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Title: Die Wahlverwandtschaften
Author: Goethe, Johann Wolfgang von
Language: German
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Die Wahlverwandtschaften



Ein Roman


von Johann Wolfgang von Goethe



Inhaltsverzeichnis


 Erster Theil
 Erstes Kapitel
 Zweites Kapitel
 Drittes Kapitel
 Viertes Kapitel
 Fünftes Kapitel
 Sechstes Kapitel
 Siebentes Kapitel
 Achtes Kapitel
 Neuntes Kapitel
 Zehntes Kapitel
 Elftes Kapitel
 Zwölftes Kapitel
 Dreizehntes Kapitel
 Vierzehntes Kapitel
 Fünfzehntes Kapitel
 Sechzehntes Kapitel
 Siebzehntes Kapitel
 Achtzehntes Kapitel

 Zweiter Teil
 Erstes Kapitel
 Zweites Kapitel
 Drittes Kapitel
 Viertes Kapitel
 Fünftes Kapitel
 Sechstes Kapitel
 Siebentes Kapitel
 Achtes Kapitel
 Neuntes Kapitel
 Zehntes Kapitel
 Elftes Kapitel
 Zwölftes Kapitel
 Dreizehntes Kapitel
 Vierzehntes Kapitel
 Fünfzehntes Kapitel
 Sechzehntes Kapitel
 Siebzehntes Kapitel
 Achtzehntes Kapitel



Erster Teil



Erstes Kapitel

Eduard—so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter—Eduard
hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags
zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu
bringen. Sein Geschäft war eben vollendet; er legte die Gerätschaften
in das Futteral zusammen und betrachtete seine Arbeit mit Vergnügen,
als der Gärtner hinzutrat und sich an dem teilnehmenden Fleiße des
Herrn ergetzte.

„Hast du meine Frau nicht gesehen?“ fragte Eduard, indem er sich
weiterzugehen anschickte.

„Drüben in den neuen Anlagen“,versetzte der Gärtner. „Die Mooshütte
wird heute fertig, die sie an der Felswand, dem Schlosse gegenüber,
gebaut hat. Alles ist recht schön geworden und muß Euer Gnaden
gefallen. Man hat einen vortrefflichen Anblick: unten das Dorf, ein
wenig rechter Hand die Kirche, über deren Turmspitze man fast
hinwegsieht, gegenüber das Schloß und die Gärten“.

„Ganz recht“, versetzte Eduard; „einige Schritte von hier konnte ich
die Leute arbeiten sehen“.

„Dann“, fuhr der Gärtner fort,“öffnet sich rechts das Tal, und man
sieht über die reichen Baumwiesen in eine heitere Ferne. Der Stieg die
Felsen hinauf ist gar hübsch angelegt. Die gnädige Frau versteht es;
man arbeitet unter ihr mit Vergnügen“.

„Geh zu ihr“, sagte Eduard, „und ersuche sie, auf mich zu warten. Sage
ihr, ich wünsche die neue Schöpfung zu sehen und mich daran zu
erfreuen“.

Der Gärtner entfernte sich eilig, und Eduard folgte bald.

Dieser stieg nun die Terrassen hinunter, musterte im Vorbeigehen
Gewächshäuser und Treibebeete, bis er ans Wasser, dann über einen Steg
an den Ort kam, wo sich der Pfad nach den neuen Anlagen in zwei Arme
teilte. Den einen, der über den Kirchhof ziemlich gerade nach der
Felswand hinging, ließ er liegen, um den andern einzuschlagen, der sich
links etwas weiter durch anmutiges Gebüsch sachte hinaufwand; da, wo
beide zusammentrafen, setzte er sich für einen Augenblick auf einer
wohlangebrachten Bank nieder, betrat sodann den eigentlichen Stieg und
sah sich durch allerlei Treppen und Absätze auf dem schmalen, bald mehr
bald weniger steilen Wege endlich zur Mooshütte geleitet.

An der Türe empfing Charlotte ihren Gemahl und ließ ihn dergestalt
niedersitzen, daß er durch Tür und Fenster die verschiedenen Bilder,
welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick
übersehen konnte. Er freute sich daran in Hoffnung, daß der Frühling
bald alles noch reichlicher beleben würde. „Nur eines habe ich zu
erinnern“, setzte er hinzu, „die Hütte scheint mir etwas zu eng“.

„Für uns beide doch geräumig genug“, versetzte Charlotte.

„Nun freilich“, sagte Eduard, „für einen Dritten ist auch wohl noch
Platz“.

„Warum nicht?“ versetzte Charlotte, „und auch für ein Viertes. Für
größere Gesellschaft wollen wir schon andere Stellen bereiten“.

„Da wir denn ungestört hier allein sind“, sagte Eduard, „und ganz
ruhigen, heiteren Sinnes, so muß ich dir gestehen, daß ich schon einige
Zeit etwas auf dem Herzen habe, was ich dir vertrauen muß und möchte,
und nicht dazu kommen kann“.

„Ich habe dir so etwas angemerkt“, versetzte Charlotte.

„Und ich will nur gestehen“, fuhr Eduard fort, „wenn mich der Postbote
morgen früh nicht drängte, wenn wir uns nicht heut entschließen müßten,
ich hätte vielleicht noch länger geschwiegen“.

„Was ist es denn?“ fragte Charlotte freundlich entgegenkommend.

„Es betrifft unsern Freund, den Hauptmann“, antwortete Eduard. „Du
kennst die traurige Lage, in die er, wie so mancher andere, ohne sein
Verschulden gesetzt ist. Wie schmerzlich muß es einem Manne von seinen
Kenntnissen, seinen Talenten und Fertigkeiten sein, sich außer
Tätigkeit zu sehen und—ich will nicht lange zurückhalten mit dem, was
ich für ihn wünsche: ich möchte, daß wir ihn auf einige Zeit zu uns
nähmen“.

„Das ist wohl zu überlegen und von mehr als einer Seite zu betrachten“,
versetzte Charlotte.

„Meine Ansichten bin ich bereit dir mitzuteilen“, entgegnete ihr
Eduard. „In seinem letzten Briefe herrscht ein stiller Ausdruck des
tiefsten Mißmutes; nicht daß es ihm an irgendeinem Bedürfnis fehle,
denn er weiß sich durchaus zu beschränken, und für das Notwendige habe
ich gesorgt; auch drückt es ihm nicht, etwas von mir anzunehmen, denn
wir sind unsre Lebzeit über einander wechselseitig uns so viel schuldig
geworden, daß wir nicht berechnen können, wie unser Kredit und Debet
sich gegeneinander verhalte—daß er geschäftlos ist, das ist eigentlich
seine Qual. Das Vielfache, was er an sich ausgebildet hat, zu andrer
Nutzen täglich und stündlich zu gebrauchen, ist ganz allein sein
Vergnügen, ja seine Leidenschaft. Und nun die Hände in den Schoß zu
legen oder noch weiter zu studieren, sich weitere Geschicklichkeit zu
verschaffen, da er das nicht brauchen kann, was er in vollem Maße
besitzt—genug, liebes Kind, es ist eine peinliche Lage, deren Qual er
doppelt und dreifach in seiner Einsamkeit empfindet“.

„Ich dachte doch“, sagte Charlotte, „ihm wären von verschiedenen Orten
Anerbietungen geschehen. Ich hatte selbst um seinetwillen an manche
tätige Freunde und Freundinnen geschrieben, und soviel ich weiß, blieb
dies auch nicht ohne Wirkung“.

„Ganz recht“,versetzte Eduard; „aber selbst diese verschiedenen
Gelegenheiten, diese Anerbietungen machen ihm neue Qual, neue Unruhe.
Keines von den Verhältnissen ist ihm gemäß. Er soll nicht wirken; er
soll sich aufopfern, seine Zeit seine Gesinnungen, seine Art zu sein,
und das ist ihm unmöglich. Je mehr ich das alles betrachte, je mehr ich
es fühle, desto lebhafter wird der Wunsch, ihn bei uns zu sehen“.

„Es ist recht schön und liebenswürdig von dir“ versetzte Charlotte,
„daß du des Freundes Zustand mit soviel Teilnahme bedenkst; allein
erlaube mir, dich aufzufordern, auch deiner, auch unser zu gedenken“.

„Das habe ich getan“, entgegnete ihr Eduard. „Wir können von seiner
Nähe uns nur Vorteil und Annehmlichkeit versprechen. Von dem Aufwande
will ich nicht reden, der auf alle Fälle gering für mich wird, wenn er
zu uns zieht, besonders wenn ich zugleich bedenke, daß uns seine
Gegenwart nicht die mindeste Unbequemlichkeit verursacht. Auf dem
rechten Flügel des Schlosses kann er wohnen, und alles andere findet
sich. Wieviel wird ihm dadurch geleistet, und wie manches Angenehme
wird uns durch seinen Umgang, ja wie mancher Vorteil! Ich hätte längst
eine Ausmessung des Gutes und der Gegend gewünscht; er wird sie
besorgen und leiten. Deine Absicht ist, selbst die Güter künftig zu
verwalten, sobald die Jahre der gegenwärtigen Pächter verflossen sind.
Wie bedenklich ist ein solches Unternehmen! Zu wie manchen
Vorkenntnissen kann er uns nicht verhelfen! Ich fühle nur zu sehr, daß
mir ein Mann dieser Art abgeht. Die Landleute haben die rechten
Kenntnisse; ihre Mitteilungen aber sind konfus und nicht ehrlich. Die
Studierten aus der Stadt und von den Akademien sind wohl klar und
ordentlich, aber es fehlt an der unmittelbaren Einsicht in die Sache.
Vom Freunde kann ich mir beides versprechen; und dann entspringen noch
hundert andere Verhältnisse daraus, die ich mir alle gern vorstellen
mag, die auch auf dich Bezug haben und wovon ich viel Gutes voraussehe.
Nun danke ich dir, daß du mich freundlich angehört hast; jetzt sprich
aber auch recht frei und umständlich und sage mir alles, was du zu
sagen hast; ich will dich nicht unterbrechen“.

„Recht gut“, versetzte Charlotte; „so will ich gleich mit einer
allgemeinen Bemerkung anfangen. Die Männer denken mehr auf das
Einzelne, auf das Gegenwärtige, und das mit Recht, weil sie zu tun, zu
wirken berufen sind, die Weiber hingegen mehr auf das, was im Leben
zusammenhängt, und das mit gleichem Rechte, weil ihr Schicksal, das
Schicksal ihrer Familien an diesen Zusammenhang geknüpft ist und auch
gerade dieses Zusammenhängende von ihnen gefordert wird. Laß uns
deswegen einen Blick auf unser gegenwärtiges, auf unser vergangenes
Leben werfen, und du wirst mir eingestehen, daß die Berufung des
Hauptmannes nicht so ganz mit unsern Vorsätzen, unsern Planen, unsern
Einrichtungen zusammentrifft.

Mag ich doch so gern unserer frühsten Verhältnisse gedenken! Wir
liebten einander als junge Leute recht herzlich; wir wurden getrennt;
du von mir, weil dein Vater, aus nie zu sättigender Begierde des
Besitzes, dich mit einer ziemlich älteren, reichen Frau verband; ich
von dir, weil ich, ohne sonderliche Aussichten, einem wohlhabenden,
nicht geliebten, aber geehrten Manne meine Hand reichen mußte. Wir
wurden wieder frei; du früher, indem dich dein Mütterchen im Besitz
eines großen Vermögens ließ; ich später, eben zu der Zeit, da du von
Reisen zurückkamst. So fanden wir uns wieder. Wir freuten uns der
Erinnerung, wir liebten die Erinnerung, wir konnten ungestört
zusammenleben. Du drangst auf eine Verbindung; ich willigte nicht
gleich ein, denn da wir ungefähr von denselben Jahren sind, so bin ich
als Frau wohl älter geworden, du nicht als Mann. Zuletzt wollte ich dir
nicht versagen, was du für dein einziges Glück zu halten schienst. Du
wolltest von allen Unruhen, die du bei Hof, im Militär, auf Reisen
erlebt hattest, dich an meiner Seite erholen, zur Besinnung kommen, des
Lebens genießen; aber auch nur mit mir allein. Meine einzige Tochter
tat ich in Pension, wo sie sich freilich mannigfaltiger ausbildet, als
bei einem ländlichen Aufenthalte geschehen könnte; und nicht sie
allein, auch Ottilien, meine liebe Nichte, tat ich dorthin, die
vielleicht zur häuslichen Gehülfin unter meiner Anleitung am besten
herangewachsen wäre. Das alles geschah mit deiner Einstimmung, bloß
damit wir uns selbst leben, bloß damit wir das früh so sehnlich
gewünschte, endlich spät erlangte Glück ungestört genießen möchten. So
haben wir unsern ländlichen Aufenthalt angetreten. Ich übernahm das
Innere, du das Äußere und was ins Ganze geht. Meine Einrichtung ist
gemacht, dir in allem entgegenzukommen, nur für dich allein zu leben;
laß uns wenigstens eine Zeitlang versuchen, inwiefern wir auf diese
Weise miteinander ausreichen“.

„Da das Zusammenhängende, wie du sagst, eigentlich euer Element ist“,
versetzte Eduard, „so muß man euch freilich nicht in einer Folge reden
hören oder sich entschließen, euch recht zu geben; und du sollst auch
recht haben bis auf den heutigen Tag. Die Anlage, die wir bis jetzt zu
unserm Dasein gemacht haben, ist von guter Art; sollen wir aber nichts
weiter darauf bauen, und soll sich nichts weiter daraus entwickeln? Was
sich im Garten leiste, du im Park, soll das nur für Einsiedler getan
sein?“

„Recht gut!“ versetzte Charlotte, „recht wohl! Nur daß wir nichts
Hinderndes, Fremdes hereinbringen! Bedenke, daß unsre Vorsätze, auch
was die Unterhaltung betrifft, sich gewissermaßen nur auf unser
beiderseitiges Zusammensein bezogen. Du wolltest zuerst die Tagebücher
deiner Reise mir in ordentlicher Folge mitteilen, bei dieser
Gelegenheit so manches dahin Gehörige von Papieren in Ordnung bringen
und unter meiner Teilnahme, mit meiner Beihülfe aus diesen
unschätzbaren, aber verworrenen Heften und Blättern ein für uns und
andere erfreuliches Ganze zusammenstellen. Ich versprach, dir an der
Abschrift zu helfen, und wir dachten es uns so bequem, so artig, so
gemütlich und heimlich, die Welt, die wir zusammen nicht sehen sollten,
in der Erinnerung zu durchreisen. Ja, der Anfang ist schon gemacht.
Dann hast du die Abende deine Flöte wieder vorgenommen, begleitest mich
am Klavier; und an Besuchen aus der Nachbarschaft und in die
Nachbarschaft fehlt es uns nicht. Ich wenigstens habe mir aus allem
diesem den ersten wahrhaft fröhlichen Sommer zusammengebaut, den ich in
meinem Leben zu genießen dachte“.

„Wenn mir nur nicht“, versetzte Eduard, indem er sich die Stirne rieb,
„bei alle dem, was du mir so liebevoll und verständig wiederholst,
immer der Gedanke beiginge, durch die Gegenwart des Hauptmanns würde
nichts gestört, ja vielmehr alles beschleunigt und neu belebt. Auch er
hat einen Teil meiner Wanderungen mitgemacht; auch er hat manches, und
in verschiedenem Sinne, sich angemerkt: wir benutzten das zusammen, und
alsdann würde es erst ein hübsches Ganze werden“.

„So laß mich denn dir aufrichtig gestehen“, entgegnete Charlotte mit
einiger Ungeduld, „daß diesem Vorhaben mein Gefühl widerspricht, daß
eine Ahnung mir nichts Gutes weissagt“.

„Auf diese Weise wäret ihr Frauen wohl unüberwindlich“, versetzte
Eduard, „erst verständig, daß man nicht widersprechen kann, liebevoll,
daß man sich gern hingibt, gefühlvoll, daß man euch nicht weh tun mag,
ahnungsvoll, daß man erschrickt“.

„Ich bin nicht abergläubisch“, versetzte Charlotte, „und gebe nichts
auf diese dunklen Anregungen, insofern sie nur solche wären; aber es
sind meistenteils unbewußte Erinnerungen glücklicher und unglücklicher
Folgen, die wir an eigenen oder fremden Handlungen erlebt haben. Nichts
ist bedeutender in jedem Zustande als die Dazwischenkunft eines
Dritten. Ich habe Freunde gesehen, Geschwister, Liebende, Gatten, deren
Verhältnis durch den zufälligen oder gewählten Hinzutritt einer neuen
Person ganz und gar verändert, deren Lage völlig umgekehrt wurde“.

„Das kann wohl geschehen“, versetzte Eduard, „bei Menschen, die nur
dunkel vor sich hinleben, nicht bei solchen, die, schon durch Erfahrung
aufgeklärt, sich mehr bewußt sind“.

„Das Bewußtsein, mein Liebster“, entgegnete Charlotte, „ist keine
hinlängliche Waffe, ja manchmal eine gefährliche für den, der sie
führt; und aus diesem allen tritt wenigstens soviel hervor, daß wir uns
ja nicht übereilen sollen. Gönne mir noch einige Tage, entscheide
nicht!“

„Wie die Sache steht“, erwiderte Eduard, „werden wir uns auch nach
mehreren Tagen immer übereilen. Die Gründe für und dagegen haben wir
wechselsweise vorgebracht; es kommt auf den Entschluß an, und da wär es
wirklich das Beste, wir gäben ihn dem Los anheim“.

„Ich weiß“, versetzte Charlotte, „daß du in zweifelhaften Fällen gerne
wettest oder würfelst; bei einer so ernsthaften Sache hingegen würde
ich dies für einen Frevel halten“.

„Was soll ich aber dem Hauptmann schreiben?“ rief Eduard aus; „denn ich
muß mich gleich hinsetzen“.

„Einen ruhigen, vernünftigen, tröstlichen Brief“, sagte Charlotte.

„Das heißt soviel wie keinen“, versetzte Eduard.

„Und doch ist es in manchen Fällen“, versetzte Charlotte, „notwendig
und freundlich, lieber nichts zu schreiben, als nicht zu schreiben“.



Zweites Kapitel

Eduard fand sich allein auf seinem Zimmer, und wirklich hatte die
Wiederholung seiner Lebensschicksale aus dem Munde Charlottens, die
Vergegenwärtigung ihres beiderseitigen Zustandes, ihrer Vorsätze sein
lebhaftes Gemüt angenehm aufgeregt. Er hatte sich in ihrer Nähe, in
ihrer Gesellschaft so glücklich gefühlt, daß er sich einen
freundlichen, teilnehmenden, aber ruhigen und auf nichts hindeutenden
Brief an den Hauptmann ausdachte. Als er aber zum Schreibtisch ging und
den Brief des Freundes aufnahm, um ihn nochmals durchzulesen, trat ihm
sogleich wieder der traurige Zustand des trefflichen Mannes entgegen;
alle Empfindungen, die ihn diese Tage gepeinigt hatten, wachten wieder
auf, und es schien ihm unmöglich, seinen Freund einer so ängstlichen
Lage zu überlassen.

Sich etwas zu versagen, war Eduard nicht gewohnt. Von Jugend auf das
einzige, verzogene Kind reicher Eltern, die ihn zu einer seltsamen,
aber höchst vorteilhaften Heirat mit einer viel älteren Frau zu bereden
wußten, von dieser auch auf alle Weise verzärtelt, indem sie sein gutes
Betragen gegen sie durch die größte Freigebigkeit zu erwidern suchte,
nach ihrem baldigen Tode sein eigner Herr, auf Reisen unabhängig, jeder
Abwechslung, jeder Veränderung mächtig, nichts übertriebenes wollend,
aber viel und vielerlei wollend, freimütig, wohltätig, brav, ja tapfer
im Fall—was konnte in der Welt seinen Wünschen entgegenstehen!

Bisher war alles nach seinem Sinne gegangen, auch zum Besitz
Charlottens war er gelangt, den er sich durch eine hartnäckige, ja
romanenhafte Treue doch zuletzt erworben hatte; und nun fühlte er sich
zum erstenmal widersprochen, zum erstenmal gehindert, eben da er seinen
Jugendfreund an sich heranziehen, da er sein ganzes Dasein gleichsam
abschließen wollte. Er war verdrießlich, ungeduldig, nahm einigemal die
Feder und legte sie nieder, weil er nicht einig mit sich werden konnte,
was er schreiben sollte. Gegen die Wünsche seiner Frau wollte er nicht,
nach ihrem Verlangen konnte er nicht; unruhig wie er war, sollte er
einen ruhigen Brief schreiben; es wäre ihm ganz unmöglich gewesen. Das
Natürlichste war, daß er Aufschub suchte. Mit wenig Worten bat er
seinen Freund um Verzeihung, daß er diese Tage nicht geschrieben, daß
er heut nicht umständlich schreibe, und versprach für nächstens ein
bedeutenderes, ein beruhigendes Blatt.

Charlotte benutzte des andern Tags auf einem Spaziergang nach derselben
Stelle die Gelegenheit, das Gespräch wieder anzuknüpfen, vielleicht in
der Überzeugung, daß man einen Vorsatz nicht sicherer abstumpfen kann,
als wenn man ihn öfters durchspricht.

Eduarden war diese Wiederholung erwünscht. Er äußerte sich nach seiner
Weise freundlich und angenehm; denn wenn er, empfänglich wie er war,
leicht aufloderte, wenn sein lebhaftes Begehren zudringlich ward, wenn
seine Hartnäckigkeit ungeduldig machen konnte, so waren doch alle seine
Äußerungen durch eine vollkommene Schonung des andern dergestalt
gemildert, daß man ihn immer noch liebenswürdig finden mußte, wenn man
ihn auch beschwerlich fand.

Auf eine solche Weise brachte er Charlotten diesen Morgen erst in die
heiterste Laune, dann durch anmutige Gesprächswendungen ganz aus der
Fassung, sodaß sie zuletzt ausrief: „du willst gewiß, daß ich das, was
ich dem Ehemann versagte, dem Liebhaber zugestehen soll.

Wenigstens, mein Lieber“, fuhr sie fort, „sollst du gewahr werden, daß
deine Wünsche, die freundliche Lebhaftigkeit, womit du sie ausdrückst,
mich nicht ungerührt, mich nicht unbewegt lassen. Sie nötigen mich zu
einem Geständnis. Ich habe dir bisher auch etwas verborgen. Ich befinde
mich in einer ähnlichen Lage wie du und habe mir schon eben die Gewalt
angetan, die ich dir nun über dich selbst zumute“.

„Das hör ich gern“, sagte Eduard; „ich merke wohl, im Ehestand muß man
sich manchmal streiten, denn dadurch erfährt man was voneinander“.

„Nun sollst du also erfahren“, sagte Charlotte, „daß es mir mit
Ottilien geht, wie dir mit dem Hauptmann. Höchst ungern weiß ich das
liebe Kind in der Pension, wo sie sich in sehr drückenden Verhältnissen
befindet. Wenn Luciane, meine Tochter, die für die Welt geboren ist,
sich dort für die Welt bildet, wenn sie Sprachen, Geschichtliches und
was sonst von Kennntnissen ihr mitgeteilt wird, so wie ihre Noten und
Variationen vom Blatte wegspielt; wenn bei einer lebhaften Natur und
bei einem glücklichen Gedächtnis sie, man möchte wohl sagen, alles
vergißt und im Augenblicke sich an alles erinnert; wenn sie durch
Freiheit des Betragens, Anmut im Tanze, schickliche Bequemlichkeit des
Gesprächs sich vor allen auszeichnet und durch ein angebornes
herrschendes Wesen sich zur Königin des kleinen Kreises macht, wenn die
Vorsteherin dieser Anstalt sie als kleine Gottheit ansieht, die nun
erst unter ihren Händen recht gedeiht, die ihr Ehre machen, Zutrauen
erwerben und einen Zufluß von andern jungen Personen verschaffen wird,
wenn die ersten Seiten ihrer Briefe und Monatsberichte immer nur Hymnen
sind über die Vortrefflichkeit eines solchen Kindes, die ich denn recht
gut in meine Prose zu übersetzen weiß: so ist dagegen, was sie
schließlich von Ottilien erwähnt, nur immer Entschuldigung auf
Entschuldigung, daß ein übrigens so schön heranwachsendes Mädchen sich
nicht entwickeln, keine Fähigkeiten und keine Fertigkeiten zeigen
wolle. Das wenige, was sie sonst noch hinzufügt, ist gleichfalls für
mich kein Rätsel, weil ich in diesem lieben Kinde den ganzen Charakter
ihrer Mutter, meiner wertesten Freundin, gewahr werde, die sich neben
mir entwickelt hat und deren Tochter ich gewiß, wenn ich Erzieherin
oder Aufseherin sein könnte, zu einem herrlichen Geschöpf heraufbilden
wollte. Da es aber einmal nicht in unsern Plan geht und man an seinen
Lebensverhältnissen nicht soviel zupfen und zerren, nicht immer was
Neues an sie heranziehen soll, so trag ich das lieber, ja ich überwinde
die unangenehme Empfindung, wenn meine Tochter, welche recht gut weiß,
daß die arme Ottilie ganz von uns abhängt, sich ihrer Vorteile
übermütig gegen sie bedient und unsre Wohltat dadurch gewissermaßen
vernichtet. Doch wer ist so gebildet, daß er nicht seine Vorzüge gegen
andre manchmal auf eine grausame Weise geltend machte! Wer steht so
hoch, daß er unter einem solchen Druck nicht manchmal leiden müßte!
Durch diese Prüfungen wächst Ottiliens Wert; aber seitdem ich den
peinlichen Zustand recht deutlich einsehe, habe ich mir Mühe gegeben,
sie anderwärts unterzubringen. Stündlich soll mir eine Antwort kommen,
und alsdann will ich nicht zaudern. So steht es mit mir, mein Bester.
Du siehst, wir tragen beiderseits dieselben Sorgen in einem treuen,
freundschaftlichen Herzen. Laß sie uns gemeinsam tragen, da sie sich
nicht gegeneinander aufheben!“

„Wir sind wunderliche Menschen“, sagte Eduard lächelnd. „Wenn wir nur
etwas, das uns Sorge macht, aus unserer Gegenwart verbannen können, da
glauben wir schon, nun sei es abgetan. Im ganzen können wir vieles
aufopfern, aber uns im einzelnen herzugeben, ist eine Forderung, der
wir selten gewachsen sind. So war meine Mutter. Solange ich als Knabe
oder Jüngling bei ihr lebte, konnte sie der augenblicklichen
Besorgnisse nicht los werden. Verspätete ich mich bei einem Ausritt, so
mußte mir ein Unglück begegnet sein; durchnetzte mich ein Regenschauer,
so war das Fieber mir gewiß. Ich verreiste, ich entfernte mich von ihr,
und nun schien ich ihr kaum anzugehören.

Betrachten wir es genauer“, fuhr er fort, „so handeln wir beide töricht
und unverantwortlich, zwei der edelsten Naturen, die unser Herz so nahe
angehen, im Kummer und im Druck zu lassen, nur um uns keiner Gefahr
auszusetzen. Wenn dies nicht selbstsüchtig genannt werden soll, was
will man so nennen! Nimm Ottilien, laß mir den Hauptmann, und in Gottes
Namen sei der Versuch gemacht!“

„Es möchte noch zu wagen sein“, sagte Charlotte bedenklich, „wenn die
Gefahr für uns allein wäre. Glaubst du denn aber, daß es rätlich sei,
den Hauptmann mit Ottilien als Hausgenossen zu sehen, einen Mann
ohngefähr in deinen Jahren, in den Jahren—daß ich dir dieses
Schmeichelhafte nur gerade unter die Augen sage -, wo der Mann erst
liebefähig und erst der Liebe wert wird, und ein Mädchen von Ottiliens
Vorzügen?“

„Ich weiß doch auch nicht“, versetzte Eduard, „wie du Ottilien so hoch
stellen kannst! Nur dadurch erkläre ich mir’s, daß sie deine Neigung zu
ihrer Mutter geerbt hat. Hübsch ist sie, das ist wahr, und ich erinnere
mich, daß der Hauptmann mich auf sie aufmerksam machte, als wir vor
einem Jahre zurückkamen und sie mit dir bei einer Tante trafen. Hübsch
ist sie, besonders hat sie schöne Augen; aber ich wüßte doch nicht, daß
sie den mindesten Eindruck auf mich gemacht hätte“.

„Das ist löblich an dir“, sagte Charlotte, „denn ich war ja
gegenwärtig; und ob sie gleich viel jünger ist als ich, so hatte doch
die Gegenwart der ältern Freundin so viele Reize für dich, daß du über
die aufblühende, versprechende Schönheit hinaussahest. Es gehört auch
dies zu deiner Art zu sein, deshalb ich so gern das Leben mit dir
teile“.

Charlotte, so aufrichtig sie zu sprechen schien, verhehlte doch etwas.
Sie hatte nämlich damals dem von Reisen zurückkehrenden Eduard Ottilien
absichtlich vorgeführt, um dieser geliebten Pflegetochter eine so große
Partie zuzuwenden; denn an sich selbst in bezug auf Eduard dachte sie
nicht mehr. Der Hauptmann war auch angestiftet, Eduarden aufmerksam zu
machen; aber dieser, der seine frühe Liebe zu Charlotten hartnäckig im
Sinne behielt, sah weder rechts noch links und war nur glücklich in dem
Gefühl, daß es möglich sei, eines so lebhaft gewünschten und durch eine
Reihe von Ereignissen scheinbar auf immer versagten Gutes endlich doch
teilhaft zu werden.

Eben stand das Ehepaar im Begriff, die neuen Anlagen herunter nach dem
Schlosse zu gehen, als ein Bedienter ihnen hastig entgegenstieg und mit
lachendem Munde sich schon von unten herauf vernehmen ließ:“ kommen
Euer Gnaden doch ja schnell herüber! Herr Mittler ist in den Schloßhof
gesprengt. Er hat uns alle zusammengeschrieen, wir sollen sie
aufsuchen, wir sollen Sie fragen, ob es not tue. ‘Ob es not tut’, rief
er uns nach, ‘hört ihr? Aber geschwind, geschwind!’.

„Der drollige Mann!“ rief Eduard aus; „kommt er nicht gerade zur
rechten Zeit, Charlotte?“—„Geschwind zurück!“ befahl er dem Bedienten;
„sage ihm, es tue not, sehr not! Er soll nur absteigen. Versorgt sein
Pferd; führt ihn in den Saal, setzt ihm ein Frühstück vor! Wir kommen
gleich“.

„Laß uns den nächsten Weg nehmen!“ sagte er zu seiner Frau und schlug
den Pfad über den Kirchhof ein, den er sonst zu vermeiden pflegte.

Aber wie verwundert war er, als er fand, daß Charlotte auch hier für
das Gefühl gesorgt habe. Mit möglichster Schonung der alten Denkmäler
hatte sie alles so zu vergleichen und zu ordnen gewußt, daß es ein
angenehmer Raum erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft
gerne verweilten.

Auch dem ältesten Stein hatte sie seine Ehre gegönnt. Den Jahren nach
waren sie an der Mauer aufgerichtet, eingefügt oder sonst angebracht;
der hohe Sockel der Kirche selbst war damit vermannigfaltigt und
geziert. Eduard fühlte sich sonderbar überrascht, wie er durch die
kleine Pforte hereintrat: er drückte Charlotten die Hand, und im Auge
stand ihm eine Träne.

Aber der närrische Gast verscheuchte sie gleich. Denn dieser hatte
keine Ruh im Schloß gehabt, war spornstreichs durchs Dorf bis an das
Kirchhoftor geritten, wo er still hielt und seinen Freunden
entgegenrief: „Ihr habt mich doch nicht zum besten? Tuts wirklich not,
so bleibe ich zu Mittage hier. Haltet mich nicht auf! Ich habe heute
noch viel zu tun“.

„Da Ihr Euch so weit bemüht habt“, rief ihm Eduard entgegen, „so reitet
noch vollends herein; wir kommen an einem ernsthaften Orte zusammen;
und seht, wie schön Charlotte diese Trauer ausgeschmückt hat!“

„Hier herein“, rief der Reiter, „komm ich weder zu Pferde, noch zu
Wagen, noch zu Fuße. Diese da ruhen in Frieden, mit ihnen habe ich
nichts zu schaffen. Gefallen muß ich mirs lassen, wenn man mich einmal,
die Füße voran, hereinschleppt. Also ists Ernst?“

„Ja“, rief Charlotte, „recht Ernst! Es ist das erstemal, daß wir neuen
Gatten in Not und Verwirrung sind, woraus wir uns nicht zu helfen
wissen“.

„Ihr seht nicht darnach aus“, versetzte er, „doch will ichs glauben.
Führt ihr mich an, so laß ich euch künftig stecken. Folgt geschwinde
nach! Meinem Pferde mag die Erholung zugut kommen“.

Bald fanden sich die dreie im Saale zusammen; das Essen ward
aufgetragen, und Mittler erzählte von seinen heutigen Taten und
Vorhaben. Dieser seltsame Mann war früherhin Geistlicher gewesen und
hatte sich bei einer rastlosen Tätigkeit in seinem Amte dadurch
ausgezeichnet, daß er alle Streitigkeiten, sowohl die häuslichen als
die nachbarlichen, erst der einzelnen Bewohner, sodann ganzer Gemeinden
und mehrerer Gutsbesitzer zu stillen und zu schlichten wußte. Solange
er im Dienste war, hatte sich kein Ehepaar scheiden lassen, und die
Landeskollegien wurden mit keinen Händeln und Prozessen von dorther
behelliget. Wie nötig ihm die Rechtskunde sei, ward er zeitig gewahr.
Er warf sein ganzes Studium darauf und fühlte sich bald den
geschicktesten Advokaten gewachsen. Sein Wirkungskreis dehnte sich
wunderbar aus; und man war im Begriff, ihn nach der Residenz zu ziehen,
um das von oben herein zu vollenden, was er von unten herauf begonnen
hatte, als er einen ansehnlichen Lotteriegewinst tat, sich ein mäßiges
Gut kaufte, es verpachtete und zum Mittelpunkt seiner Wirksamkeit
machte, mit dem festen Vorsatz oder vielmehr nach alter Gewohnheit und
Neigung, in keinem Hause zu verweilen, wo nichts zu schlichten und
nichts zu helfen wäre. Diejenigen, die auf die Namensbedeutungen
abergläubisch sind, behaupten, der Name Mittler habe ihn genötigt,
diese seltsamste aller Bestimmungen zu ergreifen.

Der Nachtisch war aufgetragen, als der Gast seine Wirte ernstlich
vermahnte, nicht weiter mit ihren Entdeckungen zurückzuhalten, weil er
gleich nach dem Kaffee fort müsse. Die beiden Eheleute machten
umständlich ihre Bekenntnisse; aber kaum hatte er den Sinn der Sache
vernommen, als er verdrießlich vom Tische auffuhr, ans Fenster sprang
und sein Pferd zu satteln befahl.

„Entweder ihr kennt mich nicht“, rief er aus, „ihr steht mich nicht,
oder ihr seid sehr boshaft. Ist denn hier ein Streit? Ist denn hier
eine Hülfe nötig? Glaubt ihr, daß ich in der Welt bin, um Rat zu geben?
Das ist das dümmste Handwerk, das einer treiben kann. Rate sich jeder
selbst und tue, was er nicht lassen kann. Gerät es gut, so freue er
sich seiner Weisheit und seines Glücks; läufts übel ab, dann bin ich
bei der Hand. Wer ein Übel los sein will, der weiß immer, was er will;
wer was Bessers will, als er hat, der ist ganz starblind—ja ja! Lacht
nur—er spielt Blindekuh, er ertappts vielleicht; aber was? Tut, was ihr
wollt: es ist ganz einerlei! Nehmt die Freunde zu euch, laßt sie weg:
alles einerlei! Das Vernünftigste habe ich mißlingen sehen, das
Abgeschmackteste gelingen. Zerbrecht euch die Köpfe nicht, und wenns
auf eine oder die andre Weise übel abläuft, zerbrecht sie euch auch
nicht! Schickt nur nach mir, und euch soll geholfen werden. Bis dahin
euer Diener!“

Und so schwang er sich aufs Pferd, ohne den Kaffee abzuwarten.

„Hier siehst du“, sagte Charlotte, „wie wenig eigentlich ein Dritter
fruchtet, wenn es zwischen zwei nah verbundenen Personen nicht ganz im
Gleichgewicht steht. Gegenwärtig sind wir doch wohl noch verworrner und
ungewisser, wenns möglich ist, als vorher“.

Beide Gatten würden auch wohl noch eine Zeitlang geschwankt haben, wäre
nicht ein Brief des Hauptmanns im Wechsel gegen Eduards letzten
angekommen. Er hatte sich entschlossen, eine der ihm angebotenen
Stellen anzunehmen, ob sie ihm gleich keineswegs gemäß war. Er sollte
mit vornehmen und reichen Leuten die Langeweile teilen, indem man auf
ihn das Zutrauen setzte, daß er sie vertreiben würde.

Eduard übersah das ganze Verhältnis recht deutlich und malte es noch
recht scharf aus“. „Wollen wir unsern Freund in einem solchen Zustande
wissen?“ rief er. „Du kannst nicht so grausam sein, Charlotte!“

„Der wunderliche Mann, unser Mittler“, versetzte Charlotte, „hat am
Ende doch recht. Alle solche Unternehmungen sind Wagestücke. Was daraus
werden kann, sieht kein Mensch voraus. Solche neue Verhältnisse können
fruchtbar sein an Glück und an Unglück, ohne daß wir uns dabei
Verdienst oder Schuld sonderlich zurechnen dürfen. Ich fühle mich nicht
stark genug, dir länger zu widerstehen. Laß uns den Versuch machen! Das
einzige, was ich dich bitte: es sei nur auf kurze Zeit angesehen.
Erlaube mir, daß ich mich tätiger als bisher für ihn verwende und
meinen Einfluß, meine Verbindungen eifrig benutze und aufrege, ihm eine
Stelle zu verschaffen, die ihm nach seiner Weise einige Zufriedenheit
gewähren kann“.

Eduard versicherte seine Gattin auf die anmutigste Weise der
lebhaftesten Dankbarkeit. Er eilte mit freiem, frohem Gemüt, seinem
Freunde Vorschläge schriftlich zu tun. Charlotte mußte in einer
Nachschrift ihren Beifall eigenhändig hinzufügen, ihre
freundschaftlichen Bitten mit den seinen vereinigen. Sie schrieb mit
gewandter Feder gefällig und verbindlich, aber doch mit einer Art von
Hast, die ihr sonst nicht gewöhnlich war; und was ihr nicht leicht
begegnete, sie verunstaltete das Papier zuletzt mit einem Tintenfleck,
der sie ärgerlich machte und nur größer wurde, indem sie ihn wegwischen
wollte.

Eduard scherzte darüber, und weil noch Platz war, fügte er eine zweite
Nachschrift hinzu: der Freund solle aus diesen Zeichen die Ungeduld
sehen, womit er erwartet werde, und nach der Eile, womit der Brief
geschrieben, die Eilfertigkeit seiner Reise einrichten.

Der Bote war fort, und Eduard glaubte seine Dankbarkeit nicht
überzeugender ausdrücken zu können, als indem er aber—und abermals
darauf bestand, Charlotte solle zugleich Ottilien aus der Pension holen
lassen.

Sie bat um Aufschub und wußte diesen Abend bei Eduard die Lust zu einer
musikalischen Unterhaltung aufzuregen. Charlotte spielte sehr gut
Klavier, Eduard nicht ebenso bequem die Flöte; denn ob er sich gleich
zuzeiten viel Mühe gegeben hatte, so war ihm doch nicht die Geduld, die
Ausdauer verliehen, die zur Ausbildung eines solchen Talentes gehört.
Er führte deshalb seine Partie sehr ungleich aus, einige Stellen gut,
nur vielleicht zu geschwind; bei andern wieder hielt er an, weil sie
ihm nicht geläufig waren, und so wär es für jeden andern schwer
gewesen, ein Duett mit ihm durchzubringen. Aber Charlotte wußte sich
darein zu finden; sie hielt an und ließ sich wieder von ihm fortreißen
und versah also die doppelte Pflicht eines guten Kapellmeisters und
einer klugen Hausfrau, die im ganzen immer das Maß zu erhalten wissen,
wenn auch die einzelnen Passagen nicht immer im Takt bleiben sollten.



Drittes Kapitel

Der Hauptmann kam. Er hatte einen sehr verständigen Brief
vorausgeschickt, der Charlotten völlig beruhigte. Soviel Deutlichkeit
über sich selbst, soviel Klarheit über seinen eigenen Zustand, über den
Zustand seiner Freunde gab eine heitere und fröhliche Aussicht.

Die Unterhaltungen der ersten Stunden waren, wie unter Freunden zu
geschehen pflegt, die sich eine Zeitlang nicht gesehen haben, lebhaft,
ja fast erschöpfend. Gegen Abend veranlaßte Charlotte einen Spaziergang
auf die neuen Anlagen. Der Hauptmann gefiel sich sehr in der Gegend und
bemerkte jede Schönheit, welche durch die neuen Wege erst sichtbar und
genießbar geworden. Er hatte ein geübtes Auge und dabei ein genügsames;
und ob er gleich das Wünschenswerte sehr wohl kannte, machte er doch
nicht, wie es öfters zu geschehen pflegt, Personen, die ihn in dem
Ihrigen herumführten, dadurch einen üblen Humor, daß er mehr verlangte,
als die Umstände zuließen, oder auch wohl gar an etwas Vollkommneres
erinnerte, das er anderswo gesehen.

Als sie die Mooshütte erreichten, fanden sie solche auf das lustige
ausgeschmückt, zwar nur mit künstlichen Blumen und Wintergrün, doch
darunter so schöne Büschel natürlichen Weizens und anderer Feld—und
Baumfrüchte angebracht, daß sie dem Kunstsinn der Anordnenden zur Ehre
gereichten. „Obschon mein Mann nicht liebt, daß man seinen Geburts-
oder Namenstag feire, so wird er mir doch heute nicht verargen, einem
dreifachen Feste diese wenigen Kränze zu widmen“.

„Ein dreifaches?“ rief Eduard. „Ganz gewiß!“ versetzte Charlotte;
„unseres Freundes Ankunft behandeln wir billig als ein Fest; und dann
habt ihr beide wohl nicht daran gedacht, daß heute euer Namenstag ist.
Heißt nicht einer Otto so gut als der andere?“

Beide Freunde reichten sich die Hände über den kleinen Tisch. „Du
erinnerst mich“, sagte Eduard, „an dieses jugendliche
Freundschaftsstück.—Als Kinder hießen wir beide so; doch als wir in der
Pension zusammenlebten und manche Irrung daraus entstand, so trat ich
ihm freiwillig diesen hübschen, lakonischen Namen ab“.

„Wobei du denn doch nicht gar zu großmütig warst“, sagte der Hauptmann.
„Denn ich erinnere mich recht wohl, daß dir der Name Eduard besser
gefiel, wie er denn auch, von angenehmen Lippen ausgesprochen, einen
besonders guten Klang hat“.

Nun saßen sie also zu dreien um dasselbe Tischchen, wo Charlotte so
eifrig gegen die Ankunft des Gastes gesprochen hatte. Eduard in seiner
Zufriedenheit wollte die Gattin nicht an jene Stunden erinnern, doch
enthielt er sich nicht zu sagen: „für ein Viertes wäre auch noch recht
gut Platz“.

Waldhörner ließen sich in diesem Augenblick vom Schloß herüber
vernehmen, bejahten gleichsam und bekräftigten die guten Gesinnungen
und Wünsche der beisammen verweilenden Freunde. Stillschweigend hörten
sie zu, indem jedes in sich selbst zurückkehrte und sein eigenes Glück
in so schöner Verbindung doppelt empfand.

Eduard unterbrach die Pause zuerst, indem er aufstand und vor die
Mooshütte hinaustrat. „Laß uns“, sagte er zu Charlotten, „den Freund
gleich völlig auf die Höhe führen, damit er nicht glaube, dieses
beschränkte Tal nur sei unser Erbgut und Aufenthalt; der Blick wird
oben freier und die Brust erweitert sich“.

„So müssen wir diesmal noch“, versetzte Charlotte, „den alten, etwas
beschwerlichen Fußpfad erklimmen; doch, hoffe ich, sollen meine Stufen
und Steige nächstens bequemer bis ganz hinauf leiten“.

Und so gelangte man denn über Felsen, durch Busch und Gesträuch zur
letzten Höhe, die zwar keine Fläche, doch fortlaufende, fruchtbare
Rücken bildete. Dorf und Schloß hinterwärts waren nicht mehr zu sehen.
In der Tiefe erblickte man ausgebreitete Teiche, drüben bewachsene
Hügel, an denen sie sich hinzogen, endlich steile Felsen, welche
senkrecht den letzten Wasserspiegel entschieden begrenzten und ihre
bedeutenden Formen auf der Oberfläche desselben abbildeten. Dort in der
Schlucht, wo ein starker Bach den Teichen zufiel, lag eine Mühle halb
versteckt, die mit ihren Umgebungen als ein freundliches Ruheplätzchen
erschien. Mannigfaltig wechselten im ganzen Halbkreise, den man
übersah, Tiefen und Höhen, Büsche und Wälder, deren erstes Grün für die
Folge den füllereichsten Anblick versprach. Auch einzelne Baumgruppen
hielten an mancher Stelle das Auge fest. Besonders zeichnete zu den
Füßen der schauenden Freunde sich eine Masse Pappeln und Platanen
zunächst an dem Rande des mittleren Teiches vorteilhaft aus. Sie stand
in ihrem besten Wachstum, frisch, gesund, empor und in die Breite
strebend.

Eduard lenkte besonders auf diese die Aufmerksamkeit seines Freundes.
„Diese habe ich“, rief er aus, „in meiner Jugend selbst gepflanzt. Es
waren junge Stämmchen, die ich rettete, als mein Vater, bei der Anlage
zu einem neuen Teil des großen Schloßgartnens, sie mitten im Sommer
ausroden ließ. Ohne Zweifel werden sie auch dieses Jahr sich durch neue
Triebe wieder dankbar hervortun“.

Man kehrte zufrieden und heiter zurück. Dem Gaste ward auf dem rechten
Flügel des Schlosses ein freundliches, geräumiges Quartier angewiesen,
wo er sehr bald Bücher, Papiere und Instrumente aufgestellt und
geordnet hatte, um in seiner gewohnten Tätigkeit fortzufahren. Aber
Eduard ließ ihm in den ersten Tagen keine Ruhe; er führte ihn überall
herum, bald zu Pferde, bald zu Fuße, und machte ihn mit der Gegend, mit
dem Gute bekannt; wobei er ihm zugleich die Wünsche mitteilte, die er
zu besserer Kenntnis und vorteilhafterer Benutzung desselben seit
langer Zeit bei sich hegte.

„Das erste, was wir tun sollten“, sagte der Hauptmann, „wäre, daß ich
die Gegend mit der Magnetnadel aufnähme. Es ist das ein leichtes,
heiteres Geschäft, und wenn es auch nicht die größte Genauigkeit
gewährt, so bleibt es doch immer nützlich und für den Anfang
erfreulich; auch kann man es ohne große Beihülfe leisten und weiß
gewiß, daß man fertig wird. Denkst du einmal an eine genauere
Ausmessung, so läßt sich dazu wohl auch noch Rat finden“.

Der Hauptmann war in dieser Art des Aufnehmens sehr geübt. Er hatte die
nötige Gerätschaft mitgebracht und fing sogleich an. Er unterrichtete
Eduarden, einige Jäger und Bauern, die ihm bei dem Geschäft behülflich
sein sollten. Die Tage waren günstig; die Abende und die frühsten
Morgen brachte er mit Aufzeichnen und Schraffieren zu. Schnell war auch
alles laviert und illuminiert, und Eduard sah seine Besitzungen auf das
deutlichste aus dem Papier wie eine neue Schöpfung hervorwachsen. Er
glaubte sie jetzt erst kennenzulernen, sie schienen ihm jetzt erst
recht zu gehören.

Es gab Gelegenheit, über die Gegend, über Anlagen zu sprechen, die man
nach einer solchen Übersicht viel besser zustande bringe, als wenn man
nur einzeln, nach zufälligen Eindrücken, an der Natur herumversuche.

„Das müssen wir meiner Frau deutlich machen“, sagte Eduard.

„Tue das nicht!“ versetzte der Hauptmann, der die Überzeugungen anderer
nicht gern mit den seinigen durchkreuzte, den die Erfahrung gelehrt
hatte, daß die Ansichten der Menschen viel zu mannigfaltig sind, als
daß sie, selbst durch die vernünftigsten Vorstellungen, auf Einen Punkt
versammelt werden könnten. „Tue es nicht!“ rief er, „sie dürfte leicht
irre werden. Es ist ihr wie allen denen, die sich nur aus Liebhaberei
mit solchen Dingen beschäftigen, mehr daran gelegen, daß sie etwas tue,
als daß etwas getan werde. Man tastet an der Natur, man hat Vorliebe
für dieses oder jenes Plätzchen; man wagt nicht, dieses oder jenes
Hindernis wegzuräumen, man ist nicht kühn genug, etwas aufzuopfern; man
kann sich voraus nicht vorstellen, was entstehen soll, man probiert, es
gerät, es mißrät, man verändert, verändert vielleicht, was man lassen
sollte, läßt, was man verändern sollte, und so bleibt es zuletzt immer
ein Stückwerk, das gefällt und anregt, aber nicht befriedigt“.

„Gesteh mir aufrichtig“, sagte Eduard, „du bist mit ihren Anlagen nicht
zufrieden“.

„Wenn die Ausführung den Gedanken erschöpfte, der sehr gut ist, so wäre
nichts zu erinnern. Sie hat sich mühsam durch das Gestein hinaufgequält
und quält nun jeden, wenn du willst, den sie hinaufführt. Weder
nebeneinander noch hintereinander schreitet man mit einer gewissen
Freiheit. Der Takt des Schrittes wird jeden Augenblick unterbrochen;
und was ließe sich nicht noch alles einwenden!“


„Wäre es denn leicht anders zu machen gewesen?“ fragte Eduard.

„Gar leicht“, versetzte der Hauptmann; „sie durfte nur die eine
Felsenecke, die noch dazu unscheinbar ist, weil sie aus kleinen Teilen
besteht, wegbrechen, so erlangte sie eine schön geschwungene Wendung
zum Aufstieg und zugleich überflüssige Steine, um die Stellen
heraufzumauern, wo der Weg schmal und verkrüppelt geworden wäre. Doch
sei dies im engsten Vertrauen unter uns gesagt; sie wird sonst irre und
verdrießlich. Auch muß man, was gemacht ist, bestehen lassen. Will man
weiter Geld und Mühe aufwenden, so wäre von der Mooshütte hinaufwärts
und über die Anhöhe noch mancherlei zu tun und viel Angenehmes zu
leisten“.

Hatten auf diese Weise die beiden Freunde am Gegenwärtigen manche
Beschäftigung, so fehlte es nicht an lebhafter und vergnüglicher
Erinnerung vergangener Tage, woran Charlotte wohl teilzunehmen pflegte.
Auch setzte man sich vor, wenn nur die nächsten Arbeiten erst getan
wären, an die Reisejournale zu gehen und auch auf diese Weise die
Vergangenheit hervorzurufen.

Übrigens hatte Eduard mit Charlotten allein weniger Stoff zur
Unterhaltung, besonders seitdem er den Tadel ihrer Parkanlagen, der ihm
so gerecht schien, auf dem Herzen fühlte. Lange verschwieg er, was ihm
der Hauptmann vertraut hatte; aber als er seine Gattin zuletzt
beschäftigt sah, von der Mooshütte hinauf zur Anhöhe wieder mit
Stüfchen und Pfädchen sich emporzuarbeiten, so hielt er nicht länger
zurück, sondern machte sie nach einigen Umschweifen mit seinen neuen
Einsichten bekannt.

Charlotte stand betroffen. Sie war geistreich genug, um schnell
einzusehen, daß jene recht hatten; aber das Getane widersprach, es war
nun einmal so gemacht; sie hatte es recht, sie hatte es wünschenswert
gefunden, selbst das Getadelte war ihr in jedem einzelnen Teile lieb;
sie widerstrebte der Überzeugung, sie verteidigte ihre kleine
Schöpfung, sie schalt auf die Männer, die gleich ins Weite und Große
gingen, aus einem Scherz, aus einer Unterhaltung gleich ein Werk machen
wollten, nicht an die Kosten denken, die ein erweiterter Plan durchaus
nach sich zieht. Sie war bewegt, verletzt, verdrießlich; sie konnte das
Alte nicht fahren lassen, das Neue nicht ganz abweisen; aber
entschlossen wie sie war, stellte sie sogleich die Arbeit ein und nahm
sich Zeit, die Sache zu bedenken und bei sich reif werden zu lassen.

Indem sie nun auch diese tätige Unterhaltung vermißte, da indes die
Männer ihr Geschäft immer geselliger betrieben und besonders die
Kunstgärten und Glashäuser mit Eifer besorgten, auch dazwischen die
gewöhnlichen ritterlichen Übungen fortsetzten, als Jagen, Pferdekaufen,
-tauschen, -bereiten und -einfahren, so fühlte sich Charlotte täglich
einsamer. Sie führte ihren Briefwechsel auch um des Hauptmanns willen
lebhafter, und doch gab es manche einsame Stunde. Desto angenehmer und
unterhaltender waren ihr die Berichte, die sie aus der Pensionsanstalt
erhielt.

Einem weitläufigen Briefe der Vorsteherin, welcher sich wie gewöhnlich
über der Tochter Fortschritte mit Behagen verbreitete, war eine kurze
Nachschrift hinzugefügt nebst einer Beilage von der Hand eines
männlichen Gehülfen am Institut, die wir beide mitteilen.

Nachschrift der Vorsteherin

„Von Ottilien, meine Gnädige, hätte ich eigentlich nur zu wiederholen,
was in meinen vorigen Berichten enthalten ist. Ich wüßte sie nicht zu
schelten, und doch kann ich nicht zufrieden mit ihr sein. Sie ist nach
wie vor bescheiden und gefällig gegen andere; aber dieses Zurücktreten,
diese Dienstbarkeit will mir nicht gefallen. Euer Gnaden haben ihr
neulich Geld und verschiedene Zeuge geschickt. Das erste hat sie nicht
angegriffen, die andern liegen auch noch da, unberührt. Sie hält
freilich ihre Sachen sehr reinlich und gut und scheint nur in diesem
Sinn die Kleider zu wechseln. Auch kann ich ihre große Mäßigkeit im
Essen und Trinken nicht loben. An unserm Tisch ist kein Überfluß; doch
sehe ich nichts lieber, als wenn die Kinder sich an schmackhaften und
gesunden Speisen satt essen. Was mit Bedacht und Überzeugung
aufgetragen und vorgelegt ist, soll auch aufgegessen werden. Dazu kann
ich Ottilien niemals bringen. Ja, sie macht sich irgendein Geschäft, um
eine Lücke auszufüllen, wo die Dienerinnen etwas versäumen, nur um eine
Speise oder den Nachtisch zu übergehen. Bei diesem allen kommt jedoch
in Betrachtung, daß sie manchmal, wie ich erst spät erfahren habe,
Kopfweh auf der linken Seite hat, das zwar vorübergeht, aber
schmerzlich und bedeutend sein mag. Soviel von diesem übrigens so
schönen und lieben Kinde“.

Beilage des Gehülfen

„Unsere vortreffliche Vorsteherin läßt mich gewöhnlich die Briefe
lesen, in welchen sie Beobachtungen über ihre Zöglinge den Eltern und
Vorgesetzten mitteilt. Diejenigen, die an Euer Gnaden gerichtet sind,
lese ich immer mit doppelter Aufmerksamkeit, mit doppeltem Vergnügen;
denn indem wir Ihnen zu einer Tochter Glück zu wünschen haben, die alle
jene glänzenden Eigenschaften vereinigt, wodurch man in der Welt
emporsteigt, so muß ich wenigstens Sie nicht minder glücklich preisen,
daß Ihnen in Ihrer Pflegetochter ein Kind beschert ist, das zum Wohl,
zur Zufriedenheit anderer und gewiß auch zu seinem eigenen Glück
geboren ward. Ottilie ist fast unser einziger Zögling, über den ich mit
unserer so verehrten Vorsteherin nicht einig werden kann. Ich verarge
dieser tätigen Frau keinesweges, daß sie verlangt, man soll die Früchte
ihrer Sorgfalt äußerlich und deutlich sehen; aber es gibt auch
verschlossene Früchte, die erst die rechten, kernhaften sind und die
sich früher oder später zu einem schönen Leben entwickeln. Dergleichen
ist gewiß Ihre Pflegetochter. Solange ich sie unterrichte, sehe ich sie
immer gleichen Schrittes gehen, langsam, langsam vorwärts, nie zurück.
Wenn es bei einem Kinde nötig ist, vom Anfange anzufangen, so ist es
gewiß bei ihr. Was nicht aus dem Vorhergehenden folgt, begreift sie
nicht. Sie steht unfähig, ja stöckisch vor einer leicht faßlichen
Sache, die für sie mit nichts zusammenhängt. Kann man aber die
Mittelglieder finden und ihr deutlich machen, so ist ihr das Schwerste
begreiflich.

Bei diesem langsamen Vorschreiten bleibt sie gegen ihre Mitschülerinnen
zurück, die mit ganz andern Fähigkeiten immer vorwärtseilen, alles,
auch das Unzusammenhängende, leicht fassen, leicht behalten und bequem
wieder anwenden. So lernt sie, so vermag sie bei einem beschleunigten
Lehrvortrage gar nichts; wie es der Fall in einigen Stunden ist, welche
von trefflichen, aber raschen und ungeduldigen Lehrern gegeben werden.
Man hat über ihre Handschrift geklagt, über ihre Unfähigkeit, die
Regeln der Grammatik zu fassen. Ich habe diese Beschwerde näher
untersucht: es ist wahr, sie schreibt langsam und steif, wenn man so
will, doch nicht zaghaft und ungestalt. Was ich ihr von der
französischen Sprache, die zwar mein Fach nicht ist, schrittweise
mitteilte, begriff sie leicht. Freilich ist es wunderbar: sie weiß
vieles und recht gut; nur wenn man sie fragt, scheint sie nichts zu
wissen.

Soll ich mit einer allgemeinen Bemerkung schließen, so möchte ich
sagen: sie lernt nicht als eine, die erzogen werden soll, sondern als
eine, die erziehen will; nicht als Schülerin, sondern als künftige
Lehrerin. Vielleicht kommt es Euer Gnaden sonderbar vor, daß ich selbst
als Erzieher und Lehrer jemanden nicht mehr zu loben glaube, als wenn
ich ihn für meinesgleichen erkläre. Euer Gnaden bessere Einsicht,
tiefere Menschen- und Weltkenntnis wird aus meinen beschränkten,
wohlgemeinten Worten das Beste nehmen. Sie werden sich Überzeugen, daß
auch an diesem Kinde viel Freude zu hoffen ist. Ich empfehle mich zu
Gnaden und bitte um die Erlaubnis, wieder zu schreiben, sobald ich
glaube, daß mein Brief etwas Bedeutendes und Angenehmes enthalten
werde“.

Charlotte freute sich über dieses Blatt. Sein Inhalt traf ganz nahe mit
den Vorstellungen zusammen, welche sie von Ottilien hegte; dabei konnte
sie sich eines Lächelns nicht enthalten, indem der Anteil des Lehrers
herzlicher zu sein schien, als ihn die Einsicht in die Tugenden eines
Zöglings hervorzubringen pflegt. Bei ihrer ruhigen, vorurteilsfreien
Denkweise ließ sie auch ein solches Verhältnis, wie so viele andre, vor
sich liegen; die Teilnahme des verständigen Mannes an Ottilien hielt
sie wert; denn sie hatte in ihrem Leben genugsam einsehen gelernt, wie
hoch jede wahre Neigung zu schätzen sei in einer Welt, wo
Gleichgültigkeit und Abneigung eigentlich recht zu Hause sind.



Viertes Kapitel

Die topographische Karte, auf welcher das Gut mit seinen Umgebungen
nach einem ziemlich großen Maßstabe charakteristisch und faßlich durch
Federstriche und Farben dargestellt war und welche der Hauptmann durch
einige trigonometrische Messungen sicher zu gründen wußte, war bald
fertig; denn weniger Schlaf als dieser tätige Mann bedurfte kaum
jemand, so wie sein Tag stets dem augenblicklichen Zwecke gewidmet und
deswegen jederzeit am Abende etwas getan war.

„Laß uns nun“, sagte er zu seinem Freunde, „an das Übrige gehen, an die
Gutsbeschreibung, wozu schon genugsame Vorarbeit da sein muß, aus der
sich nachher Pachtanschläge und anderes schon entwickeln werden. Nur
Eines laß uns festsetzen und einrichten: trenne alles, was eigentlich
Geschäft ist, vom Leben! Das Geschäft verlangt Ernst und Strenge, das
Leben Willkür; das Geschäft die reinste Folge, dem Leben tut eine
Inkonsequenz oft not, ja sie ist liebenswürdig und erheiternd. Bist du
bei dem einen sicher, so kannst du in dem andern desto freier sein,
anstatt daß bei einer Vermischung das Sichre durch das Freie
weggerissen und aufgehoben wird“.

Eduard fühlte in diesen Vorschlägen einen leisen Vorwurf. Zwar von
Natur nicht unordentlich, konnte er doch niemals dazu kommen, seine
Papiere nach Fächern abzuteilen. Das, was er mit andern abzutun hatte,
was bloß von ihm selbst abhing, es war nicht geschieden, so wie er auch
Geschäfte und Beschäftigung, Unterhaltung und Zerstreuung nicht
genugsam voneinander absonderte. Jetzt wurde es ihm leicht, da ein
Freund diese Bemühung übernahm, ein zweites Ich die Sonderung bewirkte,
in die das eine Ich nicht immer sich spalten mag.

Sie errichteten auf dem Flügel des Hauptmanns eine Repositur für das
Gegenwärtige, ein Archiv für das Vergangene, schafften alle Dokumente,
Papiere, Nachrichten aus verschiedene Behältnissen, Kammern, Schränken
und Kisten herbei, und auf das geschwindeste war der Wust in eine
erfreuliche Ordnung gebracht, lag rubriziert in bezeichneten Fächern.
Was man wünschte, ward vollständiger gefunden, als man gehofft hatte.
Hierbei ging ihnen ein alter Schreiber sehr an die Hand, der den Tag
über, ja einen Teil der nicht vom Pulte kam und mit dem Eduard bisher
immer unzufrieden gewesen war.

„Ich kenne ihn nicht mehr“, sagte Eduard zu seinem Freund, „wie tätig
und brauchbar der Mensch ist“. „Das macht“, versetzte der Hauptmann,
„wir tragen ihm nichts Neues auf, als bis er das Alte nach seiner
Bequemlichkeit vollendet hat; und so leistet er, wie du siehst, sehr
viel; sobald man ihn stört, vermag er gar nichts“.

Brachten die Freunde auf diese Weise ihre Tage zusammen zu, so
versäumten sie abends nicht, Charlotten regelmäßig zu besuchen. Fand
sich keine Gesellschaft von benachbarten Orten und Gütern, welches
öfters geschah, so war das Gespräch wie das Lesen meist solchen
Gegenständen gewidmet, welche den Wohlstand, die Vorteile und das
Behagen der bürgerlichen Gesellschaft vermehren.

Charlotte, ohnehin gewohnt, die Gegenwart zu nutzen, fühlte sich, indem
sie ihren Mann zufrieden sah, auch persönlich gefördert. Verschiedene
häusliche Anstalten, die sie längst gewünscht, aber nicht recht
einleiten können, wurden durch die Tätigkeit des Hauptmanns bewirkt.
Die Hausapotheke, die bisher nur aus wenigen Mitteln bestanden, ward
bereichert und Charlotte so wohl durch faßliche Bücher als durch
Unterredung in den Stand gesetzt, ihr tätiges und hülfreiches Wesen
öfter und wirksamer als bisher in Übung zu bringen.

Da man auch die gewöhnlichen und dessen ungeachtet nur zu oft
überraschenden Notfälle durchdachte, so wurde alles, was zur Rettung
der Ertrunkenen nötig sein möchte, um so mehr angeschafft, als bei der
Nähe so mancher Teiche, Gewässer und Wasserwerke öfters ein und der
andere Unfall dieser Art vorkam. Diese Rubrik besorgte der Hauptmann
sehr ausführlich, und Eduarden entschlüpfte die Bemerkung, daß ein
solcher Fall in dem Leben seines Freundes auf die seltsamste Weise
Epoche gemacht. Doch als dieser schwieg und einer traurigen Erinnerung
auszuweichen schien, hielt Eduard gleichfalls an, so wie auch
Charlotte, die nicht weniger im allgemeinen davon unterrichtet war,
über jene Äußerungen hinausging.

„Wie wollen alle diese vorsorglichen Anstalten loben“, sagte eines
Abends der Hauptmann; „nun geht uns aber das Notwendigste noch ab, ein
tüchtiger Mann, der das alles zu handhaben weiß. Ich kann hiezu einen
mir bekannten Feldchirurgus vorschlagen, der jetzt um leidliche
Bedingung zu haben ist, ein vorzüglicher Mann in seinem Fache, und der
mir auch in Behandlung heftiger innerer Übel öfters mehr Genüge getan
hat als ein berühmter Arzt; und augenblickliche Hülfe ist doch immer
das, was auf dem Lande am meisten vermißt wird“.

Auch dieser wurde sogleich verschrieben, und beide Gatten freuten sich,
daß sie so manche Summe, die ihnen zu willkürlichen Ausgaben
übrigblieb, auf die nötigsten zu verwenden Anlaß gefunden.

So benutzte Charlotte die Kenntnisse, die Tätigkeit des Hauptmanns auch
nach ihrem Sinne und fing an, mit seiner Gegenwart völlig zufrieden und
über alle Folgen beruhigt zu werden. Sie bereitete sich gewöhnlich vor,
manches zu fragen, und da sie gern leben mochte, so suchte sie alles
Schädliche, alles Tödliche zu entfernen. Die Bleiglasur der
Töpferwaren, der Grünspan kupferner Gefäße hatte ihr schon manche Sorge
gemacht. Sie ließ sich hierüber belehren, und natürlicherweise mußte
man auf die Grundbegriffe der Physik und Chemie zurückgehen.

Zufälligen, aber immer willkommenen Anlaß zu solchen Unterhaltungen gab
Eduards Neigung, der Gesellschaft vorzulesen. Er hatte eine sehr
wohlklingende, tiefe Stimme und war früher wegen lebhafter, gefühlter
Rezitation dichterischer und rednerischer Arbeiten angenehm und berühmt
gewesen. Nun waren es andre Gegenstände, die ihn beschäftigten, andre
Schriften, woraus er vorlas, und eben seit einiger Zeit vorzüglich
Werke physischen, chemischen und technischen Inhalts.

Eine seiner besondern Eigenheiten, die er jedoch vielleicht mit mehrern
Menschen teilt, war die, daß es ihm unerträglich fiel, wenn jemand ihm
beim Lesen in das Buch sah. In früherer Zeit, beim Vorlesen von
Gedichten, Schauspielen, Erzählungen, war es die natürliche Folge der
lebhaften Absicht, die der Vorlesende so gut als der Dichter, der
Schauspieler, der Erzählende hat, zu überraschen, Pausen zu machen,
Erwartungen zu erregen; da es denn freilich dieser beabsichtigten
Wirkung sehr zuwider ist, wenn ihm ein Dritter wissentlich mit den
Augen vorspringt. Er pflegte sich auch deswegen in solchem Falle immer
so zu setzen, daß er niemand im Rücken hatte. Jetzt zu dreien war diese
Vorsicht unnötig; und da es diesmal nicht auf Erregung des Gefühls, auf
Überraschung der Einbildungskraft angesehen war, so dachte er selbst
nicht daran, sich sonderlich in acht zu nehmen.

Nur eines Abends fiel es ihm auf, als er sich nachlässig gesetzt hatte,
daß Charlotte ihm in das Buch sah. Seine alte Ungeduld erwachte, und er
verwies es ihr, gewissermaßen unfreundlich: „wollte man sich doch
solche Unarten, wie so manches andre, was der Gesellschaft lästig ist,
ein für allemal abgewöhnen! Wenn ich jemand vorlese, ist es denn nicht,
als wenn ich ihm mündlich etwas vortrüge? Das Geschriebene, das
Gedruckte tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes, meines eigenen
Herzens; und würde ich mich wohl zu reden bemühen, wenn ein Fensterchen
vor meiner Stirn, vor meiner Brust angebracht wäre, so daß der, dem ich
meine Gedanken einzeln zuzählen, meine Empfindungen einzeln zureichen
will, immer schon lange vorher wissen könnte, wo es mit mir hinaus
wollte? Wenn mir jemand ins Buch sieht, so ist mir immer, als wenn ich
in zwei Stücke gerissen würde“.

Charlotte, deren Gewandtheit sich in größeren und kleineren Zirkeln
besonders dadurch bewies, daß sie jede unangenehme, jede heftige, ja
selbst nur lebhafte Äußerung zu beseitigen, ein sich verlängerndes
Gespräch zu unterbrechen, ein stockendes anzuregen wußte, war auch
diesmal von ihrer guten Gabe nicht verlassen:“ du wirst mir meinen
Fehler gewiß verzeihen, wenn ich bekenne, was mir diesen Augenblick
begegnet ist. Ich hörte von Verwandtschaften lesen, und da dacht ich
eben gleich an meine Verwandten, an ein paar Vettern, die mir gerade in
diesem Augenblick zu schaffen machen. Meine Aufmerksamkeit kehrt zu
deiner Vorlesung zurück; ich höre, daß von ganz leblosen Dingen die
Rede ist, und blicke dir ins Buch, um mich wieder zurechtzufinden“.

„Es ist eine Gleichnisrede, die dich verführt und verwirrt hat“, sagte
Eduard. „Hier wird freilich nur von Erden und Mineralien gehandelt,
aber der Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich überall gern
selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter“.

„Jawohl!“ fuhr der Hauptmann fort; „so behandelt er alles, was er außer
sich findet; seine Weisheit wie seine Torheit, seinen Willen wie seine
Willkür leiht er den Tieren, den Pflanzen, den Elementen und den
Göttern“.

„Möchtet ihr mich“, versetzte Charlotte, „da ich euch nicht zu weit von
dem augenblicklichen Interesse wegführen will, nur kürzlich belehren,
wie es eigentlich hier mit den Verwandtschaften gemeint sei?“

„Das will ich wohl gerne tun“, erwiderte der Hauptmann, gegen den sich
Charlotte gewendet hatte, „freilich nur so gut, als ich es vermag, wie
ich es etwa vor zehn Jahren gelernt, wie ich es gelesen habe. Ob man in
der wissenschaftlichen Welt noch so darüber denkt, ob es zu den neuern
Lehren paßt, wüßte ich nicht zu sagen“.

„Es ist schlimm genug“, rief Eduard, „daß man jetzt nichts mehr für
sein ganzes Leben lernen kann. Unsre Vorfahren hielten sich an den
Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt
alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen
wollen“.

„Wir Frauen“, sagte Charlotte, „nehmen es nicht so genau; und wenn ich
aufrichtig sein soll, so ist es mir eigentlich nur um den Wortverstand
zu tun; denn es macht in der Gesellschaft nichts lächerlicher, als wenn
man ein fremdes, ein Kunstwort falsch anwendet. Deshalb möchte ich nur
wissen, in welchem Sinne dieser Ausdruck eben bei diesen Gegenständen
gebraucht wird. Wie es wissenschaftlich damit zusammenhänge, wollen wir
den Gelehrten überlassen, die übrigens, wie ich habe bemerken können,
sich wohl schwerlich jemals vereinigen werden“.

„Wo fangen wir aber nun an, um am schnellsten in die Sache zu kommen?“
fragte Eduard nach einer Pause den Hauptmann, der, sich ein wenig
bedenkend, bald darauf erwiderte: „wenn es mir erlaubt ist, dem Scheine
nach weit auszuholen, so sind wir bald am Platze“.

„Sein Sie meiner ganzen Aufmerksamkeit versichert“, sagte Charlotte,
indem sie ihre Arbeit beseitelegte.

Und so begann der Hauptmann: „an allen Naturwesen, die wir gewahr
werden, bemerken wir zuerst, daß sie einen Bezug auf sich selbst haben.
Es klingt freilich wunderlich, wenn man etwas ausspricht, was sich
ohnehin versteht; doch nur indem man sich über das Bekannte völlig
verständig hat, kann man miteinander zum Unbekannten fortschreiten „.

„Ich dächte“, fiel ihm Eduard ein, „wir machten ihr und uns die Sache
durch Beispiele bequem. Stelle dir nur das Wasser, das Öl, das
Quicksilber vor, so wirst du eine Einigkeit, einen Zusammenhang ihrer
Teile finden. Diese Einung verlassen sie nicht, außer durch Gewalt oder
sonstige Bestimmung. Ist diese beseitigt, so treten sie gleich wieder
zusammen“.

„Ohne Frage“, sagte Charlotte beistimmend.

„Regentropfen vereinigen sich gern zu Strömen. Und schon als Kinder
spielen wir erstaunt mit dem Quecksilber, indem wir es in Kügelchen
trennen und es wieder zusammenlaufen lassen“.

„Und so darf ich wohl“, fügte der Hauptmann hinzu, „eines bedeutenden
Punktes im flüchtigen Vorbeigehen erwähnen, daß nämlich dieser völlig
reine, durch Flüssigkeit mögliche Bezug sich entschieden und immer
durch die Kugelgestalt auszeichnet. Der fallende Wassertropfen ist
rund; von den Quecksilberkügelchen haben Sie selbst gesprochen; ja ein
fallendes geschmolzenes Blei, wenn es Zeit hat, völlig zu erstarren,
kommt unten in Gestalt einer Kugel an“.

„Lassen Sie mich voreilen“, sagte Charlotte, „ob ich treffe, wo Sie
hinwollen. Wie jedes gegen sich selbst einen Bezug hat, so muß es auch
gegen andere ein Verhältnis haben“.

„Und das wird nach Verschiedenheit der Wesen verschieden sein“, fuhr
Eduard eilig fort. „Bald werden sie sich als Freunde und alte Bekannte
begegnen, die schnell zusammentreten, sich vereinigen, ohne aneinander
etwas zu verändern, wie sich Wein mit Wasser vermischt. Dagegen werden
andre fremd nebeneinander verharren und selbst durch mechanisches
Mischen und Reiben sich keinesweges verbinden; wie Öl und Wasser,
zusammengerüttelt, sich den Augenblick wieder auseinander sondert“.

„Es fehlt nicht viel“, sagte Charlotte, „so sieht man in diesen
einfachen Formen die Menschen, die man gekannt hat; besonders aber
erinnert man sich dabei der Sozietäten, in denen man lebte. Die meiste
Ähnlichkeit jedoch mit diesen seelenlosen Wesen haben die Massen, die
in der Welt sich einander gegenüberstellen, die Stände, die
Berufsbestimmungen, der Adel und der dritte Stand, der Soldat und der
Zivilist“.

„Und doch!“ versetzte Eduard; „wie diese durch Sitten und Gesetze
vereinbar sind, so gibt es auch in unserer chemischen Welt
Mittelglieder, dasjenige zu verbinden, was sich einander abweist“.

„So verbinden wir“, fiel der Hauptmann ein, „das Öl durch Laugensalz
mit dem Wasser“.

„Nur nicht zu geschwind mit Ihrem Vortrag!“ sagte Charlotte, „damit ich
zeigen kann, daß ich Schritt halte. Sind wir nicht hier schon zu den
Verwandtschaften gelangt?“

„Ganz richtig“, erwiderte der Hauptmann; „und wir werden sie gleich in
ihrer vollen Kraft und Bestimmtheit kennenlernen. Die jenigen Naturen,
die sich beim Zusammentreffen einander schnell ergreifen und
wechselseitig bestimmen, nennen wir verwandt. An den Alkalien und
Säuren, die, obgleich einander entgegengesetzt und vielleicht eben
deswegen, weil sie einander entgegengesetzt sind, sich am
entschiedensten suchen und fassen, sich modifizieren und zusammen einen
neuen Körper bilden, ist diese Verwandtschaft auffallend genug.
Gedenken wir nur des Kalks, der zu allen Säuren eine große Neigung,
eine entschiedene Vereinigungslust äußert! Sobald unser chemisches
Kabinett ankommt, wollen wir Sie verschiedene Versuche sehen lassen,
die sehr unterhaltend sind und einen bessern Begriff geben als Worte,
Namen und Kunstausdrücke“.

„Lassen Sie mich gestehen“, sagte Charlotte, „wenn Sie diese Ihre
wunderlichen Wesen verwandt nennen, so kommen sie mir nicht sowohl als
Blutsverwandte, vielmehr als Geistes- und Seelenverwandte vor. Auf eben
diese Weise können unter Menschen wahrhaft bedeutende Freundschaften
entstehen; denn entgegengesetzte Eigenschaften machen eine innigere
Vereinigung möglich. Und so will ich denn abwarten, was Sie mir von
diesen geheimnisvollen Wirkungen vor die Augen bringen werden. „Ich
will dich“, sagte sie, zu Eduard gewendet, „jetzt im Vorlesen nicht
weiter stören und, um so viel besser unterrichtet, deinen Vortrag mit
Aufmerksamkeit vernehmen“.

„Da du uns einmal aufgerufen hast“, versetzte Eduard, „so kommst du so
leicht nicht los; denn eigentlich sind die verwickelten Fälle die
interessantesten. Erst bei diesen lernt man die Grade der
Verwandtschaften, die nähern, stärkern, entferntern, geringern
Beziehungen kennen; die Verwandtschaften werden erst interessant, wenn
sie Scheidungen bewirken“.

„Kommt das traurige Wort“, rief Charlotte, „das man leider in der Welt
jetzt so oft hört, auch in der Naturlehre vor?“

„Allerdings!“ erwiderte Eduard. „Es war sogar ein bezeichnender
Ehrentitel der Chemiker, daß man sie Scheidekünstler nannte“.

„Das tut man also nicht mehr“, versetzte Charlotte, „und tut sehr wohl
daran. Das Vereinigen ist eine größere Kunst, ein größeres Verdienst.
Ein Einungskünstler wäre in jedem Fache der ganzen Welt
willkommen.—„Nun so laßt mich denn, weil ihr doch einmal im Zug seid,
ein paar solche Fälle wissen!“

„So schließen wir uns denn gleich“, sagte der Hauptmann, „an dasjenige
wieder an, was wir oben schon benannt und besprochen haben. Zum
Beispiel was wir Kalkstein nennen, ist eine mehr oder weniger reine
Kalkerde, innig mit einer zarten Säure verbunden, die uns in Luftform
bekannt geworden ist. Bringt man ein Stück solchen Steines in verdünnte
Schwefelsäure, so ergreift diese den Kalk und erscheint mit ihm als
Gips; jene zarte, luftige Säure hingegen entflieht. Hier ist eine
Trennung, eine neue Zusammensetzung entstanden, und man glaubt sich
nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft anzuwenden, weil
es wirklich aussieht, als wenn ein Verhältnis dem andern vorgezogen,
eins vor dem andern erwählt würde“.

„Verzeihen Sie mir“, sagte Charlotte, „wie ich dem Naturforscher
verzeihe; aber ich würde hier niemals eine Wahl, eher eine
Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum; denn es ist am Ende
vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht
Verhältnisse, wie sie Diebe macht; und wenn von Ihren Naturkörpern die
Rede ist, so scheint mir die Wahl bloß in den Händen des Chemikers zu
liegen, der diese Wesen zusammenbringt. Sind sie aber einmal beisammen,
dann gnade ihnen Gott! In dem gegenwärtigen Falle dauert mich nur die
arme Luftsäure, die sich wieder im Unendlichen herumtreiben muß“.

„Es kommt nur auf sie an“, versetzte der Hauptmann, „sich mit dem
Wasser zu verbinden und als Mineralquelle Gesunden und Kranken zur
Erquickung zu dienen“.

„Der Gips hat gut reden“, sagte Charlotte; „der ist nun fertig, ist ein
Körper, ist versorgt, anstatt daß jenes ausgetriebene Wesen noch manche
Not haben kann, bis es wieder unterkommt“.

„Ich müßte sehr irren“, sagte Eduard lächelnd, „oder es steckt eine
kleine Tücke hinter deinen Reden. Gesteh nur deine Schalkheit! Am Ende
bin ich in deinen Augen der Kalk, der vom Hauptmann, als einer
Schwefelsäure, ergriffen, deiner anmutigen Gesellschaft entzogen und in
einen refraktären Gips verwandelt wird“.

„Wenn das Gewissen“, versetzte Charlotte, „dich solche Betrachtungen
machen heißt, so kann ich ohne Sorge sein. Diese Gleichnisreden sind
artig und unterhaltend, und wer spielt nicht gern mit Ähnlichkeiten!
Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe über jene Elemente erhöht,
und wenn er hier mit den schönen Worten Wahl und Wahlverwandtschaft
etwas freigebig gewesen, so tut er wohl, wieder in sich selbst
zurückzukehren und den Wert solcher Ausdrücke bei diesem Anlaß recht zu
bedenken. Mir sind leider Fälle genug bekannt, wo eine innige,
unauflöslich scheinende Verbindung zweier Wesen durch gelegentlich
Zugesellung eines dritten aufgehoben und eins der erst so schön
verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben ward“.

„Da sind die Chemiker viel galanter“, sagte Eduard; „sie gesellen ein
viertes dazu, damit keines leer ausgehe“.

„Jawohl!“ versetzte der Hauptmann; „diese Fälle sind allerdings die
bedeutendsten und merkwürdigsten, wo man das Anziehen, das
Verwandtsein, dieses Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam übers Kreuz
wirklich darstellen kann, wo vier bisher je zwei zu zwei verbundene
Wesen, in Berührung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und
sich aufs neue verbinden. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in
diesem Fliehen und Suchen glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu
sehen; man traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu und
hält das Kunstwort ‘Wahlverwandtschaften’ für vollkommen
gerechtfertigt“.

„Beschreiben Sie mir einen solchen Fall!“ sagte Charlotte.

„Man sollte dergleichen“, versetzte der Hauptmann, „nicht mit Worten
abtun. Wie schon gesagt: sobald ich Ihnen die Versuche selbst zeigen
kann, wird alles anschaulicher und angenehmer werden. Jetzt müßte ich
Sie mit schrecklichen Kunstworten hinhalten, die Ihnen doch keine
Vorstellung gäben. Man muß diese tot scheinenden und doch zur Tätigkeit
innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit
Teilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen,
zerstören, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten
Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten
: dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und
Verstand zu, weil wir unsere Sinne kaum genügend fühlen, sie recht zu
beobachten, und unsre Vernunft kaum hinlänglich, sie zu fassen“.

„Ich leugne nicht“, sagte Eduard, „daß die seltsamen Kunstwörter
demjenigen, der nicht durch sinnliches Anschauen, durch Begriffe mit
ihnen versöhnt ist, beschwerlich, ja lächerlich werden müssen. Doch
könnten wir leicht mit Buchstaben einstweilen das Verhältnis
ausdrücken, wovon hier die Rede war“.

„Wenn Sie glauben, daß es nicht pedantisch aussieht“, versetzte der
Hauptmann, „so kann ich wohl in der Zeichensprache mich kürzlich
zusammenfassen. Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden
ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu
trennen; denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhält;
bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung: A wird sich zu C, C zu B
werfen, ohne daß man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer
sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe“.

„Nun denn!“ fiel Eduard ein; „bis wir alles dieses mit Augen sehen,
wollen wir diese Formel als Gleichnisrede betrachten, woraus wir uns
eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch ziehen. Du stellst das A vor,
Charlotte, und ich dein B; denn eigentlich hänge ich doch nur von dir
ab und folge dir wie dem A das B. Das C ist ganz deutlich der Kapitän,
der mich für diesmal dir einigermaßen entzieht. Nun ist es billig, daß,
wenn du nicht ins Unbestimmte entweichen sollst, dir für ein D gesorgt
werde, und das ist ganz ohne Frage das liebenswürdige Dämchen Ottilie,
gegen deren Annäherung du dich nicht länger verteidigen darfst“.

„Gut!“ versetzte Charlotte. „Wenn auch das Beispiel, wie mir scheint,
nicht ganz auf unsern Fall paßt, so halte ich es doch für ein Glück,
daß wir heute einmal völlig zusammentreffen und daß diese Natur- und
Wahlverwandtschaften unter uns eine vertrauliche Mitteilung
beschleunigen. Ich will es also nur gestehen, daß ich seit diesem
Nachmittage entschlossen bin, Ottilien zu berufen; denn meine bisherige
treue Beschließerin und Haushälterin wird abziehen, weil sie heiratet.
Dies wäre von meiner Seite und um meinetwillen; was mich um Ottiliens
willen bestimmt, das wirst du uns vorlesen. Ich will dir nicht ins
Blatt sehen, aber freilich ist mir der Inhalt schon bekannt. Doch ließ
nur, lies!“ Mit diesen Worten zog sie einen Brief hervor und reichte
ihn Eduarden.



 Fünftes Kapitel

Brief der Vorsteherin

„Euer Gnaden werden verzeihen, wenn ich mich heute ganz kurz fassen;
denn ich habe nach vollendeter öffentlicher Prüfung dessen, was wir im
vergangenen Jahr an unsern Zöglingen geleistet haben, an die sämtlichen
Eltern und Vorgesetzten den Verlauf zu melden; auch darf ich wohl kurz
sein, weil ich mit wenigem viel sagen kann. Ihre Fräulein Tochter hat
sich in jedem Sinne als die Erste bewiesen. Die beiliegenden Zeugnisse,
ihr eigner Brief, der die Beschreibung der Preise enthält, die ihr
geworden sind, und zugleich das Vergnügen ausdrückt, das sie über ein
so glückliches Gelingen empfindet, wird Ihnen zur Beruhigung, ja zur
Freude gereichen. Die meinige wird dadurch einigermaßen gemindert, daß
ich voraussehe, wir werden nicht lange mehr Ursache haben, ein so weit
vorgeschrittenes Frauenzimmer bei uns zurückzuhalten. Ich empfehle mich
zu Gnaden und nehme mir die Freiheit, nächstens meine Gedanken über
das, was ich am vorteilhaftesten für sie halte, zu eröffnen. Von
Ottilien schreibt mein freundlicher Gehülfe“.

Brief des Gehülfen

„Von Ottilien läßt mich unsre ehrwürdige Vorsteherin schreiben, teils
weil es ihr, nach ihrer Art zu denken, peinlich wäre, dasjenige, was zu
melden ist, zu melden, teils auch, weil sie selbst einer Entschuldigung
bedarf, die sie lieber mir in den Mund legen mag.

Da ich nur allzuwohl weiß, wie wenig die gute Ottilie das zu äußern
imstande ist, was in ihr liegt und was sie vermag, so war mir vor der
öffentlichen Prüfung einigermaßen bange, um so mehr, als überhaupt
dabei keine Vorbereitung möglich ist, und auch, wenn es nach der
gewöhnlichen Weise sein könnte, Ottilie auf den Schein nicht
vorzubereiten wäre. Der Ausgang hat meine Sorge nur zu sehr
gerechtfertigt; sie hat keinen Preis erhalten und ist auch unter denen,
die kein Zeugnis empfangen haben. Was soll ich viel sagen? Im Schreiben
hatten andere kaum so wohlgeformte Buchstaben, doch viel freiere Züge;
im Rechnen waren alle schneller, und an schwierige Aufgaben, welche sie
besser löst, kam es bei der Untersuchung nicht. Im Französischen
überparlierten und überexponierten sie manche; in der Geschichte waren
ihr Namen und Jahrzahlen nicht gleich bei der Hand; bei der Geographie
vermißte man Aufmerksamkeit auf die politische Einleitung. Zum
musikalischen Vortrag ihrer wenigen bescheidenen Melodien fand sich
weder Zeit noch Ruhe. Im Zeichnen hätte sie gewiß den Preis
davongetragen; ihre Umrisse waren rein und die Ausführung bei vieler
Sorgfalt geistreich. Leider hatte sie etwas zu Großes unternommen und
war nicht fertig geworden.

Als die Schülerinnen abgetreten waren, die Prüfenden zusammen Rat
hielten und uns Lehrern wenigstens einiges Wort dabei gönnten, merkte
ich wohl bald, daß von Ottilien gar nicht und, wenn es geschah, wo
nicht mit Mißbilligung, doch mit Gleichgültigkeit gesprochen wurde. Ich
hoffte, durch eine offne Darstellung ihrer Art zu sein einige Gunst zu
erregen, und wagte mich daran mit doppeltem Eifer, einmal, weil ich
nach meiner Überzeugung sprechen konnte, und sodann, weil ich mich in
jüngeren Jahren in eben demselben traurigen Fall befunden hatte. Man
hörte mich mit Aufmerksamkeit an; doch als ich geendigt hatte, sagte
mir der vorsitzende Prüfende zwar freundlich, aber lakonisch:
‘Fähigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertigkeiten werden.
Dies ist der Zweck aller Erziehung, dies ist die laute, deutliche
Absicht der Eltern und Vorgesetzten, die stille, nur halb bewußte der
Kinder selbst. Dies ist auch der Gegenstand der Prüfung, wobei zugleich
Lehrer und Schüler beurteilt werden. Aus dem, was wir von Ihnen
vernehmen, schöpfen wir gute Hoffnung von dem Kinde, und Sie sind
allerdings lobenswürdig, indem Sie auf die Fähigkeiten der Schülerinnen
genau achtgeben. Verwandeln Sie solche übers Jahr in Fertigkeiten, so
wird es Ihnen und Ihrer begünstigten Schülerin nicht an Beifall
mangeln.

‘In das, was hierauf folgte, hatte ich mich schon ergeben, aber ein
noch Übleres nicht befürchtet, das sich bald darauf zutrug. Unsere gute
Vorsteherin, die wie ein guter Hirte auch nicht eins von ihren
Schäfchen verloren oder, wie es hier der Fall war, ungeschmückt sehen
möchte, konnte, nachdem die Herren sich entfernt hatten, ihren Unwillen
nicht bergen und sagte zu Ottilien, die ganz ruhig, indem die andern
sich über ihre Preise freuten, am Fenster stand: ‘aber sagen Sie mir,
um ’s Himmels willen! Wie kann man so dumm aussehen, wenn man es nicht
ist?’ Ottilie versetzte ganz gelassen: ‘verzeihen Sie, liebe Mutter,
ich habe gerade heute wieder mein Kopfweh, und ziemlich stark’.—’Das
kann niemand wissen!’ Versetzte die sonst so teilnehmende Frau und
kehrte sich verdrießlich um.

Nun es ist wahr: niemand kann es wissen; denn Ottilie verändert das
Gesicht nicht, und ich habe auch nicht gesehen, daß sie einmal die Hand
nach dem Schlafe zu bewegt hätte.

Das war noch nicht alles. Ihre Fräulein Tochter, gnädige Frau, sonst
lebhaft und freimütig, war im Gefühl ihres heutigen Triumphs
ausgelassen und übermütig. Sie sprang mit ihren Preisen und Zeugnissen
in den Zimmern herum und schüttelte sie auch Ottilien vor dem Gesicht.
„Du bist heute schlecht gefahren!“ rief sie aus. Ganz gelassen
antwortete Ottilie: „es ist noch nicht der letzte Prüfungstag“.—„Und
doch wirst du immer die Letzte bleiben!“ rief das Fräulein und sprang
hinweg.

Ottilie schien gelassen für jeden andern, nur nicht für mich. Eine
innere, unangenehme, lebhafte Bewegung, der sie widersteht, zeigt sich
durch eine ungleiche Farbe des Gesichts. Die linke Wange wird auf einen
Augenblick rot, indem die rechte bleich wird. Ich sah dies Zeichen, und
meine Teilnehmung konnte sich nicht zurückhalten. Ich führte unsre
Vorsteherin beiseite, sprach ernsthaft mit ihr über die Sache. Die
treffliche Frau erkannte ihren Fehler. Wir berieten, wir besprachen uns
lange, und ohne deshalb weitläufiger zu sein, will ich Euer Gnaden
unsern Beschluß und unsre Bitte vortragen: Ottilien auf einige Zeit zu
sich zu nehmen. Die Gründe werden Sie sich selbst am besten entfalten.
Bestimmen Sie sich hiezu, so sage ich mehr über die Behandlung des
guten Kindes. Verläßt uns dann Ihre Fräulein Tochter, wie zu vermuten
steht, so sehen wir Ottilien mit Freuden zurückkehren.

Noch eins, das ich vielleicht in der Folge vergessen könnte: ich habe
nie gesehen, daß Ottilie etwas verlangt oder gar um etwas dringend
gebeten hätte. Dagegen kommen Fälle, wiewohl selten, daß sie etwas
abzulehnen sucht, was man von ihr fordert. Sie tut das mit einer
Gebärde, die für den, der den Sinn davon gefaßt hat, unwiderstehlich
ist. Sie drückt die flachen Hände, die sie in die Höhe hebt, zusammen
und führt sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwärts neigt
und den dringend Fordernden mit einem solchen Blick ansieht, daß er
gern von allem absteht, was er verlangen oder wünschen möchte. Sehen
Sie jemals diese Gebärde, gnädige Frau, wie es bei Ihrer Behandlung
nicht wahrscheinlich ist, so gedenken Sie meiner und schonen Ottilien“.

Eduard hatte diese Briefe vorgelesen, nicht ohne Lächeln und
Kopfschütteln. Auch konnte es an Bemerkungen über die Personen und über
die Lage der Sache nicht fehlen.

„Genug!“ rief Eduard endlich aus; „es ist entschieden, sie kommt! Für
dich wäre gesorgt, meine Liebe, und wir dürfen nun auch mit unserm
Vorschlag hervorrücken. Es wird höchst nötig, daß ich zu dem Hauptmann
auf den rechten Flügel hinüberziehe. Sowohl abends als morgens ist erst
die rechte Zeit, zusammen zu arbeiten. Du erhältst dagegen für dich und
Ottilien auf deiner Seite den schönsten Raum“.

Charlotte ließ sichs gefallen, und Eduard schilderte ihre künftige
Lebensart. Unter andern rief er aus: „es ist doch recht zuvorkommend
von der Nichte, ein wenig Kopfweh auf der linken Seite zu haben; ich
habe es manchmal auf der rechten. Trifft es zusammen und wir sitzen
gegeneinander, ich auf den rechten Ellbogen, sie auf den linken
gestützt und die Köpfe nach verschiedenen Seiten in die Hand gelegt, so
muß das ein Paar artige Gegenbilder geben“.

Der Hauptmann wollte das gefährlich finden. Eduard hingegen rief aus:
„nehmen Sie sich nur, lieber Freund, vor dem D in acht! Was sollte B
denn anfangen, wenn ihm C entrissen würde?“

„Nun, ich dächte doch“, versetzte Charlotte, „das verstünde sich von
selbst“.

„Freilich“, rief Eduard; „es kehrte zu seinem A zurück, zu seinem A und
O!“ rief er, indem er aufsprang und Charlotten fest an seine Brust
drückte.



Sechstes Kapitel

Ein Wagen, der Ottilien brachte, war angefahren. Charlotte ging ihr
entgegen; das liebe Kind eilte, sich ihr zu nähern, warf sich ihr zu
Füßen und umfaßte ihre Kniee.

„Wozu die Demütigung!“ sagte Charlotte, die einigermaßen verlegen war
und sie aufheben wollte. „Es ist so demütig nicht gemeint“, versetzte
Ottilie, die in ihrer vorigen Stellung blieb. „Ich mag mich nur so gern
jener Zeit erinnern, da ich noch nicht höher reichte als bis an Ihre
Kniee und Ihrer Liebe schon so gewiß war“.

Sie stand auf, und Charlotte umarmte sie herzlich. Sie ward den Männern
vorgestellt und gleich mit besonderer Achtung als Gast behandelt.
Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast. Sie schien aufmerksam
auf das Gespräch, ohne daß sie daran teilgenommen hätte.

Den andern Morgen sagte Eduard zu Charlotten: „es ist ein angenehmes,
unterhaltendes Mädchen“.

„Unterhaltend?“ versetzte Charlotte mit Lächeln;“ sie hat ja den Mund
noch nicht aufgetan“.

„So?“ erwiderte Eduard, indem er sich zu besinnen schien, „das wäre
doch wunderbar!“

Charlotte gab dem neuen Ankömmling nur wenig Winke, wie es mit dem
Hausgeschäfte zu halten sei. Ottilie hatte schnell die ganze Ordnung
eingesehen, ja, was noch mehr ist, empfunden. Was sie für alle, für
einen jeden insbesondre zu besorgen hatte, begriff sie leicht. Alles
geschah pünktlich. Sie wußte anzuordnen, ohne daß sie zu befehlen
schien, und wo jemand säumte, verrichtete sie das Geschäft gleich
selbst.

Sobald sie gewahr wurde, wieviel Zeit ihr übrigblieb, bat sie
Charlotten, ihre Stunden einteilen zu dürfen, die nun genau beobachtet
wurden. Sie arbeitete das Vorgesetzte auf eine Art, von der Charlotte
durch den Gehülfen unterrichtet war. Man ließ sie gewähren. Nur
zuweilen suchte Charlotte sie anzuregen. So schob sie ihr manchmal
abgeschriebene Federn unter, um sie auf einen freieren Zug der
Handschrift zu leiten; aber auch diese waren bald wieder scharf
geschnitten.

Die Frauenzimmer hatten untereinander festgesetzt, französisch zu
reden, wenn sie allein wären, und Charlotte beharrte um so mehr dabei,
als Ottilie gesprächiger in der fremden Sprache war, indem man ihr die
Übung derselben zur Pflicht gemacht hatte. Hier sagte sie oft mehr, als
sie zu wollen schien. Besonders ergetzte sich Charlotte an einer
zufälligen, zwar genauen, aber doch liebevollen Schilderung der ganzen
Pensionsanstalt. Ottilie ward ihr eine liebe Gesellschafterin, und sie
hoffte, dereinst an ihr eine zuverlässige Freundin zu finden.

Charlotte nahm indes die älteren Papiere wieder vor, die sich auf
Ottilien bezogen, um sich in Erinnerung zu bringen, was die
Vorsteherin, was der Gehülfe über das gute Kind geurteilt, um es mit
ihrer Persönlichkeit selbst zu vergleichen. Denn Charlotte war der
Meinung, man könne nicht geschwind genug mit dem Charakter der Menschen
bekannt werden, mit denen man zu leben hat, um zu wissen, was sich von
ihnen erwarten, was sich an ihnen bilden läßt, oder was man ihnen ein
für allemal zugestehen und verzeihen muß.

Sie fand zwar bei dieser Untersuchung nichts Neues, aber manches
Bekannte ward ihr bedeutender und auffallender. So konnte ihr zum
Beispiel Ottiliens Mäßigkeit im Essen und Trinken wirklich Sorge
machen.

Das Nächste, was die Frauen beschäftigte, war der Anzug. Charlotte
verlangte von Ottilien, sie solle in Kleidern reicher und mehr
ausgesucht erscheinen. Sogleich schnitt das gute, tätige Kind die ihr
früher geschenkten Stoffe selbst zu und wußte sie sich mit geringer
Beihülfe anderer schnell und höchst zierlich anzupassen. Die neuen,
modischen Gewänder erhöhten ihre Gestalt; denn indem das Angenehme
einer Person sich auch über ihre Hülle verbreitet, so glaubt man sie
immer wieder von neuem und anmutiger zu sehen, wenn sie ihre
Eigenschaften einer neuen Umgebung mitteilt.

Dadurch ward sie den Männern, wie von Anfang so immer mehr, daß wir es
nur mit dem rechten Namen nennen, ein wahrer Augentrost. Denn wenn der
Smaragd durch seine herrliche Farbe dem Gesicht wohltut, ja sogar
einige Heilkraft an diesem edlen Sinn ausübt, so wirkt die menschliche
Schönheit noch mit weit größerer Gewalt auf den äußern und innern Sinn.
Wer sie erblickt, den kann nichts Übles anwehen; er fühlt sich mit sich
selbst und mit der Welt in Übereinstimmung.

Auf manche Weise hatte daher die Gesellschaft durch Ottiliens Ankunft
gewonnen. Die beiden Freunde hielten regelmäßiger die Stunden, ja die
Minuten der Zusammenkünfte. Sie ließen weder zum Essen, noch zum Tee,
noch zum Spaziergang länger als billig auf sich warten. Sie eilten,
besonders abends, nicht so bald von Tische weg. Charlotte bemerkte das
wohl und ließ beide nicht unbeobachtet. Sie suchte zu erforschen, ob
einer vor dem andern hiezu den Anlaß gäbe; aber sie konnte keinen
Unterschied bemerken. Beide zeigten sich überhaupt geselliger. Bei
ihren Unterhaltungen schienen sie zu bedenken, was Ottiliens Teilnahme
zu erregen geeignet sein möchte, was ihren Einsichten, ihren übrigen
Kenntnissen gemäß wäre. Beim Lesen und Erzählen hielten sie inne, bis
sie wiederkam. Sie wurden milder und im ganzen mitteilender.

In Erwiderung dagegen wuchs die Dienstbeflissenheit Ottiliens mit jedem
Tage. Je mehr sie das Haus, die Menschen, die Verhältnisse
kennenlernte, desto lebhafter griff sie ein, desto schneller verstand
sie jeden Blicke, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut. Ihre
ruhige Aufmerksamkeit blieb sich immer gleich, so wie ihre gelassene
Regsamkeit. Und so war ihr Sitzen, Aufstehen, Gehen, Kommen, Holen,
Bringen, Wiederniedersitzen ohne einen Schein von Unruhe, ein ewiger
Wechsel, eine ewige angenehme Bewegung. Dazu kam, daß man sie nicht
gehen hörte; so leise trat sie auf.

Diese anständige Dienstfertigkeit Ottiliens machte Charlotten viele
Freude. Ein einziges, was ihr nicht ganz angemessen vorkam, verbarg sie
Ottilien nicht. „Es gehört“, sagte sie eines Tages zu ihr, „unter die
lobenswürdigen Aufmerksamkeiten, daß wir uns schnell bücken, wenn
jemand etwas aus der Hand fallen läßt, und es eilig aufzuheben suchen.
Wir bekennen uns dadurch ihm gleichsam dienstpflichtig; nur ist in der
größern Welt dabei zu bedenken, wenn man eine solche Ergebenheit
bezeigt. Gegen Frauen will ich dir darüber keine Gesetze vorschreiben.
Du bist jung. Gegen Höhere und Ältere ist es Schuldigkeit, gegen
deinesgleichen Artigkeit, gegen Jüngere und Niedere zeigt man sich
dadurch menschlich und gut; nur will es einem Frauenzimmer nicht wohl
geziemen, sich Männern auf diese Weise ergeben und dienstbar zu
bezeigen“.

„Ich will es mir abzugewöhnen suchen“, versetzte Ottilie. „Indessen
werden Sie mir diese Unschicklichkeit vergeben, wenn ich Ihnen sage,
wie ich dazu gekommen bin. Man hat uns die Geschichte gelehrt; ich habe
nicht soviel daraus behalten, als ich wohl gesollt hätte; denn ich
wußte nicht, wozu ichs brauchen würde. Nur einzelne Begebenheiten sind
mir sehr eindrücklich gewesen, so folgende:

als Karl der Erste von England von seinen sogenannten Richtern stand,
fiel der goldne Knopf des Stöckchens, das er trug, herunter. Gewohnt,
daß bei solchen Gelegenheiten sich alles für ihn bemühte, schien er
sich umzusehen und zu erwarten, daß ihm jemand auch diesmal den kleinen
Dienst erzeigen sollte. Es regte sich niemand; er bückte sich selbst,
um den Kopf aufzuheben. Mir kam das so schmerzlich vor, ich weiß nicht,
ob mit Recht, daß ich von jenem Augenblick an niemanden kann etwas aus
den Händen fallen sehn, ohne mich darnach zu bücken. Da es aber
freilich nicht immer schicklich sein mag und ich“, fuhr sie lächelnd
fort, „nicht jederzeit meine Geschichte erzählen kann, so will ich mich
künftig mehr zurückhalten“.

Indessen hatten die guten Anstalten, zu denen sich die beiden Freunde
berufen fühlten, ununterbrochenen Fortgang. Ja täglich fanden sie neuen
Anlaß, etwas zu bedenken und zu unternehmen.

Als sie eines Tages zusammen durch das Dorf gingen, bemerkten sie
mißfällig, wie weit es an Ordnung und Reinlichkeit hinter jenen Dörfern
zurückstehe, wo die Bewohner durch die Kostbarkeit des Raums auf beides
hingewiesen werden.

„Du erinnerst dich“, sagte der Hauptmann, „wie wir auf unserer Reise
durch die Schweiz den Wunsch äußerten, eine ländliche sogenannte
Parkanlage recht eigentlich zu verschönern, indem wir ein so gelegnes
Dorf nicht zur Schweizer Bauart, sondern zur Schweizer Ordnung und
Sauberkeit, welche die Benutzung so sehr befördern, einrichteten“.

„Hier zum Beispiel“, versetzte Eduard, „ginge das wohl an. Der
Schloßberg verläuft sich in einen vorspringenden Winkel herunter; das
Dorf ist ziemlich regelmäßig im Halbzirkel gegenüber gebaut; dazwischen
fließt der Bach, gegen dessen Anschwellen sich der eine mit Steinen,
der andere mit Pfählen, wieder einer mit Balken und der Nachbar sodann
mit Planken verwahren will, keiner aber den andern fördert, vielmehr
sich und den übrigen Schaden und Nachteil bringt. So geht der Weg auch
in ungeschickter Bewegung bald herauf, bald herab, bald durchs Wasser,
bald über Steine. Wollten die Leute mit Hand anlegen, so würde kein
großer Zuschuß nötig sein, um hier eine Mauer im Halbkreis aufzuführen,
den Weg dahinter bis an die Häuser zu erhöhen, den schönsten Raum
herzustellen, der Reinlichkeit Platz zu geben und durch eine ins Große
gehende Anstalt alle kleine, unzulängliche Sorge auf einmal zu
verbannen“.

„Laß es uns versuchen!“ sagte der Hauptmann, indem er die Lage mit den
Augen überlief und schnell beurteilte.

„Ich mag mit Bürgern und Bauern nichts zu tun haben, wenn ich ihnen
nicht geradezu befehlen kann“, versetzte Eduard.

„Du hast so unrecht nicht“, erwiderte der Hauptmann; „denn auch mir
machten dergleichen Geschäfte im Leben schon viel Verdruß. Wie schwer
ist es, daß der Mensch recht abwäge, was man aufopfern muß gegen das,
was zu gewinnen ist, wie schwer, den Zweck zu wollen und die Mittel
nicht zu verschmähen! Viele verwechseln gar die Mittel und den Zweck,
erfreuen sich an jenen, ohne diesen im Auge zu behalten. Jedes Übel
soll an der Stelle geheilt werden, wo es zum Vorschein kommt, und man
bekümmert sich nicht um jenen Punkt, wo es eigentlich seinen Ursprung
nimmt, woher es wirkt. Deswegen ist es so schwer, Rat zu pflegen,
besonders mit der Menge, die im Täglichen ganz verständig ist, aber
selten weiter sieht als auf morgen. Kommt nun gar dazu, daß der eine
bei einer gemeinsamen Anstalt gewinnen, der andre verlieren soll, da
ist mit Vergleich nun gar nichts auszurichten. Alles eigentlich
gemeinsame Gute muß durch das unumschränkte Mejestätsrecht gefördert
werden“.

Indem sie standen und sprachen, bettelte sie ein Mensch an, der mehr
frech als bedürftig aussah. Eduard, ungern unterbrochen und beunruhigt,
schalt ihn, nachdem er ihn einigemal vergebens gelassener abgewiesen
hatte. Als aber der Kerl sich murrend, ja gegenscheltend mit kleinen
Schritten entfernte, auf die Rechte des Bettlers trotzte, dem man wohl
ein Almosen versagen, ihn aber nicht beleidigen dürfe, weil er so gut
wie jeder andere unter dem Schutze Gottes und der Obrigkeit stehe, kam
Eduard ganz aus der Fassung.

Der Hauptmann, ihn zu begütigen, sagte darauf: „laß uns diesen Vorfall
als eine Aufforderung annehmen, unsere ländliche Polizei auch hierüber
zu erstrecken! Almosen muß man einmal geben; man tut aber besser, wenn
man sie nicht selbst gibt, besonders zu Hause. Da sollte man mäßig und
gleichförmig in allem sein, auch im Wohltun. Eine allzu reichliche Gabe
lockt Bettler herbei, anstatt sie abzufertigen, dagegen man wohl auf
der Reise, im Vorbeifliegen, einem Armen an der Straße in der Gestalt
des zufälligen Glücks erscheinen und ihm eine überraschende Gabe
zuwerfen mag. Uns macht die Lage des Dorfes, des Schlosses eine solche
Anstalt sehr leicht; ich habe schon früher darüber nachgedacht.

An dem einen Ende des Dorfes liegt das Wirtshaus, an dem andern wohnen
ein Paar alte, gute Leute; an beiden Orten mußt du eine kleine
Geldsumme niederlegen. Nicht der ins Dorf Hereingehende, sondern der
Hinausgehende erhält etwas; und da die beiden Häuser zugleich an den
Wegen stehen, die auf das Schloß führen, so wird auch alles, was sich
hinaufwenden wollte, an die beiden Stellen gewiesen“.

„Komm“, sagte Eduard, „wir wollen das gleich abmachen; das Genauere
können wir immer noch nachholen“.

Sie gingen zum Wirt und zu dem alten Paare, und die Sache war abgetan.

„Ich weiß recht gut“, sagte Eduard, indem sie zusammen den Schloßberg
wieder hinaufstiegen, „daß alles in der Welt ankommt auf einen
gescheiten Einfall und auf einen festen Entschluß. So hast du die
Parkanlagen meiner Frau sehr richtig beurteilt und mir auch schon einen
Wink zum Bessern gegeben, den ich ihr, wie ich gar nicht leugnen will,
sogleich mitgeteilt habe“.

„Ich konnte es vermuten“, versetzte der Hauptmann, „aber nicht
billigen. Du hast sie irregemacht; sie läßt alles liegen und trutzt in
dieser einzigen Sache mit uns; denn sie vermeidet davon zu reden und
hat uns nicht wieder zur Mooshütte eingeladen, ob sie gleich mit
Ottilien in den Zwischenstunden hinaufgeht“.

„Dadurch müssen wir uns“, versetzte Eduard, „nicht abschrecken lassen.
Wenn ich von etwas Gutem überzeugt bin, was geschehen könnte und
sollte, so habe ich keine Ruhe, bis ich es getan sehe. Sind wir doch
sonst klug, etwas einzuleiten! Laß uns die englischen
Parkbeschreibungen mit Kupfern zur Abendunterhaltung vornehmen, nachher
deine Gutskarte! Man muß es erst problematisch und nur wie zum Scherz
behandeln; der Ernst wird sich schon finden“.

Nach dieser Verabredung wurden die Bücher aufgeschlagen, worin man
jedesmal den Grundriß der Gegend und ihre landschaftliche Ansicht in
ihrem ersten, rohen Naturzustande gezeichnet sah, sodann auf andern
Blättern die Veränderung vorgestellt fand, welche die Kunst daran
vorgenommen, um alles das bestehende Gute zu nutzen und zu steigern.
Hievon war der Übergang zur eigenen Besitzung, zur eignen Umgebung und
zu dem, was man daran ausbilden könnte, sehr leicht.

Die von dem Hauptmann entworfene Karte zum Grunde zu legen, war nunmehr
eine angenehme Beschäftigung; nur konnte man sich von jener ersten
Vorstellung, nach der Charlotte die Sache einmal angefangen hatte,
nicht ganz losreißen. Doch erfand man einen leichtern Aufgang auf die
Höhe; man wollte oberwärts am Abhange vor einem angenehmen Hölzchen ein
Lustgebäude aufführen; dieses sollte einen Bezug aufs Schloß haben; aus
den Schloßfenstern sollte man es übersehen, von dorther Schloß und
Gärten wieder bestreichen können.

Der Hauptmann hatte alles wohl überlegt und gemessen und brachte jenen
Dorfweg, jene Mauer am Bache her, jene Ausfüllung wieder zur Sprache.
„Ich gewinne“, sagte er, „indem ich einen bequemen Weg zur Anhöhe
hinaufführe, gerade soviel Steine, als ich zu jener Mauer bedarf.
Sobald eins ins andre greift, wird beides wohlfeiler und geschwinder
bewerkstelligt“.

„Nun aber“, sagte Charlotte, „kommt meine Sorge. Notwendig muß etwas
Bestimmtes ausgesetzt werden; und wenn man weiß, wieviel zu einer
solchen Anlage erforderlich ist, dann teilt man es ein, wo nicht auf
Wochen, doch wenigstens auf Monate. Die Kasse ist unter meinem
Beschluß; ich zahle die Zettel, und die Rechnung führe ich selbst“.

„Du scheinst uns nicht sonderlich viel zu vertrauen“, sagte Eduard.

„Nicht viel in willkürlichen Dingen“, versetzte Charlotte. „Die Willkür
wissen wir besser zu beherrschen als ihr“.

Die Einrichtung war gemacht, die Arbeit rasch angefangen, der Hauptmann
immer gegenwärtig und Charlotte nunmehr fast täglich Zeuge seines
ernsten und bestimmten Sinnes. Auch er lernte sie näher kennen, und
beiden wurde es leicht, zusammenzuwirken und etwas zustande zu bringen.

Es ist mit den Geschäften wie mit dem Tanze: Personen, die gleichen
Schritt halten, müssen sich unentbehrlich werden, ein wechselseitiges
Wohlwollen muß notwendig daraus entspringen, und daß Charlotte dem
Hauptmann, seitdem sie ihn näher kennengelernt, wirklich wohlwollte,
davon war ein sicherer Beweis, daß sie ihn einen schönen Ruheplatz, den
sie bei ihren ersten Anlagen besonders ausgesucht und verziert hatte,
der aber seinem Plane entgegenstand, ganz gelassen zerstören ließ, ohne
auch nur die mindeste unangenehme Empfindung dabei zu haben.



Siebentes Kapitel

Indem nun Charlotte mit dem Hauptmann eine gemeinsame Beschäftigung
fand, so war die Folge, daß sich Eduard mehr zu Ottilien gesellte. Für
sie sprach ohnehin seit einiger Zeit eine stille, freundliche Neigung
in seinem Herzen. Gegen jedermann war sie dienstfertig und
zuvorkommend; daß sie es gegen ihn am meisten sei, das wollte seiner
Selbstliebe scheinen. Nun war keine Frage: was für Speisen und wie er
sie liebte, hatte sie schon genau bemerkt; wieviel er Zucker zum Tee zu
nehmen pflegte und was dergleichen mehr ist, entging ihr nicht.
Besonders war sie sorgfältig, alle Zugluft abzuwehren, gegen die er
eine übertriebene Empfindlichkeit zeigte und deshalb mit seiner Frau,
der es nicht luftig genug sein konnte, manchmal in Widerspruch geriet.
Ebenso wußte sie im Baum- und Blumengarten Bescheid. Was er wünschte,
suchte sie zu befördern, was ihn ungeduldig machen konnte, zu verhüten,
dergestalt daß sie in kurzem wie ein freundlicher Schutzgeist ihm
unentbehrlich ward und er anfing, ihre Abwesenheit schon peinlich zu
empfinden. Hiezu kam noch, daß sie gesprächtiger und offener schien,
sobald sie sich allein trafen.

Eduard hatte bei zunehmenden Jahren immer etwas Kindliches behalten,
das der Jugend Ottiliens besonders zusagte. Sie erinnerten sich gern
früherer Zeiten, wo sie einander gesehen; es stiegen diese Erinnerungen
bis in die ersten Epochen der Neigung Eduards zu Charlotten. Ottilie
wollte sich der beiden noch als des schönsten Hofpaares erinnern; und
wenn Eduard ihr ein solches Gedächtnis aus ganz früher Jugend absprach,
so behauptete sie doch, besonders einen Fall noch vollkommen
gegenwärtig zu haben, wie sie sich einmal bei seinem Hereintreten in
Charlottens Schoß versteckt, nicht aus Furcht, sondern aus kindischer
Überraschung. Sie hätte dazusetzen können: weil er so lebhaften
Eindruck auf sie gemacht, weil er ihr gar so wohl gefallen.

Bei solchen Verhältnissen waren manche Geschäfte, welche die beiden
Freunde zusammen früher vorgenommen, gewissermaßen in Stocken geraten,
sodaß sie für nötig fanden, sich wieder eine Übersicht zu verschaffen,
einige Aufsätze zu entwerfen, Briefe zu schreiben. Sie bestellten sich
deshalb auf ihre Kanzlei, wo sie den alten Kopisten müßig fanden. Sie
gingen an die Arbeit und gaben ihm bald zu tun, ohne zu bemerken, daß
sie ihm manches aufbürdeten, was sie sonst selbst zu verrichten gewohnt
waren. Gleich der erste Aufsatz wollte dem Hauptmann, gleich der erste
Brief Eduarden nicht gelingen. Sie quälten sich eine Zeitlang mit
Konzipieren und Umschreiben, bis endlich Eduard, dem es am wenigsten
vonstatten ging, nach der Zeit fragte.

Da zeigte sich denn, daß der Hauptmann vergessen hatte, seine
chronometrische Sekundenuhr aufzuziehen, das erstemal seit vielen
Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnen, daß die
Zeit anfange, ihnen gleichgültig zu werden.

Indem so die Männer einigermaßen in ihrer Geschäftigkeit nachließen,
wuchs vielmehr die Tätigkeit der Frauen. Überhaupt nimmt die
gewöhnliche Lebensweise einer Familie, die aus den gegebenen Personen
und aus notwendigen Umständen entspringt, auch wohl eine
außerordentliche Neigung, eine werdende Leidenschaft in sich wie ein
Gefäß auf, und es kann eine ziemliche Zeit vergehen, ehe dieses neue
Ingrediens eine merkliche Gärung verursacht und schäumend über den Rand
schwillt.

Bei unsern Freunden waren die entstehenden wechselseitigen Neigungen
von der angenehmsten Wirkung. Die Gemüter öffneten sich, und ein
allgemeines Wohlwollen entsprang aus dem besonderen. Jeder Teil fühlte
sich glücklich und gönnte dem andern sein Glück.

Ein solcher Zustand erhebt den Geist, indem er das Herz erweitert, und
alles, was man tut und vornimmt, hat eine Richtung gegen das
Unermeßliche. So waren auch die Freunde nicht mehr in ihrer Wohnung
befangen. Ihre Spaziergänge dehnten sich weiter aus, und wenn dabei
Eduard mit Ottilien, die Pfade zu wählen, die Wege zu bahnen,
vorauseilte, so folgte der Hauptmann mit Charlotten in bedeutender
Unterhaltung, Teilnehmend an manchem neuentdeckten Plätzchen, an
mancher unerwarteten Aussicht, geruhig der Spur jener rascheren
Vorgänger.

Eines Tages leitete sie ihr Spaziergang durch die Schloßpforte des
rechten Flügels hinunter nach dem Gasthofe, über die Brücke gegen die
Teiche zu, an denen sie hingingen, soweit man gewöhnlich das Wasser
verfolgte, dessen Ufer sodann, von einem buschigen Hügel und witerhin
von Felsen eingeschlossen, aufhörte, gangbar zu sein.

Aber Eduard, dem von seinen Jagdwanderungen her die Gegend bekannt war,
drang mit Ottilien auf einem bewachsenen Pfade weiter vor, wohl
wissend, daß die alte, zwischen Felsen versteckte Mühle nicht weit
abliegen konnte. Allein der wenig betretene Pfad verlor sich bald, und
sie fanden sich im dichten Gebüsch zwischen moosigen Gestein verirrt,
doch nicht lange; denn das Rauschen der Räder verkündigte ihnen
sogleich die Nähe des gesuchten Ortes.

Auf eine Klippe vorwärts tretend, sahen sie das alte, schwarze,
wunderliche Holzgebäude im Grunde vor sich, von steilen Felsen sowie
von hohen Bäumen umschattet. Sie entschlossen sich kurz und gut, über
Moos und Felstrümmer hinabzusteigen, Eduard voran; und wenn er nun in
die Höhe sah und Ottilie leicht schreitend, ohne Furcht und
Ängstlichkeit, im schönsten Gleichgewicht von Stein zu Stein ihm
folgte, glaubte er ein himmlisches Wesen zu sehen, das über ihm
schwebte. Und wenn sie nun manchmal an unsicherer Stelle seine
ausgestreckte Hand ergriff, ja sich auf seine Schulter stützte, dann
konnte er sich nicht verleugnen, daß es das zarteste weibliche Wesen
sei, das ihn berührte. Fast hätte er gewünscht, sie möchte straucheln,
gleiten, daß er sie in seine Arme auffangen, sie an sein Herz drücken
könnte. Doch dies hätte er unter keiner Bedingung getan, aus mehr als
einer Ursache: er fürchtete sie zu beleidigen, sie zu beschädigen.

Wie dies gemeint sei, erfahren wir sogleich. Denn als er nun
herabgelangt, ihr unter den hohen Bäumen am ländlichen Tische
gegenübersaß, die freundliche Müllerin nach Milch, der bewillkommende
Müller Charlotten und dem Hauptmann entgegen gesandt war, fing Eduard
mit einigem Zaudern zu sprechen an:

„ich habe eine Bitte, liebe Ottilie; verzeihen Sie mir die, wenn Sie
mir sie auch versagen! Sie machen kein Geheimnis daraus, und es braucht
es auch nicht, daß Sie unter Ihrem Gewand, auf Ihrer Brust ein
Miniaturbild tragen. Es ist das Bild Ihres Vaters, des braven Mannes,
den Sie kaum gekannt und der in jedem Sinne eine Stelle an Ihrem Herzen
verdient. Aber vergeben Sie mir: das Bild ist ungeschickt groß, und
dieses Metall, dieses Glas macht mir tausend Ängste, wenn Sie ein Kind
in die Höhe heben, etwas vor sich hintragen, wenn die Kutsche schwankt,
wenn wir durchs Gebüsch dringen, eben jetzt, wie wir vom Felsen
herabstiegen. Mir ist die Möglichkeit schrecklich, daß irgendein
unvorgesehener Stoß, ein Fall, eine Berührung Ihnen schädlich und
verderblich sein könnte. Tun Sie es mir zuliebe, entfernen Sie das
Bild, nicht aus Ihrem Andenken, nicht aus Ihrem Zimmer; ja geben Sie
ihm den schönsten, den heiligsten Ort Ihrer Wohnung; nur von Ihrer
Brust entfernen Sie etwas, dessen Nähe mir, vielleicht aus
übertriebener Ängstlichkeit, so gefährlich scheint!“

Ottilie schwieg und hatte, während er sprach, vor sich hingesehen;
dann, ohne Übereilung und ohne Zaudern, mit einem Blick mehr gen Himmel
als auf Eduard gewendet, löste sie die Kette, zog das Bild hervor,
drückte es gegen ihre Stirn und reichte es dem Freunde hin mit den
Worten: „heben Sie mir es auf, bis wir nach Hause kommen! Ich vermag
Ihnen nicht besser zu bezeugen, wie sehr ich Ihre freundliche Sorgfalt
zu schätzen weiß“.

Der Freund wagte nicht, das Bild an seine Lippen zu drücken, aber er
faßte ihre Hand und drückte sie an seine Augen. Es waren vielleicht die
zwei schönsten Hände, die sich jemals zusammenschlossen. Ihm war, als
wenn ihm ein Stein vom Herzen gefallen wäre, als wenn sich eine
Scheidewand zwischen ihm und Ottilien niedergelegt hätte.

Vom Müller geführt, langten Charlotte und der Hauptmann auf einem
bequemeren Pfade herunter. Man begrüßte sich, man erfreute und
erquickte sich. Zurück wollte man denselben Weg nicht kehren, und
Eduard schlug einen Felspfad auf der andern Seite des Baches vor, auf
welchem die Teiche wieder zu Gesicht kamen, indem man ihn mit einiger
Anstrengung zurücklegte. Nun durchstrich man abwechselndes Gehölz und
erblickte nach dem Lande zu mancherlei Dörfer, Flecken, Meiereien mit
ihren grünen und fruchtbaren Umgebungen; zunächst ein Vorwerk, das an
der Höhe mitten im Holze gar vertraulich lag. Am schönsten zeigte sich
der größte Reichtum der Gegend, vor- und rückwärts, auf der
sanfterstiegenen Höhe, von da man zu einem lustigen Wäldchen gelangte
und beim Heraustreten aus demselben sich auf dem Felsen dem Schlosse
gegenüber befand.

Wie froh waren sie, als sie daselbst gewissermaßen unvermutet ankamen!
Sie hatten eine kleine Welt umgangen; sie standen auf dem Platze, wo
das neue Gebäude hinkommen sollte, und sahen wieder in die Fenster
ihrer Wohnung.

Man stieg zur Mooshütte hinunter und saß zum erstenmal darin zu vieren.
Nichts war natürlicher, als daß einstimmig der Wunsch ausgesprochen
wurde, dieser heutige Weg, den sie langsam und nicht ohne
Beschwerlichkeit gemacht, möchte dergestalt geführt und eingerichtet
werden, daß man ihn gesellig, schlendernd und mit Behaglichkeit
zurücklegen könnte. Jedes tat Vorschläge, und man berechnete, daß der
Weg, zu welchem sie mehrere Stunden gebraucht hatten, wohlgebahnt in
einer Stunde zum Schloß zurückführen müßte. Schon legte man in Gedanken
unterhalb der Mühle, wo der Bach in die Teiche fließt, eine
wegverkürzende und die Landschaft zierende Brücke an, als Charlotte der
erfindenden Einbildungskraft einigen Stillstand gebot, indem sie an die
Kosten erinnerte, welche zu einem solchen Unternehmen erforderlich sein
würden.

„Hier ist auch zu helfen“, versetzte Eduard. „Jenes Vorwerk im Walde,
das so schön zu liegen scheint und so wenig einträgt, dürfen wir nur
veräußern und das daraus Gelöste zu diesen Anlagen verwenden, so
genießen wir vergnüglich auf einem unschätzbaren Spaziergange die
Interessen eines wohlangelegten Kapitals, da wir jetzt mit Mißmut, bei
letzter Berechnung am Schlusse des Jahrs, eine kümmerliche Einnahme
davon ziehen“.

Charlotte selbst konnte als gute Haushälterin nicht viel dagegen
erinnern. Die Sache war schon früher zur Sprache gekommen. Nun wollte
der Hauptmann einen Plan zu Zerschlagung der Grundstücke unter die
Waldbauern machen; Eduard aber wollte kürzer und bequemer verfahren
wissen. Der gegenwärtige Pachter, der schon Vorschläge getan hatte,
sollte es erhalten, terminweise zahlen, und so terminweise wollte man
die planmäßigen Anlagen von Strecke zu Strecke vornehmen.

So eine vernünftige, gemäßigte Einrichtung mußte durchaus Beifall
finden, und schon sah die ganze Gesellschaft im Geiste die neuen Wege
sich schlängeln, auf denen und in deren Nähe man noch die angenehmsten
Ruhe- und Aussichtsplätze zu entdecken hoffte.

Um sich alles mehr im einzelnen zu vergegenwärtigen, nahm man abends zu
Hause sogleich die neue Karte vor. Man übersah den zurückgelegten Weg
und wie er vielleicht an einigen Stellen noch vorteilhafter zu führen
wäre. Alle früheren Vorsätze wurden nochmals durchgesprochen und mit
den neuesten Gedanken verbunden, der Platz des neuen Hauses gegen dem
Schloß über nochmals gebilligt und der Kreislauf der Wege bis dahin
abgeschlossen.

Ottilie hatte zu dem allen geschwiegen, als Eduard zuletzt den Plan,
der bisher vor Charlotten gelegen, vor sie hinwandte und sie zugleich
einlud, ihre Meinung zu sagen, und, als sie einen Augenblick anhielt,
sie liebevoll ermunterte, doch ja nicht zu schweigen; alles sei ja noch
gleichgültig, alles noch im Werden.

„Ich würde“, sagte Ottilie, indem sie den Finger auf die höchste Fläche
der Anhöhe setzte, „das Haus hieher bauen. Man sähe zwar das Schloß
nicht, denn es wird von dem Wäldchen bedeckt; aber man befände sich
auch dafür wie in einer andern und neuen Welt, indem zugleich das Dorf
und alle Wohnungen verborgen wären. Die Aussicht auf die Teiche, nach
der Mühle, auf die Höhen, in die Gebirge, nach dem Lande zu ist
außerordentlich schön; ich habe es im Vorbeigehen bemerkt“.

„Sie hat recht!“ rief Eduard. „Wie konnte uns das nicht einfallen!
Nicht wahr, so ist es gemeint, Ottilie?“—er nahm einen Bleistift und
strich ein längliches Viereck recht stark und derb auf die Anhöhe.

Dem Hauptmann fuhr das durch die Seele, denn er sah einen sorgfältigen,
reinlich gezeichneten Plan ungern auf diese Weise verunstaltet; doch
faßte er sich nach einer leisen Mißbilligung und ging auf den Gedanken
ein. „Ottilie hat recht“, sagte er; „macht man nicht gern eine
entfernte Spazierfahrt, um einen Kaffee zu trinken, einen Fisch zu
genießen, der uns zu Hause nicht so gut geschmeckt hätte? Wir verlangen
Abwechselung und fremde Gegenstände. Das Schloß haben die Alten mit
Vernunft hieher gebaut, denn es liegt geschützt vor den Winden und nah
an allen täglichen Bedürfnissen; ein Gebäude hingegen, mehr zum
geselligen Aufenthalt als zur Wohnung, wird sich dorthin recht wohl
schicken und in der guten Jahrszeit die angenehmsten Stunden gewähren“.

Je mehr man die Sache durchsprach, desto günstiger erschien sie, und
Eduard konnte seinen Triumph nicht bergen, daß Ottilie den Gedanken
gehabt. Er war so stolz darauf, als ob die Erfindung sein gewesen wäre.



Achtes Kapitel

Der Hauptmann untersuchte gleich am frühsten Morgen den Platz, entwarf
erst einen flüchtigen und, als die Gesellschaft an Ort und Stelle sich
nochmals entschieden hatte, einen genauen Riß nebst Anschlag und allem
Erforderlichen. Es fehlte nicht an der nötigen Vorbereitung. Jenes
Geschäft wegen Verkauf des Vorwerks ward auch sogleich wieder
angegriffen. Die Männer fanden zusammen neuen Anlaß zur Tätigkeit.

Der Hauptmann machte Eduarden bemerklich, daß es eine Artigkeit, ja
wohl gar eine Schuldigkeit sei, Charlottens Geburtstag durch Legung des
Grundsteins zu feiern. Es bedurfte nicht viel, die alte Abneigung
Eduards gegen solche Feste zu überwinden; denn es kam ihm schnell in
den Sinn, Ottiliens Geburtstag, der später fiel, gleichfalls recht
feierlich zu begehen.

Charlotte, der die neuen Anlagen, und was deshalb geschehen sollte,
bedeutend, ernstlich, ja fast bedenklich vorkamen, beschäftigte sich
damit, die Anschläge, Zeit- und Geldeinteilungen nochmals für sich
durchzugehen. Man sah sich des Tages weniger, und mit desto mehr
Verlangen suchte man sich des Abends auf.

Ottilie war indessen schon völlig Herrin des Haushaltes, und wie konnte
es anders sein bei ihrem stillen und sichern Betragen. Auch war ihre
ganze Sinnesweise dem Hause und dem Häuslichen mehr als der Welt, mehr
als dem Leben im Freien zugewendet. Eduard bemerkte bald, daß sie
eigentlich nur aus Gefälligkeit in die Gegend mitging, daß sie nur aus
geselliger Pflicht abends länger draußen verweilte, auch wohl manchmal
einen Vorwand häuslicher Tätigkeit suchte, um wieder hineinzugehen.
Sehr bald wußte er daher die gemeinschaftlichen Wanderungen so
einzurichten, daß man vor Sonnenuntergang wieder zu Hause war, und fing
an, was er lange unterlassen hatte, Gedichte vorzulesen, solche
besonders, in deren Vortrag der Ausdruck einer reinen, doch
leidenschaftlichen Liebe zu legen war.

Gewöhnlich saßen sie abends um einen kleinen Tisch auf hergebrachten
Plätzen: Charlotte auf dem Sofa, Ottilie auf einem Sessel gegen ihr
über, und die Männer nahmen die beiden andern Seiten ein. Ottilie saß
zu Eduarden zur Rechten, wohin er auch das Licht schob, wenn er las.
Alsdann auch sie traute ihren eigenen Augen mehr als fremden Lippen;
und Eduard gleichfalls rückte zu, um es ihr auf alle Weise bequem zu
machen, ja er hielt oft längere Pausen als nötig, damit er nur nicht
eher umwendete, bis auch sie zu Ende der Seite gekommen.

Charlotte und der Hauptmann bemerkten es wohl und sahen manchmal
einander lächelnd an; doch wurden beide von einem andern Zeichen
überrascht, in welchem sich Ottiliens stille Neigung gelegentlich
offenbarte.

An einem Abende, welcher der kleinen Gesellschaft durch einen lästigen
Besuch zum Teil verloren gegangen, tat Eduard den Vorschlag, noch
beisammen zu bleiben. Er fühlte sich aufgelegt, seine Flöte
vorzunehmen, welche lange nicht an die Tagesordnung gekommen war.
Charlotte suchte nach den Sonaten, die sie zusammen gewöhnlich
auszuführen pflegten, und da sie nicht zu finden waren, gestand Ottilie
nach einigem Zaudern, daß sie solche mit auf ihr Zimmer genommen.

„Und Sie können, Sie wollen mich auf dem Flügel begleiten?“ rief
Eduard, dem die Augen vor Freude glänzten. „Ich glaube wohl“, versetzte
Ottilie, „daß es gehen wird“. Sie brachte die Noten herbei und setzte
sich ans Klavier. Die Zuhörenden waren aufmerksam und überrascht, wie
vollkommen Ottilie das Musikstück für sich selbst eingelernt hatte,
aber noch mehr überrascht, wie sie es der Spielart Eduards anzupassen
wußte. ‘Anzupassen wußte’ ist nicht der rechte Ausdruck; denn wenn es
von Charlottens Geschicklichkeit und freiem Willen abhing, ihrem bald
zögernden, bald voreilenden Gatten zuliebe hier anzuhalten, dort
mitzugehen, so schien Ottilie, welche die Sonate von jenen enigemal
spielen sie gehört, nur in dem Sinne eingelernt zu haben, wie jener sie
begleitete. Sie hatte seine Mängel so zu den ihrigen gemacht, daß
daraus wieder eine Art von lebendigem Ganzen entsprang, das sich zwar
nicht taktgemäß bewegte, aber doch höchst angenehm und gefällig
lautete. Der Komponist selbst hätte seine Freude daran gehabt, sein
Werk auf eine so liebevolle Weise entstellt zu sehen.

Auch diesem wundersamen, unerwarteten Begegnis sahen der Hauptmann und
Charlotte stillschweigend mit einer Empfindung zu, wie man oft
kindische Handlungen betrachtet, die man wegen ihrer besorglichen
Folgen gerade nicht billigt und doch nicht schelten kann, ja vielleicht
beneiden muß. Denn eigentlich war die Neigung dieser beiden ebensogut
im Wachsen als jene, und vielleicht nur noch gefährlicher dadurch, daß
beide ernster, sicherer von sich selbst, sich zu halten fähiger waren.

Schon fing der Hauptmann an zu fühlen, daß eine unwiderstehliche
Gewohnheit ihn an Charlotten zu fesseln drohte. Er gewann es über sich,
den Stunden auszuweichen, in denen Charlotte nach der Anlagen zu kommen
pflegte, indem er schon am frühsten Morgen aufstand, alles anordnete
und sich dann zur Arbeit auf seinen Flügel ins Schloß zurückzog. Die
ersten Tage hielt es Charlotte für zufällig; sie suchte ihn an allen
wahrscheinlichen Stellen; dann glaubte sie ihn zu verstehen und achtete
ihn nur um desto mehr.

Vermied nun der Hauptmann, mit Charlotten allein zu sein, so war er
desto emsiger, zur glänzenden Feier des herannahenden Geburtsfestes die
Anlagen zu betreiben und zu beschleunigen; denn indem er von unten
hinauf, hinter dem Dorfe her, den bequemen Weg führte, so ließ er,
vorgeblich um Steine zu brechen, auch von oben herunter arbeiten und
hatte alles so eingerichtet und berechnet, daß erst in der letzten
Nacht die beiden Teile des Weges sich begegnen sollten. Zum neuen Hause
oben war auch schon der Keller mehr gebrochen als gegraben und ein
schöner Grundstein mit Fächern und Deckplatten zugehauen.

Die äußere Tätigkeit, diese kleinen, freundlichen, geheimnisvollen
Absichten bei innern, mehr oder weniger zurückgedrängten Empfindungen
ließen die Unterhaltung der Gesellschaft, wenn sie beisammen war, nicht
lebhaft werden, dergestalt daß Eduard, der etwas Lückenhaftes empfand,
den Hauptmann eines Abends aufrief, seine Violine hervorzunehmen und
Charlotten bei dem Klavier zu begleiten. Der Hauptmann konnte dem
allgemeinen Verlangen nicht widerstehen, und so führten beide mit
Empfindung, Behagen und Freiheit eins der schwersten Musikstücke
zusammen auf, daß es ihnen und dem zuhörenden Paar zum größten
Vergnügen gereichte. Man versprach sich öftere Wiederholung und mehrere
Zusammenübung.

„Sie machen es besser als wir, Ottilie!“ sagte Eduard. „Wir wollen sie
bewundern, aber uns doch zusammen freuen“.



Neuntes Kapitel

Der Geburtstag war herbeigekommen und alles fertig geworden: die ganze
Mauer, die den Dorfweg gegen das Wasser zu einfaßte und erhöhte, ebenso
der Weg an der Kirche vorbei, wo er eine Zeitlang in dem von Charlotten
angelegten Pfade fortlief, sich dann die Felsen hinaufwärts schlang,
die Mooshütte links über sich, dann nach einer völligen Wendung links
unter sich ließ und so allmählich auf die Höhe gelangte.

Es hatte sich diesen Tag viel Gesellschaft eingefunden. Man ging zur
Kirche, wo man die Gemeinde im festlichen Schmuck versammelt antraf.
Nach dem Gottesdienste zogen die Knaben, Jünglinge und Männer, wie es
angeordnet war, voraus; dann kam die Herrschaft mit ihrem Besuch und
Gefolge; Mädchen, Jungfrauen und Frauen machten den Beschluß.

Bei der Wendung des Weges war ein erhöhter Felsenplatz eingerichtet;
dort ließ der Hauptmann Charlotten und die Gäste ausruhen. Hier
übersahen sie den ganzen Weg, die hinaufgeschrittene Männrschar, die
nachwandelnden Frauen, welche nun vorbeizogen. Es war bei dem
herrlichen Wetter ein wunderschöner Anblick. Charlotte fühlte sich
überrascht, gerührt und drückte dem Hauptmann herzlich die Hand.

Man folgte der sachte fortschreitenden Menge, die nun schon einen Kreis
um den künftigen Hausraum gebildet hatte. Der Bauherr, die Seinigen und
die vornehmsten Gäste wurden eingeladen, in die Tiefe hinabzusteigen,
wo der Grundstein, an einer Seite unterstützt, eben zum Niederlassen
bereit lag. Ein wohlgeputzter Maurer, die Kelle in der einen, den
Hammer in der andern Hand, hielt in Reimen eine anmutige Rede, die wir
in Prosa nur unvollkommen wiedergeben können.

„Drei Dinge“, fing er an, „sind bei einem Gebäude zu beachten: daß es
am rechten Fleck stehe, daß es wohl gegründet, daß es vollkommen
ausgeführt sei. Das erste ist eigentlich die Sache des Bauherrn; denn
wie in der Stadt nur der Fürst und die Gemeine bestimmen können, wohin
gebaut werden soll, so ist es auf dem Lande das Vorrecht des
Grundherrn, daß er sage: hier soll meine Wohnung stehen und nirgends
anders“.

Eduard und Ottilie wagten nicht, bei diesen Worten einander anzusehen,
ob sie gleich nahe gegen einander über standen.

„Das dritte, die Vollendung, ist die Sorge gar vieler Gewerke; ja
wenige sind, die nicht dabei beschäftigt wären. Aber das zweite, die
Gründung, ist des Maurers Angelengenheit und, daß wir es nur
heraussagen, die Hauptangelegenheit des ganzen Unternehmens. Es ist ein
ernstes Geschäft, und unsre Einladung ist ernsthaft; denn diese
Feierlichkeit wird in der Tiefe begangen. Hier innerhalb dieses engen,
ausgegrabenen Raums erweisen Sie uns die Ehre, als Zeugen unseres
geheimnisvollen Geschäftes zu erscheinen. Gleich werden wir diesen
wohlzugehauenen Stein niederlegen, und bald werden diese mit schönen
und würdigen Personen gezierten Erdwände nicht mehr zugänglich, sie
werden ausgefüllt sein.

Diesen Grundstein, der mit seiner Ecke die rechte Ecke des Gebäudes,
mit seiner Rechtwinkligkeit die Regelmäßigkeit desselben, mit seiner
wasser- und senkrechten Lage Lot und Waage aller Mauern und Wände
bezeichnet, könnten wir ohne weiteres niederlegen; denn er ruhte wohl
auf seiner eignen Schwere. Aber auch hier soll es am Kalk, am
Bindungsmittel nicht fehlen; denn so wie Menschen, die einander von
Natur geneigt sind, noch besser zusammenhalten, wenn das Gesetz sie
verkittet, so werden auch Steine, deren Form schon zusammenpaßt, noch
besser durch diese bindenden Kräfte vereinigt; und da es sich nicht
ziemen will, unter den Tätigen müßig zu sein, so werden Sie nicht
verschmähen, auch hier Mitarbeiter zu werden“.

Er überreichte hierauf seine Kelle Charlotten, welche damit Kalk unter
den Stein warf. Mehreren wurde ein Gleiches zu tun angesonnen und der
Stein alsobald niedergesenkt, worauf denn Charlotten und den Übrigen
sogleich der Hammer gereicht wurde, um durch ein dreimaliges Pochen die
Verbindung des Steins mit dem Grunde ausdrücklich zu segnen.

„Des Maurers Arbeit“, fuhr der Redner fort, „zwar jetzt unter freiem
Himmel, geschieht, wo nicht immer im Verborgnen, doch zum Verborgnen.
Der regelmäßig aufgeführte Grund wird verschüttet, und sogar bei den
Mauern, die wir am Tage aufführen, ist man unser am Ende kaum
eingedenk. Die Arbeiten des Steinmetzen und Bildhauers fallen mehr in
die Augen, und wir müssen es sogar noch gutheißen, wenn der Tüncher die
Spur unserer Hände völlig auslöscht und sich unser Werk zueignet, indem
er es überzieht, glättet und färbt.

Wem muß also mehr daran gelegen sein, das, was er tut, sich selbst
recht zu machen, indem er es recht macht, als dem Maurer? Wer hat mehr
als er das Selbstbewußtsein zu nähren Ursach? Wenn das Haus aufgeführt,
der Boden geplattet und gepflastert, die Außenseite mit Zieraten
überdeckt ist, so sieht er durch alle Hüllen immer noch hinein und
erkennt noch jene regelmäßigen, sorgfältigen Fugen, denen das Ganze
sein Dasein und seinen Halt zu danken hat.

Aber wie jeder, der eine Übeltat begangen, fürchten muß, daß,
ungeachtet alles Abwehrens, sie dennoch ans Licht kommen werde, so muß
derjenige erwarten, der insgeheim das Gute getan, daß auch dieses wider
seinen Willen an den Tag komme. Deswegen machen wir diesen Grundstein
zugleich zum Denkstein. Hier in diese unterschiedlichen gehauenen
Vertiefungen soll verschiedenes eingesenkt werden zum Zeugnis für eine
entfernte Nachwelt. Diese metallnen zugelöteten Köcher enthalten
schriftliche Nachrichten; auf diese Metallplatten ist allerlei
Merkwürdiges eingegraben; in diesen schönen gläsernen Flaschen
versenken wir den besten Wein, mit Bezeichnung seines Geburtsjahrs; es
fehlt nicht an Münzen verschiedener Art, in diesem Jahre geprägt: alles
dieses erhielten wir durch die Freigebigkeit unseres Bauherrn. Auch ist
hier noch mancher Platz, wenn irgendein Gast und Zuschauer etwas der
Nachwelt zu übergeben Belieben trüge“.

Nach einer kleinen Pause sah der Geselle sich um; aber wie es in
solchen Fällen zu gehen pflegt: niemand war vorbereitet, jedermann
überrascht, bis endlich ein junger, munterer Offizier anfing und sagte:
„wenn ich etwas beitragen soll, das in dieser Schatzkammer noch nicht
niedergelegt ist, so muß ich ein paar Knöpfe von der Uniform schneiden,
die doch wohl auch verdienen, auf die Nachwelt zu kommen“. Gesagt,
getan! Und nun hatte mancher einen ähnlichen Einfall. Die Frauenzimmer
säumten nicht, von ihren kleinen Haarkämmen hineinzulegen;
Riechenfläschchen und andre Zierden wurden nicht geschont; nur Ottilie
zauderte, bis Eduard sie durch ein freundliches Wort aus der
Betrachtung aller der beigesteuerten und eingelegten Dinge herausriß.
Sie löste darauf die goldne Kette vom Halse, an der das Bild ihres
Vaters gehangen hatte, und legte sie mit leiser Hand über die anderen
Kleinode hin, worauf Eduard mit einiger Hast veranstaltete, daß der
wohlgefugte Deckel sogleich aufgestürzt und eingekittet wurde.

Der junge Gesell, der sich dabei am tätigsten erwiesen, nahm seine
Rednermiene wieder an und fuhr fort: „wir gründen diesen Stein für
ewig, zur Sicherung des längsten Genusses der gegenwärtigen und
künftigen Besitzer dieses Hauses. Allein indem wir hier gleichsam einen
Schatz vergraben, so denken wir zugleich, bei dem gründlichsten aller
Geschäfte, an die Vergänglichkeit der menschlichen Dinge; wir denken
uns eine Möglichkeit, daß dieser festversiegelte Deckel wieder
aufgehoben werden könne, welches nicht anders geschehen dürfte, als
wenn das alles wieder zerstört wäre, was wir noch nicht einmal
aufgeführt haben.

Aber eben, damit dieses aufgeführt werde: zurück mit den Gedanken aus
der Zukunft, zurück ins Gegenwärtige! Laßt und nach begangenem heutigem
Feste unsre Arbeit sogleich fördern, damit keiner von den Gewerken, die
auf unserm Grunde fortarbeiten, zu feiern brauche, daß der Bau eilig in
die Höhe steige und vollendet werde und aus den Fenstern, die noch
nicht sind, der Hausherr mit den Seinigen und seinen Gästen sich
fröhlich in der Gegend umschaue, deren aller sowie sämtlicher
Anwesenden Gesundheit hiermit getrunken sei!“

Und so leerte er ein wohlgeschliffenes Kelchglas auf einen Zug aus und
warf es in die Luft; denn es bezeichnet das Übermaß einer Freude, das
Gefäß zu zerstören, dessen man sich in der Fröhlichkeit bedient. Aber
diesmal ereignete es sich anders: das Glas kam nicht wieder auf den
Boden, und zwar ohne Wunder.

Man hatte nämlich, um mit dem Bau vorwärtszukommen, bereits an der
entgegengesetzten Ecke den Grund völlig herausgeschlagen, ja schon
angefangen, die Mauern aufzuführen, und zu dem Endzweck das Gerüst
erbaut, so hoch, als es überhaupt nötig war.

Daß man es besonders zu dieser Feierlichkeit mit Brettern belegt und
eine Menge Zuschauer hinaufgelassen hatte, war zum Vorteil der
Arbeitsleute geschehen. Dort hinauf flog das Glas und wurde von einem
aufgefangen, der diesen Zufall als ein glückliches Zeichen für sich
ansah. Er wies es zuletzt herum, ohne es aus der Hand zu lassen, und
man sah darauf die Buchstaben E und O in sehr zierlicher Verschlingung
eingeschnitten: es war eins der Gläser, die für Eduarden in seiner
Jugend verfertigt worden.

Die Gerüste standen wieder leer, und die leichtesten unter den Gästen
stiegen hinauf, sich umzusehen, und konnten die schöne Aussicht nach
allen Seiten nicht genugsam rühmen; denn was entdeckt der nicht alles,
der auf einem hohen Punkte nur um ein Geschoß höher steht! Nach dem
Innern des Landes zu kamen mehrere neue Dörfer zum Vorschein, den
silbernen Streifen des Flusses erblickte man deutlich, ja selbst die
Türme der Hauptstadt wollte einer gewahr werden. An der Rückseite,
hinter den waldigen Hügeln, erhoben sich die blauen Gipfel eines fernen
Gebirges, und die nächste Gegend übersah man im ganzen. „Nun sollten
nur noch“, rief einer, „die drei Teiche zu einem See vereinigt werden;
dann hätte der Anblick alles, was groß und wünschenswert ist“.

„Das ließe sich wohl machen“, sagte der Hauptmann; „denn sie bildeten
schon vorzeiten einen Bergsee“.

„Nur bitte ich, meine Platanen- und Pappelgruppe zu schonen“, sagte
Eduard, „die so schön am mittelsten Teiche steht“. „Sehen Sie“,—wandte
er sich zu Ottilien, die er einige Schritte vorführte, indem er
hinabwies—„diese Bäume habe ich selbst gepflanzt“.

„Wie lange stehen sie wohl schon?“ fragte Ottilie. „Etwa so lange“,
versetzte Eduard, „als Sie auf der Welt sind. Ja, liebes Kind, ich
pflanzte schon, da Sie noch in der Wiege lagen“.

Die Gesellschaft begab sich wieder in das Schloß zurück. Nach
aufgehobener Tafel wurde sie zu einem Spaziergang durch das Dorf
eingeladen, um auch hier die neuen Anstalten in Augenschein zu nehmen.
Dort hatten sich auf des Hauptmanns Veranlassung die Bewohner vor ihren
Häusern versammelt; sie standen nicht in Reihen, sondern familienweise
natürlich gruppiert, teils, wie es der Abend forderte, beschäftigt,
teils auf neuen Bänken ausruhend. Es ward ihnen angenehmen Pflicht
gemacht, wenigstens jeden Sonntag und Festtag diese Reinlichkeit, diese
Ordnung zu erneuern.

Eine innere Geselligkeit mit Neigung, wie sie sich unter unseren
Freunden erzeugt hatte, wird durch eine größere Gesellschaft immer nur
unangenehm unterbrochen. Alle vier waren zufrieden, sich wieder im
großen Saale allein zu finden; doch ward dieses häusliche Gefühl
einigermaßen gestört, indem ein Brief, der Eduarden überreicht wurde,
neue Gäste auf morgen ankündigte.

„Wie wir vermuteten“, rief Eduard Charlotten zu; „der Graf wird nicht
ausbleiben, er kommt morgen“. „Da ist also auch die Baronesse nicht
weit“, versetzte Charlotte.

„Gewiß nicht!“ antwortete Eduard;“ sie wird auch morgen von ihrer Seite
anlangen. Sie bitten um ein Nachtquartier und wollen übermorgen
zusammen wieder fortreisen“.

„Da müssen wir unsere Anstalten beizeiten machen, Ottilie! „ sagte
Charlotte.

„Wie befehlen Sie die Einrichtung?“ fragte Ottilie.

Charlotte gab es im allgemeinen an, und Ottilie entfernte sich.

Der Hauptmann erkundigte sich nach dem Verhältnis dieser beiden
Personen, das er nur im allgemeinsten kannte. Sie hatten früher, beide
schon anderwärts verheiratet, sich leidenschaftlich liebgewonnen. Eine
doppelte Ehe war nicht ohne Aufsehn gestört; man dachte an Scheidung.
Bei der Baronesse war sie möglich geworden, bei dem Grafen nicht. Sie
mußten sich zum Scheine trennen, allein ihr Verhältnis blieb; und wenn
sie Winters in der Residenz nicht zusammen sein konnten, so
entschädigten sie sich Sommers auf Lustreisen und in Bädern. Sie waren
beide um etwas älter als Eduard und Charlotte und sämtlich genaue
Freunde aus früher Hofzeit her. Man hatte immer ein gutes Verhältnis
erhalten, ob man gleich nicht alles an seinen Freunden billigte. Nur
diesmal war Charlotten ihre Ankunft gewissermaßen ganz ungelegen, und
wenn sie die Ursache genau untersucht hätte: es war eigentlich um
Ottiliens willen. Das gute, reine Kind sollte ein solches Beispiel so
früh nicht gewahr werden.

„Sie hätten wohl noch ein paar Tage wegbleiben können“, sagte Eduard,
als eben Ottilie wieder hereintrat, „bis wir den Vorwerksverkauf in
Ordnung gebracht. Der Aufsatz ist fertig, die eine Abschrift habe ich
hier; nun fehlt es aber an der zweiten, und unser alter Kanzellist ist
recht krank“. Der Hauptmann bot sich an, auch Charlotte; dagegen waren
einige Einwendungen zu machen. „Geben Sie mirs nur!“ rief Ottilie mit
einiger Hast.

„Du wirst nicht damit fertig“, sagte Charlotte.

„Freilich müßte ich es übermorgen früh haben, und es ist viel“, sagte
Eduard. „Es soll fertig sein“, rief Ottilie und hatte das Blatt schon
in den Händen.

Des andern Morgens, als sie sich aus dem obern Stock nach den Gästen
umsahen, denen sie entgegenzugehen nicht verfehlen wollten, sagte
Eduard: „wer reitet denn so langsam dort die Straße her?“ Der Hauptmann
beschrieb die Figur des Reiters genauer. „So ist ers doch“, sagte
Eduard; „denn das Einzelne, das du besser siehst als ich, paßt sehr gut
zu dem Ganzen, das ich recht wohl sehe. Es ist Mittler. Wie kommt er
aber dazu, langsam und so langsam zu reiten?“

Die Figur kam näher, und Mittler war es wirklich. Man empfing ihn
freundlich, als er langsam die Treppe heraufstieg. „Warum sind Sie
nicht gestern gekommen?“ rief ihm Eduard entgegen.

„Laute Feste lieb ich nicht“, versetzte jener. „Heute komm ich aber,
den Geburtstag meiner Freundin mit euch im stillen nachzufeiern“.

„Wie können Sie denn soviel Zeit gewinnen?“ fragte Eduard scherzend.

„Meinen Besuch, wenn er euch etwas wert ist, seid ihr einer Betrachtung
schuldig, die ich gestern gemacht habe. Ich freute mich recht herzlich
den halben Tag in einem Hause, wo ich Frieden gestiftet hatte, und dann
hörte ich, daß hier Geburtstag gefeiert werde. ‘Das kann man doch am
Ende selbstisch nennen,’ dachte ich bei mir, ‘daß du dich nur mit denen
freuen willst, die du zum Frieden bewogen hast. Warum freust du dich
nicht auch einmal mit Freunden, die Frieden halten und hegen?’ Gesagt,
getan! Hier bin ich, wie ich mir vorgenommen hatte“.

„Gestern hätten Sie große Gesellschaft gefunden, heute finden Sie nur
kleine“, sagte Charlotte. „Sie finden den Grafen und die Baronesse, die
Ihnen auch schon zu schaffen gemacht haben“.

Aus der Mitte der vier Hausgenossen, die den seltsamen, willkommenen
Mann umgeben hatten, fuhr er mit verdrießlicher Lebhaftigkeit heraus,
indem er sogleich nach Hut und Reitgerte suchte: „schwebt doch immer
ein Unstern über mir, sobald ich einmal ruhen und mir wohltun will!
Aber warum gehe ich aus meinem Charakter heraus! Ich hätte nicht kommen
sollen, und nun werd ich vertrieben. Denn mit jenen will ich nicht
unter einem Dache bleiben; und nehmt euch in acht: sie bringen nichts
als Unheil! Ihr Wesen ist wie ein Sauerteig, der seine Ansteckung
fortpflanzt“.

Man suchte ihn zu begütigen, aber vergebens. „Wer mir den Ehstand
angreift“, rief er aus, „wer mir durch Wort, ja durch Tat diesen Grund
aller sittlichen Gesellschaft untergräbt, der hat es mit mir zu tun;
oder wenn ich sein nicht Herr werden kann, habe ich nichts mit ihm zu
tun. Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur. Sie macht den
Rohen mild, und der Gebildetste hat keine bessere Gelegenheit, seine
Milde zu beweisen. Unauflöslich muß sie sein; denn sie bringt so vieles
Glück, daß alles einzelne Unglück dagegen gar nicht zu rechnen ist. Und
was will man von Unglück reden? Ungeduld ist es, die den Menschen von
Zeit zu Zeit anfällt, und dann beliebt er sich unglücklich zu finden.
Lasse man den Augenblick vorübergehen, und man wird sich glücklich
preisen, daß ein so lange Bestandenes noch besteht. Sich zu trennen
gibts gar keinen hinlänglichen Grund. Der menschliche Zustand ist so
hoch in Leiden und Freuden gesetzt, daß gar nicht berechnet werden
kann, was ein Paar Gatten einander schuldig werden. Es ist eine
unendliche Schuld, die nur durch die Ewigkeit abgetragen werden kann.
Unbequem mag es manchmal sein, das glaub ich wohl, und das ist eben
recht. Sind wir nicht auch mit dem Gewissen verheiratet, das wir oft
gerne los sein möchten, weil es unbequemer ist, als uns je ein Mann
oder eine Frau werden könnte?“

So sprach er lebhaft und hätte wohl noch lange fortgesprochen, wenn
nicht blasende Postillons die Ankunft der Herrschaften verkündig
hätten, welche wie abgemessen von beiden Seiten zu gleicher Zeit in den
Schloßhof hereinfuhren. Als ihnen die Hausgenossen entgegeneilten,
versteckte sich Mittler, ließ sich das Pferd an den Gasthof bringen und
ritt verdrießlich davon.



Zehntes Kapitel

Die Gäste waren bewillkommt und eingeführt; sie freuten sich, das Haus,
die Zimmer wieder zu betreten, wo sie früher so manchen guten Tag
erlebt und die sie eine lange Zeit nicht gesehn hatten. Höchst angenehm
war auch den Freunden ihre Gegenwart. Den Grafen sowie die Baronesse
konnte man unter jene hohen, schönen Gestalten zählen, die man in einem
mittlern Alter fast lieber als in der Jugend sieht; denn wenn ihnen
auch etwas von der ersten Blüte abgehn möchte, so erregen sie doch nun
mit der Neigung ein entschiedenes Zutrauen. Auch dieses Paar zeigte
sich höchst bequem in der Gegenwart. Ihre freie Weise, die Zustände des
Lebens zu nehmen und zu behandeln, ihre Heiterkeit und scheinbare
Unbefangenheit teilte sich sogleich mit, und ein hoher Anstand
begrenzte das Ganze, ohne daß man irgendeinen Zwang bemerkt hätte.

Diese Wirkung ließ sich augenblicks in der Gesellschaft empfinden. Die
Neueintretenden, welche unmittelbar aus der Welt kamen, wie man sogar
an ihren Kleidern, Gerätschaften und allen Umgebungen sehen konnte,
machten gewissermaßen mit unsern Freunden, ihrem ländlichen und
heimlich leidenschaftlichen Zustande eine Art von Gegensatz, der sich
jedoch sehr bald verlor, indem alte Erinnerungen und gegenwärtige
Teilnahme sich vermischten und ein schnelles, lebhaftes Gespräch alle
geschwind zusammenverband.

Es währte indessen nicht lange, als schon eine Sonderung vorging. Die
Frauen zogen sich auf ihren Flügel zurück und fanden daselbst, indem
sie sich mancherlei vertrauten und zugleich die neuesten Formen und
Zuschnitte von Frühkleidern, Hüten und derglichen zu mustern anfingen,
genugsame Unterhaltung, während die Männer sich um die neuen
Reisewagen, mit vorgeführten Pferden, beschäftigten und gleich zu
handeln und zu tauschen anfingen.

Erst zu Tische kam man wieder zusammen. Die Umkleidung war geschehen,
und auch hier zeigte sich das angekommene Paar zu seinem Vorteile.
Alles, was sie an sich trugen, war neu und gleichsam ungesehen und doch
schon durch den Gebrauch zur Gewohnheit und Bequemlichkeit eingeweiht.

Das Gespräch war lebhaft und abwechselnd, wie denn in Gegenwart solcher
Personen alles und nichts zu interessieren scheint. Man bediente sich
der französischen Sprache, um die Aufwartenden von dem Mitverständnis
auszuschließen, und schweifte mit mutwilligem Behagen über hohe und
mittlere Weltverhältnisse hin. Auf einem einzigen Punkt blieb die
Unterhaltung länger als billig haften, indem Charlotte nach einer
Jugendfreundin sich erkundigte und mit einiger Befremdung vernahm, daß
sie ehstens geschieden werden sollte.

„Es ist unerfreulich“, sagte Charlotte, „wenn man seine abwesenden
Freunde irgend einmal geborgen, eine Freundin, die man liebt, versorgt
glaubt; eh man sichs versieht, muß man wieder hören, daß ihr Schicksal
im Schwanken ist, und daß sie erst wieder neue und vielleicht abermals
unsichre Pfade des Lebens betreten soll“.

„Eigentlich, meine Beste“, versetzte der Graf, „sind wir selbst schuld,
wenn wir auf solche Weise überrascht werden. Wir mögen uns die
irdischen Dinge und besonders auch die ehlichen Verbindungen gern so
recht dauerhaft vorstellen, und was den letzten Punkt betrifft, so
verführen uns die Lustspiele, die wir immer wiederholen sehen, zu
solchen Einbildungen, die mit dem Gange der Welt nicht zusammentreffen.
In der Komödie sehen wir eine Heirat als das letzte Ziel eines durch
die Hindernisse mehrerer Akte verschobenen Wunsches, und im Augenblick,
da er erreicht ist, fällt der Vorhang, und die momentane Befriedigung
klingt bei uns nach. In der Welt ist es anders; da wird hinten immer
fortgespielt, und wenn der Vorhang wieder aufgeht, mag man gern nichts
weiter davon sehen noch hören“.

„Es muß doch so schlimm nicht sein“, sagte Charlotte lächelnd, „da man
sieht, daß auch Personen, die von diesem Theater abgetreten sind, wohl
gern darauf wieder eine Rolle spielen mögen“.

„Dagegen ist nichts einzuwenden“, sagte der Graf. „Eine neue Rolle mag
man gern wieder übernehmen, und wenn man die Welt kennt, so sieht man
wohl: auch bei dem Ehestande ist es nur diese entschiedene, ewige Dauer
zwischen soviel Beweglichem in der Welt, die etwas Ungeschicktes an
sich trägt. Einer von meinen Freunden, dessen gute Laune sich meist in
Vorschlägen zu neuen Gesetzen hervortat, behauptet: eine jede Ehe solle
nur auf fünf Jahre geschlossen werden. Es sei, sagte er, dies eine
schöne, ungrade, heilige Zahl und ein solcher Zeitraum eben
hinreichend, um sich kennenzulernen, einige Kinder heranzubringen, sich
zu entzweien und, was das Schönste sei, sich wieder zu versöhnen.
Gewöhnlich rief er aus: ‘wie glücklich würde die erste Zeit
verstreichen! Zwei, drei Jahre wenigstens gingen vergnüglich hin. Dann
würde doch wohl dem einen Teil daran gelegen sein, das Verhältnis
länger dauern zu sehen, die Gefälligkeit würde wachsen, je mehr man
sich dem Termin der Aufkündigung näherte. Der gleichgültige, ja selbst
der unzufriedene Teil würde durch ein solches Betragen begütigt und
eingenommen. Man vergäße, wie man in guter Gesellschaft die Stunden
vergißt, daß die Zeit verfließe, und fände sich aufs angenehmste
überrascht, wenn man nach verlaufenem Termin erst bemerkte, daß er
schon stillschweigend verlängert sei“.

So artig und lustig dies klang und so gut man, wie Charlotte wohl
empfand, diesem Scherz eine tiefe moralische Deutung geben konnte, so
waren ihr dergleichen Äußerungen, besonders um Ottiliens willen, nicht
angenehm. Sie wußte recht gut, daß nichts gefährlicher sei als ein
allzufreies Gespräch, das einen strafbaren oder halbstrafbaren Zustand
als einen gewöhnlichen, gemeinen, ja löblichen bahandelt; und dahin
gehört doch gewiß alles, was die eheliche Verbindung antastet. Sie
suchte daher nach ihrer gewandten Weise das Gespräch abzulenken; da sie
es nicht vermochte, tat es ihr leid, daß Ottilie alles so gut
eingerichtet hatte, um nicht aufstehen zu dürfen. Das ruhig aufmerksame
Kind verstand sich mit dem Haushofmeister durch Blick und Wink, daß
alles auf das trefflichste geriet, obgleich ein paar neue, ungeschickte
Bedienten in der livree staken.

Und so fuhr der Graf, Charlottens Ablenken nicht empfindend, über
diesen Gegenstand sich zu äußern fort. Ihm, der sonst nicht gewohnt
war, im Gespräch irgend lästig zu sein, lastete diese Sache zu sehr auf
dem Herzen, und die Schwierigkeiten, sich von seiner Gemahlin getrennt
zu sehen, machten ihn bitter gegen alles, was eheliche Verbindung
betraf, die er doch selbst mit der Baronesse so eifrig wünschte.

„Jener Freund“, so fuhr er fort, „tat noch einen andern
Gesetzvorschlag: eine Ehe sollte nur alsdann für unauflöslich gehalten
werden, wenn entweder beide Teile oder wenigstens der eine Teil zum
drittenmal verheiratet wäre. Denn was eine solche Person betreffe, so
bekenne sie unwidersprechlich, daß sie die Ehe für etwas
Unentbehrliches halte. Nun sei auch schon bekannt geworden, wie sie
sich in ihren frühern Verbindungen betragen, ob sie Eigenheiten habe,
die oft mehr zur Trennung Anlaß geben als üble Eigenschaften. Man habe
sich also wechselseitig zu erkundigen; man habe ebensogut auf
Verheiratete wie auf Unverheiratete achtzugeben, weil man nicht wisse,
wie die Fälle kommen können“.

„Das würde freilich das Interesse der Gesellschaft sehr vermehren“,
sagte Eduard; „denn in der Tat jetzt, wenn wir verheiratet sind, fragt
niemand weiter mehr nach unsern Tugenden noch unsern Mängeln“.

„Bei einer solchen Einrichtung“, fiel die Baronesse lächelnd ein,
„hätten unsere lieben Wirte schon zwei Stufen glücklich überstiegen und
könnten sich zu der dritten vorbereiten“.

„Ihnen ists wohl geraten“, sagte der Graf; „hier hat der Tod willig
getan, was die Konsistorien sonst nur ungern zu tun pflegen“.

„Lassen wir die Toten ruhen“, versetzte Charlotte mit einem halb
ernsten Blicke.

„Warum?“ versetzte der Graf, „da man ihrer in Ehren gedenken kann. Sie
waren bescheiden genug, sich mit einigen Jahren zu begnügen für
mannigfaltiges Gute, das sie zurückließen“.

„Wenn nur nicht gerade“, sagte die Baronesse mit einem verhaltenen
Seufzer, „in solchen Fällen das Opfer der besten Jahre gebracht werden
müßte!“

„Jawohl“, versetzte der Graf, „man müßte darüber verzweifeln, wenn
nicht überhaupt in der Welt so weniges eine gehoffte Folge zeigte.
Kinder halten nicht, was sie versprechen, junge Leute sehr selten, und
wenn sie Wort halten, hält es ihnen die Welt nicht“.

Charlotte, welche froh war, daß das Gespräch sich wendete, versetzte
heiter:“ nun! Wir müssen uns ja ohnehin bald genug gewöhnen, das Gute
stück- und teilweise zu genießen“.

„Gewiß“, versetzte der Graf, „Sie haben beide sehr schöner Zeiten
genossen. Wenn ich mir die Jahre zurückerinnere, da Sie und Eduard das
schönste Paar bei Hof waren; weder von so glänzenden Zeiten noch von so
hervorleuchtenden Gestalten ist jetzt die Rede mehr. Wenn Sie beide
zusammen tanzten, aller Augen waren auf Sie gerichtet, und wie umworben
beide, indem Sie sich nur ineinander bespiegelten!“

„Da sich so manches verändert hat“, sagte Charlotte, „können wir wohl
soviel Schönes mit Bescheidenheit anhören“.

„Eduarden habe ich doch oft im stillen getadelt“, sagte der Graf, „daß
er nicht beharrlicher war; denn am Ende hätten seine wunderlichen
Eltern wohl nachgegeben; und zehn frühe Jahre gewinnen ist keine
Kleinigkeit“.

„Ich muß mich seiner anehmen“, fiel die Baronesse ein. „Charlotte war
nicht ganz ohne Schuld, nicht ganz rein von allem Umhersehen, und ob
sie gleich Eduarden von Herzen liebte und sich ihn auch heimlich zum
Gatten bestimmte, so war ich doch Zeuge, wie sehr sie ihn manchmal
quälte, sodaß man ihn leicht zu dem unglücklichen Entschluß drängen
konnte, zu reisen, sich zu entfernen, sich von ihr zu entwöhnen“.

Eduard nickte der Baronesse zu und schien dankbar für ihre Fürsprache.

„Und dann muß ich eins“, fuhr sie fort, „zu Charlottens Entschuldigung
beifügen: der Mann, der zu jener Zeit um sie warb, hatte sich schon
lange durch Neigung zu ihr ausgezeichnet und war, wenn man ihn näher
kannte, gewiß liebenswürdiger, als ihr andern gern zugestehen mögt“.

„Liebe Freundin“, versetzte der Graf etwas lebhaft, „bekennen wir nur,
daß er Ihnen nicht ganz gleichgültig war, und daß Charlotte von Ihnen
mehr zu befürchten hatte als von einer andern. Ich finde das einen sehr
hübschen Zug an den Frauen, daß sie ihre Anhänglichkeit an irgendeinen
Mann solange noch fortsetzen, ja durch keine Art von Trennung stören
oder aufheben lassen“.

„Diese gute Eigenschaft besitzen vielleicht die Männer noch mehr“,
versetzte die Baronesse; „wenigstens an Ihnen lieber Graf, habe ich
bemerkt, daß niemand mehr Gewalt über Sie hat als ein Frauenzimmer, dem
Sie früher geneigt waren. So habe ich gesehen, daß Sie auf die
Fürsprache einer solchen sich mehr Mühe gaben, um etwas auszuwirken,
als vielleicht die Freundin des Augenblicks von Ihnen erlangt hätte“.

„Einen solchen Vorwurf darf man sich wohl gefallen lassen“, versetzte
der Graf; „doch was Charlottens ersten Gemahl betrifft, so konnte ich
ihn deshalb nicht leiden, weil er mir das schöne Paar
auseinandersprengte, ein wahrhaft prädestiniertes Paar, das, einmal
zusammengegeben, weder fünf Jahre zu scheuen, noch auf eine zweite oder
gar dritte Verbindung hinzusehen brauchte“.

„Wir wollen versuchen“, sagte Charlotte, „wieder einzubringen, was wir
versäumt haben“.

„Da müssen Sie sich dazuhalten“, sagte der Graf. „Ihre ersten
Heiraten“, fuhr er mit einiger Heftigkeit fort, „waren doch so
eigentlich rechte Heiraten von der verhaßten Art, und leider haben
überhaupt die Heiraten—verzeihen Sie mir einen lebhafteren
Ausdruck—etwas Tölpelhaftes; sie verderben die zartesten Verhältnisse,
und es liegt doch eigentlich nur an der plumpen Sicherheit, auf die
sich wenigstens ein Teil etwas zugute tut. Alles versteht sich von
selbst, und man scheint sich nur verbunden zu haben, damit eins wie das
andere nunmehr seiner Wege gehe“.

In diesem Augenblick machte Charlotte, die ein für allemal dies
Gespräch abbrechen wollte, von einer kühnen Wendung Gebrauch; es gelang
ihr. Die Unterhaltung ward allgemeiner, die beiden Gatten und der
Hauptmann konnten daran teilnehmen; selbst Ottilie ward veranlaßt sich
zu äußern, und der Nachtisch ward mit der besten Stimmung genossen,
woran der in zierlichen Fruchtkörben aufgestellte Obstreichtum, die
bunteste, in Prachtgefäßen schön verteilte Blumenfülle den
vorzüglichsten Anteil hatte.

Auch die neuen Parkanlagen kamen zur Sprache, die man sogleich nach
Tische besuchte. Ottilie zog sich unter dem Vorwande häuslicher
Beschäftigung zurück; eigentlich aber setzte sie sich nieder zur
Abschrift. Der Graf wurde von dem Hauptmann unterhalten; später
gesellte sich Charlotte zu ihm. Als sie oben auf die Höhe gelangt waren
und der Hauptmann gefällig hinuntereilte, um den Plan zu holen, sagte
der Graf zu Charlotten: „Dieser Mann gefällt mir außerordentlich. Er
ist sehr wohl und im Zusammenhang unterrichtet. Ebenso scheint seine
Tätigkeit sehr ernst und folgerecht. Was er hier leistet, würde in
einem höhern Kreise von viel Bedeutung sein“.

Charlotte vernahm des Hauptmanns Lob mit innigem Behagen. Sie faßte
sich jedoch und bekräftigte das Gesagte mit Ruhe und Klarheit. Wie
überrascht war sie aber, als der Graf fortfuhr: „diese Bekanntschaft
kommt mir sehr zu gelegener Zeit. Ich weiß eine Stelle, an die der Mann
vollkommen paßt, und ich kann mir durch eine solche Empfehlung, indem
ich ihn glücklich mache, einen hohen Freund auf das allerbeste
verbinden“.

Es war wie ein Donnerschlag, der auf Charlotten herabfiel. Der Graf
bemerkte nichts; denn die Frauen, gewohnt, sich jederzeit zu bändigen,
behalten in den außerordentlichsten Fällen immer noch eine Art von
scheinbarer Fassung. Doch hörte sie schon nicht mehr, was der Graf
sagte, indem er fortfuhr: „wenn ich von etwas überzeugt bin, geht es
bei mir geschwind her. Ich habe schon meinen Brief im Kopfe
zusammengestellt, und mich drängts, ihn zu schreiben. Sie verschaffen
mir einen reitenden Boten, den ich noch heute abend wegschicken kann“.

Charlotte war innerlich zerrissen. Von diesen Vorschlägen sowie von
sich selbst überrascht, konnte sie kein Wort hervorbringen. Der Graf
fuhr glücklicherweise fort, von seinen Planen für den Hauptmann zu
sprechen, deren Günstiges Charlotten nur allzusehr in die Augen fiel.
Es war Zeit, daß der Hauptmann herauftrat und seine Rolle vor dem
Grafen entfaltete. Aber mit wie andern Augen sah sie den Freund an, den
sie verlieren sollte! Mit einer notdürftigen Verbeugung wandte sie sich
weg und eilte hinunter nach der Mooshütte. Schon auf halbem Wege
stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und nun warf sie sich in den
engen Raum der kleinen Einsiedelei und überließ sich ganz einem
Schmerz, einer Leidenschaft, einer Verzweiflung, von deren Möglichkeit
sie wenig Augenblicke vorher auch nicht die leiseste Ahnung gehabt
hatte.

Auf der andern Seite war Eduard mit der Baronesse an den Teichen
hergegangen. Die kluge Frau, die gern von allem unterrichtet sein
mochte, bemerkte bald in einem tastenden Gespräch, daß Eduard sich zu
Ottiliens Lobe weitläufig herausließ, und wußte ihn auf eine so
natürliche Weise nach und nach in den Gang zu bringen, daß ihr zuletzt
kein Zweifel übrigblieb, hier sei eine Leidenschaft nicht auf dem Wege,
sondern wirklich angelangt.

Verheiratete Frauen, wenn sie sich auch untereinander nicht lieben,
stehen doch stillschweigend miteinander, besonders gegen junge Mädchen,
im Bündnis. Die Folgen einer solchen Zuneigung stellten sich ihrem
weltgewandten Geiste nur allzugeschwind dar. Dazu kam noch, daß sie
schon heute früh mit Charlotten über Ottilien gesprochen und den
Aufenthalt dieses Kindes auf dem Lande, besonders bei seiner stillen
Gemütsart, nicht gebilligt und den Vorschlag getan hatte, Ottilien in
die Stadt zu einer Freundin zu bringen, die sehr viel an die Erziehung
ihrer einzigen Tochter wende und sich nur nach einer gutartigen
Gespielin umsehe, die an die zweite Kindesstatt eintreten und alle
Vorteile mitgenießen solle. Charlotte hatte sichs zur Überlegung
genommen.

Nun aber brachte der Blick in Eduards Gemüt diesen Vorschlag bei der
Baronesse ganz zur vorsätzlichen Festigkeit, und um so schneller dieses
in ihr vorging, um desto mehr schmeichelte sie äußerlich Eduards
Wünschen. Denn niemand besaß sich mehr als diese Frau, und diese
Selbstbeherrschung in außerordentlichen Fällen gewöhnt uns, sogar einen
gemeinen Fall mit Verstellung zu behandeln, macht uns geneigt, indem
wir soviel Gewalt über uns selbst üben, unsre Herrschaft auch über die
andern zu verbreiten, um uns durch das, was wir äußerlich gewinnen, für
dasjenige, was wir innerlich entbehren, gewissermaßen schadlos zu
halten.

An diese Gesinnung schließt sich meist eine Art heimlicher
Schadenfreude über die Dunkelheit der andern, über das Bewußtlose,
womit sie in eine Falle gehen. Wir freuen uns nicht allein über das
gegenwärtige Gelingen, sondern zugleich auch auf die künftig
überraschende Beschämung. Und so war die Baronesse boshaft genug,
Eduarden zur Weinlese auf ihre Güter mit Charlotten einzuladen und die
Frage Eduards, ob sie Ottilien mitbringen dürften, auf eine Weise, die
er beliebig zu seinen Gunsten auslegen konnte, zu beantworten.

Eduard sprach schon mit Entzücken von der herrlichen Gegend, dem großen
Flusse, den Hügeln, Felsen und Weinbergen, von alten Schlössern, von
Wasserfahrten, von dem Jubel der Weinlese, des Kelterns und so weiter,
wobei er in der Unschuld seines Herzens sich schon zum voraus laut über
den Eindruck freute, den dergleichen Szenen auf das frische Gemüt
Ottiliens machen würden. In diesem Augenblick sah man Ottilien
herankommen, und die Baronesse sagte schnell zu Eduard, er möchte von
dieser vorhabenden Herbstreise ja nichts reden; denn gewöhnlich
geschähe das nicht, worauf man sich so lange voraus freue. Eduard
versprach, nötigte sie aber, Ottilien entgegen geschwinder zu gehen,
und eilte ihr endlich, dem lieben Kinde zu, mehrere Schritte voran.
Eine herzliche Freude drückte sich in seinem ganzen Wesen aus. Er küßte
ihr die Hand, in die er einen Strauß Feldblumen drückte, die er
unterwegs zusammengepflückt hatte. Die Baronesse fühlte sich bei diesem
Anblick in ihrem Innern fast erbittert. Denn wenn sie auch das, was an
dieser Neigung strafbar sein mochte, nicht billigen durfte, so konnte
sie das, was daran liebenswürdig und angenehm war, jenem unbedeutenden
Neuling von Mädchen keineswegs gönnen.

Als man sich zum Abendessen zusammengesetzt hatte, war eine völlig
andre Stimmung in der Gesellschaft verbreitet. Der Graf, der schon vor
Tische geschrieben und den Boten fortgeschickt hatte, unterhielt sich
mit dem Hauptmann, den er auf eine verständige und bescheidene Weise
immer mehr ausforschte, indem er ihn diesen Abend an seine Seite
gebracht hatte. Die zur Rechten des Grafen sitzende Baronesse fand von
daher wenig Unterhaltung, ebensowenig an Eduard, der, erst durstig,
dann aufgeregt, des Weines nicht schonte und sich sehr lebhaft mit
Ottilien unterhielt, die er an sich gezogen hatte, wie von der andern
Seite neben dem Hauptmann Charlotte saß, der es schwer, ja beinahe
unmöglich ward, die Bewegungen ihres Innern zu verbergen.

Die Baronesse hatte Zeit genug, Beobachtungen anzustellen. Sie bemerkte
Charlottens Unbehagen, und weil sie nur Eduards Verhältnis zu Ottilien
im Sinn hatte, so überzeugte sie sich leicht, auch Charlotte sei
bedenklich und verdrießlich über ihres Gemahls Benehmen, und überlegte,
wie sie nunmehr am besten zu ihren Zwecken gelangen könne.

Auch nach Tische fand sich ein Zwiespalt in der Gesellschaft. Der Graf,
der den Hauptmann recht ergründen wollte, brauchte bei einem so
ruhigen, keineswegs eitlen und überhaupt lakonischen Manne verschiedene
Wendungen, um zu erfahren, was er wünschte. Sie gingen miteinander an
der einen Seite des Saals auf und ab, indes Eduard, aufgeregt von Wein
und Hoffnung, mit Ottilien an einem Fenster scherzte, Charlotte und die
Baronesse aber stillschweigend an der andern Seite des Saals
nebeneinander hin und wider gingen. Ihr Schweigen und müßiges
Umherstehen brachte denn auch zuletzt eine Stockung in die übrige
Gesellschaft. Die Frauen zogen sich zurück auf ihren Flügel, die Männer
auf den andern, und so schien dieser Tag abgeschlossen.



Elftes Kapitel

Eduard begleitete den Grafen auf sein Zimmer und ließ sich recht gern
durchs Gespräch verführen, noch eine Zeitlang bei ihm zu bleiben. Der
Graf verlor sich in vorige Zeiten, gedachte mit Lebhaftigkeit an die
Schönheit Charlottens, die er als ein Kenner mit vielem Feuer
entwickelte:“ ein schöner Fuß ist eine große Gabe der Natur. Diese
Anmut ist unverwünstlich. Ich habe sie heute im Gehen Beobachtet; noch
immer möchte man ihren Schuh küssen und die zwar etwas barbarische,
aber doch tief gefühlte Ehrenbezeugung der Aarmaten wiederholen, die
sich nichts Besseres kennen, als aus dem Schuh einer geliebten und
verehrten Person ihre Gesundheit zu trinken“.

Die Spitze des Fußes blieb nicht allein der Gegenstand des Lobes unter
zwei vertrauten Männern. Sie gingen von der Person auf alte Geschichten
und Abenteuer zurück und kamen auf die Hindernisse, die man ehemals den
Zusammenkünften dieser beiden Liebenden entgegengesetzt, welche Mühe
sie sich gegeben, welche Kunstgriffe sie erfunden, nur um sich sagen zu
können, daß sie sich liebten.

„Erinnerst du dich“, fuhr der Graf fort, „welch Abenteuer ich dir recht
freundschaftlich und uneigennützig bestehen helfen, als unsre höchsten
Herrschaften ihren Oheim besuchten und auf dem weitläufigen Schlosse
zusammenkamen? Der Tag war in Feierlichkeiten und Feierkleidern
hingegangen; ein Teil der Nacht sollte wenigstens unter freiem,
liebevollem Gespräch verstreichen“.

„Den Hinweg zu dem Quartier der Hofdamen hatten Sie sich wohl gemerkt“,
sagte Eduard. „Wir gelangten glücklich zu meiner Geliebten“.

„Die“, versetzte der Graf, „mehr an den Anstand als an meine
Zufriedenheit gedacht und eine sehr häßliche Ehrenwächterin bei sich
behalten hatte; da mir denn, indessen ihr euch mit Blicken und Worten
sehr gut unterhieltet, ein höchst unerfreuliches Los zuteil ward“.

„Ich habe mich noch gestern“, versetzte Eduard, „als Sie sich anmelden
ließen, mit meiner Frau an die Geschichte erinnert, besonders an unsern
Rückzug. Wir verfehlten den Weg und kamen an den Vorsaal der Garden.
Weil wir uns nun von da recht gut zu finden wußten, so glaubten wir
auch hier ganz ohne Bedenken hindurch und an dem Posten, wie an den
Übrigen, vorbei gehen zu können. Aber wie groß war beim Eröffnen der
Türe unsere Verwunderung! Der Weg war mit Matratzen verlegt, auf denen
die Riesen in mehreren Reihen ausgestreckt lagen und schliefen. Der
einzige Wachende auf dem Posten sah uns verwundert an; wir aber, im
jugendlichen Mut und Mutwillen, stiegen ganz gelassen über die
ausgestreckten Stiefel weg, ohne daß auch nur einer von diesen
schnarchenden Enakskindern erwacht wäre“.

„Ich hatte große Lust zu stolpern“, sagte der Graf, „damit es Lärm
gegeben hätte; denn welch eine seltsame Auferstehung würden wir gesehen
haben!“

In diesem Augenblick schlug die Schloßglocke zwölf.

„Es ist hoch Mitternacht“, sagte der Graf lächelnd, „und eben gerechte
Zeit. Ich muß Sie, lieber Baron, um eine Gefälligkeit bitten: führen
Sie mich heute, wie ich Sie damals führte; ich habe der Baronesse das
Versprechen gegeben, sie noch zu besuchen. Wir haben uns den ganzen Tag
nicht allein gesprochen, wir haben uns solange nicht gesehen, und
nichts ist natürlicher, als daß man sich nach einer vertraulichen
Stunde sehnt. Zeigen Sie mir den Hinweg, den Rückweg will ich schon
finden, und auf alle Fälle werde ich über keine Stiefel wegzustolpern
haben“.

„Ich will Ihnen recht gern diese gastliche Gefälligkeit erzeigen“,
versetzte Eduard; „nur sind die drei Frauenzimmer drüben zusammen auf
dem Flügel. Wer weiß, ob wir sie nicht noch beieinander finden, oder
was wir sonst für Händel anrichten, die irgendein wunderliches Ansehn
gewinnen“.

„Nur ohne Sorge!“ sagte der Graf; „die Baronesse erwartet mich. Sie ist
um diese Zeit gewiß auf ihrem Zimmer und allein“.

„Die Sache ist übringens leicht“, versetzte Eduard und nahm ein Licht,
dem Grafen vorleuchtend eine geheime Treppe hinunter, die zu einem
langen Gang führte. Am Ende desselben öffnete Eduard eine kleine Türe.
Sie erstiegen eine Wendeltreppe; oben auf einem engen Ruheplatz deutete
Eduard dem Grafen, dem er das Licht in die Hand gab, nach einer
Tapetentüre rechts, die beim ersten Versuch sogleich sich öffnete, den
Grafen aufnahm und Eduarden in dem dunklen Raum zurückließ.

Eine andre Türe links ging in Charlottens Schlafzimmer. Er hörte reden
und horchte. Charlotte sprach zu ihrem Kammermädchen: „ist Ottilie
schon zu Bette?“—„Nein“, versetzte jene, „sie sitzt noch unten und
schreibt“. „So zünde Sie das Nachtlicht an“, sagte Charlotte, „und gehe
Sie nur hin: es ist spät. Die Kerze will ich selbst auslöschen und für
mich zu Bette gehen“.

Eduard hörte mit Entzücken, daß Ottilie noch schreibe. ‘Sie beschäftigt
sich für mich!’ dachte er triumphierend. Durch die Finsternis ganz in
sich selbst geengt, sah er sie sitzen, schreiben; er glaubte zu ihr zu
treten, sie zu sehen, wie sie sich nach ihm umkehrte; er fühlte ein
unüberwindliches Verlangen, ihr noch einmal nahe zu sein. Von hier aber
war kein Weg in das Halbgeschoß, wo sie wohnte. Nun fand er sich
unmittelbar an seiner Frauen Türe, eine sonderbare Verwechselung ging
in seiner Seele vor; er suchte die Türe aufzudrehen, er fand sie
verschlossen, er pochte leise an, Charlotte hörte nicht.

Sie ging in dem größeren Nebenzimmer lebhaft auf und ab. Sie
wiederholte sich aber und abermals, was sie seit jenem unerwarteten
Vorschlag des Grafen oft genug bei sich um und um gewendet hatte. Der
Hauptmann schien vor ihr zu stehen. Er füllte noch das Haus, er belebte
noch die Spaziergänge, und er sollte fort, das alles sollte leer
werden! Sie sagte sich alles, was man sich sagen kann, ja sie
antizipierte, wie man gewöhnlich pflegt, den leidigen Trost, daß auch
solche Schmerzen durch die Zeit gelindert werden. Sie verwünschte die
Zeit, die es braucht, um sie zu lindern; sie verwünschte die totenhafte
Zeit, wo sie würden gelindert sein.

Da war denn zuletzt die Zuflucht zu den Tränen um so willkommner, als
sie bei ihr selten stattfand. Sie warf sich auf den Sofa und überließ
sich ganz ihrem Schmerz. Eduard seinerseits konnte von der Türe nicht
weg; er pochte nochmals, und zum drittenmal etwas stärker, sodaß
Charlotte durch die Nachtstille es ganz deutlich vernahm und erschreckt
auffuhr. Der erste Gedanke war, es könne, es müsse der Hauptmann sein;
der zweite, das sei unmöglich. Sie hielt es für Täuschung, aber sie
hatte es gehört, sie wünschte, sie fürchtete es gehört zu haben. Sie
ging ins Schlafzimmer, trat leise zu der verriegelten Tapetentür. Sie
schalt sich über ihre Furcht. Wie leicht kann die Gräfin etwas
bedürfen! sagte sie zu sich selbst und rief gefaßt und gesetzt: „ist
jemand da?“ Eine leise Stimme antwortete: „ich bins“. „Wer?“ entgegnete
Charlotte, die den Ton nicht unterscheiden konnte. Ihr stand des
Hauptmanns Gestalt vor der Tür. Etwas lauter klang es ihr entgegen:“
Eduard!“ Sie öffnete, und ihr Gemahl stand vor ihr. Er begrüßte sie mit
einem Scherz. Es ward ihr möglich, in diesem Tone fortzufahren. Er
verwickelte den rätselhaften Besuch in rätselhafte Erklärungen. „Warum
ich denn aber eigentlich komme“, sagte er zuletzt, „muß ich dir nur
gestehen. Ich habe ein Gelübde getan, heute abend noch deinen Schuh zu
küssen“.

„Das ist dir lange nicht eingefallen“, sagte Charlotte. „Desto
schlimmer“, versetzte Eduard,“ und desto besser!“

Sie hatte sich in einen Sessel gesetzt, um ihre leichte Nachtkleidung
seinen Blicken zu entziehen. Er warf sich vor ihr nieder, und sie
konnte sich nicht erwehren, daß er nicht ihren Schuh küßte, und daß,
als dieser ihm in der Hand blieb, er den Fuß ergriff und ihn zärtlich
an seine Brust drückte.

Charlotte war eine von den Frauen, die, von Natur mäßig, im Ehestande
ohne Vorsatz und Anstrengung die Art und Weise der Liebhaberinnen
fortführen. Niemals reizte sie den Mann, ja seinem Verlangen kam sie
kaum entgegen; aber ohne Kälte und abstoßende Strenge glich sie immer
einer liebevollen Braut, die selbst vor dem Erlaubten noch innige Scheu
trägt. Und so fand sie Eduard diesen Abend in doppeltem Sinne. Wie
sehnlich wünschte sie den Gatten weg; denn die Luftgestalt des Freundes
schien ihr Vorwürfe zu machen. Aber das, was Eduarden hätte entfernen
sollen, zog ihn nur mehr an. Eine gewisse Bewegung war an ihr sichtbar.
Sie hatte geweint, und wenn weiche Personen dadurch meist an Anmut
verlieren, so gewinnen diejenigen dadurch unendlich, die wir gewöhnlich
als stark und gefaßt kennen. Eduard war so liebenswürdig, so
freundlich, so dringend; er bat sie, bei ihr bleiben zu dürfen, er
forderte nicht, bald ernst bald scherzhaft suchte er sie zu bereden, er
dachte nicht daran, daß er Rechte habe, und löschte zuletzt mutwillig
die Kerze aus.

In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung,
behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche: Eduard
hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotten schwebte der Hauptmann
näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug,
sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander.

Und doch läßt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben. Sie
brachten einen Teil der Nacht unter allerlei Gesprächen und Scherzen
zu, die um desto freier waren, als das Herz leider keinen Teil daran
nahm. Aber als Eduard des andern Morgens an dem Busen seiner Frau
erwachte, schien ihm der Tag ahnungsvoll hereinzublicken, die Sonne
schien ihm ein Verbrechen zu beleuchten; er schlich sich leise von
ihrer Seite, und sie fand sich, seltsam genug, allein, als sie
erwachte.



Zwölftes Kapitel

Als die Gesellschaft zum Frühstück wieder zusammenkam, hätte ein
aufmerksamer Beobachter an dem Betragen der einzelnen die
Verschiedenheit der innern Gesinnungen und Empfindungen abnehmen
können. Der Graf und die Baronesse begegneten sich mit dem heitern
Behagen, das ein Paar Liebende empfinden, die sich nach erduldeter
Trennung ihrer wechselseitigen Neigung abermals versichert halten,
dagegen Charlotte und Eduard gleichsam beschämt und ruhig dem Hauptmann
und Ottilien entgegentraten. Denn so ist die Liebe beschaffen, daß sie
allein recht zu haben glaubt und alle anderen Rechte vor ihr
verschwinden. Ottilie war kindlich heiter, nach ihrer Weise konnte man
sie offen nennen. Ernst erschien der Hauptmann; ihm war bei der
Unterredung mit dem Grafen, indem dieser alles in ihm aufregte, was
einige Zeit geruht und geschlafen hatte, nur zu fühlbar geworden, daß
er eigentlich hier seine Bestimmung nicht erfülle und im Grunde bloß in
einem halbtätigen Müßiggang hinschlendere. Kaum hatten sich die beiden
Gäste entfernt, als schon wieder neuer Besuch eintraf, Charlotten
willkommen, die aus sich selbst herauszugehen, sich zu zerstreuen
wünschte; Eduarden ungelegen, der eine doppelte Neigung fühlte, sich
mit Ottilien zu beschäftigen; Ottilien gleichfalls unerwünscht, die mit
ihrer auf morgen früh so nötigen Abschrift noch nicht fertig war. Und
so eilte sie auch, als die Fremden sich spät entfernten, sogleich auf
ihr Zimmer.

Es war Abend geworden. Eduard, Charlotte und der Hauptmann, welche die
Fremden, ehe sie sich in den Wagen setzten, eine Strecke zu Fuß
begleitet hatten, wurden einig, noch einen Spaziergang nach den Teichen
zu machen. Ein Kahn war angekommen, den Eduard mit ansehnlichen Kosten
aus der Ferne verschrieben hatte. Man wollte versuchen, ob er sich
leicht bewegen und lenken lasse.

Er war am Ufer des mittelsten Teiches nicht weit von einigen alten
Eichbäumen angebunden, auf die man schon bei künftigen Anlagen
gerechnet hatte. Hier sollte ein Landungsplatz angebracht, unter den
Bäumen ein architektonischer Ruhesitz aufgeführt werden, wonach
diejenigen, die über den See fahren, zu steuern hätten.

„Wo wird man denn nun drüben die Landung am besten anlegen?“ fragte
Eduard. „Ich sollte denken, bei meinen Platanen“.

„Sie stehen ein wenig zu weit rechts“, sagte der Hauptmann. „Landet man
weiter unten, so ist man dem Schlosse näher; doch muß man es
überlegen“.

Der Hauptmann stand schon im Hinterteile des Kahns und hatte ein Ruder
ergriffen. Charlotte stieg ein, Eduard gleichfalls und faßte das andre
Ruder; aber als er eben im Abstoßen begriffen war, gedachte er
Ottiliens, gedachte, daß ihn diese Wasserfahrt verspäten, wer weiß erst
wann zurückführen würde. Er entschloß sich kurz und gut, sprang wieder
ans Land, reichte dem Hauptmann das andre Ruder und eilte, sich
flüchtig entschuldigend, nach Hause.

Dort vernahm er, Ottilie habe sich eingeschlossen, sie schreibe. Bei
dem angenehmen Gefühle, daß sie für ihn etwas tue, empfand er das
lebhafteste Mißbehagen, sie nicht gegenwärtig zu sehen. Seine Ungeduld
vermehrte sich mit jedem Augenblicke. Er ging in dem großen Saale auf
und ab, versuchte allerlei, und nichts vermochte seine Aufmerksamkeit
zu fesseln. Sie wünschte er zu sehen, allein zu sehen, ehe noch
Charlotte mit dem Hauptmann zurückkäme. Es ward Nacht, die Kerzen
wurden angezündet.

Endlich trat sie herein, glänzend von Liebenswürdigkeit. Das Gefühl,
etwas für den Freund getan zu haben, hatte ihr ganzes Wesen über sich
selbst gehoben. Sie legte das Original und die Abschrift vor Eduard auf
den Tisch. „Wollen wir kollationieren?“ sagte sie lächelnd. Eduard
wußte nicht, was er erwidern sollte. Er sah sie an, er besah die
Abschrift. Die ersten Blätter waren mit der größten Sorgfalt, mit einer
zarten weiblichen Hand geschrieben, dann schienen sich die Züge zu
verändern, leichter und freier zu werden; aber wie erstaunt war er, als
er die letzten Seiten mit den Augen überlief! „Um Gottes willen!“ rief
er aus, „was ist das? Das ist meine Hand!“ Er sah Ottilien an und
wieder auf die Blätter, besonders der Schluß war ganz, als wenn er ihn
selbst geschrieben hätte. Ottilie schwieg, aber sie blickte ihm mit der
größten Zufriedenheit in die Augen. Eduard hob seine Arme empor: „du
liebst mich!“ rief er aus, „Ottilie, du liebst mich“ und sie hielten
einander umfaßte. Wer das andere zuerst ergriffen, wäre nicht zu
unterscheiden gewesen.

Von diesem Augenblick an war die Welt für Eduarden umgewendet, er nicht
mehr, was er gewesen, die Welt nicht mehr, was sie gewesen. Sie standen
voreinander, er hielt ihre Hände, sie sahen einander in die Augen, im
Begriff, sich wieder zu umarmen.

Charlotte mit dem Hauptmann trat herein. Zu den Entschuldigungen eines
längeren Außenbleibens lächelte Eduard heimlich. ‘O wie viel zu früh
kommt ihr!’ sagte er zu sich selbst.

Sie setzten sich zum Abendessen. Die Personen des heutigen Besuchs
wurden beurteilt. Eduard, liebevoll aufgeregt, sprach gut von einem
jeden, immer schonend, oft billigend. Charlotte, die nicht durchaus
seiner Meinung war, bemerkte diese Stimmung und scherzte mit ihm, daß
er, der sonst über die scheidende Gesellschaft immer das strengste
Zungengericht ergehen lasse, heute so mild und nachsichtig sei.

Mit Feuer und herzlicher Überzeugung rief Eduard: „man muß nur Ein
Wesen recht von Grund aus lieben, da kommen einem die Übrigen alle
liebenswürdig vor!“ Ottilie schlug die Augen nieder, und Charlotte sah
vor sich hin.

Der Hauptmann nahm das Wort und sagte:“ mit den Gefühlen der
Hochachtung, der Verehrung ist es doch auch etwas Ähnliches. Man
erkennt nur erst das Schätzenswerte in der Welt, wenn man solche
Gesinnungen an Einem Gegenstande zu üben Gelegenheit findet“.

Charlotte suchte bald in ihr Schlafzimmer zu gelangen, um sich der
Erinnerung dessen zu überlassen, was diesen Abend zwischen ihr und dem
Hauptmann vorgegangen war.

Als Eduard ans Ufer springend den Kahn vom Lande stieß, Gattin und
Freund dem schwankenden Element selbst überantwortete, sah nunmehr
Charlotte den Mann, um den sie im stillen schon soviel gelitten hatte,
in der Dämmerung vor sich sitzen und durch die Führung zweier Ruder das
Fahrzeug in beliebiger Richtung fortbewegen. Sie empfand eine tiefe,
selten gefühlte Traurigkeit. Das Kreisen des Kahns, das Plätschern der
Ruder, der über den Wasserspiegel hinschauernde Wildhauch, das Säuseln
der Rohre, das letzte Schweben der Vögel, das Blinken und Widerblinken
der ersten Sterne: alles hatte etwas Geisterhaftes in dieser
allgemeinen Stille. Es schien ihr, der Freund führe sie weit weg, um
sie auszusetzen, sie allein zu lassen. Eine wunderbare Bewegung war in
ihrem Innern, und sie konnte nicht weinen.

Der Hauptmann beschrieb ihr unterdessen, wie nach seiner Absicht die
Anlagen werden sollten. Er rühmte die guten Eigenschaften des Kahns,
daß er sich leicht mit zwei Rudern von einer Person bewegen und
regieren lasse. Sie werde das selbst lernen, es sei eine angenehme
Empfindung, manchmal allein auf dem Wasser hinzuschwimmen und sein
eigner Fähr- und Steuermann zu sein.

Bei diesen Worten fiel der Freundin die bevorstehende Trennung aufs
Herz. ‘Sagt er das mit Vorsatz?’ dachte sie bei sich selbst. ‘Weiß er
schon davon? Vermutet ers? Oder sagt er es zufällig, so daß er mir
bewußtlos mein Schicksal vorausverkündigt?’ Es ergriff sie eine große
Wehmut, eine Ungeduld; sie bat ihn, baldmöglichst zu landen und mit ihr
nach dem Schlosse zurückzukehren.

Es war das erstemal, daß der Hauptmann die Teiche befuhr, und ob er
gleich im allgemeinen ihre Tiefe untersucht hatte, so waren ihm doch
die einzelnen Stellen unbekannt. Dunkel fing es an zu werden; er
richtete seinen Lauf dahin, wo er einen bequemen Ort zum Aussteigen
vermutete und den Fußpfad nicht entfernt wußte, der nach dem Schlosse
führte. Aber auch von dieser Bahn wurde er einigermaßen abgelenkt, als
Charlotte mit einer Art von Angstlichkeit den Wunsch wiederholte, bald
am Lande zu sein. Er näherte sich mit erneuten Anstrengungen dem Ufer,
aber leider fühlte er sich in einiger Entfernung davon angehalten; er
hatte sich festgefahren, und seine Bemühungen, wieder loszukommen,
waren vergebens. Was war zu tun? Ihm blieb nichts übrig, als in das
Wasser zu steigen, das seicht genug war, und die Freundin an das Land
zu tragen. Glücklich brachte er die liebe Bürde hinüber, stark genug,
um nicht zu schwanken oder ihr einige Sorgen zu geben; aber doch hatte
sie ängstlich ihre Arme um seinen Hals geschlungen. Er hielt sie fest
und drückte sie an sich. Erst auf einem Rasenabhang ließ er sie nieder,
nicht ohne Bewegung und Verwirrung. Sie lag noch an seinem Halse; er
schloß sie aufs neue in seine Arme und drückte einen lebhaften Kuß auf
ihre Lippen; aber auch im Augenblick lag er zu ihrem Füßen, drückte
seinen Mund auf ihre Hand und rief: „Charlotte, werden Sie mir
vergeben?“

Der Kuß, den der Freund gewagt, den sie ihm beinahe zurückgegeben,
brachte Charlotten wieder zu sich selbst. Sie drückte seine Hand, aber
sie hob ihn nicht auf. Doch indem sie sich zu ihm hinunterneigte und
eine Hand auf seine Schultern legte, rief sie aus: „daß dieser
Augenblick in unserm Leben Epoche mache, können wir nicht verhindern;
aber daß sie unser wert sei, hängt von uns ab. Sie müssen scheiden,
lieber Freund, und Sie werden scheiden. Der Graf macht Anstalt, Ihr
Schicksal zu verbessern; es freut und schmerzt mich. Ich wollte es
verschweigen, bis es gewiß wäre; der Augenblick nötigt mich, dies
Geheimnis zu entdecken. Nur insofern kann ich Ihnen, kann ich mir
verzeihen, wenn wir den Mut haben, unsre Lage zu ändern, da es von uns
nicht abhängt, unsre Gesinnung zu ändern“. Sie hub ihn auf und ergriff
seinen Arm, um sich darauf zu stützen, und so kamen sie stillschweigend
nach dem Schlosse.

Nun aber stand sie in ihrem Schlafzimmer, wo sie sich als Gattin
Eduards empfinden und betrachten mußte. Ihr kam bei diesen
Widersprüchen ihr tüchtiger und durchs Leben mannigfaltig geübter
Charakter zu Hülfe. Immer gewohnt, sich ihrer selbst bewußt zu sein,
sich selbst zu gebieten, ward es ihr auch jetzt nicht schwer, durch
ernste Betrachtung sich dem erwünschten Gleichgewichte zu nähern; ja
sie mußte über sich selbst lächeln, indem sie des wunderlichen
Nachtbesuches gedachte. Doch schnell ergriff sie eine seltsame Ahnung,
ein freudig bängliches Erzittern, das in fromme Wünsche und Hoffnungen
sich auflöste. Gerührt kniete sie nieder, sie wiederholte den Schwur,
den sie Eduarden vor dem Altar getan. Freundschaft, Neigung, Entsagen
gingen vor ihr in heitern Bildern vorüber. Sie fühlte sich innerlich
wiederhergestellt. Bald ergreift sie eine süße Müdigkeit und ruhig
schläft sie ein.



Dreizehntes Kapitel

Eduard von seiner Seite ist in einer ganz verschiedenen Stimmung. Zu
schlafen denkt er so wenig, daß es ihm nicht einmal einfällt, sich
auszuziehen. Die Abschrift des Dokuments küßte er tausendmal, den
Anfang von Ottiliens kindlich schüchterner Hand; das Ende wagt er kaum
zu küssen, weil er seine eigene Hand zu sehen glaubt. ‘O, daß es ein
andres Dokument wäre!’ sagt er sich im stillen; und doch ist es ihm
auch schon die schönste Versicherung, daß sein höchster Wunsch erfüllt
sei. Bleibt es ja doch in seinen Händen! Und wird er es nicht immerfort
an sein Herz drücken, obgleich entstellt durch die Unterschrift eines
Dritten?

Der abnehmende Mond steigt über den Wald hervor. Die warme Nacht lockt
ins Freie; er schweift umher, er ist der unruhigste und der
glücklichste aller Sterblichen. Er wandelt durch die Gärten; sie sind
ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und es wird ihm zu weit. Nach dem
Schlosse zieht es ihn zurück; er findet sich unter Ottiliens Fenstern.
Dort setzt er sich auf eine Terrassentreppe. ‘Mauern und Riegel’, sagt
er zu sich selbst, ‘trennen uns jetzt, aber unsre Herzen sind nicht
getrennt. Stünde sie vor mir, in meine Arme würde sie fallen, ich in
die ihrigen, und was bedarf es weiter als diese Gewißheit!’ Alles war
still um ihn her, kein Lüftchen regte sich; so still wars, daß er das
wühlende Arbeiten emsiger Tiere unter der Erde vernehmen konnte, denen
Tag und Nacht gleich sind. Er hing ganz seinen glücklichen Träumen
nach, schlief endlich ein und erwachte nicht eher wieder, als bis die
Sonne mit herrlichem Blick heraufstieg und die frühsten Nebel
gewältigte.

Nun fand er sich den ersten Wachenden in seinen Besitzungen. Die
Arbeiter schienen ihm zu lange auszubleiben. Sie kamen; es schienen ihm
ihrer zu wenig und die vorgesetzte Tagesarbeit für seine Wünsche zu
gering. Er fragte nach mehreren Arbeitern; man versprach sie und
stellte sie im Laufe des Tages. Aber auch diese sind ihm nicht genug,
um seine Vorsätze schleunig ausgeführt zu sehen. Das Schaffen macht ihm
keine Freude mehr; es soll schon alles fertig sein, und für wen? Die
Wege sollen gebahnt sein, damit Ottilie bequem sie gehen, die Sitze
schon an Ort und Stelle, damit Ottilie dort ruhen könne. Auch an dem
neuen Hause treibt er, was er kann; es soll an Ottiliens Geburtstage
gerichtet werden. In Eduards Gesinnungen wie in seinen Handlungen ist
kein Maß mehr. Das Bewußtsein, zu lieben und geliebt zu werden, treibt
ihn ins Unendliche. Wie verändert ist ihm die Ansicht von allen
Zimmern, von allen Umgebungen! Er findet sich in seinem eigenen Hause
nicht mehr. Ottiliens Gegenwart verschlingt ihm alles; er ist ganz in
ihr versunken, keine andre Betrachtung steigt vor ihm auf, kein
Gewissen spricht ihm zu; alles, was in seiner Natur gebändigt war,
bricht los, sein ganzes Wesen strömt gegen Ottilien.

Der Hauptmann beobachtet dieses leidenschaftliche Treiben und wünscht
den traurigen Folgen zuvorzukommen. Alle diese Anlagen, die jetzt mit
einem einseitigen Triebe, übermäßig gefördert werden, hatte er auf ein
ruhig freundliches Zusammenleben berechnet. Der Verkauf des Vorwerks
war durch ihn zustande gebracht, die erste Zahlung geschehen, Charlotte
hatte sie der Abrede nach in ihre Kasse genommen. Aber sie muß gleich
in der ersten Woche Ernst und Geduld und Ordnung mehr als sonst üben
und im Auge haben; denn nach der übereilten Weise wird das Ausgesetzte
nicht lange reichen.

Es war viel angefangen und viel zu tun. Wie soll er Charlotten in
dieser Lage lassen! Sie beraten sich und kommen überein, man wolle die
planmäßigen Arbeiten lieber selbst beschleunigen, zu dem Ende Gelder
aufnehmen und zu deren Abtragung die Zahlungstermine anweisen, die vom
Vorwerksverkauf zurückgeblieben waren. Es ließ sich fast ohne Verlust
durch Zession der Gerechtsame tun; man hatte freiere Hand; man
leistete, da alles im Gange, Arbeiter genug vorhanden waren, mehr auf
einmal und gelangte gewiß und bald zum Zweck. Eduard stimmte gern bei,
weil es mit seinen Absichten übereintraf.

Im innern Herzen beharrt indessen Charlotte bei dem, was sie bedacht
und sich vorgesetzt, und männlich steht ihr der Freund mit gleichem
Sinn zur Seite. Aber eben dadurch wird ihre Vertraulichkeit nur
vermehrt. Sie erklären sich wechselseitig über Eduards Leidenschaft,
sie beraten sich darüber. Charlotte schließt Ottilien näher an sich,
beobachtet sie strenger, und je mehr sie ihr eigen Herz gewahr worden,
desto tiefer blickt sie in das Herz des Mädchens. Sie sieht keine
Rettung, als sie muß das Kind entfernen.

Nun scheint es ihr eine glückliche Fügung, daß Luciane ein so
ausgezeichnetes Lob in der Pension erhalten; denn die Großtante, davon
unterrichtet, will sie nun ein für allemal zu sich nehmen, sie um sich
haben, sie in die Welt einführen. Ottilie konnte in die Pension
zurückkehren, der Hauptmann entfernte sich wohlversorgt; und alles
stand wie vor wenigen Monaten, ja um so viel besser. Ihr eigenes
Verhältnis hoffte Charlotte zu Eduard bald wiederherzustellen, und sie
legte das alles so verständig bei sich zurecht, daß sie sich nur immer
mehr in dem Wahn bestärkte: in einen frühern, beschränktern Zustand
könne man zurückkehren, ein gewaltsam Entbundenes lasse sich wieder ins
Enge bringen.

Eduard empfand indessen die Hindernisse sehr hoch, die man ihm in den
Weg legte. Er bemerkte gar bald, daß man ihn und Ottilien
auseinanderhielt, daß man ihm erschwerte, sie allein zu sprechen, ja
sich ihr zu nähern, außer in Gegenwart von mehreren; und indem er
hierüber verdrießlich war, ward er es über manches andere. Konnte er
Ottilien flüchtig sprechen, so war es nicht nur, sie seiner Liebe zu
versichern, sondern sich auch über seine Gattin, über den Hauptmann zu
beschweren. Er fühlte nicht, daß er selbst durch sein heftiges Treiben
die Kasse zu erschöpfen auf dem Wege war; er tadelte bitter Charlotten
und den Hauptmann, daß sie bei dem Geschäft gegen die erste Abrede
handelten, und doch hatte er in die zweite Abrede gewilligt, ja er
hatte sie selbst veranlaßt und notwendig gemacht.

Der Haß ist parteiisch, aber die Liebe ist es noch mehr. Auch Ottilie
entfremdete sich einigermaßen von Charlotten und dem Hauptmann. Als
Eduard sich einst gegen Ottilien über den letztern beklagte, daß er als
Freund und in einem solchen Verhältnisse nicht ganz aufrichtig handle,
versetzte Ottilie unbedachtsam: „es hat mir schon früher mißfallen, daß
er nicht ganz redlich gegen Sie ist. Ich hörte ihn einmal zu Charlotten
sagen: ‘wenn uns nur Eduard mit seiner Flötendudelei verschonte! Es
kann daraus nichts werden und ist für die Zuhörer so lästig.’ Sie
können denken, wie mich das geschmerzt hat, da ich Sie so gern
akkompagniere“.

Kaum hatte sie es gesagt, als ihr schon der Geist zuflüsterte, daß sie
hätte schweigen sollen; aber es war heraus. Eduards Gesichtszüge
verwandelten sich. Nie hatte ihn etwas mehr verdrossen; er war in
seinen liebsten Forderungen angegriffen, er war sich eines kindlichen
Strebens ohne die mindeste Anmaßung bewußt. Was ihn unterhielt, was ihn
erfreute, sollte doch mit Schonung von Freunden behandelt werden. Er
dachte nicht, wie schrecklich es für einen Dritten sei, sich die Ohren
durch ein unzulängliches Talent verletzen zu lassen. Er war beleidigt,
wütend, um nicht wieder zu vergeben. Er fühlte sich von allen Pflichten
losgesprochen.

Die Notwendigkeit, mit Ottilien zu sein, sie zu sehen, ihr etwas
zuzuflüstern, ihr zu vertrauen, wuchs mit jedem Tage. Er entschloß
sich, ihr zu schreiben, sie um einen geheimen Briefwechsel zu bitten.
Das Streifchen Papier, worauf er dies lakonisch genug getan hatte, lag
auf dem Schreibtisch und ward vom Zugwind heruntergeführt, als der
Kammerdiener hereintrat, ihm die Haare zu kräuseln. Gewöhnlich, um die
Hitze des Eisens zu versuchen, bückte sich dieser nach Papierschnitzeln
auf der Erde; diesmal ergriff er das Billet, zwickte es eilig, und es
war versengt. Eduard, den Mißgriff bemerkend, riß es ihm aus der Hand.
Bald darauf setzte er sich hin, es noch einmal zu schreiben; es wollte
nicht ganz so zum zweitenmal aus der Feder. Er fühlte einiges Bedenken,
einige Besorgnis, die er jedoch überwand. Ottilien wurde das Blättchen
in die Hand gedrückt, den ersten Augenblick, wo er sich ihr nähern
konnte.

Ottilie versäumte nicht, ihm zu antworten. Ungelesen steckte er das
Zettelchen in die Weste, die, modisch kurz, es nicht gut verwahrte. Es
schob sich heraus und fiel, ohne von ihm bemerkt zu werden, auf den
Boden. Charlotte sah es und hob es auf und reichte es ihm mit einem
flüchtigen Überblick. „Hier ist etwas von deiner Hand“, sagte sie, „das
du vielleicht ungern verlörest“.

Er war betroffen. ‘Verstellt sie sich?’ dachte er. ‘Ist sie den Inhalt
des Blättchens gewahr worden, oder irrt sie sich an der Ähnlichkeit der
Hände?’ Er hoffte, er dachte das letztre. Er war gewarnt, doppelt
gewarnt; aber diese sonderbaren, zufälligen Zeichen, durch die ein
höheres Wesen mit uns zu sprechen scheint, waren seiner Leidenschaft
unverständlich; vielmehr, indem sie ihn immer weiter führte, empfand er
die Beschränkung, in der man ihn zu halten schien, immer unangenehmer.
Die freundliche Geselligkeit verlor sich. Sein Herz war verschlossen,
und wenn er mit Eduard und Frau zusammenzusein genötigt war, so gelang
es ihm nicht, seine frühere Neigung zu ihnen in seinem Busen wieder
aufzufinden, zu beleben. Der stille Vorwurf, den er sich selbst
hierüber machen mußte, war ihm unbequem, und er suchte sich durch eine
Art von Humor zu helfen, der aber, weil er ohne Liebe war, auch der
gewohnten Anmut ermangelte.

Über alle diese Prüfungen half Charlotten ihr inneres Gefühl hinweg.
Sie war sich ihres ernsten Vorsatzes bewußt, auf eine so schöne, edle
Neigung Verzicht zu tun.

Wie sehr wünschte sie, jenen beiden auch zu Hülfe zu kommen!
Entfernung, fühlte sie wohl, wird nicht allein hinreichend sein, ein
solches Übel zu heilen. Sie nimmt sich vor, die Sache gegen das gute
Kind zur Sprache zu bringen; aber sie vermag es nicht; die Erinnerung
ihres eignen Schwankens steht ihr im Wege. Sie sucht sich darüber im
allgemeinen auszudrücken; das Allgemeine paßt auch auf ihren eignen
Zustand, den sie auszusprechen scheut. Ein jeder Wink, den sie Ottilien
geben will, deutet zurück in ihr eignes Herz. Sie will warnen und
fühlt, daß sie wohl selbst noch einer Warnung bedürfen könnte.

Schweigend hält sie daher die Liebenden noch immer auseinander, und die
Sache wird dadurch nicht besser. Leise Andeutungen, die ihr manchmal
entschlüpfen, wirken auf Ottilien nicht; denn Eduard hatte diese von
Charlottens Neigung zum Hauptmann überzeugt, sie überzeugt, daß
Charlotte selbst eine Scheidung wünsche, die er nun auf eine anständige
Weise zu bewirken denke.

Ottilie, getragen durch das Gefühl ihrer Unschuld, auf dem Wege zu dem
erwünschtesten Glück, lebt nur für Eduard. Durch die Liebe zu ihm in
allem Guten gestärkt, um seinetwillen freudiger in ihrem Tun,
aufgeschlossener gegen andre, findet sie sich in einem Himmel auf
Erden.

So setzen alle zusammen, jeder auf seine Weise, das tägliche Leben
fort, mit und ohne Nachdenken; alles scheint seinen gewöhnlichen Gang
zu gehen, wie man auch in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele
steht, noch immer so fortlebt, als wenn von nichts die Rede wäre.



Vierzehntes Kapitel

Von dem Grafen war indessen ein Brief an den Hauptmann angekommen, und
zwar ein doppelter, einer zum Vorzeigen, der sehr schöne Aussichten in
die Ferne darwies; der andre hingegen, der ein entschiedenes Anerbieten
für die Gegenwart enthielt, eine bedeutende Hof- und Geschäftsstelle,
den Charakter als Major, ansehnlichen Gehalt und andre Vorteile, sollte
wegen verschiedener Nebenumstände noch geheimgehalten werden. Auch
unterrichtete der Hauptmann seine Freunde nur von jenen Hoffnungen und
verbarg, was so nahe bevorstand.

Indessen setzte er die gegenwärtigen Geschäfte lebhaft fort und machte
in der Stille Einrichtungen, wie alles in seiner Abwesenheit
ungehinderten Fortgang haben könnte. Es ist ihm nun selbst daran
gelegen, daß für manches ein Termin bestimmt werde, daß Ottiliens
Geburtstag manches beschleunige. Nun wirken die beiden Freunde, obschon
ohne ausdrückliches Einverständnis, gern zusammen. Eduard ist nun recht
zufrieden, daß man durch das Vorauserheben der Gelder die Kasse
verstärkt hat; die ganze Anstalt rückt auf das rascheste vorwärts.

Die drei Teiche in einen See zu verwandeln, hätte jetzt der Hauptmann
am liebsten ganz widerraten. Der untere Damm war zu verstärken, die
mittlern abzutragen und die ganze Sache in mehr als einem Sinne wichtig
und bedenklich. Beide Arbeiten aber, wie sie ineinanderwirken konnten,
waren schon angefangen, und hier kam ein junger Architekt, ein
ehemaliger Zögling des Hauptmanns, sehr erwünscht, der teils mit
Anstellung tüchtiger Meister, teils mit Verdingen der Arbeit, wo sichs
tun ließ, die Sache förderte und dem Werke Sicherheit und Dauer
versprach; wobei sich der Hauptmann im stillen freute, daß man seine
Entfernung nicht fühlen würde. Denn er hatte den Grundsatz, aus einem
übernommenen unvollendeten Geschäft nicht zu scheiden, bis er seine
Stelle genugsam ersetzt sähe. Ja er verachtete diejenigen, die, um
ihren Abgang fühlbar zu machen, erst noch Verwirrung in ihrem Kreise
anrichten, indem sie als ungebildete Selbstler das zu zerstören
wünschen, wobei sie nicht mehr fortwirken sollen.

So arbeitete man immer mit Anstrengung, um Ottiliens Geburtstag zu
verherrlichen, ohne daß man es aussprach oder sichs recht aufrichtig
bekannte. Nach Charlottens obgleich neidlosen Gesinnungen konnte es
doch kein entschiedenes Fest werden. Die Jugend Ottiliens, ihre
Glücksumstände, das Verhältnis zur Familie berechtigten sie nicht, als
Königin eines Tages zu erscheinen. Und Eduard wollte nicht davon
gesprochen haben, weil alles wie von selbst entspringen, überraschen
und natürlich erfreuen sollte.

Alle kamen daher stillschweigend in dem Vorwande überein, als wenn an
diesem Tage, ohne weitere Beziehung, jenes Lusthaus gerichtet werden
sollte, und bei diesem Anlaß konnte man dem Volke sowie den Freunden
ein Fest ankündigen.

Eduards Neigung war aber grenzenlos. Wie er sich Ottilien zuzueignen
begehrte, so kannte er auch kein Maß des Hingebens, Schenkens,
Versprechens. Zu einigen Gaben, die er Ottilien an diesem Tage verehren
wollte, hatte ihm Charlotte viel zu ärmliche Vorschläge getan. Er
sprach mit seinem Kammerdiener, der seine Garderobe besorgte und mit
Handelsleuten und Modehändlern in beständigem Verhältnis blieb; dieser,
nicht unbekannt sowohl mit den angenehmsten Gaben selbst als mit der
besten Art, sie zu überreichen, bestellte sogleich in der Stadt den
niedlichsten Koffer, mit rotem Saffian überzogen, mit Stahlnägeln
beschlagen und angefüllt mit Geschenken, einer solchen Schale würdig.

Noch einen andern Vorschlag tat er Eduarden. Es war ein kleines
Feuerwerk vorhanden, das man immer abzubrennen versäumt hatte. Dies
konnte man leicht verstärken und erweitern. Eduard ergriff den
Gedanken, und jener versprach, für die Ausführung zu sorgen. Die Sache
sollte ein Geheimnis bleiben.

Der Hauptmann hatte unterdessen, je näher der Tag heranrückte, seine
polizeilichen Einrichtungen getroffen, die er für so nötig hielt, wenn
eine Masse Menschen zusammenberufen oder -gelockt wird. Ja sogar hatte
er wegen des Bettelns und andrer Unbequemlichkeiten, wodurch die Anmut
eines Festes gestört wird, durchaus Vorsorge genommen.

Eduard und sein Vertrauter dagegen beschäftigten sich vorzüglich mit
dem Feuerwerk. Am mittelsten Teiche vor jenen großen Eichbäumen sollte
es abgebrannt werden; gegenüber unter den Platanen sollte die
Gesellschaft sich aufhalten, um die Wirkung aus gehöriger Ferne, die
Abspiegelung im Wasser, und was auf dem Wasser selbst brennend zu
schwimmen bestimmt war, mit Sicherheit und Bequemlichkeit anzuschauen.

Unter einem andern Vorwand ließ daher Eduard den Raum unter den
Platanen von Gesträuch, Gras und Moos säubern, und nun erschien erst
die Herrlichkeit des Baumwuchses sowohl an Höhe als Breite auf dem
gereinigten Boden. Eduard empfand darüber die größte Freude. ‘Es war
ungefähr um diese Jahrszeit, als ich sie pflanzte. Wie lange mag es her
sein?’ sagte er zu sich selbst. Sobald er nach Hause kam, schlug er in
alten Tagebüchern nach, die sein Vater, besonders auf dem Lande, sehr
ordentlich geführt hatte. Zwar diese Pflanzung konnte nicht darin
erwähnt sein, aber eine andre häuslich wichtige Begebenheit an
demselben Tage, deren sich Eduard noch wohl erinnerte, mußte notwendig
darin angemerkt stehen. Er durchblättert einige Bände, der Umstand
findet sich. Aber wie erstaunt, wie erfreut ist Eduard, als er das
wunderbarste Zusammentreffen bemerkt! Der Tag, das Jahr jener
Baumpflanzung ist zugleich der Tag, das Jahr von Ottiliens Geburt.



Fünfzehntes Kapitel

Endlich leuchtete Eduarden der sehnlich erwartete Morgen, und nach und
nach stellten viele Gäste sich ein; denn man hatte die Einladungen weit
umhergeschickt, und manche, die das Legen des Grundsteins versäumt
hatten, wovon man soviel Artiges erzählte, wollten diese zweite
Feierlichkeit um so weniger verfehlen.

Vor Tafel erschienen die Zimmerleute mit Musik im Schloßhofe, ihren
reichen Kranz tragend, der aus vielen stufenweise übereinander
schwankenden Laub- und Blumenreifen zusammengesetzt war. Sie sprachen
ihren Gruß und erbaten sich zur gewöhnlichen Ausschmückung seidene
Tücher und Bänder von dem schönen Geschlecht. Indes die Herrschaft
speiste, setzten sie ihren jauchzenden Zug weiter fort, und nachdem sie
sich eine Zeitlang im Dorfe aufgehalten und daselbst Frauen und Mädchen
gleichfalls um manches Band gebracht, so kamen sie endlich, begleitet
und erwartet von einer großen Menge, auf die Höhe, wo das gerichtete
Haus stand.

Charlotte hielt nach der Tafel die Gesellschaft einigermaßen zurück.
Sie wollte keinen feierlichen, förmlichen Zug, und man fand Sich daher
in einzelnen Partieen, ohne Rang und Ordnung, auf dem Platz gemächlich
ein. Charlotte zögerte mit Ottilien und machte dadurch die Sache nicht
besser; denn weil Ottilie wirklich die letzte war, die herantrat, so
schien es, als wenn Trompeten und Pauken nur auf sie gewartet hätten,
als wenn die Feierlichkeit bei ihrer Ankunft nun gleich beginnen müßte.

Dem Hause das rohe Ansehn zu nehmen, hatte man es mit grünem Reisig und
Blumen, nach Angabe des Hauptmanns, architektonisch ausgeschmückt;
allein ohne dessen Mitwissen hatte Eduard den Architekten veranlaßt, in
dem Gesims das Datum mit Blumen zu bezeichnen. Das mochte noch
hingehen; allein zeitig genug langte der Hauptmann an, um zu
verhindern, daß nicht auch der Name Ottiliens im Giebelfelde glänzte.
Er wußte dieses Beginnen auf eine geschickte Weise abzulehnen und die
schon fertigen Blumenbuchstaben beiseitezubringen.

Der Kranz war aufgesteckt und weit umher in der Gegend sichtbar. Bunt
flatterten die Bänder und Tücher in der Luft, und eine kurze Rede
verscholl zum größten Teil im Winde. Die Feierlichkeit war zu Ende, der
Tanz auf dem geebneten und mit Lauben umkreiseten Platze vor dem
Gebäude sollte nun angehen. Ein schmucker Zimmergeselle führte Eduarden
ein flinkes Bauermädchen zu und forderte Ottilien auf, welche
danebenstand. Die beiden Paare fanden sogleich ihre Nachfolger, und
bald genug wechselte Eduard, indem er Ottilien ergriff und mit ihr die
Runde machte. Die jüngere Gesellschaft mischte sich fröhlich in den
Tanz des Volks, indes die ältern beobachteten.

Sodann, ehe man sich auf den Spaziergängen zerstreute, ward abgeredet,
daß man sich mit Untergang der Sonne bei den Platanen wieder versammeln
wollte. Eduard fand sich zuerst ein, ordnete alles und nahm Abrede mit
dem Kammerdiener, der auf der andern Seite in Gesellschaft des
Feuerwerkers die Lusterscheinungen zu besorgen hatte.

Der Hauptmann bemerkte die dazu getroffenen Vorrichtungen nicht mit
Vergnügen; er wollte wegen des zu erwartenden Andrangs der Zuschauer
mit Eduard sprechen, als ihn derselbe etwas hastig bat, er möge ihm
diesen Teil der Feierlichkeit doch allein überlassen.

Schon hatte sich das Volk auf die oberwärts abgestochenen und vom Rasen
entblößten Dämme gedrängt, wo das Erdreich uneben und unsicher war. Die
Sonne ging unter, die Dämmerung trat ein, und in Erwartung größerer
Dunkelheit wurde die Gesellschaft unter den Platanen mit Erfrischungen
bedient. Man fand den Ort unvergleichlich und freute sich in Gedanken,
künftig von hier die Aussicht auf einen weiten und so mannigfaltig
begrenzten See zu genießen.

Ein ruhiger Abend, eine vollkommene Windstille versprachen das
nächtliche Fest zu begünstigen, als auf einmal ein entsetzliches
Geschrei entstand. Große Schollen hatten sich vom Damme losgetrennt,
man sah mehrere Menschen ins Wasser stürzen. Das Erdreich hatte
nachgegeben unter dem Drängen und Treten der immer zunehmenden Menge.
Jeder wollte den besten Platz haben, und nun konnte niemand vorwärts
noch zurück.

Jedermann sprang auf und hinzu, mehr um zu schauen als zu tun; denn was
war da zu tun, wo niemand hinreichen konnte. Nebst einigen
Entschlossenen eilte der Hauptmann herbei, trieb sogleich die Menge von
dem Damm herunter nach den Ufern, um den Hülfreichen freie Hand zu
geben, welche die Versinkenden herauszuziehen suchten. Schon waren alle
teils durch eignes, teils durch fremdes Bestreben wieder auf dem
Trochnen, bis auf einen Knaben, der durch allzu ängstliches Bemühen,
statt sich dem Damm zu nähern, sich davon entfernt hatte. Die Kräfte
schienen ihn zu verlassen, nur einigemal kam noch eine Hand, ein Fuß in
die Höhe. Unglücklicherweise war der Kahn auf der andern Seite, mit
Feuerwerk gefüllt, nur langsam konnte man ihn ausladen, und die Hülfe
verzögerte sich. Des Hauptmanns Entschluß war gefaßt, er warf die
Oberkleider weg, aller Augen richteten sich auf ihn, und seine
tüchtige, kräftige Gestalt flößte jedermann Zutrauen ein; aber ein
Schrei der Überraschung drang aus der Menge hervor, als er sich ins
Wasser stürzte, jedes Auge begleitete ihn, der als geschickter
Schwimmer den Knaben bald erreichte und ihn, jedoch für tot, an den
Damm brachte.

Indessen ruderte der Kahn herbei, der Hauptmann bestieg ihn und
forschte genau von den Anwesenden, ob denn auch wirklich alle gerettet
seien. Der Chirurgus kommt und übernimmt den totgeglaubten Knaben;
Charlotte tritt hinzu, sie bittet den Hauptmann, nur für sich zu
sorgen, nach dem Schlosse zurückzukehren und die Kleider zu wechseln.
Er zaudert, bis ihm gesetzte, verständige Leute, die ganz nahe
gegenwärtig gewesen, die selbst zur Rettung der einzelnen beigetragen,
auf das heiligste versichern, daß alle gerettet seien.

Charlotte sieht ihn nach Hause gehen, sie denkt, daß Wein und Tee und
was sonst nötig wäre, verschlossen ist, daß in solchen Fällen die
Menschen gewöhnlich verkehrt handeln; sie eilt durch die zerstreute
Gesellschaft, die sich noch unter den Platanen befindet. Eduard ist
beschäftigt, jedermann zuzureden: man soll bleiben; in kurzem gedenkt
er das Zeichen zu geben, und das Feuerwerk soll beginnen. Charlotte
tritt hinzu und bittet ihn, ein Vergnügen zu verschieben, das jetzt
nicht am Platze sei, das in dem gegenwärtigen Augenblick nicht genossen
werden könne; sie erinnert ihn, was man dem Geretteten und dem Retter
schuldig sei. „Der Chirurgus wird schon seine Pflicht tun“, versetzte
Eduard. „Er ist mit allem versehen, und unser Zudringen wäre nur eine
hinderliche Teilnahme“.

Charlotte bestand auf ihrem Sinne und winkte Ottilien, die sich
sogleich zum Weggehen anschickte. Eduard ergriff ihre Hand und rief:
„wir wollen diesen Tag nicht im Lazarett endigen! Zur barmherzigen
Schwester ist sie zu gut. Auch ohne uns werden die Scheintoten erwachen
und die Lebendigen sich abtrocknen“.

Charlotte schwieg und ging. Einige folgten ihr, andere diesen; endlich
wollte niemand der Letzte sein, und so folgten alle. Eduard und Ottilie
fanden sich allein unter den Platanen. Er bestand darauf, zu bleiben,
so dringend, so ängstlich sie ihn auch bat, mit ihr nach dem Schlosse
zurückzukehren. „Nein, Ottilie!“ rief er, „das Außerordentliche
geschieht nicht auf glattem, gewöhnlichem Wege. Dieser überraschende
Vorfall von heute abend bringt uns schneller zusammen. Du bist die
Meine! Ich habe dirs schon so oft gesagt und geschworen; wir wollen es
nicht mehr sagen und schwören, nun soll es werden“.

Der Kahn von der andern Seite schwamm herüber. Es war der Kammerdiener,
der verlegen anfragte, was nunmehr mit dem Feuerwerk werden sollte.
„Brennt es ab!“ rief er ihm entgegen. „Für dich allein war es bestellt,
Ottilie, und nun sollst du es auch allein sehen! Erlaube mir, an deiner
Seite sitzend, es mitzugenießen“. Zärtlich bescheiden setzte er sich
neben sie, ohne sie zu berühren.

Raketen rauschten auf, Kanonenschläge donnerten, Leuchtkugeln stiegen,
Schwärmer schlängelten und platzten, Räder gischten, jedes erst
einzeln, dann gepaart, dann alle zusammen und immer gewaltsamer
hintereinander und zusammen. Eduard, dessen Busen brannte, verfolgte
mit lebhaft zufriedenem Blick diese feurigen Erscheinungen. Ottiliens
zartem, aufgeregtem Gemüt war dieses rauschende, blitzende Entstehen
und Verschwinden eher ängstlich als angenehm. Sie lehnte sich
schüchtern an Eduard, dem diese Annäherung, dieses Zutrauen das volle
Gefühl gab, daß sie ihm ganz angehöre.

Die Nacht war kaum in ihre Rechte wieder eingetreten, als der Mond
aufging und die Pfade der beiden Rückkehrenden beleuchtete. Eine Figur,
den Hut in der Hand, vertrat ihnen den Weg und sprach sie um ein
Almosen an, da er an diesem Festlichen Tage versäumt worden sei. Der
Mond schien ihm ins Gesicht, und Eduard erkannte die Züge jenes
zudringlichen Bettlers. Aber so glücklich wie er war, konnte er nicht
ungehalten sein, konnte es ihm nicht einfallen, daß besonders für heute
das Betteln höchlich verpönt worden. Er forschte nicht lange in der
Tasche und gab ein Goldstück hin. Er hätte jeden gern glücklich
gemacht, da sein Glück ohne Grenzen schien.

Zu Hause war indes alles erwünscht gelungen. Die Tätigkeit des
Chirurgen, die Bereitschaft alles Nötigen, der Beistand Charlottens,
alles wirkte zusammen, und der Knabe ward wieder zum Leben hergestellt.
Die Gäste zerstreuten sich, sowohl um noch etwas vom Feuerwerk aus der
Ferne zu sehen, als auch um nach solchen verworrnen Szenen ihre ruhige
Heimat wieder zu betreten.

Auch hatte der Hauptmann, geschwind umgekleidet, an der nötigen
Vorsorge tätigen Anteil genommen; alles war beruhigt, und er fand sich
mit Charlotten allein. Mit zutraulicher Freundlichkeit erklärte er nun,
daß seine Abreise nahe bevorstehe. Sie hatte diesen Abend so viel
erlebt, daß diese Entdeckung wenig Eindruck auf sie machte; sie hatte
gesehen, wie der Freund sich aufopferte, wie er rettete und selbst
gerettet war. Diese wunderbaren Ereignisse schienen ihr eine bedeutende
Zukunft, aber keine unglückliche zu weissagen.

Eduarden, der mit Ottilien hereintrat, wurde die bevorstehende Abreise
des Hauptmanns gleichfalls angekündigt. Er argwohnte, daß Charlotte
früher um das Nähere gewußt habe, war aber viel zu sehr mit sich und
seinen Absichten beschäftigt, als daß er es hätte Übel empfinden
sollen.

Im Gegenteil vernahm er aufmerksam und zufrieden die gute und
ehrenvolle Lage, in die der Hauptmann versetzt werden sollte. Unbändig
drangen seine geheimen Wünsche den Begebenheiten vor. Schon sah er
jenen mit Charlotten verbunden, sich mit Ottilien. Man hätte ihm zu
diesem Fest kein größeres Geschenk machen können.

Aber wie erstaunt war Ottilie, als sie auf ihr Zimmer trat und den
köstlichen kleinen Koffer auf ihrem Tische fand! Sie säumte nicht, ihn
zu eröffnen. Da zeigte sich alles so schön gepackt und geordnet, daß
sie es nicht auseinanderzunehmen, ja kaum zu lüften wagte. Musselin,
Batist, Seide, Schals und Spitzen wetteiferten an Feinheit,
Zierlichkeit und Kostbarkeit. Auch war der Schmuck nicht vergessen. Sie
begriff wohl die Absicht, sie mehr als einmal vom Kopf bis auf den Fuß
zu kleiden; es war aber alles so kostbar und fremd, daß sie sichs in
Gedanken nicht zuzueignen getraute.



Sechzehntes Kapitel

Des andern Morgens war der Hauptmann verschwunden und ein dankbar
gefühltes Blatt an die Freunde von ihm zurückgeblieben. Er und
Charlotte hatten abends vorher schon halben und einsilbigen Abschied
genommen. Sie empfand eine ewige Trennung und ergab sich darein; denn
in dem zweiten Briefe des Grafen, den ihr der Hauptmann zuletzt
mitteilte, war auch von einer Aussicht auf eine vorteilhafte Heirat die
Rede, und obgleich er diesem Punkt keine Aufmerksamkeit schenkte, so
hielt sie doch die Sache schon für gewiß und entsagte ihm rein und
völlig.

Dagegen glaubte sie nun auch die Gewalt, die sie über sich selbst
ausgeübt, von andern fordern zu können. Ihr war es nicht unmöglich
gewesen, andern sollte das gleiche möglich sein. In diesem Sinne begann
sie das Gespräch mit ihrem Gemahl, um so mehr offen und zuversichtlich,
als sie empfand, daß die Sache ein für allemal abgetan werden müsse.
„Unser Freund hat uns verlassen“, sagte sie; „wir sind nun wieder
gegeneinander über wie vormals, und es käme nun wohl auf uns an, ob wir
wieder völlig in den alten Zustand zurückkehren wollten“.

Eduard, der nichts vernahm, als was seiner Leidenschaft schmeichelte,
glaubte, daß Charlotte durch diese Worte den früheren Witwenstand
bezeichnen und, obgleich auf unbestimmte Weise, zu einer Scheidung
Hoffnung machen wolle. Er antwortete deshalb mit Lächeln: „warum nicht?
Es käme nur darauf an, daß man sich verständigte“.

Er fand sich daher gar sehr betrogen, als Charlotte versetzte: „auch
Ottilien in eine andere Lage zu bringen, haben wir gegenwärtig nur zu
wählen; denn es findet sich eine doppelte Gelegenheit, ihr Verhältnisse
zu geben, die für sie wünschenswert sind. Sie kann in die Pension
zurückkehren, da meine Tochter zur Großtante gezogen ist; sie kann in
ein angesehenes Haus aufgenommen werden, um mit einer einzigen Tochter
alle Vorteile einer standesmäßigen Erziehung zu genießen“.

„Indessen“, versetzte Eduard ziemlich gefaßt, „hat Ottilie sich in
unserer freundlichen Gesellschaft so verwöhnt, daß ihr eine andere wohl
schwerlich willkommen sein möchte“.

„Wir haben uns alle verwöhnt“, sagte Charlotte, „und du nicht zum
letzten. Indessen ist es eine Epoche, die uns zur Besinnung auffordert,
die uns ernstlich ermahnt, an das Beste sämtlicher Mitglieder unseres
kleinen Zirkels zu denken und auch irgendeine Aufopferung nicht zu
versagen“.

„Wenigstens finde ich es nicht billig“, versetzte Eduard, „daß Ottilie
aufgeopfert werde, und das geschähe doch, wenn man sie gegenwärtig
unter fremde Menschen hinunterstieße. Den Hauptmann hat sein gutes
Geschick hier aufgesucht; wir dürfen ihn mit Ruhe, ja mit Behagen von
uns wegscheiden lassen. Wer weiß, was Ottilien bevorsteht; warum
sollten wir uns übereilen?“

„Was uns bevorsteht, ist ziemlich klar“, versetzte Charlotte mit
einiger Bewegung, und da sie die Absicht hatte, ein für allemal sich
auszusprechen, fuhr sie fort: „du liebst Ottilien, du gewöhnst dich an
sie. Neigung und Leidenschaft entspringt und nährt sich auch von ihrer
Seite. Warum sollen wir nicht mit Worten aussprechen, was uns jede
Stunde gesteht und bekennt? Sollen wir nicht soviel Vorsicht haben, uns
zu fragen, was das werden wird?“

„Wenn man auch sogleich nicht darauf antworten kann“, versetzte Eduard,
der sich zusammennahm, „so läßt sich doch soviel sagen, daß man eben
alsdann sich am ersten entschließt abzuwarten, was uns die Zukunft
lehren wird, wenn man gerade nicht sagen kann, was aus einer Sache
werden soll“.

„Hier vorauszusehen“, versetzte Charlotte, „bedarf es wohl keiner
großen Weisheit, und soviel läßt sich auf alle Fälle gleich sagen, daß
wir beide nicht mehr jung genug sind, um blindlings dahin zu gehen,
wohin man nicht möchte oder nicht sollte. Niemand kann mehr für uns
sorgen; wir müssen unsre eigenen Freunde sein, unsre eigenen
Hofmeister. Niemand erwartet von uns, daß wir uns in ein Äußerstes
verlieren werden, niemand erwartet, uns tadelnswert oder gar lächerlich
zu finden“.

„Kannst du mirs verdenken“, versetzte Eduard, der die offne, reine
Sprache seiner Gattin nicht zu erwidern vermochte, „kannst du mich
schelten, wenn mir Ottiliens Glück am Herzen liegt? Und nicht etwa ein
künftiges, das immer nicht zu berechnen ist, sondern ein gegenwärtiges?
Denke dir aufrichtig und ohne Selbstbetrug Ottilien aus unserer
Gesellschaft gerissen und fremden Menschen untergeben—ich wenigstens
fühle mich nicht grausam genug, ihr eine solche Veränderung zuzumuten“.

Charlotte ward gar wohl die Entschlossenheit ihres Gemahls hinter
seiner Verstellung gewahr. Erst jetzt fühlte sie, wie weit er sich von
ihr entfernt hatte. Mit einiger Bewegung rief sie aus: „kann Ottilie
glücklich sein, wenn sie uns entzweit, wenn sie mir einen Gatten,
seinen Kindern einen Vater entreißt?“

„Für unsere Kinder, dächte ich, wäre gesorgt“, sagte Eduard lächelnd
und kalt; etwas freundlicher aber fügte er hinzu: „wer wird auch gleich
das äußerste denken!“

„Das Äußerste liegt der Leidenschaft zu allernächst“, bemerkte
Charlotte. „Lehne, solange es noch Zeit ist, den guten Rat nicht ab,
nicht die Hülfe, die ich uns biete. In trüben Fällen muß derjenige
wirken und helfen, der am klarsten sieht. Diesmal bin ichs. Lieber,
liebster Eduard, laß mich gewähren! Kannst du mir zumuten, daß ich auf
mein wohlerworbenes Glück, auf die schönsten Rechte, auf dich so
geradehin Verzicht leisten soll?“

„Wer sagt das?“ versetzte Eduard mit einiger Verlegenheit.

„Du selbst“, versetzte Charlotte; „indem du Ottilien in der Nähe
behalten willst, gestehst du nicht alles zu, was daraus entspringen
muß? Ich will nicht in dich dringen; aber wenn du dich nicht überwinden
kannst, so wirst du wenigstens dich nicht lange mehr betriegen können“.

Eduard fühlte, wie recht sie hatte. Ein ausgesprochenes Wort ist
fürchterlich, wenn es das auf einmal ausspricht, was das Herz lange
sich erlaubt hat; und um nur für den Augenblick auszuweichen, erwiderte
Eduard: „es ist mir ja noch nicht einmal klar, was du vorhast“.

„Meine Absicht war“, versetzte Charlotte, „mit dir die beiden
Vorschläge zu überlegen. Beide haben viel Gutes. Die Pension würde
Ottilien am gemäßesten sein, wenn ich betrachte, wie das Kind jetzt
ist. Jene größere und weitere Lage verspricht aber mehr, wenn ich
bedenke, was sie werden soll“. Sie legte darauf umständlich ihrem
Gemahl die beiden Verhältnisse dar und schloß mit den Worten: „was
meine Meinung betrifft, so würde ich das Haus jener Dame der Pension
vorziehen aus mehreren Ursachen, besonders aber auch, weil ich die
Neigung, ja die Leidenschaft des jungen Mannes, den Ottilie dort für
sich gewonnen, nicht vermehren will“.

Eduard schien ihr Beifall zu geben, nur aber, um einigen Aufschub zu
suchen. Charlotte, die darauf ausging, etwas Entscheidendes zu tun,
ergriff sogleich die Gelegenheit, als Eduard nicht unmittelbar
widersprach, die Abreise Ottiliens, zu der sie schon alles im stillen
vorbereitet hatte, auf die nächsten Tage festzusetzen.

Eduard schauderte, er hielt sich für verraten und die liebevolle
Sprache seiner Frau für ausgedacht, künstlich und planmäßig, um ihn auf
ewig von seinem Glücke zu trennen. Er schien ihr die Sache ganz zu
überlassen; allein schon war innerlich sein Entschluß gefaßt. Um nur zu
Atem zu kommen, um das bevorstehende unabsehliche Unheil der Entfernung
Ottiliens abzuwenden, entschied er sich, sein Haus zu verlassen, und
zwar nicht ganz ohne Vorbewußt Charlottens, die er jedoch durch die
Einleitung zu täuschen verstand, daß er bei Ottiliens Abreise nicht
gegenwärtig sein, ja sie von diesem Augenblick an nicht mehr sehen
wolle. Charlotte, die gewonnen zu haben glaubte, tat ihm allen
Vorschub. Er befahl seine Pferde, gab dem Kammerdiener die nötige
Anweisung, was er einpacken und wie er ihm folgen solle, und so, wie
schon im Stegreife, setzte er sich hin und schrieb.

Eduard an Charlotten

„Das Übel, meine Liebe, das uns befallen hat, mag heilbar sein oder
nicht, dies nur fühle ich: wenn ich im Augenblicke nicht verzweifeln
soll, so muß ich Aufschub finden für mich, für uns alle. Indem ich mich
aufopfre, kann ich fordern. Ich verlasse mein Haus und kehre nur unter
günstigern, ruhigern Aussichten zurück. Du sollst es indessen besitzen,
aber mit Ottilien. Bei dir will ich sie wissen, nicht unter fremden
Menschen. Sorge für sie, behandle sie wie sonst, wie bisher, ja nur
immer liebevoller, freundlicher und zarter. Ich verspreche, kein
heimliches Verhältnis zu Ottilien zu suchen. Laßt mich lieber eine
Zeitlang ganz unwissend, wie ihr lebt; ich will mir das Beste denken.
Denkt auch so von mir. Nur, was ich dich bitte, auf das innigste, auf
das lebhafteste: mache keinen Versuch, Ottilien sonst irgendwo
unterzugeben, in neue Verhältnisse zu bringen! Außer dem Bezirk deines
Schlosses, deines Parks, fremden Menschen anvertraut, gehört sie mir,
und ich werde mich ihrer bemächtigen. Ehrst du aber meine Neigung,
meine Wünsche, meine Schmerzen, schmeichelst du meinem Wahn, meinen
Hoffnungen, so will ich auch der Genesung nicht widerstreben, wenn sie
sich mir anbietet“.

Diese letzte Wendung floß ihm aus der Feder, nicht aus dem Herzen. Ja,
wie er sie auf dem Papier sah, fing er bitterlich an zu weinen. Er
sollte auf irgendeine Weise dem Glück, ja dem Unglück, Ottilien zu
lieben, entsagen! Jetzt fühlte er, was er tat. Er entfernte sich, ohne
zu wissen, was daraus entstehen konnte. Er sollte sie wenigstens jetzt
nicht wiedersehen; ob er sie je widersähe, welche Sicherheit konnte er
sich darüber versprechen? Aber der Brief war geschrieben; die Pferde
standen vor der Tür; jeden Augenblick mußte er fürchten, Ottilien
irgendwo zu erblicken und zugleich seinen Entschluß vereitelt zu sehen.
Er faßte sich; er dachte, daß es ihm doch möglich sei, jeden Augenblick
zurückzukehren und durch die Entfernung gerade seinen Wünschen näher zu
kommen. Im Gegenteil stellte er sich Ottilien vor, aus dem Hause
gedrängt, wenn er bliebe. Er siegelte den Brief, eilte die Treppe hinab
und schwang sich aufs Pferd.

Als er beim Wirtshause vorbeitritt, sah er den Bettler in der Laube
sitzen, den er gestern nacht so reichlich beschenkt hatte. Dieser saß
behaglich an seinem Mittagsmahle, stand auf und neigte sich
ehrerbietig, ja anbetend vor Eduarden. Eben diese Gestalt war ihm
gestern erschienen, als er Ottilien am Arm führte; nun erinnerte sie
ihn schmerzlich an die glücklichste Stunde seines Lebens. Seine Leiden
vermehrten sich; das Gefühl dessen, was er zurückließ, war ihm
unerträglich; nochmals blickte er nach dem Bettler: „o du
Beneidenswerter!“ rief er aus; „du kannst noch am gestrigen Almosen
zehren und ich nicht mehr am gestrigen Glücke!“



Siebzehntes Kapitel

Ottilie trat ans Fenster, als sie jemanden wegreiten hörte, und sah
Eduarden noch im Rücken. Es kam ihr wunderbar vor, daß er das Haus
verließ, ohne sie gesehen, ohne ihr einen Morgengruß geboten zu haben.
Sie ward unruhig und immer nachdenklicher, als Charlotte sie auf einen
weiten Spaziergang mit sich zog und von mancherlei Gegenständen sprach,
aber des Gemahls, und wie es schien vorsätzlich, nicht erwähnte.
Doppelt betroffen war sie daher, bei ihrer Zurückkunft den Tisch nur
mit zwei Gedecken besetzt zu finden.

Wir vermissen ungern gering scheinende Gewohnheiten, aber schmerzlich
empfinden wir erst ein solches Entbehren in bedeutenden Fällen. Eduard
und der Hauptmann fehlten, Charlotte hatte seit langer Zeit zum
erstenmal den Tisch selbst angeordnet, und es wollte Ottilien scheinen,
als wenn sie abgesetzt wäre. Die beiden Frauen saßen gegeneinander
über; Charlotte sprach ganz unbefangen von der Anstellung des
Hauptmanns und von der wenigen Hoffnung, ihn bald wiederzusehen. Das
einzige tröstete Ottilien in ihrer Lage, daß sie glauben konnte, Eduard
sei, um den Freund noch eine Strecke zu begleiten, ihm nachgeritten.

Allein da sie von Tische aufstanden, sahen sie Eduards Reisewagen unter
dem Fenster, und als Charlotte einigermaßen unwillig fragte, wer ihn
hieher bestellt habe, so antwortete man ihr, es sei der Kammerdiener,
der hier noch einiges aufpacken wolle. Ottilie brauchte ihre ganze
Fassung, um ihre Verwunderung und ihren Schmerz zu verbergen.

Der Kammerdiener trat herein und verlangte noch einiges. Es war eine
Mundtasse des Herrn, ein paar silberne Löffel und mancherlei, was
Ottilien auf eine weitere Reise, auf ein längeres Außenbleiben zu
deuten schien. Charlotte verwies ihm sein Begehren ganz trocken: sie
verstehe nicht, was er damit sagen wolle; denn er habe ja alles, was
sich auf den Herrn beziehe, selbst im Beschluß. Der gewandte Mann, dem
es freilich nur darum zu tun war, Ottilien zu sprechen und sie deswegen
unter irgendeinem Vorwande aus dem Zimmer zu locken, wußte sich zu
entschuldigen und auf seinem Verlangen zu beharren, das ihm Ottilie
auch zu gewähren wünschte; allein Charlotte lehnte es ab, der
Kammerdiener mußte sich entfernen, und der Wagen rollte fort.

Es war für Ottilien ein schrecklicher Augenblick. Sie verstand es
nicht, sie begriff es nicht; aber daß ihr Eduard auf geraume Zeit
entrissen war, konnte sie fühlen. Charlotte fühlte den Zustand mit und
ließ sie allein. Wir wagen nicht, ihren Schmerz, ihre Tränen zu
schildern. Sie litt unendlich. Sie bat nur Gott, daß er ihr nur über
diesen Tag weghelfen möchte; sie überstand den Tag und die Nacht, und
als sie sich wiedergefunden, glaubte sie, ein anderes Wesen
anzutreffen.

Sie hatte sich nicht gefaßt, sich nicht ergeben, aber sie war nach so
großem Verluste noch da und hatte noch mehr zu befürchten. Ihre nächste
Sorge, nachdem das Bewußtsein wiedergekehrt, war sogleich, sie möchte
nun, nach Entfernung der Männer, gleichfalls entfernt werden. Sie ahnte
nichts von Eduards Drohungen, wodurch ihr der Aufenthalt neben
Charlotten gesichert war; doch diente ihr das Betragen Charlottens zu
einiger Beruhigung. Diese suchte das gute Kind zu beschäftigen und ließ
sie nur selten, nur ungern von sich; und ob sie gleich wohl wußte, daß
man mit Worten nicht viel gegen eine entschiedene Leidenschaft zu
wirken vermag, so kannte sie doch die Macht der Besonnenheit, des
Bewußtseins, und brachte daher manches zwischen sich und Ottilien zur
Sprache.

So war es für diese ein großer Trost, als jene gelegentlich mit Bedacht
und Vorsatz die weise Betrachtung anstellte: „wie lebhaft ist“, sagte
sie, „die Dankbarkeit derjenigen, denen wir mit Ruhe über
leidenschaftliche Verlegenheiten hinaushelfen! Laß uns freudig und
munter in das eingreifen, was die Männer unvollendet zurückgelassen
haben; so bereiten wir uns die schönste Aussicht auf ihre Rückkehr,
indem wir das, was ihr stürmendes, ungeduldiges Wesen zerstören möchte,
durch unsre Mäßigung erhalten und fördern“.

„Da Sie von Mäßigung sprechen, liebe Tante“, versetzte Ottilie, „so
kann ich nicht bergen, daß mir dabei die Unmäßigkeit der Männer,
besonders was den Wein betrifft, einfällt. Wie oft hat es mich betrübt
und geängstigt, wenn ich bemerken mußte, daß reiner Verstand, Klugheit,
Schonung anderer, Anmut und Liebenswürdigkeit selbst für mehrere
Stunden verlorengingen und oft statt alles des Guten, was ein
trefflicher Mann hervorzubringen und zu gewähren vermag, Unheil und
Verwirrung hereinzubrechen drohte! Wie oft mögen dadurch gewaltsame
Entschließungen veranlaßt werden!“

Charlotte gab ihr recht, doch setzte sie das Gespräch nicht fort; denn
sie fühlte nur zu wohl, daß auch hier Ottilie bloß Eduarden wieder im
Sinne hatte, der zwar nicht gewöhnlich, aber doch öfter, als es
wünschenswert war, sein Vergnügen, seine Gesprächigkeit, seine
Tätigkeit durch einen gelegentlichen Weingenuß zu steigern pflegte.

Hatte bei jener Äußerung Charlottens sich Ottilie die Männer, besonders
Eduarden, wieder herandenken können, so war es ihr um desto
auffallender, als Charlotte von einer bevorstehenden Heirat des
Hauptmanns wie von einer ganz bekannten und gewissen Sache sprach,
wodurch denn alles ein andres Ansehn gewann, als sie nach Eduards
frühern Versicherungen sich vorstellen mochte. Durch alles dies
vermehrte sich die Aufmerksamkeit Ottiliens auf jede Äußerung, jeden
Wink, jede Handlung, jeden Schritt Charlottens. Ottilie war klug,
scharfsinnig, argwöhnisch geworden, ohne es zu wissen.

Charlotte durchdrang indessen das einzelne ihrer ganzen Umgebung mit
scharfem Blick und wirkte darin mit ihrer klaren Gewandtheit, wobei sie
Ottilien beständig teilzunehmen nötigte. Sie zog ihren Haushalt ohne
Bänglichkeit ins Enge; ja, wenn sie alles genau betrachtete, so hielt
sie den leidenschaftlichen Vorfall für eine Art von glücklicher
Schickung. Denn auf den bisherigen Wege wäre man leicht ins Grenzenlose
geraten und hätte den schönen Zustand reichlicher Glücksgüter, ohne
sich zeitig genug zu besinnen, durch ein vordringliches Leben und
Treiben, wo nicht zerstört, doch erschüttert.

Was von Parkanlagen im Gange war, störte sie nicht. Sie ließ vielmehr
dasjenige fortsetzen, was zum Grunde künftiger Ausbildung liegen mußte;
aber dabei hatte es auch sein Bewenden. Ihr zurückkehrender Gemahl
sollte noch genug erfreuliche Beschäftigung finden.

Bei diesen Arbeiten und Vorsätzen konnte sie nicht genug das Verfahren
des Architekten loben. Der See lag in kurzer Zeit ausgebreitet vor
ihren Augen und die neuentstandenen Ufer zierlich und mannigfaltig
bepflanzt und beraset. An dem neuen Hause ward alle rauhe Arbeit
vollbracht, was zur Erhaltung nötig war, besorgt, und dann machte sie
einen Abschluß da, wo man mit Vergnügen wieder von vorn anfangen
konnte. Dabei war sie ruhig und heiter; Ottilie schien es nur; denn in
allem beobachtete sie nichts als Symptome, ob Eduard wohl bald erwartet
werde oder nicht. Nichts interessierte sie an allem als diese
Betrachtung.

Willkommen war ihr daher eine Anstalt, zu der man die Bauerknaben
versammelte und die darauf abzielte, den weitläufig gewordenen Park
immer rein zu erhalten. Eduard hatte schon den Gedanken gehegt. Man
ließ den Knaben eine Art von heiterer Montierung machen, die sie in den
Abendstunden anzogen, nachdem sie sich durchaus gereinigt und gesäubert
hatten. Die Garderobe war im Schloß; dem verständigsten, genausten
Knaben vertraute man die Aufsicht an; der Architekt leitete das Ganze,
und ehe man sichs versah, so hatten die Knaben alle ein gewisses
Geschick. Man fand an ihnen eine bequeme Dressur, und sie verrichteten
ihr Geschäft nicht ohne eine Art von Manöver. Gewiß, wenn sie mit ihren
Scharreisen, gestielten Messerklingen, Rechen, kleinen Spaten und
Hacken und wedelartigen Besen einherzogen, wenn andre mit Körben
hinterdrein kamen, um Unkraut und Steine beiseitezuschaffen, andre das
hohe, große, eiserne Walzenrad hinter sich herzogen, so gab es einen
hübschen, erfreulichen Aufzug, in welchem der Architekt eine artige
Folge von Stellungen und Tätigkeiten für den Fries eines Gartenhauses
sich anmerkte; Ottilie hingegen sah darin nur eine Art von Parade,
welche den rückkehrenden Hausherrn bald begrüßen sollte.

Dies gab ihr Mut und Lust, ihn mit etwas Ähnlichem zu empfangen. Man
hatte zeither die Mädchen des Dorfes im Nähen, Stricken, Spinnen und
andern weiblichen Arbeiten zu ermuntern gesucht. Auch diese Tugenden
hatten zugenommen seit jenen Anstalten zu Reinlichkeit und Schönheit
des Dorfes. Ottilie wirkte stets mit ein, aber mehr zufällig, nach
Gelegenheit und Neigung. Nun gedachte sie es vollständiger und
folgerechter zu machen. Aber aus einer Anzahl Mädchen läßt sich kein
Chor bilden wie aus einer Anzahl Knaben. Sie folgte ihrem guten Sinne,
und ohne sichs ganz deutlich zu machen, suchte sie nichts, als einem
jeden Mädchen Anhänglichkeit an sein Haus, seine Eltern und seine
Geschwister einzuflößen.

Das gelang ihr mit vielen. Nur über ein kleines, lebhaftes Mädchen
wurde immer geklagt, daß sie ohne Geschick sei und im Hause nun ein für
allemal nichts tun wolle. Ottilie konnte dem Mädchen nicht feind sein,
denn ihr war es besonders freundlich. Zu ihr zog es sich, mit ihr ging
und lief es, wenn sie es erlaubte. Da war es tätig, munter und
unermüdet. Die Anhänglichkeit an eine schöne Herrin schien dem Kinde
Bedürfnis zu sein. Anfänglich duldete Ottilie die Begleitung des
Kindes; dann faßte sie selbst Neigung zu ihm; endlich trennten sie sich
nicht mehr, und Nanny begleitete ihre Herrin überallhin.

Diese nahm öfters den Weg nach dem Garten und freute sich über das
schöne Gedeihen. Die Beeren- und Kirschenzeit ging zu Ende, deren
Spätlinge jedoch Nanny sich besonders schmecken ließ. Bei dem übrigen
Obste, das für den Herbst eine so reichliche Ernte versprach, gedachte
der Gärtner beständig des Herrn und niemals, ohne ihn herbeizuwünschen.
Ottilie hörte dem guten alten Manne so gern zu. Er verstand sein
Handwerk vollkommen und hörte nicht auf, ihr von Eduard vorzusprechen.

Als Ottilie sich freute, daß die Pfropfreiser dieses Frühjahrs alle so
gar schön gekommen, erwiderte der Gärtner bedenklich: „ich wünsche nur,
daß der gute Herr viel Freude daran erleben möge. Wäre er diesen Herbst
hier, so würde er sehen, was für köstliche Sorten noch von seinem Herrn
Vater her im alten Schloßgarten stehen. Die jetzigen Herren Obstgärtner
sind nicht so zuverlässig, als sonst die Kartäuser waren. In den
Katalogen findet man wohl lauter honette Namen. Man pfropft und erzieht
und endlich, wenn sie Fürchte tragen, so ist es nicht der Mühe wert,
daß solche Bäume im Garten stehen“.

Am wiederholtesten aber fragte der treue Diener, fast so oft er
Ottilien sah, nach der Rückkunft des Herrn und nach dem Termin
derselben. Und wenn Ottilie ihn nicht angeben konnte, so ließ ihr der
gute Mann nicht ohne stille Betrübnis merken, daß er glaube, sie
vertraue ihm nicht, und peinlich war ihr das Gefühl der Unwissenheit,
das ihr auf diese Weise recht aufgedrungen ward. Doch konnte sie sich
von diesen Rabatten und Beeten nicht trennen. Was sie zusammen zum Teil
gesäet, alles gepflanzt hatten, stand nur im völligen Flor; kaum
bedurfte es noch einer Pflege, außer daß Nanny immer zum Gießen bereit
war. Mit welchen Empfindungen betrachtete Ottilie die späteren Blumen,
die sich erst anzeigten, deren Glanz und Fülle dereinst an Eduards
Geburtstag, dessen Feier sie sich manchmal versprach, prangen, ihre
Neigung und Dankbarkeit ausdrücken sollten! Doch war die Hoffnung,
dieses Fest zu sehen, nicht immer gleich lebendig. Zweifel und Sorgen
umflüsterten stets die Seele des guten Mädchens.

Zu einer eigentlichen, offnen Übereinstimmung mit Charlotten konnte es
auch wohl nicht wieder gebracht werden. Denn freilich war der Zustand
beider Frauen sehr verschieden. Wenn alles beim alten blieb, wenn man
in das Gleis des gesetzmäßigen Lebens zurückkehrte, gewann Charlotte an
gegenwärtigem Glück, und eine frohe Aussicht in die Zukunft öffnete
sich ihr; Ottilie hingegen verlor alles, man kann wohl sagen alles;
denn sie hatte zuerst Leben und Freude in Eduard gefunden, und in dem
gegenwärtigen Zustande fühlte sie eine unendliche Leere, wovon sie
früher kaum etwas geahnet hatte. Denn ein Herz, das sucht, fühlt wohl,
daß ihm etwas mangle; ein Herz, das verloren hat, fühlt, daß es
entbehre. Sehnsucht verwandelt sich in Unmut und Ungeduld, und ein
weibliches Gemüt, zum Erwarten und Abwarten gewöhnt, möchte nun aus
seinem Kreise herausschreiten, tätig werden, unternehmen und auch etwas
für sein Glück tun.

Ottilie hatte Eduarden nicht entsagt. Wie konnte sie es auch, obgleich
Charlotte klug genug, gegen ihre eigne Überzeugung die Sache für
bekannt annahm und als entschieden voraussetzte, daß ein
freundschaftliches, ruhiges Verhältnis zwischen ihrem Gatten und
Ottilien möglich sei. Wie oft aber lag diese nachts, wenn sie sich
eingeschlossen, auf den Knieen vor dem eröffneten Koffer und
betrachtete die Geburtstagsgeschenke, von denen sie noch nichts
gebraucht, nichts zerschnitten, nichts gefertigt. Wie oft eilte das
gute Mädchen mit Sonnenaufgang aus dem Hause, in dem sie sonst alle
ihre Glückseligkeit gefunden hatte, ins Freie hinaus, in die Gegend,
die sie sonst nicht ansprach. Auch auf dem Boden mochte sie nicht
verweilen. Sie sprang in den Kahn und ruderte sich bis mitten in den
See; dann zog sie eine Reisebeschreibung hervor, ließ sich von den
bewegten Wellen schaukeln, las, träumte sich in die Fremde, und immer
fand sie dort ihren Freund; seinem Herzen war sie noch immer nahe
geblieben, er dem ihrigen.



Achtzehntes Kapitel

Daß jener wunderlich tätige Mann, den wir bereits kennengelernt, daß
Mittler, nachdem er von dem Unheil, das unter diesen Freunden
ausgebrochen, Nachricht erhalten, obgleich kein Teil noch seine Hülfe
angerufen, in diesem Falle seine Freundschaft, seine Geschicklichkeit
zu beweisen, zu üben geneigt war, läßt sich denken. Doch schien es ihm
rätlich, erst eine Weile zu zaudern; denn er wußte nur zu wohl, daß es
schwerer sei, gebildeten Menschen bei sittlichen Verworrenheiten zu
Hülfe zu kommen als ungebildeten. Er überließ sie deshalb eine Zeitlang
sich selbst; allein zuletzt konnte er es nicht mehr aushalten und
eilte, Eduarden aufzusuchen, dem er schon auf die Spur gekommen war.

Sein Weg führte ihn zu einem angenehmen Tal, dessen anmutig grünen,
baumreichen Wiesengrund die Wasserfülle eines immer lebendigen Baches
bald durchschlängelte, bald durchrauschte. Auf den sanften Anhöhen
zogen sich fruchtbare Felder und wohlbestandene Obstpflanzungen hin.
Die Dörfer lagen nicht zu nah aneinander, das Ganze hatte einen
friedlichen Charakter, und die einzelnen Partieen, wenn auch nicht zum
Malen, schienen doch zum Leben vorzüglich geeignet zu sein.

Ein wohlerhaltenes Vorwerk mit einem reinlichen, bescheidenen
Wohnhause, von Gärten umgeben, fiel ihm endlich in die Augen. Er
vermutete, hier sei Eduards gegenwärtiger Aufenthalt, und er irrte
nicht.

Von diesem einsamen Freunde können wir soviel sagen, daß er sich im
stillen dem Gefühl seiner Leidenschaft ganz überließ und dabei
mancherlei Plane sich ausdachte, mancherlei Hoffnungen nährte. Er
konnte sich nicht leugnen, daß er Ottilien hier zu sehen wünsche, daß
er wünsche, sie hieher zu führen, zu locken, und was er sich sonst noch
Erlaubtes und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte. Dann schwankte
seine Einbildungskraft in allen Möglichkeiten herum. Sollte er sie hier
nicht besitzen, nicht rechtmäßig besitzen können, so wollte er ihr den
Besitz des Gutes zueignen. Hier sollte sie still für sich, unabhängig
leben; sie sollte glücklich sein und, wenn ihn eine selbstquälerische
Einbildungskraft noch weiter führte, vielleicht mit einem andern
glücklich sein.

So verflossen ihm seine Tage in einem ewigen Schwanken zwischen
Hoffnung und Schmerz, zwischen Tränen und Heiterkeit, zwischen
Vorsätzen, Vorbereitungen und Verzweiflung. Der Anblick Mittlers
überraschte ihn nicht. Er hatte dessen Ankunft längst erwartet, und so
war er ihm auch halb willkommen. Glaubte er ihn von Charlotten
gesendet, so hatte er sich schon auf allerlei Entschuldigungen und
Verzögerungen und sodann auf entscheidendere Vorschläge bereitet;
hoffte er nun aber von Ottilien wieder etwas zu vernehmen, so war ihm
Mittler so lieb als ein himmlischer Bote.

Verdrießlich daher und verstimmt war Eduard, als er vernahm, Mittler
komme nicht von dorther, sondern aus eignem Antriebe. Sein Herz
verschloß sich, und das Gespräch wollte sich anfangs nicht einleiten.
Doch wußte Mittler nur zu gut, daß ein liebevoll beschäftigtes Gemüt
das dringende Bedürfnis hat, sich zu äußern, das, was in ihm vorgeht,
vor einem Freunde auszuschütten, und ließ sich daher gefallen, nach
einigem Hin- und Widerreden diesmal aus seiner Rolle herauszugehen und
statt des Vermittlers den Vertrauten zu spielen.

Als er hiernach auf eine freundliche Weise Eduarden wegen seines
einsamen Lebens tadelte, erwiderte dieser: „o, ich wüßte nicht, wie ich
meine Zeit angenehmer zubringen sollte! Immer bin ich mit ihr
beschäftigt, immer in ihrer Nähe. Ich habe den unschätzbaren Vorteil,
mir denken zu können, wo sich Ottilie befindet, wo sie geht, wo sie
steht, wo sie ausruht. Ich sehe sie vor mir tun und handeln wie
gewöhnlich, schaffen und vornehmen, freilich immer das, was mir am
meisten schmeichelt. Dabei bleibt es aber nicht; denn wie kann ich fern
von ihr glücklich sein! Nun arbeitet meine Phantasie durch, was Ottilie
tun sollte, sich mir zu nähern. Ich schreibe süße, zutrauliche Briefe
in ihrem Namen an mich, ich antworte ihr und verwahre die Blätter
zusammen. Ich habe versprochen, keinen Schritt gegen sie zu tun, und
das will ich halten. Aber was bindet sie, daß sie sich nicht zu mir
wendet? Hat etwa Charlotte die Grausamkeit gehabt, Versprechen und
Schwur von ihr zu fordern, daß sie mir nicht schreiben, keine Nachricht
von sich geben wolle? Es ist natürlich, es ist wahrscheinlich, und doch
finde ich es unerhört, unerträglich. Wenn sie mich liebt, wie ich
glaube, wie ich weiß, warum entschließt sie sich nicht, warum wagt sie
es nicht, zu fliehen und sich in meine Arme zu werfen? Sie sollte das,
denke ich manchmal, sie könnte das. Wenn sich etwas auf dem Vorsaale
regt, sehe ich gegen die Türe. Sie soll hereintreten! Denk ich, hoff
ich. Ach! Und da das Mögliche unmöglich ist, bilde ich mir ein, das
Unmögliche müsse möglich werden. Nachts, wenn ich aufwache, die Lampe
einen unsichern Schein durch das Schlafzimmer wirft, da sollte ihre
Gestalt, ihr Geist, eine Ahnung von ihr vorüberschweben, herantreten,
mich ergreifen, nur einen Augenblick, daß ich eine Art von Versicherung
hätte, sie denke mein, sie sei mein.

Eine einzige Freude bleibt mir noch. Da ich ihr nahe war, träumte ich
nie von ihr; jetzt aber, in der Ferne, sind wir im Traume zusammen, und
sonderbar genug: seit ich andre liebenswürdige Personen hier in der
Nachbarschaft kennengelernt, jetzt erst erscheint mir ihr Bild im
Traum, als wenn sie mir sagen wollte: ‘siehe nur hin und her! Du
findest doch nichts Schöneres und Lieberes als mich.’ Und so mischt
sich ihr Bild in jeden meiner Träume. Alles, was mir mit ihr begegnet,
schiebt sich durch- und übereinander. Bald unterschreiben wir einen
Kontrakt; da ist ihre Hand und die meinige, ihr Name und der meinige;
beide löschen einander aus, beide verschlingen sich. Auch nicht ohne
Schmerz sind diese wonnevollen Gaukeleien der Phantasie. Manchmal tut
sie etwas, das die reine Idee beleidigt, die ich von ihr habe, dann
fühl ich erst, wie sehr ich sie liebe, indem ich über alle Beschreibung
geängstet bin. Manchmal neckt sie mich ganz gegen ihre Art und quält
mich; aber sogleich verändert sich ihr Bild, ihr schönes, rundes,
himmlisches Gesichtchen verlängert sich: es ist eine andre. Aber ich
bin doch gequält, unbefriedigt und zerrüttet.

Lächeln Sie nicht, lieber Mittler, oder lächeln Sie auch! O ich schäme
mich nicht dieser Anhänglichkeit, dieser, wenn Sie wollen, törigen,
rasenden Neigung. Nein, ich habe noch nie geliebt; jetzt erfahre ich
erst, was das heißt. Bisher war alles in meinem Leben nur ein Vorspiel,
nur Hinhalten, nur Zeitvertreib, nur Zeitverderb, bis ich sie
kennenlernte, bis ich sie liebte und ganz und eigentlich liebte. Man
hat mir mir nicht gerade ins Gesicht, aber doch wohl im Rücken den
Vorwurf gemacht: ich pfusche, ich stümpere nur in den meisten Dingen.
Es mag sein; aber ich hatte das noch nicht gefunden, worin ich mich als
Meister zeigen kann. Ich will den sehen, der mich im Talent des Liebens
übertrifft.

Zwar ist es ein jammervolles, ein schmerzen-, ein tränenreiches; aber
ich finde es mir so natürlich, so eigen, daß ich es wohl schwerlich je
wieder aufgebe“.

Durch diese lebhaften, herzlichen Äußerungen hatte sich Eduard wohl
erleichtert; aber es war ihm auch auf einmal jeder einzelne Zug seines
wunderlichen Zustandes deutlich vor die Augen getreten, daß er, vom
schmerzlichen Widerstreit überwältigt, in Tränen ausbrach, die um so
reichlicher flossen, als sein Herz durch Mitteilung weich geworden war.

Mittler, der sein rasches Naturell, seinen unerbittlichen Verstand um
so weniger verleugnen konnte, als er sich durch diesen schmerzlichen
Ausbruch der Leidenschaft Eduards weit von dem Ziel seiner Reise
verschlagen sah, äußerte aufrichtig und derb seine Mibilligung.
Eduard—hieß es—solle sich ermannen, solle bedenken, was er seiner
Manneswürde schuldig sei, solle nicht vergessen, daß dem Menschen zur
höchsten Ehre gereiche, im Unglück sich zu fassen, den Schmerz mit
Gleichmut und Anstand zu ertragen, um höchlich geschätzt, verehrt und
als Muster aufgestellt zu werden.

Aufgeregt, durchdrungen von den peinlichsten Gefühlen, wie Eduard war,
mußten ihm diese Worte hohl und nichtig vorkommen. „Der Glückliche, der
Behagliche hat gut reden“, fuhr Eduard auf; „aber schämen würde er
sich, wenn er einsähe, wie unerträglich er dem Leidenden wird. Eine
unendliche Geduld soll es geben, einen unendlichen Schmerz will der
starre Behagliche nicht anerkennen. Es gibt Fälle, ja, es gibt deren!
Wo jeder Trost niederträchtig und Verzweiflung Pflicht ist. Verschmäht
doch ein edler Grieche, der auch Helden zu schildern weiß, keineswegs,
die seinigen bei schmerzlichem Drange weinen zu lassen. Selbst im
Sprüchwort sagt er: ‘tränenreiche Männer sind gut.’ Verlasse mich
jeder, der trocknen Herzens, trockner Augen ist! Ich verwünsche die
Glücklichen, denen der Unglückliche nur zum Spektakel dienen soll. Er
soll sich in der grausamsten Lage körperlicher und geistiger Bedrängnis
noch edel gebärden, um ihren Beifall zu erhalten, und, damit sie ihm
beim Verscheiden noch applaudieren, wie ein Gladiator mit Anstand vor
ihren Augen umkommen. Lieber Mittler, ich danke Ihnen für Ihren Besuch;
aber Sie erzeigten mir eine große Liebe, wenn Sie sich im Garten, in
der Gegend umsähen. Wir kommen wieder zusammen. Ich suche gefaßter und
Ihnen ähnlicher zu werden“.

Mittler mochte lieber einlenken als die Unterhaltung abbrechen, die er
so leicht nicht wieder anknüpfen konnte. Auch Eduarden war es ganz
gemäß, das Gespräch weiter fortzusetzen, das ohnehin zu seinem Ziele
abzulaufen strebte.

„Freilich“, sagte Eduard, „hilft das Hin- und Widerdenken, das Hin- und
Widerreden zu nichts; doch unter diesem Reden bin ich mich selbst erst
gewahr worden, habe ich erst entschieden gefühlt, wozu ich mich
entschließen sollte, wozu ich entschlossen bin. Ich sehe mein
gegenwärtiges, mein zukünftiges Leben vor mir; nur zwischen Elend und
Genuß habe ich zu wählen. Bewirken Sie, bester Mann, eine Scheidung,
die so notwendig, die schon geschehen ist; schaffen Sie mir Charlottens
Einwilligung! Ich will nicht weiter ausführen, warum ich glaube, daß
sie zu erlangen sein wird. Gehen Sie hin, lieber Mann, beruhigen Sie
uns alle, machen Sie uns glücklich!“

Mittler stockte. Eduard fuhr fort: „mein Schicksal und Ottiliens ist
nicht zu trennen, und wir werden nicht zugrunde gehen. Sehen Sie dieses
Glas! Unsere Namenszüge sind dareingeschnitten. Ein fröhlich Jubelnder
warf es in die Luft; niemand sollte mehr daraus trinken, auf dem
felsigen Boden sollte es zerschellen; aber es ward aufgefangen. Um
hohen Preis habe ich es wieder eingehandelt, und ich trinke nun täglich
daraus, um mich täglich zu überzeugen, daß alle Verhältnisse
unzerstörlich sind, die das Schicksal beschlossen hat“.

„O wehe mir“, rief Mittler, „was muß ich nicht mit meinen Freunden für
Geduld haben! Nun begegnet mir noch gar der Aberglaube, der mir als das
Schädlichste, was bei den Menschen einkehren kann, verhaßt bleibt. Wir
spielen mit Voraussagungen und Träumen und machen dadurch das
alltägliche Leben bedeutend. Aber wenn das Leben nun selbst bedeutend
wird, wenn alles um uns sich bewegt und braust, dann wird das Gewitter
durch jene Gespenster nur noch fürchterlicher“.

„Lassen Sie in dieser Ungewißheit des Lebens“, rief Eduard, „zwischen
diesem Hoffen und Bangen dem bedürftigen Herzen doch nur eine Art von
Leitstern, nach welchem es hinblicke, wenn es auch nicht darnach
steuern kann“.

„Ich ließe mirs wohl gefallen“, versetzte Mittler, „wenn dabei nur
einige Konsequenz zu hoffen wäre, aber ich habe immer gefunden: auf die
warnenden Symptome achtet kein Mensch, auf die schmeichelnden und
versprechenden allein ist die Aufmerksamkeit gerichtet und der Glaube
für sie ganz allein lebendig“.

Da sich nun Mittler sogar in die dunklen Regionen geführt sah, in denen
er sich immer unbehaglicher fühlte, je länger er darin verweilte, so
nahm er den dringenden Wunsch Eduards, der ihn zu Charlotten gehen
hieß, etwas williger auf. Denn was wollte er überhaupt Eduarden in
diesem Augenblicke noch entgegensetzen? Zeit zu gewinnen, zu
erforschen, wie es um die Frauen stehe, das war es, was ihm selbst nach
seinen eignen Gesinnungen zu tun übrigblieb.

Er eilte zu Charlotten, die er wie sonst gefaßt und heiter fand. Sie
unterrichtete ihn gern von allem, was vorgefallen war; denn aus Eduards
Reden konnte er nur die Wirkung abnehmen. Er trat von seiner Seite
behutsam heran, konnte es aber nicht über sich gewinnen, das Wort
Scheidung auch nur im Vorbeigehn auszusprechen. Wie verwundert,
erstaunt und, nach seiner Gesinnung, erheitert war er daher, als
Charlotte ihm in Gefolg so manches Unerfreulichen endlich sagte: „ich
muß glauben, ich muß hoffen, daß alles sich wieder geben, daß Eduard
sich wieder nähern werde. Wie kann es auch wohl anders sein, da Sie
mich guter Hoffnung finden“.

„Versteh ich Sie recht?“ fiel Mittler ein.

„Vollkommen“, versetzte Charlotte.

„Tausendmal gesegnet sei mir diese Nachricht!“ rief er, die Hände
zusammenschlagend. „Ich kenne die Stärke dieses Arguments auf ein
männliches Gemüt. Wie viele Heiraten sah ich dadurch beschleunigt,
befestigt, wiederhergestellt! Mehr als tausend Worte wirkt eine solche
gute Hoffnung, die fürwahr die beste Hoffnung ist, die wir haben
können. Doch“, fuhr er fort, „was mich betrifft, so hätte ich alle
Ursache, verdrießlich zu sein. In diesem Falle, sehe ich wohl, wird
meiner Eigenliebe nicht geschmeichelt. Bei euch kann meine Tätigkeit
keinen Dank verdienen. Ich komme mir vor wie jener Arzt, mein Freund,
dem alle Kuren gelangen, die er um Gottes willen an Armen tat, der aber
selten einen Reichen heilen konnte, der es gut bezahlen wollte.
Glücklicherweise hilft sich hier die Sache von selbst, da meine
Bemühungen, mein Zureden fruchtlos geblieben wären“.

Charlotte verlangte nun von ihm, er solle die Nachricht Eduarden
bringen, einen Brief von ihr mitnehmen und sehen, was zu tun, was
herzustellen sei. Er wollte das nicht eingehen. „Alles ist schon
getan“, rief er aus. „Schreiben Sie! Ein jeder Bote ist so gut als ich.
Muß ich doch meine Schritte hinwenden, wo ich nötiger bin. Ich komme
nur wieder, um Glück zu wünschen; ich komme zur Taufe“.

Charlotte war diesmal, wie schon öfters, über Mittlern unzufrieden.
Sein rasches Wesen brachte manches Gute hervor, aber seine Übereilung
war schuld an manchem Mißlingen. Niemand war abhängiger von
augenblicklich vorgefaßten Meinungen als er.

Charlottens Bote kam zu Eduarden, der ihn mit halbem Schrecken empfing.
Der Brief konnte ebensogut für Nein als für Ja entscheiden. Er wagte
lange nicht, ihn aufzubrechen, und wie stand er betroffen, als er das
Blatt gelesen, versteinert bei folgender Stelle, womit es sich endigte:

„Gedenke jener nächtlichen Stunden, in denen du deine Gattin
abenteuerlich als Liebender besuchtest, sie unwiderstehlich an dich
zogst, sie als eine Geliebte, als eine Braut in die Arme schlossest.
Laß uns in dieser seltsamen Zufälligkeit eine Fügung des Himmels
verehren, die für ein neues Band unserer Verhältnisse gesorgt hat in
dem Augenblick, da das Glück unseres Lebens auseinanderzufallen und zu
verschwinden droht“.

Was von dem Augenblick an in der Seele Eduards vorging, würde schwer zu
schildern sein. In einem solchen Gedränge treten zuletzt alte
Gewohnheiten, alte Neigungen wieder hervor, um die Zeit zu töten und
den Lebensraum auszufüllen. Jagd und Krieg sind eine solche für den
Edelmann immer bereite Aushülfe. Eduard sehnte sich nach äußerer
Gefahr, um der innerlichen das Gleichgewicht zu halten. Er sehnte sich
nach dem Untergang, weil ihm das Dasein unerträglich zu werden drohte;
ja es war ihm ein Trost zu denken, daß er nicht mehr sein werde und
eben dadurch seine Geliebten, seine Freunde glücklich machen könne.
Niemand stellte seinem Willen ein Hindernis entgegen, da er seinen
Entschluß verheimlichte. Mit allen Förmlichkeiten setzte er sein
Testament auf; es war ihm eine süße Empfindung, Ottilien das Gut
vermachen zu können. Für Charlotten, für das Ungeborne, für den
Hauptmann, für seine Dienerschaft war gesorgt. Der wieder ausgebrochene
Krieg begünstigte sein Vorhaben. Militärische Halbheiten hatten ihm in
seiner Jugend viel zu schaffen gemacht; er hatte deswegen den Dienst
verlassen. Nun war es ihm eine herrliche Empfindung, mit einem
Feldherrn zu ziehen, von dem er sich sagen konnte: unter seiner
Anführung ist der Tod wahrscheinlich und der Sieg gewiß.

Ottilie, nachdem auch ihr Charlottens Geheimnis bekannt geworden,
betroffen wie Eduard, und mehr, ging in sich zurück. Sie hatte nichts
weiter zu sagen. Hoffen konnte sie nicht, und wünschen durfte sie
nicht. Einen Blick jedoch in ihr Inneres gewährt uns ihr Tagebuch, aus
dem wir einiges mitzuteilen gedenken.



Zweiter Teil



Erstes Kapitel


Im gemeinen Leben begegnet uns oft, was wir in der Epopöe als
Kunstgriff des Dichters zu rühmen pflegen, daß nämlich, wenn die
Hauptfiguren sich entfernen, verbergen, sich der Untätigkeit hingeben,
gleich sodann schon ein Zweiter, Dritter, bisher kaum Bemerkter den
Platz füllt und, indem er seine ganze Tätigkeit äußert, uns gleichfalls
der Aufmerksamkeit, der Teilnahme, ja des Lobes und Preises würdig
erscheint.

So zeigte sich gleich nach der Entfernung des Hauptmanns und Eduards
jener Architekt täglich bedeutender, von welchem die Anordnung und
Ausführung so manches Unternehmens allein abhing, wobei er sich genau,
verständig und tätig erwies und zugleich den Damen auf mancherlei Art
beistand und in stillen, langwierigen Stunden sie zu unterhalten wußte.
Schon sein äußeres war von der Art, daß es Zutrauen einflößte und
Neigung erweckte. Ein Jüngling im vollen Sinne des Wortes, wohlgebaut,
schlank, eher ein wenig zu groß, bescheiden ohne ängstlich, zutraulich
ohne zudringend zu sein. Freudig übernahm er jede Sorge und Bemühung,
und weil er mit großer Leichtigkeit rechnete, so war ihm bald das ganze
Hauswesen kein Geheimnis, und überallhin verbreitete sich sein
günstiger Einfluß. Die Fremden ließ man ihn gewöhnlich empfangen, und
er wußte einen unerwarteten Besuch entweder abzulehnen oder die Frauen
wenigstens dergestalt darauf vorzubereiten, daß ihnen keine
Unbequemlichkeit daraus entsprang.

Unter andern gab ihm eines Tages ein junger Rechtsgelehrter viel zu
schaffen, der, von einem benachbarten Edelmann gesendet, eine Sache zur
Sprache brachte, die, zwar von keiner sonderlichen Bedeutung,
Charlotten dennoch innig berührte. Wir müssen dieses Vorfalls gedenken,
weil er verschiedenen Dingen einen Anstoß gab, die sonst vielleicht
lange geruht hätten.

Wir erinnern uns jener Veränderung, welche Charlotte mit dem Kirchhofe
vorgenommen hatte. Die sämtlichen Monumente waren von ihrer Stelle
gerückt und hatten an der Mauer, an dem Sockel der Kirche Platz
gefunden. Der übrige Raum war geebnet. Außer einem breiten Wege, der
zur Kirche und an derselben vorbei zu dem jenseitigen Pförtchen führte,
war das Übrige alles mit verschiedenen Arten Klee besäet, der auf das
schönste grünte und blühte. Nach einer gewissen Ordnung sollten vom
Ende heran die neuen Gräber bestellt, doch der Platz jederzeit wieder
verglichen und ebenfalls besäet werden. Niemand konnte leugnen, daß
diese Anstalt beim sonn- und festtätigen Kirchgang eine heitere und
würdige Ansicht gewährte. Sogar der betagte und an alten Gewohnheiten
haftende Geistliche, der anfänglich mit der Einrichtung nicht
sonderlich zufrieden gewesen, hatte nunmehr seine Freude daran, wenn er
unter den alten Linden, gleich Philemon, mit seiner Baucis vor der
Hintertüre ruhend, statt der holprigen Grabstätten einen schönen,
bunten Teppich vor sich sah, der noch überdies seinem Haushalt zugute
kommen sollte, indem Charlotte die Nutzung dieses Fleckes der Pfarre
zusichern lassen.

Allein desungeachtet hatten schon manche Gemeindeglieder früher
gemißbilligt, daß man die Bezeichnung der Stelle, wo ihre Vorfahren
ruhten, aufgehoben und das Andenken dadurch gleichsam ausgelöscht; denn
die wohlerhaltenden Monumente zeigen zwar an, wer begraben sei, aber
nicht, wo er begraben sei, und auf das Wo komme es eigentlich an, wie
viele behaupteten.

Von eben solcher Gesinnung war eine benachbarte Familie, die sich und
den Ihrigen einen Raum auf dieser allgemeinen Ruhestätte vor mehreren
Jahren ausbedungen und dafür der Kirche eine kleine Stiftung zugewendet
hatte. Nun war der junge Rechtsgelehrte abgesendet, um die Stiftung zu
widerrufen und anzuzeigen, daß man nicht weiterzahlen werde, weil die
Bedingung, unter welcher dieses bisher geschehen, einseitig aufgehoben
und auf alle Vorstellungen und Widerreden nicht geachtet worden.
Charlotte, die Urheberin dieser Veränderung, wollte den jungen Mann
selbst sprechen, der zwar lebhaft, aber nicht allzu vorlaut seine und
seines Prinzipals Gründe darlegte und der Gesellschaft manches zu
denken gab.

„Sie sehen“, sprach er nach einem kurzen Eingang, in welchem er seine
Zudringlichkeit zu rechtfertigen wußte, „Sie sehen, daß dem Geringsten
wie dem Höchsten daran gelegen ist, den Ort zu bezeichnen, der die
Seinigen aufbewahrt. Dem ärmsten Landmann, der ein Kind begräbt, ist es
eine Art von Trost, ein schwaches hölzernes Kreuz auf das Grab zu
stellen, es mit einem Kranze zu zieren, um wenigstens das Andenken so
lange zu erhalten, als der Schmerz währt, wenn auch ein solches
Merkzeichen, wie die Trauer selbst, durch die Zeit aufgehoben wird.
Wohlhabende verwandeln diese Kreuze in eiserne, befestigen und schützen
sie auf mancherlei Weise, und hier ist schon Dauer für mehrere Jahre.
Doch weil auch diese endlich sinken und unscheinbar werden, so haben
Begüterte nichts Angelegeneres, als einen Stein aufzurichten, der für
mehrere Generationen zu dauern verspricht und von den Nachkommen erneut
und aufgefrischt werden kann. Aber dieser Stein ist es nicht, der uns
anzieht, sondern das darunter Enthaltene, das daneben der Erde
Vertraute. Es ist nicht sowohl vom Andenken die Rede als von der Person
selbst, nicht von der Erinnerung, sondern von der Gegenwart. Ein
geliebtes Abgeschiedenes umarme ich weit eher und inniger im Grabhügel
als im Denkmal, denn dieses ist für sich eigentlich nur wenig; aber um
dasselbe her sollen sich wie um einen Markstein Gatten, Verwandte,
Freunde selbst nach ihrem Hinscheiden noch versammeln, und der Lebende
soll das Recht behalten, Fremde und Mißwollende auch von der Seite
seiner geliebten Ruhenden abzuweisen und zu entfernen.

Ich halte deswegen dafür, daß mein Prinzipal völlig recht habe, die
Stiftung zurückzunehmen; und dies ist noch billig genug, denn die
Glieder der Familie sind auf eine Weise verletzt, wofür gar kein Ersatz
zu denken ist. Sie sollen das schmerzlich süße Gefühl entbehren, ihren
Geliebten ein Totenopfer zu bringen, die tröstliche Hoffnung, dereinst
unmittelbar neben ihnen zu ruhen“.

„Die Sache ist nicht von der Bedeutung“,versetzte Charlotte, „daß man
sich deshalb durch einen Rechtshandel beunruhigen sollte. Meine Anstalt
reut mich so wenig, daß ich die Kirche gern wegen dessen, was ihr
entgeht, entschädigen will. Nur muß ich Ihnen aufrichtig gestehen: Ihre
Argumente haben mich nicht überzeugt. Das reine Gefühl einer endlichen
allgemeinen Gleichheit, wenigstens nach dem Tode, scheint mir
beruhigender als dieses eigensinnige, starre Fortsetzen unserer
Persönlichkeiten, Anhänglichkeiten und Lebensverhältnisse.—Und was
sagen Sie hierzu?“ richtete sie ihre Frage an den Architekten.

„Ich möchte“, versetzte dieser, „in einer solchen Sache weder streiten
noch den Ausschlag geben. Lassen Sie mich das, was meiner Kunst, meiner
Denkweise am nächsten liegt, bescheidentlich äußern. Seitdem wir nicht
mehr so glücklich sind, die Reste eines geliebten Gegenstandes
eingeurnt an unsere Brust zu drücken, da wir weder reich noch heiter
genug sind, sie unversehrt in großen, wohlausgezierten Sarkophagen zu
verwahren, ja da wir nicht einmal in den Kirchen mehr Platz für uns und
für die Unsrigen finden, sondern hinaus ins Freie gewiesen sind, so
haben wir alle Ursache, die Art und Weise, die Sie, meine gnädige Frau,
eingeleitet haben, zu billigen. Wenn die Glieder einer Gemeinde
reihenweise nebeneinander liegen, so ruhen sie bei und unter den
Ihrigen; und wenn die Erde uns einmal aufnehmen soll, so finde ich
nichts natürlicher und reinlicher, als daß man die zufällig
entstandenen, nach und nach zusammensinkenden Hügel ungesäumt
vergleiche und so die Decke, indem alle sie tragen, einem jeden
leichter gemacht werde“.

„Und ohne irgendein Zeichen des Andenkens, ohne irgend etwas, das der
Erinnerung entgegenkäme, sollte das alles so vorübergehen?“ versetzte
Ottilie.

„Keineswegs!“ fuhr der Architekt fort; „nicht vom Andenken, nur vom
Platze soll man sich lossagen. Der Baukünstler, der Bildhauer sind
höchlich interessiert, daß der Mensch von ihnen, von ihrer Kunst, von
ihrer Hand eine Dauer seines Daseins erwarte; und deswegen wünschte ich
gut gedachte, gut ausgeführte Monumente, nicht einzeln und zufällig
ausgesäet, sondern an einem Orte aufgestellt, wo sie sich Dauer
versprechen können. Da selbst die Frommen und Hohen auf das Vorrecht
Verzicht tun, in den Kirchen persönlich zu ruhen, so stelle man
wenigstens dort oder in schönen Hallen um die Begräbnisplätze
Denkzeichen, Denkschriften auf. Es gibt tausenderlei Formen, die man
ihnen vorschreiben, tausenderlei Zieraten, womit man sie ausschmücken
kann“.

„Wenn die Künstler so reich sind“, versetzte Charlotte, „so sagen Sie
mir doch: wie kann man sich niemals aus der Form eines kleinlichen
Obelisken, einer abgestutzten Säule und eines Aschenkrugs herausfinden?
Anstatt der tausend Erfindungen, deren Sie sich rühmen, habe ich immer
nur tausend Wiederholungen gesehen“.

„Das ist wohl bei uns so“, entgegnete ihr der Architekt, „aber nicht
überall. Und überhaupt mag es mit der Erfindung und der schicklichen
Anwendung eine eigne Sache sein. Besonders hat es in diesem Falle
manche Schwierigkeit, einen ernsten Gegenstand zu erheitern und bei
einem unerfreulichen nicht ins Unerfreuliche zu geraten. Was Entwürfe
zu Monumenten aller Art betrifft, deren habe ich viele gesammelt und
zeige sie gelegentlich; doch bleibt immer das schönste Denkmal des
Menschen eigenes Bildnis. Dieses gibt mehr als irgend etwas anders
einen Begriff von dem, was er war; es ist der beste Text zu vielen oder
wenigen Noten; nur müßte es aber auch in seiner besten Zeit gemacht
sein, welches gewöhnlich versäumt wird. Niemand denkt daran, lebende
Formen zu erhalten, und wenn es geschieht, so geschieht es auf
unzulängliche Weise. Da wird ein Toter geschwind noch abgegossen und
eine solche Maske auf einen Block gesetzt, und das heißt man eine
Büste. Wie selten ist der Künstler imstande, sie völlig
wiederzubeleben!“

„Sie haben, ohne es vielleicht zu wissen ud zu wollen“, versetzte
Charlotte, „dies Gespräch ganz zu meinen Gunsten gelenkt. Das Bild
eines Menschen ist doch wohl unabhängig; überall, wo es steht, steht es
für sich, und wir werden von ihm nicht verlangen, daß es die
eigentliche Grabstätte bezeichne. Aber soll ich Ihnen eine wunderliche
Empfindung bekennen? Selbst gegen die Bildnisse habe ich eine Art von
Abneigung; denn sie scheinen mir immer einen stillen Vorwurf zu machen;
sie deuten auf etwas Entferntes, Abgeschiedenes und erinnern mich, wie
schwer es sei, die Gegenwart recht zu ehren. Gedenkt man, wieviel
Menschen man gesehen, gekannt, und gesteht sich, wie wenig wir ihnen,
wie wenig sie uns gewesen, wie wird uns da zumute! Wir begegnen dem
Geistreichen, ohne uns mit ihm zu unterhalten, dem Gelehrten, ohne von
ihm zu lernen, dem Gereisten, ohne uns zu unterrichten, dem
Liebevollen, ohne ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.

Und leider ereignet sich dies nicht bloß mit den Vorübergehenden.
Gesellschaften und Familien betragen sich so gegen ihre liebsten
Glieder, Städte gegen ihre würdigsten Bürger, Völker gegen ihre
trefflichsten Fürsten, Nationen gegen ihre vorzüglichsten Menschen.

Ich hörte fragen, warum man von den Toten so unbewunden Gutes sage, von
den Lebenden immer mit einer gewissen Vorsicht. Es wurde geantwortet:
weil wir von jenen nichts zu befürchten haben und diese uns noch
irgendwo in den Weg kommen könnten. So unrein ist die Sorge für das
Andenken der andern; es ist meist nur ein selbstischer Scherz, wenn es
dagegen ein heiliger Ernst wäre, seine Verhältnisse gegen die
Überbliebenen immer lebendig und tätig zu erhalten“.



Zweites Kapitel

Aufgeregt durch den Vorfall und die daran sich knüpfenden Gespräche,
begab man sich des andern Tages nach dem Begräbnisplatz zu dessen
Verzierung und Erheiterung der Architekt manchen glücklichen Vorschlag
tat. Allein auch auf die Kirche sollte sich seine Sorgfalt erstrecken,
auf ein Gebäude, das gleich anfänglich seine Aufmerksamkeit an sich
gezogen hatte.

Diese Kirche stand seit mehrern Jahrhunderten, nach deutscher Art und
Kunst in guten Maßen errichtet und auf eine glückliche Weise verziert.
Man konnte wohl nachkommen, daß der Baumeister eines benachbarten
Klosters mit Einsicht und Neigung sich auch an diesem kleineren Gebäude
bewährt, und es wirkte noch immer ernst und angenehm auf den
Betrachter, obgleich die innere neue Einrichtung zum protestantischen
Gottesdienste ihm etwas von seiner Ruhe und Majestät genommen hatte.

Dem Architekten fiel es nicht schwer, sich von Charlotten eine mäßige
Summe zu erbitten, wovon er das äußere sowohl als das Innere im
altertümlichen Sinne herzustellen und mit dem davorliegenden
Auferstehungsfelde zur Übereinstimmung zu bringen gedachte. Er hatte
selbst viel Handgeschick, und einige Arbeiter, die noch am Hausbau
beschäftigt waren, wollte man gern so lange beibehalten, bis auch
dieses fromme Werk vollendet wäre.

Man war nunmehr in dem Falle, das Gebäude selbst mit allen Umgebungen
und Angebäuden zu untersuchen, und da zeigte sich zum größten Erstaunen
und Vergnügen des Architekten eine wenig bemerkte kleine Seitenkapelle
von noch geistreichern und leichtern Maßen, von noch gefälligern und
fleißigern Zierarten. Sie enthielt zugleich manchen geschnitzten und
gemalten Rest jenes älteren Gottesdienstes, der mit mancherlei Gebild
und Gerätschaft die verschiedenen Feste zu bezeichnen und jedes auf
seine eigne Weise zu feiern wußte.

Der Architekt konnte nicht unterlassen, die Kapelle sogleich in seinen
Plan mit hereinzuziehen und besonders diesen engen Raum als ein Denkmal
voriger Zeiten und ihres Geschmacks wiederherzustellen. Er hatte sich
die leeren Flächen nach seiner Neigung schon verziert gedacht und
freute sich, dabei sein malerisches Talent zu üben; allein er machte
seinen Hausgenossen fürs erste ein Geheimnis davon.

Vor allem andern zeigte er versprochenermaßen den Frauen die
verschiedenen Nachbildungen und Entwürfe von alten Grabmonumenten,
Gefäßen und andern dahin sich nähernden Dingen, und als man im Gespräch
auf die einfachern Grabhügel, der nordischen Völker zu reden kam,
brachte er seine Sammlung von mancherlei Waffen und Gerätschaften, die
darin gefunden worden, zur Ansicht. Er hatte alles sehr reinlich und
tragbar in Schubladen und Fächern auf eingeschnittenen, mit Tuch
überzogenen Brettern, sodaß diese alten, ernsten Dinge durch seine
Behandlung etwas Putzhaftes annahmen und man mit Vergnügen darauf wie
auf die Kästchen eines Modehändlers hinblickte. Und da er einmal im
Vorzeigen war, da die Einsamkeit eine Unterhaltung forderte, so pflegte
er jeden Abend mit einem Teil seiner Schätze hervorzutreten. Sie waren
meistenteils deutschen Ursprungs: Brakteaten, Dickmünzen, Siegel und
was sonst sich noch anschließen mag. Alle diese Dinge richteten die
Einbildungskraft gegen die ältere Zeit hin, und da er zuletzt mit den
Anfängen des Drucks, Holzschnitten und den ältesten Kupfern seine
Unterhaltung zierte und die Kirche täglich auch, jenem Sinne gemäß, an
Farbe und sonstiger Auszierung gleichsam der Vergangenheit
entgegenwuchs, so mußte man sich beinahe selbst fragen, ob man denn
wirklich in der neueren Zeit lebe, ob es nicht ein Traum sei, daß man
nunmehr in ganz andern Sitten, Gewohnheiten, Lebensweisen und
Überzeugungen verweile.

Auf solche Art vorbereitet, tat ein größeres Portefeuille, das er
zuletzt herbeibrachte, die beste Wirkung. Es enthielt zwar meist nur
umrissene Figuren, die aber, weil sie auf die Bilder selbst
durchgezeichnet waren, ihren altertümlichen Charakter vollkommen
erhalten hatten, und diesen, wie einnehmend fanden ihn die
Beschauenden! Aus allen Gestalten blickte nur das reinste Dasein
hervor; alle mußte man, wo nicht für edel, doch für gut ansprechen.
Heitere Sammlung, willige Anerkennung eines Ehrwürdigen über uns,
stille Hingebung in Liebe und Erwartung war auf allen Gesichtern, in
allen Gebärden ausgedrückt. Der Greis mit dem kahlen Scheitel, der
reichlockige Knabe, der muntere Jüngling, der ernste Mann, der
verklärte Heilige, der schwebende Engel, alle schienen selig in einem
unschuldigen Genügen, in einem frommen Erwarten. Das Gemeinste, was
geschah, hatte einen Zug von himmlischem Leben, und eine
gottesdienstliche Handlung schien ganz jeder Natur angemessen.

Nach einer solchen Region blicken wohl die meisten wie nach einem
verschwundenen goldenen Zeitalter, nach einem verlorenen Paradiese hin.
Nur vielleicht Ottilie war in dem Fall, sich unter ihresgleichen zu
fühlen.

Wer hätte nun widerstehen können, als der Architekt sich erbot, nach
dem Anlaß dieser Urbilder die Räume zwischen den Spitzbogen der Kapelle
auszumalen und dadurch sein Andenken entschieden an einem Orte zu
stiften, wo es ihm so gut gegangen war. Er erklärte sich hierüber mit
einiger Wehmut; denn er konnte nach der Lage der Sache wohl einsehen,
daß sein Aufenthalt in so vollkommener Gesellschaft nicht immer dauern
könne, ja vielleicht bald abgebrochen werden müsse.

Übrigens waren diese Tage zwar nicht reich an Begebenheiten, doch
voller Anlässe zu ernsthafter Unterhaltung. Wir nehmen daher
Gelegenheit, von demjenigen, was Ottilie sich daraus in ihren Heften
angemerkt, einiges mitzuteilen, wozu wir keinen schicklichern Übergang
finden als durch ein Gleichnis, das sich uns beim Betrachten ihrer
liebenswürdigen Blätter aufdringt.

Wir hören von einer besondern Einrichtung bei der englischen Marine.
Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte, vom stärksten bis zum
schwächsten, sind dergestalt gesponnen, daß ein roter Faden durch das
Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles
aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich sind, daß sie
der Krone gehören.

Ebenso zieht sich durch Ottiliens Tagebuch ein Faden der Neigung und
Anhänglichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet. Dadurch
werden diese Bemerkungen, Betrachtungen, ausgezogenen Sinnsprüche und
was sonst vorkommen mag, der Schreibenden ganz besonders eigen und für
sie von Bedeutung. Selbst jede einzelne von uns ausgewählte und
mitgeteilte Stelle gibt davon das entschiedenste Zeugnis.

Aus Ottiliens Tagebuche

Neben denen dereinst zu ruhen, die man liebt, ist die angenehmste
Vorstellung, welche der Mensch haben kann, wenn er einmal über das
Leben hinausdenkt. Zu den Seinigen versammelt werden ist ein so
herzlicher Ausdruck.

Es gibt mancherlei Denkmale und Merkzeichen, die uns Entfernte und
Abgeschidene näher bringen. Keins ist von der Bedeutung des Bildes. Die
Unterhaltung mit einem geliebten Bilde, selbst wenn es unähnlich ist,
hat was Reizendes, wie es manchmal etwas Reizendes hat, sich mit einem
Freunde streiten. Man fühlt auf eine angenehme Weise, daß man zu zweien
ist und doch nicht auseinander kann.

Man unterhält sich manchmal mit einem gegenwärtigen Menschen als mit
einem Bilde. Er braucht nicht zu sprechen, uns nicht anzusehen, sich
nicht mit uns zu beschäftigen; wir sehen ihn, wir fühlen unser
Verhältnis zu ihm, ja sogar unsere Verhältnisse zu ihm können wachsen,
ohne daß er etwas dazu tut, ohne daß er etwas davon empfindet, daß er
sich eben bloß zu uns wie ein Bild verhält.

Man ist niemals mit einem Porträt zufrieden von Personen, die man
kennt. Deswegen habe ich die Porträtmaler immer bedauert. Man verlangt
so selten von den Leuten das Unmögliche, und gerade von diesen fordert
mans. Sie sollen einem jeden sein Verhältnis zu den Personen, seine
Neigung und Abneigung mit in ihr Bild aufnehmen; sie sollen nicht bloß
darstellen, wie sie einen Menschen fassen, sondern wie jeder ihn fassen
würde. Es nimmt mich nicht wunder, wenn solche Künstler nach und nach
verstockt, gleichgültig und eigensinnig werden. Daraus möchte denn
entstehen, was wollte, wenn man nur nicht gerade darüber die
Abbildungen so mancher lieben und teuren Menschen entbehren müßte.

Es ist wohl wahr, die Sammlung des Architekten von Waffen und alten
Gerätschaften, die nebst dem Körper mit hohen Erdhügeln und
Felsenstücken zugedeckt waren, bezeugt uns, wie unnütz die Vorsorge des
Menschen sei für die Erhaltung seiner Persönlichkeit nach dem Tode. Und
so widersprechend sind wir! Der Architekt gesteht, selbst solche
Grabhügel der Vorfahren geöffnet zu haben, und fährt dennoch fort, sich
mit Denkmälern für die Nachkommen zu beschäftigen.

Warum soll man es aber so streng nehmen? Ist denn alles, was wir tun,
für die Ewigkeit getan? Ziehen wir uns nicht morgens an, um uns abends
wieder auszuziehen? Verreisen wir nicht, um wiederzukehren? Und warum
sollten wir nicht wünschen, neben den Unsrigen zu ruhen, und wenn es
auch nur für ein Jahrhundert wäre?

Wenn man die vielen versunkenen, die durch Kirchgänger abgetretenen
Grabsteine, die über ihren Grabmälern selbst zusammengestürzten Kirchen
erblickt, so kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie ein
zweites Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der Überschrift
eintritt und länger darin verweilt als in dem eigentlichen lebendigen
Leben. Aber auch dieses Bild, dieses zweite Dasein verlischt früher
oder später. Wie über die Menschen, so auch über die Denkmäler läßt
sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen.



Drittes Kapitel

Es ist eine so angenehme Empfindung, sich mit etwas zu beschäftigen,
was man nur halb kann, daß niemand den Dilettanten schelten sollte,
wenn er sich mit einer Kunst abgibt, die er nie lernen wird, noch den
Künstler tadeln dürfte, wenn er über die Grenze seiner Kunst hinaus in
einem benachbarten Felde sich zu ergehen Lust hat.

Mit so billigen Gesinnungen betrachten wir die Anstalten des
Architekten zum Ausmalen der Kapelle. Die Farben waren bereitet, die
Maße genommen, die Kartone gezeichnet; allen Anspruch auf Erfindung
hatte er aufgegeben; er hielt sich an seine Umrisse: nur die sitzenden
und schwebenden Figuren geschickt auszuteilen, den Raum damit
geschmackvoll auszuzieren, war seine Sorge.

Das Gerüste stand, die Arbeit ging vorwärts, und da schon einiges, was
in die Augen fiel, erreicht war, konnte es ihm nicht zuwider sein, daß
Charlotte mit Ottilien ihn besuchte. Die lebendigen Engelsgesichter,
die lebhaften Gewänder auf dem blauen Himmelsgrunde erfreuten das Auge,
indem ihr stilles frommes Wesen das Gemüt zur Sammlung berief und eine
sehr zarte Wirkung hervorbrachte.

Die Frauen waren zu ihm aufs Gerüst gestiegen, und Ottilie bemerkte
kaum, wie abgemessen leicht und bequem das alles zuging, als sich in
ihr das durch frühern Unterricht Empfangene mit einmal zu entwickeln
schien, sie nach Farbe und Pinsel griff und auf erhaltene Anweisung ein
faltenreiches Gewand mit soviel Reinlichkeit als Geschicklichkeit
anlegte.

Charlotte, welche gern sah, wenn Ottilie sich auf irgendeine Weise
beschäftigte und zerstreute, ließ die beiden gewähren und ging, um
ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, um ihre Betrachtungen und Sorgen,
die sie niemanden mitteilen konnte, für sich durchzuarbeiten.

Wenn gewöhnliche Menschen, durch gemeine Verlegenheiten des Tags zu
einem leidenschaftlich ängstlichen Betragen aufgeregt, uns ein
mitleidiges Lächeln abnötigen, so betrachten wir dagegen mit Ehrfurcht
ein Gemüt, in welchem die Saat eines großen Schicksals ausgesäet
worden, das die Entwicklung dieser Empfängnis abwarten muß und weder
das Gute noch das Böse, weder das Glückliche noch das Unglückliche, was
daraus entspringen soll, beschleunigen darf und kann.

Eduard hatte durch Charlottens Boten, den sie ihm in seine Einsamkeit
gesendet, freundlich und teilnehmend, aber doch eher gefaßt und ernst
als zutraulich und liebevoll, geantwortet. Kurz darauf war Eduard
verschwunden, und seine Gattin konnte zu keiner Nachricht von ihm
gelangen, bis sie endlich von ungefähr seinen Namen in den Zeitungen
fand, wo er unter denen, die sich bei einer bedeutenden
Kriegsgelegenheit hervorgetan hatten, mit Auszeichnung genannt war. Sie
wußte nun, welchen Weg er genommen hatte, sie erfuhr, daß er großen
Gefahren entronnen war; allein sie überzeugte sich sogleich, daß er
größere aufsuchen würde, und sie konnte sich daraus nur allzusehr
deuten, daß er in jedem Sinne schwerlich vom Äußersten würde
zurückzuhalten sein. Sie trug diese Sorgen für sich allein immer in
Gedanken und mochte sie hin und wider legen, wie sie wollte, so konnte
sie doch bei keiner Ansicht Beruhigung finden.

Ottilie, von alle dem nichts ahnend, hatte indessen zu jener Arbeit die
größte Neigung gefaßt und von Charlotten gar leicht die Erlaubnis
erhalten, regelmäßig darin fortfahren zu dürfen. Nun ging es rasch
weiter, und der azurne Himmel war bald mit würdigen Bewohnern
bevölkert. Durch eine anhaltende Übung gewannen Ottilie und der
Architekt bei den letzten Bildern mehr Freiheit; sie wurden zusehends
besser. Auch die Gesichter, welche dem Architekten zu malen allein
überlassen war, zeigten nach und nach eine ganz besondere Eigenschaft;
sie fingen sämtlich an, Ottilien zu gleichen. Die Nähe des schönen
Kindes mußte wohl in die Seele des jungen Mannes, der noch keine
natürliche oder künstlerische Physiognomie vorgefaßt hatte, einen so
lebhaften Eindruck machen, daß ihm nach und nach auf dem Wege vom Auge
zur Hand nichts verlorenging, ja daß beide zuletzt ganz gleichstimmig
arbeiteten. Genug, eins der letzten Gesichtchen glückte vollkommen, so
daß es schien, als wenn Ottilie selbst aus den himmlischen Räumen
heruntersähe.

An dem Gewölbe war man fertig; die Wände hatte man sich vorgenommen
einfach zu lassen und nur mit einer hellern bräunlichen Farbe zu
überziehen; die zarten Säulen und künstlichen bildhauerischen Zieraten
sollten sich durch eine dunklere auszeichnen. Aber wie in solchen
Dingen immer eins zum andern führt, so wurden noch Blumen und
Fruchtgehänge beschlossen, welche Himmel und Erde gleichsam
zusammenknüpfen sollten. Hier war nun Ottilie ganz in ihrem Felde. Die
Gärten lieferten die schönsten Muster, und obschon die Kränze sehr
reich ausgestattet wurden, so kam man doch früher, als man gedacht
hatte, damit zustande.

Noch sah aber alles wüste und roh aus. Die Gerüste waren durcheinander
geschoben, die Bretter übereinander geworfen, der ungleiche Fußboden
durch mancherlei vergossene Farben noch mehr verunstaltet. Der
Architekt erbat sich nunmehr, daß die Frauenzimmer ihm acht Tage Zeit
lassen und bis dahin die Kapelle nicht betreten möchten. Endlich
ersuchte er sie an einem schönen Abende, sich beiderseits dahin zu
verfügen; doch wünschte er, sie nicht begleiten zu dürfen, und empfahl
sich sogleich.

„Was er uns auch für eine Überraschung zugedacht haben mag“, sagte
Charlotte, als er weggegangen war, „so habe ich doch gegenwärtig keine
Lust hinunterzugehen. Du nimmst es wohl allein über dich und gibst mir
Nachricht. Gewiß hat er etwas Angenehmes zustande gebracht. Ich werde
es erst in deiner Beschreibung und dann gern in der Wirklichkeit
genießen“.

Ottilie, die wohl wußte, daß Charlotte sich in manchen Stücken in acht
nahm, alle Gemütsbewegungen vermied und besonders nicht überrascht sein
wollte, begab sich sogleich allein auf den Weg und sah sich
unwillkürlich nach dem Architekten um, der aber nirgends erschien und
sich mochte verborgen haben. Sie trat in die Kirche, die sie offen
fand. Diese war schon früher fertig, gereinigt und eingeweiht. Sie trat
zur Türe der Kapelle, deren schwere, mit Erz beschlagene Last sich
leicht vor ihr auftat und sie in einem bekannten Raume mit einem
unerwarteten Anblick überraschte.

Durch das einzige hohe Fenster fiel ein ernstes, buntes Licht herein;
denn es war von farbigen Gläsern anmutig zusammengesetzt. Das Ganze
erhielt dadurch einen fremden Ton und bereitete zu einer eigenen
Stimmung. Die Schönheit des Gewölbes und der Wände ward durch die
Zierde des Fußbodens erhöht, der aus besonders geformten, nach einem
schönen Muster gelegten, durch eine gegossene Gipsfläche verbundenen
Ziegelsteinen bestand. Diese sowohl als die farbigen Scheiben hatte der
Architekt heimlich bereiten lassen und konnte nun in kurzer Zeit alles
zusammenfügen. Auch für Ruheplätze war gesorgt. Es hatten sich unter
jenen kirchlichen Altertümern einige schön geschnitzte Chorstühle
vorgefunden, die nun gar schicklich an den Wänden angebracht
umherstanden.

Ottilie freute sich der bekannten, ihr als ein unbekanntes Ganze
entgegentretenden Teile. Sie stand, ging hin und wider, sah und besah;
endlich setzte sie sich auf einen der Stühle, und es schien ihr, indem
sie auf- und umherblickte, als wenn sie wäre und nicht wäre, als wenn
sie sich empfände und nicht empfände, als wenn dies alles vor ihr, sie
vor sich selbst verschwinden sollte; und nur als die Sonne das bisher
sehr lebhaft beschienene Fenster verließ, erwachte Ottilie vor sich
selbst und eilte nach dem Schlosse.

Sie verbarg sich nicht, in welche sonderbare Epoche diese Überraschung
gefallen sei. Es war der Abend vor Eduards Geburtstage. Diesen hatte
sie freilich ganz anders zu feiern gehofft. Wie sollte nicht alles zu
diesem Feste geschmückt sein! Aber nunmehr stand der ganze herbstliche
Blumenreichtum ungepflückt. Diese Sonnenblumen wendeten noch immer ihr
Angesicht gen Himmel, diese Astern sahen noch immer still bescheiden
vor sich hin, und was allenfalls davon zu Kränzen gebunden war, hatte
zum Muster gedient, einen Ort auszuschmücken, der, wenn er nicht bloß
eine Künstlergrille bleiben, wenn er zu irgend etwas genutzt werden
sollte, nur zu einer gemeinsamen Grabstätte geeignet schien.

Sie mußte sich dabei der geräuschvollen Geschäftigkeit erinnern, mit
welcher Eduard ihr Geburtsfest gefeiert; sie mußte des neugerichteten
Hauses gedenken, unter dessen Decke man sich soviel Freundliches
versprach. Ja das Feuerwerk rauschte ihr wieder vor Augen und Ohren, je
einsamer sie war, desto mehr vor der Einbildungskraft; aber sie fühlte
sich auch nur um desto mehr allein. Sie lehnte sich nicht mehr auf
seinen Arm und hatte keine Hoffnung, an ihm jemals wieder eine Stütze
zu finden.

Aus Ottiliens Tagebuche

Eine Bemerkung des jungen Künstlers muß ich aufzeichnen: „wie am
Handwerker so am bildenden Künstler kann man auf das deutlichste gewahr
werden, daß der Mensch sich am wenigsten zuzueignen vermag, was ihm
ganz eigens angehört. Seine Werke verlassen ihn so wie die Vögel das
Nest, worin sie ausgebrütet worden“.

Der Baukünstler vor allen hat hierin das wunderlichste Schicksal. Wie
oft wendet er seinen ganzen Geist, seine ganze Neigung auf, um Räume
hervorzubringen, von denen er sich selbst ausschließen muß! Die
königlichen Säle sind ihm ihre Pracht schuldig, deren größte Wirkung er
nicht mitgenießt. In den Tempeln zieht er eine Grenze zwischen sich und
dem Allerheiligsten; er darf die Stufen nicht mehr betreten, die er zur
herzerhebenden Feierlichkeit gründete, so wie der Goldschmied die
Monstranz nur von fern anbetet, deren Schmelz und Edelsteine er
zusammengeordnet hat. Dem Reichen übergibt der Baumeister mit dem
Schlüssel des Palastes alle Bequemlichkeit und Behäbigkeit, ohne irgend
etwas davon mitzugenießen. Muß sich nicht allgemach auf diese Weise die
Kunst von dem Künstler entfernen, wenn das Werk wie ein ausgestattetes
Kind nicht mehr auf den Vater zurückwirkt? Und wie sehr mußte die Kunst
sich selbst befördern, als sie fast allein mit dem Öffentlichen, mit
dem, was allen und also auch dem Künstler gehörte, sich zu beschäftigen
bestimmt war!

Eine Vorstellung der alten Völker ist ernst und kann furchtbar
scheinen. Sie dachten sich ihre Vorfahren in großen Höhlen ringsumher
auf Thronen sitzend in stummer Unterhaltung. Dem Neuen, der hereintrat,
wenn er würdig genug war, standen sie auf und neigten ihm einen
Willkommen. Gestern, als ich in der Kapelle saß und meinem geschnitzten
Stuhle gegenüber noch mehrere umhergestellt sah, erschien mir jener
Gedanke gar freundlich und anmutig. „Warum kannst du nicht
sitzenbleiben?“ dachte ich bei mir selbst, „still und in dich gekehrt
sitzenbleiben, lange, lange, bis endlich die Freunde kämen, denen du
aufstündest und ihren Platz mit freundlichem Neigen anwiesest“. Die
farbigen Scheiben machen den Tag zur ernsten Dämmerung, und jemand
müßte eine ewige Lampe stiften, damit auch die Nacht nicht ganz finster
bliebe.

Man mag sich stellen, wie man will, und man denkt sich immer sehend.
Ich glaube, der Mensch träumt nur, damit er nicht aufhöre zu sehen. Es
könnte wohl sein, daß das innere Licht einmal aus uns herausträte,
sodaß wir keines andern mehr bedürften.

Das Jahr klingt ab. Der Wind geht über die Stoppeln und findet nichts
mehr zu bewegen; nur die roten Beeren jener schlanken Bäume scheinen
uns noch an etwas Munteres erinnern zu wollen, so wie uns der
Taktschlag des Dreschers den Gedanken erweckt, daß in der abgesichelten
Ähre soviel Nährendes und Lebendiges verborgen liegt.



Viertes Kapitel

Wie seltsam mußte nach solchen Ereignissen, nach diesem aufgedrungenen
Gefühl von Vergänglichkeit und Hinschwinden Ottilie durch die Nachricht
getroffen werden, die ihr nicht länger verborgen bleiben konnte, daß
Eduard sich dem wechselnden Kriegsglück überliefert habe. Es entging
ihr leider keine von den Betrachtungen, die sie dabei zu machen Ursache
hatte. Glücklicherweise kann der Mensch nur einen gewissen Grad des
Unglücks fassen; was darüber hinausgeht, vernichtet ihn oder läßt ihn
gleichgültig. Es gibt Lagen, in denen Furcht und Hoffnung eins werden,
sich einander wechselseitig aufheben und in eine dunkle Fühllosigkeit
verlieren. Wie könnten wir sonst die entfernten Geliebtesten in
stündlicher Gefahr wissen und dennoch unser tägliches, gewöhnliches
Leben immer so forttreiben.

Es war daher, als wenn ein guter Geist für Ottilien gesorgt hätte,
indem er auf einmal in diese Stille, in der sie einsam und
unbeschäftigt zu versinken schien, ein wildes Heer hereinbrachte, das,
indem es ihr von außen genug zu schaffen gab und sie aus sich selbst
führte, zugleich in ihr das Gefühl eigener Kraft anregte.

Charlottens Tochter, Luciane, war kaum aus der Pension in die große
Welt getreten, hatte kaum in dem Hause ihrer Tante sich von zahlreicher
Gesellschaft umgeben gesehen, als ihr Gefallenwollen wirklich Gefallen
erregte und ein junger, sehr reicher Mann gar bald eine heftige Neigung
empfand, sie zu besitzen. Sein ansehnliches Vermögen gab ihm ein Recht,
das Beste jeder Art sein eigen zu nennen, und es schien ihm nichts
weiter abzugehen als eine vollkommene Frau, um die ihn die Welt so wie
um das übrige zu beneiden hätte.

Diese Familienangelegenheit war es, welche Charlotten bisher sehr viel
zu tun gab, der sie ihre ganze Überlegung, ihre Korrespondenz widmete,
insofern diese nicht darauf gerichtet war, von Eduard nähere Nachricht
zu erhalten; deswegen auch Ottilie mehr als sonst in der letzten Zeit
allein blieb. Diese wußte zwar um die Ankunft Lucianens; im Hause hatte
sie deshalb die nötigsten Vorkehrungen getroffen; allein so nahe
stellte man sich den Besuch nicht vor. Man wollte vorher noch
schreiben, abreden, näher bestimmen, als der Sturm auf einmal über das
Schloß und Ottilien hereinbrach.

Angefahren kamen nun Kammerjungfern und Bediente, Brancards mit Koffern
und Kisten; man glaubte schon eine doppelte und dreifache Herrschaft im
Hause zu haben; aber nun erschienen erst die Gäste selbst: die
Großtante mit Lucianen und einigen Freundinnen, der Bräutigam
gleichfalls nicht unbegleitet. Da lag das Vorhaus voll Vachen,
Mantelsäcke und anderer lederner Gehäuse. Mit Mühe sonderte man die
vielen Kästchen und Futterale auseinander. Des Gepäckes und Geschleppes
war kein Ende. Dazwischen regnete es mit Gewalt, woraus manche
Unbequemlichkeit entstand. Diesem ungestümen Treiben begegnete Ottilie
mit gleichmütiger Tätigkeit, ja ihr heiteres Geschick erschien im
schönsten Glanze; denn sie hatte in kurzer Zeit alles untergebracht und
angeordnet. Jedermann war logiert, jedermann nach seiner Art bequem,
und glaubte gut bedient zu sein, weil er nicht gehindert war, sich
selbst zu bedienen.

Nun hätten alle gern, nach einer höchst beschwerlichen Reise, einige
Ruhe genossen; der Bräutigam hätte sich seiner Schwiegermutter gern
genähert, um ihr seine Liebe, seinen guten Willen zu beteuern; aber
Luciane konnte nicht rasten. Sie war nun einmal zu dem Glücke gelangt,
ein Pferd besteigen zu dürfen. Der Bräutigam hatte schöne Pferde, und
sogleich mußte man aufsitzen. Wetter und Wind, Regen und Sturm kamen
nicht in Anschlag; es war, als wenn man nur lebte, um naß zu werden und
sich wieder zu trocknen. Fiel es ihr ein, zu Fuße auszugehen, so fragte
sie nicht, was für Kleider sie anhatte und wie sie beschuht war: sie
mußte die Anlagen besichtigen, von denen sie vieles gehört hatte. Was
nicht zu Pferde geschehen konnte, wurde zu Fuß durchrannt. Bald hatte
sie alles gesehen und abgeurteilt. Bei der Schnelligkeit ihres Wesens
war ihr nicht leicht zu widersprechen. Die Gesellschaft hatte manches
zu leiden, am meisten aber die Kammermädchen, die mit Waschen und
Bügeln, Auftrennen und Annähen nicht fertig werden konnten.

Kaum hatte sie das Haus und die Gegend erschöpft, als sie sich
verpflichtet fühlte, rings in der Nachbarschaft Besuch abzulegen. Weil
man sehr schnell ritt und fuhr, so reichte die Nachbarschaft ziemlich
fern umher. Das Schloß ward mit Gegenbesuchen überschwemmt, und damit
man sich ja nicht verfehlen möchte, wurden bald bestimmte Tage
angesetzt.

Indessen Charlotte mit der Tante und dem Geschäftsträger des Bräutigams
die innern Verhältnisse festzustellen bemüht war und Ottilie mit ihren
Untergebenen dafür zu sorgen wußte, daß es an nichts bei so großem
Zugang fehlen möchte, da denn Jäger und Gärtner, Fischer und Krämer in
Bewegung gesetzt wurden, zeigte sich Luciane immer wie ein brennender
Kometenkern, der einen langen Schweif nach sich zieht. Die gewöhnlichen
Besuchsunterhaltungen dünkten ihr bald ganz unschmackhaft. Kaum daß sie
den ältesten Personen eine Ruhe am Spieltisch gönnte: wer noch
einigermaßen beweglich war—und wer ließ sich nicht durch ihre reizenden
Zudringlichkeiten in Bewegung setzen?—mußte herbei, wo nicht zum Tanze,
doch zum lebhaften Pfand-, Straf- und Vexierspiel. Und obgleich das
alles, so wie hernach die Pfänderlösung, auf sie selbst berechnet war,
so ging doch von der andern Seite niemand, besonders kein Mann, er
mochte von einer Art sein, von welcher er wollte, ganz leer aus; ja es
glückte ihr, einige ältere Personen von Bedeutung ganz für sich zu
gewinnen, indem sie ihre eben einfallenden Geburts- und Namenstage
ausgeforscht hatte und besonders feierte. Dabei kam ihr ein ganz eignes
Geschick zustatten, sodaß, indem alle sich begünstigt sahen, jeder sich
für den am meisten Begünstigten hielt: eine Schwachheit, deren sich
sogar der älteste in der Gesellschaft am allermerklichsten schuldig
machte.

Schien es bei ihr Plan zu sein, Männer, die etwas vorstellten, Rang,
Ansehen, Ruhm oder sonst etwas Bedeutendes für sich hatten, für sich zu
gewinnen, Weisheit und Besonnenheit zuschanden zu machen und ihrem
wilden, wunderlichen Wesen selbst bei der Bedächtlichkeit Gust zu
erwerben, so kam die Jugend doch dabei nicht zu kurz; jeder hatte sein
Teil, seinen Tag, seine Stunde, in der sie ihn zu entzücken und zu
fesseln wußte. So hatte sie den Architekten schon bald ins Auge gefaßt,
der jedoch aus seinem schwarzen, langlockigen Haar so unbefangen
heraussah, so gerad und ruhig in der Entfernung stand, auf alle Fragen
kurz und verständig antwortete, sich aber auf nichts weiter einzulassen
geneigt schien, daß sie sich endlich einmal, halb unwillig halb listig,
entschloß, ihn zum Helden des Tages zu machen und dadurch auch für
ihren Hof zu gewinnen.

Nicht umsonst hatte sie so vieles Gepäck mitgebracht, ja es war ihr
noch manches gefolgt. Sie hatte sich auf eine unendliche Abwechselung
in Kleidern vorgesehen. Wenn es ihr Vergnügen machte, sich des Tages
drei-, viermal umzuziehen und mit gewöhnlichen, in der Gesellschaft
üblichen Kleidern vom Morgen bis in die Nacht zu wechseln, so erschien
sie dazwischen wohl auch einmal im wirklichen Maskenkleid, als Bäuerin
und Fischerin, als Fee und Blumenmädchen. Sie verschmähte nicht, sich
als alte Frau zu verkleiden, um desto frischer ihr junges Gesicht aus
der Kutte hervorzuzeigen; und wirklich verwirrte sie dadurch das
Gegenwärtige und das Eingebildete dergestalt, daß man sich mit der
Saalnixe verwandt und verschwägert zu sein glaubte.

Wozu sie aber diese Verkleidungen hauptsächlich benutzte, waren
pantomimische Stellungen und Tänze, in denen sie verschiedene
Charaktere auszudrücken gewandt war. Ein Kavalier aus ihrem Gefolge
hatte sich eingerichtet, auf dem Flügel ihre Gebärden mit der wenigen
nötigen Musik zu begleiten; es bedurfte nur einer kurzen Abrede, und
sie waren sogleich in Einstimmung.

Eines Tages, als man sie bei der Pause eines lebhaften Balls auf ihren
eigenen heimlichen Antrieb gleichsam aus dem Stegereife zu einer
solchen Darstellung aufgefordert hatte, schien sie verlegen und
überrascht und ließ sich wider ihre Gewohnheit lange bitten. Sie zeigte
sich unentschlossen, ließ die Wahl, bat wie ein Imporvisator um einen
Gegenstand, bis endlich jener Klavier spielende Gehülfe, mit dem es
abgeredet sein mochte, sich an den Flügel setzte, einen Trauermarsch zu
spielen anfing und sie aufforderte, jene Artemisia zu geben, welche sie
so vortrefflich einstudiert habe. Sie ließ sich erbitten, und nach
einer kurzen Abwesenheit erschien sie, bei den zärtlich traurigen Tönen
des Totenmarsches, in Gestalt der königlichen Witwe, mit gemessenem
Schritt, einen Aschenkrug vor sich hertragend. Hinter ihr brachte man
eine große schwarze Tafel und in einer goldenen Reißfeder ein
wohlzugeschnitztes Stück Kreide.

Einer ihrer Verehrer und Adjutanten, dem sie etwas ins Ohr sagte, ging
sogleich den Architekten aufzufordern, zu nötigen und gewissermaßen
herbeizuschieben, daß er als Baumeister das Grab des mausolus zeichnen
und also keineswegs einen Statisten, sondern einen ernstlich
Mitspielenden vorstellen sollte. Wie verlegen der Architekt auch
äußerlich erschien—denn er machte in seiner ganz schwarzen, knappen,
modernen Zivilgestalt einen wunderlichen Kontrast mit jenen Flören,
Kreppen, Fransen, Schmelzen, Quasten und Kronen -, so faßte er sich
doch gleich innerlich, allein um so wunderlicher war es anzusehen. Mit
dem größten Ernst stellte er sich vor die große Tafel, die von ein paar
Pagen gehalten wurde, und zeichnete mit viel Bedacht und Genauigkeit
ein Grabmal, das zwar eher einem longobardischen als einem karischen
König wäre gemäß gewesen, aber doch in so schönen Verhältnissen, so
ernst in seinen Teilen, so geistreich in seinen Zieraten, daß man es
mit Vergnügen entstehen sah und, als es fertig war, bewunderte.

Er hatte sich in diesem ganzen Zeitraum fast nicht gegen die Königin
gewendet, sondern seinem Geschäft alle Aufmerksamkeit gewidmet.
Endlich, als er sich vor ihr neigte und andeutete, daß er nun ihre
Befehle vollzogen zu haben glaube, hielt sie ihm noch die Urne hin und
bezeichnete das Verlangen, diese oben auf dem Gipfel abgebildet zu
sehen. Er tat es, obgleich ungern, weil sie zu dem Charakter seines
übrigen Entwurfs nicht passen wollte. Was Lucianen betraf, so war sie
endlich von ihrer Ungeduld erlöst; denn ihre Absicht war keineswegs,
eine gewissenhafte Zeichnung von ihm zu haben. Hätte er mit wenigen
Strichen nur hinskizziert, was etwa einem Monument ähnlich gesehen, und
sich die übrige Zeit mit ihr abgegeben, so wäre das wohl dem Endzweck
und ihren Wünschen gemäßer gewesen. Bei seinem Benehmen dagegen kam sie
in die größte Verlegenheit; denn ob sie gleich in ihrem Schmerz, ihren
Anordnungen und Andeutungen, ihrem Beifall über das nach und nach
Entstehende ziemlich abzuwechseln suchte und sie ihn einigemal beinahe
herumzerrte, um nur mit ihm in eine Art von Verhältnis zu kommen, so
erwies er sich doch gar zu steif, dergestalt daß sie allzuoft ihre
Zuflucht zur Urne nehmen, sie an ihr Herz drücken und zum Himmel
schauen mußte, ja zuletzt, weil sich doch dergleichen Situationen immer
steigern, mehr einer Witwe von Ephesus als einer Königin von Karien
ähnlich sah. Die Vorstellung zog sich daher in die Lage; der
Klavierspieler, der sonst Geduld genug hatte, wußte nicht mehr, in
welchen Ton er ausweichen sollte. Er dankte Gott, als er die Urne auf
der Pyramide stehn sah, und fiel unwillkürlich, als die Königin ihren
Dank ausdrücken wollte, in ein lustiges Thema, wodurch die Vorstellung
zwar ihren Charakter verlor, die Gesellschaft jedoch völlig
aufgeheitert wurde, die sich denn sogleich teilte, der Dame für ihren
vortrefflichen Ausdruck und dem Architekten für seine künstliche und
zierliche Zeichnung eine freudige Bewunderung zu beweisen.

Besonders der Bräutigam unterhielt sich mit dem Achritekten. „Es tut
mir leid“, sagte jener, „daß die Zeichnung so vergänglich ist. Sie
erlauben wenigstens, daß ich sie mir auf mein Zimmer bringen lasse und
mich mit Ihnen darüber unterhalte“. „Wenn es Ihnen Vergnügen macht“,
sagte der Architekt, „so kann ich Ihnen sorgfältige Zeichnungen von
dergleichen Gebäuden und Monumenten vorlegen, wovon dieses nur ein
zufälliger, flüchtiger Entwurf ist“.

Ottilie stand nicht fern und trat zu den beiden. „Versäumen Sie
nicht“,sagte sie zum Architekten, „den Herrn Baron gelegentlich Ihre
Sammlung sehen zu lassen; er ist ein Freund der Kunst und des
Altertums; ich wünsche, daß Sie sich näher kennenlernen“.

Luciane kam herbeigefahren und fragte: „wovon ist die Rede?“

„Von einer Sammlung Kunstwerke“, antwortete der Baron, „welche dieser
Herr besitzt und die er uns gelegentlich zeigen will“.

„Er mag sie nur gleich bringen!“ rief Luciane. „Nicht wahr, Sie bringen
sie gleich?“ setzte sie schmeichelnd hinzu, indem sie ihn mit beiden
Händen freundlich anfaßte.

„Es möchte jetzt der Zeitpunkt nicht sein“, versetzte der Architekt.

„Was!“ rief Luciane gebieterisch, „Sie wollen dem Befehl Ihrer Königin
nicht gehorchen?“ Dann legte sie sich auf ein neckisches Bitten.

„Sein Sie nicht eigensinnig!“ sagte Ottilie halb leise.

Der Architekt entfernte sich mit einer Beugung; sie war weder bejahend
noch verneinend.

Kaum war er fort, als Luciane sich mit einem Windspiel im Saale
herumjagte. „Ach!“ rief sie aus, indem sie zufällig an ihre Mutter
stieß, „wie bin ich nicht unglücklich! Ich habe meinen Affen nicht
mitgenommen; man hat es mir abgeraten; es ist aber nur die
Bequemlichkeit meiner Leute, die mich um dieses Vergnügen bringt. Ich
will ihn aber nachkommen lassen, es soll mir jemand hin, ihn zu holen.
Wenn ich nur sein Bildnis sehen könnte, so wäre ich schon vergnügt. Ich
will ihn aber gewiß auch malen lassen, und er soll mir nicht von der
Seite kommen“.

„Vielleicht kann ich dich trösten“, versetzte Charlotte, „wenn ich dir
aus der Bibliothek einen ganzen Band der wunderlichsten Affenbilder
kommen lasse“. Luciane schrie vor Freuden laut auf, und der Folioband
wurde gebracht. Der Anblick dieser menschenähnlichen und durch den
Künstler noch mehr vermenschlichten abscheulichen Geschöpfe machte
Lucianen die größte Freude. Ganz glücklich aber fühlte sie sich, bei
einem jeden dieser Tiere die Ähnlichkeit mit bekannten Menschen zu
finden. „Sieht der nicht aus wie die Onkel?“ rief sie unbarmherzig,
„der wie der Galanteriehändler M—, der wie der Pfarrer S—, und dieser
ist der Dings—der—leibhaftig. Im Grunde sind doch die Affen die
eigentlichen Incroyables, und es ist unbegreiflich, wie man sie aus der
besten Gesellschaft ausschließen mag“.

Sie sagte das in der besten Gesellschaft, doch niemand nahm es ihr
übel. Man war so gewohnt, ihrer Anmut vieles zu erlauben, daß man
zuletzt ihrer Unart alles erlaubte.

Ottilie unterhielt sich indessen mit dem Bräutigam. Sie hoffte auf die
Rückkunft des Architekten, dessen ernstere, geschmackvollere Sammlungen
die Gesellschaft von diesem Affenwesen befreien sollten. In dieser
Erwartung hatte sie sich mit dem Baron besprochen und ihn auf manches
aufmerksam gemacht. Allein der Architekt blieb aus, und als er endlich
wiederkam, verlor er sich unter der Gesellschaft, ohne etwas
mitzubringen und ohne zu tun, als ob von etwas die Frage gewesen wäre.
Ottilie ward einen Augenblick—wie soll mans nennen?—Verdrießlich,
ungehalten, betroffen; sie hatte ein gutes Wort an ihn gewendet, sie
gönnte dem Bräutigam eine vergnügte Stunde nach seinem Sinne, der bei
seiner unendlichen Liebe für Lucianen doch von ihrem Betragen zu leiden
schien.

Die Affen mußten einer Kollation Platz machen. Gesellige Spiele, ja
sogar noch Tänze, zuletzt ein freudeloses Herumsitzen und
Wiederaufjagen einer schon gesunkenen Lust dauerten diesmal, wie sonst
auch, weit über Mitternacht. Denn schon hatte sich Luciane gewöhnt,
morgens nicht aus dem Bette und abends nicht ins Bette gelangen zu
können.

Um diese Zeit finden sich in Ottiliens Tagebuch Ereignisse seltner
angemerkt, dagegen häufiger auf das Leben bezügliche und vom Leben
abgezogene Maximen und Sentenzen. Weil aber die meisten derselben wohl
nicht durch ihre eigene Reflexion entstanden sein können, so ist es
wahrscheinlich, daß man ihr irgendeinen Heft mitgeteilt, aus dem sie
sich, was ihr gemütlich war, ausgeschrieben. Manches Eigene von
innigererem Bezug wird an dem roten Faden wohl zu erkennen sein.

Aus Ottiliens Tagebuche

Wir blicken so gern in die Zukunft, weil wir das Ungefähre, was sich in
ihr hin und her bewegt, durch stille Wünsche so gern zu unsern Gunsten
heranleiten möchten.

Wir befinden uns nicht leicht in großer Gesellschaft, ohne zu denken,
der Zufall, der so viele zusammenbringt, solle uns auch unsre Freunde
herbeiführen.

Man mag noch so eingezogen leben, so wird man, ehe man sichs versieht,
ein Schuldner oder ein Gläubiger.

Begegnet uns jemand, der uns Dank schuldig ist, gleich fällt es uns
ein. Wie oft können wir jemand begegnen, dem wir Dank schuldig sind,
ohne daran zu denken!

Sich mitzuteilen ist Natur; mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben
wird, ist Bildung.

Niemand würde viel in Gesellschaften sprechen, wenn er sich bewußt
wäre, wie oft er die andern mißversteht.

Man verändert fremde Reden beim Wiederholen wohl nur darum so sehr,
weil man sie nicht verstanden hat.

Wer vor andern lange allein spricht, ohne den Zuhörern zu schmeicheln,
erregt Widerwillen.

Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn.

Widerspruch und Schmeichelei machen beide ein schlechtes Gespräch.

Die angenehmsten Gesellschaften sind die, in welchen eine heitere
Ehrerbietung der Glieder gegeneinander obwaltet.

Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter als durch
das, was sie lächerlich finden.

Das Lächerliche entspringt aus einem sittlichen Kontrast, der auf eine
unschädliche Weise für die Sinne in Verbindung gebracht wird.

Der sinnliche Mensch lacht oft, wo nichts zu lachen ist. Was ihn auch
anregt, sein inneres Behagen kommt zum Vorschein.

Der Verständige findet fast alles lächerlich, der Vernünftige fast
nichts.

Einem bejahrten Manne verdachte man, daß er sich noch um junge
Frauenzimmer bemühte. „Es ist das einzige Mittel“, versetzte er, „sich
zu verjüngen, und das will doch jedermann“.

Man läßt sich seine Mängel vorhalten, man läßt sich strafen, man leidet
manches um ihrer willen mit Geduld; aber ungeduldig wird man, wenn man
sie ablegen soll.

Gewisse Mängel sind notwendig zum Dasein des einzelnen. Es würde uns
unangenehm sein, wenn alte Freunde gewisse Eigenheiten ablegten.

Man sagt: „es stirbt bald“, wenn einer etwas gern seine Art und Weise
tut.

Was für Mängel dürfen wir behalten, ja an uns kultivieren? Solche, die
den andern eher schmeicheln als sie verletzen.

Die Leidenschaften sind Mängel oder Tugenden, nur gesteigerte.

Unsre Leidenschaften sind wahre Phönixe. Wie der alte verbrennt, steigt
der neue sogleich wieder aus der Asche hervor.

Große Leidenschaften sind Krankheiten ohne Hoffnung. Was sie heilen
könnte, macht sie erst recht gefährlich.

Die Leidenschaft erhöht und mildert sich durchs Bekennen. In nichts
wäre die Mittelstraße vielleicht wünschenswerter als im Vertrauen und
Verschweigen gegen die, die wir lieben.



Fünftes Kapitel

So peitschte Luciane den Lebensrausch im geselligen Strudel immer vor
sich her. Ihr Hofstaat vermehrte sich täglich, teils weil ihr Treiben
so manchen erregte und anzog, teils weil sie sich andre durch
Gefälligkeit und Wohltun zu verbinden wußte. Mittteilend war sie im
höchsten Grade; denn da ihr durch die Neigung der Tante und des
Bräutigams soviel Schönes und Köstliches auf einmal zugeflossen war, so
schien sie nichts Eigenes zu besitzen und den Wert der Dinge nicht zu
kennen, die sich um sie gehäuft hatten. So zauderte sie nicht einen
Augenblick, einen kostbaren Schal abzunehmen und ihn einem Frauenzimmer
umzuhängen, das ihr gegen die übrigen zu ärmlich gekleidet schien, und
sie tat das auf eine so neckische, geschickte Weise, daß niemand eine
solche Gabe ablehnen konnte. Einer von ihrem Hofstaat hatte stets eine
Börse und den Auftrag, in den Orten, wo sie einkehrten, sich nach den
ältesten und Kränksten zu erkundigen und ihren Zustand wenigstens für
den Augenblick zu erleichtern. Dadurch entstand ihr in der ganzen
Gegend ein Name von Vortrefflichkeit, der ihr doch auch manchmal
unbequem ward, weil er allzuviel lästige Notleidende an sie heranzog.

Durch nichts aber vermehrte sie so sehr ihren Ruf als durch ein
auffallendes, gutes, beharrliches Benehmen gegen einen unglücklichen
jungen Mann, der die Gesellschaft floh, weil er, übrigens schön und
wohlgebildet, seine rechte Hand, obgleich rühmlich, in der Schlacht
verloren hatte. Diese Verstümmlung erregte ihm einen solchen Mißmut, es
war ihm so verdrießlich, daß jede neue Bekanntschaft sich auch immer
mit seinem Unfall bekannt machen sollte, daß er sich lieber versteckte,
sich dem Lesen und andern Studien ergab und ein für allemal mit der
Gesellschaft nichts wollte zu schaffen haben.

Das Dasein dieses jungen Mannes blieb ihr nicht verborgen. Er mußte
herbei, erst in kleiner Gesellschaft, dann in größerer, dann in der
größten. Sie benahm sich anmutiger gegen ihn als gegen irgendeinen
andern; besonders wußte sie durch zudringliche Dienstfertigkeit ihm
seinen Verlust wert zu machen, indem sie geschäftig war, ihn zu
ersetzen. Bei Tafel mußte er neben ihr seinen Platz nehmen; sie schnitt
ihm vor, sodaß er nur die Gabel gebrauchen durfte. Nahmen ältere,
Vornehmere ihm ihre Nachbarschaft weg, so erstreckte sie ihre
Aufmerksamkeit über die ganze Tafel hin, und die eilenden Bedienten
mußten das ersetzen, was ihm die Entfernung zu rauben drohte. Zuletzt
munterte sie ihn auf, mit der linken Hand zu schreiben; er mußte alle
seine Versuche an sie richten, und so stand sie, entfernt oder nah,
immer mit ihm in Verhältnis. Der junge Mann wußte nicht, wie ihm
geworden war, und wirklich fing er von diesem Augenblick ein neues
Leben an.

Vielleicht sollte man denken, ein solches Betragen wäre dem Bräutigam
mißfällig gewesen; allein es fand sich das Gegenteil. Er rechnete ihr
diese Bemühungen zu großem Verdienst an und war um so mehr darüber ganz
ruhig, als er ihre fast übertriebenen Eigenheiten kannte, wodurch sie
alles, was im mindesten verfänglich schien, von sich abzulehnen wußte.
Sie wollte mit jedermann nach Belieben umspringen, jeder war in Gefahr,
von ihr einmal angestoßen, gezerrt oder sonst geneckt zu werden;
niemand aber durfte sich gegen sie ein Gleiches erlauben, niemand sie
nach Willkür berühren, niemand auch nur im entferntesten Sinne eine
Freiheit, die sie sich nahm, erwidern; und so hielt sie die andern in
den strengsten Grenzen der Sittlichkeit gegen sich, die sie gegen
andere jeden Augenblick zu übertreten schien.

Überhaupt hätte man glauben können, es sei bei ihr Maxime gewesen, sich
dem Lobe und dem Tadel, der Neigung und der Abneigung gleichmäßig
auszusetzen. Denn wenn sie die Menschen auf mancherlei Weise für sich
zu gewinnen suchte, so verdarb sie es wieder mit ihnen gewöhnlich durch
eine böse Zunge, die niemanden schonte. So wurde kein Besuch in der
Nachbarschaft abgelegt, nirgends sie und ihre Gesellschaft in
Schlössern und Wohnungen freundlich aufgenommen, ohne daß sie bei der
Rückkehr auf das ausgelassenste merken ließ, wie sie alle menschlichen
Verhältnisse nur von der lächerlichen Seite zu nehmen geneigt sei. Da
waren drei Brüder, welche unter lauter Komplimenten, wer zuerst
heiraten sollte, das Alter übereilt hatte; hier eine kleine, junge Frau
mit einem großen, alten Manne; dort umgekehrt ein kleiner, munterer
Mann und eine unbehülfliche Riesin. In dem einen Hause stolperte man
bei jedem Schritt über ein Kind; das andre wollte ihr bei der größten
Gesellschaft nicht voll erscheinen, weil keine Kinder gegenwärtig
waren. Alte Gatten sollten sich nur schnell begraben lassen, damit doch
wieder einmal jemand im Hause zum Lachen käme, da ihnen keine Noterben
gegeben waren. Junge Eheleute sollten reisen, weil das Haushalten sie
gar nicht kleide. Und wie mit den Personen, so machte sie es auch mit
den Sachen, mit den Gebäuden wie mit dem Haus- und Tischgeräte.
Besonders alle Wandverzierungen reizten sie zu lustigen Bemerkungen.
Von dem ältesten Hautelisseteppich bis zu der neusten Papiertapete, vom
ehrwürdigsten Familienbilde bis zum frivolsten neuen Kupferstich, eins
wie das andre mußte leiden, eins wie das andre wurde durch ihre
spöttischen Bemerkungen gleichsam aufgezehrt, so daß man sich hätte
verwundern sollen, wie fünf Meilen umher irgend etwas nur noch
existierte.

Eigentliche Bosheit war vielleicht nicht in diesem verneinenden
Bestreben; ein selbstischer Mutwille mochte sie gewöhnlich anreizen;
aber eine wahrhafte Bitterkeit hatte sich in ihrem Verhältnis zu
Ottilien erzeugt. Auf die ruhige, ununterbrochene Tätigkeit des lieben
Kindes, die von jedermann bemerkt und gepriesen wurde, sah sie mit
Verachtung herab; und als zur Sprache kam, wie sehr sich Ottilie der
Gärten und der Treibhäuser annehme, spottete sie nicht allein darüber,
indem sie uneingedenk des tiefen Winters, in dem man lebte, sich zu
verwundern schien, daß man weder Blumen noch Früchte gewahr werde,
sondern sie ließ auch von nun an so viel Grünes, so viel Zweige und was
nur irgend keimte, herbeiholen und zur täglichen Zierde der Zimmer und
des Tisches verschwenden, daß Ottilie und der Gärtner nicht wenig
gekränkt waren, ihre Hoffnungen für das nächste Jahr und vielleicht auf
längere Zeit zerstört zu sehen.

Ebensowenig gönnte sie Ottilien die Ruhe des häuslichen Ganges, worin
sie sich mit Bequemlichkeit fortbewegte. Ottilie sollte mit auf die
Lust- und Schlittenfahrten, sie sollte mit auf die Bälle, die in der
Nachbarschaft veranstaltet wurden; sie sollte weder Schnee noch Kälte
noch gewaltsame Nachtstürme scheuen, da ja soviel andre nicht davon
stürben. Das zarte Kind litt nicht wenig darunter, aber Luciane gewann
nichts dabei; denn obgleich Ottilie sehr einfach gekleidet ging, so war
sie doch, oder so schien sie wenigstens immer den Männern die Schönste.
Ein sanftes Anziehen versammelte alle Männer um sie her, sie mochte
sich in den großen Räumen am ersten oder am letzten Platze befinden; ja
der Bräutigam Lucianens selbst unterhielt sich oft mit ihr, und zwar um
so mehr, las er in einer Angelegenheit, die ihn beschäftigte, ihren
Rat, ihre Mitwirkung verlangte.

Er hatte den Architekten näher kennen lernen, bei Gelegenheit seiner
Kunstsammlung viel über das Geschichtliche mit ihm gesprochen, in
andern Fällen auch, besonders bei Betrachtung der Kapelle, sein Talent
schätzen gelernt. Der Baron war jung, reich; er sammelte, er wollte
bauen; seine Liebhaberei war lebhaft, seine Kenntnisse schwach; er
glaubte in dem Architekten seinen Mann zu finden, mit dem er mehr als
einen Zweck zugleich erreichen könnte. Er hatte seiner Braut von dieser
Absicht gesprochen; sie lobte ihn darum und war höchlich mit dem
Vorschlag zufrieden, doch vielleicht mehr, um diesen jungen Mann
Ottilien zu entziehen—denn sie glaubte so etwas von Neigung bei ihm zu
bemerken -, als daß sie gedacht hätte, sein Talent zu ihren Absichten
zu benutzen. Denn ob er gleich bei ihren extemporierten Festen sich
sehr tätig erwiesen und manche Ressourcen bei dieser und jener Anstalt
dargeboten, so glaubte sie es doch immer selbst besser zu verstehen;
und da ihre Erfindungen gewöhnlich gemein waren, so reichte, um sie
auszuführen, die Geschicklichkeit eines gewandten Kammerdieners
ebensogut hin als die des vorzüglichsten Künstlers. Weiter als zu einem
Altar, worauf geopfert ward, und zu einer Bekränzung, es mochte nun ein
gipsernes oder ein lebendes Haupt sein, konnte ihre Einbildungskraft
sich nicht versteigen, wenn sie irgend jemand zum Geburts- und
Ehrentage ein festliches Kompliment zu machen gedachte.

Ottilie konnte dem Bräutigam, der sich nach dem Verhältnis des
Architekten zum Hause erkundigte, die beste Auskunft geben. Sie wußte,
daß Charlotte sich schon früher nach einer Stelle für ihn umgetan
hatte; denn wäre die Gesellschaft nicht gekommen, so hätte sich der
junge Mann gleich nach Vollendung der Kapelle entfernt, weil alle
Bauten den Winter über stillstehn sollten und mußten; und es war daher
sehr erwünscht, wenn der geschickte Künstler durch einen neuen Gönner
wieder genutzt und befördert wurde.

Das persönliche Verhältnis Ottiliens zum Architekten war ganz rein und
unbefangen. Seine angenehme und tätige Gegenwart hatte sie wie die Nähe
eines ältern Bruders unterhalten und erfreut. Ihre Empfindungen für ihn
blieben auf der ruhigen, leidenschaftslosen Oberfläche der
Blutsverwandtschaft; denn in ihrem Herzen war kein Raum mehr; es war
von der Liebe zu Eduard ganz gedrängt ausgefüllt, und nur die Gottheit,
die alles durchdringt, konnte dieses Herz zugleich mit ihm besitzen.

Indessen je tiefer der Winter sich senkte, je wilderes Wetter, je
unzugänglicher die Wege, desto anziehender schien es, in so guter
Gesellschaft die abnehmenden Tage zuzubringen. Nach kurzen Ebben
überflutete die Menge von Zeit zu Zeit das Haus. Offiziere von
entfernteren Garnisonen, die gebildeten zu ihrem großen Vorteil, die
roheren zur Unbequemlichkeit der Gesellschaft, zogen sich herbei; am
Zivilstande fehlte es auch nicht, und ganz unerwartet kamen eines Tages
der Graf und die Baronesse zusammen angefahren.

Ihre Gegenwart schien erst einen wahren Hof zu bilden. Die Männer von
Stand und Sitten umgaben den Grafen, und die Frauen ließen der
Baronesse Gerechtigkeit widerfahren. Man verwunderte sich nicht lange,
sie beide zusammen und so heiter zu sehen; denn man vernahm, des Grafen
Gemahlin sei gestorben, und eine neue Verbindung werde geschlossen
sein, sobald es die Schicklichkeit nur erlaube. Ottilie erinnerte sich
jenes ersten Besuchs, jedes Worts, was über Ehestand und Scheidung,
über Verbindung und Trennung, über Hoffnung, Erwartung, Entbehren und
Entsagen gesprochen ward. Beide Personen, damals noch ganz ohne
Aussichten, standen nun vor ihr, dem gehofften Glück so nahe, und ein
unwillkürlicher Seufzer drang aus ihrem Herzen.

Luciane hörte kaum, daß der Graf ein Liebhaber von Musik sei, so wußte
sie ein Konzert zu veranstalten; sie wollte sich dabei mit Gesang zur
Gitarre hören lassen. Es geschah. Das Instrument spielte sie nicht
ungeschickt, ihre Stimme war angenehm; was aber die Worte betraf, so
verstand man sie so wenig, als wenn sonst eine deutsche Schöne zur
Gitarre singt. Indes versicherte jedermann, sie habe mit viel Ausdruck
gesungen, und sie konnte mit dem lauten Beifall zufrieden sein. Nur ein
wunderliches Unglück begegnete bei dieser Gelegenheit. In der
Gesellschaft befand sich ein Dichter, den sie auch besonders zu
verbinden hoffte, weil sie einige Lieder von ihm an sie gerichtet
wünschte, und deshalb diesen Abend meist nur von seinen Liedern
vortrug. Er war überhaupt, wie alle, höflich gegen sie, aber sie hatte
mehr erwartet. Sie legte es ihm einigemal nahe, konnte aber weiter
nichts von ihm vernehmen, bis sie endlich aus Ungeduld einen ihrer
Hofleute an ihn schickte und sondieren ließ, ob er denn nicht entzückt
gewesen sei, seine vortrefflichen Gedichte so vortrefflich vortragen zu
hören. „Meine Gedichte?“ versetzte dieser mit Erstaunen. „Verzeihen
Sie, mein Herr“, fügte er hinzu; „ich habe nichts als Vokale gehört und
die nicht einmal alle. Unterdessen ist es meine Schuldigkeit, mich für
eine so liebenswürdige Intention dankbar zu erweisen“. Der Hofmann
schwieg und verschwieg. Der andre suchte sich durch einige wohltönende
Komplimente aus der Sache zu ziehen. Sie ließ ihre Absicht nicht
undeutlich merken, auch etwas eigens für sie Gedichtetes zu besitzen.
Wenn es nicht allzu unfreundlich gewesen wäre, so hätte er ihr das
Alphabet überreichen können, um sich daraus ein beliebiges Lobgedicht
zu irgendeiner vorkommenden Melodie selbst einzubilden. Doch sollte sie
nicht ohne Kränkung aus dieser Begebenheit scheiden. Kurze Zeit darauf
erfuhr sie, er habe noch selbigen Abend einer von Ottiliens
Lieblingsmelodien ein allerliebstes Gedicht untergelegt, das noch mehr
als verbindlich sei.

Luciane, wie alle Menschen ihrer Art, die immer durcheinander mischen,
was ihnen vorteilhaft und was ihnen nachteilig ist, wollte nun ihr
Glück im Rezitieren versuchen. Ihr Gedächtnis war gut, aber, wenn man
aufrichtig reden sollte, ihr Vortrag geistlos und heftig, ohne
leidenschaftlich zu sein. Sie rezitierte Balladen, Erzählungen und was
sonst in Deklamatorien vorzukommen pflegt. Dabei hatte sie die
unglückliche Gewohnheit angenommen, das, was sie vortrug, mit Gesten zu
begleiten, wodurch man das, was eigentlich episch und lyrisch ist, auf
eine unangenehme Weise mit dem Dramatischen mehr verwirrt als
verbindet.

Der Graf, ein einsichtsvoller Mann, der gar bald die Gesellschaft, ihre
Neigungen, Leidenschaften und Unterhaltungen übersah, brachte Lucianen
glücklicher- oder unglücklicherweise auf eine neue Art von Darstellung,
die ihrer Persönlichkeit sehr gemäß war. „Ich finde“, sagte er, „hier
so manche wohlgestaltete Personen, denen es gewiß nicht fehlt,
malerische Bewegungen und Stellungen nachzuahmen. Sollten sie es noch
nicht versucht haben, wirkliche, bekannte Gemälde vorzustellen? Eine
solche Nachbildung, wenn sie auch manche mühsame Anordnung erfordert,
bringt dagegen auch einen unglaublichen Reiz hervor“.

Schnell ward Luciane gewahr, daß sie hier ganz in ihrem Fach sein
würde. Ihr schöner Wuchs, ihre volle Gestalt, ihr regelmäßiges und doch
bedeutendes Gesicht, ihre lichtbraunen Haarflechten, ihr schlanker
Hals, alles war schon wie aufs Gemälde berechnet; und hätte sie nun gar
gewußt, daß sie schöner aussah, wenn sie still stand, als wenn sie sich
bewegte, indem ihr im letzten Falle manchmal etwas störendes
Ungraziöses entschlüpfte, so hätte sie sich mit noch mehrerem Eifer
dieser natürlichen Bildnerei ergeben.

Man suchte nun Kupferstiche nach berühmten Gemälden, man wählte zuerst
den Belisar nach van Dyck. Ein großer und wohlgebauter Mann von
gewissen Jahren sollte den sitzenden blinden General, der Architekt den
vor ihm teilnehmend traurig stehenden Krieger nachbilden, dem er
wirklich etwas ähnlich sah. Luciane hatte sich, halb bescheiden, das
junge Weibchen im Hintergrunde gewählt, das reichliche Almosen aus
einem Beutel in die flache Hand zählt, indes eine Alte sie abzumahnen
und ihr vorzustellen scheint, daß sie zuviel tue. Eine andre, ihm
wirklich Almosen reichende Frauensperson war nicht vergessen.

Mit diesen und andern Bildern beschäftigte man sich sehr ernstlich. Der
Graf gab dem Architekten über die Art der Einrichtung einige Winke, der
sogleich ein Theater dazu aufstellte und wegen der Beleuchtung die
nötige Sorge trug. Man war schon tief in die Anstalten verwickelt, als
man erst bemerkte, daß ein solches Unternehmen einen ansehnlichen
Aufwand verlangte und daß auf dem Lande mitten im Winter gar manches
Erfordernis abging. Deshalb ließ, damit ja nichts stocken möge. Luciane
beinah ihre sämtliche Garderobe zerschneiden, um die verschiedenen
Kostüme zu liefern, die jene Künstler willkürlich genug angegeben
hatten.

Der Abend kam herbei, und die Darstellung wurde vor einer großen
Gesellschaft und zu allgemeinem Beifall ausgeführt. Eine bedeutende
Musik spannte die Erwartung. Jener Belisar eröffnete die Bühne. Die
Gestalten waren so passend, die Farben so glücklich ausgeteilt, die
Beleuchtung so kunstreich, daß man fürwahr in einer andern Welt zu sein
glaubte, nur daß die Gegenwart des Wirklichen statt des Scheins eine
Art von ängstlicher Empfindung hervorbrachte.

Der Vorhang fiel und ward auf Verlangen mehr als einmal wieder
aufgezogen. Ein musikalisches Zwischenspiel unterhielt die
Gesellschaft, die man durch ein Bild höherer Art überraschen wollte. Es
war die bekannte Vorstellung von Poussin: Ahasverus und Esther. Diesmal
hatte sich Luciane besser bedacht. Sie entwickelte in der ohnmächtig
hingesunkenen Königin alle ihre Reize und hatte sich klugerweise zu den
umgebenden, unterstützenden Mädchen lauter hübsche, wohlgebildete
Figuren ausgesucht, worunter sich jedoch keine mit ihr auch nur im
mindesten messen konnte. Ottilie blieb von diesem Bilde wie von den
übrigen ausgeschlossen. Auf den goldnen Thron hatten sie, um den Zeus
gleichen König vorzustellen, den rüstigsten und schönsten Mann der
Gesellschaft gewählt, sodaß dieses Bild wirklich eine unvergleichliche
Vollkommenheit gewann.

Als drittes hatte man die sogenannte „väterliche Ermahnung“ von Terburg
gewählt, und wer kennt nicht den herrlichen Kupferstich unseres Wille
von diesem Gemälde! Einen Fuß über den andern geschlagen, sitzt ein
edler, ritterlicher Vater und scheint seiner vor ihm stehenden Tochter
ins Gewissen zu reden. Diese, eine herrliche Gestalt im faltenreichen,
weißen Atlaskleide, wird zwar nur von hinten gesehen, aber ihr ganzes
Wesen scheint anzudeuten, daß sie sich zusammennimmt. Daß jedoch die
Ermahnung nicht heftig und beschämend sei, sieht man aus der Miene und
Gebärde des Vaters; und was die Mutter betrifft, so scheint diese eine
kleine Verlegenheit zu verbergen, indem sie in ein Glas Wein blickt,
das sie eben auszuschlürfen im Begriff ist.

Bei dieser Gelegenheit nun sollte Luciane in ihrem höchsten Glanze
erscheinen. Ihre Zöpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken waren
über alle Begriffe schön, und die Taille, von der bei den modernen
antikisierenden Bekleidungen der Frauenzimmer wenig sichtbar wird,
höchst zierlich, schlank und leicht, zeigte sich an ihr in dem älteren
Kostüm äußerst vorteilhaft; und der Architekt hatte gesorgt, die
reichen Falten des weißen Atlasses mit der künstlichsten Natur zu
legen, sodaß ganz ohne Frage diese lebendige Nachbildung weit über
jenes Originalbildnis hinausreichte und ein allgemeines Entzücken
erregte. Man konnte mit dem Wiederverlangen nicht endigen, und der ganz
natürliche Wunsch, einem so schönen Wesen, das man genugsam von der
Rückseite gesehen, auch ins Angesicht zu schauen, nahm dergestalt
überhand, daß ein lustiger, ungeduldiger Vogel die Worte, die man
manchmal an das Ende einer Seite zu schreiben pflegt: „tournez s’il
vous plait“, laut ausrief und eine allgemeine Beistimmung erregte. Die
Darstellenden aber kannten ihren Vorteil zu gut und hatten den Sinn
dieser Kunststücke zu wohl gefaßt, als daß sie dem allgemeinen Ruf
hätten nachgeben sollen. Die beschämt scheinende Tochter blieb ruhig
stehen, ohne den Zuschauern den Ausdruck ihres Angesichts zu gönnen;
der Vater blieb in seiner ermahnenden Stellung sitzen, und die Mutter
brachte Nase und Augen nicht aus dem durchsichtigen Glase, worin sich,
ob sie gleich zu trinken schien, der Wein nicht verminderte.—Was sollen
wir noch viel von kleinen Nachstücken sagen, wozu man niederländische
Wirtshaus- und Jahrmarktsszenen gewählt hatte!

Der Graf und die Baronesse reisten ab und versprachen, in den ersten
glücklichen Wochen ihrer nahen Verbindung wiederzukehren, und Charlotte
hoffte nunmehr, nach zwei mühsam überstandenen Monaten, die übrige
Gesellschaft gleichfalls loszuwerden. Sie war des Glücks ihrer Tochter
gewiß, wenn bei dieser der erste Braut- und Jugendtaumel sich würde
gelegt haben; denn der Bräutigam hielt sich für den glücklichsten
Menschen von der Welt. Bei großem Vermögen und gemäßigter Sinnesart
schien er auf eine wunderbare Weise von dem Vorzuge geschmeichelt, ein
Frauenzimmer zu besitzen, das der ganzen Welt gefallen mußte. Er hatte
einen so ganz eigenen Sinn, alles auf sie und erst durch sie auf sich
zu beziehen, daß es ihm eine unangenehme Empfindung machte, wenn sich
nicht gleich ein Neuankommender mit aller Aufmerksamkeit auf sie
richtete und mit ihm, wie es wegen seiner guten Eigenschaften besonders
von älteren Personen oft geschah, eine nähere Verbindung suchte, ohne
sich sonderlich um sie zu kümmern. Wegen des Architekten kam es bald
zur Richtigkeit. Aufs Neujahr sollte ihm dieser folgen und das Karneval
mit ihm in der Stadt zubringen, wo Luciane sich von der Wiederholung
der so schön eingerichteten Gemälde sowie von hundert andern Dingen die
größte Glückseligkeit versprach, um so mehr, als Tante und Bräutigam
jeden Aufwand für gering zu achten schienen, der zu ihrem Vergnügen
erfordert wurde.

Nun sollte man scheiden, aber das konnte nicht auf eine gewöhnliche
Weise geschehen. Man scherzte einmal ziemlich laut, daß Charlottens
Wintervorräte nun bald aufgezehrt seien, als der Ehrenmann, der den
Belisar vorgestellt hatte und freilich reich genug war, von Lucianens
Vorzügen hingerissen, denen er nun schon so lange huldigte,
unbedachtsam ausrief: „so lassen Sie es uns auf politische Art halten!
Kommen Sie nun und zehren mich auch auf! Und so geht es dann weiter in
der Runde herum“. Gesagt, getan: Luciane schlug ein. Den andern Tag war
gepackt, und der Schwarm warf sich auf ein anderes Besitztum. Dort
hatte man auch Raum genug, aber weniger Bequemlichkeit und Einrichtung.
Daraus entstand manches Unschickliche, das erst Lucianen recht
glücklich machte. Das Leben wurde immer wüster und wilder. Treibjagen
im tiefsten Schnee, und was man sonst nur Unbequemes auffinden konnte,
wurde veranstaltet. Frauen so wenig als Männer durften sich
ausschließen, und so zog man jagend und reitend, schlittenfahrend und
lärmend von einem Gute zum andern, bis man sich endlich der Residenz
näherte; da denn die Nachrichten und Erzählungen, wie man sich bei Hofe
und in der Stadt vergnüge, der Einbildungskraft eine andere Wendung
gaben und Lucianen mit ihrer sämtlichen Begleitung, indem die Tante
schon vorausgegangen war, unaufhaltsam in einen andern Lebenskreis
hineinzogen.

Aus Ottiliens Tagebuche

Man nimmt in der Welt jeden, wofür er sich gibt; aber er muß sich auch
für etwas geben. Man erträgt die Unbequemen lieber, als man die
Unbedeutenden duldet.

Man kann der Gesellschaft alles aufdringen, nur nicht, was eine Folge
hat.

Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen; wir
müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht.

Ich finde es beinahe natürlich, daß wir an Besuchenden mancherlei
auszusetzen haben, daß wir sogleich, wenn sie weg sind, über sie nicht
zum liebevollsten urteilen; denn wir haben sozusagen ein Recht, sie
nach unserm Maßstabe zu messen. Selbst verständige und billige Menschen
enthalten sich in solchen Fällen kaum einer scharfen Zensur.

Wenn man dagegen bei andern gewesen ist und hat sie mit ihren
Umgebungen, Gewohnheiten, in ihren notwendigen, unausweichlichen
Zuständen gesehen, wie sie um sich wirken oder wie sie sich fügen, so
gehört schon Unverstand und böser Wille dazu, um das lächerlich zu
finden, was uns in mehr als einem Sinne ehrwürdig scheinen müßte.

Durch das, was wir Betragen und gute Sitten mennen, soll das erreicht
werden, was außerdem nur durch Gewalt oder auch nicht einmal durch
Gewalt zu erreichen ist.

Der Umgang mit Frauen ist das Element guter Sitten.

Wie kann der Charakter, die Eigentümlichkeit des Menschen, mit der
Lebensart bestehen?

Das Eigentümliche müßte durch die Lebensart erst recht hervorgehoben
werden. Das Bedeutende will jedermann, nur soll es nicht unbequem sein.

Die größten Vorteile im Leben überhaupt wie in der Gesellschaft hat ein
gebildeter Soldat.

Rohe Kriegsleute gehen wenigstens nicht aus ihrem Charakter, und weil
doch meist hinter der Stärke eine Gutmütigkeit verborgen liegt, so ist
im Notfall auch mit ihnen auszukommen.

Niemand ist lästiger als ein täppischer Mensch vom Zivilstande. Von ihm
könnte man die Feinheit fordern, da er sich mit nichts Rohem zu
beschäftigen hat.

Wenn wir mit Menschen leben, die ein zartes Gefühl für das Schickliche
haben, so wird es uns angst um ihretwillen, wenn etwas Ungeschicktes
begegnet. So fühle ich immer für und mit Charlotten, wenn jemand mit
dem Stuhle schaukelt, weil sie das in den Tod nicht leiden kann.

Es käme niemand mit der Brille auf der Nase in ein vertrauliches
Gemach, wenn er wüßte, daß uns Frauen sogleich die Lust vergeht, ihn
anzusehen und uns mit ihm zu unterhalten.

Zutraulichkeit an der Stelle der Ehrfurcht ist immer lächerlich. Es
würde niemand den Hut ablegen, nachdem er kaum das Kompliment gemacht
hat, wenn er wüßte, wie komisch das aussieht.

Es gibt kein äußeres Zeichen der Höflichkeit, das nicht einen tiefen
sittlichen Grund hätte. Die rechte Erziehung wäre, welche dieses
Zeichen und den Grund zugleich überlieferte. Das Betragen ist ein
Spiegel, in welchem jeder sein Bild zeigt.

Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt. Aus
ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußern Betragens.

Freiwillige Abhänglichkeit ist der schönste Zustand, und wie wäre der
möglich ohne Liebe.

Wir sind nie entfernter von unsern Wünschen, als wenn wir uns
einbilden, das Gewünschte zu besitzen.

Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.

Es darf sich einer nur für frei erklären, so fühlt er sich den
Augenblick als bedingt. Wagt er es, sich für bedingt zu erklären, so
fühlt er sich frei.

Gegen große Vorzüge eines andern gibt es kein Rettungsmittel als die
Liebe.

Es ist was Schreckliches um einen vorzüglichen Mann, auf den sich die
Dummen was zugute tun.

Es gibt, sagt man, für den Kammerdiener keinen Helden. Das kommt aber
bloß daher, weil der Held nur vom Helden anerkannt werden kann. Der
Kammerdiener wird aber wahrscheinlich seinesgleichen zu schätzen
wissen.

Es gibt keinen größern Trost für die Mittelmäßigkeit, als daß das Genie
nicht unsterblich sei.

Die größten Menschen hängen immer mit ihrem Jahrhundert durch eine
Schwachheit zusammen.

Man hält die Menschen gewöhnlich für gefährlicher, als sie sind.

Toren und gescheite Leute sind gleich unschädlich. Nur die Halbnarren
und Halbweisen, das sind die Gefährlichsten.

Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man
verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.

Selbst im Augenblick des höchsten Glücks und der höchsten Not bedürfen
wir des Künstlers.

Die Kunst beschäftigt sich mit dem Schweren und Guten.

Das Schwierige leicht behandelt zu sehen, gibt uns das Anschauen des
Unmöglichen.

Die Schwierigkeiten wachsen, je näher man dem Ziele kommt.

Säen ist nicht so beschwerlich als ernten.



Sechstes Kapitel

Die große Unruhe, welche Charlotten durch diesen Besuch erwuchs, ward
ihr dadurch vergütet, daß sie ihre Tochter völlig begreifen lernte,
worin ihr die Bekanntschaft mit der Welt sehr zu Hülfe kam. Es war
nicht zum erstenmal, daß ihr ein so seltsamer Charakter begegnete, ob
er ihr gleich noch niemals auf dieser Höhe erschien. Und doch hatte sie
aus der Erfahrung, daß solche Personen, durchs Leben, durch mancherlei
Ereignisse, durch elterliche Verhältnisse gebildet, eine sehr angenehme
und liebenswürdige Reife erlangen können, indem die Selbstigkeit
gemildert wird und die schwärmende Tätigkeit eine entschiedene Richtung
erhält. Charlotte ließ als Mutter sich um desto eher eine für andere
vielleicht unangenehme Erscheinung gefallen, als es Eltern wohl
geziemt, da zu hoffen, wo Fremde nur zu genießen wünschen oder
wenigstens nicht belästigt sein wollen.

Auf eine eigne und unerwartete Weise jedoch sollte Charlotte nach ihrer
Tochter Abreise getroffen werden, indem diese nicht sowohl durch das
Tadelnswerte in ihrem Betragen als durch das, was man daran
lobenswürdig hätte finden können, eine üble Nachrede hinter sich
gelassen hatte. Luciane schien sichs zum Gesetz gemacht zu haben, nicht
allein mit den Fröhlichen fröhlich, sondern auch mit den Traurigen
traurig zu sein und, um den Geist des Widerspruchs recht zu üben,
manchmal die Fröhlichen verdrießlich und die Traurigen heiter zu
machen. In allen Familien, wo sie hinkam, erkundigte sie sich nach den
Kranken und Schwachen, die nicht in Gesellschaft erscheinen konnten.
Sie besuchte sie auf ihren Zimmern, machte den Arzt und drang einem
jeden aus ihrer Reiseapotheke, die sie beständig im Wagen mit sich
führte, energische Mittel auf; da denn eine solche Kur, wie sich
vermuten läßt, gelang oder mißlang, wie es der Zufall herbeiführte.

In dieser Art von Wohltätigkeit war sie ganz grausam und ließ sich gar
nicht einreden, weil sie fest überzeugt war, daß sie vortrefflich
handle. Allein es mißriet ihr auch ein Versuch von der sittlichen
Seite, und dieser war es, der Charlotten viel zu schaffen machte, weil
er Folgen hatte und jedermann darüber sprach. Erst nach Lucianens
Abreise hörte sie davon; Ottilie, die gerade jene Partie mitgemacht
hatte, mußte ihr umständlich davon Rechenschaft geben.

Eine der Töchter eines angesehenen Hauses hatte das Unglück gehabt, an
dem Tode eines ihrer jüngeren Geschwister schuld zu sein, und sich
darüber nicht beruhigen noch wiederfinden können. Sie lebte auf ihrem
Zimmer beschäftigt und still und ertrug selbst den Anblick der Ihrigen
nur, wenn sie einzeln kamen; denn sie argwohnte sogleich, wenn mehrere
beisammen waren, daß man untereinander über sie und ihren Zustand
reflektiere. Gegen jedes allein äußerte sie sich vernünftig und
unterhielt sich stundenlang mit ihm.

Luciane hatte davon gehört und sich sogleich im stillen vorgenommen,
wenn sie in das Haus käme, gleichsam ein Wunder zu tun und das
Frauenzimmer der Gesellschaft wiederzugeben. Sie betrug sich dabei
vorsichtiger als sonst, wußte sich allein bei der Seelenkranken
einzuführen und, soviel man merken konnte, durch Musik ihr Vertrauen zu
gewinnen. Nur zuletzt versah sie es; denn eben weil sie Aufsehn erregen
wollte, so brachte sie das schöne, blasse Kind, das sie genug
vorbereitet wähnte, eines Abends plötzlich in die bunte, glänzende
Gesellschaft; und vielleicht wäre auch das noch gelungen, wenn nicht
die Sozietät selbst aus Neugierde und Apprehension sich ungeschickt
benommen, sich um die Kranke versammelt, sie wieder gemieden, sie durch
Flüstern, Köpfezusammenstecken irregemacht und aufgeregt hätte. Die
zart Empfindende ertrug das nicht. Sie entwich unter fürchterlichem
Schreien, das gleichsam ein Entsetzen vor einem eindringenden
Umgeheuren auszudrücken schien. Erschreckt fuhr die Gesellschaft nach
allen Seiten auseinander, und Ottilie war unter denen, welche die
völlig Ohnmächtige wieder auf ihr Zimmer begleiteten.

Indessen hatte Luciane eine starke Strafrede nach ihrer Weise an die
Gesellschaft gehalten, ohne im mindesten daran zu denken, daß sie
allein alle Schuld habe, und ohne sich durch dieses und andres
Mißlingen von ihrem Tun und Treiben abhalten zu lassen.

Der Zustand der Kranken war seit jener Zeit bedenklicher geworden, ja
das Übel hatte sich so gesteigert, daß die Eltern das arme Kind nicht
im Hause behalten konnten, sondern einer öffentlichen Anstalt
überantworten mußten. Charlotten blieb nichts übrig, als durch ein
besonder zartes Benehmen gegen jene Familie den von ihrer Tochter
verursachten Schmerz einigermaßen zu lindern. Auf Ottilien hatte die
Sache einen tiefen Eindruck gemacht; sie bedauerte das arme Mädchen um
so mehr, als sie überzeugt war, wie sie auch gegen Charlotten nicht
leugnete, daß bei einer konsequenten Behandlung die Kranke gewiß
herzustellen gewesen wäre.

So kam auch, weil man sich gewöhnlich vom vergangenen Unangenehmen mehr
als vom Angenehmen unterhält, ein kleines Mißverständnis zur Sprache,
das Ottilien an dem Architekten irregemacht hatte, als er jenen Abend
seine Sammlung nicht vorzeigen wollte, ob sie ihn gleich so freundlich
darum ersuchte. Es war ihr dieses abschlägige Betragen immer in der
Seele geblieben, und sie wußte selbst nicht warum. Ihre Empfindungen
waren sehr richtig; denn was ein Mädchen wie Ottilie verlangen kann,
sollte ein Jüngling wie der Architekt nicht versagen. Dieser brachte
jedoch auf ihre gelegentlichen leisen Vorwürfe ziemlich gültige
Entschuldigungen zur Sprache.

„Wenn Sie wüßten“, sagte er, „wie roh selbst gebildete Menschen sich
gegen die schätzbarsten Kunstwerke verhalten, Sie würden mir verzeihen,
wenn ich die meinigen nicht unter die Menge bringen mag. Niemand weiß
eine Medaille am Rand anzufassen; sie betasten das schönste Gepräge,
den reinsten Grund, lassen die köstlichsten Stücke zwischen dem Daumen
und Zeigefinger hin und her gehen, als wenn man Kunstformen auf diese
Weise prüfte. Ohne daran zu denken, daß man ein großes Blatt mit zwei
Händen anfassen müsse, greifen sie mit einer Hand nach einem
unschätzbaren Kupferstich, einer unersetzlichen Zeichnung, wie ein
anmaßlicher Politiker eine Zeitung faßt und durch das Zerknittern des
Papiers schon im voraus sein Urteil über die Weltbegebenheiten zu
erkennen gibt. Niemand denkt daran, daß, wenn nur zwanzig Menschen mit
einem Kunstwerke hintereinander ebenso verführen, der einundzwanzigste
nicht mehr viel daran zu sehen hätte“.

„Habe ich Sie nicht auch manchmal“, fragte Ottilie, „in solche
Verlegenheit gesetzt? Habe ich nicht etwan Ihre Schätze, ohne es zu
ahnen, gelegentlich einmal beschädigt?“

„Niemals“, versetzte der Architekt, „niemals! Ihnen wäre es unmöglich;
das Schickliche ist mit Ihnen geboren“.

„Auf alle Fälle“, versetzte Ottilie, „wäre es nicht Übel, wenn man
künftig in das Büchlein von guten Sitten nach den Kapiteln, wie man
sich in Gesellschaft beim Essen und Trinken benehmen soll, ein recht
umständliches einschöbe, wie man sich in Kunstsammlungen und Museen zu
betragen habe“.

„Gewiß“, versetzte der Architekt, „würden alsdann Kustoden und
Liebhaber ihre Seltenheiten fröhlicher mitteilen“.

Ottilie hatte ihm schon lange verziehen; als er sich aber den Vorwurf
sehr zu Herzen zu nehmen schien und immer aufs neue beteuerte, daß er
gewiß gerne mitteile, gern für Freunde tätig sei, so empfand sie, daß
sie sein zartes Gemüt verletzt habe, und fühlte sich als seine
Schuldnerin. Nicht wohl konnte sie ihm daher eine Bitte rund
abschlagen, die er in Gefolg dieses Gesprächs an sie tat, ob sie
gleich, indem sie schnell ihr Gefühl zu Rate zog, nicht einsah, wie sie
ihm seine Wünsche gewähren könne.

Die Sache verhielt sich also. Daß Ottilie durch Lucianens Eifersucht
von den Gemäldedarstellungen ausgeschlossen worden, war ihm höchst
empfindlich gewesen; daß Charlotte diesem glänzenden Teil der
geselligen Unterhaltung nur unterbrochen beiwohnen können, weil sie
sich nicht wohl befand, hatte er gleichfalls mit Bedauern bemerkt. Nun
wollte er sich nicht entfernen, ohne seine Dankbarkeit auch dadurch zu
beweisen, daß er zur Ehre der einen und zur Unterhaltung der andern
eine weit schönere Darstellung veranstaltete, als die bisherigen
gewesen waren. Vielleicht kam hierzu, ihm selbst unbewußt, ein andrer
geheimer Antrieb: es ward ihm so schwer, dieses Haus, diese Familie zu
verlassen, ja es schien ihm unmöglich, von Ottiliens Augen zu scheiden,
von deren ruhig freundlich gewogenen Blicken er die letzte Zeit fast
ganz allein gelebt hatte.

Die Weihnachtsfeiertage nahten sich, und es wurde ihm auf einmal klar,
daß eigentlich jene Gemäldedarstellungen durch runde Figuren von dem
sogenannten Präsepe ausgegangen, von der frommen Vorstellung, die man
in dieser heiligen Zeit der göttlichen Mutter und dem Kinde widmete,
wie sie in ihrer scheinbaren Niedrigkeit erst von Hirten, bald darauf
von Königen verehrt werden.

Er hatte sich die Möglichkeit eines solchen Bildes vollkommen
vergegenwärtigt. Ein schöner, frischer Knabe war gefunden; an Hirten
und Hirtinnen konnte es auch nicht fehlen; aber ohne Ottilien war die
Sache nicht auszuführen. Der junge Mann hatte sie in seinem Sinne zur
Mutter Gottes erhoben, und wenn sie es abschlug, so war bei ihm keine
Frage, daß das Unternehmen fallen müsse. Ottilie, halb verlegen über
seinen Antrag, wies ihn mit seiner Bitte an Charlotten. Diese erteilte
ihm gern die Erlaubnis, und auch durch sie ward die Scheu Ottiliens,
sich jener heiligen Gestalt anzumaßen, auf eine freundliche Weise
überwunden. Der Architekt arbeitete Tag und Nacht, damit am
Weihnachtsabend nichts fehlen möge.

Und zwar Tag und Nacht im eigentlichen Sinne. Er hatte ohnehin wenig
Bedürfnisse, und Ottiliens Gegenwart schien ihm statt alles Labsals zu
sein; indem er um ihretwillen arbeitete, war es, als wenn er keines
Schlafs, indem er sich um sie beschäftigte, keiner Speise bedürfte. Zur
feierlichen Abendstunde war deshalb alles fertig und bereit. Es war ihm
möglich gewesen, wohltönende Blasinstrumente zu versammeln, welche die
Einleitung machten und die gewünschte Stimmung hervorzubringen wußten.
Als der Vorhang sich hob, war Charlotte wirklich überrascht. Das Bild,
das sich ihr vorstellte, war so oft in der Welt wiederholt, daß man
kaum einen neuen Eindruck davon erwarten sollte. Aber hier hatte die
Wirklichkeit als Bild ihre besonderen Vorzüge. Der ganze Raum war eher
nächtlich als dämmernd und doch nichts undeutlich im Einzelnen der
Umgebung. Den unübertrefflichen Gedanken, daß alles Licht vom Kinde
ausgeht, hatte der Künstler durch einen klugen Mechanismus der
Beleuchtung auszuführen gewußt, der durch die beschatteten, nur von
Streiflichtern erleuchteten Figuren im Vordergrunde zugedeckt wurde.
Frohe Mädchen und Knaben standen umher, die frischen Gesichter scharf
von unten beleuchtet. Auch an Engeln fehlte es nicht, deren eigener
Schein von dem göttlichen verdunkelt, deren ätherischer Leib vor dem
göttlich-menschlichen verdichtet und lichtsbedürftig schien.

Glücklicherweise war das Kind in der anmutigsten Stellung
eingeschlafen, sodaß nichts die Betrachtung störte, wenn der Blick auf
der scheinbaren Mutter verweilte, die mit unendlicher Anmut einen
Schleier aufgehoben hatte, um den verborgenen Schatz zu offenbaren. In
diesem Augenblick schien das Bild festgehalten und erstarrt zu sein.
Physisch geblendet, geistig überrascht, schien das umgebende Volk sich
eben bewegt zu haben, um die getroffenen Augen wegzuwenden, neugierig
erfreut wieder hinzublinzen und mehr Verwunderung und Lust als
Bewunderung und Verehrung anzuzeigen, obgleich diese auch nicht
vergessen und einigen ältern Figuren der Ausdruck derselben übertragen
war.

Ottiliens Gestalt, Gebärde, Miene, Blick übertraf aber alles, was je
ein Maler dargestellt hat. Der gefühlvolle Kenner, der diese
Erscheinung gesehen hätte, wäre in Furcht geraten, es möge sich nur
irgend etwas bewegen; er wäre in Sorge gestanden, ob ihm jemals etwas
wieder so gefallen könne. Unglücklicherweise war niemand da, der diese
ganze Wirkung aufzufassen vermocht hätte. Der Architekt allein, der als
langer, schlanker Hirt von der Seite über die Knieenden hereinsah,
hatte, obgleich nicht in dem genauesten Standpunkt, noch den größten
Genuß. Und wer beschreibt auch die Miene der neugeschaffenen
Himmelskönigin? Die reinste Demut, das liebenswürdigste Gefühl von
Bescheindenheit bei einer großen, unverdient erhaltenden Ehre, einem
unbegreiflich unermeßlichen Glück bildete sich in ihren Zügen, sowohl
indem sich ihre eigene Empfindung, als indem sich die Vorstellung
ausdrückte, die sie sich von dem machen konnte, was sie spielte.

Charlotten erfreute das schöne Gebilde, doch wirkte hauptsächlich das
Kind auf sie. Ihre Augen strömten von Tränen, und sie stellte sich auf
das lebhafteste vor, daß sie ein ähnliches liebes Geschöpf bald auf
ihrem Schoße zu hoffen habe.

Man hatte den Vorhang niedergelassen, teils um den Vorstellenden einige
Erleichterung zu geben, teils eine Veränderung in dem Dargestellten
anzubringen. Der Künstler hatte sich vorgenommen, das erste Nacht- und
Niedrigkeitsbild in ein Tag- und Glorienbild zu verwandeln, und
deswegen von allen Seiten eine unmäßige Erleuchtung vorbereitet, die in
der Zwischenzeit angezündet wurde.

Ottilien war in ihrer halb theatralischen Lage bisher die größte
Beruhigung gewesen, daß außer Charlotten und wenigen Hausgenossen
niemand dieser frommen Kunstmummerei zugesehen. Sie wurde daher
einigermaßen betroffen, als sie in der Zwischenzeit vernahm, es sei ein
Fremder angekommen, im Saale von Charlotten freundlich begrüßt. Wer es
war, konnte man ihr nicht sagen. Sie ergab sich darein, um keine
Störung zu verursachen. Lichter und Lampen brannten, und eine ganz
unendliche Hellung umgab sie. Der Vorhang ging auf, für die
Zuschauenden ein überraschender Anblick: das ganze Bild war alles
Licht, und statt des völlig aufgehobenen Schattens blieben nur die
Farben übrig, die bei der klugen Auswahl eine liebliche Mäßigung
hervorbrachten. Unter ihren langen Augenwimmpern hervorblickend,
bemerkte Ottilie eine Mannsperson neben Charlotten sitzend. Sie
erkannte ihn nicht, aber sie glaubte die Stimme des Gehülfen aus der
Pension zu hören. Eine wunderbare Empfindung ergriff sie. Wie vieles
war begegnet, seitdem sie die Stimme dieses treuen Lehrers nicht
vernommen! Wie im zackigen Blitz fuhr die Reihe ihrer Freuden und
Leiden schnell vor ihrer Seele vorbei und regte die Frage auf: ‘darfst
du ihm alles bekennen und gestehen? Und wie wenig wert bist du, unter
dieser heiligen Gestalt vor ihm zu erscheinen, und wie seltsam muß es
ihm vorkommen, dich, die er nur natürlich gesehen, als Maske zu
erblicken?’ Mit einer Schnelligkeit, die keinesgleichen hat, wirkten
Gefühl und Betrachtung in ihr gegeneinander. Ihr Herz war befangen,
ihre Augen füllten sich mit Tränen, indem sie sich zwang, immerfort als
ein starres Bild zu erscheinen; und wie froh war sie, als der Knabe
sich zu regen anfing und der Künstler sich genötiget sah, das Zeichen
zu geben, daß der Vorhang wieder fallen sollte!

Hatte das peinliche Gefühl, einem werten Freunde nicht entgegeneilen zu
können, sich schon die letzten Augenblicke zu den übrigen Empfindungen
Ottiliens gesellt, so war sie jetzt in noch größerer Verlegenheit.
Sollte sie in diesem fremden Anzug und Schmuck ihm entgegengehn? Sollte
sie sich umkleiden? Sie wählte nicht, sie tat das letzte und suchte
sich in der Zwischenzeit zusammenzunehmen, sich zu beruhigen, und war
nur erst wieder mit sich selbst in Einstimmung, als sie endlich im
gewohnten Kleide den Angekommenen begrüßte.



Siebentes Kapitel

Insofern der Architekt seinen Gönnerinnen das Beste wünschte, war es
ihm angenehm, da er doch endlich scheiden mußte, sie in der guten
Gesellschaft des schätzbaren Gehülfen zu wissen; indem er jedoch ihre
Gunst auf sich selbst bezog, empfand er es einigermaßen schmerzhaft,
sich so bald und, wie es seiner Bescheidenheit dünken mochte, so gut,
ja vollkommen ersetzt zu sehen. Er hatte noch immer gezaudert, nun aber
drängte es ihn hinweg; denn was er wollte sich nach seiner Entfernung
mußte gefallen lassen, das wollte er wenigstens gegenwärtig nicht
erleben.

Zu großer Erheiterung dieser halb traurigen Gefühle machten ihm die
Damen beim Abschiede noch ein Geschenk mit einer Weste, an der er sie
beide lange Zeit hatte stricken sehen, mit einem stillen Neid über den
unbekannten Glücklichen, dem sie dereinst werden könnte. Eine solcher
Gabe ist die angenehmste, die ein liebender, verehrender Mann erhalten
mag; denn wenn er dabei des unermüdeten Spiels der schönen Finger
gedenkt, so kann er nicht umhin, sich zu schmeicheln, das Herz werde
bei einer so anhaltenden Arbeit doch auch nicht ganz ohne Teilnahme
geblieben sein.

Die Frauen hatten nun einen neuen Mann zu bewirrten, dem sie
wohlwollten und dem es bei ihnen wohl werden sollte. Das weibliche
Geschlecht hegt ein eignes, inneres, unwandelbares Interesse, von dem
sie nichts in der Welt abtrünnig macht; im äußern, geselligen
Verhältnis hingegen lassen sie sich gern und leicht durch den Mann
bestimmen, der sie eben beschäftigt; und so durch Abweisen wie durch
Empfänglichkeit, durch Beharren und Nachgiebigkeit führen sie
eigentlich das Regiment, dem sich in der gesitteten Welt kein Mann zu
entziehen wagt.

Hatte der Architekt, gleichsam nach eigener Lust und Belieben, seine
Talente vor den Freundinnen zum Vergnügen und zu den Zwecken derselben
geübt und bewiesen, war Beschäftigung und Unterhaltung in diesem Sinne
und nach solchen Absichten eingerichtet, so machte sich in kurzer Zeit
durch die Gegenwart des Gehülfen eine andere Lebensweise. Seine große
Gabe war, gut zu sprechen und menschliche Verhältnisse, besonders in
bezug auf Bildung der Jugend, in der Unterredung zu behandeln. Und so
entstand gegen die bisherige Art zu leben ein ziemlich fühlbarer
Gegensatz, um so mehr, als der Gehülfe nicht ganz dasjenige billigte,
womit man sich die Zeit über ausschließlich beschäftigt hatte.

Von dem lebendigen Gemälde, das ihn bei seiner Ankunft empfing, sprach
er gar nicht. Als man ihm hingegen Kirche, Kapelle und was sich darauf
bezog, mit Zufriedenheit sehen ließ, konnte er seine Meinung, seine
Gesinnungen darüber nicht zurückhalten. „Was mich betrifft“, sagte er,
„so will mir diese Annäherung, diese Vermischung des Heiligen zu und
mit dem Sinnlichen keineswegs gefallen, nicht gefallen, daß man sich
gewisse besondere Räume widmet, weihet und aufschmückt, um erst dabei
ein Gefühl der Frömmigkeit zu hegen und zu unterhalten. Keine Umgebung,
selbst die gemeinste nicht, soll in uns das Gefühl des Göttlichen
stören, das uns überallhin begleiten und jede Stätte zu einem Tempel
einweihen kann. Ich mag gern einen Hausgottesdienst in dem Saale
gehalten sehen, wo man zu speisen, sich gesellig zu versammeln, mit
Spiel und Tanz zu ergötzen pflegt. Das Höchste, das Vorzüglichste am
Menschen ist gestaltlos, und man soll sich hüten, es anders als in
edler Tat zu gestalten“.

Charlotte, die seine Gesinnungen schon im ganzen kannte und sie noch
mehr in kurzer Zeit erforschte, brachte ihn gleich in seinem Fache zur
Tätigkeit, indem sie ihre Gartenknaben, welche der Architekt vor seiner
Abreise eben gemustert hatte, in dem großen Saal aufmarschieren ließ,
da sie sich denn in ihren heitern, reinlichen Uniformen, mit
gesetzlichen Bewegungen und einem natürlichen, lebhaften Wesen sehr gut
ausnahmen. Der Gehülfe prüfte sie nach seiner Weise und hatte durch
mancherlei Fragen und Wendungen gar bald die Gemütsarten und
Fähigkeiten der Kinder zutage gebracht und, ohne daß es so schien, in
Zeit von weniger als einer Stunde sie wirklich bedeutend unterrichtet
und gefördert.

„Wie machen Sie das nur?“ sagte Charlotte, indem die Knaben wegzogen.
„Ich habe sehr aufmerksam zugehört; es sind nichts als ganz bekannte
Dinge vorgekommen, und doch wüßte ich nicht, wie ich es anfangen
sollte, sie in so kurzer Zeit, bei so vielem Hin- und Widerreden, in
solcher Folge zur Sprache zu bringen“.

„Vielleicht sollte man“, versetzte der Gehülfe, „aus den Vorteilen
seines Handwerks ein Geheimnis machen. Doch kann ich Ihnen die ganz
einfache Maxime nicht verbergen, nach der man dieses und noch viel mehr
zu leisten vermag. Fassen Sie einen Gegenstand, eine Materie, einen
Begriff, wie man es nennen will; halten Sie ihn recht fest; machen Sie
sich ihn in allen seinen Teilen recht deutlich, und dann wird es Ihnen
leicht sein, gesprächsweise an einer Masse Kinder zu erfahren, was sich
davon schon in ihnen entwickelt hat, was noch anzuregen, zu überliefern
ist. Die Antworten auf Ihre Fragen mögen noch so ungehörig sein, mögen
noch so sehr ins Weite gehen, wenn nur sodann Ihre Gegenfrage Geist und
Sinn wieder hereinwärts zieht, wenn Sie sich nicht von Ihrem
Standpunkte verrücken lassen, so müssen die Kinder zuletzt denken,
begreifen, sich überzeugen, nur von dem, was und wie es der Lehrende
will. Sein größter Fehler ist der, wenn er sich von den Lernenden mit
in die Weite reißen läßt, wenn er sie nicht auf dem Punkte festzuhalten
weiß, den er eben jetzt behandelt. Machen Sie nächstens einen Versuch,
und es wird zu Ihrer großen Unterhaltung dienen“.

„Das ist artig“, sagte Charlotte; „die gute Pädagogik ist also gerade
das Umgekehrte von der guten Lebensart. In der Gesellschaft soll man
auf nichts verweilen, und bei dem Unterricht wäre das höchste Gebot,
gegen alle Zerstreuung zu arbeiten“.

„Abwechselung ohne Zerstreuung wäre für Lehre und Leben der schönste
Wahlspruch, wenn dieses löbliche Gleichgewicht nur so leicht zu
erhalten wäre!“ sagte der Gehülfe und wollte weiter fortfahren, als ihn
Charlotte aufrief, die Knaben nochmals zu betrachten, deren munterer
Zug sich soeben über den Hof bewegte. Er bezeigte seine Zufriedenheit,
daß man die Kinder in Uniform zu gehen anhalte. „Männer“, so sagte er,
„sollten von Jugend auf Uniform tragen, weil sie sich gewöhnen müssen,
zusammen zu handeln, sich unter ihresgleichen zu verlieren, in Masse zu
gehorchen und ins Ganze zu arbeiten. Auch befördert jede Art von
Uniform einen militärischen Sinn sowie ein knapperes, strackeres
Betragen, und alle Knaben sind ja ohnehin geborne Soldaten; man sehe
nur ihre Kampf- und Streitspiele, ihr Erstürmen und Erklettern“.

„So werden Sie mich dagegen nicht tadeln“, versetzte Ottilie, „daß ich
meine Mädchen nicht überein kleide. Wenn ich sie Ihnen vorführe, hoffe
ich Sie durch ein buntes Gemisch zu ergötzen“.

„Ich billige das sehr“, versetzte jener. „Frauen sollten durchaus
mannigfaltig gekleidet gehen, jede nach eigner Art und Weise, damit
eine jede fühlen lernte, was ihr eigentlich gut stehe und wohl zieme.
Eine wichtigere Ursache ist noch die, weil sie bestimmt sind, ihr
ganzes Leben allein zu stehen und allein zu handeln“.

„Das scheint mir sehr paradox“, versetzte Charlotte; „sind wir doch
fast niemals für uns“.

„O ja!“ versetzte der Gehülfe, „in Absicht auf andere Frauen ganz
gewiß. Man betrachte ein Frauenzimmer als Liebende, als Braut, als
Frau, Hausfrau und Mutter, immer steht sie isoliert, immer ist sie
allein und will allein sein. Ja die Eitle selbst ist in dem Falle. Jede
Frau schließt die andre aus, ihrer Natur nach; denn von jeder wird
alles gefordert, was dem ganzen Geschlechte zu leisten obliegt. Nicht
so verhält es sich mit den Männern. Der Mann verlangt den Mann; er
würde sich einen zweiten erschaffen, wenn es keinen gäbe; eine Frau
könnte eine Ewigkeit leben, ohne daran zu denken, sich ihresgleichen
hervorzubringen“.

„Man darf“, sagte Charlotte, „das Wahre nur wunderlich sagen, so
scheint zuletzt das Wunderliche auch wahr. Wir wollen uns aus ihren
Bemerkungen das Beste herausnehmen und doch als Frauen mit Frauen
zusammenhalten und auch gemeinsam wirken, um den Männern nicht allzu
große Vorzüge über uns einzuräumen. Ja, Sie werden uns eine kleine
Schadenfreude nicht übelnehmen, die wir künftig um desto lebhafter
empfinden müssen, wenn sich die Herren untereinander auch nicht
sonderlich vertragen“.

Mit vieler Sorgfalt untersuchte der verständige Mann nunmehr die Art,
wie Ottilie ihre kleinen Zöglinge behandelte, und bezeigte darüber
seinen entschiedenen Beifall. „Sehr richtig heben Sie“, sagte er, „Ihre
Untergebenen nur zur nächsten Brauchbarkeit heran. Reinlichkeit
veranlaßt die Kinder, mit Frauen etwas auf sich selbst zu halten, und
alles ist gewonnen, wenn sie das, was sie tun, mit Munterkeit und
Selbstgefühl zu leisten angeregt sind“.

Übrigens fand er zu seiner großen Befriedigung nichts auf den Schein
und nach außen getan, sondern alles nach innen und für die
unerläßlichen Bedürfnisse. „Mit wie wenig Worten“, rief er aus, „ließe
sich das ganze Erziehungsgeschäft aussprechen, wenn jemand Ohren hätte
zu hören!“

„Mögen Sie es nicht mit mir versuchen?“ sagte freundlich Ottilie.
„Recht gern“, versetzte jener; „nur müssen Sie mich nicht verraten. Man
erziehe die Knaben zu Dienern und die Mädchen zu Müttern, so wird es
überall wohlstehn“.

„Zu Müttern“, versetzte Ottilie, „das könnten die Frauen noch hingehen
lassen, da sie sich, ohne Mütter zu sein, doch immer einrichten müssen,
Wärterinnen zu werden; aber freilich zu Dienern würden sich unsre
jungen Männer viel zu gut halten, da man jedem leicht ansehen kann, daß
er sich zum Gebieten fähiger dünkt“.

„Deswegen wollen wir es ihnen verschweigen“, sagte der Gehülfe. „Man
schmeichelt sich ins Leben hinein, aber das Leben schmeichelt uns
nicht. Wieviel Menschen mögen denn das freiwillig zugestehen, was sie
am Ende doch müssen? Lassen wir aber diese Betrachtungen, die uns hier
nicht berühren!

Ich preise Sie glücklich, daß Sie bei Ihren Zöglingen ein richtiges
Verfahren anwenden können. Wenn Ihre kleinsten Mädchen sich mit Puppen
herumtragen und einige Läppchen für sie zusammenflicken, wenn ältere
Geschwister alsdann für die jüngern sorgen und das Haus sich in sich
selbst bedient und aufhilft, dann ist der weitere Schritt ins Leben
nicht groß, und ein solches Mädchen findet bei ihrem Gatten, was sie
bei ihren Eltern verließ.

Aber in den gebildeten Ständen ist die Aufgabe sehr verwickelt. Wir
haben auf höhere, zartere, feinere, besonders auf gesellschaftliche
Verhältnisse Rücksicht zu nehmen. Wir andern sollen daher unsre
Zöglinge nach außen bilden; es ist notwendig, es ist unerläßlich und
möchte recht gut sein, wenn man dabei nicht das Maß überschritte; denn
indem man die Kinder für einen weiteren Kreis zu bilden gedenkt, treibt
man sie leicht ins Grenzenlose, ohne im Auge zu behalten, was denn
eigentlich die innere Natur fordert. Hier liegt die Aufgabe, welche
mehr oder weniger von den Erziehern gelöst oder verfehlt wird.

Bei manchem, womit wir unsere Schülerinnen in der Pension ausstatten,
wird mir bange, weil die Erfahrung mir sagt, von wie geringem Gebrauch
es künftig sein werde. Was wird nicht gleich abgestreift, was nicht
gleich der Vergessenheit überantwortet, sobald ein Frauenzimmer sich im
Stande der Hausfrau, der Mutter befindet!

Indessen kann ich mir den frommen Wunsch nicht versagen, da ich mich
einmal diesem Geschäft gewidmet habe, daß es mir dereinst in
Gesellschaft einer treuen Gehülfin gelingen möge, an meinen Zöglingen
dasjenige rein auszubilden, was sie bedürfen, wenn sie in das Feld
eigener Tätigkeit und Selbständigkeit hinüberschreiten; daß ich mir
sagen könnte: in diesem Sinne ist an ihnen die Erziehung vollendet.
Freilich schließt sich eine andere immer wieder an, die beinahe mit
jedem Jahre unsers Lebens, wo nicht von uns selbst, doch von den
Umständen veranlaßt wird“.

Wie wahr fand Ottilie diese Bemerkung! Was hatte nicht eine ungeahnte
Leidenschaft im vergangenen Jahr an ihr erzogen! Was sah sie nicht
alles für Prüfungen vor sich schweben, wenn sie nur aufs Nächste, aufs
Nächstkünftige hinblickte!

Der junge Mann hatte nicht ohne Vorbedacht einer Gehülfin, einer Gattin
erwähnt; denn bei aller seiner Bescheidenheit konnte er nicht
unterlassen, seine Absichten auf eine entfernte Weise anzudeuten; ja er
war durch mancherlei Umstände und Vorfälle aufgeregt worden, bei diesem
Besuch einige Schritte seinem Ziele näher zu tun.

Die Vorsteherin der Pension war bereits in Jahren; sie hatte sich unter
ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen schon lange nach einer Person
umgesehen, die eigentlich mit ihr in Gesellschaft träte, und zuletzt
dem Gehülfen, dem sie zu vertrauen höchlich Ursache hatte, den Antrag
getan, er solle mit ihr die Lehranstalt fortführen, darin als in dem
Seinigen mitwirken und nach ihrem Tode als Erbe und einziger Besitzer
eintreten. Die Hauptsache schien hiebei, daß er eine einstimmende
Gattin finden müsse. Er hatte im stillen Ottilien vor Augen und im
Herzen; allein es regten sich mancherlei Zweifel, die wieder durch
günstige Ereignisse einiges Gegengewicht erhielten. Luciane hatte die
Pension verlassen, Ottilie konnte freier zurückkehren; von dem
Verhältnisse zu Eduard hatte zwar etwas verlautet, allein man nahm die
Sache, wie ähnliche Vorfälle mehr, gleichgültig auf, und selbst dieses
Ereignis konnte zu Ottiliens Rückkehr beitragen. Doch wäre man zu
keinem Entschluß gekommen, kein Schritt wäre geschehen, hätte nicht ein
unvermuteter Besuch auch hier eine besondere Anregung gegeben, wie denn
die Erscheinung von bedeutenden Menschen in irgendeinem Kreise niemals
ohne Folge bleiben kann.

Der Graf und die Baronesse, welche so oft in den Fall kamen, über den
Wert verschiedener Pensionen befragt zu werden, weil fast jedermann um
die Erziehung seiner Kinder verlegen ist, hatten sich vorgenommen,
diese besonders kennenzulernen, von der soviel Gutes gesagt wurde, und
konnten nunmehr in ihren neuen Verhältnissen zusammen eine solche
Untersuchung anstellen. Allein die Baronesse beabsichtigte noch etwas
anderes. Während ihres letzten Aufenthalts bei Charlotten hatte sie mit
dieser alles umständlich durchgesprochen, was sich auf Eduarden und
Ottilien bezog. Sie bestand aber und abermals darauf: Ottilie müsse
entfernt werden. Sie suchte Charlotten hiezu Mut einzusprechen, welche
sich vor Eduards Drohungen noch immer fürchtete. Man sprach über die
verschiedenen Auswege, und bei Gelegenheit der Pension war auch von der
Neigung des Gehülfen die Rede, und die Baronesse entschloß sich um so
mehr zu dem gedachten Besuch.

Sie kommt an, lernt den Gehülfen kennen, man beobachtet die Anstalt und
spricht von Ottilien. Der Graf selbst unterhält sich gern über sie,
indem er sie bei dem neulichen Besuch genauer kennengelernt. Sie hatte
sich ihm genähert, ja sie ward von ihm angezogen, weil sie durch sein
gehaltvolles Gespräch dasjenige zu sehen und zu kennen glaubte, was ihr
bisher ganz unbekannt geblieben war. Und wie sie in dem Umgange mit
Eduard die Welt vergaß, so schien ihr in der Gegenwart des Grafen die
Welt erst recht wünschenswert zu sein. Jede Anziehung ist
wechselseitig. Der Graf empfand eine Neigung für Ottilien, daß er sie
gern als seine Tochter betrachtete. Auch hier war sie der Baronesse zum
zweitenmal und mehr als das erstemal im Wege. Wer weiß, was diese in
Zeiten lebhafterer Leidenschaft gegen sie angestiftet hätte! Jetzt war
es ihr genug, sie durch eine Verheiratung den Ehefrauen unschädlicher
zu machen.

Sie regte daher den Gehülfen auf eine leise, doch wirksame Art klüglich
an, daß er sich zu einer kleinen Exkursion auf das Schloß einrichten
und seinen Planen und Wünschen, von denen er der Dame kein Geheimnis
gemacht, sich ungesäumt nähern solle.

Mit vollkommener Beistimmung der Vorsteherin trat er daher seine Reise
an und hegte in seinem Gemüte die besten Hoffnungen. Er weiß, Ottilie
ist ihm nicht ungünstig; und wenn zwischen ihnen einiges Mißverständnis
des Standes war, so glich sich dieses gar leicht durch die Denkart der
Zeit aus. Auch hatte die Baronesse ihn wohl fühlen lassen, daß Ottilie
immer ein armes Mädchen bleibe. Mit einem reichen Hause verwandt zu
sein, hieß es, kann niemanden helfen; denn man würde sich selbst bei
dem größten Vermögen ein Gewissen daraus machen, denjenigen eine
ansehnliche Summe zu entziehen, die dem näheren Grade nach ein
vollkommeneres Recht auf ein Besitztum zu haben scheinen. Und gewiß
bleibt es wunderbar, daß der Mensch das große Vorrecht, nach seinem
Tode noch über seine Habe zu disponieren, sehr selten zugunsten seiner
Lieblinge gebraucht und, wie es scheint, aus Achtung für das Herkommen
nur diejenigen begünstigt, die nach ihm sein Vermögen besitzen würden,
wenn er auch selbst keinen Willen hätte.

Sein Gefühl setzte ihn auf der Reise Ottilien völlig gleich. Eine gute
Aufnahme erhöhte seine Hoffnungen. Zwar fand er gegen sich Ottilien
nicht ganz so offen wie sonst; aber sie war auch erwachsener,
gebildeter und, wenn man will, im allgemeinen mitteilender, als er sie
gekannt hatte. Vertraulich ließ man ihn in manches Einsicht nehmen, was
sich besonders auf sein Fach bezog. Doch wenn er seinem Zwecke sich
nähern wollte, so hielt ihn immer eine gewisse innere Scheu zurück.

Einst gab ihm jedoch Charlotte hierzu Gelegenheit, indem sie in Beisein
Ottiliens zu ihm sagte:“ nun, Sie haben alles, was in meinem Kreise
heranwächst, so ziemlich geprüft; wie finden Sie denn Ottilien? Sie
dürfen es wohl in ihrer Gegenwart aussprechen“.

Der Gehülfe bezeichnete hierauf mit sehr viel Einsicht und ruhigem
Ausdruck, wie er Ottilien in Absicht eines freieren Betragens, einer
bequemeren Mitteilung, eines höheren Blicks in die weltlichen Dinge,
der sich mehr in ihren Handlungen als in ihren Worten betätige, sehr zu
ihrem Vorteil verändert finde, daß er aber doch glaube, es könne ihr
sehr zum Nutzen gereichen, wenn sie auf einige Zeit in die Pension
zurückkehre, um das in einer gewissen Folge gründlich und für immer
sich zuzueignen, was die Welt nur stückweise und eher zur Verwirrung
als zur Befriedigung, ja manchmal nur allzuspät überliefere. Er wolle
darüber nicht weitläufig sein; Ottilie wisse selbst am besten, aus was
für zusammenhängenden Lehrvorträgen sie damals herausgerissen worden.

Ottilie konnte das nicht leugnen; aber sie konnte nicht gestehen, was
sie bei diesen Worten empfand, weil sie sich es kaum selbst auszulegen
wußte. Es schien ihr in der Welt nichts mehr unzusammenhängend, wenn
sie an den geliebten Mann dachte, und sie begriff nicht, wie ohne ihn
noch irgend etwas zusammenhängen könne.

Charlotte beantwortete den Antrag mit kluger Freundlichkeit. Sie sagte,
daß sowohl sie als Ottilie eine Rückkehr nach der Pension längst
gewünscht hätten. In dieser Zeit nur sei ihr die Gegenwart einer so
lieben Freundin und Helferin unentbehrlich gewesen; doch wolle sie in
der Folge nicht hinderlich sein, wenn es Ottiliens Wunsch bliebe,
wieder auf so lange dorthin zurückzukehren, bis sie das Angefangene
geendet und das Unterbrochene sich vollständig zugeeignet.

Der Gehülfe nahm diese Anerbietung freudig auf; Ottilie durfte nichts
dagegen sagen, ob es ihr gleich vor dem Gedanken schauderte. Charlotte
hingegen dachte Zeit zu gewinnen; sie hoffte, Eduard sollte sich erst
als glücklicher Vater wiederfinden und einfinden, dann, war sie
überzeugt, würde sich alles geben und auch für Ottilien auf eine oder
die andere Weise gesorgt werden.

Nach einem bedeutenden Gespräch, über welches alle Teilnehmenden
nachzudenken haben, pflegt ein gewisser Stillstand einzutreten, der
einer allgemeinen Verlegenheit ähnlich sieht. Man ging im Saale auf und
ab, der Gehülfe blätterte in einigen Büchern und kam endlich an den
Folioband, der noch von Lucianens Zeiten her liegengeblieben war. Als
er sah, daß darin nur Affen enthalten waren, schlug er ihn gleich
wieder zu. Dieser Vorfall mag jedoch zu einem Gespräch Anlaß gegeben
haben, wovon wir die Spuren in Ottiliens Tagebuch finden.

Aus Ottiliens Tagebuche

Wie man es nur über das Herz bringen kann, die garstigen Affen so
sorgfältig abzubilden! Man erniedrigt sich schon, wenn man sie nur als
Tiere betrachtet; man wird aber wirklich bösartiger, wenn man dem Reize
folgt, bekannte Menschen unter dieser Maske aufzusuchen.

Es gehört durchaus eine gewisse Verschrobenheit dazu, um sich gern mit
Karikaturen und Zerrbildern abzugeben. Unserm guten Gehülfen danke
ichs, daß ich nicht mit der Naturgeschichte gequält worden bin; ich
konnte mich mit den Würmern und Käfern niemals befreunden.

Diesmal gestand er mir, daß es ihm ebenso gehe. „Von der Natur“, sagte
er, „sollten wir nichts kennen, als was uns unmittelbar lebendig
umgibt. Mit den Bäumen, die um uns blühen, grünen, Frucht tragen, mit
jeder Staude, an der wir vorbeigehen, mit jedem Grashalm, über den wir
hinwandeln, haben wir ein wahres Verhältnis; sie sind unsre echten
Kompatrioten. Die Vögel, die auf unsern Zweigen hin und wider hüpfen,
die in unserm Laube singen, gehören uns an, sie sprechen zu uns von
Jugend auf, und wir lernen ihre Sprache verstehen. Man frage sich, ob
nicht ein jedes fremde, aus seiner Umgebung gerissene Geschöpf einen
gewissen ängstlichen Eindruck auf uns macht, der nur durch Gewohnheit
abgestumpft wird. Es gehört schon ein buntes, geräuschvolles Leben
dazu, um Affen, Papageien und Mohren um sich zu ertragen“.

Manchmal, wenn mich ein neugieriges Verlangen nach solchen
abenteuerlichen Dingen anwandelte, habe ich den Reisenden beneidet, der
solche Wunder mit andern Wundern in lebendiger, alltäglicher Verbindung
sieht. Aber auch er wird ein anderer Mensch. Es wandelt niemand
ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiß in einem
Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind.

Nur der Naturforscher ist verehrungswert, der uns das Fremdeste,
Seltsamste mit seiner Lokalität, mit aller Nachbarschaft jedesmal in
dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiß. Wie gern
möchte ich nur einmal Humboldten erzählen hören!

Ein Naturalienkabinett kann uns vorkommen wie eine ägyptische
Grabstätte, wo die verschiedenen Tier- und Pflanzengötzen balsamiert
umherstehen. Einer Priesterkaste geziemt es wohl, sich damit in
geheimnisvollem Halbdunkel abzugeben; aber in den allgemeinen
Unterricht sollte dergleichen nicht einfließen, um so weniger, als
etwas Näheres und Würdigeres sich dadurch leicht verdrängt sieht.

Ein Lehrer, der das Gefühl an einer einzigen guten Tat, an einem
einzigen guten Gedicht erwecken kann, leistet mehr als einer, der uns
ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Gestalt und dem Namen
nach überliefert; denn das ganze Resultat davon ist, was wir ohnedies
wissen können, daß das Menschengebild am vorzüglichsten und einzigsten
das Gleichnis der Gottheit an sich trägt.

Dem einzelnen bleibe die Freiheit, sich mit dem zu beschäftigen, was
ihn anzieht, was ihm Freude macht, was ihm nützlich deucht; aber das
eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch.



Achtes Kapitel

Es gibt wenig Menschen, die sich mit dem Nächstvergangenen zu
beschäftigen wissen. Entweder das Gegenwärtige hält uns mit Gewalt an
sich, oder wir verlieren uns in die Vergangenheit und suchen das völlig
Verlorene, wie es nur möglich sein will, wieder hervorzurufen und
herzustellen. Selbst in großen und reichen Familien, die ihren
Vorfahren vieles schuldig sind, pflegt es so zu gehen, daß man des
Großvaters mehr als des Vaters gedenkt.

Zu solchen Betrachtungen ward unser Gehülfe aufgefordert, als er an
einem der schönen Tage, an welchen der scheidende Winter den Frühling
zu lügen pflegt, durch den großen, alten Schloßgarten gegangen war und
die hohen Lindenalleen, die regelmäßigen Anlagen, die sich von Eduards
Vater herschrieben, bewundert hatte. Sie waren vortrefflich gediehen in
dem Sinne desjenigen, der sie pflanzte, und nun, da sie erst anerkannt
und genossen werden sollten, sprach niemand mehr von ihnen; man
besuchte sie kaum und hatte Liebhaberei und Aufwand gegen eine andere
Seite hin ins Freie und Weite gerichtet.

Er machte bei seiner Rückkehr Charlotten die Bemerkung, die sie nicht
ungünstig aufnahm. „Indem uns das Leben fortzieht“, versetzte sie,
„glauben wir aus uns selbst zu handeln, unsre Tätigkeit, unsre
Vergnügungen zu wählen, aber freilich, wenn wir es genau ansehen, so
sind es nur die Plane, die Neigungen der Zeit, die wir mit auszuführen
genötigt sind“.

„Gewiß“, sagte der Gehülfe; „und wer widersteht dem Strome seiner
Umgebungen? Die Zeit rückt fort und in ihr Gesinnungen, Meinungen,
Vorurteile und Liebhabereien. Fällt die Jugend eines Sohnes gerade in
die Zeit der Umwendung, so kann man versichert sein, daß er mit seinem
Vater nichts gemein haben wird. Wenn dieser in einer Periode lebte, wo
man Lust hatte, sich manches zuzueignen, dieses Eigentum zu sichern, zu
beschränken, einzuengen und in der Absonderung von der Welt seinen
Genuß zu befestigen, so wird jener sodann sich auszudehnen suchen,
mitteilen, verbreiten und das Verschlossene eröffnen“.

„Ganze Zeiträume“, versetzte Charlotte, „gleichen diesem Vater und
Sohn, den Sie schildern. Von jenen Zuständen, da jede kleine Stadt ihre
Mauern und Gräben haben mußte, da man jeden Edelhof noch in einen Sumpf
baute und die geringsten Schlösser nur durch eine Zugbrücke zugänglich
waren, davon können wir uns kaum einen Begriff machen. Sogar größere
Städte tragen jetzt ihre Wälle ab, die Gräben selbst fürstlicher
Schlösser werden ausgefüllt, die Städte bilden nur große Flecken, und
wenn man so auf Reisen das ansieht, sollte man glauben, der allgemeine
Friede sei befestigt und das goldne Zeitalter vor der Tür. Niemand
glaubt sich in einem Garten behaglich, der nicht einem freien Lande
ähnlich sieht; an Kunst, an Zwang soll nichts erinnern; wir wollen
völlig frei und unbedingt Atem schöpfen. Haben Sie wohl einen Begriff,
mein Freund, daß man aus diesem in einen andern, in den vorigen Zustand
zurückkehren könne?“

„Warum nicht?“ versetzte der Gehülfe; „jeder Zustand hat seine
Beschwerlichkeit, der beschränkte sowohl als der losgebundene. Der
letztere setzt Überfluß voraus und führt zur Verschwendung. Lassen Sie
uns bei Ihrem Beispiel bleiben, das auffallend genug ist. Sobald der
Mangel eintritt, sogleich ist die Selbstbeschränkung wiedergegeben.
Menschen, die ihren Grund und Boden zu nutzen genötigt sind, führen
schon wieder Mauern um ihre Gärten auf, damit sie ihrer Erzeugnisse
sicher seien. Daraus entsteht nach und nach eine neue Ansicht der
Dinge. Das Nützliche erhält wieder die Oberhand, und selbst der
Vielbesitzende meint zuletzt auch das alles nutzen zu müssen. Glauben
Sie mir: es ist möglich, daß Ihr Sohn die sämtlichen Parkanlagen
vernachlässigt und sich wieder hinter die ernsten Mauern und unter die
hohen Linden seines Großvaters zurückzieht“.

Charlotte war im stillen erfreut, sich einen Sohn verkündigt zu hören,
und verzieh dem Gehülfen deshalb die etwas unfreundliche Prophezeiung,
wie es dereinst ihrem lieben, schönen Park ergehen könne. Sie versetzte
deshalb ganz freundlich: „wir sind beide noch nicht alt genug, um
dergleichen Widersprüche mehrmals erlebt zu haben; allein wenn man sich
in seine frühe Jugend zurückdenkt, sich erinnert, worüber man von
älteren Personen klagen gehört, Länder und Städte mit in die
Betrachtung aufnimmt, so möchte wohl gegen die Bemerkung nichts
einzuwenden sein. Sollte man denn aber einem solchen Naturgang nichts
entgegensetzen, sollte man Vater und Sohn, Eltern und Kinder nicht in
Übereinstimmung bringen können? Sie haben mir freundlich einen Knaben
geweissagt; müßte denn der gerade mit seinem Vater im Widerspruch
stehen? Zerstören, was seine Eltern erbaut haben, anstatt es zu
vollenden und zu erheben, wenn er in demselben Sinne fortfährt?“

„Dazu gibt es auch wohl ein vernünftiges Mittel“, versetzte der
Gehülfe, „das aber von den Menschen selten angewandt wird. Der Vater
erhebe seinen Sohn zum Mitbesitzer, er lasse ihn mitbauen, -pflanzen
und erlaube ihm, wie sich selbst, eine unschädliche Willkür. Eine
Tätigkeit läßt sich in die andre verweben, keine an die andre
anstückeln. Ein junger Zweig verbindet sich mit einem alten Stamme gar
leicht und gern, an den kein erwachsener Ast mehr anzufügen ist“.

Es freute den Gehülfen, in dem Augenblick, da er Abschied zu nehmen
sich genötigt sah, Charlotten zufälligerweise etwas Angenehmes gesagt
und ihre Gunst aufs neue dadurch befestigt zu haben. Schon allzulange
war er von Hause weg; doch konnte er zur Rückreise sich nicht eher
entschließen als nach völliger Überzeugung, er müsse die herannahende
Epoche von Charlottens Niederkunft erst vorbeigehen lassen, bevor er
wegen Ottiliens irgendeine Entscheidung hoffen könne. Er fügte sich
deshalb in die Umstände und kehrte mit diesen Aussichten und Hoffnungen
wieder zur Vorsteherin zurück.

Charlottens Niederkunft nahte heran. Sie hielt sich mehr in ihren
Zimmern. Die Frauen, die sich um sie versammelt hatten, waren ihre
geschlossenere Gesellschaft. Ottilie besorgte das Hauswesen, indem sie
kaum daran denken durfte, was sie tat. Sie hatte sich zwar völlig
ergeben; sie wünschte für Charlotten, für das Kind, für Eduarden sich
auch noch ferner auf das dienstlichste zu bemühen; aber sie sah nicht
ein, wie es möglich werden wollte. Nichts konnte sie vor völliger
Verworrenheit retten, als daß sie jeden Tag ihre Pflicht tat.

Ein Sohn war glücklich zur Welt gekommen, und die Frauen versicherten
sämtlich, es sei der ganze leibhafte Vater. Nur Ottilie konnte es im
stillen nicht finden, als sie der Wöchnerin Glück wünschte und das Kind
auf das herzlichste begrüßte. Schon bei den Anstalten zur Verheiratung
ihrer Tochter war Charlotten die Abwesenheit ihres Gemahls höchst
fühlbar gewesen; nun sollte der Vater auch bei der Geburt des Sohnes
nicht gegenwärtig sein; er sollte den Namen nicht bestimmen, bei dem
man ihn künftig rufen würde.

Der erste von allen Freunden, die sich beglückwünschend sehen ließen,
war Mittler, der seine Kundschafter ausgestellt hatte, um von diesem
Ereignis sogleich Nachricht zu erhalten. Er fand sich ein, und zwar
sehr behaglich. Kaum daß er seinen Triumph in Gegenwart Ottiliens
verbarg, so sprach er sich gegen Charlotten laut aus und war der Mann,
alle Sorgen zu heben und alle augenblicklichen Hindernisse
beiseitezubringen. Die Taufe sollte nicht lange aufgeschoben werden.
Der alte Geistliche, mit einem Fuß schon im Grabe, sollte durch seinen
Segen das Vergangene mit dem Zukünftigen zusammenknüpfen; Otto sollte
das Kind heißen; es konnte keinen andern Namen führen als den Namen des
Vaters und des Freundes.

Es bedurfte der entschiedenen Zudringlichkeit dieses Mannes, um die
hunderterlei Bedenklichkeiten, das Widerreden, Zaudern, Stocken,
Besser- oder Anderswissen, das Schwanken, Meinen, Um- und Wiedermeinen
zu beseitigen, da gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten aus einer
gehobenen Bedenklichkeit immer wieder neue entstehen und, indem man
alle Verhältnisse schonen will, immer der Fall eintritt, einige zu
verletzten.

Alle Meldungsschreiben und Gevatterbriefe übernahm Mittler; sie sollten
gleich ausgefertigt sein, denn ihm war selbst höchlich daran gelegen,
ein Glück, das er für die Familie so bedeutend hielt, auch der übrigen
mitunter mißwollenden und mißredenden Welt bekanntzumachen. Und
freilich waren die bisherigen leidenschaftlichen Vorfälle dem Publikum
nicht entgangen, das ohnehin in der Überzeugung steht, alles, was
geschieht, geschehe nur dazu, damit es etwas zu reden habe.

Die Feier des Taufaktes sollte würdig, aber beschränkt und kurz sein.
Man kam zusammen, Ottilie und Mittler sollten das Kind als Taufzeugen
halten. Der alte Geistliche, unterstützt vom Kirchdiener, trat mit
langsamen Schritten heran. Das Gebet war verrichtet, Ottilien das Kind
auf die Arme gelegt, und als sie mit Neigung auf dasselbe heruntersah,
erschrak sie nicht wenig an seinen offenen Augen; denn sie glaubte in
ihre eigenen zu sehen; eine solche Übereinstimmung hätte jeden
überraschen müssen. Mittler, der zunächst das Kind empfing, stutzte
gleichfalls, indem er in der Bildung desselben eine so auffallende
Ähnlichkeit, und zwar mit dem Hauptmann, erblickte, dergleichen ihm
sonst noch nie vorgekommen war.

Die Schwäche des guten alten Geistichen hatte ihn gehindert, die
Taufhandlung mit mehrerem als der gewöhnlichen Liturgie zu begleiten.
Mittler indessen, voll von dem Gegenstande, gedachte seiner frühern
Amtsverrichtungen und hatte überhaupt die Art, sich sogleich in jedem
Falle zu denken, wie er nun reden, wie er sich äußern würde. Diesmal
konnte er sich um so weniger zurückhalten, als es nur eine kleine
Gesellschaft von lauter Freunden war, die ihn umgab. Er fing daher an,
gegen das Ende des Akts mit Behaglichkeit sich an die Stelle des
Geistlichen zu versetzen, in einer muntern Rede seine Patenpflichten
und Hoffnungen zu äußern und um so mehr dabei zu verweilen, als er
Charlottens Beifall in ihrer zufriedenen Miene zu erkennen glaubte.

Daß der gute alte Mann sich gern gesetzt hätte, entging dem rüstigen
Redner, der noch viel weniger dachte, daß er ein größeres Übel
hervorzubringen auf dem Wege war; denn nachdem er das Verhältnis eines
jeden Anwesenden zum Kinde mit Nachdruck geschildert und Ottiliens
Fassung dabei ziemlich auf die Probe gestellt hatte, so wandte er sich
zuletzt gegen den Greis mit diesen Worten: „Und Sie, mein würdiger
Altvater, können nunmehr mit Simeon sprechen; ‘Herr, laß deinen Diener
in Frieden fahren; denn meine Augen haben den Heiland dieses Hauses
gesehen’“.

Nun war er im Zuge, recht glänzend zu schließen, aber er bemerkte bald,
daß der Alte, dem er das Kind hinhielt, sich zwar erst gegen dasselbe
zu neigen schien, nachher aber schnell zurücksank. Vom Fall kaum
abgehalten, ward er in einen Sessel gebracht, und man mußte ihn
ungeachtet aller augenblicklichen Beihülfe für tot ansprechen.

So unmittelbar Geburt und Tod, Sarg und Wiege nebeneinander zu sehen
und zu denken, nicht bloß mit der Einbildungskraft, sondern mit den
Augen diese ungeheuern Gegensätze zusammenzufassen, war für die
Umstehenden eine schwere Aufgabe, je überraschender sie vorgelegt
wurde. Ottilie allein betrachtete den Eingeschlummerten, der noch immer
seine freundliche, einnehmende Miene behalten hatte, mit einer Art von
Neid. Das Leben ihrer Seele war getötet; warum sollte der Körper noch
erhalten werden?

Führten sie auf diese Weise gar manchmal die unerfreulichen
Begebenheiten des Tags auf die Betrachtung der Vergänglichkeit, des
Scheidens, des Verlierens, so waren ihr dagegen wundersame nächtliche
Erscheinungen zum Trost gegeben, die ihr das Dasein des Geliebten
versicherten und ihr eigenes befestigten und belebten. Wenn sie sich
abends zur Ruhe gelegt und im süßen Gefühl noch zwischen Schlaf und
Wachen schwebte, schien es ihr, als wenn sie in einen ganz hellen, doch
mild erleuchteten Raum hineinblickte. In diesem sah sie Eduarden ganz
deutlich, und zwar nicht gekleidet, wie sie ihn sonst gesehen, sondern
im kriegerischen Anzug, jedesmal in einer andern Stellung, die aber
vollkommen natürlich war und nichts Phantastisches an sich hatte:
stehend, gehend, liegend, reitend. Die Gestalt, bis aufs kleinste
ausgemalt, bewegte sich willig vor ihr, ohne daß sie das mindeste dazu
tat, ohne daß sie wollte oder die Einbildungskraft anstrengte. Manchmal
sah sie ihn auch umgeben, besonders von etwas Beweglichem, das dunkler
war als der helle Grund; aber sie unterschied kaum Schattenbilder, die
ihr zuweilen als Menschen, als Pferde, als Bäume und Gebirge vorkommen
konnten. Gewöhnlich schlief sie über der Erscheinung ein, und wenn sie
nach einer ruhigen Nacht morgens wieder erwachte, so war sie erquickt,
getröstet; sie fühlte sich überzeugt, Eduard lebe noch, sie stehe mit
ihm noch in dem innigsten Verhältnis.



Neuntes Kapitel

Der Frühling war gekommen, später, aber auch rascher und freudiger als
gewöhnlich. Ottilie fand nun im Garten die Frucht ihres Vorsehens;
alles keimte, grünte und blühte zur rechten Zeit; manches, was hinter
wohlangelegten Glashäusern und Beeten vorbereitet worden, trat nun
sogleich der endlich von außen wirkenden Natur entgegen, und alles, was
zu tun und zu besorgen war, blieb nicht bloß hoffnungsvolle Mühe wie
bisher, sondern ward zum heitern Genusse.

An dem Gärtner aber hatte sie zu trösten über manche durch Lucianens
Wildheit entstandene Lücke unter den Topfgewächsen, über die zerstörte
Symmetrie mancher Baumkrone. Sie machte ihm Mut, daß sich das alles
bald wieder herstellen werde; aber er hatte zu ein tiefes Gefühl, zu
einen reinen Begriff von seinem Handwerk, als daß diese Trostgründe
viel bei ihm hätten fruchten sollen. So wenig der Gärtner sich durch
andere Liebhabereien und Neigungen zerstreuen darf, so wenig darf der
ruhige Gang unterbrochen werden, den die Pflanze zur dauernden oder zur
vorübergehenden Vollendung nimmt. Die Pflanze gleicht den eigensinnigen
Menschen, von denen man alles erhalten kann, wenn man sie nach ihrer
Art behandelt. Ein ruhiger Blick, eine stille Konsequenz, in jeder
Jahrszeit, in jeder Stunde das ganz Gehörige zu tun, wird vielleicht
von niemand mehr als vom Gärtner verlangt.

Diese Eigenschaften besaß der gute Mann in einem hohen Grade, deswegen
auch Ottilie so gern mit ihm wirkte; aber sein eigentliches Talent
konnte er schon einige Zeit nicht mehr mit Behaglichkeit ausüben. Denn
ob er gleich alles, was die Baum- und Küchengärtnerei betraf, auch die
Erfordernisse eines ältern Ziergartens, vollkommen zu leisten verstand,
wie denn überhaupt einem vor dem andern dieses oder jenes gelingt, ob
er schon in Behandlung der Orangerie, der Blumenzwiebeln, der Nelken-
und Aurikelnstöcke die Natur selbst hätte herausfordern können, so
waren ihm doch die neuen Zierbäume ud Modeblumen einigermaßen fremd
geblieben, und er hatte vor dem unendlichen Felde der Botanik, das sich
nach der Zeit auftat, und den darin herumsummenden fremden Namen eine
Art von Scheu, die ihn verdrießlich machte. Was die Herrschaft voriges
Jahr zu verschreiben angefangen, hielt er um so mehr für unnützen
Aufwand und Verschwendung, als er gar manche kostbare Pflanze ausgehen
sah und mit den Handelsgärtnern, die ihn, wie er glaubte, nicht redlich
genug bedienten, in keinem sonderlichen Verhältnisse stand.

Er hatte sich darüber nach mancherlei Versuchen eine Art von Plan
gemacht, in welchem ihn Ottilie um so mehr bestärkte, als er auf die
Wiederkehr Eduards eigentlich gegründet war, dessen Abwesenheit man in
diesem wie in manchem andern Falle täglich nachteiliger empfinden
mußte.

Indem nun die Pflanzen immer mehr Wurzel schlugen und Zweige trieben,
fühlte sich auch Ottilie immer mehr an diese Räume gefesselt. Gerade
vor einem Jahre trat sie als Fremdling, als ein unbedeutendes Wesen
hier ein; wieviel hatte sie sich seit jener Zeit nicht erworben! Aber
leider wieviel hatte sie nicht auch seit jener Zeit wieder verloren!
Sie war nie so reich und nie so arm gewesen. Das Gefühl von beidem
wechselte augenblicklich miteinander ab, ja durchkreuzte sich aufs
innigste, sodaß sie sich nicht anders zu helfen wußte, als daß sie
immer wieder das Nächste mit Anteil, ja mit Leidenschaft ergriff.

Daß alles, was Eduarden besonders lieb war, auch ihre Sorgfalt am
stärksten an sich zog, läßt sich denken; ja warum sollte sie nicht
hoffen, daß er selbst nun bald wiederkommen, daß er die fürsorgliche
Dienstlichkeit, die sie dem Abwesenden geleistet, dankbar gegenwärtig
bemerken werde?

Aber noch auf eine viel andre Weise war sie veranlaßt, für ihn zu
wirken. Sie hatte vorzüglich die Sorge für das Kind übernommen, dessen
unmittelbare Pflegerin sie um so mehr werden konnte, als man es keiner
Amme übergeben, sondern mit Milch und Wasser aufzuziehen sich
entschieden hatte. Es sollte in jener schönen Zeit der freien Luft
genießen; und so trug sie es am liebsten selbst heraus, trug das
schlafende, unbewußte zwischen Blumen und Blüten her, die dereinst
seiner Kindheit so freundlich entgegenlachen sollten, zwischen jungen
Sträuchen und Pflanzen, die mit ihm in die Höhe zu wachsen durch ihre
Jugend bestimmt schienen. Wenn sie um sich her sah, so verbarg sie sich
nicht, zu welchem großen, reichen Zustande das Kind geboren sei; denn
fast alles, wohin das Auge blickte, sollte dereinst ihm gehören. Wie
wünschenswert war es zu diesem allen, daß es vor den Augen des Vaters,
der Mutter aufwächse und eine erneute, frohe Verbindung bestätigte!

Ottilie fühlte dies alles so rein, daß sie sichs als entschieden
wirklich dachte und sich selbst dabei gar nicht empfand. Unter diesem
klaren Himmel, bei diesem hellen Sonnenschein ward es ihr auf einmal
klar, daß ihre Liebe, um sich zu vollenden, völlig uneigennützig werden
müsse; ja in manchen Augenblicken glaubte sie diese Höhe schon erreicht
zu haben. Sie wünschte nur das Wohl ihres Freundes, sie glaubte sich
fähig, ihm zu entsagen, sogar ihn niemals wiederzusehen, wenn sie ihn
nur glücklich wisse. Aber ganz entschieden war sie für sich, niemals
einem andern anzugehören.

Daß der Herbst ebenso herrlich würde wie der Frühling, dafür war
gesorgt. Alle sogenannten Sommergewächse, alles, was im Herbst mit
Blühen nicht enden kann und sich der Kälte noch keck
entgegenentwickelt, Astern besonders, waren in der größten
Mannigfaltigkeit gesäet und sollten nun, überallhin verpflanzt, einen
Sternhimmel über die Erde bilden.

Aus Ottiliens Tagebuche

Einen guten Gedanken, den wir gelesen, etwas Auffallendes, das wir
gehört, tragen wir wohl in unser Tagebuch. Nähmen wir uns aber zugleich
die Mühe, aus den Briefen unserer Freunde eigentümliche Bemerkungen,
originelle Ansichten, flüchtige geistreiche Worte auszuzeichnen, so
würden wir sehr reich werden. Briefe hebt man auf, um sie nie wieder zu
lesen; man zerstört sie zuletzt einmal aus Diskretion, und so
verschwindet der schönste, unmittelbarste Lebenshauch unwiederbringlich
für uns und andre. Ich nehme mir vor, dieses Versäumnis
wiedergutzumachen.

So wiederholt sich denn abermals das Jahresmärchen von vorn. Wir sind
nun wieder, Gott sei Dank! An seinem artigsten Kapitel. Veilchen und
Maiblumen sind wie Überschriften oder Vignetten dazu. Es macht uns
immer einen angenehmen Eindruck, wenn wir sie in dem Buche des Lebens
wieder aufschlagen.

Wir schelten die Armen, besonders die Unmündigen, wenn sie sich an den
Straßen herumlegen und betteln. Bemerken wir nicht, daß sie gleich
tätig sind, sobald es was zu tun gibt? Kaum entfaltet die Natur ihre
freundlichen Schätze, so sind die Kinder dahinterher, um ein Gewerbe zu
eröffnen; keines bettelt mehr, jedes reicht dir einen Strauß; es hat
ihn gepflückt, ehe du vom Schlaf erwachtest, und das Bittende sieht
dich so freundlich an wie die Gabe. Niemand sieht erbärmlich aus, der
sich einiges Recht fühlt, fordern zu dürfen.

Warum nur das Jahr manchmal so kurz, manchmal so lang ist, warum es so
kurz scheint und so lang in der Erinnerung! Mir ist es mit dem
vergangenen so, und nirgends auffallender als im Garten, wie
Vergängliches und Dauerndes ineinandergreift. Und doch ist nichts so
flüchtig, das nicht eine Spur, das nicht seinesgleichen zurücklasse.

Man läßt sich den Winter auch gefallen. Man glaubt sich freier
auszubreiten, wenn die Bäume so geisterhaft, so durchsichtig vor uns
stehen. Sie sind nichts, aber sie decken auch nichts zu. Wie aber
einmal Knospen und Blüten kommen, dann wird man ungeduldig, bis das
volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkörpert und der Baum
sich als eine Gestalt uns entgegendrängt.

Alles Vollkommene in seiner Art muß über seine Art hinausgehen, es muß
etwas anderes, Unvergleichbares werden. In manchen Tönen ist die
Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie über ihre Klasse hinüber und
scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was eigentlich singen
heiße.

Ein Leben ohne Liebe, ohne die Nähe des Geliebten ist nur eine „Comédie
à tiroir“, ein schlechtes Schubladenstück. Man schiebt eine nach der
andern heraus und wieder hinein und und eilt zur folgenden. Alles, was
auch Gutes und Bedeutendes vorkommt, hängt nur kümmerlich zusammen. Man
muß überall von vorn anfangen und möchte überall enden.



Zehntes Kapitel

Charlotte von ihrer Seite befindet sich munter und wohl. Sie freut sich
an dem tüchtigen Knaben, dessen vielversprechende Gestalt ihr Auge und
Gemüt stündlich beschäftigt. Sie erhält durch ihn einen neuen Bezug auf
die Welt und auf den Besitz. Ihre alte Tätigkeit regt sich wieder; sie
erblickt, wo sie auch hinsieht, im vergangenen Jahre vieles getan und
empfindet Freude am Getanen. Von einem eigenen Gefühl belebt, steigt
sie zur Mooshütte mit Ottilien und dem Kinde; und indem sie dieses auf
den kleinen Tisch als auf einen häuslichen Altar niederlegt und noch
zwei Plätze leer sieht, gedenkt sie der vorigen Zeiten, und eine neue
Hoffnung für sie und Ottilien dringt hervor.

Junge Frauenzimmer sehen sich bescheiden vielleicht nach diesem oder
jenem Jüngling um, mit stiller Prüfung, ob sie ihn wohl zum Gatten
wünschten; wer aber für eine Tochter oder einen weiblichen Zögling zu
sorgen hat, schaut in einem weitern Kreis umher. So ging es auch in
diesem Augenblick Charlotten, der eine Verbindung des Hauptmanns mit
Ottilien nicht unmöglich schien, wie sie doch auch schon ehemals in
dieser Hütte nebeneinander gesessen hatten. Ihr war nicht unbekannt
geblieben, daß jene Aussicht auf eine vorteilhafte Heirat wieder
verschwunden sei.

Charlotte stieg weiter, und Ottilie trug das Kind. Jene überließ sich
mancherlei Betrachtungen. Auch auf dem festen Lande gibt es wohl
Schiffbruch; sich davon auf das schnellste zu erholen und herzustellen,
ist schön und preiswürdig. Ist doch das Leben nur auf Gewinn und
Verlust berechnet! Wer macht nicht irgendeine Anlage und wird darin
gestört! Wie oft schlägt man einen Weg ein und wird davon abgeleitet!
Wie oft werden wir von einem scharf ins Auge gefaßten Ziel abgelenkt,
um ein höheres zu erreichen! Der Reisende bricht unterwegs zu seinem
höchsten Verdruß ein Rad und gelangt durch diesen unangenehmen Zufall
zu den erfreulichsten Bekanntschaften und Verbindungen, die auf sein
ganzes Leben Einfluß haben. Das Schicksal gewährt uns unsre Wünsche,
aber auf seine Weise, um uns etwas über unsere Wünsche geben zu können.

Diese und ähnliche Betrachtungen waren es, unter denen Charlotte zum
neuen Gebäude auf der Höhe gelangte, wo sie vollkommen bestätigt
wurden. Denn die Umgebung war viel schöner, als man sichs hatte denken
können. Alles störende Kleinliche war ringsumher entfernt, alles Gute
der Landschaft, was die Natur, was die Zeit daran getan hatte, trat
reinlich hervor und fiel ins Auge, und schon grünten die jungen
Pflanzungen, die bestimmt waren, einige Lücken auszufüllen und die
abgesonderten Teile angenehm zu verbinden.

Das Haus selbst war nahezu bewohnbar, die Aussicht, besonders aus den
obern Zimmern, höchst mannigfaltig. Je länger man sich umsah, desto
mehr Schönes entdeckte man. Was mußten nicht hier die verschiedenen
Tagszeiten, was Mond und Sonne für Wirkungen hervorbringen! Hier zu
verweilen war höchst wünschenswert, und wie schnell ward die Lust zu
bauen und zu schaffen in Charlotten wieder erweckt, da sie alle grobe
Arbeit getan fand! Ein Tischer, ein Tapezier, ein Maler, der mit
Patronen und leichter Vergoldung sich zu helfen wußte, nur dieser
bedurfte man, und in kurzer Zeit war das Gebäude im Stande. Keller und
Küche wurden schnell eingerichtet; denn in der Entfernung vom Schlosse
mußte man alle Bedürfnisse um sich versammeln. So wohnten die
Frauenzimmer mit dem Kinde nun oben, und von diesem Aufenthalt, als von
einem neuen Mittelpunkt, eröffneten sich ihnen unerwartete
Spaziergänge. Sie genossen vergnüglich in einer höheren Region der
freien, frischen Luft bei dem schönsten Wetter.

Ottiliens liebster Weg, teils allein, teils mit dem Kinde, ging
herunter nach den Platanen auf einem bequemen Fußsteig, der sodann zu
dem Punkte leitete, wo einer der Kähne angewunden war, mit denen man
überzufahren pflegte. Sie erfreute sich manchmal einer Wasserfahrt,
allein ohne das Kind, weil Charlotte deshalb einige Besorgnis zeigte.
Doch verfehlte sie nicht, täglich den Gärtner im Schloßgarten zu
besuchen und an seiner Sorgfalt für die vielen Pflanzenzöglinge, die
nun alle der freien Luft genossen, freundlich teilzunehmen.

In dieser schönen Zeit kam Charlotten der Besuch eines Engländers sehr
gelegen, der Eduarden auf Reisen kennengelernt, einigemal getroffen
hatte und nunmehr neugierig war, die schönen Anlagen zu sehen, von
denen er soviel Gutes erzählen hörte. Er brachte ein
Empfehlungsschreiben vom Grafen mit und stellte zugleich einen stillen,
aber sehr gefälligen Mann als seinen Begleiter vor. Indem er nun bald
mit Charlotten und Ottilien, bald mit Gärtnern und Jägern, öfters mit
seinem Begleiter und manchmal allein die Gegend durchstrich, so konnte
man seinen Bemerkungen wohl ansehen, daß er ein Liebhaber und Kenner
solcher Anlagen war, der wohl auch manche dergleichen selbst ausgeführt
hatte. Obgleich in Jahren, nahm er auf eine heitere Weise an allem
teil, was dem Leben zur Zierde gereichen und es bedeutend machen kann.

In seiner Gegenwart genossen die Frauenzimmer erst vollkommen ihrer
Umgebung. Sein geübtes Auge empfing jeden Effekt ganz frisch, und er
hatte um so mehr Freude an dem Entstandenen, als er die Gegend vorher
nicht gekannt und, was man daran getan, von dem, was die Natur
geliefert, kaum zu unterscheiden wußte.

Man kann wohl sagen, daß durch seine Bemerkungen der Park wuchs und
sich bereicherte. Schon zum voraus erkannte er, was die neuen,
heranstrebenden Pflanzungen versprachen. Keine Stelle blieb ihm
unbemerkt, wo noch irgendeine Schönheit hervorzuheben oder anzubringen
war. Hier deutete er auf eine Quelle, welche, gereinigt, die Zierde
einer ganzen Buschpartie zu werden versprach, hier auf eine Höhle, die,
ausgeräumt und erweitert, einen erwünschten Ruheplatz geben konnte,
indessen man nur wenige Bäume zu fällen brauchte, um von ihr aus
herrliche Felsenmassen aufgetürmt zu erblicken. Er wünschte den
Bewohnern Glück, daß ihnen so manches nachzuarbeiten übrigblieb, und
ersuchte sie, damit nicht zu eilen, sondern für folgende Jahre sich das
Vergnügen des Schaffens und Einrichtens vorzubehalten.

Übrigens war er außer den geselligen Stunden keineswegs lästig; denn er
beschäftigte sich die größte Zeit des Tags, die malerischen Aussichten
des Parks in einer tragbaren dunklen Kammer aufzufangen und zu
zeichnen, um dadurch sich und andern von seinen Reisen eine schöne
Frucht zu gewinnen. Er hatte dieses schon seit mehreren Jahren in allen
bedeutenden Gegenden getan und sich dadurch die angenehmste und
interessanteste Sammlung verschafft. Ein großes Portefeuille, das er
mit sich führte, zeigte er den Damen vor und unterhielt sie teils durch
das Bild, teils durch die Auslegung. Sie freuten sich, hier in ihrer
Einsamkeit die Welt so bequem zu durchreisen, Ufer und Häfen, Berge,
Seen und Flüsse, Städte, Kastelle und manches andre Lokal, das in der
Geschichte einen Namen hat, vor sich vorbeiziehen zu sehen.

Jede von beiden Frauen hatte ein besonderes Interesse, Charlotte das
allgemeinere, gerade an dem, wo sich etwas historisch Merkwürdiges
fand, während Ottilie sich vorzüglich bei den Gegenden aufhielt, wovon
Eduard viel zu erzählen pflegte, wo er gern verweilt, wohin er öfters
zurückgekehrt; denn jeder Mensch hat in der Nähe und in der Ferne
gewisse örtliche Einzelheiten, die ihn anziehen, die ihm seinem
Charakter nach, um des ersten Eindrucks, gewisser Umstände, der
Gewohnheit willen besonders lieb und aufregend sind.

Sie fragte daher den Lord, wo es ihm denn am besten gefalle und wo er
nun seine Wohnung aufschlagen würde, wenn er zu wählen hätte. Da wußte
er denn mehr als eine schöne Gegend vorzuzeigen und, was ihm dort
widerfahren, um sie ihm lieb und wert zu machen, in seinem eigens
akzentuierten Französisch gar behaglich mitzuteilen.

Auf die Frage hingegen, wo er sich denn jetzt gewöhnlich aufhalte,
wohin er am liebsten zurückkehre, ließ er sich ganz unbewunden, doch
den Frauen unerwartet, also vernehmen:

„ich habe mir nun angewöhnt, überall zu Hause zu sein, und finde
zuletzt nichts bequemer, als daß andre für mich bauen, pflanzen und
sich häuslich bemühen. Nach meinen eigenen Besitzungen sehne ich mich
nicht zurück, teils aus politischen Ursachen, vorzüglich aber, weil
mein Sohn, für den ich alles eigentlich getan und eingerichtet, dem ich
es zu übergeben, mit dem ich es noch zu genießen hoffte, an allem
keinen Teil nimmt, sondern nach Indien gegangen ist, um sein Leben
dort, wie mancher andere, höher zu nutzen oder gar zu vergeuden.

Gewiß, wir machen viel zu viel vorarbeitenden Aufwand aufs Leben.
Anstatt daß wir gleich anfingen, uns in einem mäßigen Zustand behaglich
zu finden, so gehen wir immer mehr ins Breite, um es uns immer
unbequemer zu machen. Wer genießt jetzt meine Gebäude, meinen Park,
meine Gärten? Nicht ich, nicht einmal die Meinigen: fremde Gäste,
Neugierige, unruhige Reisende.

Selbst bei vielen Mitteln sind wir immer nur halb und halb zu Hause,
besonders auf dem Lande, wo uns manches Gewohnte der Stadt fehlt. Das
Buch, das wir am eifrigsten wünschten, ist nicht zur Hand, und gerade,
was wir am meisten bedürften, ist vergessen. Wir richten uns immer
häuslich ein, um wieder auszuziehen, und wenn wir es nicht mit Willen
und Willkür tun, so wirken Verhältnisse, Leidenschaften, Zufälle,
Notwendigkeit und was nicht alles“.

Der Lord ahnete nicht, wie tief durch seine Betrachtungen die
Freundinnen getroffen wurden. Und wie oft kommt nicht jeder in diese
Gefahr, der eine allgemeine Betrachtung selbst in einer Gesellschaft,
deren Verhältnisse ihm sonst bekannt sind, ausspricht! Charlotten war
eine solche zufällige Verletzung auch durch Wohlwollende und
Gutmeinende nichts Neues; und die Welt lag ohnehin so deutlich vor
ihren Augen, daß sie keinen besondern Schmerz empfand, wenngleich
jemand sie unbedachtsam und ungvorsichtig nötigte, ihren Blick da- oder
dorthin auf eine unerfreuliche Stelle zu richten. Ottilie hingegen, die
in halbbewußter Jugend mehr ahnete als sah und ihren Blick wegwenden
durfte, ja mußte von dem, was sie nicht sehen mochte und sollte,
Ottilie ward durch diese traulichen Reden in den schrecklichsten
Zustand versetzt; denn es zerriß mit Gewalt vor ihr der anmutige
Schleier, und es schien ihr, als wenn alles, was bisher für Haus und
Hof, für Garten, Park und die ganze Umgebung geschehen war, ganz
eigentlich umsonst sei, weil der, dem es alles gehörte, es nicht
genösse, weil auch der, wie der gegenwärtige Gast, zum Herumschweifen
in der Welt, und zwar zu dem gefährlichsten, durch die Liebsten und
Nächsten gedrängt worden. Sie hatte sich an Hören und Schweigen gewöhnt
aber sie saß diesmal in der peinlichsten Lage, die durch des Fremden
weiteres Gespräch eher vermehrt als vermindert wurde, das er mit
heiterer Eigenheit und Bedächtlichkeit fortsetzte.

„Nun glaub ich“, sagte er, „auf dem rechten Wege zu sein, da ich mich
immerfort als einen Reisenden betrachte, der vielem entsagt, um vieles
zu genießen. Ich bin an den Wechsel gewöhnt, ja er wird mir Bedürfnis,
wie man in der Oper immer wieder auf eine neue Dekoration wartet,
gerade weil schon so viele dagewesen. Was ich mir von dem besten und
dem schlechtesten Wirtshause versprechen darf, ist mir bekannt; es mag
so gut oder so schlimm sein, als es will, nirgends find ich das
Gewohnte, und am Ende läuft es auf eins hinaus, ganz von einer
notwendigen Gewohnheit oder ganz von der willkürlichsten Zufälligkeit
abzuhangen. Wenigstens habe ich jetzt nicht den Verdruß, daß etwas
verlegt oder verloren ist, daß mir ein tägliches Wohnzimmer unbrauchbar
wird, weil ich es muß reparieren lassen, daß man mir eine liebe Tasse
zerbricht und es mir eine ganze Zeit aus keiner andern schmecken will.
Alles dessen bin ich überhoben, und wenn mir das Haus über dem Kopf zu
brennen anfängt, so packen meine Leute gelassen ein und auf, und wir
fahren zu Hofraum und Stadt hinaus. Und bei allen diesen Vorteilen,
wenn ich es genau berechne, habe ich am Ende des Jahres nicht mehr
ausgegeben, als es mich zu Hause gekostet hätte“.

Bei dieser Schilderung sah Ottilie nur Eduarden vor sich, wie er nun
auch mit Entbehren und Beschwerde auf ungebahnten Straßen hinziehe, mit
Gefahr und Not zu Felde liege und bei soviel Unbestand und Wagnis sich
gewöhne, heimatlos und freundlos zu sein, alles wegzuwerfen, nur um
nicht verlieren zu können. Glücklicherweise trennte sich die
Gesellschaft für einige Zeit. Ottilie fand Raum, sich in der Einsamkeit
auszuweinen. Gewaltsamer hatte sie kein dumpfer Schmerz ergriffen als
diese Klarheit, die sie sich noch klarer zu machen strebte, wie man es
zu tun pflegt, daß man sich selbst peinigt, wenn man einmal auf dem
Wege ist, gepeinigt zu werden.

Der Zustand Eduards kam ihr so kümmerlich, so jämmerlich vor, daß sie
sich entschloß, es koste, was es wolle, zu seiner Wiedervereinigung mit
Charlotten alles beizutragen, ihren Schmerz und ihre Liebe an
irgendeinem stillen Orte zu verbergen und durch irgendeine Art von
Tätigkeit zu betriegen.

Indessen hatte der Begleiter des Lords, ein verständiger, ruhiger Mann
und guter Beobachter, den Mißgriff in der Unterhaltung bemerkt und die
Ähnlichkeit der Zustände seinem Freunde offenbart. Dieser wußte nichts
von den Verhältnissen der Familie; allein jener, den eigentlich auf der
Reise nichts mehr interessierte als die sonderbaren Ereignisse, welche
durch natürliche und künstliche Verhältnisse, durch den Konflikt des
Gesetzlichen und des Ungebändigten, des Verstandes und der Vernunft,
der Leidenschaft und des Vorurteils hervorgebracht werden, jener hatte
sich schon früher und mehr noch im Hause selbst mit allem bekannt
gemacht, was vorgegangen war und noch vorging.

Dem Lord tat es leid, ohne daß er darüber verlegen gewesen wäre. Man
müßte ganz in Gesellschaft schweigen, wenn man nicht manchmal in den
Fall kommen sollte; denn nicht allein bedeutende Bemerkungen, sondern
die trivialsten Äußerungen können auf eine so mißklingende Weise mit
dem Interesse der Gegenwärtigen zusammentreffen. „Wir wollen es heute
abend wiedergutmachen“, sagte der Lord, „und uns aller allgemeinen
Gespräche enthalten. Geben Sie der Gesellschaft etwas von den vielen
angenehmen und bedeutenden Anekdoten und Geschichten zu hören, womit
Sie Ihr Portefeuille und Ihr Gedächtnis auf unserer Reise bereichert
haben!“

Allein auch mit dem besten Vorsatze gelang es den Fremden nicht, die
Freunde diesmal mit einer unverfänglichen Unterhaltung zu erfreuen.
Denn nachdem der Begleiter durch manche sonderbare, bedeutende,
heitere, rührende, furchtbare Geschichten die Aufmerksamkeit erregt und
die Teilnahme aufs höchste gespannt hatte, so dachte er mit einer zwar
sonderbaren, aber sanfteren Begebenheit zu schließen und ahnete nicht,
wie nahe diese seinen Zuhörern verwandt war.

Die wunderlichen Nachbarskinder
Novelle

Zwei Nachbarskinder von bedeutenden Häusern, Knabe und Mädchen, in
verhältnismäßigem Alter, um dereinst Gatten zu werden, ließ man in
dieser angenehmen Aussicht miteinander aufwachsen, und die
beiderseitigen Eltern freuten sich einer künftigen Verbindung. Doch man
bemerkte gar bald, daß die Absicht zu mißlingen schien, indem sich
zwischen den beiden trefflichen Naturen ein sonderbarer Widerwille
hervortrat. Vielleicht waren sie einander zu ähnlich. Beide in sich
selbst gewendet, deutlich in ihrem Wollen, fest in ihren Vorsätzen;
jedes einzeln geliebt und geehrt von seinen Gespielen; immer
Widersacher, wenn sie zusammen waren, immer aufbauend für sich allein,
immer wechselsweise zerstörend, wo sie sich begegneten, nicht
wetteifernd nach einem Ziel, aber immer kämpfend um einen Zweck;
gutartig durchaus und liebenswürdig und nur hassend, ja bösartig, indem
sie sich aufeinander bezogen.

Dieses wunderliche Verhältnis zeigte sich schon bei kindischen Spielen,
es zeigte sich bei zunehmenden Jahren. Und wie die Knaben Krieg zu
spielen, sich in Parteien zu sondern, einander Schlachten zu liefern
pflegen, so stellte sich das trozig mutige Mädchen einst an die Spitze
des einen Heers und focht gegen das andre mit solcher Gewalt und
Erbitterung, daß dieses schimpflich wäre in die Flucht geschlagen
worden, wenn ihr einzelner Widersacher sich nicht sehr brav gehalten
und seine Gegnerin doch noch zuletzt entwaffnet und gefangengenommen
hätte. Aber auch da noch wehrte sie sich so gewaltsam, daß er, um seine
Augen zu erhalten und die Feindin doch nicht zu beschäftigen, sein
seidenes Halstuch abreißen und ihr die Hände damit auf den Rücken
binden mußte.

Dies verzieh sie ihm nie, ja sie machte so heimliche Anstalten und
Versuche, ihn zu beschädigen, daß die Eltern, die auf diese seltsamen
Leidenschaften schon längst achtgehabt, sich miteinander verständigen
und beschlossen, die beiden feindlichen Wesen zu trennen und jene
lieblichen Hoffnungen aufzugeben.

Der Knabe tat sich in seinen neuen Verhältnissen bald hervor. Jede Art
von Unterricht schlug bei ihm an. Gönner und eigene Neigung bestimmten
ihn zum Soldatenstande. Überall, wo er sich fand, war er geliebt und
geehrt. Seine tüchtige Natur schien nur zum Wohlsein, zum Behagen
anderer zu wirken, und er war in sich, ohne deutliches Bewußtsein,
recht glücklich, den einzigen Widersacher verloren zu haben, den die
Natur ihm zugedacht hatte.

Das Mädchen dagegen trat auf einmal in einen veränderten Zustand. Ihre
Jahre, eine zunehmende Bildung und mehr noch ein gewisses inneres
Gefühl zogen sie von den heftigen Spielen hinweg, die sie bisher in
Gesellschaft der Knaben auszuüben pflegte. Im ganzen schien ihr etwas
zu fehlen, nichts war um sie herum, das wert gewesen wäre, ihren Haß zu
erregen. Liebenswürdig hatte sie noch niemanden gefunden.

Ein junger Mann, älter als ihr ehemaliger nachbarlicher Widersacher,
von Stand, Vermögen und Bedeutung, beliebt in der Gesellschaft, gesucht
von Frauen, wendete ihr seine ganze Neigung zu. Es war das erstemal,
daß sich ein Freund, ein Liebhaber, ein Diener um sie bemühte. Der
Vorzug, den er ihr vor vielen gab, die älter, gebildeter, glänzender
und anspruchsreicher waren als sie, tat ihr gar zu wohl. Seine
fortgesetzte Aufmerksamkeit, ohne daß er zudringlich gewesen wäre, sein
treuer Beistand bei verschiedenen unangenehmen Zufällen, sein gegen
ihre Eltern zwar ausgesprochnes, doch ruhiges und nur hoffnungsvolles
Werben, da sie freilich noch sehr jung war: das alles nahm sie für ihn
ein, wozu die Gewohnheit, die äußern, nun von der Welt als bekannt
angenommenen Verhältnisse das Ihrige beitrugen. Sie war so oft Braut
genannt worden, daß sie sich endlich selbst dafür hielt, und weder sie
noch irgend jemand dachte daran, daß noch eine Prüfung nötig sei, als
sie den Ring mit demjenigen wechselte, der so lange Zeit für ihren
Bräutigam galt.

Der ruhige Gang, den die ganze Sache genommen hatte, war auch durch das
Verlöbnis nicht beschleunigt worden. Man ließ eben von beiden Seiten
alles so fortgewähren, man freute sich des Zusammenlebens und wollte
die gute Jahreszeit durchaus noch als einen Frühling des künftigen
ernsteren Lebens genießen.

Indessen hatte der Entfernte sich zum schönsten ausgebildet, eine
verdiente Stufe seiner Lebensbestimmung erstiegen und kam mit Urlaub,
die Seinigen zu besuchen. Auf eine ganz natürliche, aber doch
sonderbare Weise stand er seiner schönen Nachbarin abermals entgegen.
Sie hatte in der letzten Zeit nur freundliche, bräutliche
Familienempfindungen bei sich genährt, sie war mit allem, was sie
umgab, in Übereinstimmung; sie glaubte glücklich zu sein und war es
auch auf gewisse Weise. Aber nun stand ihr zum erstenmal seit langer
Zeit wieder etwas entgegen: es war nicht hassenswert; sie war des
Hasses unfähig geworden, ja der kindische Haß, der eigentlich nur ein
dunkles Anerkennen des inneren Wertes gewesen, äußerte sich nun in
frohem Erstaunen, erfreulichem Betrachten, gefälligem Eingestehen, halb
willigem halb unwilligem und doch notwendigem Annahen, und das alles
war wechselseitig. Eine lange Entfernung gab zu längeren Unterhaltungen
Anlaß. Selbst jene kindische Unvernunft diente den Aufgeklärteren zu
scherzhafter Erinnerung, und es war, als wenn man sich jenen neckischen
Haß wenigstens durch eine freundschaftliche, aufmerksame Behandlung
vergüten müsse, als wenn jenes gewaltsame Verkennen nunmehr nicht ohne
ein ausgesprochenes Anerkennen bleiben dürfe.

Von seiner Seite blieb alles in einem verständigen, wünschenswerten
Maß. Sein Stand, seine Verhältnisse, sein Streben, sein Ehrgeiz
beschäftigten ihn so reichlich, daß er die Freundlichkeit der schönen
Braut als eine dankenswerte Zugabe mit Behaglichkeit aufnahm, ohne sie
deshalb in irgendeinem Bezug auf sich zu betrachten oder sie ihrem
Bräutigam zu mißgönnen, mit dem er übrigens in den besten Verhältnissen
stand.

Bei ihr hingegen sah es ganz anders aus. Sie schien sich wie aus einem
Traum erwacht. Der Kampf gegen ihren jungen Nachbar war die erste
Leidenschaft gewesen, und dieser heftige Kampf war doch nur, unter der
Form des Widerstrebens, eine heftige, gleichsam angeborne Neigung. Auch
kam es ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als daß sie ihn immer
geliebt habe. Sie lächelte über jenes feindliche Suchen mit den Waffen
in der Hand; sie wollte sich des angenehmsten Gefühls erinnern, als er
sie entwaffnete; sie bildete sich ein, die größte Seligkeit empfunden
zu haben, da er sie band, und alles, was sie zu seinem Schaden und
Verdruß unternommen hatte, kam ihr nur als unschuldiges Mittel vor,
seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie verwünschte jene Trennung,
sie bejammerte den Schlaf, in den sie verfallen, sie verfluchte die
schleppende, träumerische Gewohnheit, durch die ihr ein so
unbedeutender Bräutigam hatte werden können; sie war verwandelt,
doppelt verwandelt, vorwärts und rückwärts, wie man es nehmen will.

Hätte jemand ihre Empfindungen, die sie ganz geheimhielt, entwickeln
und mit ihr teilen können, so würde er sie nicht gescholten haben; denn
freilich konnte der Bräutigam die Vergleichung mit dem Nachbar nicht
aushalten, sobald man sie nebeneinander sah. Wenn man dem einen ein
gewisses Zutrauen nicht versagen konnte, so erregte der andere das
vollste Vertrauen; wenn man den einen gern zur Gesellschaft mochte, so
wünschte man sich den andern zum Gefährten; und dachte man gar an
höhere Teilnahme, an außerordentliche Fälle, so hätte man wohl an dem
einen gezweifelt, wenn einem der andere vollkommene Gewißheit gab. Für
solche Verhältnisse ist den Weibern ein besonderer Takt angeboren, und
sie haben Ursache sowie Gelegenheit, ihn auszubilden.

Je mehr die schöne Braut solche Gesinnungen bei sich ganz heimlich
nährte, je weniger nur irgend jemand dasjenige auszusprechen im Fall
war, was zugunsten des Bräutigams gelten konnte, was Verhältnisse, was
Pflicht anzuraten und zu gebieten, ja was eine unabänderliche
Notwendigkeit unwiderruflich zu fordern schien, desto mehr begünstigte
das schöne Herz seine Einseitigkeit; und indem sie von der einen Seite
durch Welt und Familie, Bräutigam und eigne Zusage unauflöslich
gebunden war, von der andern der emporstrebende Jüngling gar kein
Geheimnis von seinen Gesinnungen, Planen und Aussichten machte, sich
nur als ein treuer und nicht einmal zärtlicher Bruder gegen sie bewies
und nun gar von seiner unmittelbaren Abreise die Rede war, so schien
es, als ob ihr früher kindischer Geist mit allen seinen Tücken und
Gewaltsamkeiten wiedererwachte und sich nun auf einer höheren
Lebensstufe mit Unwillen rüstete, bedeutender und verderblicher zu
wirken. Sie beschloß zu sterben, um den ehemals Gehaßten und nun so
heftig Geliebten für seine Unteilnahme zu strafen und sich, indem sie
ihn nicht besitzen sollte, wenigstens mit seiner Einbildungskraft,
seiner Reue auf ewig zu vermählen. Er sollte ihr totes Bild nicht
loswerden, er sollte nicht aufhören, sich Vorwürfe zu machen, daß er
ihre Gesinnungen nicht erkannt, nicht erforscht, nicht geschätzt habe.

Dieser seltsame Wahnsinn begleitete sie überallhin. Sie verbarg ihn
unter allerlei Formen; und ob sie den Menschen gleich wunderlich
vorkam, so war niemand aufmerksam oder klug genug, die innere, wahre
Ursache zu entdecken.

Indessen hatten sich Freunde, Verwandte, Bekannte in Anordnungen von
Mancherlei Festen erschöpft. Kaum verging ein Tag, daß nicht irgend
etwas Neues und Unerwartetes angestellt worden wäre. Kaum war ein
schöner Platz der Landschaft, den man nicht ausgeschmückt und zum
Empfang vieler froher Gäste bereitet hätte. Auch wollte unser junger
Ankömmling noch vor seiner Abreise das Seinige tun und lud das junge
Paar mit einem engeren Familienkreise zu einer Wasserlustfahrt. Man
bestieg ein großes, schönes, wohlausgeschmücktes Schiff, eine der
Jachten, die einen kleinen Saal und einige Zimmer anbieten und auf das
Wasser die Bequemlichkeit des Landes überzutragen suchen.

Man fuhr auf dem großen Strome mit Musik dahin; die Gesellschaft hatte
sich bei heißer Tageszeit in den untern Räumen versammelt, um sich an
Geistes- und Glücksspielen zu ergötzen. Der junge Wirt, der niemals
untätig bleiben konnte, hatte sich ans Steuer gesetzt, den alten
Schiffsmeister abzulösen, der an seiner Seite eingeschlafen war; und
eben brauchte der Wachende alle seine Vorsicht, da er sich einer Stelle
nahte, wo zwei Inseln das Flußbette verengten und, indem sie ihre
flachen Kiesufer bald an der einen, bald an der andern Seite
hereinstreckten, ein gefährliches Fahrwasser zubereiteten. Fast war der
sorgsame und scharfblickende Steurer in Versuchung, den Meister zu
wecken, aber er getraute sichs zu und fuhr gegen die Enge. In dem
Augenblick erschien auf dem Verdeck seine schöne Feindin mit einem
Blumenkranz in den Haaren. Sie nahm ihn ab und warf ihn auf den
Steuernden. „Nimm dies zum Andenken!“ rief sie aus. „Störe mich nicht!“
rief er ihr entgegen, indem er den Kranz auffing; „ich bedarf aller
meiner Kräfte und meiner Aufmerksamkeit“. „Ich störe dich nicht
weiter“, rief sie; „du siehst mich nicht wieder!“ Sie sprachs und eilte
nach dem Vorderteil des Schiffs, von da sie ins Wasser sprang. Einige
Stimmen riefen: „rettet! Rettet! Sie ertrinkt“. Er war in der
entsetzlichsten Verlegenheit. Über dem Lärm erwacht der alte
Schiffsmeister, will das Ruder ergreifen, der jüngere es ihm übergeben,
aber es ist keine Zeit, die Herrschaft zu wechseln: das Schiff
strandet, und in eben dem Augenblick, die lästigsten Kleidungsstücke
wegwerfend, stürzte er sich ins Wasser und schwamm der schönen Feindin
nach.

Das Wasser ist ein freundliches Element für den, der damit bekannt ist
und es zu behandeln weiß. Es trug ihn, und der geschickte Schwimmer
beherrschte es. Bald hatte er die vor ihm fortgerissene Schöne
erreicht; er faßte sie, wußte sie zu heben und zu tragen; beide wurden
vom Strom gewaltsam fortgerissen, bis sie die Inseln, die Werder weit
hinter sich hatten und der Fluß wieder breit und gemächlich zu fließen
anfing. Nun erst ermannte, nun erholte er sich aus der ersten
zudringenden Not, in der er ohne Besinnung nur mechanisch gehandelt; er
blickte mit emporstrebendem Haupt umher und ruderte nach Vermögen einer
flachen, buschichten Stelle zu, die sich angenehm und gelegen in den
Fluß verlief. Dort brachte er seine schöne Beute aufs Trockne; aber
kein Lebenshauch war in ihr zu spüren. Er war in Verzweiflung, als ihm
ein betretener Pfad, der durchs Gebüsch lief, in die Augen leuchtete.
Er belud sich aufs neue mit der teuren Last, er erblickte bald eine
einsame Wohnung und erreichte sie. Dort fand er gute Leute, ein junges
Ehepaar. Das Unglück, die Not sprach sich geschwind aus. Was er nach
einiger Besinnung forderte, ward geleistet. Ein lichtes Feuer brannte,
wollne Decken wurden über ein Lager gebreitet, Pelze, Felle und was
Erwärmendes vorrätig war, schnell herbeigetragen. Hier überwand die
Begierde zu retten jede andre Betrachtung. Nichts ward versäumt, den
schönen, halbstarren, nackten Körper wieder ins Leben zu rufen. Es
gelang. Sie schlug die Augen auf, sie erblickte den Freund, umschlang
seinen Hals mit ihren himmlischen Armen. So blieb sie lange; ein
Tränenstrom stürzte aus ihren Augen und vollendete ihre Genesung.
„Willst du mich verlassen“, rief sie aus, „da ich dich so
wiederfinde?“—„Niemals“, rief er, „niemals!“ und wußte nicht, was er
sagte noch was er tat. „Nur schone dich“, rief er hinzu, „schone dich!
Denke an dich um deinet- und meinetwillen“.

Sie dachte nun an sich und bemerkte jetzt erst den Zustand, in dem sie
war. Sie konnte sich vor ihrem Liebling, ihrem Retter nicht schämen;
aber sie entließ ihn gern, damit er für sich sorgen möge; denn noch
war, was ihn umgab, naß und triefend.

Die jungen Eheleute beredeten sich; er bot dem Jüngling und sie der
Schönen das Hochzeitskleid an, das noch vollständig dahing, um ein Paar
von Kopf zu Fuß und von innen heraus zu bekleiden. In kurzer Zeit waren
die beiden Abenteurer nicht nur angezogen, sondern geputzt. Sie sahen
allerliebst aus, staunten einander an, als sie zusammentraten, und
fielen sich mit unmäßiger Leidenschaft, und doch halb lächelnd über die
Vermummung, gewaltsam in die Arme. Die Kraft der Jugend und die
Regsamkeit der Liebe stellten sie in wenigen Augenblicken völlig wieder
her, und es fehlte nur die Musik, um sie zum Tanz aufzufordern.

Sich vom Wasser zur Erde, vom Tode zum Leben, aus dem Familienkreise in
eine Wildnis, aus der Verzweiflung zum Entzücken, aus der
Gleichgültigkeit zur Neigung, zur Leidenschaft gefunden zu haben, alles
in einem Augenblick—der Kopf wäre nicht hinreichend, das zu fassen; er
würde zerspringen oder sich verwirren. Hiebei muß das Herz das Beste
tun, wenn eine solche Überraschung ertragen werden soll.

Ganz verloren eins ins andere, konnten sie erst nach einiger Zeit an
die Angst, an die Sorgen der Zurückgelassenen denken, und fast konnten
sie selbst nicht ohne Angst, ohne Sorge daran denken, wie sie jenen
wiederbegegnen wollten. „Sollen wir fliehen? Sollen wir uns verbergen?“
sagte der Jüngling. „Wir wollen zusammenbleiben“, sagte sie, indem sie
an seinem Hals hing.

Der Landmann, der von ihnen die Geschichte des gestrandeten Schiffs
vernommen hatte, eilte, ohne weiter zu fragen, nach dem Ufer. Das
Fahrzeug kam glücklich einhergeschwommen; es war mit vieler Mühe
losgebracht worden. Man fuhr aufs ungewisse fort, in Hoffnung, die
Verlornen wiederzufinden. Als daher der Landmann mit Rufen und Winken
die Schiffenden aufmerksam machte, an eine Stelle lief, wo ein
vorteilhafter Landungsplatz sich zeigte, und mit Winken und Rufen nicht
aufhörte, wandte sich das Schiff nach dem Ufer, und welch ein
Schauspiel ward es, da sie landeten! Die Eltern der beiden Verlobten
drängten sich zuerst ans Ufer; den liebenden Bräutigam hatte fast die
Besinnung verlassen. Kaum hatten sie vernommen, daß die lieben Kinder
gerettet seien, so traten diese in ihrer sonderbaren Verkleidung aus
dem Busch hervor. Man erkannte sie nicht eher, als bis sie ganz
herangetreten waren. „Wen seh ich?“ riefen die Mütter. „Was seh ich?“
riefen die Väter. Die Geretteten warfen sich vor ihnen nieder. „Eure
Kinder!“ riefen sie aus, „ein Paar“. „Verzeiht!“ rief das Mädchen.
„Gebt uns Euren Segen!“ rief der Jüngling. „Gebt uns Euren Segen!“
riefen beide, da alle Welt staunend verstummte. „Euren Segen!“ ertönte
es zum drittenmal, und wer hätte den versagen können!



Elftes Kapitel

Der Erzählende machte eine Pause oder hatte vielmehr schon geendigt,
als er bemerken mußte, daß Charlotte höchst bewegt sei; ja sie stand
auf und verließ mit einer stummen Entschuldigung das Zimmer; denn die
Geschichte war ihr bekannt. Diese Begebenheit hatte sich mit dem
Hauptmann und einer Nachbarin wirklich zugetragen, zwar nicht ganz wie
sie der Engländer erzählte, doch war sie in den Hauptzügen nicht
entstellt, nur im einzelnen mehr ausgebildet und ausgeschmückt, wie es
dergleichen Geschichten zu gehen pflegt, wenn sie erst durch den Mund
der Menge und sodann durch die Phantasie eines geist- und
geschmackreichen Erzählers durchgehen. Es bleibt zuletzt meist alles
und nichts, wie es war.

Ottilie folgte Charlotten, wie es die beiden Fremden selbst verlangten,
und nun kam der Lord an die Reihe zu bemerken, daß vielleicht abermals
ein Fehler begangen, etwas dem Hause Bekanntes oder gar Verwandtes
erzählt worden. „Wir müssen uns hüten“, fuhr er fort, „daß wir nicht
noch mehr Übles stiften. Für das viele Gute und Angenehme, das wir hier
genossen, scheinen wir den Bewohnerinnen wenig Glück zu bringen; wir
wollen uns auf eine schickliche Weise zu empfehlen suchen“.

„Ich muß gestehen“, versetzte der Begleiter, „daß mich hier noch etwas
anderes festhält, ohne dessen Aufklärung und nähere Kenntnis ich dieses
Haus nicht gern verlassen möchte. Sie waren gestern, Mylord, als wir
mit der tragbaren dunklen Kammer durch den Park zogen, viel zu
beschäftigt, sich einen wahrhaft malerischen Standpunkt auszuwählen,
als daß Sie hätten bemerken sollen, was nebenher vorging. Sie lenkten
vom Hauptwege ab, um zu einem wenig besuchten Platze am See zu
gelangen, der Ihnen ein reizendes Gegenüber anbot. Ottilie, die uns
begleitete, stand an zu folgen und bat, sich auf dem Kahne dorthin
begeben zu dürfen. Ich setzte mich mit ihr ein und hatte meine Freude
an der Gewandtheit der schönen Schifferin. Ich versicherte ihr, daß ich
seit der Schweiz, wo auch die reizendsten Mädchen die Stelle des
Fährmanns vertreten, nicht so angenehm sei über die Wellen geschaukelt
worden, konnte mich aber nicht enthalten, sie zu fragen, warum sie
eigentlich abgelehnt, jenen Seitenweg zu machen; denn wirklich war in
ihrem Ausweichen eine Art von ängstlicher Verlegenheit. ‘Wenn Sie mich
nicht auslachen wollen’, versetzte sie freundlich, ‘so kann ich Ihnen
darüber wohl einige Auskunft geben, obgleich selbst für mich dabei ein
Geheimnis obwaltet. Ich habe jenen Nebenweg niemals betreten, ohne daß
mich ein ganz eigener Schauer überfallen hätte, den ich sonst nirgends
empfinde und den ich mir nicht zu erklären weiß. Ich vermeide daher
lieber, mich einer solchen Empfindung auszusetzen, um so mehr, als sich
gleich darauf ein Kopfweh an der linken Seite einstellt, woran ich
sonst auch manchmal leide’. Wir landeten, Ottilie unterhielt sich mit
Ihnen, und ich untersuchte indes die Stelle, die sie mir aus der Ferne
deutlich angegeben hatte. Aber wie groß war meine Verwunderung, als ich
eine sehr deutliche Spur von Steinkohlen entdeckte, die mich überzeugt,
man würde bei einigem Nachgraben vielleicht ein ergiebiges Lager in der
Tiefe finden.

Verzeihen Sie, Mylord, ich sehe Sie lächeln und weiß recht gut, daß Sie
mir eine leidenschaftliche Aufmerksamkeit auf diese Dinge, an die Sie
keinen Glauben haben, nur als weiser Mann und als Freund nachsehen;
aber es ist mir unmöglich, von hier zu scheiden, ohne das schöne Kind
auch die Pendelschwingungen versuchen zu lassen“.

Es konnte niemals fehlen, wenn die Sache zur Sprache kam, daß der Lord
nicht seine Gründe dagegen abermals wiederholte, welche der Begleiter
bescheiden und geduldig aufnahm, aber doch zuletzt bei seiner Meinung,
bei seinen Wünschen verharrte. Auch er gab wiederholt zu erkennen, daß
man deswegen, weil solche Versuche nicht jedermann gelängen, die Sache
nicht aufgeben, ja vielmehr nur desto ernsthafter und gründlicher
untersuchen müßte, da sich gewiß noch manche Bezüge und
Verwandtschaften unorganischer Wesen untereinander, organischer gegen
sie und abermals untereinander offenbaren würden, die uns gegenwärtig
verborgen seien.

Er hatte seinen Apparat von goldnen Ringen, Markasiten und andern
metallischen Substanzen, den er in einem schönen Kästchen immer bei
sich führte, schon ausgebreitet und ließ nun Metalle, an Fäden
schwebend, über liegende Metalle zum Versuche nieder. „Ich gönne Ihnen
die Schadenfreude, Mylord“, sagte er dabei, „die ich auf Ihrem Gesichte
lese, daß sich bei mir und für mich nichts bewegen will. Meine
Operation ist aber auch nur ein Vorwand. Wenn die Damen zurückkehren,
sollen sie neugierig werden, was wir Wunderliches hier beginnen“.

Die Frauenzimmer kamen zurück. Charlotte verstand sogleich, was
vorging. „Ich habe manches von diesen Dingen gehört“, sagte sie, „aber
niemals eine Wirkung gesehen. Da Sie alles so hübsch bereit haben,
lassen Sie mich versuchen, ob es mir nicht auch anschlägt“.

Sie nahm den Faden in die Hand, und da es ihr Ernst war, hielt sie ihn
stet und ohne Gemütsbewegung; allein auch nicht das mindeste Schwanken
war zu bemerken. Darauf ward Ottilie veranlaßt. Sie hielt den Pendel
noch ruhiger, unbefangener, unbewußter über die unterliegenden Metalle.
Aber in dem Augenblicke ward das Schwebende wie in einem entschiedenen
Wirbel fortgerissen und drehte sich, je nachdem man die Unterlage
wechselte, bald nach der einen, bald nach der andern Seite, jetzt in
Kreisen, jetzt in Ellipsen, oder nahm seinen Schwung in graden Linien,
wie es der Begleiter nur erwarten konnte, ja über alle seine Erwartung.

Der Lord selbst stutzte einigermaßen, aber der andere konnte vor Lust
und Begierde gar nicht enden und bat immer um Wiederholung und
Vermannigfaltigung der Versuche. Ottilie war gefällig genug, sich in
sein Verlangen zu finden, bis sie ihn zuletzt freundlich ersuchte, er
möge sie entlassen, weil ihr Kopfweh sich wieder einstelle. Er, daüber
verwundert, ja entzückt, versicherte ihr mit Enthusiasmus, daß er sie
von diesem Übel völlig heilen wolle, wenn sie sich seiner Kurart
anvertraue. Man war einen Augenblick ungewiß; Charlotte aber, die
geschwind begriff, wovon die Rede sei, lehnte den wohlgesinnten Antrag
ab, weil sie nicht gemeint war, in ihrer Umgebung etwas zuzulassen,
wovor sie immerfort eine starke Apprehension gefühlt hatte.

Die Fremden hatten sich entfernt und, ungeachtet man von ihnen auf eine
sonderbare Weise berührt worden war, doch den Wunsch zurückgelassen,
daß man sie irgendwo wieder antreffen möchte. Charlotte benutzte
nunmehr die schönen Tage, um in der Nachbarschaft ihre Gegenbesuche zu
enden, womit sie kaum fertig werden konnte, indem sich die ganze
Landschaft umher, einige wahrhaft teilnehmend, andre bloß der
Gewohnheit wegen, bisher fleißig um sie bekümmert hatten. Zu Hause
belebte sie der Anblick des Kindes; es war gewiß jeder Liebe, jeder
Sorgfalt wert. Man sah in ihm ein wunderbares, ja ein Wunderkind,
höchst erfreulich dem Anblick, an Größe, Ebenmaß, Stärke und
Gesundheit; und was noch mehr in Verwunderung setzte, war jene doppelte
Ähnlichkeit, die sich immer mehr entwickelte. Den Gesichtszügen und der
ganzen Form nach glich das Kind immer mehr dem Hauptmann, die Augen
ließen sich immer weniger von Ottiliens Augen unterscheiden.

Durch diese sonderbare Verwandtschaft und vielleicht noch mehr durch
das schöne Gefühl der Frauen geleitet, welche das Kind eines geliebten
Mannes, auch von einer andern, mit zärtlicher Neigung umfangen, ward
Ottilie dem heranwachsenden Geschöpf soviel als eine Mutter oder
vielmehr eine andre Art von Mutter. Entfernte sich Charlotte, so blieb
Ottilie mit dem Kinde und der Wärterin allein. Nanny hatte sich seit
einiger Zeit, eifersüchtig auf den Knaben, dem ihre Herrin alle Neigung
zuzuwenden schien, trotzig von ihr entfernt und war zu ihren Eltern
zurückgekehrt. Ottilie fuhr fort, das Kind in die freie Luft zu tragen,
und gewöhnte sich an immer weitere Spaziergänge. Sie hatte das
Milchfläschchen bei sich, um dem Kinde, wenn es nötig, seine Nahrung zu
reichen. Selten unterließ sie dabei, ein Buch mitzunehmen, und so
bildete sie, das Kind auf dem Arm, lesend und wandelnd, eine gar
anmutige Penserosa.



Zwölftes Kapitel

Der Hauptzweck des Feldzugs war erreicht und Eduard, mit Ehrenzeichen
geschmückt, rühmlich entlassen. Er begab sich sogleich wieder auf jenes
kleine Gut, wo er genaue Nachrichten von den Seinigen fand, die er,
ohne daß sie es bemerkten und wußten, scharf hatte beobachten lassen.
Sein stiller Aufenthalt blickte ihm aufs freundlichste entgegen; denn
man hatte indessen nach seiner Anordnung manches eingerichtet,
gebessert und gefördert, sodaß die Anlagen und Umgebungen, was ihnen an
Weite und Breite fehlte, durch das Innere und zunächst Genießbare
ersetzten.

Eduard, durch einen raschen Lebensgang an entschiedenere Schritte
gewöhnt, nahm sich nunmehr vor, dasjenige auszuführen, was er lange
genug zu überdenken Zeit gehabt hatte. Vor allen Dingen berief er den
Major. Die Freude des Wiedersehens war groß. Jugendfreundschaften wie
Blutsverwandtschaften haben den bedeutenden Vorteil, daß ihnen Irrungen
und Mißverständnisse, von welcher Art sie auch seien, niemals von Grund
aus schaden und die alten Verhältnisse sich nach einiger Zeit
wiederherstellen.

Zum frohen Empfang erkundigte sich Eduard nach dem Zustande des
Freundes und vernahm, wie vollkommen nach seinen Wünschen ihn das Glück
begünstigt habe. Halb scherzend vertraulich fragte Eduard sodann, ob
nicht auch eine schöne Verbindung im Werke sei. Der Freund verneinte es
mit bedeutendem Ernst.

„Ich kann und darf nicht hinterhaltig sein“, fuhr Eduard fort; „ich muß
dir meine Gesinnungen und Vorsätze sogleich entdecken. Du kennst meine
Leidenschaft für Ottilien und hast längst begriffen, daß sie es ist,
die mich in diesen Feldzug gestürzt hat. Ich leugne nicht, daß ich
gewünscht hatte, ein Leben loszuwerden, das mir ohne sie nichts weiter
nütze war; allein zugleich muß ich dir gestehen, daß ich es nicht über
mich gewinnen konnte, vollkommen zu verzweifeln. Das Glück mit ihr war
so schön, so wünschenswert, daß es mir unmöglich blieb, völlig Verzicht
darauf zu tun. So manche tröstliche Ahnung, so manches heitere Zeichen
hatte mich in dem Glauben, in dem Wahn bestärkt, Ottilie könne die
Meine werden. Ein Glas mit unserm Namenszug bezeichnet, bei der
Grundsteinlegung in die Lüfte geworfen, ging nicht zu Trümmern; es ward
aufgefangen und ist wieder in meinen Händen. ‘So will ich mich denn
selbst’, rief ich mir zu, als ich an diesem einsamen Orte soviel
zweifelhafte Stunden verlebt hatte, ‘mich selbst will ich an die Stelle
des Glases zum Zeichen machen, ob unsre Verbindung möglich sei oder
nicht. Ich gehe hin und suche den Tod, nicht als ein Rasender, sondern
als einer, der zu leben hofft. Ottilie soll der Preis sein, um den ich
kämpfe; sie soll es sein, die ich hinter jeder feindlichen
Schlachtordnung, in jeder Verschanzung, in jeder belagerten Festung zu
gewinnen, zu erobern hoffe. Ich will Wunder tun mit dem Wunsche,
verschont zu bleiben, im Sinne, Ottilien zu gewinnen, nicht sie zu
verlieren’. Diese Gefühle haben mich geleitet, sie haben mir durch alle
Gefahren beigestanden; aber nun finde ich mich auch wie einen, der zu
seinem Ziele gelangt ist, der alle Hindernisse überwunden hat, dem nun
nichts mehr im Wege steht. Ottilie ist mein, und was noch zwischen
diesem Gedanken und der Ausführung liegt, kann ich nur für nichts
bedeutend ansehen“.

„Du löschest“, versetzte der Major, „mit wenig Zügen alles aus, was man
dir entgegensetzen könnte und sollte; und doch muß es wiederholt
werden. Das Verhältnis zu deiner Frau in seinem ganzen Werte dir
zurückzurufen, überlasse ich dir selbst; aber du bist es ihr, du bist
es dir schuldig, dich hierüber nicht zu verdunkeln. Wie kann ich aber
nur gedenken, daß euch ein Sohn gegeben ist, ohne zugleich
auszusprechen, daß ihr einander auf immer angehört, daß ihr um dieses
Wesens willen schuldig seid, vereint zu leben, damit ihr vereint für
seine Erziehung und für sein künftiges Wohl sorgen möget“.

„Es ist bloß ein Dünkel der Eltern“, versetzte Eduard, „wenn sie sich
einbilden, daß ihr Dasein für die Kinder so nötig sei. Alles, was lebt,
findet Nahrung und Beihülfe; und wenn der Sohn nach dem frühen Tode des
Vaters keine so bequeme, so begünstigte Jugend hat, so gewinnt er
vielleicht ebendeswegen an schnellerer Bildung für die Welt, durch
zeitiges Anerkennen, daß er sich in andere schicken muß, was wir denn
doch früher oder später alle lernen müssen. Und hievon ist ja die Rede
gar nicht: wir sind reich genug, um mehrere Kinder zu versorgen, und es
ist keineswegs Pflicht noch Wohltat, auf Ein Haupt so viele Güter zu
häufen“.

Als der Major mit einigen Zügen Charlottens Wert und Eduards lange
bestandenes Verhältnis zu ihr anzudeuten gedachte, fiel ihm Eduard
hastig in die Rede: „wir haben eine Torheit begangen, die ich nur
allzuwohl einsehe. Wer in einem gewissen Alter frühere Jugendwünsche
und Hoffnungen realisieren will, betriegt sich immer; denn jedes
Jahrzehnt des Menschen hat sein eigenes Glück, seine eigenen Hoffnungen
und Aussichten. Wehe dem Menschen, der vorwärts oder rückwärts zu
greifen durch Umstände oder durch Wahn veranlaßt wird! Wir haben eine
Torheit begangen; soll sie es denn fürs ganze Leben sein? Sollen wir
uns aus irgendeiner Art von Bedenklichkeit dasjenige versagen, was uns
die Sitten der Zeit nicht absprechen? In wie vielen Dingen nimmt der
Mensch seinen Vorsatz, seine Tat zurück, und hier gerade sollte es
nicht geschehen, wo vom Ganzen und nicht vom Einzelnen, wo nicht von
dieser oder jener Bedingung des Lebens, wo vom ganzen Komplex des
Lebens die Rede ist!“

Der Major verfehlte nicht, auf eine ebenso geschickte als
nachdrückliche Weise Eduarden die verschiedenen Bezüge zu seiner
Gemahlin, zu den Familien, zu der Welt, zu seinen Besitzungen
vorzustellen; aber es gelang ihm nicht, irgendeine Teilnahme zu
erregen.

„Alles dieses, mein Freund“, erwiderte Eduard, „ist mir vor der Seele
vorbeigegangen, mitten im Gewühl der Schlacht, wenn die Erde vom
anhaltenden Donner bebte, wenn die Kugeln sausten und pfiffen, rechts
und links die Gefährten niederfielen, mein Pferd getroffen, mein Hut
durchlöchert ward; es hat mir vorgeschwebt beim stillen nächtlichen
Feuer unter dem gestirnten Gewölbe des Himmels. Dann traten mir alle
meine Verbindungen vor die Seele; ich habe sie durchgedacht,
durchgefühlt; ich habe mir zugeeignet, ich habe mich abgefunden, zu
wiederholten Malen, und nun für immer.

In solchen Augenblicken, wie kann ich dirs verschweigen, warst auch du
mir gegenwärtig, auch du gehörtest in meinen Kreis; und gehören wir
denn nicht schon lange zueinander? Wenn ich dir etwas schluldig
geworden, so komme ich jetzt in den Fall, dir es mit Zinsen abzutragen;
wenn du mir je etwas schuldig geworden, so siehst du dich nun imstande,
mir es zu vergelten. Ich weiß, du liebst Charlotten, und sie verdient
es; ich weiß, du bist ihr nicht gleichgültig, und warum sollte sie
deinen Wert nicht erkennen! Nimm sie von meiner Hand, führe mir
Ottilien zu! Und wir sind die glücklichsten Menschen auf der Erde“.

„Eben weil du mich mit so hohen Gaben bestechen willst“, versetzte der
Major, „muß ich desto vorsichtiger, desto strenger sein. Anstatt daß
dieser Vorschlag, den ich still verehre, die Sache erleichtern möchte,
erschwert er sie vielmehr. Es ist, wie von dir, nun auch von mir die
Rede, und so wie von dem Schicksal, so auch von dem guten Namen, von
der Ehre zweier Männer, die, bis jetzt unbescholten, durch diese
wunderliche Handlung, wenn wir sie auch nicht anders nennen wollen, in
Gefahr kommen, vor der Welt in einem höchst seltsamen Lichte zu
erscheinen“.

„Eben daß wir unbescholten sind“, versetzte Eduard, „gibt uns das
Recht, uns auch einmal schelten zu lassen. Wer sich sein ganzes Leben
als einen zuverlässigen Mann bewiesen, der macht eine Handlung
zuverlässig, die bei andern zweideutig erscheinen würde. Was mich
betrifft, ich fühle mich durch die letzten Prüfungen, die ich mir
auferlegt, durch die schwierigen, gefahrvollen Taten, die ich für
andere getan, berechtigt, auch etwas für mich zu tun. Was dich und
Charlotten betrifft, so sei es der Zukunft anheimgegeben; mich aber
wirst du, wird niemand von meinem Vorsatze zurückhalten. Will man mir
die Hand bieten, so bin ich auch wieder zu allem erbötig; will man mich
mir selbst überlassen oder mir wohl gar entgegen sein, so muß ein
Extrem entstehen, es werde auch, wie es wolle“.

Der Major hielt es für seine Pflicht, dem Vorsatz Eduards solange als
möglich Widerstand zu leisten, und er bediente sich nun gegen seinen
Freund einer klugen Wendung, indem er nachzugeben schien und nur die
Form, den Geschäftsgang zur Sprache brachte, durch welchen man diese
Trennung, diese Verbindungen erreichen sollte. Da trat denn so manches
Unerfreuliche, Beschwerliche, Unschickliche hervor, daß sich Eduard in
die schlimmste Laune versetzt fühlte.

„Ich sehe wohl“, rief dieser endlich, „nicht allein von Feinden,
sondern auch von Freunden muß, was man wünscht, erstürmt werden. Das,
was ich will, was mir unentbehrlich ist, halte ich fest im Auge; ich
werde es ergreifen und gewiß bald und behende. Dergleichen
Verhältnisse, weiß ich wohl, heben sich nicht auf und bilden sich
nicht, ohne daß manches falle, was steht, ohne daß manches weiche, was
zu beharren Lust hat. Durch Überlegung wird so etwas nicht geendet; vor
dem Verstande sind alle Rechte gleich, und auf die steigende Waagschale
läßt sich immer wieder ein Gegengewicht legen. Entschließe dich also,
mein Freund, für mich, für dich zu handeln, für mich, für dich diese
Zustände zu entwirren, aufzulösen, zu verknüpfen! Laß dich durch keine
Betrachtungen abhalten; wir haben die Welt ohnehin schon von uns reden
machen; sie wird noch einmal von uns reden, uns sodann, wie alles
übrige, was aufhört neu zu sein, vergessen und uns gewähren lassen, wie
wir können, ohne weitern Teil an uns zu nehmen“.

Der Major hatte keinen andern Ausweg und mußte endlich zugeben, daß
Eduard ein für allemal die Sache als etwas Bekanntes und
Vorausgesetztes behandelte, daß er, wie alles anzustellen sei, im
einzelnen durchsprach und sich über die Zukunft auf das heiterste,
sogar in Scherzen erging.

Dann wieder ernsthaft und nachdenklich fuhr er fort: „wollten wir uns
der Hoffnung, der Erwartung überlassen, daß alles sich von selbst
wieder finden, daß der Zufall uns leiten und begünstigen solle, so wäre
dies ein sträflicher Selbstbetrug. Auf diese Weise können wir uns
unmöglich retten, unsre allseitige Ruhe nicht wiederherstellen; und wie
sollte ich trösten können, da ich unschuldig die Schuld an allem bin!
Durch meine Zudringlichkeit habe ich Charlotten vermocht, dich ins Haus
zu nehmen, und auch Ottilie ist nur in Gefolg von dieser Veränderung
bei uns eingetreten. Wir sind nicht mehr Herr über das, was daraus
entsprungen ist, aber wir sind Herr, es unschädlich zu machen, die
Verhältnisse zu unserm Glücke zu leiten. Magst du die Augen von den
schönen und freundlichen Aussichten abwenden, die ich uns eröffne,
magst du mir, magst du uns allen ein trauriges Entsagen gebieten,
insofern du dirs möglich denkst, insofern es möglich wäre: ist denn
nicht auch alsdann, wenn wir uns vornehmen, in die alten Zustände
zurückzukehren, manches Unschickliche, Unbequeme, Verdrießliche zu
übertragen, ohne daß irgend etwas Gutes, etwas Heiteres daraus
entspränge? Würde der glückliche Zustand, in dem du dich befindest, dir
wohl Freude machen, wenn du gehindert wärst, mich zu besuchen, mit mir
zu leben? Und nach dem, was vorgegangen ist, würde es doch immer
peinlich sein. Charlotte und ich würden mit allem unserm Vermögen uns
nur in einer traurigen Lage befinden. Und wenn du mit andern
Weltmenschen glauben magst, daß Jahre, daß Entfernung solche
Empfindungen abstumpfen, so tief eingegrabene Züge auslöschen, so ist
ja eben von diesen Jahren die Rede, die man nicht in Schmerz und
Entbehren, sondern in Freude und Behagen zubringen will. Und nun
zuletzt noch das Wichtigste auszusprechen: wenn wir auch unserm äußern
und innern Zustande nach das allenfalls abwarten könnten, was soll aus
Ottilien werden, die unser Haus verlassen, in der Gesellschaft unserer
Vorsorge entbehren und sich in der verruchten, kalten Welt jämmerlich
herumdrücken müßte! Male mir einen Zustand, worin Ottilie ohne mich,
ohne uns glücklich sein könnte, dann sollst du ein Argument
ausgesprochen haben, das stärker ist als jedes andre, das ich, wenn
ichs auch nicht zugeben, mich ihm nicht ergeben kann, dennoch recht
gern aufs neue in Betrachtung und Überlegung ziehen will“.

Diese Aufgabe war so leicht nicht zu lösen, wenigstens fiel dem Freunde
hierauf keine hinlängliche Antwort ein, und es blieb ihm nichts übrig,
als wiederholt einzuschärfen, wie wichtig, wie bedenklich und in
manchem Sinne gefährlich das ganze Unternehmen sei, und daß man
wenigstens, wie es anzugreifen wäre, auf das ernstlichste zu bedenken
habe. Eduard ließ sichs gefallen, doch nur unter der Bedingung, daß ihn
der Freund nicht eher verlassen wolle, als bis sie über die Sache
völlig einig geworden und die ersten Schritte getan seien.



Dreizehntes Kapitel

Völlig fremde und gegeneinander gleichgültige Menschen, wenn sie eine
Zeitlang zusammenleben, kehren ihr Inneres wechselseitig heraus, und es
muß eine gewisse Vertraulichkeit entstehen. Um so mehr läßt sich
erwarten, daß unsern beiden Freunden, indem sie wieder nebeneinander
wohnten, täglich und stündlich zusammen umgingen, gegenseitig nichts
verborgen blieb. Sie wiederholten das Andenken ihrer früheren Zustände,
und der Major verhehlte nicht, daß Charlotte Eduarden, als er von
Reisen zurückgekommen, Ottilien zugedacht, daß sie ihm das schöne Kind
in der Folge zu vermählen gemeint habe. Eduard, bis zur Verwirrung
entzückt über diese Entdeckung, sprach ohne Rückhalt von der
gegenseitigen Neigung Charlottens und des Majors, die er, weil es ihm
gerade bequem und günstig war, mit lebhaften Farben ausmalte.

Ganz leugnen konnte der Major nicht und nicht ganz eingestehen; aber
Eduard befestigte, bestimmte sich nur mehr. Er dachte sich alles nicht
als möglich, sondern als schon geschehen. Alle Teile brauchten nur in
das zu willigen, was sie wünschten; eine Scheidung war gewiß zu
erlangen; eine baldige Verbindung sollte folgen, und Eduard wollte mit
Ottilien reisen.

Unter allem, was die Einbildungskraft sich Angenehmes ausmalt, ist
vielleicht nichts Reizenderes, als wenn Liebende, wenn junge Gatten ihr
neues, frisches Verhältnis in einer neuen, frischen Welt zu genießen
und einen dauernden Bund an soviel wechselnden Zuständen zu prüfen und
zu bestätigen hoffen. Der Major und Charlotte sollten unterdessen
unbeschränkte Vollmacht haben, alles, was sich auf Besitz, Vermögen und
die irdischen wünschenswerten Einrichtungen bezieht, dergestalt zu
ordnen und nach Recht und Billigkeit einzuleiten, daß alle Teile
zufrieden sein könnten. Worauf jedoch Eduard am allermeisten zu fußen,
wovon er sich den größten Vorteil zu versprechen schien, war dies: da
das Kind bei der Mutter bleiben sollte, so würde der Major den Knaben
erziehen, ihn nach seinen Einsichten leiten, seine Fähigkeiten
entwickeln können. Nicht umsonst hatte man ihm dann in der Taufe ihren
beiderseitigen Namen Otto gegeben.

Das alles war bei Eduarden so fertig geworden, daß er keinen Tag länger
anstehen mochte, der Ausführung näherzutreten. Sie gelangten auf ihrem
Wege nach dem Gute zu einer kleinen Stadt, in der Eduard ein Haus
besaß, wo er verweilen und die Rückkunft des Majors abwarten wollte.
Doch konnte er sich nicht überwinden, daselbst sogleich abzusteigen,
und begleitete den Freund noch durch den Ort. Sie waren beide zu
Pferde, und in bedeutendem Gespräch verwickelt ritten sie zusammen
weiter.

Auf einmal erblickten sie in der Ferne das neue Haus auf der Höhe,
dessen rote Ziegeln sie zum erstenmal blinken sahen. Eduarden ergreift
eine unwiderstehliche Sehnsucht; es soll noch diesen Abend alles
abgetan sein. In einem ganz nahen Dorfe will er sich verborgen halten;
der Major soll die Sache Charlotten dringend vorstellen, ihre Vorsicht
überraschen und durch den unerwarteten Antrag sie zu freier Eröffnung
ihrer Gesinnung nötigen. Denn Eduard, der seine Wünsche auf sie
übergetragen hatte, glaubte nicht anders, als daß er ihren
entschiedenen Wünschen entgegenkomme, und hoffte eine so schnelle
Einwilligung von ihr, weil er keinen andern Willen haben konnte.

Er sah den glücklichen Ausgang freudig vor Augen, und damit dieser dem
Lauernden schnell verkündigt würde, sollten einige Kanonenschläge
losgebrannt werden und, wäre es Nacht geworden, einige Raketen steigen.

Der Major ritt nach dem Schlosse zu. Er fand Charlotten nicht, sondern
erfuhr vielmehr, daß sie gegenwärtig oben auf dem neuen Gebäude wohne,
jetzt aber einen Besuch in der Nachbarschaft ablege, von welchem sie
heute wahrscheinlich nicht so bald nach Hause komme. Er ging in das
Wirtshaus zurück, wohin er sein Pferd gestellt hatte.

Eduard indessen, von unüberwindlicher Ungeduld getrieben, schlich aus
seinem Hinterhalte durch einsame Pfade, nur Jägern und Fischern
bekannt, nach seinem Park und fand sich gegen Abend im Gebüsch in der
Nachbarschaft des Sees, dessen Spiegel er zum erstenmal vollkommen und
rein erblickte.

Ottilie hatte diesen Nachmittag einen Spaziergang an den See gemacht.
Sie trug das Kind und las im Gehen nach ihrer Gewohnheit. So gelangte
sie zu den Eichen bei der überfahrt. Der Knabe war eingeschlafen; sie
setzte sich, legte ihn neben sich nieder und fuhr zu lesen. Das Buch
war eins von denen, die ein zartes Gemüt an sich ziehen und nicht
wieder loslassen. Sie vergaß Zeit und Stunde und dachte nicht, daß sie
zu Lande noch einen weiten Rückweg nach dem neuen Gebäude habe; aber
sie saß versenkt in ihr Buch, in sich selbst, so liebenswürdig
anzusehen, daß die Bäume, die Sträuche ringsumher hätten belebt, mit
Augen begabt sein sollen, um sie zu bewundern und sich an ihr zu
erfreuen. Und eben fiel ein rötliches Streiflicht der sinkenden Sonne
hinter ihr her und vergoldete Wange und Schulter.

Eduard, dem es bisher gelungen war, unbemerkt so weit vorzudringen, der
seinen Park leer; die Gegend einsam fand, wagte sich immer weiter.
Endlich bricht er durch das Gebüsch bei den Eichen, er sieht Ottilien,
sie ihn; er fliegt auf sie zu und liegt zu ihren Füßen. Nach einer
langen, stummen Pause, in der sich beide zu fassen suchen, erklärt er
ihr mit wenig Worten, warum und wie er hieher gekommen. Er habe den
Major an Charlotten abgesendet, ihr gemeinsames Schicksal werde
vielleicht in diesem Augenblick entschieden. Nie habe er an ihrer Liebe
gezweifelt, sie gewiß auch nie an der seinigen. Er bitte sie um ihre
Einwilligung. Sie zauderte, er beschwur sie; er wollte seine alten
Rechte geltend machen und sie in seine Arme schließen; sie deutete auf
das Kind hin.

Eduard erblickt es und staunt. „Großer Gott!“ ruft er aus, „wenn ich
Ursache hätte, an meiner Frau, an meinem Freunde zu zweifeln, so würde
diese Gestalt fürchterlich gegen sie zeugen. Ist dies nicht die Bildung
des Majors? Solch ein Gleichen habe ich nie gesehen“.

„Nicht doch!“ versetzte Ottilie; „alle Welt sagt, es gleiche mir“. „Wär
es möglich?“ versetzte Eduard, und in dem Augenblick schlug das Kind
die Augen auf, zwei große, schwarze, durchdringende Augen, tief und
freundlich. Der Knabe sah die Welt schon so verständig an; er schien
die beiden zu kennen, die vor ihm standen. Eduard warf sich bei dem
Kinde nieder, er kniete zweimal vor Ottilien. „Du bists!“ rief er aus,
„deine Augen sinds. Ach! Aber laß mich nur in die deinigen schaun. Laß
mich einen Schleier werfen über jene unselige Stunde, die diesem Wesen
das Dasein gab. Soll ich deine reine Seele mit dem unglücklichen
Gedanken erschrecken, daß Mann und Frau entfremdet sich einander ans
Herz drücken und einen gesetzlichen Bund durch lebhafte Wünsche
entheiligen können? Oder ja, da wir einmal so weit sind, da mein
Verhältnis zu Charlotten getrennt werden muß, da du die Meinige sein
wirst, warum soll ich es nicht sagen? Warum soll ich das harte Wort
nicht aussprechen: dies Kind ist aus einem doppelten Ehbruch erzeugt!
Es trennt mich von meiner Gattin und meine Gattin von mir, wie es uns
hätte verbinden sollen. Mag es denn gegen mich zeugen, mögen diese
herrlichen Augen den deinigen sagen, daß ich in den Armen einer andern
dir gehörte; mögest du fühlen, Ottilie, recht fühlen, daß ich jenen
Fehler, jenes Verbrechen nur in deinen Armen abbüßen kann!“

„Horch!“ rief er aus, indem er aufsprang und einen Schuß zu hören
glaubte, als das Zeichen, das der Major geben sollte. Es war ein Jäger,
der im benachbarten Gebirg geschossen hatte. Es erfolgte nichts weiter;
Eduard war ungeduldig.

Nun erst sah Ottilie, daß die Sonne sich hinter die Berge gesenkt
hatte. Noch zuletzt blinkte sie von den Fenstern des obern Gebäudes
zurück. „Entferne dich, Eduard!“ rief Ottilie. „O lange haben wir
entbehrt, so lange geduldet. Bedenke, was wir beide Charlotten schuldig
sind. Sie muß unser Schicksal entscheiden, laß uns ihr nicht
vorgreifen. Ich bin die Deine, wenn sie es vergönnt; wo nicht, so muß
ich dir entsagen. Da du die Entscheidung so nah glaubst, so laß uns
erwarten. Geh in das Dorf zurück, wo der Major dich vermutet. Wie
manches kann vorkommen, das eine Erklärung fordert. Ist es
wahrscheinlich, daß ein roher Kanonenschlag dir den Erfolg seiner
Unterhandlungen verkünde? Vielleicht sucht er dich auf in diesem
Augenblick. Er hat Charlotten nicht getroffen, das weiß ich; er kann
ihr entgegengegangen sein, denn man wußte, wo sie hin war. Wie
vielerlei Fälle sind möglich! Laß mich! Jetzt muß sie kommen. Sie
erwartet mich mit dem Kinde dort oben“.

Ottilie sprach in Hast. Sie rief sich alle Möglichkeiten zusammen. Sie
war glücklich in Eduards Nähe und fühlte, daß sie ihn jetzt entfernen
müsse. „Ich bitte, ich beschwöre dich, Geliebter!“ rief sie aus, „kehre
zurück und erwarte den Major!“—„Ich gehorche deinen Befehlen“, rief
Eduard, indem er sie erst leidenschaftlich anblickte und sie dann fest
in seine Arme schloß. Sie umschlang ihn mit den ihrigen und drückte ihn
auf das zärtlichste an ihre Brust. Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der
vom Himmel fällt, über ihre Häupter weg. Sie wähnten, sie glaubten
einander anzugehören; sie wechselten zum erstenmal entschiedene, freie
Küsse und trennten sich gewaltsam und schmerzlich.

Die Sonne war untergegangen, und es dämmerte schon und duftete feucht
um den See. Ottilie stand verwirrt und bewegt; sie sah nach dem
Berghause hinüber und glaubte Charlottens weißes Kleid auf dem Altan zu
sehen. Der Umweg war groß am See hin; sie kannte Charlottens
ungeduldiges Haaren nach dem Kinde. Die Platanen sieht sie gegen sich
über, nur ein Wasserraum trennt sie von dem Pfade, der sogleich zu dem
Gebäude hinaufführt. Mit Gedanken ist sie schon drüben wie mit den
Augen. Die Bedenklichkeit, mit dem Kinde sich aufs Wasser zu wagen,
verschwindet in diesem Drange. Sie eilt nach dem Kahn, sie fühlt nicht,
daß ihr Herz pocht, daß ihre Füße schwanken, daß ihr die Sinne zu
vergehen drohn.

Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stößt ab. Sie muß
Gewalt brauchen, sie wiederholt den Stoß, der Kahn schwankt und gleitet
eine Strecke seewärts. Auf dem linken Arme das Kind, in der linken Hand
das Buch, in der rechten das Ruder, schwankt auch sie und fällt in den
Kahn. Das Ruder entfährt ihr nach der einen Seite und, wie sie sich
erhalten will, Kind und Buch nach der andern, alles ins Wasser. Sie
ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert sie
selbst am Aufstehen. Die freie rechte Hand ist nicht hinreichend sich
umzuwenden, sich aufzurichten; endlich gelingts, sie zieht das Kind aus
dem Wasser, aber seine Augen sind geschlossen, es hat aufgehört zu
atmen.

In dem Augenblick kehrt ihre ganze Besonnenheit zurück, aber um desto
größer ist ihr Schmerz. Der Kahn treibt fast in der Mitte des Sees, das
Ruder schwimmt fern, sie erblickt niemanden am Ufer, und auch was hätte
es ihr geholfen, jemanden zu sehen! Von allem abgesondert, schwebt sie
auf dem treulosen, unzugänglichen Elemente.

Sie sucht Hülfe bei sich selbst. So oft hatte sie von Rettung der
Ertrunkenen gehört. Noch am Abend ihres Geburtstags hatte sie es
erlebt. Sie entkleidet das Kind und trocknets mit ihrem Musselingewand.
Sie reißt ihren Busen auf und zeigt ihn zum erstenmal dem freien
Himmel; zum erstenmal drückt sie ein Lebendiges an ihre reine nackte
Brust, ach! Und kein Lebendiges. Die kalten Glieder des unglücklichen
Geschöpfs verkälten ihren Busen bis ins innerste Herz. Unendliche
Tränen entquellen ihren Augen und erteilen der Oberfläche des
Erstarrten einen Schein von Wärme und Leben. Sie läßt nicht nach, sie
überhüllt es mit ihrem Schal, und durch Streicheln, Andrücken,
Anhauchen, Küssen, Tränen glaubt sie jene Hülfsmittel zu ersetzen, die
ihr in dieser Abgeschnittenheit versagt sind.

Alles vergebens! Ohne Bewegung liegt das Kind in ihren Armen, ohne
Bewegung steht der Kahn auf der Wasserfläche; aber auch hier läßt ihr
schönes Gemüt sie nicht hülflos. Sie wendet sich nach oben. Knieend
sinkt sie in dem Kahne nieder und hebt das erstarrte Kind mit beiden
Armen über ihre unschuldige Brust, die an Weiße und leider auch an
Kälte dem Marmor gleicht. Mit feuchtem Blick sieht sie empor und ruft
Hülfe von daher, wo ein zartes Herz die größte Fülle zu finden hofft,
wenn es überall mangelt.

Auch wendet sie sich nicht vergebens zu den Sternen, die schon einzeln
hervorzublinken anfangen. Ein sanfter Wind erhebt sich und treibt den
Kahn nach dem Platanen.



Vierzehntes Kapitel

Sie eilt nach dem neuen Gebäude, sie ruft den Chirurgus hervor, sie
übergibt ihm das Kind. Der auf alles gefaßte Mann behandelt den zarten
Leichnam stufenweise nach gewohnter Art. Ottilie steht ihm in allem
bei; sie schafft, sie bringt, sie sorgt, zwar wie in einer andern Welt
wandelnd, denn das höchste Unglück wie das höchste Glück verändert die
Ansicht aller Gegenstände; und nur, als nach allen durchgegangenen
Versuchen der wackere Mann den Kopf schüttelt, auf ihre hoffnungsvollen
Fragen erst schweigend, dann mit einem leisen Nein antwortet, verläßt
sie das Schlafzimmer Charlottens, worin dies alles geschehen, und kaum
hat sie das Wohnzimmer betreten, so fällt sie, ohne den Sofa erreichen
zu können, erschöpft aufs Angesicht über den Teppich hin.

Eben hört man Charlotten vorfahren. Der Chirurg bittet die Umstehenden
dringend, zurückzubleiben, er will ihr entgegnen, sie vorbereiten; aber
schon betritt sie ihr Zimmer. Sie findet Ottilien an der Erde, und ein
Mädchen des Hauses stürzt ihr mit Geschrei und Weinen entgegen. Der
Chirurg tritt herein, und sie erfährt alles auf einmal. Wie sollte sie
aber jede Hoffnung mit einmal aufgeben! Der erfahrne, kunstreiche,
kluge Mann bittet sie nur, das Kind nicht zu sehen; er entfernt sich,
sie mit neuen Anstalten zu täuschen. Sie hat sich auf ihren Sofa
gesetzt, Ottilie liegt noch an der Erde, aber an der Freundin Kniee
herangehoben, über die ihr schönes Haupt hingesenkt ist. Der ärztliche
Freund geht ab und zu; er scheint sich um das Kind zu bemühen, er
bemüht sich um die Frauen. So kommt die Mitternacht herbei, die
Totenstille wird immer tiefer. Charlotte verbirgt sichs nicht mehr, daß
das Kind nie wieder ins Leben zurückkehre; sie verlangt es zu sehen.
Man hat es in warme wollne Tücher reinlich eingehüllt, in einen Korb
gelegt, den man neben sie auf den Sofa setzt; nur das Gesichtchen ist
frei; ruhig und schön liegt es da.

Von dem Unfall war das Dorf bald erregt worden und die Kunde sogleich
bis nach dem Gasthof erschollen. Der Major hatte sich die bekannten
Wege hinaufbegeben; er ging um das Haus herum, und indem er einen
Bedienten anhielt, der in dem Angebäude etwas zu holen lief,
verschaffte er sich nähere Nachricht und ließ den Chirurgen
herausrufen. Dieser kam, erstaunt über die Erscheinung seines alten
Gönners, berichtete ihm die gegenwärtige Lage und übernahm es,
Charlotten auf seinen Anblick vorzubereiten. Er ging hinein, fing ein
ableitendes Gespräch an und führte die Einbildungskraft von einem
Gegenstand auf den andern, bis er endlich den Freund Charlotten
vergegenwärtigte, dessen gewisse Teilnahme, dessen Nähe dem Geiste, der
Gesinnung nach, die er denn bald in eine wirkliche übergehen ließ.
Genug, sie erfuhr, der Freund stehe vor der Tür, er wisse alles und
wünsche eingelassen zu werden.

Der Major trat herein; ihn begrüßte Charlotte mit einem schmerzlichen
Lächeln. Er stand vor ihr. Sie hub die grünseidne Decke auf, die den
Leichnam verbarg, und bei dem dunklen Schein einer Kerze erblickte er
nicht ohne geheimes Grausen sein erstarrtes Ebenbild. Charlotte deutete
auf einen Stuhl, und so saßen sie gegeneinander über, schweigend, die
Nacht hindurch. Ottilie lag noch ruhig auf den Knieen Charlottens; sie
atmete sanft; sie schlief, oder sie schien zu schlafen.

Der Morgen dämmerte, das Licht verlosch, beide Freunde schienen aus
einem dumpfen Traum zu erwachen. Charlotte blickte den Major an und
sagte gefaßt: „erklären Sie mir, mein Freund, durch welche Schickung
kommen Sie hieher, um teil an dieser Trauerszene zu nehmen?“

„Es ist hier“, antwortete der Major ganz leise, wie sie gefragt
hatte—als wenn sie Ottilien nicht aufwecken wollten -, „es ist hier
nicht Zeit und Ort, zurückzuhalten, Einleitungen zu machen und sachte
heranzutreten. Der Fall, in dem ich Sie finde, ist so ungeheuer, daß
das Bedeutende selbst, weshalb ich komme, dagegen seinen Wert
verliert“.

Er gestand ihr darauf ganz ruhig und einfach den Zweck seiner Sendung,
insofern Eduard ihn abgeschickt hatte, den Zweck seines Kommens,
insofern sein freier Wille, sein eigenes Interesse dabei war. Er trug
beides sehr zart, doch aufrichtig vor; Charlotte hörte gelassen zu und
schien weder darüber zu staunen noch unwillig zu sein.

Als der Major geendigt hatte, antwortete Charlotte mit ganz leiser
Stimme, sodaß er genötigt war, seinen Stuhl heranzurücken: in einem
Falle, wie dieser ist, habe ich mich noch nie befunden, aber in
Ähnlichen habe ich mir immer gesagt: ‘wie wird es morgen sein?’ Ich
fühle recht wohl, daß das Los von mehreren jetzt in meinen Händen
liegt; und was ich zu tun habe, ist bei mir außer Zweifel und bald
ausgesprochen. Ich willige in die Scheidung. Ich hätte mich früher dazu
entschließen sollen; durch mein Zaudern, mein Widerstreben habe ich das
Kind getötet. Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig
vornimmt. Vergebens, daß Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige
sich ihm in den Weg stellen: es soll etwas geschehen, was ihm recht
ist, was uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir
mögen uns gebärden, wie wir wollen.

Doch was sag ich! Eigentlich will das Schicksal meinen eigenen Wunsch,
meinen eigenen Vorsatz, gegen die ich unbedachtsam gehandelt, wieder in
den Weg bringen. Habe ich nicht selbst schon Ottilien und Eduarden mir
als das schicklichste Paar zusammengedacht? Habe ich nicht selbst beide
einander zu nähern gesucht? Waren Sie nicht selbst, mein Freund,
Mitwisser dieses Plans? Und warum konnte ich den Eigensinn eines Mannes
nicht von wahrer Liebe unterscheiden? Warum nahm ich seine Hand an, da
ich als Freundin ihn und eine andre Gattin glücklich gemacht hätte? Und
betrachten Sie nur diese unglückliche Schlummernde! Ich zittere vor dem
Augenblicke, wenn sie aus ihrem halben Totenschlafe zum Bewußtsein
erwacht. Wie soll sie leben, wie soll sie sich trösten, wenn sie nicht
hoffen kann, durch ihre Liebe Eduarden das zu ersetzen, was sie ihm als
Werkzeug des wunderbarsten Zufalls geraubt hat? Und sie kann ihm alles
wiedergeben nach der Neigung, nach der Leidenschaft, mit der sie ihn
liebt. Vermag die Liebe, alles zu dulden, so vermag sie noch viel mehr,
alles zu ersetzen. An mich darf in diesem Augenblick nicht gedacht
werden.

Entfernen Sie sich in der Stille, lieber Major. Sagen Sie Eduarden, daß
ich in die Scheidung willige, daß ich ihm, Ihnen, Mittlern die ganze
Sache einzuleiten überlasse, daß ich um meine künftige Lage unbekümmert
bin und es in jedem Sinne sein kann. Ich will jedes Papier
unterschreiben, das man mir bringt; aber man verlange nur nicht von
mir, daß ich mitwirke, daß ich bedenke, daß ich berate“.

Der Major stand auf. Sie reichte ihm ihre Hand über Ottilien weg. Er
drückte seine Lippen auf diese liebe Hand. „Und für mich, was darf ich
hoffen?“ lispelte er leise.

„Lassen Sie mich Ihnen die Antwort schuldig bleiben“, versetzte
Charlotte. „Wir haben nicht verschuldet, unglücklich zu werden, aber
durch nicht verdient, zusammen glücklich zu sein“.

Der Major entfernte sich, Charlotten tief im Herzen beklagend, ohne
jedoch das arme abgeschiedene Kind bedauern zu können. Ein solches
Opfer schien ihm nötig zu ihrem allseitigen Glück. Er dachte sich
Ottilien mit einem eignen Kind auf dem Arm, als den vollkommensten
Ersatz für das, was sie Eduarden geraubt; er dachte sich einen Sohn auf
dem Schoße, der mit mehrerem Recht sein Ebenbild trüge als der
abgeschiedene.

So schmeichelnde Hoffnungen und Bilder gingen ihm durch die Seele, als
er auf dem Rückwege nach dem Gasthofe Eduarden fand, der die ganze
Nacht im Freien den Major erwartet hatte, da ihm kein Feuerzeichen,
kein Donnerlaut ein glückliches Gelingen verkünden wollte. Er wußte
bereits von dem Unglück, und auch er, anstatt das arme Geschöpf zu
bedauern, sah diesen Fall, ohne sichs ganz gestehen zu wollen, als eine
Fügung an, wodurch jedes Hindernis an seinem Glück auf einmal beseitigt
wäre. Gar leicht ließ er sich daher durch den Major bewegen, der ihm
schnell den Entschluß seiner Gattin verkündigte, wieder nach jenem
Dorfe und sodann nach der kleinen Stadt zurückzukehren, wo sie das
Nächste überlegen und einleiten wollten.

Charlotte saß, nachdem der Major sie verlassen hatte, nur wenige
Minuten in ihre Betrachtungen versenkt; denn sogleich richtete Ottilie
sich auf, ihre Freundin mit großen Augen anblickend. Erst erhob sich
von dem Schoße, dann von der Erde und stand vor Charlotten.

„Zum zweitenmal“—so begann das herrliche Kind mit einem
unüberwindlichen, anmutigen Ernst—„zum zweitenmal widerfährt mir
dasselbe. Du sagtest mir einst, es begegne den Menschen in ihrem Leben
oft ähnliches auf ähnliche Weise und immer in bedeutenden Augenblicken.
Ich finde nun die Bemerkung wahr und bin gedrungen, dir ein Bekenntnis
zu machen. Kurz nach meiner Mutter Tode, als ein kleines Kind, hatte
ich meinen Schemel an dich gerückt; du saßest auf dem Sofa wie jetzt;
mein Haupt lag auf deinen Knieen, ich schlief nicht, ich wachte nicht;
ich schlummerte. Ich vernahm alles, was um mich vorging, besonders alle
Reden sehr deutlich; und doch konnte ich mich nicht regen, mich nicht
äußern und, wenn ich auch gewollt hätte, nicht andeuten, daß ich meiner
selbst mich bewußt fühlte. Damals sprachst du mit einer Freundin über
mich; du bedauertest mein Schicksal, als eine arme Waise in der Welt
geblieben zu sein; du schildertest meine abhängige Lage und wie mißlich
es um mich stehen könne, wenn nicht ein besondrer Glücksstern über mich
walte. Ich faßte alles wohl und genau, vielleicht zu streng, was du für
mich zu wünschen, was du von mir zu fordern schienst. Ich machte mir
nach meinen beschränkten Einsichten hierüber Gesetze; nach diesen habe
ich lange gelebt, nach ihnen war mein Tun und Lassen eingerichtet zu
der Zeit, da du mich liebtest, für mich sorgtest, da du mich in dein
Haus aufnahmst, und auch noch eine Zeit hernach.

Aber ich bin aus meiner Bahn geschritten, ich habe meine Gesetze
gebrochen, ich habe sogar das Gefühl derselben verloren, und nach einem
schrecklichen Ereignis klärst du mich wieder über meinen Zustand auf,
der jammervoller ist als der erste. Auf deinem Schoße ruhend, halb
erstarrt, wie aus einer fremden Welt vernehm ich abermals deine leise
Stimme über meinem Ohr; ich vernehme, wie es mit mir selbst aussieht;
ich schaudere über mich selbst; aber wie damals habe ich auch diesmal
in meinem halben Totenschlaf mir meine neue Bahn vorgezeichnet.

Ich bin entschlossen, wie ichs war, und wozu ich entschlossen bin, mußt
du gleich erfahren. Eduards werd ich nie! Auf eine schreckliche Weise
hat Gott mir die Augen geöffnet, in welchem Verbrechen ich befangen
bin. Ich will es büßen; und niemand gedenke mich von meinem Vorsatz
abzubringen! Darnach, Liebe, Beste, nimm deine Maßregeln. Laß den Major
zurückkommen; schreibe ihm, daß keine Schritte geschehen. Wie ängstlich
war mir, daß ich mich nicht rühren und regen konnte, als er ging. Ich
wollte auffahren, aufschreien: du solltest ihn nicht mit so
frevelhaften Hoffnungen entlassen“.

Charlotte sah Ottiliens Zustand, sie empfand ihn; aber sie hoffte durch
Zeit und Vorstellungen etwas über sie zu gewinnen. Doch als sie einige
Worte aussprach, die auf eine Zukunft, auf eine Milderung des
Schmerzes, auf Hoffnung deuteten: „nein!“ rief Ottilie mit Erhebung;
„sucht mich nicht zu bewegen, nicht zu hintergehen! In dem Augenblick,
in dem ich erfahre, du habest in die Scheidung gewilligt, büße ich in
demselbigen See mein Vergehen, mein Verbrechen“.



Fünfzehntes Kapitel

Wenn sich in einem glücklichen, friedlichen Zusammenleben Verwandte,
Freunde, Hausgenossen, mehr als nötig und billig ist, von dem
unterhalten, was geschieht oder geschehen soll, wenn sie sich einander
ihre Vorsätze, Unternehmungen, Beschäftigungen wiederholt mitteilen
und, ohne gerade wechselseitigen Rat anzunehmen, doch immer das ganze
Leben gleichsam ratschlagend behandeln, so findet man dagegen in
wichtigen Momenten, eben da, wo es scheinen sollte, der Mensch bedürfe
fremden Beistandes, fremder Bestätigung am allermeisten, daß sich die
einzelnen auf sich selbst zurückziehen, jedes für sich zu handeln,
jedes auf seine Weise zu wirken strebt und, indem man sich einander die
einzelnen Mittel verbirgt, nur erst der Ausgang, die Zwecke, das
Erreichte wieder zum Gemeingut werden.

Nach so viel wundervollen und unglücklichen Ereignissen war denn auch
ein gewisser stiller Ernst über die Freundinnen gekommen, der sich in
einer liebenswürdigen Schonung äußerte. Ganz in der Stille hatte
Charlotte das Kind nach der Kapelle gesendet. Es ruhte dort als das
erste Opfer eines ahnungsvollen Verhängnisses.

Charlotte kehrte sich, soviel es ihr möglich war, gegen das Leben
zurück, und hier fand sie Ottilien zuerst, die ihres Beistandes
bedurfte. Sie beschäftigte sich vorzüglich mit ihr, ohne es jedoch
merken zu lassen. Sie wußte, wie sehr das himmlische Kind Eduarden
liebte; sie hatte nach und nach die Szene, die dem Unglück
vorhergegangen war, herausgeforscht und jeden Umstand teils von
Ottilien selbst, teils durch Briefe des Majors erfahren.

Ottilie von ihrer Seite erleichterte Charlotten sehr das
augenblickliche Leben. Sie war offen, ja gesprächig, aber niemals war
von dem Gegenwärtigen oder kurz Vergangenen die Rede. Sie hatte stets
aufgemerkt, stets beobachtet, sie wußte viel; das kam jetzt alles zum
Vorschein. Sie unterhielt, sie zerstreute Charlotten, die noch immer
die stille Hoffnung nährte, ein ihr so wertes Paar verbunden zu sehen.

Allein bei Ottilien hing es anders zusammen. Sie hatte das Geheimnis
ihres Lebensganges der Freundin entdeckt; sie war von ihrer frühen
Einschränkung, von ihrer Dienstbarkeit entbunden. Durch ihre Reue,
durch ihren Entschluß fühlte sie sich auch befreit von der Last jenes
Vergehens, jenes Mißgeschicks. Sie bedurfte keiner Gewalt mehr über
sich selbst; sie hatte sich in der Tiefe ihres Herzens nur unter der
Bedingung des völligen Entsagens verziehen, und diese Bedingung war für
alle Zukunft unerläßlich.

So verfloß einige Zeit, und Charlotte fühlte, wie sehr Haus und Park,
Seen, Felsen- und Baumgruppen nur traurige Empfindungen täglich in
ihnen beiden erneuerten. Daß man den Ort verändern müsse, war allzu
deutlich, wie es geschehen solle, nicht so leicht zu entscheiden.

Sollten die beiden Frauen zusammenbleiben? Eduards früherer Wille
schien es zu gebieten, seine Erklärung, seine Drohung es nötig zu
machen; allein wie war es zu verkennen, daß beide Frauen mit allem
guten Willen, mit aller Vernunft, mit aller Anstrengung sich in einer
peinlichen Lage nebeneinander befanden? Ihre Unterhaltungen waren
vermeidend. Manchmal mochte man gern etwas nur halb verstehen, öfters
wurde aber doch ein Ausdruck, wo nicht durch den Verstand, wenigstens
durch die Empfindung mißdeutet. Man fürchtet sich zu verletzen, und
gerade die Furcht war am ersten verletzbar und verletzte am ersten.

Wollte man den Ort verändern und sich zugleich, wenigstens auf einige
Zeit, voneinander trennen, so trat die alte Frage wieder hervor, wo
sich Ottilie hinbegeben solle. Jenes große, reiche Haus hatte
vergebliche Versuche gemacht, einer hoffnungsvollen Erbtochter
unterhaltende und wetteifernde Gespielinnen zu verschaffen. Schon bei
der letzten Anwesenheit der Baronesse und neuerlich durch Briefe war
Charlotte aufgefordert worden, Ottilien dorthin zu senden; jetzt
brachte sie es abermals zur Sprache. Ottilie verweigerte aber
ausdrücklich, dahin zu gehen, wo sie dasjenige finden würde, was man
große Welt zu nennen pflegt.

„Lassen Sie mich, liebe Tante“, sagte sie, „damit ich nicht
eingeschränkt und eigensinnig erscheine, dasjenige aussprechen, was zu
verschweigen, zu verbergen in einem andern Falle Pflicht wäre. Ein
seltsam unglücklicher Mensch, und wenn er auch schuldlos wäre, ist auf
eine fürchterliche Weise gezeichnet. Seine Gegenwart erregt in allen,
die ihn sehen, die ihn gewahr werden, eine Art von Entsetzen. Jeder
will das Ungeheure ihm ansehen, was ihm auferlegt ward; jeder ist
neugierig und ängstlich zugleich. So bleibt ein Haus, eine Stadt, worin
eine ungeheure Tat geschehen, jedem furchtbar, der sie betritt. Dort
leuchtet das Licht des Tages nicht so hell, und die Sterne scheinen
ihren Glanz zu verlieren.

Wie groß, und doch vielleicht zu entschuldigen, ist gegen solche
Unglückliche die Indiskretion der Menschen, ihre alberne
Zudringlichkeit und ungeschickte Gutmütigkeit! Verzeihen Sie mir, daß
ich so rede; aber ich habe unglaublich mit jenem armen Mädchen
gelitten, als es Luciane aus den verborgenen Zimmern des Hauses
hervorzog, sich freundlich mit ihm beschäftigte, es in der besten
Absicht zu Spiel und Tanz nötigen wollte. Als das arme Kind bange und
immer bänger zuletzt floh und in Ohnmacht sank, ich es in meine Arme
faßte, die Gesellschaft erschreckt, aufgeregt und jeder erst recht
neugierig auf die Unglückselige ward, da dachte ich nicht, daß mir ein
gleiches Schicksal bevorstehe; aber mein Mitgefühl, so wahr und
lebhaft, ist noch lebendig. Jetzt kann ich mein Mitleiden gegen mich
selbst wenden und mich hüten, daß ich nicht zu ähnlichen Auftritt Anlaß
gebe“.

„Du wirst aber, liebes Kind“, versetzte Charlotte, „dem Anblick der
Menschen dich nirgends entziehen können. Klöster haben wir nicht, in
denen sonst eine Freistatt für solche Gefühle zu finden war“.

„Die Einsamkeit macht nicht die Freistatt, liebe Tante“, versetzte
Ottilie. „Die schätzenswerteste Freistatt ist da zu suchen, wo wir
tätig sein können. Alle Büßungen, alle Entbehrungen sind keineswegs
geeignet, uns einem ahnungsvollen Geschick zu entziehen, wenn es uns zu
verfolgen entschieden ist. Nur wenn ich im müßigen Zustande der Welt
zur Schau dienen soll, dann ist sie mir widerwärtig und ängstigt mich.
Findet man mich aber freudig bei der Arbeit, unermüdet in meiner
Pflicht, dann kann ich die Blicke eines jeden aushalten, weil ich die
göttlichen nicht zu scheuen brauche“.

„Ich müßte mich sehr irren“, versetzte Charlotte, „wenn deine Neigung
dich nicht zur Pension zurückzöge“.

„Ja“, versetzte Ottilie, „ich leugne es nicht; ich denke es mir als
eine glückliche Bestimmung, andre auf dem gewöhnlichen Wege zu
erziehen, wenn wir auf dem sonderbarsten erzogen worden. Und sehen wir
nicht in der Geschichte, daß Menschen, die wegen großer sittlicher
Unfälle sich in die Wüsten zurückzogen, dort keineswegs, wie sie
hofften, verborgen und gedeckt waren? Sie wurden zurückgerufen in die
Welt, um die Verirrten auf den rechten Weg zu führen; und wer konnte es
besser als die in den Irrgängen des Lebens schon Eingeweihten! Sie
wurden berufen, den Unglücklichen beizustehen; und wer vermochte das
eher als sie, denen kein irdisches Unheil mehr begegnen konnte!“

„Du wählst eine sonderbare Bestimmung“, versetzte Charlotte. „Ich will
dir nicht widerstreben; es mag sein, wenn auch nur, wie ich hoffe, auf
kurze Zeit“.

„Wie sehr danke ich Ihnen“, sagte Ottilie, „daß Sie mir diesen Versuch,
diese Erfahrung gönnen wollen. Schmeichle ich mir nicht zu sehr, so
soll es mir glücken. An jenem Orte will ich mich erinnern, wie manche
Prüfungen ich ausgestanden und wie klein, wie nichtig sie waren gegen
die, die ich nachher erfahren mußte. Wie heiter werde ich die
Verlegenheiten der jungen Auschößlinge betrachten, bei ihren kindlichen
Schmerzen lächeln und sie mit leiser Hand aus allen kleinen Verirrungen
herausführen. Der Glückliche ist nicht geeignet, Glücklichen
vorzustehen; es liegt in der menschlichen Natur, immer mehr von sich
und von andern zu fordern, je mehr man empfangen hat. Nur der
Unglückliche, der sich erholt, weiß für sich und andere das Gefühl zu
nähren, daß auch ein mäßiges Gute mit Entzücken genossen werden soll“.

„Laß mich gegen deinen Vorsatz“, sagte Charlotte zuletzt nach einigem
Bedenken, „noch einen Einwurf anführen, der mir der wichtigste scheint.
Es ist nicht von dir, es ist von einem Dritten die Rede. Die
Gesinnungen des guten, vernünftigen, frommen Gehülfen sind dir bekannt;
auf dem Wege, den du gehst, wirst du ihm jeden Tag werter und
unentbehrlicher sein. Da er schon jetzt seinem Gefühl nach nicht gern
ohne dich leben mag, so wird er auch künftig, wenn er einmal deine
Mitwirkung gewohnt ist, ohne dich sein Geschäft nicht mehr verwalten
können. Du wirst ihm anfangs darin beistehen, um es ihm hernach zu
verleiden“.

„Das Geschick ist nicht sanft mit mir verfahren“, versetzte Ottilie,
„und wer mich liebt, hat vielleicht nicht viel Besseres zu erwarten. So
gut und verständig als der Freund ist, ebenso, hoffe ich, wird sich in
ihm auch die Empfindung eines reinen Verhältnisses zu mir entwickeln;
er wird in mir eine geweihte Person erblicken, die nur dadurch ein
ungeheures Übel für sich und andre vielleicht aufzuwiegen vermag, wenn
sie sich dem Heiligen widmet, das, uns unsichtbar umgebend, allein
gegen die ungeheuren zudringenden Mächte beschirmen kann“.

Charlotte nahm alles, was das liebe Kind so herzlich geäußert, zur
stillen Überlegung. Sie hatte verschiedentlich, obgleich auf das
leiseste, angeforscht, ob nicht eine Annäherung Ottiliens zu Eduard
denkbar sei; aber auch nur die leiseste Erwähnung, die mindeste
Hoffnung, der kleinste Verdacht schien Ottilien aufs tiefste zu rühren,
ja sie sprach sich einst, da sie es nicht umgehen konnte, hierüber ganz
deutlich aus.

„Wenn dein Entschluß“, entgegnete ihr Charlotte, „Eduarden zu entsagen,
so fest und unveränderlich ist, so hüte dich nur vor der Gefahr des
Wiedersehens. In der Entfernung von dem geliebten Gegenstande scheinen
wir, je lebhafter unsere Neigung ist, desto mehr Herr von uns selbst zu
werden, indem wir die ganze Gewalt der Leidenschaft, wie sie sich nach
außen erstreckte, nach innen wenden; aber wie bald, wie geschwind sind
wir aus diesem Irrtum gerissen, wenn dasjenige, was wir entbehren zu
können glaubten, auf einmal wieder als unentbehrlich vor unsern Augen
steht. Tue jetzt, was du deinen Zuständen am gemäßesten hältst; prüfe
dich, ja verändre lieber deinen gegenwärtigen Entschluß: aber aus dir
selbst, aus freiem, wollendem Herzen. Laß dich nicht zufällig, nicht
durch Überraschung in die vorigen Verhältnisse wieder hineinziehen;
dann gibt es erst einen Zwiespalt im Gemüt, der unerträglich ist. Wie
gesagt, ehe du diesen Schritt tust, ehe du dich von mir entfernst und
ein neues Leben anfängst, das dich wer weiß auf welche Wege leitet, so
bedenke noch einmal, ob du denn wirklich für alle Zukunft Eduarden
entsagen kannst. Hast du dich aber hierzu bestimmt, so schließen wir
einen Bund, daß du dich mit ihm nicht einlassen willst, selbst nicht in
eine Unterredung, wenn er dich aufsuchen, wenn er sich zu dir drängen
sollte“. Ottilie besann sich nicht einen Augenblick, sie gab Charlotten
das Wort, das sie sich schon selbst gegeben hatte.

Nun aber schwebte Charlotten immer noch jene Drohung Eduards vor der
Seele, daß er Ottilien nur so lange entsagen könne, als sie sich von
Charlotten nicht trennte. Es hatten sich zwar seit der Zeit die
Umstände so verändert, es war so mancherlei vorgefallen, daß jenes vom
Augenblick ihm abgedrungene Wort gegen die folgenden Ereignisse für
aufgehoben zu achten war; dennoch wollte sie auch im entferntesten
Sinne weder etwas wagen noch etwas vornehmen, das ihn verletzen könnte,
und so sollte Mittler in diesem Falle Eduards Gesinnungen erforschen.

Mittler hatte seit dem Tode des Kindes Charlotten öfters, obgleich nur
auf Augenblicke, besucht. Dieser Unfall, der ihm die Wiedervereinigung
beider Gatten höchst unwahrscheinlich machte, wirkte gewaltsam auf ihn;
aber immer nach seiner Sinnesweise hoffend und strebend, freute er sich
nun im stillen über den Entschluß Ottiliens. Er vertraute der
lindernden, vorüberziehenden Zeit, dachte noch immer die beiden Gatten
zusammenzuhalten und sah diese leidenschaftlichen Bewegungen nur als
Prüfungen ehelicher Liebe und Treue an.

Charlotte hatte gleich anfangs den Major von Ottiliens erster Erklärung
schriftlich unterrichtet, ihn auf das inständigste gebeten, Eduarden
dahin zu vermögen, daß keine weiteren Schritte geschähen, daß man sich
ruhig verhalte, daß man abwarte, ob das Gemüt des schönen Kindes sich
wieder herstelle. Auch von den spätern Ereignissen und Gesinnungen
hatte sie das Nötige mitgeteilt, und nun war freilich Mittlern die
schwierige Aufgabe übertragen, auf eine Veränderung des Zustandes
Eduarden vorzubereiten. Mittler aber, wohl wissend, daß man das
Geschehene sich eher gefallen läßt, als daß man in ein noch zu
Geschehendes einwilligt, überredete Charlotten, es sei das beste,
Ottilien gleich nach der Pension zu schicken.

Deshalb wurden, sobald er weg war, Anstalten zur Reise gemacht. Ottilie
packte zusammen, aber Charlotte sah wohl, daß sie weder das schöne
Köfferchen noch irgend etwas daraus mitzunehmen sich anschickte. Die
Freundin schwieg und ließ das schweigende Kind gewähren. Der Tag der
Abreise kam herbei; Charlottens Wagen sollte Ottilien den ersten Tag
bis in ein bekanntes Nachtquartier, den zweiten bis in die Pension
bringen; Nanny sollte sie begleiten und ihre Dienerin bleiben. Das
leidenschaftliche Mädchen hatte sich gleich nach dem Tode des Kindes
wieder an Ottilien zurückgefunden und hing nun an ihr wie sonst durch
Natur und Neigung, ja sie schien durch unterhaltende Redseligkeit das
bisher Versäumte wieder nachbringen und sich ihrer geliebten Herrin
völlig widmen zu wollen. Ganz außer sich war sie nun über das Glück,
mitzureisen, fremde Gegenden zu sehen, da sie noch niemals außer ihrem
Geburtsort gewesen, und rannte vom Schlosse ins Dorf, zu ihren Eltern,
Verwandten, um ihr Glück zu verkündigen und Abschied zu nehmen.
Unglücklicherweise traf sie dabei in die Zimmer der Maserkranken und
empfand sogleich die Folgen der Ansteckung. Man wollte die Reise nicht
aufschieben; Ottilie drang selbst darauf; sie hatte den Weg schon
gemacht, sie kannte die Wirtleute, bei denen sie einkehren sollte; der
Kutscher vom Schlosse führte sie; es war nichts zu besorgen.

Charlotte widersetzte sich nicht; auch sie eilte schon in Gedanken aus
diesen Umgebungen weg, nur wollte sie noch die Zimmer, die Ottilie im
Schloß bewohnt hatte, wieder für Eduarden einrichten, gerade so wie vor
der Ankunft des Hauptmanns gewesen. Die Hoffnung, ein altes Glück
wiederherzustellen, flammt immer einmal wieder in dem Menschen auf, und
Charlotte war zu solchen Hoffnungen abermals berechtigt, ja genötigt.



Sechzehntes Kapitel


Als Mittler gekommen war, sich mit Eduarden über die Sache zu
unterhalten, fand er ihn allein, den Kopf in die rechte Hand gelehnt,
den Arm auf den Tisch gestemmt. Er schien sehr zu leiden. „Plagt Ihr
Kopfweh Sie wieder?“ fragte Mittler. „Es plagt mich“, versetzte jener;
„und doch kann ich es nicht hassen, denn es erinnert mich an Ottilien.
Vielleicht leidet auch sie jetzt, denk ich, auf ihren linken Arm
gestützt, und leidet wohl mehr als ich. Und warum soll ich es nicht
tragen wie sie? Diese Schmerzen sind mir heilsam, sind mir, ich kann
beinah sagen, wünschenswert; denn nur mächtiger, deutlicher, lebhafter
schwebt mir das Bild ihrer Geduld, von allen ihren übrigen Vorzügen
begleitet, vor der Seele, nur im Leiden empfinden wir recht vollkommen
alle die großen Eigenschaften, die nötig sind, um es zu ertragen“.

Als Mittler den Freund in diesem Grade resigniert fand, hielt er mit
seinem Anbringen nicht zurück, das er jedoch stufenweise, wie der
Gedanke bei den Frauen entsprungen, wie er nach und nach zum Vorsatz
gereift war, historisch vortrug. Eduard äußerte sich kaum dagegen. Aus
dem wenigen, was er sagte, schien hervorzugehen, daß er jenen alles
überlasse; sein gegenwärtiger Schmerz schien ihn gegen alles
gleichgültig gemacht zu haben.

Kaum war er allein, so stand er auf und ging in dem Zimmer hin und
wider. Er fühlte seinen Schmerz nicht mehr, er war ganz außer sich
beschäftigt. Schon unter Mittlers Erzählung hatte die Einbildungskraft
des Liebenden sich lebhaft ergangen. Er sah Ottilien allein oder so gut
als allein auf wohlbekanntem Wege, in einem gewohnten Wirtshause,
dessen Zimmer er so oft betreten; er dachte, er überlegte, oder
vielmehr er dachte, er überlegte nicht; er wünschte, er wollte nur. Er
mußte sie sehn, sie sprechen. Wozu, warum, was daraus entstehen sollte,
davon konnte die Rede nicht sein. Er widerstand nicht, er mußte.

Der Kammerdiener ward ins Vertrauen gezogen und erforschte sogleich Tag
und Stunde, wann Ottilie reisen würde. Der Morgen brach an; Eduard
säumte nicht, unbegleitet sich zu Pferde dahin zu begeben, wo Ottilie
übernachten sollte. Er kam nur allzuzeitig dort an; die überraschte
Wirtin empfing ihn mit Freuden; sie war ihm ein großes Familienglück
schuldig geworden. Er hatte ihrem Sohn, der als Soldat sich sehr brav
gehalten, ein Ehrenzeichen verschafft, indem er dessen Tat, wobei er
allein gegenwärtig gewesen, heraushob, mit Eifer bis vor den Feldherrn
brachte und die Hindernisse einiger Mißwollenden Überwand. Sie wußte
nicht, was sie ihm alles zuliebe tun sollte. Sie räumte schnell in
ihrer Putzstube, die freilich auch zugleich Garderobe und Vorratskammer
war, möglichst zusammen; allein er kündigte ihr die Ankunft eines
Frauenzimmers an, die hier hereinziehen sollte, und ließ für sich eine
Kammer hinten auf dem Gange notdürftig einrichten. Der Wirtin erschien
die Sache geheimnisvoll, und es war ihr angenehm, ihrem Gönner, der
sich dabei sehr interessiert und tätig zeigte, etwas Gefälliges zu
erweisen. Und er, mit welcher Empfindung brachte er die lange, lange
Zeit bis zum Abend hin! Er betrachtete das Zimmer ringsumher, in dem er
sie sehen sollte; es schien ihm in seiner ganzen häuslichen Seltsamkeit
ein himmlischer Aufenthalt. Was dachte er sich nicht alles aus, ob er
Ottilien überraschen, ob er sie vorbereiten sollte! Endlich gewann die
letztere Meinung Oberhand; er setzte sich hin und schrieb. Dies Blatt
sollte sie empfangen.

Eduard an Ottilien

„Indem du diesen Brief liesest, Geliebteste, bin ich in deiner Nähe. Du
mußt nicht erschrecken, dich nicht entsetzen; du hast von mir nichts zu
befürchten. Ich werde mich nicht zu dir drängen. Du siehst mich nicht
eher, als du es erlaubst.

Bedenke vorher deine Lage, die meinige. Wie sehr danke ich dir, daß du
keinen entscheidenden Schritt zu tun vorhast; aber bedeutend genug ist
er. Tu ihn nicht! Hier, auf einer Art von Scheideweg, überlege
nochmals: kannst du mein sein, willst du mein sein? O du erzeigst uns
allen eine große Wohltat und mir eine überschwengliche.

Laß mich dich wiedersehen, dich mit Freuden wiedersehen. Laß mich die
schöne Frage mündlich tun und beantworte sie mir mit deinem schönen
Selbst. An meine Brust, Ottilie! Hieher, wo du manchmal geruht hast und
wo du immer hingehörst!“

Indem er schrieb, ergriff ihn das Gefühl, sein Höchstersehntes nahe
sich, es werde nun gleich gegenwärtig sein. Zu dieser Türe wird sie
hereintreten, diesen Brief wird sie lesen, wirklich wird sie wie sonst
vor mir dastehen, deren Erscheinung ich mir so oft herbeisehnte. Wird
sie noch dieselbe sein? Hat sich ihre Gestalt, haben sich ihre
Gesinnungen verändert? Er hielt die Feder noch in der Hand, er wollte
schreiben, wie er dachte; aber der Wagen rollte in den Hof. Mit
flüchtiger Feder setzte er noch hinzu:“ ich höre dich kommen. Auf einen
Augenblick leb wohl!“

Er faltete den Brief, überschrieb ihn; zum Siegeln war es zu spät. Er
sprang in die Kammer, durch die er nachher auf den Gang zu gelangen
wußte, und augenblicks fiel ihm ein, daß er die Uhr mit dem Petschaft
noch auf dem Tisch gelassen. Sie sollte diese nicht zuerst sehen; er
sprang zurück und holte sie glücklich weg. Vom Vorsaal her vernahm er
schon die Wirtin, die auf das Zimmer losging, um es dem Gast
anzuweisen. Er eilte gegen die Kammertür, aber sie war zugefahren. Den
Schlüssel hatte er beim Hineinspringen heruntergeworfen, der lag
inwendig; das Schloß war zugeschnappt, und er stund gebannt. Heftig
drängte er an der Türe; sie gab nicht nach. O wie hätte er gewünscht,
als ein Geist durch die Spalten zu schlüpfen! Vergebens! Er verbarg
sein Gesicht an den Türpfosten. Ottilie trat herein, die Wirtin, als
sie ihn erblickte, zurück. Auch Ottilien konnte er nicht einen
Augenblick verborgen bleiben. Er wendete sich gegen sie, und so standen
die Liebenden abermals auf die seltsamste Weise gegeneinander. Sie sah
ihn ruhig und ernsthaft an, ohne vor- oder zurückzugehen, und als er
eine Bewegung machte, sich ihr zu nähern, trat sie einige Schritte
zurück bis an den Tisch. Auch er trat wieder zurück. „Ottilie“, rief er
aus, „laß mich das furchtbare Schweigen brechen! Sind wir nur Schatten,
die einander gegenüberstehen? Aber vor allen Dingen höre! Es ist ein
Zufall, daß du mich gleich jetzt hier findest. Neben dir liegt ein
Brief, der dich vorbereiten sollte. Lies, ich bitte dich, lies ihn! Und
dann beschließe, was du kannst“.

Sie blickte herab auf den Brief, und nach einigem Besinnen nahm sie ihn
auf, erbrach und las ihn. Ohne die Miene zu verändern, hatte sie ihn
gelesen, und so legte sie ihn leise weg; dann drückte sie die flachen,
in die Höhe gehobenen Hände zusammen, führte sie gegen die Brust, indem
sie sich nur wenig vorwärts neigte, und sah den dringend Fordernden mit
einem solchen Blick an, daß er von allem abzustehen genötigt war, was
er verlangen oder wünschen mochte. Diese Bewegung zerriß ihm das Herz.
Er konnte den Anblick, er konnte die Stellung Ottiliens nicht ertragen.
Es sah völlig aus, als würde sie in die Kniee sinken, wenn er beharrte.
Er eilte verzweifelnd zur Tür hinaus und schickte die Wirtin zu der
Einsamen.

Er ging auf dem Vorsaal auf und ab. Es war Nacht geworden, im Zimmer
blieb es stille. Endlich trat die Wirtin heraus und zog den Schlüssel
ab. Die gute Frau war gerührt, war verlegen, sie wußte nicht, was sie
tun sollte. Zuletzt im Weggehen bot sie den Schlüssel Eduarden an, der
ihn ablehnte. Sie ließ das Licht stehen und entfernte sich.

Eduard im tiefsten Kummer warf sich auf Ottiliens Schwelle, die er mit
seinen Tränen benetzte. Jammervoller brachten kaum jemals in solcher
Nähe Liebende eine Nacht zu.

Der Tag brach an; der Kutscher trieb, die Wirtin schloß auf und trat in
das Zimmer. Sie fand Ottilien angekleidet eingeschlafen, sie ging
zurück und winkte Eduarden mit einem teilnehmenden Lächeln. Beide
traten vor die Schlafende; aber auch diesen Anblick vermochte Eduard
nicht auszuhalten. Die Wirtin wagte nicht, das ruhende Kind zu wecken,
sie setzte sich gegenüber. Endlich schlug Ottilie die schönen Augen auf
und richtete sich auf ihre Füße. Sie lehnt das Frühstück ab, und nun
tritt Eduard vor sie. Er bittet sie inständig, nur ein Wort zu reden,
ihren Willen zu erklären. Er wolle allen ihren Willen, schwört er; aber
sie schweigt. Nochmals fragt er sie liebevoll und dringend, ob sie ihm
angehören wolle. Wie lieblich bewegt sie mit niedergeschlagenen Augen
ihr Haupt zu einem sanften Nein! Er fragt, ob sie nach der Pension
wolle. Gleichgültig verneint sie das. Aber als er fragt, ob er sie zu
Charlotten zurückführen dürfe, bejaht sies mit einem getrosten Neigen
des Hauptes. Er eilt ans Fenster, dem Kutscher Befehle zu geben; aber
hinter ihm weg ist sie wie der Blitz zur Stube hinaus, die Treppe hinab
in dem Wagen. Der Kutscher nimmt den Weg nach dem Schlosse zurück;
Eduard folgt zu Pferde in einiger Entfernung.



Siebzehntes Kapitel

Wie höchst überrascht war Charlotte, als sie Ottilien vorfahren und
Eduarden zu Pferde sogleich in den Schloßhof hereinsprengen sah! Sie
eilte bis zur Türschwelle. Ottilie steigt aus und nähert sich mit
Eduarden. Mit Eifer und Gewalt faßt sie die Hände beider Ehegatten,
drückt sie zusammen und eilt auf ihr Zimmer. Eduard wirft sich
Charlotten um den Hals und zerfließt in Tränen; er kann sich nicht
erklären, bittet, Geduld mit ihm zu haben, Ottilien beizustehen, ihr zu
helfen. Charlotte eilt auf Ottiliens Zimmer, und ihr schaudert, da sie
hineintritt; es war schon ganz ausgeräumt, nur die leeren Wände standen
da. Es erschien so weitläufig als unerfreulich. Man hatte alles
weggetragen, nur das Köfferchen, unschlüssig, wo man es hinstellen
sollte, in der Mitte des Zimmers stehengelassen. Ottilie lag auf dem
Boden, Arm und Haupt über den Koffer gestreckt. Charlotte bemüht sich
um sie, fragt, was vorgegangen, und erhält keine Antwort.

Sie läßt ihr Mädchen, das mit Erquickungen kommt, bei Ottilien und eilt
zu Eduarden. Sie findet ihn im Saal; auch er belehrt sie nicht. Er
wirft sich vor ihr nieder, er badet ihre Hände in Tränen, er flieht auf
sein Zimmer, und als sie ihm nachfolgen will, begegnet ihr der
Kammerdiener, der sie aufklärt, soweit er vermag. Das Übrige denkt sie
sich zusammen und dann sogleich mit Entschlossenheit an das, was der
Augenblick fordert. Ottiliens Zimmer ist aufs baldigste wieder
eingerichtet. Eduard hat die seinigen angetroffen, bis auf das letzte
Papier, wie er sie verlassen.

Die dreie scheinen sich wieder gegeneinander zu finden, aber Ottilie
fährt fort zu schweigen, und Eduard vermag nichts, als seine Gattin um
Geduld zu bitten, die ihm selbst zu fehlen scheint. Charlotte sendet
Boten an Mittlern und an den Major. Jener war nicht anzutreffen, dieser
kommt. Gegen ihn schüttet Eduard sein Herz aus, ihm gesteht er jeden
kleinsten Umstand, und so erfährt Charlotte, was begegnet, was die Lage
so sonderbar verändert, was die Gemüter aufgeregt.

Sie spricht aufs liebevollste mit ihrem Gemahl. Sie weiß keine andere
Bitte zu tun als nur, daß man das Kind gegenwärtig nicht bestürmen
möge. Eduard fühlt den Wert, die Liebe, die Vernunft seiner Gattin;
aber seine Neigung beherrscht ihn ausschließlich. Charlotte macht ihm
Hoffnung, verspricht ihm, in die Scheidung zu willigen. Er traut nicht;
er ist so krank, daß ihn Hoffnung und Glaube abwechselnd verlassen; er
dringt in Charlotten, sie soll dem Major ihre Hand zusagen; eine Art
von wahnsinnigem Unmut hat ihn ergriffen. Charlotte, ihn zu
besänftigen, ihn zu erhalten, tut, was er fordert. Sie sagt dem Major
ihre Hand zu auf den Fall, daß Ottilie sich mit Eduarden verbinden
wolle, jedoch unter ausdrücklicher Bedingung, daß die beiden Männer für
den Augenblick zusammen eine Reise machen. Der Major hat für seinen Hof
ein auswärtiges Geschäft, und Eduard verspricht, ihn zu begleiten. Man
macht Anstalten, und man beruhigt sich einigermaßen, indem wenigstens
etwas geschieht.

Unterdessen kann man bemerken, daß Ottilie kaum Speise noch Trank zu
sich nimmt, indem sie immerfort bei ihrem Schweigen verharrt. Man redet
ihr zu, sie wird ängstlich; man unterläßt es. Denn haben wir nicht
meistenteils die Schwäche, daß wir jemanden auch zu seinem Besten nicht
gern quälen mögen? Charlotte sann alle Mittel durch, endlich geriet sie
auf den Gedanken, jenen Gehülfen aus der Pension kommen zu lassen, der
über Ottilien viel vermochte, der wegen ihres unvermuteten
Außenbleibens sich sehr freundlich geäußert, aber keine Antwort
erhalten hatte.

Man spricht, um Ottilien nicht zu überraschen, von diesem Vorsatz in
ihrer Gegenwart. Sie scheint nicht einzustimmen; sie bedenkt sich;
endlich scheint ein Entschluß in ihr zu reifen, sie eilt nach ihrem
Zimmer und sendet noch vor Abend an die Versammelten folgendes
Schreiben.

Ottilie den Freunden

„Warum soll ich ausdrücklich sagen, meine Geliebten, was sich von
selbst versteht? Ich bin aus meiner Bahn geschritten, und ich soll
nicht wieder hinein. Ein feindseliger Dämon, der Macht über mich
gewonnen, scheint mich von außen zu hindern, hätte ich mich auch mit
mir selbst wieder zur Einigkeit gefunden.

Ganz rein war mein Vorsatz, Eduarden zu entsagen, mich von ihm zu
entfernen. Ihm hofft ich nicht wieder zu begegnen. Es ist anders
geworden; er stand selbst gegen seinen eigenen Willen vor mir. Mein
Versprechen, mich mit ihm in keine Unterredung einzulassen, habe ich
vielleicht zu buchstäblich genommen und gedeutet. Nach Gefühl und
Gewissen des Augenblicks schwieg ich, verstummt ich vor dem Freunde,
und nun habe ich nichts mehr zu sagen. Ein strenges Ordensgelübde,
welches den, der es mit Überlegung eingeht, vielleicht unbequem
ängstiget, habe ich zufällig, vom Gefühl gedrungen, über mich genommen.
Laßt mich darin beharren, solange mir das Herz gebietet. Beruft keine
Mittelsperson! Dringt nicht in mich, daß ich reden, daß ich mehr Speise
und Trank genießen soll, als ich höchstens bedarf. Helft mir durch
Nachsicht und Geduld über diese Zeit hinweg. Ich bin jung, die Jugend
stellt sich unversehens wieder her. Duldet mich in eurer Gegenwart,
erfreut mich durch eure Liebe, belehrt mich durch eure Unterhaltung;
aber mein Innres überlaßt mir selbst!“

Die längst vorbereitete Abreise der Männer unterblieb, weil jenes
auswärtige Geschäft des Majors sich verzögerte. Wie erwünscht für
Eduard! Nun durch Ottiliens Blatt aufs neue angeregt, durch ihre
trostvollen, hoffnunggebenden Worte wieder ermutigt und zu standhaftem
Ausharren berechtigt, erklärte er auf einmal, er werde sich nicht
entfernen. „Wie töricht“, rief er aus, „das Unentbehrlichste,
Notwendigste vorsätzlich, voreilig wegzuwerfen, das, wenn uns auch der
Verlust bedroht, vielleicht noch zu erhalten wäre! Und was soll es
heißen? Doch nur, daß der Mensch ja scheine, wollen, wählen zu können.
So habe ich oft, beherrscht von solchem albernen Dünkel, Stunden, ja
Tage zu früh mich von Freunden losgerissen, um nur nicht von dem
letzten, unausweichlichen Termin entschieden gezwungen zu werden.
Diesmal aber will ich bleiben. Warum soll ich mich entfernen? Ist sie
nicht schon von mir entfernt? Es fällt mir nicht ein, ihre Hand zu
fassen, sie an mein Herz zu drücken; sogar darf ich es nicht denken, es
schaudert mir. Sie hat sich nicht von mir weg, sie hat sich über mich
weg gehoben“.

Und so blieb er, wie er wollte, wie er mußte. Aber auch dem Behagen
glich nichts, wenn er sich mit ihr zusammenfand. Und so war auch ihr
dieselbe Empfindung geblieben; auch sie konnte sich dieser seligen
Notwendigkeit nicht entziehen. Nach wie vor übten sie eine
unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft gegeneinander aus. Sie
wohnten unter Einem Dache; aber selbst ohne gerade aneinander zu
denken, mit andern Dingen beschäftigt, von der Gesellschaft hin und her
gezogen, näherten sie sich einander. Fanden sie sich in Einem Saale, so
dauerte es nicht lange, und sie standen, sie saßen nebeneinader. Nur
die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen, und
diese Nähe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner
Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen Zusammenseins.
Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im
bewußtlosen, vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der
Welt. Ja, hätte man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung
festgehalten, das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne
Vorsatz, zu ihm hinbewegt. Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen
Auflösung sie nur miteinander fanden.

Ottilie war durchaus heiter und gelassen, so daß man sich über sie
völlig beruhigen konnte. Sie entfernte sich wenig aus der Gesellschaft,
nur hatte sie es erlangt, allein zu speisen. Niemand als Nanny bediente
sie.

Was einem jeden Menschen gewöhnlich begegnet, wiederholt sich mehr, als
man glaubt, weil seine Natur hiezu die nächste Bestimmung gibt.
Charakter, Individualität, Neigung, Richtung, Örtlichkeit, Umgebungen
und Gewohnheiten bilden zusammen ein Ganzes, in welchem jeder Mensch
wie in einem Elemente, in einer Atmosphäre schwimmt, worin es ihm
allein bequem und behaglich ist. Und so finden wir die Menschen, über
deren Veränderlichkeit so viele Klage geführt wird, nach vielen Jahren
zu unserm Erstaunen unverändert und nach äußern und innern unendlichen
Anregungen unveränderlich.

So bewegte sich auch in dem täglichen Zusammenleben unserer Freunde
fast alles wieder in dem alten Gleise. Noch immer äußerte Ottilie
stillschweigend durch manche Gefälligkeit ihr zuvorkommendes Wesen, und
so jedes nach seiner Art. Auf diese Weise zeigte sich der häusliche
Zirkel als ein Scheinbild des vorigen Lebens, und der Wahn, als ob noch
alles beim alten sei, war verzeihlich.

Die herbstlichen Tage, an Länge jenen Frühlingstagen gleich, riefen die
Gesellschaft um eben die Stunde aus dem Freien ins Haus zurück. Der
Schmuck an Früchten und Blumen, der dieser Zeit eigen ist, ließ
glauben, als wenn es der Herbst jenes ersten Frühlings wäre; die
Zwischenzeit war ins Vergessen gefallen. Denn nun blühten die Blumen,
dergleichen man in jenen ersten Tagen auch gesäet hatte; nun reiften
Früchte an den Bäumen, die man damals blühen gesehen.

Der Major ging ab und zu; auch Mittler ließ sich öfter sehen. Die
Abendsitzungen waren meistens regelmäßig. Eduard las gewöhnlich,
lebhafter, gefühlvoller, besser, ja sogar heiterer, wenn man will, als
jemals. Es war, als wenn er, so gut durch Fröhlichkeit als durch
Gefühl, Ottiliens Erstarren wieder beleben, ihr Schweigen wieder
auflösen wollte. Er setzte sich wie vormals, daß sie ihm ins Buch sehen
konnte, ja er ward unruhig, zerstreut, wenn sie nicht hineinsah, wenn
er nicht gewiß war, daß sie seinen Worten mit ihren Augen folgte.

Jedes unerfreuliche, unbequeme Gefühl der mittleren Zeit war
ausgelöscht. Keines trug mehr dem andern etwas nach; jede Art von
Bitterkeit war verschwunden. Der Major begleitete mit der Violine das
Klavierspiel Charlottens, so wie Eduards Flöte mit Ottiliens Behandlung
des Saiteninstruments wieder wie vormals zusammentraf. So rückte man
dem Geburtstage Eduards näher, dessen Feier man vor einem Jahre nicht
erreicht hatte. Er sollte ohne Festlichkeit in stillem, freundlichem
Behagen diesmal gefeiert werden. So war man, halb stillschweigend halb
ausdrücklich, miteinander übereingekommen. Doch je näher diese Epoche
heranrückte, vermehrte sich das Feierliche in Ottiliens Wesen, das man
bisher mehr empfunden als bemerkt hatte. Sie schien im Garten oft die
Blumen zu mustern; sie hatte dem Gärtner angedeutet, die Sommergewächse
aller Art zu schonen, und sich besonders bei den Astern aufgehalten,
die gerade dieses Jahr in unmäßiger Menge blühten.



Achtzehntes Kapitel

Das Bedeutendste jedoch, was die Freunde mit stiller Aufmerksamkeit
beobachteten, war, daß Ottilie den Koffer zum erstenmal ausgepackt und
daraus verschiedenes gewählt und abgeschnitten hatte, was zu einem
einzigen, aber ganzen und vollen Anzug hinreichte. Als sie das Übrige
mit Beihülfe Nannys wieder einpacken wollte, konnte sie kaum damit
zustande kommen; der Raum war übervoll, obgleich schon ein Teil
herausgenommen war. Das junge habgierige Mädchen konnte sich nicht satt
sehen, besonders da sie auch für alle kleineren Stücke des Anzugs
gesorgt fand. Schuhe, Strümpfe, Strumpfbänder mit Devisen, Handschuhe
und so manches andere war noch übrig. Sie bat Ottilien, ihr nur etwas
davon zu schenken. Diese verweigerte es, zog aber sogleich die
Schublade einer Kommode heraus und ließ das Kind wählen, das hastig und
ungeschickt zugriff und mit der Beute gleich davonlief, um den übrigen
Hausgenossen ihr Glück zu verkünden und vorzuzeigen.

Zuletzt gelang es Ottilien, alles sorgfältig wieder einzuschichten; sie
öffnete hierauf ein verborgenes Fach, das im Deckel angebracht war.
Dort hatte sie kleine Zettelchen und Briefe Eduards, mancherlei
aufgetrocknete Blumenerinnerungen früherer Spaziergänge, eine Locke
ihres Geliebten und was sonst noch verborgen. Noch eins fügte sie
hinzu—es war das Porträt ihres Vaters—und verschloß das Ganze, worauf
sie den zarten Schlüssel an dem goldnen Kettchen wieder um den Hals an
ihre Brust hing.

Mancherlei Hoffnungen waren indes in dem Herzen der Freunde rege
geworden. Charlotte war überzeugt, Ottilie werde auf jenen Tag wieder
zu sprechen anfangen; denn sie hatte bisher eine heimliche
Geschäftigkeit bewiesen, eine Art von heiterer Selbstzufriedenheit, ein
Lächeln, wie es demjenigen auf dem Gesichte schwebt, der Geliebten
etwas Gutes und Erfreuliches verbirgt. Niemand wußte, daß Ottilie gar
manche Stunde in großer Schwachheit hinbrachte, aus der sie sich nur
für die Zeiten, wo sie erschien durch Geisteskraft emporhielt.

Mittler hatte sich diese Zeit öfters sehen lassen und war länger
geblieben als sonst gewöhnlich. Der hartnäckige Mann wußte nur zu wohl,
daß es einen gewissen Moment gibt, wo allein das Eisen zu schmieden
ist. Ottiliens Schweigen sowie ihre Weigerung legte er zu seinen
Gunsten aus. Es war bisher kein Schritt zu Scheidung der Gatten
geschehen; er hoffte das Schicksal des guten Mädchens auf irgendeine
andere günstige Weise zu bestimmen; er horchte, er gab nach, er gab zu
verstehen und führte sich nach seiner Weise klug genug auf.

Allein überwältigt war er stets, sobald er Anlaß fand, sein Räsonnement
über Materien zu äußern, denen er eine große Wichtigkeit beilegte. Er
lebte viel in sich, und wenn er mit andern war, so verhielt er sich
gewöhnlich nur handelnd gegen sie. Brach nun einmal unter Freunden
seine Rede los, wie wir schon öfter gesehen haben, so rollte sie ohne
Rücksicht fort, verletzte oder heilte, nutzte oder schadete, wie es
sich gerade fügen mochte.

Den Abend vor Eduards Geburtstage saßen Charlotte und der Major
Eduarden, der ausgeritten war, erwartend beisammen; Mittler ging im
Zimmer auf und ab; Ottilie war auf dem ihrigen geblieben, den morgenden
Schmuck auseinanderlegend und ihrem Mädchen manches andeutend, welches
sie vollkommen verstand und die stummen Anordnungen geschickt befolgte.

Mittler war gerade auf eine seiner Lieblingsmaterien gekommen. Er
pflegte gern zu behaupten, daß sowohl bei der Erziehung der Kinder als
bei der Leitung der Völker nichts ungeschickter und barbarischer sei
als Verbote, als verbietende Gesetze und Anordnungen. „Der Mensch ist
von Hause aus tätig“, sagte er; „und wenn man ihm zu gebieten versteht,
so fährt er gleich dahinter her, handelt und richtet aus. Ich für meine
Person mag lieber in meinem Kreise Fehler und Gebrechen so lange
dulden, bis ich die entgegengesetzte Tugend gebieten kann, als daß ich
den Fehler los würde und nichts Rechtes an seiner Stelle sähe. Der
Mensch tut recht gern das Gute, das Zweckmäßige, wenn er nur dazu
kommen kann; er tut es, damit er was zu tun hat, und sinnt darüber
nicht weiter nach als über alberne Streiche, die er aus Müßiggang und
langer Weile vornimmt.

Wie verdrießlich ist mirs oft, mit anzuhören, wie man die Zehn Gebote
in der Kinderlehre wiederholen läßt. Das vierte ist noch ein ganz
hübsches, vernünftiges, gebietendes Gebot. ‘Du sollst Vater und Mutter
ehren’. Wenn sich das die Kinder recht in den Sinn schreiben, so haben
sie den ganzen Tag daran auszuüben. Nun aber das fünfte, was soll man
dazu sagen? ‘Du sollst nicht töten’. Als wenn irgendein Mensch im
mindesten Lust hätte, den andern totzuschlagen! Man haßt einen, man
erzürnt sich, man übereilt sich, und in Gefolg von dem und manchem
andern kann es wohl kommen, daß man gelegentlich einen totschlägt. Aber
ist es nicht eine barbarische Anstalt, den Kindern Mord und Totschlag
zu verbieten? Wenn es hieße: ‘sorge für des andern Leben, entferne, was
ihm schädlich sein kann, rette ihn mit deiner eigenen Gefahr; wenn du
ihn beschädigst, denke, daß du dich selbst beschädigst’: das sind
Gebote, wie sie unter gebildeten, vernünftigen Völkern statthaben und
die man bei der Katechismuslehre nur kümmerlich in dem ‘was ist das?’
nachschleppt.

Und nun gar das sechste, das finde ich ganz abscheulich! Was? Die
Neugierde vorahnender Kinder auf gefährliche Mysterien reizen, ihre
Einbildungskraft zu wunderlichen Bildern und Vorstellungen aufregen,
die gerade das, was man entfernen will, mit Gewalt heranbringen! Weit
besser wäre es, daß dergleichen von einem heimlichen Gericht
willkürlich bestraft würde, als daß man vor Kirch und Gemeinde davon
plappern läßt“.

In dem Augenblick trat Ottilie herein. „Du sollst nicht ehebrechen“,
fuhr Mittler fort. „Wie grob, wie unanständig! Klänge es nicht ganz
anders, wenn es hieße: ‘du sollst Ehrfurcht haben vor der ehelichen
Verbildung; wo du Gatten siehst, die sich lieben, sollst du dich
darüber freuen und teil daran nehmen wie an dem Glück eines heitern
Tages. Sollte sich irgend in ihrem Verhältnis etwas trüben, so sollst
du suchen, es aufzuklären; du sollst suchen, sie zu begütigen, sie zu
besänftigen, ihnen ihre wechselseitigen Vorteile deutlich zu machen,
und mit schöner Uneigennützigkeit das Wohl der andern fördern, indem du
ihnen fühlbar machst, was für ein Glück aus jeder Pflicht und besonders
aus dieser entspringt, welche Mann und Weib unauflöslich verbindet?“

Charlotte saß wie auf Kohlen, und der Zustand war ihr um so
ängstlicher, als sie überzeugt war, daß Mittler nicht wußte, was und wo
ers sagte, und ehe sie ihn noch unterbrechen konnte, sah sie schon
Ottilien, deren Gestalt sich verwandelt hatte, aus dem Zimmer gehen.

„Sie erlassen uns wohl das siebente Gebot“, sagte Charlotte mit
erzwungenem Lächeln. „Alle die übrigen“, versetzte Mittler, „wenn ich
nur das rette, worauf die andern beruhen“.

Mit entsetzlichem Schrei hereinstürzend rief Nanny: „sie stirbt! Das
Fräulein stirbt! Kommen Sie! Kommen Sie!“

Als Ottilie nach ihrem Zimmer schwankend zurückgekommen war, lag der
morgende Schmuck auf mehreren Stühlen völlig ausgebreitet, und das
Mädchen, das betrachtend und bewundernd daran hin und her ging, rief
jubelnd aus: „sehen Sie nur, liebstes Fräulein, das ist ein
Brautschmuck, ganz Ihrer wert!“

Ottilie vernahm diese Worte und sank auf den Sofa. Nanny sieht ihre
Herrin erblassen, erstarren; sie läuft zu Charlotten; man kommt. Der
ärztliche Hausfreund eilt herbei; es scheint ihm nur eine Erschöpfung.
Er läßt etwas Kraftbrühe bringen; Ottilie weist sie mit Abscheu weg, ja
sie fällt fast in Zuckungen, als man die Tasse dem Munde nähert. Er
fragt mit Ernst und Hast, wie es ihm der Umstand eingab, was Ottilie
heute genossen habe. Das Mädchen stockt; er wiederholt seine Frage; das
Mädchen bekennt, Ottilie habe nichts genossen.

Nanny scheint ihm ängstlicher als billig. Er reißt sie in ein
Nebenzimmer, Charlotte folgt, das Mädchen wirft sich auf die Kniee, sie
gesteht, daß Ottilie schon lange so gut wie nichts genieße. Auf
Andringen Ottiliens habe sie die Speisen an ihrer Statt genossen;
verschwiegen habe sie es wegen bittender und drohender Gebärden ihrer
Gebieterin, und auch, setzte sie unschuldig hinzu, weil es ihr gar so
gut geschmeckt.

Der Major und Mittler kamen heran; sie fanden Charlotten tätig in
Gesellschaft des Arztes. Das bleiche himmlische Kind saß, sich selbst
bewußt, wie es schien, in der Ecke des Sofas. Man bittet sie, sich
niederzulegen; sie verweigerts, winkt aber, daß man das Köfferchen
herbeibringe. Sie setzt ihre Füße darauf und findet sich in einer halb
liegenden, bequemen Stellung. Sie scheint Abschied nehmen zu wollen,
ihre Gebärden drücken den Umstehenden die zarteste Anhänglichkeit aus,
Liebe, Dankbarkeit, Abbitte und das herzlichste Lebewohl.

Eduard, der vom Pferde steigt, vernimmt den Zustand, er stürzt in das
Zimmer, er wirft sich an ihre Seite nieder, faßt ihre Hand und
überschwemmt sie mit stummen Tränen. So bleibt er lange. Endlich ruft
er aus: „soll ich deine Stimme nicht wieder hören? Wirst du nicht mit
einem Wort für mich ins Leben zurückkehren? Gut, gut! Ich folge dir
hinüber; da werden wir mit andern Sprachen reden!“

Sie drückt ihm kräftig die Hand, sie blickt ihn lebevoll und liebevoll
an, und nach einem tiefen Atemzug, nach einer himmlischen, stummen
Bewegung der Lippen: „versprich mir zu leben!“ ruft sie aus, mit
holder, zärtlicher Anstrengung; doch gleich sinkt sie zurück. „Ich
versprech es!“ rief er ihr entgegen, doch rief er es ihr nur nach; sie
war schon abgeschieden.

Nach einer tränenvollen Nacht fiel die Sorge, die geliebten Reste zu
bestatten, Charlotten anheim. Der Major und Mittler standen ihr bei.
Eduards Zustand war zu bejammern. Wie er sich aus seiner Verzweiflung
nur hervorheben und einigermaßen besinnen konnte, bestand er darauf,
Ottilie sollte nicht aus dem Schlosse gebracht, sie sollte gewartet,
gepflegt, als eine Lebende behandelt werden; denn sie sei nicht tot,
sie könne nicht tot sein. Man tat ihm seinen Willen, insofern man
wenigstens das unterließ, was er verboten hatte. Er verlangte nicht,
sie zu sehen.

Noch ein anderer Schreck ergriff, noch eine andere Sorge beschäftigte
die Freunde. Nanny, von dem Arzt heftig gescholten, durch Drohungen zum
Bekenntnis genötigt und nach dem Bekenntnis mit Vorwürfen überhäuft,
war entflohen. Nach langem Suchen fand man sie wieder, sie schien außer
sich zu sein. Ihre Eltern nahmen sie zu sich. Die beste Begegnung
schien nicht anzuschlagen, man mußte sie einsperren, weil sie wieder zu
entfliehen drohte.

Stufenweise gelang es, Eduarden der heftigsten Verzweiflung zu
entreißen, aber nur zu seinem Unglück; denn es ward ihm deutlich, es
ward ihm gewiß, daß er das Glück seines Lebens für immer verloren habe.
Man wagte es ihm vorzustellen, daß Ottilie, in jener Kapelle
beigesetzt, noch immer unter den Lebendigen bleiben und einer
freundlichen, stillen Wohnung nicht entbehren würde. Es fiel schwer,
seine Einwilligung zu erhalten, und nur unter der Bedingung, daß sie im
offenen Sarge hinausgetragen und in dem Gewölbe allenfalls nur mit
einem Glasdeckel zugedeckt und eine immerbrennende Lampe gestiftet
werden sollte, ließ er sichs zuletzt gefallen und schien sich in alles
ergeben zu haben.

Man kleidete den holden Körper in jenen Schmuck, den sie sich selbst
vorbereitet hatte; man setzte ihr einen Kranz von Asterblumen auf das
Haupt, die wie traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten. Die Bahre, die
Kirche, die Kapelle zu schmücken, wurden alle Gärten ihres Schmucks
beraubt. Sie lagen verödet, als wenn bereits der Winter alle Freude aus
den Beeten weggetilgt hätte. Beim frühsten Morgen wurde sie im offnen
Sarge aus dem Schloß getragen, und die aufgehende Sonne rötete nochmals
das himmlische Gesicht. Die Begleitenden drängten sich um die Träger,
niemand wollte vorausgehn, niemand folgen, jedermann sie umgeben,
jedermann noch zum letztenmale ihre Gegenwart genießen. Knaben, Männer
und Frauen, keins blieb ungerührt. Untröstlich waren die Mädchen, die
ihren Verlust am unmittelbarsten empfanden.

Nanny fehlte. Man hatte sie zurückgehalten, oder vielmehr man hatte ihr
den Tag und die Stunde des Begräbnisses verheimlicht. Man bewachte sie
bei ihren Eltern in einer Kammer, die nach dem Garten ging. Als sie
aber die Glocken läuten hörte, ward sie nur allzubald inne, was
vorging, und da ihre Wächterin aus Neugierde, den Zug zu sehen, sie
verließ, entkam sie zum Fenster hinaus auf einen Gang und von da, weil
sie alle Türen verschlossen fand, auf den Oberboden.

Eben schwankte der Zug den reinlichen, mit Blättern bestreuten Weg
durchs Dorf hin. Nanny sah ihre Gebieterin deutlich unter sich,
deutlicher, vollständiger, schöner als alle, die dem Zuge folgten.
Überirdisch, wie auf Wolken oder Wogen getragen, schien sie ihrer
Dienerin zu winken, und diese, verworren, schwankend, taumelnd, stürzte
hinab.

Auseinander fuhr die Menge mit einem entsetzlichen Schrei nach allen
Seiten. Vom Drängen und Getümmel waren die Träger genötigt, die Bahre
niederzusetzen. Das Kind lag ganz nahe daran; es schien an allen
Gliedern zerschmettert. Man hob es auf; und zufällig oder aus
besonderer Fügung lehnte man es über die Leiche, ja es schien selbst
noch mit dem letzten Lebensrest seine geliebte Herrin erreichen zu
wollen. Kaum aber hatten ihre schlotternden Glieder Ottiliens Gewand,
ihre kraftlosen Finger Ottiliens gefaltete Hände berührt, als das
Mädchen aufsprang, Arme und Augen zuerst gen Himmel erhob, dann auf die
Kniee vor dem Sarge niederstürzte und andächtig entzückt zu der Herrin
hinaufstaunte.

Endlich sprang sie wie begeistert auf und rief mit heiliger Freude:
„ja, sie hat mir vergeben! Was mir kein Mensch, was ich mir selbst
nicht vergeben konnte, vergibt mir Gott durch ihren Blick, ihre
Gebärde, ihren Mund. Nun ruht sie wieder so still und sanft; aber ihr
habt gesehen, wie sie sich aufrichtete und mit entfalteten Händen mich
segnete, wie sie mich freundlich anblickte! Ihr habt es alle gehört,
ihr seid Zeugen, daß sie zu mir sagte: ‘dir ist vergeben!’ Ich bin nun
keine Mörderin mehr unter euch, sie hat mir verziehen, Gott hat mir
verziehen, und niemand kann mir mehr etwas anhaben“.

Umhergedrängt stand die Menge; sie waren erstaunt, sie horchten und
sahen hin und wider, und kaum wußte jemand, was er beginnen sollte.
„Tragt sie nun zur Ruhe!“ sagte das Mädchen; „sie hat das Ihrige getan
und gelitten und kann nicht mehr unter uns wohnen“. Die Bahre bewegte
sich weiter, Nanny folgte zuerst, und man gelangte zur Kirche, zur
Kapelle.

So stand nun der Sarg Ottiliens, zu ihren Häupten der Sarg des Kindes,
zu ihren Füßen das Köfferchen, in ein starkes eichenes Behältnis
eingeschlossen. Man hatte für eine Wächterin gesorgt, welche in der
ersten Zeit des Leichnams wahrnehmen sollte, der unter seiner Glasdecke
gar liebenswürdig dalag. Aber Nanny wollte sich dieses Amt nicht nehmen
lassen; sie wollte allein, ohne Gesellin bleiben und der zum erstenmal
angezündeten Lampe fleißig warten. Sie verlangte dies so eifrig und
hartnäckig, daß man ihr nachgab, um ein größeres Gemütsübel, das sich
befürchten ließ, zu verhüten.

Aber sie blieb nicht lange allein; denn gleich mit sinkender Nacht, als
das schwebende Licht, sein volles Recht ausübend, einen helleren Schein
verbreitete, öffnete sich die Türe, und es trat der Architekt in die
Kapelle, deren fromm verzierte Wände bei so mildem Schimmer
altertümlicher und ahnungsvoller, als er je hätte glauben können, ihm
entgegendrangen.

Nanny saß an der einen Seite des Sarges. Sie erkannte ihn gleich; aber
schweigend deutete sie auf die verblichene Herrin. Und so stand er auf
der andern Seite, in jugendlicher Kraft und Anmut, auf sich selbst
zurückgewiesen, starr, in sich gekehrt, mit niedergesenkten Armen,
gefalteten, mitleidig gerungenen Händen, Haupt und Blick nach der
Entseelten hingeneigt.

Schon einmal hatte er so vor Belisar gestanden. Unwillkürlich geriet er
jetzt in die gleiche Stellung; und wie natürlich war sie auch diesmal!
Auch hier war etwas unschätzbar Würdiges von seiner Höhe herabgestürzt;
und wenn dort Tapferkeit, Klugheit, Macht, Rang und Vermögen in einem
Manne als unwiederbringlich verloren bedauert wurden, wenn
Eigenschaften, die der Nation, dem Fürsten in entscheidenden Momenten
unentbehrlich sind, nicht geschätzt, vielmehr verworfen und ausgestoßen
worden, so waren hier soviel andere stille Tugenden, von der Natur erst
kurz aus ihren gehaltreichen Tiefen hervorgerufen, durch ihre
gleichgültige Hand schnell wieder ausgetilgt, seltene, schöne,
liebenswürdige Tugenden, deren friedliche Einwirkung die bedürftige
Welt zu jeder Zeit mit wonnevollem Genügen umfängt und mit
sehnsüchtiger Trauer vermißt.

Der Jüngling schwieg, auch das Mädchen eine Zeitlang; als sie ihm aber
die Tränen häufig aus dem Auge quellen sah, als er sich im Schmerz ganz
aufzulösen schien, sprach sie mit so viel Wahrheit und Kraft, mit so
viel Wohlwollen und Sicherheit ihm zu, daß er, über den Fluß ihrer Rede
erstaunt, sich zu fassen vermochte und seine schöne Freundin ihm in
einer höhern Region lebend und wirkend vorschwebte. Seine Tränen
trockneten, seine Schmerzen linderten sich, knieend nahm er von
Ottilien, mit einem herzlichen Händedruck von Nanny Abschied, und noch
in der Nacht ritt er vom Orte weg, ohne jemand weiter gesehen zu haben.

Der Wundarzt war die Nacht über ohne des Mädchens Wissen in der Kirche
geblieben und fand, als er sie des Morgens besuchte, sie heiter und
getrosten Mutes. Er war auf mancherlei Verirrungen gefaßt; er dachte
schon, sie werde ihm von nächtlichen Unterredungen mit Ottilien und von
andern solchen Erscheinungen sprechen, aber sie war natürlich, ruhig
und sich völlig selbstbewußt. Sie erinnerte sich vollkommen aller
früheren Zeiten, aller Zustände mit großer Genauigkeit, und nichts in
ihren Reden schritt aus dem gewöhnlichen Gange des Wahren und
Wirklichen heraus als nur die Begebenheit beim Leichenbegängnis, die
sie mit Freudigkeit oft wiederholte: wie Ottilie sich aufgerichtet, sie
gesegnet, ihr verziehen und sie dadurch für immer beruhigt habe.

Der fortdauernd schöne, mehr schlaf—als todähnliche Zustand Ottiliens
zog mehrere Menschen herbei. Die Bewohner und Anwohner wollten sie noch
sehen, und jeder mochte gern aus Nannys Munde das Unglaubliche hören;
manche, um darüber zu spotten, die meisten, um daran zu zweifeln, und
wenige, um sich glaubend dagegen zu verhalten.

Jedes Bedürfnis, dessen wirkliche Befriedigung versagt ist, nötigt zum
Glauben. Die vor den Augen aller Welt zerschmetterte Nanny war durch
Berührung des frommen Körpers wieder gesund geworden; warum sollte
nicht auch ein ähnliches Glück hier andern bereitet sein? Zärtliche
Mütter brachten zuerst heimlich ihre Kinder, die von irgendeinem Übel
behaftet waren, und sie glaubten eine plötzliche Besserung zu spüren.
Das Zutrauen vermehrte sich, und zuletzt war niemand so alt und so
schwach, der sich nicht an dieser Stelle eine Erquickung und
Erleichterung gesucht hätte. Der Zudrang wuchs, und man sah sich
genötigt, die Kapelle, ja außer den Stunden des Gottesdienstes die
Kirche zu verschließen.

Eduard wagte sich nicht wieder zu der Abgeschiedenen. Er lebte nur vor
sich hin, er schien keine Träne mehr zu haben, keines Schmerzes weiter
fähig zu sein. Seine Teilnahme an der Unterhaltung, sein Genuß von
Speis und Trank vermindert sich mit jedem Tage. Nur noch einige
Erquickung scheint er aus dem Glase zu schlürfen, das ihm freilich kein
wahrhafter Prophet gewesen. Er betrachtet noch immer gern die
verschlungenen Namenszüge, und sein ernstheiterer Blick dabei scheint
anzudeuten, daß er auch jetzt noch auf eine Vereinigung hoffe. Und wie
den Glücklichen jeder Nebenumstand zu begünstigen, jedes Ungefähr mit
emporzuheben scheint, so mögen sich auch gern die kleinsten Vorfälle
zur Kränkung, zum Verderben des Unglücklichen vereinigen. Denn eines
Tages, als Eduard das geliebte Glas zum Munde brachte, entfernte er es
mit Entsetzen wieder; es war dasselbe und nicht dasselbe; er vermißt
ein kleines Kennzeichen. Man dringt in den Kammerdiener, und dieser muß
gestehen, das echte Glas sei unlängst zerbrochen und ein gleiches, auch
aus Eduards Jugendzeit, untergeschoben worden. Eduard kann nicht
zürnen, sein Schicksal ist ausgesprochen durch die Tat; wie soll ihn
das Gleichnis rühren? Aber doch drückt es ihn tief. Der Trank scheint
ihm von nun an zu widerstehen; er scheint sich mit Vorsatz der Speise,
des Gesprächs zu enthalten.

Aber von Zeit zu Zeit überfällt ihn eine Unruhe. Er verlangt wieder
etwas zu genießen, er fängt wieder an zu sprechen. „Ach!“ sagte er
einmal zu dem Major, der ihm wenig von der Seite kam, „was bin ich
unglücklich, daß mein ganzes Bestreben nur immer eine Nachahmung, ein
falsches Bemühen bleibt! Was ihr Seligkeit gewesen, wird mir Pein; und
doch, um dieser Seligkeit willen bin ich genötigt, diese Pein zu
übernehmen. Ich muß ihr nach, auf diesem Wege nach; aber meine Natur
hält mich zurück und mein Versprechen. Es ist eine schreckliche
Aufgabe, das Unnachahmliche nachzuahmen. Ich fühle wohl, Bester, es
gehört Genie zu allem, auch zum Märtyrertum“.

Was sollen wir bei diesem hoffnungslosen Zustande der ehegattlichen,
freundschaftlichen, ärztlichen Bemühungen gedenken, in welchen sich
Eduards Angehörige eine Zeitlang hin und her wogten? Endlich fand man
ihn tot. Mittler machte zuerst diese traurige Entdeckung. Er berief den
Arzt und beobachtete, nach seiner gewöhnlichen Fassung, genau die
Umstände, in denen man den Verblichenen angetroffen hatte. Charlotte
stürzte herbei; ein Verdacht des Selbstmordes regte sich in ihr; sie
wollte sich, sie wollte die andern einer unverzeihlichen
Unvorsichtigkeit anklagen. Doch der Arzt aus natürlichen und Mittler
aus sittlichen Gründen wußten sie bald vom Gegenteil zu überzeugen.
Ganz deutlich war Eduard von seinem Ende überrascht worden. Er hatte,
was er bisher sorgfältig zu verbergen pflegte, das ihm von Ottilien
Übriggebliebene in einem stillen Augenblick vor sich aus einem
Kästchen, aus einer Brieftasche ausgebreitet: eine Locke, Blumen, in
glücklicher Stunde gepflückt, alle Blättchen, die sie ihm geschrieben,
von jenem ersten an, das ihm seine Gattin so zufällig ahnungsreich
übergeben hatte. Das alles konnte er nicht einer ungefähren Entdeckung
mit Willen preisgeben. Und so lag denn auch dieses vor kurzem zu
unendlicher Bewegung aufgeregte Herz in unstörbarer Ruhe; und wie er in
Gedanken an die Heilige eingeschlafen war, so konnte man wohl ihn selig
nennen. Charlotte gab ihm seinen Platz neben Ottilien und verordnete,
daß niemand weiter in diesem Gewölbe beigesetzt werde. Unter dieser
Bedingung machte sie für Kirche und Schule, für den Geistlichen und den
Schullehrer ansehnliche Stiftungen.

So ruhen die Liebenden nebeneinander. Friede schwebt über ihrer Stätte,
heitere, verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und
welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst
wieder zusammen erwachen.





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