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Title: Udo in England - Eine Reiseerzählung
Author: Marie von Bunsen, - To be updated
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Udo in England - Eine Reiseerzählung" ***


  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1899 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
    Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und
    altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
    unverändert; fremdsprachliche Zitate und Ausdrücke wurden ohne
    Korrektur übernommen.

    Umlaute in Großbuchstaben (Ä, Ö, Ü) werden als deren Umschreibungen
    (Ae, Oe, Ue) dargestellt.

    Besondere Schriftschnitte wurden in der vorliegenden Fassung mit
    den folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet:

        fett:     =Gleichheitszeichen=
        gesperrt: +Pluszeichen+
        Antiqua:  ~Tilden~

  ####################################################################



[Illustration:

    Udo in England

    von
    Marie von
    Bunsen

    Preis 1 Mk. 50.

    Verlag von Carl Krabbe
    Stuttgart.
]



                            UDO in ENGLAND

                                  von

                               Marie von
                                Bunsen

                            [Illustration]

                        Verlag von Carl Krabbe
                               Stuttgart



                           ~Udo in England.~

                          Eine Reiseerzählung

                                  von

                           Marie von Bunsen.

             Illustriert von M. von Bunsen und H. Hübner.

                            [Illustration]

                               Stuttgart

                        Verlag von Carl Krabbe.



                       Alle Rechte vorbehalten.


             Druck der Stuttgarter Vereins-Buchdruckerei.

 Umschlag und Illustrationen reproduziert von +A. Schuler+ in Stuttgart.



[Illustration: London]



I.


    London, 82 North Audley Street.

    Liebe Eltern!

So wäre ich ja glatt und glücklich angekommen. Während der Ueberfahrt
schlief ich, ahne deswegen nicht wie sie ausfiel, als ich aber zu
einer verboten frühen Stunde auf Deck kam, machte das Meer einen recht
harmlosen Eindruck und wir näherten uns einer schmalen, flachen Küste.
Von den erwarteten weißen Kreidefelsen war auch nicht das Geringste
zu sehen, sie scheinen um Queenborough herum nicht zu gedeihen, und
so entgingen mir alle darauf bezüglichen Gefühle. Dagegen gab es
malerische, rothbraun besegelte Fischerboote und sattgrüne Wiesen.
Dann erschienen Häuser und Schuppen und Werfte; wir legten an, ein
prachtvoller, blonder Seemann in blauem Wams ergriff meine Sachen,
und ihm folgend, gelangte ich in einen Wagen des bereitstehenden
Londoner Zuges. Er sowohl wie der Schaffner schienen, Gott sei gelobt,
mein Englisch auf das Bequemste zu verstehen, und dankbar gedachte
ich unserer guten Miß Stevens. All' die Jahre über hatten sie und ich
uns so gern und so oft geneckt und gestritten, daß ich doch heute
im Stande war, ruhig und fließend Wetter und Ernteaussichten mit
einem Reisegefährten zu besprechen. Zu weiterem Gedankenaustausch
kam es nicht, dazu waren wir beide wohl noch zu verschlafen, auch
interessierte mich die vorüberfliegende Landschaft. Besondere
Freude machte mir der bewußte, über Baumwipfeln emporsteigende
niedrige Kirchthurm unter dem bewußten weißwolkigen Himmel; von
„~Christmascards~“ her kannte ich das Alles so genau. Und dann gefielen
mir diese einzeln und gruppenweise herumwuchernden Bäume; sie haben
etwas ganz eigenartig Breites und Ueppiges und weich Verschwommenes.

Das ganze Land erschien parkartig, und die wohlgepflegten,
blumenumrankten „~homes~“ wollten gar nicht aufhören; hier waren es
kleine, originelle Backsteinbauten, hier schlichte, weiße Landhäuser
mit altmodischem Säulenportal, hier stattliche Schlösser. Einen recht
behaglichen, recht ländlichen Eindruck machten die Dörfer und Gehöfte,
wogegen die meisten Städtchen neu und nüchtern erschienen und die
meisten Bahnhöfe kahlen, mit Annoncen beklebten Schuppen glichen. Dann
begannen die Londoner Vororte; saubere, etwas banale Villen, endlose
Reihen eintöniger Häuschen, dann Fabriken, ein Meer von schwärzlichen
Dächern und Schornsteinen, darauf ein breiter, schimmernder Fluß und in
der dunstigen Sonne Schiffe und Thürme und gewaltige Gebäude.

Im Bahnhof stand der gute Willy Hoyen mit seinen eingekniffenen Augen
und der berühmten, aufgestülpten Nase. Augenscheinlich befürchtete er
eine zu demonstrative Begrüßung, streckte mir vorsichtig die Hände
entgegen, sprach über sein akut frühes Aufstehen -- es war acht Uhr
Morgens -- wurde dann aber gemüthlich und herzlich und ganz der Alte.
Er billigte gnädigst, daß ich während meines hiesigen Aufenthalts mich
ihm blindlings anvertrauen wollte und versprach, wie ein Vater für mich
zu sorgen. Er ist genau sieben Jahre älter als ich, behauptet aber der
Erfahrung nach ein Greis zu sein. Auch billigte er meine offenkundige
Bewunderung für das fixe, ruhige, höfliche Wesen der Gepäckträger,
wie für die respectvolle, wohlwollende Haltung der Schutzleute; diese
beiden englischen Menschenclassen wären sein höchstes ethisches Ideal.

Unterdessen fuhren wir durch stattliche einsame Squares in ältere
Seitenstraßen und hielten vor einem winzigen, etwas zurückgebauten,
tiefroth angestrichenen Häuschen. An der Thür stand knicksend eine
würdige Matrone in rauschender schwarzer Seide, und ein beängstigend
imposanter Herr mit glatt rasirter Oberlippe geruhte höchst
eigenhändig meine Koffer heraufzutragen. Eine schmale Treppe führt an
alten Kupferstichen vorbei in meine oben gelegenen Zimmerchen, die
allerliebst eingerichtet und mit Porcellansächelchen und altmodischen
Bildchen geschmückt sind. Unter mir wohnt Willy und unter diesem ein
entfernter Vetter, ~the Honourable~ Guy Wootten, bei dessen Eltern
unsere Wirthsleute Jahre lang als Kammerfrau und Haushofmeister
dienten. Auch jetzt noch rechnen dieselben sich mit zur „Familie“, die
Wootten'sche Dynastie beherrscht ihr Gespräch und deren Photographien
bedecken die Wände. Sie nehmen nur Junggesellen aus „ihren“ Kreisen,
und für Wohnung und ein vorzügliches Frühstück zahlt man angemessene,
keineswegs übertriebene Preise.

In einer großen englischen Badewanne erfrischte mich das bereitstehende
kochheiße Bad -- kalte Bäder, so erklärte mir Willy, wären hier so
veraltet wie Croquet oder Schnupftabak. Dann ging es zum Schneider, und
dann verließ ich meinen Begleiter vor seiner Botschaft, nachdem er mir
mit Segenswünschen Bädeker in die Hände gedrückt. So fuhr ich dann hoch
oben auf einem riesigen Omnibus in das Getöse der City hinein, und als
ich befriedigt und erschöpft gegen sechs Uhr zurückkam, hatte ich St.
Pauls und den Tower und London Bridge und das Mansion House und die
Bank of England gesehen. Glaubt aber nur nicht, daß ich Euch hierüber
oder über irgend etwas Aehnliches gewissenhafte Beschreibungen zu
schicken gedenke, sondern thut mir die Liebe und holt Euch ein halbes
Dutzend englischer Reiseberichte und lest hübsch nach. Das ist weit
gründlicher, weit zuverlässiger und weit, weit bequemer!

Ohnehin war der Tag noch lange nicht aus; etwas vor Acht weckte mich
Hoyen's Franz, half mir beim Anziehen und überreichte mir einen dieser
allerliebsten Knopflochsträußchen aus Stephanotis und Venushaar, wie
die hiesigen Herren sie fast sämmtlich tragen. Dann schlenderten Willy
und ich zu Fuß durch hell erleuchtete, von schönen Wagen durchsauste
Straßen bis zu einem großen steinernen Portal. Meine Einführung in die
Londoner Gesellschaft begann ganz stilvoll beim Marquis of Southerley;
Hoyen verkehrt viel bei dessen Schwiegertochter und konnte mir daher
leicht diese Einladung erwirken. Gepuderte Diener mit weißseidenen
Wadenstrümpfen und hellgrau und gelber Livree erwarteten uns in der
steifen, prächtigen Marmorhalle; Gobelins und Ahnenbilder hingen an
den Wänden, und schwere, kostbare Tische und Sessel umstanden den
Raum. Sehr freundlich empfing mich die Lady, eine stattliche, vornehme
Frau mit altmodisch glattem Haar, altmodischem Sammetkleid und einem
reichen Smaragdschmuck. Die mit Treibhausblumen geschmückten Zimmer
füllten sich allmälig mit würdigen Herrschaften in großer Gala, das
einzige junge Mädchen wurde mir zu Theil. Wie sie hieß, ahne ich nicht;
sie war groß und schlank und erzählte mir, wie ungeduldig sie das
Ende der ~season~ erwarte, um mit Vater und Bruder in ihrer Yacht um
die schottische Küste zu segeln. So immer in Wind und Wetter draußen
zu sein, ohne Handschuhe herumzulaufen, braun einzubrennen und keine
langweiligen Besuche machen zu müssen, sei doch das Schönste in der
Welt!

Die Gäste um diese mit rosa Orchideen und altem Silber geschmückte
Tafel schienen sich gut zu kennen, und Alle sprachen lebhaft,
wenn auch mit englisch gedämpfter Stimme. Ziemlich ununterbrochen
kannegießerten sowohl Herren wie Damen, und trotzdem die Southerley's
zu den alten Whigfamilien gehören, wurde Gladstone's Name nur mit
leidenschaftlichster Erbitterung genannt. Wo ich nur hinhörte,
schwirrte es von Rosebery und Chamberlain, von Neuwahlen und
Versammlungen, doch einmal vernahm ich einen warmen Gedankenaustausch
über Canalisation und sonstige sanitäre Fragen und einmal eine
begeisterte Schilderung neuer Gladiolen. Das Mittagessen war schnell
vorüber, man nahm sehr wenig von den vorzüglich bereiteten Gerichten
und genoß nur ganz wenige der ausgesucht guten Weine. Augenscheinlich
hatten alle Anwesenden es ziemlich ebenso Tag für Tag zu Hause.

Nach dem Dessert erhoben sich die Damen, der alte Southerley öffnete
ihnen selber die Thür und stand, mit der Klinke in der Hand, bis die
Letzte an ihm vorbeirauschte. Dann rückten die Herren zusammen, tranken
ein Gläschen Port, rauchten ein Cigarrettchen und politisirten erst
recht darauf los. Begreiflicherweise langweilte mich dieses auf die
Dauer, und ich war froh, als wir uns hinauf zu den Damen begaben.
Dort ergriff mich die nette Schwiegertochter und zeigte mir die in
den großen Räumen herumhängenden Rembrandt's, Veronese's, Sir Joshua
Reynold's und andere Herrlichkeiten. Darauf verabschiedete man sich
bald, da Alle, auch die Gastgeber, noch mehrere gesellige Pflichten
zu erledigen hatten. Hoyen sah nach der Uhr, es war halb Elf. „Zu
einem Ball ist es noch zu früh, sollen wir einige Abendempfänge
noch mitmachen oder in den Club?“ Ich optirte für das Letztere, und
so fuhren wir vor das ernste Gebäude in St. James's-Street, dieser
classischen Stätte der historischen Clubs.

In den mit anspruchsloser Vornehmheit eingerichteten Räumen befanden
sich eine Unmenge Herren im Frack und weißer Binde; tiefernst lasen sie
Zeitungen, kritzelten mit affenartiger Geschwindigkeit ihre Briefe oder
saßen um die Tische der Spielzimmer. In den Fluren und an der Treppe
streckten sich zahllose Jünglinge auf den dunkeln ledernen Divanen und
schwatzten und kicherten mit gedämpfter Stimme. Hier und da trank
einer ein Täßchen Kaffee, einen Cognac oder Selterswasser, die Meisten,
wie auch wir, nahmen nichts. Zum Rauchen gab es getrennte Zimmer,
die übrigen Räume waren musterhaft gelüftet. „Ja,“ meinte Hoyen auf
meine Bemerkung, „die Engländer vergöttern die Aristokratie, sind aber
keineswegs exclusiv und nehmen leicht einen Gentleman, was auch sein
Vater gewesen, in ihre Kreise hinüber. Zum Gentleman aber gehört, daß
man eine vornehme Schule besucht hat, Abends zum Mittagessen sich in
einen Frack wirft, peinlich die Wahrheit spricht, ohne tägliche Bäder
umkommt und stickige, verbrauchte Luft wie den Tod verabscheut. Also
ein bißchen Nietzschianerthum.“ Hier trafen wir auch mehrere Hoyen'sche
Bekannte, welche ebenfalls gesonnen waren, den Levinsohn'schen
Ball mit ihrer Gegenwart zu beehren. Augenscheinlich verkehrt
ganz London bei diesem ursprünglich deutsch-semitischen Bankiers,
auch die königliche Familie, was der nur für solche Gelegenheiten
bestimmte, auf die Straße gelegte scharlachrothe Teppichläufer schon
von Weitem bekundet. Doch bekam ich weder den Prinzen von Wales
noch die Wirthe zu sehen. Um uns drängte sich eine dicht gekeilte
Menge, es stauten sich die tadellos angezogenen jungen Herren und
die Damen in ihrer blitzenden Diamantenpracht und den schneeweißen
Schultern. Im Stimmengeschwirr hörte man von der auf zwölfhundert
Pfund geschätzten Blumendecoration schwärmen, Andere jammerten über
die „Ananastreibhaushitze“ und Andere wieder erzählten von den fünf
berühmtesten Schönheiten Londons, welche die Festlichkeit krönten.
Aber unser erneuter, mannhafter Versuch, die mit verschwenderischer
Rosenfülle umkränzte Treppe hinauf zu gelangen, schlug fehl, auch
das Eßzimmer war undurchdringlich dicht belagert, und so standen wir
nach einer halben Stunde wieder auf der Straße. Einige Häuser weiter
gab es ebenfalls vorfahrende Wagen, Treppenläufer und dichte Scharen
wartender Diener. Einen derselben frug Hoyen nach dem Namen der
gesellschaftgebenden Herrschaft, erinnerte sich dunkel, mit einer der
Töchter 'mal getanzt zu haben, vermuthete zu diesem Abend eingeladen zu
sein, ging mit mir hinein und dann aus der Garderobe schnurstracks in
das Eßzimmer. Dort traf er mehrere Bekannte, zu denen wir uns an einen
der kleinen Tische setzten und höchst gemüthlich abendbroteten. Darauf
machte sich Hoyen noch etwas liebenswürdig und geleitete alte Damen an
ihre Wagen; schließlich holten wir unsere Sachen und verließen, ohne
unsere Gastgeber auch nur erblickt zu haben, das Haus. Als aber mein
Willy hierauf noch einen Stoß Einladungskarten herausholte und mir
kaltblütig noch weitere Gesellschaften vorschlug, krümmte sich denn
doch selbst der Wurm, und störrisch verlangte ich nach Hause zu gehen.

[Illustration: Trafalgar Square u. die Westminster Thürme]

Chaotisch confus, schlief ich ein, und ebenso wachte ich heute
wieder auf. Sagt mal, ist es unbedingt nothwendig, Onkel Krastenow zu
schreiben? Als er mir die hochanständige Donation zur Reise verlieh
und mir den zweimonatlichen Urlaub von der Regierung erwirkte,
gelobte ich mir, ergriffen und dankerfüllt, ihm recht regelmäßige und
ausführliche Briefe zu schicken. Und nun kritzle ich Euch statt dessen
zwangloses Zeug, und mir graut vor schön geschriebenen ehrpusseligen
Reiseberichten.

Darf ich vorschlagen, ihm statt langweiliger Schilderungen später in
Naudorf bei einer Cigarre Alles mündlich vorzuerzählen? Kann man das
wohl bei einem ergrauten Erbonkel riskiren?

In Eile und Liebe

    Euer

    Udo.



II.


    London.

Noch heute muß ich Euch, liebe Eltern, schreiben, sonst hole ich den
Faden in meinem Leben nicht ein.

Mein Vormittag verfloß also im British Museum, in der Nationalgalerie
und in Westminster Abbey (siehe Bemerkungen im letzten Briefe);
dann weihte ich meinen neuen ewiglangen Ueberrock ein, machte mich
überhaupt sehr schön und fuhr mit Hoyen nach St. George's Chapel. Hier
finden die meisten vornehmen Hochzeiten statt, und hier wurde heute
der eben großjährig gewordene älteste Sohn des Eisenbahnkönigs
Hughes mit der eleganten, etwa vierundzwanzigjährigen Honourable Mabel
Carleton getraut. Die bekannten „~Sacs et Parchemins~“, eine nirgends
mehr auffallende, hier in England, wo neugebackener Reichthum sich
schnell und gründlich mit der Landesaristokratie verschmilzt, eine
besonders beliebte Mischung. Schutzleute hielten die herumstehende
Menge zurück, und nur nach Vorzeigung der Einladungskarte gelangte man
in die dichtgedrängte Kirche. Ueberall eine entzückende Blumenfülle,
riesige weiße Clematis und stark duftende Lilien verdeckten fast die
Stickereien und Gefäße des Altars. Dort harrte, blaß, verlegen und
unglücklich, der Bräutigam, während neben ihm sein „~best man~“,
welcher die Stelle unseres Brautführers vertritt, in höhnischer Ruhe
die Versammlung musterte. Ich that dasselbe, nur in bescheidener
Bewunderung, denn wie gestern Abend, wie heute im Park erstaunte
mich die Schönheit dieser Leute. Zwar hatte ich die unteren Classen
bei meinen Wanderungen durch die City so unansehnlich wie andere
Großstadtbewohner gefunden, aber unter den Ladenverkäuferinnen, unter
den Mädchen und Frauen des kleinen Mittelstandes sah ich eine Menge
entzückender Gesichter und schön gewachsener Gestalten, und hier in
der „Gesellschaft“ waren diese prachtvollen interessanten Männerköpfe,
die vornehmen, älteren Frauengesichter und diese vielen jugendlichen
schönen Erscheinungen mit den sensitiven, feingeschnittenen Zügen im
höchsten Grade auffallend. Dazu diese kostbaren, seidenknisternden
Damenkleider, die vollendete Einfachheit der Herren und nirgends die
Spur jenes Aufgeputztseins, welches so manche festliche Gelegenheit bei
uns kennzeichnet.

[Illustration]

Auf einmal schwieg das leise Stimmengesumme, zu den Klängen des
Lohengrin'schen Brautmarsches (!) zog feierlich der weißgekleidete
Kirchenchor, die Geistlichkeit und der Bischof in vollem Ornat
herein. Dann erschien im Spitzenschleier und reichem Diamantschmuck
die niedliche, von ihrem Vater geführte Braut. Zwei in rosa Sammet
gekleidete Pagen trugen ihre Schleppe, dann folgten paarweis
schreitende Brautjungfern, Alle gleich, in irgend etwas Hellgelbem
gekleidet und mit Marschallnielrosen in den Händen. Es gab keine
Predigt, aber eine feierliche, wenn auch hier und da etwas sehr
mittelalterlich deutliche Liturgie. Die Rührung war mäßig, Thränen
sind wohl altmodisch; nur einmal, als die Braut mit zitternder Stimme
nachsprach, „bis daß der Tod uns scheide,“ wurden einige Matronen
sichtlich ergriffen. Zum Schluß wurde, wie bei uns, die junge Frau
ziemlich allseitig abgeküßt, und dann begab sich Alles zur Lady
Carleton, wo großer Nachmittagsempfang stattfand. Die Braut zerschnitt
einen monumentalen, kunstvollen Hochzeitskuchen, man trank herben
Sect, aß Treibhauspfirsiche und bewunderte die nach unseren Begriffen
unglaublich zahlreichen und kostbaren Hochzeitsgeschenke. Zwei Cousinen
erzählten sich, daß „die arme Mabel“ ganz trostlos über ihre
achtundzwanzig silbernen Sahnentöpfchen und fünfundvierzig Armbänder
sei und berathschlagten, wie man diesen Ueberfluß am zweckmäßigsten
verwenden könne. Das eine junge Mädchen war bildhübsch: blond, zart und
mit einem süßen, etwas kecken Profil. Auch erwies sie sich ganz gnädig,
und ich klettete mich an sie, bis Hoyen mich zur Abfahrt des Paares
fortholte. Alle jüngeren Damen und Herren drängten sich bis an den
„Square“ herein, die Hausthüre umstanden sämmtliche Brautjungfern --
ein hübsches Bild -- und als die jungen Eheleute vergnügt und strahlend
fortfuhren, bewarf man sie mit einem Regen von Reiskörnern und einigen
weißen, seidenen Schühchen.

[Illustration]

Nun verabschiedeten wir uns und gingen durch den schönen, alten
St. James's-Park nach dem Parlamentshaus, da Hoyen, Dank vieler
Anstrengung, in den beneideten Besitz von Karten zur großen irischen
Debatte gelangt war. Vorzeitig erreichten wir die mächtigen,
thurmreichen Gebäude, und ehe ich es ahnte, führte mich Hoyen in den
vielleicht geschichtsreichsten Raum der Welt, Westminster Hall. Kein
Mensch war da, es hallten unsere Schritte, vernehmlich sprachen die
Steine und die dunkeln Wände. Wie hypnotisirt starrte ich umher und
lauschte dem Spuk. Auch Hoyen schwieg; dann sah er nach der Uhr, und
wir gingen hinaus in das Lärmen der Wagen, in das rastlose Gewirr der
vorbeiströmenden Menge.

Durch gothische Portale und schmale steinerne Gänge gelangten wir
auf unsere Plätze in der Galerie. Die Verhandlungen nahmen eben
ihren Anfang; herein kam der „Sprecher“ (Vorsitzende) mit weißer,
wallender Perücke, schwarzseidenem, schleppendem Mantel, Kniehosen und
seidenen Strümpfen; ihm folgten zwei Beamte, ebenfalls in Perücken und
Talaren, und dann der Caplan. Am Tisch des Hauses begann dieser die
vorgeschriebene Litanei, an seiner Seite stehend las der Sprecher mit
geschäftsmäßig lauter Stimme die Responsorien, dann fuhr der Geistliche
fort: „Laßt uns beten,“ und wie automatische Holzpuppen drehten
sämmtliche Abgeordnete sich um und betrachteten die Wand. Schließlich
verbeugten der Caplan und der Sprecher sich tief gegen einander, der
Caplan zog mit seinem Gebetbuch ab und der Sprecher setzte sich bequem
in seinen hohen geschnitzten Baldachinsessel zurück. Man erledigte
einige geschäftliche Mittheilungen, dann wurde die zweite Lesung der
irischen Vorlage beantragt, und zusehends füllte sich jeder Sitz-, ja
fast jeder Stehplatz dieses verhältnißmäßig kleinen Raums.

Den Reigen eröffnete Mac Swiney, ein Nebenbuhler Parnell's, und mit
geballter Faust schmetterte er leidenschaftliche Anklagen gegen die
Regierung, gegen Balfour (den irischen Staatssecretär) heraus. In immer
heftigeres Feuer gerieth der kleine, etwas aufgedunsene Celte, er
schäumte vor dem Mund, es zuckten ihm die Glieder.

Auf der Ministerbank dehnte sich der lange irische Staatssecretär; sein
überkreuzter, sorgfältig beschuhter Fuß war in gleicher Höhe mit dem
hintenüber gesunkenen vergeistigten, etwas blasirten Gesicht, sanft
waren die Augen geschlossen.

Da hörten die schrill geschrienen Perioden auf, und nachdem der
frenetische Jubel der Iren verbraust war, erhob sich langsam Balfour's
schlanke, noch jugendliche Gestalt. Mit gedämpfter, nachlässiger
Stimme bat er um Entschuldigung, wenn er den persönlichen Anklagen
des verehrten Mitgliedes für X..... augenblicklich nicht die nöthige
Aufmerksamkeit zuwenden sollte. Es wäre manchmal etwas schwer, mit
der nöthigen Frische zu reagiren, unwillkürlich stumpfte das Gefühl
sich ab. Und aus der Tasche einige Zeitungsabschnitte irischer
Localblätter ziehend, verlas er mit milder, matter Stimme einige gegen
ihn geschleuderte rabiate Beschuldigungen, die in ihrer unfreiwilligen
Komik geradezu zündend wirkten. Dann reckte er sich etwas in die
Höhe und widerlegte an der Hand statistischer Zahlen und officieller
Berichte die Behauptungen des Vorredners.

Unterdessen war Gladstone hereingetreten und saß Balfour gegenüber,
weit vorgebeugt, die Hand am Ohr, seinen jungen Nebenbuhler mit den
tief auflodernden Augen verschlingend. Dann erhob er sich zum Wort, nur
der Tisch des Hauses trennte die Beiden, trennte den gewaltigen Führer
vergangener Generationen von dem Führer einer kommenden. Gemessen
und würdevoll rollte das reiche Gefüge der glänzenden, tönenden Sätze
dahin, den berühmten „goldenen“ Klang seiner Stimme hatten die mehr
als achtzig Jahre nicht gedämpft; er ist ein imponirender Greis. Es
war eine prachtvolle oratorische Leistung, und ich weiß nicht, weshalb
sie mich nicht so hinriß wie die schneidende, geistvolle, jetzt
leidenschaftlich bewegte Entgegnung Balfour's.

Was nun noch folgte, fiel außerordentlich ab; gern nahmen wir die
Einladung eines Abgeordneten an und gelangten durch lange, gothische
Gänge in die natürlich ebenfalls gothischen Speiseräume, wo man
zwischen acht und neun zu Mittag ißt, während im Sitzungssaal einige
redebegierige Lückenbüßer die Stenographen beschäftigen. Da Lord
Randolph Churchill, auf den ich mich gespitzt hatte, schließlich doch
nicht sprechen wollte, empfahlen wir uns nach Tisch, und wieder kramte
Hoyen aus seiner Tasche eine Menge Einladungskarten zum heutigen Abend
hervor, um einen sinnreichen Schlachtplan zu entwerfen. Dann fiel ihm
ein, daß er einer guten Bekannten schon lange versprochen hatte, ihre
Schöpfung, ein „~Music Hall~“ im Osten Londons, zu besuchen, und da
dieses mir durchaus einleuchtete, gelangten wir auf der Stadtbahn in
eine der schlimmsten Gegenden des schlimmen Londoner Ostens.

Vor einem großen, hell erleuchteten Gebäude hielten wir an,
lösten Billete (Fremdenloge zu einer Mark) und befanden uns in
einem stattlichen roth und gold ausgemalten Theaterraum. Auf der
offenen Scene sang eine Dame im Ballstaat ein gefühlvolles Lied, den
Zuschauerraum füllte eine ärmlich gekleidete Menge, welche aufmerksam
lauschte und am Schluß der Ballade lebhaften Beifall spendete. Die
Schriftführerin, Miß Mount Dawling, hatte Hoyen erkannt, setzte sich
zu uns und erzählte, wie einige wohlhabende Bekannte sich vor etwa
fünf Jahren zusammengethan und dieses im allerschlimmsten Verruf
stehende „~Music Hall~“ (Tingel-Tangel) aufgekauft hätten. Sie
wünschten recht allmälig vorzugehen und deshalb Theile des alten
Repertoires mit herüberzunehmen, doch war unter den Hunderten von
Liedern kein einziges unanstößiges zu finden. Jetzt gibt es dreimal
wöchentlich richtige ~Music-Hall~-Vorstellungen mit leichten, aber
anständigen Liedern, mit Tausendkünstlern und Specialitäten aller Art;
an einem Abend findet, wie heute, ein besseres Concert statt, zu dem
man oft recht bedeutende Künstler heranholt, an einem anderen Abend
gibt es populäre wissenschaftliche Vorträge mit Transparentbildern,
einmal wöchentlich veranstalten vornehme Damen und Herren aus dem
Westen ein Dilettantenconcert, und jeden Sonntag gibt es geistliche
Musik. Alle Vorstellungen werden von der nur den untersten Schichten
angehörenden dichtbevölkerten Nachbarschaft gut besucht, das geringe
Eintrittsgeld wird gern bezahlt und in ganz auffallender, unverhoffter
Weise hat sich das Benehmen dieser Leute verändert. Während sonst
tumultuarische Auftritte und der schlimmste „Radau“ in einem fort die
frühzeitige Schließung der Vorstellungen bedingte, während sonst,
trotz einer ständigen Polizeiabtheilung, mehrere Morde alljährlich
in diesen nämlichen Räumen stattfanden, wird jetzt auch die kleinste
Ruhestörung, auch die geringste Unschicklichkeit von den Zuschauern
selbst durch unweigerliche Entfernung des Schuldigen bestraft. Früher
war es durchgängig Sitte, daß die jungen Fabrikarbeiterinnen auf dem
Schoß ihrer Begleiter saßen, nachdem ihnen aber Seitens der stets
anwesenden Vorstandsdamen nahegelegt wurde, daß solches Betragen
nicht recht „~ladylike~“ und hübsch sei, unterblieb es. Während
einer Pause gingen wir in den breiten Gängen und Erholungsräumen, wo
leichte Erfrischungen zu kaufen waren, herum, und unsere Begleiterin
unterhielt sich mit einigen ihrer besonderen Freunde, Waschfrauen,
Briefträgern, Ladenmädchen, Werftarbeitern und dergl. Die größte
Ueberraschung des Abends war aber vielleicht die spontane Begeisterung,
welche eine neu aufgefundene, verzopfte Händel'sche Arie erweckte.
Dieselbe war in der That schön, doch hätte man sie bei uns nur etwa
einem Singakademie-Publicum zu bieten gewagt, und ich constatire diesen
Geschmack des als unmusikalisch verschrieenen englischen Volkes, ohne
eine Erklärung zu bieten. Auch ist es Zeit, zu schließen -- ich umarme
Alle, und Thilda ganz besonders.

    Euer

    Udo.



[Illustration: Kensington Park]



III.


    London.

Vielen Dank, ~cara~ Mutter, für Deinen lieben Brief, auch für die
willkommene Nachricht, daß Onkel Krastenow gern auf Reiseberichte
verzichtet und sie für Unfug hält. Wie recht hat der Mann!

Eben werden meine sieben Sachen gepackt, da wir den Sonntag über einen
Künstler in Surrey, etwa zwei Stunden von hier, zu besuchen gedenken.
Wir hatten mehrere solcher freundlichen Aufforderungen erhalten, denn
viele bekannte Familien haben eine Besitzung in der Nähe von London
und füllen während der ganzen „Season“ allwöchentlich von Sonnabend bis
Montag ihr Haus mit Gästen. Als aber Hoyen eine, sich auch auf mich
erstreckende Einladung zu einem jungen Ehepaar in kleinen Verhältnissen
erwähnte, optirte ich für diese, denn der Abwechslung halber sehnte
ich mich nach Leuten mit weniger als zwanzigtausend Thaler Einkünften.
Dies wäre nach Hoyen das Minimum für Londoner gesellige Verhältnisse,
darunter kann man gerade zur Noth „existiren“, aber absolut nichts
„mitmachen“.

Es liegt aber bereits ein gutes Tagewerk hinter mir; ganz früh, d.
h. um zehn Uhr, ritten wir mit dem hierher auf ein Jahr commandirten
Hans Quilow im Hyde-Park, ich auf einem mir vom Botschafter gütigst
zur Verfügung gestellten Rappen. Hoyen wurde elegisch und klagte über
~fin de siècle~, Verkommenheit. Bis vor wenigen Jahren ritt man nämlich
zwischen halb zwölf und halb zwei im Cylinder und tadellosen, fest
anschließenden Reitanzug; wie er behauptete, ein Anblick für Götter.
Jetzt thun das nur noch zurückgebliebene Leute aus der Provinz, und
Alles, was etwas auf sich hält, reitet frühmorgens, die Herren in
bequemen, ausgetragenen, grauen Röcken, die Damen in Blousen und
flatternden Jäckchen -- Alle aber in Filz- oder Matrosenhüten --
„complete Demoralisation“. Quilow und ich waren jedoch harmlos genug,
um uns rückhaltlos an den wundervollen Pferden und an dem für unsere
Begriffe fast unerlaubt naturwüchsigen, aber doch famos sicheren Sitz
dieser Hunderte von Reitern und Reiterinnen zu freuen. Uebrigens
erklärte man mir später, daß die Ursache eines frühen, zwanglosen
Reitens in dem wachsenden Einfluß der beschäftigten jungen Männer zu
suchen sei. Als die Damen merkten, daß die Mehrheit ihrer Tänzer und
guten Bekannten früh, d. h. vor ihrer Arbeit in den Ministerien, in
der City oder in den Justizgebäuden, ritten und daß nur die kleine
Minderheit der Nichtsthuer später im Park zu haben sei, änderten auch
sie ihre Gewohnheiten. Ohnehin ist es für unsere Anschauungen etwas
anwidernd, Mittags, um die schönste Tageszeit, dieser Anzahl sorgfältig
angezogener herumschlendernder Herren im Park zu begegnen. Und so hat
diese „Verwilderung“ des Reitanzugs vielleicht sogar etwas für sich!

Bald trennte ich mich vom „corrupten Westen“ und begab mich wieder nach
einem armen, verkommenen Stadttheil im Osten. Die Miß Mount Dawling
hatte mich gestern Abend mit einem jungen Juristen bekannt gemacht,
der nun in Toynbee Hall mich erwartete. In diesem Institut verleben
mehrere Dutzend junger Männer aus den gebildetsten, auch aus den
vornehmsten Ständen einige Jahre nach der Universitätszeit, verfolgen
ihr Studienfach, widmen jedoch ihre freien Stunden den verschiedensten
philanthropischen Bestrebungen. Hier unterrichten sie Abends die
Knaben und Männer dieser hauptsächlich aus Fabrikarbeitern bestehenden
Bevölkerung in den Schulfächern, in Nationalökonomie, Religion oder
Kunstgeschichte. Hier leiten sie Gesang-, Schwimm-, Turm-, Cricket-
und Fußballvereine, hier werden „historische Gänge“ durch London,
sowie Ausflüge in der Umgegend vorgenommen, normale Arbeiterwohnungen
verwaltet und Krankenkassen errichtet. Kurz, diese freiwilligen
Arbeiter wollen praktische Fühlung mit ihren ärmeren Mitmenschen
gewinnen und einen festen Mittelpunkt für die philanthropischen
Bestrebungen bilden.

Als ich Mr. Julian Gard, einem hübschen, eleganten, jungen Menschen,
meine Bewunderung aussprach, wies er mein Lob sehr bescheiden von sich
und behauptete, daß er und seine Freunde weit mehr gelernt als gelehrt
hätten, daß, wenn auch dieses jetzt etwa fünfzehn Jahre bestehende
Toynbee Hall einen erfreulichen, manchmal überraschend günstigen
Einfluß auf die Umgegend ausgeübt hätte, der Nutzen auf die jungen
künftigen Politiker, Geistlichen, Juristen oder Nationalökonomen ein
ebenso ausgesprochener wäre. Etwas verlegen fuhr er fort: „Diese
manchmal etwas ungeschlacht und verwildert aussehenden Männer und
Knaben machen einem auch größere Freude als Sie vielleicht denken; es
ist unglaublich, wie anhänglich sie sich oft erweisen, wie schnell man
sich an einander gewöhnt.“ Dabei ist dies die verrufenste Gegend von
ganz London, aus Gard's künstlerisch eingerichtetem Zimmer sah man auf
den Schauplatz des einen „Whitechapel-Mordes“, und vom Tennisplatz, im
hinteren von Epheu bekleideten Hof des schlichten, aber geschmackvoll
vornehmen Backsteingebäudes erblickte man die Fenster, hinter denen
eine andere dieser Scheußlichkeiten geschah. Gard fuhr fort: „Unsere
Thätigkeit ist vielleicht nur ein Tropfen, aber der ist von intensiver
Farbe und färbt weithin das Wasser. Wir sind auch keineswegs muthlos,
und überall, inmitten dieser entsetzlich großen, zusammengepferchten
Bevölkerung arbeiten ähnliche Genossen und Genossinnen.“ Er gefiel mir
recht gut, und gern hätte ich manche Frage mit ihm erörtert, um statt
blutloser Theorien diese eigenen Beobachtungen und Erfahrungen zu
hören, aber schon mußte ich nach der Uhr sehen und mich schleunigst in
die Bahn setzen, da mich ein verabschiedeter indischer Oberst in South
Kensington zum Luncheon erwartete.

So kam ich denn auch in diese beliebte Gegend, wo um das altmodische
Schloß und den gradlinigen, schattigen Park ein nagelneues Viertel roth
backsteinerner, „stilvoller“ Gebäude sich erhebt.

Im Wohnzimmer des Obersten angelangt, prallte ich zurück; denn vor mir
erhoben sich drei ältliche Fräuleins, und nur zu gut erkannte ich die
eiserne Unerbittlichkeit dieser schnurgeraden, sogenannt weiblichen
Gestalten, das mechanische Lächeln dieser großen, blassen Lippen. Es
waren dieselben Engländerinnen, welche in Mürren mich an das jüngste
Gericht mahnten, als ich Sonntags einen Ausflug unternahm; welche mir,
höchst unpassender Weise, eigenhändig Tractate in mein Schlafzimmer
brachten und mich erfolglos anflehten, einen Temperenzlerverein in
Deutschland zu gründen. Auch ihnen schien die Begegnung eine ebenso
unerwartete, wenn auch leider nicht so unliebsame wie mir. Jedes, auch
das geringste Opferlamm mag ihnen willkommen sein, und sie setzten mir
armen Wurm auf das Weidlichste zu. Religion und Wassertrinken wurde
zwar auch während des ewiglangen Frühstücks breit getreten, doch war
augenblicklich Vivisection das beliebteste Steckenpferd, und daß ich
trotz aller haarklein geschilderten Greuel des Secirtisches doch noch
Lammrücken mit ~mint sauce~ herunter kriegte, spricht entschieden
für meine unangekränkelte Natur. Der Oberst versuchte mehrmals das
Gespräch an sich zu reißen, doch erwies sich die Phalanx der Töchter
zu stark; er mußte den augenscheinlich besonders geliebten Klang der
eigenen Stimme entbehren bis er mich den Fräuleins entwand und nach
der indischen Abtheilung von South Kensington-Museum entführte. Das
war nämlich die Verabredung gewesen und erfüllt, wie ich von meinem
Rudyard Kipling nun einmal bin, hatte ich mich ganz besonders auf
eine sachkundige Leitung durch diese märchenhaften Schätze gefreut.
Allerdings erzählte er viel -- +sehr+ viel -- über Indien, als er aber
die Ränke, welche seine frühzeitige Pensionirung zur Folge hatten,
die Günstlingswirtschaft der Behörden und die Ungerechtigkeit der
Rupee-Währungsverhältnisse in genügender Vielseitigkeit beleuchtet
hatte, flüchtete ich, gänzlich erschöpft.

Und jetzt ertönt schon Hoyen's mahnende Stimme. -- Zärtlichst küßt Dir
die Hand

    Dein

    Udo.



IV.


Liebste Mutter! Also, ich fahre fort. Gestern Nachmittag war ein großes
Gartenfest in Holland House und das bedeutet viel; denn Holland House
ist vielleicht das berühmteste, traditionsreichste Privathaus Londons.

Mitten aus dem Straßengewimmel gelangt man durch ein schmiedeeisernes
Thor in Lord Ilchesters Herrschaft und befindet sich augenblicklich
auf dem Land. Allerdings war es eine recht städtische, gedrängte
Wagenreihe, welche durch die uralte Ulmenallee dahinfuhr und nur
über und zwischen den hellen Federn und Blumen der großen Damenhüte
erblickte man weite Wiesen und ferne Bäume. Dann hielten wir vor dem
verwitterten, rothgrauen, backsteinernen Gebäude, das man anderswo
ruhig ein Schloß benennen würde; lange, in Stein gefaßte Fenster,
monumentale, mit gebrannten Thonornamenten verzierte Schornsteine,
Vieles an- und dazu gebaut, das Ganze etwa aus der ersten Hälfte des
siebzehnten Jahrhunderts. Durch ein weißmarmornes Greifenthor gingen
wir gleich in den Garten hinein, unter einer gewaltigen, tiefdunkeln
Ceder empfing die Lady ihre immer neu heranfluthenden Gäste, und dann
erging man sich in den Lindenalleen, zwischen den Buxbaumbeeten des
„holländischen Gartens“, auf den frisch grünen Rasenplätzen, an hellen
Statuen vorbei. Mich zog es aber in das Haus hinein; denn eine junge
Nichte (es ist zu nett -- überall giebt es hier zu Lande Nichten)
versprach mir, Alles zu zeigen und zu erklären.

[Illustration]

Ein liebenswürdiger, etwas geckenhafter Höfling Karls des Ersten
hatte Holland House damals, fern von London, erbaut. Nicht ganz
gesinnungsecht, wechselte er während der Bürgerkriege öfter die
Farbe. Von dieser Besitzung aus versandte er mit dem General Farifax
und andern Parlamentariern einen Erlaß an die Armee, das Jahr darauf
ging er wieder zu den Königlichen über und wurde schließlich von
den Rebellen zum Tode verurtheilt. Bei Westminster -- über den
Platz war ich Vormittags gegangen -- bestieg er das Schaffot; bis
zuletzt hielt er auf's Aeußere, war in weiß Atlas gekleidet, so
spukt er auch zeitweise hier herum. Das Haus wurde dann von mehreren
parlamentarischen Generalen bewohnt; Cromwell soll auf einem
der Felder mit dem schwerhörigen Ireton sich ausgesprochen haben
(hundert und zwanzig Morgen zählt noch heute der Besitz!); schließlich
erhielt es die Wittwe zurück. Die Dame war anscheinend lebenslustig
und temperamentvoll; denn mitten in der puritanischen Herrschaft,
in der alles Theaterwesen in Acht und Bann erklärt wurde, ließ sie
hier ruhig Komödie spielen. Ihr Sohn erbte den Titel eines Earl of
Warwick und dessen verwittwete Schwiegertochter heirathete den Dichter
Addison. Nach Johnson's Behauptung erinnerten die Ehebedingungen an
die Trauungsfeierlichkeiten einer türkischen Prinzessin, bei denen der
Sultan erklärt: Tochter, hier gebe ich Dir diesen Mann zum Sklaven!
Uebertrieben angenehm hatte es Addison auf jeden Fall nicht.

Dann später erwarb die Fox'sche Familie, die Vorfahren der jetzigen
Besitzer, Holland House. Auch sie waren durch Hofgunst gestiegen,
ein Fox hatte in Brüssel dem Tennis spielenden Karl dem Zweiten, als
erster, den Tod des „Ungeheuers“, des Cromwell, gemeldet. Seit über
einem Jahrhundert stand allzeit ein Fox in der vordersten Reihe der
englischen Staatsmänner. Der erste Politiker dieser bedeutenden Familie
wurde außerdem noch durch einen viel Staub aufwirbelnden Roman mit
der Lady Caroline Lennox, Enkelin Karls des Zweiten, berühmt; da die
Eltern sie ihm nicht freiwillig gaben, entführte er sie, und die Ehe
schlug tadellos aus. Ihr zweiter Sohn war der berühmte Redner und
Staatsmann Charles James Fox. Er muß eine fesselnde, widerspruchsvolle
Persönlichkeit gewesen sein. Von lockerem Lebenswandel, ein berüchtigt
leidenschaftlicher Spieler, war er der warmherzigste Freund und
auch ein feingebildeter Mensch, welcher z. B. alljährlich den Homer
von Anfang bis zu Ende in der Ursprache las. Von ihm wurde 1831
geschrieben: „Noch jetzt, nach fünf und zwanzig Jahren, giebt es Leute,
welche keine Viertelstunde über Charles Fox sprechen können, ohne
Thränen zu vergießen.“ Aus dem Fenster zeigte man mir die Stelle, an
der damals eine alte Steinmauer stand. Der zum Lord Holland erhobene
Vater versprach dem Knaben, bei dem Niederreißen derselben zugegen
zu sein. Aus Versehen geschah es jedoch in Charles Abwesenheit, und
um selbst einem Kind gegenüber das Wort zu halten, gab der Vater
den Befehl, die Mauer wieder aufzuführen und in der Gegenwart des
Sohnes noch einmal niederzureißen. Mit feinsinniger Liebe zur Natur
ausgestattet, hing Charles zeitlebens an der schönen Familienbesitzung;
kurz vor seinem Tod wanderte er in den Alleen umher, wehmüthig die
erinnerungsreichen Stätten betrachtend.

Dann zeigte man mir eine der Perlen unter den Gemälden, einen berühmten
Sir Joshua. Eben derselbe Charles Fox steht als vierzehnjähriger Knabe
vor einem Fenster von Holland House, aus welchem die schöne, blutjunge
Schwester seiner Mutter, die Lady Sarah Lennox herausblickt, während
ihre Freundin, Lady Susan Strangways ihr eine Taube heraufreicht. Auch
diese jungen Mädchen wurden ihrer Zeit viel genannt, auf beiden ruht
der Schimmer einer romanhaften Neigung.

Nach dem Tode ihrer Eltern war Lady Sarah zur Schwester gezogen. Hier,
auf einem jener Felder, an denen Hoyen und ich eben vorbeigekommen
waren, machte sie am Junimorgen Heu in phantastisch ländlicher Tracht,
und der junge König Georg der Dritte ritt vorbei und verliebte sich
sterblich. Auf das Ernsteste bemühte er sich, sie zur Gattin zu
erringen, brachte die Angelegenheit vor den Thronrath, doch mahnte
dieser energisch ab. Aber auch jetzt noch hätte die schöne Lady Sarah
wahrscheinlich die Krone erringen können, wäre sie ehrgeiziger oder
temperamentvoller gewesen. Sie that nichts, gab kein Zeichen und der
König verlobte sich mit der mecklenburgischen Prinzeß. Vielleicht, da
es wirklich zu spät war, bedauerte sie ihre Kälte, aber sie plaudert
mit gutem Humor über die Unbeständigkeit des Souverains in ihren
Briefen. (Ein großes Prachtwerk über Holland House gab mir meine
liebenswürdige Führerin zum Nachlesen und Nachschlagen mit.) Bei der
feierlichen Hochzeit und Krönung war sie natürlich die meist beachtete
Brautjungfer, war, wie Horace Walpole schreibt, „engelhaft schön.“ Der
junge König wandte während der ganzen Feierlichkeit seine Blicke nicht
von ihr. Das Jahr darauf heirathete sie einen Landjunker aus Suffolk,
fand ein ruhiges Glück.

Anders verlief der Roman ihrer Freundin, der Lady Susan, aber auch in
diesem spielte Holland House eine Rolle. Eines schönen Tages verließ
sie dasselbe, um, von einem Diener begleitet, spazieren zu gehen; um
etwas Vergessenes zu holen, schickte sie ihn in das Haus zurück und
gab vor, auf der Straße ihn erwarten zu wollen. Hier harrte ihrer
aber ein schöner Schauspieler, O'Brien, mit einem Miethswagen, fort
fuhren sie nach einer Kirche und ließen sich trauen. Hatte Harry Fox
damals eine gesellschaftlich über ihm stehende junge Dame entführt,
wurde das Vergehen an seiner Nichte gerächt! Weder meine Führerin,
noch das Foliobuch konnten mir jedoch mittheilen, ob auch diese Ehe so
befriedigend verlief.

Aber die berühmteste Epoche von Holland House ist die Zeit von etwa
1800-1840, in welcher der dritte Lord Holland und seine Gemahlin
die geistig bedeutendsten Londoner Kreise um sich versammelten.
Alle Bedingungen zu der schönsten Geselligkeit waren da. Den Rahmen
lieferte die fürstliche Pracht, die wohlthuend ländliche und doch
erreichbare Lage des Hauses. Auf Reisen im Ausland, im Verkehr mit
den meisten europäischen Berühmtheiten hatten sich die Wirthe eine
kosmopolitische Gewandtheit erworben; begabt und angeregt, fesselten
sie die hervorragendsten Menschen an ihr Haus, schlossen echte,
langjährige Freundschaften. Ich muß sagen, es sind Menschen und
Verhältnisse, deren man gern gedenkt. Vielleicht erinnert Ihr Euch aus
der Macaulay'schen Biographie, wie oft er diesen glänzenden, ästhetisch
anregenden Kreis erwähnt. Der Hausherr war, der Familientradition
folgend, ein Whig; mehrere hohen Aemter wurden ihm zu Theil, Ende des
vorigen Jahrhunderts befürwortete er bereits die erst lange nachher
durchgedrungene parlamentarische Reform, wie auch die Emanzipation der
Katholiken. Ein leidenschaftlicher Literaturfreund, interessirte er
sich ganz besonders für die spanischen Klassiker und übersetzte mehrere
derselben. Den Kaiser Napoleon kannte und verehrte er, auch nach dessen
Sturz bewahrte er ihm die treuste Bewunderung; vorhin war ich auf der
Terrasse, neben altmodischen Taxushecken, auf seine Statue gekommen.
Er galt für den feinsten, geistvollsten Gesellschafter, für den
denkbarst gütigen Wirth. Seine Gattin war ebenso bedeutend, wenn auch
entschieden schwierig. Sie war schön, begeisterungsfähig, witzig, aber
herrisch, launenhaft und von einer berüchtigten Offenheit der Sprache.
Noch intimer als in seinem Aufsatz, weniger diskret, aber um so
unterhaltender beschreibt Macaulay in seinen Briefen an die Schwester
seine etwas gefürchtete Gönnerin, die Lady.

Nennt man die Gäste des Hauses, so hat man fast alle litterarischen und
politischen Größen jener Tage genannt. Sheridan, Byron (welcher dem
Lord Holland seine Braut von Abydos widmete), Frau v. Staël, die beiden
Humboldt waren gern gesehene Gäste. Hier übernachtete Brougham vor
seiner großen Vertheidigungsrede der unglücklichen Königin Karoline,
eine der liebenswürdigsten Politikerinnen, die Fürstin Liewen, war
eine intime Freundin des Hauses. Die Nachfolger dieses Ehepaares, der
vierte Lord Holland und seine erst vor kurzem verstorbene Gemahlin
waren weniger bedeutsam, pflegten jedoch in würdigster Weise die
Familientraditionen. Die eine lange Schloßterrasse, wo jetzt die
Kapelle spielte, heißt die Louis Philippe-Allee zum Andenken an den
1848 dort in trüben Gedanken auf und ab gehenden verbannten König. Mit
dem Herzog und der Herzogin von Aumale wurde im kleinen, steingefaßten
Teich hinter den umwachsenen Arkaden, wo jetzt Theetische aufgeschlagen
waren, gefischt, Thiers und Guizot waren oft hier zu Gast.

Ich habe aber fast einen Schreibkrampf bekommen und höre auf. Den
prächtigen Bibliotheksaal, in dem Addison dichtete, habe ich vergessen.
Besonders schön ist auch der „goldene Ballsaal“ mit modernen Fresken
von Watts, der in diesem Hause seine frühesten Gönner fand. Sonst hat
er sich wenig verändert, seitdem anläßlich der Vermählung Karls des
Ersten und der Henrietta Maria der erste Ball darin gegeben wurde.
Jede Generation hat hier seither getanzt und wie viele Hunderte noch
ungeborener Menschen werden sich wohl noch auf diesen dunkeln, glatten
Eichendielen ergehen!

Nein, das Haus war wirklich unglaublich interessant! Herzlichst und
treulichst

    Euer

    Udo.



[Illustration: Eine Surrey-Cottage]



V.


    Marwood Cottage, Haslemere.

    Liebe Eltern!

Hier ist es fabelhaft hübsch, durch das winzige Fenster klettern
Rosen, dann kommen jenseits vom Rasen lange Rabatten von Lilien und
Mohnblumen, dann saftige, sonnige Wiesen und schattige Bäume, und dann
wieder Viehweiden und Hecken und immer dunstiger werdende Bäume, und
endlich ferne, umflorte, blaßblaue Berge. Die Gegend erscheint still
und weltentrückt, und erst beim längeren Herumspazieren zeigen sich
die von Bäumen und Büschen umstandenen malerischen Gehöfte und die
vielen neuen Häuschen im gefälligen, anspruchslosen „~cottage~“-Stil,
d. h. rother, leicht verwitternder Backstein, unregelmäßige Giebel,
Erkerfensterchen, ein kleines Hauptportal, Alles von Jelängerjelieber,
Clematis und Heckenrosen umrankt. Hier und da gibt es auch alte
herrschaftliche Landhäuser, hier und da haben reiche Londoner
Kaufherren sich prachtvolle Besitzungen geschaffen, aber besonders
häufig und für die Gegend besonders charakteristisch sind diese
anheimelnden „~cottages~“, in welche Maler, Schriftsteller und Gelehrte
sich aus der Großstadt herausflüchten. Jeder sich neu anbauende Mensch
gilt natürlich anfänglich als Volksfeind, der aus krassem Egoismus
diese unberührte Ländlichkeit zu zerstören gedenkt. Die Gefahr liegt
ja auch nahe, aber noch verbergen die üppigen Bäume jedwede Londoner
Eindringlinge, und der hier bestehende geistig angeregte Verkehr kommt
wohl sonst auf dem Lande nicht leicht wieder vor.

[Illustration: Surrey-Landschaft]

Die Euston Browns gehören zu den „ästhetischen“ Kreisen, welche
die gute Miß Stevens uns so oft und so begeistert beschrieb.
Während aber ihre Bekannten den Ruskin, Dante, Botticelli und die
Hochkirche anhimmelten, schart sich die Euston Brown'sche Gemeinde
um Swinburne, Schopenhauer, Wagner, Villon, die „Décadents“ und
ähnliche Herrschaften. Ich braver Märker kam mir natürlich etwas
entgleist vor, doch Hoyen macht auch dieses mit und erwähnte bereits
in der ersten Stunde die „Princesse Maleine“, den „Uebermenschen“ und
Whistler. Unsere Wirthe sind beide noch jung, sie ist blaß, schmal,
nicht eigentlich hübsch, wenn ihr auch gestern Abend ein matt-lila
faltiges Kleid aus schmiegsamer Seide und der Reif antiker Münzen
in den zerzausten braunen Locken vorzüglich stand. Er trägt Jacken
und Kniehosen aus Sammet, hat längliches Haar, ist aber im Uebrigen
+wirklich+ ein durchaus netter, anständiger Mensch. Seine Bilder sollen
von mehreren Collegen und einem Kritiker außerordentlich geschätzt
werden; sie sind „Naturempfindungen“, und man muß sie aus einer
möglichst großen Entfernung besehen. In Anbetracht der Kleinheit des
Hauses stellten wir uns im Eßzimmer auf und sahen durch die offene Thür
über den Flur in das Atelier, wo die Staffelei sich ganz hinten befand.
Erst starrte man perplex auf einzelne Farbenflecke, dann allmälig bekam
man den Eindruck von Nebel und Nässe und einem einsamen Schaf, oder
von ebbender Fluth und abendlichem Dunst und einem geflickten Netz --
aber schließlich empfand man doch wirklich die betreffende Stimmung und
wurde wirklich dorthin versetzt.

Zu Tisch hatten sie einige Nachbarn, den berühmten Professor Tuxley
und den Schriftsteller Dennison geladen. Tuxley machte einen recht
humanen Eindruck und erzählte in interessanter Weise über seinen
Collegen Darwin; der Andere ist Hauptapostel der Comtisten in England
und ritt geistvolle Principien nach Tisch. Die Unterhaltung war eine
allgemeine, an der auch die Damen sich lebhaft betheiligten. Ich
saß neben Miß Tuxley, einer wohlgenährten, vergnügten Lehrerin der
Mathematik in einem Oxforder Frauen-College und neben der schönen Mrs.
Dennison, welche ihre sieben Kinder nach Comtistischen Grundsätzen in
ursprünglicher Einfachheit erzieht. Das Essen war anspruchslos, aber
auf das Sorgfältigste zugerichtet, nur ein Wein wurde herumgereicht;
der Tisch war allerliebst mit schillerndem venetianischen Glas, mit
Heckenrosen und Zittergräsern geschmückt.

[Illustration]

Da die Euston Browns ein sehr geringes Vermögen besitzen und seine
Kunstwerke noch nie einen zahlungsfähigen Liebhaber fanden, müssen
sie sich einschränken, und die junge Hausfrau erzählte mir, daß sie
mit einem Dienstmädchen und dem Stalljungen auskommen und daß sie
in Folge dessen sich die ersten drei bis vier Morgenstunden auf das
Eingehendste mit der Wirthschaft beschäftigt. „Zum Luncheon bin ich
aber fix und fertig, und mein Mann verlangt, daß ich den übrigen Tag
mit ihm spazieren gehe, Tennis spiele, musicire, Besuche mache und die
häuslichen Angelegenheiten, die kleinen Miseren nie mit einer Silbe
erwähne.“ Ihre ultra-subtilen, etwas überspannten ästhetischen und
ethischen Ansichten scheinen ihren praktischen Menschenverstand aber
keineswegs zu beeinträchtigen, denn als wir drei Herren von einem
längeren Spaziergang kurz vor dem Luncheon zurückkamen, lag Frau
Enid im weißen Kleid in der Hängematte unter den Apfelbäumen und las
Rossetti'sche Gedichte, während das kleine Hauswesen auf das Netteste
und Pünktlichste geordnet war.

Am Nachmittag fuhr mich Euston Brown im kleinen Wägelchen nach dem
Schauplatz von Armgard's Lieblingsroman, „Robert Elsmere,“ nach der
Pfarre, wo er und Catherine die ersten, ereignißreichen Ehejahre
verlebten. Mrs. Humphrey Ward hatte dieses Haus einen Sommer über
bewohnt und sich in ihrem Buch ganz streng an die Oertlichkeit
gehalten. Der Pfarrer findet sich mit gutem Humor in die Rolle
des „Nachfolgers“ und zeigte uns die verschiedenen Zimmer und die
verschiedenen Stellen im Garten, wo diese erfundenen Auftritte, die
doch viel tausend Menschen bewegt haben, sich abspielten. Von „Robert
Elsmere's Pfarrhaus“ wissen jetzt aber leider auch Andere, und diesen
Sommer lagerten wißbegierige Amerikaner in den benachbarten Feldern,
mit Operngläsern und Butterbrot versehen. Recht ähnlich war aber auch
unser Betragen, als wir einen abgelegenen, von Haidekraut und Farren
bedeckten Bergrücken bestiegen, um von dort aus nicht nur die weite
Aussicht aus das bewaldete hügelige Land zu genießen, sondern auch mit
Feldstechern das nur von diesem hohen Standpunkt aus ersichtliche,
in Waldungen sorgsam versteckte Haus des großen, halb mythischen
Einsiedlers Tennyson zu erspähen.

Abends gehen wir mit den Euston Browns zu einem reichen Ingenieur. Auf
einer dieser Anhöhen soll er sich ein wahres Paradies erschaffen haben;
außerdem ist er leidenschaftlicher Wagnerianer, und nach Tisch wollen
die hervorragendsten Londoner Musiker nach Kräften götterdämmern.

So nimmt dieser erste englische Sonntag einen recht unerwarteten
Verlauf, ist aber auch, wie Hoyen mir eindringlich vorhält, keineswegs
der echte, typische, sondern nur die Abart einer vorgeschrittenen
Londoner Sippe. Ich wollte besagten Sonntag noch benutzen, um mich
recht eingehend für Eure Briefe zu bedanken, doch reicht weder Zeit
noch Papier und ich schließe, von Herzen

    Euer

    Udo.


+Nachtrag.+ Früh morgens.

Schließlich verlief der gestrige Abend ganz anders. Kaum war obige
Epistel beendet, als Hoyen aufgeregt auf mein Zimmer kam und mir
verkündete, ich hätte frevelhaftes Glück. Er sei eben einer Mrs. Groven
begegnet, welche ihn und mich gleich auf der Stelle zum heutigen
Mittagessen eingeladen hätte, wir würden ihre Nichte Dolly Vere und
mehrere der leitenden „Seelen“ bei ihr treffen. Mein Gesichtsausdruck
war wohl auffallend unintelligent, denn Hoyen, peinlich berührt, fuhr
fort: „Du willst mir doch nicht einreden, daß Du fast eine Woche in
England verbracht hast, ohne von Dolly Vere und ohne von den ‚~souls~‘
gehört zu haben?“ Beschämt gab ich es zu, und nun erläuterte er
mir, daß Dolly Vere die berühmteste unverheirathete Dame von ganz
England sei. Sie wäre die kühnste Reiterin, die beste Tänzerin, hätte
ein überraschend klares und feines Urtheil über Menschen, Kunst
und Literatur, sei schlagfertig im Wortgefecht und übersprudelnd
von originellen Einfällen. Sie hätte Dutzende von Herzen gebrochen
oder wenigstens dauernd beschädigt, ein sehr gelesener satirischer
Roman wäre kürzlich über sie erschienen, und die bedeutendsten
Menschen suchten ihre Bekanntschaft. Jetzt bildet sie zugleich mit
Arthur Balfour unbestritten den Mittelpunkt der „Seelen“, d. h. des
neuesten „inneren Kreises“, welcher alle höhere, geistige, ethische
und künstlerische Cultur für sich pachtet. „Bester Willy,“ bat ich
demüthig, „gehe lieber allein hin; ich habe überreichlich viel Geist
in den letzten vierundzwanzig Stunden genossen! Ich bin ein simpler
preußischer Assessor und zukünftiger Landjunker und mache faktisch
keine Ansprüche darauf, eine ‚Seele‘ zu sein, noch zu ‚Seelen‘ zu
passen.“ Aber Hoyen kannte kein Erbarmen. Die Euston Browns hätten sich
über unser unverhofftes Glück so gefreut, hätten es mir speciell so
gegönnt und würden uns beim Ingenieur schon entschuldigen. Alles wäre
eingerichtet, und ich sei schauderhaft undankbar gegen meinen Stern.

Das war ich auch, denn bewußt oder unbewußt war die Gesellschaft höchst
unterhaltend.

Wir hatten uns Alle im Wohnzimmer versammelt, ehe die berühmte
Miß Dolly hereinkam, und bei ihrem Erscheinen war es, als ob eine
gesteigerte Vitalität uns durchfuhr. Es liegt etwas geradezu ansteckend
Lebhaftes in ihren sprühenden dunkeln Augen, in ihrem wirren
kohlschwarzen Haar, in ihren feinen, zuckenden Lippen. Jede Bewegung
der schlanken, von rauschender gelber Seide umflossenen Gestalt hat
eine eigenthümliche, nervöse Grazie, und ohne laut zu sein, hat ihre
Stimme, ihr Lachen eine vibrirende, aufregende Färbung. Als wir eben
zu Tisch gingen, rief sie entsetzt, wir wären ja Dreizehn, das sei
gegen ihre Grundsätze, und sie würde sich einen Vierzehnten besorgen.
Resignirt setzte sich ihre Tante wieder hin, sanft bemerkend: „Wen
Dolly uns nur holen wird? Wahrscheinlich Bob“ (die betreffende junge
Dame reist immer mit zwei Reitpferden und ihrem Groom). Es war aber
nicht der Groom, sondern das Skelet aus dem Laboratorium des seligen
Hausherrn, mit welchem sie triumphirend zurückkehrte. Matt protestirte
die Tante, aber Dolly bestand auf den Vierzehnten ihrer Wahl, ging Arm
in Arm mit dem fletschenden Klappergerüst zu Tisch und setzte dasselbe
mit liebender Sorgfalt auf den Stuhl zu ihrer Seite.

Der stumme Gast störte augenscheinlich keinen, denn ein gewandteres,
interessanteres Tischgespräch habe +ich+ wenigstens noch niemals
gekannt. Mit unmerklichen Uebergängen glitt man von einem Gegenstand
zum anderen, von Paul Verlaine auf Charcot'sche Versuche, von
der Tragweite der Belfastischen Riesenversammlung auf die
Charakterentwicklung des deutschen Kaisers, vom psychologischen Problem
des jetzt zur Verhandlung kommenden Mordes auf Burne Jones's letzte
Schöpfung. Dolly Vere und ein junger Parlamentarier, Reginald Pane,
gaben den Ton an, ohne das Gespräch jedoch an sich zu reißen, alle
Uebrigen hatten ihr Wörtlein zu reden, konnten aber auch meisterhaft
zuhören. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir der hinreißende
Zauber, den französische Salons in den alten Zeiten ausübten, an einem
lebenden Beispiel erläutert.

Nach Tisch zogen wir Alle, der englischen Sitte schnurstracks entgegen,
in das anstoßende Treibhaus, wo man sich paarweise in den lauschigen
verstreuten Rohrstühlen niederließ, Cigaretten rauchte und gründlich
„flirtete“. In einem von Palmen, Venushaar und Schlingpflanzen
geformten Versteck saß ich einträchtiglich auf einer kleinen Bank mit
der hübschen Lady Olivia, und sie erzählte mir von den Einflüssen ihrer
Jugend und von ihrer seelischen Entwicklung. Sie erzählte gut, hatte
weiche, weiße Arme und schläfrige, halb verschlossene Augen; so war ich
keineswegs beglückt, als aus dem Nebenraume Klänge ertönten und einige
vorbeihuschende Paare uns zuriefen, wir müßten augenblicklich ins
Wohnzimmer, Dolly würde tanzen. (Alle Seelen, Männlein wie Fräulein,
nennen sich beim Vornamen und in Momenten großer Erregung küssen sie
sich öfters.)

[Illustration]

Vor einem großen Spiegel, in der mit japanischer Goldtapete bekleideten
Wand, führte Miß Vere in einem faltigen, schillernden Gazegewand einen
Serpentintanz vor. Bald war er schmachtend, bald wild belebt. Ich
harmloser Mensch kannte so etwas bisher nur von „Ronacher“ oder vom
„Wintergarten“, und der Gedanke, daß ein hoffähiges, junges Mädchen
dergleichen producirte, war mir etwas verblüffend. Freilich so
poetisch war mir noch niemals ein Tanz vorgekommen, und wieder schien
jede Bewegung, jedes Lächeln dieser Dolly eine erhöhte Vitalität um
sich her zu verbreiten -- sie ist eben eine Persönlichkeit.

Die ganze Nacht hat sie mir vorgespukt, und ich habe verwünscht
schlecht geschlafen.



VI.


    London, 82 North Audley Street.

    Liebe Eltern!

Wieder bin ich auf dem Sprunge, in Folge einer verlockenden
Einladung aufs Land, welche heute früh ganz unerwartet vom Himmel
herunterschneite.

Als wir in Haslemere den Londoner Zug bestiegen, erkannte Hoyen eine
Dame in einem Wagen dritter Classe, wir setzten uns dort hinein,
und ich wurde Miß Farringham vorgestellt. Ihr vorzüglich sitzendes
Herrenschneiderkleid, die kostbare juchtene Reisetasche und die
hochherrschaftliche Jungfer schienen so wenig in die Wagenclasse zu
passen, daß man mir eine gewisse Ueberraschung wohl ansah. Lachend
erzählten mir die junge Dame und Hoyen, gerade das wäre jetzt der
neueste Chic; in diesen Zeiten des landwirthschaftlichen Niedergangs
habe kein irgend wie anständiger Mensch noch Geld, die Bedürfnisse
stiegen aber zusehends, und so wäre man auf den genialen Einfall
gekommen, hierin zu sparen. Nun ist es gang und gäbe, selbst auf
den vornehmsten Landsitzen kommen einige der Gäste in der dritten
Classe an, werden vom Bahnhofsvorsteher wie vom betreßten Diener
mit genau derselben devoten Aufmerksamkeit wie früher empfangen und
schwelgen in dem tugendstolzen Gefühl der Sparsamkeit. Hoyen beklagte
lebhaft, daß, in Folge seiner exaltierten Stellung als zweiter
Botschaftssekretär, „Excellenz“ es ungern sähe, und Miß Farringham
bedauerte die zurückgebliebenen Ansichten ihrer Eltern. Viel moderner
empfände der unsinnig reiche Herzog von Eastminster, der kürzlich
anfing, besagte Classe zu benutzen; darüber sittliche Entrüstung
Seitens der Eisenbahndirectoren; beim nächsten vorkommenden Fall wird
ein Schornsteinfeger zu ihm herein gesteckt, worauf der Herzog eine
Zuschlagskarte kauft, den grinsenden Reisegefährten höflichst in die
erste Classe befördert und selber in seiner dritten verbleibt. Es gäbe
aber doch für unsereins noch die zweite Classe, wandte ich zaghaft ein,
aber entsetzt antworteten beide: „Die ist unmöglich, die ist nun einmal
nicht ‚~reçu~‘.“

[Illustration]

Miß Farringham erkundigte sich sehr liebenswürdig nach meinem
bisherigen englischen Aufenthalt wie nach meinen Plänen und bat darauf
uns beide, ihre Eltern gleich heute Abend auf einige Tage in Harting
Hall zu besuchen; wir würden einen herzlichen Empfang und einige ihrer
netten Bekannten dort antreffen. Auch sei die Hauptsaison in London
schon wirklich vorüber und eine Menge Familien bereits aufs Land, wo
es bezaubernd sei, zurückgekehrt. Hoyen sagte, ich müsse mit allen
Händen zugreifen, denn Harting Hall sei ein typischer englischer
Landsitz, und ein englischer Landsitz das Vollkommenste in der Welt;
wenn sein Chef irgend wie Vernunft annehme, würde er ebenfalls mit
Freuden kommen, und unsere Londoner Verabredungen ließen sich alle noch
abtelegraphiren. Ich stammelte meinen Dank, frug Hoyen aber später, als
wir allein waren, ob ich wirklich solche Freundlichkeit wildfremder
Menschen annehmen dürfe. „Natürlich,“ antwortete er, „erstens haben
ihnen augenscheinlich einige Herren im letzten Augenblick abgesagt,
zweitens sind die Farringham's äußerst gutmüthige Leute, drittens ist
man überhaupt hier zu Lande sehr gastfrei.“

Also -- warum nicht!

Es grüßt Euch herzlichst

    Euer

    Udo



VII.


    Liebste Thilda!

Du verlangst eine ausführliche Schilderung des englischen
Landhauslebens und wünschest, daß ich Dir über Einrichtung,
Tagesvertheilung, Beschäftigung, das Innere und Aeußere des Menschen
einen „recht dummen Brief, recht nach Deinem Herzen“ schreibe. Gut,
mein Kind, das fällt uns nicht schwer!

Also: bald nach acht Uhr Morgens erscheint ein steifer Diener, ohne
guten Morgen zu sagen, mit feierlichem Gesicht in meinem Zimmer, zieht
die Vorhänge zurück, stellt eine riesige Kanne mit heißem Wasser ans
Bad, legt meine genial herum verstreuten Kleidungsstücke mit peinlicher
Sorgfalt zurecht und bringt dann eine Tasse Thee mit ätherisch dünnen
Butterbrotscheibchen auf einem Tablett sammt den eingelaufenen Briefen
an mein Bett, indem er mit gedämpfter, gemessener Stimme hersagt:
„~Prayers at 9.30, Sir.~“ Um besagte Zeit erschallt ein gewaltiger
Tamtam, man versammelt sich in der großen Halle und nimmt auf den
alten geschnitzten Bänken und Stühlen Platz. Dann naht sich der
imposante Zug der Dienstboten, voran die würdige Haushälterin, dann
Mrs. Farringham's Jungfer, dann die übrigen Gäste (genau nach dem
Rang ihrer Herrschaften), dann ein gutes halbes Dutzend in lila oder
rosa Kattun gekleideter Hausmädchen oder Küchenfeen mit niedlichen
weißen Häubchen, dann der an einen Staatsminister a. D. mahnende
Haushofmeister, die fremden Kammerdiener und schließlich zwei Diener
in Livrée. Die Agneta Farringham begleitet einen Choralvers auf der
Orgel, dann verliest der Hausherr einen kurzen Bibelabschnitt, darauf
kniet alle Welt nieder, um gemeinschaftlich das Vaterunser zu beten.
Feierlich in derselben Reihenfolge zieht die Dienerschaft wieder ab,
einige verspätete Gäste erscheinen und entschuldigen sich, man wirft
einen Blick auf den Stoß sorgfältig aufgeschnittener und ausgebreiteter
Morgenzeitungen und steht plaudernd herum, bis das sehnlichst erwartete
Frühstück angemeldet wird. Die Diener verlassen das Zimmer, man
versorgt die Damen und sich selbst mit den mannigfachen Eier-, Fisch-
und Fleischspeisen, mit den frisch gebackenen, noch warmen Brötchen,
mit Eingemachtem, Obst, Kuchen, mit Thee oder Kaffee. Auf Hoyen's
eindringlichen Rath nehme ich nie das Letztere, und als ich einmal aus
Zerstreutheit mich in Lady Southerley's Haus daran vergriff, sträubten
sich meine Haare vor Entsetzen. Selbst Hoyen, der sonst +Alles+ weiß
und +Alles+ erklärt, steht rathlos vor dieser Erscheinung und schlägt
die Hypothese vor, daß der Genius eines Volkes zu gutem Kaffee oder zu
gutem Thee, +nie+ aber zu beidem lange.

Nach dem Frühstück schlendert man ein bischen durch die tadellos
sauberen Ställe, dann zieht sich der Hausherr in sein Arbeitszimmer
zurück, die Hausfrau hält Zwiegespräche mit der Wirthschafterin, und
die Gäste lesen Zeitungen oder schreiben Briefe (in jedem Wohn- oder
Schlafraum befindet sich ein auf das Vollständigste eingerichteter
Schreibtisch). Einige der jungen Damen -- bekanntlich aquarelliren
alle Engländerinnen -- malen das alte, stattliche Tudorhaus mit seinen
verwitterten Giebeln und den von Schlingpflanzen umrankten steinernen
Erkern. Die älteren Damen gehen im stilvollen alten Garten herum
und betrachten und notiren sich die neuen Blumensorten der bunten,
dichtgedrängten Staudenrabatten, welche in England die früheren
Teppich- und „italienischen Salat“-Beete glücklich verdrängen.

Um zwei Uhr giebt es zum Luncheon wieder warme und kalte
Fleischgerichte, warme und kalte süße Speisen, nebst Kuchen, Käse und
Obst; dann wird ausgeritten, ausgefahren oder ausgegangen. Zum Thee um
fünf Uhr findet sich meistens ein Besuch aus der Nachbarschaft ein,
und man sitzt unter den uralten Cedern auf dem sammtgleichen Rasen,
mit dem Blick auf die Rosenbeete und gradlinigen Teiche, in welchen
die Taxushecken und verwitterten Statuen sich spiegeln. Dann wird
eifrig Tennis gespielt, bis der Tamtam zum Umziehen mahnt. Die Damen
erscheinen zu Tisch in voller Gesellschaftstoilette, mit Diamanten und
Blumen, nur im ganz kleinen Familienkreis erlauben sich in den letzten
Jahren die Herren jene kurzen Jacken, welche man auf dem Festland
Smoking benennt, und die Damen lose Prinzeßkleider aus Seide oder
Plüsch, die übrigens ganz hübsch sind -- Du könntest Dir so etwas zu
Weihnachten mal wünschen!

Das Mittagessen um acht verläuft ähnlich wie anderswo, doch trinken
viele Herren nur Apollinarisbrunnen oder Cognac mit heißem Wasser,
welches für ebenso hygienisch wie Chic gilt, ja, einige... brrrr...
nehmen das Letztere ohne Cognac! Die Speisen sind der späten Stunde
entsprechend leicht und werden in auffallend kleinen Portionen
verabreicht, auch das angeregteste Gespräch wird mit gedämpfter Stimme
geführt, und Hoyen behauptet, daß z. B. ein deutsches Hochzeitsmahl
Engländern, ja allen Ausländern, wie das „wüste Geschrei entsprungener
Tollhäusler“ erscheinen würde. Nach dem Obst lächelt Mrs. Farringham
die vornehmste Dame verständnißvoll an, man erhebt sich, und in ihrer
genauen Rangreihenfolge segelt alles Weibliche hinaus.

Habe ich schon erwähnt, daß in England fast einzig und allein der
Geburtsrang anerkannt wird? Zwar bildet der Adel bekanntlich absolut
keine Kaste, zwar fehlt der Unterschied zwischen adlig und bürgerlich
gänzlich und wird durch die schmiegsamere Definition von „guter“
Familie und „keiner“ Familie wie durch die noch weitherzigeren
Begriffe von einem ~gentleman~ und ~not quite a gentleman~ ersetzt,
zwar sind die titellosen Grundbesitzer, die ~county families~, die
~gentry~, der Aristokratie vollkommen ebenbürtig; in Präcedenzfragen
entscheidet aber weder Alter noch Stellung, noch Würde, sondern einzig
und allein der erbliche Rang. Der zwanzigjährige Sohn eines Lords
kommt vor einem ergrauten General, und eine würdige Baronetsgattin
läßt der unverheiratheten blutjungen Tochter eines Earls unweigerlich
den Vortritt. Jedes Mitglied des englischen Adels hat seine feste
verbriefte Stellung, deren Nichtanerkennung nur durch einen Mangel
gesellschaftlicher Kenntnisse zu entschuldigen wäre. In einer
herzoglichen Familie z. B. kommen die unverheiratheten Töchter nach
der Frau des ältesten Sohnes, aber vor den Frauen der jüngeren Brüder;
heirathet eine Tochter einen Bürgerlichen oder einen Baronet, so behält
sie ihren Rang, heirathet sie einen Lord oder einen Earl, so erhält sie
seinen niedrigeren und kommt hinter ihren unverheiratheten Schwestern
zu stehen. Bei gleicher Rangkategorie entscheidet das in jedem
~Court Guide~ befindliche Alter der Adelsernennung. Dem bürgerlichen
Premierminister weist man heutzutage die Stelle zwischen Marquis und
Herzog an, die Staatsminister kommen zwischen Baronets und Pairssöhnen,
jedoch -- es ist haarsträubend! -- haben ihre Gattinnen absolut keine
Privilegien und folgen der jüngsten Honourable Miß So und So. Hoyen und
ich haben die Berechtigung dieser gänzlich aristokratischen, gänzlich
unbureaukratischen Auffassung lebhaft erörtert, bei welcher Gelegenheit
ich den Kürzeren zog. Er behauptete, daß für eine auf Aeußerlichkeiten
beruhende Einrichtung, wie die der „Gesellschaft“, äußerliche, deshalb
klare und unumstößliche Normen die richtigsten seien. Nur dadurch
schwänden kleinliche Etiquettenfragen, nur dadurch sei die in England
so überaus wichtige und wohlthuende Vermischung der gesellschaftlichen
Kreise leicht und praktisch zu regeln. Durch den befestigten Reichthum
und durch die beständige Zuführung neuen Blutes hat der englische Adel
sich seine einzige Stellung erworben und die heilsamen rothblütigen
Elemente werden nur in Folge dieser allgemeingültigen Gesetze so bald
absorbirt.

Schließlich sehe ich ja auch ein, daß, da besagte Aristokratie stets
für die einflußreichste, gebildetste und beliebteste der Welt gegolten
hat, eine gewisse Vorsicht in der Verdammung ihrer Einrichtungen
indicirt sei.

Doch verzeih', brave Thilda, daß ich Dich mit langen Simpeleien so
anöde!

Haben also wir Herren genügend politisirt oder uns einem, sich vom
weiblichen natürlich +sehr+ vortheilhaft unterscheidenden
Geklatsche ergeben, so ziehen wir in die großen, von Blumen und
verschleierten Lampen gefüllten Zimmer, wo die Damen in malerischen
Gruppen herumsitzen. Nun wird geplaudert und musicirt oder Halma oder
Karten gespielt, bis gegen elf Uhr der allgemeine Aufstand beginnt.
Man begibt sich in die Halle, einer der jüngeren Herren steckt die
in langer Reihe aufgepflanzten silbernen Handleuchter an und reicht
sie den Damen, welche in ihren hellen Seidenkleidern auf der alten
eichenen Treppe an den verdunkelten Ahnenbildern vorüber nach oben
hinauf rauschen. Dann verziehen wir uns ins Rauchzimmer, trinken einen
Whisky und Sodawasser und erzählen uns Geschichten, bis auch wir unsere
Leuchter anzünden und die mit altmodischen Kupferstichen behängten,
mit schweren Teppichen belegten Gänge hinunter gehend, unsere höchst
behaglichen Schlafzimmer glücklich entdecken.

Die Familie Farringham gefällt mir so gut wie ihr Haus und ihre
ganze Lebensweise, und das will viel heißen. ~The Honourable~ Mrs.
Farringham, Tochter von Lord Darstead, ist eine feine, anziehende,
kleine Frau, sanft und sympathisch, voller Interessen und mit klarem
Blick. Er ist groß, hager, gutmüthig, etwas langweilig und anfänglich
von einer britischen Unnahbarkeit, an die man sich jedoch schließlich
gewöhnt. Mehrere Ehrenämter der Grafschaft nehmen ihn sehr in Anspruch,
und er steckt viel Geld in seine intensiv bewirthschafteten Güter.
Glücklicherweise hat er es; zwar gehören die Farringham's zu den
guten, alten ~county families~, doch würde sie die auch hier eine
beträchtliche Rolle spielende agrarische Depression recht beengen, wäre
seine Mutter nicht die Erbin der bekannten Bactorischen Bank gewesen.
Agneta ist groß und schlank wie der Vater, hat kleine, regelmäßig
geschnittene Züge und wellig-weiches, kastanienbraunes Haar. Ihr Wesen
ist heiter und offen, wie die Mutter, sie ist gescheidt und gesprächig,
so daß man außerordentlich angenehm mit ihr verkehrt. Wir reiten
öfters zusammen und ich wundere mich über ihre Belesenheit, über ihre
frische, vorurtheilslose Auffassung wie über ihre anscheinend recht
mäßige, zu Hause von Gouvernanten erhaltene Erziehung. Nach Hoyen's
Meinung steht die siebzehnjährige Engländerin geistig ebenso weit
hinter der gleichaltrigen deutschen „höheren Tochter“ zurück, wie sie
Letztere in zehn Jahren kraft selbständiger Interessen und anregenden
Verkehrs mit der Außenwelt überflügelt.

Zwei jüngere Schwestern der Agneta sind verheirathet, eine an
einen Geistlichen in London, wo sie sich nach Aussage der Familie
in der armen Gemeinde halb zu Tode arbeitet, die andere an einen
Lord Guy Leighton, welcher sich nur durch sein Cellospiel und durch
seine Sammlung alter musikalischer Instrumente hervorhebt. Von
den Söhnen ist der älteste leidenschaftlicher Sportsmensch, jagt
augenblicklich Rhinocerosse oder ähnliches Grobzeug in Mashonaland,
erlegte im vorigen Sommer elf spitzbergische Eisbären, ist aber
zwischendurch ein zärtlicher Gatte und Vater und tritt nächstens als
Parlamentscandidat für die Grafschaft auf. Der zweite ist ebenfalls
verheirathet und bebaut Theeplantagen in Ceylon, während der dritte bei
einem sehr beliebten Cavallerieregiment steht und kürzlich eine der
Adjutantenstellen im Hofstaat des Gouverneurs von Canada erhalten hat.
Die Agneta steht im regen brieflichen Verkehr mit all' den abwesenden
Geschwistern, und sie scheinen eine sehr anhängliche Familie zu bilden.

Morgen reist Hoyen nach London zurück, und die übrigen Gäste, eine
aus Elternpaar und drei hübschen, lebenslustigen Töchtern bestehende
Familie, zieht ebenfalls weiter. Hoyen's Vermuthung traf übrigens zu,
zwei erwartete Herren hatten im letzten Augenblick abtelegraphirt,
und so sollten wir in die Bresche springen und die Miß Clutterbucks
unterhalten. Ich that mein bißchen Bestes, doch Hoyen war grandios und
machte der Aeltesten mit einem beneidenswerth routinirten und doch
ursprünglich erscheinenden Geschick den Hof. Ich will offen zugeben,
daß ich ihn ernstlich „verheddert“ glaubte und stammelte bereits
Glückwünsche, worauf er mich „rührend harmlos“ benannte. Eine englische
Flirtation, erläuterte er, sei das Ergebniß einer hohen Cultur und
außerdem eine recht angenehme Zerstreuung. „~Cela ne tire pas aux
conséquences~;“ beim etwaigen späteren Zusammentreffen schüttelt man
sich herzhaft die Hände und spricht gerührt über die hübschen Tage in
X....

Hoffentlich komme ich ohne meinen „Führer“ weiter, denn nach
reiflicher Ueberlegung finde ich es nützlicher und zweckmäßiger, die
Londoner Verabredungen aufzugeben und die so liebenswürdig angebotene
Gastfreundschaft der Farringham's zu weiteren Studien über englisches
Landleben zu benutzen.

Nun erwarte ich aber auch meinerseits einen langen und ausführlichen
Schreibebrief; erzähle mir alle Charlottenburger Ereignisse, wie es
mit der geplanten elektrischen Bahn steht, wie die Tennis-Nachmittage
verlaufen und wie sich Deine neue Signora bewährt.

Es küßt Dir treulich die runden, backfischlichen Backen

    Dein alter

    Udo.



VIII.


    Harting Hall, Woxstead.

    Lieber Vater!

Es freut mich sehr, daß Du meine bisherigen Reisepläne gebilligt hast,
und ich hoffe, daß Dir die Ausdehnung meines hiesigen Besuches ebenso
zusagen möge.

Dir erscheinen meine Berichte zu rosenfarbig, was durch die unverdient
freundliche Aufnahme sich wohl erklären läßt. Auch glaube ich wirklich,
daß manche in deutschen Zeitungen unverhältnißmäßig aufgebauschten
socialen und wirthschaftlichen Krisen erst durch einen Aufenthalt im
Lande in die richtige Perspective gerückt werden. Zweifellos sind
all' die so oft hervorgehobenen Schäden thatsächlich vorhanden, doch
besitzt dieser lebensstrotzende, bewußt mit der Zeit gehende Organismus
eine ungeheure Fähigkeit, die Schäden zu überwinden. Dies scheint mir
wenigstens das Ergebnis meiner Beobachtungen, wie mancher Gespräche
mit recht verschiedenen Leuten zu sein.

Der guten Mutter hingegen machen augenscheinlich die englischen
Zustände einen zu idealen Eindruck; wenn auch das Leben hier reich
und harmonisch verläuft, so wird doch selbst von den beneideten
Engländerinnen ganz tüchtig gearbeitet, allerdings in oft anderer
Weise als bei uns. Schon allein die Correspondenz! Agneta und ihre
Mutter weihten mich neulich in die allmorgendlich ankommenden Stöße
von „Geschäftsbriefen“ ein. Da empfahl man ein neues Mitglied
des Zweigvereins der großen ~Girls Friendly Society~, welcher
Hunderttausende über ganz England verstreuter junger Dienstmädchen,
Verkäuferinnen und Fabrikarbeiterinnen angehören, da kamen
Mittheilungen wegen einer bald zu veranstaltenden Unterhaltung für
die Dorfleute, sogenannte ~Penny Readings~, in denen jeder seine
zehn Pfennige Eintrittsgeld zahlt, und die Gutsherrschaft mit der
Pastorsfamilie für Musik, Declamation oder Vorlesungen sorgt. Dann gab
es Berichte über die letzte Sitzung der ~Liberal Women's Association~,
welche dem zunehmenden Einfluß der großen, auch von Frauen geleiteten,
stockconservativen ~Primrose League~ entgegenzusteuern versucht.
Dann folgte eine unorthographische, komische Beschwerde, welche die
Eltern eines bestraften Schulkindes an Mrs. Farringham richteten, da
dieselbe zum hiesigen ~School Board~, der von der Gemeinde berufenen,
auch Frauen zugänglichen Schulcommission gehört, und schließlich
kamen Anfragen wegen des alljährlich in Garten und Park gehaltenen
Stiftungsfestes des hiesigen Mäßigkeitsvereins. Außerdem bekümmern
sich die Damen um die örtliche Krankenkasse, den Consumverein und den
Arbeiterclub. Außerdem hat die Agneta im Dorfe eine Abendclasse für
halb erwachsene Knaben, denen sie Holzschnitzerei lehrt, gute Muster
und Aufträge verschafft. Wie ich von Gutsnachbarn hörte, soll sie einen
außerordentlichen Einfluß auf diese leicht verwildernden jungen Leute
gewonnen haben. Außerdem betheiligt sie sich an einer von Cambridge aus
geleiteten Vereinigung, welche verständnißvolle Lectüre der deutschen
und französischen Classiker bezweckt, und da sie sich lebhaft für ihren
Garten interessiert, gehört sie noch zu einem Cirkel für botanisches
Blumenmalen.

Zu alle diesem kommt aber auch noch die, durch eine rege, auf das
ganze Jahr vertheilte Geselligkeit bedingte Correspondenz, von
Familienergüssen gar nicht zu reden, und so gehört stundenlanges
Briefschreiben zur täglichen Last einer Engländerin. Nur so erklärt
sich auch der übliche, knappe, +mehr+ als kunstlose Stil, die
meistentheils erschreckend geniale Handschrift. Während ich jetzt
in einer Ecke der Halle diese Epistel verfasse, höre ich aus allen
umherliegenden Zimmern das leidenschaftliche Federgekritzel der übrigen
Hausbewohner, welche vor Abgang der Post ihre heutigen Pflichten zu
erledigen versuchen.

Eine neue Garnitur Gäste ist inzwischen erschienen, und als die
Farringham's mich zum längeren Verweilen nötigten, hielten sie es für
ihre Pflicht, mich auf die erwarteten, milde gesagt, wenig aufregenden
Besucher vorzubereiten. Zum Todtlachen sind sie auch nicht -- dafür
aber äußerst brav und wohlwollend. Der alte Earl of Marsh, eine
würdevolle, schweigsame Mumie, galt seiner Zeit für den tüchtigsten
Classiker seines Oxforder Jahrganges; seine Frau ist Mrs. Farringham's
Schwester, ebenfalls gescheidt, aber weit strenger und einseitiger
als diese. Das Ehepaar ist hochgradig religiös-philanthropisch, beide
reden in größeren und kleineren Versammlungen, haben mehrere sich
gut bewährende Wohlthätigkeitseinrichtungen ins Leben gerufen und
einen beträchtlichen Teil ihrer verhältnißmäßig geringen Einkünfte
auf dieselben verwandt. Außerdem ist Mrs. Polmache hier; Wittwe
eines bekannten Bischofs, besitzt sie eine ausgeprägte dogmatisch
kirchengeschichtliche Ader, erscheint frühmorgens mit den neuesten
„religiösen“ Streitschriften unterm Arm und hockt zu allen Tagesstunden
an irgend einem Schreibtisch, um Aufsätze und Besprechungen für
kirchliche Zeitungen zu liefern. (Es ist übrigens auffallend, wie viele
Männer und Frauen gerade aus den oberen gesellschaftlichen Kreisen
sich an den Wochen- und Monatsschriften betheiligen und mit welcher
rührenden Wichtigkeit sie von ihren eingeheimsten Honoraren reden!)
Schließlich gibt es noch ein junges Ehepaar, Willoughby Greene,
aus der Nachbarschaft; er ist Agent der conservativen Partei, wühlt
schon jetzt für die kommenden Wahlen und überfließt von klingenden
Schlagwörtern und überzeugender Statistik. Seiner stillen Frau sieht
man die berühmte Parforcereiterin nicht an; zum Kummer der Familie ist
ihre schöne, junge Schwester plötzlich in die Heilsarmee übergetreten
und befindet sich augenblicklich in Paris, wo sie allabendlich auf den
Boulevards die Flugblätter zum Verkaufe anbietet!

Ihre eigenen, glücklicherweise nicht ganz so anstößigen Wege nahmen
auch die Marsh'schen Töchter. Beide waren unverheirathet, nicht mehr
ganz jung, aber um so thatkräftiger, und während die Aeltere eine
ganz hervorragende Krankenpflegerin geworden ist, erhielt die zweite
kürzlich eine Anstellung von der Regierung! Sie hatte sich schon
lange mit der Frage wegen besserer Unterkunft für die Waisenkinder
der Gemeinden beschäftigt, Vieles darüber geschrieben und auf die
Vertheilung der Kinder in Bauernfamilien bestanden. Diese Ansichten
sind schließlich durchgedrungen, und mit sechstausend Mark jährlich ist
sie als Inspectorin der weit verstreuten Waisenkinder ernannt worden.
Ganz begreiflicherweise glaubte man, daß gerade ein weibliches Auge
sich leicht und zuverlässig über das leibliche und geistige Wohlergehen
der Pflegekinder vergewissern würde, und der Erfolg hat es bewiesen.
Als mir dies in Gegenwart der Lady Marsh erzählt wurde, frug ich, ob
es ihr nicht schwer falle, die einzigen Töchter zu vermissen. „Ihre
eigene Mutter,“ antwortete sie, „würde gewiß auch +Sie+ am liebsten
zu Hause behalten haben und fügte sich doch gern, als Sie Ihren Beruf
ergriffen. Wenn mein Mann und ich sterben, ist es kein kleines Glück,
alle Kinder in einer schönen, sie befriedigenden Thätigkeit zu wissen.“

So einmüthig verlaufen die Gespräche aber nicht immer, und heute Abend
prallten die Geister energisch an einander; der eben veröffentlichte
Urtheilsspruch des Erzbischofs von Canterbury wurde leidenschaftlich
erörtert, und selbst Lord Marsh raffte sich aus seinem üblichen
comatösen Zustande zu scharfen, geistvollen Entgegnungen empor. Es
handelte sich um einen Toilettengegenstand des Geistlichen wie um
dessen Stellung am Altar während gewisser liturgischer Abschnitte, und
da diese Streitfrage mir in meiner Unwissenheit ebenso gleichgültig
wie unwichtig vorkam, machte ich wohl einen ziemlich verrathenen
und verkauften Eindruck, so daß die Agneta sich meiner erbarmte
und Willoughby Greene und mich zu einer Billardpartie wegführte.
In den Pausen des Spiels geriethen die Beiden sich zwar ebenfalls
in die Haare, doch handelte es sich wenigstens um vernünftige,
politische Meinungsverschiedenheiten und nicht um jene verknöcherten
Subtilitäten von vorhin. Es fiel mir übrigens wieder auf, wie ruhig
und rücksichtsvoll bei aller Schneidigkeit ein Wortkampf hier geführt
wird; selbst unter Herren im Rauchzimmer hört man nie die bei uns doch
ziemlich häufigen „bombenfesten“ Behauptungen. Nur so wird ja auch
dieser gesellige Verkehr zwischen gänzlich verschiedenartig denkenden
Menschen ermöglicht.

Am Vormittag waren W. Greene und ich per Eisenbahn nach dem einfach
großartigen Gestüt des Herzogs von Eastminster gefahren. Doch mehr
davon mündlich, wie auch über die vielen hübschen Ausflüge, welche die
Farringham's mit mir und meiner treuen Camera in der Nachbarschaft
unternehmen. Hoffentlich mißglücken nicht allzu viel Aufnahmen!

Es umarmt Euch

    Euer

    Udo.



IX.


    Harting Hall.

Vielen Dank, liebe Eltern, für die willkommenen Briefe und Nachrichten.
Thilda's Tennissieg erfüllt mich mit Stolz und Bewunderung!

Soeben habe ich meinen ersten, unverfälschten englischen Sonntag
absolvirt und den Eindruck einer anheimelnden, poetisch verklärten
Langeweile davongetragen. Um halb elf begannen die Glocken zu läuten;
jede Kirche hat ihr eigenes, eng mit dem Heimathsgefühl verwachsenes
Glockenspiel, und in der tiefen sonntäglichen Stille hörte man das
schwache Läuten weit entfernter Kirchen. Unterdessen versammelten
wir uns, äußerst schön gekleidet, in der Halle und schlenderten zu
Fuß (nur im Nothfall beraubt man Kutscher und Pferde ihres Ruhetages)
durch Garten und Park nach der gleich anstoßenden Kirche. An die
Eingangspforte und an die schlichten Grabsteine lehnten sich leise
schwatzende Männer und Knaben mit rothen Händen und steifen, schwarzen
Röcken. So standen allsonntäglich an dieser Stelle ihre Vorahnen herum,
und so werden ihre Enkel es ebenfalls thun.

Unsere Gesellschaft vertheilte sich auf die alten, geschnitzten Bänke,
rings herum hingen Grabinschriften vergangener Farringham's; durch
ein hohes Bogenfenster fiel grünliches Licht auf die liegende Statue
eines Ritters. Im Chor saß die Dorfjugend und sang die Responsorien,
Psalme und Choräle mit kräftigen Lungen und anzuerkennendem guten
Willen. Der Altar war reich mit bestickten Sammetdecken belegt, und
weiße Rosen füllten die streng geformten, messingnen Gefäße. Nach
der kurzen, hausbackenen Predigt verließ ein Theil der Gemeinde die
Kirche, während alles Uebrige, auch unsere ganze Gesellschaft, am
Abendmahlsgottesdienst Theil nahm. Ich verließ meinen Sitz, blieb aber
unten in der Kirche stehen. Obgleich die Feier monatlich stattfindet
und keine besonderen Kleiderbestimmungen oder äußere Vorbereitungen
wahrnehmbar sind, erschien mir die Ceremonie mit der schönen, uralten
Liturgie durchaus würdevoll und feierlich, und die Gemeinde machte
einen gerührten und gesammelten Eindruck. Nachher gingen wir Alle bis
zum Luncheon in den Gärten und Gewächshäusern herum, und Nachmittags
unternahmen Agneta und ich einen längeren Spaziergang nach einer
hübsch gelegenen Pfarre, wo wir mit den Töchtern des Hauses in der
rosenumrankten Veranda den Thee tranken. Unser Weg führte durch üppige
Fluren und Felder: unter Bäumen versteckt lag eine graue, verschimmelte
Mühle am Wasser, hinter der Hecke saßen heitere Kinder und sangen
Choräle unter Anführung der eben erwachsenen älteren Schwester. Ueber
den Wiesen, unter den Weiden zogen ferne Gestalten nach der Kirche. Als
wir heimkehrten, saß die anmuthige, kleine Mrs. Willoughby Greene unter
den Cedern auf dem Rasen, um sie herum ihre vier Kinder, und Alle in
eine Bilderbibel vertieft, aus welcher sie Geschichten erzählte.

Das Mittagessen wurde des Ruhetages wegen etwas vereinfacht, und vor
dem Schlafengehen gab es eine Abendandacht, in der Lord Marsh ein
längeres Gebet improvisirte. Vorher hatte Mrs. Polmache sich meiner
sie geradezu erschreckenden Unwissenheit betreffs der Strömungen im
englischen religiösen Leben erbarmt, und in meinem Kopf schwirrt
es bedenklich von ~high~, ~broad~ und ~low-church~, von Secten und
atheistischem Unfug.

Außerdem ist es spät -- also lebt sämmtlich recht wohl. Stets

    Euer liebender

    Udo.



X.


    An Bord der „Waterbird“ auf der Ouse.

    Liebste Armgard!

Vielen Dank für Deinen Brief, aber weshalb in aller Welt nur diese
Anspielungen auf Miß Farringham! Verzeih' mir das harte Wort --
ich will Dich ja keineswegs kränken -- aber dergleichen ist ebenso
altmodisch wie spießbürgerlich. Ich verkehre in der allerangenehmsten,
allerfreundschaftlichsten Weise mit besagter jungen Dame, aber weder
sie noch ihre Eltern, noch ich, noch irgend Jemand denken nur an
eine Verlobung. -- Vielleicht ist es Dir eine Beruhigung, ihr Alter
zu erfahren, sie ist neunundzwanzig Jahre, also genau ebenso alt wie
ich. Man erhält sich übrigens hier zu Land auffallend gut, in der
Londoner Gesellschaft sollen die tonangebenden jungen Mädchen meistens
vierundzwanzig bis achtundzwanzig Jahre alt sein und gelten vorher
nicht für genügend elegant oder unterhaltend. Aber wäre sie neunzehn
oder neununddreißig -- in meinen Gefühlen würde es nicht den geringsten
Unterschied verursachen, und so bitte ich Dich, ein klein wenig mit der
Zeit zu gehen und nicht in so philiströser Weise den Teufel an die Wand
zu malen.

Wenn du nun ahntest, wie verwöhnt die Agneta ist, wie angenehm und
mannigfaltig sich ihr Leben gestaltet und wie wenig verführerisch
ihr selbst die mögliche Aussicht, nach Onkel Knastenow's Tod auf
dem stillen Naudorf zu hausen, erscheinen würde! Es sind eben ganz
colossal verschiedene Verhältnisse; was hier zur anständigen Existenz
von ~ladies~ und ~gentlemen~ naturgemäß gehört, erscheint uns ein
exceptioneller Luxus, den nur Börsencrösusse oder besonders begnadete
Standesherren beanspruchen dürften. Wo man sich bei uns zu einem
Bechstein'schen Flügel, zu Topfpflanzen und einem in Livrée gesteckten
früheren Burschen aufrafft, verlangt man hier Haushofmeister,
Gewächshäuser und tadellose Wagen und Pferde.

Wegen der künftigen Schwägerin brauchst Du also wirklich nicht
Englisch zu treiben; übrigens spricht sie Deutsch auffallend fließend,
wenngleich mit einem ganz hübschen Accent.

Nun wirst Du aber wissen wollen, wie ich auf die Waterbird und
Ouse gekommen bin. Ganz unerwarteter Weise wurde ich von einem
Londoner Bekannten, Mr. Auberon St. Maur, eingeladen, mit ihm auf
seinem Schiffchen die Norfolkgewässer zu besuchen; es sei eine ganz
eigenartige Landschaft und eine unbeschreiblich nervenberuhigende
Existenz. Mr. St. Maur ist ein eleganter, wohlerhaltener Vierziger,
unverheirathet, kunstliebend, ideal gesonnen und beschäftigungslos. Die
Damen vergöttern ihn, von einigen Herren wird er, unter uns gesagt,
nicht ganz gewürdigt. Ich mag ihn recht gern, er ist zuvorkommend und
ein unterhaltender Gesellschafter. Gestern kam sein siebzehnjähriger
Neffe den Tag über an Bord; er ist in Eton auf der Schule, hat jetzt
Ferien, gleicht einem blonden St. Georg auf altdeutschen Bildern und
ist ebenso kindlich als wohlerzogen und aufgeweckt. Da auch sein
Onkel Etonianer gewesen ist, drehte sich das Gespräch um die ~Alma
Mater~, an der Alt und Jung anscheinend mit derselben schwärmerischen
Begeisterung hängen. Wenn ich denke, wie verhaßt mir und meinen
Freunden unser nüchterner Berliner „Stall“ war, beneidete ich diese
um ein Glück, das Einem auf immer entgangen. Allerdings überzeugte
ich mich leicht, wie altmodisch, verzopft und nach unseren Begriffen
gänzlich ungenügend es hier mit dem Unterricht bestellt ist. Aber --
du lieber Himmel -- es ist doch keine Kleinigkeit, wenn Knaben unter
alten, vornehmen, historischen Umgebungen aufwachsen und in physisch,
und vor Allem auch in moralisch reiner, gesunder Luft sich entwickeln.
Wenn auch Cricket, Fußball und Rudern eine unverhältnißmäßige Zeit,
eine unverhältnißmäßige Wichtigkeit erlangen, so wird dadurch nicht
nur die Gesundheit gestählt, sondern auch Ausdauer und Energie,
kameradschaftliches Zusammenhalten und Unterordnung der eigenen
Persönlichkeit, wie zur gleichen Zeit auch die Hervorrufung der
individuellen Verantwortung erzielt. Die Disciplin ist streng, Formen
und Aeußerlichkeiten werden peinlich bewahrt, aber die Lehrerwelt und
Obrigkeit sind weniger maßgebend als die von den Knaben ausgehende,
auf Tradition beruhende öffentliche Meinung, als die von den Knaben
gewählten ~Captains~, zu denen jeder Schüler einstmals zu gehören
verhofft. Für unsere Examen wären diese reinlichen, ~gentlenmanlike~
kräftigen Knaben recht mäßig gerüstet, vorzüglich aber für das
praktische Leben, für den Kampf ums Dasein.

Leider könnten wir Deutsche uns schwerlich den Luxus solcher Anstalten
gestatten; etwa achttausend Mark jährlich kostet ein Etonschüler seinen
Eltern!

Doch nun ist der frische, kleine Harold fort, und Mr. St. Maur und ich
führen ein gemächliches, beschauliches Leben zu Zweien. Mit Vorliebe
liegt er auf orientalischen Kissen oben auf dem Verdeck, liest Flaubert
und George Meredith oder betrachtet schläfrig die Natur; ich halte mich
viel zu den beiden famosen Schiffsleuten, lerne ihre Segelhandgriffe
und lasse mich im kunstgerechtesten Angeln unterweisen.

Die „Waterbird“ ist eine richtige ~Wherry~, wie die hier üblichen,
zum Transport dienenden Flußschiffe heißen; etwas kleiner als unsere
Havelkähne, sind sie ebenso originell und bunt bemalt, haben flaches
Verdeck und riesige, schwarze Segel. St. Maur kaufte eine dieser
echten ~Wherries~ und richtete sie mit phantastischem Luxus ein. Sein
weiß verschleiertes, mit Genien und Libellen bemaltes Schlafzimmer
hat er mir überlassen. Für ihn wird in der mit alten Goldtapeten und
persischen Teppichen behangenen Cajüte ein Lager aufgeschlagen, und
im kleinen Zwischenraum befindet sich in einer Tags über bedeckten
Versenkung eine rosa und silber emaillirte Badewanne für die Tage, in
denen die geographische Lage kein Flußbad im Freien gestattet. Der
jüngere Matrose ist ein gediegener Koch, wir leben sehr gut und trinken
Burgunder und griechische Weine, vermuthlich weil St. Maur sie für
stilgerecht und stimmungsvoll hält.

Einen eigenen Zauber hat diese flache Landschaft, welche Leuten,
deren Bewunderung für eine Gegend mit dem Metermaß der Höhe zunimmt,
zweifellos langweilig und öde erscheint. Aber ich norddeutsches
Ebenenkind liebe diese weiten, dunstigen Horizonte, die ruhigen Flächen
der satten Fluren, den geheimnißvollen Zug des fließenden Stroms. Hier
und da erweitert sich die Ouse zu großen, waldumgebenen Seen, die hier
~broads~ genannt werden; hier und da steigt über Bäumen ein Kirchthurm
empor, in der Ferne treiben die Windmühlenflügel, saubere Dörfer und
malerische kleine Wirthshäuser liegen am Ufer, und ganz seltsam wirken
in dieser grünen, friedlichen Gegend die bei scharfer Brise auf Einen
zusausenden ~Wherries~ mit ihren großen, unheimlich schwarzen Segeln.

[Illustration: Norfolk Broads]

Heute Nachmittag trat Windstille ein, die Matrosen schoben mit den
Staken; nun ankern wir unter Sternenschein mitten unter Schilf und
Wasserrosen; weit und breit ist keine menschliche Wohnung zu sehen.

Nun, gute Nacht. Schade, daß Du nicht hier bist!

Grüße Deinen Fritz und die drei Rangen, vor Allem mein Pathenkind, das
mich bei der nächsten Begegnung hoffentlich nicht so aggressiv lieblos
wie letzthin behandeln wird. Herzlichst

    Dein treuer Bruder

    Udo.



XI.


    Trinity Lodge, Cambridge.

    Liebe Eltern!

Willy Hoyen ist wirklich ein rührender Mensch; jetzt hat er mir wieder
für Cambridge eine famose Einführung verschafft. Dank ihm bin ich der
Gast des Master of Trinity, der ein äußerst liebenswürdiger Mensch und
das größte hiesige Thier ist.

Jetzt schreibe ich aus einem getäfelten Gemach mit eingefaßten,
epheuumrankten Bogenfenstern und einem riesigen, rothen, damastnen,
catafalkartigen Himmelbett, welches zum Andenken an die einstigen
erlauchten Insassen das „~Queen's bed~“ genannt wird und mit güldenen
Kronen bedeckt ist. Außerdem spukt es noch in diesem durchaus
hochherrschaftlichen Gemach in der beglaubigtsten Weise. Allnächtlich
hört man dumpfe Töne und tiefe, langgezogene Seufzer, während von Zeit
zu Zeit schwere Gegenstände (doch wohl Särge) geschleppt werden. Dies
Alles habe ich auch wirklich gehört, war aber dermaßen von meinen
Cambridger Wanderungen erschöpft, daß ich nach einer gruseligen
halben Stunde wieder einschlief. Feinfühlendere Seelen nehmen das
„~Queen's-Room~-Gespenst“ weniger leicht, und als vor einigen Jahren
ein ehrwürdiger Bischof hier zu Gast war, entdeckte ihn Morgens das
Hausmädchen, wie er mit wild umhergeworfenen Bettsachen da lag, in den
Händen eine große Feuerzange wehrhaft umklammernd!

Von diesem anregenden Zimmer aus sieht man den ummauerten Garten,
den träge vorbeiziehenden Strom, die endlose Reihe schattiger
Parks und alte, sich im Wasser spiegelnde College-Gebäude. Die
Empfangsräume haben monumentale, geschnitzte Kamine, eichene Paneele
und vergilbte, lebensgroße Bilder vergangener Könige, Staatsmänner und
Gottesgelehrten. Von den Erkerfenstern blickt man auf Trinity-Square
mit seinem steinernen, plätschernden Brunnen und großen gothischen
Portalen; gerade gegenüber vom Lodge liegt Newton's einstiges
Zimmerchen, dicht daneben die von Byron und Tennyson und Macaulay und
Thackeray.

In freundlichster Weise hat man mich herumgeführt; ich wohnte
einer Uebung der Ruderer bei, einem ~Football Match~, ließ mir den
Studiengang, die Examina erklären und trank Thee im künstlerisch
raffinirt eingerichteten Zimmer eines Studenten. Recht deutlich
scheint mir hier der Typus des modernen Englands entgegenzutreten, auf
der einen Hand eine alte, verfeinerte Cultur mit ihrem Ballast von
verzopften, von keinen Katastrophen je unterbrochenen Traditionen; auf
der andern Hand die unangekränkelte, naturwüchsige Kraft, welche vor
den Consequenzen der Gegenwart nicht zurückschreckt. Dieses englische
Universitätsleben hat eine ganz eigene Luft; ebenso ausgesprochen
wie bei uns, ist sie doch radical verschieden, und der Contrast
gibt ernstlich zu denken. Ganz gewiß möchte ich das Heimathliche
nicht heruntersetzen, ganz gewiß hänge ich mit ungetrübter Liebe
an meinen Heidelberger und Leipziger Erinnerungen; male ich mir
aber -- von äußerlichen Umständen ganz abgesehen -- die idealste,
wünschenswertheste Existenz für meinen (eventuellen) Herrn Sohn aus, so
könnte nicht unmöglicher Weise die Wahl auch auf Cambridge oder Oxford
fallen!

Vorläufig ist das ja aber eine akademische Erörterung!

Uebrigens habe ich den besonderen Anlaß meines hiesigen Besuches
noch nicht erwähnt: jetzt, zum Semesterschluß, findet die
„Commemoration“-Feier statt, Eltern, Schwestern und Cousinen sind von
weit und breit hergeströmt, das ehrwürdige Cambridge ist ganz frivol.

Gestern Nachmittag zog Alles stromaufwärts; ein dunkler Himmel,
sattgrüne Wiesen, weit ausladende Bäume, ein grauschimmernder,
spiegelglatter Fluß und ein Schwarm von weiß oder bunt gekleideten
Jünglingen. An diesen kräftigen Gestalten in den -- äußerst -- kurzen,
die Farben ihrer Colleges tragenden Rudercostümen, haftete weder
Bücherstaub noch Lampengeruch. Sie erschienen heiter, aber immerhin
der ernsten Bedeutung der Stunde gewahr. Dann ertönten zwei Schüsse,
darauf anschwellendes Jubelgeschrei und die unheimlich langen, dünn und
zerbrechlich aussehenden Rennboote flogen heran. Heiser erklangen die
Befehle und Warnungen des Steuermanns, fast krampfhaft spannten sich
die Züge der Ruderer und mit dem wildesten Freudengeheul ermuthigten
die zu beiden Seiten entlang stürzenden Mitglieder eines jeden College
ihr Boot. Wegen der Schmalheit des Flußbettes ist das Cambridger
Wettrudern ein sogenannter „~bumping race~“.... offengestanden laß
ich mich lieber nicht in weitere Erläuterungen ein. Dazu bin ich
auch wahrscheinlich zu alt. Neben mir prallten zwei kleine zehnjährige
Mädchen in rosa und weißen ~Kate Greenaway~-Kleidchen aneinander.
„~Cain's has bumped King's~,“ rief vor Aufregung stotternd die eine.
„Das dacht' ich mir, es ist entschieden das bessere Boot,“ lautete die
triumphierende Antwort. =So= muß man anfangen.

[Illustration: Das Königinnen Bett in Trinity Lodge]

Heute früh gab es die feierliche Einführung des neuen Kanzlers, des
bekannten Herzogs von Devonshire. Durch das nur dem Monarchen und
dem Kanzler geöffnete steinerne, mit alten Bildwerken geschmückte
Portal fuhr der Herzog in den malerischen Hof von Trinity ein. Es ist
das wichtigste und stattlichste aller Cambridger Colleges und von
Heinrich dem Achten gegründet. An des Kanzlers Seite saß der Herzog
von Edinburg, der zweite Sohn der Königin, welcher jedoch hier in
der Universitätsstadt dem Kanzler den Ehrensitz einräumen muß. Im
großen Saal der Wohnung des Master of Trinity erfolgte dann, was
man auf gut deutsch eine Defilir-Cour, auf gut englisch aber eine
~Levée~ benennt. Vor dem mächtigen Renaissance-Kamin, umgeben von
lebensgroßen nachgedunkelten Bildern vergangener Könige, Königinnen
und Gottesgelehrten stand der neue Kanzler im schleppenden golden und
schwarzen Ornat. Der eigene Vater, seinerzeit der beste Mathematiker
in Cambridge, war sein Vorgänger in dieser Würde, welche nur den
bedeutendsten Mitgliedern des höchsten Adels verliehen wird. Wohl
nie vorher hat sich dieses Ehrenamt vererbt und, da so wie so das
englische Volk seine Herzöge über alles verehrt, wurde in diesen Tagen
das Lob des Hauses Cavendish in allen Tonarten, gereimt und ungereimt,
auf englisch wie auf lateinisch gesprochen und gesungen. Der große,
schlanke, Ende der Fünfziger stehende Mann nahm die Verbeugungen der
in ihren rothen und schwarzen Talaren vorbeiziehenden Doctoren und
Honoratioren mit gewohnter Gelassenheit entgegen. Vor langen Jahren,
bei seiner Jungfernrede im Parlament, hatte er halbwegs innegehalten
und vernehmlich gegähnt. Als seine Freunde ihm dies nachher vorhielten,
meinte er, das Ganze wäre ja doch auch schauerlich langweilig gewesen
-- und greise Politiker weissagten dem Jüngling eine glänzende Zukunft.

[Illustration]

Bald wurde mir aber dieser Akt etwas eintönig und ich schlenderte
nach dem Senatsgebäude, wo die Feierlichkeit stattfinden sollte. Hier
drängte sich bereits eine Menschenmenge auf Tribünen, auf Dächern,
und da mir ein guter Platz im Innern gesichert war, blieb ich
draußen, um das Herannahen des Zuges nicht zu versäumen. Er war auch
recht malerisch: Kanzler, Ehrengäste und Professoren, alle in ihren
schweren Talaren und sammtenen Barretten. Den Schluß bildeten die
berühmten Pedelle, die „Bulldoggen“, in dunkelblauen, goldbetreßten
Mänteln, jeder mit einem schweren, alten Bibelbuch an einer Kette
in der Hand. Nun schlüpfte ich schnell herein. Auf dem Podium die
Honoratioren, unten alle Gattinnen, Mütter, Schwestern und Cousinen,
anscheinend besonders viele dieser letzteren, alle hell und hübsch
angezogen und einige allerliebst. Auf den Gallerien waren die Studenten
zusammengepfercht und diese sorgen nach uraltem Herkommen für
Abwechslung und Zerstreuung. Jede bekannte oder irgendwie auffallende
Persönlichkeit wird mit lautem Beifall oder Jodeln begrüßt. So nötigte
ein minutenlanges Getöse und „Hutab“-Rufen einen hereingeschneiten
indischen Prinzen, in blausammtenem Rock und goldbesticktem Turban,
sich in die entlegenste Ecke des Saales zu verziehen, hingegen
verursachte eine schlanke, weißgekleidete, ungewöhnlich hübsche
Erscheinung „~three cheers for the young lady in white~“.

Nun aber begann der Festredner mit seiner lateinischen Begrüßung
des Herzogs von Edinburg, des ersten der heute zu promovirenden
Ehrendoctoren. Nach seiner Ansprache geleitete er den Prinzen zu dem
in der Mitte thronenden Kanzler, welcher ihm mit einer lateinischen
Formel die Hand zum Willkommen reichte. Dieses wiederholte sich
über ein Dutzend Mal, aber die Würdenträger beherrschten keineswegs
die Situation; trotz des Kanzlers und der Pedellen, trotz aller
scharlachgewandeten Honoratioren, trotz des tönenden Schwunges dieser
vollen lateinischen Sentenzen -- den Ton gaben die Gallerien an.
Besonders dornig ist das Amt des Redners. Alle Augenblicke hieß es:
„Grade stehn -- Lauter sprechen -- Haben wir bereits mehrfach gehört --
Nur gemüthlich bleiben“; bei einem etwaigen Versprechen kann sich die
Freude all dieser Studenten mit den knabenhaften, frischen Gesichtern
und ihren ehrbaren Talaren kaum halten. Der königliche Prinz wird
mit loyalem, minutenlang anhaltendem Beifall begrüßt, aber auch bei
Chamberlain's Auftreten ertönt ein Freudengeheul. Nachdrücklichst
bittet die Gallerie den Festredner zu schweigen und „unserem Joe“
das Wort zu überlassen, als die Schwäche des Staatsmanns für seltene
Orchideen erwähnt wird, erneut sich der Jubel. Sein fortschrittlicher
Nebenbuhler, John Morley, wird ebenfalls freundlich begrüßt, nur
scheint sein Auftreten die Herren Studenten humoristisch zu berühren.
„Wackle nicht -- Ruhig stehn -- Vergnügter aussehn“ ertönt es von
oben; als er sich vor dem Kanzler verbeugt, hört man ein lautes
„Küß ihn doch“, wobei unwillkürlich die hohe Gestalt des Herzogs
sich emporreckt. Schließlich wurden die preisgekrönten Gedichte von
den sorgfältig angezogenen, reingewaschenen Dichtern höchsteigen
vorgetragen. Es war jedoch dermaßen wohlgesetzt und selbstverständlich,
daß sogar der Eifer der Gallerien erlahmte. Die -- recht lange --
lateinische Ode wurde mit den allerneuesten Witzchen ausgesprochen,
nicht nur „Kikero“ sondern „~uictoria~“. Dies ist ein unerhörter Bruch
mit der Vergangenheit, denn im Allgemeinen wird hierzulande griechisch
und lateinisch, als wäre es das biederste Englisch gesprochen.

Nachmittags traf man sich wieder in einem der großen, schattigen
College-Gärten. Mit gewohnter Königstreue hingen die Blicke Vieler an
jeder Bewegung des Prinzen; andere Menschen lustwandelten zwischen
den blühenden Sträuchern oder bewunderten die vielen hübschen
Erscheinungen, deren helle Kleider selbst gegen die imposante Pracht
der blutrothen Talare aufkommen konnte. Zwei einheimische Damen
wurden viel bemerkt. Die eine war meine gütige Wirthin, die Gattin
des ~Master of Trinity~; aus vornehmer schottischer Familie stammend,
hatte sie unlängst, als einundzwanzigjähriges junges Mädchen, im
großen philologischen Examen, an welches sich immer nur Wenige
heranwagen, ihre sämmtlichen männlichen Nebenbuhler geschlagen, und
zwar dergestalt, daß sie sich als Einzige in der ersten Abteilung
befand. So war plötzlich ihr Name in Jedermanns Mund, die „Times“
brachte einen Leitartikel und die Königin schenkte ihr ein Armband.
Aehnliches Aufsehen erregte vor kurzem die zweite junge Dame, welche,
weißgekleidet, sich mit Bekannten unterhielt. Das Ergebniß der Examina
wurde öffentlich verlesen, die Liste der Männer war beendet, nun begann
die der Frauen, und unter stürmischem Beifall wurde verkündet, daß Miß
Fawcelt sich die erste Stelle in Mathematik erobert habe, der „~Senior
Wrangler~“ des Jahres sei. Jetzt unterrichtet sie an einem der beiden
Cambridger Frauen-Colleges.

Unlogischerweise nahmen jedoch auch die berühmtesten weiblichen
Leuchten der Universität an dem abendlichen Festessen keinen Theil!
=Sonst= war es ja ein sehr schöner Anblick. In der mittelalterlichen
Halle von Trinity saßen die echten, wie die neugebackenen Doctoren
an langen eichenen Tischen. Ueber den Häuptern tief nachgedunkeltes
Gebälk; rings herum alte Bilder der berühmten Vorgänger. Durch
Spitzbogenfenster sah man auf den großen historischen Hof und jenseits
vom plätschernden, mattbeleuchteten Springbrunnen wies man mir ein
Fenster, dort hatten ihrerzeit Sir Isaac Newton, Macaulay und Thackeray
als Studenten gewohnt.

Ich weiß nie recht, ob mir England fortschrittlich modern oder
traditionsvoll uralt erscheinen soll. Es ist Beides in so
hervorragendem Maß!

Herzliche Grüße an Alle -- treulichst

    Euer

    Udo.



XII.


    Noxcombe Castle, Buckinghamshire.

    Liebe Eltern!

Hier bin ich seit vorgestern bei Sir Arthur und Lady Ascard, dem jungen
Ehepaar, mit welchem ich in Tarasp so viel verkehrte und das mich so
freundlich nach England einlud.

Sie müssen verboten reich sein, und zwar stammt das Vermögen von
ihr, der Erbin eines großen Fabrikherrn, welcher in der Gesellschaft
sehr bekannt war und, wenn er noch lebte, sicherlich Pair des
Reiches sein würde. Sir Arthur ist der jüngere Sohn einer guten,
alten Buckinghamshire-Familie und wurde kürzlich vom conservativen
Ministerium durch den Baronetstitel für seine Bemühungen und Geldopfer
während der Wahlen belohnt.

Das von seinem Schwiegervater hinterlassene Noxcombe Castle ist
äußerst anspruchsvoll, feudal und luxuriös. Von einer Anhöhe herunter
beherrscht es, im ungeheuren Park stehend, die ganze Grafschaft;
selbstverständlich ist es gothisch, und zwar in der Gothik der
sechziger Jahre gebaut. Wenn man etwas näher zusieht, unterscheidet
man in England etwa ein halbes Dutzend imitirt gothischer Stilepochen
des neunzehnten Jahrhunderts. Hier und da reißt schon diese Generation
die jetzt theaterdecorativ erscheinenden Thürme und Burgen der
Großväter nieder. Was wird sich erst das zwanzigste Jahrhundert an
diesen Similistilen erfreuen! Häßlich sind die Gebäude aber ganz und
gar nicht, sondern haben meistens einen entschieden malerischen,
flotten Zug und bekommen in diesem Klima eine feine Patina, welche sich
harmonisch mit dem Epheu verbindet. Die Einrichtung ist selbst für
hiesige Begriffe ganz ungewöhnlich prächtig, die kostbarsten Gemälde,
Bücher und Raritäten aller Art füllen die schönen, großen Wohnräume und
fluthen in die Gänge und Schlafzimmer über.

Die anwesenden Gäste bestehen aus vier verhältnißmäßig jungen
Ehepaaren, einer im ungewissen Alter stehenden schönen Strohwittwe mit
unverheiratheter Schwester und drei bis vier Herren. Alle sind sehr
elegant, sehr ungezwungen, sehr lustig und ziemlich laut. Sie gehören
anscheinend zu den Kreisen innerhalb der Londoner Gesellschaft, die
bei Newmarket am meisten wetten, in denen eine gewisse hochgestellte
Persönlichkeit sich besonders wohl fühlt und welche für die Erhaltung
der nationalen altenglischen Ehescheidungs-Scandalprocesse sorgen.

Gleich nach unserer Ankunft fuhren wir im vierspännigen Coach und zwei
Landauern in das nächste Städtchen zu einer landwirthschaftlichen
Ausstellung, wo Sir Arthur Vorsitzender ist und Lady Ascard die Preise
vertheilte. Obgleich viele Familien der Umgegend dort waren, hielt
unsere entschieden auffällige Gesellschaft fest zusammen und trug
vermuthlich lebhaft zur Unterhaltung der Mitmenschen bei. Die Ascards
geben der Nachbarschaft alljährlich einige „Abmachungsfeste“, pflegen
eigentlichen Umgang aber nur mit ihrer ins Haus geladenen Londoner
Clique, welche vielleicht etwas „gemischt“, aber äußerst Chic ist und
dieselben Interessen, respective denselben Interessenmangel bekundet.

Gestern früh meinte einer der älteren Gäste, man müsse mir doch
Richbourne Cathedral oder Stradford-on-Avon zeigen; aber sofort hieß
es einstimmig, Sehenswürdigkeiten seien schaurig stumpfsinnig, in
Wirklichkeit möge sie auch Niemand, höchstens thäten Amerikaner und
Spießbürger so, als ob es sie interessire. Natürlich winkte ich ab,
und man unternahm ein großes Wettschwimmen im See. In winzigen Booten
saßen je ein Herr im Tennisanzug und eine Dame im kurzen Badekleid
und rothen Strümpfen; auf ein gegebenes Zeichen wurden die Boote
umgekippt, und man schwamm so gut man konnte nach der Landungsbrücke,
wo die übrige Gesellschaft sich auf die Planken lagerte. Der Spectakel
war colossal, vermuthlich hörte man uns meilenweit. Meine Partnerin,
die berühmt schöne Mrs. Simpkinson, Strohwittwe von Beruf, verlor
den Athem oder den Kopf, und ich hatte die Ehre, ihre nasse Gestalt
in meinen Armen an das Ufer zu tragen. Nachher waren wir Alle etwas
kalt, und so schlug man Sacklaufen vor. Dieses hatte einen ungeheueren
Erfolg, wahrscheinlich auch bei den in der Nähe arbeitenden Gärtnern
und den ernsten, reich betreßten Dienern, welche im Hintergrunde auf
der Terrasse den Theetisch deckten. Wir stolperten und purzelten,
erreichten aber schließlich Alle das Ziel, wo Preise vertheilt wurden;
wir Herren erhielten Photographien von Lady Ascard im Odaliskencostüm,
und für die Damen hatte man alte silberne Nadeln und Spangen aus den
Bric-à-Brac-Sammlungen des Hauses geholt.

Als wir so schön in der Stimmung waren, erschien in der Ferne auf der
hinteren Allee ein Fleischerwagen, der mit Begeisterung herangerufen
wurde. Der blaubekittelte Geselle mußte aussteigen; wir kletterten
hinauf, zwängten uns knäuelartig in die Bänke, wippten auf den Rädern
oder ritten zu Dreien auf dem überraschten Gaul. Sir Arthur schleppte
seinen photographischen Apparat heran und ermahnte uns pathetisch zur
Einkehr und Sammlung. Das Resultat wird aber die bei Dilettantenbildern
übliche Gruppe ältlicher, grinsender Mulatten sein, und Ihr müßt mir
auf mein Ehrenwort glauben, wie niedlich wir uns machten. Auf dem
vordersten Sitz ist Lady Ascard, welche sich an Colonel Fitzstuart's
Schulter klammert, von Charlie Israels (Sohn des bekannten Sir Abraham
Israels), der im kritischen Augenblick rücklings in den Wagen sank,
erblickt man nur die gen Himmel gestreckten Beine.

Abends wurden Roulettetische hereingetragen, man setzte bedenklich
hoch, und anfänglich ging es mir schlimm. Schon drohte meinem
englischen Aufenthalte eine vorzeitige Kürzung, da klärte sich die
Lage, und ich kam mit einem blauen Auge davon. Mrs. Simpkinson spielte
wie eine Besessene, hatte natürlich keinen Heller bei sich, was dem
neben ihr sitzenden jungen Lord Caldoun theuer zu stehen kam und ihm
später im Rauchzimmer einige lieblose Aeußerungen entlockte. Sir
Arthur hielt die Bank und gewann, wie ebenfalls nachher bei der Cigarre
berechnet wurde, genug, um die Unkosten der heutigen Bewirthung zu
decken....

So weit hatte ich gestern Abend geschrieben; jetzt beim Ueberlesen
berührt mich, und vielleicht auch Euch, ein gewisser Mangel an Pietät
gegen meine Gastgeber. Aber man muß auch nicht allzu „geschwollen“
thun; in Tarasp war ich zufällig der einzig „mögliche“ Verkehr für Lady
Ascard, welche ohne Herrengesellschaft einfach umkommen würde. Nun, da
sie das Haus voll Gäste hatten, war ich ganz gut zu gebrauchen, sie
luden mich ein, und ich bin ihnen aufrichtig dankbar für die erwiesene
Freundlichkeit, ohne mich deswegen in zu patriarchal gefühlvollen
Gesinnungen zu ergehen. Seitenstücke zu dieser „~fast London set~“
gibt es in jedem Lande; unsere guten Massenstein's und Bornekow's z.
B. würden sich hier außerordentlich gefallen, und wenn das Treiben
mir nicht so recht zusagen will, ist das eine ganz persönliche
Geschmacksverirrung.

Hoffentlich geht es Euch Allen und auch Eurer Gesundheit so gut wie
mir, dank Mama's geliebten Matteimitteln, die, unberührt im Koffer
liegend, mich wahrscheinlich vor manchem Uebel bewahrt haben. Ich küsse
ihr die Hand und bin herzlichst

    Euer

    Udo.



XIII.


    Richbourne.

    Liebe Eltern!

Um Gotteswillen laßt diesen Brief nicht herumliegen, für Thilda ist er
auch nicht bestimmt, doch muß ich mir die gestrigen Ereignisse von der
Seele herunterschaffen.

Heiterer und ungebundener als je war es zugegangen. Erst spielten
Lady Ascard, Mrs. Simpkinson und Charlie Israel einen ebenso witzigen
wie gewagten Einacter auf der kleinen Bühne, nachher sang Lady Ascard
einige recht freimüthige Yvette Guilbert'sche Lieder. Sie hat wenig
Stimme, aber einen kecken, geistvollen Vortrag, und „~ma p'tit sœur~“
mußte sie später, auf dem Billardtisch stehend, wiederholen. Ihr Gatte
begleitete sie auf seiner Banjoguitarre; frenetisch war der Beifall der
Herren, nur Colonel Fitzstuart lächelte verlegen -- mir wurde es schwül.

[Illustration]

Als wir gegen zwei Uhr Morgens in unser Zimmer gelangten, konnte und
konnte ich nicht einschlafen, blätterte vergebens in den herumliegenden
Büchern nach etwas Lesbarem und wollte schließlich hinuntergehen, um
mir aus der Bibliothek ein angefangenes Heft der ~Nineteenth Century~
zu holen. Auf dem oberen Treppenflur angelangt, hörte ich plötzlich
in der dunkeln Einsamkeit des nächtlichen Hauses heftige Stimmen, einen
Aufschrei -- dann wieder lautlose Stille. Verdutzt blieb ich stehen;
es schellte -- nach einer langen Minute eilten Tritte über die Halle,
Thüren wurden geöffnet und eine Stimme gab Befehle. Dann unterschied
ich die Schritte mehrerer Menschen, schwere, regelmäßige Schritte,
als schleppe man eine Last; die Treppe besteigend, näherten sie sich,
zwei Diener trugen den Colonel Fitzstuart, sein Gesicht war blaß und
verzogen, bei der Wendung der Treppe zuckte er mit leisem Aufschrei
zusammen. „Langsam, langsam, so seid doch vorsichtig,“ mahnte der den
Zug beschließende Sir Arthur; aber im nächsten Augenblick fiel ein
haßerfüllter Blick auf den Colonel -- ich sah es wohl. Unschlüssig
blieb ich stehen, jetzt erkannte mich der Hausherr und fuhr etwas
zurück. Mit möglichst harmloser Stimme erklärte ich meine Absicht, ein
Buch von unten zu holen und bot meine Hülfe an. „Es ist weiter nichts,“
erwiderte er trocken, „nur ein Fehltritt im Dunkeln gegen die Stufen
im Erkerzimmer.“ Fitzstuart sah mich feindselig an und fluchte ganz
leise vor sich hin. Ich wünschte verlegen recht baldige Besserung und
ging die Treppe hinunter, nach der Bibliothek zu, um meine vorigen
Worte nicht Lügen zu strafen. Als ich zurückkehrte, war die Thür des
Erkerzimmers halb geöffnet; da stand Lady Ascard im ausgeschnittenen
Spitzenkleid mit all' ihren funkelnden Diamanten und starrte aschgrau
und verstört nach der Treppe hinauf.

Meine Nachtruhe war recht mäßig, und zwar keineswegs nur wegen der
oftmals vernehmbaren Schritte und Stimmen im Flur. Um sieben Uhr
hielt ich meine Ungeduld nicht länger zurück und klingelte. Nachdem
ich mir heißes Wasser erbeten, fragte ich ganz unschuldig, ob Jemand
heute Nacht über erkrankt wäre und hörte, daß der Colonel im Dunkeln
gestürzt sei, und daß der herbeigezogene Doctor einen langwierigen,
aber ungefährlichen Schenkelbruch constatire. Ich zog mich an, um
frische Luft im Garten zu schöpfen. Auf dem Flur überhörte ich, wie
ein Dienstmädchen dem anderen erzählte, Sir Arthur hätte im rothen
Thurmzimmer geschlafen und ließe sich seine Sachen dorthin und nicht
ins Ankleidezimmer bringen; vor den Ställen bemerkte ich Gruppen von
Reitknechten und Dienern im lebhaften Gespräch.

Als ich durch die Rosenbeete schlendernd nach der Vorderseite des
Schlosses herumkam, fuhr ein Jagdwagen mit Gepäck und einer Jungfer
an mir vorüber, und vor der Hausthür erblickte ich Lady Ascard's
schimmelbespannte Victoria. Instinctiv wußte ich, wer jetzt --
auf immer -- ihr Heim verließ. Am Dienerschaftsflügel erschienen
erschrockene Frauengesichter an den Fenstern, durch die offene
Hallenthür erkannte ich den Haushofmeister und die Wirthschafterin,
welche augenscheinlich mit ihrer Herrin sprachen -- sie hat eine sehr
freundliche Art und Weise mit ihren Leuten. Dann trat sie hastig und
sicher über die Schwelle, bestieg den Wagen und lehnte sich in die
Kissen zurück. Die Pferde zogen an, da erschien am offenen Fenster die
~Nurse~ mit den drei kleinen Kindern; einen Augenblick sah Lady Ascard
hinauf -- wie sie an mir vorüber fuhr, starrte sie leichenblaß vor sich
hin; ich grüßte, aber sie erkannte mich nicht. Die Kinder klatschten
in die Hände und kreischten vor Freude: „Mama, Mama!“ Ich will offen
gestehen, daß ich mich hastig wegwandte.

Um halb zehn läutete es zur Hausandacht, welche Sir Arthur mechanisch
verlas; alle Gäste hatten sich schon vorher eingefunden, während man
sonst erst zwischen zehn und elf allmälig zum Frühstück nachgezügelt
erschien. In den Fenstervertiefungen standen kleine Gruppen mit
möglichst nichtssagenden Gesichtern und unterhielten sich leise. Beim
Frühstück erstrebte man einen denkbarst harmlosen Ton und besprach
auffallend eingehend das Wetter. Der Sturz des armen, guten Colonel
wurde lebhaft beklagt, wie auch die plötzliche Abberufung der lieben
Lady Ascard nach London, und Alle, ohne Ausnahme, brachten ihre
einleuchtenden Gründe hervor, weshalb es ihnen ganz besonders bequem
wäre, gerade heute Noxcombe Castle zu verlassen. Auch ich erwähnte
Freunde, die mich eigentlich jetzt bereits dringend erwarteten,
telegraphirte den Farringham's, ob sie mich empfangen würden und bleibe
hier in Richbourne, bis ich ihre Antwort erhalte; paßt mein Besuch
ihnen jetzt nicht, so reise ich weiter nach London.

Wenn ich aber noch viel länger schreibe, könnte ich am Ende in
sittenpredigende Gemeinplätze verfallen und höre besser auf.

    Euer treuer

    Udo.



XIV.


    Richbourne.

    Liebe Eltern!

Von den Farringham's erhielt ich ein liebenswürdiges Telegramm; sie
waren auf einige Tage verreist, kehren aber heute nach Harting Hall
zurück, wo ich denn Abends auch eintreffen werde.

Gestern war ich am Bahnhof, um nach einem verlornen Gepäckstück
zu forschen, und stieß unvermuthet auf Lord Caldoun, der in der
schlechtesten Laune den arg verspäteten Londoner Zug erwartete.
In Noxcombe Castle hatte er mir von Allen am besten gefallen;
leichtsinnig ist er zwar gehörig, doch läßt sich seine Vorliebe
für Theaterdamen und verheirathete Frauen vielleicht durch die
raffinirten Nachstellungen sämmtlicher Mütter und Töchter der Londoner
Gesellschaft entschuldigen. Mit Sir Arthur ist er nahe befreundet und
blieb nach dem Abzug aller übrigen Gäste zurück. Wir gingen einträchtig
auf und ab, schließlich fragte ich ihn ganz direct: „Sie wissen, daß
ich es gut mit den armen Ascard's meine; sagen Sie mir aufrichtig,
was wird nun daraus. Ist ein Duell denn gänzlich ausgeschlossen?“
Ueberrascht sah er mich an und antwortete nach einigen Secunden: „Ich
glaube es Ihnen sagen zu können. Nein, ein Duell ist rein undenkbar,
das kommt Niemandem in den Sinn; käme aber Jemand auf eine uns so
theatralisch erscheinende Idee, so würde die Gesellschaft ihn nicht
nur verdammen, sondern ins Lächerliche ziehen. Was ich aber befürchte,
ist eine Ehescheidungsklage, und das wäre haarsträubend. Um Gottes
Willen, was könnte man nicht Alles ans Licht ziehen! Ich, alle übrigen
Hausfreunde, die ganze Dienerschaft würden eidlich verhört werden; bis
an die Shetlandinseln, bis Melbourne, bis San Francisco würde sich
jeder Gassenjunge an den wortgetreuen, spaltenlangen Zeitungsberichten
erbauen! Sie kommen ja glücklicherweise keineswegs in Betracht,
überhaupt ahne ich nicht, woher Ihre Sachkenntniß stammt?“ Wohlweislich
hüllte ich mich in diplomatisches Schweigen, und zu tactvoll, um näher
zu fragen, erzählte er mir weiter: „Ich habe mein Möglichstes gethan,
um ihn zu einer gutwilligen Trennung zu bewegen, habe an beiderseitige
Verwandte telegraphirt und soll Lady Ascard morgen in London sprechen;
ein schlimmer Gang! Die arme, kleine Nelly, wie fidel war sie noch
gestern! Arthur Ascard würde natürlich die Kinder behalten, für die
Frau mit ihrem großen Vermögen bleibt dann immerhin noch Florenz oder
Homburg oder Monte Carlo. Der Fitzstuart wird in Noxcombe Castle noch
mindestens drei Wochen in Gips und Gewissensbissen liegen, und wenn
er auch selbstverständlich auf das Beste verpflegt wird, wäre ihm ein
Armenspital wahrscheinlich sympathischer.“ Dann trank Caldoun, vom
ungewohnt langen Sprechen ermüdet, einen ~Brandy and Soda~, kaufte sich
acht verschiedene Zeitungen, illustrirte Blätter und Wochenschriften,
um die dreistündige Reise nach London zu ertragen, schimpfte auf die
verrottete Eisenbahngesellschaft und bestieg dann mit herzlichem
Händedruck und der Einladung, nächstes Jahr mit ihm Elkhirsche in
Canada zu jagen, den Pullmancar des endlich angelangten Zuges.

Ich verlebte einen einsamen, tristen Abend im kleinen Gasthof -- so
schroff es klingen mag, eine englische Provinzialstadt ist factisch
noch um Mehreres langweiliger als anderswo. Allerdings entschädigten
mich heute einige Stunden in und um die wahrhaft einzig stimmungsvolle,
ehrwürdige Cathedrale, und meine Camera und meine Gedanken leisteten
mir Gesellschaft. Doch freue ich mich herzlichst, von hier
fortzukommen, freue mich auf heute Abend und den Familienkreis im
gemüthlichen Harting Hall. Von dort das Weitere; an alles Grüßbare
Grüße von

    Eurem liebenden

    Udo.

[Illustration: Klostergang in der Kathedrale]



XV.


    Harting Hall.

    Meine liebste, beste Armgard!

Jetzt wirst Du aber hohnlachen! Dieses einzige Mal hast Du nämlich
mit Deinen, im Uebrigen gänzlich unmotivirten Anspielungen das Rechte
getroffen. Es läßt sich nicht leugnen, daß ich mich für Agneta
Farringham interessire und sie zu heirathen wünsche. Meine vorigen,
diesbezüglichen Ausführungen halte ich zwar noch ebenso aufrecht,
sie ist ein zu verwöhntes Mädchen, die Verhältnisse sind allzu
verschieden -- aber -- trotzdem! Du weißt, wie ich Phrasengeklimper
verabscheue; jedoch habe ich die Agneta wirklich von Herzen gern, ich
bewundere ihre anziehende sympathische Erscheinung, ich bewundere
ihren festen, ehrlichen, vorurtheilslosen Charakter. Die Eltern haben
mich freundlich, ja herzlich empfangen, zum ersten Male zeigte Agneta
einige Befangenheit, und wenn Du mich nicht für zu eitel hältst,
dürfte ich hinzufügen, eine kleine Bewegung bei meiner Ankunft. Mr.
Farringham frühstückte auf der Durchreise im Club mit Hoyen und hat
sich zweifellos eingehend über meine äußeren Verhältnisse erkundigt. So
weiß er, daß ich, obwohl jetzt in bescheidener Lage, doch bestimmt auf
ein nach deutschen Begriffen großes, nach englischen Begriffen immerhin
genügendes Vermögen zu rechnen vermag. Agneta würde wohl vom Vater
eine angemessene Zulage bekommen, ist aber keine eigentliche „Partie“,
so daß man mich Gott sei Dank nicht zu den vom Ausland hergereisten
Erbinnenjägern zählen könnte, und aus gleich guter Familie sind wir ja
beide.

Heute Abend wäre es fast zur Erklärung gekommen, doch hatte man
unseliger Weise die Pastorsfamilie zu Tisch geladen. Während die braven
Töchter des Reverend vierhändig spielten, konnte ich den Augenblick
benutzen; ich stand neben Agneta in einer dunklen Ecke und bemerkte,
wie ihre Hände zitterten; aber die Mädchen spielten zu aggressiv, zu
haarsträubend schlecht und brachten mich gänzlich und complet aus der
Fassung!

[Illustration: Im Harting Hall Garten]

So stehen also vorläufig die Sachen, und nun, liebste Armgard, sei
recht nett gegen mich und mache bei den Eltern wie beim Onkel ganz
gehörig Stimmung, falls möglicher Weise eine Verlobungsnachricht
eintreffen sollte. Sie wird Dir ausnehmend gefallen, nämlich die
Schwägerin, gerade Du wirst besonders gut zu ihr passen. Ich umarme
Dich von Herzen.

    Dein treuer

    Udo.



XVI.


    Harting Hall.

    Liebste Armgard!

In fliegender Hast einige Worte, die Dich hoffentlich gleichzeitig mit
meinem Brief von heute Morgen erreichen. Bitte, betrachte letzteren
voreiligen Erguß als nie geschrieben, als nicht existirend -- es ist
ganz, ja gänzlich anders gekommen.

Kismet!

Dein philosophisch gefaßter, aber doch recht begossener

    Udo.



XVII.


    Harting Hall.

Du wirst wissen wollen, liebe Armgard, wie und warum es so kam.

Gestern früh war ich eingeladen worden, mit den Willoughby Greene's zu
frühstücken und einige Musterfarms zu besichtigen. Erst gegen fünf Uhr
konnte ich mich loseisen, verließ zu Anfang des Parks meinen kleinen
Selbstfahrer und ging etwas sentimental bewegt im Gefühl, daß „es“
heute zur Sprache kommen müsse, durch den Garten aufs Haus zu. Die
großen Saalthüren stehen offen, ich trete hinein: das Farringham'sche
Ehepaar sitzt gerührt auf dem Sopha, und Agneta lehnt sich verklärt an
die Schulter eines mir den Rücken zukehrenden Mannes! Eine peinliche
Stille entsteht, Agneta fährt zurück und wendet sich ab, das fremde
Individuum beugt sich über einige auf dem Tisch stehende Photographien,
Mr. Farringham bekommt einen heftigen Hustenanfall, er verschwindet
mit würdeloser Eile, nur die Hausfrau faßt sich, kommt mir ruhig
und freundlich entgegen und stellt mir Mr. Ranleigh Barton, den
Bräutigam ihrer Tochter, vor. Der Raum, die Leute, Alles kam mir einen
Augenblick sehr fremdartig vor; ich verbeugte mich tief gegen das Paar,
sagte einige Glückwünsche her und verließ das Zimmer. Oben bei mir
angekommen, warf ich mich in einen Stuhl, ergriff ein Buch, versuchte
zu lesen, kam aber mit dem besten Willen nicht über die erste Seite
hinaus. Nach einiger Zeit -- ob nach einer halben oder ganzen Stunde,
ahne ich nicht -- klopft man; ich rufe „herein“, da steht Agneta in der
offenen Thür! Wir errötheten beide, sie stammelte und stockte und bat
mich schließlich, ihr in den Garten zu folgen.

[Illustration]

Schweigsam gingen wir die Treppen hinunter und schweigsam über den
Rasen nach den hohen, dunkeln Taxushecken, welche in verschlungenen
Wegen die üppig durcheinander blühenden Blumenbeete umgeben. Das
Sprechen schien ihr schwer zu fallen; endlich begann sie mit unsicherer
Stimme, sie wünsche gerade mir aufrichtig und offen zu sagen, wie es
mit dieser plötzlichen Verlobung stehe. Vor acht Jahren hatte sie
ihren Bräutigam bei dessen Vetter, dem Staatsminister Ralph Barton,
getroffen, er war dort als Privatsecretär angestellt und hatte seine
junge Frau soeben in einer Anstalt für unheilbare Geisteskranke
untergebracht. Bald entdeckten er und Agneta gemeinsame Anschauungen,
Interessen und Bestrebungen, und sie wurden eng befreundet; da auf
einmal vermied er, ihr zu begegnen, und sie ahnte und billigte die
Ursache. Er ließ sich nach Australien versetzen, lange Zeit über
vernahm sie kein Sterbenswörtchen von ihm, dann, vor wenigen Jahren,
erhielt sie einen im ruhigen, kameradschaftlichen Ton ihrer ersten
Bekanntschaft gehaltenen Brief, und nun schrieben sie sich von Zeit zu
Zeit über ihre Beschäftigungen, über neue Bücher, über die Anregungen
des Tages. Die einstige, nie gestandene, von beiden befürchtete Gefahr
schien so vollständig vorüber, als wäre sie nie gewesen. Sie zögerte.
„Ich betrachtete ihn als meinen wahren, aufrichtigen Freund, der sich
ebenso über meine eventuelle Verlobung gefreut hätte, wie ich, wenn
seine Frau genesen, zu ihm heimgekehrt wäre. Vor drei Monaten ist
die Aermste, ohne daß wir es bis heute erfahren haben, gestorben,
und sobald er sich frei machen konnte, verließ er Australien. Erst
wollte er mir von dort aus seine veränderte Lebenslage mittheilen,
zog dann vor, allmälig zu sehen, wie die Sachen bei uns ständen, kam
aber schließlich, einem plötzlichen Drange folgend, gleich nach seiner
Ankunft, unangemeldet, vor einigen Stunden hier an... Es hat sich
dann gleich gemacht... Ich glaube gar nicht, daß Sie sich vorstellen
können, wie glücklich wir sind!... Es lag mir besonders daran... gerade
Ihnen... dies Alles zu sagen.“ Schweigend hatte ich zugehört, während
sie mir dies mit ruhiger, etwas befangener Schlichtheit erzählte; jetzt
schüttelten wir uns lange, herzlich und ausdrucksvoll die Hände, worauf
sie mich verließ und nach Hause ging.

Anstandshalber konnte ich meinen Rückzug nach London nicht allzu
hastig ergreifen; doch möchte ich kaum behaupten, daß der gestrige
Abend übertrieben gemüthlich gewesen sei. Mrs. Farringham war zwar
reizend tactvoll und aufmerksam, und nach Tisch entführte mich der
Hausherr zu einer Partie Billard. Während er anschrieb und mir den
Rücken zuwendete, sagte er nach einigem Räuspern, seiner Ansicht nach
hätte Agneta mich recht schlecht behandelt; doch habe sie mir wohl
selber Alles auseinandergesetzt; im Uebrigen wäre ich ein „~first rate
fellow~“. Mit diesem, in Mr. Farringham's Mund fast überschwenglich
erscheinenden Lob schloß seine erste und letzte vertrauliche
Mittheilung.

Begreiflicherweise sah ich mir den Barton mit nicht ganz unkritischen
Augen an und gestehe offen, daß es mich ein klein wenig freute, weit
größer, vielleicht auch etwas hübscher als er zu sein. Doch kann ich
wiederum nicht leugnen, daß er einen angenehmen, intelligenten Eindruck
macht; was er bei Tisch über australische Verhältnisse erzählte,
hatte durchweg Hand und Fuß und wurde mit angemessener Bescheidenheit
vorgetragen. Ja, ich will noch ein weiteres Zugeständniß machen
-- Agneta und er passen ganz selten gut zu einander, erscheinen
unglaublich glücklich, wenn auch, Gott sei Dank, in weniger
demonstrativer Auffälligkeit als es in Deutschland üblich.

Meine Gefühle haben einen mich selbst auf das Höchste überraschenden
platonischen Anstrich erhalten. Augenscheinlich bin ich ein furchtbar
nüchterner Mensch, denn in allen anständigen Romanen und Trauerspielen
trifft regelmäßig das genaue Gegentheil ein -- aber ich muß ehrlich
gestehen, daß ihre offenkundige Liebe zu einem Anderen in mir eine
entschiedene Gelassenheit neben aller ungeminderten bewundernden
Achtung für sie hervorruft.

Noch immer glaube ich, daß wir beide eine wirklich ganz glückliche Ehe
hätten eingehen können; das reiche, volle Verständniß dieser beiden
gleichgearteten, gleichgesonnenen Wesen wäre uns aber nie in dem Maße
zu Theil geworden, wird gewiß nur den Wenigsten zu Theil.

Auch ist mein Leben noch nicht abgeschlossen, ich ahne nur klarer als
früher, was möglich, was erreichbar sein könnte -- wer weiß!

    Dein treuer

    Udo.

[Illustration]





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