Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Aus dem Reiche des Buddha - Sieben Erzählungen
Author: Dahlke, Paul
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Aus dem Reiche des Buddha - Sieben Erzählungen" ***


  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1913 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
    Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und
    altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
    unverändert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert.

    Das Original wurde in Frakturschrift gedruckt; besondere
    Schriftschnitte wurden in der vorliegenden Fassung mit den
    folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet:

        gesperrt: +Pluszeichen+
        Antiqua: ~Tilden~

  ####################################################################



                                Aus dem

                           Reiche des Buddha

                          Sieben Erzählungen
                           von Paul Dahlke.

                            [Illustration]

                             Breslau 1913.

                           Walter Markgraf.



                       Alle Rechte vorbehalten.


             Titelzeichnung von Bruno Steigüber, Breslau.



Inhaltsverzeichnis.


                                       Seite

    Suriyagodas Erwachen                   1

    Nala, der Schweiger                   45

    Il Penseroso                          62

    Die Liebesgabe                        86

    Helene van Hoeven                    113

    Valmikas Hängen                      192

    Der heilige Kreis                    200



[Illustration]



Suriyagodas Erwachen.


Wie der Mönch Suriyagoda in weltlichem Stande geheißen habe, ehe er in
den Orden des Erhabenen getreten war, dessen wußte sich niemand mehr zu
entsinnen. So lange lebte er schon im Orden. Auch über sein Alter wußte
niemand etwas sicheres. Kopf und Gesicht trug er stets glatt geschoren,
auch seine Haltung war stets aufrecht. Trotzdem behaupteten manche, daß
er das achtzigste Lebensjahr längst überschritten habe, und daß es die
Strenge und Leidenschaftslosigkeit seines Lebenswandels sei, die ihn
über das Alter siegen lasse.

Er war von einer wahrhaft vollendeten Magerkeit, und sein Auge
leuchtete in einem so gleichmäßig milden und doch so starken Glanze,
daß alle, die ihm nahe kamen, eher einen verklärten Geist als einen
unreinen Körper zu sehen meinten.

Auch stand er längst im Geruche, die Arahatschaft erreicht zu haben,
zur Einsicht gekommen zu sein: „Dieses ist meine letzte Geburt; nie
wieder werde ich auftauchen im Strudel des Samsara.“ Er selber freilich
hatte nie auch nur eine Andeutung darüber gemacht. Denn daß einer sich
seiner höheren Einsichten rühmt, anderen oder sich selber gegenüber,
das gibt es nicht im Orden des Erhabenen.

Seine Klause lag abseits von den anderen, auf dem Wege zum At-Vihara,
und wenn die Gläubigen an Mahasāya-Dagoba angebetet hatten und zum
At-Vihara hinaufgingen, so pflegten sie auch vor seiner Schwelle Blüten
vom Tempelbaum niederzulegen. So groß war der Ruf seiner Tugend und
Weisheit.

Mit Suriyagodas Erwachen war es merkwürdig zugegangen. Freilich ist das
innere Erwachen der Menschen stets das Merkwürdigste des ganzen Lebens,
aber selbst die ältesten Theras wußten sich niemandes zu erinnern,
bei dem das Erwachen so früh eingetreten war wie bei ihm. Auch die
Umstände, unter denen sich alles ereignet hatte, waren einigermaßen
merkwürdig. Der Eine erwacht wohl, wenn er einen kranken Menschen, ein
zu Tode getroffenes Tier sieht; ein Anderer, wenn er sinnend sitzt und
den Wind in den Blättern säuseln hört; wieder ein Anderer, wenn er eine
Flamme züngeln, ein Licht verlöschen sieht; die meisten freilich, wenn
sie, nach dem Almosengange zurückgekehrt, sich an einem stillen Orte
niederlassen, die Beine gekreuzt, den Körper gerade aufgerichtet und
der Einsicht pflegen, wie sie vom Buddha belehrt worden sind. So trifft
es den Einen so, den Andern so, je nach den Vorbedingungen. Mit dem
ehrwürdigen Suriyagoda war alles folgendermaßen zugegangen:

Er war wiedergeboren worden in das Haus eines reichen Brahmanen, der
von Süd-Indien arm herübergewandert war nach Lanka und in Anuradhapura
in Diensten des Königs stand, weil er einiges konnte, was die eigenen
Untertanen des Königs nicht konnten.

Dieser Mann wohnte in der Nähe des Tempels, den man schlechthin den
Pfau-Tempel nannte, nicht weit vom heiligen Bo-Baume, dem täglich
ungezählte Scharen von Anbetern ihre Ehrfurcht erweisen. Er selber
freilich hielt fest am Glauben seines Heimatlandes, in dem man Shiva
anbetete. Er verachtete das Gesetz des Buddha und nannte es eine
vergrübelte Narrenlehre, weil er es eben nicht verstand. Die Mönche
aber im Orden des Erhabenen nannte er „kahlgeschorene Pfaffen“.
Deswegen geschah es nie, daß diese auf ihrem täglichen Almosengange vor
seiner Tür stillstanden, um Gabe in Empfang zu nehmen.

Eines Tages nun kam ein fremder Bhikkhu durch Anuradhapura, um in
Mihintale am Mahasaya-Dagoba Ehrfurcht zu erweisen.

Das war so gekommen:

Seit vielen Jahren lebte er fern im Süden in Tissamaharama, ernsthaft,
enthaltsam, innig bemüht um Einsicht. Denn das sieht ja jeder
Nachdenkliche bald, daß Leben zwecklos ist, und hat es Zwecke, daß sie
von uns hineingelegt sind; also wozu das Ganze, wozu? Antwort gibt nur
der Tathāgata.

Zu diesem Mönch kam eines Tages ein Mönch aus dem Norden der Insel. Der
erzählte von der Heiligkeit der Plätze dort oben, so daß den Anderen
ein Verlangen ankam, dort Ehrfurcht zu erweisen. Als nun sein Besucher
ihn aufforderte, mit ihm nach Norden zu gehen, da stand er, wie er
gerade dasaß, auf und sagte: „Gut, so laß uns gehen!“ Der Andere aber
hatte allerhand Habseligkeiten bei sich, die er im Pánsala niedergelegt
hatte, so daß er nicht sogleich aufbrechen konnte. Da sagte der
Tissamaharama-Mönch: „Du bist kein rechter Jünger des Erhabenen. Es
dürfte besser sein, allein zu gehen.“ Damit wandte er sich und trat
unverzüglich seine weite Reise an; denn von Tissamaharama bis Mihintale
sind wohl zwölf Tagemärsche oder mehr.

Dieser Mönch nun trat, als er auf seiner Wanderung durch Anuradhapura
kam, vor des reichen Brahmanen Haus und wartete schweigend auf
Almosen; denn er wußte nicht, daß dieser die Bhikkhus verspottete und
kahlgeschorene Pfaffen schimpfte.

Der Brahmane saß gerade in der offenen Vorhalle seines Hauses beim
Essen und hatte viele und reiche Gerichte vor sich, wie es so seine
Gewohnheit war.

Als nun der Mönch herantrat und schweigend am Tore stehen blieb, da, wo
an jeder Seite ein kleiner Elefant aus Stein den Eingang bezeichnete,
da wandte er sich ein wenig seitwärts, gleichsam als ob er ihn nicht
sähe; denn er war nicht nur ein Verächter des Dharma, sondern auch ein
Geizhals. Suriyagoda aber war damals etwa zwölf Jahre alt.

Als nun der Knabe sah, daß sein Vater dem Mönch nicht geben wollte,
trat er auf diesen zu und sagte, gleichsam um seinen Vater zu
entschuldigen: „Er genießt die Frucht früherer Taten.“ Er meinte: Mein
Vater lebt jetzt üppig, weil er in früheren Leben Gutes getan hat,
wofür ihn jetzt der Lohn trifft. Worauf der Mönch, ohne den gesenkten
Blick vom Boden zu erheben, erwiderte: „Und ich lehre die Frucht
früherer Taten.“

Bei diesen Worten wurden die Augen des Knaben weit. Wie unschlüssig
stand er da, dann sagte er leise:

„Wenn du die Frucht früherer Taten lehrst, so will ich mit dir gehen.“

„So mußt du zuvor deinen Vater um Erlaubnis bitten.“

Da trat der Knabe auf den Essenden zu und sagte: „Vater laß mich
mit diesem da gehen.“ Und mit einer Stimme, die gedämpft war vor
verhaltener Leidenschaft, fügte er hinzu:

„Er lehrt die Frucht früherer Taten.“

Der Alte hielt erstaunt im Essen inne.

„Siehst du nicht, daß es so einer ist? Weißt du nicht, daß du eines
Brahmanen Sohn bist?“

„Vater, er lehrt die Frucht früherer Taten. Laß mich mit ihm gehen.“

Und zum zweiten Male der Alte:

„Siehst du nicht, daß es so einer ist? Wer soll an meinem Grabe die
Totenopfer vollziehen, wenn du uns verläßt? Überdies haben nicht auch
die Rishis die Frucht der Taten gelehrt?“

Der Knabe stand bedrückt; denn er fühlte, daß sein Vater recht hatte
mit dem Totenopfer. Indem kam des Brahmanen jüngeres Söhnchen, das
er mit einer anderen Ehefrau gezeugt hatte, in die Halle gehüpft und
schrie wie zum Scherz einmal über das andere: „Vater, Vater!“

Da richtete sich der Knabe plötzlich auf und sagte zum dritten Male:

„Laß mich mit dem Manne gehen. Ich will nicht Speise, nicht Trank
nehmen, läßt du mich nicht gehen.“

Weil nun der Vater merkte, wie es mit dem Kinde stand, daß es das
Geheimnis des Samsara gewittert hatte, sagte er, schweren Herzens
und dem Mönche grollend: „So geh!“ Dann aber, als er den am Tor noch
unbeweglich und gesenkten Blickes dastehen sah, überkam es ihn, und
sich vor seinem eigenen Groll fürchtend, daß er ihm in diesem oder
einem folgenden Leben schaden könnte, rief er dem Mönche zu: „Mönch,
ich zürn’ dir nicht!“

Es war aber auch schon vorher eigen zugegangen mit ihm.

Noch als kleiner Knabe hatte er einst zwei Papagei-Mangos vom Gärtner
geschenkt bekommen. Da dachte er:

„Ich will den einen auf den Altar legen für Sivī und will den anderen
nicht eher essen, als bis sie den ihren genommen hat.“

So legte er die Frucht hin und wartete, mit der anderen Frucht in der
Hand.

Aber die Göttin nahm die Gabe nicht. Sehnsüchtig blickte der Knabe bald
auf den Mango in der Hand, bald auf den auf dem Altar. Ihn hungerte,
auch aß er Mangos für sein Leben gern. Er begann leise zu weinen, erst
in sich hinein, dann lauter und lauter, bis schließlich sein Vater kam.

Als der ihn sah mit dem Mango in der einen Hand und dem anderen Mango
auf dem Altar, fragt er:

„Was ist das, Sohn?“

„Für Sivī, Vater! Sie nimmt nicht.“

„Sohn, es ist auch nicht so, daß die Götter nehmen.“

Damit nahm er den Mango vom Altar und gab ihn dem Knaben. „Iß nur!“
Worauf dieser schnell beide Früchte verzehrte.

Eine geraume Zeit danach fragte er seinen Vater unvermittelt:

„Vater, wie ist es, daß die Götter nehmen?“

Der Alte wußte erst nicht, was die Frage sollte. Dann erinnerte er sich
der Mangos.

„Sohn, es ist nicht so! Die Götter sind geheimnisvoll. Sie nehmen, sie
geben -- wir wissen nicht wie.“

Der Knabe schwieg dann.

„Und die in Tanjor?“

Er meinte die Priester am Subrahmanya-Tempel in Tanjore, ob die etwa
mehr wüßten.

Solch ein Knabe war Suriyagoda gewesen von jeher.

So nahm er jetzt seine Matte und sein Trinkgefäß und folgte dem Gelben
nach.

Der schritt fürbaß, ohne den Kopf zu heben, die Tempelstraße entlang,
am Abhayágivi-Dagoba vorbei dem Tissawēwa zu.

Als sie nun auf dem hohen Damme entlang gingen, über den der Sturm
hinwegsauste, -- es war gerade die Zeit des Monsun -- da sah der Knabe
mit Staunen, wie der See weiß am Ufer schäumte. Gespenstern glichen
die grauen Stümpfe abgestorbener Bäume, die halb im Wasser ertrunken
dastanden und ihre toten Äste in die Luft streckten. Jetzt wandte er
den Kopf und sah hinter sich, weit, am anderen Ufer Ruanweli hochragen
wie ein Gebirge, in seinem marmorweißen Mantel glänzend wie Silber.

„Wie weit bin ich fort von Hause“ dachte er. Er war noch nie hier
gewesen; denn die Kinder vornehmer Brahmanen verlassen selten das Haus,
weil sie Unreinheit fürchten.

Ihm wurde schwer und ängstlich zu Mut. Er dachte: „Ich will warten, bis
jener da wieder vor einer Hütte stehen bleibt und um Almosen bittet;
-- denn im Hause seines Vaters hatte er nichts bekommen -- dann will
ich um Erlaubnis bitten, zurückkehren zu dürfen, ich fürchte mich.“
Dabei sah er auf den Mönch, der vor ihm schritt, schweigend, das Haupt
gesenkt, das gelbe Gewand gebläht im Winde wie eine Glocke.

Der aber dachte bei sich: „Die Sonne hat ihren höchsten Punkt bereits
überschritten; die schickliche Zeit zum Essen für heute ist vorbei. So
ist es besser, ich warte bis morgen.“

So gingen sie an den letzten Hütten vorüber, ohne daß jener still
hielt, und der Knabe trottete hilflos hinter ihm drein, immer in der
Hoffnung, daß jener stille stehen oder sich wenden würde.

Und wie schrecklich war erst der Wald, in den sie jetzt traten. Vom
Sturm draußen gab es hier nichts. Regungslos alles, wie gelähmt von
etwas furchtbarem, bei dem das Herz fragt: „Was mag es nur sein?“ und
aus dem Ausbleiben jeder Antwort neue Schrecken saugt.

Die Augen schmerzten ihn, wenn er auf die Straße sah, die weiß,
blendend, scheinbar endlos sich vor ihm dehnte und über der die
Luft flimmerte. Seitwärts am Wege aber standen diese mächtigen
Termitenhaufen, und mit ängstlicher Scheu sah er große, häßliche
Eidechsen auf ihnen, die den Kopf erhoben, das Maul geöffnet,
regungslos dasaßen, wie bezaubert von dieser grimmigen Sonne. „Gewiß,
es sind böse Geister“ dachte der Knabe und blickte starr vor sich.

So mochten sie wohl zwei Stunden gewandert sein, da kamen sie an die
ersten Häuser eines anderen Ortes. Hinter dem erhob ein zweigipfeliger
Fels sich hoch in die Luft. Beide Gipfel aber waren gekrönt mit einem
Dagoba.

Der Knabe wußte wohl, das war Mihintale, das heilige Mihintale, aber
nie vorher war er hier gewesen.

An einem lieblichen Weiher, voll von Lotus, vorbei schritt der Mönch
auf diesen Berg zu. Die geisterhaften Schrecken des Waldes waren
vorüber. Machtvoll wehte der Wind über die Wasserfläche. Von weitem
schon winkte eine mächtige Eingangspforte. Durch sie schritt der Mönch;
Suriyagoda eng hinterdrein. Sie waren plötzlich wie in einer anderen
Welt. Große und kleine Dagobas, Hallen für Gebet und Speisung, heilige
Feigenbäume, von Mauern umrahmt, Steintafeln mit Inschriften, Bäder in
schön behauenen Stein gefaßt. Zwischen dem allen eine Treppe, deren
Stufen große Steinquadern bildeten, flach und so breit, daß wohl vier
Elefanten nebeneinander auf ihr gehen konnten. Diese Flucht von Stufen
verlor sich nach oben zu im geheimnisvollen Halbdunkel des Urwaldes:
die heilige Treppe von Mihintale.

       *       *       *       *       *

So verlebte Suriyagoda in Mihintale, dem heiligsten Platze, Jahr für
Jahr. Früh vor Sonnenaufgang erhob er sich zusammen mit den anderen
Klosterschülern. Dann wurde der Hof gefegt, Blüten von den Bäumen
geschüttelt, um sie vor dem Buddha-Bilde nieder zu legen. Die Mönche
sangen im Vihara, auf der Erde vor dem Buddha-Bilde knieend, Gesänge,
die in ihrer Monotonie dem Klange tiefer Glocken glichen; Gesänge
zum Preise des Buddha, zum Preise des Gesetzes, zum Preise der
Mönchsgemeinde. Hörte der Gesang dann plötzlich auf, so tönte es von
den geschlossenen Lippen der Mönche noch ein Weilchen weiter, wie das
Nachschwingen in Erz.

Schon früh wurden die Knaben angehalten zum Meditieren über
Menschenliebe, über Wohlwollen gegen alles Lebende, über die
Allvergänglichkeit, über die Unreinlichkeit alles Körperlichen und
über den Tod. Auch mußten sie sich fleißig üben die Gedanken zu
regeln durch achtsames Ein- und Ausatmen. Auch die heiligen Schriften
wurden gelesen, indem ein älterer Mönch vorsprach und die Schüler
nachsprachen, vorläufig freilich ohne Sinn und Bedeutung zu verstehen.
Am Abend sangen die Mönche wieder vor dem Buddha-Bild im Vihara.

Wie lieblich aber waren die Festtage an den Neu- und Vollmonden, wenn
alle Anhänger kamen, schon früh am Tage, lautlos, in blütenweißen
Kleidern, alle Männer, Weiber und Kinder, ganze Körbe voll gelber und
weißer Blüten brachten und vor dem Buddha-Bilde aufhäuften, so viel
als ob es die ganze Nacht Blumen geregnet hätte; wenn dann alles still
niederkniete und ein Mönch die Satzung rezitierte.

Wenn aber abends der ganze Vihara vom Glanz der Lichter strahlte,
dann kam es dem Knaben wohl vor, als ob die bewegungslose Ruhe des
Buddha-Bildes Leben bekäme. Das Gesicht schien im Ausdruck zu wechseln,
die Lippen sich zu regen, die zum Predigen erhobene Hand sich zu
bewegen. Eine inbrünstige Ehrfurcht wallte dann im Herzen des Knaben.
Er mußte sich Gewalt antun, hier nicht anzubeten, wie er es im Hause
seines Vaters gewohnt war. Denn das muß man ja wissen, daß man zu einem
Buddha nicht beten kann; daß man ihm nur Dank und Ehrfurcht erweisen
kann dafür, daß er den Weg, den er selber gefunden, auch uns, der Welt,
gezeigt hat. Es war die mit der Muttermilch eingesogene Gottsucht, die
noch in dem Knaben arbeitete und seine Einsicht hinderte.

Am Abend spät begann dann das Predigen, das oft bis tief in die Nacht
dauerte. Gepredigt aber wurde von der Vergänglichkeit, dem Leiden, der
Wesenlosigkeit aller Dinge; dem Unbefriedigenden, Leiden züchtenden der
Lust, dem Segen des Entsagens. Wovon sonst sollte auch wohl ein Mensch
dem andern predigen!

Am Tage nachher aber folgte dann das Beichten der Mönche. Mit
gefalteten Händen knieten sie vor dem Abte nieder und sprachen mit
diesen tiefen, klangvollen Stimmen:

„Herr, wenn wir unwissentlich mit einer der drei Pforten (Tat, Wort,
Gedanke) gefehlt haben, so vergib uns.“ Worauf der Abt erwiderte:

„Ich habe vergeben. So vergebt auch ihr mir.“

So wird im Orden des Erhabenen gelebt, den der Erhabene selber „das
unvergleichliche Feld um Verdienst zu erwerben“ nennt. Und wirklich
sind ja diese Mönche, indem sie ständig allem Lebenden in einem
Wohlwollen zugetan sind, die größten Wohltäter der Menschheit. Ein
einziges Herz voll heiterer Entsagung trägt ja zum Wohle der Menschheit
mehr bei als ein ganzes Leben voll rastloser Philantropie.

       *       *       *       *       *

Es war nun die Zeit gekommen, daß Suriyagoda mit der Robe bekleidet,
d. h. selber Mönch wurde. Wie die anderen machte er von da ab alle
Vormittage seinen Almosengang, indem er, das Gewand schicklich
geordnet, gefaßten Sinnes, gesenkten Auges von Haus zu Haus ging und
an den Türen schweigend wartete, bis ihm der Reis in die Almosenschale
getan wurde. Kam dann der Geber, hatte den Reis in die hingehaltene
Schüssel hineingetan und auf der Erde kniend, die gefalteten Hände vor
dem Gesicht, seine Ehrfurcht erwiesen, so ging der Mönch schweigend
weiter zur nächsten Tür, bis die Schale zur Genüge gefüllt war. Dann
trat er den Rückweg zum Kloster an und verzehrte dort, stets unter dem
gleichen Schweigen, sein Mahl an einem einsamen Orte.

Eines Tages nun, als Suriyagoda schweigend dastand, gesenkten Blickes
und auf die Gabe wartete, trat plötzlich ein Mensch auf ihn zu, der war
nackt bis auf einen Eulenflügel, der seine Scham notdürftig deckte.
Die Haut war Asche beschmiert und sah aus wie graues Leder; die Haare
verfilzt wie eine schmutzige Kokusmatte; der Blick wirr und unheimlich.

Der sprach leise aber heftig zum Mönch:

„Du, es ist mir gegeben, in deiner Zukunft zu lesen. Ehre und Lob dem
Allmächtigen! Du mußt durch eine große Liebe gehen.“

Dann dicht vor Suriyagoda hintretend fuhr er lauter fort:

„Wolltest du deine Augen nur einmal heben, so könnte ich dir sagen, wo
und wie.“

Suriyagoda verharrte unbeweglich. Es überkam ihn etwas Unheimliches,
einer jener Schauer aus unbekannten Regionen, unter denen er als Knabe
so oft gelitten hatte; jene Schauer, die den in Weisheit noch nicht
gefestigten immer wieder fragen lassen: „Gibt es doch wohl etwas hinter
dieser Welt hier, das über uns herrscht?“

Er fühlte instinktiv, wenn er den Blick heben und das Auge dieses
Menschen treffen würde, so würde es ihn greifen, ihn ansaugen, er würde
fallen -- einer grundlosen Tiefe zu.

Indem erschien der Anhänger, um den Reis in die Schale zu schütten.
Als er den Fakir sah, winkte er mit der Hand und rief „husch, husch!“,
wie man Krähen von einer Schüssel scheucht. Worauf der sich eilig
abwandte, aber knurrend und schnüffelnd, wie ein Jagdhund, der eine
Spur gewittert hat und sie nicht verfolgen darf.

Am selben Abend, als Suriyagoda, bevor er zur Ruhe ging, vor dem Abt
niederkniete und ihm Ehrfurcht bezeugte, bat er ihn um die Erlaubnis,
in Zukunft, wenn er den Anhängern und Anhängerinnen predigte, hinter
einem Palmblatt-Fächer sitzen zu dürfen. Er wollte sich dadurch davor
schützen, daß sein Auge auf irgend etwas träfe, was ihm Liebe erregen
könnte, denn er dachte: „Wofür bin ich schon als Knabe in den Orden des
Erhabenen getreten, wenn ich doch die Qualen und den Schmutz der Liebe
durchmachen muß? Es ist besser, ich schütze mich beizeiten.“

Nun war Suriyagoda von schöner Gestalt, schlank aber kräftig, von
feinem Gesicht, mit vollem, freiem Auge und von hoher Anmut bei allem
was er tat und redete. Daher war die Predigthalle stets am vollsten,
wenn er den Anhängern und Laien predigte.

So fragte der Abt, weshalb er denn von jetzt ab hinter dem Fächer
predigen wolle? worauf Suriyagoda stockte und errötete, dann aber die
Sache mit dem Fakir berichtete.

Der Abt lächelte ein wenig und gab ihm die Erlaubnis. Dann aber, als
leisen Tadel, fügte er den Spruch des Erhabenen hinzu: „Ist dieses,
wird jenes; ist dieses nicht, wird jenes nicht,“ womit er sagen wollte,
daß ein jeder Mensch aus dem jetzigen Moment heraus sich das nächste
selber schaffe, je nachdem was er tut, was er redet, was er denkt. Und
wie bei einem rollenden Stein ein Moment der Bahn das nächste bestimmt,
und dieses wieder das nächste, so auch beim Menschenleben. Nicht in den
Händen eines Schwärmers oder der Gestirne liege unsere Zukunft, sondern
in den Händen dieses Jetzt hier, das ich selber bin.

So predigte von jetzt ab Suriyagoda Jahr für Jahr hinter einem
Palmblattfächer. Die Prophezeiung des Fakirs hatte er längst vergessen,
aber der Fächer war ihm so zur Gewohnheit geworden, daß er überall der
Fächerprediger hieß.

       *       *       *       *       *

Einstmals, am Upósatha-Tage des Vessak-Monats veranstaltete der
König eine große Feier zu Ehren des Erhabenen. Die ganze Straße von
Anuradhapura bis Mihintale, zwei Wegstunden lang, war mit gelben und
weißen Blüten bestreut. Überall am Wege hingen Fahnen und Banner.

Zur festgesetzten Stunde verließ der König seinen Palast in der Nähe
des Jetavanarama-Dagoba mit dreiunddreißig Elefanten. Auf ihnen ritten
die Adeligen, immer je vier in einer Reihe; an der Spitze aber der
König auf dem Königselefanten, der von Gold und Edelsteinen glänzte.

Dieser Elefant war so einer, von dem man sagt: „Er hat seinen Rüssel
preisgegeben.“ Denn ehe ein Elefant nicht im Kampf den Rüssel
preisgibt, leistet er nicht das höchste. Hat er aber den Rüssel
preisgegeben, so kann ihm nichts mehr widerstehen.

Hinter den Elefanten folgte die Mönchschaft vom heiligen Bo-Baum und
der anderen Klöster Anuradhapuras in Sänften; dahinter aber das Volk zu
Fuß.

Wie ein einziger Sadhu-Ruf ging es von der Hauptstadt bis hin nach
Mihintale.

Als nun der Zug am Ambastalla-Dagoba angekommen war, da stiegen alle,
selbst der König, ab; denn hier ist der heiligste Platz Ceylons nahe:
die Höhle, in welcher Mahinda, König Açokas Sohn, der Apostel Ceylons,
sein Leben in Heiligkeit, d. h. heil von Leidenschaften und Lüsten,
verbrachte. Das Felsenbett auf dem Boden dieser Höhle ist heute noch zu
sehen.

Hier nun stießen auch die Mönche von Mihintale, Suriyagoda mit ihnen,
zum Zuge.

Vom Ambastalla-Dagoba stieg alles, der König an der Spitze, zum
Mahasaya-Dagoba hinauf, auf jenen schwarzen Fels, in welchen flache
Stufen hineingehauen waren. Wer aber unten die schneeweißen Gewänder
auf dunklem Grunde leuchten und die goldenen Banner und Standarten in
der Sonne funkeln sah, der meinte, es wäre das schönste Schauspiel, das
Menschen überhaupt schaffen sowohl wie betrachten könnten.

Nun hatte es vor kurzem einen starken Regenfall gegeben und in den
Löchern der Steinstufen standen noch Wasserreste. Als nun der König,
Upatissa war sein Name, in feierlicher Langsamkeit hochschritt, da sah
er in einer dieser Lachen ein Insekt dem Ertrinken nahe. Sofort regte
sich Mitleid mit dem Lebendigen in ihm; er machte Halt und, indem er
den flimmernden Pfauenwedel in die Pfütze hineintauchte, rettete er das
Tierchen vom Ertrinken.

Als das umstehende Volk das sah, da wurden die Sadhu-Rufe noch viel
freudiger. Denn wie der König es liebt, ein frommes gesetzes-freudiges
Volk zu haben, so liebt auch das Volk, einen frommen König zu haben.

Mit dem Stillstehen des Königs ging eine Stockung durch den ganzen Zug
und ein jeder fragte, was geschehen sei, wobei dann, sobald Antwort
kam, das Sadhu-Rufen immer wieder aufs neue hochflackerte, wie ein
Feuer, das über trocknen Grasgrund hüpft.

Auch Suriyagoda ließ seinen Palmblattfächer, der groß war wie ein
Schild und ohne den er nie seine Zelle verließ, sinken und sah sich
um. Dabei fühlte er ein paar Augen auf sich gerichtet und verbarg sich
sofort wieder hinter seiner Wehr. Aber einige aus dem Volke hatten
ihn gesehen und raunten sich zu: „Der Fächerprediger! Es ist der
Fächerprediger!“ Er stand nämlich bei diesen Leuten in hoher Achtung.
Denn wer einen reinen Lebenswandel führt und sich bezähmt, der verdient
und erhält Achtung.

Nachdem nun der König und der ganze Zug den Mahasaya-Dagoba, ihn
zur rechten Hand habend, feierlich umwandelt und auf allen Altären
Blüten niedergelegt hatte, kehrten der Hof nach Anuradhapura und die
Mihintale-Mönche in ihre Klausen zurück.

Am nächsten Morgen fand Suriyagoda die Schwelle seiner Hütte mit Blumen
bestreut.

Gewöhnt an derartige Ehrfurchtsbezeugungen achtete er nicht darauf.
Dieses wiederholte sich Morgen für Morgen und Suriyagoda tat nichts als
täglich die Blumen wegzufegen.

Eines Abends gegen Dunkelwerden hörte er ein Geräusch vor seiner Tür.
Als er öffnete, sah er ein junges Weib auf den Knien liegen, die Hände
anbetend vor dem Gesicht.

Suriyagoda verharrte regungslos die schickliche Zeit. Denn der Mönch
muß schicklicher Weise warten, bis der Laie seine Ehrfurchtsbezeugung
vollendet hat.

Als das Weib aber liegen blieb, sagte er:

„Was ist?“

Die blieb erst regungslos, dann sagte sie leise:

„Das Glück, sagt man, Bhante, das Glück.“

Einen Moment war es, als ob sie sich aufrichten wollte, aber sofort
sank sie wieder zusammen.

Suriyagoda schwieg betroffen. Dann sagte er ruhig:

„Geh!“

Und wieder das demütige, lockende:

„Das Glück sagt man ja, Bhante, das Glück.“

Dabei wiegte sie leise den tiefgesenkten Kopf, sodaß die Wellen bis zu
den vollen Hüften zu gehen schienen.

Suriyagoda blickte starr gerade aus.

„Freilich, Weib! Das Glück, sagt man ja, das Glück. Aber was ihr
da draußen Glück nennt, das ist Unrat und Verderben im Orden des
Erhabenen. Und was ihr da Verderben nennt, das ist Glück und Schmuck im
Orden des Erhabenen. Aber geh! Ich darf hier nicht zu dir reden.“

Der Körper des jungen Weibes zuckte von unterdrücktem Schluchzen.
Mitleidig neigte sich Suriyagoda. Berühren durfte er sie nicht, aber
er wollte ihr im Näherkommen seiner Stimme Trost geben.

Sei es nun, daß das Weib sehr erregt oder schnell gestiegen war: Indem
Suriyagoda sich herabbeugte, stieg der Duft der Haut zu ihm empor.
Verwöhnt, überempfindlich gemacht durch die strengen, aber keuschen
Klostergerüche richtete er sich schnell auf. Dieser Duft war ihm
zuwider. „Geh, geh!“ sagte er fast ungeduldig.

Bei dieser dritten Aufforderung erhob das Weib sich; die gefalteten
Hände vor dem Gesicht behaltend wandte sie sich schnell und verschwand
in der Dämmerung.

       *       *       *       *       *

Gerade in diesen Tagen wurde das Kloster, in welchem Suriyagoda lebte,
von einem schweren Schlag betroffen, indem der Abt, Suriyagodas Lehrer,
plötzlich starb.

Suriyagoda war sein Lieblingsschüler gewesen. Jahrelang hatten sie
sogar dieselbe Zelle geteilt -- der Ältere, um stets Belehrung geben,
der Jüngere, um stets Belehrung empfangen zu können.

Dem scharfen Auge des alten Denkers war Suriyagodas Charakter bis in
seine Tiefen klar. Denn sobald man das Licht der eigenen Ichsucht
ausgelöscht hat, sieht man jeden Schein im Innern des Anderen:

Dem Abte war nicht entgangen, daß Suriyagoda, trotz seiner
Aufnahmefähigkeit für die Lehre des Buddha doch immer noch durch
das körperliche Material, das er auf Grund seines Karma verarbeiten
mußte, am fessellosen Erkennen gehindert wurde; daß er immer noch
an der Fessel des Gottesglaubens krankte, wenn auch in jener reinen,
höchsten pantheistischen Form des Vedanta, die aber, wo es auf völliges
Durchdringen des Dharma ankommt, eben so hinderlich ist, wie der rohe
Glaube an einen persönlichen Gott.

Eines Tages, nach längerer Unterredung sagte er zu Suriyagoda:

„Die Liebe, vor der du dich durch den Palmblattfächer schützen willst,
ist gar nicht eine solche Liebe, daß man sich vor ihr durch äußere
Mittel schützen könnte.“

Suriyagoda verstand nicht. Da jener aber nichts weiter sagte, so wagte
er nicht zu fragen.

Der war nun plötzlich gestorben, aufrichtig betrauert von seinen
Mönchen und seiner ganzen Gemeinde. Und das Kloster war vorläufig
ohne Abt. Mancher munkelte, daß Suriyagoda trotz seiner Jugend (er
war damals noch nicht 30 Jahr alt) sein Nachfolger werden sollte.
Suriyagoda selber würde eine solche Ehrung ausgeschlagen haben. Sein
Streben ging nicht auf Amt und Würden, sondern auf ein Leben stiller
Nachdenklichkeit. Wer erkannt hat, wozu er lebt, der weiß auch, daß
jeder Augenblick aufgeht im Arbeiten an sich selber, im stillen zähen
Kampfe mit sich selber.

In der ersten Zeit nach dem Tode des Abtes, wenn die Mönche abends
still und beklommen in der weiten Halle saßen, in welcher das
flackernde irrende Kokosnuß-Lämpchen nur Schatten, nicht Licht zu
geben schien, da tauchte leise immer wieder die Frage auf: „Wohin mag
er wohl wiedergeboren sein?“, eine Frage, auf die freilich niemand
eine andere Antwort geben konnte als die: „Dahin, wohin seine Taten
ihn geführt haben.“ Denn nicht Vater und Mutter, sondern die Taten
dieses Lebens wahrlich sind der Mutterschoß, aus welchem das nächste
Leben hervorgeht. Deswegen ist es ja, daß der Buddha die Wesen
„Karma-entsprossen“ nennt, nicht „Eltern-entsprossen.“

Daß der Alte weiter wandern mußte im Samsara, daß er Nirwana, das Ende,
das Verlöschen, noch nicht erreicht habe, darüber war ja freilich kein
Zweifel. Er selber hatte es noch in seinen letzten Stunden gesagt, aber
in Ruhe und Fassung, so daß man wohl die frohe Hoffnung heraus hörte,
nicht in niederen Wesenheiten wiedergeboren zu werden. Man wußte auch,
daß der Verstorbene nicht ganz frei war vom Hängen an gewissen kleinen
Lüsten dieser Welt. Fast scherzhaft war seine Neigung für Süßigkeiten
gewesen und seine Anhänger, die seine Vorliebe kannten, hatten ihn
stets reichlich damit versorgt.

Als nun eines Abends wieder die große Frage erörtert wurde: „Wohin mag
er wohl wiedergeboren sein?“, da meinte einer der Klosterschüler, der
mittags die Schalen der Mönche am Brunnen wusch, ein kleiner Knirps,
aber keck wie einer:

„Beim Zuckerbäcker!“

Suriyagoda verwies ihm solche unziemliche Rede ernsthaft und sandte ihn
zur Strafe aus der Halle; aber ein Weilchen herrschte Schweigen, weil
jeder mit einem Lächeln kämpfte.

Von diesem Abende an wurde die Frage der Wiedergeburt des Abtes nicht
mehr berührt.

Suriyagoda befand sich damals in einer merkwürdigen Verfassung.
Im Verlauf jener Unterhaltung, an deren Schluß der Abt ihm gesagt
hatte, daß jene Liebe, durch die er gehen müsse, nicht durch einen
Palmblattfächer abzuwehren sei, hatten sie über den Wert der Religionen
gesprochen und der alte Abt hatte das Christentum mit ungewohnter
Schärfe abgetan. „Es befriedigt weder das Bedürfnis des Menschen
nach Wissen, noch sein Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Laß dich,“ fuhr
er eindringlich fort, „nicht durch dieses Aushängeschild der Liebe
bestechen. Erste Pflicht der Menschen ist nicht die Liebe, sondern
das Denken. Höchstes Menschtum liegt nicht im Lieben, sondern im
Denken. Lieben tun die Tiere auch, denken tut nur der Mensch -- und
die Götter,“ fügte er mit einem Lächeln hinzu. „Liebe ohne denken ist,
als ob der Karren den Ochsen zieht.“ Er meinte, Liebe solle stets vom
Denken geleitet werden, nicht ihm vorauslaufen.

Dann hat Suriyagoda um die Erlaubnis gebeten, die Upanishaden in der
Ursprache lesen zu dürfen. Er war der beste Sanskrit-Kenner des ganzen
Klosters.

Der Alte hatte nicht gleich geantwortet. Die weichen Hände ein wenig
fester zusammenpressend hatte er in den Klostergarten hinausgeblickt,
wie interessiert in die letzten Regentropfen, die von den
Palmblattwedeln an der Halle zur Erde fielen. Dann hatte er ruhig
gesagt: „Wenn du willst, so lies.“ Nach diesem hatte er dann jene Worte
von Suriyagodas Liebe gesprochen, die der Mönch nicht verstanden hatte.

Noch am selben Abend hatte Suriyagoda seine Lektüre begonnen. Er las
und las. Ihm war, als ob er ertrinken müßte in diesem Gedanken-Ozean.
Was waren das für Menschen, diese Gott-Trunkenen, Yajñavalkya, der in
Worten und Gedanken spricht, welche Himmel und Erde gleichsam mühelos
in sich hineinsaugen; diese Maitreyi, die da sagt: „Gieb mir nicht,
was man Weibern gibt -- jenes große Wissen gib mir, das du hast.“ Sie
meinte das Wissen von der Einheit zwischen Mensch und Gott. War es
nicht etwas ungeheuerliches, mit einem einzigen Erkenntnisakt jenes
Wissen zu erreichen, das Seligkeit gibt für immer! Denn kann der Mensch
größere Seligkeit fühlen, als die Erkenntnis: „Ich und Gott, wir sind
eines Wesens; ich Gottes, Gott meines Wesens und Täuschung, wahrlich,
ist das, was mich von der All-Einheit trennt.“ Wie anders, wie erhaben
war das alles in Vergleich zu diesem dürren, nüchternen, mühevollen, ja
unerhört hartem Ringen mit jeder Tat, jedem Wort, ja jedem Gedanken,
wie die Lehre des Buddha es verlangt. Diese schreckliche, fast
aussichtslose Arbeit des Gedankenbändigens, das Stillstellen der ewig
mahlenden Räder, die sich selber mahlen, wirft man kein Korn zwischen
sie. Wie eine Art Wollust überkam es ihn, wenn er an die Geheimnisse
jenes mystischen Lautes dachte, den der Gott-Ergriffene von der
zitternden Lippe schweigt. Kurz: Er sehnte sich aus der harten Arbeit
des ewig wachen Denkens in die mollige Ruhe des Gottfriedens, wie der
Knecht nach den Fleischtöpfen des Herrn.

Alle diese Stimmungen und Gefühle fanden ihr ständiges Gegengewicht
im Dasein seines Lehrers. Mit dessen Tode ging das Steuer seines
Lebensschiffes verloren. Immer tiefer arbeitete er sich in diesen
Zwiespalt zwischen Verstand und Gemüt, zwischen Belehrung und
natürlicher Neigung. Immer wieder freilich sagte ihm der Verstand:
„Die Wahrheit lehrt der Tathāgata. Nur hier, wo gezeigt wird, daß ich
selber Frucht meiner Taten bin, nur da ist Gesetz; nur wo Gesetz ist,
ist Gerechtigkeit; nur wo Gerechtigkeit ist, ist Befriedigung.“ Aber
das Erdige an ihm, das von Vater und Mutter stammte, hing sich wie
ein Gewicht an den Flug dieses reinen Erkennens. Immer wieder raunte
es in ihm: „Wenn es doch ein Ewiges gäbe! Wenn es doch eine Seligkeit
gäbe, jenseits! Wenn dieses „Neti, Neti“ der Upanishaden doch dereinst
unerhörte Wirklichkeit werden könnte! Wenn die alten Rishis doch Lehrer
wären und nicht Schwärmer!“

Eines Tages ging er, müde vom fruchtlosen Denken, gegen Abend zum Ort
hinunter. Er fühlte das Bedürfnis, andere Menschen um sich zu sehen,
auch wollte er sich am Ufer des Sees, der einem großen Lotusteich
glich, ergehen.

An einem abgelegenen Winkel, von den überhängenden Zweigen eines wilden
Mangobaumes halb verdeckt, sah er einen Mönch aus dem Nachbarkloster
sitzen. Der saß, die Beine gekreuzt, die Hände ineinander gefaltet,
hoch aufgerichtet, da, und wiederholte immer das eine Wort:
„Wasserkranich, Wasserkranich!“

Erstaunt hörte Suriyagoda ihm eine Weile zu; dann, weil der Andere ihn
gar nicht bemerkte, räusperte er sich, trat höflich näher und ließ sich
zu seiner Rechten nieder. Dann begann er:

„Bruder, ist wohl eine Frage erlaubt?“

„Freilich, Bruder.“

„Weshalb sagtest du eben in einem fort das Wort ‚Wasserkranich,
Wasserkranich‘?“

Der sah ihn verdutzt an, dann erwiderte er:

„Bruder, nicht ‚Wasserkranich, Wasserkranich,‘ sondern
‚Vergänglichkeit, Vergänglichkeit‘ habe ich gesagt.“

„Verzeih, Bruder. Du sagtest ‚Wasserkranich, Wasserkranich‘.“

Da schlug sich der andere vor die Stirn und rief:

„Schöne Geschichte! Der Abt hat mir als Aufgabe zum Meditieren
‚Vergänglichkeit, Vergänglichkeit‘ gegeben, nun sitze ich hier
und sehe die Kraniche auf dem Wasser hin- und herziehen, und
statt, ‚Vergänglichkeit, Vergänglichkeit‘ sage ich ‚Wasserkranich,
Wasserkranich‘.“ (Beide Worte unterscheiden sich nämlich nur durch
+einen+ Laut, so daß sie leicht zu verwechseln sind.)

Dabei lachte er lustig und auch Suriyagoda lachte so kräftig, wie er
seit Jahren nicht gelacht hatte. Denn stille Heiterkeit gehört sich
wohl im Orden des Erhabenen, aber hörbares Lachen ist nicht schicklich.

Als er zurückkehrte, dachte er bei sich: „So ist das nun, und das wird
daraus.“ Er meinte: So ist die Lehre beschaffen, daß sie in dieser
geistlosen Weise verarbeitet werden kann. Er fühlte auch nicht einmal,
daß er ungerecht urteilte; denn zu geistloser Verarbeitung bietet auch
die Lehre der Upanishaden Anhalt zur Genüge.

Der Zufall wollte es, daß er auf dem gleichen Spaziergange in der Nähe
der großen Eingangspforte, auf dem Wege, der zum Rajagiri-Lena führt,
zwei Männer traf, die auf einer Stange einen Sack trugen. Als sie an
Suriyagoda vorbeigingen, sagte der eine: „Bhante, verzeiht, daß wir
heute nicht Ehrfurcht erweisen können. Es ist dieses wegen da.“ Dabei
zeigte er auf den Sack.

„Was habt ihr denn in dem Sack?“ fragte Suriyagoda.

„Herr“, antwortete derselbe Mensch, der vorhin gesprochen hatte, „es
ist eine Cobra, dick wie mein Arm. Wir sollen sie töten.“

„Seit wann tötet ihr denn Lebendiges?“ fragte Suriyagoda erstaunt.

Der Mensch schwieg.

„Herr,“ begann der andere, „wir sind arm; es ist des Lohnes wegen.“

Damit schien sich dem ersten die Zunge wieder zu lösen und er begann
eilfertig:

„Herr, die Sache ist die: Der Alte, unten am See, der die Lotusblüten
auf dem Brett feil hält, hat uns gedungen, sie zu töten. Er sagt, es
ist eine schlechte Schlange. Vor vier Jahren ist sie zu ihm an den
Feuerplatz gekommen, da hat er ihr gesagt: ‚Was willst du hier? Das ist
nicht dein Haus. Du weißt, dein Haus ist das Djangel‘. Darauf wendet
sich die Schlange schnurstracks und huscht zum Walde zurück. Sie war
damals noch eine gute Schlange. Gestern Abend nun tritt der Alte auf
seine Plattform. Was liegt da? -- die Cobra! -- aufgerollt und zischt.
Sie ist dick wie mein Arm, Herr. Er nimmt ein Steinchen und wirft es
ihr zu. Ist so erschrocken, daß er ihr nicht zureden kann. Sie geht
weg. Heute ist sie wieder da, zischt wieder. So meint der Alte, wenn er
mal im Dunkeln auf sie tritt, wird sie ihn töten. Deswegen bat er uns,
sie zu fangen und im Sack auf die Straße zu legen, daß ein Elefant sie
zertritt.“

„Weiß denn der Alte unten, daß es die nämliche ist, wie vor vier
Jahren?“

„Sicherlich Herr!“

„War sie denn damals schon ebenso dick?“

„Nicht doch Herr; sie war damals klein.“

„Wie kennt er sie denn wieder?“

„Er weiß es eben, Herr.“

Und wie zur Bekräftigung fügte der andere hinzu:

„Es ist so, Herr.“

Suriyagoda ging weiter und die beiden gingen die Straße entlang. Er
hatte nicht das Recht, diesen Menschen zu sagen: „Ihr dürft nicht
töten! Laßt das Tier frei! Seid ihr ihm wirklich wohlgesinnt, so wird
es nicht beißen.“ Aber wieder deutete er parteiisch. Er dachte bei
sich: „Ein Brahmane würde das nicht tun. Er würde eher sterben.“

In der nächsten Nacht hatte Suriyagoda einen Traum. Er sah den
verstorbenen Abt, seinen Lehrer, greifbar deutlich vor sich stehen. Der
sagte zu ihm:

„Suriyagoda, gehst du früh zum Eßsaal, ohne vorher im Vihara gewesen zu
sein?“

Der Mönch erwachte mit einem Schreck, den Traum noch lebendig vor sich.
Fast verdrossen fragte er sich:

„Was soll das? Ich bin doch nie zum Eßsaal gegangen, ohne vorher im
Vihara gewesen zu sein.“ Aber da sein Gewissen der Lehre wie dem Lehrer
gegenüber nicht rein war, so begann er seine Betübungen zu verlängern.
Er entzog sich Schlaf, woran er nicht gewohnt war, -- denn die Jünger
des Buddha sind wohl an ein strenges, aber nicht an ein asketisches
Leben gewöhnt -- und wurde matt und überreizt dabei.

Die Mönche badeten damals im Naga-Pokana, dem Schlangenbad, so benannt,
weil an der Felswand der einen Seite eine mächtige, dreiköpfige Cobra
ausgemeißelt war.

Eines Tages geschah es, daß er sein Bad außer der Zeit d. h. gegen
Abend nahm und infolgedessen allein badete.

Als er, wie es bei den Mönchen Sitte ist, mit dem losen Untergewand
bekleidet, langsam ins Wasser stieg, sah er aus der Tiefe eine
weibliche Person sich entgegenschweben, schön wie eine der Asparasen.
Als er aber hinblickte, da sah er, daß es sein eigenes Spiegelbild war.
Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie mager und großäugig er geworden war.
Halb belustigt, halb verächtlich lachte er auf:

„Soweit hätte ich es also gebracht, daß ich am hellen Tage von Weibern
phantasiere.“

Still setzte er sich auf einen Fels und blickte auf dieses
unvergleichliche Landschaftsbild zu seinen Füßen. Die Sonne ging
zur Rüste, glorreich wie ein Held, in einen schier überwältigenden
Strahlenmantel gehüllt. Über der unendlichen Waldfläche lag ein duftig
violetter Schimmer und scharf hoben sich zur Linken die Dagobas von
Anuradhapura -- das Dreigestirn Ruanweli, Abhayagiri und Jetawanarama
-- aus dem grünen Meer -- die ganze Welt ein einziger, stiller Feiertag.

Er saß da, der Körper gespannt, das Auge rücksichtslos am glühenden
Sonnenball hängend. „Was ist dieses Leben ohne ein Göttliches“ sagte
er endlich leise, als ob er sich vor dem Schall der eigenen Stimme
fürchte. „Eine Nacht in der Fremde.“

Er begann leise den Oberkörper hin und her zu wiegen. Plötzlich wurde
er sich dieser seiner Bewegung bewußt. „Weshalb wiege ich denn hin
und her wie ein Elefant im Stall?“ dachte er. Dabei fiel ihm jenes
Weib ein, das neulich abends liebebettelnd auf seiner Schwelle gelegen
hatte. Er sah das Wiegen des flechtenschweren Kopfes, das bis zu den
Hüften herab ging. Er hatte alles wohl gemerkt, trotzdem er geradeaus
gesehen hatte. Einen Moment wohl durchfuhr es ihn: „Sollte nicht auch
das Glück der Umarmung gesucht werden?“ Aber das waren nicht die
Bilder, an welchen Suriyagodas Phantasie haftete. Noch ehe ausgedacht,
war der Gedanke schon verdrängt von diesem rastlosen Suchen, diesen
Qualen seiner großen Liebe.

Als er ins Kloster zurückkehrte, fand er Leute beschäftigt, Ehrenbogen
aus Bambus zu errichten. Da es nicht die Zeit des Voll- oder Neumondes
war, so fragte er einen dabei stehenden Mönch nach der Ursache. Der
sah ihn erstaunt an. „Weißt du nicht, Bruder, daß morgen der neue Abt
einzieht?“

Suriyagoda wußte von nichts. Ganz in seinen Gedanken und Zweifeln
ertrunken, hatte er diese ganze Zeit wie abwesend gelebt.

Am nächsten Morgen hielt der neue Abt seinen feierlichen Einzug auf dem
heiligen Fels, von den Theras in Anuradhapura geleitet.

Fast mit Schrecken sah Suriyagoda, daß es jener Mönch war, mit dem er
vor so vielen Jahren von seines Vaters Hause nach Mihintale gezogen
war. Die Jahre hatten ihn wenig geändert.

Als er in dieses strenge und doch milde Mönchgesicht sah, fühlte er
blitzartig: „Dieser wird Hilfe bringen.“

Einzeln knieten die Mihintale-Mönche vor dem neuen Oberhaupte nieder,
mit vor der Stirn gefalteten Händen dreimal den Erdboden berührend.
Danach versammelte sich alles in der großen Halle, wo für jeden in zwei
gegenüberlaufenden Reihen ein Kissen bereit lag.

Nach dem Range, d. h. nach dem Alter in der Mönchschaft, ließ man sich
nieder, so daß die Ältesten im Orden an einem Ende, die Jüngsten am
andern Ende zu sitzen kamen.

Suriyagodas Sitz fiel etwa auf die Mitte. Zerstreut und befangen saß er
da. Ihm war, als ob der Abt die Augen auf ihn geheftet hielte, er wagte
aber nicht hinzusehen.

Plötzlich stand ein jüngerer Mönch vor ihm, der ihm leise sagte, daß
der Abt ihn zu sich wünsche. Er blickte hastig auf, da sah er jenen
sich zulächeln.

Als Suriyagoda vor ihm kniete, sprach jener nicht sofort. Suriyagoda
fühlte, daß er ihn prüfe und wandte das Gesicht so tief zum Boden wie
möglich.

Dann begann der andere in einer milden und liebreichen Stimme, die
von der Strenge seines Gesichtes merkwürdig abstach, sich nach seinem
Ergehen in all diesen Jahren zu erkundigen. Es waren nur wenige
leise Worte auf beiden Seiten; dann wurde Suriyagoda mit demselben
liebreichen Lächeln entlassen.

Von diesem Augenblick an wurde der junge Mönch nicht mehr von dem
Gedanken verlassen: „Dieser kann Hilfe bringen.“ Daneben aber wurmte
stets der gleiche Zweifel: „Wenn ich ihn frage und er auch keine Hilfe
weiß -- was dann?“ So geschwächt war sein Willenssystem, daß er das
Bewußtsein einer +möglichen+ Hilfe dem Versuch einer +wirklichen+ Hilfe
vorzog.

An den Voll- oder Neumondtagen nahm er sich wohl vor, zu beichten,
aber kam es dann so weit, so zerschellten diese Versuche stets an der
Frage: „Was soll ich denn nur beichten?“ Das, mit dem er rang, diese
Urneigung zu einem Göttlichen, hatte sich für ihn noch gar nicht klar
genug, begriffsmäßig formuliert, um es zum Gegenstand einer Beichte zu
machen. Überdies beichten mußte man Fehler. Was man beichtet, erkennt
man allein durch den Akt des Beichtens als Fehler an. Und dieses Ringen
mit dem Göttlichen -- war denn das überhaupt ein Fehl? Sagte nicht
alles rings um ihn, sagte nicht sein eigenes Dasein immer nur das Eine:
„Es +muß+ ein Schöpfer, es +muß+ ein Erhalter da sein!“

Also so geht es mit der Lehre des Buddha, wenn man sie nur mit dem
Verstande begreifen will, ohne sie an sich selber zu verwirklichen. Man
gleicht dem Toren, der vor der vollen Schüssel Reis sitzt und sagt:
„Nicht eher will ich hiervon essen, bis ich verstehe, wie und warum
diese Nahrung sättigen kann.“

Auf einem seiner einsamen Spaziergänge, als er, wie immer in
grüblerische Zweifel versunken, wieder einmal sich selber verloren
hatte, kam ihm plötzlich der Entschluß, den Orden ganz zu verlassen,
ins Haus seines Vaters zurückzukehren und dort in der Weise seiner
Vorfahren weiter zu leben.

So mächtig überwältigte ihn dieser Gedanke, daß er beschloß,
ihn auszuführen so wie er ging und stand. Ohne erst ins Kloster
zurückzukehren, wollte er sich sofort auf den Weg nach Anuradhapura
machen. Prüfend sah er nach der Sonne. Sie neigte sich schon merklich,
aber er konnte kurz nach Sonnenuntergang in seinem Vaterhause anlangen.
Seit vielen Jahren hatte er nichts mehr von dort gehört, ja er wußte
nicht einmal, ob sein Vater noch am Leben war. Für den Alten selber
war dieser Sohn tot. Ein Sohn, der die Götter der Väter verlassen
hatte, der die Opfer verachtete, konnte sein Kind nicht mehr sein.
Ganz allmählich, ohne Haß, aber auch ohne Rücksicht, hatte er den Sohn
abgestoßen, wie der Baum einen welken Zweig abstößt.

Halb willenlos bog Suriyagoda in den ersten Seitenpfad ein, der von
der heiligen Höhe, wo Reinheit und Keuschheit herrschte, in die Ebene
hinabführte, zu den Menschen mit ihren Sorgen und ihrem Schmutz.

Er ging hier durch dichten Urwald, über dem es schon wie Abendstimmung
lag. Hier und dort ließ sich das hohle Brüllen eines Affen vernehmen.
Jetzt hörte Suriyagoda ein schweres Geräusch dicht über sich in den
Zweigen. Es waren zwei dieser häßlichen Tiere, die miteinander kosten.

Widerwillig blickte er vor sich auf den Weg. „Überall Liebe, überall
Liebe!“ Eilig schritt er weiter. Dieses Dämmerlicht des Urwaldes war
ihm trotz der langjährigen Gewohnheit immer noch unheimlich.

Wieder hörte er ein schweres Geräusch, aber diesmal weit abseits im
Dickicht. Er fuhr zusammen. „Ein Elefant?“ Dann sich seiner Furcht
schämend, blieb er trotzig stehen. Er wollte in klarem Bewußtsein diese
Gefühle der Feigheit vorübergehen lassen.

Regungslos stand er da, den Blick fest auf den Boden geheftet. Ein
Zug von Ameisen lag wie ein dunkler Strick vor ihm quer über den Weg
hin, die eine Hälfte des Heeres in der einen Richtung, die andere ihr
entgegen strebend, und jede in einer Hast, als gelte es, die letzte
Stunde dieses Lebens auszunutzen.

„Es ist die blinde Liebe für ihr Heim, das sie treibt,“ dachte
Suriyagoda, während er nachdenklich auf dieses Gewimmel blickte.

Plötzlich wieder dieses schwere Geräusch im Dickicht, aber näher. Das
mußte ein Elefant sein. Er fühlte, wie ihm die Knie zitterten. Solche
einzeln umherschweifenden Elefanten sind nicht wie Herden-Elefanten
friedlich, man möchte fast sagen kultiviert, sondern sie sind das
schlimmste und bösartigste Wild, das ein Mensch treffen kann.

Er wollte davon stürzen. Aber im nächsten Augenblick kam wieder diese
Scham vor sich selber. „Ich will mich nicht fürchten,“ sagte er fast
störrisch. Dabei stemmte er den Fuß in den Erdboden des Fußwegs wie
ein Ringer, der einen Halt gegenüber dem Gegner sucht. „Ehe ich mich
fürchte, will ich wissen, warum ich mich fürchte.“

Indem sah er etwas Weißes durch das Dickicht schimmern und ein Mensch
arbeitete sich, halb kriechend an den Weg heran, auf dem Suriyagoda
stand.

Es war Wogiswera, der Arzt und Schulmeister unten im Dorf.

Verwirrt sah der Mönch ihn an, als er herantrat und sich tief verneigte.

Ehe er das tat, legte er vorsichtig eine Art Grabstock und ein in weiße
Baumwolle gehülltes Bündelchen beiseite. Nach der Begrüßung richtete
er sich schnell auf und nahm Stock und Bündelchen wieder an sich. So
schritten sie schweigend den Pfad abwärts weiter, Suriyagoda zu sehr
mit der Scham über sich selber beschäftigt, um den anderen zu fragen,
Wogiswera zu bescheiden, um den Mönch, dem man Ehrfurcht schuldet,
anzureden.

Mit einer Art Ingrimm wiederholte Suriyagoda sich immer wieder: „Wovor
habe ich mich denn nun gefürchtet! Ist in allem das Göttliche und alles
im Göttlichen -- woher dann die Furcht? Wie stehts wohl mit meinem
Glauben! Schlecht stehts! Du Narr, du Narr nach beiden Seiten hin!“

Er lachte kurz auf.

Wogiswera warf ihm einen scheuen Seitenblick zu. Er war ein Mann, fast
doppelt so alt als der Mönch. Früher selber Mönch gewesen, war er vor
langen Jahren, kurz ehe Suriyagoda in Mihintale in den Orden trat, in
die Fesseln der Liebe gefallen, hatte geheiratet und Kinder gezeugt
und erwarb sich jetzt seinen Unterhalt mit Unterrichten der Kinder des
Dorfes und mit dem Heilen von Krankheiten.

Von Natur redselig, fiel ihm nichts schwerer als das Schweigen. So
benützte er den Augenblick, wo Suriyagoda auflachte und sagte:

„Es ist schwer, Herr, es ist schwer.“

Der Mönch sah auf. Sein Blick blieb auf dem weißen Bündelchen
Wogisweras hängen.

Unvermittelt fragte er:

„Was hast du denn da in dem Bündelchen?“

Sofort begann Wogiswera:

„Seht hier, es sind Kräuter darin; Heilkräuter für meine Frau. Sie ist
krank, schwer krank und fünf Kinderchen! Es ist schwer. Ein gutes Weib,
Herr! Das beste Weib der Welt. Ich will euch erzählen, wie sie krank
wurde. Sie war guter Hoffnung, müßt ihr wissen. Da bekommt sie neulich
Verlangen auf Zucker, weißen Zucker. Schickt den Diener hin. Weil ihr
der zu lange bleibt, tritt sie selber in die Gartenpforte, um nach
ihm auszusehen. Da sieht sie ihn, am Zucker naschend. Um ihn nicht zu
beschämen -- bedenkt, Herr, um ihn nicht zu beschämen, bückt sie sich
schnell zur Erde, als ob sie da was zu schaffen hätte. Und dabei ist
das Unglück gekommen. Sie war immer schwach und zart. Jetzt diese Last!
Fünf Kinderchen und kein Weib im Hause, nur Unruhe und Geschrei. Ach,
Herr, wenn ihr wüßtet, wie oft ich an den Klosterfrieden zurückdenke.“

„Möchtest du wieder in den Orden zurücktreten?“

„Ach, wie gern Herr! Aber kann ich! Jetzt sind es tausend Fäden,
damals war es einer, ein einziger. Ich hätte ihn zerreißen können --
so!“ Damit nahm er einen dürren Grashalm und zerriß ihn zwischen den
Fingern. „So leicht ist es im Anfang, der Lust zu widerstehen. Je
später, je schwerer.“

In diesem Augenblick drang der Ton der Klosterglocke von oben her zu
ihnen, tief dunkel, dröhnend, die letzte Tagesstunde anzeigend.

Unwillkürlich blieben beide stehen und lauschten. Beide zählten die
Schläge, einen nach dem andern.

Nachdem der letzte Schlag verklungen war, begann Wogiswera wieder:

„Seht, Herr, es ist im Leben gerade wie hier. Ein Schlag ist wie der
andere, -- einfach ein Schlag. Zählt ihr aber mit, so bekommt eben ein
Schlag Sinn und Wert aus dem andern. Was ist der letzte Schlag anderes
wie der erste? Ein Schlag schlechthin. Habt ihr aber vom ersten Schlag
ab mitgezählt, so ist es der höchste Schlag, den es schlägt. So ist es
im Leben, Herr. Es ist eines wie das andere, ein Schlag schlechthin.
Zählt man aber mit, so bekommt eines aus dem anderen Sinn und
Bedeutung und je länger man mitzählt, um so höher wird der Wert. Man
muß sich nun fügen. Es ist zu spät jetzt. Bin ich mehr als der Buddha!
Er verließ +ein+ Söhnchen, kann ich fünf verlassen?“

„Habt ihr fünf Söhne?“ fragte Suriyagoda zerstreut.

„Das nicht Herr. Ich meine nur so. Fünf Kinderchen.“

Er schwieg und Suriyagoda verfiel wieder in sein Grübeln.

Plötzlich begann er:

„Fürchtest du dich nicht im Djungel?“

Wogiswera schüttelte den Kopf. „Nein, Herr. Ich kenne den
Schlangenzauber und ich kenne den Elefantenzauber, und der
Elefantenzauber ist so stark, sagen sie, daß er für die Bären mit
hilft.“

„Er glaubt,“ dachte Suriyagoda. „Darum fürchtet er sich nicht.“

Indem stießen sie auf den Hauptweg, der nach rechts hin zum Kloster
hinauf, nach links hin zum Dorf hinabführte.

„Hier geht euer Weg, Herr,“ meinte Wogiswera, bergauf zeigend. „Ich muß
mich eilen. Es ist schon fast dunkel.“

Dabei legte er Stock und Bündelchen abermals schnell beiseite, kniete
nieder und verabschiedete sich von dem Mönch. Wie urplötzlich alles
eigenen Willens beraubt, wandte der sich sofort zur rechten und stieg
den bekannten Weg zum Kloster hinan, während der andere halb springend
bergab eilte.

Im Kloster angelangt, begab Suriyagoda sich sofort, ehe er noch
seine Zelle betreten hatte, zum Abt, jetzt fest entschlossen, alles
rückhaltlos zu beichten. Seinen Plan, das Kloster und den Orden ohne
vorherige Ankündigung zu verlassen, mußte er doch beichten.

Der Abt saß in seinem hohen, luftigen Gemach, das durch die spärliche
Beleuchtung noch größer aussah, auf einem sehr niedrigen Stühlchen, das
Suriyagoda sich nicht erinnerte, je bei ihm gesehen zu haben. Es war so
niedrig, daß Suriyagoda, als er vor ihm niederkniete, fast in gleicher
Höhe mit ihm sich befand.

Der Abt hatte ein Palmblatt-Manuskript vor sich und schien darin zu
lesen oder doch darüber nachzudenken. Das Licht stand hinter ihm, so
daß sein Gesicht im Dunkeln war, während auf Suriyagodas Gesicht voll
der Schein der Flamme fiel.

Es war weder Neu- noch Vollmondtag. Trotzdem, als der Mönch seine Bitte
aussprach, heute beichten zu dürfen, gab jener durch Schweigen seine
Zustimmung.

In innerer Hast begann Suriyagoda, weit ausholend, aber Jahre
zusammendrängend. Er erzählte vom Fakir, der ihm die große Liebe
prophezeit habe, vom Palmblattfächer, vom alten Abt. Dann, wie ein
vulkanischer Ausbruch, stoßweise, unzusammenhängend rang sich aus
ihm das Bekenntnis seiner inneren Kämpfe, dieses schreckliche Ringen
zwischen Verstand und Gemüt, das ihn zu entmannen drohe. An den
heutigen Fluchtversuch dachte er gar nicht mehr; er wäre auch zu
erschöpft gewesen, noch von ihm zu sprechen.

Der Abt saß regungslos. Man hätte ihn für einen Schlafenden halten
können, wenn das Auge nicht voll, aber mit eigenartiger Starrheit auf
einen Lichtreflex gerichtet gewesen wäre, den die hinter ihm stehende
Flamme auf dem Metallbeschlag des kleinen Schreines, der die heiligen
Schriften enthielt, spielen ließ. Es war wie ein mildes aber starkes
Sprühen, ein Licht-Wogen. Wie ein mächtiges Auge leuchtete es aus der
Tiefe des dunklen Zimmers heraus.

Als der Mönch geendet, herrschte langes Schweigen. Der Abt starrte
unentwegt in den glänzenden Lichtknauf vor ihm. Endlich begann er leise
und eintönig:

„Ich höre dieses und du, Bruder, höre auch. Es ist, als ob die Glocke
die letzte Tagesstunde verkündet. Ein Schlag, noch einer -- noch einer
-- zwölf Schläge. Jedes ein Schlag schlechthin. Zählt man aber mit, so
erhält ein Schlag aus dem andern Wert und Sinn -- ja so ist es: Wert
und Sinn einer aus dem andern.“

Weit aufgerissenen Auges starrte Suriyagoda den Sprecher an. Dessen
Augen hingen immer noch starr am Lichtknauf. Tiefer noch als sonst
lagen die harten Furchen des mageren Gesichtes. Die Lippen bewegten
sich lautlos, gleichsam mechanisch den letzten Worten nachschwingend.

Plötzlich ging es wie ein Erwachen durch seine Züge. Das Auge, bisher
gleichsam auf eine Unendlichkeit eingestellt, nahm Leben an. Er seufzte
leicht auf und alles schien vorüber. Mit seiner gewöhnlichen milden
Freundlichkeit blickte er auf den zu seinen Füßen knieenden Mönch. Er
nahm jetzt einen höheren Sitz und es lag fast wie ein schelmisches
Lächeln auf seinen Zügen, als er sagte:

„Bruder, müssen wir nicht alle durch eine große Liebe gehen? Der eine
nennt sie Weib, der andere Kind; der eine Geld, der andere Ehre, und
noch ein anderer nennt sie Gott. Aber alles dieses, mag es heißen wie
es will, es ist ja nichts als die Liebe zum eigenen Ich. Denn: ‚Nicht
um der Gattin willen ist die Gattin lieb -- um des Selbstes willen ist
die Gattin lieb.‘“ Und an diese Worte aus den Upanishaden anschließend
fuhr er fort:

„Nicht um des Göttlichen willen ist das Göttliche lieb -- um des
Selbstes willen ist das Göttliche lieb. Was aber ist das Selbst? Ist,
Bruder, dir wohl ganz klar geworden, was das Selbst ist? Ist, Bruder,
dir wohl das Verständnis aufgegangen, daß das Ich wesenlos ist, wie
die Flamme sich selbst unterhaltend durch die Nahrung, die es in jedem
Augenblick heranreißt. Ist aber, Bruder, dieses Verständnis dir nicht
ganz klar aufgegangen, daß das Selbst wesenlos ist; geht es dir wie
jenen, die am Tage vor dem Vollmond zweifelnd fragen: ‚Ist der Mond
wohl heute schon voll? Ist der Mond wohl heute noch nicht voll?‘, nun
so hast du eben um solche Einsicht, um solche Erkenntnis, um solches
Wissen, um solche Weisheit unermüdlich zu ringen. Aber es ist ja so,
Bruder! Weil man sich selber nicht kennt, deswegen liebt man sich
selber. Und weil man sich selber liebt, deswegen liebt man Gott. Hat
man aber sich selber erkannt, hat man begriffen: ‚Von Anfangslosigkeit
her brenne ich, mich selber unterhaltend, durch die Kraft meines
Wollens‘ -- Bruder, was soll da noch der Gott? Es ist ja alles klar
geworden!“ Bei den letzten Worten machte er eine leise Bewegung mit
der Hand, die aber den Eindruck machte, als umschriebe er das ganze
Weltall.

Suriyagoda hatte regungslos zugehört. Nach den letzten Worten erhob er
sich schweigend. Vor der Tür seiner Zelle, da wo das Weib die Blumen
hingelegt hatte, nahm er Platz. Die Nacht war mondlos aber sternklar
und wie leises Seufzen kam es aus dem Dunkel des nahen Waldes, wenn der
Nachtwind durch die Bäume ging.

So saß er, kreuzbeinig, den Körper gerade aufgerichtet, die Hände
verschlungen, das Auge fest nach innen geschlagen, die ganze Nacht. Als
er zum ersten Male aufblickte, glänzten die Dagobas von Anuradhapura
bereits im ersten Schein des neuen Tages. Jetzt schoß hinter ihm der
Sonnenball hoch und übergoß alles ringsum mit seinem Licht.

Suriyagoda erhob sich still, schüttelte einmal kräftig sein Gewand,
ordnete es frisch und begab sich zum Abt. Wieder vor ihm niederknieend
bat er um die Erlaubnis, von heute ab ohne Fächer lehren zu dürfen.

Der gab still lächelnd seine Zustimmung. Er wußte: „In dieser Nacht ist
dieser Bruder durch seine große Liebe hindurchgegangen, ist im Licht
aufgetaucht, wird im Lichte bleiben.“

So war es mit Suriyagodas Erwachen.

[Illustration]



[Illustration]



Nala, der Schweiger.


Diese Geschichte fängt an wie ein Märchen:

Es war einmal ein Mann, der lebte in der heiligen Stadt Kandy und dazu
garnicht weit vom Tempel des heiligen Zahnes. In der Gesetzes-Gasse
hatte er einen Laden und ernährte sich schlecht und recht.

Als dieser Mann fühlte, daß es mit ihm wohl bald zu Ende gehen könnte,
sprach er zu seinem Sohn: „Nala, mein Sohn, du weißt, deine Mutter und
Geschwister haben uns schon verlassen und sind weiter gewandert, (er
meinte: sie sind gestorben und haben eine neue Wiedergeburt erlebt.)
Auch meine elende Körperform, dieser Haufe Sankhāra steht im Begriff
sich aufzulösen und sich zu neuer Form wieder zusammen zu schließen;
denn das Nirvāna ist mir noch fern. Nun habe ich viel geschwankt, ob
ich mein Hab und Gut dem Tempel zum heiligen Zahn vermachen oder dir
hinterlassen soll. Als ich dich aber neulich deswegen befragte, und
du antwortetest: ‚Wie es dir beliebt, Vater,‘ da sah ich, daß du die
glückselige Gabe der Nachdenklichkeit besitzest und daß du das Geld
nicht dazu verwenden wirst, nur noch mehr zusammen zu häufen. Darum
will ich dir alles hinterlassen, nicht um dich träge zu machen, sondern
um dir das Leben der Nachdenklichkeit zu erleichtern. Denn es ist
schwer, nachdenklich zu sein, wenn man sein tägliches Brot erjagen muß.
Aber heilig und teuer mußt du mir zweierlei geloben: Erstens beherzige
stets den Satz des Buddha: ‚Wer nichts Liebes hat, der hat auch nichts
Leides‘ und zweitens: stelle nie eine Frage an ein Weib.“

Der Sohn versprach heilig und teuer, es sein Leben lang wie ein Gelübde
zu halten.

Darauf fuhr der Vater fort: „Dieses habe ich von dir verlangt, weil ich
dir all mein Gut hinterlassen habe, wo es doch viel verdienstlicher
für mich wäre, und mir bessere Wiedergeburt sichern würde, wenn ich es
dem Tempel schenkte. Denn du weißt, mein Sohn, daß im Tode die Wege
von Eltern und Kindern sich trennen, und daß niemand mit uns geht als
unsere Tat. Jetzt gebe ich dir aber einen guten Rat, den du befolgen
magst oder nicht: führe nicht diesen Handel fort, den ich führe. Mein
Karma war es, Weib und Kinder zu haben; darum mußte ich Handel treiben,
um sie zu ernähren. Am makellosesten lebt aber der Mensch, wenn er von
der Erde lebt. So kann er andere am wenigsten schädigen.“

Auch diesen Rat versprach der Sohn zu befolgen.

Einige Zeit danach starb der Alte. Der Sohn betrauerte ihn in
gebührlicher Weise, weil er aber ein guter Sohn war, so tröstete er
sich mit dem Gedanken an die Vergänglichkeit alles Entstandenen. Dann
nahm er alles, was sein Vater ihm hinterlassen hatte, und kaufte sich
oben am Berge auf der anderen Seite ein Häuschen mit einem Stück Land
und lebte dort einsam, aber friedlich. Wenn er in die gewaltige Ebene
zu seinen Füßen sah, in der die fernen Felsrücken Schiffen im Ozean
glichen, und die Ströme Silberadern, dann war ihm so froh, so ruhig zu
Mut. Tag für Tag dachte er: „Wie herrlich ist dieses Leben. Wer nichts
Liebes hat, der hat auch nichts Leides.“

Eines Tages nun sah er in seinem Garten ein Vögelchen, das war nicht
bunt und schillernd wie die anderen, sondern einfach schwarz und weiß
gefärbt und wippte mit dem Schwänzchen, daß es ein Vergnügen war, es zu
sehen.

Nala dachte: „Was bist du denn für ein kleiner Patron?“ und blieb
behutsam stehen, um es nicht zu stören. Da begann das Vögelchen eilig
zu tippeln und nach Insekten zu schnappen, immer von einem Ende
des Gartens zum anderen. Dann blieb es wohl ein Weilchen stehen,
so recht keck breitbeinig und sah zutraulich zu Nala hin. Mit dem
Schnabel bearbeitete es sein Gefieder, so weit es nur kommen konnte,
und am drolligsten sah es aus, wenn es oben am Hals herumpickte.
Dann breitete es einen Flügel aus und trat kräftig drunter, dann den
anderen. Wenn es aber sein Füßchen nahm und sich am Kopf kratzte, erst
eine Seite, dann die andere, so konnte Nala kaum vor Lachen an sich
halten.

Als es so ein paar Stunden gejagt und sich vergnügt hatte, flog es
zwitschernd davon.

Am nächsten Morgen, Nala sitzt ruhig in seinem Garten und schaut in die
Ebene hinab, ist plötzlich das Vögelchen wieder da und beginnt dasselbe
Spiel.

So ging es nun alle Tage, Woche für Woche. Sein erster Blick, wenn er
morgens in den Garten trat, galt dem Vögelchen. Und wenn es da war, so
hielt er sich sorgsam in der Seite des Gartens, in welcher es gerade
nicht jagte, oder er hielt sich gar im Hause, um es nicht zu stören.
Wenn es im Eifer ganz nahe an ihn herankam, so pflegte er zu sagen:
„Sieh doch einer den frechen kleinen Kerl.“ Und wenn er sich nicht in
den Garten traute, um es nicht zu stören, so meinte er schmunzelnd:
„Hier heißt es auch: Wem’s Haus gehört, der scher’ sich raus!“

So ging es viele Wochen. Eines Tages aber blieb das Vögelchen aus. Nala
wartete und wartete, aber vergebens. Ebenso am nächsten Tage und an
den folgenden: Das Vögelchen kam nicht. Da wurde er traurig, das Essen
schmeckte ihm nicht, und die Sonnen-Auf- und -Untergänge sagten ihm
nichts mehr.

„Was mag dem Vögelchen zugestoßen sein?“ dachte er. „Ist es mir untreu
geworden, weil es einen besseren Jagdgrund gefunden hat? Ist es von
einem Habicht oder einer Schlange gefressen worden? Ist es in eine
Schlinge geraten?“ Eine Möglichkeit war ihm so schmerzlich wie die
andere. Da merkte er, daß er etwas Liebes hatte, darum hatte er jetzt
dieses Leid.

„Wie recht hat doch der Erhabene“, dachte er, „wenn er sagt: ‚Wer
nichts Liebes hat, hat auch nichts Leides.‘ Ich muß mich sorgfältiger
hüten.“ Im stillen aber wartete er immer noch auf das schwarz-weiße
Vögelchen mit dem wippenden Schwänzchen und musterte alles Gefiederte
ringsum.

Da sah er eines Tags, wie ein Sperling sein Junges fütterte. Das saß
auf einem spitzen Ast, und das Alte hielt sich mühsam flatternd vor
ihm, bis es das Futter in den aufgesperrten Schnabel hineinbefördert
hatte. Das wiederholte sich wieder und wieder.

Nala sah nachdenklich. „Wie wundervoll!“ dachte er. „Nicht genug, daß
diese Mutter sich die Nahrung entzieht und gibt sie dem Jungen, läßt
sie sich auch die Mühe nicht verdrießen, ihm flatternd die Nahrung zu
geben. Sie sagt nicht: Du, komm herunter von deinem spitzen Ast, Du
machst mir die Arbeit zu schwer! Wundervoll, fürwahr!“ Das machte, sein
Herz war voll von Liebe wegen des Vögelchens.

Da sann Nala hin und her, vom Morgen bis zum Abend. Nachts schlief
er. Endlich sagte er sich: „Es ist doch besser, ich nehme ein Weib.
Es scheint mir nicht gut, sich der Natur zu widersetzen. Meine beiden
Gelübde kann ich doch halten. Es ist nicht verboten, sein Weib zu
achten und zu ehren, und fragen will ich sie nimmer.“

Als er so entschlossen war, setzte er sich vor die Tür an die Straße.
Er dachte: „Vielleicht kommt die Rechte hier vorbei.“ Es kam aber nur
ab und zu ein Lastträger oder ein altes Weib mit einem Korb auf dem
Kopfe. Die sagten nichts als: Guten Tag! und gingen vorüber.

Da er nun einsah, daß es so unmöglich ging, spazierte er hinunter in
die Stadt. Er war aber schüchterner Natur und wagte kaum ein Weib
anzusehen.

Nahe vor der Stadt kam er an einer einzelnen Hütte vorbei. Vor der
saß ein Mädchen und hatte vor sich auf einem schwarzen Brettchen ein
Zuckerrohr, ein Stück Büffelhorn und ein Stück Elfenbein liegen.

Nala blieb stehen und besah sich alles. Für sein Leben gern hätte er
gefragt, was das bedeute, aber er durfte ja nicht.

Als er ein Weilchen schweigend gestanden hatte, begann das Mädchen:
„Was stehst Du denn da und fragst nicht, was das bedeutet?“

„Ich darf keine Fragen stellen“, sagte Nala.

„Weshalb denn nicht?“ lachte sie.

„Weil ich es meinem Vater gelobt habe.“

„O, so bist Du Nala aus der Gesetzesgasse!“ Das Mädchen lachte laut.

„Ich wohne nicht in der Gesetzesgasse“, sagte Nala. „Ich wohne oben am
Berg auf der anderen Seite und habe dort ein hübsches Häuschen.“

„Schadet nichts. Ich weiß schon, Du bist Nala.“ Dabei lachte sie, daß
alle Zähne zu sehen waren.

Wieder hätte er von Herzen gern gefragt: „Weshalb lachst Du denn so?“
aber er durfte ja nicht. Da begann sie auch schon:

„Die Leute sagen, daß Du niemals ein Weib irgend etwas fragen dürftest.
Wie willst Du aber jemals eine Frau bekommen, wenn Du nicht fragen
darfst, ob sie Dich will?“

Nala bekam einen gewaltigen Schreck. Wahrhaftig! Daran hatte er noch
garnicht gedacht. Er kratzte sich hinterm Ohr und sah das Mädchen
bestürzt an.

„Nun“, meinte sie, „vielleicht wird es nicht so schlimm. Schließlich
findest Du auch so schon eine, wenn Du recht suchst. Aber wenn Du doch
mal nicht fragen darfst, so will ich dir erklären, was das Brettchen
hier zu bedeuten hat: Das Zuckerrohr bedeutet: Süß muß mein Liebster
sein wie Zuckersaft. Das Büffelhorn bedeutet: Stark muß er sein wie
ein Büffel. Das Elfenbein bedeutet: Edel und klug muß er sein wie ein
Elefant.“

„Himmel“, dachte Nala, „wenn die Weiber alle so anspruchsvoll sind, wie
soll dann selbst ein Mann, der fragen darf, zu einer Frau kommen?“ Daß
die Dirne ihn aber so ausgelacht hatte, das verdroß ihn sehr. Er sagte
sich: „In Kandy bekommst du nie und nimmer ein Weib. Sie werden dich
alle auslachen.“

Da kehrte er denn betrübt zurück, verschloß sein Haus und wanderte nach
Norden zu. Er wollte so wandern, bis ihm der Zufall ein Weib zugeführt
hätte. So wanderte er Tag und Tag, und wenn die Karrentreiber auf der
Straße ihn frugen: „Wo willst Du hin?“ so sagte er: „Ich weiß nicht.“
Dann lachten sie und meinten, er wäre nicht recht bei Troste. Er aber
dachte: „Lacht ihr nur!“ Um keinen Preis wollte er jedem Hans auf der
Landstraße erzählen, daß er nach Norden zöge, um ein Weib zu suchen.

Eines Tages sah er ein Stück von der Landstraße entfernt einen schönen
See liegen, der gar lockend aussah mit dem Kranz schattiger Bäume
ringsum. Er ging darauf zu und war gerade im Begriff sich behaglich
am Ufer hinzustrecken, da hörte er einen Schrei und sah ein Mädchen
von einem Baum stürzen. Schnell sprang er zu. Es war nichts böses
geschehen, aber ein Knöchel war verrenkt.

Nala setzte sich neben das Mädchen und wartete, bis sie ausgejammert
hatte, denn sie gebärdete sich, nicht als ob sie einen Knöchel
verrenkt, sondern als ob sie beide Beine gebrochen hätte.

Als sie endlich still geworden war, fing sie an, sich zu wundern, daß
er immer noch nichts sagte. „Weshalb sagst Du denn nichts? Weißt Du
denn, wie ich auf diesen Baum gekommen bin?“

„Nein.“

„Nun, so frag’ doch!“

„Ich darf nicht fragen. Es ist ein Gelübde.“

„Lieber Himmel! Was für ein böses Gelübde“, sagte das Mädchen
mitleidig. „Wie machst Du es aber, wenn Du den Weg verloren hast und
weißt nicht wohin?“

„Es ist nicht so. Ich darf nur ein Weib nichts fragen.“

„O, das ist es“, lachte sie. „Weil Du doch nicht fragen darfst, so will
ich es Dir von selber erzählen, wie ich auf diesen Baum gekommen bin.
Aber wie heißt Du eigentlich?“

„Ich heiße Nala.“

„Und ich heiße Katha. Du darfst nicht denken, daß das mein richtiger
Name ist, aber die Leute rufen mich so, so magst Du es auch tun. Also
siehst Du, von diesem Baum sagen die Leute im Dorf, wenn ein Mädchen
bei Tage hinaufklettert und alle Beeren ißt, ohne von einem Menschen
gesehen zu werden, -- Du mußt wissen, hier baden viele Leute --, so ist
der erste Jüngling, den sie nachher trifft, ihr Zukünftiger. Wird sie
aber dabei von jemandem überrascht, so ist alles verloren. Das böse ist
nun, ich hatte gerade die letzte Beere gepflückt und mein Leib ist voll
wie eine Tonne, da kommst Du dazu und verdirbst mir alles. Wie ich
Dich sehe, erschrecke ich, trete fehl und falle runter.“

„Das tut mir entsetzlich leid,“ sagte Nala und blickte sie ganz
bekümmert an. „Aber was bin ich für ein Dummkopf,“ rief er plötzlich,
sich vor die Stirne schlagend. „Ich habe Dich ja gar nicht auf dem Baum
gesehen, sondern erst, als Du runterfielst.“

„So? Bist Du ganz gewiß?“

„Ganz gewiß! Verlaß Dich drauf. Deine Hacke war mindestens eine
Handbreit vom Baum, als ich Dich sah.“

„Bin ich denn kopfüber gefallen, Nala?“

„Wahrscheinlich doch, Katha.“

„Hab’ ich denn sehr albern ausgesehen beim Hinunterfallen?“

Nala sann nach, während sie ihn scharf fixierte. „Besinn’ Dich ja!“
mahnte sie.

„Wahrhaftig, ich weiß es nicht. Du warst so schnell unten.“

„Hast Du schon ’mal ein Mädchen vom Baum fallen sehen?“

„Nie in meinem Leben.“

Nach einem Weilchen begann sie: „Wenn Du sicher bist, Nala, daß meine
Hacke schon aus dem Baum heraus war, so kann ja alles noch gut werden.
Aber was ich für ein Dummkopf bin,“ rief sie plötzlich, sich vor die
Stirn schlagend. „Wenn Du mich nicht mehr auf dem Baum gesehen hast,
so...“ Sie stockte.

„Wahrhaftig, Katha, Du hast recht.“ Er stockte auch.

„Ich muß jetzt nach Hause,“ sagte sie und wollte sich erheben. Sie
hatte aber ihren kranken Knöchel vergessen und schrie laut auf vor
Schmerz.

„Du lieber Himmel, wie soll ich nach Hause kommen?“ jammerte sie.

„Ich trage dich hin“, sagte er entschlossen.

Sie lachte wieder. „Das ist ja viel zu weit. Aber weißt Du was, trage
mich nur bis an die Landstraße. Dort warte ich auf einen Karren, der
wird mich mitnehmen.“

Da nahm er sie auf seinen Arm und trug sie zur Landstraße hin. Sie
beugte sich von ihm ab.

„Leg’ Deinen Arm um meinen Hals“, sagte er. „Ich kann Dich so nicht
tragen.“

Da legte sie den linken Arm um seinen Hals, und weil sie nun doch schon
mal diese Stellung hatte, so sagte sie: „Nala, ich habe Dich lieb.“

„So kannst Du mein Weib werden, Katha“, rief Nala geschwind.

„Kann ich wirklich?“ antwortete sie schnippisch. „Da sind mehr, die auf
mich warten, als Du allein.“

„Ich dachte nur, weil Du auf den Baum geklettert bist,“ sagte Nala
kleinlaut.

„O“, entgegnete sie so recht von oben herunter, „das sind solche
Mädchenstreiche. Alle Mädchen im Dorf tun das. Du mußt nicht denken,
daß Dir nun schon alles sicher ist, weil Du mich hast vom Baum fallen
sehen.“

„So bin ich aber doch Dein Zukünftiger“, beharrte Nala.

„Ja, wenn ich Dich will.“

„Du hast aber doch gesagt, daß Du mich lieb hast.“

„Das sagt garnichts. Wie kann ich Dein Weib werden, wenn Du mich nicht
darum fragst?“

„Aber ich darf doch kein Weib fragen, Katha.“

„Willst Du denn in der Ehe Dein Weib auch nicht fragen, ob sie Dich
noch lieb hat?“

„Ich darf nicht, Katha.“

„Nala“, sagte sie und legte ihren Arm etwas fester um seinen Hals,
„bist du schon müde?“

„Ich fühle noch garnichts“, sagte er munter und schwenkte sie etwas zur
Bekräftigung.

Sie lachte vor Vergnügen und sagte: „Nala, ich kann Dir die Frage
eigentlich nicht erlassen. Wenn Du aber garnicht kannst, so will ich
Dir erlauben, etwas anderes dafür zu tun. Wenn Du mich von hier nach
meinem Dorfe trägst, so will ich dein Weib sein ohne Frage und Dir den
schönsten Verlobungskuß geben. Wenn Du unterwegs auch nur frägst, ob Du
absetzen darfst, so hast Du schon verloren. Wenn es Dir aber zu schwer
wird, so brauchst Du nur zu sagen: ‚Katha, willst Du mein Weib werden?‘
so ist alles gut.“

Sie waren jetzt an der Landstraße. Nala war ein kräftiger Bursche. Er
dachte: „Ich schaff’s schon. Überdies kann ich wandern, bis ich alt und
grau bin, wenn es mir hier nicht glückt.“ Er hielt die Weiber für den
rarsten Artikel der Welt. Darum sagte er:

„Gut, Katha, das soll ein Wort sein. So trage ich Dich denn bis ins
Dorf.“

„Nein! Wo denkst Du hin! Nur bis an das Buddha-Bild. Ich zeige es Dir
schon. Es ist nur eins.“

„Gut, aber ich habe auch meine Bedingungen.“

„Was denn für welche?“

„Erstens erlaube, daß ich Dich noch einmal hier absetze.“

„Das darfst Du, Nala.“

Er ließ sie vorsichtig auf das Gras gleiten.

„Zweitens mußt Du Dich ganz fest an mich halten, damit ich es leichter
habe.“

„Auch das will ich, Nala.“

„Und drittens darfst Du kein Wort unterwegs sprechen. So wie Du nur
einen Laut von Dir gibst, hast Du verloren und ich habe gewonnen.“

„Ich gelobe es Dir heilig und teuer.“

So glaubte Nala sich gut vorgesehen zu haben. Nur eins hatte er
vergessen zu fragen: wie weit es denn überhaupt sei bis zu ihrem Dorf.

Als er sich ausgeruht hatte, nahm er sie wieder auf den Arm wie man ein
Kind nimmt. Sie schmiegte sich, ihrem Versprechen getreu, so eng an
ihn, daß ihr fester runder Busen voll auf seiner Brust lag.

„Ist’s recht so?“ fragte sie. „Das gilt aber noch nicht mit, weil Du
noch nicht gehst.“

„Es ist recht so“, sagte er mit gepreßter Stimme. „Jetzt gehe ich.“

Damit begann er vorwärts zu schreiten. Ihm war, als ob er sein ganzes
Leben so wandern möchte mit dieser Last im Arm. Er hörte förmlich,
wie das kleine Herz Schlag für Schlag tat, er fühlte wie Busen und
Leibchen sich hoben und senkten, und jeder Atemzug ging ihm wie ein
kühler Hauch über die Wange. Er meinte, ihm wäre noch nie so wohlig
gewesen. Glücklich still schritt er fürbaß. „Weshalb hat der Erhabene
nur gelehrt: Wer nichts Liebes hat, hat auch nichts Leides?“ dachte er.
„Was soll mir aus diesem Lieben hier für Leides erwachsen!“ Nie ist ein
Gelübde in größerer Gefahr gewesen.

Nun war es gerade die frühe Nachmittagszeit, und die Sonne brannte
unbarmherzig. Nala war noch keine tausend Schritt marschiert, als es
ihm schon gewaltig heiß und durstig war. Aber tapfer schritt er weiter.
Das Mädchen lag lautlos an seiner Brust. Immer langsamer wurde sein
Schritt, immer stärker die Versuchung, die kleine Frage zu tun, die ihm
mit einem Schlag alles gab und ihm nur eines nahm: sein Gelübde.

Er wartete still, ob sie nicht vielleicht sich vergessen und etwas
sagen würde, etwa: „Sieh nur den schönen Vogel, Nala!“ oder: „Dort
ist ein Stein, Nala! Nimm Dich in Acht!“ oder: „Dort ist ein schöner
Schatten, geh dort, Nala!“ Aber nichts dergleichen geschah. Sie war
stumm wie ein Fisch. Er begann zu keuchen. Vom purpurroten Gesicht
rieselte der Schweiß. Der lebensvolle Leib, vorhin Inbegriff der Wonne,
war ihm jetzt wie Blei und hitzte ihn unerträglich. Von Zeit zu Zeit
lüftete er die Last ein wenig, um auch seiner Brust einen Moment
Freiheit zu gönnen. „Wie hartnäckig ist solch ein Weib“, dachte er.

Sie ihrerseits fühlte sich ganz behaglich und kalkulierte
folgendermaßen: „Wenn er solch ein Starrkopf ist, daß er lieber umfällt
vor Erschöpfung, als dieses törichte Gelübde aufgibt, so muß ich bei
Zeiten seinen Starrsinn brechen. Geb’ ich heute nach, so muß ich immer
nachgeben. Im Übrigen: was hab’ ich zu riskieren? Setzt er ab, hab’ ich
gewonnen. Trägt er bis zu Ende, nun so hab’ ich nichts verloren.“ So
ließ sie sich ganz ruhig auf und ab wiegen und hörte seinem Keuchen zu
wie der Schiffer dem Knarren seines Schiffes.

Als aber das Keuchen immer schwerer wurde, fast ein Stöhnen; als der
Schritt immer unsicherer wurde, da bog sie vorsichtig ihren Kopf
rückwärts und blickte ihm ins Gesicht. Es war blaß geworden, fingerdick
traten die Adern an Hals und Schläfen heraus und die Augen schienen aus
den Höhlen quellen zu wollen.

Nala merkte die Bewegung und dachte: „Dem Himmel sei Dank! Endlich!
Jetzt wird sie sagen: Es ist genug!“

Die erschrak freilich, als sie dem Mann in’s fremde Gesicht sah, aber
sie kniff die Lippen aufeinander. Das hieß: „hält er sein Gelübde,
halt’ ich’s auch.“

Nala dachte: „Wie unbarmherzig ist solch ein Weib.“ Er machte eine
letzte Kraftanstrengung. An einer Biegung des Weges winkte das
Buddha-Bild. Mit schlotternden Knien, dem Hinstürzen nahe, setzte er
seine Last auf den Sockel des Bildes nieder.

Das Mädchen breitete allsogleich gar lieblich die Arme aus und spitzte
das Mäulchen zum Verlobungskuß. Nala aber tat ein paar gewaltige
Schnaufer, so als ob sich einer ordentlich das volle Herz frei
schnauft, dann sagte er: „Wart’ ein wenig, Katha!“

Damit begann er sich den Schweiß zu wischen, erst mit dem Handrücken.
Aber was war der Handrücken für diese Bäche. Dann nahm er das
Sacktüchlein, dann die Ärmel seines weißen Jacketts, endlich gar den
Zipfel des Lendenschurzes. Und er übereilte sich nicht, ja fast sah
es aus, als wenn er sich so recht zum Vergnügen Zeit ließ, und der
steinerne Buddha sah ihm zu und lächelte. Derweil saß das Mädchen fest
auf ihrem Piedestal, wie einer, der niesen will und nicht kann, oder
wie einer, dem das Wasser im Munde zusammengelaufen ist und der doch
nicht ausspucken darf.

Als nun Nala endlich fertig war, sagte er freundlich: „Jungfer
verzeiht! Es ist mir unterwegs eingefallen, Eure Hacke war doch noch im
Baum, als ich Euch runterfallen sah. So müßt Ihr schon noch mal Beeren
essen gehen.“ Sprach’s, machte Kehrt und ging spornstreichs nach seiner
Heimat zurück.

Dort angekommen, sah er wieder auf die gewaltige Ebene zu seinen Füßen,
in der die fernen Felsrücken Schiffen im Ozean glichen, und die Ströme
Silberadern, und alle Tage sah er die Sonne im Osten hoch- und im
Westen niedergehen. Und weil er so in stiller Ruhe Jahr für Jahr lebte,
kam er schließlich in das Ansehen eines Weisen, ja in den Geruch eines
Heiligen. Und wenn Leute, Unglückliche, Beladene, zu ihm kamen und ihn
fragten: „Vater, wie hast Du nur den Grad dieser stillen Heiterkeit
erreicht?“ so pflegte er zu antworten: „Wer nichts Liebes hat, der hat
auch nichts Leides!“ Und wenn der Besucher ein Mann war, so fügte er
hinzu: „Richte nie eine Frage an ein Weib.“

So kam Nala in den Ruf immer größerer Weisheit und Heiligkeit. Und wem
das Leben ein leidvolles Ding geworden ist, der mag nur hingehen und
sehen, ob Nala noch lebt; denn sein Sprüchlein ist ein gutes Sprüchlein.

[Illustration]



[Illustration]



Il Penseroso.


In Kolombo lebte ein Mensch namens Wijasingha, der von seinem Vater
ein Häuschen und 10000 Rupien geerbt hatte. Damit lebte er, ohne daß
man sonderliches von ihm hörte. Der lernte eines Tages das Glück der
Liebe kennen, wie die Menschen sagen. Von jeher war sein Herz der
Liebe geneigt gewesen. Er liebte, geliebt zu werden. Auf alles ringsum
ließ er seine Sympathien überfließen, und da all Zusammenkommen nichts
ist als der Anfang der Trennung, so strichen in einem fort Wolken
über seine Lebenssonne hin. Es war ein ständiger Wechsel von Licht
und Schatten, von Haften und Trennen. Oft dachte er: „Wie entgeh’ ich
diesem ermüdenden, schmerzhaften Spiel?“ Da kam diese große Liebe,
diese wolkenlose Sonne mit strahlendem Licht, aber quälender Glut.

Der Vater seiner Geliebten war reich, geizig und stolz, und man wußte,
daß schon mancher Freier von ihm abgewiesen war. Er hieß de Soysa und
wohnte in der Vorstadt Kolpetti.

Als Wijasingha sich der Neigung Lucias, so hieß seine Geliebte,
versichert hatte, faßte er sich ein Herz und trat mit seiner Bitte vor
den Vater.

De Soysa begann bedächtig: „Freund, Du bist nicht der erste, der meiner
Tochter wegen kommt, vielleicht wirst Du auch nicht der letzte sein“
-- unserem Wijasingha sang der Mut gewaltig --, „indes“, fuhr de Soysa
fort, „ich kannte Deinen Vater, ich kenne Dich; Ihr seid ehrbare Leute.
Ich weiß auch, daß Du wohl erzogen bist. Aber wie steht es mit dem
Wichtigsten?“

„O, ich denke, der Liebe Deiner Tochter bin ich gewiß.“ De Soysa
lachte, daß sein Bauch etwas unruhig wurde. „Das mag für dich das
Wichtigste sein, aber nicht für mich. Ich meine, wie steht es mit dem
Geld? Wie viel nennst du dein eigen?“

„Du kennst mein Haus. Außerdem habe ich 10000 Rupie.“

„Nun, Freund, dann geh’ nur nach Hause. Aus dem Handel kann nichts
werden.“ Als er aber Wijasinghas kummervolles und erschrecktes Gesicht
sah, da kam auch in sein Herz, welches nur einer edlen Neigung, nämlich
der für die edlen Metalle fähig war, etwas wie Rührung. Fast freundlich
fuhr er fort:

„Siehst Du, was soll einer, der für seine Kinder sorgt, heutzutage
anders machen. In früheren Zeiten galt ein Mensch so viel, als er eben
war. War er wirklich was, so galt er was; war er nichts, so galt er
nichts. Heute aber gilt jeder nicht das, was er ist, sondern das, was
er hat. Wie sollen wir uns vor diesen Europäern anders retten, als
daß wir gleichfalls beginnen, Geld aufzuhäufen? Ich weiß, es sind
hier in dieser Stadt viele arme Schlucker, die im Lendenschurz und in
Rindsleder-Sandalen umherlaufen, die sehen scheel auf mich, weil sie
denken, es ist genug, das Wort des Buddha zu studieren und im übrigen
die Welt laufen zu lassen, wie sie will. Schön! Sie sollen studieren,
so viel sie wollen, aber sie sollen auch nicht heiraten. Sie schimpfen
mich einen gottlosen Geldprotz. Aber glaub’ mir, Wijasingha, ich weiß,
was ich tue. Du bist aber nicht gekommen, um das zu hören. Ich will
milde zu Dir sein wie noch zu keinem anderen. Rühr’ Dich! Zeig, daß
Du es verdienst, daß Dein Vater dir 10000 Rupie hinterlassen hat. Sie
sind ihm sauer geworden, ich weiß es. Wenn Du vor mich treten und
sagen kannst: 20000 Rupie sind mein eigen, so sollst Du Lucia haben,
vorausgesetzt, daß sie Dich dann noch will. Bis dahin aber halte dich
fern von ihr; wenn Du willst, daß ich Dir wohlgesinnt bleiben soll.“

Das war unserem Helden ein bitter-süßer Bescheid. Er hatte wohl
gelernt, sich mit seinem Teil einzurichten, er wäre auch bereit
gewesen, sich mit weniger zu begnügen, aber nie hatte er darüber
nachgedacht, wie er wohl sein Ererbtes vermehren könnte.

Als er so in tiefsten Gedanken seinem Hause zuschritt, traf er einen
bekannten Kaufmann.

„Weshalb so nachdenklich, Freund Wijasingha?“ Der sah ihn an, als ob er
aus einem Traum erwache.

„Weißt Du ein Mittel, aus 10000 Rupien 20000 zu machen?“

„Weshalb nicht 100000?“ meinte der lachend.

„Mir ist gar nicht zum Spaßen. Weißt Du kein Mittel, um Geld zu
verdienen?“

„Was hast Du denn mit einem Mal? Du bist doch sonst nie aufs
Geld-Verdienen gewesen.“

„Laß das nur gut sein. Weißt Du mir gar nichts zu raten?“

„Ich wüßte schon etwas. Ein paar Kaufleute haben sich zusammengetan,
um ein Fahrzeug auszurüsten. Wir wollen bei Manaar Perlen fischen. Das
könnte seine 20 oder 30 vom Hundert abwerfen.“

Wijasingha spitzte die Ohren. „Ich will mich mit 10000 Rupien
beteiligen“, sagte er entschlossen.

„Ich denke, da tust Du nicht schlecht“, meinte der Kaufmann, und der
Handel wurde abgemacht.

Einige Zeit nachher kam der Kaufmann zu Wijasingha: „Freund, unsere
Sache steht schlecht, wenn wir nicht noch ein paar tausend Rupien
auftreiben, um uns halten zu können. Die Funde müssen kommen, siehst
Du; alles liegt nur daran, Zeit zu gewinnen. Wir haben alle Weib und
Kind, Du bist ledig. Überdies wird nichts geschafft, so geht mit dem
unseren auch Dein Geld verloren.“

Da entschloß sich Wijasingha, verkaufte sein Haus und tat die 4000
Rupien auch noch in diesen Handel.

Als nun trotz allem die ganze Sache verloren war, war er ein Bettler.

Lucia hatte das Unglück ihres Geliebten erfahren, und er wußte, daß sie
es erfahren hatte. Damit begnügte er sich. Der Mensch ist im Unglück
gefaßter und verständiger als im Glück, und weil jede Spur von Hoffnung
verloren war, so sagte er: „Es ist mein Karma. Ich muß mich fügen.“ Ob
es freilich bei ihm Verständigkeit oder Unbeständigkeit war, ist schwer
zu sagen. Sein späteres Leben spricht fast für letzteres. Immerhin:
Völlig ohne Hoffnung sein, ist wahrlich nicht das schlimmste, weil es
uns anregt, aus jenem Trost zu holen, das für alles Trost bietet: das
Wort des Buddha, in dem alles Leid des Menschenherzens sich auflöst wie
die Monsunwolken auf den Bergen, wenn sie ins warme Tal hinabgleiten.
Wenn aber der Mensch vor dem zertretenen Feuer seiner Hoffnungen sitzt
und das letzte Fünkchen schürt und hütet, und nichts anderes sieht und
denkt, das verdirbt dieses und das nächste Leben.

So hatte Wijasingha nichts gerettet als einen gesunden Körper. Kurz
entschlossen vermietete er sich als Führer eines Karrens, der zwischen
Mātabe und Jaffna verkehrte. Das ist ein rauhes Leben voll äußerer
Unruhe, aber gesund und beruhigend. Wenn sie abends am Brunnen
lagerten oder am See, und er abseits in der stillen Nacht saß, so
glitten freilich die Gedanken zurück, wie die Wasser abwärts fließen,
aber nicht in Gram und Verzweiflung, sondern in Nachdenklichkeit. Wenn
der Mensch aber erst einmal dahin kommt, daß er über sein Unglück
denkt, so löst es sich ihm auf im Denken. Denn wer richtig denkt,
der stößt auf das große Gesetz von der Vergänglichkeit, und wer auf
dieses stößt, der stößt auf das große Gesetz vom Leiden, und wer dieses
wittert: „Alles ist leidvoll,“ der denkt: „Was soll das Greifen! Ich
greife ja nur das Leiden. Besser wahrlich ist es, ruhig in sich zu
bleiben.“

So wurde ihm seine zertretene Liebe zur Staffel, auf der er in
jene heiter-stillen Regionen trat, in denen sich kein Lüftchen der
Leidenschaft mehr regt. Aber es war nur ein Gefühl, kein Wissen.

Als er etwa ein halbes Jahr lang zwischen Mātabe und Jaffna gefahren
war, da kam ihm der Gedanke: „Wenn ich schon mein Leben lang als
Karrenführer dienen muß, was fahre ich denn gerade in diesem
heidnischen Lande.“ Jaffna liegt nämlich im Tamilen-Land und die
Tamilen sind Shiva-Anbeter.

So wechselte er seine Stellung und verdingte sich für einen Karren, der
nach Süden fuhr. Es war ihm wohler, wenn er die Dagobas und die Viharas
sah.

Er mochte auch hier wohl ein halbes Jahr gefahren sein, da kam er mit
seinem Karren eines Tages nach Ratnapura, der Edelstein-Stadt, in der
heute noch viele Steine gefunden werden.

Hier ereignete es sich, daß einer der Buckelochsen krank wurde, und er
einige Tage warten mußte. In seiner Muße setzte er sich an das Ufer
des Baches und, indem er eine handvoll Sand langsam durch die Finger
gleiten ließ, dachte er: „So gleiten die Augenblicke, so gleiten die
Leben. Endlos ist die Reihe der Wiedergeburten, selig die Ruhe des nie
mehr Auferstehens.“

Als aller Sand hindurchgeglitten war, blieb ihm ein Gegenstand in der
Hand zurück, bei dessen Anblick es ihn wie ein Schlag durchzuckte. Fort
waren die Gedanken vom Fluß aller Dinge und strahlend stand eines vor
ihm: Glück, Liebe, Lucia! Wie Wolkenschichten ziehen die Gedanken in
uns, eine Schicht über der andern, und wenn ein frischer Windstoß die
unteren Wolken zerreißt, so lugen oben die Lämmerwölkchen durch, die in
entgegengesetzter Richtung ziehen. Volle Ruhe ist nur, wo nicht mehr
Strömung und Gegenströmung ist: die windstille, wolkenlose Ruhe des
Wissens.

„Wie viel forderst Du für den Stein?“ fragte ihn der Händler.

„20000 Rupien,“ erwiderte er ohne Besinnen, „und das Reisegeld von hier
bis Kolombo.“

Der sah ihn verwundert an und zahlte. Er mochte das Dreifache dafür
wieder bekommen; denn es war ein Edelstein, wie er seit vielen Jahren
nicht mehr gefunden war.

Daß unser Held sich auf dem Wege von Ratnapura nach Kolombo nirgends
aufhielt, läßt sich heute noch nachweisen, weil er Extrapost nahm, und
in den Postbüchern Tag und Stunde von Abreise und Ankunft verzeichnet
stehen.

Wie er ging und stand begab er sich zu de Soysa.

„Hier sind 20000 Rupien. Gib mir jetzt Deine Tochter.“

Der ließ sich erzählen. „Du hast Glück“ sagte er dann. „Glückskind bist
du,“ sagte er noch mal fast neidisch, „erstens weil Du den Edelstein
gefunden hast und zweitens: Was nutzt einem Verliebten ein Diamant,
groß wie ein Mangokern, wenn die Liebste nicht mehr da ist!“

„Wie meinst Du das?“

„Erschrick nicht! Ich sage ja, Du hast Glück. Sie hat mir nach Deiner
Abreise so lange in den Ohren gelegen, ihr doch noch ein Jahr Freiheit
zu gönnen, um, wie sie sagte, das Trauerjahr für Dich halten zu können,
daß ich schließlich nachgegeben habe. Weil ich aber für Pünktlichkeit
bin, so habe ich mir den Tag gemerkt. Morgen wird es just ein Jahr, daß
Du weg bist, und es warten Freier. Deswegen sagte ich: Du hast Glück.“

Am nächsten Tage schon wurde Verlobung gefeiert, und unserem Wijasingha
war, als ob alle Seligkeit des Himmels herunter gekommen wäre und sich
just in sein Herz einquartiert hätte.

De Soysa neigte europäischen Anschauungen zu, nicht als ob er ihr
Freund gewesen wäre, aber sein Lieblingsspruch war: „Man muß sie (er
meinte die Europäer) mit ihren eigenen Waffen schlagen.“ Deshalb war
das Leben in seinem Hause halb europäisch, deshalb hatte auch seine
Tochter eine sorgfältige Ausbildung genossen und einen europäischen
Namen bekommen. Er pflegte sich über solche alten poetischen Namen wie:
„Freund des Jasmin“ oder „die Blüte öffnet sich“ und andere derart
lustig zu machen. Dabei hielt er aber streng an der Religion des
Buddha, hatte auch oben auf dem Fels vom Isevimaniya-Kloster ein Gitter
gestiftet mit einer steinernen Gedenktafel. Gestiftet von M. de Soysa
im Jahre -- des Buddha. Ja, er ging sogar mit der Absicht um, eine
neue Predigthalle in der Nähe des heiligen Bobaumes in Anuradhapura
zu errichten. Seine Frau freilich war wenig mit seinen europäischen
Neigungen einverstanden. Sie sah im Abweichen von den alten Sitten das
Verderben und hielt sich am liebsten in der Abgeschiedenheit. Auch trug
sie die steife Tracht der vornehmen Singhalesinnen, während Lucia sich
europäisch kleidete auf Wunsch des Vaters. Als die Tage des ersten
Rausches vorüber waren, sagte de Soysa:

„Mein Sohn, ich bin kein Freund eines langen Brautstandes. Langer
Brautstand kommt mir vor, als wenn jemand sich den Strick um den Hals
schnürt, bevor er sich wirklich hängen will.“ Er lachte, daß draußen
ein paar Vögel erschreckt aufflogen und überließ es Wijasingha, sein
Gesicht zu stellen, wie es ihm gutdünkte.

„Nun, nun,“ fuhr er fort, „man macht so seine Scherze. Der Tag sieht am
Abend anders aus wie am Morgen. Also auf den Tag einen Monat soll Euer
Brautstand dauern. Dann gibt es Hochzeit.“

Unserem Wijasingha war, als ob man ihm nach der Aloe Honig in den Mund
steckte.

„Nun aber rühr’ Dich,“ fuhr de Soysa fort, „daß Du Deine Frau in ein
Heim führen kannst, wie es sich für Dich und mich gehört.“

„Ich dachte, in der Umgegend der Stadt ein kleines Häuschen zu erwerben
und da einfach und zufrieden zu leben.“

„Laß den Gedanken fahren. Mein Schwiegersohn kann nicht wie ein Bauer
oder Krämer wohnen, in einer Lehmhütte.“

„Nicht Lehmhütte --.“

„Schon gut! sag’ ich. An der Seeseite, dicht hinter Kolupitiya-Station
ist ein Haus frei.“

„Das, was der deutsche Kaufmann bewohnt hat?“

„Eben das.“

„Die Miete ist hoch.“

„Drum rühr’ Dich, rühr’ Dich! Der Mensch muß einen Sporn haben, wenn
er vorwärts kommen will. Widerstand braucht der Mensch zum Gedeihen,
nichts als Widerstand.“ Dabei machte er eine Bewegung mit den Armen wie
ein Athlet, der im Begriff ist, sich auf den Gegner zu stürzen.

So mietete Wijasingha das Haus an der Seeseite und begann es
auszustatten. Welche Arbeit! Wie viel Laufen, wie viel Reden, wie viel
Ärger! Hätte ihm nicht der Abend mit der Liebsten gewinkt, er hätte
längst gesagt: Ich mag nicht mehr!

Über die Hälfte des Monats war verflossen, da kam eines Morgens sein
Schwiegervater eilig zu ihm.

„Sohn,“ sagte er fast feierlich, -- denn je reicher einer wird, um so
mehr Ehrfurcht hat er vor dem Geld -- „ich sorge für meine Tochter,
wenn ich für Dich sorge. Kennst Du Galgulum?“

„Freilich! Es liegt nördlich von Matale,“ erwiderte der ganz erstaunt.

„O, Du kennst es aus Deiner Fuhrmannszeit,“ rief der Alte lustig.
„Danke den Göttern, daß Du einen Schwiegervater hast, der auf solche
Sachen nichts gibt. Bei mir heißt es nicht: Zeige, was Du gewesen bist!
sondern: Zeige, was Du bist! Laß sie in Kolombo nur kichern. Wenn Du
was geschafft hast, werden sie aufhören. Wer Geld hat, der hat alles.
Und Du wirst was schaffen. Du bist ein Glückskind. Wie hättest Du sonst
den Stein gefunden. Denkst Du, wegen der 20000 Rupien allein, habe ich
Dir meine Tochter gegeben! Aber genug der Schwätzerei! Also hör’ zu! Um
den See von Galgulum wird Land urbar gemacht. Es ist alles im Stillen
betrieben. Ich habe es eben erst erfahren. Verstehst Du nicht? Die
Regierung will nicht, daß Geschäfte damit gemacht werden, indem einer
das Ganze kauft, sondern will stückweise an die Bauern verkaufen. Unser
Bauer hat aber kein Geld. Es ist ein wundervolles Geschäft, wenn wir
zuerst hinkommen.“

Wijasingha verstand immer noch nicht.

„Verstehst Du noch nicht? Wir gehen hin, d. h. ich überlaß Dir das
ganze Geschäft. Ich will Dich anlernen im Geldmachen, ich will Dir Mut
und Lust zum Geschäft machen. Wir leihen den Bauern, damit sie kaufen
können und nehmen unsere Zinsen. Ich habe meine Leute dort.“

„O, so meinst Du,“ sagte Wijasingha gedehnt.

„Bist Du bereit?“

„Wozu?“

„Abzureisen!“ rief der Alte heftig werdend. „In einer Stunde geht der
Zug nach Kandy.“

„Wie lange bleiben wir denn?“

„Etwa drei Tage.“

„So muß ich doch erst von Lucia Abschied nehmen.“

„Du bist toll! Wir verlieren einen ganzen Tag. Das Geld läuft Dir fort,
nicht die Braut.“

Verdrießlich saß Wijasingha im Coupé neben seinem schnarchenden
Schwiegervater. Der Zug lief durch diese endlosen Reisfelder, die
von Areka- und Kokos-Palmenwäldchen unterbrochen waren. Es war
anmutig, aber eintönig. Er griff aus langer Weile die Zeitung, die dem
Schlafenden aus den Händen gefallen war. Für ihn stand nichts darin.

Jetzt begann die Steigung der Bahn. Die Luft wurde frischer, leichter,
die Bilder ringsum immer kühner, gewaltiger. Aus Ausschnitten lugten
wilde Felsmassen gleich Türmen und Burgen; tief, tief unten im Tal
lachte das helle Grün der Reisfelder, deren regelmäßige Furchen wie
gemalt aussahen. Und wenn der Ausblick sich rückwärts in die Ebene
eröffnete, so glitt das Auge wie in die Unendlichkeit.

Sein Entzücken stieg. Er war fast versucht, den Schlafenden zu wecken.
Ihm war es solch eine Freude, wenn jemand neben ihm stand und ihm
sagte: „Wie wunderschön!“

Sie waren jetzt fast auf der Kammhöhe. Der Alte gab einen Ton von sich,
als wenn er im Erwachen wäre. Wijasingha hielt es nicht länger aus.

„Sieh nur, Vater!“ rief er.

Der Alte rieb sich die Augen. „Was ist los?“

„Sieh nur die Aussicht.“

De Soysa spuckte gleichgültig aus. „Steine genug,“ meinte er. „Unsere
Aussichten sind in Galgulum.“ Damit drehte er sich nach der anderen
Seite und schnarchte weiter.

Sie übernachteten in Mātale, dem Endpunkt der Bahn. Am nächsten
Morgen fuhren sie mit der Post nach Galgulum weiter, von zwei Leuten
begleitet, welche de Soysa mit tiefster Ehrfurcht behandelten.

An Ort und Stelle machte sich der Alte sofort mit den beiden ans Werk.
Es schien ihm nicht daran gelegen zu sein, den Schwiegersohn jetzt bei
sich zu haben.

„Nimm die Gegend in Augenschein, derweil ich mit den Leuten rede,“
sagte er.

Das war dem schon recht. Er schlenderte gemütlich um den weiten
See. Große Strecken waren entsumpft worden und harrten wieder ihrer
Bestimmung. Dieses wüste Gebiet, welches heute die ganze Nordhälfte
der Insel einnimmt, war früher unter den buddhistischen Königen die
Kornkammer Ceylons und von Millionen bevölkert.

Die Abendmahlzeit nahmen beide gemeinschaftlich im Rasthaus ein. De
Soysa war in bester Laune. Er berichtete über die Abmachungen, die
er getroffen hatte. „Lies nur!“ Damit breitete er seine Papiere vor
Wijasingha aus.

Der begann den Inhalt zu studieren, erst nur so obenhin, allmählich
aber wurde er aufmerksam. „Vater,“ sagte er endlich, „wovon sollen denn
aber die armen Leute leben? Sie müssen Dir ja alles geben.“

Der sah ihn eine Weile sprachlos an, dann sagte er: „Hab’ ich denn die
Leute gezwungen, solche Abmachungen zu treffen? Hab’ ich ein Recht,
eine Gewalt, sie zu zwingen? Wenn ich mein Geld arbeiten lasse, so gut
ich kann und für meine Familie sorge. -- Aber was sag’ ich! Ich sorge
ja garnicht für mich. Ich lasse ja Dein Geld arbeiten. Zum ersten Mal
in meinem Leben lasse ich mir einen Profit entgehen und gleich habe ich
meinen Lohn. Es geschieht mir schon recht, mir altem Narren. Das kommt
davon, wenn man mehr für andere sorgt, als für sich selbst.“

Je mehr er redete, um so heftiger wurde seine Stimme. „Überhaupt sage
ich Dir, es ist ein Unterschied, ob man als Einzelner durch die Welt
geht, oder ob man eine Familie hinter sich hat. So lange Du einzeln
bist, magst Du tun und lassen, was Du willst, ja Du magst, wenn es Dir
so beliebt, Dich in einen Winkel setzen und freiwillig verhungern.
Hast Du aber Weib und Kind, so sind die Zeiten vorbei. Da heißt es:
Rühr’ Dich von früh bis spät! Willst Du denn, wenn Du mal stirbst, daß
Dein Weib trägt und Deine Kinder Karren ziehen! In der Ehe pfeift ein
scharfer Wind, Freund. Ich weiß, Du hast allerhand Flausen im Kopf. Die
Worte des Buddha sind nicht dazu da, daß man mit ihnen durch dick und
dünn geht. Wer das will, der darf sich nicht verlieben. Hörst Du, nicht
verlieben! Laß das, Sohn, ich meine die Kopfhängerei!“ fuhr er milder
fort. „Ich warne Dich ernsthaft.“ Damit packte er die Papiere zusammen
und verließ den Raum.

Wijasingha stand ein Weilchen regungslos, dann verließ auch er den Raum
und das Haus. Ihm war zumut wie einem Menschen, der morgens erwacht mit
dem Gefühl: Es ist etwas nicht in Ordnung mit Dir.

Wieder kam er zum See. Über den hohen Steindamm ging ein starker,
warmer Wind. Die Sonne hing tief, rings von glühenden Wolkenfetzen
umgeben. Fern auf dem Wasser lagen wunderbare Farben. Sie sahen aus wie
farblose Schatten, blickte man aber still hin, so entdeckte man das
schnelle Spiel von Gold und Violett. Er ließ sich unten am Steindamm
nieder. Er entledigte sich der Schuhe und tauchte die Füße leise ins
Wasser. Kosend kamen die Wellen. Er saß still und schaute und schaute.
Vergessen war alles. Ihm war wie einem, der seine letzte Arbeit getan
und nun ruhevoll vor seiner Hütte sitzt und dem Klang der Abendglocken
lauscht. O, du kühler seliger Abendfriede!

Ein einsamer Kranich durchfurchte stolz mit gebogenem Hals das Wasser,
eine lange Furche nach sich ziehend. Jene Stelle aus den Suttas kam ihm
in den Sinn: „Zweierlei Freuden, ihr Jünger, gibt es. Welche zwei? --
Die Freude des Familienlebens und die Freude des heimatlosen Lebens.“

Jetzt hörte er Laute über sich. Oben auf dem Damm ging ein junger
Mensch mit einem Mädchen. Beide taten zärtlich zueinander und sahen ihn
nicht. Der junge Mensch sang dem Mädchen eine Melodie vor, die diese
versuchte nachzusingen, aber immer falsch. Er wiederholte unverdrossen,
nur unterbrochen durch die Liebkosungen des Mädchens.

Die Szene erschien unserm Wijasingha albern. Das Mädchen war nicht mehr
jung, offenbar älter als der Jüngling und begann schon korpulent zu
werden. „Nichts ist alberner als das Verliebtsein“ dachte er.

Plötzlich hörte er de Soysas Worte wieder: „In der Ehe pfeift ein
scharfer Wind.“ Wieder hatte er dieses unangenehme Gefühl eines, der
erwacht und weiß: Es ist etwas mit mir. „Wann war ich wohl besser
dran, jetzt wo ich als Schwiegersohn des reichen de Soysa hier sitze
oder damals, als ich als Karrenführer hier übernachtete und abseits
am Lagerfeuer saß, alle Sterne des Himmels über mir, das Glück des
Freiseins von Wünschen genießend. Damals war mir das Leben ein Ding
zum Schauen, ein Ding, von dem der Verständige weiß: Es ist ein Spiel.
Jetzt soll ich aufhören, Schauer zu sein. Jetzt soll ich selber
handeln, mich abmühen, mich drängen und stoßen lassen und für alle
Püffe danken als für ein Lehrgeld.“ Er zog die Mundwinkel nach unten
und bog den Kopf ein wenig zurück wie ein Kind, das eine widrige
Nahrung abweist.

„Weshalb aber das alles?“ Er meinte des Alten Worte zu hören: „Wer
das nicht will, der darf sich nicht verlieben.“ Mißmutig stieß er
einen Kiesel ins Wasser. Der zog seine Ringe, einen nach dem anderen,
immer weiter. Wijasingha blickte aufmerksam. „So folgt jeder Ursache
die Wirkung; so hat jede Tat ihre Folge, unausweichlich. Unterlaß die
Tat, so werden die Folgen ausbleiben. Andere Hilfe ist nicht. Meine
Tat ist die Liebe zu Lucia, ihre Folgen sind das Hasten und Mühen
des Familienlebens. Und nur des Familienlebens? Bin ich seit diesem
Glückstag schon einen Augenblick ganz ruhig, ganz glücklich gewesen?
Muß ich nicht auf jedes ihrer Worte, auf jeden ihrer Blicke achten! Ich
will, daß sie da redet, wo ich meine, daß geredet werden soll; daß sie
da schweigt, wo ich meine, daß geschwiegen werden soll. Rastlos läuft
mein Herz mit ihr wie ein Hündchen mit seinem Herrn. Eine mühevolle
Arbeit!“ Er schwieg gedankenvoll.

Die Sonne war verschwunden. Auf dem Wasser lag das eintönige Grau des
Abends.

Sie blieben noch einen Tag hier. Dann kehrten sie nach Kolombo zurück,
der Alte aufgeräumt, der Junge zerstreut und nachdenklich. Es war nicht
de Soysas Sache, durch anderer Stimmungen mit berührt zu werden. War er
guter Laune, so galt ihm als selbstverständlich, daß der andere es auch
war.

Wijasinghas erster Gang galt seiner Braut.

Er traf sie mit einem jungen Menschen im Gespräch, den Wijasingha nicht
leiden mochte. Es war ein eitler Bursche, von dem man wohl wußte, daß
er gleichfalls Absichten auf die schöne Lucia gehabt hatte, beiläufig
ein entfernter Verwandter und Namensvetter der Familie.

Als Wijasingha eintrat, lachten beide gerade lustig, verstummten aber
sofort.

Lucia sprang auf, um ihren Bräutigam zu umarmen; der aber meinte
grämlich:

„Wovon spracht Ihr denn gerade, als ich Euch unterbrach?“

„Aber,“ sagte Lucia, „wir sprachen von den Pferderennen.“

„Deswegen brauchtet Ihr doch nicht so plötzlich verstummen.“

„Aber -- sollte ich Dich denn nicht begrüßen?“

Sie lachte lustig und der junge de Soysa mit.

Wijasingha wollte auffahren. Plötzlich blieb sein Auge auf dem
lachenden Gesicht seiner Braut hängen. Er hatte sie in dieser etwas
spöttischen Weise noch nie lachen sehen und halb mit Staunen, halb mit
Schrecken sah er auf diesem blühenden hübschen Gesicht, der durch einen
haarfeinen Flaum etwas sammetartiges bekam, etwas weich nachgiebiges,
das ihn stets so entzückt hatte, die Züge des Vaters, des alten de
Soysa hervortreten.

Lucia war ein gutes Mädchen, wie sie durch ihr entschlossenes Warten
auf ihren Geliebten bewiesen hatte, aber tatsächlich vom Charakter
ihres Vaters, weder gewohnt noch befähigt, in anderen zu lesen.

Als sie daher das kühle, zerstreute Wesen ihres Bräutigams sah, wendete
sie sich ganz dem jungen de Soysa zu und Wijasingha saß schweigend
daneben, während die beiden miteinander scherzten.

Plötzlich war ihm, als ob alle Verdrossenheit, alle innere Gereiztheit,
aller Widerwille gegen de Soysa, aber auch alle Liebe gegen Lucia
dahinschwänden und nichts bliebe, als eine unwiederstehliche Neigung
nachzudenken.

Sein Auge lag sinnend auf den feinen Linien seiner Braut, aber weil die
Sinnlichkeit ihn verlassen hatte, so suchte er im Nachdenken dieses
Wesen da vor ihm gleichsam zu analysieren, in seine Bestandteile
aufzulösen. Es wurde ihm klar und klarer: „Das, was mich bisher in
einem Taumel gehalten hat, das wird in längerer oder kürzerer Zeit
dahin sein. Lohnt es sich, deswegen seine Ruhe und Unabhängigkeit
hinzugeben? Sind sie nicht auch Güter, ebenso süß wie die Sinnenlust?
-- Wenn ich das aber alles lasse, wofür lebe ich dann noch? -- Und
plötzlich: Wofür lebe ich überhaupt? Wofür leben die Menschen? Wozu ist
dieses alles?“

Ein plötzliches Staunen ergriff ihn, daß überhaupt etwas da sei und für
einen Augenblick durchzuckte ihn die Einsicht, gleichsam fühlbar, wie
jemand seine eigenen Glieder fühlt: Ist etwas da, kann es nie nicht
dagewesen sein; muß von Anfangslosigkeit her da sein. Ist es so, nun so
muß man eben dem Heiligen, dem vollkommen Erwachten folgen. Dann gibt
es ja kein anderes Ziel als das Aufhören, das Eingehen, das Verlöschen.

Indem trat der alte de Soysa ein und erfüllte mit seiner dröhnenden
Lustigkeit den ganzen Raum.

Wijasingha verabschiedete sich so bald es anging und noch am selben
Abend schrieb er an seine Braut sowohl wie an deren Vater, daß er
entschlossen sei, alle weltlichen Pläne fallen zu lassen und Mönch zu
werden.

Am nächsten Morgen in aller Frühe fuhr er nach Ratmalana hinaus, um
dort im „Kloster zum allervorzüglichsten Gesetz“ um Aufnahme zu bitten.

Während er aber in der weiten Vorhalle auf das Erscheinen des Abtes
wartend auf und ab ging, hörte er nicht das ruhevolle Rauschen
der Palmwedel, das nur +eine+ Melodie singt: „Laß fahren, es ist
nicht der Mühe wert!“, sondern er hörte vor seinem geistigen Ohre
die Stimme seiner Braut, er meinte sie vor sich zu sehen in ihrer
wollusterregenden Schönheit, die ganz Colombos Jugend in Bann hielt.
„Auf dich hat sie ein ganzes Jahr gewartet, während alles ihr zuflog.
Wonach andere sich hoffnungslos sehnen, das wirfst du Narr leicht von
dir.“

So sprang er, von seinen Empfindungen überwältigt, kurz entschlossen in
das draußen wartende Ochsenwägelchen, ohne den Abt abzuwarten, und fuhr
schnurstracks nach Colombo zurück, um womöglich gut zu machen, was noch
gut zu machen war.

Trotz seiner Angst vor dem Alten trat er entschlossen in die Vorhalle
und ließ sich vom Diener melden. Der aber kam sogleich mit der
Botschaft zurück, daß niemand zu sprechen wäre.

Da sah Wijasingha, daß alles verloren war und kehrte voller
Verzweiflung in seine Wohnung zurück. Was er vor einem Jahr mit Fassung
und Vernunft getragen hatte, das machte ihn jetzt fassungslos und halb
wahnwitzig.

Als er bei sich angekommen die leeren Räume betrat, überkam ihn solch
ein Ekel vor der Zwecklosigkeit des Lebens, daß ihm war, als ob es ihn
anröche. Und was er gestern aus wahrer Einsicht in die Natur des Lebens
tun wollte, das entschloß er sich nun, aus Ekel am Leben zu tun: Alles
aufzugeben und ins Kloster zu gehen.

Nach dem „Kloster zum allervorzüglichsten Gesetz“ zurückzukehren,
schämte er sich. So beschloß er, nach Kelanya zu gehen, wo ein
Verwandter von ihm schon seit Jahren als Mönch lebte.

Der Abt, der ihn kannte, nahm ihn gütig auf.

Als Wijasingha nun, nachdem er die Erlaubnis zum Eintritt erhalten
hatte, meinte, er wolle zurückfahren, um zu Hause erst alles zu ordnen,
erwiderte der Abt lächelnd, ob er nach seinem Tode denn auch nachsehen
wolle, ob beim Leichenschmaus alles gut geordnet sei?

Daraufhin blieb Wijasingha dort, so wie er war, übersandte nur seinem
Hausverwalter einige Anordnungen.

Nun hatte er freilich zu seinem eigenen Erstaunen die Liebe zu Lucia
bald ganz überwunden, wie sich klar darin zeigte, daß er ihre bald
darauf erfolgende Verheiratung mit dem jungen de Soysa ohne Kummer
vernahm. Sein eigener Spruch war stets gewesen: „Der Mann ist nicht
wert, Mann zu heißen, der an einer Weiberliebe zu Grunde geht.“
Trotzdem kam er nicht aus dem inneren Schwanken heraus. Er blieb
in einem Zustand fruchtloser Nachdenklichkeit. Die Wahrheit der
Buddhalehre leuchtete ihm ein, aber nicht die Notwendigkeit, die Welt
zu lassen. So glich er einem Ochsen, der zwischen zwei Bündeln Gras
langsam verhungert, weil er nicht weiß, bei welchem er anbeißen soll.

Etwa zwei Jahre quälte er sich in dieser Weise hin. Als er nun einmal
durch einen halb-blödsinnigen Menschen, der die ganze Nacht vor der Tür
des Viharas gesungen und gebetet hatte, am Schlaf behindert worden
war, so war ihm das, weil eben gar kein innerer Halt in ihm war, Anlaß
genug, das Kloster und den Mönchstand zu verlassen.

Draußen ergab er sich aber bald einem lockeren Lebenswandel, bei dem
all sein Hab und Gut verloren ging.

Danach verdingte er sich wieder als Karrenführer; lebte aber nicht wie
damals in heiterer Ruhe, sondern elend, weil er seinen ganzen Verdienst
meist in Palmschnaps vertat. Er war eben auf abwärtsführende Fährte
geraten, wie es wohl geschehen kann, so lange jemand im Begreifen nicht
festen Halt gefunden hat.

Und dabei geschah es, daß er nicht nur sich quälte, sondern auch
andere, indem er seine Ochsen schlecht behandelte, so daß alle redlich
Denkenden sich von ihm abwandten.

Als er einstmals einen Ochsen so geschlagen hatte, daß ihm Blut von
den Weichen tropfte, warnten ihn die anderen und sagten: „Denk’ an
Deine nächste Geburt.“ Aber Wijasingha, der schon ganz verkommen war,
antwortete roh: „Kümmert Ihr euch nur um euch selber.“

Da erschraken die anderen Karrentreiber und sagten unter sich: „Was
können wir tun? Es kommt auf sein Karma.“

Eines Tages hatte er in der Nähe von Pallai einem Weibe am Wege einige
große Mangos abgekauft und wollte gerade die nötigen Kupfer aus dem
Gürtel ziehen, um zu bezahlen, als ein Weißer des Weges kam, der
gleichfalls bei dem Weibe stehen blieb, um Mangos zu kaufen.

Da nahm das Weib Wijasingha die Mangos wieder ab und gab sie dem
Weißen, weil er mehr zahlte. Wijasingha aber wurde darüber aufs höchste
aufgebracht und da er weder am Weibe noch an dem Weißen seine Wut
auslassen konnte, so ließ er sie an sich selber aus, indem er all sein
Geld in der nächsten Taverne vertrank.

Als es nun zum Abend ging, wo die Karrenführer ihren Reis nehmen, hatte
er kein Geld, um sich eine junge Kokosnuß für den Kurry zu kaufen.
Daher stieg er, als es dunkel geworden war, auf einen Palmbaum, um eine
zu stehlen.

Sei es nun, daß die Eile, oder die Dunkelheit oder der reichliche
Branntwein schuld waren -- oben, dicht unter der Krone, stürzte er ab
und brach das Genick. In Ceylon sagt man aber, daß, wer beim Besteigen
eines Palmbaumes verunglücke, ein schlechter Mensch sein müsse. Wie
weit das freilich für Wijasingha zutrifft, will nicht ich entscheiden.

Der Abt von Kelanya aber pflegte ihn als Beispiel anzuführen, wenn
er über das Wort des Buddha predigt, daß die Lehre, falsch befolgt,
wie ein Messer sei, daß man bei der Schneide fasse. Es nütze nichts,
sondern verletze nur die Hand und gäbe nichts als Schmerz und Schaden.



[Illustration]



Die Liebesgabe.


Ich wundere mich oft, weshalb die Menschen sich Märchen erzählen. Die
Wirklichkeit ist das wunderlichste aller Märchen. Wie plump sind die
Märchen der Märchenwelt gegenüber dem Märchen „Wirklichkeit“.

Ich, das Kind des Garda-Sees, mit dem ich verwachsen war im guten wie
im bösen, sitze jetzt hier im indischen Randgebirge, in Lanauli, sitze
hier seit Jahr und Tag, und fast sieht es aus, als ob ich hier meine
Tage beschließen soll -- entwurzelt mich nicht irgend ein Sturmwind
aufs neue.

Mir ist, als ob die herbe Strenge, die einsame Größe dieser Landschaft
hier rings um mich mir die Lieblichkeit meines alten Sirmione nur noch
lebhafter macht. Wenn ich oben am Cap saß, über der alten Villa des
Catull; wie unzählige Male habe ich dort gesessen, als Knabe schon, als
Jüngling, als angehender Mann.

Ich entsinne mich deutlich, daß ich als Knabe schon gesonnen habe,
nachgedacht über die Rätsel des Lebens, über die Welt, über die Frage:
Woher dieses alles?

Und dieses Sehnen, wenn im Abendglühen der See dalag wie ein Saphir und
die Boote orangefarbene Streifen nach sich zogen. Es war dann, als ob
unsichtbare Fäden an mir zogen, ich weiß nicht wohin. Denn schöner und
friedlicher konnte es ja nirgends sein. Aber es ist, als ob Schönheit
und Frieden nicht dazu da wären, sie zu genießen, sondern nur dazu, ein
unbestimmtes vages Sehnen nach Schönheit und Frieden in mir anzuregen.

Da saß ich denn, bis alles Licht auf dem See geschwunden war und
über mir, in dieser dunklen Klarheit ein Lichtchen nach dem anderen
aufflimmerte.

Schon die Natur allein sollte uns lehren, daß Reinheit das Schönste
ist. Ach Reinheit, wie köstlich! Wenn ich unter diesem klaren
Sternenhimmel stehe, und Sirius und Orion funkeln, so ist mir, als
zöge es mich aus mir selber heraus in dieses reine Feuer, in diese
himmlische Reinheit. Soll ich überhaupt schon etwas anbeten, nun
weshalb denn nicht dieses! Weshalb denn ein Unsichtbares, Unhörbares,
Undenkbares -- kurz ein Unding hinter diesem Sternenhimmel anbeten?

Eines Tages -- ich war damals bereits Arzt in Mailand, gesuchter Arzt
und nur für kurze Zeit zur Erholung bei meinen Eltern -- ging ich gegen
Abend vom Cap nach Hause zurück. Wie gewöhnlich ging ich am Kirchlein
auf der Höhe, im Olivenwäldchen vorbei. Wie gewöhnlich blieb ich vor
dem offenen Fenster stehen, und schaute hinein in die dunkle Kühle des
Innern. Schmucklose, weiß-getünchte Wände, ein Altar mit allerhand
buntem Flitter und in der Mitte auf ihm das Kreuz mit jenem Manne
daran, der eine so fragwürdige Rolle im Geistesleben der Menschheit
spielen sollte.

Gottglauben hatte ich längst nicht mehr. Überhaupt scheint mir, als ob
sehr, sehr wenige Menschen wirklichen Glauben hätten und daß man sich
über diese Tatsache täuscht nur deshalb, weil man sich nicht die Mühe
nimmt, sich ernsthaft selber zu prüfen.

Von mir persönlich weiß ich nicht, ob ich überhaupt je Glauben an Gott
gehabt habe. Ich entsinne mich nur als Knabe bei heftigen Gewittern
etwas wie Gottesfurcht empfunden zu haben. Aber das verlor sich, als
ich dem Phänomen gedanklich Herr geworden war.

Ich hatte draußen am Cap in einem physikalischen Buche gelesen, einem
jener modernen Bücher, die in mehr oder minder geistreicher Form auf
rein physikalischen Gesetzen eine Weltanschauung aufzubauen versuchen
und damit sich selber vor die Notwendigkeit stellen, schließlich
auch mich, das denkende, selbstbewußtseinbegabte Lebewesen, den
physikalischen Gesetzen einzuordnen. Heute in besserer Einsicht, lache
ich über alle derartigen gelehrten und geistreichen Versuche, weil ich
ihre Wertlosigkeit und Verkehrtheit kenne. Damals hingegen +fühlte+
ich nur, daß dieses nicht der rechte Weg sein könne. Aber ich erkannte
die Gründe nicht. So machten mir alle diese Hypothesen und Gedanken,
die eine Welt aufbauen wollen, in welcher der, welcher sie aufbauen
will, keinen Platz mehr hat, viel Not. Ich sann, ich grübelte. Es
störte mir sogar den Schlaf und machte mich oft fast schwermütig. Aber
wenn ich mich aufs genaueste durchforsche, so weiß ich selbst heute
noch nicht, ob diese Nöte ehrliche waren, oder einem Kokettieren mit
mir selber entspringend. Denn das war mir schon länger klar geworden,
daß eine starke Eigenliebe den Grundzug meines Charakters bildete.

Als ich an jenem Tage, von welchem ich oben sprach, wieder durch das
Fenster in die Dämmerung des Kirchleins sah, die kahlen Wände, den
Altar mit seinem Flitter, das schwarze Holz mit dem gekreuzigten Manne
daran, da seufzte ich unwillkürlich tief auf: „Hier ist Sicherheit,
hier ist Ruhe! Hier gibt es keinen Kampf um eine Weltanschauung, kein
Ringen mit Lebensrätseln. Wohl dem, der in so sicherem Schoß ruht.“

Indem hörte ich auf der anderen Seite des Kirchleins reden. Ich konnte
ganz deutlich eine Männerstimme verstehen, die in langsamer und
gewählter Sprache sagte:

„Für mich ist es garnicht zweifelhaft, daß die Form des Glaubens,
der wir zufällig angehören, eine der rohesten ist. Wir haben in
dieser Beziehung den Zeiten der Neuplatoniker gegenüber unerhörte
Rückschritte gemacht. Und mir scheint, ein Halt ist hier nur deshalb
eingetreten, weil ein weiteres Rückwärts überhaupt nicht mehr möglich
ist.“

Schon während der letzten Worte war der Sprecher hinter der Mauer
hervorgetreten und in der Richtung auf meinen Standpunkt zugekommen. Er
hatte beim Sprechen fest vor sich auf den Boden gesehen, so daß er, als
er aufhörte zu sprechen und hoch blickte, fast dicht vor mir stand.

Seine Worte richteten sich an eine jugendliche weibliche Person, die
ebenso gesenkten Hauptes wie er selber, neben ihm ging.

Offenbar betroffen blickten beide hoch.

Der Fremde grüßte, wie es Leute wohl in plötzlicher Verlegenheit tun.

Dieses Gefühl schien der Sprecher selber zu haben; denn gleichsam,
um sich mir gegenüber in eine andere Lage zu bringen, begann er ein
Gespräch.

Es waren so gleichgültige Sachen, wie eben Reisende, die sich zufällig
treffen, mit einander reden.

Wir gingen zusammen den schmalen Pfad zum Ort hinab, ich neben dem
Alten, seine Begleiterin ein Stückchen hinter uns.

Der Alte war eine jener Persönlichkeiten, die wir „interessant“ nennen.
Groß, hager, graubärtig, ein Kopf, der an Leonardo da Vinci erinnerte.

Im Gespräch stieß ich zufällig an einen der Olivenbäume, die den
engen Pfad begrenzen. Mein Physik-Buch fiel zur Erde, und alle meine
Notizen, auf vielen einzelnen Blättern niedergeschrieben, flogen
auseinander.

Während ich eilig zusammenraffte, war die Begleiterin des Alten
herangekommen und half mir im Aufsuchen.

Wir richteten uns beide gleichzeitig auf und unsere Augen trafen sich
voll im gleichen Moment.

Wenn ich heute an diesen Augenblick zurückdenke, heute, wo mein Haar
schon zu grauen beginnt, so erscheint er mir immer noch als der
merkwürdigste meines Lebens. Wie einen Menschen ein Schlag trifft, so
wußte ich: Mein Schicksal hat mich getroffen.

Seit ich dieses an mir selber erlebt hatte, gebe ich mir gar keine Mühe
mehr, jene merkwürdige Umwandlung, die Paulus auf seinem Wege nach
Damaskus befiel, zu „erklären“. Es gibt derartige Umwandlungen, die
wie der Blitz aus heiterem Himmel den Menschen überfallen, und jeder
Versuch, solche Erlebnisse aus gewissen Vorstadien herleiten zu wollen,
führt zu Absurditäten. Es ist eben so und wir müssen uns fügen, ebenso
wie wir uns der Tatsache fügen müssen, daß wir überhaupt da sind.

Der Alte hatte, während wir die losen Blätter aufsammelten, mein Buch
vom Boden genommen und den Titel gelesen.

Wie mir schien, mit leisem Lächeln fragte er:

„Interessiert Sie dieses?“

Damit hatte das Phrasenmachen ein Ende und das Gespräch begann. Wir
sprachen lebhaft, ununterbrochen; wir kamen zur Landungsbrücke, in
deren Nähe das Hotel der beiden lag -- sie waren auch nur auf Besuch
hier -- wir gingen sprechend ein Stück zurück, dann in der anderen
Richtung am alten Stadtturm vorbei, die Landstraße entlang. Die Sonne
ging unter; es fing an zu dunklen; schließlich bat mich der Alte, mit
ihnen zusammen im Garten des Hotels das Abendessen zu nehmen.

Was wir sprachen? Ich weiß es nicht mehr genau. Ich weiß nur, daß
ich mich in einem Hochgefühl befand, das mich geneigt machte, meine
Ansichten in einer übertrieben scharfen, fast übermütigen Weise geltend
zu machen. Ich fühlte, daß ich geistreich war und gefiel mir. In einer
Art Befangenheit richtete ich meine Worte fast ausschließlich an den
Alten, während ich mir doch wohl bewußt war, daß ich im Grunde genommen
nur zu dem Mädchen sprach, begierig, von ihr bewundert zu werden.

In einem fielen wir beide, der Alte und ich, ganz zusammen: Das
unbefriedigende der modernen Zustände, ihre Oberflächlichkeit, ja
Verlogenheit: ihre Unruhe, ihre Hast, ihre Gewalt, uns uns selber zu
entfremden, so daß wir schließlich den Weg zu uns selber nicht mehr
zurückfinden -- kurz: ihre Nichtwirklichkeit.

Der Alte setzte nun die an der Kirche oben unterbrochene Unterhaltung
fort. Er bekannte sich als eifrigen Verehrer der Neu-Platoniker,
insonderheit des Plotin. Dessen Satz „~ta panta hen~“ war für den
Alten Weltanschauung und Religion in einem. Mit Geist und Gelehrsamkeit
entwickelte er die Fäden, die sich in diesem Pantheismus von Indien
her zu uns hinüberziehen. Er ging sogar soweit, diesen Gedanken als
den eigentlichen, tiefsten Jesus-Gedanken zu erklären, wohingegen das,
was wir jetzt als Christentum haben, vielmehr Paulinisches Machwerk
sei. „Es ist mir ganz gleichgültig,“ meinte er im Lauf des Gesprächs,
„ob Jesus bei indischen Weisen in die Schule gegangen ist. Tatsache
ist, daß sein Denken zum Pantheismus hinneigt, wie ja schließlich
jeder Feinfühlende von der intellektuellen Rohheit des Monotheismus
sich abgestoßen fühlen muß. Sicherlich hat das Christentum einen bösen
Tausch damit gemacht, daß in der christlichen Theologie nicht mehr
Christus, sondern Paulus der Führende war -- statt eines natürlichen
Gefühlsmenschen ein finsterer Fanatiker, dessen Temperament nicht vom
Herzen, sondern vom Kopf ausgeht. In seinen widersinnigen Deduktionen
steckt schon die Wurzel jener späteren Scholastik, zu welcher die
ursprüngliche Jesus-Lehre nie die Möglichkeit gegeben hätte.“

Ich sah bei diesen scharfen Worten zur Tochter hinüber, um mich über
den Eindruck, den diese Äußerung auf sie machte, zu vergewissern.

Der Alte bemerkte es. Lächelnd sagte er:

„Sie dürfen nicht denken, daß meine Tochter über solche Reden
erschrickt. Sie gehört zu den weiblichen Wesen, welche denken. Und
sobald man anfängt zu denken, hat der persönliche Gott ausgespielt.“

Wieder blickte ich erwartungsvoll zu unserer Gefährtin hinüber.

Die schien die letzten Worte des Alten nicht zu hören. Sinnend sah
sie über den See hin; die kräftigen Lippen schienen einander kaum zu
berühren und glichen den sich öffnenden Kelchblättern einer Blume. Es
war, als ob sie auf etwas aus der Unendlichkeit her lausche. Ich hatte
nie ein reineres, schöneres Mädchengesicht gesehen.

Langsam, wie bei jedem Worte überlegend, sagte sie mit einer merkwürdig
klaren, wohllautenden Stimme, die etwas gesangartiges hatte:

„Ich denke immer, wenn es einen Gott gäbe, so müßte auch jedes Wesen es
wissen, aus sich selber wissen, und es könnte ein Zweifel überhaupt gar
nicht möglich sein. Diese Möglichkeit, an Gott zu zweifeln, ist eine
Tatsache, die mich immer wieder stutzig macht, über die ich gar nicht
hinwegkommen kann.“

„Wie tief Sie gedacht haben!“ sagte ich mit ehrlichem Staunen.

„Ich weiß nicht, was Sie ‚tief denken‘ nennen. Meinem Gefühl nach ist
es einer jener Gedanken, die so auf der Oberfläche liegen, daß allein
dieses der Grund sein kann, warum alles darüber hinweggeht.“

Nicht gewöhnt, meine Gefühle zu verstecken, sah ich ihr mit so
unverhohlener Bewunderung in die Augen, daß sie leicht errötete.

Mit diesem Moment schien es wie ein eisiger Reif auf unsere
Unterhaltung gefallen zu sein. Das Mädchen saß verstummt da; der Alte
sah plötzlich frostig und unnahbar aus. Hätte ich nicht vorher schon,
im Laufe des Gespräches erfahren, daß beide gleichfalls in Mailand
wohnten -- sie hatten einen der kleinen, mir wohlbekannten Vororte
genannt -- so würde ich jetzt wohl nichts mehr erfahren haben.

Ich merkte, daß es Zeit war, mich zu verabschieden. Ich war betroffen
über diesen plötzlichen Wechsel, den ich mir gar nicht erklären konnte.
Denn schließlich war es doch keine Beleidigung, wenn ein Mensch in
meiner Lebensstellung einem jungen Mädchen in Gegenwart ihres Vaters
zeigte, daß er sie bewundere.

Als ich um die Erlaubnis bat, ihnen in Mailand meine Aufwartung
machen zu dürfen, sagte das Mädchen nichts und der Alte gab seine
Zustimmung mit jener kühlen Reserve, die mich, hätte es sich um eine
rein konventionelle Höflichkeit gehandelt, sicher nicht bestimmt haben
würde, von der Erlaubnis Gebrauch zu machen. Da ich aber, gerade
herausgesagt, verliebt war wie noch nie in meinem Leben, so ließ ich
mich nicht beirren und ging mit dem festen Entschluß, beide in ihrem
Heim aufzusuchen.

Ich wußte nicht, wann sie abreisen wollten. Am nächsten Morgen spähte
ich deshalb überall umher, ohne etwas entdecken zu können. Sie mußten
schon in aller Frühe Sirmione verlassen haben.

       *       *       *       *       *

Schon am Tage nach meiner Rückkehr nach Mailand -- länger ließ mir
meine Ungeduld keine Ruhe -- machte ich meine Aufwartung.

Sie wohnten draußen, in einer mir wohlbekannten Vorstadt. Das Haus,
nur klein, lag tief im Garten und war gegen die Straße durch eine hohe
weiße Mauer abgeschlossen. Das Ganze machte einen merkwürdig stillen
zurückhaltenden Eindruck, trotzdem es, im Grunde genommen, sich kaum
von den Nachbarhäusern unterschied. Aber wie es Persönlichkeiten
gibt, die, trotzdem sie den gleichen Rock tragen, wie andere,
doch zugeknöpfter aussehen als andere, so geht es auch mit den
Baulichkeiten; und die Fensterscheiben kommen mir allen Ernstes
manchmal vor wie Augen, die dem Hause einen gewissen Charakter geben.

Der Alte empfing mich freundlicher als ich erwartet hatte.

Er nahm mich gleich nach der ersten Begrüßung mit in seinen Arbeitsraum.

Hier sah es aus wie bei einem mittelalterlichen Alchymisten. Tigel,
Retorten, allerhand verschiedenfarbige Pulver und Flüssigkeiten standen
umher. Die eine Längswand nahm die Bibliothek, die andere eine Art
zoologischen Museums ein.

Im Laufe des Gespräches stellte sich heraus, daß es die Liebhaberei
des Alten sei, allerhand fremde Gifte herzustellen. Er nutzte alle
seine Beziehungen aufs eifrigste aus, um sich mit den nötigen Drogen
oder Tieren versehen zu lassen. Nicht ohne einen gewissen Stolz deckte
er einen Kasten in der Ecke des Zimmers ab, in welchem eine ziemlich
kleine, aber häßlich dickköpfige Schlange träge dahingestreckt lag --
eine javanische Giftschlange, deren Biß unrettbar und in kürzester Zeit
töte. Der Name klang mir so fremd, daß ich ihn völlig wieder vergessen
habe.

Der Alte war selbst früher Arzt gewesen, hatte aber die Praxis seit
vielen Jahren aufgegeben, war lange im Orient gewesen und lebte jetzt
nur seinen Privatstudien. Nach dem ganzen Eindruck, den ich von dem
Hause empfing, mußte er begütert sein.

So interessant alles dieses sonst für mich gewesen wäre, heute hörte
ich nur mit halbem Ohr. Von derjenigen, deretwegen ich gekommen war,
ließ sich nichts weder sehen noch hören, und der Alte schien gar nicht
zu wissen, daß er eine Tochter habe.

So heuchelte ich Interesse, um die Zeit hinzuziehen, auch jenen toten
Punkt in der Unterhaltung zu vermeiden, der mich genötigt haben würde,
mich zu verabschieden.

Endlich ertönte die Hausglocke. Der Alte horchte auf und sagte:

„Sicherlich meine Tochter. Sie wird sich freuen, Sie wiederzusehen.“

Damit ging er mir voraus in den Salon, ein ziemlich großes Zimmer, aber
mit jener altmodischen Eleganz eingerichtet, die nur in bestimmter
Umgebung sympathisch wirkt.

Nach einem Weilchen trat Vera -- das war ihr Name -- ein. Trotz der
feinen Zurückhaltung, mit der sie mich begrüßte, fühlte ich, daß ich
angenehm sei.

Die nun folgende Zeit ist, nach weltlichem Maßstab gemessen, fraglos
die schönste meines Lebens. Denn so lange der Mensch nicht richtig
denken gelernt hat, ist er ja gewohnt, „Schönstes“ nur das durch die
Liebe verschönte zu nennen.

Meine Besuche wiederholten sich, wurden immer häufiger und entgegen
meiner ursprünglichen Erwartung, hatte ich gar keine Schwierigkeiten
Vera zu treffen, ja selbst mit ihr allein zu sein. Manchmal kam es
mir vor, als ob der Alte sich absichtlich zurückzöge. Es kam mir dann
freilich auch vor, als ob Vera hiernach für eine ganze Weile noch
ernster wäre, als sie es für gewöhnlich schon war.

Trotz Wahrung strengster Sitte in jedem Wort, in jedem Blick, waren
wir doch bald in einen Zustand von Vertraulichkeit geraten, in
dem keiner dem anderen aus seiner Liebe ein Hehl machte. Und doch
fühlte ich zu meinem Befremden immer wieder, daß Vera jedem direkten
Annäherungsversuch auswich.

Da ich annahm, daß es eine natürliche, unüberwindliche Schüchternheit
ihrerseits sei, die ich freilich bei einer geistig so hochstehenden
Persönlichkeit nicht begreifen konnte, so entschloß ich mich
schließlich, beim Vater um sie anzuhalten.

Zufällig war es der Charfreitags-Tag, als ich zu meinen Freunden
hinausfuhr. Da ich wußte, daß beide nie zur Kirche gingen, so war ich
sicher, sie gerade heute zu Hause zu treffen.

Während ich sprach, war es, als ob der Alte noch gerader und größer
wurde. Jede Muskel seines verwitterten Gesichtes schien zu erstarren.
Ohne mich anzusehen, den Blick fest auf die gegenüberliegende Wand
gerichtet, hörte er zu und als ich schwieg, sagte er mit einer Art
maschinenmäßiger Ruhe:

„Mein junger Freund, es ist das bei uns nicht so, wie es sonst zwischen
Vater und Tochter ist, ich meine so, daß der Vater einfach die Hand der
Tochter vergeben könnte. Da müssen Sie meine Tochter selber fragen.“

Damit brach er so plötzlich ab, daß ich nichts erwidern konnte als:

„Gut, so will ich das tun.“

Als ich gleich darauf Vera gegenüberstand und ihr sagte, worum es sich
handele, wurde sie totenblaß. Fast weinerlich sagte sie:

„Mein Gott, mein Gott, was soll das nur geben? Ich habe es ja kommen
sehen, aber jetzt -- was soll das nur geben!“

Trotz ihrer Aufregung mußte sie mein Befremden fühlen. Plötzlich sagte
sie:

„Setzen Sie sich. Ich muß Ihnen das alles erzählen.“

Sie nahm mir gegenüber Platz und blickte mit eng zusammengezogenen
Brauen starr vor sich auf den Boden. Nach einem Weilchen begann sie:

„Ich bin nicht die rechte Tochter. Mein Vater heiratete schon als
älterer Mann meine Mutter sozusagen von der Straße weg -- wegen ihrer
Schönheit.

Gleich nach der Verheiratung merkte er aber, daß sie bereits ein Kind
unter dem Herzen trug. Er wollte sie im ersten Zorn sofort verstoßen,
ließ sich dann aber durch die inständigen Bitten meiner Mutter bewegen,
sie bis nach ihrer Entbindung bei sich zu behalten. Dann wollte er
selber in den Orient gehen, wo er schon vorher lange Jahre gelebt
hatte, meine Mutter aber sollte in ihre Heimat zurückkehren.

Mein Vater hielt sich während dieser ganzen Zeit völlig fern von meiner
Mutter. Nach der Entbindung aber mochte wohl das natürliche Mitgefühl
ihn übermannt haben. Am Morgen war ich geboren. Gegen Abend, so
erzählte mir später meine Mutter, trat er in das Krankenzimmer, blieb
nachdenklich neben dem Bettchen stehen, in dem ich gerade lag, und
spielte mit meinen zur Faust zusammengekniffenen Fingerchen.

Dabei geschah es, daß ich seine Finger umklammerte und nicht wieder los
ließ.

Die Wärterin lachte laut auf vor Vergnügen und rief zur Mutter hinüber:

„Seht doch, seht doch, sie hält den Herrn fest!“

Meine Mutter lachte mit und auch mein Vater soll dabei zum ersten Mal,
seit ihn der schwere Schlag mit meiner Mutter getroffen hatte, wieder
gelächelt haben.

Seit dem kam er alle Tage und spielte mit mir. Vom Wegschicken meiner
Mutter war keine Rede mehr. Aber nachdem ich entwöhnt war, ließ er sie
einst zu sich in sein Zimmer rufen und eröffnete ihr, daß es jetzt an
der Zeit für sie sei, das Haus zu verlassen, daß er aber gern mich an
Kindesstatt annehmen möchte. Träte sie mich ihm bedingungslos ab, so
wolle er ihr eine Summe anweisen, durch welche sie für ihr ganzes Leben
sicher gestellt sein würde; außerdem solle sie die Erlaubnis haben,
mich hin und wieder zu besuchen.

Da beging meine Mutter das, was mir lange Zeit hindurch ganz
unbegreiflich erschienen ist: Sie gab alle ihre Mutterrechte dahin und
ich wurde die Tochter meines Vaters.

Freilich muß ich zur Entschuldigung meiner Mutter sagen, daß ich
gleichfalls sie leicht hingegeben habe. Von der ersten Zeit an, wo ich
anfing zu denken, gehörte ich schon ganz meinem Vater. In einem Alter,
in dem andere Mädchen vielleicht noch mit Puppen spielen, fing ich
schon an, eigenes Interesse für seine geistigen Interessen zu haben. So
entspann sich eine Seelengemeinschaft zwischen uns, wie sie zwischen
Mann und Weib nicht größer sein kann. Tatsächlich fühlte ich auch schon
sehr früh, daß ich hier meine Mutter ersetzen sollte und mußte. So bin
ich freilich nie Kind gewesen, aber mir ist auch, als ob ich nie alt
werden könnte.“

Schon im Aussprechen dieser letzten Worte schien ihr der Doppelsinn
derselben zu Bewußtsein zu kommen und mich mit einem halben Lächeln
ansehend, sagte sie:

„Ich meine nicht so, als ob ich früh sterben müßte, wiewohl -- doch das
sind Phrasen -- ich will damit nur sagen: Meine stets wachen, geistigen
Interessen werden mich vor dem Altwerden schützen.“

Aber plötzlich kam dieser jammervolle Zug wieder in ihr Gesicht. Mit
demselben halb weinerlichen Ton begann sie:

„Was nun aber! Mein Gott, was nun! Ich bin ja mit meinem Vater
verbunden enger als durch die Fessel einer Ehe. Er wird verbluten, wenn
ich mich von ihm reiße.“

Ich war grausam genug, hinzuzufügen:

„Und ich fürchte, Sie selber auch.“

Sie sah mich an mit einem Blick wie ein verwundetes Reh. Erschüttert
stürzte ich vor ihr auf die Kniee nieder und ergriff ihre Hand, die sie
mir willenlos überließ. Als ich aber, überwältigt von Leidenschaft, sie
umarmen wollte, wich sie entschlossen zurück und sagte in einem Ton,
der keinen Widerspruch ertrug:

„Gehen Sie jetzt! Ich kann Ihnen nicht das Recht geben, mich zu
berühren.“

So ging ich denn.

In der hierauf folgenden Zeit wurde ich von den widerstreitendsten
Empfindungen hin- und hergezerrt. Mir war klar, daß ich derjenige von
den Dreien war, von dem allein die Lösung des unerträglichen Zustandes
ausgehen konnte. Ich fühlte wohl, wie verwerflich es war, an einem so
zarten, innigen Bande zu zerren, wie es diese beiden Menschen verband.
Die natürlichen Gefühle, welche die Jugend zur Jugend ziehen, verbanden
mich mit Vera. Aber ich hatte zu viel erlebt, zu viel gedacht, um
selbst im Stadium höchster Verliebtheit mir nicht darüber klar zu
sein, daß diese Gefühle wohl einen Ersatz in ihrem Gegenstande erlaubt
hätten von meiner wie von Veras Seite, daß aber die Verbindung, wie sie
zwischen ihr und dem Alten bestand, unersetzbarer Natur war. Hundertmal
stand ich auf dem Punkte, den Verkehr mit den beiden abzubrechen, aus
ihrem Leben zu verschwinden, ebenso unmotiviert, wie ich hineingeraten
war, aber ich konnte nicht.

Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß bei diesem allem am meisten der
Gedanke mich quälte, ich könnte bei meinem nächsten Besuch überhaupt
nicht mehr angenommen werden.

Dieser Gedanke wurde mir schließlich ganz unerträglich. Ich wollte
noch einmal hingehen, mich sozusagen als Herr der Situation zeigen,
wenigstens vor mir selber, und dann, vielleicht mit besserem Erfolge,
wieder den Kampf gegen meine Liebe, oder besser, gegen meine
Sinnlichkeit aufnehmen.

Etwa eine Woche, nachdem obiges sich ereignet hatte, fuhr ich wieder
zur Villa der beiden hinaus, aber als ich in die Nähe des Hauses kam,
wurde ich bei dem Gedanken, vielleicht an der Tür abgewiesen zu werden,
so aufgeregt und unsicher, daß ich, ohne einen Versuch gemacht zu
haben, wieder nach Hause fuhr.

Schon hieraus hätte ich mir sagen müssen, daß es mehr Eigenliebe als
wirkliche Liebe war, die mich peinigte. Aber diese ganze Zeit mit ihrem
Hangen und Bangen diente nur dazu, um mich in eine Art von Ingrimm
gegen den Alten hineinzuleben. Es kam mir unnatürlich, unerhört vor,
daß dieser alte Stamm sich dieses junge Reis aufgepfropft hatte und
aus diesem Ingrimm heraus fand ich schließlich den Mut, eines Sonntags
wieder an der Tür des Landhauses draußen anzuklopfen.

Zu meinem stillen Erstaunen empfing mich die Dienerin wie immer.

Nachdem ich ein kurzes Weilchen im Salon gewartet hatte, trat Vera ein.

Sie sah so rührend schön aus, daß ich am liebsten vor ihr niedergekniet
wäre. Heute weiß ich, daß es die durchsichtige Blässe und Magerkeit
ihres Gesichts war, die diesen anbetungswürdigen Eindruck machten. Sie
mußte viel gelitten haben in diesen Wochen. Sie begann sofort:

„Wie gut ist es, daß Sie endlich kommen. Ich muß sie durchaus sprechen,
mochte Ihnen aber nicht schreiben. Sehen Sie,“ fuhr sie mit einer Art
verhaltener Heftigkeit fort, „es ist ja nun einmal so die Sitte, daß
der Mann dem Weib die Liebe gesteht. Aber weshalb soll ein Weib, das
sich reif dazu fühlt, nicht auch einmal dem Manne die Liebe gestehen!
Ich fühle mich reif dazu. Sie wissen ja auch, daß ich Sie liebe. So
gestehe ich denn frei: Ich liebe Sie, so daß ich, vorläufig wenigstens,
nicht sehe, wie ich ohne Sie leben soll. Aber was das merkwürdige ist:
Das Band zu meinem Vater ist dadurch nicht im mindesten gelockert. Ich
weiß nicht, wie es möglich ist; ich kann nur sagen: Es ist so. Sie
sagen: ‚So wollen wir alle drei zusammenleben.‘ Ich weiß nicht, warum
nicht. Ich weiß auch hier nur, es geht nicht. Ein Ganzes läßt sich eben
nicht teilen.“

Sie schwieg ein Weilchen und hielt die Lippen fest aufeinander gepreßt.
Dann fuhr sie leise fort, während ihre Finger fast gewaltsam die Quaste
des Sessels bearbeiteten:

„Sie sagen: ‚Wir sind jung, mein Vater ist alt.‘ Dieser unselige
Gedanke ist mir auch gekommen und seitdem bin ich mein eigener Herr
nicht mehr. Seit dieser Gedanke in mir geboren wurde, weiß ich, alles
ist verloren, für immer verloren. Jeder Genuß, auch der reinste wäre
mir vergiftet durch den Gedanken: ‚Du hast auf seinen Tod gewartet, um
der Lust folgen zu können.‘ Liebster Freund, so ist es! Es gibt eben
Verhältnisse, die mächtiger sind wie wir. Sie werfen uns die Schlinge
über den Kopf, und wo wir entfliehen wollen, da schnüren wir uns nur
ärger ein. Warum sie da sind? -- Ich weiß es nicht und Sie gewiß auch
nicht. Genug: sie sind eben da und wir müssen uns fügen. Ich habe mich
völlig gefügt. Mein Vater weiß, daß ich ihm verloren bin, und ich weiß,
daß ich mir selber verloren bin. Sie glauben nicht, wie müde der Mensch
werden kann in kurzer Zeit, wenn das Gehirn Tag und Nacht mahlt wie ein
Paar Mühlsteine und nichts zu verarbeiten bekommt als nur Steine und
wieder Steine.“

Wie ich dieses alles mit anhören konnte, ohne ihr brennenden Herzens
zu Füßen zu stürzen, ihr zu sagen: „Ich will freiwillig zurücktreten,
ich kann es!“ das ist mir heute unbegreiflich. Ich schaudere bei dem
Gedanken, daß vielleicht lediglich die Eigensucht es gewesen sein
könnte, die mich davon abgehalten hat. Wie ein verstockter Sünder blieb
ich schweigend sitzen und ließ dieses edle Herz sich ausbluten bis zum
letzten Tropfen.

Ich verabschiedete mich nach kurzer Zeit mit dem unbehaglichen Gefühl,
die unglücklichste Rolle meines Lebens gespielt zu haben. Es ist, als
ob manchmal alles wahre Gefühl, alle Herzlichkeit im Menschen unter
Schloß und Riegel gelegt wäre.

Den Alten sah ich an diesem Tage gar nicht.

Die nächsten Tage verlebte ich in einer Art innerer Verdrossenheit, ob
aus Unzufriedenheit mit mir selber -- ich weiß es nicht.

Nach vier oder fünf Tagen erhielt ich mit der Frühpost einen Brief von
Vera. Ich öffnete ihn, zu meiner Schande muß ich gestehen, ahnungslos
und las folgendes:

„Lieber Freund! Geliebter! Daß ich entschlossen war, dieses Leben zu
verlassen, sagte ich Ihnen indirekt schon bei Ihrem letzten Besuche.
Ihre gedrückte Stimmung bewies mir, daß Sie mich verstanden hatten.
Erst heute Abend hatte ich Gelegenheit, das Fläschchen, dessen ich dazu
bedarf, aus dem Laboratorium meines Vaters zu entwenden. Ich werde es
heute beim Schlafengehen nehmen. Deswegen schreibe ich jetzt. Morgen
früh wird man mich tot im Bett finden. Ich bitte Sie also, sofort nach
Empfang meines Schreibens zu uns zu eilen, um die nötigen Formalitäten
vorzunehmen. Ich bitte Sie herzlich um Verzeihung, daß ich Ihnen dieses
Opfer abverlange. Aber die Rücksicht auf meinen Vater zwingt mich. Ein
fremder Arzt könnte Schwierigkeiten bereiten, vor denen ich für meinen
Vater schaudere.

„Lieber Freund, betrüben Sie sich nicht zu sehr. Bemessen Sie auch
Ihre Schuld nicht zu hoch. Wie ich Ihnen meine Liebe gestanden habe,
so gestehe ich Ihnen auch offen: Es ist nicht diese Liebe, die mich
aus dem Leben treibt, es ist das rettungslos und für immer zerstörte
Verhältnis zu meinem Vater. Ich +kann+ es nicht mehr ertragen. Ich
weiß, er würde von Herzen gerne gehen, mir zu Liebe. Aber er wagt es
nicht, mir zu Liebe. So tue ich es ihm zu Liebe. Es ist der einzige
Weg, mich ihm wiederzugeben und für mich so leicht, so beschämend
leicht nach allen diesen schrecklichen Lebenstagen. Ich sehe hier
niemanden, der eine Schuld hat, niemanden, der ein Verbrechen begangen
hat. Das einzige Verbrechen bleibt schließlich -- Mensch zu sein.

Leben Sie wohl und erfüllen Sie meine Bitte, wenn Sie je geliebt haben.

    Ihre Vera P.“

Von dem Moment, wo ich diesen Brief las, bis zu dem Moment, wo ich
vor dem Bette Veras stand, ist alles meinem Gedächtnis entschwunden.
Wahrscheinlich ist es auch überhaupt nie darin gewesen. Ich muß wie
sinnlos davon gestürzt sein.

Vor dem Bett kniete der Alte.

Bei meinem Eintritt erhob er sich schwerfällig. -- Gott und Vater!
Alles erdulden, alle Qualen der Hölle leiden, nur nicht noch einmal in
die trocknen Höhlen dieses Greises sehen! Wie kann nur ein Mensch dem
andern so schrecklich werden!

Mechanisch nahm ich die Formalitäten vor, die mein ärztlicher Beruf
in diesem Falle vorschrieb. Der Tod war offenbar schon am Abend
eingetreten.

Nachdem ich die haltlos weinende Dienerin mit den nötigen Anweisungen
aus dem Hause geschickt hatte, verließ ich das Sterbezimmer in der
Meinung, daß der Alte mir folgen und mir einige Angaben machen würde.
Bisher war er völlig lautlos geblieben. Aber statt mir zu folgen, ließ
er sich schwer wieder am Bette der Toten nieder und ich stand allein im
Nebenzimmer.

Mir war, als müßte ich etwas zu dem Alten reden, irgend etwas über die
Tote. Aber ich fühlte auch, daß es mir jetzt, wo ich meine Pflicht als
Arzt erledigt hatte, ganz unmöglich gewesen wäre, noch einmal auch nur
die Tür des Sterbezimmers zu öffnen.

Wenn Schuld überhaupt gebüßt werden kann, so muß ich durch die Qualen
dieser totenstillen Stunde, die verfloß bis zur Rückkehr der Dienerin,
viel gebüßt haben. Hätte ich dieses alles länger aushalten müssen, ich
glaube, ich wäre im Wahnwitz in das Sterbezimmer gedrungen und hätte
den Alten gewaltsam von der Leiche gezerrt. Dieses schweigende Stück
Leben hinter der geschlossenen Tür! Diese blicklosen Höhlen, die mich
anstarrten, wohin ich mich wenden mochte! Schrecklich, schrecklich!

Meinen Beruf habe ich seitdem nicht wieder aufgenommen. Ich habe
überhaupt gar nicht an die Möglichkeit gedacht. Sofort nachdem ich zu
Hause angekommen war, packte ich das notdürftigste in eine Handtasche
zusammen und reiste sofort ab. Ich ging in die Alpen.

Es war damals eine einzige Idee, die mich beständig quälte und mich
fast zum Wahnsinn brachte, die Idee: „Es muß doch einen Zweck haben,
wenn der Mensch derartiges leidet.“

Manchmal war mir, als ob ich jemanden auf der Straße anhalten, ihn
fragen müßte: „Weißt du, warum du leidest, warum du dich freust? Weißt
du überhaupt, warum du da bist?“

Denn hat es einen Zweck, daß man derartiges leidet, so muß es doch auch
einen Zweck haben, daß man da ist.

Hat es aber einen Zweck, daß man da ist, so muß man doch von einem
Gott auf seinen Platz gestellt sein. Ist man von Gott auf seinen Platz
gestellt, so müßte man doch auch in ihm stets einen letzten Rückhalt
haben.

Aber ich nehme meinen Fall. Ich stelle mir vor, ein Gott sagte: „Dir
ist diese deine Sünde vergeben“ oder: „Hinab mit dir in die unterste
Hölle! Das edelste Wesen hast du gemordet durch deine Selbstsucht --
sei verdammt für immer!“ Das eine wäre so nichtssagend für mich wie das
andere. Deswegen bliebe doch alles wie es ist. Im allerletzten Grunde
bin ich ja doch mir selber verantwortlich.

Ist aber der Gott gerade da, wo es darauf ankommt, nutzlos, weshalb
sich dann mit diesem transzendenten Ballast schleppen? Weshalb
schleppen andere sich mit ihm? Weshalb schleppt im Grunde genommen
alles sich mit ihm? Denn der Philosoph, der über ein Transzendentes
spekuliert, glaubt ja genau so, wie der Kirchengläubige, mag er sein
Transzendentes auch mit den geistreichsten und unverfänglichsten Namen
benennen.

Monatelang irrte ich ruhelos von einem Ort zum andern. Eines Tages
trat ich, es war in München, in eine Buchhandlung. Unter den dort
ausliegenden Neuheiten fiel mir zufällig ein Buch über den Buddhismus
in die Hände. Er hatte als Leitspruch den Satz:

„Über alle Gabe siegt der Wahrheit Gabe.“

Das zog mich an. Ich kaufte und begann zu lesen.

Irgend ein deutscher Gelehrter sagt von sich, er sähe es als eine Gnade
des Schicksals an, daß sein Vater ihm schon als reiferen Knaben Kant’s
„Prolegomena“ in die Hand gegeben habe. Ich muß offen gestehen, daß
ich diese Gnade nicht recht zu würdigen weiß. Aber ebenso würde wohl
jener Gelehrte es nicht verstehen, wenn ich hier sage, daß ich es für
eine Gnade des Schicksals ansehe, daß er mir gerade in dieser Zeit
dieses Buch in die Hände gab. Ich lernte begreifen, langsam, langsam,
in jahrelangem geduldigem Nachdenken, aber ich lernte schließlich, und
ich lernte vergeben -- mir selber vergeben. Ich begriff, warum ich mir
selber vergeben durfte.

Die Dankbarkeit für diese Liebesgabe des Buddha trieb mich, die Spuren
dieses Einzigen zu verfolgen. So schiffte ich mich bald darauf nach
Indien ein, habe mit eigenen Augen und in stiller Ehrfurcht alles
betrachtet, was diesen größten aller Menschen, diesen reinsten,
wirklichsten Menschen angeht und bin nun hier in Lanauli geendet.
Hier fahre ich bisweilen zu den Felsentempeln von Karli, um die
stolze Säulenhalle zu bewundern. Bisweilen fahre ich auch zum
gegenüberliegenden Gebirgszug, um die Felsenhöhlen von Bhaja und
Bedsa zu besuchen, aus deren kahlen Wänden noch die jugendliche Kraft
rücksichtslosen Entsagens spricht, wie sie den ersten Zeiten des
Buddhismus eigen war. Meist aber sitze ich unter einem dieser mächtigen
alten Bäume, die einzeln in dieser merkwürdigen Landschaft stehen. Und
wenn der Monsunwind in den Zweigen rauscht und die Sonne hinter den
Bergen im Westen sinkt, dann genieße ich immer wieder das köstlichste
aller Gefühle: Dieses gesicherte Ruhegefühl, hervorgegangen aus dem
bewußten Loslassen von der Welt und ihren Gütern.

Und das ist die Liebesgabe des Buddha. Mögen viele davon kosten. Denn
irgend eine Schuld, die im Begreifen nicht sich selber verzehrte, die
gibt es nicht.

[Illustration]



[Illustration]



Helene van Hoeven.


Frau Lamondt hieß vor ihrer Verheiratung Helene van Hoeven. Sie war in
Holland in der Stadt Utrecht geboren. Ihre Großmutter mütterlicherseits
aber war eine echte Javanin gewesen, und auch bei Fräulein van Hoeven
zeigten sich noch Spuren malayischer Abstammung. Ihre Hautfarbe hatte
einen leichten Stich ins Gelbliche und der Oberkiefer war etwas stark
entwickelt, was aber nur beim Lachen hervortrat. Im übrigen hatte sie
ein angenehmes Gesicht, an dem aber durchaus nichts auffallendes war,
ausgenommen etwa die grauen Augen mit ihrem festen, klaren Blick. Aber
selbst diese fielen nicht jedem auf, sondern nur solchen, welche fähig
waren zu sehen. Und ich bin fest überzeugt, daß die meisten Menschen
Fräulein van Hoeven nicht zu denjenigen Personen rechneten, von denen
sich erwarten ließ, daß sie später mal eine Lebensgeschichte haben
würden.

Als Helene heiratete, war sie noch sehr jung, kaum 18 Jahr. Aber
niemand dachte, daß das in diesem Falle viel schaden könnte. Denn
sie heiratete jemanden, mit dem sie von Kindheit auf gespielt hatte
und mit dem sie auch jetzt fast den ganzen Tag zusammen zubrachte:
nämlich den jungen Lamondt. Daß sie sich heirateten, war von jeher
selbstverständlich gewesen, also dachte man, käme es auf ein paar Jahre
früher oder später nicht an.

Der junge Lamondt war ein seltner Mensch, ansehnlich, klug in seinem
Geschäft, bescheiden und von einer ungewöhnlichen Gutherzigkeit.

Da die Familie viele Beziehungen nach Java hatte, so siedelten die
beiden gleich nach ihrer Verheiratung nach Batavia über, um dort jenes
äußerliche Glück zu suchen, welches die Ergänzung zu ihrem innerlichen
Glück bilden sollte.

Ob freilich Frau Lamondt so ganz glücklich war, wie es junge Frauen
stets sein sollten, das wußte sie wohl selber nicht. Sie war noch zu
jung, und was das schlimmste war, ihr Mann war nur wenig älter wie
sie. Sie wußten wohl beide nicht recht, was sie aneinander hatten.
Zum vollen, dauernden Glück gehört aber das Bewußtsein vom Wert des
Gegenstandes, dem wir unser Glück verdanken. So könnte es wohl sein,
daß sie trotz aller gegenseitigen Liebe doch jenes einzige, wahre Glück
der Liebe, jene vergeistigte Liebe nicht kennen gelernt hatten.

In Batavia bewohnten sie ein geräumiges Haus außerhalb der Stadt und
hatten mehrere Diener, wie alle dortigen Europäer. Verkehr mit der
Gesellschaft hatten sie wenig. Lamondt brachte fast den ganzen Tag in
seinem Kontor in der Stadt zu, und so lebte die junge Frau in völliger
Einsamkeit sich selbst überlassen.

Das wäre in Europa nicht so schlimm gewesen, weil hier die Arbeiten
in der Häuslichkeit den Einfluß der Einsamkeit aufheben oder doch
schwächen. In Indien aber fällt dieser Faktor fort. Die Dienerschaft
macht hier alles, und die Hausfrau widmet den Tag der Hauptsache nach
dem Nichtstun; denn das Bewegen des Schaukelstuhls kann man kaum eine
Tätigkeit nennen.

Nun war es freilich der jungen Frau Lamondt nicht gegeben, in dieser,
gerade in Holländisch-Indien so beliebten Weise ihre Tage zuzubringen.
Sie begann nach Beschäftigung zu suchen, und da das Haus nichts bot,
so stieß sie auf diejenige Beschäftigung, auf die sie auch in Europa,
nur etwas später, gestoßen wäre, weil ihre Natur es forderte: die
Beschäftigung mit sich selbst, das Nachdenken über sich selbst. Mit
einem Wort: Sie begann zu philosophieren.

Es ist aber ein großer Unterschied, ob jemand mit 18 oder mit 25
oder gar mit 40 Jahren anfängt zu philosophieren. Die Anlage zur
Nachdenklichkeit war Frau Lamondt angeboren. Diese Anlage wäre überall
zum Durchbruch gekommen, aber in Europa wahrscheinlich erst auf Grund
der Lebens-Erfahrungen, das heißt der Püffe und Enttäuschungen, die
wir hienieden zu kosten bekommen. Jetzt, in Indien in dieser Einsamkeit
wurde diese glücklich-unglückselige Anlage gleichsam künstlich, wie
in einem Treibhause zur Reife gebracht. Es fehlte hier der reale
Hintergrund, der den Resultaten ihres Philosophierens als natürlicher
Maßstab dienen konnte.

Außerdem wollte es der Zufall, daß sie den Philosophien in die
Hände fiel, die eine fortschreitende Hebung, Vervollkommnung des
Menschengeschlechtes lehren und die Verpflichtung jedes Einzelnen, an
dieser Hebung mitzuarbeiten.

Diese Theorie wirkt auf gewisse Gemüter wie der Weingeist auf das
Gehirn. Auch Frau Lamondt wurde berauscht und in diesem schillernden
Gespinst klangvoller Hypothesen und hochgeistiger Argumente gefangen
genommen. Sie hatte irgendwo Beethovens stolze Worte gelesen: „Höheres
gibt es nichts, als der Gottheit sich mehr als andere Menschen nähern
und von hier aus die Strahlen der Gottheit unter das Menschengeschlecht
verbreiten.“ Das tönte ihr im Ohr wie der Klang einer silbernen Glocke.

Eines Tags begann sie, ihrem Manne gegenüber diese Gedanken zu
entwickeln. Der lachte sie gutmütig aus. „Laß Du die Welt nur, wie sie
ist. Man beißt sich bei so was nur die Zähne aus, und es bleibt doch
alles beim Alten.“

Sie erwiderte hitzig: „Wenn jeder so denken wollte wie Du, so würde
die Welt wohl in einem kläglichen Zustand sein.“

„Das weiß ich nicht, Tutti. Mir gefällt sie so ganz gut wie sie ist,
und für die Zeit, in der wir drauf sind, reicht’s schon aus.“

Er küßte die junge Frau herzlich. Es war Zeit, ins Kontor zu gehen. Im
Hinausgehen rief er ihr scherzend zurück: „Ich will vor allem mal die
Lamondt’sche Welt verbessern. Wie die große dabei fährt, das kümmert
uns gar nichts. Hörst Du, Tutti, gar nichts!“ wiederholte er übermütig.
Er warf ihr eine Kußhand zu und stieg in sein Wägelchen.

Frau Lamondt versuchte es noch öfter, ihren Mann für diese Fragen
zu interessieren, aber stets mit dem gleichen Erfolg. So fing sie
an, bei solchen Gelegenheiten sich ernsthaft über ihn zu ärgern. Sie
übersah ganz oder wußte es wohl nicht, daß er tatsächlich seine Pflicht
erfüllte und nach allen Seiten hin gutes tat, so weit es an seinem
Platz nur möglich war. Sie übersah, daß auch das idealste Streben in
keinem Fall mehr tun kann. Sie begann auf ihren Mann herab zu sehen
seiner prosaischen Ansichten wegen.

Auch unter den wenigen, mit denen sie hier verkehrte, war niemand,
der Verständnis für ihren Gedankengang gehabt hätte. Sie begann bei
diesem und jenem zu fühlen. Denn erhabene Gedanken, die noch nicht
zur Tat umgesetzt sind, drängen zur Mitteilung durch das Wort. Sie
verlieren hierdurch zwar an Kraft, gewinnen aber an Verdaulichkeit.
Was sie an Nähreinheiten einbüßen, wird aufgewogen durch die größere
Assimilierbarkeit des Restes, eine Eigenheit, von der nicht nur der
Beschenkte, sondern auch der Geber profitiert.

Aber überall fand Frau Lamondt Abweisung. Als sie endlich einsah, daß
es besser sei, gar nicht über solche Dinge zu sprechen oder doch nur
notgedrungen, war sie bereits der Gesellschaft ein wenig zum Gespött
geworden. Sie merkte es und zog sich von da an nur noch mehr in sich
zurück und in ihre Phantasie-Welt, die dadurch immer mehr Macht über
sie gewann.

Lamondt selber war zu harmlos, als daß er dieser Geistesrichtung seiner
Frau irgend welche Bedeutung beigemessen hätte. Der Gedanke, daß eine
Entfremdung zwischen ihnen eintreten könne, wäre ihm etwas unfaßbares
gewesen. Seinem Gefühl nach gehörten sie beide zusammen von jeher und
für immer.

Nach zweijähriger Ehe beschenkte Frau Lamondt ihren Mann mit einem
Töchterchen. Lamondt’s Glück war grenzenlos. Dieses Ereignis brachte
eine tiefe Änderung in den Verhältnissen zustande. Beide liebten ihr
Kind abgöttisch und sich gegenseitig in dem Kinde mit jener stillen,
sanften Liebe, die dem gleichmäßig-milden Licht der Planeten zu
vergleichen ist, während jene erste Liebe dem scharfen Funkeln der
Fixsterne gleicht.

Die nachfolgenden Jahre waren die sonnigsten im Leben der Frau
Lamondt. Denn ein nachdenklicher Mensch hat nicht viel Sonne, weil
er fast ständig unter der Wolke seines eigenen Denkens wandelt. Ihre
hochragenden philosophischen Ideen hatten sich gewissermaßen auf das
Kind niedergeschlagen und dort Form angenommen. All ihr Können, all ihr
Wissen, all ihre Sorgfalt wollte sie auf das Kind konzentrieren und
dasselbe in geistiger wie leiblicher Beziehung zur denkbar höchsten
Entwickelung bringen. Manchmal verirrten sich ihre Gedanken so weit
in die Zukunft, daß sie sich mit ihrer Tochter vereint wirken sah zum
Besten der Menschheit, zu ihrer Veredelung, Hebung.

So mochten vier Jahre vergangen sein, da bekam Herr Lamondt eines Tags
Besuch von einem Freunde aus Holland. Es war ein Herr Savade, ein
Marine-Offizier, dessen Schiff für einen Tag Batavia anlief.

Er suchte Lamondt in seinem Kontor in der Stadt auf. Der freute sich
kindisch. Aber nachdem er ihn umarmt und geküßt und das nötigste
gefragt hatte, sagte er:

„Weißt Du, heute ist Posttag. Dieses hier (er zeigte auf einen Stoß
Briefe) muß fort. So kann ich hier nichts mit Dir anfangen. Geh’ zu
meiner Frau raus und vertreib der die Zeit. Sie wird sich freuen. Und
ein Mädel haben wir auch.“ Sein Auge glänzte. „Nun, ich sage nichts
weiter. Du wirft ja sehen.“

Savade lächelte. Lamondt umarmte ihn noch einmal. „So bald ich irgend
kann, komm’ ich auch: In einer Stunde ist Postschluß“ rief er dem
Davonfahrenden nach.

Savade kannte Frau Lamondt nicht. Er hatte Lamondt während dessen
Lehrjahren in Rotterdam kennen gelernt. Lamondt hatte aber viel von
seiner Zukünftigen gesprochen und ihm ihr Bild gezeigt; denn sie waren
wahre Freunde geworden, trotzdem Savade wohl an zehn Jahre älter war
als Lamondt.

In der Villa Lamondt’s angekommen, mußte Savade einige Zeit im
Empfangszimmer warten. Es war noch etwas früh am Vormittag. Aus langer
Weile musterte er die kleine Bibliothek, die in einem Schränkchen
in der Ecke stand. Zu seinem Erstaunen fand er hier eine Reihe
philosophischer Bücher. „Potz tausend“, dachte er, „hat sich Lamondt
in Java das Philosophieren angewöhnt! Er hatte doch in Rotterdam,
weiß Gott! keine philosophische Ader.“ Er lachte leise. „Oder sollte
vielleicht die Frau -- das wäre ja ganz etwas seltenes.“ Erwartungsvoll
blickte er nach der Tür, in der Frau Lamondt vermutlich erscheinen
mußte.

Gerade in diesem Moment trat sie ein. Sie trug ein langes, faltiges
Musselin-Kleid von weißer Farbe, das mit einem gelben Seidengürtel
zusammen gehalten wurde. Die Füße waren einheimischer Sitte gemäß mit
Sandalen bekleidet. Der javanische Sarong, den viele holländische Damen
bis zum Mittag tragen, sagte ihrem Geschmack nicht zu.

Frau Lamondt kannte Savade ebenso, wie er sie kannte, das heißt aus den
Erzählungen Lamondts.

Als die gegenseitige Begrüßung vorüber war, begann Savade direkt:

„Ich sehe mit Erstaunen diese Kollektion philosophischer Autoren --“.

Er hielt erwartungsvoll einen Augenblick inne.

„Es sind meine Bücher.“

„O!“

Er konnte das Erstaunen nicht ganz verbergen. Sie sah noch so kindlich
aus.

„So schwere Lektüre“, meinte er.

Sie glaubt ein wenig Spott aus diesen Worten zu hören. Etwas abweisend
erwiderte sie:

„Der Mensch ist nicht dazu da, um sich das Leben möglichst leicht zu
machen.“

Er sah sie aufmerksam an. Einlenkend begann er wieder:

„Verstehen Sie mich nicht falsch, gnädige Frau. Ich verehre die
Philosophie als das Höchste auf der Welt und schätze jeden hoch, der
sie hochschätzt.“

Freudig blickte sie zu ihm auf. „Wirklich, lieben Sie die Philosophie?“

„Ich liebe sie, so lange ich denken kann. Ich könnte nicht leben ohne
Philosophie. Philosophie repräsentiert mir den menschlichen Verstand in
seiner edelsten, reinsten und dabei naturgemäßesten Form, naturgemäß,
weil es Funktion des Verstandes ist, von außen nach innen, das heißt
auf sich selbst zu, in sich selbst hinein zu gehen. Und das nennt man
eben Philosophieren.“

„O, wie selten man diese Liebe findet!“

„Ja, wirklich, wie selten! Ich habe mit Lamondt oft darüber disputiert,
aber er wollte nie etwas von Philosophie wissen.“

Die junge Frau seufzte etwas.

„Aber,“ fuhr Savade heiter fort, „vielleicht ist Philosophie für einen
Ehemann just nicht so notwendig. Ich dächte, wirklich zur Leibes
Nahrung und Notdurft gehört sie nur bei solchen, die entschlossen sind,
allein durch’s Leben zu gehen. Ihnen muß sie jene Stütze ersetzen,
die in der Ehe einer dem andern liefert. Sie muß der Einsamkeit ihren
Stachel nehmen und muß lehren, den Gedanken an einsames Sterben nicht
zu fürchten.“

„Meinen Sie nicht, daß sie noch höhere Zwecke zu erfüllen hat?“

„O, das ist nur die uns zugewandte, beschränkte Seite. Aber da ist noch
jene andere, uns abgewandte, auf die ganze Menschheit zugewandte Seite.“

Er brach ab und trat wieder zu dem Bücherschränkchen. Er nahm einzelne
Bände heraus und betrachtete sie fast zärtlich.

„Kant, Fichte, Schelling. Gerade meine Lieblinge. Und hier sogar der
göttliche Plato.“

„Haben Sie den auch gelesen?“ fragte Frau Lamondt eifrig.

„Ich habe die Morgenstunden eines ganzen Jahres auf diese Lektüre
verwandt. Es war eine erhebende Zeit.“

„Segelten Sie auch auf der hohen See des Schönen?“

Er nickte ihr freundlich, fast vertraulich zu, ohne zu antworten. Diese
Stelle aus dem „Gastmahl“ hatte ihm auch stets besonders gefallen.

„Ich sehe mit Vergnügen, daß der Pessimismus hier nicht vertreten ist.“

„Nein,“ antwortete sie schnell, „der Pessimismus hat hier keinen Platz.
Ich glaube an die Menschheit und an ihre Ideale als an mein Evangelium.
Ich kenne kein höheres Evangelium.“

„Ja, was wäre das Leben ohne diese höchsten Ziele, ohne diese Ideale.
Sie sind das menschlichem Verstand faßbar gewordene Göttliche in uns,
wenn wir die Höhe dieser Ideale fühlen.“

Ein merkwürdiges Leben begann in den Augen der Frau ihm gegenüber
aufzuleuchten. Er sah es und dachte: „Sie ist der Philosophie wahrhaft
ergeben. Wie selten!“ Er wußte, daß die meisten, Männer wie Frauen, mit
der Philosophie nur kokettieren.

In dem trat Lamondt ein.

Er war nie schlechter Laune, aber heute war er offenbar besonders
heiter. Er drückte dem Freunde noch mal die Hand. „Willkommen in meinem
neuen Heim,“ sagte er treuherzig. „Wenn Du wüßtest, wie viel Glück
unter diesem Dach wohnt.“ Es schien ihn etwas wie Rührung übermannen
zu wollen und schnell in einen burschikosen Ton überschnellend rief er
aus:

„Savade, alter Junggeselle! Warum heiratest Du nicht!“ Damit trat er
auf sein Weib zu und küßte sie. Plötzlich sah er sie genauer an!

„Na nu, Tutti, Du hast ja heute mal ordentlich Farbe. Woher kommt denn
das?“

Wie geärgert wandte sie sich etwas zur Seite.

Savade antwortete statt ihrer: „Wir haben uns über Philosophie
unterhalten, etwas lebhaft.“

Lamondt lachte lustig. „O, nun wird mir alles klar! Also immer noch das
alte Steckenpferd.“

„Lamondt,“ fiel Savade mit künstlicher Ernsthaftigkeit ein, „versündige
Dich nicht an der heiligen Philosophie.“

„O, ich weiß! Du gehörst ja auch mit zur Gilde. Nun, schon gut, alter
Freund. Im übrigen sehe ich, ist das Essen fertig. Aber,“ unterbrach er
sich schnell, „hast Du denn schon unser Mädchen gesehen?“

Savade verneinte.

Lamondt sah lachend seine Frau an: „Vor Philosophieren keine Zeit
gehabt.“

Er klatschte in die Hände, und nach einem Weilchen trat die Wärterin
ein, das Kind an der Hand führend. Lamondt nahm die Kleine in die Arme
und herzte sie, als ob er einen langen Durst stillen müßte. Jubelnd
schwenkte er sie hin und her und hielt sie dem Gast dicht vor’s
Gesicht. „Da, sieh’ mal Du! Ist das noch nichts?!“

Savade versuchte zu schäkern, aber das Kind wandte sich ab. „Sie ist
etwas scheu“ sagte Frau Lamondt entschuldigend.

Nachdem man sich zu Tisch gesetzt hatte, begann Lamondt:

„Wundere Dich nicht über unseren einfachen Tisch. Es geschieht auf
Wunsch meiner Frau. Und ich füge mich, wie immer.“ Er klopfte ihr
kosend auf die Hand, „Du mußt wissen, sie hieß schon als Mädchen unter
ihren Gespielinnen der spartanische Jüngling.“

„Ich freue mich schon auf die schwarze Suppe,“ rief Savade lustig.

„Nun, so schlimm kommt es nicht. Aber Du wirst ja sehen.“

„Was können Sie zu Ihrer Verteidigung vorbringen, gnädige Frau?“

Frau Lamondt erwiderte lächelnd:

„Zweierlei kann ich vorbringen. Erstens liebe ich diese holländische
Manier nicht, bei einer Mahlzeit, die man mit dem harmlosen Wort
‚Reistafel‘ bezeichnet, Eier-, Fleisch- und Fisch-Speisen schwersten
Kalibers auf einander zu häufen, so daß man schließlich nicht mehr von
‚Reistafel‘, sondern nur noch von ‚Fleischtafel‘ reden kann. Zweitens
halte ich Essen für ein notwendiges Übel, für eine Last. Und welcher
verständige Mensch sucht nicht das Vergnügen. Ich denke aber, am
leichtesten ist das Vergnügen zu vermehren durch Verminderung unser
Lasten und Unannehmlichkeiten.“

„Sie wären der Freundschaft Epikurs wert, gnädige Frau.“

„Und Sie, mein Herr, fürchte ich, wären ihrer nicht wert, weil Sie
schmeicheln.“

„Nicht doch, gnädige Frau! Was schmeichelhaft ist, muß nicht immer
Schmeichelei sein. Ihre Worte enthalten tatsächlich die Quintessenz
der epikuräischen Philosophie. Dieser seltene Mann machte es sich zur
Lebensaufgabe, der Lust nachzustreben, aber dadurch, daß er sich von
der Last aller unnötigen Bedürfnisse befreite. Der Lust wegen lebte er
von Brot und Wasser. Und wenn er etwas Käse dazu tat, so nannte er das
„Ein sich gütlich tun.“ Aber das war jene Lust, die mit der unsrigen
nur im Namen zusammenfällt.“

„Um Gottes willen, Savade, sei still!“ fiel Lamondt mit komischem
Entsetzen ein. „Wenn ich von jetzt ab Brot und Wasser bekomme und nur
an Sonn- und Feiertagen etwas Käse dazu, so weißt Du, wer schuld ist.“

Alle lachten.

„Wie schmeckt Dir das?“ fragte Lamondt, auf die gebratenen Eierpflanzen
zeigend, die so appetitlich aussahen und so prächtig dufteten.

„Vorzüglich! Es könnte den Appetit auf Fleisch benehmen.“

„Nicht wahr!“ fiel Frau Lamondt eifrig ein. „Das ist gerade das, was
ich immer sage, und Lamondt glaubt es nicht.“

„Liebste Tutti, was habe ich davon, wenn es riecht wie Fleisch, aber
kein Fleisch ist. Hast Du schon je von einem gehört, der sich vom
Bratenduft genährt hat? Aber Du brauchst nicht zu denken, Freund, daß
ich mich über unsere Küche beklage. Sie ist tatsächlich bekömmlich, und
wir finden jederzeit Leute, die fähig sind, ihr vorzustehen.“

Nach den Eierpflanzen kam der Reis, locker und weiß, in hochgehäufter
Schüssel. Dazu der Brotfrucht-Kurry. Den Nachtisch machten die Früchte:
Bananen, Mangos und Mangustinen, jene köstlichste Tropenfrucht, die das
Auge und den Gaumen in gleicher Weise entzückt.

„Das schmeckt wie parfümierter Schnee“, meinte Savade, während er
sorgsam die schneeweiße Frucht aus ihrer purpurnen Schale nahm.

„Ja, es ist eine herrliche Frucht. Und doch geht mir ein ganz feiner
Mango über die Mangostine.“

„Java ist ein gesegnetes Land,“ fiel Frau Lamondt ein. „Es ist das
Paradies der Vegetarier. Es ist so leicht hier, naturgemäß zu leben.“

„Ja, für einen, der kein Kaffee-Geschäft hat,“ meinte Lamondt und
begann von seinen Sorgen und Lasten zu erzählen.

Nach beendeter Reistafel empfahl sich Savade, um am Abend zum Diner
wieder zu erscheinen. Am nächsten Morgen früh lief sein Schiff weiter
nach Samarang, Surabaya und dann in die Molukken-See. Batavia wurde
nicht wieder angelaufen. So galt es, die kurze Zeit des Beisammenseins
auszunutzen.

Er fuhr mit der Bahn zurück zum Tandjong Priok, um auf seinem Schiff
Toilette für den Abend zu machen. Nach Batavia zurückgekehrt hielt
er nach einer Gärtnerei Umschau, um den üblichen Blumenstrauß für die
Dame des Hauses zu erwerben. Das war aber in Batavia leichter gesagt
als getan, weil hier jeder seinen Privat-Garten besitzt. Endlich wies
man ihn in die Chinesenstadt. Sein Riksha-Kuli wußte hier Bescheid. Er
setzte ihn in einer Straße ab, in der einige Chinesen-Weiber dürftige
Sträußchen feil hielten. Für ein Paar Cent erstand er eines, froh
überhaupt etwas bekommen zu haben.

Als er gerade mit dem Handel beschäftigt war, bat ihn ein grauhaariger
Chinese, ein Krüppel, um eine Gabe, indem er sich schweigend in
ehrfurchtsvoller Weise verneigte. Savade aber sah über ihn hinweg,
nur in seinen Kauf interessiert. Es war sonst nicht seine Art, einen
Bettler vergeblich bitten zu lassen. Erst als er schon wieder ein
Weilchen in seiner Riksha saß, kam ihm plötzlich dieser bescheidene
Alte wieder vor Augen. Er erschrak innerlich. „So habe ich für
diesen stillen Bettler nicht eine Kupfermünze übrig gehabt“ sagte er
mißbilligend zu sich selber. Er behielt ein unbehagliches Gefühl, bis
er an Lamondt’s Villa anlangte.

Nach dem Diner, als sie draußen in den bequemen indischen Langstühlen
saßen, kam das Gespräch wie von selber wieder auf die Philosophie. Denn
Philosophie, entgegen anderen Wissenschaften, faßt den ganzen Menschen,
und jede Regung ist bei einem solchen nichts als eine Anregung zum
Philosophieren. Wahre Philosophie ist wie die Natur. Sie erlaubt von
jedem Punkt aus den Eintritt.

So standen Frau Lamondt und ihr Gast bald mitten in diesem Thema, ohne
zu wissen, wie sie hineingeraten waren. Man merkte, diese beiden waren
sich gegenseitig wie Stahl und Feuerstein. Einer schlug Funken aus dem
andern.

Der jungen Frau war, als ob eine geistige Spannkraft, die seit Jahren
in ihr angehäuft lag, sich nun wie in Blitzschlägen entlüde. Sie hatte
vielleicht nie im Leben ein Gefühl so völliger Befriedigung gehabt. Sie
hatte die Empfindung einer wunderbaren Erhabenheit, von der sie nicht
wußte, ob sie in ihr ruhte, oder als etwas von außen kommendes sie
umwehte. Sie erschrak förmlich, als Savade sagte: „Es ist aber schon so
spät. Wir müssen abbrechen.“

Lamondt, der inzwischen verschiedene Zigarren geraucht und sich meist
schweigend verhalten hatte, meinte:

„Ich glaube auch, es ist Zeit, daß Ihr in dieser Tonart aufhört. Im
übrigen ist es schändlich, daß Du nicht mal eine Nacht in meinem Hause
bleiben kannst.“

„Es geht nicht, Lamondt. Unser Schiff dampft um 4 Uhr früh ab. Wie soll
ich da zum Hafen hinunter kommen.“

Es wurde abgemacht, daß Savade einen Punkt, der wegen der vorgerückten
Stunde nicht mehr erörtert werden konnte, in einem Brief an Frau
Lamondt auseinandersetzen sollte.

Lamondt meinte: „Daran tust Du recht, daß Du meiner Frau schreiben
willst. Sie lebt so wie so zu einsam und kann mit der Gesellschaft hier
nicht recht fertig werden.“

„Das glaube ich“ antwortete Savade.

Frau Lamondt hörte den eigenen Nachdruck, der auf den Worten lag. Sie
errötete vor Freude und Stolz. „Er versteht mich“ dachte sie. „Endlich
einer.“

Man verabschiedete sich mit vieler Herzlichkeit, und Savade schritt
schnell dem Garten-Ausgang zu, welcher auf der der Veranda gegenüber
liegenden Seite des Hauses sich befand.

Er war kaum ein Weilchen fort, als er plötzlich vor der Veranda wieder
auftauchte. Lebhaft rief er hinauf:

„Ich habe ja ganz vergessen, Euch zu sagen, daß Ihr, wenn Ihr nach
Europa fahrt, ja nicht vergeßt, mich in meinem Winkel zu besuchen.“

Auf der ganzen Nachhause-Fahrt hatte er ein eigenartiges Bild vor
Augen. In dem Moment, als er vor die Veranda getreten war, hatten beide
Lamondt’s schweigend dagesessen, die Frau mit ihren Fingern das Glas
umspannend, in dem seine simplen Blumen standen. Dabei hatte sie das
Gesicht etwas tief darüber gebeugt gehalten, gleichsam, als ob sie
daran röche.

       *       *       *       *       *

Frau Lamondt war sehr ungeduldig auf den versprochenen Brief von
Savade. Sie sagte ihrem Manne aber nichts davon. Er schien sowohl den
versprochenen Brief als auch den Besuch selber vergessen zu haben.

Endlich, nach etwa zwei Monaten kam ein Brief aus Surinam datiert.

Es war Frau Lamondt, als ob sie einen volleren Genuß von der Lektüre
haben würde, wenn sie vorher ihrem Manne mitgeteilt hätte, daß sie
einen Brief von Savade erhalten habe. So ging sie hinaus in den Garten,
wo Lamondt gerade mit seinem Töchterchen Blindekuh spielte. Er hatte
die Augen mit dem Taschentuch verbunden und tappte auf dem Rasen umher.

„Du bist gewiß wieder vom Rasenplatz runtergegangen, Dora, ich finde
Dich ja nirgends.“

Er hörte ein leises Sprechen und stürzte darauf los. Beim Zufassen
erwischte er einen Kleiderzipfel. „Endlich!“ rief er aus.

„Das ist ja Mama!“ rief die Kleine hinter ihm und lachte ausgelassen.

„Ja, laß nur los. Ich bin’s,“ sagte Frau Lamondt. „Ich wollte Dir
gerade sagen, daß ich einen Brief von Savade bekommen habe, aber Du
bist ja zu beschäftigt.“

„Du! von Savade?“ sagte Lamondt verwundert. „Was will er denn von Dir?“

„Mein Gott, wie vergeßlich Du bist. Weißt Du denn nicht mehr, daß er
versprochen hatte, mir zu schreiben?“

„Ach ja, über eure Sachen. Entschuldige, Tutti, das hatte ich total
vergessen.“

Er hatte noch das Tuch vor Augen und sah in diesem Moment nicht gerade
sehr bedeutend aus, der gute Lamondt. Aber seiner Frau fiel das nicht
auf. Es war ihr recht, daß sie ihm nicht in die Augen zu sehen brauchte.

„Papa, Du suchst ja gar nicht“ rief jetzt die Kleine mahnend.

„Ich komme schon, mein Kind.“

Etwas hastig ging er einige Schritte vorwärts und stolperte dabei gegen
einen Baum. Die Kleine kreischte vor Vergnügen.

„Nicht so wild, Dora!“ mahnte die Mutter und verschwand dann wieder im
Haus. Hier setzte sie sich in einen bequemen Stuhl und begann zu lesen.

Savade hatte versprochen, ihr über den Gottbegriff des Spinoza zu
schreiben. Spinoza war ihr bisher fremd geblieben. Aber die kahle
Erhabenheit dieser Gedanken regte sie jetzt mächtig an. Savade hatte
einen klaren, geistreichen Stil, und sie glaubte alles mit einem Schlag
zu verstehen. Nichtsdestoweniger las sie den Brief mehrere Mal.

Noch am selben Tage bestellte sie bei dem Buchhändler das Original.

Beim Abendessen begann Lamondt plötzlich:

„Eh’ ich’s wieder vergesse -- was schreibt denn eigentlich Savade?“

„Nur über philosophische Sachen.“

Lamondt lächelte. „Einen ganzen Brief voll Philosophie.“

„Er schreibt über Spinoza.“

„Spinoza -- Spinoza -- war das nicht der, der mit Vorliebe den Fliegen
die Beine ausriß?“

„Was redest Du da! Man erzählt, daß er, wenn er sein geistiges Tagewerk
vollendet, zu seiner Erheiterung Fliegen in Spinngewebe warf und dem
Kampf der Fliege mit der Spinne zusah.“

„Also jedenfalls Tierquälerei. Ich würde gegen solche Leute immer etwas
voreingenommen sein.“

„Solche Geister darf man nicht mit dem vulgären Maßstab messen. Spinoza
hat einen der erhabensten, reinsten Gottbegriffe geschaffen.“

„Was hat er gemacht?“ fragte Lamondt voll ungeheuchelten Staunens.
„Ich denke, der liebe Gott ist ein einiger, mit dem wir weiter nichts
machen können als einfältig an ihn glauben. Wie kann ein Mensch einen
Gottbegriff schaffen? Eben so gut könnte er ja auch eine neue Welt
schaffen.“

„Was Du da sagst, paßt für die Gläubigen im kirchlichen Sinn. Die
philosophisch Denkenden schaffen sich selber ihren Gottbegriff, in dem
sie Genüge und Ruhe finden.“

„Woher wissen sie denn aber, daß das, was sie da in ihrem Gehirn
zurecht gebraut haben, das richtige ist?“

„Woher weißt Du, daß der Gott, an den Du glaubst, der richtige ist?“

Lamondt sah seine Frau einen Augenblick ratlos an, dann sagte er fast
trotzig:

„Ich will ja gar nichts wissen. Ich glaube eben an ihn.“

„So gehörst Du zu den Glücklichen, die glauben können. Aber bedenke die
unzähligen Unglücklichen, die nicht glauben können und doch zu innerer
Ruhe kommen wollen. Bedenke ihr Suchen, ihre Kämpfe.“

Lamondt warf einen fast scheuen Blick auf sein Weib. Sie kam ihm so
fremd vor. Ihm wurde unbehaglich. Er versuchte umzuschwenken. Mit etwas
erzwungener Lustigkeit sagte er:

„Also Du bist auch dabei, Dir selber Deinen Gottbegriff zu machen.
Tutti, Tutti, wenns man glückt.“

„Das habe ich nicht gesagt. Im übrigen ist der Gegenstand schlecht
geeignet zum Scherzen,“ erwiderte sie kühl.

„Du hast recht, sehr schlecht geeignet.“ Seine Stimme klang so
bestimmt, daß jetzt die Reihe des Sichverwunderns an Frau Lamondt war.

Die Sache war damit eigentlich erledigt, aber sie mußte noch etwas
vorbringen, was sie durchaus heute noch vom Herzen haben wollte. Es
entstand eine Pause. Sie fühlte, ihr Vorhaben würde um so schwerer
auszuführen sein, je länger sie die Pause werden ließe. So faßte sie
sich ein Herz und sprang in die gähnende Lücke.

„Ich wollte Dir noch sagen,“ begann sie, und ihre Stimme klang infolge
der innerlichen Anstrengung etwas gereizt, „daß ich Savades Brief
natürlich beantworten muß. Er wird wahrscheinlich darauf wieder
antworten. Dadurch könnte ein Briefwechsel zustande kommen. Hättest Du
etwas dagegen einzuwenden?“

Lamondt sah sie wieder ganz erstaunt an. Dann begann er lustig zu
lachen.

„Heute Abend,“ rief er, „verstehe ich Dich aber auch gar nicht. Was
soll ich dagegen haben, wenn Du mit Freund Savade im Briefwechsel
stehst. Habe ich überhaupt jemals etwas gegen das einzuwenden gehabt,
was Du vorhattest?“ Er umfaßte sie liebkosend und streichelte ihr die
Backen. „Ich bin ja von jeher Dein gehorsamer Haussklave gewesen.“

Sie konnte nicht anders als ihn anlächeln. In der Tat, ein Widerspruch
ihres Mannes wäre etwas völlig unerhörtes gewesen. Sie ärgerte sich
jetzt über sich selber, daß sie diese offizielle Anfrage gestellt
hatte. Es kam ihr ganz lächerlich vor. Wie unnötig wichtig hatte sie
diese ganze Sache dadurch gemacht.

Lamondt fuhr fort: „Werde nur nicht zu gelehrt, Tutti. Ich will ja gar
keine gelehrte Frau. Im übrigen ist er der beste Kerl von der ganzen
Welt. Ich kenne keinen besseren. Vergiß nur nie, ihn zu grüßen, wenn Du
an ihn schreibst.“

Um etwas zu erwidern, sagte Frau Lamondt: „Sein Brief ist aus Surinam
datiert.“

„O weh! Das ist ein böses Nest; etwa so wie Batavia vor 50 Jahren. Daß
er sich da nur kein Fieber holt. Schreib’ ihm nur, wenn es mal irgend
wie hapert, so ist ein Gläschen Genèvre immer das beste.“ Auf das
Zigarren-Schränkchen zuschreitend und sich eine Zigarre anzündend fuhr
er fort:

„Die Hauptsache ist nur, daß es beizeiten genommen wird.“ Und nachdem
er es sich im Langstuhl bequem gemacht und einige Dampfwolken mit
Aufmerksamkeit von sich geblasen hatte, begann er eine Geschichte zu
erzählen von einem Bekannten, welchem nach seiner und aller anderen
Ansicht ein Gläschen Genèvre zur rechten Zeit genommen das Leben
gerettet hatte.

       *       *       *       *       *

Zwischen Savade und Frau Lamondt entwickelte sich ein nicht häufiger
aber sehr regelmäßiger Briefwechsel. Der Gegenstand desselben waren nur
philosophische Themata. Alle Bemerkungen über persönliche Verhältnisse
wurden beiderseits so völlig vermieden, daß der Unbefangene fast etwas
Absichtliches darin hätte finden können.

In Frau Lamondts Briefen trat immer ein und dasselbe Thema zutage:
Die Hingabe an die Menschheit und an ihre Ideale, das Arbeiten an der
Hebung der Menschheit zu immer stolzerer, sonnenhafterer Höhe. Das
erschien ihr als die einzige aller Aufgaben dieser Welt, bei der schon
im Streben allein der Erfolg liegt, Erfolg mit all seiner beglückenden
Macht.

Sie liebkoste dieses Thema und ging dabei mit einem ihr selber
vielleicht unbewußten Raffinement zu Werke. Um Überdruß zu vermeiden,
ließ sie es bald in schweren gesammelten Baßschlägen auftreten, bald
in eleganten Diskant-Figuren, die in graziöser Weise sich auflösten
und wieder zur Form vereinigten. Eine solche Meisterin war sie in
Darstellung ihres Gedankens, daß Savade immer wieder erstaunte, wenn
er ihre scheinbaren Abschweifungen plötzlich wie durch einen Coup
zum Thema verdichtet vor sich stehen sah. Er selber gehörte zu jenen
glücklichen Naturen, die instinktiv das Maßhalten, das Wandeln auf der
richtigen Mitte als das der menschlichen Natur notwendigste erkennen.
Er stimmte in seinen Ansichten mit denen Frau Lamondt’s überein. Ihre
Ideale waren auch die seinigen. Aber er fühlte das Zuviel auf Frau
Lamondt’s Seite und versuchte unwillkürlich dieses Plus auf ihrer Seite
durch ein entsprechendes Minus auf seiner Seite auszugleichen.

Bald derber, bald zarter deutete er an, daß trotz aller idealen
Pflichten, die uns an die Menschheit ketten, doch unsere erste
und Hauptpflicht die ist, für unsere eigene Besserung, für unser
eigenes Heil, für unsere eigene Ruhe zu sorgen. Leise gab er ihr zu
bedenken, ob dieses Vergafftsein in die Menschheits-Ideale nicht oft
ein Vergafftsein in sich selber sein könnte, nichts als eine Form
der Eigenliebe in besonders bauschiger und eleganter Enveloppe, eine
Eigenliebe in Balltoilette. „Wenn einer,“ schrieb er, „der selber
schmutzig ist, einen anderen schmücken will, so wird er bösen Erfolg
haben. Wer das will, der muß im Groben, Gemeinen bleiben, wie die
Scheuerfrauen, für die es nichts ausmacht, wenn sie ihre Arbeit in
schmutzigem Habit verrichten. Aber sie gehören auch nur in die Küche
und auf die Treppen. Der Anständige, der in sein bestes Zimmer treten
will, legt vorher schmutzige Stiefel und Kleider ab; andernfalls
macht er sein Staatszimmer zum Vorraum. Ich glaube nicht, daß es
eine herrlichere Behausung gibt als jenen Tempel, den die großen
Geister aller Zeiten errichtet haben. Sollten wir nicht rein sein bis
ins Innerste, ehe wir in diesen Tempel einzutreten wagen, um ihn zu
schmücken und auszubauen?“

Als Frau Lamondt in einem ihrer Briefe über die Schwierigkeit und
Hoffnungslosigkeit der Arbeit am eigenen „Ich“ klagte, antwortete er
folgendes:

„Freilich ist das eigene ‚Ich‘ jenes wunderliche Ding, mit dem sich
abzugeben der eine überhaupt nicht für der Mühe wert hält, und mit
dem der andere nie fertig wird. Von dem ersteren sagen wir mit Dante:
~Guarda e passa!~ ‚Schau und geh’ vorüber überall!‘ Für den
letzteren kommt alles auf die Art des Vorgehens an. Wer das ‚Ich‘
täppisch greifen will, dem entgleitet es wie einem, der Wasser in
der hohlen Hand zusammenpressen will. Das ‚Ich‘ kann nicht begriffen
werden, es kann nur angeschaut werden. Aber auch das Schauen muß
verstanden werden.“

Und weiter hieß es: „Es ist freilich wahr, das ‚Ich‘ ist das Rätsel
aller Rätsel, das Wunder aller Wunder, und hier einen Zweifel lösen,
heißt hier nur, ihn in zwei neue zerspalten. Aber was sollen wir
hieraus für Lehren ziehen? -- Erstens, daß wir keinen Augenblick
säumen dürfen und uns vor allem an die Beschäftigung mit diesem Ich
machen müssen, eben wegen der Schwierigkeit der Sache einerseits und
ihrer einzigen Wichtigkeit anderseits. Wir dürfen hier nie sagen: ‚Was
hat diese Arbeit für Zweck? Das mühsam Errungene wird in neuen Zweifeln
verloren gehen.‘ Hier ist ja auch der Verlust Fortschritt. Wird jemand
sagen: ‚Was hat es für Zweck, mich jetzt zu sättigen? Zum Abend werde
ich doch hungrig sein.‘ Das Hungrig-Werden ist ja hier Fortschritt, ist
Gelingen. Diese Einsicht sollte uns hindern, uns zu früh über unser
eigenes ‚Ich‘ hinwegsehen zu lassen auf das ‚Ich‘ des Nebenmenschen
hin. Wir wollen auch nicht vergessen, daß wir, um zu anderen zu
kommen, die Straße passieren müssen, und daß es wohl sein könnte, daß
wir bestaubt und beschmutzt von unseren Liebeswerken zu uns selbst
zurückkehren.“

„Zweitens aber sollen wir daraus die Lehre ziehen, uns nicht so tief
in unserem eigenen Ich zu verlieren, daß wir garnichts anderes mehr
neben diesem ‚Ich‘ sehen, oder daß es uns schließlich gar den Verstand
verwirrt. Wenn irgend wo, so heißt es hier, der gefühlten Unendlichkeit
gegenüber: Maßhalten. Wir wollen uns doch gewöhnen, die Tatsache des
Ewigen, des Göttlichen, Unfaßbaren in uns mit Maß zu tragen, wie es
eben eines so kostbaren Inhaltes würdig ist. Wir wollen doch endlich
aufhören, in törichter und barbarischer Weise zu versuchen, dieses
Ewige, Göttliche, Unfaßbare in uns ans Tageslicht zu zerren, wie einer,
der seine eigenen Eingeweide herauszerren will. Er mordet nur sich
selbst.“

„So wollen wir es dem Lebens-Rätsel, dem Ich-Rätsel gegenüber machen,
nicht wie der Schüler, der, an der Bewältigung seiner Aufgabe
verzweifelnd, das Buch in die Ecke wirft, sondern wir wollen es machen
wie der Verständige, der das seinen Kräften entsprechende Teil gelesen
hat und nun ruhig das Buch schließt und sich sagt: ‚Es ist genug für
heute.‘ Denn das ist auch ein Ende, zu wissen, daß man nicht am Ende
ist und doch gefaßt und zufrieden bleiben. Und ich fürchte sogar,
dieses ist das letzte Ende, das uns beschieden ist.“ So spricht der
Verständige, Denkende, solange er nicht vom Buddha belehrt worden ist
oder sich von ihm hat belehren lassen.

Aber dieses Gegenarbeiten Savades gegen Frau Lamondts
Überschwenglichkeit war für beide nur wie jene künstlichen Dissonanzen,
die nur dazu da sind, die Schönheit der Harmonie um so süßer zu machen
und um so stärker hervortreten zu lassen. Beiden war ihr Briefwechsel
ein unbeschreiblicher und erhabener Genuß geworden. Denn kein Genuß
dieser Welt gleicht der Wonne, die wir empfinden, wenn die Gedanken
unseres Herzens in einem anderen Herzen wiederklingen. Das ist der
höchste Genuß, denn es ist der reinste. Das ist der reinste Genuß, denn
er verlangt keine Berührung.

       *       *       *       *       *

Ob in den nächsten Jahren sich allmähliche Änderungen im Denken der
jungen Frau vollzogen -- ob das, wovon jetzt gesprochen werden soll,
das Resultat eines plötzlichen Entschlusses war -- ob Savades Briefe
irgend einen (natürlich unbeabsichtigten) Einfluß auf diesen Entschluß
hatten, wird sich mit Bestimmtheit wohl nie feststellen lassen.
Tatsache ist, daß Frau Lamondt eines Morgens, etwa drei Jahre nach der
oben geschilderten Zeit jenes Besuchs zu ihrem Gatten sagte: „Ich muß
Dich in einer ernsthaften Angelegenheit sprechen.“

Lamondt hatte an jenem Tage wenig Zeit, aber er war doch zu erstaunt
über die Worte und den Ton seiner Frau, als daß er nicht alles andere
vergessen hätte.

„Was gibt es denn, Tutti?“ fragte er teilnehmend.

„Lamondt, was ich Dir jetzt sage, wird Dich sehr überraschen und sehr
betrüben. Aber so wahr ich hier stehe, ich kann nicht anders handeln,
als ich handeln will. Ich bin es dem, was in meiner Seele keimt und zum
Licht drängt, schuldig. Lamondt, die Qual wird durch Umgehen nur größer
für uns beide. So sage ich es Dir denn direkt heraus: Ich kann nicht
länger Dein Weib sein. Ich muß meinen Weg allein gehen. Versteh’ mich
recht: Ich will mich von Dir scheiden lassen. Die Ehe ist nicht das
richtige für mich.“

Totenbleich starrte Lamondt sein Weib an. Die Worte erstarben ihm. Er
brachte nichts heraus als „Helene!“ Er kannte den Charakter seines
Weibes. Er wußte, daß es kein Mittel gäbe, sie von einem einmal
gefaßten Entschluß wieder abzubringen.

Frau Lamondt fuhr fort:

„Ich muß Dir alles sagen. Ich kann nicht allein gehen. Das Kind muß bei
mir bleiben.“

Lamondt schien kaum hierauf zu hören. Totenblaß saß er immer noch da.
Es trat ein bleiernes Schweigen ein. Die junge Frau stand da, den Blick
zu Boden gesenkt, die Lippen fest aufeinander gepreßt, wie einer, der
auf den Angriff wartet und den Rückschlag gibt, noch ehe er den Schlag
erhalten hat.

Endlich begann Lamondt:

„Aber muß denn das sein?“

Heftig erwiderte sie: „Frage nicht. Es muß sein. Ich kann nicht
anders. Versuche nicht mich von meinem Entschluß abzubringen. Es wäre
vergebliche Mühe.“ In sanfterem, fast bittenden Tone fuhr sie fort:

„Wollen wir nicht alles im Guten ordnen. Es erleichtert uns beiden das
Ganze so sehr. Du mußt ja selber einsehen, daß jetzt, wo einmal das
entscheidende Wort gesprochen ist, jeder Tag des Zusammenlebens zur
Qual wird.“

Wie in stiller Verzweiflung fuhr sich Lamondt an den Kopf. „Mein Gott,
mein Gott, was soll das nur geben.“ Der kalte Schweiß rann ihm über die
Stirn. Mechanisch wischte er mit der Hand darüber hin.

„Lamondt, denkst Du, meine Qualen sind geringer wie Deine? Was
geschieht, geschieht für mich so unabänderlich wie für Dich. Auch ich
muß mich fügen und im ruhigen Hinschauen auf die Unabänderlichkeit des
Schicksals Trost suchen.“ Dann plötzlich abbrechend begann sie:

„Du fährst jetzt in die Stadt?“

Lamondt nickte stumm.

„So fahre ich mit Dir. Ich will sofort zum Rechtsanwalt und dort das
Nötige einleiten.“

Lamondt war wie im Traum. Schweigend saßen sie nebeneinander im Wagen.
Vor dem Hause des Rechtsanwalt Kraye setzte er seine Frau ab und begab
sich ins Kontor.

Nach einigen Stunden kam ein Bote, der ihn zu eben diesem Rechtsanwalt
hinbat. Willenlos folgte er. Es wurden einige Schriftstücke aufgesetzt,
die beide unterschreiben mußten, und der Rechtsanwalt stellte in
Aussicht, daß schon in wenigen Tagen die Angelegenheit soweit erledigt
sein könnte, daß Frau Lamondts Anwesenheit nicht mehr erforderlich
sein würde. „Die Einstimmigkeit auf beiden Seiten, besonders auch
hinsichtlich des Kindes erleichtert alles sehr“ schloß er seinen
Vortrag.

Tatsächlich wickelte sich alles so glatt ab, daß Frau Lamondt schon für
den nächsten nach Europa abgehenden Dampfer einen Platz belegen konnte.

Endlich war der Tag der Abreise da, der diesem qualvollen Leben zu
Hause ein Ende machte. Frau Lamondt hatte ihren Mann gebeten, dem
Kinde, das jetzt etwa sieben Jahr alt war, nichts von der Wahrheit
zu sagen, um nicht die Trennung zu erschweren. Der Gutmütige hatte
auch hierin eingewilligt. Es war der Kleinen gesagt worden, daß sie
verreisten, um die Großmama in Holland zu besuchen. Die Freude darüber
war groß, und Lamondt mußte blutenden Herzens manche neugierige Frage
beantworten.

Auf dem Schiffe standen die drei im äußersten Winkel, um nicht den
Blicken etwaiger Bekannter ausgesetzt zu sein. Beide Eltern waren
stumm, außer wenn sie auf die Fragen des Kindes antworten mußten.

Plötzlich begann die Kleine: „Papa, hörst Du, vergiß mir ja nicht
Papchen.“ Sie meinte den grauen Papagei. „Das Futter gibt ihm die alte
Sarah. Aber den Zucker, weißt Du, den mußt Du ihm geben und dabei mußt
Du ihm immer das Wort „Dora“ vorsprechen; aber so wie ich, Papa. Hör’
mal!“ Dabei stellte sie sich wichtig vor Lamondt auf und rief mit
Kinderstimme zweimal „Dora!“ „Siehst Du so. Es ist ganz leicht. Mach’
es auch mal, Papa, damit ich sehe, daß Du es recht machst. Schnell
doch, Papa!“

Da brach dem gequälten Manne das Herz. Heftig schloß er sein Kind in
die Arme und brach in haltloses Schluchzen aus. Dabei streichelte und
küßte er das zarte Gesichtchen unaufhörlich, so daß das Kind ganz
verdutzt zum Vater hoch sah.

„Mein süßer Liebling, mein wonniges Kind“ begann er endlich. „O Gott
und Vater! Muß denn das alles gelitten werden!“

Das Kind wurde unruhig. „Papa, wein’ doch nicht so,“ sagte sie
liebkosend. „Ich schreibe Dir alle Tage einen Brief.“ Als der Vater
aber immer weiter weinte, wandte sie das Köpfchen zur Mutter hin:
„Mama, weshalb weint Papa denn so?“

Frau Lamondt aber stand, die Hand fest auf das Geländer gelegt, die
Zähne in die Unterlippe grabend und erwiderte kein Wort. In diesem
Moment zum ersten Mal tauchte der furchtbare Gedanke in ihr auf: „Gehe
ich auch den rechten Weg? Weh’ mir, wenn ich falsch gehe.“

Als das Kind auch von der Mutter keine Antwort bekam, begann es leise
zu weinen. Einmal noch preßte Lamondt sein Kleinod an sich, als ob er
ihr den Atem auspressen wollte, dann drehte er sich schnell um und ohne
sein Weib zu berühren, ja ohne sie nur zu sehen, verließ er das Schiff
und verschwand in der Menge der Zuschauer am Quai. Nicht einen Blick
mehr warf er zum Schiff zurück.

       *       *       *       *       *

Je näher Frau Lamondt Hollands Küsten kam, um so schwerer wurde
ihr Herz. Sie wußte, daß sie daheim, ihrer Mutter gegenüber, einen
schweren Stand haben würde; denn sie kannte nur zu gut die Hochachtung
und Liebe, die letztere für Lamondt hegte. In Neapel hatte sie einen
während der Überfahrt geschriebenen ausführlichen Brief zur Post
gegeben, der mehrere Tage vor ihr zu Hause ankommen mußte und der
ihren Standpunkt in möglichst schlichter Weise klar legte.

Auf dem Bahnhof in Utrecht wurde sie von niemand erwartet. Zu Hause
angelangt empfing ihre Mutter sie mit den Worten:

„O Du unglückliches Kind! Was hast Du getan?“

„Mutter,“ erwiderte Helene, „ist es denn solch ein großes Verbrechen,
wenn ein Mensch dem Höheren in sich folgt?“

„Das höchste für eine Mutter liegt innerhalb ihrer Familie“ antwortete
die alte Dame streng.

Helene hatte sich unterwegs wohl hundertmal auf’s bestimmteste
vorgenommen, allen Äußerungen ihrer Mutter die höchste Sanftmut und
Geduld entgegen zu setzen, aber gleich diese erste Probe mißlang. Ihr
Charakter war zu ungebändigt. Sie erwiderte trotzig:

„Das weiß ich nicht, Mutter.“

„So wirst Du es wohl noch lernen müssen, mein Kind.“

„Mutter, wenn da etwas ist, was ich noch lernen muß, so bin ich bereit
dazu.“

Trotzig wie immer, dachte die Mutter und wandte sich liebkosend der
Kleinen zu, die sofort ein eifriges Gespräch begann.

Beide Frauen waren sich im Charakter gleich. Das Beharren auf einer
vorgefaßten Meinung, das sich Hineinbohren in seine eigene Meinung
war der Mutter wie der Tochter eigentümlich. Frau van Hoeven sah mit
Empörung auf die Tat ihrer Tochter, und die letztere hatte nicht die
Fähigkeit, durch Nachgeben und Sanftmut ihre Mutter milder zu stimmen
und schließlich auf ihre Seite zu ziehen. So begann ein trauriges
Nebeneinanderleben, eine Fortsetzung der letzten Zeit in Batavia. Auch
jede Ablenkung in Form äußerer Geselligkeit fehlte. Alle Bekannte und
Verwandte in Utrecht ergriffen Lamondts Partei, der ihnen als Ehrenmann
und als Muster eines Ehemanns bekannt war. So mied man es, mit der
jungen Frau zusammen zu treffen, und wenn es doch geschah, so ging
es nie ohne absichtliche oder unabsichtliche Stiche ab. Ja, es kam
schließlich so weit, daß es Helenen unangenehm wurde, bei Tage in die
Stadt zu gehen. Sie zog es vor, abends zu promenieren. Mit Recht konnte
sie bald von sich sagen: „Ich bin hier die Verfehmte.“

Natürlich suchte sie immer wieder Trost in ihren Idealen. Aber es war,
als ob die Gedanken, in denen sie in Java ganz naturgemäß wie in ihrem
Element gelebt hatte, plötzlich vertauscht wären. Ihr war, als ob sie
aus reeller Münze plötzlich zu wertlosen Schaugroschen geworden wären.
Alle diese schönen Begriffe, die sie damals entzückt und ihr Denken
genährt hatten, waren jetzt leere Namen geworden ohne Saft und Kraft.
Nur eine Art von Pietät hielt sie zurück, diese Schemen für immer bei
Seite zu werfen.

Jene Frage, die sich ihr beim Abschied so grell aufgedrängt hatte:
Gehe ich den richtigen Weg? -- kehrte immer häufiger wieder, immer
drohender, beschäftigte sie tags und quälte sie nachts. Sie geriet
schließlich in einen Zustand äußerer und innerer Verlassenheit, so
daß sie sich niemanden auf der Welt unglücklicher denken konnte als
sich selber. Ihr war als ob sie ständig unter einer schwarzen Wolke
wandelte, das Sonnenlicht vor und hinter sich, aber sie selber von
jedem erhellenden und wärmenden Strahl ausgeschlossen.

Dazu kam eine andere Sache, die ihre Traurigkeit vermehrte. Sie hatte
während dieser ganzen Jahre in regelmäßigen Zwischenräumen Savades
Briefe erhalten. In Java waren dieselben ihre höchste Freude gewesen,
hier wären sie ihr höchster Trost gewesen. Aber dieselben blieben aus.
Gleich nach ihrem Eintreffen in der Heimat hatte sie ihm (er war in
einem Städtchen an der Küste stationiert) folgenden Brief geschrieben:

„Ich halte mich für verpflichtet, allen meinen Freunden das
mitzuteilen, was ich eben im Begriff bin Ihnen mitzuteilen, weil ich
Sie auch unter meine Freunde rechne. Ich habe mich von Herrn Lamondt
trennen lassen und wohne wieder im Hause meiner Mutter“.

In ihren Briefen an Savade hatte sie nie auch nur eine Andeutung von
ihrem Vorhaben fallen lassen. Und so wäre es nicht unwahrscheinlich,
daß es sich bei ihrem Entschluß um etwas Plötzliches gehandelt habe, um
eine jener uns Menschen so gefährlichen Klarheiten und Fernsichten, die
meist für den Verstand nichts anderes sind als die Fata Morgana für das
Auge.

Es war wohl ein Jahr her, daß sie diesen Brief geschrieben hatte. Eine
Antwort war bis jetzt nicht erfolgt. Sie dachte bitter: „Wer nicht hat,
dem wird auch genommen das was er hat.“ Sie bedachte nicht, daß sie ja
ihr Kind behalten habe.

Eines Mittags wurde ihr auf ihr Zimmer, wo sie sich meist allein oder
zusammen mit der Kleinen aufhielt, eine Visitenkarte überbracht. Sie
laß: Louis Savade.

Nie hat Frau Lamondt später diesen merkwürdigen Augenblick vergessen.
Ihr war, als ob plötzlich der Schleier, der uns umgibt, zerrisse und
sie durch den Riß in die Zukunft blicke. Der Gedanke, auf den ihr
geistiges Auge hier traf, jagte ihr erst das Blut ins Gesicht und trieb
es dann jäh zum Herzen zurück, so daß sie vor zitternder Schwäche sich
auf einen Stuhl niederlassen mußte. Noch einige Mal wechselten schnell
jähe Röte und tiefe Blässe. Endlich war die Blutwelle so weit beruhigt,
daß sie es wagen konnte, in den Salon hinunter zu gehen.

Beim Verlassen ihres Zimmers trat sie unwillkürlich vor den Spiegel.
Aber mit schnellem Ruck wandte sie sich um, ohne hineingesehen zu haben.

Savade trat ihr, wie auch damals in Java, mit jener vorsichtigen
Höflichkeit entgegen, die er jedem zeigte. Sie mußte sich zwingen, ihn
wenigstens für einen Augenblick frei anzusehen, aber sofort senkte sich
ihr Blick wieder, und nach der ersten Begrüßung entstand eine Pause.
Es war der jungen Frau unmöglich, jetzt solche banalen Fragen zu tun
wie: „Aber wie kommen Sie denn hierher?“ oder: „Sind Sie in Geschäften
hier?“ usw. Oben hatte sie mit blitzähnlicher Klarheit den Zweck seines
Kommens erkannt. Als er ihr jetzt aber mit dieser formellen Höflichkeit
entgegen trat, da war ihr, als ob alles verloren sei und ihr Leben für
ewig in um so tiefere Nacht und Dunkel tauche.

Endlich begann Savade, um dem Schweigen ein Ende zu machen:

„Was ist alles geschehen, seit wir uns nicht gesehen haben.“

„O Gott, ja“, erwiderte sie traurig.

Er sah sie prüfend an. Auch jemand, der weniger Menschenkenner war als
er, mußte die Last von Leiden sehen, die auf diesem blassen Gesicht
lagerte. Da ihre Augen durch die Lider verdeckt wurden, so war ihr
Gesicht ganz stilles Dulden.

Ihm wurde das Herz warm. Er begann wieder:

„Sie taten mir die Ehre an, mich Ihren Freund zu nennen. Ich fuße
hierauf, um eine Frage zu tun, die zu unterdrücken mir unmöglich ist.
Weshalb ist das alles geschehen?“

„Weil es geschehen mußte.“ Sie ließ den Blick gesenkt.

„Und weshalb mußte das geschehen?“

„Weil ich wahr sein wollte, den richtigen Weg gehen wollte,
+meinen+ Weg.“

Sie sah entschlossen zu ihm hoch.

Nachdenklich erwiderte er:

„Sie gehen jetzt diesen Weg. Glauben Sie immer noch, daß es der
richtige ist?“

Fast argwöhnisch sah sie ihn an: „Sind Sie auch gekommen, um mich zu
quälen wie die anderen?“

Er wollte sie unterbrechen. Sie kam ihm zuvor.

„Ach, verzeihen Sie mir Armen, Überreizten! Ich weiß ja, daß Sie der
einzige sind, der Verständnis für mein Tun hat. O, sicher, Sie werden
nicht nach der Schablone urteilen. Sie werden die nicht ungehört
verdammen, die der Ansicht ist, daß die Frau nicht die Verpflichtung
habe, in der Ehe nicht allein ihren Körper, sondern auch ihren Geist,
ihre Seele, ihr Höchstes hinzuopfern. Die Ehe mag ein geheiligtes
Institut sein, aber das Göttliche in uns ist heiliger. Es ist eine
Sünde wider den heiligen Geist, es durch die Ehe zertreten zu lassen.“

Sie sah ihn an, als ob sie eine Antwort erwarte. Da er aber sinnend vor
sich hinblickte, so fuhr sie fort:

„So will ich Ihnen denn auf Ihre Frage wahrheitsgemäß antworten: Ich
kann nicht leugnen, daß ich zur Zeit in einer Periode geistigen Elends
mich befinde. Alles was ich die Jahre vorher klar und bestimmt sah, das
ist jetzt dunkel, konfuse, zweideutig geworden. Aber ich weiß auch so
bestimmt als ich hier vor Ihnen stehe, daß alle diese dunklen Wolken
sich zerstreuen werden, so bald die innere Ruhe, die Ruhe des Denkens
wieder in mich zurückgekehrt sein wird. Klar wie der Tag sehe ich die
Zeit vor mir, in der meine Ideale wieder in ihrem alten Glanz leuchten
und wärmen werden.“

„So sind Sie entschlossen, diesen Ihren Weg weiter fort zu gehen?“

Es lag über seinem Sprechen wie ein Schleier, der einen bestimmten
Affekt nicht durchblicken ließ.

Ohne Überlegung erwiderte sie: „Ja, ich will es.“

Ihre Augen leuchteten. Ihr Atem ging schnell. Kerzengrade stand sie vor
ihm, so daß sie größer aussah, als sie in Wirklichkeit war.

Voll unverhohlener Bewunderung blickte er sie an. „Wie bewundere ich
Sie! Sie sind Männern ein Vorbild.“

Es war, als ob er noch etwas sagen wollte, aber der Faden schien
abgerissen. Einen Moment schwiegen beide. In der Leere dieses
Schweigens saugten sich beider Herzen aneinander. Aber das vermittelnde
Wort versagte, der seelische Kontakt zerfiel.

„Ich bin nur für wenige Stunden in Utrecht. Es wird Zeit, daß ich mich
empfehle.“

Er erhob sich, um Abschied zu nehmen. Die junge Frau überkam es in
diesem Augenblick wie eine unbeschreibliche Angst. Ihr war es, als ob
sie etwas für ewig und unwiderbringlich verlöre, wenn sie ihn jetzt so
gehen ließe. Sie wußte kaum, was sie tat. Fast flehend trat sie vor
ihn:

„O, bleiben Sie doch noch, nur ein paar Minuten! Diese Zeit, in der
ich jetzt mit ihnen geredet habe, ist die einzige frohe Viertelstunde,
die ich genoß, seit ich die Schwelle dieses Hauses überschritten habe.
O, wenn Sie wüßten, was das heißt, als eine Verfehmte leben. Wenn Sie
wüßten, was das heißt, wenn man das Tageslicht meiden muß, weil man in
aller Augen immer nur die Anklage liest. Aber das ist die Brutalität
unserer Nächsten. Über ein schwaches Weib fällt alles erbarmungslos
her. Sie ist ja dazu geboren, in der Deichsel zusammen zu brechen, und
wehe ihr, wenn sie eigenmächtig an ihrem Schicksal modelt. Wenn der
Mann, höheren Idealen folgend, sein Weib verläßt, so wird er bewundert
und womöglich der Löwe der Gesellschaft. Ein armseliges Weib, das
nichts will, als in Ruhe leben, wird nach Indianer-Manier langsam zu
Tode gequält. O, mein Gott, mein Gott! Was habe ich in dieser Zeit
gelitten!“ Ihre Lippen zuckten, und sie schlug die Hände vor’s Gesicht,
um die Tränen zu verbergen, die langsam ihre Augen füllten.

Savade stand wortlos. Er fühlte unendliches Mitleid und unendliche
Liebe. Ihm war, als ob dieses Menschenwesen vor ihm geschaffen sei,
ihm, gerade ihm die Noblesse ihrer Gedanken, die Eigenart ihres
Empfindens zu enthüllen. Ihm war, als ob er, nur er allein der Strahl
sei, dem diese Blume sich öffnen könne.

Er näherte sein Gesicht dicht dem ihrigen. „O, weinen Sie nicht,“ bat
er leise und zärtlich. „O bitte, weinen Sie nicht. Es zerreißt das
Herz, jemanden leiden zu sehen, den man so liebt, wie ich Sie liebe. Es
würde mir Seligkeit sein, Sie zu schützen, Sie mit aller der Sorgfalt
zu umgeben, die Ihre Natur erfordert. Haben Sie genug Vertrauen zu
mir, um sich meiner Führung für Ihr künftiges Leben anzuvertrauen? --
Geliebte!“

Er versuchte sanft, ihre Hände vom Gesicht herabzuziehen. Da lag sie
an seiner Brust, leise weinend wie ein geängstigtes Kind am Halse der
Mutter. Er streichelte ihr das Haar und flüsterte zärtliche Koseworte.
Was war nur aus der eigenwilligen Frau Lamondt geworden.

Plötzlich bog sie sich zurück und sah ihn an. „Denkst Du auch an
Lamondt?“

„Ja, ich denke an ihn, Helene. Unsere Ehe baut sich auf den Trümmern
seines Glückes auf. So wollen wir jetzt den heiligen Schwur tun, unsere
Ehe und unser Leben so zu führen, daß wir in Zeiten der Trübsal und in
Zeiten der Freude ruhigen Gewissens an Lamondt und sein vom Schicksal
zerstörtes Glück denken können.“

Stolz, selig blickte sie zu ihm hoch. „O, wie viel Glück doch in einem
Augenblicke leben kann,“ sagte sie leise.

„Und wie viel Unglück. Wir, Helene, dürfen selbst an einem Tage wie dem
heutigen das nicht vergessen.“

Sie nickte.

„Aber jetzt meine Mutter.“ Hastig schritt sie zur Klingel, dem auf das
Geläute hin erscheinenden Mädchen trug sie auf, Frau van Hoeven in den
Salon zu bitten.

Schon nach wenigen Minuten erschien die alte Dame.

Helene warf sich stürmisch an ihre Brust.

„Aber Helene, was ist denn?“ fragte die Mutter. Sie war keine Freundin
übertriebener Gefühlsäußerungen. In ihr war noch das javanische Blut
lebendig, und die erste Vorschrift javanischer Etikette ist strenge
Förmlichkeit.

„O Mutter, von heut ab beginnt mein wahres Lebensglück. Wir bitten um
Deinen Segen.“

Die Alte stand ratlos. Da trat Savade vor und begann:

„Gnädige Frau, ich habe um die Hand Ihrer Tochter angehalten und soeben
das Ja-Wort bekommen. Helene und ich bitten um Ihren Segen.“

„Mein Herr,“ begann Frau van Hoeven, „ich bin zu überrascht, um etwas
Schickliches vorbringen zu können. Die bisherige Handlungsweise meiner
Tochter kann ich nicht billigen; die augenblickliche verstehe ich noch
nicht recht. Aber ich weiß, daß sie das Beste will und ich sehe, daß
Sie ein Ehrenmann sind. So gebe ich denn Euch beiden so viel Segen, wie
eine Mutter nur geben kann.“

Sie küßte Helene zärtlich. Savade trat hinzu und küßte ehrfurchtsvoll
ihre Hand.

In diesem Moment trat die kleine Dora ein. Scheu blieb sie an der Tür
stehen.

„Komm, Dora, komm mein Kind,“ rief ihr die Mutter zu. „Ich will Dir
etwas erzählen.“ Sie küßte die Kleine heftig und führte sie zu Savade.
„Dieses ist Herr Savade. Gib ihm einen Kuß, mein Kind.“

„Weshalb denn, Mama?“

„Weil ich Dich darum bitte, mein Kind.“

Die Kleine zögerte immer noch. Da beugte sich die Mutter tief über sie,
daß ihr das Blut in die Wangen stieg, und flüsterte ihr etwas in’s Ohr.
Trotzig wandte sich das Kind ab. „Ich habe meinen Papa. Ich will keinen
anderen Papa.“

„Aber Dora!“ rief Frau Lamondt etwas heftig.

„Laß das Kind, Helene,“ fiel Savade ein. „Wir werden später gute
Freunde werden.“

Am Abend reiste er ab. In schmerzhafter Seligkeit hing Helene an seinem
Hals.

„Wie dunkel wird es jetzt wieder werden.“

„Aber Helene, mein braver Philosoph.“

„Du hast Recht. Wir haben Licht in uns. Überdies leuchtet ja jetzt ein
Licht vor mir heller wie die Sonne.“

Er drückte sie zärtlich an sich. Helene fühlte eine Seligkeit, von
deren Existenz sie bisher nichts geahnt hatte.

       *       *       *       *       *

Schon nach wenigen Tagen schrieb Savade folgenden Brief an Lamondt:

    „Mein guter Lamondt, liebster Freund!

Es hat sich etwas ereignet, von dem ich wohl möchte, daß Du es von
niemand anderem eher hörst als von mir. Nachdem ich so angefangen
habe, ist es mir unmöglich, weitere Vorreden und Umschweife zu machen.
Ich muß es Dir direkt sagen: Am ~X~ten dieses Monats habe ich mich
mit Helene verlobt, und wenn Du diese Zeilen erhältst, so sind wir
vielleicht schon Mann und Weib.

Wir sind übereingekommen, jene geistigen Ziele, die doch das Höchste
sind, dem der Mensch hienieden leben kann, gemeinschaftlich zu
verfolgen.

Ein Gedanke ist mir fürchterlich. Mir ist, als ob ich unsere
Freundschaft beschmutze, wenn ich darüber rede. Mir ist aber auch,
als ob ich unsere Freundschaft beschmutze, wenn ich darüber schweige.
Lamondt, Du glaubst doch nicht, daß die Scheidung Deiner Frau von Dir
etwas mit diesem Ereignis zu tun hat! O Gott, ich drücke mich so plump
aus, aber wie soll ich anders reden, um deutlich zu sein.

Ich hatte das ganze Jahr nichts von Helene gehört. Unsere Verlobung kam
ganz überraschend. Das heißt, ich will ganz ehrlich sein. Schon lange
war ich von den widerstreitendsten Empfindungen gepeinigt worden. Ich
fuhr nach Utrecht, ich wußte selber nicht, warum. Es hätte wohl sein
können, daß ich statt des Ja-Wortes mit einem neuen Schlips oder einem
Satz Hemdknöpfe nach Hause zurückgekehrt wäre. So völlig unentschlossen
war ich.

Aber fällt mir eben ein, hier mußt Du fragen: ‚Mein lieber Savade,
weshalb bist Du denn überhaupt auf den Gedanken gekommen, nach Utrecht
zu reisen? Schlipse und Hemdenknöpfe konntest Du auch in Deinem
Krähwinkel kaufen.‘ -- Weil ich in widerstreitenden Empfindungen lebte.
-- ‚Und weshalb lebtest Du in widerstreitenden Empfindungen?‘ Usw.
rückwärts. -- Lamondt, so wahr ich dereinst hoffe, ein ruhiges Sterben
zu haben, diesen Gedanken verfolge ich mit solcher Gründlichkeit heute
zum ersten Mal. Und jetzt erst, in diesem Augenblick erkenne ich, daß
der Grund meiner Liebe zu Helenen vielleicht schon an jenem Tage gelegt
ist, an dem ich Euch in Batavia besuchte. Ich sage ‚vielleicht‘; denn
ich kann es Dir mit heiligstem Eide beschwören: Ich weiß es selber
nicht. Ich weiß nur, daß ich furchtbar erschrocken war, als ich von
Helene die Nachricht ihrer Scheidung von Dir erhielt.

Aber man muß gerecht sein, auch gegen sich selbst und nicht nur
Gefühle, sondern auch Tatsachen erzählen. So kann ich Dir sagen, daß in
dem Briefwechsel jener Jahre nicht ein Wort, nicht eine Wendung sich
befindet, die nicht vor der strengsten Kritik standhalten würde. Aber
geht mir selber auch jene Gedanken-Unschuld ab, so kann ich, Gott sei
Dank, für Helene garantieren. Noch als ich sie sprach, war sie fest
entschlossen, ihren Weg allein zu wandern. Die Entscheidung kam, als
ich schon sozusagen die Tür in der Hand hatte. Es war der reine Zufall,
Lamondt, für mich ein unerhörter Glückszufall.

Das wollte ich Dir mitteilen. Lieber, guter, treuer Lamondt, was ist
das Leben doch für ein elendes Ding. Nicht einmal drei Leute, die alle
drei das Beste wollen, können in reinem Glück zusammen leben. Was mich
am meisten schmerzt, ist, daß ich Dich nicht einmal trösten kann. Aber
glaube mir, Lamondt, auch in der Hochflut meiner Seligkeit vergesse ich
nicht, daß das Glück rollt.

    Dein treuer Savade.“

Nach etwa neun Wochen empfing Savade hierauf eine Antwort, die an ihrem
Ort Platz finden wird.

Helenes und Savades Verlobungszeit war nur kurz. Schon etwa vier Wochen
nach der Verlobung fand die Hochzeit statt. Alles ward aufs einfachste
und in der Stille hergerichtet.

Die Trauung war auf die Mittagszeit festgesetzt.

Es waren nur noch wenige Stunden bis dahin. Plötzlich sagte Helene zu
Savade, mit dem zusammen sie eben etwas anordnete:

„Ich habe Dora so lange nicht gesehen. Wo mag sie nur stecken?“

Die eben eintretende Mutter hatte gleichfalls nichts gesehen. Schnell
sprang Helene hinauf in das Schlafzimmer. Das Kind war auch dort nicht.
Hut und Mäntelchen fehlten. Erst wurde das ganze Haus und der Garten
durchsucht. Dann ging es auf die Straße. Von dem Kinde nirgends eine
Spur.

Alles war sprachlos vor Schreck. Die Kleine hatte noch nie allein das
Haus verlassen. Savade allein behielt so viel Besinnung, daß er die
Anordnungen treffen konnte, wie sie in solchem Fall zu treffen nötig
sind.

Wie ein gehetztes Wild jagte Helene in den Straßen hin und her. Nach
etwa einer Stunde kam sie matt zum Umsinken nach Hause. Vom Kinde
nichts gefunden. Der Prediger wartete bereits. Dem Wahnsinn nahe
stürmte sie wieder hinaus. In einer Straße kreuzte sie das Bahngeleise.
Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke. Sie nahm einen Wagen und fuhr
zum Bahnhof. Sie brauchte nicht lange zu suchen. Außen am Gebäude, in
einer Ecke stand ihr Kind, weinend vor Angst; denn einige Straßenjungen
standen vor ihr und versuchten Späße mit ihr zu treiben.

Sobald sie ihre Mutter erblickte, lief sie jubelnd auf dieselbe zu. „O
Mama! Da ist meine Mama!“

Helene erwiderte keinen Ton. Fest ergriff sie die Hand des Kindes und
stieg mit ihr in den Wagen. Auch hier sprach sie kein Wort, sondern
starrte nur gerade vor sich hin. Das Kind kauerte ängstlich in einer
Ecke.

Zu Hause angelangt, begab sie sich mit der Kleinen in ihr Schlafzimmer.

Erst nachdem sie ihr und sich selber die Sachen abgenommen hatte,
begann sie in möglichst ruhigem und sanftem Ton:

„Mein Kind, was wolltest Du da am Bahnhof?“

Einen Augenblick zögerte die Kleine, dann sagte sie trotzig:

„Ich wollte zu Papa fahren.“

„Dora, hast Du mich denn gar nicht mehr lieb? Weißt Du denn nicht, wie
lieb Dich Deine Mutter hat? Willst Du Deine Mutter töten vor Kummer?“

Das Kind begann zu weinen. „Du hast auch gesagt, daß wir Großmama
besuchen und dann zu Papa zurückfahren. Das ist aber nicht wahr.“

Ein andermal wäre Helene von diesem Vorwurf des Kindes vielleicht
getroffen worden. Heute genügte dieser Tropfen, um den Becher zum
Überlaufen zu bringen. Heftig schlug sie das Kind auf den Mund.

„So bestraft man Kinder, die einen ungezogenen Mund haben.“

Die Kleine stand wie erstarrt. Es war der erste Schlag, den sie in
ihrem Leben erhalten hatte. Sie wollte schreien, aber die Stimme blieb
ihr in der Kehle stecken. Die Augen erweiterten sich unnatürlich. Die
Finger begannen zu zucken, und plötzlich lag sie auf dem Boden in den
schrecklichsten Krämpfen.

Helene kreischte laut auf. Savade, der soeben auch von der Suche
zurückgekehrt war, und Frau van Hoeven stürzten herein. Savade jagte
sofort zum Arzt. Der kam. „Kinderkrämpfe“ meinte er. „Sie wird sich den
Magen überladen haben. Vielleicht zu viel Kuchen?“

Man gab ihm die nötigen Anhaltspunkte. „So, so! So liegt es.“ Sein
Gesicht wurde ernster. Er ließ das Nötige aus der Apotheke holen.
„Ich muß Sie freilich darauf aufmerksam machen, daß jeder derartige
Krampfanfall eine Lebensgefahr an sich ist, ganz abgesehen davon, daß
Gehirnentzündung nachfolgen kann.“

Geisterbleich starrte Helene den Sprecher an. Savade hätte ihn am
liebsten für seine trostreichen Worte geohrfeigt. „Die Hallunken!“
dachte er. „Nur um sich sicher zu stellen und um ihr Verdienst um so
höher zu heben, lassen sie die Angehörigen den Tod ihrer Lieben dreimal
kosten.“

Bald nach Anwendung der Mittel trat Ruhe ein, so daß der Arzt sich
entfernen konnte. Aber wohl eine Stunde noch kniete Helene am Bettchen
des Kindes unbekümmert um die Hochzeit und den wartenden Prediger.

Da endlich trat ruhiger Schlaf ein. Sie ging hinunter, um sich festlich
anzukleiden. Savade raunte ihr zu:

„Ist es nicht besser, bis morgen zu verschieben? Gäste sind ja nicht
da.“

„Nein!“ erwiderte sie rauh. „Das ist mein Hochzeitstag.“

„Unser Hochzeitstag, Helene.“

Sie fiel ihm weinend um den Hals.

Er fuhr fort: „Wie sollen wir rein werden, wenn wir nicht geläutert
werden. Jedes Ding, mag es noch so böse sein, können wir doch immer so
auffangen, daß es zum Vorteil für uns ausschlägt. Auf das Auffangen
kommt es an, Helene, auf das Auffangen. Ich fürchte, Du hast den
Streich nicht mit geradem Denken aufgefangen.“

Sein Ton war fast scherzhaft geworden. Durch Tränen lächelnd sah sie
hoch. Der innere Friede war wieder hergestellt.

       *       *       *       *       *

Unmittelbar nach der Hochzeit begab sich die junge Familie nach ihrem
neuen Wohnort K., jenem Küstenstädtchen, in welchem Savade stationiert
war.

Hier begann nun für Helene eine Zeit jener bewußten Glückseligkeit,
deren Wert nur der bemessen kann, der selber um sie geworben hat. Denn
diese Art der Glückseligkeit muß durch Denken erworben werden.

Das einzige, was einen Schatten auf die Sonne ihres Glückes warf, war
das Verhältnis zu ihrem Töchterchen. Seit jenem Tage war das Kind
ein anderes geworden. Zu ihrem namenlosen Schmerz merkte Helene, daß
sie jenes rückhaltlose Vertrauen ihres Kindes, jenes Vertrauen, ohne
welches vollkommene Liebe nicht denkbar ist, verloren habe. Dieses
Bewußtsein erfüllte sie immer wieder mit brennender Qual. Das verlorene
Terrain mußte wiedergewonnen werden. Sie begann um die Liebe ihres
Kindes zu buhlen. Sie machte dasselbe dadurch freilich nur trotziger
und unzugänglicher. Aber sie ertrug alle Rücksichtslosigkeiten mit
Engelsgeduld. Ihr Mann sagte öfter: „Du wirst das Kind ganz verziehen.“
Aber sie lächelte nur.

Etwa sechs Wochen nach ihrer Hochzeit traf Lamondts Antwort an Savade
ein. Dieselbe lautete:

    „Mein lieber Freund!

Ich will nur gleich vorausschicken, daß die Heirat an unserer
Freundschaft sicherlich nichts ändern soll, soweit es an mir liegt. Du
hast das Recht, Dir Deine Frau nach Belieben zu suchen. Daß Du gerade
die gefaßt hast, die sich von mir hat scheiden lassen, dafür können wir
beide nichts. So viel davon.

Savade, wenn Du mir geschrieben hättest, daß in Holland der Himmel
eingestürzt sei, und die heruntergefallenen Engel liefen in den Straßen
umher und bettelten um Brot, so würde ich nicht so erstaunt gewesen
sein als über die Heirat dieser Frau. Also das waren die hohen Ideale,
die sie von meiner Seite und aus meiner Häuslichkeit trieben. Darum
mußte mein kleines Paradies zertreten werden. Einen anderen Mann wollte
sie haben. Freilich, jetzt verstehe ich, warum es durchaus ohne mich
sein mußte. Mir ist als ob all meine Gutmütigkeit, meine Geduld, meine
Menschenliebe für immer dahin sind. Ich erschrecke vor mir selber und
hasse die Frau, die das in mir zustande gebracht hat. Ich weiß, ich
speie Gift auf Dich, wenn ich Gift auf diese Frau speie. Aber soll ich
ewig als der gutmütige Schwächling dahinschleichen, der sich geehrt
fühlt, wenn andere über seinen Rücken hinschreiten! Nein! Wie ich ist
noch kein Mann beleidigt worden. Savade! wenn einer Liebe geübt hat,
ich war’s. O Gott im Himmel! mein Herzblut hätt’ ich jederzeit für
diese Frau hingegeben und hätte nichts Großes daraus gemacht. Und das
alles wird leichtsinniger, nein ruchloser Weise mit Füßen getreten.
Und ich Narr lasse mich von ihren hochtrabenden Phrasen betören. Aber
es ist ja alles so klar und einfach: Sie ging von mir weg, weil sie
Dich wollte. Sie kam nach Holland, um Jagd auf Dich zu machen. Hier
spannte sie ihr Netz auf und wartete Monat für Monat, bis Du Dich darin
fangen würdest. Du schreibst: ‚Für H. kann ich garantieren. Noch als
ich mit ihr sprach, war sie fest entschlossen, ihren Weg allein zu
gehen.‘ Guter Savade, es kommt mir plötzlich vor, als ob ich der Alte,
Gewiegte bin und Du der verliebte Jüngling. Als Du ins Haus tratest,
war Dein Schicksal schon besiegelt. Glaub’ mir, sie war entschlossen,
Dich nur als Bräutigam wieder hinauszulassen.

Savade, daß diese Frau meine Einfalt beherrschte, das verstehe ich,
aber daß sie meine natürlichen Instinkte, meine Vaterliebe so ganz
betäuben konnte, das verstehe ich heute nicht mehr. Ich verstehe nicht
mehr, wie es möglich war, daß ich mich dazu entschließen konnte, dieser
Frau in rechtskräftiger Form mein Kind für immer zu überlassen. Das
kommt mir heute vor wie das Machwerk schwarzer Zauberei. Ach, wenn Du
die Tränen kenntest, die ich zwischen meinen toten Wänden verweint
habe! Und ich sagte mir immer: Es ist mein Schicksal. Ich soll ein
einsamer Mann sein. -- Aber weshalb denn? Weshalb denn, frag’ ich! Wenn
mein Weib sich einen anderen Mann nimmt, weshalb soll ich denn auch
noch die Zeche bezahlen?

Verzeih mir, daß ich so rede. Ich hätte noch warten müssen, ehe ich
antworte. Aber das konnte ich nicht wegen des Kindes, und zur Zeit ist
es mir unmöglich, anders zu schreiben.

Um also zum Schluß zu kommen: Dein Gerechtigkeitssinn wird Dir auch
sagen, daß das Kind mir gehört; denn nicht ich bin schuld an der Lösung
unserer Ehe. So bitte ich Dich herzlich, dahin zu wirken, daß alles in
Güte abgetan wird. Ich kann auf mein Kind in keinem Fall verzichten,
und ich würde alle Mittel anwenden, es wieder in meinen Besitz zu
bringen, falls es mir verweigert wird.

    In alter Freundschaft
    Dein Lamondt.“

Als Savade diesen Brief fertig gelesen hatte, blieb er lange sinnend
sitzen. Er hatte ein unbehagliches Gefühl. Unwillkürlich ließ er jenen
Tag in Utrecht, an dem er sich mit Helene verlobt hatte, an seinem
Geist vorüberziehen. Mit peinlicher Genauigkeit suchte er sich jedes
einzelne Moment wieder ins Leben zu rufen. Schließlich schüttelte er
energisch den Kopf wie einer, der etwas von sich abschütteln will und
begab sich in das Zimmer seiner Frau.

„Soeben ist ein Brief von Lamondt angekommen“ begann er.

„Was schreibt er denn?“ fragte Helene lebhaft. Sie erwartete als
selbstverständlich, daß ihr Mann ihr den Brief zum Lesen geben würde.
Aber er las ihr nur den Abschnitt vor, der sich auf das Kind bezog.

Helene antwortete, als er fertig war, keinen Ton, sondern sah Savade
nur mit ihren klaren Augen an. Er fühlte, sie wartete auf den Brief.
Er fühlte, was auf dem Spiel stand. Aber der Pfeil, den Lamondt
abgeschossen, war haften geblieben. Sein Herz war nicht rein genug, um
seinem Weibe sagen zu können: „Hier ist der Brief. Ich glaube an Dich.“

Etwas zögernd begann er:

„Wie denkst Du darüber?“

Sie antwortete immer noch nicht.

„Ich denke, daß Lamondt in seiner Einsamkeit einiges Anrecht auf das
Kind hat“ fuhr er unsicher fort.

„Meinst Du? Nun, so sage ich Dir, daß das Kind meine Zukunft ist; daß
an ihm mein Alles hängt. Das Kind bin ich. Das Kind hingeben, ist eben
so gut, als mich selber wieder Lamondt hingeben.“

Sie hatte in völliger Ruhe begonnen. Beim Sprechen wurde sie lebhafter.
„Lamondt hat aus freiem Willen, nach reiflicher Überlegung mir das
Kind zusprechen lassen. Weshalb? -- Weil er einsah, daß ein Kind näher
zur Mutter gehört als zum Vater. Nur Mütter, die sich etwas haben zu
schulden kommen lassen, müssen ihre Kinder fahren lassen. Aber Lamondt
wußte, daß ich makellos gelebt habe und makellos leben werde. Darum
ließ er mir das Kind. Ist er jetzt anderer Ansicht geworden, so muß ich
mich dagegen wehren.“

Es lag etwas wie Erhabenheit über ihr, als sie dieses sprach. Savade
fühlte sich beschämt. Wieder drängte es ihn, den Brief zu geben, aber
er hatte die Kraft nicht.

„So werden wir einen Prozeß haben“, sagte er.

„Nun gut, so werden wir einen Prozeß haben. Es gibt schlimmere Dinge
als einen Prozeß.“

„So werde ich Lamondt in diesem Sinne antworten.“

Einen Augenblick noch standen sie sich stumm gegenüber, dann wandte
sich Savade langsam und ging in sein Arbeitszimmer zurück. Traurig
blickte ihm Helene nach. Jene bewußte Glückseligkeit ihrer Ehe hatte
mit diesem Tag ihr Ende erreicht.

       *       *       *       *       *

Der Prozeß zog sich fast ein Jahr hin. Es war eine böse Zeit für
die beiden. Helene reiste oft nach Utrecht, um ihre Sache mit dem
Rechtsanwalt persönlich zu besprechen. Oft blieb sie tagelang dort, und
Savade hauste allein. Das Ergebnis war schließlich dieses, daß das Kind
Lamondt zugesprochen wurde.

Savade erwartete sein Weib in Verzweiflung zu sehen. Aber nichts von
dem. Sie schien völlig gefaßt. „Ich bin von der Gerechtigkeit meiner
Sache so ganz überzeugt, daß ich weiß, ich muß Recht behalten.“ Sie
war entschlossen, weiter zu prozessieren. Dem Kinde widmete sie sich
nach wie vor mit aller denkbaren Liebe und Sorgfalt. Sie wußte, daß
Lamondt, der telegraphisch von seinem Rechtsanwalt benachrichtigt war,
sofort eine Vertrauensperson abgeschickt hatte, die das Kind abholen
sollte. Die Zeit des Eintreffens derselben war bis auf wenige Tage
herangerückt, da begann Helene eines Abends beim Schlafengehen:

„Möchtest Du wohl Deinen Papa in Java wieder besuchen, mein Liebling?“

Stürmisch warf sich das Kind der Mutter an die Brust. „Wirklich, Mama,
darf ich?“

„Ja, mein Kind. Übermorgen wird jemand kommen, der Dich hinbringt.“

„O nein, Mama, Du mußt mitkommen; ach bitte, bitte, gute Mama!“

Sie begann zu schmeicheln mit jener Herzlichkeit, die Frau Savade so
lange vermißt hatte und deren Duft sie jetzt einsog wie der Durstende
die Luft, aus der er das Wasser in der Ferne wittert.

„Ich kann nicht, mein Kind,“ sagte sie leise.

„Aber warum denn nicht, Mama? Es war doch so schön in Java.“

Sie hängte sich der Mutter schmeichelnd um den Hals. Die sah vor sich
nieder. Wieder kam wie etwas Kaltes, Unheimliches diese Frage: „Gehe
ich den richtigen Weg?“ Ja, sie ertappte sich sogar bei dem Gedanken:
„Wie bequem und ruhig hätte ich mein Leben an Lamondts Seite führen
können.“ Aber mit einem Schlag wurde dieser Gedanke verjagt wie der
Hund, der aus der Kammer des Nachbarn ein Stück Fleisch holen will.

Sie bettete das Kind und erzählte noch lange mit ihm von Java, den
schönen Bäumen, den süßen Früchten, den bunten Vögeln.

„Weißt Du, Mama, ich bin so neugierig, was Papchen macht. Ob Papa ihm
wohl alle Tage ‚Dora‘ vorgesprochen hat?“

„Ich weiß nicht, mein Kind.“

„O, ich glaube sicher, Papa hat es getan. Papa ist ja so gut.“

„Aber jetzt schlaf’ nur, mein Kind. Es ist Zeit.“

Der Tag des Abschieds kam. Helene hatte es sich nicht nehmen lassen,
das Kind bis nach Antwerpen zu begleiten, um es selber auf dem
Schiffe unterbringen zu können. Auf der Fahrt gab sie der alten
Dame, die Lamondt geschickt hatte, noch eine Menge Ratschläge und
Anweisungen bezüglich der Lebensart der Kleinen. Man merkte ihr eine
außergewöhnliche Erregung nicht an.

Jetzt kamen die letzten Stunden. Die Kleine zerfloß in Tränen.
Immer wieder warf sie sich ihrer Mutter um den Hals. Immer wieder
schmeichelte sie: „Komm’ doch mit, Mama!“ Ihr Kinderherz ahnte schon
das Trennungsweh.

Auch Helene weinte still. Aber ihr Gesicht war durch die Tränen
hindurch wie von einer inneren Heiterkeit verklärt. Ihr war wie einer,
die auf dunkler, sturmumtoster Klippe steht und fern in ein Tal voll
Friede und Abendsonne blickt. -- Ihr Kind! Ihr war bei dem Namen, als
ob sie einen großen Glanz vor sich sähe, von dem nach allen Seiten
leuchtende Strahlen ausgingen. Das war doch der Kern ihrer Welt. Hier
lag die Lösung ihres Lebensproblems. Jetzt gab sie ihr Kleinod dahin,
aber einst sollte der Tag kommen, an dem das Kind sich freiwillig
entscheiden würde, bei ihr, der Mutter, zu bleiben.

       *       *       *       *       *

Mit Doras Abreise schien auch Helenens Ruhe dahin zu sein. Sie
war beständig in gereizter oder gedrückter Stimmung. Und das
steigerte sich, je weiter dieser zweite Prozeß vorrückte, der sich
vor der obersten Instanz des Landes abspielte. Jene wunderbare
Seelengemeinschaft, in der sie mit ihrem Manne in den ersten Wochen
ihrer Ehe gelebt hatte, war ganz dahin. Jenes Hochsteigen aus dem Dunst
der Alltäglichkeit, jenes Weilen hoch oben in erhabenen Regionen, jene
unvergleichliche Wonne des gemeinsamen Genießens solcher erhabenen
Augenblicke -- das alles war dahin, sei es, daß Lamondt’s Brief immer
noch wirkte, sei es, daß die Wirken des Prozesses alles geistige Leben
zerstörten.

Hinzu kam, daß bei diesem Prozeß eine Hauptrolle die Frage spielte, ob
Helene durch die Bekanntschaft mit Savade bewogen worden sei, ihre Ehe
mit Lamondt zu lösen. Es war ihr fürchterlich, sich hierüber Fremden
gegenüber äußern zu müssen. Sogar ihr Briefwechsel mit Savade wurde
einer Durchsicht unterzogen. Helene unterwarf sich allem aus Liebe zu
dem Kinde und im Bewußtsein ihrer Unschuld. Aber jene hohen, idealen
Gedanken erschienen ihr dadurch beschmutzt, von den Fingern anderer
Leute begriffen. So vermied sie es jetzt, sich mit ihrem Manne auf
solche Gegenstände einzulassen. Sie war wie jene noblen Tiere, die zu
ihrer Beute nicht mehr zurückkehren, wenn sie merken, daß niederes Wild
daran genagt hat.

Nun ist keine Qual der Welt ganz groß, so lange der Mensch schlafen
kann. Aber dieser höchste Trost eines gequälten Herzens ging Helenen
jetzt auch verloren. Nächte lang wälzte sie sich ruhelos auf ihrem
Lager und entschlummerte sie endlich, so warteten gleich Wegelagerern
schwere Träume auf sie, um sie zu ängstigen.

Eines Nachts träumte sie, daß sie in ihrem Haus in Batavia wäre.
Lamondt, als Blindekuh verkleidet, tappte auf dem Rasen umher. Sie
selber und Savade standen sich umschlungen haltend vor ihm, lachten
über ihn und küßten sich. „Das ist nicht wahr!“ schrie sie laut im
Schlaf, so laut, daß sie selber davon erwachte. Sie hörte noch das
„wahr“, wie von einer fremden Stimme ihr zugeschrien.

Auch ihr Mann erwachte davon.

„Was ist denn, Helene?“ fragte er erschrocken.

„O, ich habe nur geträumt.“

„Mit Deinen Träumen, das ist ja förmlich krankhaft geworden.“ Er hatte
einen anstrengenden Tag gehabt und sich nicht ganz wohl zu Bett gelegt.
Bei dem Schrei seiner Frau war er mit einem Nervenschreck aufgewacht.
Etwas ungeduldig fuhr er fort:

„Ich verstehe nicht, wie Du so wenig geistige Hilfsquellen in Dir
selber findest, daß Du in allen diesen Situationen nicht besser Herr
Deiner selbst bleibst.“

„O, ein wundervoller Trost!“ Ein Weilchen lag sie regungslos, dann
richtete sie sich im Bett auf, daß ihr die Haare ins Gesicht flogen.

„Mein Gott im Himmel, was für ein Leben! Wer erbarmt sich! Ist denn
dieses Leben überhaupt noch einen Tag zu ertragen!“ Sie griff sich mit
der Faust in die Haare und begann leise zu stöhnen. In der Dunkelheit
konnte man sie für eine Schwerkranke halten.

Savade wartete ein Weilchen, dann begann er wieder:

„Helene, mein Ton mag vielleicht nicht der richtige gewesen sein, aber
ich frage Dich noch mal: Was haben Leute wie wir, die ihr Leben mit
Bewußtsein zu leben versuchen, für Trost? Die anderen helfen sich mit
Selbsttäuschungen von Tag zu Tag hin. Was bleibt uns aber anderes, als
die Dinge mit ruhigem Mut anzuschauen und in verständigem Sichfügen
Trost zu finden?“

„O gewiß, gewiß! Das sind schöne Worte, aber sie gelten nur bis zu
einer gewissen Grenze des Unglücks. Wird diese überschritten, so ist
nichts mehr mit Denken einzuhemmen. Ich wenigstens kann es nicht.
Denn es kommt alles darauf an, wie das Leiden aufgefangen wird.“ Sie
benutzte dieselben Worte, mit denen er sie am Hochzeitstage getröstet
hatte. „Wenn Du wüßtest, wie mein Herz jeden leisesten Stich auffängt.
O, ich bin wie -- nun gut! nun gut! Da giebt es freilich andere Leute,
Leute wie diesern Herrn Lamondt. Die essen gut und schlafen gut und
lassen Gott einen guten Mann sein. Außerdem sind sie noch tadellose
Familienväter und vollkommene Ehrenmänner; freilich so lange alles
gut geht. Wenn aber die Zeiten der Trübsal kommen, was tut dieser
wackere Lamondt? -- Er schießt mit vergifteten Pfeilen wie die Wilden
in Sumatra. Er fragt sich nicht: ‚Ist es gerecht, so zu handeln?
Sind meine Anklagen wahr?‘ Nein! Wie ein Barbar vergiftet er ein
Familienglück, weil er es nicht mit genießen kann. Ach, hättest Du
doch den Brief gegeben. Alles ist dahin, zerknickt, zertreten, seit
diesem Brief. Sechs Wochen nur sind wir Mann und Weib gewesen. Ach,
als Du damals aus meinem Zimmer gingst -- mein Herz blutet seit diesem
Tage. Freilich Lamondt ist und bleibt ein Ehrenmann, aber Schmach und
Schande auf sein Weib. O, es ist eine wunderbare Gerechtigkeit in der
Welt.“ Jetzt freilich macht jeder ein ernsthaftes Gesicht: „Bedenken
Sie, daß Sie vor Gott dem Allmächtigen und Allwissenden reden. Hat die
Bekanntschaft mit Herrn Savade nicht doch auf die Scheidung von Herrn
Lamondt einen Einfluß geübt?“ Sie äffte den Richterton nach. „Als ich
aber damals mit Lamondt vor den Altar trat, da sagte niemand zu mir:
‚Bedenke, daß Du vor Gott dem Allmächtigen stehst. Bist Du dir klar
darüber, daß dieser Lamondt der rechte für Dich ist?‘ Und wenn man
mich gefragt hätte, ich hätte sagen müssen: ‚Ich weiß es nicht.‘ Denn
ich war ja ein Kind. Und als ich verständig wurde, und mein Verstand
seine Forderungen stellte, da gab mir Lamondt Steine statt Brot. Um dem
geistigen Hungertode zu entgehen, ging ich davon.“

Sie schwieg erschöpft. Die letzten Sätze hatte sie vor übermäßiger
Erregung fast schreiend hinausgestoßen.

„Helene,“ begann jetzt ihr Mann und griff sacht mit seiner Hand nach
ihrem Bett hinüber, um ihre Hand zu suchen, „hör’ mich jetzt an. Ich
bin schuldig, ich weiß es und bin bereit, meine Schuld gut zu machen.“

Hastig fiel sie ein: „O, laß jetzt nur, laß nur! Jetzt hat nur eines
für mich Wert: Wie ich vor meinem Kinde bestehen werde.“

Verletzt schwieg Savade still. So verdarb sich Helene abermals ihr
Lebensglück.

       *       *       *       *       *

Einige Zeit nach diesem Vorfall besuchte eine berühmte deutsche Kapelle
auf ihrem Wege nach Ostende auch Utrecht und gab hier ein Konzert. Die
beiden waren in Sachen des Prozesses gerade in der Stadt und besuchten
das Konzert. Helene hatte seit ihrer Übersiedelung nach Java fast keine
Musik mehr gehört und vorher nicht sehr viel. Die ersten Nummern des
Programmes ließen sie kalt. Die letzte Nummer des ersten Teiles war
Beethovens ~Es-dur~-Konzert.

Sie erwachte wie aus einem Schlaf bei den gewaltigen Schlägen, mit
denen dieses kolossalste aller Konzerte einsetzt. Weit geöffneten Auges
starrte sie auf Orchester und Solisten. Ihr Staunen wuchs, als jetzt
das Thema einsetzte, ganz Mark, ganz unwiderstehlicher Entschluß. Sie
hatte das Gefühl, als ob hier etwas Übermenschliches an den Pfeilern
der Welt rüttelte, seine ungeheure Kraft bis zum Äußersten anspannte
in diesem vergeblichen Kampf. Sie wurde mitgerissen wie in einem
Wirbelwind. Ihre Augen glänzten. Sie atmete stürmisch. Bei jenen
gewaltsamen, lang anhaltenden Fortes spannte sie unwillkürlich die
Muskeln. Das waren die Höhepunkte dieses Titanenkampfes. Sie atmete
erleichtert auf, wenn sie aus dem Tosen des Unwetters in eine jener
Windstillen geriet, die mit ihrer bezaubernden Lieblichkeit das Herz
des Hörers gefangen nehmen. Sie war fast ermattet, als der erste Satz
beendet war, als dieses gewaltige „Ich will“ in mächtigen, geordneten
Schlußakkorden sich gleichsam freiwillig zur Ruhe begeben hatte.

Und jetzt dieses himmlische Adagio. Als ob die Engel aus der Höhe das
Heilig! Heilig! riefen. Sie schloß die Augen. Sie merkte gar nicht die
Tränen, die langsam über ihre Wangen rollten. Ihr war, als ob sie ihre
Körperlichkeit nicht mehr fühlte. Von einer inneren Seligkeit wurde
sie überwältigt, gleichsam hochgehoben. „Wie kann Musik nur so rein
sein“ dachte sie. „Muß hier nicht jeder Wunsch ersterben. Können solche
göttliche Harmonien nicht nur einem solchen entquellen, der selber
wunschlos ist, der entsagt hat?“ Plötzlich durchzuckte es sie wie ein
Licht. „Ist Entsagen nicht vielleicht das Höchste?“

Jetzt setzte resolut der dritte Satz ein, um sich schnell zu jener
Anmut und Heiterkeit aufzuschwingen, die nicht von dieser Welt sind.
„So mag wohl einer jauchzen,“ dachte Helene, „der allem Wünschen
entsagt hat.“ Wieder war ihr, als ob sie sich gleichsam aus ihrer
Körperlichkeit hochhebe. Sie verharrte in einem Zustand von Verzückung,
bis sie mit den letzten Schlägen des Orchesters schwer aus ihrer
Sonnenhöhe herabstürzte. Armer Ikarus oder glücklicher Ikarus?

Hastig erhob sie sich. „Wir wollen gehen,“ sagte sie zu ihrem Mann.

„Es ist ja erst der erste Teil zu Ende.“

„Ich muß gehen.“

Der hatte die Tränen im Auge seines Weibes gesehen. Er verstand.

Zu Hause angelangt, sagte er plötzlich:

„Fast hätte ich es wieder vergessen. Ich wollte es Dir vor dem
Konzert schon geben. Ich habe heute ein Buch bekommen, das Dich auch
interessieren wird. Es geht freilich nach einer ganz anderen Richtung
als der, die wir bisher verfolgt haben. Aber ich kann mir wohl denken,
daß es imstande ist, manche Leere zu füllen und manch unruhiges Herz
ruhig zu machen. Es lehrt die Seligkeit im Entsagen finden.“

Helene hatte anfangs gleichgültig zugehört. Bei dem Wort „Entsagen“
merkte sie auf. Nie in ihrem Leben hatte dieses Wort, dieser Gedanke
als etwas sie Betreffendes ihren Weg gekreuzt und heute stellte er
sich ihr zweimal entgegen. Wie eigentümlich! Neugierig blickte sie auf
das Büchelchen, das ihr Mann ihr hinhielt. „Der Buddhismus“ las sie. Es
kam ihr vor wie eine geheimnisvolle Botschaft von einer ihr unbekannten
Seite her. „Hier heißt es umdenken,“ fuhr Savade fort. „Von all den
Idealen, in denen wir bisher gelebt haben, bleibt hier auch nicht ein
Stein auf dem andern. Alles stürzt hier. Aber es ist mein Weg nicht.“
Damit gab er seiner Frau das Buch in die Hand. Sie nahm es an sich,
fest entschlossen, es durchzuarbeiten, sobald die geeignete Zeit sich
dazu böte.

       *       *       *       *       *

Der Prozeß hatte jetzt schon weit ins zweite Jahr hinein gedauert.
Endlich erfolgte das Urteil. Der oberste Gerichtshof stieß die in
erster Instanz erzielte Entscheidung um, und Helene kam endgültig in
den Besitz ihres Töchterchens. In der Nacht nach diesem Tage hatte sie
zum ersten Mal seit vielen Monaten einen sanften Schlaf.

Savade hatte jetzt aufs neue Gelegenheit, sich über sein Weib zu
wundern. Sie selber wollte nach Java gehen und ihr Kind holen. Aber
sie schien sich gar nicht übereilen zu wollen. Sie müsse erst ihre
Reisevorbereitungen treffen, meinte sie. So gingen volle zwei Monate
darüber hin, ehe sie sich in Antwerpen einschiffte. Vor ihrer Abreise
teilte sie ihrem Mann ihren Entschluß mit, das Kind nicht mit Gewalt
von Lamondt fortzureißen, sondern ihr den freien Willen zu lassen,
ob sie mit ihrer Mutter gehen wolle oder nicht. „Wie brav, Helene,
wie brav!“ rief Savade und umarmte sie mit jugendlicher Zärtlichkeit.
„Will’s Gott, Helene, so haben wir ein frohes Wiedersehen und alles
wird gut.“

„Ja, will’s Gott!“

Unbegreiflicherweise hatte sich ihrer die feste Idee bemächtigt, ihr
Kind würde, reifer geworden, freiwillig die Seite der Mutter wählen.

Die Fahrt um die spanische Küste und im Mittelmeer war stürmisch. Sie
hatte viel unter Seekrankheit zu leiden. Es war im Januar, als sie
diese Reise antrat. Mit dem Eintritt ins Rote Meer aber begann eine
köstliche Zeit. Die Milde der Luft, die Pracht der Sonnenauf- und
-untergänge entzückten immer wieder aufs neue. Sie befand sich damals
in einem Zustand innerer Ruhe, über den sie sich selber wunderte.
Oft fragte sie sich: „Wie ist es nur möglich, daß ich alle diese
Schönheiten genießen kann?“

In der Äquinoktial-Zone saß sie meist die halben Nächte allein auf
dem Vorderteil des Schiffes, ließ sich von diesem lauen, starken Wind
durchwehen und sah still auf die Wunder unter sich und über sich, das
immer wechselnde Meeresleuchten und die stille Pracht des gestirnten
Himmels. Völlig majestätisch waren diese Nächte, wenn jene mächtigen,
am Horizont lagernden Gewitterballen sich schweigend ihre Grüße herüber
und hinüber sandten.

Was Helene damals gedacht hat, wußte sie wohl selber nicht.
Wahrscheinlich genoß sie nur die Seligkeit der Ruhe.

Um diese Zeit war es auch, daß ihr jenes Buch wieder einfiel, das ihr
Mann ihr an jenem Abend nach der Musik gegeben hatte. Sie fing jetzt
an, darin zu studieren und zwar in jener glücklichen Gemütsverfassung,
die es ihr ermöglichte, den neuen Gedankenreihen vorurteilslos zu
folgen.

So begann sie denn, sich in jene erhabene Lehre vom Leiden der Welt
zu versenken. Ihr war, als ob bei jenem ehernen Satz „Alles Leben ist
Leiden“ eine Saite in der tiefsten Tiefe ihres Herzens mitschwinge.
Ihr Verstand erlaubte es ihr wohl, jener tiefen Lehre vom „Werden“ zu
folgen, die alles, auch die eigene Körperlichkeit zu einem Wechselnden,
ewig Entstehenden, ewig Vergehenden macht, zu einem Ding gleich der
flackernden Flamme. Ja sie war imstande, ohne Empörung jene vom
Buddha gelehrte Radikal-Kur zu prüfen und über das Ungeheuerliche
derselben nachzudenken. „Alles aufgeben, allem entsagen ist freilich
fürchterlich“ dachte sie. „Der Satz ‚Wer nichts Liebes hat, der hat
auch nichts Leides‘ mag wohl dem Neuling empörend klingen. Aber heißt
das schließlich nicht den Menschen menschlich nehmen, als Mensch
dem Menschen menschlich raten? Könnte es nicht sein, daß lediglich
im Meiden, im bedingungslosen Entsagen Sicherheit für den Menschen
liegt?“ Sie dachte an jenen Musikabend. War ihr damals nicht das
Entsagen als etwas Erhabenes, Königliches erschienen? Sie erkannte
wohl, daß die Größe und Noblesse der buddhistischen Lehre darin ruhe,
daß man auf Grund von Vernunftschlüssen allem, selbst seinem eigenen
„Ich“ zu entsage wage, um jener gesicherten, ewigen Ruhe willen, wie
sie notgedrungen folgen muß, wenn alles Wünschen und Wollen für immer
ausgelöscht sind. Sie erkannte klar, daß dem eigenen „Ich“ nur entsagt
werden könne, wenn nichts Ewiges, Göttliches anerkannt werde, wenn
alles im Joche der Notwendigkeit liefe ohne Anfang, ohne Ende, ohne
Fortschritt. War das aber richtig, wo hinaus ging es dann mit jenen
Idealen, deren Dienst sie ihr bisheriges Leben gewidmet hatte? Waren
sie nicht gerade das Unwandelbare, das Ewige in der Flucht der Dinge;
das was sich mit fortschreitender Entwickelung der Menschheit immer
klarer, immer schöner zeigte? Mit einem Wort: Waren sie nicht der
Ausfluß des Göttlichen?

Ruhig, ohne Gedankenqual wog sie beide Möglichkeiten auf ihre innere
Wahrscheinlichkeit hin ab. Was für Beweise gab es eigentlich für die
Existenz jener Menschheits-Ideale? Waren sie nicht schließlich auch nur
bedingt, Produkte unseres Gehirns und als solche hin- und herschwankend
mit der Tätigkeit dieses Gehirns, gleich Schatten, die mit der
Beleuchtung schwanken. Wie anders hatte sie vor Jahren auf diese
Ideale geblickt, als jetzt. Wie war das aber möglich, wenn es sich um
etwas wahrhaft Göttliches handelte? Sie hielt innerlich Umschau. Sie
sah nirgends einen Halt, nirgends eine Sicherheit. Der wahre Glaube
war nie in ihr gewesen. „So wäre ich vielleicht Irrlichtern gefolgt,
Phantomen, und das Wahrhafte, die Sicherheit läge allein im Entsagen?
Wie sicher muß derjenige leben, der allem entsagt hat!“ Es überkam sie
plötzlich wie Klarheit, daß eine Frau, die aus dem Schutz ihrer Familie
heraustritt, nur den Weg der Sicherheit, das heißt des Entsagens gehen
dürfe. Ihr war, als ob sie den Grund für die Wirrnisse ihres Lebens
erkenne, weil sie vorwärts gegangen wäre, zugegriffen hätte. „Ich bin
schon weit auf dieser Bahn vorgegangen,“ dachte sie. „Wie wäre denn
jetzt noch Abhilfe zu schaffen? -- Dadurch, daß ich allem entsage, auch
meinem Kinde; daß ich stehenden Fußes zurückkehre, von wo ich gekommen
bin und ein Leben der Wunschlosigkeit beginne.“ Sie nickte still. „Das
wäre wohl für alle das Beste, auch für Savade. Wie einfach sich alles
gibt, wenn man den Mut hat zu entsagen. Ja, wenn --.“

In Batavia angekommen mietete sie sich in einem jener Hotels in der
Nähe des Königsplatzes ein. Sie hatte von ihrem Zimmer die gewaltige
Aussicht auf die Bergriesen der Preanger Landschaft. Auch von ihrem
Zimmer in Lamondts Haus hatte sie diese Aussicht gehabt.

Sie saß den ganzen Tag in einer Art Unentschlossenheit. Zum Abend
endlich nahm sie einen Wagen und fuhr hinaus zu ihrem früheren Hause.
Sie ließ in weitem Bogen um dasselbe herumfahren, aber sie konnte doch
gut Lamondt erkennen, der Arm in Arm mit Dora im Garten spazieren ging.
Sie fühlte einen wehen Schmerz am Herzen, aber sie konnte sich nicht
enthalten, wieder und wieder hinzusehen. Sie staunte, wie sehr Dora
sich in diesen zwei Jahren entwickelt hatte. Sie sah aus der Ferne fast
wie eine Dame aus.

In ihr Hotel zurückgekehrt, setzte sie sich an den Schreibtisch. Sie
schien immer noch unentschlossen. Endlich brachte sie folgenden Brief
zu Papier:

    „Mein Herr!

Sie wissen, daß der oberste Gerichtshof mir endgültig das Recht auf
unsere Tochter zugesprochen hat. Ich bin heute hier angelangt, um
meine Rechte, wenigstens in gewissem Sinne, geltend zu machen. Denn da
ich meine Tochter wahrhaft liebe und ihr Glück höher stelle als das
meinige, so bin ich entschlossen, ihr die freie Wahl zu lassen, ob sie
es vorzieht, mit ihrer Mutter zu gehen, oder bei Ihnen zu bleiben. Ich
bitte Sie, zu diesem Zweck das Kind morgen nachmittag gegen 4 Uhr in
dieses Hotel zu schicken, damit ich sie fragen kann. Denn deswegen bin
ich selber von Holland hergekommen und das ist das Einzige, was ich mir
ausbedinge. Ich hoffe, daß Sie mit ebenso ehrlichen Waffen kämpfen, als
ich es zu tun entschlossen bin.

    Helene Savade.“

Noch nie in ihrem Leben war Helene so sehr in Verlegenheit gewesen,
womit sie ihre Zeit hinbringen solle, als am folgenden Tage. Nach der
Reistafel, die um 1 Uhr gehalten wird, legte sie sich etwas nieder.
Gegen 3 Uhr hielt es sie nicht länger. Sie kleidete sich an und machte
trotz der ungewöhnlichen Zeit einen Spaziergang. Vielleicht traf sie
bei ihrer Rückkehr ihr Kind schon bei sich an.

Als sie wieder am Hotel ankam, sah sie tatsächlich einen Wagen im Hof
stehen, der ihr der Lamondts zu sein schien. Klopfenden Herzens schritt
sie schnell ihrem Zimmer zu. Sie fühlte, in der Ruhe hätte sie dieses
alles gar nicht aushalten können. Das energische Sichbewegen gab ihr
Kraft.

Im Vorzimmer saß die Dienerin, die mit ihrer Tochter gekommen war.
Helene schritt schnell vorbei ohne abzulegen. Sie öffnete die Tür
zum Schlafzimmer und flog ihrem Kinde entgegen. Aber ihr geschärfter
Instinkt ließ sie schon aus der Umarmung Doras eine Unsicherheit
herausfühlen. Schon in diesem Moment witterte ihr ahnendes Mutterherz,
welche Antwort sie auf ihre große Frage erhalten würde. Aber sie konnte
dieses nicht gleich mit dem Verstande erfassen, sich klar machen. Es
stand wie etwas Ungeheures, Unbestimmtes vor ihr, an dem sie nicht hoch
blicken konnte, das sie noch nichts anging.

So begann sie, nachdem die Liebkosungen und die einleitenden Fragen
abgetan waren, in völliger Ruhe:

„Dora, mein Liebling, Dein Vater hat Dir gesagt, weshalb Du hast
hierher kommen müssen.“

„Ja, Mama.“

Helene hatte den Arm um die Taille ihres Kindes geschlungen und sah
liebreich in das zarte Gesicht mit den dunklen Augen. Es waren Lamondts
Augen. Sie fühlte, daß in diesem jugendlichen Herzen kein Zug zu ihr,
der Mutter hin bestand. Sie fühlte das Steife, Unnachgiebige der jungen
Glieder. Sie fuhr fort:

„Hast Du schon Deinen Entschluß gefaßt, mein Kind? Willst Du lieber mit
Deiner Mutter gehen, oder lieber bei Deinem Vater bleiben?“

Weinend erwiderte Dora:

„Ach, Mama, wenn wir doch alle drei zusammen bleiben könnten.“

„Du weißt ja, mein Kind,“ sagte Helene sanft, „daß das nicht möglich
ist. Geliebtes Kind,“ fuhr sie nach kurzem Schweigen mit etwas
zitternder Stimme fort, „ich will Dich nicht quälen. Ich weiß. Ich
sehe. Aber um eines bitte ich Dich herzlich, mein Kind: Sag mir,
weshalb Du Dich entschlossen hast, Deine Mutter zu verlassen?“

Und in der vollen, unbarmherzigen Aufrichtigkeit des Kindes erwiderte
Dora:

„Weil Du Dir einen neuen Papa genommen hast. Papa hat sich keine neue
Mama genommen.“

Wie in sich zusammengesunken stand Helene regungslos. Einen Augenblick
schien es, als ob sie den Mund öffnen, auf die Worte ihres Kindes
reagieren wollte. Dann drehte sie sich langsam um und verließ lautlos,
wie in Gedanken das Zimmer.

Geängstigt blickte ihr Dora nach, aber sie rief nicht, sondern ließ
ihre Mutter gehen. Sie wußte nicht, wohin dieselbe wollte, und wartete
daher auf ihre Rückkehr, um Abschied zu nehmen. So saß sie wohl an
zwei Stunden. Die javanische Dienerin im Vorzimmer schlief längst den
Schlaf des Gerechten. Jetzt ging die Sonne unter. Es wurde dunkel. In
ihrer Angst begann Dora zu weinen. Sie wußte nicht, was sie tun sollte.
Denn daß sie ihre Mutter nie wiedersehen würde, wenn sie sie jetzt
nicht noch einmal sähe, war ihr klar. Plötzlich ertönten laute Schritte
draußen und Lamondt riß heftig die Tür auf. Mit einem „O, mein Kind!“
schloß er seine Tochter fest in die Arme. Es lag in diesen Worten
die ganze Welt von Angst und Qual, die er in diesen Stunden um sein
verloren geglaubtes Kleinod ausgestanden hatte.

Während dessen war Frau Savade aus den Pforten des Hotels
hinausgewandert. Es lag wie ein Nebel auf der Welt, auf ihr, auf
ihrem Denken. Nur durch diesen Nebel hindurch fühlte sie gleichsam
wellenweise das ungeheure Weh, das sie soeben betroffen hatte.

Nachdem sie einige Zeit planlos das Europäer-Viertel durchwandert
hatte, geriet sie in die javanische Vorstadt, wo diese zierlichen,
sauberen Bambushäuschen aus Kokos, Areka und Bananen hervorlugen,
Bilder des Friedens und der Anspruchslosigkeit.

Vor einer dieser Hütten blieb Frau Savade wie in Gedanken stehen.
Die Türen des kleinen Hauses standen weit offen. Niemand war darin,
auch niemand in der Nähe zu sehen, nur ein kleines Ding, das noch auf
allen Vieren herumkroch, saß im Garten dicht am Rande des denselben
durchfließenden Kanales.

Helene konstatierte dieses alles, als ob sie selber dabei interessiert
wäre. Sie wunderte sich nicht einmal, daß sie jetzt in ihrem Schmerz
Interesse für derartiges habe. Sie wurde immer nachdenklicher. „Auch
dieses kleine Wurm,“ dachte sie, „hat eine Mutter. Auch diese Mutter
wird ihr Kind lieben, wie eben Mütter ihre Kinder lieben, und doch
macht ihr der Gedanke an das einsame Kind und den Kanal, in dem
es jeden Augenblick ertrinken kann, sicher keine unruhige Minute.
Mich aber würden diese Gedanken Tag und Nacht jagen und mich keinen
Augenblick zur Ruhe kommen lassen. Mein Gott, sind denn alle diese
Erlebnisse, diese Quälereien, diese Freuden nicht schließlich erst
durch uns selbst geschaffen? Schließlich geht doch der Lebensfaden von
uns allen nur geradehin von Geburt zum Tode. Und was alles machen wir
daraus! -- So will ich denn alles fahren lassen und mich in mich selber
zurückziehen. Wenn ich mein Kind in Wahrheit liebe, was macht’s dann
aus, ob es an der Seite des Vaters oder der Mutter gedeiht.“

Bei diesem Gedanken schien ihr Geist wieder in die Wirklichkeit
zurückzuschnellen. „O!“ stöhnte sie leise. Jetzt erst fühlte sie klar
und ungemildert die Größe des Schmerzes, den sie vorhin erlebt hatte.
Den Kopf tief zur Erde gesenkt schritt sie vorwärts.

Mit der inneren Klarheit kam aber auch die Frage: Was nun tun? -- Zu
ihrem Manne zurückkehren? In seiner Liebe, seinem Vertrauen Ersatz für
die verlorene Kindesliebe suchen? -- Sie lächelte bitter. Sie dachte
an Lamondts Brief. -- Warten und nach einigen Jahren an ihr Kind noch
mal die gleiche Frage richten? -- Sie lächelte wieder. Diesmal hatte
sie eine klare Antwort bekommen. Wenn dann auch die Erwachsene aus
Pflichtgefühl mit ihr ging, vielleicht auch aus Mitleid, was hatte sie
davon. Sie wollte Sicherheit, Wahrheit. Einen Augenblick durchzuckte
sie auch der Gedanke: „Weshalb habe ich mein Kind damals hingegeben.
Ich konnte nicht hoffen, es je wieder zu bekommen. Ich hätte bis zum
letzten Atemzug wie eine Löwin darum kämpfen sollen.“ Aber gleich
dachte sie: „Was sollte mir das Halbe. Ich wollte ja das Ganze. Ich
wollte ein Kind, das mich in Wahrheit liebt. Ich wollte sicher sein,
daß sie mich in Wahrheit liebt. Und jetzt! Und jetzt! Was ist jetzt
sicher? Was ist jetzt wahr?“

Wie suchend ließ sie ihre Augen umherschweifen. Eine entsetzliche
Angst überkam sie. Unwillkürlich schlug sie die Hände ineinander und
weinerlich, fast wie ein Kind, begann sie:

„O Gott im Himmel! Ich weiß ja nicht, ob ich richtig bete, aber ich
muß jetzt zu dir beten, ich muß ja! O hab’ doch Erbarmen mit mir
Armseligen. Ich kann nicht mehr. Ich bin so müde. Gib mir doch nur
ein wenig Ruhe.“ Sie legte den Kopf an einen Baumstamm und begann
bitterlich zu weinen.

Als sie das Gesicht hob, traf ihr Auge gerade den nackten Sonnenball,
der wie eine blutrote Kugel, von lodernden Wolkenfetzen umgeben auf
der Erde stand. Er erschien ihr wie etwas Tröstendes und zugleich
Drohendes. Starr blickte sie hinein. Plötzlich sagte sie: „In der
Nähe von Utrecht liegt das Kloster zum Heiligen Herz. Die Ordnung ist
streng, die Lage entzückend. Dort wird Ruhe sein.“

Sie ging schnell vorwärts, wie einer, der durch einen Entschluß
gefaßter geworden ist.

In diesen Gegenden folgt die Dunkelheit fast unmittelbar dem
versinkenden Sonnenball. Ehe sie zurück in das europäische Viertel
kam, war es bereits ganz Nacht. Eben ging sie an einem javanischen
Bambushäuschen vorbei. Gleich einem Kasten war es rings verschlossen.
Nur durch einen Spalt in der Tür fiel ein Lichtschein. Aus dem Inneren
aber tönten die Klänge des Gamelang, melancholisch, geheimnisvoll. Kein
anderer Laut regte sich innen. Es war, als ob die ganze Hütte zu Musik
geworden, ins Tönen geraten sei.

Helene blieb lauschend stehen. Sie hatte den Gamelang immer so gern
gehört. Seine monotone Musik hatte etwas Beruhigendes. „Da sitzen sie
jetzt,“ dachte sie, „und lauschen regungslos diesen Klängen. O, sie
sind wie die Könige. Ein wunschloses Herz ist ein großes Ding.“ Lange
stand sie in Gedanken. Endlich sagte sie leise: „Es ist so! Ich bin
falsch gegangen.“

Auf der Brücke, die über den großen Kanal führt, blieb sie wieder
stehen. Ihr Auge traf drüben eine Villa, in deren hell erleuchteten
Räumen Leute sich bewegten. In diesem Moment fiel wieder ein Gedanke
an Lamondts Villa und an ihr Kind in ihr Herz wie der Sonnenstrahl in
das unbedeckte Auge. Sie zuckte körperlich zusammen. Ein Gefühl jener
großen Öde überkam sie, die ein Mensch nicht ertragen kann. Heimlich,
kühl kroch der Gedanke hoch: „Ich kann ja gar nicht mehr leben.“ Sie
lehnte sich mit beiden Ellenbogen auf das Geländer, wie einer, der
in Ruhe über etwas nachdenken will. Nach einiger Zeit bemerkte sie,
daß sie das Wasser unter sich fixiere, das in der Dunkelheit als
gleichmäßig schwarze Fläche dalag. Matt bis ins innerste Herz hinein
dachte sie: „Der Weg bis zum Kloster zum Heiligen Herz ist weit. Sollte
nicht da unten auch schon Sicherheit sein für mich? Aber was dann mit
meiner Tochter? Wird sie nicht denken, sobald sie anfängt zu denken,
daß ich in Verzweiflung fortgegangen bin? Wird sie nicht grübeln? Wird
sie nicht über mein Schicksal jammern? Wird Lamondt dieses Grübeln
nicht fühlen? Wird mein Tod nicht abermals ein Glück zerstören?“ Heftig
schlug sie sich auf den Mund: „Schäm’ dich, Heuchlerin!“

Das verlöschende Feuer ihrer Energie flackerte noch einmal hoch auf.
Es überkam sie wie eine machtvolle Sucht, vor sich selber die Probe
auf die Wahrheit ihrer Gefühle abzulegen. Mit kräftigem Ruck schwang
sie sich auf die breite Brüstung. Oben kam ihr der Gedanke: „Werde
ich nicht sofort wieder hochtauchen?“ Das Wasser war ihr Element. Sie
lächelte fast. „Die Probe aufs Exempel!“ sagte sie leise. Ihre Augen
glänzten. Sie war ganz Leben. Mit der rechten Hand raffte sie fest die
Kleider zusammen, so daß sie sich eng um die Füße schnürten. Mit der
Linken fuhr sie tief in den Busen. So stürzte sie kopfüber hinab. Es
war nicht jener schwere, plumpe Fall, sondern man meinte zu hören, wie
der Körper den Wasserspiegel durchschnitt.

Als am nächsten Morgen die Leiche unterhalb antrieb, hielt die rechte
Hand noch krampfhaft die Kleider umklammert. Die Nägel der Linken aber
hatten sich so tief in die rechte Brust gegraben, daß sie nur mit Mühe
zu lösen waren.

So starb Helene van Hoeven, weil sie die Wahrheit falsch gesucht hatte.
Denn wer die Wahrheit im Bejahen, im Verlangen, im Zugreifen sucht, der
sucht sie falsch. Wer sie aber so sucht, der gleicht dem Menschen, der
das Messer bei der Schneide faßt: er verletzt nur sich selber.



[Illustration]



Valmikas Hängen.


Diese Geschichte heißt auch „das Stundenglas“. Denn wie dieses mit
der Breite einsetzt und die Spitze in der Mitte hat, so pflegten die
Alten, wenn sie der Jugend diese Geschichte erzählten, mit der Breite
einzusetzen und zum Anfang zuzuspitzen; und zwar so:

„So war nun die junge Königstochter des blinden alten Rishi Valmika
Frau und lebte mit ihm in seiner Klause.“

Wenn dann die Jungen fragten: „Wie kam denn das?“ so antworteten sie:

„Weil sonst der alte Rishi die ganze Familie mit seinem Fluch getroffen
hätte, zu Asche verbrannt.“

„Und wie kam das?“

„Weil die junge Prinzessin ihm die Augen ausgestochen hatte.“

„Und wie kam das?“

„Weil sie sie für glänzende Kiesel gehalten hatte.“

„Und wie kam das?“

„Weil sie so tief im Ameisenhaufen steckten.“

„Und wie kam das?“

„Weil die Ameisen einen Haufen über Valmika erbaut hatten.“

„Und wie kam das?“

„Weil er so lange regungslos in Selbstversenkung gesessen hatte.“

„Und wie kam das?“

„Weil er ein gewaltig großer Rishi war, ein mächtiger Rishi.“

Und wenn die Alten nun so bei der Spitze angekommen waren und die
Jungen noch staunten, wie jemand ein so mächtiger Rishi werden könne,
daß er mühelos ein ganzes Königshaus verfluchen könne, fuhren jene dann
weiter fort:

Die Prinzessin lebte nun mit dem alten blinden Rishi Valmika mitten
in einem großen Walde in einer Hütte; die unter einem gewaltigen
Feigenbaume stand und bei der eine kleine, krystallklare Quelle
vorbeifloß. Ging man aber mit dieser Quelle ein Stück mit, so wurde sie
größer und größer und schließlich zu einem Wasserfall, unter dem der
blinde Alte und sein junges Weib täglich badeten.

Frühmorgens, noch ehe die Sonne aufgegangen war, lernte die
Königstochter vom Alten die Mantras dann ging sie in den Wald, um
Wurzeln und Kräuter zu suchen, dann besorgte sie alle Arbeit im Hause
und abends ging sie mit ihm zum Bade.

Eines Tages nun, als sie ihm die dürren, welken Glieder wusch, regte
sich inniges Mitleid in ihr, und sie dachte:

„Ich will Indra bitten, daß er ihm die Jugend der Glieder und das Licht
der Augen wiedergibt.“

Weil aber da, wo sich wirkliches Mitleid regt, Götter die Bitten
erfüllen, so erfüllte Indra ihre Bitte und überall, wo sie ihn mit
ihren Händen wusch, da wurde der Alte jung und voll und als sie ihm
zuletzt die Augen wusch, da wurde er wieder sehend und beide standen
und sahen einander an. Weil er aber ein großer Rishi war, so dachte er:
„Es ist ein Weib; ich will mich nicht betören lassen“ und wendete sich
ab.

Nun war aber die Königstochter gewohnt, gleich nach dem Alten zu baden.
So stieg sie auch heute, nach ihrer Glaubenstat, in schicklicher Weise
ins Bad.

Als Valmika aber hörte, daß sein Weib im Bade war, da überkam ihn die
Neugierde. Verstohlen blickte er hin und sah die jungen Glieder und
verfiel auf der Stelle in Liebe. Denn auch ein Rishi, wahrt er seine
Sinne nicht, kann wohl in Liebe fallen.

Da er nun jung, sehend und verliebt geworden war, so ließ Valmika
durch seine alte Rishi-Kraft die kleine Hütte aus Baumrinde, in der er
bisher mit seinem Weibe gelebt hatte, verschwinden und an deren Stelle
einen schönen Palast entstehen, in dem es von Dienern und Dienerinnen
wimmelte und in dem Tag und Nacht Geigen und Flöten und zahllose andere
Wohllaute tönten.

Hierbei aber hatte er jenen mächtigen alten Feigenbaum, unter welchem
die kleine Hütte stand, gleichfalls vom Erdboden weggezaubert.

Als nun die Gottheit dieses Baumes, ihrer Behausung beraubt, nackt
und hungrig, jammernd und wehklagend im Walde umherirrte, fragten die
anderen Gottheiten nach dem Grunde ihres Schmerzes.

Als sie nun erzählt hatte, daß der Rishi Valmika, weil er sich in
sein Weib, die junge Königstochter verliebt hätte, sie heimlos
gemacht habe, da empfanden zwei Dämoninnen Mitleid mit der Gottheit
dieses Feigenbaums und sagten: „Wir wollen Dir helfen, daß die ganze
Herrlichkeit wieder dahinschwindet, so schnell wie sie gekommen ist.“

Von dem Tage ab lauerten sie auf Valmikas Weib, ob sie etwas an ihr
fänden. Denn sie war vollkommen keusch und züchtig, weswegen es eben
geschehen konnte, daß sie wahres Mitleid empfand; weswegen es eben
geschehen konnte, daß Indra das Gebet für ihren Gemahl erhörte.

Als sie nun eines Tages ihr Bild im Wasser sah, dachte sie:

„Wie schön muß ich sein, daß ein so großer Rishi wie Valmika, alles
vergißt und in Liebe an mir hängt.“

Sofort freilich kam ihr die Reue und die Furcht vor diesem schlechten
Gedanken und sie versuchte, ihn schleunigst zu verneinen. Aber eine der
beiden Dämoninnen, welche der Gottheit jenes Feigenbaumes ihre Hilfe
versprochen hatte, hatte bereits die Rauhigkeit, welche sich mit diesem
schlechten Gedanken am Herzen der jungen Königstochter gebildet hatte,
benutzt, um ihre Krallen einzuschlagen. So kam es, daß sie, anstatt
diesen schlechten Gedanken zu verneinen, ihn noch einmal bejahte. Und
sofort krallte sich die andere Dämonin gleichfalls ein.

Weil sie nun damit Macht über sie bekommen hatten, gesellten sie
sich zu ihr in Gestalt ihrer beiden Kammerfrauen, stiegen mit ihr
ins Bad und kamen beide genau in der gleichen Gestalt wie die junge
Königstochter heraus.

Als nun Valmika wie immer sein Weib nach dem Bade erwartete, trat sie
ihm dreifach entgegen und jede der drei herzte und küßte ihn ebenso
feurig, ebenso innig, ebenso ehrlich wie die beiden anderen.

Da merkte Valmika, daß er von Dämoninnen überlistet war und wollte sie
durch seinen Zauberspruch zu Asche brennen, um so wieder zu seiner
geliebten Gemahlin zu gelangen.

Als er aber seinen Spruch sprach, dem sonst nichts auf Erden
widerstand, blieb alles unversehrt, ja die drei machten es nur noch
ärger, indem jede von ihnen ihn unter den zärtlichsten Liebkosungen
aufs inständigste bat, nur sie allein als sein echtes Weib anzusehen.

Als nun Valmika sah, daß er seine Rishi-Macht verloren habe und durch
die Verdreifachung seines Glückes um all sein Glück gekommen sei,
begann er bitterlich zu weinen und betete in seiner Not zu Indra, ihm
zu helfen.

Da man nun zu jemandem, dem man einmal eine Wohltat erwiesen hat, immer
Zuneigung hat, so war Indra wohl bereit, ihm beizustehen. „Aber,“
sagte er, „es gibt hier nur eine Hilfe: Daß Du mit Deinem Spruch jene
beiden zu Asche brennst, das kannst Du nur, wenn Du Deine Rishi-Kraft
wiederbekommst. Da Du sie aber durch die Liebe verloren hast, so kann
ich sie Dir nicht wiedergeben; denn die Liebe steht auch über mir,
dem Gott. So gibt es nur eine Hilfe für Dich: daß Du Deiner Liebe
völlig entsagst. Dann wirst Du Deine alte Kraft wieder bekommen und
jene beiden Dämoninnen durch Deinen Spruch zu Asche brennen. Daß Du
aber Deiner Liebe völlig und für immer entsagt hast, dafür gibt es nur
+ein+ Zeichen: nämlich daß Dein Spruch wieder wirkt.“

Als Gott Indra ihm diesen Bescheid gegeben, wurde Valmika wohlgemut. Er
dachte: „Hab’ ich nur erst jene beiden Unholdinnen verascht, die Liebe
zu meinem Weib soll dann schon wiederkommen.“

So ging er in eine leere Klause, setzte sich kreuzbeinig zur Erde,
schlug das Auge nach innen, die Hände ineinander und versuchte, alle
Liebesgedanken für sein Weib, die in seinem Herzen lebten, im Denken
auszutreiben.

So saß er Stunde für Stunde, Tag für Tag, ohne daß ein Erfolg sich
zeigte.

In seiner Not betete er wieder zu Indra.

Der ließ sich noch einmal erbitten, und da Götter die gleiche Kraft
haben wie gute Menschen -- denn sie sind ja vor Zeiten gute Menschen
gewesen --: die Kraft, in den Herzen anderer die Gedanken zu lesen, so
sprach er zu dem betrübten Valmika:

„Freund, Dein Entsagen ist ja gar kein Entsagen. Du entsagst, um danach
mehr zu gewinnen. Soll Deine alte Kraft wiederkommen, so mußt Du
wirklich ehrlich, für immer entsagen.“

Da meinte Valmika traurig:

„Erhabener, was soll mir dann noch meine Rishi-Kraft?“

Indra aber erwiderte lachend:

„Freund, ich weiß es nicht. Da mußt Du einen anderen fragen.“

Und verschwand.

Da dachte Valmika:

„Kann ich mein Weib befreien, so kann ich sie nicht mehr lieben.
Kann ich sie nicht befreien, so kann ich sie auch nicht lieben; denn
ich kenne sie ja nicht. So wäre es am besten, ich risse diese Liebe
ernsthaft aus meinem Herzen um meinetwillen.“

So ging er wieder mit Macht ans Meditieren. Aber immer, wenn er nahe am
Ziel war, zerstörte ihm der Gedanke „Hab’ ich erst meinen Spruch und
sind jene beiden verascht, wie will ich mein Weib umarmen!“ alles.

So saß er Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat in einem
beständigen Hängen zwischen Lieben und Entsagen. Und weil er so
unbeweglich saß, so begannen die Ameisen wieder über ihm zu bauen. Und
heute sitzt Valmika wieder in seinem Ameisenhaufen so tief wie damals,
als die Prinzessin ihm die Augen ausstach, weil sie sie in der Tiefe
für glänzende Kiesel hielt.

Wenn die Alten so weit erzählt haben und die Jungen voll Neugierde
fragen:

„Wird er denn immer so hängen?“ so antworten die Alten:

„Entsagt er wirklich, dann nicht; entsagt er nicht wirklich, dann ja.“

Sind aber die Frager schon verständiger, so fügen die Alten wohl etwas
über das Buddha-Wort hinzu:

„Ist dieses, wird jenes; ist dieses nicht, wird jenes nicht.“

„Oder aber sie fügen etwas hinzu über das Unbefriedigende aller Lust
und über den Segen des Entsagens. Aber, fügen sie meist hinzu, Entsagen
ist hier eben Entsagen. Einem Weib entsagen, um es zu gewinnen, das ist
kein Entsagen, und der Welt entsagen, um ewiges Leben zu gewinnen, das
ist kein Entsagen. Darum übt Euch im Entsagen, dieser Welt wie jener
Welt. Denkt wohl an das Wort des großen Lehrers: ‚Elend ist Sterben bei
dem, in dem Verlangen ist.‘“

Das ist die Geschichte von Valmikas Hängen.



[Illustration]



Der heilige Kreis.


In Benares, nicht fern vom Gangesufer, saß eine Schar junger Brahmanen
mit den Vorbereitungen zu einem großen Opfer beschäftigt. Zu diesem
Zwecke hatten sie einen Kreis von Kuhdung um sich gezogen, den nichts
Fremdes überschreiten durfte, sollte das ganze Opfer nicht vergeblich
sein.

Als nun alles, nach langen Mühen, nach langem Warten der Vollendung
sich näherte, als die ersten Zeichen sich einstellten, da geschah es
eines Tages, daß nicht gar fern von ihnen der Diener eines weißen
Sahib, eines Christen, mit einem Ball spielte. Und von ungefähr
geschah es, daß der Ball in den heiligen Kreis jener jungen Brahmanen
hineinflog, just als sie meinten, zur „Einigung“ zu kommen. Denn das
ist es ja, warum überall geopfert wird: Um zu einer Einigung mit dem
Göttlichen zu kommen.

Als jene nun durch diesen Zufall um ihre Sehnsucht und ihre Hoffnungen
betrogen waren, stürzten sie wild auf den Diener jenes weißen Sahib,
des Christen, los und würden ihn auf der Stelle getötet haben, wenn
nicht auf sein Geschrei der Sahib selber herbeigeeilt wäre.

Als der nun jene jungen Brahmanen fragte, warum sie seinen Diener so
übel behandelten, antworteten sie:

„Wir waren nach langen Opfermühen gerade im Begriff, zur Einigung mit
der höchsten Weltseele zu kommen, da flog der Ball Deines Dieners in
unseren heiligen Kreis und hat uns alles verdorben. Darum wollen wir
diesen Menschen töten, eben wegen seiner Missetat.“

Da sagte der Sahib:

„Wißt Ihr denn, ob er es böswillig getan hat?“

„Das wissen wir freilich nicht. Trotzdem aber soll er sterben; denn er
hat unsere Seelen geschädigt, und was soll es da für eine andere Strafe
geben als den Tod?“

„Wißt Ihr nicht, daß das erste Gebot jeder Religion Mitleid ist?“

„Das erste Gebot jeder Religion ist Wahrheit gegen sich selber. Und die
üben wir, wenn wir jenen töten. Im übrigen, wie kannst Du von Mitleid
reden? Denn hat nicht Deine Religion mitleidlos verbrannt, was sich ihr
widersetzte?“

„Wo es uns selber betrifft, da üben wir Mitleid. Wo aber Gott beleidigt
wird, da strafen wir erbarmungslos.“

„Ebenso üben wir Mitleid, wo es uns selber betrifft. Wo aber unsere
Seelen geschädigt werden, da strafen wir erbarmungslos.“

Indem jener weiße Sahib und jene jungen Brahmanen so miteinander
stritten, kam ein buddhistischer Mönch des Wegs daher. Den beschlossen
sie als Schiedsrichter zu wählen.

Als nun jede der beiden Parteien ihn den Streitfall vorgetragen hatte,
sagte er zu den jungen Brahmanen:

„Kennt Ihr denn jene Weltseele, um derenwillen Ihr andere Wesen
schädigen wollt?“

„Nein, wir selber kennen sie nicht, aber die Rishis lehren es und sie
wissen mehr als wir.“

Darauf wandte sich der Mönch an den weißen Sahib, den Christen:

„Kennst Du jenen Gott, um dessenwillen Ihr andere Wesen schädigt?“

„Nein, ich selber kenne ihn nicht, aber es gibt Gott-erleuchtete
Männer, die von ihm reden und schreiben.“

Auf diese Antworten hin verharrte der Mönch ein Weilchen schweigend.
Dann zu den Brahmanen:

„Solange Ihr das nicht kennt, an dem Ihr geschädigt zu sein vermeint,
habt Ihr kein Recht, diesen Menschen zu töten.“

Und zu dem Sahib:

„Solange Du den Gott, dessen Hoheit Ihr Christen durch Scheiterhaufen
retten wollt, nicht kennst, hast Du kein Recht, Deinen Diener zu
schützen. Denn diese Brahmanen tun nichts als was Ihr Christen stets
getan habt und stets tun würdet, falls Ihr die Macht dazu hättet.“

Und zu beiden:

„So laßt einstweilen die Sache in der Schwebe, solange bis Ihr beide
das kennt, warum Ihr streitet. Habt Ihr es aber erkannt, so kommt
wieder zu mir, und ich will Euren Fall schlichten.“

[Illustration]



Verlag von Walter Markgraf, Breslau VIII.


Paul Dahlke:

Buddhismus als Weltanschauung.

Preis 6 Mark.

Inhalt:

Erster Aufsatz: Was ist Weltanschauung und ist sie notwendig? --
Zweiter Aufsatz: Glaube und Weltanschauung. -- Dritter Aufsatz:
Wissenschaft und Weltanschauung. -- Vierter Aufsatz: Zur Einführung
in die Gedankenwelt des Buddha Gotama. -- Fünfter Aufsatz: Der
Buddhismus als Weltanschauung. -- Sechster Aufsatz: Der Buddhismus
als Arbeitshypothese. -- Siebenter Aufsatz: Der Buddhismus und das
Problem der Physik. -- Achter Aufsatz: Der Buddhismus und das Problem
der Physiologie. -- Neunter Aufsatz: Der Buddhismus und Problem der
Biologie. -- Zehnter Aufsatz: Der Buddhismus und das Problem der
Kosmologie. -- Elfter Aufsatz: Der Buddhismus und das Problem des
Denkens. -- Abschluß.


Die Bedeutung des Buddhismus für unsere Zeit

Preis --.60 Mark.


Walter Markgraf:

Der Pfad der Wahrheit,

(Dhammapadam)

Preis 1.80 Mark.


Kleiner buddh. Katechismus.

2.-3. Tausend. Preis --.40 Mark.





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Aus dem Reiche des Buddha - Sieben Erzählungen" ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home