bekannte Platz bei dem ungewissen Licht des Mondes aussah. Aber dort
drüben befand sich ja gleich der Eingang in den Hof, da das eigentliche
Hauptthor durch niedergestürztes Mauerwerk unpassirbar geworden, und in
dem Hofe selber stand jener alte, riesige, steinerne Tisch, auf einem
einzigen, ziemlich roh behauenen Pfeiler ruhte die runde Platte, wo
früher wahrscheinlich Hugo von Wildenfels im Sommer freie und offene
Tafel hielt und zechte und bankettirte, während unten im Thurm seine
Opfer wimmernd verschmachteten.

„Recht wär’s ihm schon, wenn er umgehen müßte bis zum jüngsten Tage,“
murmelte Rosel vor sich hin, indem sie jetzt rasch der kleinen Pforte
zuschritt, „verdient hätt’ er’s tausendfach, wenn nur die Hälfte von
dem wahr wäre, was man sich erzählt, aber mir dürft’ er doch nichts
thun, so viel ist sicher,“ setzte sie, ein frommes Kreuz schlagend,
hinzu, „das litte der liebe Gott nicht.“

Sie hatte die kleine Eingangspforte erreicht, blieb aber doch, so
muthig sie auch immer sein mochte, einen Moment auf der Schwelle
stehen und blickte scheu in den inneren, öden Raum, auf dem schon die
Mondesdämmerung lag, da die Mauern das Licht der schräg fallenden
Strahlen abhielten. Aber er war vollkommen leer, kein Hauch regte sich
darin, und Rosel, fast selber nur wie ein Schatten, schritt rasch und
geräuschlos auf den deutlich erkennbaren Tisch zu, um den herum, durch
hineingewehten Samen vielleicht, einige junge Buchenschößlinge Wurzel
geschlagen hatten und im Sommer lustig Blätter trieben. Sogar unter
dem Tisch hatte sich ein einzelner solcher Trieb herausgearbeitet, und
diesen wollte sie nehmen, denn dadurch konnte sie am bestimmtesten denn
Platz bezeichnen, so daß kein Zweifel möglich blieb.

Rosel trug das Messer, das sie aus der Küche mitgenommen, noch in ihre
Schürze gewickelt, und niederkauernd kroch sie unter die Platte, um
das zähe Holz leichter abschneiden zu können, als es ihr plötzlich
mit einem jähen Schreck in’s Herz stach, denn in dem öden Raum sprach
plötzlich eine Menschenstimme und deutlich hörte sie die Worte:

„Er wird nicht mehr hier sein, wir haben ihn zu lange warten lassen.“

Im ersten Moment war es, als ob das sonst so beherzte Mädchen in
sich zusammenbrechen wolle, und nur mit Mühe unterdrückte sie einen
lauten Angstschrei, der sie dann jedenfalls verrathen hätte. Fast
krampfhaft klammerte sie sich an die Säule des Tisches an, der seinen
Schatten schützend über sie breitete, und suchte vor allen Dingen die
zu erkennen, die hier ihr nächtliches Wesen trieben und keinesfalls
eine Ahnung haben konnten, daß sie belauscht wurden. Aber sie sollte
nicht lange im Zweifel bleiben. Zwar war sie noch nicht im Stande, die
Gestalten deutlich zu unterscheiden, nur daß es zwei Männer waren,
die durch dieselbe Pforte den innern Raum betraten, sah sie; da sagte
plötzlich eine andere dritte Stimme, die ihr das Blut stocken machte,
denn es war die ihres eigenen Vaters:

„Na, zum Henker auch, wo habt _Ihr_ Beiden Euch denn heut’ Nacht
herum getrieben, daß Ihr nicht zur bestimmten Zeit hier sein konntet?
Seit neun Uhr hocke ich nun schon hier oben in dem öden Nest, den
Fledermäusen und Eulen zur Gesellschaft.“

„Wir _konnten_ nicht früher kommen, Vater,“ erwiderte der Eine der
Neugekommenen, ihr eigener Bruder, „gerad’ heute war rein der Teufel
in Hellenhof los, und wir hätten jedenfalls Verdacht erregt, wenn
wir früher den Platz verließen. Die Stadt schwärmte von Menschen, und
Feuerwerk wurde überall losgebrannt, so daß wir gar keine Straße frei
behielten. Ich hab’s mir gedacht, daß Dir die Zeit lang geworden.“

„Wirklich?“ knurrte der Vater wieder, „aber so macht wenigstens, daß
Ihr jetzt herunter kommt. Was steht Ihr noch da oben?“

„Ich wollte erst ein Licht anzünden.“

„Ich habe Licht unten. Glaubt Ihr, daß ich die ganze Zeit im Finstern
gesessen bin?“

Die beiden Gestalten schritten jetzt der nächsten Wand zu, in
welcher sie zu verschwinden schienen; als sie aber die eine Stelle
überschritten, auf die durch eine Mauerlücke das Mondenlicht fiel,
erkannte Rosel deutlich den jungen Fremden, ihres Bruders Compagnon,
für den Franz so oft um Rosels Hand angehalten. Was hatten die drei
Menschen hier bei Nacht in der alten Ruine so Heimliches zu verrichten,
daß sich Franz dazu von Hellenhof fortstehlen mußte? Weshalb scheuten
sie das Tageslicht und das Auge der Menschen?

Rosel kauerte noch immer unter dem alten Tische; das Herz schlug ihr,
als ob es ihr die Brust zersprengen wolle, und sie wagte nicht, sich zu
rühren, aus Furcht entdeckt zu werden. Die Gedanken jagten sich ihr
durch’s Hirn, und der erste war jedenfalls den Platz zu fliehen, sobald
das unbemerkt geschehen könne, und, so rasch sie ihre Füße trugen, nach
Wellheim zurückzukehren. Das sonst so besonnene charakterfeste Mädchen
überließ sich indeß nicht lange diesem ersten, lähmenden Eindruck des
Schreckes, und je mehr sie nachdachte, desto mehr schwand die Furcht
vor irgend einer ihr selber drohenden Gefahr in der Angst um den Vater
selbst.

Wohl kam ihr einmal der Gedanke, ihr Vater könne in Wellheim von ihrem
Gang gehört haben und ihr gefolgt sein, aber eben so rasch mußte
sie ihn verwerfen, denn hatte sie ihn nicht selber sagen hören, daß
er schon seit neun Uhr ihren Bruder und jenen widerlichen Fremden
hier vergebens erwarte? Weshalb? Was thaten sie hier im Dunkeln und
war es etwas Gutes, das sie da mitsammen ausmachten? Sie fürchtete
_nein_, denn dem fremden unheimlichen Menschen traute sie Alles
zu, jedes Verbrechen, das er gewiß mit derselben kalten lächelnden
Miene verübt hätte, wie er ihr seine faden Schmeicheleien sagte. Aber
was _konnten_ sie hier thun? Sie begriff es nicht; wenn sie nur im
Stande gewesen wäre, ihnen zu folgen und sie zu belauschen!

Glücklicher Weise trug sie heute Abend ein dunkles Kleid und Crinolinen
waren damals auch noch nicht Sitte, sie konnte sich also leicht in jede
Ecke, in jeden dunkeln Winkel schmiegen; aber waren sie denn in der
Ruine geblieben? Doch ja, es gab ja nur den einen Aus- und Eingang;
sie kannte wenigstens keinen anderen, und dort an der Mauer waren sie
verschwunden. Wenn sie ihnen dahin folgte, fand sie vielleicht ihre
Spuren. Und wenn sie entdeckt wurde? Aber was konnte ihr von ihrem
Vater und Bruder geschehen, war es ja doch nur die Sorge um die beiden
ihr theuern Menschen, die sie antrieb, ihnen nachzuforschen.

Sie überlegte auch nicht lange; erst aber mußte sie sich das Zeichen
sichern, das ihr in Armes Bereich stand; den kleinen schwanken
Schößling schnitt sie ab, aber sie durfte ihn nicht mit sich tragen,
das Rauschen seiner Blätter konnte sie verrathen. Sie glitt deßhalb
zu der schmalen Pforte zurück, legte ihn dort außen an die Seite und
schlich dann wieder auf den Zehen zu der Stelle, an welcher sie vorher
die Gestalten aus den Augen verloren.

Wie dunkel das hier war und wie feucht und modrig es roch, als ob die
Luft aus einem tiefen Erdgewölbe käme! Und war das nicht so? Erinnerte
sie sich nicht von früher her, hier ein tiefes Loch gesehen zu haben,
das weit hinein in die Erde ging, und vor dem sie sich immer gefürchtet
hatte? Wenn sie jetzt hier einen Fehltritt that und hinabstürzte in
diese grausenhafte Tiefe! Sie hielt erschreckt inne. Da war es ihr
als ob sie von unten herauf Stimmen höre; sie konnte keinen einzelnen
bestimmten Laut unterscheiden, doch es wurde dort unten gesprochen,
und es mußte irgend einen Platz geben, auf dem sie ebenfalls dorthin
gelangen konnte.

Vorsichtig und so geräuschlos als möglich fühlte sie sich weiter,
und ihrer fast unbewußt hielt sie noch immer das Messer in der Hand,
wie um sich gegen etwas Schreckliches zu schützen. Da plötzlich fand
der rastend vorgestreckte Fuß keinen Grund mehr und an der Stelle
niederknieend fühlte sie mit der linken Hand, daß dort etwas tiefer
unten ein breiter Stein lag. War das eine Treppe? Vorsichtig trat sie
hinab und fühlte sich weiter und Stufe nach Stufe legte sie so zurück,
bis sie in der kalten Kellerluft ein Frösteln überlief. Jetzt aber war
die Treppe zu Ende und ein schmaler feuchter Gang schien noch weiter
hinab zu führen, doch wohin? Eine Strecke war sie ihm noch zitternd
gefolgt, jetzt indeß wagte sie sich nicht weiter, denn immer steiler
und schlüpfriger wurde der Paß, und sie schützte sich nur dadurch vor
dem Ausgleiten, daß sie sich rechts und links mit den Händen an den
nassen engen Mauern hintastete. Aber der Gang nahm kein Ende. Weiter
getraute sie sich nicht; wenn sie nun den Rückweg nicht mehr fand und
hier um Hülfe rufen mußte!

Da war es ihr, als ob sie einen schmalen Lichtstrahl an der Wand
bemerke. Die Stelle konnte kaum noch drei Schritt von ihr entfernt
sein, bis dahin wollte sie noch vordringen, aber weiter nicht; es
schnürte ihr das Herz zusammen, daß sie kaum mehr athmen konnte.
Wie steil und häßlich das hier nieder ging, und wie tief mußte sie
schon unter der Erde sein! Doch jetzt hatte sie die Stelle erreicht,
und als sie ihre Hand an die Wand legte, fiel ihr das Licht auf die
Finger. Sie bog sich noch etwas weiter vor, um zu sehen, woher es
käme, und erkannte plötzlich, daß der Strahl aus einem tiefen Gewölbe
herausschimmerte, von dem sie nur eine dünne Mauer schied, aus welcher
jedenfalls ein Stein herausgebrochen sein mußte.

Die Breite des Durchbruchs verhinderte aber immer noch, daß sie mehr
als den oberen Theil des unterirdischen und jetzt matt erleuchteten
Gewölbes erkennen konnte, und erst als sie sich mit den Händen
anklammerte und dadurch emporhob, durfte sie einen Blick hinabwerfen.
Aber selbst dann begriff sie noch nicht gleich, was da unten vorging,
denn sie bemerkte wohl die drei Männer, die an einem Tisch standen,
sie sah auch, daß der eine von ihnen, jener Fremde, mit einer Art von
Maschine beschäftigt war, die vor ihm stand, allein, was sie trieben,
begriff sie nicht und schaute nur neugierig und erstaunt in das Gewölbe
hinab. Da unten die Männer schienen eifrig bei ihrer Arbeit und zwar
der Fremde und ihr Bruder, während der Vater daneben stand, als ob er
etwas erwartete. Jetzt wurde eine große Schraube, wie an einer kleinen
Art Weinkelter, aufgedreht und der Fremde nahm dann ein Papier heraus,
welches er dem alten Manne hinhielt, der es eine ganze Weile prüfend
betrachtete und dann auch das Licht hindurch scheinen ließ. Endlich
sagte er, indem er das Blatt dem Sohn hinreichte:

„Die werden ganz vortrefflich; viel besser, als ich erwartete, und ehe
sie die herausfinden, können wir unser Schäfchen im Trocknen haben.
Sind denn noch viele von den Oesterreichern da?“

„Noch wenigstens zehntausend Gulden,“ erwiderte der Fremde.

„Schade,“ sagte der Alte, „aber wir dürfen keine mehr davon ausgeben,
denn sie haben in ganz Deutschland Alarm damit geschlagen und in
Holland kennt sie jedes Kind. Die mögen lieber ein paar Jahr liegen,
bis der Lärm vorüber ist, nachher kann man’s immer wieder einmal damit
versuchen, jetzt wär’s zu gefährlich.“

Der Rosel war es, als ob sie Jemand bei der Kehle habe und würge, so
verging ihr der Athem, als ihr die Ahnung dessen kam, was da unten
getrieben wurde -- Banknotenfälschung, denn sie hatte in ihrem Leben zu
viel mit Geld zu thun gehabt, um das nicht rasch zu begreifen und zu
fühlen, wie fürchterlich, wie entsetzlich es sei.

„Mit den hessischen Noten,“ lachte der Fremde wieder, „ist es doch ganz
famos gegangen, mit denen haben wir das beste Geschäft gemacht.“

„Ja,“ nickte der Alte, „und kein Teufel würde dahinter gekommen sein,
wenn der eine Grundstrich am ~B~ ein klein wenig stärker gewesen
wäre. Sollte sich dem nicht noch nachhelfen lassen?“

„Das geht nicht mehr,“ sagte der Andere kopfschüttelnd, „überdies ist
jetzt auch der Verdacht darauf gelenkt, und wir dürfen uns keiner
unnöthigen Gefahr aussetzen.“

Rosel hörte und sah nichts weiter, die Hände erschlafften ihr, sie sank
in den steilen Weg zurück und kauerte sich dort minutenlang in Angst
und bitterem Weh am Boden nieder. Aber hier konnte sie nicht bleiben,
konnte das Schreckliche nicht länger mit ansehen, und sich gewaltsam
emporraffend kroch sie mehr, als sie ging, den steilen, häßlichen Weg
wieder hinauf, bis sie die gefährlichen Stufen erreichte. Auch diese
kletterte sie hinan, fühlte ihren Weg zurück und stand kurze Zeit
darauf wieder in der kalten, frischen Nachtluft im alten Burghof.
Aber sie zögerte hier keinen Augenblick mehr; fort, nur fort von dem
entsetzlichen Ort, war der einzige Gedanke, der sie erfüllte und ihr
die Kraft gab, ihre Glieder zu gebrauchen. Fast mechanisch griff sie
den draußen am Eingang liegenden Zweig auf, kletterte die Steinstufen
hinunter und floh dann, so rasch sie ihre Füße trugen, den steilen,
rauhen Pfad hinab.

Der Mond war indessen untergegangen und tiefe Nacht lag auf der
Erde, doch sie achtete es nicht; ob die Büsche ihr Kleid faßten und
zerrissen, ob ihr Fuß strauchelte und die tastenden Hände sich lange
an häßlichen Brombeerranken blutig gerissen hatten -- was fühlte sie
davon? Nur vorwärts, vorwärts strebte sie, bis sie die breite Straße
wieder erreichte und jetzt noch einmal scheu und entsetzt den Blick
zurückwarf zu der alten Ruine, die das Verbrechen ihres Vaters barg.

Mit dem ebenen, glatten Weg wurde auch ihr Gemüth ruhiger, und während
sie langsamer auf demselben hinschritt, suchte sie das Erlebte zu
überdenken, zu sichten. Was sollte sie thun? Wie sollte, wie mußte sie
handeln? Und Bruno -- schaudernd barg sie das Gesicht in den Händen,
sie konnte nicht mehr denken. Der Kopf wirbelte und brannte ihr, und
ganz zusammengebrochen verfolgte das arme Kind seine einsame, öde Bahn.
Sie bemerkte auch kaum, wie sie die Häuser wieder erreichte und nur
mechanisch in die bekannte Straße einbog. Wie in einem wüsten Traum
schritt sie dahin und öffnete endlich die Thür ihrer eigenen Heimath.
Auch von den dort Versammelten sah sie kaum mehr als die undeutlichen
Umrisse ihrer Gestalten, und erst oben auf ihrem Zimmer, als sie die
Thür verriegelt und sich, wie sie war, in ihren Kleidern auf das Bett
geworfen hatte, machte ein lindernder Thränenstrom ihrem gepreßten
Herzen Luft.



Viertes Kapitel.

Die Werbung.


Am nächsten Morgen war Rosel mit Tagesanbruch wieder auf und besorgte
ihre Geschäfte wie gewöhnlich -- aber wie bleich das sonst so frische
Mädchen heute aussah und was für große, glänzende und ernste Augen
es hatte! Bärbel drückte es fast das Herz ab vor Neugierde, um sie zu
fragen, was sie gestern Nacht in der Ruine gesehen -- denn gesehen
_mußte_ sie etwas haben -- aber sie wagte es nicht, obgleich sie
sonst auf ganz freundlichem Fuße mit ihrer jungen Herrin stand. Diese
kam ihr heute gar so feierlich, so außergewöhnlich vor, daß sie alles
that, was sie ihr nur an den Augen absehen konnte, und ihre Arbeit noch
nie im Leben so flink und aufmerksam verrichtet hatte wie heute.

Wie ein Lauffeuer hatte sich indessen das Gerücht in der Stadt
verbreitet, die Rosel aus dem Burgverließ sei um Mitternacht in der
alten Ruine gewesen und habe dort zum Zeichen ihres Wagnisses einen
Zweig aus dem Burghof abgeschnitten. Die jungen Fremden hatten auch
richtig ihren Weg dorthin noch vor Tag angetreten und waren schon zum
Frühstück mit der Nachricht zurückgekehrt, daß der abgeschnittene Zweig
wirklich unter dem Tisch fehle und das beherzte Mädchen jedenfalls
ihre Wette gewonnen habe. Natürlich fanden sie sich auch gleich früh
im Burgverließ ein, um das Nähere aus Rosel’s eigenem Mund zu hören,
denn das geheimnißvolle Wesen und besonders das bleiche Aussehen des
Mädchens von gestern Abend hatte sie nur noch neugieriger gemacht.
Doch Rosel ließ sich heut’ Morgen vor keinem Menschen sehen. Um halb
neun Uhr aber nahm sie ihr Tuch und schritt, um den offenen Weg über
die Straße zu vermeiden, durch den Garten hinaus und einen Pfad
entlang, der zu der Hellenhofer Chaussee hinüberführte. Dieser folgte
sie wieder, wie gestern Abend, bis der Fußweg rechts nach der Ruine
abbog. Dort an den Büschen erwartete sie Bruno.

Der junge Mann sprang ihr freudig entgegen und rief, die Hand nach
ihr ausstreckend: „O, wie gut und lieb es von Dir ist, Rosel, daß Du
gekommen bist; wie sehnsüchtig habe ich Dich erwartet! -- Aber um
Gottes willen, Kind, wie bleich siehst Du aus? Bist Du krank, Rosel?“

„Nein, Bruno,“ sagte das arme Mädchen ruhig, indem sie den Kuß duldete,
den er ihr auf die Lippen drückte, „mir fehlt nichts -- im Körper
wenigstens -- aber auf dem Herzen liegt mir ’was recht schwer und
bleiern, und nur um Dir das zu sagen, bin ich heraus gekommen.“

„Was hast Du, Herz?“ fragte der junge Mann besorgt, „ist der Vater
wieder rauh mit Dir gewesen? O, habe nur noch eine kurze Weile Geduld,
denn bald wird Alles gut werden. Gestern Abend erhielt ich noch eine
recht freudige Kunde.“

„Nein, Bruno,“ unterbrach ihn ruhig das Mädchen. „Der Vater hat wohl
gezankt, als er Dich bei mir im Hof gesehen, allein nicht mehr als
immer, und das hätt’ ich mir auch nicht sehr zu Herzen genommen, trug
ich’s ja für Dich.“

„Meine gute Rosel!“

„Aber was Anderes ist geschehen, Bruno,“ fuhr das Mädchen fast tonlos
fort, „etwas Anderes, das ich Dir nicht vertrauen kann und darf, so
gern ich’s auch möchte, und das -- das mich zwingt, Dir heute --
Lebewohl zu sagen für immer --“

„Rosel!“ rief Bruno erschreckt.

„Mißversteh’ mich nicht,“ sagte Rosel, während sie ihm die Hand, die
er gefaßt hatte, überließ; „ich habe Dich noch so lieb wie früher --
ja vielleicht noch lieber,“ setzte sie leise und kaum hörbar hinzu,
„und hätte auch Deinetwegen Alles ertragen, Noth und Sorge mit Lust und
Freuden, doch es hat nicht sein sollen -- ich _darf_ Dir nicht
mehr angehören, und -- wenn Du mich ein klein wenig lieb hast -- so
fragst Du mich nicht einmal weshalb.“

„Aber Rosel,“ sprach Bruno bestürzt, „nicht einmal fragen soll ich,
weshalb? wo mein ganzes Lebensglück auf dem Spiele steht, ja während
ich Dir gerade heute mit Jubel entgegenkam, denn ich kann Dir jetzt
die frohe Kunde bringen, daß sich meine Aussichten mit Einem Schlage
gebessert haben. Gestern Abend noch, als ich Dich zuletzt sprach,
war mir das Herz zum Brechen schwer, und ich machte mir sogar selber
Vorwürfe, Dein Geschick an das eines Armen fesseln zu wollen, der,
ohne Vermögen, nicht einmal einen Platz hatte, wo er sein noch so
kümmerliches Brod verdienen konnte. Das hat sich jetzt wunderbar rasch
geändert, und wie ein Unheil selten allein kommt und immer noch andere
im Gefolge mit sich bringt, so ist es ja auch gewöhnlich mit dem Glück.
Als ich Dich gestern verließ und mir wieder und wieder ausmalen mußte,
wie trostlos meine Aussichten im Leben seien, war mir so weh zu Muthe,
daß ich viel lieber in den Rhein gesprungen wäre, um dem Elend mit
einem Mal ein Ende zu machen. Aber wenn die Noth am größten, ist auch
die Hülfe am nächsten, und wie ich endlich nach Hause und zu meiner
Mutter zurückkehrte, fand ich einen großen, mit einem Dienstsiegel
verschlossenen Brief vor, in dem mir angezeigt wurde, daß ich endlich
meine Beförderung zum Actuar am hiesigen Criminalgericht erhalten
habe.“

„Beim Criminalgericht!“ stöhnte Rosel und zog erschreckt ihre Hand aus
der seinen.

„Nun, Herz, darüber hast Du doch nicht zu erschrecken,“ lachte der
junge Mann, „denn es sichert ja unsere ganze Zukunft; aber das nicht
allein -- meine Mutter hatte am nämlichen Tage auch gute Kunde über
einen in unserer Familie schon seit langen Jahren geführten Proceß
erhalten, der ein kleines Vermögen betrifft und bis dahin unsere
sämmtlichen Mittel fast aufgezehrt hat. Jetzt sind wichtige Documente
aufgefunden worden, die unser Recht ganz außer Zweifel stellen und
eine für uns günstige Entscheidung bald, recht bald hoffen lassen. Die
Einwendungen, die Dein Vater bis jetzt also gegen unsere Verbindung --
und vielleicht mit Recht -- geltend machen konnte, fallen nun ganz, und
schon in kurzer Zeit hoffe ich Dich heimzuführen, mein süßes, liebes
Kind. Aber stehe nicht so todt und traurig bei der frohen Kunde da,
mein Rosel; mir schnürt es sonst das Herz zusammen. Was hast Du nur,
Mädchen? Du siehst mich ja so scharf und forschend an, als ob ich Dir
plötzlich ganz fremd geworden wäre -- oder Du am Ende gar meinen Worten
nicht glaubtest. Hab’ ich Dich je belogen, Rosel?“

„Nein,“ hauchte das Mädchen, indem es plötzlich, wie scheu, den Kopf
abwandte, „Dir glaub’ ich schon Alles, was Du sagst -- _Alles_,
denn Du bist gut und brav und ich -- will zu Gott beten, daß er Dich
einst so glücklich macht, wie Du es verdienst --“

„Und liegt es nicht in Deiner eigenen Hand, mein Herz?“ sagte der junge
Mann, indem er sie lächelnd an sich zog. „Sieh’ mir nur wieder so froh
und vertrauensvoll in’s Auge, wie Du es früher in schwererer Zeit
gethan, und ich verlange ja nicht mehr vom lieben Gott, denn er hat mir
da seinen Himmel schon auf der Erde gegeben.“

Rosel litt, daß er sie an sich preßte, ja sie lehnte selbst ihr Haupt
wie müde an seine Schulter -- aber es war nur ein Moment; dann wand sie
sich wieder, nicht hastig, aber entschlossen, aus seinem Arm, und ihm
voll in’s Auge sehend, während in dem ihrigen eine große Thräne glänzte
und es vollständig füllte, sagte sie ernst: „Und doch muß es sein,
Bruno; doch muß ich heute -- jetzt -- für immer von Dir Abschied nehmen
und kann Dir nicht angehören.“

„Rosel, sprich nicht so!“ rief Bruno ängstlich. „Deine Worte klingen
wie aus einem Traume heraus -- so fremd und kalt, als ob sie gar nicht
aus Deiner eigenen Seele kämen, und Dein Blick hat dabei etwas so
Eisiges, daß er mir bis in’s innerste Mark hinein schneidet. Was ist
denn seit gestern Abend so Entsetzliches geschehen, daß Du in den paar
Stunden wie verwandelt bist? Hättest Du doch endlich den Plänen Deines
Bruders nachgegeben?“

„Den Plänen meines Bruders?“ rief das Mädchen voller Verwirrung.

„Der Dir die Verbindung mit seinem Compagnon, dem jungen arroganten
Menschen, aufnöthigte?“

„Eine Verbindung mit _dem_?“ sagte Rosel schaudernd, „eher spränge
ich selber in den Rhein.“

„Aber was sonst kann Dich so bewegt, so Deinen ganzen Sinn geändert
haben?“

„Frage mich nicht, Bruno, frage mich nicht meinet-, nein auch
Deinetwegen. Ich darf und kann Dir die Gründe nicht angeben, die mich
zwingen, so und nicht anders zu handeln, wenn ich auch darum selber
elend werden müßte. Nur Eines glaube mir: so treu wie ich Dir jetzt bin
und immer war, so treu will ich Dir ewig bleiben, aber -- ich werde nie
heirathen. _Was_ ich zu tragen habe, es soll allein geschehen,
und nun leb’ wohl, Bruno. Halte mich nicht zurück; ein längeres
Zusammensein mit Dir könnte mich wahnsinnig machen und zur Verzweiflung
treiben, denn schon jetzt fühle ich es, wie die verrätherischen Worte
nach den Lippen drängen. Leb’ wohl -- schütze Dich Gott!“ Sie warf
sich an seine Brust, umschlang ihn mit ihren Armen und preßte heiße
Küsse auf seine Lippen; dann riß sie sich los von ihm -- gewaltsam, als
er sie noch länger festhalten wollte, und floh wie ein gescheuchtes Reh
den Pfad hinab, der auf die Straße führte.

Bruno’s erster Gedanke war freilich, ihr zu folgen, aber aus den
Büschen heraus erkannte er unten auf der Straße Menschen -- was
mußten die denken, wenn er hinter dem fliehenden Mädchen her geeilt
wäre! Das Beste war, ihr Zeit zu lassen, daß sie die Stadt wieder
allein erreichte, doch Abschied auf Lebenszeit hatte er nicht von ihr
genommen und heute selber wollte er ihren Vater aufsuchen und ihm seine
verbesserten Lebensaussichten vorlegen, denn von ihm ging -- wie er
nicht anders glauben konnte -- jedenfalls der plötzliche Widerstand des
Mädchens aus.

Langsam stieg er indessen zu der lange nicht besuchten Ruine empor;
die frische Luft da oben that ihm wohl und lange lag er dort unter der
epheuumrankten Mauer und schaute träumend hinab auf das friedliche Bild
der kleinen Stadt, die mit ihren altersgrauen Dächern und rauchenden
Schornsteinen zu seinen Füßen lag. Allein es ließ ihm keine Ruhe, denn
nicht freundliche Gedanken waren es, die durch seine Seele zogen.
Rosel -- was um Gotteswillen konnte dem sonst so charakterfesten
Mädchen durch den Sinn gefahren sein, daß es plötzlich über Nacht
solche Idee gefaßt und sich und ihn unglücklich machen wollte?

Er stand auf und wanderte durch das alte Gemäuer, um der Gedanken ledig
zu werden, aber es gelang ihm nicht. Selbst die steile, gefährliche
Treppe kletterte er hinauf -- vergebens. Aus der ganzen prachtvollen
Aussicht heraus suchte und fand er nur das eine Haus, in dem _sie_
wohnte, und seufzend stieg er die Stufen wieder hinab, um nach der
eigenen Heimath zurückzukehren.

Rosel hatte inzwischen lange die Stadt erreicht und hörte, als sie das
Haus, das sie auf demselben Wege wieder betrat, auf welchem sie es
verlassen, daß ihr Vater auf sei und schon nach ihr gefragt habe. Er
war in der Schenkstube gewesen, wo er von den zahlreich versammelten
Gästen das nächtliche Abenteuer seiner Tochter erfuhr, und Bärbel
flüsterte ihr, wie sie nur die Küche betrat, leise zu, sie möge sich
vor dem Vater in Acht nehmen, der sei ‚fuchswild‘ geworden, als er von
ihrem nächtlichen Spaziergang gehört.

„Es wird nicht so arg sein,“ hatte Rosel ruhig gesagt, während sie
langsam die Treppe hinauf und in ihr Zimmer stieg, um sich das etwas
wirr gewordene Haar frisch zu ordnen.

Kaum war sie damit zu Ende, als sie ein Geräusch an ihrer Thür hörte,
und wie sie sich danach umdrehte, stand ihr Vater auf der Schwelle und
sagte finster:

„Höre, Rosel, was hast Du denn die Nacht für dumme Streiche gemacht,
he? Was soll denn das heißen? Schickt sich das für ein ehrbares und
gesittetes Mädchen, wie Deine Mutter Dich, wie ich Dich erzogen habe?“

„Ich, Vater?“ sagte Rosel und sah den Mann fest und starr an.

„Ja, Du!“ sagte der Vater noch immer störrisch, aber ein eigenes,
unbehagliches Gefühl beschlich ihn bei dem starren Blick. „Bist Du
nicht bei Nacht allein in den alten Burghof der Wildenfels gelaufen?“

„Ja, Vater,“ sagte Rosel ruhig, „ich war oben.“

„Und wann?“

„In der Nacht, Vater.“

„Aber zu welcher Stunde?“

„Bleibt sich das nicht gleich?“

„Hm, ja, aber weshalb willst Du’s nicht sagen?“

„Ich will’s schon sagen, Vater. Es schlug gerade hier drunten in
Wellheim zwölf Uhr, als ich die letzten steinernen Stufen hinauf stieg.“

„Und blos um einen Zweig abzuschneiden,“ rief der Vater erbost aus; „es
ist wirklich zu toll für ein junges Mädchen, bei Nacht den einsamen,
öden Weg zu machen.“

„Ich war nicht allein, Vater,“ sagte Rosel, ohne noch ihren Blick von
ihm zu wenden, an dem der seine ebenfalls wie gebannt hing.

„Nicht allein?“ rief der Vater schnell, „und wer war bei Dir?“

„Gott,“ sagte das Mädchen, und ein schwerer Seufzer entrang sich dabei
ihrer Brust.

„Schnack,“ rief der Alte unwirsch und blickte scheu zur Seite, „das
heißt den Uebermuth auf’s Höchste getrieben, und wie leicht hättest Du
ein Unglück nehmen können!“

„Auf der alten Burg, Vater?“ lächelte Rosel, aber die Worte klangen
so unheimlich und der Vater, der sich vorgenommen haben mochte, sie
tüchtig auszuzanken, wandte seinen Aerger einer anderen Seite zu.

„Der alte Narr, der Bäckermeister, hätte auch ’was Gescheidteres thun
können als Dich da hinauf zu hetzen; aber ich habe ihm meine Meinung
schon gesagt. Und der Registrator war gleichfalls dabei und hat’s
gelitten?“

„Er konnt’ es nicht hindern.“

„Und weshalb haben sie mich nicht geweckt?“ rief der Alte, „ich hätt’s
gehindert, das sei versichert.“

„Du schliefst schon so lange, Vater,“ sagte das junge Mädchen und sah
ihn dabei wieder mit ihrem stechenden Blick an, „daß sie Dich gewiß
nicht stören wollten.“

Paul Jochus blickte eine Weile vor sich nieder, er wollte noch etwas
sagen, das war gewiß, aber er brachte es nicht über die Lippen, und
sich plötzlich auf seinen Hacken herumdrehend, verließ er das Zimmer
und warf die Thür in’s Schloß, daß die Scheiben klirrten.

Rosel kam den ganzen Tag über nicht in die Wirthsstube, so oft die
Gäste auch nach ihr frugen, und der Vater ließ sie auch still gewähren;
es war ihm selber recht, daß sie dem neugierigen Volk keine Rede stand.
Er selber aber war desto geschäftiger heute in dem Raum, in dem er sich
sonst nur dann und wann blicken ließ, und bediente seine Gäste auf das
Sorgsamste. Ueber Mittag war die Stube ziemlich leer geworden und Paul
Jochus hatte eben seine Mahlzeit an einem der Tische allein verzehrt
und seinen Schoppen Wein dazu getrunken, als Bruno von der Haide in’s
Zimmer trat und, auf den Wirth zugehend, ihn um eine kurze Unterredung
unter vier Augen bat.

„Mein lieber Herr Von,“ sagte Jochus finster, ohne von seinem Platz
aufzustehen, „ich glaube, wir können uns Beide die Mühe sparen, denn
ich weiß wahrscheinlich schon, was Ihr Begehr ist.“

„Möglich, Herr Jochus,“ sagte der junge Mann ernst, „aber doch
vielleicht nicht ganz. Es hat sich nämlich so viel in meinen
Verhältnissen geändert, daß eine Verständigung dringend geboten ist;
ich bitte Sie nur um wenige Minuten Gehör und die Entscheidung ist dann
immer noch in Ihre Hand gegeben.“

Jochus schüttelte den Kopf. Es lag ihm indessen selbst daran, den
ihm lästig werdenden Bewerber abzufertigen, was er hier, in offener
Wirthsstube, nicht gut konnte; darum stand er auf, trank den Rest
seines Weines aus und sagte:

„Na, so kommen Sie meinetwegen. Da drüben in der Stube sind wir
ungestört, aber ich muß Sie von vorn herein bitten, es kurz zu machen.
Sie sollen dann auch nicht lange auf meine Antwort zu warten brauchen.“

Damit ging er, von dem jungen Manne gefolgt, hinüber in die „gute
Stube“ und Bruno theilte ihm hier mit wenigen Worten nicht allein die
Aussicht auf das bald zu erlangende Vermögen mit, wozu der alte Jochus
ungläubig lächelnd den Kopf schüttelte, sondern auch seine gestern
erhaltene Bestätigung als Actuar beim hiesigen Criminalgericht, ein
Posten, der allerdings noch immer wenig genug Gehalt einbrachte, doch
eine sichere Staatscarrière in Aussicht stellte und dabei genügte, mit
mäßigen Ansprüchen eine Frau zu ernähren.

Das spöttische Lächeln hatte sich aus dem Gesicht des Wirths verloren,
als ihm der junge Mann den Beruf nannte, dem er von jetzt ab angehören
würde, und er sagte, freundlicher, als er bis dahin noch je mit ihm
gesprochen:

„Ei, sieh’ einmal an, Actuar beim Criminalgericht, also doch eine feste
Stellung und nicht mehr das ewige Herumvagabundiren -- und die Rosel
ist Ihnen wirklich gut?“

Bruno seufzte recht aus vollem Herzen auf und sagte scheu:

„Bis gestern Abend noch war ich von ihrer innigen Liebe überzeugt, und
glücklich in dem Gedanken, heute Morgen aber --“

„Heute Morgen? Wo haben Sie denn das Mädel heute Morgen schon
gesprochen?“

„Sein Sie mir nicht böse, Herr Jochus, und auch der Rosel nicht, daß
wir hinter Ihrem Rücken gehandelt, aber ich -- ich mußte sie sprechen,
ich mußte ihr sagen, was mir auf dem Herzen lag, und da -- haben wir
uns heute Morgen, um neun Uhr, es war schon heller lichter Tag und
viele Menschen auf der Straße -- am alten Burgweg gefunden.“

„Am alten Burgweg -- so?“ sagte der Wirth, „und was meinte die Rosel
da?“

„Sie war ganz verändert; sie sah todtenbleich aus und die Augen lagen
ihr tief in den Höhlen.“

„Sie wissen, was das tolle Mädchen die Nacht für einen Streich gespielt
hat?“

„Ich weiß es, jetzt wenigstens, heute Morgen wußte ich es noch nicht,
oder ich würde sie darum gefragt haben, doch das kann sie nicht so
aufgeregt haben, sie hätte mir es sonst gewiß gestanden.“

„Und was sagte sie weiter?“ frug der Wirth, aufmerksam werdend.

„Daß sie mir nicht mehr angehören könne und daß wir uns auf
Nimmerwiedersehen trennen müssen.“

„Hm, und hatten Sie ihr vorher von Ihrer festen Anstellung gesagt?“

„Alles, aber ich konnte mir ihr sonderbares Benehmen nicht erklären,
sie erschrak viel mehr darüber, als daß sie sich gefreut hätte.“

„Sie erschrak?“

„Ich kann mich getäuscht haben, jedenfalls befand sie sich in einer
fürchterlichen Aufregung und versicherte mir dabei unter heißen
Thränen, daß sie mir die Ursache ihres Betragens nicht erklären könne
und dürfe.“

„Nicht dürfe -- hm,“ brummte Jochus, „das ist allerdings wunderbar, und
gestern Abend sagte sie nichts davon?“

„Keine Silbe, sie war ganz Liebe und Vertrauen und tröstete mich selber
auf die Zukunft, der wir fröhlich entgegenharren müßten.“

Der Wirth ging zur Thür, öffnete sie halb und rief nach Bärbel, der er
den Auftrag gab, Rosel herunter zu schicken, der Herr von Haide sei da.
Indessen stand Bruno am Fenster und starrte hinaus, während der Wirth
mit untergeschlagenen Armen im Zimmer auf und ab ging. Jedoch das Mädel
kam nicht wieder und den Beiden wurde die Zeit lang. Endlich, als der
Wirth schon einmal nach ihr rufen wollte, steckte die Bärbel den Kopf
in die Thür und sagte: „Sie will nicht,“ drückte sie dann in’s Schloß
und ging wieder an ihre Arbeit.

„Sie will nicht?“ wiederholte Paul Jochus erstaunt und blieb mitten in
der Stube stehen.

Bruno hatte sich rasch umgeblickt, als sich die Thür öffnete; jetzt
seufzte er aus tiefster Brust und flüsterte:

„Ich habe es fast gedacht -- Gott nur weiß, was sie plötzlich gegen
mich eingenommen haben kann -- ich begreife es nicht.“

„Und hat sie Ihnen gar keinen Grund angegeben?“ frug der Wirth
plötzlich und blieb vor dem jungen Manne stehen, „besinnen Sie sich
einmal, gar keinen Wink nach irgend einer Richtung?“

„Keinen,“ sagte dieser kopfschüttelnd, „keinen wenigstens, den ich
verstanden habe oder verstehen konnte, denn ihre Worte klangen dunkel
und unheimlich; sie könnte und dürfte mir nicht mehr sagen, als daß wir
scheiden müssen -- scheiden für immer -- das war Alles.“

„Hm,“ brummte Jochus, dessen Gesicht eine düstere Färbung angenommen
hatte, mit festzusammengezogenen Brauen, „weiß der Henker, was dem
Mädchen durch den Kopf gefahren sein kann, denn eigenwillig ist sie,
wie der helle Teufel, und man hat oft seine liebe Noth mit ihr. Aber
lassen Sie mich mit ihr reden, Herr von Haide -- und ich denke, wenn
Sie die Anstellung bekommen -- wir wollen einmal sehen, es macht sich
ja doch vielleicht noch Alles, und das Mädel vergißt vielleicht bis
dahin auch die Grillen.“

„Wenn wir sie nur jetzt bewegen könnten, mich noch einmal anzuhören!“

„Jetzt ist nichts zu machen,“ sagte Jochus kopfschüttelnd, „erst muß
ich selber noch einmal mit ihr sprechen. Sie kommen dann vielleicht
einmal wieder vor oder ich schicke auch zu Ihnen hinüber.“

„Sollte es nicht am Ende doch mit ihrem nächtlichen Gang in Verbindung
stehen?“ warf Bruno ein; „ich würde mir gar nichts weiter darüber
gedacht haben, aber --“

„Ach was,“ lachte der Alte, doch das Lachen klang etwas erzwungen, „sie
ist ja keiner Menschenseele unterwegs begegnet, na, und daß ihr kein
Gespenst erschienen ist, ich dächte, darüber brauchten wir Zwei uns
nicht zu beunruhigen. Ein dummer Streich war’s immer, und ich habe ihr
auch schon tüchtig den Text darüber gelesen, denn für ein junges Mädel
paßt es sich nicht, auf solche Art zu prahlen und bei Nacht und Nebel
in der Welt herumzulaufen.“

„Sie hatten sie geneckt,“ sagte der junge Mann, „und bei ihrem
Ehrgefühl gepackt; sonst hätte sie’s auch sicher nicht gethan.“

„Nun, es ist jetzt vorbei,“ sagte der Vater, „und nicht mehr zu ändern,
geschieht aber hoffentlich nicht wieder.“

„Und Sie wollen mit ihr reden, Herr Jochus?“

„Ich habe es Ihnen versprochen, heute noch, oder wenn es heute nicht
gehen sollte, spätestens morgen früh. Wir wollen sehen, was sich thun
läßt, ein merkwürdiges Mädel ist’s freilich, mein lieber Herr Actuar,
und einen Trotzkopf hat sie, wie keine Zweite.“

„Aber die Rosel ist so gut, so brav!“

„Das ist sie, ja,“ sagte Jochus und sah vor sich auf den Boden nieder,
„gerade wie ihre selige Mutter, deren ganzen Charakter sie auch geerbt
hat; arme Clara, wenn sie leben geblieben wäre!“

„Ich gehe jetzt, Herr Jochus,“ brach der junge Mann ab, „und überlasse
Ihnen das Weitere. Wenn Sie mir aber erlauben, frage ich morgen Abend,
falls ich zurück sein sollte, wieder bei Ihnen an, denn ich muß heute
noch nach Hellenhof aus das Obergericht und weiß nicht, ob ich bis
dahin wieder zurück sein kann.“

Der Wirth antwortete ihm nicht; er nickte nur, ganz in seine Gedanken
vertieft, leise vor sich hin, ja, er bemerkte kaum, wie der junge Mann
das Zimmer und das Haus verließ.



Fünftes Kapitel.

Vater und Tochter.


Rosel hielt sich den ganzen Tag auf ihrem Zimmer. Sie sei nicht recht
wohl, ließ sie dem Vater sagen, der später noch einmal Bärbel zu ihr
hinaufschickte. Gegen Abend kam ein Arbeiter und brachte die beiden
großen Orangenstöcke vom Bäckermeister Bollharz. Rosel nahm aber die
Stöcke nicht an; sie wollte sie nicht haben und beauftragte den Mann,
der sie brachte, sie hinüber zum Registrator zu fahren, der auch
ein großer Blumenfreund war. Er sollte nur eine Empfehlung von ihr
ausrichten, sie bäte ihn, die Stöcke, ihr zum Andenken, zu behalten.

Paul Jochus hatte indessen unten keine Ruhe im Haus. Bald saß er, ganz
gegen seine Gewohnheit, in der Wirthsstube hinter einem Schoppen Wein,
bald lief er hinaus zu seiner Kelter, um nach der Arbeit zu sehen.
Einmal war er auch sogar schon auf dem Wege nach Hellenhof gewesen,
aber wieder umgekehrt, denn das eigenthümliche Benehmen des Mädchens
ging ihm im Kopf herum, und er mußte mit ihr sprechen, um endlich zu
erfahren, was es eigentlich bedeute.

Hätte er ein gutes Gewissen gehabt, so würde es ihn wohl wenig
gekümmert haben, denn er ließ ja sonst Rosel immer ziemlich unbekümmert
ihren eigenen Weg gehen, aber so quälten ihn tolle und, wie er sich
immer noch einreden wollte, unmögliche Vermuthungen, quälte ihn ein
unbestimmter Verdacht, und über den mußte er mit ihr in’s Reine kommen,
denn die Gewißheit war immer noch besser als dieser drückende Zweifel,
der ihn nicht mehr ruhen und rasten ließ.

Entschlossen kehrte er nach Hause zurück und stieg ohne Weiteres zu
Rosel’s Zimmer hinauf, an das er klopfte.

„Wer ist da?“

„Ich bin’s, Rosel, ich muß ein Wort mit Dir sprechen.“

„Mir ist nicht recht wohl, Vater; der Kopf brennt mir so.“

„Ich geh’ gleich wieder fort, aber ich muß Dir etwas sagen.“

Einen Moment war Alles ruhig darin, dann wurde der Riegel
zurückgeschoben, und Rosel stand, ihren Vater erwartend, mitten in der
Stube.

Sie war völlig angekleidet, hatte auch nicht auf dem Bett gelegen,
was vollständig unberührt in dem kleinen Alkoven stand, aber sie sah
leichenblaß aus, und die Augen waren ihr noch vom vielen Weinen roth.

Der Vater streckte ihr die Hand entgegen, die sie zögernd nahm, und
sagte dann mit weit mehr Herzlichkeit im Ton, als er lange zu ihr
gesprochen:

„Was fehlt Dir, Kind? Wenn Du krank bist, weshalb schließt Du Dich ein
und lässest nicht Jemanden zu Dir, der Dich pflegen kann?“

„Ich bin nicht krank, Vater.“

„Aber Du sagtest selber, daß Du Kopfschmerzen hättest, und siehst
recht blaß und leidend aus. Vielleicht steckt Dir etwas Anderes in den
Gliedern, und ich will lieber nach Doctor Bauer hinüberschicken, damit
der einmal nachsieht.“

„Nein, Vater,“ sagte das junge Mädchen bestimmt, „das ist nicht nöthig,
der Doctor kann mir nicht helfen.“

„Der Doctor kann Dir nicht helfen? -- und wer sonst?“

Das Mädchen schwieg und sah scheu vor sich auf den Boden nieder,
endlich sagte es so leise, daß die Worte kaum zu dem Ohr des Vaters
drangen:

„Kein Mensch kann mir helfen, Vater.“

„Hm! das ist eigenthümlich,“ brummte der Wirth, der nicht recht wußte,
was er darauf erwidern sollte. Er nahm seinen Hut ab, den er bis jetzt
noch aufbehalten, und stellte ihn auf den Tisch, „kein Mensch kann Dir
helfen? das wär’ ja -- das wär’ ja was recht Curioses, wenn Einem etwas
fehlte, ohne daß man sterbenskrank ist, und wobei einem kein Mensch
helfen könnte. Darf ich’s denn erfahren, oder weißt Du’s am Ende selber
nicht, Rosel, und hast Dir vielleicht irgend eine tolle Schrulle in den
Kopf gesetzt?“

Das Mädchen schwieg wieder; es war augenscheinlich, daß sie im Innern
mit sich rang, und mit der rechten Hand hielt sie ihr Herz, als ob es
ihr weh thäte.

„Ich will Dir was sagen, Rosel,“ fuhr der Vater, dem das Schweigen
peinlich wurde, fort, „daß Du den Weg gestern Nacht gemacht, war ein
dummer Streich. Du hast Dich dabei erkältet, aus der heißen Stube in
die kalte Nachtluft mit Deinem dünnen Kleid und dann nachher noch die
Aufregung dazu, dort hinein in das alte, öde Gemäuer zu gehen, von dem
so viel Mordgeschichten erzählt werden, das Alles mußte Dich angreifen
und das Gescheidteste wäre gewesen, Du hättest Dich gleich zu Bett
gelegt und warm zugedeckt und lieber den Tag darin ausgehalten. Aber
was ich Dir sagen wollte, heute Mittag war -- war der junge Herr Von
bei mir, Du weißt schon. Weshalb bist Du nicht herunter gekommen, als
ich Dich rufen ließ?“

„Weil ich schon Abschied von ihm genommen habe, Vater,“ sagte leise die
Tochter.

„Du hast Abschied von ihm genommen?“ frug der Wirth erstaunt, „aber
um Gotteswillen, weshalb denn? Da mag ein Anderer aus dem Mädel klug
werden! Gestern Abend noch wart Ihr ein Herz und eine Seele, und heute
Morgen --“

„Dazwischen lag die Nacht, Vater!“

„Die Nacht? und was hat er da gethan? Bist Du ihm draußen auf Deinem
Wege begegnet?“ frug der Wirth rasch.

„Nein, Vater; seit gestern Abend habe ich ihn erst heute Morgen um neun
Uhr wieder auf dem Weg gesehen. Aber ich begreife Dich selber nicht.
Gestern grolltest Du ihm noch und warst böse, daß ich nur mit ihm
gesprochen, und heute scheinst Du Deinen Sinn wieder geändert zu haben.
Wie kommt das?“

„Weil ich mein Kind keinem adligen Hungerleider zur Frau geben wollte,“
sagte der Wirth finster. „Die Sache hat sich indessen jetzt geändert
und er hat, wenn ich auch für die Geschichte mit der Proceßsache
keinen Pfifferling geben möchte, eine feste und anständige Stellung im
Leben bekommen. Wärst Du ihm also noch so gut gewesen, wie ich früher
glaubte, so --“

„Und weißt Du, Vater, welche Stellung er erhalten hat?“ frug das
Mädchen und sah ihren Vater ernst und forschend an.

„Nun, gewiß weiß ich’s,“ erwiderte dieser, durch den Blick fast wieder
außer Fassung gebracht.

„Beim Criminalamt.“

„Ja wohl, und wenn er da tüchtig ist, so kann er’s schon rasch vorwärts
bringen. Der Gehalt wird freilich nicht so übermäßig hoch sein,
aber lieber Gott, wo man erst einmal sieht, daß wirklich eine feste
Grundlage da ist, kann man auch schon eher ein wenig nachhelfen.“

„Und weißt Du auch, Vater,“ flüsterte Rosel, indem sie auf ihren Vater
zuschritt und ihre Hand auf seinen Arm legte, „daß ich, wenn ich auch
wirklich seine Frau würde, auch kein Geheimniß vor ihm haben dürfte und
möchte?“

„Rosel!“ rief der Vater erschreckt, indem er dem großen und
angstvollen Blick seines Kindes kaum zu begegnen wagte, „was sollen
all’ die dunklen Reden? heraus mit der Sprache! Du hast etwas auf dem
Herzen, und ich will und muß es wissen.“

„Es ist auch vielleicht besser so,“ nickte das arme Mädchen leise vor
sich hin, „Du mußt es wirklich wissen, denn nur dann ist noch Hoffnung
möglich, wenn überhaupt --“

„Aber was ist Dir nur?“

„So höre, Vater. Kurz vor Mitternacht stieg ich auf die Ruine hinauf,
ich sollte zum Zeichen, daß ich oben gewesen, einen der im Burghof
selbst ausgetriebenen Schößlinge mit herunter bringen. Ich ging zu dem
alten steinernen Tisch, der dort in der Mitte steht, und gerade, als
ich darunter kauerte, um meine Aufgabe zu erfüllen, hörte ich plötzlich
Stimmen und zwei Männer -- mein Bruder und jener fremde Mensch,
betraten den innern Raum. Angst und Bestürzung, was sie dahin geführt,
ließen mich für einen Augenblick nicht recht zu mir selber kommen, ich
wußte nicht gleich, sollte ich vortreten, sollte ich mich verborgen
halten --“

„Dein Bruder?“ sagte Paul Jochus wie erstaunt, aber er selber fühlte,
daß jeder Blutstropfen sein Antlitz verlassen haben mußte.

„Gleich darauf kamst Du,“ fuhr das Mädchen jetzt in furchtbarer
Erregung fort, „ich verstand aus Deinen Worten, daß Du schon lange auf
die Beiden gewartet, und dann verschwandet Ihr zusammen hinter der
Mauer.“

„Und dann?“ sagte der Vater, doch er wußte kaum was er sprach, denn
seine entsetzlichste Ahnung war zur Wahrheit geworden.

„Dann folgte ich Euch,“ fuhr das Mädchen leise fort und durchlebte in
diesem Augenblick noch einmal das ganze Entsetzen jener gräßlichen
Stunde, „im Dunkeln tappte ich meine Bahn. Tief im Boden drin hörte ich
Stimmen, steile Felsenstufen erreichte ich, die ich niederkletterte,
ein abschüssiger schlüpfriger Weg lag vor mir und schon verließ mich
der Muth, in dieser Finsterniß weiter vorwärts zu dringen, wo ich
jeden Moment in irgend ein grausiges Gewölbe hinabstürzen konnte --
da entdeckte ich dicht vor mir an der Wand einen Lichtschimmer; ich
wagte mich noch die wenigen Schritte weiter vor und sah dann durch eine
Oeffnung, die ein herausgebrochener Stein gelassen. O Vater, Vater, was
um des Allerbarmers willen hast Du gethan? Was hab’ ich verschuldet,
daß ich das Alles für Euch tragen muß?“

„Ich weiß nicht, wovon Du sprichst, was Du gesehen, gehört haben
willst,“ stammelte der Mann. „Thörichtes Kind, die Aufregung in dem
alten Gemäuer hat Dir die Besinnung geraubt; wer weiß denn, wen die
Lust getrieben, da oben in der alten Burg um Mitternacht herumzuwandeln
und Gespenster zu spielen; ich habe in meinem Bett gelegen und der
Franz sieht mir wahrhaftig auch nicht so aus, als ob er sich eine Nacht
Schlaf abstehlen würde, um da oben in dem alten Gemäuer spazieren zu
gehen.“

Rosel sah den Vater einen Augenblick fest und starr an. Konnte sie sich
geirrt haben? Wie im Flug schoß der Gedanke durch ihre Seele, aber es
war auch nur ein Moment. Im nächsten schon fühlte sie mit furchtbarer
Sicherheit die Wahrheit des Geschehenen, und sich in leidenschaftlicher
Heftigkeit an des Vaters Brust werfend, rief sie aus:

„Vater, lieber, bester Vater, noch ist es vielleicht Zeit; rette Dich
selber, rette Deinen Sohn vor jenem nichtswürdigen Verführer, der Euch
in sein Netz gezogen!“

Der Mann hatte fast unbewußt seinen Arm um sie geschlagen und hielt sie
fest an sich gepreßt. Sie wollte das Antlitz zu ihm erheben, allein er
hinderte es. Nicht jetzt durfte sie ihm in’s Auge sehen, wo Schreck,
Angst und Trotz um die Oberherrschaft kämpften. Aber er vermochte
es nicht über sich, dem eigenen Kind gegenüber eine wirkliche Schuld
einzugestehen, nur Zeit wollte er gewinnen, um sich zu sammeln, um jede
Spur einer Ueberraschung aus seinen Zügen zu verwischen, und dann erst,
als er wenigstens glaubte, daß ihm das gelungen sei, ließ er sie los
und sagte freundlich, ja herzlich:

„Du bist wirklich krank, mein armes Kind, ernstlich krank, und ich muß
darauf bestehen, daß Du Dich in Dein Bett legst. Du sprichst wahrhaftig
wie in Fieberphantasien.“

Rosel richtete sich auf und sah ihren Vater starr an.

„Also bist Du’s wirklich nicht gewesen, Vater?“ sagte sie dann und ein
eisiges Lächeln zuckte um ihre Lippen, „den ich die Nacht oben in der
alten Ruine gesehen habe?“

„Aber, liebes Herz, was soll ich Dir das noch zehnmal betheuern,“ sagte
der Wirth, „ich habe die ganze Nacht geschlafen.“

„Und der Franz auch nicht?“

„Gewiß nicht, und wenn er oben gewesen wäre, so hätte er doch nie etwas
Böses dort im Sinn gehabt.“

„Gott sei Dank!“ sprach das Mädchen mit einem aus tiefstem Herzen
geholten Seufzer, „dann ist eine große Last von meiner Seele genommen
und ich kann mir Ruhe vor meinem Gewissen schaffen. Jetzt darf ich auch
wieder fröhlich sein und es kann noch Alles gut werden.“ Damit ging sie
zu ihrem Kleiderschrank, nahm Hut und Tuch heraus und warf sich das
letztere um.

„Und wohin willst Du noch heute Abend, Rosel?“ sagte der Vater scheu.

„Auf’s Criminalamt, Vater,“ sagte ruhig das Mädchen.

„Auf’s Criminalamt?“ rief Jochus erschreckt, „aber der Bruno ist ja
noch gar nicht oben und heute erst auf’s Obergericht gegangen. Vor
morgen Abend kann er, wie er mir auch sagte, nicht zurück sein.“

„Ich will auch nicht zum Bruno,“ erwiderte das junge Mädchen fest,
indem sein Blick wieder auf den Vater traf, „sondern nur eine Anzeige
oben machen, die wichtig genug ist.“

„Eine Anzeige, Rosel?“ frug der Wirth bestürzt

„Ja, Vater, droben auf der Ruine nämlich treibt eine Bande von
Falschmünzern ihr Wesen. Gestern Nachts habe ich sie belauscht und ihre
Maschine gesehen und ihre Reden gehört; ich geh’ dann gleich selber mit
hinauf und zeig’ ihnen den Platz, wo’s hinabgeht, daß sie gar nicht
mehr fehlen können; dort finden sie das ganze Nest.“

„Rosel,“ rief der Vater in Todesangst, „misch’ Dich nicht in solche
Geschichten! Was weißt Du von Falschmünzern und derlei Dingen, und wenn
Du auf’s Gericht mit einer solchen Klage kommst, glaubst Du denn nicht,
daß es Dich und uns Alle in Ungelegenheiten bringen könnte?“

„Keinen unschuldigen Menschen, Vater, sei versichert,“ sagte das
Mädchen ruhig. „Die Verbrecher mögen sich in Acht nehmen, aber uns kann
nichts geschehen.“

„Und wenn -- wenn Dein Bruder Franz nun doch --“ stotterte der Mann,
„in jugendlichem Leichtsinn vielleicht -- verführt --“

„Vater!“ schrie Rosel mit einem herzzerreißenden Ton des Jammers.

„Ich sag’ es ja nicht,“ sprach dieser erschreckt, „aber die Möglichkeit
liegt doch vor -- und Du möchtest doch Deinen eigenen Bruder nicht
unglücklich machen wollen?“

„So soll ich nicht gehen?“,

„Nimm Dir Zeit,“ sagte Paul Jochus, „auf einen Tag kommt’s ja nicht
an, ich will noch heute Abend nach Hellenhof hinüber und mit Franz
sprechen; ich kann mir’s nicht denken, aber wir dürfen auch nicht die
Möglichkeit außer Acht lassen. Morgen früh sage ich Dir dann Antwort,
Rosel. Nicht wahr, bis dahin redest Du mit Niemandem darüber?“

„Nein Vater,“ erwiderte das junge Mädchen, indem sie ihr Tuch abwarf
und wie gebrochen auf einen Stuhl sank. „Ich hätte auch heute zu
Niemandem davon geredet,“ setzte sie fast tonlos hinzu, „es war eine
leere Drohung, denn ich will -- keine Vatermörderin werden.“

„Rosel!“ rief der alte Mann und wollte auf sie zueilen, allein sie
streckte abwehrend den Arm gegen ihn aus.

„Laß mich, Vater, laß mich allein mit meinen Gedanken, geh’ zu Franz,
geh’, so rasch Dich Deine Füße tragen, und bitt’ ihn um meinet-, um
seiner seligen Mutter willen, daß er die Genossenschaft mit jenem
Menschen aufgebe.“

Sie hatte das Gesicht mit ihren Händen bedeckt und ihr ganzer Körper
zitterte. Der Vater stand vor ihr, er hätte noch so gern zu ihr
gesprochen, doch er vermochte es nicht. Die Zunge klebte ihm am Gaumen,
der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, und scheu und zerknirscht nahm
er seinen Hut und verließ das Zimmer.



Sechstes Kapitel.

Die Verabredung.


Paul Jochus eilte wirklich, so rasch ihn seine Füße trugen, nach
Hellenhof hinüber, denn was er schon seit heute Morgen im Geheimen
befürchtet, war geschehen und es galt nun die Folgen der möglichen
Entdeckung von ihren Häuptern abzuwenden. Er traf auch seine beiden
Bundesgenossen, den Sohn und dessen Compagnon, zu Hause, aber in
anderer Stimmung, als er selber sich befand. Jubelnd sprangen ihm
die beiden jungen Männer entgegen, als er das Haus betrat, denn sie
hatten ihn schon von oben kommen gesehen und ihm geöffnet, und wie
sie nur erst wieder die beiden schweren Riegel vorgeschoben, um von
keinem Unberufenen gestört zu werden, führten sie ihn in ihr kleines,
abseit gelegenes und nur für besondere Zwecke bestimmtes Arbeitszimmer
hinauf. Ja, in ihrer Ausgelassenheit bemerkten sie nicht einmal das
niedergeschlagene Wesen des Alten, den sie überhaupt nicht zu Worte
kommen ließen.

„Da sieh’ her, Vater,“ rief Franz ihm entgegen, indem er ihm zwei
Fünfundzwanzig-Thalerscheine vorhielt, „der eine ist ächt, der andere
unächt; nun sage selber, welches der ächte ist.“

„Welches der ächte ist, weiß ich nicht,“ erwiderte der Wirth, während
er nur einen flüchtigen Blick auf die Scheine warf, „aber so viel weiß
ich, daß wir entdeckt und verrathen sind und auch die letzte Spur
unserer Thätigkeit vertilgen müssen, so lange es noch Zeit ist.“

„Alle Teufel!“ rief Brendel, der junge Berliner, aus, indeß Franz den
Vater erschreckt anstarrte. „Haben sie einen unserer Unterhändler
erwischt? Gewiß den holzköpfigen Meier.“

„Nein,“ sagte der Wirth, „die Polizei weiß zum Glück noch nichts von
unserer Arbeit, oder ich hätte vielleicht nicht einmal Gelegenheit
bekommen, Euch zu warnen, aber von anderer Seite sind wir beobachtet
worden.“

„Von anderer Seite?“ sagte Franz erstaunt. „Das versteh’ ich nicht.“

„Rosel ist hinter unser Geheimniß gekommen.“

„Rosel?“

„Na,“ nickte Brendel, „wenn erst ein Frauenzimmer darum weiß, wär’s
freilich Zeit, daß wir einpackten.“

„Aber wie um Gottes willen ist das möglich?“

Paul Jochus erzählte den ihm in der gespanntesten Erwartung zuhörenden
jungen Leuten die Ergebnisse der gestrigen Nacht und seine heutige
Unterredung mit der Tochter, verschwieg ihnen auch nicht, daß sie
die Hand des jungen Adligen ausgeschlagen habe, weil er von jetzt ab
beim Criminalamt angestellt sei und sie vor ihrem künftigen Mann kein
Geheimniß haben könne und wolle.

„Bah!“ rief Franz verächtlich, „wenn weiter Niemand darum weiß, als
Rosel, so hat’s noch keine Gefahr. Daß die uns nicht verräth, ist
sicher, und jetzt wahrhaftig können wir die Sache nicht aufgeben, wo
wir gerade Alles erreicht haben, was wir wollen. Die Banknoten sind so
vorzüglich ausgefallen, daß sie der Finanzminister selber nicht von den
ächten unterscheiden sollte. Wir wissen jetzt, daß wir’s machen können,
und sollen nun mit diesem Bewußtsein die Flinte in’s Korn werfen,
weil meine eigene Schwester Mitwisserin geworden ist? Es wäre reiner
Wahnsinn, wenn wir’s thäten.“

„Du kennst die Rosel nicht,“ sagte der Vater ernst, „sie grämt und
härmt sich schon jetzt die Seele aus dem Leibe.“

„Aber sie darf uns nicht verrathen,“ rief Franz rasch, „denn sie hat
selber die Früchte unserer Arbeit mit genossen, also Theil an dem
Betrug genommen. Daß sie deshalb dem langweiligen Jungen, dem Herrn von
der Haide, den Laufpaß gegeben, war das Gescheidteste, was sie thun
konnte, und wenn sie erst erfährt, daß wir eine Dame aus ihr machen
können, wird sie selber mit der Sache einverstanden sein.“

Paul Jochus schüttelte den Kopf; er kannte das Mädchen besser.

„Das wird sie nicht, Franz,“ sagte er entschieden, „ich glaube, sie
trüge lieber Hunger und Kummer, als die Mitschuld an etwas Derartigem.“

„Für so dumm hab’ ich sie nicht gehalten,“ sagte Franz verächtlich;
„aber es bleibt sich gleich, wie sie darüber denkt, verrathen kann und
darf sie uns nicht und wird es auch nicht, wenigstens nicht in der
ersten Zeit, denn auf die Länge möchte ich selber keinem Weibermund
vertrauen. Haben wir aber nur vierzehn Tage Zeit, so sind wir mit Allem
fertig und brauchen nicht mehr zu arbeiten, und dann laß es unsere
Sorge sein, uns aus dem Weg zu halten. Hier ist der Absatz der Noten in
Masse ja doch nicht so leicht.“

„Wenn wir nur unsere Werkstätte wo anders hin verlegen und sie glauben
machen könnten, daß wir es aufgegeben haben.“

„Das geht nicht,“ sagte Franz entschlossen, „und wo fänden wir wohl
einen passenderen Platz? Indeß der ausgebrochene Stein muß heute Abend
noch ersetzt werden, und würden wir selbst verrathen, so weißt Du
doch, daß sie uns da unten nie erwischen könnten, denn den versteckten
Ausgang kennt kein Mensch außer uns.“

Der Wirth stand unschlüssig am Tisch und betrachtete fast unbewußt das
ihm vorgelegte Falsificat. Es war in der That meisterhaft gearbeitet
und er selber nicht im Stande die ächte Note von der unächten zu
unterscheiden. Auch das Papier ließ nichts zu wünschen übrig, und er
zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie von diesen Noten eine Masse
auf den Markt werfen könnten, ehe eine Entdeckung möglich würde. --
Und selbst dann -- wer wollte wissen oder verrathen, woher es stammte
-- aber Rosel? Er konnte den Blick nicht vergessen, mit dem sie ihn
angesehen -- er konnte die Worte nicht aus dem Gedächtniß bringen --
„was hab’ ich verschuldet, daß ich das Alles für Euch tragen muß?“ --
und er mußte auch des Versprechens gedenken, das er ihrer sterbenden
Mutter gegeben.

Sein Blick flog über das betrügerische Papier hin in’s Leere und andere
Bilder tauchten vor ihm auf.

„Nun, was sagst Du, Vater?“ frug Franz triumphirend, „kann es etwas
Vollendeteres geben? Die österreichischen Noten lassen sich mit diesen
gar nicht vergleichen, und doch haben sie drei volle Monate gebraucht,
bis sie nur dahinter kamen. Wär’s nicht reine Sünde einen solchen
Vortheil aus der Hand zu geben?“

Brendel hatte indessen mit untergeschlagenen Armen und
zusammengezogenen Brauen am Fenster gestanden und hinaus gestarrt.
Jetzt sagte er finster:

„Ich will Dir etwas sagen, Franz, je länger ich über die Geschichte
nachdenke, desto weniger gefällt sie mir. Deine Schwester mag mich
nicht leiden, so viel ist sicher -- Gott weiß, aus welchem Grunde, denn
eine so abschreckende Larve trage ich doch nicht mit mir herum -- aber
deutlich genug hat sie’s wenigstens gezeigt. Wenn sie also wirklich
Jemanden verräth, so bin ich das, und unter den Umständen --“

„Aber sie kann Dich doch nicht allein verrathen, ohne ihren Vater und
Bruder mit preiszugeben,“ rief Franz heftig aus, „und beim ewigen Gott,
wenn die Dirne wahnsinnig genug wäre, das zu thun --“

„Sie wird Euch nicht geradezu verrathen,“ sagte Brendel finster, „aber
es wird auf andere Weise an den Tag kommen, verlaßt Euch darauf.“

„Und ein Vermögen, das vor uns auf dem gedeckten Tische liegt, sollen
wir aus reinem Muthwillen mit den Füßen von uns stoßen?“ fuhr Franz
auf.

„Vielleicht doch nicht ganz,“ erwiderte Brendel; „wir wissen jetzt, wie
die Sache gemacht wird, und haben alles Nöthige dazu; es gilt also nur
einen anderen Schauplatz zu suchen, auf dem wir das Begonnene beenden
können.“

„Und wie wollen wir alle Instrumente und Pressen transportiren, ohne
Verdacht zu erregen? Weißt Du noch, welche Mühe und Arbeit es uns
gekostet hat, das Alles heimlich in die Ruine zu schaffen? und viel
schwieriger wäre es jetzt, es von da wieder wegzubringen.“

„Das weiß ich Alles und ich wollte lieber, daß die Mamsell -- doch es
ist Deine Schwester und damit abgemacht -- Du kannst es mir übrigens
nicht verdenken, daß ich lieber in Amerika oder sonst einer hübschen
Gegend als im Zuchthaus sitze, und das blüht uns, sobald wir erwischt
werden.“

„Das hat uns geblüht, solange wir die Arbeit begonnen,“ sagte Franz
verächtlich, „aber sei nicht thöricht und folg’ nur dies eine Mal
meinem Rath. Rosel hat einen Trotzkopf, ich weiß es, und ist dabei vom
Vater so verzogen, daß sie gewöhnlich thut, was sie eben will -- sonst
wäre sie auch wahrhaftig nicht Nachts zur Ruine hinauf gegangen, aber
sie ist auch klug genug, um zu wissen, wie weit sie gehen darf. Was
sie nicht sagen will, behält die schon für sich. Der Vater muß jetzt
mit ihr sprechen; er mag ihr meinetwegen versichern, wir hätten die
Geschichte aufgegeben, brauchten aber etwa vierzehn Tage Zeit, um all’
die Spuren unserer früheren Arbeiten fortzuschaffen und zu vertilgen,
wonach wir Beiden dann nach Amerika auswandern würden. Daß sie dann den
Mund hält, darauf könnt Ihr Euch verlassen, und bis dahin sind wir mit
Allem fertig und haben unser Schäfchen im Trockenen.“

„Das könnte gehen,“ sagte Brendel nachdenkend, „und was meinen Sie
dazu, Jochus?“

„Ich glaube, der Franz hat Recht,“ nickte der Wirth, dem die Aussicht
auf einen so raschen und reichen Gewinn zu verlockend entgegenwinkte,
„darauf vorbereitet ist sie überdies schon, denn ich habe ihr ja
gesagt, daß ich nur deshalb zu Dir herüberginge, Franz, um Dich davon
abzubringen.“

„Aber glaubt Ihr auch gewiß, daß wir in vierzehn Tagen mit der ganzen
Arbeit fertig werden?“

„Sicher, vielleicht noch früher,“ nickte Brendel, „denn die Nächte
werden jetzt von Tag zu Tag länger, und sowie ein wenig rauhes Wetter
einsetzt, sind wir dort oben ganz sicher vor Störung.“

„Gut! dabei bleibt’s!“ rief Jochus nach kurzem Besinnen, denn er
hatte in dem Forträumen der Werkzeuge jetzt auch eine vollständige
Entschuldigung, wenn Rosel seine Abwesenheit von daheim ja noch
bemerken sollte. „Sind denn die Vorbereitungen soweit getroffen, daß
wir gleich an die Arbeit gehen können?“

„Daran fehlt’s nicht,“ nickte Franz, „verschaffe uns nur noch bis
morgen Abend die hier auf dem Zettel bemerkten Gegenstände, die Du dann
gleich mit auf die Burg hinaufbringen kannst.“

„Und sollen wir uns also morgen Abend dort wieder treffen?“ frug
Brendel, der seine Bedenken nicht vollständig abgeschüttelt zu haben
schien.

„Jedenfalls,“ rief Franz, „denn Zeit dürfen wir nun auch nicht mehr
versäumen; jede Stunde ist kostbar.“

„Meinetwegen denn,“ gab Brendel seine Zustimmung, „aber so recht
behaglich fühle ich mich nicht mehr hier, das kann ich Euch gestehen,
und am allerliebsten versucht’ ich mein Glück an einer anderen Stelle.
Wenn Ihr’s freilich nicht anders haben wollt, so können wir uns auch
einmal ein paar Wochen auf eine Weiberzunge verlassen, denn ändern läßt
sich die Sache doch nicht mehr, dann aber hält mich auch nichts mehr in
der Nachbarschaft und ich will Gott danken, wenn ich den Rhein erst
gesund hinter mir habe.“

„Da geht unser neugebackener Actuar,“ lachte Franz, der einen Blick
durch das mit grünem Draht verstellte Fenster geworfen hatte, „wenn der
wüßte, was hier gebraut wird, welch’ glänzende Empfehlung könnte er
sich damit beim Criminalamt schaffen!“

„Spotte Du auch noch!“ sagte Brendel, während er neben ihn trat --
„und wie sich der Lump spreizt, als ob er schon Justizminister wäre!
Lauf’ Du mir nur einmal in den Weg, wenn mir die Füße erst nicht mehr
gebunden sind!“

„Der thut keinen Schaden,“ lachte Franz, „wenn sie Alle so unschuldig
wären, könnten wir uns getrost hier häuslich niederlassen. Ueberhaupt
dürfen wir uns über unsere Polizei nicht beklagen; sie scheint wirklich
froh zu sein, wenn man sie nur selbst zufrieden läßt.“

Jochus hatte seinen Hut schon wieder genommen, um nach Hause
zurückzukehren, aber er blieb noch in der Stube stehen und sah selbst
dem vorübergehenden jungen Manne nach, bis dieser oben in der Straße
verschwand.

„Hast Du den Zettel, Vater?“

„Ja -- ich werde es besorgen. Um wie viel Uhr treffen wir zusammen?“

„Nicht später als neun,“ sagte Franz, „das Papier ist schon oben und
wir können dann gleich beginnen. Also sprich mit der Rosel, sag’ ihr
meinetwegen, wir wären zu Kreuz gekrochen und versprächen, es nicht
wieder zu thun,“ lachte er bitter vor sich hin, „es wär’ auch nur erst
ein Versuch gewesen -- na, Du wirst’s schon machen.“

Paul Jochus erwiderte nichts; das Gute, was noch in ihm lebte, die
Erinnerung an Rosel’s verstorbene Mutter, arbeitete noch in ihm, aber
die Gier nach Geld war mächtiger und wich keinem Schatten mehr. Er
mußte, wie er sich einredete, das Begonnene nun auch durchführen, und
während er ohne Abschied das Haus verließ, legte er sich im Geiste
schon die Lüge zurecht, mit der er sein eigenes Kind beschwichtigen
wollte -- nicht um sie zu beruhigen und ihr den Frieden wiederzugeben,
sondern um seine eigenen schlechten Handlungen sicher zu stellen und
die Entdeckung von sich abzuwenden.

Wie trübe verbrachte indessen die arme Rosel daheim die Zeit! Wie
schwer, wie entsetzlich schwer war ihr das Herz heute, wo Alles
gerade hätte so gut sein können, wo endlich ihr heißes Gebet erhört
worden, wo der Geliebte eine feste Stellung errungen hatte und sie
Beide dem Ziele ihrer Wünsche näher waren! Durfte sie jetzt noch daran
denken, ihm jemals anzugehören? -- Dazu hätte sich die stolze Familie
vielleicht herbeigelassen, dem jungen Mann die Verheirathung mit einem
braven, unbescholtenen Bürgermädchen zu gestatten. Aber hätte sie,
die Tochter eines Verbrechers, es wagen dürfen, in das ehrbare Haus
einzutreten, hätte sie wagen dürfen, sich Bruno’s Mutter an das Herz
zu legen und ihr den theueren Namen zu geben, der ihre ganze Seele
füllte? -- nie! Wie eine Ausgestoßene kam sie sich selber vor, so
rein von Schuld sie ihr eigenes Herz auch wußte, aber wenn sie auch
nichts weiter gesündigt hatte, so war sie doch die stillschweigende
Mitwisserin jener furchtbaren Schuld, die in ihrer Brust vergraben
bleiben mußte, denn konnte sie den eigenen Vater -- den Bruder in’s
Zuchthaus liefern?

So verbrachte sie den Abend und horchte auf jeden Schritt im Hause, ob
der Vater noch nicht zurückkehre und wenigstens einen Trost bringe,
daß ihre Bitten und Thränen -- ja die absichtlich darin versteckte
Drohung einer Klage, gefruchtet hätten. Noch war es ja vielleicht
möglich, Geschehenes ungeschehen zu machen, wenigstens dem rächenden
Gesetz gegenüber, wenn sie es auch nie aus dem eigenen Herzen reißen
konnte. Sie wollte auch gern, o wie gern, Alles allein geduldig tragen
und nicht klagen und murren, wenn sie nur den Vater und Bruder vor dem
Verderben bewahrt und einem ehrlichen Leben zurückgegeben hatte.

Endlich kam der Vater. Er wollte an ihrem Zimmer vorüber in sein
eigenes gehen, aber sie ließ ihn nicht. Wie sie ihn draußen hörte,
öffnete sie die Thür und sagte ängstlich:

„Wie ist es, Vater, warst Du drüben bei ihm?“

„Ja, Kind.“

„Und hast Du mit ihm gesprochen? o, komm’ herein und erzähle mir Alles,
was er geantwortet hat.“

„’s ist Alles gut, Rosel,“ sagte der Wirth, indem er zu ihr in’s Zimmer
trat und sie auf die Stirn küßte -- er mochte ihr nicht dabei in’s Auge
sehen, „ich hab’ mit ihm geredet, er hat’s eingesehen und wir wollen
jetzt unser Möglichstes thun, um Alles, was noch von der Sache übrig
ist, aus dem Weg zu schaffen. Noch weiß kein Mensch davon, als Du, und
soll auch hoffentlich nie Jemand weiter davon erfahren.“

„Und der Fremde, was wird mit ihm?“ sagte Rosel und richtete sich
rasch empor, um ihren Vater anzusehen.

„Er -- er hat sich mit Franz gezankt,“ log der Vater, „weil er’s noch
nicht aufgeben mochte. Als ihm der Junge aber erklärte, daß er mit der
Sache nichts weiter zu thun haben wollte, meint’ er, dann ginge er nach
Frankreich hinüber und versucht’s auf eigene Hand.“

„Laß ihn, Vater, o laß ihn gehen,“ bat das Mädchen, „sieh’, ich will
arbeiten, daß mir das Blut unter den Nägeln vorspritzt. Ich kann
arbeiten; ich hab’s von Jugend auf getrieben und nichts Anderes in
meiner Jugend gelernt. Und wie gern thu’ ich’s,“ setzte sie mit
wehmüthigem Lächeln hinzu, indem sie ihr Haupt an seine Brust lehnte,
„wenn es dann nur ehrliches Brod ist, was wir essen. Es wird auch
gehen, Vater, habe nur guten Muth; Du bist jetzt so gut, Du trinkst
nicht mehr und stehst Deinem Geschäft so ordentlich vor, daß Dich
alle Menschen d’rum lieb haben; wir müssen uns vielleicht ein Bischen
einschränken, aber was thut das? Die Bärbel brauchen wir auch nicht
mehr in der Schenkstube, sie ist ein gutes Mädel, aber doch lässig, und
man muß ihr fast die halbe Arbeit noch einmal nachmachen, das kann ich
auch allein verrichten, und pass’ einmal auf, Deine Gäste sollen sich
gewiß nicht beklagen, daß sie langsam bedient würden.“

„Meine gute Rosel,“ sagte der Vater, denn die kindliche Sorgfalt der
Tochter stach ihm wie ein Messer in’s Herz und die Scham vor sich
selbst trieb ihm das Blut in die Schläfe, „Du bist ein braves Kind,
ganz wie Deine selige Mutter, so gut und fromm.“

„O, denk’ recht oft an die selige Mutter, Vater,“ bat das junge
Mädchens, sich fester an ihn schmiegend, „recht, recht oft, Du weißt
ja, wie lieb sie Dich und mich gehabt und wie schwer ihr das Sterben
wurde, weil sie mich zurücklassen mußte und sich so um mich sorgte;
denk’ recht oft an sie! willst Du mir das versprechen, Vater?“

„Ja, Rosel, ich will’s,“ flüsterte der Mann und wandte den Kopf ab,
denn er fühlte, daß er jetzt ihren Blick nicht ertragen hätte.

„Dann wird auch noch Alles gut werden,“ lächelte das Mädchen unter
Thränen vor, „Alles, Du sollst auch nie von mir eine Klage hören. Das
verspreche ich Dir, Vater, und Du weißt, daß ich halte, was ich Dir
einmal versprochen.“

„Ich weiß es, Rosel -- ich weiß es -- Du bist so von klein auf gewesen,
wie Deine Mutter selig -- aber nun laß auch das Weinen sein, Kind.
Leg’ Dich jetzt zu Bett und schlaf’ ordentlich aus, und zeig’ den
Leuten morgen wieder ein freundlich und ruhiges Gesicht. Du glaubst gar
nicht, wie sie heute nach Dir gefragt und sich um Dich gesorgt haben.
Der alte Registrator war drei Mal da, um Dir für die Orangenstöcke
zu danken, und der Stadtschreiber selber ist den Mittag eigens darum
heraus gekommen, um sich zu erkundigen, ob Dir der Marsch gestern Abend
nicht geschadet hätte.“

„Der gute alte Mann!“ sagte Rosel leise, „ja, Vater -- morgen geh’
ich wieder in die Wirthschaft hinunter, und sei versichert, mit recht
leichtem, fröhlichem Herzen. Es soll mir Niemand ansehen, wie weh mir
heute zu Muthe gewesen ist und was für eine schwere Nacht ich gehabt
habe. Und gehst Du auch jetzt schlafen?“

„Nein, ’s ist noch zu früh,“ sagte Jochus, „und ich werde noch ein
wenig hinunter sehen, denn dem Bärbel allein möcht’ ich die Stube nicht
überlassen. Also gute Nacht, Rosel; die Thür geht so oft unten, ich
glaub’, es sind viele Leute da. Schlaf’ wohl, Kind.“ Und mit den Worten
küßte er sie noch einmal auf die Stirn und stieg dann die Treppe hinab.



Siebentes Kapitel.

Rosel.


Am nächsten Morgen war Rosel mit dem ersten Hahnenschrei munter. Sie
hatte in der That nicht zu viel versprochen, denn Niemand würde ihr
angesehen haben, was sie in den letzten vierundzwanzig Stunden getragen
-- was sie noch still und allein im Herzen trug. Etwaige Fragen nach
ihrem Abenteuer suchte sie durch Scherze und Neckereien abzulenken,
denn schon die Erinnerung an jene Nacht schnürte ihr noch immer mit
einem unheimlichen Gefühl die Brust zusammen, und sie mußte sich oft
Gewalt anthun, um das Niemanden merken zu lassen.

So vergingen acht Tage; wohl hatte sie indeß bemerkt, daß der Vater
wieder Nachts das Haus verließ, und ihn auch selber deshalb gefragt,
sich jedoch vollkommen mit der Antwort begnügt, die er ihr gab: Es
geschehe nur, um dem Franz zu helfen, Alles dort oben zu beseitigen,
was später -- wenn es je einmal zufällig entdeckt werden sollte -- den
geringsten Verdacht erwecken könnte. Noch glücklicher fühlte sie sich
aber, als er hinzusetzte, jener Brendel packe nun auch schon seine
Sachen zusammen und werde in acht oder spätestens zehn Tagen Hellenhof
und das ganze Land verlassen, um nach Frankreich hinüber zu ziehen.

Nur den Menschen erst fort aus ihrer Nachbarschaft, aus dem Verkehr mit
ihren nächsten Verwandten, und sie war überzeugt, daß dann noch Alles
gut -- recht gut werden konnte. Alles? Das arme Mädchen schüttelte
traurig mit dem Kopfe. Alles konnte nicht mehr gut werden, denn für
sich und ihr Glück sah sie keine Hoffnung. Bruno blieb ihr für immer
verloren und schien sich auch selbst bereits in das Unvermeidliche
gefügt zu haben, denn sie hatte ihn nicht allein seit jenem Morgen
nicht gesehen, sondern wußte auch, daß er während der ganzen Zeit nicht
wieder nach Wellheim herüber gekommen war, -- aber sie dankte Gott
dafür, denn es machte ihr die eigene Entsagung nur so viel leichter.
Es war besser so; sie paßte auch nicht in die vornehme Familie, wenn
es sich wirklich bestätigte, daß diese durch den Proceß ein Vermögen
erworben hatte. So lange er arm gewesen, so lange sie die Aussicht
gehabt, daß sie sich selber durch Fleiß und Arbeit im Leben forthelfen
konnten, durfte sie den Gedanken hegen, -- jetzt aber war das anders
geworden, viel besser für ihn, und es schmerzte sie nur, wenn sie
sich dachte, daß er sich doch wohl gar zu rasch und leicht in das
Unvermeidliche gefunden.

Den einzigen Trost fand sie in der veränderten Stimmung des Vaters, den
sie noch nie so heiter und vergnügt gesehen hatte als jetzt. Er pfiff
den ganzen Tag im Hause herum, und wenn sie sich manchmal allein mit
ihm befand, streichelte er ihr die Backen und versicherte sie, er würde
nun auch nicht mehr lange in dem langweiligen Wellheim bleiben, sondern
bald mit ihr in eine große Stadt ziehen und ein Hotel anlegen. Die
Preise des Landes seien, wie er hinzusetzte, so bedeutend gestiegen,
daß er seine Weinberge jetzt äußerst vortheilhaft verkaufen könne,
und den Zeitpunkt wolle er benutzen, denn nach einem recht schlechten
Weinjahr sinke auch der Werth des Landes wieder, und so hoch wie jetzt
sei er noch nie gewesen.

Fort von Wellheim? -- im Anfang hatte der Gedanke etwas Peinliches für
sie, sie wußte eigentlich selbst nicht weshalb, aber rasch gewöhnte
sie sich hinein und als sie sich Alles überlegte, schien es ihr das
Beste, daß sie weit, recht weit von hier fortzögen in ein anderes Land
und auch die Erinnerungen, die bösen trüben Gedanken zurückließen am
Rheine; ja sie drängte jetzt sogar selbst den Vater, diesen Zeitpunkt
zu beschleunigen, draußen in der Welt konnte es vielleicht doch noch
besser werden.

Der alte Jochus schien auch wirklich Ernst zu machen, denn er verkaufte
schon in dieser Woche einen Theil seiner Weinberge an einen frisch
zugezogenen Weinbauer und stand sogar mit diesem im Handel um Haus,
Garten und Wirthsgerechtigkeit.

Es waren indessen fast vierzehn Tage seit jener Nacht verflossen und
das Wetter schon recht rauh und herbstlich geworden, was den Vater aber
nicht verhinderte, sehr häufig nach Hellenhof hinüberzugehen. Einmal
war er sogar die Nacht dort geblieben, wie er sagte. In der ganzen
langen Zeit hatte sie nichts von Bruno gehört und gesehen; in der Stadt
hieß es nur, seine Mutter würde ebenfalls hinüber nach Hellenhof ziehen
und hätte sich dort drüben ein sehr hübsches Haus mit einem großen
Garten gemiethet; also mußten sich ihre Vermögensverhältnisse doch
bedeutend gebessert haben, oder wenigstens bald Aussicht dazu vorhanden
sein.

Eines Tages war Rosel hinaus in den Garten gegangen, um sich noch
einen hübschen Strauß zu pflücken, ehe es einwinterte, und wollte eben
mit ihren Blumen in das Haus zurück, um sie in Wasser zu stellen, als
plötzlich -- das Blut trat ihr wie mit Einem Schlag zum Herzen zurück
-- Bruno neben ihr stand -- keinen Schritt auf dem Kies des Gartens
hatte sie vorher gehört.

„Rosel,“ sagte der junge Mann herzlich, indem er ihr die Hand
entgegenstreckte, „bist Du mir bös, daß ich Dich überrascht habe?“

„Bös?“ sagte das Mädchen verwirrt, indem sich ihr Antlitz jetzt
blutroth färbte, „bös bin ich Ihnen nicht, Herr von der Haide.“

„Ihnen -- Herr von der Haide?“ wiederholte der Gekommene leise und
traurig, und das freundliche, ja glückliche Lächeln, mit dem er sie
eben noch begrüßt, wich aus seinen Zügen. „Bin ich Dir in den wenigen
Wochen so fremd geworden, Rosel, daß Du mich Sie und bei dem kalten
Namen nennst?“

Rosel schwieg eine kleine Weile; sie hätte gern gesprochen, aber es
ging nicht, die Worte quollen ihr in der Kehle, und sie brachte keinen
Laut über die Lippen. Endlich aber wurde sie ihrer Aufregung Herr und
sagte leise:

„Es kann nicht anders sein, Herr von der Haide. Sie wissen es doch; ich
habe ja auch schon Abschied von Ihnen genommen, und ich hatte geglaubt,
Sie würden mir den Schmerz einer zweiten Begegnung ersparen.“

„Ich begreife Dich nicht, Rosel,“ rief Bruno bewegt aus; „wie ich noch
verzweifelnd in das Leben und vor mir nur Noth und Entbehrung sah,
hieltest Du treu und wacker zu mir, und nichts konnte Dich irre machen.“

„Noth und Entbehrung hätten uns auch nie getrennt,“ sagte das Mädchen
scheu und fast lautlos.

„Aber was denn sonst, Herz?“ bat dringend der junge Mann, indem er
ihre Hand ergriff, die sie ihm, aber nur widerstrebend ließ, „was, um
Gotteswillen ist zwischen uns getreten, wo uns nicht einmal Noth und
Entbehrung auseinander reißen konnten? Dein Vater war, als ich ihn das
letzte Mal sprach, gut und freundlich gegen mich, und meine Mutter
hat mich viel zu lieb, als daß sie, eines alten Vorurtheils wegen,
das Glück ihres einzigen Sohnes zerstören sollte. Ich habe auch erst
gestern wieder mit ihr über Dich gesprochen und fand zu meiner Freude,
daß sie sich, in der Zeit meiner Abwesenheit, näher nach Dir erkundigt
und von allen Seiten nur Gutes gehört habe. Ich begreife nicht, was
geschehen sein kann, Dein Herz in so kurzer Zeit, ja in wenigen Stunden
nur, von mir abzuwenden. Wie soll ich da noch Lust und Liebe zu meinem
Beruf haben, wo mir die schönste Hoffnung, die ich daran knüpfte, in
der Blüthe geknickt ist?“

Rosel schwieg noch immer -- ein schwerer Seufzer nur hob ihre Brust und
ganz in Gedanken zupfte sie die Blätter von einigen der Blumen, die sie
eben noch mit solcher Sorgfalt gesammelt hatte.

„Ich wäre auch schon lange zu Dir herüber gekommen,“ fuhr der junge
Mann bewegt fort, „denn diese Ungewißheit ließ mich nicht ruhen noch
rasten, aber es gab gerade in den letzten Wochen so viel auf dem
Criminalamt zu thun, daß ich kaum zu Athem gekommen bin. Ja ich mußte
sogar, in einem wichtigen Verbrechen, dem wir auf die Spur gekommen
sind, mit unserem Assessor eine Reise machen, die mich fast acht Tage
von Hellenhof entfernt hielt. Gestern zurückgekehrt, hörte ich zu
meinem Schreck, daß Dein Vater im Begriff stehe, Haus und Wirthschaft
zu verkaufen und ganz von Wellheim fortzuziehen, und da litt es
mich nicht länger. Ich mußte Dich sehen, und wenn ich auch für die
Versäumniß vielleicht die ganze Nacht zu arbeiten habe. -- Ist es wahr,
Rosel -- wollt Ihr fort von hier?“

„Ja,“ hauchte das Mädchen, „der Vater will wegziehen -- ich weiß selber
noch nicht wohin.“

Der junge Mann schwieg und ein bitteres Gefühl zog durch sein Herz,
während er still vor sich nieder starrte.

„Ich weiß nicht,“ sagte er nach einer kleinen Weile, „was mir Deine
Liebe rauben konnte -- ich bin mir selber wenigstens keiner Schuld
bewußt, denn nicht mit einem Gedanken habe ich an Dir gesündigt. Ich
kann mir auch gar nicht denken, was Du dabei hast, mir den Grund
zu verschweigen, denn Du bist sonst immer so wahr und offen gegen
mich gewesen, wie ich auch nichts auf der Welt kenne, was ich Dir
verschweigen möchte. Aber etwas hat sich zwischen uns gelegt -- Gott
weiß es, ohne mein Verschulden -- und sicherlich auch ohne Deines,
Rosel, und nur recht, recht traurig ist es, daß dies zwei Menschen soll
für ihr ganzes Leben unglücklich machen.“

„Recht traurig,“ nickte Rosel leise vor sich hin, aber so leise, daß er
wohl die Bewegung sah, doch die geflüsterten Worte nicht verstand.

„So sag’ mir nur noch das Eine, Rosel,“ bat Bruno herzlich, „ich will
Dich nicht länger quälen, denn ich sehe, daß Dir meine Gegenwart
nicht mehr so lieb ist, wie sie es früher war -- nur die eine Frage
beantworte mir noch -- giebt es kein Mittel, durch welches ich das
Verlorene wieder gewinnen kann? Ist es so vollständig unmöglich, das
Hinderniß, das ich nicht einmal kenne, aus dem Weg zu räumen -- soll
ich nicht wenigstens hoffen dürfen, daß noch Alles gut werden kann?“

„Nein, Bruno,“ sagte das arme Mädchen tonlos und kopfschüttelnd, „ich
habe keine Hoffnung mehr. Um das Eine nur aber bitt’ ich Dich,“ setzte
sie fast ängstlich hinzu, als er matt ihre Hand losließ und sich von
ihr abwandte, „wenn ich auch einmal fort bin von hier und Du mich nicht
mehr siehst, denk’ immer an mich und sei überzeugt, daß die Rosel gut
und brav geblieben ist und Dich von Herzen lieb gehabt hat -- willst Du
mir das versprechen? -- und Du darfst’s.“

„Ich will’s Dir versprechen,“ sagte Bruno, indem er ihr noch einmal die
Hand reichte. „Und so sollen wir jetzt wirklich Abschied für’s Leben
nehmen?“

„Für’s Leben, Bruno,“ sagte Rosel, während ihr ein paar große helle
Thränen an den Wangen niederrollten und als Thau auf die Blumen fielen,
die sie noch immer in der Hand hielt -- „ich hätt’ Dir gern den Schmerz
erspart, wenn es mir möglich gewesen wäre, aber Du hast’s ja selber so
haben wollen.“

„Ich kann mir’s noch immer nicht denken,“ nickte der junge Mann betrübt
vor sich hin, „es ist mir fortwährend, als ob wir Beide in irgend
einem schweren, entsetzlichen Traume lägen und jeden Augenblick daraus
erwachen müßten. Und doch ist’s wahr und wirklich! So leb’ denn wohl,
Rosel,“ fuhr er fort, indem er einen leisen, kaum fühlbaren Kuß auf
ihre Stirn hauchte, „ich will Dir den Abschied nicht schwer machen. Ich
geh jetzt fort zu meinem Beruf und hetze, wie die ganze letzte Woche,
hinter Raubmördern und Falschmünzern her und liefere die Verbrecher den
Gerichten aus. Glückliche Menschen bekomme ich nicht zu sehen, die ich
neiden könnte, und da will ich versuchen, ob ich’s wenigstens vergessen
mag. -- Leb’ wohl, Rosel.“

Rosel war’s, als ob ihr Jemand mit einer eiskalten Hand das Herz
zusammenpresse, und hätten Bruno nicht die Augen so voller Thränen
gestanden, so mußte er sehen, wie blaß sie plötzlich bei seiner letzten
Rede geworden.

„Hinter wem hetzest Du her?“ sagte sie fast tonlos, ohne die Hand
loszulassen, die sie noch in der ihren hielt.

„Hinter einer Falschmünzerbande, Rosel,“ antwortete der junge Mann,
„von der ich vorgestern selber das Glück hatte, einen der Agenten
einzufangen. Ich freute mich damals darüber, weil ich dachte, daß es
mir vorwärts helfen würde.“

„Und hat er gestanden?“

„Noch nicht, aber wir haben trotzdem allen Grund zu vermuthen, daß wir
das Nest hier in der Nähe finden werden. So will ich denn wieder an
meine Arbeit gehen. Lebe wohl, Rosel, und wenn ich Dich noch um Eines
bitten darf, so -- vergiß mich nicht ganz, denk’ manchmal an den Bruno,
der es treu und ehrlich mit Dir gemeint hat und Dich lieben wird, so
lange er lebt.“

Wie er noch einmal nach ihrer Hand griff, faßte er eine Blume, die
aus dem Bouquet gefallen war; er hielt sie fest und sich dann rasch
abwendend, schritt er, ohne sich auch nur noch einmal umzusehen, aus
dem Garten.

Rosel war, als er sie verlassen, kaum eines Gedankens fähig, mitten im
Wege stehen geblieben; die Blumen fielen aus ihrer Hand auf den Boden
nieder, sie merkte es gar nicht. Sie that einen Schritt vorwärts,
als ob sie ihm nacheilen möchte; sie wollte rufen, aber sie brachte
keinen Laut über die Lippen, und lange, lange schon war er im Gebüsch
verschwunden und außer Hörweite, als sie erst wieder die Kraft
erlangte, sich zu bewegen.

Mit dieser Kraft kehrte aber auch das Bewußtsein ihrer Lage, das
Entsetzliche des über sie hereinbrechenden Unglücks zurück, und Bruno
selber, der Mann, den sie mehr als ihr eigenes Leben liebte, war der
Träger desselben. Aber sie mußte ihren Vater sprechen, mußte ihn warnen
und mit flüchtigen Schritten eilte sie in das Haus.

Ihr Vater war noch nicht da und, wie ihr Bärbel sagte, nach Hellenhof
gegangen, hatte jedoch gesagt, daß er nicht lange ausbleiben würde.
Sie wartete und wartete in peinlicher, verzehrender Ungeduld, doch er
kam nicht. Sollte er wieder über Nacht ausbleiben? Der Abend dämmerte
schon, indessen sie die einzelnen Minuten gezählt, die noch nie so
langsam geschlichen waren, Paul Jochus ließ sich nicht blicken, und
jetzt litt es sie nicht länger in dem alten Haus, wo es ihr war, als ob
es über ihr zusammen brechen müsse. Sie warf Hut und Capuze über und
eilte den weiten Weg nach Hellenhof hinaus.

Wohl schauderte ihr dabei, wenn sie daran dachte, daß sie auch jenem
unheimlichen Fremden begegnen müsse, aber die Angst um den Vater
überwog das Alles und fast athemlos erreichte sie, schon lange nach
Dunkelwerden, das etwas abgelegene Gartenhaus, das ihr Bruder bewohnte.
Kein Licht brannte darin, sie klopfte an die Thür, Niemand antwortete
ihr, kein Zeichen, kein Laut verrieth, daß sich ein lebendiges Wesen in
der Wohnung befände.

Wo waren sie Alle? In der Ruine? Sie hätte vor Angst und Entsetzen in
die Kniee brechen mögen, aber es war keine Zeit, um sich irgend einer
Schwäche hinzugeben, und noch einmal klopfte sie, stärker als vorher,
und wartete auf Antwort.

Da öffnete sich in dem nächsten kleinen Haus ein Fenster, und eine
Stimme rief von dort heraus:

„Da drin ist Niemand zu Haus.“

„Und wo ist der Besitzer?“ frug Rosel zurück, dabei so viel als möglich
ihre eigene Stimme verstellend.

„Ja, das soll Unsereins wissen,“ lautete die mürrische Antwort,
„wo sich das liederliche Volk herumtreibt! Nach Wellheim zum Wein
wahrscheinlich, wohin sie alle Abende gehen, die Gott werden läßt,“ und
das Fenster wurde wieder zugeschlagen, denn die Nachtluft war kalt und
unfreundlich.

„Jeden Abend!“ nur das eine Wort fand einen Wiederklang in ihrem
Herzen. Also waren sie jeden Abend fort, und ihr Vater dann auch nicht
in Hellenhof gewesen! Was half es ihr da, wenn sie hier ihre Rückkehr
erwarten wollte? Mit schwankenden Schritten machte sie sich auf den
Heimweg.

Wohl gab es einen Platz, wo sie fürchtete sie treffen zu können -- in
der Ruine, und als sie Hellenhof wieder verließ, war sie sich ihrer
Absicht noch nicht klar bewußt, ob sie auch das Letzte wagen sollte,
sie dort aufzusuchen. In flüchtiger Eile verfolgte sie ihre Bahn, und
fast unbewußt lenkte sie, als sie die Abzweigung des Weges erreichte,
ihren Fuß der alten Burg zu. Unten am Hügel aber verließ sie ihr Muth.
Einmal ja, einmal hatte sie den Schrecken des alten Gemäuers getrotzt,
wo sie es nur von den albernen Phantasiegebilden abergläubischer
Thoren bevölkert glaubte. Jetzt stiegen entsetzlichere Bilder vor ihrer
Seele auf, als der alte Ritter von Wildenfels mit seinem kopflosen
Rumpf, Bilder, die ihr das innere Mark gerinnen machten; ihnen Trotz zu
bieten, wagte sie nicht.

Scheu, als ob sie den ganzen Spuk des alten Schlosses auf ihren Fährten
wüßte, floh Rosel nach der Stadt zurück, mit der freilich schwachen
Hoffnung, den Vater dort zu finden. Er war noch nicht zurückgekehrt,
und immer noch, als Bärbel und die anderen Dienstleute schon lange in
ihren Betten lagen, saß sie lauschend an dem nach dem Garten hinaus
führenden Fenster und horchte auf das geringste Geräusch, bis ihr die
Augen endlich vor Mattigkeit und Schwäche zufielen.

Und dort im Stuhl, fröstelnd vor Kälte, denn es hatte die Nacht scharf
gefroren, erwachte sie, als eben der erste Sonnenstrahl auf die Wipfel
der Bäume fiel. Dabei war ihr, als ob gerade eine Thür geschlossen
würde. Sie fuhr empor und horchte -- tiefe Stille lag auf dem ganzen
Haus. War ihr Vater zurückgekehrt? Sie lauschte auf den Gang hinaus,
ob sie irgend ein Geräusch hören könne, aber nichts regte sich, nur
die draußen hängende Uhr hob aus und schlug Sieben. Sie warf sich ihr
Umschlagetuch über die Schultern und trat auf den Gang hinaus. Die
Mädchen mußten unten sein; sie konnte Niemanden hören, und vorsichtig
schlich sie hinüber zu ihres Vaters Thür.

War er daheim? Leise klopfte sie zum ersten Mal an, und als keine
Antwort erfolgte, stärker.

„Wer ist da?“ antwortete die Stimme des alten Jochus. „Bist Du es,
Carl? Ich setz’ Dir meine Stiefeln gleich hinaus.“

„Ich bin’s, Vater.“

„Wer?“

„Ich, die Rosel.“

„Die Rosel? Alle Wetter, Mädel, was thust Du denn schon auf und was
willst Du? Warte einen Augenblick, ich muß mich erst anziehen; ich
mache Dir gleich auf.“

Rosel erwiderte nichts. Fest in ihr Tuch eingewickelt, stand sie
draußen auf dem kalten Gang und horchte dem monotonen Ticken der
Schwarzwälder Uhr. Es dauerte gar so lange, bis der Vater drin mit
seinem Anzug fertig wurde. Jetzt endlich trat Jemand an die Thür, der
Riegel wurde zurückgeschoben und Rosel stand auf der Schwelle. Fast
unwillkürlich warf sie den Blick im innern Raum umher, vielleicht nur
um zu sehen, ob sie allein wären, aber sie sah auch zugleich, daß das
Bett des Vaters wohl ineinander gedrückt und die Decke zurückgeschlagen
war, als ob es eben verlassen worden, doch das konnte sie nicht
täuschen; das Bett war in dieser Nacht nicht berührt und der Vater
jedenfalls erst am Morgen -- vielleicht eben in diesem Augenblick --
von seiner nächtlichen Wanderung zurückgekehrt.

„Aber Rosel,“ sagte Paul Jochus erstaunt, indem er sie kopfschüttelnd
betrachtete, „was hat Dich denn so früh aus den Federn getrieben und
weshalb weckst Du mich so zeitig? Ist etwas vorgefallen, oder bist Du
selber krank?“

„Nein, Vater,“ sagte Rosel und es wurde ihr schwer, zu sprechen, denn
der Athem versetzte ihr die Brust, „ich bin wohl -- aber -- willst Du
mir eine Frage beantworten?“

„Recht gern, Kind,“ entgegnete der Wirth, allein der Blick, der die
Tochter dabei traf, strafte die bereitwilligen Worte Lügen, denn er
flog scheu und mißtrauisch über sie hin; „was hast Du nur?“

„Du weißt, was ich neulich mit Dir besprochen habe, Vater,“ fuhr Rosel
fort, „wie Du mir versprochen hast, daß Du dem Franz helfen wolltest,
Alles -- dort oben -- aus dem Weg zu räumen, daß das unselige Geschäft
aufgegeben sei und jener Mensch, den uns des Himmels Zorn hierher
gesandt, Hellenhof verlassen wolle. Ist das geschehen?“

„Aber, liebes Herz,“ sagte der Vater mit einem erzwungenen Lachen, „um
das zu fragen, hättest Du doch wohl auch noch ein paar Stunden warten
können.“

„Ist das geschehen, Vater?“ drängte die Tochter.

„Gewiß ist’s,“ sagte der Mann halb unwillig, „der Brendel ist freilich
noch nicht fort; er mußte erst seinen Paß zum Visiren zum französischen
Consul schicken, und das hat ihn etwas aufgehalten, doch morgen reist
er ab.“

„Und in der Ruine ist keine Spur jenes -- jener Arbeit zurückgeblieben?“

„Nein, Kind, Alles glatt und sauber.“

„Gott sei Dank!“ stöhnte Rosel aus voller Brust, „so will ich denn die
Angst auch gern umsonst getragen haben.“

„Was hast Du nur, weshalb denn Angst und vor was?“

„Nichts, Vater,“ sagte das Mädchen freundlich, „wenn der Franz die
böse Sache aufgegeben hat, so ist Alles gut und es betrifft nicht uns,
sondern fremde Menschen.“

„Aber was denn, Kind?“ frug der Wirth, der sich doch nicht ganz sicher
fühlen mochte, „so sag’ mir doch, was Du hast und um was Du besorgt
warst?“

„Um nichts, Vater, und ich danke dem Himmel, daß es um nichts war.“

„Aber ich bitte Dich darum.“

„Ich möchte nicht gern das Vergangene berühren und Dir weh thun.“

„Du hast mich nun neugierig gemacht, und ein Geheimniß ist’s doch
nicht.“

„Ich weiß es nicht, Vater, aber ich glaube es nicht. Der Bruno war
gestern Nachmittag wieder hier im Garten --“

„Hm,“ sagte der Wirth, der jetzt die Aufregung des Mädchens zu errathen
glaubte, bedeutend beruhigt, „so -- und bist Du freundlich mit ihm
gewesen?“

„Weshalb soll ich unfreundlich mit ihm sein?“ sagte Rosel traurig. „Er
ist brav und gut und wir leiden Beide gleich viel; er wird auch nicht
wiederkommen. Es war das letzte Mal.“

„Aber was -- was hat denn das mit der Ruine zu thun?“ frug der alte
Jochus kopfschüttelnd.

„Er ist jetzt beim Criminalamt, Vater,“ sagte Rosel, doch leise und
scheu, „und da -- da erwähnte er zufällig, daß sie --“

„Daß sie -- was?“ rief Jochus rasch.

„Mir jagte es Anfangs, als ich es hörte, einen Schreck ein,“ sagte das
arme Mädchen, „aber so hat das ja nichts mit uns oder mit dem Franz zu
thun -- sie sind einer Falschmünzerbande auf der Spur und Alles, um was
ich Dich bitten wollte, ist: mach’, daß der fremde Mensch, der Brendel,
bald von Hellenhof wegkommt, damit der Franz keine Gemeinschaft mehr
mit ihm hält.“

Jochus war todtenbleich geworden, die Kniee zitterten ihm und er sank
wie gebrochen in einen Stuhl.

„Vater!“ rief Rosel erschreckt und ein furchtbarer, entsetzlicher
Verdacht stieg in ihr auf; „Vater, um Gotteswillen, hast Du mir in
Allem die Wahrheit gesagt?“

„Was haben sie entdeckt?“ frug der Alte, der sie mit dem linken Arme
von sich schob, mit harter, rauher Stimme, „sage mir Alles, Mädel, Du
-- Du weißt nicht, was davon abhängt.“

Rosel stand vor ihm, starr und thränenlos, sie brauchte keine Frage
mehr an ihn zu thun, in diesen angstverzerrten Zügen lag die ganze
Schuld und Sünde des Mannes, den sie hätte lieben und verehren sollen,
nur zu deutlich vor ihr, und mit jetzt vollkommen ruhiger, aber
eiskalter Stimme sagte sie:

„Was ich weiß, ist sehr wenig: einer Falschmünzerbande will man auf die
Spur gekommen sein, deren Hauptsitz man hier in der Nähe vermuthet.
Einer der Hehler oder Verbreiter ist vorgestern ertappt und verhaftet
worden. Er hatte bis jetzt noch nicht gestanden.“

„Verhaftet -- wo?“

„Ich weiß es nicht.“

„Durch wen?“

„Durch Herrn von der Haide,“ sagte das Mädchen kalt.

„Teufel!“ knirschte der alte Mann durch die Zähne, aber jetzt war auch
keine Zeit mehr, Rücksichten zu nehmen oder etwas zu verheimlichen,
was, wie er recht gut wußte, sonnenklar vor dem Auge der Tochter lag,
denn ihr Blick ließ sich nicht mehr mißverstehen. Er sprang auf, fuhr
rasch und hastig in seinen Rock, griff nach seinem Hut und eilte, ohne
der Tochter Lebewohl zusagen, die Treppe hinab und durch den Garten
hinaus auf den Weg nach Hellenhof.



Achtes Kapitel.

Die Entdeckung.


Paul Jochus hatte schon lange das Zimmer verlassen, und Rosel stand
noch immer am Fenster, wohin sie getreten, um ihm durch den Garten
nachzusehen. Wußte sie doch genau, welchen Weg er nehmen würde und
wohin ihn seine hastigen Schritte trugen. Und wie sonderbar war ihr
dabei zu Muthe! Sie sah Alles, was um sie her vorging, aber es schien
gar nicht zu ihr zu gehören oder mit ihr in Verbindung zu stehen.

Unten im Garten, gerade unter dem Fenster lag das große, prachtvolle
Bouquet, das sie gestern noch selber gepflückt, und sie wunderte sich
jetzt, was da vorgegangen sein konnte, daß man Jemandem in ihrem Garten
Blumen gestreut hätte, ohne daß sie selber davon wisse.

Da ging Bärbel in den Garten, um vom Gemüsebeete etwas Petersilie
zu holen. Was hatte die fremde Person, die so wunderbar in einen
Regenbogenschein gekleidet war, in ihrem Garten zu thun? Sie wollte das
Fenster öffnen, um ihr zuzurufen; allein sie vermochte es nicht mehr.
Sie hob den Arm und brach dann, ehe sie nur den Fenstergriff erfassen
konnte, lautlos und ohnmächtig, wo sie stand, zusammen.

Dort lag sie wohl eine Stunde lang, bis das Mädchen hinauf kam, um das
Zimmer zu reinigen, denn die Thür stand nur angelehnt.

Bärbel schlug jetzt Lärm im Haus, aber Rosel kam rasch wieder zu sich,
und es war, als ob sie gerade in dieser Betäubung der Sinne, in dem
vollen Vergessen des Geschehenen wieder frische Kräfte gesammelt habe.

Man hatte sie auf ihr Bett getragen und wollte jetzt nach dem Doctor
laufen; doch Rosel litt es nicht. Sie fühlte sich wieder vollkommen
wohl; nur eine merkwürdige Schwäche sei über sie gekommen, als sie dort
drüben im Zimmer habe aufräumen wollen. Das wäre eine Ohnmacht gewesen,
weiter nichts und jetzt vorüber. Man sollte nur ihr Fenster ein wenig
öffnen, daß die frische kalte Morgenluft herein käme, das würde ihr
mehr helfen als alle Doctoren der Welt.

Wie stürmte indessen der sonst so ruhige Wirth, Paul Jochus, auf der
Straße hin, die nach Hellenhof führte! Das Entsetzliche, das bis jetzt
nur immer als Schreckbild vor seiner Seele gestanden, war geschehen --
war endlich eingetroffen, ihre Arbeit verrathen -- verrathen im letzten
Augenblick, wo sie sich Alle am Ziel ihrer Wünsche und Hoffnungen
sahen, und nur der eine Gedanke jagte ihn vorwärts, daß es vielleicht
selbst jetzt noch nicht zu spät sei, dem größten Unglück, einem
Ertappen auf frischer That, vorzubeugen. Wußte er doch recht gut, wie
schwer es sein würde, überzeugende Beweise gegen sie beizubringen, wenn
nichts Thatsächliches vorlag, um sie zu überführen.

Die Bauern, die ihm unterwegs begegneten und ihn kannten, blieben in
der Straße stehen und sahen ihm erstaunt nach. Was hatte der Mann so
zu laufen? War irgend wo ein Unglück geschehen? Einige riefen ihn an,
er hörte sie gar nicht, oder achtete wenigstens nicht darauf, -- aber
er fühlte doch zuletzt, daß er sich, besonders in der Nähe der Stadt,
nicht auffällig benehmen dürfe, und mäßigte seine Schritte.

Endlich hatte er die Außengebäude von Hellenhof erreicht und bog hier
in einen Seitenweg ab, der nur zwischen Gärten hinführte und ihn, von
wenigen Menschen gesehen, zu der Wohnung seines Sohnes bringen konnte.
Aber dort lag Alles still; die Bewohner schliefen noch nach ihrer
nächtlichen Arbeit, und er mußte eine ganze Weile an der Thür pochen,
ehe er die Beiden so weit ermuntert hatte, daß sie ihm öffneten. Wie
rasch war jedoch jede Müdigkeit vorüber, als sie die Schreckenskunde
hörten, die er brachte! Einer ihrer Helfershelfer entdeckt und
verhaftet! Wer und wo? Betraf es auch wirklich sie? Doch sie durften
kaum daran zweifeln, denn durch den glücklichen Erfolg, den sie bis
jetzt gehabt, übermüthig gemacht, waren sie leichtsinniger vorgegangen,
als sie eigentlich gesollt.

Und was nun?

Der Gefangene -- wer es auch sein mochte -- hatte nach Aussage des
Actuars noch nichts gestanden, und es war nicht wahrscheinlich, daß er
das so rasch thun würde, denn nur durch standhaftes Leugnen konnte er
sich vor Strafe sichern, oder diese doch jedenfalls erleichtern. Allein
sie wußten nicht, welche Beweise gegen ihn vorlagen, und konnten das
auch nicht erfahren, denn schon eine einfache Frage hätte den Verdacht
auf sie lenken müssen. Wie lange Zeit blieb ihnen nun selbst, um nicht
allein ihr Product in Sicherheit zu bringen, sondern auch jede Spur
zu vertilgen, die einen Verdacht auf sie lenken konnte? Franz meinte,
daß sie, was auch geschehen möge, unter jeder Bedingung die Nacht
abwarten müßten; Brendel aber, den eine merkwürdige Unruhe erfaßt zu
haben schien, drang darauf, auch keine Stunde länger zu versäumen
und ohne Weiteres an die Arbeit zu gehen. Zwei Mal wären sie jetzt
gewarnt worden, das dritte Mal geschehe es nicht, und vor Abend gedenke
er wenigstens, Hellenhof weit genug im Rücken zu haben, um von den
Aussagen keines Menschen mehr gefährdet zu werden.

Sie hatten ja auch weiter nichts zu thun, als die schon fertigen und
noch in der Ruine liegenden Pakete mit Banknoten in Sicherheit zu
bringen und die wenigen noch unvollendeten so weit zu zerstören, daß
ein Erkennen des Fabricats daran unmöglich wurde. Alles Andere ließen
sie dann stehen und liegen, und wurde es wirklich aufgefunden, nun was
that’s? Das Gericht bekam nur den Beweis in die Hände, daß dort ein
Vergehen gegen Paragraph So und So des Strafgesetzbuches stattgefunden,
wer es aber begangen und wo sich Der jetzt befinde, könnte man aus den
todten Werkzeugen nie errathen.

Franz sträubte sich noch. Er schlug vor, einen Spaziergang nach
verschiedenen Seiten zu machen. Sie wollten sich trennen, um nicht
zusammen gesehen zu werden, und sich dann mit der Abenddämmerung
oder allenfalls schon Nachmittags in der Ruine treffen. Auf die
wenigen Stunden könne es jetzt nicht ankommen, denn liege der
geringste Verdacht gegen sie überhaupt vor, so würde man sie wahrlich
nicht so lange unbelästigt gelassen haben, sie wären schon jetzt
verhaftet worden. Brendel hatte indeß keine Ruhe; er drang mit seiner
Meinung zuletzt durch, denn Paul Jochus selber fühlte sich von einer
unsagbaren Angst überkommen, die ihm keine Ruhe ließ. Es wurde deshalb
besprochen, gleich nach der Ruine aufzubrechen, und Jochus selbst
sollte voranschreiten, während die beiden Compagnons indessen im Hause
selbst Alles vernichteten, was bei einer Durchsuchung auch nur den
geringsten Verdacht gegen sie erwecken oder einen solchen bestätigen
könnte. Besonders hatten sie noch einige Probestiche verschiedener
Noten im Besitz, die, als jetzt völlig werthlos, augenblicklich im
Ofen verbrannt wurden. Ebenso vernichteten sie alle Papierproben, die
zu Banknoten hätten benutzt werden können, und legten andere harmlose
Arbeiten, die theils ganz, theils halb vollendet waren, absichtlich auf
ihren Tischen aus, um einer etwaigen Untersuchung zu zeigen, womit sie
beschäftigt wären.

Erst als sie das Alles beendet und sich genau überzeugt hatten, daß
nicht das Geringste zurückgeblieben sei, was ihnen hätte gefährlich
werden können, verließen sie das Haus, um dem vorangegangenen Wirth auf
einem anderen Wege zu folgen, der durch die jetzt verlassenen Weinberge
führte. Sie nahmen sich dabei Zeit. Jedenfalls würden sie sich mehr
beeilt haben, wenn sie die Thätigkeit gesehen hätten, die sich heute
Morgen im Criminalamt entwickelte.

Noch gestern Abend hatte man bei dem in Haft genommenen Menschen,
der durch des jungen Actuars Umsicht aufgespürt worden, Haussuchung
gehalten und in einem Winkel seiner Schlafkammer, unter einem Haufen
alter Zeitungen und Papiere, ein kleines, fest zusammengebundenes
Packet neuer preußischer Fünfundzwanzigthaler-Scheine gefunden,
die augenblicklich durch einen reitenden Boten nach Hellenhof
hinübergeschickt wurden. Die Banknoten waren aber so täuschend
nachgeahmt, daß sie der Untersuchungsrichter nicht für gefälscht,
sondern für gestohlen hielt und die Sache bis zur Geschäftsstunde ruhen
ließ, weil um neun Uhr schon ein Verhör für den Inhaftirten angesetzt
worden. Da Actuar von der Haide den Menschen, einen Wollhändler aus
dem Nassauischen, zu verhören hatte, so ließ ihn sein Vorgesetzter
ersuchen, um acht Uhr zu ihm zu kommen, um ihm das jedenfalls
gestohlene Gut einzuhändigen.

Der junge Mann erschien und nahm die Banknoten in Empfang; jedoch
seinerseits mit dem Verdacht, daß sie es weit eher mit einem Fälscher
als einem gemeinen Dieb zu thun hätten, ging er, noch vor dem Verhör,
mit einer der Noten zu einem ihm befreundeten Kupferstecher, um dessen
Meinung darüber zu hören.

Dieser erklärte beim ersten Anblick die Banknote ebenfalls für ächt,
holte aber doch eine alte Fünfundzwanzigthaler-Note, die er gerade
besaß, hervor und verglich beide mit der Loupe, wonach er bald auf
kleine, sonst fast nicht zu bemerkende Mängel aufmerksam wurde. Nach
wenigen Minuten schon erklärte er, daß hier ein allerdings meisterhaft
gearbeitetes Falsificat vorliege: die Note sei falsch.

Das Verhör sollte nicht lange dauern. Der Wollhändler, der sich in
solcher Art durch die bei ihm gefundenen Noten überführt sah, gab nach
kurzen Kreuzfragen die Wahrheit der Anklage zu und suchte jetzt nur
alle Schuld von sich selber abzuwälzen. Er habe die Noten von einem
Freund bekommen, um sie auszugeben, sagte er.

Und wie hieß der Freund, von dem er sie bekommen?

Der Mann zögerte mit der Antwort: er suchte Ausflüchte und nannte
zuerst ein paar fremde Namen, aber es half ihm nichts. Er hatte sich
schon zu weit verfahren, um noch zurück zu können, und gab endlich
eine Person an, bei der das Herz des Untersuchenden stockte -- Paul
Jochus in Wellheim!

„Paul Jochus?“ rief der junge Actuar entsetzt aus.

„Der Wirth vom Burgverließ,“ bestätigte leise der Gefangene, und der
Protokollant eilte, die wichtige Thatsache zu Papier zu bringen.

Einen Augenblick herrschte Todtenstille in dem weiten Verhörzimmer, und
nur das Kritzeln der Feder zischelte, wie das Flüstern böser Geister in
der Luft. Jetzt hatte der Protokollführer die Aussage niedergeschrieben
und sah den Actuar an. Warum zögerte dieser, mit seinen Fragen
fortzufahren? Warum schmiedete er das Eisen nicht, so lange es heiß
war? Der junge Mann konnte nicht -- die Zunge klebte ihm fast am
Gaumen, und in wirren, wirbelnden Bildern jagten ihm die Ereignisse des
vergangenen Tages an der Seele vorbei.

Deshalb hatte Rosel seine Hand ausgeschlagen, seine Werbung
zurückgewiesen! Das war das entsetzliche Geheimniß, das sich zwischen
sie gelegt, und seit jener Nacht -- ja -- seit jener Nacht erst, in der
sie auf der Ruine gewesen, und dort -- dort mußte sie es erfahren haben!

Endlich ermannte sich der Actuar wieder -- er fühlte nur das Eine,
daß er seine Pflicht thun müsse, was auch immer die Folgen davon sein
mochten; er konnte und wollte sich derselben nicht entziehen. Und
Rosel? -- sie mochte um das Verbrechen gewußt haben, aber nie hatte
sie Theil daran genommen, das fühlte er in jeder Faser seines Herzens;
wie unglücklich sie dadurch geworden, davon war er ja selber Zeuge
gewesen. Aber andere Gedanken jagten zugleich durch sein Hirn. Wer
waren die Helfershelfer, die der Wirth gehabt haben mußte, denn der
alte Jochus hatte dies Papier nie selber fabricirt -- wer konnten sie
anders sein als sein Sohn, der hier in Hellenhof ansässige Graveur und
jener eingewanderte Künstler -- der Mensch, der es gewagt hatte, sein
Auge zu Rosel zu erheben? Er war von seinem Stuhl aufgestanden und ein
paar Mal im Zimmer auf- und abgegangen, dann klingelte er. Einer der
Gerichtsdiener kam herein und er flüsterte ihm leise einige Worte zu,
worauf der Mann das Zimmer wieder verließ. Jetzt erst setzte der Actuar
das Verhör wieder fort, das aber nicht mehr viel Wichtiges ergab, denn
der Gefangene schien es für gerathener zu halten, sich so wenig als
möglich an der Schuld betheiligt darzustellen, und wollte von keinen
weiteren Noten wissen, die er je empfangen und verbreitet habe. Auch
ob Paul Jochus, der Wirth, mit irgend wem in Verbindung stehe, wollte
er nicht wissen. Er war in Wellheim gewesen, und der Wirth hatte ihm
hier das Anerbieten gemacht. Wo der die Noten her habe, könne er nicht
sagen. Er wollte oder konnte nichts weiter gestehen und mußte in seine
Zelle zurückgeführt werden.

Es war zehn Uhr geworden, als der ausgesandte Bote zurückkehrte und
dem Herrn Actuar meldete, die beiden Graveure Franz Jochus und Wilhelm
Brendel seien nicht in ihrer Behausung, wohl aber wollte ein Weinbauer
vor kaum einer halben Stunde gesehen haben, wie sie draußen von dem Weg
nach Wellheim abgebogen und der Wildenfels-Ruine zugeschritten wären.

Jetzt durfte er seinen Verdacht nicht länger zurückhalten und ließ
sich bei seinem Vorgesetzten melden, dem er die einzelnen Thatsachen
mittheilte, ja selbst seine Neigung zu der Tochter des Paul Jochus
nicht verschwieg und seine Befürchtung aussprach, daß jener nächtliche
Besuch der Ruine ihr irgend etwas verrathen haben müsse, das sie
unglücklich und elend gemacht, denn sie sei von der Zeit an wie
umgewandelt gewesen.

Der alte Criminalrichter hörte ihm aufmerksam zu und nickte nur
manchmal leise mit dem Kopfe.

„Und was gedenken Sie jetzt zu thun?“ frug er, als der junge Mann
schwieg.

„Ich wollte Sie bitten, einen Anderen mit der augenblicklichen
Untersuchung der Ruine zu beauftragen; in wenigen Stunden könnte es zu
spät sein.“

„Aber es ist nicht möglich, daß die Herren schon irgend welchen
Verdacht geschöpft haben; sie können nicht einmal wissen, daß ihr
Bundesgenosse eingebracht ist.“

Der Actuar zögerte mit der Antwort, denn er mußte sich selber dadurch
anklagen; er dachte dessen, was er gestern Abend mit Rosel gesprochen.
Erst nachträglich war ihm aufgefallen, welchen Antheil sie gerade in
dem Augenblick an einer Sache genommen, die ihr doch eigentlich so fern
liegen mußte. Wer hätte es der Tochter verdenken wollen, wenn sie den
Vater gewarnt; und wenn er jetzt dem Vorgesetzten seine Befürchtung
verheimlichte, machte er sich dann nicht zum Mitschuldigen an dem
Verbrechen?

Es war ein augenblicklicher Kampf zwischen Liebe und Pflicht, aber die
Pflicht siegte, noch dazu, da er nur dadurch hoffen durfte, das ihm
theure Mädchen von all’ jenen entsetzlichen Verbindungen zu befreien
und dennoch für sich zu gewinnen.

Er erzählte dem Untersuchungsrichter sein gestriges Gespräch mit dem
armen Mädchen und verschwieg nichts. Kaum aber hatte er geendet, als
der alte Herr sich von seinem Stuhle erhob und rief:

„Sie haben Recht, Herr Actuar, und hier meine Hand, ich verstehe,
welche Ueberwindung Ihnen das Geständniß gekostet haben mag, und
verspreche Ihnen auch, daß Sie mit der Sache nichts weiter zu thun
haben sollen. Ueberlassen Sie das Andere mir und senden Sie mir nur
augenblicklich den Herrn Assessor Schüler herüber. Mit dem werde ich
das Weitere besprechen.“

Jetzt entwickelte sich in dem alten Gebäude eine ganz merkwürdige
Thätigkeit und es dauerte keine Viertelstunde, so wurden Leute nach
allen Seiten ausgeschickt.

Drei berittene Gensd’armen trabten, so rasch ihre Pferde sie bringen
konnten, den Weg nach Wellheim; ihnen folgten etwas langsamer drei
andere in Begleitung einer kleinen Abtheilung Militär und mehrerer
Polizeidiener. Assessor Schüler selber mit einem jungen Prakticanten
fuhr in einem Einspänner den nämlichen Weg.

Zu gleicher Zeit wurde Polizei nach dem Hause der beiden Graveure
Jochus und Brendel gesandt, sie trafen aber noch Niemanden daheim und
postirten sich dann, ohne Lärm zu machen, in der Nachbarschaft. Die
Gensd’armen waren direct vor das Wirthshaus zum Burgverließ geritten.
Rosel stand gerade in der Thür, als sie hielten, und jeder Blutstropfen
mußte ihr Antlitz verlassen haben, denn sie sah blaß aus wie eine
Leiche. Aber jede Schwäche war auch von ihr gewichen, denn seit heute
Morgen wußte sie, was kommen mußte. Daß es etwas früher kam, als sie
erwartet haben mochte, konnte sie nicht überraschen. Sie beantwortete
die Fragen nach ihrem Vater ruhig und gefaßt: er habe heute Morgen das
Haus verlassen und sei noch nicht zurückgekehrt; wo er sich aufhalte
könne sie nicht sagen, vielleicht drüben in Hellenhof, bei ihrem Bruder.

„Thun Sie Ihre Pflicht,“ sagte sie seufzend zu den Gensd’armen, die
ihr das Bedauern aussprachen, das Haus besetzen zu müssen, „ich kann’s
nicht hindern, und wenn ich’s könnte,“ setzte sie leise und scheu
hinzu, „weiß ich nicht einmal, ob ich’s thäte.“

Damit ging sie in ihr Zimmer hinauf, setzte sich an’s Fenster und
starrte still und schweigend, doch mit thränenlosen Augen, nach der
alten Ruine hinauf, deren halbverfallenen Thurm sie von dort aus
deutlich durch die Wipfel der Büsche und Obstbäume unterscheiden
konnte.



Neuntes Kapitel.

Schluß.


Indessen verfolgten die drei Verbrecher ihre verschiedenen Bahnen, die
sie an den Schauplatz ihrer Thätigkeit -- und zwar zum letzten Male --
zusammenführen sollten. Anfangs hatten sie sich völlig Zeit genommen
und Brendel selber war in einem mäßigen Schritt, doch düster brütend
vorwärts gewandert. Aber je länger er sich seinen alten Erinnerungen
überließ, desto mehr trieb ihn die Angst vor Entdeckung weiter und
zuletzt eilte er in einer solchen Hast vorwärts, daß ihm Franz kaum zu
folgen vermochte.

„Zum Teufel,“ rief dieser endlich ärgerlich, „was hetzest Du denn nur
so furchtbar heute Morgen? So eilig ist die Geschichte nicht, daß wir
uns unnöthiger Weise den Athem aus der Seele laufen sollten.“

„Wir sind Thoren gewesen,“ knirschte Brendel zwischen den Zähnen durch,
„daß wir uns so lange Zeit genommen haben, und mir hat geahnt, wie es
noch Alles kommen würde.“

„Aber was ist denn eigentlich gekommen?“ rief Franz ärgerlich. „Sie
haben irgend Jemanden dabei ertappt, falsche Banknoten auszugeben,
das ist Alles, und was wollen sie machen, wenn er nicht gesteht?
Indeß wirklich den schlimmsten Fall angenommen, daß er gestände,
was er weiß, so verräth er doch unser Versteck nicht, das Niemand
weiter kennt, als wir selber. Wie ich’s mir unterwegs überlegt habe,
glaub’ ich, es wäre am Ende gar das Beste, wir ließen Alles dort oben
ruhig, wie es steht, denn kein Mensch denkt an die alte Ruine, um dort
Nachsuchung zu halten.“

„Und Deine Schwester kennt unser Geheimniß wohl nicht?“

„Du glaubst doch bei Gott nicht, daß die uns verrathen würde?“

„Ich will wünschen, daß wir uns nicht vom Gegentheil überzeugen,“
brummte Brendel, „aber so viel weiß ich gewiß, nicht eine Viertelstunde
vertrau’ ich länger einer Weiberzunge. Macht Ihr, was Ihr wollt, mir
kann’s recht sein; schon heut’ Abend jedoch bin ich auf dem Weg zur
französischen Grenze.“

Franz hatte, wenn auch im ersten Augenblick durch die Nachricht
überrascht, noch nicht so recht an eine wirkliche Entdeckung ihres
verbrecherischen Treibens geglaubt, da sie ihm so lange und ungestraft
gefolgt waren; durch Brendel’s Angst wurde er jetzt selber mit
angstvoll. Die Möglichkeit eines Verraths ließ sich allerdings nicht
leugnen, und doppelt schwer würde sie derselbe in einem Augenblicke
betroffen haben, wo sie wirklich am Ziel ihrer Wünsche standen und
ein bedeutendes Capital meisterhaft gefertigter Noten in ihrem
Besitz wußten. Jedenfalls war es deshalb vorsichtig gehandelt, diese
wenigstens in Sicherheit zu bringen, vielleicht auch gerathen, sich
selber eine kurze Zeit aus dem Weg zu halten, bis man erst gewiß wußte,
daß der Sturm vorüber gebraust sei. Mit diesen Gedanken beschäftigt,
erstieg er schweigend mit dem Gefährten den rauhen, buschbewachsenen
Hügel, bis sie den Pfad erreichten, der hinaufführte.

Paul Jochus war noch nicht da, lange ließ er indeß nicht auf sich
warten. Kaum hatten sie das Gewölbe betreten, als sie seinen Schritt
und gleich darauf sein Zeichen hörten.

„Aber Vater, wo hast Du nur gesteckt?“ rief ihm Franz entgegen, „wir
hatten fast noch einmal so weit als Du.“

„Dann müßt Ihr gelaufen sein,“ sagte der Alte mürrisch, „ich hielt mich
noch unterwegs auf. Wie ich kaum die Büsche erreicht hatte und ein
Stück hinangeklettert war, bis zu der Stelle, wo früher die hölzerne
Bank stand und von wo aus man einen Theil der Chaussee übersehen kann,
kamen plötzlich drei Gensd’armen im scharfen Trab die Straße gen
Wellheim hinunter geritten.“

„Nun -- und?“

„Und?“ brummte Jochus, „ich möchte wissen, weshalb die in so verdammter
Eile waren und wohin sie wollten.“

„Hast Du’s denn nicht gesehen?“

„Wie konnt’ ich? Weiter ein Stück drunten verdecken die Büsche wieder
die Aussicht. So weit ich sie sehen konnte, hielten sie die Straße.“

„Bah,“ sagte Franz verächtlich, „wer weiß, welchem armen
Handwerksburschen ohne Wanderbuch sie auf der Fährte sind. Uns geniren
sie hier nicht.“

„Etwas ist aber im Wind,“ sagte Brendel finster, „und es war vielleicht
die höchste Zeit, daß wir an die Arbeit gingen. Was fangen wir aber mit
der Presse an? Verstecken wir sie, wie wir’s früher bestimmt?“

„Gewiß,“ sagte Franz, „das Loch dazu ist ja schon lange gegraben und in
einer halben Stunde haben wir Alles aus dem Weg.“

„Und der Kasten?“

„Muß mit hinein. Wir dürfen keine Spur zurücklassen. Theile nur
indessen die Noten ab, Brendel, damit Jeder seinen Part bei sich
verstecken kann. Du, Vater, hilf ihm und ich werde indessen das
Grabgeschäft besorgen. Schade um die schöne Presse, sie muß hier
total verrosten, doch es läßt sich eben nicht ändern. Fort dürfen wir
sie unter keiner Bedingung schaffen, jetzt wenigstens noch nicht.
Vielleicht findet sich im Winter und in den langen Nächten einmal Zeit
und Gelegenheit dazu.“

Die drei Leute gingen nun rüstig an die Arbeit, denn es galt nur noch
die letzten Spuren zu vertilgen, durch welche sie eine Entdeckung
fürchten durften, und dann ihren Raub in Sicherheit zu bringen,
ehe irgend ein Verdacht auf sie fallen konnte. Die Presse wurde in
eine schon bereit gehaltene breite Grube langsam und vorsichtig
hineingelassen, und während sich Brendel mit dem alten Jochus daran
machte, die schon in Pakete gesonderten Noten in drei Theile zu
scheiden und seinen Theil, so gut das eben ging, an seinem Körper zu
verbergen, nahm Franz das kurze, schwere Beil und schlug die Beine von
dem eichenen Tisch ab, der ihnen bis jetzt als Arbeitstafel gedient und
dessen Heraufschaffen ihnen früher die größte Mühe gemacht. Es ging das
nicht ohne Lärm ab und Brendel fühlte sich zuletzt durch das Hämmern so
beunruhigt, daß er ärgerlich ausrief:

„Zum Teufel auch, ich wollte, Du hättest das alte Ding hier unten ruhig
stehen und verfaulen lassen. Und wenn sie ihn einmal fänden, was läge
daran?“

„Wenn sie den Tisch fänden, wüßten sie auch, daß noch mehr hier unten
versteckt ist,“ sagte Franz störrisch, „aber seid Ihr denn noch nicht
mit dem Abzählen fertig?“

„Gewiß, Deine Noten stecken hier in der Ledertasche.“

„Gut, dann geh’ Du indessen lieber einmal hinauf, Vater, und halte eine
Viertelstunde Wacht; indessen machen wir die Geschichte hier fertig und
in Ordnung. Laß Dein Packet nur so lange hier unten, es wäre ja doch
möglich, daß ein oder der andere Fremde bei dem schönen Wetter hier
heraufkletterte, und sicher ist sicher.“

„’s ist am Ende besser,“ sagte der Alte, „aber halte Dich dazu; wir
haben schon eine Menge Zeit verloren und ich muß machen, daß ich wieder
nach Wellheim komme.“

Noch während er sprach, verbarg er einen Theil der Packete, von denen
jedes eintausend Thaler enthielt, an seinem Körper, legte dann die
anderen unten in eine Ecke, um sie nachher mitzunehmen, und stieg
langsam den steilen, schlüpfrigen Pfad hinauf, der in den Burghof
hineinführte.

Einmal hielt er erschreckt inne, denn es war ihm fast als ob er oben
ein Geräusch gehört hätte, regungslos stand er und horchte, doch es
schien Alles ruhig. Nur hohl und dumpf klangen die Schläge des Beils
von unten herauf, mit denen Franz jetzt die Stühle zertrümmerte, um
sie ebenfalls in die Grube zu werfen, welche Brendel schon angefangen
hatte, an der einen Seite auszufüllen. Dicht daneben hatte er noch ein
kleines, aber ziemlich tiefes Loch gegraben und in dieses den Rest der
noch nicht vollendeten Banknoten mit dem Spaten hineingestampft; dort
unten mochten sie verfaulen, denn wenn sie jetzt ein Feuer anzündeten,
so konnte sie vielleicht der aufsteigende Rauch verrathen.

Paul Jochus hatte indessen die steilen Treppenüberreste erreicht, die
hinauf in’s Freie führten. Es war ihm wunderbar bänglich zu Muthe und
er scheute sich an das Tageslicht hinaufzusteigen. Warum denn? Oft und
oft hatte er den Weg gemacht und kannte doch wahrhaftig keine Furcht;
es war nur ein sonderbares Gefühl, das ihn beschlich, und immer wieder
horchte er auf’s Neue. Aber da unten wurde es ihm zuletzt, als ob er
gar keinen Athem mehr holen könne; wie Blei lag es ihm auf der Brust,
und er kletterte jetzt rasch die Treppe hinauf, um nur erst einmal an
die frische Luft zu kommen.

In das kleine Gewölbe, das Paul Jochus jetzt betrat und das dicht an
den Burghof stieß, fiel allerdings die Sonne noch nicht herein, denn
die einzige dort eingebrochene Thür lag nach der Nordseite, es war
jedoch hell genug darin, um sich umsehen zu können, und er athmete
hoch auf, als er keinen Menschen hier erblickte; war es doch fast als
ob er erwartet hätte, hier Jemanden zu finden. Plötzlich aber stieß
er einen lauten Angstschrei aus, denn in dem Moment sprangen zwei
dunkelgekleidete Gestalten durch die schmale Thür und warfen sich
auf ihn. Jeder Flucht- und Widerstandsversuch war unmöglich, weil
den Zweien noch Andere folgten. Soldaten sah er ebenfalls mit ihren
blitzenden Helmen und Gewehren. Im Nu hatten sie seine Arme gefaßt und
ihn an weiterer Flucht verhindert.

„Was wollt Ihr?“ schrie er absichtlich laut, „was habt Ihr vor? Seid
Ihr Räuber und Mörder?“

Das Klopfen hatte unten aufgehört, aber immer mehr Menschen drängten in
den engen Raum.

„Laternen her!“ rief der Assessor Schüler, der das Ganze leitete,
„hier ist der Eingang zu dem Versteck. Klettere einmal einer mit einer
Laterne voran. Ihr Uebrigen breitet Euch oben aus; ich brauche nur vier
Mann mit mir, wir wissen nicht, ob der Bau nicht noch eine Nothröhre
hat, durch welche die Schufte vielleicht ausfahren könnten. Vorwärts!
Ihr kennt Eure Ordre.“

Paul Jochus war ein baumstarker Mann, und in gewöhnlicher Zeit
würden vielleicht vier Leute kaum hinreichend gewesen sein, ihn
zu überwältigen und zu halten: jetzt konnte ihn fast ein Kind
niederwerfen. Er war wie gebrochen, und ließ Alles mit sich geschehen,
sträubte sich auch nicht im Geringsten, als man ihm die Hände auf dem
Rücken zusammenschnürte und so jeden Fluchtversuch abschnitt.

Da fielen draußen am Hügelhang rasch hintereinander zwei Schüsse, dann
war Alles still und nicht einmal die in das Gewölbe Gestiegenen kehrten
zurück.

Assessor Schüler kannte das alte Nest, in dem er sich schon als Knabe
herumgetummelt, ziemlich genau. Er wußte auch, daß es unterwölbt sei,
und war schon als Kind, wo man den Platz noch häufiger besuchte,
überall darin umhergekrochen. Lagen auch lange Jahre dazwischen,
so erinnerte er sich doch des Terrains noch deutlich genug und
traf darnach seine Vorsichtsmaßregeln. Es schien ihm nämlich nicht
unwahrscheinlich, daß die Verbrecher, wenn sie sich wirklich dort
oben sollten eingenistet haben, auch schlau genug gewesen wären,
irgend einen ihnen durch die verschiedenen Gänge gebotenen Vortheil zu
benutzen; wohin diese auszweigten, wußte er freilich nicht.

Er begnügte sich indeß auch nicht damit, bloß die Burg selber
geräuschlos zu ersteigen und zu besetzen, sondern er ließ den ganzen
oberen Hügel, auf welchem sie stand, richtig bestellen, wie bei
einer Treibjagd, so daß Soldaten mit scharf geladenen Gewehren immer
etwa vierzig Schritt von einander an kleine Lichtungen oder Pfade
postirt und einander noch in Sicht waren. Erst als er sich in dieser
Hinsicht so viel wie möglich gesichert wußte, folgte er selber den
vorangeschickten Polizeidienern und erhielt von diesen schon an der
steinernen Treppe die Meldung, daß man einen kellerartigen Eingang,
der nach unten führe, entdeckt habe und dort unten ein dumpfes Klopfen
hören könne.

Nachdem man sich nun rasch überzeugt hatte, daß dies wirklich der
einzige sichtbare Weg sei, der oben von der Burg aus in das Innere
führe, wurde derselbe besetzt und der Assessor machte sich gerade
selber bereit hinabzusteigen, als sie den Wirth langsam herauskommen
hörten. Seine Gefangennahme erfolgte dann, wie vorher beschrieben, und
Assessor Schüler säumte nun keinen Augenblick, um das Nest da unten
selbst auszustöbern.

Das hämmernde Geräusch hatte gleich nach dem ersten Angstschrei des
Gefangenen aufgehört. Todtenstille herrschte und die matt brennenden
Laternen warfen ein unheimliches Licht auf den schmalen, düsteren Gang;
aber unaufhaltsam und so rasch es der schlüpfrige Boden erlaubte,
drangen sie vor, als sie sich plötzlich an einem Loch sahen, in das
weder Leiter noch Treppe hinabführte und dessen Tiefe sie auch in
der Dunkelheit nicht erkennen konnten. Die Leute wußten sich aber
zu helfen, denn daß sie auf dem richtigen Pfade seien, bewiesen die
dem weichen Boden hier eingedrückten vielen Fußspuren. Einer der
Polizeidiener knüpfte rasch ein mitgenommenes Seil an die Laterne und
ließ sie in das Loch hinab, wonach sich dann bald herausstellte, daß
es kaum zehn Fuß tief sei und unten weichen Boden habe. Wahrscheinlich
hatte hier eine Leiter gelehnt, die bei dem ersten Alarm von den unten
Befindlichen weggezogen worden, um den Verfolgern den Weg abzuschneiden.

Da hörten sie draußen die Schüsse.

„Ob ich’s mir nicht gedacht habe,“ brummte der Assessor. „Vorwärts,
Leute, wir müssen hinunter. Wer springt dort zuerst hinab?“

Einer der jüngsten Polizeidiener ließ sich nicht lange bitten, denn
auch sein Geschäft war Jagd, und was thut ein Jäger nicht, um dem
verfolgten Wilde beizukommen? Er hob sich die Laterne ein wenig aus
dem Weg und war mit Einem Satz unten.

„Geh’ ein kleines Stück vor, ob Du keine Leiter findest.“

„Hier liegt sie schon!“ rief der Mann, der mit der aufgenommenen
Laterne nach vorn geleuchtet hatte.

„Her damit! Bravo, mein Bursch, das war gut gemacht, und nun hinunter
mit Euch, Ihr Leute!“

Rasch ging es immer nicht, denn es war nachtdunkel dort unten, aber
sie schienen hier auch den tiefsten Platz des Gewölbes erreicht zu
haben. Ein schmaler Gang bog links ab und wenige Schritte weiter fanden
sie sich in dem Gewölbe, das Paul Jochus vor noch nicht langer Zeit
verlassen hatte und wo seine beiden Helfershelfer zurückgeblieben
waren. Von diesen ließ sich jedoch nirgend mehr eine Spur erkennen.

Die halb zugeworfene Grube fanden sie, mit dem Werkzeug noch daneben,
doch kein menschliches Wesen, und erst als Assessor Schüler selber die
Laterne nahm und an den Wänden rings herumleuchtete, entdeckte er eine
kleine Oeffnung, durch welche eben gebückt ein Mann kriechen konnte.
Dort waren sie jedenfalls hinaus; ohne weiteres Zögern folgte er nach.

Die rings um den Hügel postirten Soldaten hatten indessen ihre Plätze
mit dem Gefühl eines Jägers behauptet, der mitten im Wald angestellt
ist, ohne zu wissen, von welcher Seite das Treiben kommt. Sie drehten
das Gewehr in Anschlag, den Kopf bald nach der, bald nach jener
Seite und fuhren fast erschreckt zusammen, wenn ein Eichhörnchen von
Zweig zu Zweig sprang oder eine Maus im Laub raschelte, ja begriffen
zuletzt nicht recht, was sie hier draußen eigentlich sollten: denn
befanden sich die Verbrecher wirklich in der Ruine und wußten sie einen
geheimen Weg zur Flucht, so würden sie doch nie in dieses Dickicht
hineingekrochen sein. Allerdings kam es ihnen so vor, als ob sie
irgendwo ein dumpfes Klopfen hörten, aber woher das tönte, ließ sich
nicht bestimmen, und es konnte ebensogut von irgend einem Holzfäller
herrühren, der weit im Walde drin an einem Baum hackte. Bald schwieg
auch das und Todtenstille lag im Wald.

Der eine Soldat, ein Jägerbursch aus dem Spessart, stand etwa zehn
Schritt über einer schmalen Felsplatte, wo er eine kleine, mit
Heidelbeerbüschen überwachsene Lichtung unter sich hatte. Da, horch!
was war das? Ein Fuchs, der vielleicht hier seinen Bau hatte und den
schönen Morgen zu einem Spaziergange benutzen wollte? Unbewußt fast
machte er sich schußfertig. Da wurde Moos bei Seite geworfen, das
konnte ja doch kein Fuchs sein. Das Herz schlug wie ein Schmiedehammer
in der Brust. Jetzt arbeitete sich eine dunkle Gestalt unter dem Felsen
vor -- das war ein Mensch und mit zwei Sätzen stand der Jäger unten auf
der Platte.

„Halt oder ich schieße!“ schrie er und suchte sich festzustellen,
allein der Flüchtige hielt nicht. Im Nu hatte er den freien Boden
erreicht und wie ein flüchtiger Hirsch setzte er mitten in das Dickicht
hinein. Er war aber an den richtigen Mann gekommen, denn der gelernte
Jäger brauchte nicht lange, um wieder einen festen Stand zu bekommen,
und ehe der Fliehende das schützende Dickicht erreichen konnte,
fiel sein Schuß, bei dem der Getroffene in den Busch hineinschlug.
Fast zugleich feuerte auch der ihm nächststehende Soldat, durch den
Ruf aufmerksam, nach der Gestalt, die er ebenfalls durch die Büsche
erkennen konnte, und von allen Seiten flogen die dort postirten
Soldaten jetzt herbei, um Theil an der Verfolgung zu nehmen. Sie
hatten aber leichte Arbeit, denn während zwei hinuntersprangen, um
den Verwundeten aufzunehmen, bewegte sich das überhängende Moos und
Gestrüpp noch einmal und ein bleiches, zitterndes Menschenbild kam
daraus vorgekrochen, das nicht mehr den geringsten Widerstand leistete.

Es war Franz. Hinter sich die Verfolger, der Vater gefangen, der Freund
erschossen, der Platz von Soldaten umstellt, auf den sie ihre letzte
Hoffnung gesetzt, was hätte da noch ein verzweifelter Fluchtversuch
genützt? Er war verloren und ergab sich, vollständig gebrochen, in sein
Schicksal.

       *       *       *       *       *

Der Verlauf des Processes nahm das allgemeine Interesse des Publikums
in Anspruch, die Beweise waren jedoch zu klar, als daß auch nur einer
der Gefangenen hätte wagen dürfen, zu leugnen. Nicht allein der ganze
Vorrath gefälschter Noten war aufgefunden worden, sondern auch die
Presse, die zu der Arbeit gedient. Das Urtheil für Paul Jochus und
seinen Sohn lautete auf acht Jahre Zuchthaus.

Anders war es mit Brendel, der einen Kugelschuß in den Schenkel
bekommen hatte und wochenlang lag, ehe er transportirt werden konnte.
Man erkannte in ihm während der Untersuchung einen schweren, lang
verfolgten Verbrecher, der einst in der unmittelbaren Nähe von Berlin
einen frechen Raubmord verübt, und auf Requisition des dortigen
Gerichts wurde er dahin abgeliefert.

Einer der Inhaftirten aber entzog sich der Strafe. Am fünften Tag der
Untersuchung fand man Paul Jochus in seinem Gefängniß erhängt. Er
hatte sich mit seinem Taschentuch an dem eisernen Gitter seines etwas
hochgelegenen Fensters erdrosselt.

Das Weinhaus zum Burgverließ war mittlerweile von den Gerichten
in Beschlag genommen worden und Rosel zu ihrem Pathen, dem alten
Registrator gezogen.

Dorthin kam Bruno von der Haide, um sie aufzusuchen. Das Verbrechen des
Vaters hatte die Liebe zu dem Mädchen nicht ertödten können, ja sie
wuchs mit dem Unglück, das sie betroffen, aber er sah sie nicht wieder.
Zweimal war er dort und zweimal ließ sie ihm sagen, daß sie ihn nicht
sprechen könne. Als er zum dritten Mal kam, fand er einen Brief von ihr
vor, in dem sie mit herzlichen Worten den letzten Abschied von ihm nahm.

Sie hatte sich in die Gesellschaft der Barmherzigen Schwestern
aufnehmen lassen und war nach Lima in Peru gegangen.



Herr Müller.



Erstes Kapitel.


Es giebt nichts Entsetzlicheres auf der Welt, als Morgens früh eine
Wirthsstube zu betreten, in der am Abend vorher, vielleicht bis ein
oder zwei Uhr in der Nacht, getrunken und geraucht worden, und wo der
Raum noch nicht gelüftet und gereinigt ist.

Ein warmer, widerlicher Dunst liegt in dem Zimmer und versetzt
besonders Dem ordentlich den Athem, der es eben aus der frischen
Morgenluft betritt. Auf den begossenen klebrigen Tischen stehen
schmutzige Gläser und geleerte Flaschen, auf der Erde zerstreut liegen
angebrannte Fidibus und Cigarrenstummel, während die unordentlich
umhergeschobenen Stühle überall den Weg verstellen und ein solches
Gemach, wenn es dafür überhaupt einen Comparativ gäbe, noch
ungemüthlicher machen. Kommt dann gar noch ein fauler Hausknecht dazu,
der sich nicht einmal die Mühe nimmt, die Fenster zu öffnen, und mit
seinem Besen den Staub und Sand umherwirbelt, dann ist ein solcher Ort
gerade zum Verzweifeln, und wenn den Reisenden nicht das Wetter dazu
zwingt, hält er sicher nicht darin aus.

Genau so sah es heute in dem sonst ziemlich eleganten Gastzimmer des
„Hotel Müller“ in B. aus, als ein Fremder die Thür öffnete und, von den
auf ihn eindrängenden und mit einer Staubwolke vermischten Dünsten eben
nicht angenehm überrascht, auf der Schwelle stehen blieb.

„He, guter Freund“, sagte er zu dem nicht einmal nach ihm umschauenden
Hausknecht, „wäre es Ihnen nicht vielleicht einerlei, wenn Sie bei
Ihrer Beschäftigung ein paar Fenster öffneten. Ich dächte, frische Luft
könnte diese Atmosphäre nur verbessern; glauben Sie nicht?“

Der Bursche, dem die Anrede galt, schlief augenscheinlich noch, er
verrichtete wenigstens seine Arbeit mit halbgeschlossenen Augen und
schien auch gar nicht zu hören, daß Jemand mit ihm gesprochen, nahm
wenigstens nicht die geringste Notiz davon und kratzte ruhig weiter.

„Angenehm“, brummte der Fremde vor sich hin, that aber das, was ihm
allein helfen konnte: er öffnete die Fenster nämlich selber und
klingelte dann mit einer der auf den Tischen befindlichen Glocken, um
irgend eine brauchbare Bedienung herein zu rufen. Zugleich band er sich
einen Shawl, den er locker um den Hals trug, fester um die Kehle, denn
es zog jetzt bös im Zimmer.

Das Läuten schien indessen keinen wesentlichen Erfolg zu haben. Der
Hausknecht kümmerte sich gar nicht darum, und weiter ließ sich Niemand
blicken. Erst als er den Versuch einigemal wiederholt hatte, steckte
ein sehr niedliches Stubenmädchen den Kopf in die Thür und sagte:

„Na, ist denn Niemand hier, wo steckt denn der faule Kellner nun einmal
wieder? He, Hans -- habt Ihr ihn nicht gesehen?“

Die Frage galt augenscheinlich dem Hausknecht, auf den sie aber ebenso
geringen Eindruck machte, wie das Klingeln vorher. Entweder hatte er
sie nicht gehört, oder wollte er sie nicht hören, aber er kehrte ruhig
weiter.

„Bitte, wecken Sie den Mann nicht“, sagte der Fremde ruhig, „er scheint
im ersten Schlaf zu liegen. Wenn Sie nur so freundlich wären, mein
Schatz, mir einen von diesen Tischen abzuwischen und dann eine Tasse
Kaffee und ein Glas Cognac für mich zu bestellen, nachher brauchen wir
jenen Biedermann nicht zu belästigen.“

„Ei du lieber Gott“, sagte das junge Mädchen, „es sieht ja aber noch
gar zu erschrecklich hier aus. Ja freilich, wenn man Nachts bis halb
drei Uhr auf den Füßen sein muß, dann verschläft man sich wohl auch
einmal. -- Sie sollen’s gleich haben.“

Dabei hatte sie ein feuchtes Wischtuch genommen, den einen Ecktisch
abgeräumt und rein gewischt, einem Stuhl denselben Liebesdienst
erwiesen, und diesen jetzt dem frühen Gast hinrückend, fuhr sie fort:

„Da, nehmen Sie Platz -- und wie das hier zieht -- aber Sie sollen
gleich Ihren Kaffee haben, und dann wird auch der Platz hier rasch
aufgeräumt. Wo nur der Mosje Louis steckt.“ Und mit den Worten verließ
sie das Zimmer, um das Verlangte selber herbeizuholen.

Der Fremde schien gar nicht mehr zu hören, was sie ihm sagte, sondern
nur mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt zu sein. Er hatte den
Reisesack, den er trug, neben sich auf einen Stuhl gestellt, setzte
sich an den Tisch, stemmte den Kopf in die Hand und sah still und
düster vor sich nieder, veränderte auch seine Stellung nicht, bis das
Mädchen mit Kaffee und Cognac zurückkam, Beides vor ihn hinsetzte und
dann geschäftig daran ging, das Zimmer in Ordnung zu bringen. Der
Hausknecht hatte indessen seine Arbeit ebenfalls beendet, und wollte
gerade die Thür wieder schließen, als sein Blick auf den Fremden fiel.
Er drehte wieder um, kam herein, ging auf diesen zu und sagte, während
er sich mit dem linken Daumen am Hals kratzte und mit der rechten Hand
auf die Füße des Reisenden zeigte, nur das eine Wort:

„Stiefel putzen?“

Dieser sah überrascht zu ihm auf.

„Ah, guten Morgen, Kamerad. Ausgeschlafen?“ lachte er.

„Auf der einen Seite“, brummte der Mann mit der rothen Schürze.
„Stiefel putzen?“

„Hm“, meinte der Fremde, indem er einen Blick auf seine Fußbekleidung
warf, der eine Bürste eben keinen Schaden gethan haben würde, „jetzt
nicht, später. Kann man hier logiren?“

Das war eine Frage, die den Hausknecht nichts anging, und ohne sie
deshalb einer Antwort zu würdigen, drehte er sich auf seinen Pantoffeln
wieder um und schlappte aus dem Zimmer.

Der Fremde sah ihm nach und lachte still vor sich hin; andere Gedanken
gingen ihm aber doch durch den Kopf, um sich lange mit dem faulen
Burschen zu beschäftigen. Er trank seinen Kaffee, stürzte den Cognac
hinterher, nahm dann eine schon etwas stark gebrauchte Cigarrendose aus
der Tasche und zündete sich mit einem Feuerzeug, das er ebenfalls bei
sich führte, eine Cigarre an.

Das Stubenmädchen, ohne sich indeß dabei in ihrer Arbeit stören zu
lassen, betrachtete sich den Fremden kopfschüttelnd, denn sie konnte
nicht recht klug aus ihm werden.

Es war in der That eine etwas wunderliche Persönlichkeit, und wenn er
auch anständig gekleidet ging, lag doch in seinem ganzen Wesen wieder
etwas, das man hätte genial nennen können, das aber eigentlich an das
Liederliche und Verkommene streifte. Er trug einen weiten leichten
Paletot, wie ihn Künstler gewöhnlich tragen, einen breitrandigen,
schwarzen, etwas zerdrückten Hut von feinem weichen Filz, gestreifte
Beinkleider und lilla Glacéhandschuhe, aber seine Wäsche war nicht
tadellos rein, und konnte nur vielleicht damit entschuldigt werden, daß
er eben von der Reise kam. Trotzdem würde er entschieden anständiger
ohne die unechte Tuchnadel ausgesehen haben.

Für den Mann ist jeder goldene Zierrath unpassend, aber entsetzlich,
wenn er auch noch unecht ist, und kann eigentlich nur bei
Weinreisenden entschuldigt werden.

Seinem Aussehen nach mochte der Fremde etwa in den Vierziger Jahren
stehen; sein Alter ließ sich aber nicht genau erkennen, da der volle
braune Bart und der breitrandige Hut das Gesicht ziemlich verdeckten.
Im Bart selber zeigten sich aber schon kleine graue Flecke, die
Schatten, die der sinkende Abend auf uns wirft, und nur seine
Bewegungen waren noch lebendig und fast jugendfrisch.

Er hatte den Rauch in dichten Wolken ausgeblasen und ein paarmal auch
den Kopf nach dem Mädchen umgedreht, als ob er sie anreden wollte, es
aber immer wieder unterlassen. Da ging die Thür auf und „Mosje Louis“,
der Kellner trat ein. Mosje Louis war in der That „jeder Zoll ein
Kellner“.

Er erschien spät, aber er erschien seiner würdig, in vollem, nichts
zu wünschen übrig lassendem Ornat, die schwarze Tuchjacke sauber
abgebürstet, die großcarrirten Hosen nach dem neuesten Schnitt und
sehr eng, die Wäsche untadelhaft, mit allem nur darauf anzubringenden
Zubehör von Tuchnadel, Chemisett- und Hemdknöpfchen, Berloques, Kette
und Ringen; und das Toupet. Es war in der That makellos und über beiden
Ohren hoch und gelockt auflaufend, während gerade auf der Mitte des
Kopfes eine wahre Chaussee von einem Scheitel schnurstracks hindurch
bis hinten hinunter in die himmelblaue Halsbinde lief.

Schade, daß seine etwas stumpfe Nase nicht mit dem Ganzen harmonirte.
Selbst dem geistreichsten Gesicht giebt außerdem ein in der Mitte
gescheiteltes Haar stets einen „minder geistreichen Ausdruck“, um mich
so artig wie möglich auszudrücken, und Mosje Louis besaß unglücklicher
Weise nicht einmal ein geistreiches Gesicht. Er sah eigentlich schon,
ohne künstliche Vorrichtung, von Natur etwas dumm aus. Aber jene
glückliche Selbsttäuschung, die den Schwindsüchtigen mit frischer
Lebenshoffnung erfüllt, half auch Mosje Louis über diese weit geringere
Unbequemlichkeit des Lebens hinweg. Er selber hielt sich für schön, ja
für unwiderstehlich, und sein kleiner Unterkellner, der leider jetzt im
Bett lag und krank war, wollte sich über seine Witze immer vor Lachen
ausschütten.

Mosje Louis erschien also, warf einen etwas erstaunten Blick auf den
frühen Gast, einen schmachtenden auf das Stubenmädchen und sagte leise:

„Guten Morgen, Lieschen!“

„Guten Morgen, Herr Louis!“ erwiderte das junge Mädchen, ohne weiter
Notiz von ihm zu nehmen. Sie war mit ihrer Arbeit gerade fertig
geworden, überschaute das Zimmer noch einmal flüchtig und verschwand
dann mit den Worten, bei denen sie auf den Fremden deutete: „halbe
Kaffee und Glas Cognac!“ aus der Thür.

Herr Louis sah ihr freundlich zunickend nach, da er aber ihrem Blick
nicht wieder begegnen konnte, nahm er sein sehr groß geblümtes
rothseidenes Taschentuch aus der Jackentasche, schneuzte sich mit
vielem Geräusch, trat dann, während sich der Fremde nach ihm umsah, auf
diesen zu und sagte, indem er das Tuch wieder in die Tasche zwängte und
sich die Hände lebhaft rieb:

„Guten Morgen!“

„Guten Morgen,“ sagte der Fremde kurz und musterte den Burschen von
Kopf bis zu Füßen.

„Mit dem Frühzug gekommen?“

„Ja“.

„Sehr schöner Morgen.“

„Es hat gegossen, was vom Himmel herunter wollte.“

„So?“ sagte Herr Louis, über die Nachricht erstaunt, denn jetzt schien
die Sonne, und er zog die Augenbrauen dabei so hoch hinauf und vorn
zusammen, daß sie eine Verlängerung des Scheitels nach vorn herunter
bis auf die Nasenwurzel herstellten. Er sah aber trotzdem nicht hübsch
aus.

„Kann ich vielleicht -- wenn es nöthig sein sollte, ein oder zwei Tage
hier wohnen?“ brach der Fremde indessen die meteorologische Verhandlung
ab.

„Es ist gerade noch ein Zimmer frei“, log Herr Louis, denn das halbe
Haus stand leer; „erlauben Sie --“ und damit streckte er seine Hand
nach dem Reisesack aus, um den Fremden vor allen Dingen einmal sicher
zu haben.

„Bitte“, sagte aber dieser, indem er sein Eigenthum noch festhielt.
„Vorher muß ich mich erst noch nach Einigem erkundigen, aber vielleicht
sind Sie im Stande, mir Auskunft zu geben. Wissen Sie, wem diese
Wirthschaft zu eigen gehört?“

„Wäre nicht übel, wenn ich es nicht wüßte“, lächelte Herr Louis etwas
spöttisch und fuhr sich mit den gespreizten Fingern der rechten Hand
durch die entsprechende Chausseeseite; „der Frau Josephine Müller.“

„Josephine Müller?“

„Zu dienen.“

„Ihr Mann ist todt?“ examinirte der Fremde weiter, und Herr Louis schoß
einen raschen und forschenden Blick auf ihn, denn ein eigener Verdacht
stieg in ihm auf, zögernd sagte er auch nur: „Ja!“

„Und ist sie zu Haus?“

„Nein -- verreist, auf Besuch“, bemerkte Herr Louis, und fuhr sich
durch die andere Chausseeseite -- was zum Henker konnte der Fremde
mit seiner Wirthin wollen, daß er sich nach dem Tod ihres Mannes
erkundigte. Ueberdies war das eine sehr alte Geschichte und der Herr
Müller schon seit sechs Jahren verschollen und damals mit einem Dampfer
zu Grunde gegangen.

„Verreist -- so --?“ sagte der Fremde gedehnt und, wie es schien, in
seinen Erwartungen getäuscht; „weit?“

„Nein, nur zum Besuch aufs Land. Sie kommt morgen Mittag jedenfalls
wieder.“

„In der That?“ rief der Fremde rasch und augenscheinlich erfreut; „dann
seien Sie doch so gut und weisen Sie mir mein Zimmer an. Ich werde sie
jedenfalls erwarten.“

Herrn Louis gefiel das nicht, aber gegen diesen direct ausgesprochenen
Willen ließ sich auch nichts weiter thun. Er nahm also, da der Fremde
aufstand, den Reisesack und ging, mit einer einladenden Verbeugung
ihm zu folgen, voraus, beschloß aber doch, jedenfalls heute noch
herauszubekommen, was der Fremde beabsichtigte, denn Herr Louis hatte
selber eine Menge weitgreifender Pläne und dachte gar nicht daran, sie
sich von einem „hergelaufenen Voyageur“, der mit dem Frühzug und nur
mit einem Reisesack eintraf, kreuzen zu lassen. Der Mann trug ja nicht
einmal einen Schirm.

Der Fremde schien aber nicht die geringste Notiz von des Oberkellners
Gedanken oder Plänen zu nehmen, ging in sein Zimmer, zog seine Stiefeln
aus und setzte sie vor die Thür, schloß sich dann ein, entkleidete sich
und ging zu Bett, als ob es zehn Uhr Abends gewesen wäre.

Während der Fremde schläft, können wir uns indessen die Verhältnisse
des Hotel Müller ein wenig betrachten.

Das Hotel hatte schon der Vater der jetzigen Wirthin innegehabt,
bis sie sich in den „seligen Müller“, einen übrigens wackeren und
thätigen Mann verliebte, diesen heirathete und nach des Vaters Tod das
Wirthshaus „Zum goldenen Elephanten“ in das moderner klingende „Hotel
Müller“ umwandelte. Caspar Müller, ihr damaliger Mann, brachte auch
das jetzige Hotel durch seine unermüdliche Thätigkeit in „Schwung“,
daß es bald das beste der Stadt wurde, und verdiente viel Geld dabei.
Da war er einst genöthigt, um bedeutende Außenstände einzucassiren,
nach London hinüber zu fahren. Ein sehr heftiger Sturm warf aber den
Dampfer an die Küste; er strandete, und von sechsunddreißig Passagieren
wurden nur drei gerettet. Caspar Müller aber blieb verschollen. Jene
furchtbare Sturmnacht, die so viele Menschenleben kostete, hatte auch
sein Schicksal besiegelt, und es wurde nichts weiter von ihm gehört.

Die Wittwe führte indessen das Geschäft fort, und unermüdlich, wie sie
in demselben immer gewesen hatte sie ihm auch die Jahre allein und
wacker vorgestanden. Aber sie fand zuletzt keine rechte Freude mehr
daran, denn mit einem erworbenen Vermögen, von dem sie mit mäßigen
Ansprüchen recht gut hätte leben können, sah sie keinen Grund, weshalb
sie sich eigentlich noch länger unnöthiger Weise quälen sollte, und
beabsichtigte deshalb, das Hotel unter guten Bedingungen zu verpachten.
Bis das aber geschehen konnte -- denn nichts zwang sie, diese Sache
zu übereilen -- wollte sie sich eine Haushälterin nehmen und hatte zu
dem Zweck schon eine Aufforderung in den Zeitungen erlassen. Bis diese
freilich eintraf, mußte ihr Oberkellner, Herr Louis, das Ganze leiten.

Herr Louis hatte unten im Wirthszimmer Kaffee getrunken und
seinen eigenen Gedanken dabei Audienz gegeben, als Lieschen, das
Stubenmädchen, hereinkam und den einen Tisch deckte, denn einige
Stammgäste frühstückten gewöhnlich im Hotel Müller, wo sie mäßige
Preise und ein vortreffliches Glas Wein fanden.

Herr Louis hatte gerade nichts zu thun; es war heute Morgen merkwürdig
leer in der Weinstube; so, an dem Mädchen vorbeigehend, suchte er ihr
unter das Kinn zu greifen und sagte:

„Nun, Schatz, wie geht’s?“ Lieschen parirte aber den Versuch, schlug
ihm den Arm zurück und sagte schnippisch:

„Wie man’s treibt!“

„Nu, nu“, bemerkte Herr Louis beleidigt, „die Jungfer ist ja heute
Morgen bei sehr übler Laune. Lieschen, Lieschen, Sie stehen sich sehr
im Licht.“

„Ich? -- daß ich nicht wüßte“, lachte das Mädchen, ohne von ihrer
Arbeit aufzusehen, indem sie mit geschickter Hand die Teller und Gläser
auf dem Tisch ordnete; „ich denke mir immer, es ist noch nicht so weit,
und ehe Sie das bekommen, wo Sie dahinter her sind, läuft wohl noch
mancher Tropfen Wasser den Berg hinunter.“

„Wo ich dahinter her bin?“ rief Herr Louis, anscheinend sehr erstaunt,
erröthete aber doch etwas, denn er hatte kein reines Gewissen.

„Na, thun Sie nur nicht so“, lachte Lieschen. „Sie glauben wohl,
unsereins ist blind -- aber zum Gratuliren wär’s doch wohl noch zu früh
--“ und damit wollte sie sich rasch der Thür zu drehen, als ihr Herr
Louis in den Weg trat. Es lag ihm aber nichts daran, dies Gespräch
fortzusetzen, denn Lieschen hatte wirklich einen wunden Fleck berührt,
und er sagte freundlich:

„Na, kommen Sie her, Kind, wir wollen uns nicht zusammen zanken, und
Sie sollen auch nicht dabei zu kurz kommen, wie sich die Sachen hier
gestalten. Also Frieden geschlossen, und zum Versöhnungszeichen essen
Sie jetzt ein Vielliebchen mit mir, wer zuerst dem Andern morgen früh
den guten Morgen abgewinnt.“

„Ja, ich hätte Zeit zu solchen Albernheiten“, rief aber das Mädchen;
„die ewige Quälerei mit den Vielliebchen -- allen Menschen bieten Sie’s
an, und Keiner will -- guten Morgen, Herr Louis -- seh’n Sie, jetzt
hätt’ ich’s Ihnen schon abgewonnen!“ und mit den Worten machte sie sich
lachend von ihm los und warf die Thür hinter sich ins Schloß.

Herr Louis war beleidigt, aber es blieb ihm keine Zeit, seinem
Unmuth Worte zu geben, denn mehrere Gäste kamen zu gleicher Zeit,
die bedient sein wollten, und denen konnte er sich nicht entziehen.
Lieschen mußte nachher ebenfalls herein, um mit aufwarten zu helfen,
und gegen Mittag erschien auch der arme Teufel von Unterkellner, ein
furchtbar magerer, aufgeschossener Bursch, der aus Aermeln und Hosen
herausgewachsen war und jetzt einen unförmlich aufgeschwollenen Backen
in ein rothbaumwollenes Tuch eingebunden trug. Es war gerade keine
appetitliche Erscheinung, aber er konnte eben nicht entbehrt werden.

Eine kleine Anzahl von Gästen aß auch später hier zu Mittag, und
das Diner war schon beendet, als der Fremde von heute Morgen
wieder herunter kam und noch etwas zu essen verlangte. Er hatte es
verschlafen, wie er sagte, ließ sich jetzt an einem kleinen Seitentisch
besonders decken, bestellte eine Flasche St. Julien und gab sich dann
dem Genuß der Speisen mit aller Ruhe hin.

Das Speisezimmer war geräumt, die noch vorhandenen Gäste waren nebenan
in das Billardzimmer gegangen, um bei einer Partie ihren Kaffee zu
trinken. Der Fremde saß auch bei seiner Tasse im Zimmer und rauchte
seine Cigarre, während Herr Louis, dicht neben ihm, aus einem Teller
voll Knackmandeln diejenigen Mandeln aussuchte, die durch ihren Umfang
zu der Hoffnung eines Vielliebchens berechtigten. Er drückte sich auch
nicht absichtslos um den Gast herum, denn er hielt die Gelegenheit für
günstig, ihn jetzt ein wenig über seine Absichten auszuforschen. Hatte
er doch selber kühne Pläne auf die Hand der noch immer rüstigen und
sogar noch hübschen Wittwe -- oder vielmehr auf das Hotel, bei dem er
die Wittwe nur als Zugabe -- gewissermaßen eine Formsache -- heirathen
mußte, und nicht die geringste Lust, hier einen möglichen neuen
Heirathscandidaten so ohne Weiteres heran und ihm freie Hand zu lassen.

Es war aber mit dem Mann nichts anzufangen, er blieb einsilbig und
suchte allen an ihn gestellten Fragen vorsichtig auszuweichen. Das
aber bestärkte Herrn Louis nur noch mehr in seinem Verdacht, und er
begann jetzt seinerseits einen neuen Operationsplan zu entwerfen. So
viel hatte er schon herausbekommen, daß der Fremde wenig über die
Verhältnisse des Hauses wußte, jedenfalls seit langen Jahren nicht in
B. gewesen war. Trug er sich also wirklich mit solchen Plänen, wie Herr
Louis fürchtete, so wollte er einmal versuchen, diese mit einem Schlag
über den Haufen zu werfen und dann jedenfalls zu sehen, was der Herr
für ein Gesicht dazu machte. Mißglückte es, nun so war es immer kein
Unglück und nur ein Scherz gewesen, oder -- der Fremde konnte ihn auch
falsch verstanden haben. Herr Louis beschloß nämlich, der Wirthin einen
zweiten Mann zu octroyiren.

Die Wirkung war aber nicht so mächtig, wie sie der eifersüchtige
Kellner erwartet hatte. Der Fremde nahm die neue Nachricht ziemlich
ruhig hin und fragte nur etwas erstaunt:

„Hm -- ich glaubte, die Madame hieße noch Müller?“

„Du lieber Gott,“ meinte Herr Louis achselzuckend, „der Müller giebt’s
gar viele. Ihr jetziger Mann führt denselben Namen.“

„Ja,“ sagte der Fremde, „das ist wahr. Ich heiße ebenso,“ und dampfte
ruhig weiter.

Herr Louis wußte jetzt ebenso wenig, woran er mit dem räthselhaften
Menschen war. Hatte er vielleicht eine Schuldforderung einzukassiren?
Daß er die Frau vom Haus unter jeder Bedingung selber sehen wollte,
sprach dafür. Das ließ sich vielleicht durch das Fremdenbuch
herausbekommen -- aber auch das mißglückte. Der Gast schrieb sich ein:
„Müller, Particulier, Hamburg -- zum Vergnügen,“ stand auf, zündete
seine ausgegangene Cigarre wieder an und ging in sein eigenes Zimmer
hinauf. Herr Louis aber blieb unten an dem Tisch sitzen und aß in
Gedanken drei oder vier Vielliebchen mit sich selber.



Zweites Kapitel.


Das hingeworfene Wort des Burschen war aber trotzdem auf fruchtbaren
Grund gefallen, denn es schien dem Fremden doch nicht so ganz
gleichgültig, ob Madame Müller wieder geheirathet habe oder nicht --
wenn auch aus einem anderen Grund, als Herr Louis dachte.

„Hm, hm, hm,“ sprach er leise vor sich hin, indem er in seinem Zimmer
auf und ab ging und, die Stirn in tiefe Falten gezogen, seinen
eigenen -- wie es schien, eben nicht angenehmen -- Gedanken nachhing.
„Das ist wieder ein Strich durch die Rechnung -- also auf’s Neue
verheirathet. Welches Interesse wird jetzt der neue Mann an dem alten
Schwager nehmen, und wenn ich ihr nun auch meine ganze verzweifelte
Lage vorstelle, da -- speist mich der Herr Gemahl vielleicht aus
verwandtschaftlichen Rücksichten mit fünf oder zehn Thalern ab, und
meine letzte Hoffnung ist mir zu Grunde gerichtet.“

„Und meine arme Frau?“ fuhr er nach einer langen Pause fort, indem
er, die Stirn an das Fensterkreuz gelehnt, durch die Scheiben auf
die Dächer hinausstarrte. „Seit fünf Vierteljahren sitzt die jetzt
in Breslau, während ich in der Welt herumfahre und Brot für uns
Beide suche, wo ich mich selber kaum am Leben erhalten kann. -- Eine
verfluchte Einrichtung in der Welt, daß die eben Alles haben, die
nichts brauchen, und die Alles brauchen, welche nichts haben. Hol’
der Teufel dieses socialistische System -- wenn ich nur auf eine
glückliche Idee fallen könnte, das Herz meiner unbekannten Schwägerin
zu erweichen.“

Er warf sich mit diesen Worten in einen Lehnstuhl, das rechte Bein über
das linke, stützte den Kopf in die Hand und starrte finster brütend
auf die ihm gegenüber befindliche Wand. Sein Blick fiel dort auf ein
Oelgemälde, das Brustbild eines Mannes, ohne aber im Anfang das Bild
desselben in sich aufzunehmen. Nur wie in’s Leere starrte er wohl eine
volle Viertelstunde darauf hin, bis das Portrait allmählich Farbe und
Gestalt annahm, und seine eigenen Gedanken wieder zu seiner nächsten
Umgebung zurückkehrten.

Das Bild stellte einen Herrn in einem blauen Frack mit blanken Knöpfen
dar, der eine etwas steife Cravatte, einen aufgedrehten Schnurr- und
kurzen Backenbart trug. Mit besonderer Sorgfalt war aber vorzüglich
die gestickte Weste und die goldene Uhrkette gemalt, und die rechte
Hand auch, etwas gewaltsam heraufgebracht, möglicher Weise um einen
sehr schönen und großen Siegelring daran zu zeigen. Es war in der That
kein großes Kunstwerk, aber eines von jenen Bildern, denen man trotz
einer sehr mittelmäßigen Auffassung, ansieht, daß sie eine gewisse
Aehnlichkeit haben.

Des Fremden Gedanken schienen sich aber doch nicht lange auf einen
Punkt fesseln zu lassen. Er sprang auf und ging eine Weile mit
untergeschlagenen Armen im Zimmer auf und ab -- und dennoch fiel sein
Blick immer wieder auf das Bild, das ihn anfing zu geniren. Es hatte
eine Aehnlichkeit mit Jemandem, den er kannte, und er konnte nicht
heraus bekommen mit wem. Es ist das gerade so, als ob wir uns auf
einen bekannten Namen besinnen wollen und können nicht darauf kommen;
was im Stande ist, einen Menschen den ganzen Tag zu quälen. Aber das
Grübeln half nichts; die Gedanken peinigten ihn, und er beschloß, einen
Spaziergang durch die Stadt zu machen. Eben trat er aus seinem Zimmer,
als Herr Louis vorbeiging.

„Wollen eine kleine Promenade machen?“ sagte er verbindlich.

„Ja,“ lautete die etwas zerstreute Antwort, „aber -- apropos,
Oberkellner, wen stellt denn das Bild da drinnen vor?“

„Das Bild? Welches meinen Sie?“

Der Fremde schloß statt aller Antwort das Zimmer wieder auf und deutete
auf das über der Commode hängende Oelgemälde.

„Ah, das!“ sagte Herr Louis, indem er sich im Zimmer umsah, „das ist
eben der verschollene Herr Müller, der frühere Mann unserer Frau. Soll
sehr ähnlich gewesen sein.“

„In der That?“ rief der Fremde, und wäre Herr Louis jetzt nicht selber
in dem Anschauen des Bildes vertieft gewesen, so hätte ihm nicht
entgehen können, daß diese Nachricht einen eigenthümlichen Eindruck
auf den Gast machte. „Aber wie kommt das Bild des Wirths hier in ein
Gastzimmer?“ fragte dieser endlich nach einer Pause.

„Dies Zimmer,“ sagte Herr Louis, „ist erst seit ein paar Tagen mit zu
dem Hotel genommen; früher war es privat, und da Madame verreiste,
blieben die Bilder noch vor der Hand hängen.“

„Und ihr jetziger Mann ist zu Haus?“ fragte der Fremde.

„Ihr jetziger Mann?“ sagte Herr Louis, der im ersten Moment ganz seine
Lüge vergaß, „ja so -- Sie meinen den jetzigen Herrn Müller. Nein --
der ist auch verreist -- eine Geschäftsreise nach Bordeaux, um Wein zu
kaufen, wird aber auch in den nächsten Tagen zurückerwartet.“

„So?“ sagte der Fremde rasch, und schien merkwürdiger Weise ganz
vergessen zu haben, daß er hatte ausgehen wollen, denn er setzte sich
wieder in den Lehnstuhl und stellte den Hut neben sich. Dort blieb er
auch sitzen, als Herr Louis schon lange das Zimmer verlassen hatte,
zündete nicht einmal ein Licht an, und ging erst etwa gegen zehn Uhr in
das Gastzimmer hinunter, um sein Abendbrot zu verzehren.

Es mochte halb elf Uhr sein, als er damit fertig war (die sämmtlichen
Gäste hatten den Wirthsraum schon verlassen) und noch eine zweite
Flasche Wein bestellte. Er begann diese, langsam an seinem Glase
nippend -- der Unterkellner lehnte mit verbundenem Gesicht zwischen dem
Büffet und der Thür und schlief, die Serviette fest unter den linken
Arm geklemmt, und Herr Louis stand an seinem Pult, notirte eben die
zweite Flasche und erwog in seinen Gedanken, ob der Reisesack da oben
auf Nr. 36 so viel werth sein möchte, wie die auflaufende Rechnung.
Nebenbei überlegte er aber auch noch, weshalb der Fremde so überrascht
gewesen sei, als er gehört habe, daß jener mythische zweite Herr Müller
vereist sei, denn das hatte ihm doch nicht entgehen können.

„Herr Oberkellner!“

„Befehlen?“

„Bitte -- trinken Sie nicht ein Glas Wein mit? Es schmeckt besser zu
Zweien.“

Herr Louis machte nur eine der Einladung entsprechende Bewegung, nahm
sich ein Glas vom Büffet, versetzte dabei dem jungen Burschen einen
leisen Knuff, denn die Gelegenheit war zu günstig, und nahm dann
neben dem Gast Platz. Bei einem Glase Wein ließ sich doch am Ende
herausbekommen, was er eigentlich beabsichtige. Aber auch hierin sah
er sich getäuscht, denn der Fremde schien sich auffallender Weise
viel mehr für den todten, wie für den lebendigen Herrn Müller zu
interessiren, und da Herr Louis recht gut wußte, daß es kein besseres
Mittel gab -- wenn alle anderen fehlschlugen -- um Jemanden zum
Erzählen zu bringen, als wenn man selbst damit beginnt, so theilte
der Oberkellner jetzt dem Fremden Alles mit, was er selber über den
„Seligen“ wußte.

„Er war vier oder fünf Jahre mit >der Frau< verheirathet gewesen,“
begann Herr Louis seine Erzählung, „und, wie Alle behaupten, sehr
glücklich. Dann kam die unselige Reise. Der Dampfer scheiterte, von
einem heftigen Sturme verschlagen, auf den Goodwinsands, und nur ein
Theil der Mannschaft und Passagiere wurde gerettet. Doch das Alles
hatte ja damals in den Zeitungen gestanden und war bekannt, nur Eines
schien auch dem Fremden neu, daß nach mehreren Monaten nämlich noch
ein paar Leute von eben demselben Schiff auftauchten, die man damals
für mit verunglückt gehalten hatte. Diese waren nämlich in der Nacht
von einem amerikanischen Schiff aufgefischt worden und mit nach
New-York genommen, und sagten auch aus, daß noch ein anderer Schooner
ebenfalls an der Stelle gehalten habe und beigedreht wäre -- ob er es
aber ermöglichte, noch Jemanden zu retten, wüßten sie natürlich nicht,
und eine ganze Zeit lang sei dann das Gerücht gegangen, der „selige
Herr Müller“ lebe noch, wäre in New-Orleans gelandet und würde mit dem
nächsten Schiff zurückkehren. Aber es mußte doch nur ein bloßes Gerücht
gewesen sein, denn Jahr nach Jahr verging und Herr Müller kam nicht
wieder. Er war jedenfalls in jener Unglücksnacht mit der Mehrzahl der
Passagiere zu Grund gegangen.“

Während Herr Louis das erzählte, hatte der Fremde den letzten Rest
der Flasche geleert und machte Miene, aufzustehen. Damit war aber dem
Oberkellner nicht gedient, der entweder selber heut Abend Appetit zu
einem Glas Wein hatte, oder dabei noch etwas aus dem schweigsamen Mann
herauszupressen suchte. Vor allen Dingen schickte er den Jungen zu
Bett, holte dann selber noch eine Flasche Chateau Margaux herbei und
wollte sich eben wieder an den Tisch setzen, als draußen auf der Treppe
ein furchtbares Gepolter laut wurde. Aber es war nur der Unterkellner
mit dem dicken Backen gewesen, der im Schlaf die Treppe herunterfiel.
Unten raffte er sich wieder auf und erneute den Versuch, in sein Bett
hinauf zu kommen, während Herr Louis dem Gast erzählte, was er für eine
Noth mit dem Jungen habe.

Der sonst so schweigsame Gast thaute aber bei der dritten Flasche
ordentlich auf, und fing an, Anekdoten, besonders aus dem Theaterleben,
zu erzählen, daß sich Herr Louis vor Lachen ordentlich ausschütten
wollte. Bei jeder Anekdote fiel aber Herrn Louis ebenfalls eine
entsprechende -- wenn auch aus einem anderen Wirkungskreis -- ein, und
es war zwei Uhr Morgens, ehe sich die beiden würdigen Leute, und zwar
als die besten Freunde trennten. Von den früheren Verhältnissen des
Trinkcumpans hatte Herr Louis aber eben so wenig zu hören bekommen, wie
er vorher gewußt -- trotz der fünf Flaschen Rothwein, die sie nach und
nach mit einander ausgetrunken; und als Herr Louis zu Bett schwankte,
ging der Fremde mit festen Schritten in sein Zimmer hinauf und wanderte
dort wohl noch eine volle Stunde mit untergeschlagenen Armen auf und
ab. Er konnte jedenfalls mehr vertragen als der Oberkellner.

Herr Louis erwachte am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen und außerdem
noch mit einem unbestimmten Gefühl, daß er in dieser Nacht sehr fidel
gewesen und der Fremde ein „famoser Bursche“ sei. Zwei Sachen drückten
ihn aber dabei, und er hatte eine dunkle Ahnung, daß er sich mit ihm
Du genannt und wußte nicht recht genau, ob er ein Vielliebchen mit ihm
gegessen habe oder nicht. Aber er bezweifelte Beides wieder, als der
Fremde zum Kaffee herunter kam und ihn sehr artig und förmlich „Herr
Oberkellner“ nannte. Nachher ging er wieder hinauf auf sein Zimmer.

So verging der Tag und es neigte sich schon gegen Abend, als draußen
vor der Küche ein kleines Intermezzo spielte. Lieschen nämlich,
so kalt und gefühllos sie auch gegen die Aufmerksamkeiten des oft
schwachen Herrn Louis blieb, und so schnippische Antworten sie seinen
gewähltesten Redensarten entgegensetzte, besaß doch ein zartfühlendes
Herz, das, wie das so oft in der Welt geschieht, einem Paar rothen
Aufschlägen und überhaupt dem zweifarbigen Tuch nicht hatte widerstehen
können. Der Sergeant Meier schien es mit Sturm erobert zu haben, und da
sich die beiden jungen Leute bis dahin noch keinen eigenen Herd gründen
konnten, begnügten sie sich vor der Hand mit dem des Hotel Müller; d.
h. Lieschen steckte dem Geliebten, wo das nur immer verstohlen anging,
aufgesparte Leckerbissen zu, und Sergeant Meier zehrte dann später in
seiner eigenen Klause an diesen und seiner Liebe zu Elisabeth.

Die Abendstunde war dabei, als die passendste für derlei
Ueberlieferungen, ausersehen worden, und die Sache schon eine lange
Weile gut gegangen und unentdeckt geblieben. Heute wollte es aber
Lieschen’s böser Stern, daß Herr Louis gerade in dem unseligen
Augenblick den in die Küche führenden Gang betrat, als Sergeant Meier
eben seinen Deputat-Topf unter den Mantel schob. Nach dieser Begegnung
schien er aber ein längeres Zögern für unnöthig zu halten, grüßte den
verdutzten Oberkellner steif und militärisch mit der Hand an der Mütze,
machte rechtsumkehrt und verschwand durch die nächste Thür, während
Lieschen in aller Verlegenheit über die Entdeckung nicht gleich wußte,
ob sie sich ebenfalls entfernen oder bleiben sollte.

„So?“ machte aber Herr Louis, der seine Sprache wieder erlangte, als
der handfeste Sergeant verschwunden war, ihren Zweifeln ein Ende;
„das sind mir ja schöne Geschichten! Also das Essen schicken wir aus
dem Haus, mischen uns in die Militärfrage, haben einen Sergeanten zum
Liebsten und benutzen das Hotel Müller zu einer Speiseanstalt für
verwahrloste Krieger?“

„Aber bester Herr Louis!“

„O ja, jetzt heißt es bester Herr Louis,“ fuhr aber der gereizte
Oberkellner fort, indem er seine rechte Chausseeseite mit Gewalt zum
Aufsträuben brachte „und sonst kann man kaum einen freundlichen guten
Morgen über die Lippen bringen! Fräulein Lieschen -- ich bedaure, diese
Entdeckung gemacht zu haben.“

„Aber bester Herr Louis,“ fuhr das arme Mädchen fort, denn sie
fürchtete jetzt nichts mehr, als daß es der beleidigte Oberkellner
‚der Frau‘ sagen würde, -- „es war ja wirklich nur das erstemal und
soll nie, nie wieder geschehen. -- Ich hatte mir ja doch auch nur mein
eigenes Abendbrot aufgehoben, weil ich gestern Abend nichts essen
konnte.“

„Ihr eigenes Abendbrot, so?“ bemerkte aber Herr Louis spöttisch, „und
das war wohl kein Truthahnbein, was aus dem Topf herausguckte?“

„Nichts wie ein Carbonadenknochen -- wirklich, Sie können mir es
glauben -- und an dem überdies nur noch das halbe Fleisch!“ betheuerte
das Mädchen. „Seien Sie doch nicht so häßlich; ich thue Ihnen ja auch
Alles zu Gefallen, was ich nur kann.“

„Ja wohl,“ bemerkte Herr Louis, „nicht einmal ein Vielliebchen wollten
Sie mit mir essen.“

„Ach, ich hatte in dem Augenblick gerade so viel zu thun. Warum sollte
ich denn kein Vielliebchen mit Ihnen essen wollen; da ist doch gar
nichts dabei. Wenn Ihnen das Freude macht, mit Vergnügen.“

Herrn Louis’ Herz schmolz. Selbst der Sergeant schwand in dem
Augenblick in ein Atom zusammen. Während er noch unwillkührlich, wie
ein dumpf nachgrollendes Gewitter, mit der linken Hand durch die
entsprechende Chausseeseite fuhr, suchte die rechte schon in der Seite
der Jackentasche ein paar gefangen gehaltene Knackmandeln, und mit den
versöhnenden Worten: „Nehmen Sie sich nur um Gottes Willen in Acht,
daß Ihnen die Frau nicht einmal bei einer solchen Militärversorgung in
den Weg läuft,“ brach er die Mandel auf und reichte Lieschen die eine
Hälfte des Zwillingspaares.

„Aber passen Sie auf, Herr Louis, ich gewinne es Ihnen ab.“

„Darauf riskir ich’s!“ versicherte der Oberkellner, indem er seine
Hälfte auf den Kopf biß.

„Aber unten in der Wirthsstube gilt es nicht, Herr Louis,“ verwahrte
sich Lieschen, „denn wo man seinen Dienst hat, kann man nicht an solche
Sachen denken.“

„Topp,“ versicherte Herr Louis, äußerst coulant in allen solchen
Bewilligungen, wo er erst einmal Jemanden fest in seinem Netz hatte.

„Frau Müller nicht zu Haus?“ sagte in diesem Augenblick eine Stimme,
nach der sie sich etwas überrascht umsahen. Sie gehörte auch einer noch
nicht alten Dame oder Frau -- Herr Louis wußte nicht gleich, zu was er
sie rechnen sollte, -- die gerade durch die offene Hausthür trat und
einen einfachen braunen Hut auf, und einen Shawl umhängen hatte.

„Nein -- verreist,“ sagte er übrigens kurz, denn er wünschte in diesem
Augenblick nicht gestört zu werden.

„Und wann kommt sie zurück?“ fragte die Fremde artig.

„Heute -- Zeit unbestimmt.“ Damit wandte sich Herr Louis ab und wollte
Lieschen eben noch eine Bemerkung mittheilen, als ihn eine andere
Stimme ganz unerwarteter Weise an seine Pflicht mahnte.

„Nun, Louis -- hören Sie denn nicht wie drinnen geklingelt wird? Was
habt Ihr Beiden denn hier draußen zu stehen und zu schwatzen? Man darf
doch nur den Rücken wenden -- und es geht Alles drunter und drüber --
Sie mein’ ich, Herr Oberkellner! Haben Sie mich verstanden?“

Herr Louis mußte es verstanden haben, denn die Aufforderung war gar
nicht falsch zu verstehen, er selber aber über das plötzliche und
unverhoffte Erscheinen der Frau, wie über die barsche Anrede -- noch
dazu vor dem Stubenmädchen -- so verdutzt geworden, daß er im ersten
Moment wie vor den Kopf geschlagen dastand. Die letzten Worte aber
brachten ihn wieder zu sich selber.

„Bitte um Verzeihung, Madame,“ sagte er würdevoll, „wurde eben
herausgerufen, da die Frau da --“ und er zeigte mit dem Daumen über
die Achsel nach der Fremden, „Sie zu sprechen verlangte; Ich versäume
nie meine Pflicht,“ und mit einer leichten, aber stolzen Verbeugung
schwenkte er rechts ab und in die Wirthsstube hinein. Lieschen hatte
schon den vorhergegangenen Moment benutzt, um in die Küche zu fahren
und der Frau außer Sicht zu kommen.

Die Wirthin hatte sich indessen nach der Fremden umgesehen, der es
natürlich nicht entgehen konnte, wen sie hier vor sich hatte. Mit einem
leichten Gruß überreichte sie ihr auch, ohne weitere Worte, einen schon
bereit gehaltenen Brief, den Frau Müller öffnete, flüchtig übersah,
und dann die vor ihr Stehende von Kopf bis zu Füßen, musternd, etwas
freundlicher als bisher, sagte:

„Kommen Sie mit hinauf auf mein Zimmer. Was wir mit einander zu reden
haben, können wir doch nicht hier auf der Hausflur abmachen.“

Frau Müller war in der That noch eine rüstige, selbst hübsche Frau von
stattlichem Aeußern, nur mit einem sehr entschiedenen fast männlichen
Benehmen, wie es freilich ihre lange selbstständige und unabhängige
Stellung mit sich gebracht, und die Fremde schien sich beim ersten
Begegnen gedrückt davon zu fühlen. Das verlor sich aber bald, oder
milderte sich wenigstens bei einer längeren Unterhaltung, die das
Interesse Beider in Anspruch nahm.

Frau Müller suchte nämlich eine Wirthschafterin, und die eben
eingetroffene Frau brachte ihr einen Empfehlungsbrief von einer
Freundin, in dem sie ihr das beste Zeugniß gab und ihr Engagement warm
befürwortete. Die Frau hatte oben im Zimmer, als sie nur eben Hut und
Tuch abgelegt, den Brief noch einmal aufmerksam durchlesen und sagte
dann, sich schon mit einem viel freundlicheren Gesicht zu der Fremden
wendend:

„Also Sie haben Lust bei mir die Wirthschaft zu führen und glauben
derselben vorstehen zu können? -- Aber bitte, setzen Sie sich doch --
Sie sind mir hier durch Frau Ludloff warm empfohlen worden.“

„Ich habe wenigstens den besten Willen,“ sagte die Fremde schüchtern,
indem sie der Einladung Folge leistete.

„Und Ihr Name ist? -- meine Freundin nennt Sie hier in dem Brief nur
bei Ihrem Vornamen, Therese.“

„Wie der Ihrige -- Müller!“

„Der Name ist allerdings ziemlich allgemein. Sie waren verheirathet?“

„Ich bin es noch,“ seufzte die Fremde, „aber mein Mann verließ mich
vor fünfzehn Monaten schon, um irgendwo eine Beschäftigung für sich --
eine Heimath für uns zu suchen und -- kehrte nicht zurück -- schrieb
auch nicht, und ich kann jetzt nicht anders glauben, als daß ihn
irgendwo ein Unglück betroffen hat. Bis jetzt ernährte ich mich auch
mit weiblichen Arbeiten, denn Vermögen besaßen wir nicht -- aber diese
werden ja zu ärmlich bezahlt; meine Augen verhinderten mich außerdem,
Abends bei Licht zu arbeiten, und ich sah bald, daß ich mich damit
nicht am Leben erhalten konnte. Da rieth mir Frau Ludloff, die mich
viel beschäftigt und sich stets sehr freundlich gezeigt hatte, mich an
Sie zu wenden, und da sie selber glaubte, ich würde diese Stelle zu
Ihrer Zufriedenheit ausfüllen können, so -- wagte ich es, mich Ihnen
vorzustellen. Wollen Sie einen Versuch mit mir machen, so werde ich
gewiß Alles thun, was in meinen Kräften steht, mir Ihre Zufriedenheit
zu erwerben.“

Ein eigener schmerzlicher Zug hatte sich über das Antlitz der Wirthin
gelegt, als sie dem einfachen und doch so wehmüthigen Bericht der
Fremden lauschte; schilderte diese doch auch einen Theil ihrer eigenen
Geschichte, wenn sie selber auch nie mit Nahrungssorgen zu kämpfen
gehabt. Aber sie wußte dafür um so besser, wie weh es thut, den
Gatten zu verlieren und dann noch Monate -- Jahre lang zu zweifeln,
ob er wirklich verloren sei -- zu hoffen, daß er wiederkehre, und
dann seine Hoffnung immer und immer wieder getäuscht zu sehen. -- Und
was mußte die arme Frau Alles durchgemacht haben, die da still und
in ihr Geschick ergeben vor ihr saß und sich ihren Weg durch dieses
Leben allein und freundlos nun erkämpfen mußte. -- Sie fühlte tiefes
Mitleiden mit ihr und beschloß, sie jedenfalls anzustellen. Zeigte sie
sich dann auch nicht gleich in allem Anfang recht geschickt für ihren
neuen Dienst, so ließ sich ja Alles lernen, wenn man nur ein wenig
Geduld mit ihr hatte.

„Und haben Sie lange in Breslau gelebt?“ fragte sie endlich, um in
ihrer Entscheidung nicht zu rasch und voreilig zu scheinen.

„Nur zwei Jahre,“ lautete die Antwort, „mein Mann war früher Reisender;
als wir uns aber verheiratheten, gab er das auf, um ein eigenes
kleines Geschäft in Hamburg zu gründen. Wir hatten jedoch Unglück; ein
Brand zerstörte Alles, was wir besaßen, ohne daß ein Stück versichert
gewesen, und -- wie das so geht,“ setzte sie zögernd hinzu, „ein
Unglück kam zum anderen, bis es uns endlich -- gänzlich ruinirte.“

„Wie hieß Ihr Mann mit Vornamen?“ fragte da die Wirthin, die bei dem
letzten Bericht aufmerksam geworden war.

„Ferdinand,“ lautete die Antwort.

„Aus Danzig gebürtig?“

„Haben Sie ihn gekannt?“ fragte die Fremde erstaunt, „er war allerdings
in Danzig zu Haus.“

„Ihn nicht,“ seufzte die Wirthin und schüttelte traurig mit dem Kopf,
„aber hat er Ihnen nie erzählt, daß er einen Bruder gehabt?“

„Allerdings; doch wie es scheint, haben sich die beiden Brüder nie
recht mit einander vertragen können; wenigstens keinen Verkehr
mitsammen gehabt.“

„Weil --“ wollte ihr die Wirthin rasch erwidern; aber noch ehe sie
weiter sprach, fiel ihr ein, daß sie der armen Frau mit ihrer Antwort
wehe thun müßte; sie brach deshalb kurz und freundlich ab, „aber
das sind Sachen, die uns jetzt zu fern liegen und der Vergangenheit
angehören; nur daran haben wir uns noch zu halten, daß wir eigentlich
Verwandte, und zwar ganz nahe Verwandte sind.“

„Wir Beide?“ rief die Fremde erstaunt.

„Allerdings,“ sagte die Wirthin; „unsere Männer waren Brüder, und oft
habe ich den meinigen von seinem Bruder Ferdinand sprechen hören.“

„Du großer Gott!“ seufzte die Fremde -- aber wie es schien, mehr
erschreckt als erfreut, „davon hatte ich freilich keine Ahnung, und
was müssen Sie jetzt von mir denken, daß ich mich da gerade in meiner
bedrängten Lage an Sie gewandt.“

„Lassen Sie sich das um Gottes Willen keine Sorge machen,“ sagte die
Wirthin gutmüthig. „Erstlich thaten Sie es unbewußt, und dann verlangen
Sie ja auch von mir gar keine Unterstützung. Sie bieten mir Ihre Arbeit
gegen einen entsprechenden Gehalt, und die Verwandtschaft soll da
wahrlich kein Hinderniß sein -- wenn Sie selber sich nicht gedrückt
dadurch fühlen. Aber da thäten Sie großes Unrecht,“ setzte sie fast
herzlich hinzu, „denn ich hoffe, daß wir uns recht gut mit einander
vertragen werden. Keine weitere Einrede, Frau Therese,“ lachte sie,
„denn den Namen Müller müssen wir bei Seite lassen, sonst gäbe es
nichts als Verwirrung im Haus; und jetzt kommen Sie mit mir, daß ich
Ihnen gleich Ihr Zimmer anweisen und einen kurzen Ueberblick über Ihre
Pflichten geben kann, alles Uebrige machen wir dann später in Ruhe ab,
wenn Sie erst einmal bei mir eingezogen sind.“

Sie ließ auch in der That keine Einrede gelten, führte die Schwägerin
selber hinüber in das für sie bestimmte freundliche Gemach, ließ
ihre Sachen aus dem Gasthaus holen, in dem sie abgestiegen war, und
versprach ihr dann, die ersten Tage mit ihr Alles gemeinschaftlich zu
besorgen, damit sie sich erst in das Haus eingewöhne, nachher würde es
nicht die geringste Schwierigkeit haben, wenn sie es allein besorgen
sollte. Sie erzählte ihr dabei, daß sie allerdings die Absicht gehabt
habe, die ganze Wirthschaft zu verpachten und sich vollständig von
allen Geschäften zurückzuziehen, denn eigentlich gehöre zur richtigen
Führung eines solchen Anwesens ein Mann, und da sie nicht wieder zu
heirathen gedenke, wäre sie doch gezwungen, es mit der Zeit aufzugeben.
Bis sie aber Jemanden gefunden habe, der ihr auch wirklich convenire,
wolle sie es doch lieber selber fortführen, denn einmal habe sie es
von ihren Eltern überkommen, und dann auch werfe es wirklich einen zu
guten Nutzen ab, um es eben unnöthiger Weise und aus freien Stücken
aufzugeben.

Das besorgt, ging sie wieder in ihr Zimmer hinüber und ließ Herrn Louis
zu sich heraufrufen, der aber dem Befehl nicht eher Folge leistete,
bis er sich in seiner eigenen Kammer davon überzeugt hatte, daß sein
Chemisette tadellos sei und sein Toupet nichts zu wünschen übrig lasse.
Dann meldete er sich bei der Frau.

„Louis,“ redete ihn diese an, ohne seine Toilette auch nur eines
Blickes zu würdigen, denn sie war gerade mit der Durchsicht einiger
Papiere beschäftigt; „ich habe heute eine Wirthschafterin in’s Haus
genommen, die an meiner Statt die Leitung des Hotels übernimmt, und
deren Anordnungen Sie in jeder Weise folgen werden. Haben Sie mich
verstanden?“

„Madame!“ sagte Louis, durch diese Eröffnung nicht unerheblich
bestürzt, denn diese Wendung lief seinen eigenen Hoffnungen und
Wünschen schnurstracks entgegen.

„Nun?“ sagte diese und wandte den Kopf nach ihm um, „haben Sie
vielleicht etwas dagegen einzuwenden?“

„Ich?“ rief Herr Louis erschreckt, „bitte, Madame -- wie kommen Sie
darauf. Ich -- ich hatte nur gehofft --“

„Was?“

„Daß ich -- daß ich selber vielleicht im Stande sein würde --“

„Im Stande? Was? So reden Sie doch deutlich heraus, und machen Sie
dann, daß Sie wieder hinunter auf Ihren Posten kommen. Was hatten Sie
gehofft?“

„Daß ich selber im Stande sein würde, Ihr Vertrauen so weit zu
rechtfertigen,“ brach jetzt Herr Louis mit einem verzweifelten
Entschluß aus, „mir die Leitung Ihres Hauses anzuvertrauen, denn eine
Dame --“ er stak wieder fest.

„Ihnen? So?“ sagte die Frau und wandte sich gegen ihn um, „und nicht
einmal den Rücken kann man wenden, ohne daß Sie hinter dem Lieschen her
sind und ihr mit Ihren Albernheiten keine Ruhe lassen.“

„Aber Madame --“

„Ich weiß Alles,“ unterbrach ihn aber die Frau. „Mit Ihrem dummen
Vielliebchenessen, mit dem Sie Gott und die Welt quälen und mir jeden
Monat beim Kaufmann eine Rechnung von ein paar Thalern für Knackmandeln
auflaufen lassen -- Und das Lieschen --“

„Aber Madame!“ rief jetzt Herr Louis noch einmal, denn die
Beschuldigung mit dem Stubenmädchen traf ihn um so tiefer, weil sie
nicht ganz unbegründet war, „glauben Sie denn wirklich, daß ich mich so
wegwerfen würde, um mit der Mamsell ein Verhältniß anzuknüpfen? Nein,
ich habe größeren Ehrgeiz, denn, die Knackmandeln ganz abgerechnet,
die nun einmal bei einem anständigen Dessert nicht fehlen dürfen,
trage ich die Ueberzeugung in mir, daß ich dem ersten Hotel der Welt
würdig vorstehen könnte, und wenn ich bis jetzt alle die mir gemachten
brillanten Anerbietungen von der Hand wies -- wenn ich bis jetzt --“
und sein Auge haftete mit leidenschaftlicher Gluth auf der Wittwe,
während er fast unwillkürlich mit dem rechten Fuß ausschritt und die
rechte, etwas große und rothe Hand mit weit ausgespreizten Fingern
gegen sie streckte, „selbst meinem Herzen einen unnatürlichen Zwang
auflegte und da schwieg, wo meine ganze Seele --“ er stak fest, denn
die Frau hatte sich ganz erstaunt nach ihm herumgedreht und ihr Blick
brachte ihn vollständig aus dem Concept.

Wohl hatte er sich diese Rede, gerade den günstigen Zeitpunkt geduldig
abwartend, oft und oft in seiner eigenen Stube und vor dem kleinen
schmalen Spiegel einstudirt, aber dabei natürlich nur immer in sein
eigenes unwiderstehliches Gesicht geschaut. Jetzt fand er sich aber der
Wittwe selber gegenüber, und der Ausdruck ihrer Züge war dabei ein so
wenig ermunternder, daß er den Faden vollständig verlor und gerade im
entscheidenden Moment, wie schon erwähnt, gründlich stecken blieb.

„Sagen Sie mal, Louis,“ nahm da für ihn die Frau das Wort, seine
poetische Rede mit einer höchst prosaischen Wendung unterbrechend,
„Sie haben wohl heute zu Ihren Knackmandeln Rothwein getrunken? --
oder sind Sie übergeschnappt? In beiden Fällen bleibt mir weder Zeit
noch Lust, Ihren Unsinn anzuhören; haben Sie deshalb die Güte, sich
wieder hinunter zu bemühen und Ihren Geschäften nachzugehen -- wenn
Sie es nicht vielleicht vorziehen sollten, sich in’s Bett zu legen. --
Schon gut -- Sie sehen, daß ich zu thun habe. Die neue Wirthschafterin
heißt Frau Therese, und daß ich von ihr keine Klagen über Sie höre
wie die bisherigen, -- sonst müßte ich Sie Ihren übrigen brillanten
Anerbietungen überlassen. Jetzt machen Sie, daß Sie hinunterkommen.“

Dieser letzte Befehl war zu deutlich, als daß er noch eine fernere
Zögerung gestattet hätte, und Herr Louis, aus all’ seinen Himmeln
gestürzt, und in einer Stimmung, in der er eine Welt hätte vergiften
können, mußte wieder hinunter in das Gastzimmer und mit der Serviette
unter dem Arm die Gäste fragen, ob sie zu ihrem Beefsteak Kartoffeln
oder Salat wünschten.



Drittes Kapitel.


Oben in der Stube auf Nr. 36, saß indessen der „Particulier Müller“ und
brütete über einem großen Gedanken.

„Das ist meine einzige Rettung,“ flüsterte er leise vor sich hin, indem
er, den Kopf in die Hand gestützt, in der Sophaecke saß und wieder das
Bild anstarrte, „wir sind uns immer so ähnlich gewesen, daß wir oft mit
einander verwechselt wurden -- ich habe sogar einmal für meinen Bruder
unschuldiger Weise Prügel bekommen. -- Wenn ich jetzt vor sie hinträte
-- wenn ich ihr sagte: Josephine kennst Du mich nicht mehr? Bin ich Dir
so ganz fremd geworden? Hast Du Deinen Caspar in den wenigen Jahren
schon vergessen? -- Dann ist sie nicht mehr im Stand an eine Täuschung
zu glauben. Die Zeit drängt dabei. -- Der neuen Banden wegen, die sie
fesseln, müssen die alten vor der Welt geheim gehalten werden. Ich
ehre ihr Unglück -- ich bin erbötig, mit dem ersten Schiff Europa zu
verlassen und ihr in einem fremden Welttheil die Ruhe, den Frieden
zu sichern, aber -- mir fehlen dazu die Mittel. Fünfhundert Thaler
setzen mich dazu in Stand, den für Beide nothwendigen Schritt zu thun
-- fünfhundert Thaler sind für sie eine Kleinigkeit -- ihre alte Liebe
kommt dazu -- Reue über das Geschehene, was glücklicher Weise nicht
mehr zu ändern ist, und morgen -- kehre ich zu meiner armen Frau zurück
und beginne mit dem Geld ein neues Geschäft. Ich will ja arbeiten, wenn
mir nur die Hände nicht mehr gebunden sind, wenn ich mich erst wieder
frei bewegen kann. Ich will das alte leichtsinnige Leben abschwören,
ich will ein ordentlicher, fleißiger Mann werden, und das hier soll der
letzte leichtsinnige Streich sein, den ich mache, darauf gebe ich mir
selber Hand und Wort.“

Er war aufgesprungen und lief wohl noch eine Viertelstunde mit raschen
Schritten in seinem Zimmer auf und ab.

Die Wirthin war zurückgekommen; von dem Hausmädchen hatte er es gehört,
und es galt jetzt, keine Zeit mehr zu versäumen. Der Boden brannte ihm
unter den Füßen, und je eher er sich dieser ihm drückend werdenden
Lage entzog, desto besser. Außerdem wußte ja auch der Kellner, daß
er die Frau vom Hause sprechen wolle, und würde ihm sicher, auf den
schmächtigen Reisesack hin, keinen längeren Credit bewilligt haben.

Was er zu thun hatte, wußte er auch genau, und um das Eisen zu
schmieden, so lange es heiß war, klingelte er dem Oberkellner und bat
diesen, ihn bei der Frau zu melden -- wenn sie ihn nämlich heut Abend
noch annehmen wolle, denn es war indessen fast neun Uhr geworden.
Herr Louis, eben nicht in der Laune, die Frau heute Abend noch einmal
aufzusuchen, schüttelte aber dazu mit dem Kopf. Sie hatte schon vorhin
über Kopfschmerzen geklagt und das Stubenmädchen ihr eben Camillenthee
hinaufbringen müssen. Bei Nachtzeit machte man auch keiner Dame einen
Besuch, und hatte es so lange Zeit gehabt, so konnte er auch ebenso gut
bis morgen früh warten.

Eigentlich war ihm das nicht unlieb, denn im andern Fall hätte er an
dem nämlichen Abend fortgemußt, und so stand ihm noch ein gutes Souper
mit ein paar Flaschen Wein und ein vortreffliches Bett die Nacht zu
Gebot. Die ganze Rechnung ging doch jetzt in einem hin, und es verstand
sich von selbst, daß er unter solchen Umständen keinen Pfennig davon
bezahlte. Damit also einverstanden, fragte er nur den Kellner, wann er
die Frau morgen früh sprechen könnte, und als dieser ihm sagte, daß sie
schon um sieben Uhr aufstände und um halb acht fertig angezogen wäre,
ging er jetzt selber in den Speisesaal hinunter, um sein Abendbrot zu
verzehren.

Lieschen, die Kellnerindienste mit versehen mußte, wenn viele Gäste
da waren und dann besonders das Essen zu überwachen hatte, war gerade
beschäftigt, dem Particulier Müller ein Couvert aufzulegen, und dieser
hielt die Weinkarte in der Hand und studirte eben die Sorten nach,
als die neue Wirthschafterin in den Saal kam, um Lieschen zu der
Frau hinauf zu beordern. Sie trat auch bis zum Tisch, und Lieschen’s
Schulter berührend, theilte sie ihr leise die empfangene Ordre mit,
als ihr Blick zufällig auf den Gast fiel, dessen Gesicht von dem vor
ihm stehenden Lichte hell beschienen wurde. Sie sah ihn stier an und
jeder Blutstropfen verließ dabei ihre Wangen, aber fast unwillkürlich
drehte sie sich auch von ihm ab und schritt in demselben Augenblick
dem Ausgang wieder zu, als Müller aufsah und eben nur noch ihre
fortschreitende Gestalt erkennen konnte. Aber er erschrak -- war
_das_ die Wirthin gewesen?

„Wer war die Dame,“ fragte er rasch Herrn Louis, der eben mit dem als
Vorspeise bestellten Caviar zu seinem Tisch trat.

„Dame --“ sagte aber Herr Louis, verächtlich die Nase rümpfend, indem
er einen Blick über die Achseln hinter ihr herwarf, „schöne Dame --
das war die neue Haushälterin, die hier die Wirthschaft führen soll
-- eine schöne Wirthschaft, die das werden wird, und ich wenigstens
beabsichtige in nächster Zeit mein Bündel zu schnüren. Denke gar nicht
daran, jeder Gans allergehorsamsten Diener zu spielen.“

Herr Louis war gereizt, da aber die neue Haushälterin Herrn Müller
nicht im Geringsten interessirte, so machte er sich über den Caviar
her, bestellte sich eine Flasche Markobrunner und fühlte sich bald so
behaglich, wie sich ein Mann unter solchen Umständen nur fühlen kann.

Die neue Wirthschafterin hatte indessen kaum mit dem ihr folgenden
Mädchen den Gang erreicht, als sie stehen blieb und sie fragte, ob sie
den Herrn kenne, dem sie eben das Gedeck aufgelegt.

„Gewiß“ lautete die Antwort, „er logirt ja seit ein paar Tagen bei uns
und hat auf die Madame gewartet, die er wegen irgend etwas sprechen
muß.“

„Und die Frau weiß noch nicht, daß er hier ist?“

„Wenn’s ihr Herr Louis nicht heute Abend gesagt hat. Es war ja schon
spät, wie sie ankam. Kennen Sie ihn?“

„Ich? -- nein“, lautete die ausweichende Antwort, „aber machen Sie
nur, daß Sie zur Frau hinaufkommen; sie hat schon zweimal nach Ihnen
verlangt.“

Das Mädchen sprang die Treppe hinauf und Therese blieb mit zitternden
Knien unten auf der ersten Stufe stehen. Das war ihr Mann gewesen --
unter Tausenden hätte sie ihn im Nu herausgekannt, und ein Irrthum
blieb unmöglich. Aber was um des Himmelswillen wollte er hier? --
weshalb hatte er sie so böswillig verlassen, ja ihr nicht einmal einen
einzigen kleinen Brief, nicht ein Wort des Trostes gesandt, daß er
noch lebe und daß es ihm gut gehe. Und weshalb war sie jetzt vor ihm
geflohen? -- wußte sie es doch selber nicht. Im ersten Augenblick hatte
sie ihm an die Brust fliegen wollen, aber dann wieder trieb sie eben so
rasch ein ganz eigenes scheues Gefühl von ihm zurück. Sie mußte sich ja
erst fassen; sie mußte erst überdenken, was sie thun, wie sie handeln
sollte. Und wenn sie jetzt zurückkehrte und auf ihn zutrat und sagte:
„Ferdinand, wo bist Du so lange geblieben? Was hab’ ich Dir zu Leide
gethan, daß Du mich in Kummer und Elend allein gelassen hast?“ -- Aber
das ging nicht -- die vielen fremden Menschen um sie her. Und sollte
sie ihn nicht anreden? Das durfte sie ja doch auch nicht, denn war er
nicht möglicherweise selbst in diesem Augenblick auf dem Weg, um sie
selber aufzusuchen, und freute er sich nicht vielleicht eben so sehr,
sie wieder zu haben, wie ihr Herz ihm noch immer entgegenschlug, trotz
allem Herzeleid was er ihr angethan?

Aber sie wollte jetzt nicht übereilt handeln. Er wohnte ja hier im
Hause, diese Nacht verließ er dasselbe keinesfalls. Er hatte sie ja
auch nicht einmal gesehen und konnte keine Ahnung haben, daß sie ihm so
nahe wäre -- o, wie weh ihr das im Herzen that, daß sie glauben mußte,
er könne sie fliehen, wenn er um ihre Anwesenheit wüßte. -- So wollte
sie denn vor allen Dingen mit ihrer Schwägerin sprechen und diese um
Rath fragen; das schien eine verständige, resolute Frau zu sein, und
wenn er sie morgen aufsuchte, konnte sie ihm vielleicht am besten ins
Herz reden, daß er sein armes Weib nicht gar so elend machte.

Sie war auch in der That nicht im Stande, dies Gefühl noch die ganze
Nacht auf dem Herzen zu behalten, ohne sich ausgesprochen zu haben,
und ging ohne Weiteres zu der Frau hinauf, um dieser ihre Entdeckung
mitzutheilen.

Frau Müller war eben im Begriff, sich niederzulegen, denn sie fühlte
sich von der heutigen Reise ermüdet und angegriffen. Nichtsdestoweniger
hörte sie mit großer Aufmerksamkeit die Neuigkeit an und schüttelte nur
dann und wann mit dem Kopf, denn sie konnte sich nicht denken, was
den Mann veranlaßt haben mochte, sich um seine eigene Frau gar nicht
mehr zu bekümmern, und hierher zu kommen. Daß sie sich nicht in der
Person geirrt haben könne, betheuerte Frau Therese wieder und wieder,
wenn sie auch nur einen einzigen Blick auf den Mann geworfen; es war
nicht möglich und eben auch nicht wahrscheinlich. Lieschen wurde jetzt
nach dem Fremdenbuch geschickt, aber das gab ihnen ebenfalls keinen
Aufschluß: „Müller, Particulier, Hamburg, zum Vergnügen.“ Mit solchen
Nachrichten beruhigt sich wohl die Polizei die alle „vergnügten“
Menschen als harmlos betrachtet, so lange sie nicht zu vergnügt werden
und ihren Mitmenschen die Fenster einwerfen; aber den beiden Frauen
konnte dieser Selbstbericht nicht genügen, ja, machte sie eher noch
verwirrter. -- War der Mann denn wirklich ein Particulier geworden? --
Das Contobuch, das sich Madame ebenfalls heraufbringen ließ, bestätigte
wenigstens, daß er in ein paar Tagen schon sehr viel Geld verzehrt --
aber wo in aller Welt hatte er dann in der kurzen Zeit das Vermögen
herbekommen, und weshalb war er nicht schon lange zu seiner Frau
zurückgekehrt? -- Es half nichts, daß sie sich Beide den Kopf darüber
zerbrachen.

„Das Einzige, was wir thun können“, sagte die Frau endlich zu
Theresen, „ist, daß wir erst einmal morgen früh hören, was er will. Ich
lasse Sie dann wissen, wann er bei mir ist, und Sie bleiben so lange
auf Ihrer Stube, bis ich Sie herüber rufe. Bis dahin aber halten Sie
sich ihm lieber aus dem Weg und gehen deßhalb heute Abend nicht mehr in
das Wirthszimmer hinunter.“ Dabei blieb es.

Herr Particulier Müller hatte indessen sein Abendbrot unten beendet,
und wie das mit uns sehr häufig geschieht, daß wir, in welcher Lage wir
auch immer uns befinden mögen, eine Art von Genugthuung, ja stiller
Heiterkeit über uns kommen fühlen, wenn wir zu irgend einem festen
Entschluß in einer wichtigen Angelegenheit gelangt sind, so kam es
auch Herrn Müller vor, als ob ein drückendes Gewicht von ihm genommen
wäre und er jetzt erst wieder, nach langer Zeit, frei aufathmen dürfe.
Er beschloß also diesen „letzten Abend“ im Hotel -- denn morgen um
diese Zeit war er wer weiß wie weit -- auch noch würdig zu feiern,
und da ein Glas Wein, oder selbst eine ganze Flasche, bekannter Weise
nicht schmeckt, wenn man sie allein trinken soll, so war er genöthigt,
aus Mangel weiterer Bekanntschaft den stets bereiten Louis wieder
zuzuziehen.

Unter anderen Verhältnissen würde indessen Herr Louis Bedenken
getragen haben, dem fremden Gast -- wenn er auch mit dem Nimbus eines
Particulier umgeben auftrat -- auf den schmächtigen Reisesack hin
weiteren und gewissermaßen unbegrenzten Credit zu gestatten, denn
seine Rechnung war schon ganz bedenklich aufgelaufen. Heute aber, in
der gereizten Stimmung, in der er sich befand, und über düsteren,
unheilsvollen Zukunftsplänen brütend, schien er nur zu sehr geneigt,
kleine Hindernisse als nicht bestehend zu betrachten. Wenn die Welt zu
Grunde gegangen wäre, was lag heute Herrn Louis daran, und wie konnte
es ihm, von solchen Ideen erfüllt, da auf ein paar Flaschen Wein mehr
oder weniger ankommen?

Außerdem war die Frau heute Abend unwohl und keine Gefahr also, daß sie
noch einmal herunter kommen könne. So saßen denn die beiden würdigen
Leute wieder bis Nachts zwölf Uhr bei ihrem Glas Wein, und da sich
der Particulier Müller heute bei _sehr_ guter Laune fühlte und
Herr Louis zuletzt davon angesteckt wurde, so erzählten sie sich
Anekdoten und lustige Streiche aus ihrem oder anderer Leute Leben, und
wurden zuletzt so cordial zusammen, daß der Oberkellner endlich die
unausweichlichen Knackmandeln zum Vorschein brachte und der Gast in
höchst liebenswürdiger Weise nicht eins, nein, einen ganzen Teller
voll Vielliebchen mit ihm verzehrte.



Viertes Kapitel.


Wenn der Particulier Müller aber auch bis tief in die Nacht hinein
geschwärmt hatte, so war er doch trotzdem am frühen Morgen wieder auf,
denn heute galt es, den entscheidenden Streich zu führen -- länger
hätte er sich auch überdieß nicht in dem Hotel halten können, und je
früher am Morgen er damit begann, desto rascher kam er damit zu Ende.
Eine Nacht durfte er keinesfalls noch nachher im Hause bleiben.

Am vorigen Abend schon hatte er sich von seinem Freund, dem
Oberkellner, ein Rasirmesser geborgt, und wie es nur eben hell geworden
war, um die Operation vorzunehmen, klingelte er um seinen Kaffee und
etwas heißes Wasser, verschloß dann seine Thür und stutzte und rasirte
sich seinen Bart genau so, wie ihn das Portrait über der Kommode
trug. Auch die Haare ordnete er sich in ähnlicher Art, und als er
sich nachher im Spiegel mit dem Bild verglich, mußte er sich selber
eingestehen, daß die Aehnlichkeit eine vollkommene sei. Er konnte gar
nicht verfehlen, den Eindruck zu machen, den er beabsichtigte.

Die einzige Schwierigkeit war jetzt, in das Zimmer seiner Schwägerin zu
kommen, ohne dem Oberkellner vorher zu begegnen, denn Müller zweifelte
keinen Augenblick daran, daß diesem die Aehnlichkeit mit dem Bilde
ebenfalls auffallen müsse. Schlug der aber vor der Zeit Lärm, so war
die Sache kein Geheimniß mehr und dann vollkommen werthlos; seiner
Schwägerin wäre es nicht mehr eingefallen ihn abzukaufen. Uebrigens
hatte er sich schon am vorigen Tag den Gang gemerkt, durch welchen er
in das Zimmer der Frau gelangen konnte, ohne vorher die Treppe hinunter
und an der andern Seite wieder hinauf zu steigen. Aber vorher mußte er
sich melden lassen und dazu blieb ihm keine andere Person erreichbar
als der Hausknecht. Nur ob er ihn dazu bewegen konnte, war die Frage,
denn bis jetzt hatte er aus dem Burschen noch keine drei Worte
herausbekommen. Doch der Versuch mußte gemacht werden.

Die Thurmuhr -- eine eigene Uhr besaß Herr Müller schon lange nicht
mehr -- schlug eben acht, als er diesem würdigen Individuum klingelte.
Bald darauf erschien er mit drei oder vier Paar Stiefeln unter
den Armen, machte die Thür auf, rief herein: „Komme gleich!“ und
verschwand dann wieder, um die betreffenden Fußbekleidungen an ihre
entsprechenden Nummern abzuliefern. Nach einiger Zeit aber kehrte er
wirklich, mit der Kleiderbürste in der Hand, zurück -- denn was Anderes
konnte man von ihm verlangen? -- blieb in der Thür stehen und sagte,
sich überall nach einem auszubürstenden Kleidungsstücke umsehend:

„Na, wo is es?“

„Wo ist was?“ fragte Herr Müller, der sich indessen sein rothseidenes
Taschentuch vor das Gesicht hielt, damit der Bursche nicht sein
verändertes Aussehen bemerken sollte.

„Nu, der Rock oder die Hose,“ erwiderte der Bursche, „oder soll ich
Ihnen vielleicht einen Zahn ausreißen, denn Sie halten ja das Gesicht
so fest zu.“

„Bitte, lieber Freund,“ sagte aber Herr Müller, „thun Sie mir doch den
Gefallen und gehen Sie einmal hinüber zur Wirthin --“

„Geht mich nichts an,“ brummte aber der Hausknecht, indem er sich
wandte, um das Zimmer wieder zu verlassen; „das ist dem Kellner,
dem Mosche Luih seine Sache. Wenn ich ihn sehe, will ich ihn
heraufschicken.“ Er stand schon wieder auf der Schwelle, aber der
Fremde griff in die Westentasche, und das war eine Bewegung, die er nur
zu gut kannte und der er noch nie im Leben hatte widerstehen können.

„Lieber Freund,“ wiederholte auch jetzt der Fremde, indem er ihm ein
Fünfgroschenstück in die Hand drückte -- es war das letzte, das er sein
nannte -- „hätten Sie wohl die Freundlichkeit, für mich hinüber zu
gehen? Ich vertraue Ihnen die Bestellung lieber an.“

„Na, man ist ja kein Unmensch,“ sagte der Hausknecht, indem er das
Geldstück besah und in seine eigene Tasche gleiten ließ, „und was soll
ich drüben?“

Herr Müller trug schon seit gestern eine Karte bei sich, die er sich
ebenfalls von dem Kellner erbeten. Auf dieser hatte er mit Fractur --
um seine Handschrift nicht zu verrathen -- den Namen „Caspar Müller“
geschrieben und die Karte dann in einem Couvert versiegelt.

„Hier, diese Karte,“ sagte er jetzt, das Papier dem Hausknecht gebend,
„tragen Sie gleich zu Ihrer Madame hinüber und sagen Sie ihr, der Herr,
dessen Namen da drinnen stände, wünsche sie augenblicklich zu sprechen,
da er ihr etwas Wichtiges mitzutheilen habe. Verstanden?“

„Hm,“ sagte der Hausknecht und besah sich den kleinen Brief von allen
Seiten, „da steht ja gar nichts oben drauf.“

„Ist auch gar nicht nöthig. Sie wissen ja doch, wem Sie es übergeben
sollen.“

„Na, schön,“ erwiderte der Bursche, indem er das Couvert in seine
Westentasche zu dem Fünfgroschenstück schob, „werde es nachher
besorgen, wenn ich hier mit meiner Seite fertig bin.“

„Wenn Sie nicht gleich hinüber gehen, kann es mir nichts helfen,“ sagte
aber Herr Müller ruhig, „dann seien Sie so gut und geben Sie mir den
Brief und die fünf Groschen wieder -- die mag dann das Hausmädchen
verdienen.“

„Ne, das kann ich auch,“ meinte aber der jetzt gefügige Geselle, denn
schon eingestecktes Geld wieder herauszugeben, ging doch unmöglich an;
„wenn die Geschichte so eilig ist, mag sie ihn gleich haben, und Nummer
28 bis 19 muß eben warten, bis ich wiederkomme,“ und dabei drehte er
sich auf dem Absatz herum und ließ Herrn Müller jetzt zwar nicht mit
Zahnschmerzen, aber doch in einem Grad von Aufregung zurück, der ihm
das Herz wie ein Hammer in der Brust pochen machte und den Angstschweiß
auf die Stirn trieb.

Die Würfel waren aber auch jetzt gefallen; der Stein rollte, die
Kugel war aus dem Lauf, und keine Macht der Welt konnte sie wieder
zurückbringen. Der Name Caspar Müller bereitete die Frau auf Alles
vor, was sie zu erwarten hatte, und seine eigene Erscheinung nachher
mußte jedem etwa auftauchenden Zweifel ein Ende machen. Keinesfalls
wies sie auch das einzige Rettungsmittel von der Hand, das er ihr
bot. Was konnte ihr an den paar Hundert Thalern liegen, wo es ja den
häuslichen Frieden ihres ganzen Lebens galt. Und doch war ihm nicht
recht behaglich dabei zu Muthe, denn er dachte an seine eigene Frau --
was diese dazu sagen würde, wenn sie es wüßte, dachte an den Betrug den
er spielte, und mochte er ihn auch beschönigen wie er wollte, es blieb
doch immer nur ein Raub, den er verübte.

Aber konnte er etwa anders? Zwang ihn denn nicht die baare, blanke
Noth zu diesem Schritt, und hätte er nicht etwa gar stehlen müssen, um
sich nur am Leben zu erhalten, wenn ihm dieser Versuch fehl schlug?
-- Stehlen? -- Und war das hier etwa besser wie stehlen? einer armen,
alleinstehenden Frau, die sich nicht zu rathen und zu helfen wußte,
ja seiner eigenen Schwägerin eine Summe Geldes durch eine Lüge
abzupressen? Er mochte den Blick nicht zu dem Spiegel aufheben, an dem
er vorüberschritt, so schämte er sich vor sich selber, und unruhig
horchte er wieder und wieder an der Thür, ob denn die Antwort noch
nicht bald käme, daß er endlich von seinen peinlichen Gedanken und
Selbstvorwürfen erlöst würde. Und immer wieder horchte er vergebens,
denn so vollkommen vorbereitet die Wirthin auch auf den Empfang des
_Ferdinand_ Müller gewesen war, so unerwartet traf sie die Meldung
des Namens ihres eigenen verstorbenen Mannes, und so bestürzt war sie
darüber, daß ihre Bewegung nicht einmal dem sonst fast stumpfsinnigen
Hausknecht entgehen konnte.

„Und was für Antwort soll ich auf Nummer 36 bringen?“ fragte
dieser endlich, als die Wirthin noch immer wie gebannt auf den
verhängnißvollen Namen starrte, „er wartet d’rauf.“

„Ich -- ich werde ihn nachher rufen lassen,“ sagte die Frau, sich
gewaltsam sammelnd, „aber jetzt -- schicken Sie mir einmal gleich die
neue Wirthschafterin herauf -- hören Sie? Ich ließe sie bitten, den
Augenblick zu mir zu kommen, ich hätte ihr -- doch schon gut -- sagen
Sie ihr nur, daß sie augenblicklich kommt.“

Der Hausknecht drehte sich um, diesen neuen Auftrag auszuführen und
dann seine übrigen Stiefel fertig zu putzen. Die fünf Groschen hatte
er verdient und Nr. 36 jetzt weiter nichts zu thun, als eben zu
warten, bis er gerufen würde. Wie blaß aber die Frau geworden war, als
sie den Brief gelesen! was da wohl d’rin gestanden haben mochte --
gewiß war Jemand gestorben, doch was ging das ihn an; er sollte die
Wirthschafterin rufen, und war das geschehen, so hatte er auch mit der
ganzen Geschichte nichts weiter zu thun.

Nur wenige Minuten vergingen bis Frau Therese bei ihrer neu entdeckten
Schwägerin erschien, und was für wirre, peinigende Gedanken waren
dieser indessen durch Herz und Hirn gezuckt und hatten ihr Brust wie
Seele eingeschnürt, daß sie kaum athmen konnte. -- Wenn sich die Frau
nun gestern Abend geirrt -- wenn sie, durch die Aehnlichkeit getäuscht,
ihren eigenen Mann, den Caspar Müller, den sie die langen, langen Jahre
für todt und verloren geglaubt, für den ihrigen gehalten hätte -- wenn
er jetzt wiederkommen -- plötzlich zu ihr in’s Zimmer treten sollte.
-- Sie konnte den Gedanken nicht gleich fassen, denn zu plötzlich, zu
überraschend schnell war das Alles sich gefolgt, und rathlos, die Hände
gefaltet, den Kopf gesenkt, ging sie noch mit raschen Schritten in
ihrem Zimmer auf und ab, als sich die Thür öffnete und ihre Schwägerin
den Raum betrat.

„Sie haben mich zu sprechen gewünscht,“ sagte sie leise und sah sich
scheu im Zimmer um, denn sie hoffte halb, halb fürchtete sie, ihren
Gatten hier zu treffen, aber die Wirthin schob ihr nur die Karte hin
und „Caspar Müller“ las sie verwundert. Sie wußte nicht, was sie daraus
machen solle -- wie das mit dem was sie erwartete zusammenhing --
„Caspar Müller? Wer ist das? War das nicht _Ihres_ Mannes Name?“

„_Meines_ Mannes,“ bestätigte die Frau, „und diese Karte hat
mir der Fremde eben herübergeschickt, den Sie gestern Abend in der
Wirthsstube gesehen und für Ihren Mann gehalten haben.“

„Diese Karte? -- aber sein Vorname ist Ferdinand.“

„Und wissen Sie bestimmt, daß Sie sich nicht getäuscht? Die beiden
Brüder sollen sich immer ähnlich gesehen haben, und nie, nie konnte
ich bestimmte Nachricht von dem Tod meines Gatten erhalten. Er war nur
verschollen, und wie Andere, die mit ihm todtgesagt gewesen, wieder
nach einiger Zeit in Europa und in dem Kreis der Ihrigen erschienen, so
kann ja auch er zum Leben zurückgekehrt und mir erhalten sein.“

Therese seufzte tief auf, aber mit dem Kopf schüttelnd, sagte sie
leise: „Und wenn es Zwillingsbrüder gewesen wären, ich hätte sie von
einander gekannt, wenn ich sie so gesehen, wie gestern Abend meinen
Mann. O, Gott wollte ich recht von Herzen und auf meinen Knien danken,
wenn Ihnen der Gatte zurückgegeben würde, aber der, den ich gestern
Abend gesehen habe, war es nicht.“

„Und sind Sie davon fest und sicher überzeugt?“ fragte die Wirthin.

„Ich wollte den heiligsten und schwersten Eid darauf ablegen, aber“
fuhr sie fort, „wir haben noch ein anderes Mittel, uns zu überzeugen.
Dort liegt noch das Fremdenbuch von gestern Abend und meines Mannes
Handschrift. Hier --“ und sie nahm ihr Notizbuch aus der Tasche -- „ist
der letzte Brief, den ich von ihm erhalten habe. Sie selber besitzen
doch auch noch jedenfalls die Unterschrift ihres Mannes aus früherer
Zeit -- vergleichen Sie die drei Proben mit einander, und Sie werden
bald selber keinen Zweifel mehr hegen.“

„Sie haben Recht,“ rief die Wittwe rasch, indem sie ein kleines
Ebenholzkästchen aufschloß und ein Packet Briefe herausnahm. „Die
Unterschrift muß jeden Zweifel lösen, und jetzt werden wir gleich
sehen, woran wir sind.“ Sie hatte mit den Worten schon einen Brief
herausgenommen und geöffnet, aber die Schrift ihres verstorbenen
Mannes hatte auch nicht die entfernteste Aehnlichkeit mit dem in dem
Fremdenbuch eingetragenen Namen, während das Wort Müller in jeder
Einzelheit mit der Handschrift von Theresens Gatten correspondirte.

„Sie sehen selber, daß ich Recht habe,“ sagte Therese, „es bleibt kein
Zweifel mehr, es ist mein Mann; aber dann begreife ich nicht, wie er
dazu kam, Ihnen diese Karte zu schicken, die er selber geschrieben
haben muß.“

„Ich begreife es aber desto besser,“ sagte die Wittwe, deren Brauen
sich finster zusammenzogen, während sie, beide Hände aus den Tisch
gestützt, noch immer die Handschriften mit einander verglich, oder
wenigstens darauf niederstarrte, „doch davon werden wir uns selber
überzeugen, wenn wir den Herrn erst gesprochen haben,“ sagte sie
plötzlich, indem sie sich wieder aufrichtete und ihre Briefe verschloß.
„Bitte, liebe Therese, nehmen Sie ihren Brief wieder an sich und
das Fremdenbuch vor der Hand mit auf Ihr Zimmer, das Sie auch nicht
verlassen dürfen, bis ich Sie selber von dorther rufe. Wir wollen so
wenig wie möglich fremde Menschen bei der Sache haben.“

„Aber mein Mann --“

„Schicken Sie das Hausmädchen hinüber auf Nummer 36 und lassen Sie den
Herrn bitten, sich zu mir zu bemühen. Sagen Sie auch dem Mädchen, daß
sie ihn gleich selber zu mir führt; er möchte den Weg nicht wissen,
obgleich ich fast vermuthe, er hat sich schon danach umgesehen. Und dem
Mädchen tragen Sie dann auf, augenblicklich wieder zu Ihnen zu kommen,
damit sie mir hier nicht am Zimmer horcht. Es wäre vielleicht besser,
Sie sähen sich selber nach ihr um, denn Sie können ja in Ihrem Zimmer
hören, wenn sie dort vorbeigehen.“

„Und wollen Sie ihm sagen, daß ich hier, daß ich bei Ihnen bin?“

„Erst müssen wir vor allen Dingen erfahren, was ihn selber zu mir
führt, danach werden wir unsere anderen Maßregeln zu ergreifen haben.
Also vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe, und nun fort, denn
ich fürchte fast, Herr Müller da drüben, welchen Vornamen er nun auch
trägt, wird indessen ungeduldig geworden sein.“

Therese verließ das Zimmer, um die erhaltenen Befehle auszuführen,
wenn sie auch noch immer nicht begriff, auf was das Alles hinauslaufen
sollte. Weit rascher hatte dagegen die Wirthin des Fremden Absicht
aufgefaßt, denn von Jugend auf gewohnt, mit einer Menge der
verschiedensten Menschen zu verkehren, und diese nicht immer von ihrer
Lichtseite kennen zu lernen, war schon lange bei allen zweifelhaften
Fällen stets ihr erster Gedanke, daß das Ganze auf eine Gelderpressung
hinauslief, und Erfahrung hatte sie gelehrt, wie sie unter zehn
Fällen sieben- oder achtmal Recht gehabt. Und doch blieb ihr hierbei
räthselhaft und unbegreiflich, auf welche Weise ihr Schwager -- und
daß er es sei, bezweifelte sie jetzt selber nicht mehr, seitdem sie
die Handschriften miteinander verglichen -- beabsichtigt habe, seine
Rolle durchzuführen. Wenn er sich für ihren verstorbenen Mann ausgab,
mußte er doch auch darauf gefaßt sein, dafür zu gelten, und dann jeden
Tag fast eine Entdeckung des begangenen Frevels fürchten. -- Daß Herr
Louis aus ihm selber am besten bekannten Gründen ihr einen zweiten Mann
angedichtet hatte, wußte sie ja gar nicht.

Doch Alles mußte sich ja bald zeigen, denn Müller, der indessen drüben
auf Nr. 36 wie auf Kohlen gestanden und gewartet hatte, folgte der
Einladung augenblicklich -- das Mädchen konnte kaum Schritt mit ihm
halten, und schon hörte sie ihn draußen auf dem Gang.

„Herein!“ Die Thür öffnete sich und die Wittwe, die völlig darauf
gefaßt gewesen war, den beabsichtigten Betrug mit einem Blick zu
durchschauen, stieß unwillkürlich einen leisen Schreckensschrei aus,
als ihr Gatte -- ihr Caspar, wie sie ihn zuletzt gesehen, wie sie ihn
immer noch im Gedächtniß trug, auf der Schwelle stand und ihr die Hand
entgegen streckte. Aber vorsichtig zog er mit der andern dabei die
Thür hinter sich zu, denn das Mädchen brauchte von der Erkennungsscene
nichts zu sehen, und mit langsamen Schritten kam er jetzt auf die Frau
zu, die sich vor Schreck und Ueberraschung am Tisch festhalten mußte um
nicht in die Knie zu sinken.

Herr Müller beging dabei einen Fehler. Er warf einen, wenn auch nur
flüchtigen Blick durch das Zimmer, um sich zu überzeugen, ob Niemand
Anderes zugegen wäre, aber er fiel damit aus der Rolle, denn den
wirklichen Mann hätte in einem solchen Augenblick die Gegenwart von
hundert Zeugen nicht gekümmert.

Zu jeder andern Zeit hätte auch die Frau wohl schwerlich diesen
Mißgriff übersehen, aber dieser erste Moment der Ueberraschung war
zu groß für sie gewesen und wirkte zu bewältigend. Als ob sie eine
Erscheinung sähe, starrte sie ihn an, und Müller, dem der gemachte
Eindruck nicht entgehen konnte, sah sein Spiel gewonnen. So auf die
Frau zugehend und sie in seine Arme nehmend, sagte er leise und
zärtlich:

„Josephine -- kennst Du mich nicht mehr?“

Die Frau duldete die Umarmung; Wahrheit und Täuschung schien hier
so eng verkettet, daß sie sich nicht im Stande fühlte, beide gleich
von einander zu trennen. Wie stark auch die feste Ueberzeugung der
letzteren gewesen sein mochte, das, was lebend und athmend vor ihr
stand, rief mit der Erinnerung vergangener Zeiten Alles wieder wach,
was die langen Jahre in ihrem Herzen todt und begraben gelegen, und
ihren Kopf auf seine Brust legend, flüsterte sie:

„O, Caspar, Caspar, bist Du es denn wirklich? -- ja, Du mußt es
sein. Therese hat sich geirrt,“ fuhr sie fast leidenschaftlich fort.
„Du heißt nicht Ferdinand, und die schwere, schwere Zeit, die ich
durchlebt, ist jetzt vorbei. Jetzt bleibst Du bei mir und verläßt mich
nie, nie wieder!“

„Therese -- Ferdinand -- nie wieder verlassen?“ Herrn Müller überkam
bei den Worten ein ganz eigenes, unbehagliches Gefühl, denn während
die ersten Namen den unbestimmten Verdacht einer Entdeckung in ihm
wach riefen, war dieser leidenschaftliche Jubel, mit dem ihn die Frau
umschlang, nicht die Empfindung gewesen, auf die er seine ganze
Hoffnung gesetzt. Die Frau mußte in dem ersten Glück des Wiedersehens
ganz vergessen haben, daß sie schon wieder verheirathet sei. Auf
diese Wendung gar nicht vorbereitet, wußte er auch in der That nicht
gleich, wie er sich dabei benehmen sollte, und erwiderte nur, in aller
Verlegenheit, desto feuriger die Umarmung.

„Und wo, um Gotteswillen, bist Du so lange gewesen?“ fuhr die Frau
endlich fort, indem sie sich fast gewaltsam von ihm losmachte, und ihn
auf Armeslänge von sich haltend, aufmerksam betrachtete, „wo warst Du,
daß nicht eine Zeile von Dir mich erreichen und aufrichten konnte?“

„Ach, mein Herz,“ sagte Herr Müller, für diese Frage völlig gerüstet,
„in jener Schreckensnacht, als ich auf einem Stück Holz im Meere
schwamm, fischte mich ein Wallfischfänger auf und nahm mich mit
auf seiner Tour in die Südsee. Die erste Nacht war ich bewußtlos,
und später konnte er mich des schlechten Wetters wegen nicht mehr
aussetzen. Oben im Eismeer aber froren wir ein -- o, ich habe
schreckliche Zeiten mit durchgemacht, und als wir endlich loskamen und
ich ein anderes Schiff fand, das mich heimführen sollte, scheiterten
wir zum zweiten Mal an der russischen Küste -- und wie schwer es ist,
von dort wegzukommen -- glaubt gar Niemand -- der nicht selber dort
gewesen.“

Die Frau hatte ihn, während er sprach, fest und aufmerksam betrachtet,
und so sicher er sich in seinem eigenen Zimmer gefühlt, als er sich
dieses Zusammentreffen ausmalte, so unsicher machte ihn jetzt das auf
ihm haftende Auge. Er brachte die letzten Worte nur langsam heraus. --
Weshalb sah ihn aber auch die Frau nur so stier an. Diese hörte aber
kaum, was er sprach, denn jetzt, in ruhiger Beobachtung, begann der
Zauber zu weichen, der sie zuerst befangen gehalten.

Wie sie den Mann hatte in ihre Stube treten sehen und in der ganzen
Gestalt, in den Zügen, ja selbst in seinen Bewegungen das getreue
Abbild ihres Gatten erkannte, da allerdings überwältigte sie ihr
Gefühl, und der erste unwillkürliche Eindruck war, daß der Todte
wirklich zum Leben erstanden sei. Jetzt aber, während vielleicht
unbewußt der fremde Klang der Stimme das Seinige dazu beitrug und ihr
Auge unmittelbar an den Zügen dessen haftete, der hier als ihr Gatte
auftrat, kehrte zuerst der Gedanke an einen möglichen Betrug zurück,
wurde das Mißtrauen geweckt, und eine Menge Kleinigkeiten mußten es
bestätigen.

Das vor ihr waren die Züge des Gatten, aber sie waren es auch wieder
nicht; die blauen Augen desselben hatte er, ja, aber dennoch lag etwas
in deren Ausdruck, das sie früher nie gekannt und das ihr fremd blieb.
Auch um die Nase lag ein fremder Zug, und die Narbe, -- wo war die
kleine aber tiefe Narbe geblieben, die er sich einst bei einem Sturz,
gerade über dem rechten Auge geholt? Jetzt blieb kein Zweifel mehr,
alles Andere konnte sich verändert haben, aber die Narbe nicht, und der
vor ihr Stehende war ein Betrüger.

Mit dem Bewußtsein gewann aber auch die überdies resolute Frau ihre
ganze Ruhe wieder, und so rasch ihr die Gedanken durch das Gehirn
zuckten, hielt sie den einen doch fest, daß sie erst die Absicht des
Betrügers erforschen wollte, ehe sie ihn entlarvte.

Herr Müller hörte indessen kaum selber was er sprach, denn die beiden
Worte: Therese und Ferdinand schallten ihm noch in den Ohren und
erfüllten ihn mit einem ganz eigenen Unbehagen. Therese -- Ferdinand,
wie um Gotteswillen kam die Frau gerade in diesem Augenblick auf die
beiden Namen; aber was konnte sie auch von ihm wissen? Nichts auf der
Welt! Darin fühlte er sich vollkommen sicher, und jetzt nur, um einer
Scene ein Ende zu machen, die er, wie er fast fürchtete, nicht lange
würde durchführen können, setzte er leise und wie vorwurfsvoll hinzu:

„Aber wär’ ich doch nur dort geblieben -- wär’ ich dort nur umgekommen,
-- daß ich Dich _so_ wiederfinden mußte.“

„So?“ wiederholte die Frau, die nicht gleich begriff, was er damit
meinte; „so wiederfinden?“

„Ach, daß Du wieder heirathen mußtest!“ seufzte der Mann und barg sein
Gesicht in der linken Hand.

„Und was soll jetzt werden?“ fragte die Frau, die in diesem Augenblick
vollkommen gut begriff, auf was Alles hinauslief.

„Ich weiß es nicht,“ stöhnte Herr Müller wie verzweiflungsvoll, indem
er den Arm wieder sinken ließ, und ein Bild tiefer Trauer vor der
Wittwe stand, „soviel ist gewiß, ich muß fort -- ich darf Deine Ruhe,
Deinen Frieden nicht stören. Ich will wieder hinüber über den Ocean,
und nie mehr dürfen sich unsere Wege kreuzen --“

„Du wolltest wieder fort?“

„Ich muß,“ lautete die resignirte Antwort, „wenn ich nur nicht meine
letzten Mittel erschöpft hätte, um hierher zu kommen.“

Die Frau senkte den Kopf, daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte, denn
ein leises Lächeln zuckte darüber hin. Jetzt war sie vollkommen sicher,
auf was das Ganze hinauslief, und nur das Eine konnte sie sich noch
nicht erklären, aus welchem Grunde sie ihr liederlicher Schwager wieder
für verheirathet hielt, und wer ihm das gesagt haben konnte. Doch das
blieb sich jetzt gleich, und wie sie sich erst wieder auf sicherem
Grund und Boden und die erste Schwäche vollständig überwunden fühlte,
war ihr weiterer Plan auch rasch gefaßt.

„Aber Caspar,“ sagte sie, den Kopf wieder zu ihm hebend, „Deine Mittel
hast Du erschöpft, um nur hierher zu kommen, und jetzt wolltest Du
wieder fort? -- wolltest mich zum zweiten Mal verlassen? -- weshalb?
Die lange schwere Zeit der Trennung liegt hinter uns, und nichts,
nichts im Leben soll uns wieder trennen.“

Herr Müller sah sie etwas überrascht an. „Aber Dein zweiter Mann!“
sagte er endlich zögernd.

„Mein zweiter Mann?“ rief die Wittwe. „Glaubst Du, daß ich Dich je so
weit vergessen habe, wieder an eine zweite Heirath zu denken? O, wie
wenig hast Du mich da gekannt.“

„Du -- bist nicht wieder verheirathet?“ sagte Herr Müller, und in der
Frage lag in der That weit weniger Entzücken, wie diese Entdeckung
eigentlich hätte erregen sollen.

„Nein, Caspar, sicher nicht -- o, wie konntest Du das glauben. Nein,
wahrlich nicht auf’s Neue verheirathet, aber glücklich -- ja selig,
Dich nach so langer Zeit wieder zu haben. Ich wollte auch schon unsere
Wirthschaft ganz aufgeben,“ fuhr sie, seinen Arm erfassend, fort, „ich
hatte keine Lust, keine Liebe mehr zu dem Geschäft, und da ich mich in
der That zu schwach fühlte, dem weiten Anwesen vorzustehen, so ließ ich
mir Deines Bruders Frau, Therese, von Breslau herüberkommen, um mich
darin zu unterstützen. Dein armer Bruder ist ja auch schon weit über
ein Jahr verschollen, und die unglückliche Frau wandte sich in ihrem
größten Elend an mich um Rath und Hülfe.“

„Und Therese ist hier?“ sagte Herr Müller, und es war ihm in dem
Augenblick, als ob ihm der Boden unter den Füßen weggezogen würde.

„Sie ist nebenan in ihrem Zimmer,“ setzte die Frau rasch hinzu, und
hätte sie noch den geringsten Zweifel gehabt, daß der vor ihr Stehende
nicht ihr Mann, sondern ihr Schwager sei, so würde ihn der Schreck, der
augenscheinlich in den Zügen des Ertappten lag, vollständig gehoben
haben; „laß mich sie rufen, daß sie sich mit mir freut.“

„Nicht jetzt -- nicht jetzt, beste -- Josephine“, wehrte aber Herr
Müller ab, indem er ihren Arm ergriff und festhielt, „diese erste
Stunde unseres Wiedersehns müssen wir auch allein -- unter uns feiern.
Ich -- ich -- bin zu glücklich, zu selig --“

„Nein, nein,“ rief aber die Wittwe, sich von ihm losmachend, „die
arme, unglückliche Frau hat gestern den ganzen Tag geweint, und ich
will heute nur glückliche Menschen um mich sehen. Sie wird sich mit
uns freuen und dadurch glücklich sein. Warte nur einen Augenblick, ich
bin gleich wieder bei Dir,“ und trotzdem, daß Herr Müller noch einen
Versuch machte, sie mit Bitten zurückzuhalten, sprang sie aus dem
Zimmer und ließ den armen Teufel, ein wahres Bild des Jammers und der
Verzweiflung, zurück.

Was nun? -- er hatte noch nie in seinem Leben so schnell herüber und
hinüber gedacht. Die Rückkunft der beiden Frauen erwarten und dann vor
beiden wie ein ertappter Verbrecher stehen? -- unmöglich! Aber fort? --
wohin? und seine Frau hier? -- Jetzt war Alles verloren -- und dieser
verfluchte Oberkellner, der ihn durch seine schändlichen Lügen allein
zu diesem Schritt verleitet, war an Allem schuld. Aber kam er auch
glücklich aus dem Hause, was dann? -- überall starrte ihm Elend und
Verzweiflung entgegen -- aber immer noch lieber Elend und Verzweiflung
getragen, ehe er in diesem Augenblick seiner Frau begegnete. Er war
ein leichtsinniger Mensch, aber nicht schlecht, und so viel Ehrgefühl
ihm immer noch geblieben, daß er die Schande brennend fühlte, die er
sich selber angethan, wenn er jetzt vor seiner Frau und Schwägerin als
ertappter Betrüger stand. Also fort -- gleichviel wohin, und wenn er
sich in irgend einer fremden Stadt als Tagelöhner verdingen, wenn er
sein Brot vor den Thüren erbetteln sollte, wo ihn die Welt nicht kannte
-- nur jetzt, jetzt fort aus diesem Haus.

Mit raschen, geräuschlosen Schritten eilte er nach der Thür, die ein
kleines ovales Fenster, innen mit einem leichten Vorhang bedeckt, trug.
Durch dieses konnte er vorher einen Blick auf den Gang werfen, ob die
Luft rein sei, erschreckt aber fuhr er zurück, denn draußen, nicht drei
Schritt von der Thür entfernt, stand Herr Louis. Hatte den die Frau
dort hingestellt, um ihn zu bewachen?

Das war allerdings nicht der Fall, und Herr Louis in Wirklichkeit
ebenso erschreckt gewesen den Vorhang zurückgehen zu sehen, wie er
selber, denn jenes würdige Individuum hatte einen freien Augenblick
unten einmal benutzt, um zu versuchen, ob er nicht erhorchen könne, was
hier oben vorginge, da ihm kein Mensch ein Wort davon sagte. Im ersten
Moment glaubte er auch wirklich, es sei die Frau selber, die ihn beim
Spioniren ertappt, und seine erste unwillkürliche Bewegung drängte ihn
von der Thür hinweg. Als sich aber der Vorhang hob, hatte sein scharfes
Auge doch den Particulier Müller erkannt, und wie dieser ebenso rasch
verschwand, als er erschienen war, ging es ihm auf einmal wie ein Licht
auf, daß sich der Fremde nur da drinnen versteckt habe, um ihm seine
Vielliebchen abzugewinnen. Mit einem Satz war er wieder an der Thür, um
womöglich durch den dünnen Vorhang oder das Schlüsselloch zu erkennen,
was Jener da drinnen treibe, als er auf sehr unerwartete und plötzliche
Weise gestört wurde. An der anderen Seite des Ganges öffnete sich
nämlich eine Thür, und der entsetzte Oberkellner sah sich plötzlich der
Frau gegenüber, die ihn rasch ärgerlich fragte:

„Nun? was haben Sie da an meiner Thür zu horchen, Mosje? Hab’ ich Sie
endlich einmal dabei erwischt? Solche Leute kann ich nicht in meinem
Dienst brauchen. Sie verstehen doch, was ich damit sagen will, und am
Ersten dürfen Sie sich nach einer anderen Stellung umsehen.“

„Bitte tausendmal um Entschuldigung, Madame“, stotterte der verdutzte
Bursche, indem er seine Serviette zu einem Strick zusammendrehte, „ich
suchte Herrn -- Herrn Particulier Müller, mit dem ich --“

„Schon gut, ich will nichts weiter hören. Bringen Sie jetzt rasch
einmal eine Flasche Sodawasser herauf -- aber beeilen Sie sich!“

Der Oberkellner fuhr die Treppe hinunter, als ob er elektrisirt worden
wäre, und die Wittwe, sich jetzt zu der dicht hinter ihr folgenden
Schwägerin wendend, sagte freundlich:

„Fassen Sie sich nur, liebe Therese -- ein Glas Sodawasser wird Ihnen
wohl thun, und mir zu Liebe stellen Sie sich nur im ersten Augenblick,
als ob Sie Ihren Mann nicht kennen. Ich möchte doch gern noch sehen,
wie er sich dabei benehmen wird. Nur Muth -- er darf keine Schwäche an
Ihnen merken,“ und dabei ergriff sie die Thür und öffnete dieselbe.

Herr Müller indessen hatte, ehe er einen festen Entschluß fassen
konnte, die Stimme der Frau schon wieder draußen auf dem Gang gehört
und dort hinaus konnte er nicht mehr entkommen. Einen verzweifelten
Blick warf er durch das Fenster, aber ein Sprung von zwei Etagen
Tiefe war unausführbar; er hätte rettungslos das Genick gebrochen,
und nur als letzte Zuflucht zeigte sich ihm eine andere Thür -- das
Schlafzimmer der Wittwe. Aber es schien, als ob heute die Hölle alle
ihre Diener gegen ihn ausgesandt, daß er rettungslos zu Grunde gehen
solle, denn die Thür war verschlossen, und schon hörte er die Stimme
der Frau vor dem Zimmer.

Dicht neben der Kammerthür war ein Gestell angebracht, an dem Kleider
hingen, und um den Staub von ihnen abzuhalten, ein kattuner Vorhang
darüber befestigt. Wenn er darunter fuhr? Sie hätten ihn gewiß nicht
im Zimmer gesucht, sondern geglaubt, daß er es schon verlassen habe,
und suchten sie ihn unten oder auf Nr. 36, so behielt er auch sicher
Zeit, ungesehen zu entkommen. Diese Gedanken fuhren ihm aber nur so
blitzesschnell durch’s Hirn, denn wie eine bedrohte Maus in das erste
beste Loch hineinfährt, nur um vor der Hand einmal aus Sicht zu kommen,
so schlüpfte er in dem einen Gefühl, nur um dem Blick seiner schwer
gekränkten Frau zu entgehen, unter den Vorhang und rührte und regte
sich dort nicht, damit ihn das Rauschen desselben nicht verrathen möge.

Im nächsten Moment öffnete sich die Thür und Madame blieb etwas
überrascht auf der Schwelle stehen, als sie ihren angeblichen Mann
nirgends mehr im Zimmer erblickte.

„Fort?“ sagte sie, indem sie staunend umher sah, „ohne Abschied, und
das Fenster offen? Der Unglückliche wird doch um des Himmelswillen
nicht den rasenden Sprung gewagt haben?“

Sie flog auf das Fenster zu und sah hinaus, während Therese in
Todesangst und mit gefalteten Händen auf der Schwelle stehen blieb.

„O Du großer, allmächtiger Gott,“ stöhnte die arme Frau, „wenn ihn die
Furcht vor mir in den Tod getrieben hätte, ich könnte ja mein ganzes
Leben lang nicht wieder froh werden!“

„Hier ist er nicht hinunter,“ versicherte aber die Wittwe vollkommen
beruhigt, als sie einen Blick hinab geworfen. „Er wird den Augenblick
benutzt haben, als ich das Zimmer verließ, und hoffentlich ist er noch
im Hause, denn das war meine Absicht nicht.“

„Und wenn er nun durch jene Thür geflüchtet wäre,“ sagte Therese, die
einen Blick im Zimmer umhergeworfen.

„Durch jene? Die ist verschlossen,“ erwiderte die Frau und ging
hinüber, um die Thür zu versuchen. Ihr Kleid streifte den Versteckten,
während sie davorstand. „Nein, noch kann er aber das Haus nicht
verlassen haben. -- Lieschen! Louis!“ rief sie dann, rasch zur Thür
tretend, so laut sie rufen konnte, und zog dabei aus Leibeskräften an
der Klingel.

Herr Louis -- in dem drückenden Gefühl, bei einer entwürdigenden
Handlung erwischt zu sein, kam mit einer Flasche Sodawasser in der
einen und zwei Gläsern in der anderen Hand wie ein Pfeil die Treppe
heraufgeschossen, und die Hausmagd, die eben nebenan die Zimmer
reinigte, erschien ebenfalls mit ganz verdutztem Gesicht in der Thür,
während Lieschen von dem anderen Gang herbeistürzte.

„Hat Niemand von Euch den Fremden von Nr. 36 gesehen?“

„Er war hier im Zimmer, als Sie vor der Thür standen,“ rief der
Oberkellner und nahm dabei eine Stellung an, als ob er eben im Begriff
sei, einen körperlichen Eid darauf abzulegen.

„Aber er kann doch nicht durch die Luft davongeflogen sein. Lieschen
spring einmal nach Nummer 36 hinüber -- er darf nicht fort, ehe ich mit
ihm gesprochen habe. Katharine, Du gehst an die Hausthür, und ruf den
Hausknecht, wenn er mit Gewalt hinaus will.“

„Ob ich mir nicht gedacht habe, daß er durchbrennen würde,“ brummte
Herr Louis vor sich hin, während er Flasche und Gläser auf den Tisch
setzte; dabei aber fiel sein Blick zufällig auf den Vorhang, der eine,
wenn auch nur ganz unbedeutende Bewegung machte, und unten daran
erkannte er eine Fußbekleidung, die keinenfalls ein Eigenthum der
Wirthin sein konnte.

„Wenn der Stiefel nicht auf Nr. 36 gehört,“ betheuerte sich Herr Louis
im Stillen, „so will ich mein Leben lang Wasser trinken.“

„Nun, was stehen Sie da wieder in Gedanken,“ rief ihn die Frau
ungeduldig an, „machen Sie, daß Sie mit hinunter kommen und den Fremden
finden.“

„Hat ihn schon!“ rief er, indem er ein paar Schritte zur Seite trat und
den Vorhang halb lüftete. „Guten Morgen, Vielliebchen!“ rief er aber
schon im nächsten Augenblick, als er nun die gestreiften Hosen unter
dem Kattun entdeckte. Die nächsten Frauenröcke dabei zurückschlagend,
blickte er aber, auf’s Aeußerste erstaunt, in ein vollkommen fremdes,
unbekanntes Gesicht, denn seitdem er sich rasirt, hatte er den
Particulier Müller ja gar nicht wieder gesehen, während dieser den
Burschen hätte erwürgen können. Der Frau aber, die das Ganze rasch
übersah, lag gar nichts daran, daß Herr Louis Zeuge irgend einer
Familienscene sein sollte; so, während Herr Müller verlegen aus seinem
Versteck vortrat, denn was half seit seiner Entdeckung ein längeres
Verbergen, sagte sie ruhig:

„Herr Louis --“

„Madame befehlen?“

„Ist das der Herr von Nummer 36?“

„Bitte tausendmal um Entschuldigung --“ stotterte der Oberkellner,
„jedenfalls hat er die Hosen von Nummer 36 an, aber -- aber im Gesicht
sieht er ganz anders aus.“

„Gut, dann gehen Sie hinunter in die Wirthsstube und verlassen Sie
dieselbe nicht wieder, bis ich selber hinabkomme. Wir werden den Herrn
hier selber examiniren. Den Hausknecht schicken Sie auf den Gang
herauf; er soll dort warten, bis ich ihm weitere Befehle gebe, da es
sein könnte, daß er gebraucht wird.“

„Zu Befehl, Madame,“ sagte der Oberkellner, aber immer noch, ohne
sich von der Stelle zu regen, und mit einem halb zweifelhaften, halb
unentschlossenen Blick auf Nr. 36.

„Nun, worauf warten Sie noch?“

Der Oberkellner machte eine halbe Schwenkung. Es blieb ihm hier gar zu
viel noch räthselhaft, und besonders hätte er gern gewußt, ob er sein
Vielliebchen gewonnen oder nicht, denn das abrasirte Gesicht des Gastes
kannte er in der That nicht wieder. Dem so direct gegebenen Befehl
mußte er aber auch gehorchen, und kaum hatte er das Zimmer verlassen,
als Madame Müller hinter ihm den Riegel vorschob.

„Herr Ferdinand Müller,“ sagte sie dabei, indem sie sich ruhig, wenn
auch ernst, an den Ertappten wandte, denn alles weitere Zurückhalten
war jetzt unnöthig, „Sie sind mein Gefangener, und ich lasse Ihnen vor
der Hand diese Ihnen bekannte Dame als Kerkermeisterin. So weit ich
vermuthen darf, hat sie jedenfalls das erste Anrecht, Ihre Erklärungen
entgegen zu nehmen. In einer halben Stunde werde ich dann zurück sein,
um zu hören, was Sie mir selber zu sagen haben, denn Sie müssen es
begreiflich finden, daß ich eine etwas nähere Auseinandersetzung der
mir zugedachten Ueberraschung erwarten darf.“

„Verehrte Frau --“ stammelte Herr Müller, der sich in diesem Augenblick
wohl klaftertief unter die Erde wünschte.

„Es ist schon gut -- vorher wünschte ich, daß Sie sich genauer
auf Ihren Vornamen besinnen, um jedes weitere Mißverständniß zu
vermeiden, es ist das wesentlich nothwendig; nachher wird unsere
Auseinandersetzung auch so viel leichter werden.“ Und ohne weiter eine
Antwort abzuwarten, schloß sie ihr Schlafzimmer auf, trat hinein und
drückte die Thür wieder hinter sich in’s Schloß.

Therese war indessen an der einen Seite der Stube auf einen Stuhl
gesunken, während ihr Mann noch auf der anderen zerknirscht und
in einander gebrochen stand. Keines sprach ein Wort, während aber
Müller’s Blick nur dann und wann scheu und furchtsam zu der schwer
gekränkten Frau aufzuckte, hing dieser Blick voll und traurig an der
halbabgewandten Gestalt des Gatten, und die großen hellen Thränen
tropften ihr dabei schwer und langsam in den Schooß. Da hielt sich
Müller nicht länger. Kein Wort des Vorwurfs war über ihre Lippen
gekommen, aber ihr bleiches, schmerzdurchfurchtes Antlitz sprach viel
deutlicher, als je Worte es hätten ausdrücken können, das Leid, das
sie ertragen, und auf sie zugehend, warf er sich vor ihr auf die Knie,
schlang seine Arme um ihre Hüften und weinte wie ein Kind.

Herr Louis hätte draußen gern noch eine kleine Weile an der Thür
gehorcht, denn ganz unerklärlich blieb ihm einestheils das Betragen
der Frau, daß sie ihm, _ihm_ den Dienst kündigen konnte, und dann
kam ihm auch jetzt auf einmal das Gesicht des Fremden so merkwürdig
bekannt vor. Wo in aller Welt war er dem schon einmal früher begegnet?
Die Physiognomie desselben beschäftigte ihn auch in der That so
ausschließlich, daß er hinab in die Wirthsstube ging und dort ganz in
Gedanken eine halbe Flasche Wein hinunterstürzte und nachher, sich
fortwährend mit dem linken Zeigefinger die Stirn reibend, wieder die
Treppe und nach Nr. 36 hinaufstieg. Er wollte dort weiter nichts,
als zusehen, ob der Fremde wieder auf seinem Zimmer sei oder -- ob
wenigstens sein Reisesack noch dort stände.

Diesen fand er allerdings, und zwar fertig gepackt, als aber sein Blick
noch im Zimmer umherschweifte, um vielleicht etwas zu entdecken, was
ihm vielleicht nur die leiseste Andeutung über den immer räthselhafter
werdenden Menschen geben konnte, fiel sein Blick zufällig auf das Bild
über der Kommode, und mit einem einzigen Satz war er mitten in der
Stube und vor dem Portrait.

„Herr Du meine Güte!“ rief er aber hier, wie vor den Kopf geschlagen,
aus, „wo ich denn nur meine Augen -- wo ich denn nur meinen Verstand
gehabt habe, daß mir das nicht gleich auf den ersten Blick eingefallen
ist. Der Mann! der Mann! heilig und wahrhaftig wie er leibt und
lebt! Aber weshalb er sich da versteckt hat? -- sicher nur, um mir
auszuweichen und das Vielliebchen nicht zu verlieren. Ja,“ setzte Herr
Louis mit einem triumphirenden Lächeln hinzu, „daß ihm das nichts
half, hätte ich ihm vorhersagen wollen, denn der müßte verwünscht früh
aufstehen, der mich in einem --“

„Guten Morgen, Vielliebchen!“ sagte in diesem Augenblick eine Stimme
dicht hinter ihm, und eine leichte Hand berührte seine Schulter.
„Das war gewonnen, und jetzt möchten Sie einmal hinunter kommen; da
ist ein Herr unten, der eine Flasche Wein verlangt. -- Herr Louis
entschuldigen, daß ich so frei war.“

Herr Louis fuhr, wie von einer Tarantel gestochen, herum, und
sah in das spöttisch und lachend zu ihm aufgehobene Gesicht des
Stubenmädchens, die ihm jetzt einen tiefen Knix machte. Das hatte ihm
noch zu all’ dem Herzeleid dieses Morgens gefehlt.

„Fräulein Lieschen,“ sagte er, indem er sich entrüstet gegen sie
wandte, „in einem solchen Moment ist es keine Kunst --“

„Was, Herr Louis?“

Herr Louis hielt es für gerathener, das Stubenmädchen nicht in sein
Geheimniß einzuweihen, wandte sich deshalb ab und stieg, von dem hellen
Lachen des Mädchens verfolgt, gravitätisch die Treppe hinab, um dem
Gast dort die verlangte Flasche Wein zu besorgen.



Fünftes Kapitel.


Die Wittwe Müller blieb nicht lange in ihrer Kammer, denn sie hatte
nur das erste Wiedersehn der Beiden nicht stören wollen; als sie die
Thür aber wieder leise öffnete, lag der Reuige noch immer vor seiner
Frau auf den Knien, und ohne daß er gewagt hätte, sein Auge zu ihr
zu erheben, klagte er sich selber an. Er schilderte ihr aber auch
dabei, wie er Alles, Alles versucht habe, auf ehrliche Weise sein
Brot zu finden, und wie ihm Alles wieder und wieder mißglückt und
fehlgeschlagen sei, bis er endlich, bis zum Aeußersten getrieben,
so schwer gesündigt habe, die eigene Schwägerin hintergehen zu
wollen. Ohne ein Wort zu verschweigen, beschrieb er dabei sein erstes
Zusammentreffen mit dem Kellner und dessen Lüge, und wie er darauf
seinen Plan gebaut, ein paar hundert Thaler für sich zu gewinnen und
damit zu ihr zurückzukehren, um mit dem kleinen Capital ein neues Leben
beginnen zu können. Wie tief er die Schmach jetzt empfinde, könne er
ihr nicht sagen, wie schwer er das Geschehene bereue -- aber es sei
zu spät, und er müßte jetzt wieder hinaus in die Welt -- wohin, bliebe
sich gleich, um durch harte Arbeit und ehrliches Ringen seine Schuld zu
sühnen und ihr zu beweisen, daß er doch nicht ganz verdorben sei.

Die Frau hörte ihm zu, das sorgenschwere Haupt gebeugt, und ihre
Thränen fielen schnell und schwer auf den Scheitel des Knienden.

„Und ist das Ihr Ernst?“ fragte da die Wittwe, die ungehört bis hinter
den Stuhl Therese’s getreten war, „wollen Sie wirklich an Ihrer armen
Frau das wieder gut machen, was Sie gesündigt haben? -- Gut -- gut --
ich glaube Ihnen,“ fuhr sie fort, als der arme Teufel seine Stirn nur
fester gegen die Knie der Gattin preßte, „aber fort dürfen wir Sie
nicht mehr lassen, denn wo Sie bis jetzt auf sich selber angewiesen
blieben, sind Ihre Erfolge eben nicht übergroß gewesen. So mag denn
jetzt Therese sehen, was sie mit Ihnen ausrichten kann.“

„Aber wie soll das geschehen?“ fragte diese traurig und kopfschüttelnd.

„Um meines armen Caspar Willen, dem Sie im Aeußeren so ähnlich sind,“
sagte da leise die Frau, „will ich selber den Versuch machen -- will
ich selber Ihnen die Gelegenheit bieten, ein ordentlicher und wieder
selbstständiger Mann zu werden.“

Müller sah scheu und überrascht zu ihr auf.

„Und Sie wollen mir das Geschehene verzeihen?“

„Ich will Ihnen glauben, daß Sie nur Ihrer armen Frau wegen jenes
Unrecht versuchten, wenn Sie mir auch eine schwere Stunde damit
bereitet haben. Aber hören Sie mich an. Ich habe schon lange die
Absicht gehabt, mich von der Wirthschaft, der eine einzelne Frau nicht
gut vorstehen kann, zurückzuziehen, und dieselbe zu verpachten. Ich
werde Euch Beiden den Pacht übergeben, über den wir uns später dann
vereinigen können. Sind Sie das zufrieden?“

Es bedarf keiner Worte weiter, das Glück der beiden Menschen zu
schildern. Müller freilich war tief beschämt über so viel Liebe
und Güte, denn er fühlte recht gut, wie wenig _er_ das Alles
verdient und wie unwürdig jedes Vertrauens er sich eigentlich gemacht
hatte; aber von Herzen gut, und mit dem festen Vorsatz, ein anderer,
besserer Mensch zu werden, fühlte er auch die Kraft in sich, den Platz
auszufüllen, auf den er jetzt gestellt wurde, und die Zukunft zeigte,
daß die Wittwe ihr gutes Werk nie zu bereuen hatte.

Am meisten überrascht war allerdings Herr Louis über die Wendung,
die das Ganze genommen, und deren Ursache er sich noch immer nicht
erklären konnte, und er baute auch jetzt neue Hoffnungen darauf, daß
ihn sein „alter Freund“ nicht im Stich lassen würde. Herr Müller hatte
aber schon zu viel von der Thätigkeit des Burschen als Oberkellner
gesehen, und war überhaupt gewillt, keine Leute zu zahlen, deren Dienst
er selber versehen konnte. So blieb die Entlassung des Oberkellners
bestätigt, und dieser verließ am Ersten des nächsten Monats -- sein
Herz mit Bitterkeit gegen die Undankbarkeit des Menschengeschlechts im
Allgemeinen und Herrn Müller’s im Besonderen gefüllt -- das Haus.

„Hotel Müller“ aber schien unter der neuen Herrschaft nicht schlechter
zu fahren. Müller selber war Tag und Nacht auf dem Posten, und ein so
aufmerksamer Wirth, wie sich nur wünschen ließ. Ja, als er zehn Jahre
den mäßigen Pacht gezahlt, war er sogar im Stande, das ganze Anwesen
seiner Schwägerin abzukaufen, und wenn auch jetzt in seiner eigenen
Stube das Bild des Bruders hing, daß es ihn immer an jenen Fehltritt
mahnen sollte, brauchte er es doch nicht mehr, um ihn vor einem
Rückfall zu bewahren.



Ein freundlicher Empfang.

Eine californische Skizze.


Im Jahre 49, nach dem ersten Anprall der Goldsucher in Californien,
lag der Hafen von San Francisco -- so groß und geräumig er ist -- fast
gefüllt von leeren und selbst ihrer Mannschaft entblößten Schiffen,
und Fahrzeuge wären zu dem billigsten Preis zu bekommen gewesen, wenn
sie nur irgend jemand hätte gebrauchen können. Wie sie aber -- wenn
wirklich gekauft -- fort bekommen? Denn Seeleute forderten einen gar
nicht zu bezahlenden Preis für die kleinste Fahrt, weil den Leuten noch
überall der erst später gehobene Goldschwindel in den Köpfen stak.
Nicht allein die Matrosen waren von sehr vielen Schiffen fort und in
die Minen gelaufen, nein, von manchen sogar Steuermann wie Kapitän, und
die Fahrzeuge ritten dann einfach vor ihrem Anker, bis es einem oder
dem anderen beliebigen Herumtreiber einfiel, sich in Besitz zu setzen,
und angeblich das Fahrzeug vor dem „~a drift~“ gehen zu bewahren.

So lag auch die ~l’Abeille~, ein hübsches französisches Schiff,
in der Bai, auf der sich ganz gemüthlich zwei amerikanische Rowdies
niedergelassen und später, als der Kapitän endlich zurückkehrte,
eine enorme Forderung für „Tagesgelder“ an ihn stellten, weil sie
behaupteten, das Schiff wäre verloren gewesen, wenn sie nicht mit
Aufopferung all ihrer Zeit und Kräfte einen Nothanker ausgeworfen und
das schon treibende Fahrzeug aufgehalten hätten. -- Was konnte er
machen? -- Er mußte zahlen, wenn er sein Schiff wieder haben wollte,
denn ein Prozeß gegen zwei Amerikaner hätte ihm zu jener Zeit mehr
gekostet, als die ganze Brigg werth war -- und dann noch vielleicht
ohne Resultat.

So lag auch ein deutsches Fahrzeug in der Bai, die Gesine Mengsen, ein
großes Barkschiff, das Bauholz gebracht und seine Ladung nur hatte um
die Fracht verkaufen müssen. Diesem waren ebenfalls sämmtliche Leute
davongelaufen, bis selbst auf den Steward, Koch und zweiten Steuermann,
und nur der erste Steuermann und Kapitän an Bord geblieben. Aber auch
diese weniger aus Gewissenhaftigkeit, als weil sie nichts mehr haßten,
als Bergeklettern und Hacken und Graben, und an den Goldschwindel
vielleicht nicht einmal recht glaubten. Außerdem war dem Kapitän
eine ganz außerordentlich reiche Fracht nach den Sandwichs-Inseln
versprochen, wenn er nur halbwege Mannschaft auftreiben konnte, und er
gab sich dazu in der That die größte Mühe -- wenn auch viele Wochen
lang vergeblich.

Indessen hielten er und der Steuermann abwechselnd die Wacht über
Nacht an Bord, denn einer von ihnen blieb immer an Land bei Bekannten.
Verlassen durften sie das Schiff aber nicht, da sie recht gut wußten,
wie viel Gesindel sich am Land und auch in der Bai herumtrieb, und
nur auf eine Gelegenheit wartete, um Beute zu machen. Denen wäre das
noch reichlich mit Provisionen und Getränken gefüllte Fahrzeug ein
fetter und willkommener Bissen gewesen. Wer von ihnen deßhalb auch
zurückblieb, hatte seinen Revolver scharf geladen im Gürtel stecken und
schlief an Deck, um augenblicklich bei der Hand zu sein, sobald ihn das
geringste Geräusch störte. War es des Kapitäns Abend, so fühlte sich
dieser auch vollkommen beruhigt, daß ihm nichts passirte, denn er wußte
mit Feuerwaffen vortrefflich umzugehen und schlief auch außerdem sehr
leicht. Nicht so sicher hielt er aber das Fahrzeug unter der Obhut des
Steuermanns, der allerdings ebenfalls einen Revolver trug, aber von
Schießgewehren eigentlich nicht viel wissen wollte und sich deßhalb
auch noch eine alte Wallfischlanze verschafft hatte, die er, der
größeren Sicherheit wegen, Abends neben seine Matratze legte.

Der Kapitän ermahnte ihn allerdings öfters seinen Revolver nachzusehen,
und er mußte ihn auch ein paarmal in seiner Gegenwart abschießen
und frisch laden, aber er traute ihm deßhalb doch nicht, denn der
Steuermann nahm immer die Zündhütchen herunter, weil er fürchtete,
daß ihm das „Blitzding“ einmal von selber losgehen könne. Heute fuhr
übrigens der Kapitän wieder an Land, und zwar waren ihm von einem
Handlungshaus drei Matrosen versprochen worden, die er mitnehmen
konnte, wenn er ihnen nämlich Beköstigung garantirte, bis er seine
volle oder wenigstens nöthige Mannschaft beisammen hatte. Das
machte ihm aber wenig Sorge; denn bekam er nur die drei gewiß, und
dann noch zwei dazu, so getraute er sich schon mit denen nach den
Sandwichs-Inseln, wo es nachher indianische Matrosen in Menge gab,
hinüber zu fahren.

Er verließ sein Schiff auch heute etwas früher als gewöhnlich und
schärfte dem Obersteuermann, ehe er in seine Jolle stieg, noch einmal
ausdrücklich ein: ja recht Acht zu haben und besonders seinen Revolver
nicht unten in der Coye zu lassen. Es waren gerade wieder am gestrigen
Abend zwei Mordthaten in San Francisco verübt worden, und das Volk
sprach schon davon, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen, da sich
die Gerichte viel zu schwach und machtlos erwiesen.

Der Steuermann nickte seine volle Zustimmung zu allem, was sein Kapitän
sagte, dachte aber bei sich: „mach Du nur, daß Du von Bord kommst,
nachher werde ich das Andere schon allein besorgen.“ Er konnte nämlich
die Zeit nicht erwarten, wo er ganz ungestört heiß Wasser ansetzen
und einen famosen Grog für sich brauen durfte, denn der Kapitän lebte
entsetzlich mäßig und haßte alle starken Getränke dermaßen, daß er
sogar Abends nicht einmal mehr als _eine_ Tasse schwachen Thee
trank. Sein Steuermann bekannte sich aber zu der entgegengesetzten
Lehre.

Jetzt war der Kapitän fort, und Bohmeier, wie der Steuermann hieß,
lehnte noch eine Weile an der Schanzkleidung und sah ihm nach, bis er
zwischen den anderen Fahrzeugen mit seinem kleinen Boot verschwunden
war; dann drehte er sich um, rieb sich vergnügt die Hände und schritt
nun auch ohne weiteres zur Cambüse hinüber, um sich dort Feuer und
heiß Wasser zu machen. Weßhalb hätten sie auch hier an Bord nicht
gut leben wollen? denn erhielten sie beide, er und der Kapitän, nicht
durch ihr alleiniges Dableiben den Rhedern daheim das ganze Schiff und
retteten ihnen so ein sehr bedeutendes Kapital? -- Nachher kam es auf
ein paar Flaschen Rum und Cognac auch nicht an, und die Güte konnte
_er_ sich besonders thun, da der Kapitän -- wunderlicher Heiliger
-- nicht einmal trank.

Darin hatte Bohmeier auch in der That vollkommen Recht. Die Rheder
würden ihnen die paar Flaschen wahrlich nicht mißgönnt haben, noch
dazu, da er selber zwar sehr viel, aber doch nie zu viel trank und
seiner Pflicht stets genügen konnte. Der Steuermann machte sich
deßhalb auch keine Gewissensscrupel, und wie er seinen Grog fertig
hatte, nahm er sich einen tüchtigen Blechtopf voll davon mit auf’s
Quarterdeck, wo er sich ganz behaglich einen Stuhl und Tisch hingerückt
hatte, und trank und betrachtete sich dabei die wundervolle Bai und
die wunderliche Zeltstadt, die dicht an deren Ufer wie aus dem Boden
herausschoß und täglich neue Keime trieb.

Es war auch in der That ein reizendes Bild, und etwas Friedlicheres,
als diese Scenerie, und etwas Wilderes, Ungeordneteres, als die ganze
Staffage dazu, hätte man sich kaum denken können. Vor ihm lag die
lange, etwas kahl aussehende Hügelkette der Küstenberge, auf denen der
dort oben fast ununterbrochen wehende Wind eine eigentliche Vegetation
nicht aufkommen ließ; links aber, wo sich die Bai zu schließen schien,
und nur ein schmaler Arm dort einbog, der hinauf nach den Mündungen des
Sacramento und San Joaquin führte, waren die Gebirge mit hochstämmigen
Bäumen bedeckt. Besonders im Rücken, wenn er den Kopf danach wandte,
konnte er mächtige Cedern auf dem höchsten Kamm erkennen, während sich
rechts von ihm, mit wirklich pittoresken Conturen, die Berge gegen die
Ausfahrt des Hafens, des ~golden gate~, zusammen schlossen.

Und wie belebt sah die prachtvolle Bai selber aus, und doch wie
ungleich einem anderen Hafen. Da lagen hunderte von Schiffen jeder
Art, vom kleinen Schooner bis zum vollen Schiff, und unaufhörlich noch
kamen Segel ein -- aber fast keines _verließ_ den Hafen wieder,
und wie mit Zauberbanden schienen die weiten Berge all die zahllosen
abgetakelten und meist verlassenen Seeboote zu umfangen -- es war der
Zauber des _Goldes_.

Dort lag ein Schiff -- eine Brigg, schmutzig von außen und beinahe
farblos, wie nach langer stürmischer Fahrt, mit seinen Segeln noch an
den Raaen fest, eines aber, das große Bramsegel, hatte sich gelöst; an
der Backbordseite flatterte und schlug es in der frischen Brise, und
der Mann an Deck, der dort die Wacht hatte -- vielleicht der einzige
an Bord -- warf wohl manchmal den Blick hinauf, denn das ewige Flappen
mochte ihn geniren, war aber jedenfalls zu faul, um hinaufzusteigen und
es abzuändern. -- Gleich daneben lag ein ganz keck aussehender, schwarz
gemalter Schooner, aber mit vollkommen kahlen Masten, an dem nur noch
die nothwendigsten Wanten und Stage stehen geblieben waren, um die
Masten zu halten; sonst hatte man ihn rein und sauber ausgeplündert.

Links davon ankerte der _Rumpf_ eines alten Schiffes -- ob
es die Masten in einem Sturm verloren, ob man sie hier abgehackt
und vielleicht zu Feuerholz verwandt, wer wußte es, wer kümmerte
sich darum! Jetzt wurde es von einem der Geschäftshäuser zu einem
Lagerschiff benützt, und an Deck hatte man eine Art von Haus gebaut,
was ihm ein wunderliches Ansehen gab. Dort drüben lag eine schmucke
Hamburger Bark, daneben ein Chilene, da ein Fahrzeug von den
Sandwichs-Inseln, dort ein Ostindienfahrer, mit Engländern, Franzosen,
Italienern, Spaniern, Mexikanern dazwischen. Aber alle Schiffe sahen
todt und verlassen aus, die eben einkommenden ausgenommen, und das
einzige Leben in diese Gruppe von „Leichen“ brachten eine Menge kleine
Boote, die dazwischen herumfuhren und herüber und hinüber kreuzten.

Bohmeier sah dem Treiben in aller Gemüthlichkeit zu und trank dabei
seinen Grog und rauchte eine Cigarre nach der anderen, bis es endlich
zu dämmern anfing und der hier sehr starke Nachtthau naß auf Deck
hernieder fiel. Dann ging er vor allen Dingen wieder in die Cambüse,
um erst noch einmal ein paar Stücke Kohlen nachzulegen und etwas mehr
heißes Wasser zu bekommen, und machte sich nachher sein gewöhnliches
Lager auf Deck zurecht. Er spannte zu dem Zweck eines der kleinen Segel
schräg auf, daß er bequem und geschützt darunter liegen konnte, zog
sich dann seine Matratze und Bettzeug herauf und ging nun erst an die
Bereitung seines Abendbrods, die aber nur geringe Zeit in Anspruch
nahm. „Wo ein Brauhaus steht, kann kein Backhaus stehen,“ ist ein altes
Sprichwort. Bohmeier trank viel und aß dafür wenig.

Es war spät geworden -- in der Stadt konnte er allerdings noch an
vielen Orten Licht erkennen, aber die Bai lag still und öde und nichts
Lebendes zeigte sich mehr darauf. Nur dann und wann konnte er, nach
der oder jener Richtung hin, den Anruf von einem oder dem anderen
Schiff hören und oft sogar das Anscheuern des Bootes an den Rumpf
desselben unterscheiden. Auf einem der heute eingelaufenen Fahrzeuge
wurden sogar noch die „Glasen“ angeschlagen, was man auf den anderen
längst unterlassen -- es klang ordentlich heimisch.

Der frische Grog, den sich der Steuermann gebraut, schmeckte ganz
ausgezeichnet, war nur ein klein wenig zu stark geworden -- aber besser
zu stark, als zu schwach. Sagte doch schon jener nordamerikanische
Indianer: „Zu viel Whiskey ist gerade genug.“ Bohmeier dachte ebenso,
und da er genau wußte, wie viel er ungestraft vertragen konnte,
machte er sich auch keine Sorgen darüber. Er verzehrte sein frugales
Abendbrod, stellte dann sein letztes Glas Grog neben seine Matratze als
„Schlaftrunk“, wie er es immer nannte, und zündete die Wachtlampe an,
die jeden Abend an der Nagelbank vor dem großen Mast aufgehangen wurde,
da man nie wußte, wie rasch man einmal Licht gebrauchte; jedenfalls
war es eine ihm vom Kapitän besonders eingeschärfte Maßregel. Seine
Harpune lehnte rechts daneben, daß er sie leicht im Griff hatte, und
das Futteral mit dem Revolver lag ebenfalls schon auf seiner Matratze
-- er brauchte nur die Schnalle der Deckklappe zu öffnen und hatte ihn
dann im Griff -- wenn er ihn eben haben wollte.

Uebrigens fürchtete er für sich nicht die geringste Gefahr. Es waren
allerdings schon einige Ueberfälle und Beraubungen von Schiffen
vorgekommen -- man erzählte sich wenigstens davon -- aber vor längerer
Zeit, nicht in den letzten Monaten, und dann wäre es auch keinem so
leicht geworden, ohne Geräusch an dem ziemlich hohen Schiff hinauf zu
klettern; dem Kapitän, wenn der Morgens zurückkehrte, mußte er ja so
immer die Fallreepstreppe niederlassen. Bohmeier dachte auch an nichts
Derartiges, streckte sich behaglich auf seiner Matratze aus und rauchte
und trank, bis er zuletzt müde wurde, den Cigarrenstummel weg und über
Bord schleuderte -- er hörte ihn ordentlich zischen, als er auf’s
Wasser traf -- und sich dann ruhig auf die Seite legte. -- Lieber Gott,
wenn ein Mensch den ganzen Tag nichts zu thun hat, verlangt er doch
auch Nachts seine Ruhe.

Es dauerte in der That gar nicht lange, so nahm ihn Morpheus -- nach
dem poetischen Sprachgebrauch -- in die Arme, und wie lange er so
geschlafen hatte, wußte er eigentlich nicht. Plötzlich war es ihm,
als ob er seinen Namen rufen höre -- einmal, zweimal, dreimal -- und
wieder und wieder. Er glaubte dabei, er träume, schien sich aber auch
wieder seines Schlafes bewußt und brauchte in der That eine geraume
Zeit, um sich selber munter zu bekommen. Endlich hatte er diese Art von
Betäubung, die auch vielleicht von dem Grog herrührend auf ihm lag,
abgeschüttelt und richtete sich rasch, ja fast erschreckt, empor. -- Er
horchte. Drüben auf dem heute eingekommenen Bremer Schiff schlugen sie
vier Glasen -- war das erst zehn Uhr Abends oder zwei Uhr Morgens? Ehe
er aber nur ausgezählt und sich selber Rechenschaft über eine mögliche
Zeitbestimmung geben konnte, traf ein anderes Geräusch sein Ohr, das
ihn bestürzt zusammenfahren machte.

Unten, an seinem Schiff scheuerte ein Boot -- er fühlte es mehr, als
er es hörte, denn es ist ganz eigenthümlich, wie deutlich das fest
ineinander gefügte Holz eines Schiffes die leiseste Berührung desselben
von einem fremden Gegenstand fortpflanzt. Wenn nur der Kiel auf irgend
einer Untiefe leise den Sand scheuert, zittert es, von den Zehen
herauf, durch den ganzen Körper, bis in die Fingerspitzen hinein, wie
mit einem elektrischen Schlag, und das Anstoßen eines Bootes, selbst
vorn am Bug, hört man sogar bei verschlossenen Thüren bis in die
Kajüte hinein -- oder fühlt es vielmehr. Das mußte es auch sein, was
den Steuermann aus seinem bärenfesten Schlaf geweckt hatte, denn auf
weiter erinnerte er sich nichts, und wie er jetzt aufhorchte, hörte er
deutlich draußen am Schiff ein Geräusch, als ob jemand versuche daran
empor zu klettern.

„Wart’ Canaille,“ brummte aber der Seemann, wie er sich dessen nur
klar bewußt war, „dir will ich den Kitzel vertreiben!“ Und rasch nach
seinem Revolver tappend, griff er das Futteral, hob sich geräuschlos
von seinem Lager und glitt zu der Schanzkleidung. Er behielt aber nicht
einmal Zeit, erst hinüber zu sehen, wer und was ihn bedrohe. Kaum stand
er davor, so hob sich schon ein Kopf darüber hin, und Bohmeier -- nur
in dem einen Gefühl sein Leben gegen eine Bande von Strauchdieben zu
vertheidigen, hob seinen Revolver dicht vor die Stirn des Fremden und
-- drückte ab. --

Der Kapitän war indessen an jenem Abend ruhig an’s Land und zu seiner
gewöhnlichen Gesellschaft gefahren, wo sie dann die halbe Nacht bei
einer gemüthlichen Partie Whist verbrachten. Heute aber sollte er
keine Zeit dazu bekommen, denn er fand den bei seiner Fracht bedeutend
interessirten Kaufmann, der ihn schon mit Ungeduld erwartete, weil er
noch ein paar aus den Minen zurückgekehrte Matrosen aufgefunden, die
wahrscheinlich bewogen werden konnten, die Reise mit ihm zu machen.
Freilich durften sie dann nicht langen Raum zum Ueberlegen behalten,
und je rascher der Handel mit ihnen abgeschlossen wurde, desto besser.
Beide gingen auch augenblicklich daran, um sie aufzusuchen, fanden das
aber nicht so leicht, als sie anfangs gedacht, denn es gab schon damals
in San Francisco eine Menge von Plätzen, wo sich die Leute Abends
amüsiren konnten. Endlich -- es war fast um zwölf Uhr -- trafen sie mit
ihnen in einem der Spielzelte, im Eldorado, zusammen und gingen nun in
ein französisches Weinhaus, um dort das Nähere zu besprechen.

Die Bedingungen, die der Kapitän stellte, waren übrigens so verlockend
-- das Leben in Californien hatten sie auch auf eine Weile satt, -- daß
sie endlich darauf eingingen und sich bereit erklärten, morgen früh um
zehn Uhr mit ihren Kisten an Bord zu sein, und während der Kaufmann
versprach, alles Nöthige in der Stadt zu besorgen, daß sie bestimmt
schon morgen oder vielmehr heute ihre Fracht bekämen, war es nöthig,
daß der Kapitän selber augenblicklich an Bord seines eigenen Fahrzeugs
zurückkehrte, um dort mit seinem Steuermann alles zu besprechen. Mit
Tagesgrauen wollte er dann wieder zurück an Land sein. Lieber Gott, er
wäre die ganze Nacht hin und her gelaufen, nur um hier fort aus dem
verwünschten Land zu kommen, das er herzlich satt hatte. Jetzt war aber
die Aussicht dazu vorhanden, und er zögerte denn auch keinen Moment,
um wenigstens alles zu thun, was in _seinen_ Kräften stand, das
Auslaufen zu beschleunigen.

Rasch hatte er unten am Werft sein Boot gefunden, das dort an doppelter
Kette angeschlossen lag; das Ruder brachte er schon von oben mit herab,
wo er es bei einem Bekannten eingestellt, und stieß nun vom Land der
Richtung zu, in welcher sein Fahrzeug, die „Gesine Mengsen“ lag.

Es gehörte allerdings eine Geschicklichkeit dazu, sich in dem Gewirr
von Fahrzeugen, noch dazu „bei Nacht und Nebel“, zurecht zu finden. Der
Seemann hatte den Weg aber schon so oft gemacht, daß er nicht einen
Augenblick im Zweifel blieb, und seinen Cours so genau hielt, als ob er
nach dem Compaß steuere. So wand er sich zwischen den verschiedenen,
dort ruhig vor Anker liegenden Fahrzeugen durch, bis er seine Bark da
draußen, etwas weiter ab, erkennen konnte, und wrickte sein kleines
Boot dann scharf drauf zu. Er hatte sie auch bald erreicht -- das
gewöhnliche Wachtlicht brannte oben, aber sein Steuermann, der ihm erst
die Fallreppstreppe herunter lassen mußte, schlief wahrscheinlich
noch und er hielt also etwa zehn oder zwölf Schritt vor dem Schiff
und rief dasselbe an. -- Keine Antwort erfolgte. -- Er rief jetzt den
Steuermann bei Namen, laut und immer lauter -- alles umsonst, das
Fahrzeug schien wie ausgestorben und nichts an Bord regte oder rührte
sich. -- Was zum Henker, war denn da vorgegangen? -- Den Kapitän
überkam ein ganz unheimliches Gefühl -- sollte es wirklich der sich in
San Francisco herumtreibenden Bande gelungen sein, den Steuermann im
Schlaf zu überraschen und -- „Bohmeier!“ schrie er noch einmal, so laut
er konnte, „oh Bohmeier!“ -- Es war alles umsonst, er erhielt keine
Antwort, und wenn sich der unglückliche Mensch noch an Bord befand, so
lag er wahrscheinlich erschlagen an Deck in seinem eigenen Blut.

Dem Kapitän wurde es zuletzt unheimlich, und er beschloß endlich selber
nachzusehen, wie es da oben stand. Er mußte Gewißheit haben. Ohne
länger zu zögern, fuhr er auch jetzt an die Bark hinan, an welcher
er, wenn er sich hoch aufrichtete, eben die Klappen der Puttingbolzen
erreichen konnte, hob sich daran etwas in die Höhe, schob seine
Wurfleine durch die Rüsteisen, um das Boot erst fest zu machen, und
schwang sich dann selber dort hinauf. Es hatte allerdings einige
Schwierigkeit, aber es ging doch, und wie er nur erst seinen Fuß auf
die Leiste des Schandecks brachte, richtete er sich auch empor und
hob jetzt seinen Kopf über die Schanzkleidung, von wo er das Deck
überblicken konnte.

In demselben Moment und ehe er nur im Stand war, einen Ruf auszustoßen,
tauchte eine dunkle Gestalt dicht vor ihm empor, die er aber recht gut
erkannte -- es war sein eigener Steuermann Bohmeier, aber zugleich sah
er auch in die Mündung von dessen Revolver und -- klipp! klipp! klipp!
schlug dreimal rasch nacheinander der gegen ihn abgedrückte Hahn der
Waffe matt und erfolglos auf die Pistons nieder. --

„Ihr habt wieder einmal keine Zündhütchen aufgesetzt, Bohmeier,“
sagte der Kapitän mit der größten Seelenruhe, indem er noch in seiner
Stellung blieb.

„Herr du meine Güte, der Kaptain!“ schrie aber Bohmeier entsetzt auf,
indem ihm der Revolver vor Schreck aus der Hand fiel, „da hätte ich ja
beinah --.“

„Euren eigenen Kapitän todtgeschossen -- ja wohl,“ ergänzte dieser,
indem er jetzt über die Reling hinüber auf Deck sprang; „aber ohne
Zündhütchen geht’s eben nicht.“ --

„Ja aber Kaptain, um Gottes Willen, wo kommen Sie mitten in der Nacht
und so heimlich her?“ --

„Heimlich? Ich habe Euren Namen so lange und so laut über die Bai
gebrüllt, daß ihn das Echo jetzt jedenfalls auswendig kann -- Ihr seid
aber doch furchtbar nachlässig, Bohmeier.“ --

„Aber, bester Kaptain, es ist ja doch ein Heidenglück, daß ich heute
die verdammten Zündhütchen vergessen hatte --.“

„Na, ich bin auch nicht böse drüber, Bohmeier,“ meinte der Kapitän,
„denn sonst läg ich jetzt unten in acht Faden Wasser mit zerschossenem
Brägen -- aber dumm war’s immer.“

Damit war übrigens die Sache vollkommen abgemacht und es wurde nicht
weiter darüber gesprochen. Die beiden Seeleute hatten jetzt auch genug
zu thun, um ihre nöthigen Vorbereitungen zu treffen. Der Kapitän
fuhr dann wieder an Land, und schon um zehn Uhr kam ein Theil der
Leute an Bord. Ein Koch wurde ebenfalls aufgetrieben, ein Chinese;
Stewarddienste mußte einer der Leute auf der kurzen Fahrt versehen,
und wenige Tage später lichtete die Gesine Mengsen richtig ihre Anker
und segelte, aus dem ~golden gate~ hinaus, in den weiten blauen
stillen Ocean hinein.


                       Ende des zweiten Bandes.





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Hüben und Drüben; Zweiter Band (2/3) - Neue gesammelte Erzählungen" ***

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