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Title: Grundfragen der Soziologie
Author: Simmel, Georg
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Grundfragen der Soziologie" ***


transcription was produced from images generously made
available by Bayerische Staatsbibliothek / Bavarian State
Library.)



  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

    Der vorliegende Text wurde anhand der 1917 erschienenen Buchausgabe
    so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
    Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und
    heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen bleiben gegenüber
    dem Original unverändert; fremdsprachliche Passagen wurden nicht
    korrigiert.

    Besondere Schriftschnitte wurden in der vorliegenden Fassung mit
    den folgenden Sonderzeichen gekennzeichnet:

        fett:     =Gleichheitszeichen=
        gesperrt: +Pluszeichen+
        Antiqua:  ~Tilden~

  ####################################################################



                           Sammlung Göschen


                      Grundfragen der Soziologie

                     (Individuum und Gesellschaft)

                                  Von

                             Georg Simmel

                            [Illustration]

                         +Berlin und Leipzig+

           =G. J. Göschen’sche Verlagshandlung G. m. b. H.=

                                 1917



           +Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht,
                 von der Verlagshandlung vorbehalten.+


                   Druck von Georg Reimer in Berlin.



Inhaltsverzeichnis.


                                                                   Seite

    Erstes Kapitel. Das Gebiet der Soziologie                          5

    Zweites Kapitel. Das soziale und das individuelle Niveau
    (Beispiel der Allgemeinen Soziologie)                             34

    Drittes Kapitel. Die Geselligkeit (Beispiel der Reinen oder
    Formalen Soziologie)                                              50

    Viertes Kapitel. Individuum und Gesellschaft in
    Lebensanschauungen des 18. und 19. Jahrhunderts (Beispiel
    der Philosophischen Soziologie)                                   71



Erstes Kapitel.

Das Gebiet der Soziologie.


Die Aufgabe, über die Wissenschaft Soziologie Auskunft zu geben, findet
ihre erste Schwierigkeit darin, daß ihr Anspruch auf den Titel einer
Wissenschaft keineswegs unbestritten ist; und daß, wo ihr dieser selbst
zugestanden wird, über ihren Inhalt und ihre Ziele sich ein Chaos von
Meinungen ausbreitet, deren Widersprüche und Unklarheiten den Zweifel,
ob man es hier überhaupt mit einer wissenschaftlich berechtigten
Fragestellung zu tun hat, immer von neuem nähren. Nun wäre der Mangel
an einer unbestrittenen, grenzgesicherten Definition zu verschmerzen,
wenn wenigstens eine Summe einzelner Probleme vorläge, die, in andern
Wissenschaften nicht oder nicht erschöpfend behandelt, die Tatsache
oder den Begriff der „Gesellschaft“ als ein Element enthielten und
darin ihren gemeinsamen Berührungspunkt besäßen. Wären sie dann auch
in ihren sonstigen Inhalten, Richtungen, Lösungsarten so verschieden,
daß man sie nicht gut als einheitliche Wissenschaft behandeln
könnte, so würde doch der Begriff Soziologie ihnen eine vorläufige
Unterkunft gewähren, es stünde wenigstens äußerlich fest, wo man sie
zu suchen hätte -- wie etwa der Begriff Technik durchaus legitim für
einen ungeheuren Bezirk von Aufgaben gilt, ohne daß es Verständnis
und Lösung der einzelnen gerade viel förderte, daß ein gemeinsamer
Charakterzug ihr an diesem Eigennamen teilgibt. Allein selbst diese
schmale Verknüpfung mannigfaltigster Probleme, die immerhin eine in
tieferer Schicht aufzufindende Einheit verspräche, scheint an der
Problematik des einzig zusammenhaltenden Begriffes zu zersplittern, des
Begriffes Gesellschaft -- an der Problematik, mit der jene prinzipielle
Leugnung einer Soziologie überhaupt sich beweisen möchte. Und es ist
merkwürdigerweise einerseits eine Abschwächung, andrerseits eine
Übersteigerung dieses Begriffes, an die solche Beweise geknüpft wurden.
Alle Existenz, so hören wir, komme ausschließlich den Individuen,
ihren Beschaffenheiten und Erlebnissen zu, und „Gesellschaft“ sei eine
Abstraktion, unentbehrlich für praktische Zwecke, höchst nützlich
auch für eine vorläufige Zusammenfassung der Erscheinungen, aber kein
wirklicher +Gegenstand+ jenseits der Einzelwesen und der Vorgänge
an ihnen. Wenn ein jedes von diesen in seiner naturgesetzlichen und
historischen Bestimmtheit erforscht sei, so bliebe für eine davon
gesonderte Wissenschaft überhaupt kein reales Objekt mehr übrig. Ist
für diese Kritik die Gesellschaft sozusagen zu wenig, so ist sie für
eine andere gerade zu viel, um einen Wissenschaftsbezirk abzugrenzen.
Alles, was Menschen sind und tun, so heißt es nun andrerseits, geht
innerhalb der Gesellschaft, durch sie bestimmt und als ein Teil
ihres Lebens vor sich. Es gebe also überhaupt keine Wissenschaft von
menschlichen Dingen, die nicht Wissenschaft von der Gesellschaft sei.
An Stelle der künstlich gegeneinander isolierten Einzelwissenschaften
historischer, psychologischer, normativer Art habe also die
Gesellschaftswissenschaft zu treten und in ihrer Einheit zum Ausdruck
zu bringen, daß alle menschlichen Interessen, Inhalte und Vorgänge
durch die Vergesellschaftung zu konkreten Einheiten zusammengingen.
Ersichtlich aber nimmt diese Bestimmung, die der Soziologie alles geben
will, ihr ebensoviel fort wie die andere, die ihr nichts geben will.
Denn da Rechtswissenschaft und Philologie, die Wissenschaft von der
Politik und die von der Literatur, die Psychologie und die Theologie
und alle andern, die den Bezirk des Menschlichen unter sich aufgeteilt
haben, ihre Existenz fortsetzen werden, so ist nicht das geringste
dadurch gewonnen, daß man die Gesamtheit der Wissenschaften in einen
Topf wirft und diesem das neue Etikett: Soziologie -- aufklebt. Die
Gesellschaftswissenschaft befindet sich also, unterschieden von andern,
wohlgegründeten Wissenschaften, in der ungünstigen Lage, zunächst ihr
Recht auf Existenz überhaupt beweisen zu müssen -- freilich auch in der
günstigen, daß dieser Beweis über die sowieso nötige Aufklärung ihrer
Grundbegriffe und ihrer besonderen Fragestellung gegenüber der gegebnen
Wirklichkeit führt.

Es ist zunächst ein Irrtum über das Wesen der Wissenschaft, aus der
angeblich allein realen Existenz der „Individuen“ zu folgern, daß
jedes, auf deren Zusammenfassungen gehende Erkennen sich spekulative
Abstraktionen und Irrealitäten zum Objekt mache. Unser Denken faßt
vielmehr +allenthalben+ die Gegebenheiten zu Gebilden, als Gegenständen
der Wissenschaft, in einer Weise zusammen, die in dem unmittelbar
Wirklichen gar kein Gegenbild findet. Niemand scheut sich, von der
Entwicklung z. B. des gotischen Stiles zu sprechen, obgleich es
nirgends gotischen Stil als aufzeigbare Existenz gibt, sondern nur
einzelne Werke, in denen die +Stil+elemente doch nicht greifbar
gesondert neben den +individuellen+ Elementen liegen. Der gotische Stil
als einheitlicher Gegenstand historischer Erkenntnis ist ein aus den
Realitäten erst herausgewonnenes +geistiges+ Gebilde, aber selbst keine
unmittelbare Realität. Wir wollen unzählige Male gar nicht wissen, wie
individuelle Dinge sich im einzelnen verhalten, sondern wir formen aus
ihnen eine neue, kollektive Einheit, wie wir, nach dem gotischen Stil,
seinen Gesetzen, seiner Entwicklung fragend, nicht einen einzelnen Dom
oder Palast beschreiben, trotzdem wir den +Stoff+ jener jetzt erfragten
Einheit aus diesen Einzelheiten gewinnen. So fragen wir weiterhin etwa,
wie sich „die Griechen“ und „die Perser“ in der Schlacht bei Marathon
benommen haben. Hätte die Auffassung recht, die nur Individuen als
Wirklichkeiten anerkennt, so wäre die geschichtliche Erkenntnis dann
und erst dann an ihrem Ziele, wenn wir das Verhalten jedes einzelnen
Griechen und jedes einzelnen Persers kennten, somit seine ganze
Lebensgeschichte, aus der sein Verhalten in der Schlacht psychologisch
begreiflich wird. Allein selbst die Erfüllung dieses phantastischen
Anspruchs würde unserer Fragestellung nicht genügen. Denn deren
Gegenstand ist überhaupt nicht dieser und jener Einzelne, sondern: die
Griechen und die Perser -- offenbar ein ganz anderes Gebilde, durch
eine gewisse geistige Synthese zustande kommend, nicht aber durch
die Beobachtung der als einzelne betrachteten Individuen. Sicher ist
jedes von diesen durch eine von der jedes andern irgendwie abweichende
Entwicklung zu seinem Verhalten geführt worden, wahrscheinlich hat sich
keines wirklich genau so wie das andere benommen; und in keinem liegt
das mit dem andern Gleiche und das von ihm Abweichende in Sonderung
nebeneinander, sondern beides bildet die unzertrennliche Einheit des
persönlichen Lebens. Dennoch formen wir aus allen zusammen jene höheren
Einheiten: die Griechen und die Perser, und die kürzeste Besinnung
zeigt, daß wir fortwährend mit solchen Begriffen die individuellen
Existenzen übergreifen. Wollten wir, weil diese allein „Wirklichkeiten“
wären, all jene geistigen Neubildungen aus unserem Erkenntnisbezirk
ausschalten, so würde er seiner unbezweifeltsten und legitimiertesten
Inhalte verlustig gehen. Die eigensinnige Behauptung: es gäbe doch
nun einmal nur menschliche +Individuen+, und sie allein seien deshalb
die konkreten Gegenstände einer Wissenschaft, kann uns nicht hindern,
von der Geschichte des Katholizismus oder der Sozialdemokratie,
von Städten und Reichen, von der Frauenbewegung und der Lage des
Handwerks und tausend andern Gesamtereignissen und Kollektivgebilden
zu sprechen -- und nicht anders von der Gesellschaft überhaupt. So
ausgedrückt ist sie freilich ein abstrakter Begriff, aber jede der
unzähligen Ausgestaltungen und Gruppierungen, die er umfaßt, ist ein
erforschbares, erforschenswertes Objekt, das keineswegs aus den einzeln
aufgewiesenen individuellen Existenzen besteht.

Doch könnte dies noch immer eine Unvollkommenheit unseres Erkennens,
eine nur vorläufige Unvermeidlichkeit sein, die ihren prinzipiellen
Abschluß, erreichbar oder nicht, in dem Wissen um die Individuen,
als die endgültig konkreten Wesenheiten, suchen müßte. Allein, genau
angesehen, sind auch die Individuen keineswegs letzte Elemente, „Atome“
der menschlichen Welt. Die allerdings vielleicht unauflösbare Einheit,
die der Begriff Individuum bedeutet, ist überhaupt kein Gegenstand des
Erkennens, sondern nur des Erlebens; die Art, wie ein jeder sie an sich
und am Andern weiß, ist keiner sonstigen Art des Wissens vergleichlich.
Was wir wissenschaftlich am Menschen erkennen, sind einzelne Züge,
vielleicht nur je einmal vorhanden, vielleicht auch in gegenseitiger
Beeinflussung stehend, ein jeder aber relativ isolierte Betrachtung
und Herleitung fordernd. Diese Herleitung führt für einen jeden auf
unzählige Einflüsse der physischen, kulturellen, personalen Umwelt,
von überall her angesponnen, in unabsehliche Zeitweiten reichend. Nur
indem wir diese Elemente so herauslösen und begreifen und sie auf
immer einfachere, tiefer und weiter zurückliegende reduzieren, nähern
wir uns dem wirklich „Letzten“, d. h. im strengen Sinne Realen, das
aller höheren geistigen Zusammenfassung erst zugrunde liegen soll.
Denn für diese Betrachtungsweise „existieren“ die Farbenmoleküle,
die Buchstaben, die Wasserteilchen; aber das Gemälde, das Buch,
der Fluß sind nur Synthesen, als Einheiten bestehen sie nicht in
objektiver Realität, sondern nur in einem Bewußtsein, das sie sich
treffen läßt. Ersichtlich aber sind auch jene angeblichen Elemente
hochzusammengesetzte Gebilde. Und wenn nun wahrhafte Realität nur den
wahrhaft letzten Einheiten zukommt, nicht aber den Erscheinungen, in
denen diese Einheiten eine +Form+ finden, alle Form vielmehr, die immer
eine Verbindung ist, nur von einem verbindenden Subjekt hinzugefügt
wird, -- so liegt auf der Hand, daß die anzuerkennende Realität uns in
völlige Unfaßbarkeit entgleitet; und dann ist es ein ganz willkürlicher
Grenzstrich, der diese Zurückgliederung am „Individuum“ beendet,
da doch auch dieses der immer weiterstrebenden Analyse als eine
Zusammensetzung aus einzelnen Qualitäten und Schicksalen, Kräften und
historischen Hergeleitetheiten erscheinen muß, die im Verhältnis zu ihm
ebenso die elementaren Wirklichkeiten sind, wie die Individuen selber
im Verhältnis zur „Gesellschaft“.

Der angebliche Realismus also, der jene Kritik am Begriff der
Gesellschaft und demnach auch an dem der Soziologie übt, läßt gerade
alle erkennbare Realität verschwinden, weil er sie ins Unendliche
hinausrückt, im Ungreifbaren sucht. Tatsächlich muß das Erkennen
nach einem ganz andern Strukturprinzip begriffen werden, nach einem,
das dem gleichen äußeren Erscheinungskomplex eine ganze Anzahl
verschiedenartiger, aber gleichmäßig als definitiv und einheitlich
anzuerkennender Objekte des Erkennens entnimmt. Man wird dies am
besten mit dem Symbol der verschiedenen +Distanz+ von jenem Komplex
bezeichnen, in die sich der Geist stellt. Wenn wir einen räumlichen
Gegenstand in zwei Meter, in fünf, in zehn Meter Abstand vor uns
sehen, so gibt das jedesmal ein anderes Bild, jedesmal ein solches,
das in seiner bestimmten Art und nur in dieser „richtig“ sein kann,
und gerade innerhalb dieser auch Falschheiten Raum gewährt. Würde
z. B. ein ganz detailliert gesehener Ausschnitt eines Gemäldes, wie
ihn die größte Augennähe gibt, in diejenige Anschauung eingefügt, die
einer Entferntheit von ein paar Metern entspricht, so würde diese
letztere dadurch völlig verwirrt und gefälscht werden -- obgleich
man aus oberflächlicheren Begriffen heraus eben diese Detailschauung
für „wahrer“ als das Fernbild halten könnte. Allein auch die ganz
nahe Wahrnehmung hat noch irgendeine Distanz und deren untere Grenze
ist gar nicht festzulegen. Das von einem Abstand aus, welches er
auch sei, gewonnene Bild hat sein Recht für sich, es kann durch kein
von einem andern her entstehendes ersetzt oder korrigiert werden.
So nun sehen wir, an einen gewissen Umfang menschlicher Existenz
„nahe“ herantretend, jedes Individuum in seinem genauen Sich-Abheben
vom anderen; nehmen wir den Blickpunkt aber weiter, so verschwindet
das einzelne als solches, und es entsteht uns das Bild einer
„Gesellschaft“ mit eigenen Formen und Farben, mit der Möglichkeit, es
zu erkennen und zu verkennen, in keinem Fall aber geringer berechtigt
als jenes, in dem die Teile sich gegeneinander absetzen, oder ein
bloßes Präliminarstadium dieses. Der bestehende Unterschied ist nur
der zwischen verschiedenen Erkenntnisabsichten, denen verschiedene
Distanznahmen entsprechen.

Ja, man könnte das Recht der gesellschaftswissenschaftlichen
Betrachtung in seiner Unabhängigkeit davon, daß alles reale Geschehen
sich nur an Einzelwesen vollzieht, noch radikaler begründen. Es
ist nicht einmal wahr, daß mit der Erkenntnis der +individuellen+
Ereignisreihen die unmittelbare Wirklichkeit ergriffen wäre. Diese
Wirklichkeit nämlich ist zunächst als ein Komplex von Bildern
gegeben, als eine Oberfläche von kontinuierlich aneinandergesetzten
Erscheinungen. Wenn wir dieses allein wirklich primäre Dasein in
Schicksale von Individuen gliedern, die einfache Tatsächlichkeit der
Erscheinungen auf einzelne Träger zurückbeziehen und gleichsam in ihnen
als in Knotenpunkten sammeln, so ist auch dies eine nachträgliche
geistige +Formung+ des unmittelbar vorliegenden Wirklichen, die wir
nur aus fortwährender Gewohnheit wie ganz selbstverständlich und mit
der Natur der Dinge selbst gegeben vollziehen. Sie ist, wenn man will,
genau so subjektiv, aber auch, da sie ein gültiges Erkenntnisbild
ergibt, genau so objektiv, wie die Zusammenfassung des Gegebenen unter
der Kategorie der Gesellschaft. Nur die besonderen Zwecke des Erkennens
entscheiden, ob die unmittelbar erscheinende oder erlebte Realität auf
ein personales oder auf ein kollektives Subjekt hin befragt werden
soll -- beides sind gleichmäßig „Standpunkte“, die sich nicht wie
Wirklichkeit und Abstraktion zueinander verhalten, sondern die, als
Arten unserer Betrachtung, beide von der „Wirklichkeit“ abstehen --
von der Wirklichkeit, die als solche überhaupt nicht Wissenschaft
sein kann, sondern erst vermittels solcher Kategorien die Form der
Erkenntnis annimmt.

Noch aber ist von einem ganz andern Standpunkte her zuzugeben, daß
die menschliche Existenz nur an Individuen wirklich ist, ohne daß
die Gültigkeit des Gesellschaftsbegriffes darunter litte. Faßt man
diesen in seiner weitesten Allgemeinheit, so bedeutet er die seelische
Wechselwirkung zwischen Individuen. An dieser Bestimmung darf nicht
irre machen, daß gewisse Grenzerscheinungen sich ihr nicht ohne
weiteres fügen: wenn zwei Personen sich flüchtig anblicken oder sich
an einer Billettkasse gegenseitig drängen, so wird man sie darum noch
nicht vergesellschaftet nennen. Allein hier ist die Wechselwirkung
auch eine so oberflächliche und vorüberfliegende, daß man in +ihrem+
Maße auch von Vergesellschaftung reden könnte, bedenkend, daß solche
Wechselwirkungen nur häufiger und intensiver zu werden, sich mit
mehren, generell gleichen zu vereinen brauchen, um diese Bezeichnung zu
berechtigen. Es ist ein oberflächliches Haften an dem -- für die äußere
Praxis freilich ausreichenden -- Sprachgebrauch, wenn man die Benennung
als Gesellschaft nur der +dauernden+ Wechselbeziehung vorbehalten will,
nur derjenigen, die sich zu einem bezeichenbaren Einheitsgebilde
objektiviert hat: zu Staat und Familie, Zünften und Kirchen, Klassen
und Zweckverbänden usw. Außer diesen aber besteht eine unermeßliche
Zahl von kleineren, in den einzelnen Fällen geringfügig erscheinenden
Beziehungsformen und Wechselwirkungsarten zwischen den Menschen, die,
indem sie sich zwischen die umfassenden, sozusagen offiziellen sozialen
Formungen schieben, doch erst die Gesellschaft, wie wir sie kennen,
zustande bringen. Die Beschränkung auf jene gleicht der früheren
Wissenschaft vom inneren menschlichen Körper, die sich auf die großen,
festumschriebenen Organe: Herz, Leber, Lunge, Magen usw. beschränkte
und die unzähligen, populär nicht benannten oder nicht bekannten Gewebe
vernachlässigte, ohne die jene deutlicheren Organe niemals einen
lebendigen Leib ergeben würden. Aus den Gebilden der genannten Art, die
die herkömmlichen Gegenstände der Gesellschaftswissenschaft bilden,
ließe sich das in der Erfahrung vorliegende Leben der Gesellschaft
durchaus nicht zusammensetzen; ohne die Dazwischenwirkung unzähliger,
im einzelnen weniger umfänglicher Synthesen würde es in eine Vielzahl
unverbundener Systeme auseinanderbrechen. Fortwährend knüpft sich
und löst sich und knüpft sich von neuem die Vergesellschaftung unter
den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die Individuen
verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationen aufsteigt.
Daß die Menschen sich gegenseitig anblicken und daß sie aufeinander
eifersüchtig sind, daß sie sich Briefe schreiben oder miteinander zu
Mittag essen, daß sie sich ganz jenseits aller greifbaren Interessen
sympathisch oder antipathisch berühren, daß die Dankbarkeit der
altruistischen Leistung eine unzerreißbar bindende Weiterwirkung
bietet, daß einer den andern nach dem Wege fragt und daß sie sich
füreinander anziehen und schmücken -- all die tausend von Person zu
Person spielenden momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten,
vorüberfliegenden oder folgenreichen Beziehungen, aus denen diese
Beispiele ganz zufällig gewählt sind, knüpfen uns unaufhörlich
zusammen. Hier liegen die Wechselwirkungen zwischen den Elementen,
die die ganze Zähigkeit und Elastizität, die ganze Buntheit und
Einheitlichkeit dieses so deutlichen und so rätselhaften Lebens der
Gesellschaft tragen. Alle jene großen Systeme und überindividuellen
Organisationen, an die man bei dem Begriff von Gesellschaften zu
denken pflegt, sind nichts anderes als die Verfestigungen -- zu
dauernden Rahmen und selbständigen Gebilden -- von unmittelbaren,
zwischen Individuum und Individuum stündlich und lebenslang hin und her
gehenden Wechselwirkungen. Sie gewinnen damit freilich Eigenbestand
und Eigengesetzlichkeit, mit denen sie sich diesen gegenseitig sich
bestimmenden Lebendigkeiten auch gegenüber- und entgegenstellen
können. Aber Gesellschaft in ihrem fortwährend sich realisierenden
Leben bedeutet immer, daß die Einzelnen vermöge gegenseitig ausgeübter
Beeinflussung und Bestimmung verknüpft sind. Sie ist also eigentlich
etwas Funktionelles, etwas, was die Individuen tun und leiden, und
ihrem Grundcharakter nach sollte man nicht von Gesellschaft, sondern
von Vergesellschaftung sprechen. Gesellschaft ist dann nur der Name
für einen Umkreis von Individuen, die durch derartig sich auswirkende
Wechselbeziehungen aneinander gebunden sind und die man deshalb als
eine Einheit bezeichnet, gerade wie man ein System körperlicher Massen,
die sich in ihrem Verhalten durch ihre gegenseitigen Einwirkungen
vollständig bestimmen, als Einheit ansieht. Nun kann man sich dem
letzteren gegenüber darauf versteifen, nur die einzelnen materiellen
Stücke seien die echte „Realität“, ihre wechselseitig erregten
Bewegungen und Modifikationen seien als etwas nie Handgreifliches
gewissermaßen nur Realitäten zweiten Grades; sie hätten ihren Ort
eben nur in jenen Substanzstücken, die sogenannte Einheit sei nur die
Zusammenschau dieser stofflichen Sonderexistenzen, deren empfangene
und ausgeteilte Impulse und Formungen doch in einer jeden verblieben.
In demselben Sinne kann man freilich dabei bleiben, die eigentlichen
Realitäten seien doch immer nur die menschlichen Individuen. Gewonnen
wird dadurch nichts. Gesellschaft ist dann allerdings sozusagen keine
Substanz, nichts für sich Konkretes, sondern ein +Geschehen+, ist die
Funktion des Empfangens und Bewirkens von Schicksal und Gestaltung
des einen von seiten des andern. Nach dem Greifbaren tastend, fänden
wir nur Individuen, und zwischen ihnen gleichsam nur leeren Raum. Die
Folgen dieser Betrachtung werden uns später beschäftigen; aber wenn sie
die „Existenz“ in einem engeren Sinne auch wirklich nur den Individuen
übrig läßt, so muß sie doch auch das Geschehen, die Dynamik des Wirkens
und Leidens, mit der diese Individuen sich gegenseitig modifizieren,
als etwas „Wirkliches“ und Erforschbares stehen lassen.

+Jede+ Wissenschaft zieht aus der Totalität oder der erlebten
Unmittelbarkeit der Erscheinungen +eine+ Reihe oder +eine+ Seite
unter Führung je eines bestimmten Begriffes heraus, und nicht
weniger als alle andern handelt die Soziologie legitim, wenn sie
die individuellen Existenzen zerlegt und nach einem nur ihr eigenen
Begriff wieder neu zusammenfaßt, und also fragt: Was geschieht mit
den Menschen, nach welchen Regeln bewegen sie sich, nicht insofern
sie die Ganzheit ihrer erfaßbaren Einzelexistenzen entfalten, sondern
sofern sie vermöge ihrer Wechselwirkung Gruppen bilden und durch diese
Gruppenexistenz bestimmt werden? So darf sie die Geschichte der Ehe
behandeln, ohne das Zusammenleben einzelner Paare zu analysieren,
das Prinzip der Ämterorganisation, ohne einen Tag auf dem Bureau zu
schildern, die Gesetze und Resultate des Klassenkampfes ergründen,
ohne auf den Verlauf eines Streiks oder die Verhandlungen über einen
Lohntarif einzugehen. Gewiß sind die Gegenstände solcher Fragen durch
Abstraktionsprozesse zustande gekommen; aber damit unterscheiden
sie sich nicht von den Wissenschaften wie Logik oder theoretische
Nationalökonomie, die gleichfalls unter der Anleitung durch bestimmte
Begriffe -- dort des Erkennens, hier der Wirtschaft -- zusammenhängende
Gebilde aus der Wirklichkeit zustande bringen, und Gesetze und
Evolutionen an ihnen entdecken, während diese Gebilde als isolierte
Erfahrbarkeiten gar nicht bestehen.

Steht so die Soziologie auf einer Abstraktion aus der vollen
Wirklichkeit -- hier unter Führung des Begriffes Gesellschaft vollzogen
-- und ist dennoch der Vorwurf der Irrealität hinfällig, der von der
behaupteten alleinigen Realität der Individuen herkam, so schützt diese
Einsicht sie auch vor der Überspannung, die ich zuvor als eine nicht
geringere Gefährdung ihres Bestandes als einer Wissenschaft erwähnte.
Da der Mensch in jedem Augenblick seines Seins und Tuns durch die
Tatsache, daß er ein gesellschaftliches Wesen ist, bestimmt sei, so
schienen alle Wissenschaften vom Menschen sich in die Wissenschaft vom
gesellschaftlichen Leben zurückzuschmelzen: alle Gegenstände jener
Wissenschaften seien nur einzelne, besonders geformte Kanäle, durch
die das gesellschaftliche Leben, einziger Träger aller Kraft und alles
Sinnes, rinne. Ich zeigte, daß damit nichts anderes erlangt sei, als
ein neuer, gemeinschaftlicher Name für all die Erkenntnisse, die in
ihren besonderen Inhalten und Benennungen, Richtungen und Methoden
ganz ungestört und selbstgesetzlich weiterbestehen werden. Ist dies
also auch eine irrige Dehnung der Vorstellung von der Gesellschaft
und der Soziologie, so liegt ihr doch eine an sich bedeutsame und
folgenreiche Tatsache zugrunde. Die Einsicht: der Mensch sei in
seinem ganzen Wesen und allen Äußerungen dadurch bestimmt, daß er in
Wechselwirkung mit andern Menschen lebt -- muß allerdings zu einer
neuen +Betrachtungs+weise in allen sogenannten Geisteswissenschaften
führen.

Die großen Inhalte des geschichtlichen Lebens: die Sprache wie die
Religion, die Staatenbildung wie die materielle Kultur wußte man
noch im 18. Jahrhundert wesentlich nur auf die „Erfindung“ einzelner
Persönlichkeiten zurückzuführen, und wo Verstand und Interessen
des Einzelmenschen dazu nicht auszureichen schienen, blieb nur der
Appell an transzendente Mächte übrig -- zu denen übrigens das „Genie“
jener einzelnen Erfinder eine Mittelstufe bildete: denn mit dem
Geniebegriff drückte man eigentlich nur aus, daß die bekannten und
begreiflichen Kräfte des Individuums zu der Produktion der Erscheinung
nicht zulangten. So war die Sprache entweder die Erfindung Einzelner
oder ein göttliches Geschenk, die Religion -- als geschichtliches
Ereignis -- die Erfindung schlauer Priester oder göttlicher Wille, die
sittlichen Gesetze entweder von Heroen der Masse eingeprägt oder von
Gott verliehen, oder von der „Natur“ -- einer nicht weniger mystischen
Hypostasierung -- den Menschen mitgegeben. Aus dieser ungenügenden
Alternative hat der Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Produktion
erlöst. All jene Gebilde erzeugen sich in den Wechselbeziehungen der
Menschen, oder manchmal auch +sind+ sie derartige Wechselbeziehungen,
die also aus dem für sich betrachteten Individuum freilich nicht
herleitbar sind. Neben jene beiden Möglichkeiten ist eben nun
die dritte gestellt: die Produktion von Erscheinungen durch das
gesellschaftliche Leben, und zwar im zweifachen Sinne, durch das
Nebeneinander wechselwirkender Individuen, das in jedem erzeugt, was
doch aus ihm allein nicht erklärbar ist, und durch das Nacheinander der
Generationen, deren Vererbungen und Überlieferungen mit dem Eigenerwerb
des Einzelnen unlösbar verschmelzen, und es bewirken, daß der
gesellschaftliche Mensch, im Unterschied gegen alles untermenschliche
Leben, nicht nur Nachkomme, sondern Erbe ist. Durch das Bewußtwerden
der sozialen Produktionsart, die sich zwischen die rein individuelle
und die transzendente einschiebt, ist eine genetische Methode in
alle Geisteswissenschaften gekommen, ein neues Werkzeug zur Lösung
ihrer Probleme -- mögen diese den Staat oder die Kirchenorganisation,
die Sprache oder die sittliche Verfassung betreffen. Die Soziologie
ist nicht nur eine Wissenschaft mit eigenen, gegen alle andern
Wissenschaften arbeitsteilig abgegrenzten Objekten, sondern sie ist
eben auch eine +Methode+ der historischen und der Geisteswissenschaften
überhaupt geworden. Um sie auszunutzen, brauchen diese Wissenschaften
ihren Standort durchaus nicht zu verlassen, sie brauchen nicht, wie
jene phantastische Überspannung des Soziologiebegriffes forderte, zu
Teilen der Soziologie zu werden. Diese vielmehr akklimatisiert sich
jedem besonderen Forschungsgebiet, dem nationalökonomischen wie dem
kulturgeschichtlichen, dem ethischen wie dem theologischen. Damit aber
verhält sie sich nicht wesentlich anders als seinerzeit die Induktion,
die als neues Forschungsprinzip in alle möglichen Problemgruppen
eindrang und den darin feststehenden Aufgaben zu neuen Lösungen
verhalf. So wenig aber daraufhin Induktion eine besondere Wissenschaft
ist oder gar eine allbefassende, so wenig ist es, auf +diese+ Momente
hin, die Soziologie. Soweit sie sich darauf stützt, daß der Mensch als
Gesellschaftswesen verstanden werden muß, und daß die Gesellschaft der
Träger alles historischen Geschehens ist, enthält sie kein +Objekt+,
das nicht schon in einer der bestehenden Wissenschaften behandelt
würde, sondern nur einen neuen Weg für alle diese, eine Methode der
Wissenschaft, die gerade wegen ihrer Anwendbarkeit auf die Gesamtheit
der Probleme nicht eine Wissenschaft mit eignem Inhalt ist[1].

Und eben weil die Methode diese Allgemeinheit besitzt, bildet sie
ein gemeinsames Fundament für einzelne Problemgruppen, die zuvor
gewisser Aufklärungen entbehrten, die der einen nur von der andern
kommen können; der Gemeinsamkeit des Vergesellschaftetseins, das die
Kräfte der Individuen sich gegenseitig bestimmen läßt, entspricht
die Gemeinsamkeit der soziologischen Erkenntnisweise, vermöge deren
dem einen Problem eine Lösungs- oder Vertiefungsmöglichkeit mit
einem inhaltlich ganz heterogenen Erkenntnisgebiet zukommt. Ich
erwähne nur einige Beispiele, die von dem Allersingulärsten zu
dem Allerallgemeinsten aufführen. Der Kriminalist kann etwa über
das Wesen der sogenannten „Massenverbrechen“ mancherlei von einer
soziologischen Untersuchung über die Psychologie des Theaterpublikums
lernen. Denn hier ist der Gegenstand eines kollektiv-impulsiven
Verhaltens noch jederzeit genau feststellbar, und dieses verläuft in
der sozusagen abstrakten, genau umgrenzten Sphäre der Kunst; damit
wird -- sehr bedeutsam für jenes Schuldproblem -- die Bestimmbarkeit
des Einzelnen durch eine aktuell zusammenbefindliche Masse, das
Ausschalten der individuellen und der objektiven Werturteile durch
das „Mitgerissenwerden“ so rein experimentell und beweiskräftig
beobachtbar, wie kaum je sonst. -- Der Religionsforscher wird vielfach
geneigt sein, das Leben der religiösen Gemeinde, die Opferwilligkeit
innerhalb ihrer auf Grund der Hingebung an ein allen gemeinsames Ideal,
die Formung des gegenwärtigen Lebens durch die Hoffnung auf einen
vollkommenen, über das Leben der aktuellen Individuen hinausliegenden
Zustand -- er wird geneigt sein, dieses auf die Kraft des religiösen
Glaubensinhaltes zu schieben. Wenn ihm nun nahegebracht wird, daß
etwa eine sozialdemokratische Arbeiterschaft dieselben Züge des
gemeinsamen und des gegenseitigen Verhaltens ausbildet -- so kann
diese Analogie ihn einerseits lehren, daß das religiöse Verhalten
nicht ausschließlich an die religiösen Inhalte gebunden, sondern eine
allgemein menschliche Form ist, die sich nicht nur an transzendenten
Gegenständen, sondern an manchen andern Gefühlsveranlassungen ganz
ebenso realisiert. Andrerseits aber wird er das für ihn Wesentlichere
einsehen, daß auch das in sich geschlossene religiöse Leben Momente
enthält, die nicht spezifisch religiös, sondern sozial sind, bestimmte
Arten der gegenseitigen Gesinnung und Praxis, die freilich mit der
religiösen Stimmung organisch verwachsen, aber erst, indem sie
soziologisch herausanalysiert werden, erkennen lassen, was denn an
dem religiösen Verhalten als die rein religiösen -- und als solche
gegen alles Soziale gleichgültigen -- Elemente gelten dürfe. --
Endlich ein letztes Beispiel für die gegenseitige Befruchtung der
Problemgruppen durch das gemeinsame Anteilhaben ihrer Gegenstände
an dem menschlichen Vergesellschaftetsein. Der Historiker der
politischen oder der allgemeinen Kulturgeschichte ist jetzt vielfach
geneigt, die Konfigurationen z. B. der inneren Politik auf die
entsprechenden wirtschaftlichen Verfassungen und Vorgänge als auf ihre
zureichende Ursache zurückzuführen. Wird dies nun etwa auf den starken
Individualismus in den politischen Konstitutionen der italienischen
Frührenaissance angewandt, derart, daß diese aus der Befreiung des
+Wirtschafts+verkehrs von zünftigen und kirchenrechtlichen Fesseln
erklärt werden, so wird er einer Beobachtung des Kunsthistorikers eine
neue Wendung dieser Auffassung verdanken können. Der Kunsthistoriker
stellt schon am Anfang der hier fraglichen Epoche die ungeheure
Ausbreitung der Porträtbüsten und ihren naturalistisch-individuellen
Charakter fest und zeigt damit, wie die öffentliche Wertung ihren
Akzent von dem, was den Menschen gemeinsam ist und was deshalb leicht
in etwas abstraktere und ideellere Sphären rückt, auf das geschoben
hat, was dem +einzelnen+ zukommt, auf die Bedeutung der persönlichen
Kraft, auf das Übergewicht des Konkreten vor dem allgemeinen, καθ’ ὅλον
geltenden Gesetz. Dies legt den Gedanken nahe, daß jene wirtschaftliche
Wendung ihrerseits schon eine Äußerungsweise einer fundamentalen,
soziologischen sei, die ihre Ausgestaltung auch als eine bestimmte
Kunst und als eine bestimmte Politik gefunden hat, ohne daß eine
von diesen unmittelbar die andere verursachte. So verhelfen diese
soziologischen Analogien überhaupt vielleicht zu einer tieferen, den
historischen Materialismus überwindenden Auffassung: vielleicht sind
die Wandlungen der Geschichte, ihrer eigentlich wirksamen Schicht nach,
solche der soziologischen Formen: wie sich die Individuen und die
Gruppen zueinander verhalten, wie das Individuum zu seiner Gruppe, wie
die Wertbetonungen, die Akkumulierungen, die Prärogativen unter den
sozialen Elementen als solchen hin und her rücken -- das ist vielleicht
das eigentliche epochale Geschehen, und wenn die Wirtschaftsart alle
andern Kulturprovinzen nach sich zu bestimmen scheint, so ist die
Wahrheit dieses verlockenden Scheines die, daß die Wirtschaft selbst
durch soziologische Verschiebungen bestimmt ist, die von sich aus
ebenso alle andern kulturellen Gestaltungen bestimmen; daß auch die
Wirtschaftsform nur ein „Überbau“ über den Verhältnissen und Wandlungen
der rein soziologischen Struktur ist, die die letzte historische
Instanz bildet und alle andern Lebensinhalte freilich in einem gewissen
Parallelismus mit dem wirtschaftlichen gestalten muß. --

Von diesen Erwägungen aus öffnet sich, über den bloßen Begriff der
Methode hinaus, der Blick auf den ersten prinzipiellen Problemkreis
der Soziologie. Aber wenn er auch fast das ganze Feld menschlicher
Existenz umfaßt, so verliert er dadurch nicht den Charakter jener
immerhin einseitigen Abstraktion, den keine Wissenschaft abstreifen
kann. Denn so sozial bestimmt, gleichsam von Gesellschaftlichkeit
durchdrungen jeder Punkt der wirtschaftlichen und geistigen, der
politischen und rechtlichen, ja der religiösen und allgemein
kulturellen Sphäre sei, so verwebt sich doch diese Bestimmung an
einem jeden innerhalb des vollen Erlebens mit andern, die aus andern
Dimensionen stammen. Vor allem mit denen der reinen Sachlichkeit.
Es ist immer irgendein Sachgehalt, technischer oder dogmatischer,
intellektueller oder physiologischer Art, der die Entwicklung der
sozialen Kräfte trägt und der durch seinen eigenen Charakter, seine
Gesetze und seine Logik diese Entwicklung in bestimmten Richtungen und
Schranken hält. Jede gesellschaftliche Arbeit, die sich an irgendeiner
Materie vollzieht, muß sich deren Naturgesetzlichkeit fügen, jede
intellektuelle Leistung bindet sich, mit welchen Schwankungen auch
immer, an Denkgesetze und Verhalten von Objekten, jede Reihe von
Schöpfungen auf künstlerischem oder politischem, rechtlichem oder
medizinischem, philosophischem oder überhaupt erfinderischem Gebiet
hält eine gewisse Ordnung ein, die uns aus den sachlichen Verhältnissen
ihrer Inhalte -- Steigerung, Anknüpfung, Differenzierung, Kombination
usw. -- verständlich wird. Hier ganz beliebige Schritte zu tun,
beliebige Abstände zu überspringen, beliebige Synthesen zu vollziehen
vermag kein menschliches Wollen und Können, sondern dieses folgt
einer gewissen inneren Logik der Dinge selbst. So könnte man die
Kunstgeschichte als eine durchaus verständliche Entwicklung aufbauen,
indem man die Kunstwerke für sich allein und gänzlich anonym in ihrer
Zeitordnung und stilistischen Evolution vorführte, entsprechend die
Rechtsentwicklung als das Nacheinander der Institutionen und Gesetze,
die wissenschaftliche Produktion durch die bloße Aufreihung, eine
historische oder eine systematische, der in ihr gewonnenen Resultate
usw. Und hier ebenso, wie wenn man ein Lied auf seinen musikalischen
Wert, eine physikalische Theorie auf ihre Wahrheit, eine Maschine auf
ihre Zweckmäßigkeit hin ansieht, zeigt es sich, daß jeder menschliche
Lebensinhalt, auch wenn er nur innerhalb der Bedingtheit und durch
die Dynamik des gesellschaftlichen Lebens realisiert wird, eine von
diesem ganz unabhängige Betrachtungsweise gestattet. Innerhalb der
Reihe der Sachen selbst und gemessen an ihrer eigenen Idee haben sie
einen Sinn, ein Gesetz, ein Wertmaß, das jenseits des sozialen wie des
individuellen Lebens steht und eine eigene Feststellung, ein eigenes
Verständnis ermöglicht. Der vollen Wirklichkeit gegenüber ist freilich
auch dies eine Abstraktion, da kein Sachgehalt sich durch seine
eigene Logik verwirklicht, sondern es nur durch die geschichtlichen
und seelischen Kräfte vermag; was dasteht, ist eine dem Erkennen
unmittelbar gar nicht erfaßbare Einheit, und was wir Sachgehalt nennen,
ist eine Aufnahme von einer einseitigen Kategorie her.

Unter der Leitung einer entsprechenden erscheint die
Menschheitsgeschichte als Verhalten und Erzeugnis von +Individuen+.
Wie man das Kunstwerk auf seine rein artistische Bedeutung hin ansehen
und in die objektive Reihe der Kunsterzeugnisse überhaupt einstellen
kann, als wäre es „vom Himmel gefallen“ -- so mag man es auch aus der
Persönlichkeit und der Entwicklung, aus dem Erlebnis und den Tendenzen
seines Schöpfers heraus begreifen, als einen Pulsschlag oder ein
unmittelbares Ergebnis des individuellen Lebens, aus dessen Kontinuität
es sich, in dieser Richtung gesehen, überhaupt nicht herauslöst.
Gewisse Kulturtatsachen mögen sich dieser Blickeinstellung leichter
als andere bieten, vor allem die Kunst und alles, woran der Hauch des
Schöpfertums noch fühlbar ist; prinzipiell aber ist dies Getragensein
von dem tätigen und aufnehmenden, dem typischen oder einzigartigen
Subjekt eine der Möglichkeiten, jene Einheit alles menschlichen
Erzeugens in die Verständlichkeit zu übersetzen, es erscheint als
eines der Momente, die in jedem mitwirken und nach deren Gesetz sich
gleichsam eine Ebene bilden läßt, auf die man das Ganze projizieren
kann.

Der Zweck dieser Ausführungen liegt in der Erkenntnis, daß neben
dem gesellschaftlichen Leben als begründender Kraft und umfassender
Formel des menschheitlichen Lebens auch noch Herleitung und Deutung
des letzteren aus dem sachlichen Sinn seiner Inhalte und auch noch
aus dem Wesen und der Produktivität der Individuen als solcher
besteht -- vielleicht auch noch aus anderen, bisher nicht entschieden
herausgearbeiteten Kategorien. Diese Zerlegungen und Konstruktionsarten
unseres unmittelbaren, als Einheit von all diesem empfundenen Lebens
und Schaffens, liegen in der gleichen Schicht und haben das gleiche
Recht. Infolgedessen -- und darauf kommt es jetzt an -- kann eine
einzelne von ihnen nicht beanspruchen, uns den alleinigen und allein
ausreichenden Weg der Erkenntnis zu führen, also auch nicht die,
die von der gesellschaftlichen Form unseres Daseins bestimmt ist.
Auch sie ist nur eine einseitige, die andern ergänzend und von ihnen
ergänzt. Aber freilich, unter diesem Vorbehalt kann sie prinzipiell der
Ganzheit menschlicher Existenz eine Erkenntnismöglichkeit gewähren. Die
Tatsachen der Politik wie der Religion, der Wirtschaft wie des Rechts,
der Kulturstile als ganzer und der Sprache und unzählige andere können
danach befragt werden, wie sie, jenseits individuell verantwortlicher
Leistungen wie objektiv-sachlicher Bedeutung, als Leistungen des
Subjekts Gesellschaft begreiflich, als Entwicklungen dieses Subjekts
darstellbar sind; und es machte den Erkenntniswert davon keineswegs
illusorisch, wenn über das Wesen dieses Subjekts auch keine völlig
erschöpfende und völlig unstrittige Definition bestünde. Es ist nun
einmal eine Eigentümlichkeit unseres Geistes, daß er auf begrifflich
noch unsicheren Fundamenten doch ein sicheres Gebäude aufführen
kann: physikalische und chemische Feststellungen leiden nicht unter
der Dunkelheit und Problematik des Begriffes der Materie, rechtliche
nicht unter dem Streit über das Wesen des Rechts und seiner ersten
Grundsätze, psychologische nicht darunter, daß das „Wesen der Seele“
uns durchaus fragwürdig ist. Wenn demnach die „soziologische Methode“
angewendet wird, um den Verfall des Römerreiches oder das Verhältnis
von Religion und Wirtschaft bei den großen Kulturvölkern, um die
Entstehung des deutschen Nationalstaatsgedankens oder die Herrschaft
des Barockstils zu entwickeln, d. h. wenn solche Geschehnisse oder
Zustände als Summierungen ununterscheidbarer Beiträge, als Ergebnisse
der Wechselwirkung von Individuen, als Lebensstadien überindividueller
Gruppeneinheiten erscheinen -- so mag man diese nach soziologischer
Methode geführten Untersuchungen als Soziologie bezeichnen.

Allein aus ihnen erhebt sich, durch eine weitere Abstraktion, die man
wohl als Ergebnis einer höchst differenzierten Wissenschaftskultur
charakterisieren kann, eine Problemgruppe von im engeren Sinne
soziologischer Natur. Wenn nämlich alle möglichen Tatsächlichkeiten
des Lebens daraufhin betrachtet werden, daß sie sich innerhalb
einer gesellschaftlichen Gruppe und durch sie vollziehen, so
muß es Gemeinsamkeiten ihres Vollzuges geben (wenn auch, gemäß
den verschiedenen Umständen, nicht allenthalben die gleichen),
Charakterzüge, die daraufhin und nur daraufhin hervortreten, daß
sich das gesellschaftliche Leben als Ursprung oder Subjekt jener
Ereignisse zeigt. Dahin gehören Fragen wie die: ob sich etwa in
den geschichtlichen Entwicklungen der allerverschiedensten Art,
die sich nur in ihrem Getragensein durch je eine Gruppe begegnen,
ein gemeinsames Gesetz finden läßt, ein nur auf diese Tatsache
zurückführbarer Rhythmus? So hat man z. B. behauptet, alle historischen
Evolutionen realisierten sich, auf ihrer ersten Stufe, in einer
ungeschiedenen Einheit vielfacher Elemente, führten auf der zweiten
zu einer differenzierten Verselbständigung dieser, nun gegeneinander
entfremdeten, und zeigten auf der dritten eine neue Einheit, die aber
jetzt in dem harmonischen Ineinandergreifen der in ihrer Besonderheit
erhaltenen Elemente bestünde; kürzer: der Weg aller voll ausgelebten
Entwicklungen ginge von der undifferenzierten Einheit über die
differenzierte Mannigfaltigkeit zu der differenzierten Einheit.
Oder, man erblickt in allem historischen Leben einen von organischer
Gemeinsamkeit zu mechanischem Nebeneinander fortschreitenden Prozeß;
Besitz, Arbeiten, Interessen erwüchsen zunächst in der Solidarität der
Individuen, die das Gruppenleben tragen, verteilten sich dann aber auf
egoistische Personen, von denen jede nur das Ihre suche und sich nur
aus dieser Gesinnung heraus mit anderen verbinde; jenes erste sei die
Darstellung eines unbewußten, nur im Gefühl offenbarten Willens unseres
tiefsten Wesens, während das andere ein Produkt der Willkür und des
berechnenden Verstandes sei. Oder: man glaubte eine feste Beziehung
zwischen der geistigen Weltanschauung jeder bestimmten Epoche und
ihrem sozialen Zustande festzustellen, indem beides gewissermaßen nur
zwei Äußerungen der biologischen Entwicklung seien. Die menschliche
Erkenntnis durchlaufe im großen drei Stadien: das theologische, das
die Naturerscheinungen aus der Willkür irgendwelcher Wesen erklärt,
das metaphysische, in dem die übernatürlichen Ursachen zwar durch
gesetzmäßige ersetzt werden, aber durch mystische und spekulative wie
die „Lebenskraft“, die „Naturzwecke“ usw., endlich das positive, das
die heutige experimentelle und exakte Wissenschaft darstellt. Durch
diese Stadien entwickle sich jeder Wissenszweig hindurch, und die
Beobachtung hiervon enträtsle uns also die in alle möglichen Gebiete
sich verzweigende soziale Entwicklung.

Ferner reihen sich in diese Kategorie Fragen ein wie die nach den
Bedingungen der Macht von Gruppen, in ihrem Unterschied gegen die der
Macht von Individuen. Die Bedingungen der letzteren sind unmittelbarer
anschaulich: Intelligenz, Energie, geeigneter Wechsel von Konsequenz
und Biegsamkeit -- obgleich auch gewisse noch dunkle Kräfte bestehen
müssen, die die historische Mächtigkeit von Erscheinungen wie Jesus
auf der einen, Napoleon auf der andern Seite eigentlich begründen,
und die durch Benennungen wie Suggestionskraft, Prestige usw.
keineswegs geklärt sind. In den Machtübungen der Gruppen, sowohl
ihren Individuen wie andern Gruppen gegenüber, wirken außer solchen
noch andere Energien: Fähigkeit zu straffer Konzentration ebenso wie
zur Auflösung in individuelle Sonderbetätigungen, bewußter Glaube
an führende Geister wie dumpfe Expansionstriebe, parallele Egoismen
der Einzelnen wie aufopfernde Hingabe an das Ganze, fanatischer
Dogmatismus wie überallhin prüfende geistige Freiheit. Alles dies wirkt
nicht nur zu dem Aufstieg -- und, negativ gewendet, zum Verfall --
politischer Volkseinheiten, sondern aller möglichen wirtschaftlichen
und religiösen, parteimäßigen und familiären Gruppierungen; aber immer
geht die Frage hier nicht auf das Zustandekommen der Vergesellschaftung
als solcher, sondern auf die induktiv festzustellenden Schicksale von
Gesellschaft, als eines schon zustande gekommenen Subjekts.

Eine andere Frage, die sich gegenüber allen soziologisch betrachteten
Zuständen und Ereignissen erhebt, ist die: Wie denn das kollektive
Verhalten, Handeln, Gedankenbilden dem +Werte+ nach zu den
entsprechenden, aus Individuen unmittelbar hervorgehenden Äußerungen
stehe? Welche Unterschiede des Niveaus, an irgendwie idealen Maßstäben
gemessen, zwischen den sozialen Erscheinungen und den individuellen
bestehen? So wenig wie für die vorige Frage wird für diese die innere,
grundlegende Struktur der Gesellschaft zum Problem; vielmehr diese
Struktur wird schon vorausgesetzt, die Lebenstatsachen werden von ihr
aus betrachtet, und die Frage ist: Welche allgemeinen Züge treten an
diesen Tatsachen hervor, wenn sie in diese Blickrichtung eingestellt
sind? Das zweite Kapitel der vorliegenden Blätter wird die Untersuchung
auf das Niveauproblem, als auf ein Beispiel dieses soziologischen Typs
-- man könnte ihn den der „allgemeinen Soziologie“ nennen -- wenden.

Die wissenschaftliche Abstraktion legt noch von einer anderen Richtung
her eine Linie durch die volle Konkretheit der gesellschaftlichen
Erscheinungen, alles das verbindend, was in einem gleich zu
erörternden, mir eigentlich als ganz entscheidend erscheinenden Sinne
„soziologisch“ ist, und dies zu der Einheit einer Erkenntnisweise
bringend -- obgleich es in der Wirklichkeit in dieser Isoliertheit
und Wiederzusammenfügung nicht besteht, sondern aus der Lebenseinheit
eben dieser Wirklichkeit durch einen herzugebrachten Begriff
herausabstrahiert ist. All jene gesellschaftlichen Tatsachen sind
doch, wie schon erwähnt wurde, nicht +nur+ gesellschaftliche, es ist
immer ein Sachgehalt sinnlicher oder geistiger, technischer oder
physiologischer Art, der gesellschaftlich getragen oder produziert
oder fortgepflanzt wird und so das Gesamtgebilde des sozialen Lebens
ergibt. Aber diese gesellschaftliche Formung solcher Inhalte muß doch
auch für sich in einer arbeitsteiligen Wissenschaft erforschbar sein,
gerade wie die geometrische Abstraktion die bloßen Raumformen der
Körper erforscht, die doch nur als Formen materieller Inhalte empirisch
vorliegen. Kann man sagen, Gesellschaft sei Wechselwirkung unter
Individuen, so wäre: die Formen dieser Wechselwirkung zu beschreiben,
Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft im engsten und eigentlichsten
Sinne der „Gesellschaft“. War der erste Problemkreis erfüllt von dem
ganzen geschichtlichen Leben, soweit es gesellschaftlich geformt
ist, immer aber diese Gesellschaftlichkeit als Ganzes umgreifend,
so dieser zweite von den Formen selbst, die aus der bloßen Summe
lebender Menschen Gesellschaft und Gesellschaften machen. Diese
Forschung -- man könnte sie die „reine Soziologie“ nennen -- zieht
aus den Erscheinungen das Moment der Vergesellschaftung, induktiv und
psychologisch von der Mannigfaltigkeit ihrer Inhalte und Zwecke, die
für sich noch nicht gesellschaftlich sind, gelöst, wie die Grammatik
die reinen Formen der Sprache von den Inhalten sondert, an denen diese
Formen lebendig sind. Tatsächlich finden wir an gesellschaftlichen
Gruppen, welche ihren Zwecken und ihrer ganzen Bedeutung nach die
denkbar verschiedensten sind, die gleichen formalen Verhaltungsweisen
der Individuen zueinander. Über- und Unterordnung, Konkurrenz,
Nachahmung, Arbeitsteilung, Parteibildung, Vertretung, Gleichzeitigkeit
des Zusammenschlusses nach innen und des Abschlusses nach außen und
unzähliges Ähnliches findet sich an einer staatlichen Gesellschaft wie
an einer Religionsgemeinde, an einer Verschwörerbande wie an einer
Wirtschaftsgenossenschaft, an einer Kunstschule wie an einer Familie.
So mannigfaltig auch die Interessen sind, aus denen es überhaupt zu
diesen Vergesellschaftungen kommt -- die Formen, in denen sie sich
vollziehen, können dennoch die gleichen sein. Und nun andrerseits:
das inhaltlich gleiche Interesse kann sich in sehr verschiedenartig
geformten Vergesellschaftungen darstellen, z. B. das wirtschaftliche
Interesse realisiert sich ebenso durch Konkurrenz wie durch planmäßige
Organisation der Produzenten, bald durch Abschluß gegen andere
Wirtschaftsgruppen, bald durch Anschluß an sie; die religiösen
Lebensinhalte fordern, inhaltlich die identischen bleibend, einmal eine
freiheitliche, ein andermal eine zentralistische Gemeinschaftsform;
die Interessen, die den Beziehungen der Geschlechter zugrunde liegen,
befriedigen sich in der kaum übersehbaren Mannigfaltigkeit der
Familienformen usw.

Wie also die Form die identische sein kann, in der die divergentesten
Inhalte sich vollziehen, so kann umgekehrt auch der Stoff beharren,
während das Miteinander der Individuen, das ihn trägt, sich in einer
Mannigfaltigkeit von Formen bewegt; wodurch denn die Tatsachen,
obgleich in ihrer Gegebenheit Stoff und Form eine unlösbare Einheit des
sozialen Lebens ausmachen, deren Trennung zum Zweck des soziologischen
Problems: der Feststellung, systematischen Ordnung, psychologischen
Begründung und historischen Entwicklung der reinen Formen der
Vergesellschaftung, legitimieren. Eine Spezialwissenschaft ist die
Soziologie hier nicht, wie bei der ersten Problemgruppe, nach ihren
Gegenständen, wohl aber nach ihrer eindeutig umgrenzten Fragestellung
gegenüber diesen Gegenständen. Das dritte Kapitel dieser Skizze wird an
der Erscheinung der „Geselligkeit“ einerseits ein einzelnes Beispiel,
andrerseits ein Symbol des Gesamtbildes dieser Art von Untersuchung
bieten[2].

Die Einstellungen gegenüber den gegebenen Tatsachen, die das jetzige
Stadium der Wissenschaft verlangt, machen zuletzt noch einen dritten
Bezirk von Fragen an die Tatsache Gesellschaft kenntlich. Insofern sie
sich gleichsam an deren obere und untere Grenze anschließen, sind sie
freilich nur im weiteren Sinne als soziologische zu bezeichnen, ihrem
eigenen Charakter nach aber als philosophische. Ihren +Inhalt+ nur
bildet jene einfache Tatsache -- wie die Natur und die Kunst, aus denen
wir +unmittelbar+ Naturwissenschaft und Kunstwissenschaft entwickeln,
doch auch die Gegenstände der Naturphilosophie und Kunstphilosophie
hergeben, deren Interessen und Methoden in einer andern Schicht des
Denkens liegen, derjenigen, wo jede tatsächliche Einzelheit nach ihrer
Bedeutung für die Ganzheit von Geist, Leben, Dasein überhaupt und nach
ihrer Legitimation von diesen Ganzheiten her befragt wird.

Wie also jede andere exakte, auf das unmittelbare Verständnis
des Gegebenen gerichtete Wissenschaft, ist auch die soziale von
zwei +philosophischen+ Gebieten eingegrenzt. Das eine umfaßt die
Bedingungen, Grundbegriffe, Voraussetzungen der Einzelforschung, die
in dieser selbst keine Erledigung finden können, da sie ihr vielmehr
schon zugrunde liegen; in dem andern wird diese Einzelforschung
zu Vollendungen und Zusammenhängen geführt und mit Fragen und
Begriffen in Beziehung gesetzt, die innerhalb der Erfahrung und des
unmittelbar gegenständlichen Wissens keinen Platz haben. Jenes ist
die Erkenntnistheorie der fraglichen Einzelgebiete, dieses ihre
Metaphysik. Die Aufgaben der einzelnen Sozialwissenschaften: die Lehre
von der Wirtschaft und den Institutionen, die Geschichte der Sitten
und die der Parteien, die Bevölkerungstheorie und die Erörterung der
beruflichen Gliederung, könnten gar nicht behandelt werden, wenn nicht
gewisse Begriffe, Axiome, Verfahrungsweisen indiskutabel vorausgesetzt
würden. Wenn wir nicht ein Maß egoistischer Gewinn- und Genußsucht,
aber auch eine Beschränkbarkeit dieses Maßes durch Zwang, Sitte, Moral
annähmen; wenn wir uns nicht das Recht zusprächen, von den Stimmungen
einer Masse als Einheit zu reden, obgleich viele ihrer Elemente nur
äußerlich mitmachen oder dissentieren; wenn wir nicht die Entwicklung
innerhalb einer Kulturprovinz daraufhin für begriffen erklärten, daß
wir sie als eine aufsteigende, einer psychologischen Logik folgende,
in uns nachbilden können -- so würden wir unzählige Tatsachen gar
nicht zu einem sozialen Bilde formen können. In all diesem und sehr
vielem Ähnlichen liegen Verfahrungsweisen des Denkens vor, mit
denen es an den Rohstoff der einzelnen Geschehnisse herantritt,
um aus ihm sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, wie
das Denken die äußeren Erscheinungen von gewissen Voraussetzungen
über Raum, Stoff, Bewegung, Zählbarkeit aus ergreift und ohne diese
niemals aus jenen die Wissenschaft der Physik zustande bringen
könnte. Die einzelne soziale Wissenschaft pflegt mit Recht diese
Basis ihrer selbst fraglos hinzunehmen; ja, sie kann sie innerhalb
ihrer selbst gar nicht behandeln, weil sie ersichtlich alle übrigen
Sozialwissenschaften hinzunehmen müßte. Hier also tritt die Soziologie
als die Erkenntnistheorie der sozialen Sonderwissenschaften ein, als
die Analyse und Systematik der Grundlagen, die in diesen formend und
normierend wirken.

Wie diese Fragestellungen unter die konkreten Erkenntnisse vom
sozialen Dasein hinuntergehen, so gehen andere über diese hinaus:
sie versuchen durch Hypothese und Spekulation den unvermeidlich
fragmentarischen Charakter dieser wie jeder Empirie zu einem
geschlossenen Gesamtbilde zu ergänzen; sie ordnen die chaotisch
zufälligen Ereignisse in Reihen, die einer Idee folgen oder einem
Zweck zustreben; sie fragen, wo das gleichgültig-naturgesetzliche
Abrollen der Ereignisse einem +Sinn+ der Einzelerscheinungen oder
des Ganzen Raum gäbe; sie behaupten oder sie bezweifeln -- beides
gleichmäßig einer überempirischen Weltanschauung entspringend --, daß
diesem ganzen Spiel der gesellschaftlich-geschichtlichen Erscheinungen
eine religiöse Bedeutung, eine erkennbare oder zu ahnende Beziehung
zu dem metaphysischen Grunde des Seins einwohne. Im besonderen
ergeben sich hier Fragen wie diese: Ist die Gesellschaft der Zweck
der menschlichen Existenz oder ein Mittel für das Individuum? Liegt
der definitive Wert der sozialen Entwicklung in der Ausbildung der
Persönlichkeit oder in der der Assoziation? Ist Sinn und Zweck
überhaupt in den gesellschaftlichen Gebilden als solchen vorhanden
oder realisieren diese Begriffe sich nur an der Einzelseele? Zeigen
die typischen Entwicklungsstadien der Gesellschaften eine Analogie
mit kosmischen Evolutionen, so daß es eine allgemeine Formel oder
Rhythmus von Entwicklung überhaupt gäbe -- z. B. den Wechsel von
Differenzierung und Integrierung --, der sich an den gesellschaftlichen
wie an den materiellen Tatsachen gleichmäßig offenbart? Werden die
sozialen Bewegungen vom Prinzip der Kraftersparnis, werden sie von
materialistischen oder von ideologischen Motiven gelenkt? Dieser Typus
von Fragen ist ersichtlich nicht auf dem Wege der Tatsachenfeststellung
beantwortbar; vielmehr handelt es sich um die +Deutung+ festgestellter
Tatsachen und darum, das Relative und Problematische der bloßen
sozialen Wirklichkeit zu einer Gesamtanschauung zu führen, die mit der
Empirie nicht konkurriert, weil sie ganz andern Bedürfnissen als diese
dient.

Es liegt auf der Hand, daß die Problembehandlung auf diesem Gebiet
von der Verschiedenheit der Weltanschauungen, von individuellen
und parteimäßigen Wertschätzungen, von letzten, unbegründbaren
Überzeugungen mehr abhängig ist, als innerhalb der beiden andern, von
den Tatsächlichkeiten enger umgrenzten Bezirke der Soziologie. Darum
würde die Behandlung einer Einzelfrage als Beispiel nicht die an dieser
Stelle erforderte Objektivität zeigen können, nicht in gleichem Maße
wie bei den andern den ganzen Typus gültig veranschaulichen. Es scheint
mir deshalb rätlicher, im letzten Kapitel eine Linie hierher gehöriger
Theorien in derjenigen -- von der allgemeinen Geistesgeschichte
getragenen -- Entwicklung zu zeichnen, die sie, durch mannigfache
Gegensätze hindurch, innerhalb einer bestimmten Epoche gefunden hat.

  [1] Ich entnehme die letzten Sätze, sowie noch einige andere
      meinem größeren Werke: Soziologie; Untersuchungen über die Formen
      der Vergesellschaftung (1908), das manche der auf diesen Blättern
      berührten Gedanken ausführlicher und namentlich mit breiterer
      Begründung auf geschichtliche Tatsachen behandelt.

  [2] Ich darf wohl darauf hinweisen, daß mein bereits erwähntes
      Werk: Soziologie -- die „Formen der Vergesellschaftung“ in
      der mir zur Zeit erreichbaren, wenngleich in keiner Weise
      abschließenden Vollständigkeit darzustellen sucht.



Zweites Kapitel.

Das soziale und das individuelle Niveau.

(Beispiel der Allgemeinen Soziologie.)


Als in den letzten Jahrzehnten die Vergesellschaftung, das Leben
der Gruppen als Einheiten, zum Gegenstand eigentlich soziologischer
Erörterung wurde -- also nicht das geschichtliche Schicksal oder
die praktische Politik der einzelnen, sondern dasjenige, was ihnen,
eben weil sie „Gesellschaften“ sind, gemeinsam ist -- war es eine
nächstliegende Frage, welche Wesenszüge dieses Subjekt Gesellschaft
überhaupt von denen des individuellen Lebens als solchen unterschieden.
In äußerlicher Hinsicht liegen die Differenzen auf der Hand, z. B. die
prinzipielle Unsterblichkeit der Gruppe gegenüber der Vergänglichkeit
des Einzelmenschen, die Möglichkeit der Gruppe, wichtigste Elemente
in einem Umfange auszuscheiden, ohne darüber zugrunde zu gehen, der
entsprechend für das Einzelleben Vernichtung bedeuten würde, und
ähnliches. Jene auftauchenden Fragen aber waren innerlicher, wenn man
will: psychologischer Natur. Ob man nun die jenseits ihrer Individuen
stehende Einheit der Gruppe für eine Fiktion oder eine Realität hält
-- um der Deutung der Tatsachen willen muß man sie so behandeln,
+als ob+ sie ein Subjekt mit eigenem Leben, eigener Gesetzlichkeit,
eigenen Charakterzügen wäre. Und die Unterschiede eben dieser
Bestimmungen von denen der individuellen Existenz als solcher fordern
ihre Verdeutlichung, um das Recht der soziologischen Fragestellung zu
begründen.

Hier hat man nun die Behauptung aufgestellt -- von der aus sich
viele Linien zur Feststellung jener Differenzen ziehen lassen --
daß die Handlungen von Gesellschaften eine unvergleichlich größere
Zweckmäßigkeit und Treffsicherheit hätten, als die von Individuen.
Der Einzelne werde von widersprechenden Empfindungen, Antrieben und
Gedanken hin und her gezogen, er wisse zwischen den Möglichkeiten
seines Verhaltens keineswegs immer mit subjektiver Sicherheit,
geschweige denn mit objektiver Richtigkeit zu entscheiden; die soziale
Gruppe dagegen, auch wenn sie ihre Aktionsrichtungen oft wechselte,
wäre doch in jedem Augenblick für die jeweilige schwankungslos
entschlossen und ginge geradeswegs vorwärts, vor allem, sie wüßte
stets, wen sie für ihren Feind und wen für ihren Freund zu halten
hätte. Zwischen Wollen und Tun, Mitteln und Zwecken einer Allgemeinheit
bestehe eine geringere Diskrepanz als bei Individuen. In diesem
Verhältnis also erschienen die letzteren als „frei“, während die
Handlungen einer Masse „naturgesetzlich“ bestimmt seien. Und so
bestreitbar diese Formulierung ist, so übersteigert sie doch nur eine
tatsächliche, höchst bemerkenswerte Differenz der beiden Erscheinungen.

Sie entsteht daraus, daß die Ziele des öffentlichen Geistes, einer
Kollektivität überhaupt, denjenigen entsprechen, die sich im Individuum
als dessen fundamental einfache und primitive darzubieten pflegen.
Darüber kann nur die Macht, die sie durch die Ausdehnung ihres
Bereiches gewinnen, und die höchst komplizierte Technik, mit der
namentlich das moderne öffentliche Wesen jene Ziele durch Verwendung
individueller Intelligenzen realisiert, täuschen. In demselben Maße,
in dem der Einzelne in seinen primitivsten Zwecken schwankungslos und
irrtumslos ist, in eben dem Maße ist es die soziale Gruppe überhaupt.
Die Sicherung der Existenz, der Gewinn neuen Besitzes, die Lust an der
Behauptung und Erweiterung der eigenen Machtsphäre, der Schutz des
Erworbenen -- dies sind grundlegende Triebe für den Einzelnen, in denen
er sich mit beliebig vielen andern zweckmäßigerweise zusammenschließen
kann. Weil der Einzelne in diesen prinzipiellen Strebungen nicht wählt
noch schwankt, kennt auch die soziale Strebung, die jene vereinigt,
keine Wahl oder Schwankung. Es kommt hinzu, daß, wie der Einzelne bei
rein egoistischen Handlungen klar bestimmt und zielsicher handelt,
die Masse es bei allen ihren Zielsetzungen tut; sie kennt nicht den
Dualismus zwischen selbstischen und selbstlosen Trieben, in dem das
Individuum oft ratlos steht und der es so vielfach zwischen beiden
hindurch ins Leere greifen läßt. Zutreffend hat man das Recht, also die
erste und wesentliche Lebensbedingung großer wie kleiner Gesamtheiten,
als das „ethische Minimum“ bezeichnet. Die Normen, die für den Bestand
des Ganzen, wenn auch nur notdürftig, ausreichen, sind demnach für das
Individuum gerade nur das Minimum, mit dem es äußerlich als soziales
Wesen existieren kann; hielte es nur sie ein, bände es sich nicht
darüber hinaus an eine große Anzahl weiterer Gesetze, so würde es eine
ethische Abnormität, eine ganz unmögliche Existenz sein.

Hiermit ist ein Niveauunterschied zwischen der Masse und dem Einzelnen
angedeutet, der nur dadurch entstehen und begriffen werden kann, daß in
dem Einzelnen selbst die Qualitäten und Verhaltungsweisen, mit denen er
„Masse bildet“ und die er in den Gesamtgeist hineingibt, sich von den
andern sondern lassen, die gleichsam sein Privateigentum ausmachen und
mit denen er sich als Individuum von dem Bezirk des mit allen Geteilten
abscheidet. Jener erstere Teil seines Wesens aber kann ersichtlich nur
aus den primitiveren, im Sinne der Feinheit und Geistigkeit niedrigeren
Wesenselementen gebildet werden. Und zwar zunächst darum, weil nur
diese mit relativer Sicherheit in einem jeden vorhanden sind. Wenn
nämlich die Organismenwelt eine allmähliche Entwicklung durch die
niedrigsten Formen hindurch zu den höheren durchmacht, so sind die
niedrigeren und primitiveren Eigenschaften jedenfalls die älteren;
sind es aber die älteren, so sind es auch die verbreiteteren, weil die
Gattungserbschaft um so sicherer jedem Individuum überliefert wird, je
länger sie sich schon erhalten und gefestigt hat. Kürzlich erworbene
Organe, wie die höheren und komplizierteren es in höherem Grade sind,
erscheinen stets variabler, und man kann nicht mit Bestimmtheit sagen,
daß jedes Exemplar der Gattung schon an ihnen teilhaben wird. Das
Alter der Vererbung einer Eigenschaft ist das Band, das zwischen der
Niedrigkeit und der Verbreitung derselben eine reale Beziehung knüpft.
Aber es steht nicht nur die Vererbung im rein biologischen Sinne in
Frage. Auch die in Worten und Erkenntnissen, in Gefühlsrichtungen und
Willens- und Urteilsnormen objektiv gewordenen geistigen Elemente,
die als Traditionen, bewußte und unbewußte, in die Einzelnen
eingehen, tun das um so sicherer, um so allgemeiner, je fester und
selbstverständlicher sie in die Geistigkeit einer sich zeitlich
entwickelnden Gesellschaft eingewachsen sind, d. h. je älter sie sind.
In demselben Maße aber sind sie auch unkomplizierter, gewissermaßen
grobkörniger, den unmittelbaren Äußerungen und Notwendigkeiten des
Lebens näherliegend. Sobald seelische Inhalte in das Verfeinerte,
Differenzierte aufsteigen, sinkt die Wahrscheinlichkeit, daß sie
sich in jedermanns Besitz finden, und rücken sie in das andere
Gebiet: das -- mehr oder weniger -- individuelle, dasjenige, das der
Einzelne nur zufällig noch mit andern teilt. Wir verstehen aus diesem
Grundverhältnis das die ganze Kulturgeschichte durchziehende Phänomen:
daß einerseits das Alte als solches eine besondere Schätzung genießt,
andrerseits aber gerade das Neue und Seltene als solches. Über das
erstere bedarf es nicht vieler Worte. Vielleicht indes verdankt das
von jeher Bestehende und Überlieferte seine Schätzung nicht nur der
Patina des Alters und ihrem mystisch-romantischen Reize, sondern gerade
dem hier betonten Umstande, daß es zugleich das am allgemeinsten
Verbreitete, am sichersten in jedem Individuum Wurzelnde ist;
innerhalb eines jeden wohnt es in oder nahe der Schicht, in der die
instinktiven, unbeweisbaren und unwiderleglichen Wertungen entstehen.
Wenn im frühen Mittelalter über einen vor Gericht strittigen Gegenstand
zwei einander widersprechende Königsurkunden vorgezeigt wurden und
allgemein dann die ältere Kraft haben sollte, so wirkte dabei wohl
weniger die Überzeugung von der größeren Gerechtigkeit der älteren, als
das Gefühl, daß sie durch ihr längeres Bestehen die Bestimmung, was
denn gerecht sei, in einem weiteren Bezirk verbreitet und gefestigt
hat, als die jüngere es schon vermochte; sie wird höher geschätzt,
weil dieses längere Bestehen die reale Ursache davon ist, daß sie dem
Gerechtigkeitsgefühl der Majorität entspricht. Nimmt man aber überhaupt
an -- was man trotz aller zuzugebenden Ausnahmen doch wohl muß --
daß das Ältere auch das Einfachere und Unspezialisiertere, weniger
Gegliederte ist, so ist es eben nicht nur um dieser Beschaffenheit
willen der größeren Allgemeinheit zugänglich, sondern es ist dies
auch schon, bloß weil es das Ältere ist, also das jedem Einzelnen mit
größerer Sicherheit äußerlich und innerlich Überlieferte und deshalb
ein selbstverständlicher Berechtigtes und Werttragendes.

Aber die gleiche Voraussetzung macht auch die umgekehrte Schätzung
verständlich. Lessings Ausspruch: „Die ersten Gedanken sind jedermanns
Gedanken“ bedeutet nichts anderes, als daß die instinktiv, d. h. aus
den gesichertsten -- weil am längsten in uns lebenden -- Schichten
aufsteigenden Gedanken die sind, die eben darum in der größten
Allgemeinheit verbreitet sind. Und dies begründet seinen abschätzigen
Ton solchen Gedanken gegenüber, jenseits deren ihm offenbar erst
die wertvolleren beginnen, in denen Individualität und Neuheit sich
in untrennbarer Wechselwirkung zeigen. In Indien finden wir die
soziale Stufenordnung der Gewerbe von ihrem Alter abhängig: die
jüngeren sind in der Regel die höher geachteten -- doch wohl aus
dem Grunde, daß sie die komplizierteren, feineren, diffizileren und
deshalb nur der individuellen Begabung zugängigeren sein müssen.
Der Grund für die Schätzung des Neuen und Seltenen liegt in der
„Unterschiedsempfindlichkeit“ unserer seelischen Verfassung.
Was unser Bewußtsein auf sich ziehen, unser Interesse erregen,
unsere innere Bewegtheit steigern soll, muß sich irgendwie von dem
Selbstverständlichen, Alltäglichen, in uns und außer uns Gewohnten
abheben. Vor allem wird die praktische Bedeutung der Menschen
füreinander durch Gleichheit und Verschiedenheit bestimmt. Die
Gleichheit mit andern ist zwar als Tatsache wie als Tendenz von
nicht geringerer Wichtigkeit als die Unterscheidung gegen sie, und
beide sind in den mannigfaltigsten Formen die großen Prinzipien für
alle äußere und innere Entwicklung, so daß die Kulturgeschichte
der Menschheit schlechthin als die Geschichte des Kampfes und der
Versöhnungsversuche zwischen ihnen aufgefaßt werden kann; allein für
das Handeln innerhalb der Verhältnisse des Einzelnen ist doch der
Unterschied gegen die Andern von weit größerem Interesse als die
Gleichheit mit ihnen. Die Differenzierung gegen andere Wesen ist es,
was unsere Tätigkeit großenteils herausfordert und bestimmt; auf die
Beobachtung ihrer Verschiedenheiten sind wir angewiesen, wenn wir
sie benutzen und die richtige Stellung unter ihnen einnehmen wollen.
Der Gegenstand des praktischen Interesses ist das, was uns ihnen
gegenüber Vorteil oder Nachteil verschafft, aber nicht das, worin
wir mit ihnen übereinstimmen, das vielmehr die selbstverständliche
Grundlage vorschreitenden Handelns bildet. Darwin erzählt, er habe bei
seinem vielfachen Verkehr mit Tierzüchtern nie einen getroffen, der
an die gemeinsame Abstammung der Arten geglaubt habe; das Interesse
an derjenigen Abweichung, die die von ihm gezüchtete Spielart
charakterisiere und ihr den praktischen Wert für ihn verleihe, fülle
das Bewußtsein so aus, daß für die Gleichheit in allen Hauptsachen
mit den übrigen Rassen oder Gattungen kein Raum darin mehr vorhanden
sei. Dieses Interesse an der Differenziertheit des Besitzes erstreckt
sich begreiflich auch auf alle andern Beziehungen des Ich. Man wird
im allgemeinen sagen können, daß bei objektiv gleicher Wichtigkeit
der Gleichheit mit einer Allgemeinheit und der Individualisierung
ihr gegenüber für den subjektiven Geist die erstere mehr in der Form
der Unbewußtheit, die letztere mehr in der der Bewußtheit existieren
wird. Die organische Zweckmäßigkeit spart das Bewußtsein in jenem
Falle, weil es in diesem für die praktischen Lebenszwecke nötiger ist.
Das Interesse an der Differenziertheit ist sogar groß genug, um sie
praktisch auch da zu erzeugen, wo eigentlich kein sachlicher Grund
dazu vorliegt. So bemerkt man, daß Vereinigungen -- von gesetzgebenden
Körperschaften bis zu Vergnügungskomitees -- die durchaus einheitliche
Gesichtspunkte und Ziele haben, nach einiger Zeit in Parteien
auseinandergehen, die sich zueinander verhalten, wie die ganze sie
einschließende Vereinigung etwa zu einer von radikal andern Tendenzen
bewegten. Es ist, als ob jeder Einzelne seine Bedeutung so sehr nur
im Gegensatz gegen andere fühlte, daß dieser Gegensatz künstlich
geschaffen wird, wo er von vornherein nicht da ist, ja wo die ganze
Gemeinsamkeit, innerhalb deren nun der Gegensatz gesucht wird, auf
Einheitlichkeit andern Gegensätzen gegenüber gegründet ist.

Daß das Neue, Seltene oder Individuelle (ersichtlich sind dies nur drei
verschiedene Seiten eben desselben Grundphänomens) als das wertmäßig
Erlesene gilt, wie es die Kultur- und Sozialgeschichte in unzähligen
Wiederholungen zeigt, soll hier nur sein Gegenstück beleuchten: daß
die Eigenschaften und Verhaltungsweisen, mit denen der Einzelne,
weil er sie mit den andern teilt, Masse bildet, als die wertmäßig
niedrigeren auftreten. Hier liegt das vor, was man die soziologische
Tragik schlechthin nennen könnte. Der Einzelne mag noch so feine,
hochentwickelte, durchgebildete Qualitäten besitzen -- gerade je mehr
das der Fall ist, desto unwahrscheinlicher wird die Gleichheit und also
die Einheitsbildung gerade dieser mit den Qualitäten anderer, desto
mehr strecken sie sich nach der Dimension der Unvergleichbarkeit hin,
auf desto niedrigere, primitiv sinnlichere Schichten reduziert sich
das, worin er sich mit Sicherheit den andern angleichen und mit ihnen
eine einheitlich charakterisierte Masse formen kann. So konnte es
geschehen, daß von dem „Volk“, der „Masse“ mit Verachtung gesprochen
wurde, ohne daß doch die Einzelnen sich dadurch getroffen zu fühlen
brauchten, weil tatsächlich kein Einzelner damit gemeint war: sowie man
den Einzelnen als solchen und als ganzen ansieht, so besitzt er sehr
viel höhere Qualitäten jenseits derer, die er in die Kollektiveinheit
hineingibt. Dieses Verhältnis ist von Schiller klassisch formuliert
worden: „Jeder, sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und
verständig. Sind sie ~in corpore~, gleich wird euch ein Dummkopf
daraus.“ Unter stärkerer Betonung des Momentes der Individualitäten,
die, nach ganz verschiedenen Seiten auseinandergehend, eben nur
die niedrigst gelegenen Abschnitte der Persönlichkeiten als ihren
Treffpunkt übriglassen, hat Heine das Verhältnis ausgesprochen:
„Selten habt ihr mich verstanden, Selten auch verstand ich euch. Nur
wenn wir im Kot uns fanden, Dann verstanden wir uns gleich.“ Diese
Niveaudifferenz zwischen dem Subjekt Individuum und dem Subjekt
Masse erstreckt sich durch die gesellschaftliche Existenz so weit
hin und so folgenreich, daß es lohnt, noch einige Äußerungen gerade
solcher Persönlichkeiten heranzuziehen, deren historische Stellungen,
sonst äußerst verschieden, ihnen allen besonders reiche Erfahrungen
überprivater Verhältnisse zubrachten. Solon soll ausgesprochen haben:
jeder seiner Athener sei ein schlauer Fuchs, wenn er sie aber auf der
Pnyx zusammenhabe, sei es eine Herde Schafe. Der Kardinal Retz bemerkt
in seinen Memoiren, wo er das Verfahren des Pariser Parlaments zur Zeit
der Fronde beschreibt, daß zahlreiche Körperschaften, wenn sie auch
noch so viel hochstehende und gebildete Personen einschließen, doch bei
gemeinschaftlichem Beraten und Vorgehen immer wie der Pöbel handeln,
d. h. durch solche Vorstellungen und Leidenschaften wie das gemeine
Volk regiert werden. Ganz ähnlich wie Solon äußert sich Friedrich
der Große, seine Generale seien die vernünftigsten Leute, wenn er
mit jedem allein spräche, versammle er sie aber zu einem Kriegsrat,
so seien sie Schafsköpfe. Das Entsprechende meint offenbar der
englische Historiker Freeman mit der Bemerkung, das Unterhaus sei zwar
hinsichtlich des Ranges der zusammensetzenden Persönlichkeiten eine
aristokratische Körperschaft, sei es aber versammelt, so benehme es
sich gänzlich wie ein Demokratenhaufe. Der beste Kenner der englischen
Gewerkvereine hat festgestellt, daß deren Massenversammlungen oft die
törichtesten und verderblichsten Beschlüsse fassen, so daß die meisten
Vereine sie zugunsten von Delegiertenversammlungen aufgegeben haben.
Das bestätigen Beobachtungen, die, inhaltlich unbedeutend, nicht nur
durch ihre Massenhaftigkeit soziologisch wichtig werden, sondern auch
weil sie immerhin Symbole auch historisch wichtigster Zustände und
Geschehnisse sind. So können Essen und Trinken, die ältesten und in
geistiger Hinsicht wesenlosesten Funktionen, das Vereinigungsmittel,
oft das einzige, höchst heterogener Personen und Kreise bilden; so
zeigen selbst gebildete Herrengesellschaften die Tendenz, sich in
der Erzählung niedriger Zoten zu ergehen; so wird die ungemessenste
Fröhlichkeit und das reserveloseste Vereinigtheitsgefühl in jüngeren
Kreisen immer durch solche Gesellschaftsspiele erreicht, die den
primitivsten und geistig anspruchslosesten Charakter tragen. Darum
verdirbt die Notwendigkeit, es größeren Massen zu Dank zu machen,
überhaupt sich ihnen dauernd zu exponieren, so leicht den Charakter:
sie biegt das Individuum von seiner individuellen Ausbildungshöhe zu
dem Punkt herunter, auf dem es sich allen, d. h. jedem beliebigen,
zuordnet. Wenn man es am Journalisten, am Schauspieler, am Demagogen
bedenklich findet, daß sie „die Gunst der Masse suchen“, so wäre das
noch nicht ohne weiteres ein berechtigter Vorwurf, wenn diese Masse aus
der Summe der ganzen personalen Existenzen bestünde, die zu verachten
durchaus kein Grund vorliegt. Aber tatsächlich ist sie gar nicht dies,
sondern ein neues Gebilde, das sich nicht aus den jeweils vollständigen
Individualitäten ihrer Teilnehmer, sondern aus denjenigen Wesensteilen
eines jeden herstellt, in denen er mit andern koinzidiert und die also
keine andern als die primitivsten, in der organischen Entwicklung
zuunterst stehenden sein können. +Dieser+ Masse und dem Niveau, das
jedem ihrer Elemente zugängig sein muß, dienen jene geistig und ethisch
gefährdeten Persönlichkeiten, nicht aber jedem ihrer Elemente für
sich. Es ist klar, daß bei diesem Niveau all die Verhaltungsweisen
ausgeschaltet sind, die eine Mehrheit nebeneinander wirksamer
Vorstellungsreihen voraussetzen. Alle Handlungen von Massen vermeiden
deshalb die Umwege, sie gehen, erfolgreich oder nicht, in der kürzesten
Linie auf ihre Ziele los und werden jeweils von +einer+ Idee, und zwar
einer möglichst einfachen, beherrscht: die Wahrscheinlichkeit ist zu
gering, daß jedes Mitglied einer größeren Masse einen mannigfaltigeren,
und zwar den identischen, Gedankenkomplex in Bewußtsein und Überzeugung
trägt. Da nun aber angesichts der Kompliziertheit unserer Verhältnisse
jede einfache Idee eine radikale, vielerlei andere Ansprüche negierende
sein muß, so begreifen wir daraus die Macht der radikalen Parteien
in Zeiten, wo die großen Massen in Bewegung gesetzt sind, und die
Schwäche der vermittelnden, für beide Seiten des Gegensatzes Recht
fordernden. Außerordentlich charakteristisch für den Unterschied des
griechischen und des römischen Naturells ist es, daß die griechischen
Stadtbürger als einheitliche Masse unter dem unmittelbaren Eindruck
des Redners abstimmten, die Römer aber nach festen, gewissermaßen als
Individuen auftretenden Gruppen: ~centuriatim~, ~tributim~ usw. Daher
die verhältnismäßige Ruhe und Verständigkeit der römischen Beschlüsse
und die häufige Maß- und Besinnungslosigkeit der griechischen. Aus
jener seelischen Homophonie der Menge folgen aber auch gewisse
negative Tugenden, deren Gegenteil eine Mehrheit gleichzeitig bewußter
Gedankenketten voraussetzt: die Menge lügt nicht und heuchelt nicht.
Freilich fehlt ihr aus der gleichen seelischen Verfassung heraus im
allgemeinen auch jedes Bewußtsein von Verantwortung.

Nimmt man eine genetische und systematische Stufenfolge der seelischen
Äußerungen an, so wird man doch wohl das Gefühl (natürlich nicht
+alle+ Gefühle) für die primäre, fundierend allgemeine, gegenüber dem
Intellekt halten. Lust und Schmerz sowie gewisse triebhafte Gefühle,
die der Erhaltung des Ich und der Gattung dienen, haben sich jedenfalls
vor allem Verfahren mit Begriffen, Urteilen und Schlüssen entwickelt.
An der Ausbildung des Intellekts offenbart sich deshalb vor allem
jenes Zurückbleiben des sozialen hinter dem individuellen Niveau,
während sich innerhalb des Gefühlsbezirkes das Gegenteil zeigen kann.
Es ist gar kein Widerspruch gegen die angeführten Abschätzungen des
~in corpore~-Verhaltens, wenn Carl Maria von Weber über das große
Publikum sagt: „Der einzelne ist ein Esel und das Ganze ist doch Gottes
Stimme.“ Denn das ist die Erfahrung des Musikers, der das +Gefühl+ der
Masse anruft, nicht ihre Intellektualität. Darum hat auch, wer auf die
Massen wirken wollte, es jederzeit durch Appell an ihre Gefühle, aber
sehr selten durch noch so bündige theoretische Darlegungen erreicht.
Insbesondere gilt dies gegenüber räumlich zusammenbefindlichen Massen.
Hier besteht etwas, was man Kollektivnervosität nennen könnte: eine
Empfindlichkeit, eine Leidenschaft, eine Exzentrizität ist großen
Massen oft eigen, die sich vielleicht kaum an einem einzelnen ihrer
Mitglieder, wenn es in diesem Augenblick allein stünde, zeigen würde.
Schon an den herdenweise lebenden Tieren ist dies beobachtet: der
leiseste Flügelschlag, der kleinste Sprung eines einzelnen artet oft
in einen panischen Schrecken der ganzen Herde aus. Die oft ungeheure
Wirkung flüchtiger Anregungen, die einer Masse gegeben werden, das
lawinenartige Anschwellen geringster Impulse von Liebe und Haß, die
sachlich oft ganz unbegreifliche Erregtheit einer Masse, in der sie
besinnungslos vom Gedanken zur Tat stürmt und die den Einzelnen ohne
weiteres mitreißt -- dies geht doch wohl auf gegenseitige Beeinflussung
durch schwer feststellbare Ausstrahlungen des Gefühls zurück, die,
weil sie zwischen jedem und jedem stattfinden, schließlich in jedem
eine weder aus ihm selbst noch aus der Sache erklärbare Erregtheit
aufsummen. Es ist eine der belehrendsten, rein soziologischen
Erscheinungen: das Individuum fühlt sich von der ihn umwogenden
„Stimmung“ der Masse wie von einer äußeren Gewalt hingenommen,
gleichgültig gegen sein individuelles Sein und Wollen -- und dabei
besteht doch diese Masse ausschließlich aus solchen Individuen,
nichts als deren reinste Wechselwirkung liegt vor und entfaltet eine
Dynamik, die durch ihre Größe als etwas Objektives erscheint und
jedem seinen eigenen Beitrag verbirgt; tatsächlich reißt er doch
selbst mit, indem er mitgerissen wird. Eine solche Höchststeigerung
des Gefühls vermöge des bloßen Zusammenseins zeigt wie in einem
Schulbeispiel ein Bericht über die Quäker. Obgleich die Innerlichkeit
und der Subjektivismus ihres religiösen Prinzips eigentlich jeder
Gemeinsamkeit des Gottesdienstes widerstreitet, findet diese dennoch
statt, indessen oft so, daß sie stundenlang schweigend zusammensitzen;
und nun rechtfertigen sie diese Gemeinsamkeit dadurch, daß sie uns
dienen könne, uns dem Geiste Gottes näher zu bringen: da dies aber
für sie nur in einer Inspiration und nervösen Exaltation besteht,
so muß offenbar das bloße, auch schweigende Beieinandersein diese
hervorrufen. Ein englischer Quäker am Ende des 17. Jahrhunderts
beschreibt ekstatische Erscheinungen, die an einem Mitglied der
Versammlung vorgehen, und fährt fort: in Kraft der Verbindung aller
Glieder einer Gemeinde zu +einem+ Leibe teile sich häufig ein solcher
Zustand eines einzelnen allen mit, so daß eine ergreifende fruchtbare
Erscheinung zutage gefördert werde, die schon viele dem Verein
unwiderstehlich gewonnen habe. Daß die Erhöhung der Emotionalität
-- als wäre die Zahl der einander sinnlich Nahen gewissermaßen der
Multiplikator der vom Individuum mitgebrachten Gefühlspotenz -- vor
allem über die Intellektualität dieses Individuums hinwegflutet,
lehren unzählige Fälle. Hundertfach lachen wir alle im Theater oder
in Versammlungen über Witze, über die wir im Zimmer nur die Achseln
zucken würden, bei welchen beschämend harmlosen Scherzen verzeichnen
selbst die Parlamentsberichte: Heiterkeit! Und nicht nur die kritischen
Hemmungen des Verstandes, sondern auch die der Moral sind leicht in
diesem soziologischen Rauschzustand aufgehoben. Er allein erklärt
die sogenannten Massenverbrechen, an denen nachher jeder einzelne
Teilnehmer sich für unschuldig erklärt -- mit gutem subjektiven
Gewissen und auch nicht ohne objektives Recht, da die Überbetontheit
der Gefühlsschwingung jene bestimmte und gewohnte Proportion der
seelischen Kräfte zerstört, die der Träger der einheitlich dauernden
Persönlichkeit und damit der Verantwortlichkeit ist. Daß eben diese
Hingerissenheit einer Menge auch nach einer ethisch wertvollen Seite,
einer edeln Begeisterung, einer unbegrenzten Opferwilligkeit hin gehen
kann, hebt die Verschobenheit und Unzurechnungsfähigkeit solchen
Zustandes nicht auf, sondern zeigt um so klarer, daß er uns jenseits
der Wertnormen stellt, zu denen das individuelle Bewußtsein sich,
praktisch wirksam oder nicht, schon emporentwickelt hatte.

Nach allem früher Gesagten kann man die Bildung eines sozialen Niveaus
in die wertmäßige Formel fassen: Was allen gemeinsam ist, kann nur der
Besitz des am wenigsten Besitzenden sein. Dies symbolisiert sich schon
in dem äußerlichen Sinn des „Besitzes“. In England wurde 1407 offiziell
anerkannt, daß die Initiative für Geldbewilligungen dem Unterhaus
gehören solle; und ausdrücklich nennt der Verfassungshistoriker der
Zeit als das Grundmotiv dafür, daß es dem ärmsten der drei Stände
zustehe, das Höchstmaß der Leistungen der Allgemeinheit zu bestimmen.
Was alle gleichmäßig geben, kann nur die Quote des Ärmsten sein. Hier
liegt auch der rein soziologische unter den Gründen, aus denen der
Usurpator, der eine schon ständisch geteilte Gesellschaft unterwerfen
will, sich auf die untersten Schichten zu stützen pflegt. Denn um sich
gleichmäßig über alle zu erheben, muß er sie nivellieren. Dies aber
läßt sich nicht so erreichen, daß die Tieferen erhoben, sondern nur,
daß die Höheren auf deren Standort herabgedrückt werden. Es ist deshalb
durchaus täuschend, wenn man das Niveau einer als Einheit angesehenen,
praktisch als Einheit wirkenden Gesamtheit ein „durchschnittliches“
nennt. Der Durchschnitt würde bedeuten, daß die Standhöhe der einzelnen
Individuen gleichsam addiert und das Resultat durch ihre Anzahl
dividiert sei. Dies würde eine Erhöhung der Tiefststehenden unter ihnen
involvieren, die nicht zu leisten ist. Ganz nahe vielmehr dem Niveau
dieser letzteren befindet sich das der Gesamtheit, insofern alle seine
Träger mit gleichmäßigen Seinswerten, gleichmäßiger Wirksamkeit an ihm
beteiligt sein sollen. Nicht bei dem „Mittel“, sondern der unteren
Grenze der Teilhaber zu liegt der Charakter des Kollektivverhaltens;
und wenn ich mich nicht täusche, hat diese Tatsache den Sprachgebrauch
innerlich schon richtiggestellt, indem wir unter „Mittelmäßigkeit“
keineswegs den wirklichen Wertdurchschnitt einer Totalität von
Existenzen oder Leistungen, sondern eine recht tief +unter+ diesem
bleibende Wertqualität verstehen.

Da dieser enge Rahmen nur für kurze Strecken soziologischer Wege,
nicht aber für ihren Abschluß Raum hat, die Frage an seine Inhalte
also nicht auf endgültige Entscheidung über diese, sondern nur auf
Form und Methode ihrer Behandlung geht, so deute ich nur noch zwei der
mannigfachen Einschränkungen und Gegenbegriffe an, die dies allgemeine
Schema der sozialen Niveaubildung findet. Zunächst wird dieses Niveau
praktisch fast niemals an dem +aller+tiefsten seiner Träger festgelegt,
sondern, wie ich schon andeutete, tendiert es nur zu diesem hin,
bleibt aber meistens etwas oberhalb seiner. Denn irgend etwas von
Widerstand -- freilich in sehr verschiedenem Maße -- pflegt sich gegen
die kollektivistische Senkung doch seitens der höherstehenden Elemente
zu melden, und er summiert sich zu einem gewissen Haltmachen der
Gesamtaktion vor dem tiefstmöglichen Wertgrade.

Tiefergreifend ist eine andere Einschränkung, die das -- selbst
prinzipiell als richtig anerkannte -- Schema findet. Dieses besagte
doch: das gleichmäßige Haben und Sein aller kann nur ein solches
sein, das sich an dem das Wenigste habenden, das Geringste seienden
Gliede findet. Steht also die Herstellung des Gebildes Masse, die
Niveauausgleichung sonst verschiedener Persönlichkeiten in Frage, so
kann sie nur durch das immer mögliche Herabsteigen der Höheren, nicht
aber durch das selten oder nie mögliche Heraufsteigen aller Tieferen
geschehen. Dieser psychologisch gewendete Mechanismus ist indes nicht
unbezweifelbar. Jenes Herabsteigen des Höheren ist tatsächlich +nicht+
immer möglich. Die ganze Erwägung ruhte nämlich auf dem -- natürlich
ganz rohen und problematischen -- Bilde der seelischen Struktur, daß
verschiedene Schichten in ihr gleichsam übereinandergebaut sind:
die primitiven, ungeistigen, welche biologisch die gefestetsten und
also allenthalben vorauszusetzen sind -- und darüber die dem Inhalte
nach selteneren, jüngeren, schließlich ganz verfeinerten, die bis
zu völliger Individualität differenziert sind. Und nun schien eine
Tatsächlichkeit so ausdrückbar, daß selbst bei höchster Ausbildung
der letzteren ihre bewußte oder unbewußte Ausschaltung geschehen und
das Verhalten des Individuums ausschließlich von den ersteren her
bestimmt werden kann, wodurch dann ein einheitlicher Gesamtgeist aus
nun gleichmäßigen Beiträgen erzeugbar wird. Allein, dies mag manchmal
oder oft geschehen, +immer+ geschieht es nicht. In manchen Naturen sind
jene niedrigeren Schichten mit den höheren zu so fester, individueller
Einheit verbunden, daß der als physische Analogie verführerische
Ausdruck: der Mensch könne zwar immer leicht heruntersteigen, schwer
aber und oft gar nicht herauf -- unzutreffend wird. Auf ethischem
Gebiet ist dies ohne weiteres einsichtig. Erscheinen hier Qualitäten
wie Genußgier und Grausamkeit, Habsucht und Verlogenheit als die
tiefsten Stufen der seelischen Schichtung, so ist es für den edleren
Menschen, selbst wenn er von Rudimenten oder Uneingeständlichkeiten
solcher Art nicht frei wäre, einfach unmöglich, sich in seinem
Handeln auf dies Niveau zu begeben, ja selbst zugunsten harmloserer
Niveausenkung überhaupt seine höheren Qualitäten abzustellen. Solche
Unmöglichkeit gilt weit über das Ethische hinaus. Der Kammerdiener
versteht freilich den Helden nicht, weil er sich nicht zu dessen
Höhe erheben kann; aber der Held versteht auch den Kammerdiener
nicht, weil er nicht zu dessen Untergeordnetheit herabsteigen kann.
Es ist ein höchst bezeichnender Unterschied zwischen den Menschen,
ob sie überhaupt +imstande sind+, ihre wertvollsten Kräfte und
Interessiertheiten vor den niederen schweigen zu lassen, wie zweifellos
und in welchem Maße diese auch in ihnen vorhanden seien. Das ist
jedenfalls einer der Hauptgründe, aus denen zu allen Zeiten gewisse
vornehme und geistige Persönlichkeiten sich dem öffentlichen Leben
ferngehalten haben, insbesondere da sie wohl selbst angesichts einer
möglichen Führerrolle empfanden, was ein großer Politiker einmal im
Hinblick auf seine Partei so formulierte: „Ich bin ihr Führer, also
muß ich ihnen folgen.“ Einen höheren Gesamtwert solcher abstinenten
Persönlichkeiten zeigt dies noch nicht, trotz des auf das gleiche
Grundverhältnis zurückgehenden Bismarckschen Wortes, daß „die
Politik den Charakter verdirbt“. Eher verkündet es eine gewisse
Schwäche und Mangel an Selbstsicherheit in den höheren Schichten der
Persönlichkeit, wenn sie es nicht wagt, sich so weit auf das soziale
Niveau hinabzubegeben, wie es für den Kampf dagegen -- der immer ein
Kampf dafür ist -- erfordert wird. Ersichtlich aber wird dadurch, daß
die Menschen des höchsten individuellen Niveaus so oft die Berührung
mit dem sozialen scheuen, die allgemeine Hebung des letzteren
hintangehalten.



Drittes Kapitel.

Die Geselligkeit.

(Beispiel der Reinen oder Formalen Soziologie.)


Das Grundmotiv, das, nach der Bezeichnung im einleitenden Kapitel,
eine „reine Soziologie“ als besonderen Problemkreis konstituierte,
muß jetzt im Übergang zu einer exemplifizierenden Anwendung noch
einmal formuliert werden. Denn jenes Motiv bestimmt nicht nur als das
allgemeine, mit vielen anderen geteilte Forschungsprinzip dieses
Beispiel, sondern es gibt selbst unmittelbar den +Stoff+ für den jetzt
zu schildernden Anwendungsfall her.

Jenes entscheidende Motiv ist von zwei Begriffen her festgelegt: daß
man von jeder menschlichen Gesellschaft zwischen ihrem Inhalt und
ihrer Form unterscheiden kann, und daß sie selbst ganz allgemein
die Wechselwirkung unter Individuen bedeutet. Diese Wechselwirkung
entsteht immer aus bestimmten Trieben heraus oder um bestimmter
Zwecke willen. Erotische Instinkte, sachliche Interessiertheiten,
religiöse Impulse, Zwecke der Verteidigung wie des Angriffs, des
Spieles wie des Erwerbes, der Hilfeleistung wie der Belehrung und
unzählige andere bewirken es, daß der Mensch in ein Zusammensein, ein
Füreinander-, Miteinander-, Gegeneinanderhandeln, in eine Korrelation
der Zustände mit anderen tritt, d. h. Wirkungen auf sie ausübt und
Wirkungen von ihnen empfängt. Diese Wechselwirkungen bedeuten, daß
aus den individuellen Trägern jener veranlassenden Triebe und Zwecke
eine Einheit, eben eine „Gesellschaft“, wird. Ich bezeichne nun alles
das, was in den Individuen, den unmittelbar konkreten Orten aller
historischen Wirklichkeit, als Trieb, Interesse, Zweck, Neigung,
psychische Zuständlichkeit und Bewegung derart vorhanden ist, daß
daraus oder daran die Wirkung auf andere und das Empfangen ihrer
Wirkungen entsteht -- dieses bezeichne ich als den Inhalt, gleichsam
die Materie der Vergesellschaftung. An und für sich sind diese
Stoffe, mit denen das Leben sich füllt, diese Motivierungen, die es
treiben, noch nicht sozialen Wesens. Weder Hunger noch Liebe, weder
Arbeit noch Religiosität, weder die Technik noch die Funktionen und
Resultate der Intelligenz bedeuten ihrem unmittelbaren Sinne nach
schon Vergesellschaftung; vielmehr, sie bilden diese erst, indem sie
das isolierte Nebeneinander der Individuen zu bestimmten Formen des
Miteinander und Füreinander gestalten, die unter den allgemeinen
Begriff der Wechselwirkung gehören. Die Vergesellschaftung ist also
die in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichende Form, in der
die Individuen auf Grund jener -- sinnlichen oder idealen, momentanen
oder dauernden, bewußten oder unbewußten, kausal treibenden oder
teleologisch ziehenden -- Interessen zu einer Einheit zusammenwachsen
und innerhalb deren diese Interessen sich verwirklichen.

Auf diesen Sachverhalt nun wendet sich eine geistige Funktionsweise von
höchst weitgreifender Bedeutung an. Wenn praktische Verhältnisse und
Notwendigkeiten die Menschen dahin führen, das der Welt abzugewinnende
Material des Lebens durch die Kräfte der Intelligenz, des Willens,
des Gestaltungstriebes, der Gefühlsbewegungen zu bearbeiten, seinen
Elementen um der Zwecke des Lebens willen bestimmte Formen zu geben,
und wir es in diesen nun erst als Lebenselement betätigen und benutzen
--, so entheben sich jene Kräfte und Interessen dann in eigentümlicher
Weise dem Dienste des Lebens, der sie ursprünglich emporgezogen und
verpflichtet hatte. Es findet eine Verselbständigung gewisser Energien
derart statt, daß sie sich nicht mehr an den Gegenstand heften, den sie
formten und damit den Zwecken des Lebens gefügig machten, sondern sie
spielen nun gewissermaßen frei in sich selbst, um ihrer selbst willen,
und schaffen oder ergreifen eine Materie, die ihnen jetzt eben nur
zu ihrer eigenen Betätigung, Verwirklichung dient. So scheint alles
Erkennen ursprünglich ein Mittel im Kampf ums Dasein zu sein; das wahre
Verhalten der Dinge zu wissen, ist für die Erhaltung und Förderung des
Lebens von unübersehlichem Nutzen. Wissenschaft aber bedeutet, daß
sich das Erkennen nicht mehr zu dieser praktischen Leistung hergibt,
sondern ein Eigenwert geworden ist, sich von sich aus seine Gegenstände
wählt, sie nach seinen inneren Bedürfnissen gestaltet und über seine
Selbstvollendung nicht hinausfragt. Weiter: Die Formung anschaulicher
und unanschaulicher Realitäten nach räumlichen Geschlossenheiten,
nach Rhythmus und Klang, nach Bedeutung und Organisation ist sicher
zunächst den Forderungen unserer Praxis entsprungen. Sobald diese
Formen aber Selbstzwecke werden, aus eigener Kraft und eigenem Recht
heraus wirksam, von sich aus und nicht um der Verflechtung in das
Leben willen auswählend und schöpferisch -- steht die Kunst da, ganz
vom Leben getrennt und ihm nur entnehmend, was ihr dient und durch
sie gleichsam zum zweiten Male erzeugt wird, obgleich die Formen, in
denen sie dies tut und in denen sie sozusagen besteht, sich an den
Forderungen und der Dynamik des Lebens erzeugt haben. Dieselbe Drehung
bestimmt das Recht in seinem Wesen. Aus den Erfordernissen für die
Existenz der Gesellschaft heraus werden gewisse Verhaltungsweisen der
Individuen erzwungen oder legitimiert -- sie sind gültig und geschehen
in diesem Stadium ausschließlich um solcher Zweckmäßigkeit willen.
Das ist aber nicht mehr der Sinn ihrer Verwirklichung, sobald das
„Recht“ dasteht; denn nun sollen sie nur geschehen, weil sie eben
„Recht“ sind, gleichgültig gegen das sie ursprünglich zeugende und
beherrschende Leben, bis zum ~fiat justitia, pereat mundus~. Obgleich
also das dem Recht gemäße Verhalten in dem sozialen Lebenszweck
wurzelt, so hat doch das Recht in seiner Reinheit keinen „Zweck“, weil
es nun nicht mehr Mittel ist, sondern, von sich aus und nicht erst
auf Legitimation durch eine höhere Instanz hin, bestimmt, wie der
Lebensstoff geformt werden soll. Und nun vollzieht sich vielleicht in
der weitestgreifenden Weise diese Achsendrehung -- von der Bestimmtheit
der Lebensformen durch seine Materie zu der Bestimmung seiner Materie
durch die zu definitiven Werten erhobenen Formen -- in alledem, was
wir +Spiel+ nennen. Die realen Kräfte, Nöte und Impulse des Lebens
erzeugen die für dieses zweckmäßigen Formen unseres Verhaltens, die
dann im Spiel oder viel mehr als Spiel zu selbständigen Inhalten und
Reizen werden: das Jagen und Erlisten, die Bewährung der physischen
und der geistigen Kräfte, den Wettbewerb und das Gestelltsein auf die
Chance und die Gunst unbeeinflußbarer Mächte. Alles dieses ist jetzt
dem Flusse des bloßen Lebens enthoben, von dessen Materie, an der sein
Ernst haftet, entlastet und wählt oder schafft nun als das von sich
aus Entscheidende die Gegenstände, an denen es sich bewähre und rein
darstelle; damit gewinnt das Spiel seine Heiterkeit, aber auch jene
symbolische Bedeutung, die es von allem bloßen Spaß unterscheidet. Hier
liegt, was an der Analogie zwischen Kunst und Spiel gerechtfertigt ist.
Mit beiden haben die Formen, die die Realität des Lebens entwickelte,
dieser gegenüber autonome Reiche gegründet; es gibt ihnen ihre Tiefe
und ihre Kraft, daß sie von ihrem Ursprung her immer noch mit Leben
geladen sind, und wo sie dessen entleert sind, werden sie zu Künstelei
und Spielerei -- allein ihr Sinn und Wesen liegt eben in jener
kompromißlosen Wendung, mit der die von der Lebenszweckmäßigkeit und
der Lebensmaterie erzeugten Formen sich von diesen lösen und selbst
zu Zweck und Materie ihrer selbständigen Bewegtheit werden, von jenen
Realitäten gerade nur aufnehmend, was sich der neuen Gerichtetheit
fügen und in dem Eigenleben jener Formen aufgehen kann.

Dieser Prozeß vollzieht sich nun auch in der Trennung dessen, was
ich an der gesellschaftlichen Existenz Inhalt und Form nannte. Die
eigentliche „Gesellschaft“ an ihr ist jenes Miteinander, Füreinander,
Gegeneinander, womit materielle oder individuelle Inhalte und
Interessen durch Trieb oder Zweck eine Formung oder Förderung
erfahren. Und diese Formen nun gewinnen Eigenleben, eine von allem
Wurzeln an Inhalten befreite Ausübung rein um ihrer selbst und
des in dieser Gelöstheit von ihnen ausstrahlenden Reizes willen;
dies eben ist die Erscheinung Geselligkeit. Sicherlich ist es der
Erfolg spezieller Notwendigkeiten und Interessen, wenn die Menschen
sich in Wirtschaftsvereinigungen oder Blutsbrüderschaften, in
Kultgenossenschaften oder Räuberbanden zusammentun. Allein jenseits
dieser besonderen Inhalte werden alle diese Vergesellschaftungen von
einem Gefühl dafür, von einer Befriedigung daran begleitet, daß man
eben vergesellschaftet ist, für den Wert der Gesellschaftsbildung
als solcher, ein Trieb, der auf diese Form der Existenz drängt und
manchmal erst seinerseits jene realen Inhalte herbeiruft, die die
einzelne Vergesellschaftung tragen. Und wie nun das, was man den
Kunsttrieb nennen mag, aus den Ganzheiten der erscheinenden Dinge ihre
Form gleichsam herauszieht und zu einem besonderen, eben diesem Trieb
korrespondierenden Gebilde gestaltet, so löst der „Geselligkeitstrieb“
in seiner reinen Wirksamkeit aus den Realitäten des sozialen Lebens den
bloßen Vergesellschaftungsprozeß als einen Wert und ein Glück heraus
und konstituiert damit, was wir Geselligkeit im engeren Sinne nennen.
Es ist kein bloßer Zufall des Sprachgebrauchs, daß alle Geselligkeit,
auch die ganz naturalistische, wenn sie irgendwelchen Sinn und Bestand
haben soll, einen so großen Wert auf die +Form+ legt, auf die gute
Form. Denn Form ist gegenseitiges Sich-Bestimmen, Wechselwirken
der Elemente, wodurch sie eben eine Einheit bilden; und da nun für
die Geselligkeit die konkreten, an die Zwecksetzungen des Lebens
angeknüpften Motivierungen der Vereinheitlichung in Wegfall kommen,
so muß die reine Form, der sozusagen freischwebende, wechselwirkende
Zusammenhang der Individuen um so stärker und mit um so größerer
Wirksamkeit akzentuiert werden.

Ihre bloß formale Beziehung zur Realität erspart der Geselligkeit
die Reibungswiderstände dieser; aber immerhin gewinnt sie aus ihr,
je vollkommener sie gerade als Geselligkeit ist, auch für den
tieferen Menschen eine symbolisch spielende Fülle des Lebens und eine
Bedeutsamkeit, die ein oberflächlicher Rationalismus immer nur in
den konkreten +Inhalten+ sucht; so daß er, da er diese hier nicht
findet, die Geselligkeit nur als eine hohle Läppischkeit abzutun weiß.
Es ist doch nicht bedeutungslos, daß in vielen, vielleicht in allen
europäischen Sprachen Gesellschaft schlechthin eben das +gesellige+
Zusammensein bezeichnet. Die staatliche, die wirtschaftende, die
durch irgendeinen Zweckgedanken zusammengehaltene Gesellschaft ist
doch durchaus „Gesellschaft“. Aber nur die gesellige ist eben „eine
Gesellschaft“ ohne weiteren Zusatz, weil sie die reine, prinzipiell
über jeden spezifischen Inhalt erhobene Form all jener einseitig
charakterisierten „Gesellschaften“ in einem gleichsam abstrakten, alle
Inhalte in das bloße Spiel der Form auflösenden Bilde darstellt.

Von den soziologischen Kategorien her betrachtend, bezeichne ich also
die Geselligkeit als die +Spielform der Vergesellschaftung+ und als
-- ~mutatis mutandis~ -- zu deren inhaltsbestimmter Konkretheit sich
verhaltend wie das Kunstwerk zur Realität. Es kommt zunächst das
große, wenn man will: das größte Problem der Gesellschaft innerhalb
der Geselligkeit zu einer nur innerhalb ihrer möglichen Lösung:
welches Maß von Bedeutung und Akzent dem Individuum als solchem in
und gegenüber dem sozialen Umkreis zukomme? Indem die Geselligkeit in
ihren reinen Gestaltungen keinen sachlichen Zweck hat, keinen Inhalt
und kein Resultat, das sozusagen außerhalb des geselligen Augenblicks
als solchen läge, ist sie gänzlich auf die Persönlichkeiten gestellt,
nichts als die Befriedigtheit dieses Momentes -- allenfalls noch mit
einem Nachklang von ihr -- soll erreicht werden, und so bleibt der
Vorgang in seinen Bedingungen, wie in seinem Ertrage ausschließlich
auf seine personalen Träger beschränkt; die persönlichen Eigenschaften
der Liebenswürdigkeit, Bildung, Herzlichkeit, Anziehungskräfte jeder
Art entscheiden über den Charakter des rein geselligen Beisammenseins.
Aber gerade darum, weil hier alles auf die Persönlichkeiten gestellt
ist, dürfen die Persönlichkeiten sich nicht gar zu individuell betonen.
Wo reale Interessen, kooperierend oder kollidierend, die Sozialform
bestimmen, sorgen sie schon, daß das Individuum seine Besonderheiten
und Einzigkeiten nicht allzu unbeschränkt und eigengesetzlich
präsentiere; wo aber diese Bedingtheit fortfällt, muß eine andere,
nur aus der Form des Beisammenseins entspringende Herabsetzung der
persönlichen Zugespitztheit und Selbstherrlichkeit stattfinden,
damit ein Beisammensein überhaupt möglich sei. Darum ist in der
Gesellschaft das +Taktgefühl+ von so besonderer Bedeutung, weil dies
die Selbstregulierung des Individuums in seinem persönlichen Verhältnis
zu andern leitet, wo keine äußeren oder unmittelbar egoistischen
Interessen die Regulative übernehmen. Und vielleicht ist es die
spezifischste Leistung des Taktes, den individuellen Impulsivitäten,
Betonungen des Ich, geistigen und äußeren Ansprüchen die Grenze zu
ziehen, die das Recht des Andern fordert.

Eine sehr merkwürdige soziologische Struktur kommt hier auf. In die
Geselligkeit hat nicht einzutreten, was die Persönlichkeit etwa an
objektiven Bedeutungen besitzt, an solchen, die ihr Zentrum außerhalb
des aktuellen Kreises haben; Reichtum und gesellschaftliche Stellung,
Gelehrsamkeit und Berühmtheit, exzeptionelle Fähigkeiten und Verdienste
des Individuums haben in der Geselligkeit keine Rolle zu spielen,
höchstens als eine leichte Nuance von jener Immaterialität, mit
der allein die Realität überhaupt in das soziale Kunstgebilde der
Geselligkeit hineinragen darf. Ebenso aber wie dies Objektive, das
um die Persönlichkeit herum ist, muß nun auch gerade das rein und
zutiefst Persönliche aus ihrer Funktion als Element der Geselligkeit
ausscheiden: das Allerpersönlichste des Lebens, des Charakters, der
Stimmung, des Schicksals hat gleichfalls im Rahmen der Geselligkeit
keinen Platz. Es ist taktlos -- weil dem hier ausschließlich
dominierenden +Wechsel+wirkungsmoment widerstreitend -- bloß
persönliche Stimmung und Verstimmung, Aufgeregtheiten und Depressionen,
Licht und Dunkelheit des tiefsten Lebens in die Geselligkeit
mitzubringen. Bis in das Äußerlichste hinein reicht dieser Ausschluß
des Persönlichen: eine Dame würde in einem wirklich persönlichen, intim
freundschaftlichen Beisammensein mit einem oder wenigen Männern nicht
so dekolletiert erscheinen mögen, wie sie es ganz unbefangen in einer
großen Gesellschaft tut. Sie fühlt sich in dieser eben nicht in dem
Maße wie dort als Individuum engagiert und kann sich deshalb wie unter
der unpersönlichen Freiheit der Maske preisgeben, da sie ja zwar +nur+
sie selbst, aber doch nicht +ganz+ sie selbst ist, sondern nur ein
Element in einer formal zusammengehaltenen Vereinigung.

Der Mensch als ganzer ist sozusagen ein noch ungeformter Komplex von
Inhalten, Kräften, Möglichkeiten, und je nach den Motivierungen und
Beziehungen des wechselnden Daseins gestaltet er sich daraus zu einem
differenzierten, grenzbestimmten Gebilde. Als wirtschaftender und als
politischer Mensch, als Familienmitglied und als Repräsentant eines
Berufes ist er sozusagen je ein ~ad hoc~ konstruiertes Elaborat,
sein Lebensmaterial ist jedesmal von einer besonderen Idee bestimmt,
in eine besondere Form gegossen, deren relativ selbständiges Leben
freilich von der gemeinsamen, unmittelbar aber nicht zu bezeichnenden
Kraftquelle des Ich gespeist wird. In diesem Sinne nun ist auch der
Mensch als geselliger ein eigentümliches, in keiner andern Beziehung
so vorkommendes Gebilde. Er hat einerseits alle Sachbedeutungen der
Persönlichkeit abgetan und tritt nur mit den Fähigkeiten, Reizen,
Interessen seiner reinen Menschlichkeit in die Geselligkeitsform ein.
Andrerseits aber macht dies Gebilde vor dem ganz und gar Subjektiven
und rein Innerlichen der Persönlichkeit Halt. Die Diskretion, die
dem andern gegenüber eine erste Bedingung der Geselligkeit ist, ist
ebenso dem eigenen Ich gegenüber erforderlich, weil ihre Verletzung
in beiden Fällen die soziologische Kunstform der Geselligkeit in
einen soziologischen Naturalismus ausarten läßt. Man kann also von
einer oberen und unteren „+Geselligkeitsschwelle+“ für die Individuen
sprechen. Sowohl in dem Augenblick, in dem diese ihr Zusammensein auf
einen objektiven Inhalt und Zweck stellen, wie in dem andern, wo das
absolut Personale und Subjektive des Einzelnen rückhaltlos in die
Erscheinung tritt, ist die Geselligkeit nicht mehr das zentrale und
formende, sondern höchstens noch das formalistische und äußerlich
vermittelnde Prinzip.

Zu dieser negativen Bestimmung des Geselligkeitswesens durch Grenzen
und Schwellen aber kann man vielleicht das positive Formmotiv
finden. +Kant+ hat es als das Prinzip des Rechts aufgestellt, daß
ein jeder dasjenige Maß von Freiheit haben solle, das mit der
Freiheit jedes andern zusammen bestehen kann. Bleibt man einmal bei
dem Geselligkeitstriebe als dem Quell oder auch der Substanz der
Geselligkeit stehen, so ist nun das Prinzip, nach dem sie konstituiert
ist: jeder solle so viel Befriedigung dieses Triebes haben, wie es
mit der Befriedigung eben dieses für alle andern vereinbar ist.
Drückt man dies, statt von dem Triebe, vielmehr von dem Erfolge
her aus, so formuliert sich das Prinzip der Geselligkeit so: jeder
soll dem andern dasjenige Maximum an geselligen Werten (von Freude,
Entlastung, Lebendigkeit) +gewähren+, das mit dem Maximum der von
ihm selbst +empfangenen+ Werte vereinbar ist. Wie nun das Recht auf
jener Kantischen Basis ein durchaus demokratisches ist, so zeigt dies
Prinzip die demokratische Struktur aller Geselligkeit, die freilich
jede Gesellschaftsschicht nur in sich selbst realisieren kann, und
die eine Geselligkeit unter Angehörigen ganz verschiedener sozialer
Klassen so oft zu etwas Widerspruchsvollem und Peinlichem macht.
Solche Gleichheit entsteht hier durch den Wegfall einerseits des ganz
Persönlichen, andrerseits des ganz Sachlichen, also dessen, was die
Vergesellschaftung als ihr Material vorfindet und wovon sie in ihrer
Gestaltung als Geselligkeit entkleidet ist. Aber auch innerhalb der
gesellschaftlich Gleichstehenden ist die Demokratie ihrer Geselligkeit
eine +gespielte+. Die Geselligkeit schafft, wenn man will, eine ideale
soziologische Welt: denn in ihr ist -- das sprechen jene Prinzipien
aus -- die Freude des Einzelnen durchaus daran gebunden, daß auch
die andern froh sind, hier kann prinzipiell niemand auf Kosten ganz
entgegengesetzter Empfindungen des Andern seine Befriedigung finden --
wie viele andere Lebensgestaltungen es zwar durch über sie gestellte
ethische Imperative, aber nicht durch ihr unmittelbar eigenes und
inneres Prinzip ausschließen. Aber diese Welt der Geselligkeit, die
einzige, in der eine Demokratie der Gleichberechtigten ohne Reibungen
möglich ist, ist eine +künstliche+ Welt, aufgebaut aus Wesen, die
ausschließlich jene ganz reine, durch keinen gleichsam materialen
Akzent debalancierte Wechselwirkung untereinander herzustellen
wünschen. Wenn wir jetzt die Vorstellung haben, in die Geselligkeit
kämen wir rein „als Menschen“, als das, was wir wirklich sind, unter
Abwerfung all der Belastungen, der Hin- und Hergerissenheiten, des
Zuviel und Zuwenig, womit das reale Leben die Reinheit unseres Bildes
entstellt, so liegt das daran, daß das moderne Leben mit objektivem
Inhalt und Sachforderungen überlastet ist. Diese im geselligen Kreise
von uns abtuend, glauben wir zu unserem natürlich-persönlichen Sein
zurückzukehren und übersehen dabei, daß auch dies Persönliche nicht
in seiner ganzen Besonderheit und naturalistischen Vollständigkeit,
sondern nur in einer gewissen Reserve und Stilisierung den geselligen
Menschen ausmacht. In früheren Zeiten, als dieser Mensch noch nicht
so vielem Sachlichen, objektiv Inhaltlichen abgewonnen werden mußte,
machte sich sein Formgesetz mehr und deutlicher seinem +persönlichen
Sein+ gegenüber geltend: daher war das persönliche Benehmen in der
Geselligkeit früherer Zeiten viel zeremonieller, steifer und strenger
überindividuell reguliert als heute. Diese Reduktion der personalen
Peripherie auf das Bedeutungsmaß, das die homogene Wechselwirkung mit
andern dem Einzelnen einräumt, schwingt bis in das entgegengesetzte
Extrem: ein spezifisches Verhalten in der Gesellschaft ist die
Courtoisie, mit der der Starke, Hervorragende, nicht nur den
Schwächeren sich gleichstellt, sondern sogar die Attitüde annimmt,
als sei jener der Wertvollere und Überlegene. Wenn Vergesellschaftung
überhaupt Wechselwirkung ist, so ist es deren reinster und sozusagen
stilisiertester Fall, wenn sie unter Gleichen vor sich geht, wie
Symmetrie und Gleichgewicht die einleuchtendsten künstlerischen
Stilisierungsformen anschaulicher Elemente sind. Indem Geselligkeit
also die mit dem Charakter der Kunst oder des Spieles vollzogene
Abstraktion der Vergesellschaftung ist, fordert sie die reinste,
durchsichtigste, am leichtesten ansprechende Art der Wechselwirkung,
+die unter Gleichen+; sie muß sich, um ihrer fundamentalen Idee willen,
Wesen fingieren, die von ihrem objektiven Inhalt so viel abgeben, die
nach ihrer äußeren wie inneren Bedeutung so modifiziert werden, daß
sie als gesellige gleich sind und ein jedes die Geselligkeitswerte für
sich nur unter der Bedingung gewinnen kann, daß die andern, mit ihm
wechselwirkenden, sie ebenso gewinnen. Sie ist das Spiel, in dem man
„so tut“, als ob alle gleich wären, und zugleich, +als ob man jeden
besonders ehrte+. Dies ist so wenig Lüge, wie das Spiel oder die Kunst
mit all ihrer Abweichung von der Realität Lügen sind. Dazu wird es erst
in dem Augenblick, in dem das Tun und die Rede der Geselligkeit in die
Absichten und Geschehnisse der praktischen Realität eintritt -- wie das
Gemälde zur Lüge wird, wenn es panoramahaft die Realität vortäuschen
will. Was innerhalb des eigengesetzlichen, nur in dem immanenten Spiel
seiner Formen betätigten Lebens der Geselligkeit durchaus richtig und
in der Ordnung ist, wird zur Lüge, wenn diese Erscheinung ein bloßer
Schein ist, der in Wirklichkeit von Zwecken ganz anderer als geselliger
Art gelenkt wird oder diese unsichtbar machen soll -- wozu freilich die
tatsächliche Verflechtung der Geselligkeit in die Reihen des realen
Lebens leicht verführen mag.

Dieser Zusammenhang legt nahe, daß in der Geselligkeit alles das
unterkommen wird, was man schon von sich aus als soziologische
Spielform bezeichnen kann: vor allem das eigentliche Spiel selbst,
das in der Geselligkeit aller Epochen einen breiten Raum einnimmt.
Der Ausdruck des „+Gesellschafts+spieles“ ist in dem tieferen Sinne
bedeutsam, auf den ich vorher hinwies. Die ganzen Wechselwirkungs- oder
Vergesellschaftungsformen zwischen den Menschen: das Übertreffenwollen
und der Tausch, die Parteibildung und das Abgewinnenwollen, die
Chancen der zufälligen Begegnung und Trennung, der Wechsel zwischen
Gegnerschaft und Kooperation, das Überlisten und die Revanche -- alles
dieses, im Ernste der Wirklichkeit von Zweckinhalten erfüllt, führt
im Spiel ein vom Reize dieser Funktionen selbst und allein getragenes
Leben. Denn selbst wo das Spiel sich um einen Geldpreis dreht, ist
nicht dieser, der doch auch auf viele andere Weisen zu erwerben wäre,
das Spezifische des Spieles, sondern dessen Attraktionen liegen für
den richtigen Spieler in der Dynamik und dem Hazard jener soziologisch
bedeutsamen Betätigungsformen selbst. Das Gesellschaftsspiel hat
den tieferen Doppelsinn, daß es nicht nur in einer Gesellschaft als
seinem äußeren Träger gespielt wird, sondern daß mit ihm tatsächlich
„Gesellschaft“ „gespielt“ wird. Weiterhin hat, in der Soziologie der
Geschlechter, die Erotik ihre Spielform ausgebildet: die +Koketterie+,
die innerhalb der Geselligkeit ihre leichteste, spielendste, aber
auch weiteste Realisierung findet[3]. Dreht sich die erotische Frage
zwischen den Geschlechtern um Gewähren und Versagen (deren Gegenstände
natürlich unendlich mannigfaltig und abgestuft und keineswegs nur
radikaler oder gar nur physiologischer Natur sind), so ist es das Wesen
der weiblichen Koketterie, ein andeutendes Gewähren und ein andeutendes
Versagen wechselnd gegeneinander zu spannen, den Mann anzuziehen,
ohne es zu einer Entscheidung kommen zu lassen, ihn zurückzuweisen,
ohne ihm alle Hoffnung zu nehmen. Die Kokette steigert ihren Reiz auf
das Höchste, indem sie dem Manne die Gewährung sozusagen ganz nahe
rückt, ohne daß es ihr schließlich damit Ernst wäre; ihr Verhalten
pendelt zwischen dem Ja und dem Nein, ohne auf einem Halt zu machen.
Sie zeichnet damit gleichsam spielend die bloße und reine Form der
erotischen Entscheidungen und kann deren polare Entgegengesetztheiten
in einem ganz einheitlichen Benehmen zusammenbringen, da der
entschiedene und entscheidende Inhalt, der sie auf einem von beiden
festlegte, prinzipiell in die Koketterie nicht eintritt. Und diese
Entlastung von aller Schwere fester Inhalte und bleibender Realitäten
gibt der Koketterie jenen Charakter des Schwebenden, der Distanz, des
Ideellen, dessentwegen man mit einem gewissen Recht von der „Kunst“
-- nicht nur von den „Künsten“ -- der Koketterie spricht. Damit sie
sich aber auf dem Boden der Geselligkeit als ein so heimisches Gewächs
ausbreiten könne, wie die Erfahrung es zeigt, muß ihr von seiten
des Mannes ein ganz besonderes Verhalten begegnen. Solange der Mann
sich dem Reize der Koketterie versagt, oder solange er umgekehrt ihr
bloßes Opfer ist, das von ihren Schwingungen zwischen dem halben Ja
und dem halben Nein willenlos mitgeschleift wird, -- so lange hat die
Koketterie noch nicht die der Geselligkeit eigentlich adäquate Gestalt.
Es fehlt ihr jene freie Wechselwirkung und Äquivalenz der Elemente,
die das Grundgesetz der Geselligkeit ist. Diese tritt erst dann ein,
wenn der Mann nach nicht mehr als nach diesem frei schwebenden Spiele
verlangt, in dem nur wie ein fernes Symbol irgendwelches erotische
Definitivum anklingt, und wenn er nicht erst aus dem Begehren oder
aus der Befürchtung eines solchen den Reiz jener Andeutungen und
Präliminarien zieht. Die Koketterie, wie sie gerade auf den Höhen
der geselligen Kultur ihre Anmut entfaltet, hat die Wirklichkeit
des erotischen Begehrens, Gewährens oder Versagens hinter sich
gelassen und ergeht sich in dem Wechselspiele der Silhouetten dieser
Ernsthaftigkeiten. Wo diese letzteren eintreten oder dahinter stehen,
wird das ganze Geschehen sozusagen zu einer Privatangelegenheit der
beiden Personen, die nun in der Ebene der Realität abläuft; unter dem
soziologischen Zeichen der Geselligkeit aber, in die die eigentliche,
das volle Leben in sich bindende Zentralität der Personen überhaupt
nicht eintritt, ist Koketterie das neckische oder auch ironische Spiel,
mit dem die Erotik gleichsam die reinen Schemata ihrer Wechselwirkungen
von ihrem stofflichen oder ganz individuellen Inhalt gelöst hat. Wie
die Geselligkeit die Formen der Gesellschaft spielt, so spielt die
Koketterie die Formen der Erotik -- eine Wesensverwandtschaft, die
diese eben gewissermaßen zu einem Element jener prädestiniert.

In welchem Maße die Geselligkeit so die Abstraktion der sonst durch
ihren Inhalt bedeutsamen soziologischen Wechselwirkungsformen
vollzieht und ihnen, die nun gleichsam um sich selbst kreisen,
einen Schattenkörper leiht, dies offenbart sich schließlich an dem
breitesten Träger aller menschlichen Gemeinsamkeit, am +Gespräch+. Das
Entscheidende ist hier als die ganz banale Erfahrung auszudrücken:
daß im Ernst des Lebens die Menschen um eines Inhaltes willen reden,
den sie mitteilen oder über den sie sich verständigen wollen, in
der Geselligkeit aber das Reden zum Selbstzweck wird, aber nicht
im naturalistischen Sinne, wie im Geschwätz, sondern in dem der
+Kunst+ des Sich-Unterhaltens, mit deren eigenen artistischen
Gesetzen; im rein geselligen Gespräch ist sein Stoff nur noch der
unentbehrliche Träger der Reize, die der lebendige Wechseltausch
der Rede als solcher entfaltet. Alle die Formen, mit denen dieser
Tausch sich verwirklicht: der Streit und der Appell an die von beiden
Parteien anerkannten Normen; der Friedensschluß durch Kompromiß und
das Entdecken gemeinsamer Überzeugungen; das dankbare Aufnehmen des
Neuen und das Ablenken von dem, worüber doch keine Verständigung zu
hoffen ist -- alle diese Formen gesprächhafter Wechselwirkung, sonst
im Dienste unzähliger Inhalte und Zwecke des menschlichen Verkehrs,
haben hier ihre Bedeutung in sich selbst, das heißt in dem Reize
des Beziehungsspieles, das sie, bindend und lösend, siegend und
unterliegend, gebend und nehmend, zwischen den Individuen stiften; der
Doppelsinn des „Sich-Unterhaltens“ tritt in seine Rechte. Damit dieses
Spiel sein Genügen an der bloßen Form bewahre, darf der Inhalt kein
Eigengewicht bekommen: sobald die Diskussion sachlich wird, ist sie
nicht mehr gesellig; sie dreht ihre teleologische Spitze um, sobald
die Ergründung einer Wahrheit -- die durchaus ihren +Inhalt+ bilden
kann -- zu ihrem +Zwecke+ wird. Damit zerstört sie ihren Charakter als
gesellige Unterhaltung ebenso, wie wenn sie sich zu einem ernsthaften
Streite zuspitzt. Die +Form+ des gemeinsamen Suchens des Richtigen,
die +Form+ des Streites mag bestehen; aber sie darf den Ernst ihres
jeweiligen Inhaltes so wenig zu ihrer Substanz werden lassen, wie man
in ein perspektivisch wirkendes Gemälde ein Stück der dreidimensionalen
Wirklichkeit seines Gegenstandes einfügen dürfte. Nicht als ob der
Inhalt der gesellschaftlichen Unterhaltung gleichgültig sei: er
soll durchaus interessant, fesselnd, ja bedeutend sein -- nur daß
er nicht an sich den Zweck der Unterhaltung bilde, daß diese nicht
dem objektiven Resultat gelte, das sozusagen ideell außerhalb der
Unterhaltung bestünde. Äußerlich mögen deshalb zwei Unterhaltungen
ganz gleich verlaufen, +gesellig+, dem inneren Sinne nach, ist nur
diejenige, in der jene Inhalte, mit all ihrem Werte und Reize, doch nur
an dem funktionellen Spiele der Unterhaltung als solcher ihr Recht,
ihren Platz, ihren Zweck finden, an der Form des Redetausches mit ihrer
besonderen und sich selbst normierenden Bedeutsamkeit. Darum gehört zum
Wesen der geselligen Unterhaltung, daß sie ihren Gegenstand leicht und
rasch wechseln könne; denn da der Gegenstand hier nur Mittel ist, kommt
ihm die ganze Austauschbarkeit und Zufälligkeit zu, die überhaupt den
Mitteln gegenüber dem feststehenden Zwecke eignet. So also bietet, wie
gesagt, die Geselligkeit den vielleicht einzigen Fall, in dem das Reden
legitimer Selbstzweck ist. Denn dadurch, daß es schlechthin zweiseitig
ist, ja vielleicht mit Ausnahme des „Sich-Ansehens“ die reinste
und sublimierteste Zweiseitigkeitsform unter allen soziologischen
Erscheinungen überhaupt, wird es zur Erfüllung einer Relation, die
sozusagen nichts als Relation sein will, in der also das, was sonst
bloße Form der Wechselwirkung ist, zu deren selbstgenugsamem Inhalt
wird. Es ergibt sich aus diesen gesamten Zusammenhängen, daß auch
das Erzählen von Geschichten, Witzen, Anekdoten, so oft es auch ein
Lückenbüßer und Armutszeugnis sein mag, doch auch einen feinen Takt
zeigen kann, in dem alle Motive der Geselligkeit anklingen. Denn
zunächst wird damit die Unterhaltung auf einer Basis gehalten, die
jenseits aller individuellen Intimität, jenseits jenes rein Personalen
steht, das sich nicht in die Kategorien der Geselligkeit fügen will.
Aber dennoch ist dieses Objektive nicht um seines Inhaltes, sondern
um des Geselligkeitsinteresses willen vorgebracht; daß dieser gesagt
und aufgenommen wird, ist kein Selbstzweck, sondern ein bloßes Mittel
für die Lebendigkeit, das Sichverstehen, das Gemeinsamkeitsbewußtsein
des Kreises. Es ist damit nicht nur ein Inhalt gegeben, an dem alle
gleichmäßig teilhaben können, sondern es ist die Gabe eines einzelnen
an die Gesamtheit, aber eine solche, hinter der der Gebende sozusagen
unsichtbar wird: die feinste, gesellig erzählte Geschichte ist die,
bei der der Erzählende seine Person völlig zurücktreten läßt; die
ganz vollendete hält sich in dem glücklichen Gleichgewichtspunkt der
sozusagen geselligen Ethik, in dem sowohl das subjektiv Individuelle
wie das objektiv Inhaltliche sich völlig in den Dienst an der reinen
Geselligkeitsform aufgelöst haben.

Es ist hiermit angedeutet, daß die Geselligkeit die Spielform auch
für die ethischen Kräfte der konkreten Gesellschaft ist. Die großen,
diesen Kräften gestellten Probleme: daß der Einzelne sich in einen
Gesamtzusammenhang einzuordnen und für ihn zu leben habe, daß ihm
aber aus diesem wieder Werte und Erhöhungen zurückfließen müssen, daß
das Leben des Individuums ein Umweg für die Zwecke des Ganzen, das
Leben des Ganzen aber ein Umweg für die Zwecke des Individuums sei --
den Ernst, ja die vielfache Tragik dieser Forderungen überträgt die
Geselligkeit in das symbolische Spiel ihres Schattenreiches, in dem es
keine Reibungen gibt, weil Schatten sich eben nicht aneinander stoßen
können. Wenn es ferner die ethische Aufgabe der Vergesellschaftung ist,
das Sichzusammenfinden und das Sichlösen ihrer Elemente zum genauen
und aufrichtigen Ausdruck ihrer inneren, durch die Ganzheit ihres
Lebens bestimmten Relationen zu machen, so löst sich innerhalb der
Geselligkeit diese Freiheit und Adäquatheit von ihren konkreten und
inhaltlich tieferen Bedingnissen ab; wie sich in einer „Gesellschaft“
Gruppen bilden und sich spalten, wie das Zwiegespräch in ihr sich
rein nach Impuls und Gelegenheit entspinnt, vertieft, lockert,
abschließt, dies ist ein Miniaturbild des Gesellschaftsideales, das
man die Freiheit der Bindung nennen könnte. Wenn alles Miteinander und
Auseinander das streng angemessene Phänomen innerer Wirklichkeiten
sein soll, so sind diese letzteren hier fortgefallen, und nur
jene Erscheinung ist geblieben, deren den eigenen Formgesetzen
gehorsames Spiel, deren in sich geschlossene Anmut jene Angemessenheit
+ästhetisch+ repräsentiert, die der Ernst der Realitäten sonst
+ethisch+ fordert. --

Diese Gesamtdeutung der Geselligkeit wird von gewissen historischen
Entwicklungen anschaulich realisiert. Im früheren deutschen Mittelalter
finden wir ritterliche Bruderschaften, die von befreundeten
Patrizierfamilien gebildet waren. Die religiösen und praktischen
Zwecke dieser Einungen scheinen sich aber ziemlich früh verloren zu
haben, und im 14. Jahrhundert sind die +ritterlichen+ Interessen und
Verhaltungsweisen ihr allein übriggebliebenes inhaltliches Spezifikum.
Bald nachher aber verschwindet auch dieses, und es verbleiben nur
noch rein gesellige Vereinigungen aristokratischer Schichten. Hier
entwickelt sich also die Geselligkeit offensichtlich als das Residuum
einer inhaltbestimmten Gesellschaft -- als das Residuum, das, weil
der Inhalt verloren gegangen ist, nur aus der Form und den Formen
des Miteinander und Füreinander bestehen kann. Daß der Eigenbestand
dieser Formen nur das innere Wesen des Spieles oder, tiefergreifend,
der Kunst zeigen kann, tritt noch sichtbarer an der Hofgesellschaft
des ~Ancien Régime~ hervor. Hier waren aus dem Wegfall der konkreten
Lebensinhalte, die der französischen Aristokratie gewissermaßen durch
das Königtum ausgesogen waren, freischwebende Formen entstanden, zu
denen das Bewußtsein dieses Standes kristallisiert war -- Formen,
deren Kräfte, Bestimmtheiten, Relationen rein gesellig waren und
keineswegs etwa Symbole oder Funktionen der realen Bedeutungen und
Intensitäten der Personen und Institutionen. Das Etikettenwesen der
höfischen Geselligkeit war zum Selbstzweck geworden, es etikettierte
keinen Inhalt mehr, sondern hatte immanente Gesetze ausgebildet, jenen
der Kunst vergleichbar, die nur aus dem Gesichtspunkt der Kunst heraus
gelten und durchaus nicht den Zweck haben, die Wirklichkeit der
Modelle, der Dinge außerhalb der Kunst, in ihr nachzubilden.

Mit dieser Erscheinung erreicht die Geselligkeit zwar ihren
souveränsten, aber zugleich in die Karikatur übergehenden Ausdruck.
Gewiß ist es ihr Wesen, aus den realistischen Wechselbeziehungen der
Menschen die Realität auszuscheiden und nach den Formgesetzen dieser
in sich bewegten, jetzt keinen Zweck außerhalb ihrer anerkennenden
Relationen ihr luftiges Reich zu errichten. Allein die tief strömende
Quelle, aus der dieses Reich seine Bewegtheiten speist, ist dennoch
nicht in jenen sich selbst bestimmenden Formen, sondern nur in
der Lebendigkeit der realen Individuen, in ihren Empfindungen und
Attraktionen, in der Fülle ihrer Impulse und Überzeugungen zu suchen.
Alle Geselligkeit ist nur ein +Symbol+ des Lebens, wie es sich in dem
Flusse eines leicht beglückenden Spieles zeichnet, aber eben doch ein
Symbol des +Lebens+, dessen Bild nur so weit verändernd, wie die hier
zu ihm gewonnene Distanz es fordert; gerade wie auch die freieste und
phantastischste, von aller Wirklichkeitskopie entfernteste Kunst sich
von einem tiefen und treuen Verhältnis zur Wirklichkeit nährt, wenn sie
nicht hohl und verlogen wirken soll. Auch die Kunst steht zwar +über+
dem Leben, aber über dem +Leben+. Schneidet die Geselligkeit die Fäden,
die sie mit der Lebenswirklichkeit verbinden und aus denen sie ihr
freilich ganz anders stilisiertes Gewebe spinnt, völlig ab, so wird
sie aus einem Spiele zu einer Spielerei mit leeren Formen, zu einem
unlebendigen und auf seine Unlebendigkeit stolzen Schematismus.

Aus diesem Zusammenhange wird ersichtlich, daß die Menschen über die
+Oberflächlichkeit+ des gesellschaftlichen Verkehrs mit Recht und mit
Unrecht klagen. Es gehört nämlich zu den wirkungsvollsten Tatsachen
der geistigen Existenz, daß, wenn wir aus der Ganzheit des Seins
irgendwelche Elemente zu einem eigenen Reich zusammenschließen, das
nach eigenen Gesetzen und nicht nach denen des Ganzen verwaltet wird,
dieses Reich freilich in einer völligen Abschnürung von dem Leben des
Ganzen, bei aller inneren Vollendung, ein ausgehöhltes und in der Luft
schwebendes Wesen zeigen kann: dann aber, oft nur durch Imponderabilien
verändert, gerade in diesem Abstand von aller unmittelbaren Realität,
deren tiefstes Wesen vollständiger, einheitlicher, sinngemäßer zeigen
kann, als irgendein Versuch, es realistischer und ohne Distanznahme zu
ergreifen. Je nachdem diese oder jene Empfindung vorliegt, wird das
eigene und unter eigenen Normen ablaufende Leben, das die Oberflächen
der gesellschaftlichen Wechselwirkungen in der Geselligkeit gewonnen
haben, für uns eine formelhafte, bedeutungslose Unlebendigkeit sein --
oder ein symbolisches Spiel, in dessen ästhetischen Reiz alle feinste,
sublimierte Dynamik des gesellschaftlichen Daseins überhaupt und seines
Reichtums gesammelt ist. Wir sind in der ganzen Kunst, in der ganzen
Symbolik des religiösen und kirchlichen Lebens, großenteils sogar
in den Formulierungskomplexen der Wissenschaft auf diesen Glauben,
auf dieses Gefühl angewiesen, daß die Eigengesetzlichkeiten bloßer
Erscheinungsteile, die Kombination ausgewählter Oberflächenelemente
eine Beziehung zu der Tiefe und Ganzheit der vollen Realität besitzen,
die, wenn auch oft nicht formulierbar, jene zum Träger und Vertreter
des unmittelbar wirklichen und fundamentalen Daseins macht. Wir
verstehen daraus die erlösende und beglückende Wirkung mancher dieser,
aus den bloßen Formen des Daseins aufgebauten Reiche; denn in ihnen
sind wir zwar vom Leben erlöst, aber wir haben es doch. Wie uns der
Anblick des Meeres innerlich befreit, nicht obgleich, sondern weil in
seinem Aufrauschen, um abzufließen, Abfließen, um wieder aufzurauschen,
in dem Spielen und Gegenspielen seiner Wellen das ganze Leben zu dem
einfachsten Ausdruck seiner Dynamik stilisiert ist, ganz frei von aller
erlebbaren Wirklichkeit und aller Schwere der Einzelschicksale, deren
letzter Sinn dennoch in dieses bloße Bild einzufließen scheint -- so
offenbart etwa die Kunst das Geheimnis des Lebens: daß wir uns nicht
durch einfaches Wegsehen von ihm erlösen, sondern gerade indem wir in
dem scheinbar ganz selbstherrlichen Spiel seiner Formen den Sinn und
die Kräfte seiner tiefsten Wirklichkeit, aber ohne diese Wirklichkeit
selbst, gestalten und erleben. Für so viel tiefe und den Druck des
Lebens in jedem Augenblick fühlende Menschen würde die Geselligkeit
nicht dies Befreiende, erlösend Heitere enthalten können, wenn sie
wirklich nur das Sichflüchten vor diesem Leben, die bloß momentane
Aufhebung seines Ernstes wäre. Sie mag vielfach dies nur Negative sein,
ein Konventionalismus und innerlich lebloser Austausch von Formeln;
so vielleicht häufig im ~Ancien Régime~, wo die dumpfe Angst vor
einer bedrohlichen Wirklichkeit die Menschen in jenes bloße Wegsehen
hineintrieb, in jene Abschnürung von den Mächten des tatsächlichen
Lebens. Das Befreiende und Erleichternde aber, das gerade der tiefere
Mensch in der Geselligkeit findet, ist: daß das Zusammensein und der
Einwirkungstausch, in denen die ganzen Aufgaben und die ganze Schwere
des Lebens sich darstellt, hier in gleichsam artistischem Spiel
genossen werden, in jener gleichzeitigen Sublimierung und Verdünnung,
in der die inhaltbegabten Kräfte der Wirklichkeit nur noch wie aus der
Ferne anklingen, ihre Schwere in einen Reiz verflüchtigend.

  [3] Das Wesen der Koketterie habe ich ausführlich in meinem Buche:
      Philosophische Kultur -- behandelt.



Viertes Kapitel.

Individuum und Gesellschaft in Lebensanschauungen des 18. und 19.
Jahrhunderts.

(Beispiel der Philosophischen Soziologie.)


Das eigentliche praktische Problem der Gesellschaft liegt in dem
Verhältnis, das ihre Kräfte und Formen zu dem Eigenleben der
Individuen besitzen. Mag die Gesellschaft an den Individuen oder noch
außerhalb dieser existieren. Aber selbst wer ein eigentliches „Leben“
nur den Individuen zuerkennte und das Leben der Gesellschaft mit
dem ihrer einzelnen Mitglieder identifizierte, würde eine Vielheit
tatsächlicher Konflikte nicht leugnen können. Einerseits, weil
die sozialen Elemente an den Individuen eben zu dem Sondergebilde
„Gesellschaft“ zusammenrinnen und dieses eigene Träger und Organe
gewinnt, die dem Einzelnen mit Forderungen und Exekutiven wie eine ihm
fremde Partei gegenübertreten. Andrerseits ist der Konflikt gerade
durch das Einwohnen der Gesellschaft in dem Einzelnen nahegelegt.
Denn die Fähigkeit des Menschen, sich selbst in Parteien zu zerlegen
und irgendeinen +Teil+ seiner selbst als sein eigentliches Selbst zu
empfinden, das mit andern Teilen kollidiert und um die Bestimmung
seines Handelns kämpft -- diese Fähigkeit setzt den Menschen, insoweit
er sich als Sozialwesen fühlt, in ein oft gegensätzliches Verhältnis
zu den durch seinen Gesellschaftscharakter nicht ergriffenen Impulsen
und Interessen seines Ich: der Konflikt zwischen der Gesellschaft und
dem Individuum setzt sich in das Individuum selbst als der Kampf seiner
Wesensteile fort. Der umfassendste und tiefstgreifende Zwist zwischen
der Gesellschaft und dem Individuum scheint mir nicht auf einen
einzelnen Interesseninhalt zu gehen, sondern auf die allgemeine Form
des Einzellebens. Die Gesellschaft will eine Ganzheit und organische
Einheit sein, so daß jedes ihrer Individuen nur ein Glied ist; in die
spezielle Funktion, die es als solches zu üben hat, soll es womöglich
seine gesamten Kräfte gießen, soll sich umformen, bis es ganz zum
geeignetsten Träger dieser Funktion geworden ist. Allein gegen diese
Rolle sträubt sich der Einheits- und Ganzheitstrieb, den das Individuum
für sich allein hat. Es will in sich abgerundet sein und nicht nur
die ganze Gesellschaft abrunden helfen, es will die Gesamtheit seiner
Fähigkeiten entfalten, gleichviel, welche Verschiebungen unter
ihnen das Interesse der Gesellschaft forderte. Dieser Widerstreit
zwischen dem Ganzen, das von seinen Elementen die Einseitigkeiten
der Teilfunktion fordert, und dem Teil, der selbst ein Ganzes sein
will, ist prinzipiell nicht zu lösen: man kann kein Haus aus Häusern
bauen, sondern nur aus besonders geformten Steinen, keinen Baum aus
Bäumen erwachsen lassen, sondern nur aus differenzierten Zellen.
Diese Formulierung scheint mir den Gegensatz der beiden Parteien
deshalb so weitgreifend zu umschreiben, weil sie ihn über die übliche
Reduktion auf Egoismus und Altruismus vollkommen hinausführt. Denn
einerseits freilich erscheint das Ganzheitsstreben des einzelnen als
Egoismus, dem der Altruismus seiner Einordnung als einseitig geformten
sozialen Gliedes gegenübersteht; andrerseits aber ist dieses Verlangen
der Gesellschaft ein Egoismus, eine Vergewaltigung des Einzelnen
durch die Vielen und ihren Nutzen, die jenen oft zu einer völligen
Vereinseitigung und Verkümmerung bringt; und daß das Individuum darauf
drängt, sich in sich zu vollenden, braucht keineswegs als Egoismus zu
gelten, sondern kann ein objektives Ideal sein, bei dem durchaus nicht
nach seinem Erfolg für das Glück und die im engeren Sinne persönlichen
Interessen des Subjekts gefragt wird, ein überpersönlicher Wert, der
sich an der Persönlichkeit verwirklicht.

Mit dem zuletzt Angedeuteten, sogleich weiter Auszuführenden
scheint mir allerdings eine ganz wesentliche Entwicklungsstufe des
kulturphilosophischen Bewußtseins erreicht, auf der auch die Ethik
des Individuums, und indirekt die der Gesellschaft, ein neues Licht
empfängt. Es ist die populäre Meinung, daß alle Absichten, die sich
in dem undurchbrochenen Seins- und Interessenkreise des wollenden
Individuums selbst halten, egoistischer Natur wären. Diese wäre
nur da überwunden, wo der Wille sich auf das Wohl des Du oder der
Gesellschaft richte. In Wirklichkeit aber hat die tiefere Reflexion
über die Lebenswerte schon lange ein Drittes festgestellt, am
entschiedensten vielleicht bei Goethe und Nietzsche, wenn auch nicht
in abstrakter Formulierung: daß die Vollkommenheit des Individuums
rein als solche und gleichgültig gegen ihre Bedeutung für irgendwelche
andere oder dieser nur zufällig verbunden, ein objektiver Wert sei,
der sich aber auch ebenso unabhängig gegen den eigenen Glücks- oder
Unglückszustand dieses Individuums stellen kann. Was ein Mensch nach
Kraft und Vornehmheit, nach Leistungen und Harmonie der Existenz
bedeutet, ist unzählige Male ohne Beziehung dazu, was er selbst oder
was andere +davon haben+. Die Welt ist eben so viel wertvoller dadurch,
daß ein in sich wertvolles, in seinem Sein vollkommenes Wesen in ihr
lebt. Natürlich besteht solcher Wert unzählige Male in der praktischen
Hingebung an Einzelne oder an Gesamtheiten; allein ihn darauf zu
beschränken, ist ein willkürliches moralistisches Dogma. Auch gibt
es eine Schönheit und Perfektion des Daseins, ein Arbeiten an sich
selbst, eine leidenschaftliche Bemühung um ideale Güter, welches
alles sich in das Gefühl seines Trägers keineswegs immer als Glück
fortsetzt. Diese Einstellung, sozusagen von dem weltmäßigen Wert her,
setzt doch nur eine entsprechende des individuellen Bewußtseins fort.
Jeder höhere Mensch begehrt unzählige Male Zustände und Geschehnisse,
Erkenntnisse und Werke, in deren So-Sein und Dasein er ein definitiv
befriedigendes Ziel sieht. Gelegentlich mag Förderung oder Befinden
Anderer solchen Willensinhalt ausmachen; notwendig aber ist dies nicht,
die Sache selbst wird gewollt, nur um ihrer eigenen Verwirklichung
willen, und andere daher ebenso zu opfern wie sich selbst, ist kein zu
hoher Preis: jenes ~fiat justitia pereat mundus~ oder die Erfüllung
des göttlichen Willens, bloß weil es der göttliche ist, der Fanatismus
des Künstlers, den die Vollendung seines Werkes jede altruistische wie
egoistische Rücksicht vergessen macht, oder der politische Idealist,
den die Begeisterung für eine Verfassungsform ganz gleichgültig dagegen
macht, wie sich die Individuen dabei befinden -- alles dies sind
Beispiele für jene, bis zu ganz unscheinbaren Inhalten herabgehende,
rein objektive Wertung. Das handelnde Subjekt weiß sich selbst nur
als den eigentlich zufälligen Gegenstand oder Vollbringer dieses
Auftrags von der Sache her; die Leidenschaft für sie fragt hier so
wenig nach dem Ich, dem Du, der Gesellschaft als solcher, wie der Wert
des Weltzustandes sich etwa ausschließlich (wenn auch natürlich zum
Teil) an deren Lust oder Leid messen läßt. Aber es liegt auf der Hand,
daß die von Personen und Gesamtheiten, soweit sie sich als letzte
Wertinstanzen fühlen, herkommenden Ansprüche mit diesen objektiven
nicht ohne weiteres zusammengehen. Insbesondere, wo der Einzelne
einen solchen objektiven Wert an sich selbst oder einem sozial nicht
geschätzten Werk herzustellen strebt, ist es der Gesellschaft höchst
gleichgültig, daß er dabei durchaus überegoistisch verfährt. Sie
fordert ihn für sich und will ihn in die ihrer Ganzheit einfügsame Form
bringen, oft in so harter Unverträglichkeit mit derjenigen, die er als
objektiven Wert sich selbst abverlangt, wie sie nur zwischen einem rein
egoistischen und einem sozialen Anspruch bestehen mag. Die mit jenen
Wertungen erreichte Stufe hat freilich den Gegensatz von Egoismus und
Altruismus hinter sich gelassen; aber der zwischen dem Einzelnen und
der Gesellschaft versöhnt sich prinzipiell auch auf ihr nicht.

Einen verwandten und doch nach der letzten, weltanschaulichen Gesinnung
anders orientierten Gegensatz läßt die moderne Auseinanderlegung
der soziologischen Begriffe oft um dieselben materiellen Inhalte
spielen. Die Gesellschaft -- und ihr Repräsentant im Einzelnen,
das sozial-sittliche Gewissen -- verlangt unzählige Male ein
Spezialistentum, das nicht nur, wie hervorgehoben, die harmonische
Totalität des Menschen unentwickelt läßt oder zerstört; sondern
inhaltlich stellt jenes sich oft ebenso feindlich zu den Eigenschaften,
die man die allgemein menschlichen zu nennen pflegt. Den Unterschied
zwischen dem Menschheitsinteresse und dem sozialen Interesse hat, wie
es scheint, zuerst Nietzsche mit prinzipieller Deutlichkeit gefühlt.
Die Gesellschaft ist +eine+ der Formungen, in die die Menschheit die
Inhalte ihres Lebens bringt; aber weder ist sie für diese +alle+
wesentlich, noch ist sie die einzige, innerhalb deren die Entwicklung
des Menschlichen sich vollzieht. Alle rein sachlichen Bedeutsamkeiten,
an denen unsere Seele irgendwie teilhat, die logische Erkenntnis und
die metaphysische Phantasie über die Dinge, die Schönheit des Daseins
und sein Bild in der Selbstherrlichkeit der Kunst, das Reich der
Religion und der Natur -- alles dies, soweit es zu unserem Besitz
wird, hat innerlich und seinem Wesen nach mit „Gesellschaft“ nicht
das mindeste zu schaffen; die Menschheitswerte, die sich an unserem
größeren oder geringeren Besitz innerhalb dieser idealen Welten
messen, haben zu den sozialen Werten, mit denen sie sich freilich oft
genug kreuzen, eine nur zufällige Beziehung. Andrerseits sind die
rein personalen Eigenschaften: Kraft und Schönheit, Denktiefe und
Gesinnungsgröße, Milde und Vornehmheit, Mut und Herzensreinheit --
von einer autonomen Bedeutung, die von ihren sozialen Verflechtungen
völlig unabhängig ist. Es sind Werte des menschlichen Seins und als
solche von den sozialen Werten, die immer auf den +Wirkungen+ von
Personen beruhen, durchaus getrennt; sie sind freilich zugleich
Elemente des sozialen Geschehens, als Wirkungen wie als Ursachen,
aber dies ist nur +eine+ Seite ihrer Bedeutung, während die andere
in der bloßen, nicht über sich hinausweisenden Tatsache ihres
Daseins an der Persönlichkeit besteht. Dieses, genau genommen,
unmittelbare Sein der Menschen aber ist für Nietzsche der Ort, an
dem die jeweilige Höhe des Menschengeschlechts sich erhebt. Ihm sind
alle gesellschaftlichen Institutionen, alles Geben und Nehmen des
Individuums, wodurch es zum Sozialwesen wird, nur Vorbedingungen oder
Folgen der Beschaffenheitswerte des Einzelnen, mit denen er eine
Stufe der Menschheitsentwicklung ausmacht. Alle utilitarisch-soziale
Wertung hängt nicht ganz von der Eigenbedeutung der Persönlichkeit
ab, sondern auch von denen, die sein Tun aufnehmen, sein Wert tritt
damit aus ihm heraus, und er empfängt ihn nur zurück als den Reflex
von Vorgängen und Gebilden, in denen sich seine Eigenheit mit ihm
äußeren Wesen und Umständen gemischt hat. Daraufhin hat schon die
Ethik, vor allem die Kantische, den Schätzungsgrund des Menschen von
seinem Tun in seine Gesinnung zurückverlegt: der gute Wille, eine
nicht näher zu beschreibende Beschaffenheit des letzten Quellpunktes
unseres Handelns, hinter aller Erscheinung des letzteren stehend,
mache unseren Wert aus, während diese Erscheinung selbst und mit ihr
alle Wirksamkeiten schon eine bloße Folge seien, die jenes Wesentliche
bald richtig ausdrücke, bald verzerre und so von den Mächten der
Phänomenalität in ein bloß zufälliges Verhältnis zu dem Grundwert
gesetzt werde. Nietzsche hat dies verbreitert oder prinzipieller
gefaßt, indem er den Kantischen Gegensatz zwischen Gesinnung und
äußeren Taterfolgen, der schon von sich aus den Wert des Individuums
aus seiner sozialen Abhängigkeit erlöste, in den zwischen dem Sein
und den Wirkungen des Menschen überführte. Das qualitative +Sein+ der
Persönlichkeiten aber dokumentiert, wohin es die Entwicklung unserer
Art gebracht hat, mit ihren jeweilig höchsten Exemplaren schreitet
die Menschheit über ihre Vergangenheit hinaus. Die Grenzen des bloß
gesellschaftlichen Daseins, die Wertabmessung des Menschen nach seinen
Wirkungen sind damit durchbrochen. Die Menschheit ist so nicht nur
ein quantitatives Mehr der Gesellschaft gegenüber, sie ist nicht die
Summe aller Gesellschaften, sondern eine völlig eigenartige Synthese
derselben Elemente, die in andrer die Gesellschaften ergeben.
Dem Individuum gegenüber sind beides gleichsam zwei verschiedene
methodische Gesichtspunkte, von denen aus es betrachtet werden kann,
die es mit verschiedenen Maßen messen und deren Ansprüche aufs härteste
kollidieren können. Was uns mit der Menschheit als Ganzem verbindet
und was wir als Beitrag zu ihrer Gesamtentwicklung leisten können:
Religiöses und Wissenschaftliches, interfamiliäre und internationale
Interessen, die ästhetische Vervollkommnung der Persönlichkeit und die
rein sachliche, auf keinerlei „Nutzen“ ausgehende Produktion -- alles
dies mag gelegentlich auch der Gesellschaft, in die wir historisch
hineingewachsen sind, förderlich sein; prinzipiell aber ist es von weit
über sie hinwegsehenden Forderungen abhängig, die der Höherbildung
und sachlichen Bereicherung des Typus Mensch dienen und sich bis zum
Gegensatz gegen die spezielleren Ansprüche zuspitzen, wie sie von der
Gruppe, die für uns „die Gesellschaft“ ist, gestellt werden. In vielen
andern Beziehungen aber drängt diese Gesellschaft auf ein Nivellement
ihrer Mitglieder, innerhalb ihres engeren Kreises schafft sie einen
Durchschnitt, über den mit individuellen Besonderheiten der Quantität
und Qualität des Lebens hinauszustreben sie ihren Elementen auf das
äußerste erschwert. Die Besonderung, die sie dem menschlich Allgemeinen
entgegen fordert, verbietet sie gegenüber dem sozial Allgemeinen. So
ist die Persönlichkeit von zwei Seiten her bedrängt: die Gesellschaft
gibt ihr ein Maß, das sie weder in der Richtung des Allgemeineren,
noch in der des Individuelleren überschreiten darf. Diese Konflikte,
in die der Einzelne nicht nur seiner politischen Gruppe, sondern auch
der Familie wie dem Wirtschaftsverband, der Partei wie der religiösen
Gemeinde gegenüber gerät, haben sich schließlich in der neueren
Geschichte zu dem sozusagen abstrakten Bedürfnis nach individueller
Freiheit sublimiert. Dies ist der Allgemeinbegriff, der das Gemeinsame
der mannigfachen Beschwerden und Selbstbehauptungen des Individuums
gegenüber der Gesellschaft deckte.

Es ist das 18. Jahrhundert, in dem das Bedürfnis nach Freiheit
überhaupt, nach Lösung der Fesseln, mit denen die Gesellschaft als
solche das Individuum als solches gebunden hat, seine stärkste
Bewußtheit und Wirksamkeit fand. Diese prinzipielle Forderung ist
feststellbar in ihrer volkswirtschaftlichen Einkleidung bei den
Physiokraten, die die freie Konkurrenz der Einzelinteressen als
die natürliche Ordnung der Dinge preisen; in ihrer gefühlsmäßigen
Ausgestaltung durch Rousseau, für den die Vergewaltigung des Menschen
durch die geschichtlich gewordene Gesellschaft der Ursprung aller
Verkümmerung und alles Bösen ist; in ihrer politischen Formung durch
die Französische Revolution, die die individuelle Freiheit so ins
Absolute steigerte, um den Arbeitern sogar die Vereinigungen zur
Wahrung ihrer Interessen zu untersagen; in ihrer philosophischen
Sublimierung durch Kant und Fichte, die das Ich zum Träger der
erkennbaren Welt und seine absolute Autonomie zu dem sittlichen Werte
schlechthin machten. Die Unzulänglichkeit der gesellschaftlich gültigen
Lebensformen im 18. Jahrhundert im Verhältnis zu den materiellen
und geistigen Produktivkräften der Zeit kam den Individuen als eine
unerträgliche Bindung ihrer Energien zum Bewußtsein: so die Vorrechte
der oberen Stände, wie die despotische Kontrolle von Handel und Wandel,
die immer noch mächtigen Reste der Zunftverfassungen wie der unduldsame
Zwang des Kirchentums, die Fronpflichten der bäuerlichen Bevölkerung
wie die politische Bevormundung im Staatsleben und die Einengungen der
Stadtverfassungen. In der Bedrücktheit durch solche Institutionen,
die jedes innere Recht verloren hatten, entstand das Ideal der bloßen
Freiheit des Individuums; wenn nur jene Bindungen fielen, die die
Kräfte der Persönlichkeit in ihr unnatürliche Bahnen zwängen, so
würden alle inneren und äußeren Werte, zu denen die Spannkräfte
vorhanden, aber politisch, religiös, wirtschaftlich lahmgelegt waren,
sich entfalten und die Gesellschaft aus der Epoche der historischen
Unvernunft in die der natürlichen Vernünftigkeit überführen. Weil die
Natur all jene Bindungen nicht kannte, erschien das Ideal der Freiheit
als das des „natürlichen“ Zustandes. -- Versteht man unter Natur
das ursprüngliche Sein unserer Gattung und jedes einzelnen Menschen
(unbeschadet einer Zweideutigkeit des „Ursprünglichen“: als zeitlich
Ersten und als wesenhaft Fundamentalen), an das der Kulturprozeß sich
ansetzt --, so suchte das 18. Jahrhundert in einer gewaltigen Synthese
den End- oder Höhepunkt dieses Prozesses wieder an seinen Ausgangspunkt
zu knüpfen. Die Freiheit des Einzelnen war zu leer und zu schwach, um
seine Existenz zu tragen; wenn die historischen Mächte sie nicht mehr
erfüllten und stützten, so leistete dies nun die Idee, daß man diese
Freiheit nur recht rein und restlos zu gewinnen brauchte, um sich
wieder auf dem Urgrund unseres gattungsmäßigen und persönlichen Seins
zu befinden, der so sicher und fruchtbar wäre wie die Natur überhaupt.

Dieses Freiheitsbedürfnis des Individuums, das sich durch die
geschichtliche Gesellschaft eingeengt und deformiert fühlte, führt
aber in seiner Verwirklichung zu einem Selbstwiderspruch. Denn es
ist offenbar nur dann dauernd zu realisieren, wenn die Gesellschaft
aus lauter gleich starken und innerlich wie äußerlich genau gleich
begünstigten Individuen besteht. Da diese Bedingung aber nirgendwo
erfüllt ist, vielmehr die machtgebenden und rangbestimmenden Kräfte
der Menschen durchaus von vornherein ungleich sind, qualitativ
wie quantitativ, so wird jene völlige Freiheit unvermeidlich zum
Ausnutzen dieser Ungleichheit seitens der Begünstigten führen, der
Klugen gegenüber den Dümmeren, der Starken gegenüber den Schwachen,
der Zugreifenden gegenüber den Schüchternen. Sind alle äußeren
Hemmnisse beseitigt, so muß die Verschiedenheit der inneren Potenzen
sich in einer entsprechenden Verschiedenheit der äußeren Positionen
ausdrücken: die Freiheit, die die allgemeine Institution gibt, wird
durch die personalen Verhältnisse wieder illusorisch, und da in allen
Machtverhältnissen der einmal gewonnene Vorsprung den Gewinn eines
weiteren erleichtert -- wovon die „Akkumulierung des Kapitals“ nur ein
Einzelfall ist --, so wird sich die Ungleichheit der Macht in raschen
Progressionen erweitern und die Freiheit des so Bevorzugten immer
sich auf Kosten der Freiheit des Unterdrückten entfalten. Aus diesem
Grunde war die paradoxe Frage durchaus gerechtfertigt, ob nicht die
Vergesellschaftung aller Produktionsmittel die einzige Bedingung wäre,
unter der -- die freie Konkurrenz durchzuführen wäre! Nur also, indem
man dem Einzelnen die Möglichkeit gewaltsam nimmt, seine eventuelle
Überlegenheit über den Niederen voll auszunutzen, kann ein überall
gleiches Maß von Freiheit in der Gesellschaft herrschen. Darum ist es
unter Voraussetzung dieses Ideals nicht richtig, daß der Sozialismus
die Aufhebung der Freiheit bedeute. Er hebt vielmehr nur dasjenige auf,
was bei gegebener Freiheit zum Mittel wird, die Freiheit der einen
zugunsten der andern zu unterdrücken: den Privatbesitz, der nicht
nur zum Ausdruck, sondern sogar zum Multiplikator der individuell
verschiedenen Kräfte wird und diese Verschiedenheit so lange zu
steigern vermag, bis sich -- in radikalem Ausdruck -- an dem einen
Pol der Gesellschaft ein Maximum von Freiheit, an dem andern ein
Minimum gesammelt hat. Die volle Freiheit eines jeden kann nur bei
voller Gleichheit mit jedem andern statthaben. Diese aber ist nicht
nur im ganz Persönlichen unerreichbar, sondern auch im Ökonomischen,
solange dieses die Ausnutzung persönlicher Überlegenheiten gestattet.
Erst indem diese Möglichkeit ausgeschaltet, d. h. der Privatbesitz an
Produktionsmitteln aufgehoben wird, ist hier Gleichheit möglich, und
also die von der Ungleichheit nicht abtrennbare Schranke der Freiheit
beseitigt. Unleugbar tritt gerade an dieser „Möglichkeit“ die tiefe
Antinomie von Freiheit und Gleichheit hervor, da sie nur durch die
Versenkung beider in das Negative der Besitz- und Machtlosigkeit zu
lösen ist. Es scheint, als ob damals nur Goethe sie klar durchschaut
hätte: die Gleichheit, sagt er, verlange Subordinierung unter eine
allgemeine Norm, die Freiheit „strebe ins Unbedingte“; „Gesetzgeber
oder Revolutionärs, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen,
sind Phantasten oder Scharlatans“. Es war vielleicht ein Instinkt
für diesen Sachverhalt, der der Freiheit und Gleichheit als dritte
Forderung die Brüderlichkeit hinzufügen ließ. Denn verwirft man
das Mittel des Zwanges, um den Widerspruch zwischen Freiheit und
Gleichheit aufzuheben, so führt nur der ausdrückliche Altruismus zu
demselben Erfolge: nur durch sittlichen Verzicht auf das Geltendmachen
natürlicher Vorzüge wäre die Gleichheit wiederherzustellen, nachdem
die Freiheit sie vernichtet hätte. Im übrigen aber ist der typische
Individualismus des 18. Jahrhunderts gegen diese innere Schwierigkeit
der Freiheit völlig blind. Jene ständischen, zünftigen, kirchlichen,
geistigen Bindungen, gegen die er sich wehrte, hatten unzählige
Ungleichheiten zwischen den Menschen geschaffen, deren Ungerechtigkeit
und deren nur äußerlich-historischen Ursprung man empfand. So
schloß man, daß die Beseitigung der Institutionen, mit der +diese+
Ungleichheiten fallen müßten, alle Ungleichheiten überhaupt aus der
Welt schaffen würde. Freiheit und Gleichheit erschienen als die
selbstverständlich harmonischen Seiten eines einzigen Menschheitsideals.

Dies wurde nun noch von einer tieferen geschichtlichen Strömung
getragen: von dem eigentümlichen Naturbegriff in dem Geiste jener
Zeit. Das 18. Jahrhundert war in seinen theoretischen Interessen
durchaus naturwissenschaftlich orientiert: es hat, die Arbeit des
17. fortsetzend, den modernen Begriff des Naturgesetzes als das
höchste Erkenntnisideal statuiert. Für dieses aber verschwindet die
eigentliche Individualität, das Unvergleichliche, Unauflösliche des
einzelnen Daseins. Hier besteht nur das allgemeine Gesetz, und jede
Erscheinung, ein Mensch oder ein Nebelfleck in der Milchstraße,
ist nur ein einzelner Fall desselben, ist selbst bei völliger
Unwiederholtheit seiner Form ein bloßer Schnittpunkt und auflösbares
Zusammen schlechthin allgemeiner Gesetzesbegriffe. So mindestens
verstand man damals die „Natur“ -- nur die Dichter verstanden sie
anders. Darum steht der allgemeine Mensch, der Mensch überhaupt,
im Interessenzentrum dieser Zeit, statt des historisch gegebenen,
des besonderen und differenzierten. Dieser letztere ist prinzipiell
auf jenen reduziert, in jeder individuellen Person lebt als ihr
Wesentliches jener allgemeine Mensch, wie jedes noch so besonders
gestaltete Stück Materie doch in seinem Wesen die durchgehenden
Gesetze der Materie überhaupt darstellt. Damit aber ergibt sich
zugleich das Recht, Freiheit und Gleichheit von vornherein zueinander
gehören zu lassen. Denn wenn das Allgemeinmenschliche, sozusagen
das Naturgesetz Mensch, als der wesentliche Kern in jedem, durch
empirische Eigenschaften, gesellschaftliche Stellung, zufällige
Bildung individualisierten Menschen besteht, so braucht man ihn eben
nur von all diesen historischen, sein tiefstes Wesen überdeckenden
Einflüssen und Ablenkungen zu +befreien+, damit als dieses Wesen
das allen Gemeinsame, der Mensch als solcher, an ihm hervortrete.
Hier liegt der Drehpunkt dieses Individualitätsbegriffes, der zu den
großen geistesgeschichtlichen Kategorien gehört: wenn der Mensch von
allem, was nicht ganz er selbst ist, befreit wird, wenn er sich selbst
gefunden hat, so verbleibt als die eigentliche Substanz seines Daseins
der Mensch schlechthin, die Menschheit, die in ihm wie in jedem andern
lebt, das immer gleiche Grundwesen, das nur empirisch-historisch
verkleidet, verkleinert, entstellt ist. Wenn Freiheit bedeutet, daß
sich in der ganzen Peripherie des Daseins das zentrale Ich unbehindert
und restlos ausdrückt, daß der Punkt des unbedingten Selbst im
Menschen die Alleinherrschaft über seine Existenz besitzt, so ist
dies nun derjenige, in dem alle Menschen wesentlich gleich sind,
der reine Begriff der Menschheit, das Allgemeine, gegen das alle
+unterschiedene+ Individualität etwas Äußerlich-Zufälliges ist. Diese
Bedeutung des Allgemeinen ist es, aus der heraus die Literatur der
Revolutionszeit fortwährend von dem Volke, dem Tyrannen, der Freiheit
ganz im allgemeinen spricht; derentwegen die „natürliche Religion“
eine Vorsehung überhaupt, eine Gerechtigkeit überhaupt, eine göttliche
Erziehung überhaupt hat, ohne das Recht besonderer Gestaltungen dieses
Allgemeinen anzuerkennen; derentwegen das „Naturrecht“ auf der Fiktion
isolierter und gleichartiger Individuen beruht. Für diese Anschauung
zergeht die Gemeinsamkeit im Sinne der Kollektiveinheit -- der
kirchlichen oder wirtschaftlichen, der ständischen oder der staatlichen
(da dem Staate nur die negative Funktion des Schutzes, des Abhaltens
von Störungen zukommt); es bleibt der auf sich ruhende, individuell
freie Einzelmensch, und an die Stelle jener historisch-sozialen
Gemeinsamkeiten tritt die Überzeugung von der Allgemeinheit der
Menschennatur, die als das Wesentliche, Unverlierbare, immer
Identifizierbare in jedem subsistiert, nur aufgefunden und an ihm
aufgedeckt zu werden braucht, damit er vollkommen sei. Und wie sie jene
Isolierung der Individuen mildert und erträglich macht, so macht sie
ebenso die Freiheit sittlich möglich, indem sie die Entwicklung der
Ungleichheit, die unvermeidliche Konsequenz dieser, von der Wurzel her
abzuschneiden scheint. Darum kann Friedrich der Große den Fürsten als
„den ersten Richter, den ersten Finanzmann, den ersten Minister der
Gesellschaft“ bezeichnen, in demselben Atem aber als „einen +Menschen+
wie den geringsten seiner Untertanen“. Mit alledem überträgt sich die
soziologische Antinomie, von der ich ausging, in die Paradoxe der
Moral: daß sie die innerste, eigenste Bewegtheit des Menschen ist und
zugleich den Verzicht auf das Selbst fordert; und in die der Religion:
wer seine Seele verliert, der wird sie gewinnen.

In der Philosophie Kants erlangt dieser Begriff der Individualität
seine höchste intellektuelle Sublimierung. Alles Erkennen, so lehrt er,
kommt zustande, indem die an sich zusammenhangslose Mannigfaltigkeit
der Sinneseindrücke zu Einheiten geformt wird. Dies ist dadurch
möglich, daß der Intellekt, in dem dies sich abspielt, selbst eine
Einheit, ein Ich ist. Daß wir statt vorüberhuschender Empfindungen
ein Bewußtsein von +Gegenständen+ haben, ist der Ausdruck der
Vereinheitlichung, die unser Ich an jenen vornimmt, das Objekt ist
das Gegenbild des Subjekts. So wird das Ich -- nicht das zufällige,
psychologische, individuelle, sondern das fundamentale, schöpferische,
unwandelbare -- zum Träger und Produzenten der Objektivität; die
Erkenntnis ist in dem Maße objektiv wahr, sachlich notwendig, in dem
sie von jenem reinen Ich, von der letzten Instanz in der erkennenden
Seele, geformt wird. Aus dieser unerschütterlichen Voraussetzung der
+einen+ Wahrheit, der +einen objektiven+ Welt, folgt deshalb, daß in
allen Menschen das Ich, das jene bildet oder bilden könnte, immer das
gleiche sein muß. So ist der Kantische Idealismus, der die erkennbare
Welt zum Produkte des Ich macht und zugleich an der Einzigkeit und
Immergleichheit der wahren Erkenntnis festhält, ein Ausdruck jenes
Individualismus, der in allem, was Mensch ist, den unbedingt gleichen
Kern sieht, der das im Tiefsten Produktive in uns allen für ebenso
gleichartig -- wenn auch nicht immer gleich entwickelt und erscheinend
-- halten muß, wie die erkannte Welt, die für jeden, der Mensch ist,
dieselbe ist. -- In derselben Tiefe, in der für Kant aus der Gleichheit
der Ichs die +Gleichheit+ ihrer Welten erwächst, wurzelt ihm ihre
+Freiheit+. Das Ich des Idealismus, als dessen Vorstellung allein
eine Welt gegeben sein kann, verkörpert die absolute Unabhängigkeit
der Person von allen Bedingungen und Bestimmungen außerhalb ihrer.
Indem das Ich alle bewußten Daseinsinhalte formt, darunter auch
das empirische Ich, kann es nicht selbst wieder von irgendwelchen
unter ihnen geformt werden. Aus allen Verflechtungen mit der Natur,
mit einem Du, mit der Gesellschaft hat das Ich hier seine absolute
Souveränität herausgewonnen, es steht so sehr auf sich selbst, daß
sogar seine Welt noch auf ihm stehen kann. Dieses Ich müssen alle
geschichtlichen Mächte schon gewähren lassen, da es überhaupt nichts
über sich, ja, nichts neben sich hat und seinem Begriffe nach keinen
andern Weg gehen kann, als den seine eigene Wesensform ihm vorzeichnet.
Indem diese Epoche die von aller Bindung und Sonderbestimmung gelöste
und deshalb immer gleiche Individualität: das Abstraktum Mensch --
zur letzten Substanz der Persönlichkeit macht, steigert sie jenes
Abstraktum zugleich zum letzten +Werte+ dieser. Der Mensch, sagt
Kant, ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in ihm ist heilig.
Und Schiller: „Der Idealist denkt von der Menschheit so groß, daß er
darüber in Gefahr kommt, die Menschen zu verachten.“ Für Rousseau,
der gewiß ein starkes Gefühl für die individuellen Verschiedenheiten
hat, liegen diese dennoch auf der Oberfläche: je mehr der Mensch zu
seinem eigenen Herzen zurückkehrt, statt der äußeren Relationen seine
innere Absolutheit erfaßt, um so stärker fließt in ihm, d. h. in jedem
gleichmäßig, die Quelle der Güte und des Glücks. Wenn so der Mensch
wirklich er selbst ist, besitzt er eine gesammelte Kraft, die für mehr
als seine Selbsterhaltung ausreicht und die er sozusagen auf andere
überströmen kann, durch die er die andern in sich aufnehmen, mit sich
identifizieren kann: wir sind also um so sittlich wertvoller, um so
mitleidiger und gütiger, je mehr jeder nur er selbst ist, d. h. je
mehr er jenen innersten Kern in sich souverän werden läßt, in dem
alle Menschen, jenseits der Verworrenheit ihrer gesellschaftlichen
Bindungen und zufälligen Einkleidungen, identisch sind. Indem das
echte Individuum mehr ist als die empirische Individualität, hat es in
diesem Mehr die Möglichkeit, abzugeben, seinen empirischen Egoismus
zu übergreifen. Der Naturbegriff bildet hier zugleich den Knotenpunkt
zwischen Natur und Ethik; seine Doppelrolle im 18. Jahrhundert kommt
in Rousseau zum stärksten Ausdruck. Ich wies auf ihre Bedeutung für
das Individualitätsproblem schon hin: die Natur ist nicht nur das,
was eigentlich allein +ist+, das Substantielle in allem Flackern und
Wirbeln der Geschichte, sondern sie ist zugleich das Seinsollende, das
Ideal, um dessen wachsende Verwirklichung es sich erst handelt. Dies
kann als widerspruchsvoll erscheinen: daß das wahrhaft Seiende ein
erst noch zu erreichendes Ziel sein solle. Tatsächlich aber sind dies
die beiden Seiten eines einheitlich-psychologischen Verhaltens zu mehr
als einem von unseren Wertbegriffen, das wir nicht anders als in jener
für die Logik nicht kommensurabeln Zweiheit ausdrücken können. Und
gerade in der Besonderung zu dem Ichproblem wird die Doppelbedeutung
des „Natürlichen“ am ehesten nachfühlbar. Wir fühlen in uns eine
letzte Realität, die das Wesen unseres Wesens bildet und mit der sich
dennoch unsere empirische Wirklichkeit nur sehr unvollkommen deckt --
keineswegs nur ein über der letzteren schwebendes, phantasiehaftes
Ideal, sondern in irgendeiner Form doch schon daseiend, wie mit
ideellen Linien in unsere Existenz eingezeichnet, aber doch die +Norm+
für diese enthaltend, der vollen Herausarbeitung und Ausgestaltung in
dem Material unseres Daseins erst harrend. Im 18. Jahrhundert wird
diese Empfindung höchst mächtig: daß das Ich, welches wir ja schon
sind, doch ein erst zu erarbeitendes sei -- weil wir es eben nicht
rein und absolut sind, sondern in Verhüllungen und Entstellungen
durch unsere geschichtlich-gesellschaftlichen Schicksale; und daß
diese Normierung des Ich durch das Ich sittlich gerechtfertigt sei,
weil jenes ideale, im höheren Sinne wirkliche Ich das allgemein
menschliche sei und durch seine Erreichung die wahre Gleichheit
unter allem, was Mensch ist, erreicht werde. Ganz erschöpfend hat
Schiller das ausgedrückt: „Jeder individuelle Mensch trägt, der Anlage
und Bestimmung nach, einen reinen, idealischen Menschen in sich,
mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen
übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseins ist. Dieser reine
Mensch gibt sich, mehr oder weniger deutlich, in jedem Subjekt zu
erkennen.“

Die Formel des „kategorischen Imperativ“, in die Kant unsere sittliche
Aufgabe zusammenfaßt, ist die tiefsinnigste Ausgestaltung dieses
Begriffes der Individualität. Er stellt zuerst den ganzen moralischen
Wert des Menschen auf die Freiheit. Solange wir Teile des Mechanismus
der Welt, die gesellschaftliche eingeschlossen, sind, haben wir so
wenig „Wert“ wie die ziehende Wolke oder das verwitternde Gestein.
Erst indem wir aus einem bloßen Produkt und Schnittpunkt äußerer
Kräfte zu einem aus dem eigenen Ich heraus entwickelten Wesen werden,
können wir +verantwortlich+ sein und damit ebenso die Möglichkeit
der Schuld wie die des sittlichen Wertes erwerben. Innerhalb des
natürlich-gesellschaftlichen Kosmos gibt es kein „Fürsichsein“, keine
„Persönlichkeit“: wenn wir uns aber auf die absolute Freiheit stellen
-- das metaphysische Gegenbild des ~laissez faire~ -- gewinnen wir
zugleich Persönlichkeit und die Würde des Sittlichen. Was aber das
Sittliche sei, drückt der „kategorische Imperativ“ aus: „Handle so,
daß die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könne.“ Hiermit ist das Ideal der Gleichheit
zum Sinne alles Sollens geworden. Aller selbstschmeichlerischen
Einbildung ist vorgebeugt, als sei man zu einem ganz besonderen Handeln
und Genießen berechtigt, weil man „anders als die andern“ sei: die
sittliche Rechtsprechung „ohne Ansehen der Person“, die Gleichheit
vor dem moralischen Gesetz ist in der Forderung vollendet, daß die
eigene Handlung widerspruchslos als die notwendige Handlungsweise Aller
gedacht werden könne. Die Freiheit, als der Quell aller Sittlichkeit,
erhält ihren Inhalt an der Gleichheit, die absolut auf sich allein
stehende, selbstverantwortliche Persönlichkeit ist eben diejenige,
deren Handeln durch die prinzipiell gleiche Berechtigung aller zu
ebendemselben sittlich legitimiert wird. Nicht nur: allein der freie
Mensch ist sittlich, sondern: allein der sittliche Mensch ist frei,
-- weil nur +sein+ Handeln jene allgemeine Gesetzlichkeit besitzt,
die ausschließlich an dem unbeeinflußten, auf sich allein stehenden
Ich wirklich ist. Dadurch hat der Individualitätsbegriff des 18.
Jahrhunderts: die persönliche Freiheit, die die Gleichheit nicht aus-,
sondern einschließt, weil die wahre „Person“ in jedem zufälligen
Menschen eben die gleiche ist, -- in Kant seine abstrakte Vollendung
gefunden.

Im 19. Jahrhundert nun geht dieser in zwei Ideale auseinander, die man,
ganz roh und vieler Einschränkungen bedürftig, als die Tendenz auf
Gleichheit ohne Freiheit und auf Freiheit ohne Gleichheit bezeichnen
könnte. Die erstere durchzieht den Sozialismus, freilich ohne ihn
zu erschöpfen, aber doch mit tieferer Bedeutung, als seine meisten
Vertreter zugeben; indem diese die mechanische Gleichmacherei energisch
ablehnen, täuschen sie sich über die Rolle, die der Gleichheitsgedanke
immer als Träger sozialistischer Idealbildung spielen wird. Die
Vergesellschaftung der Produktionsmittel mag, wie ich schon hervorhob,
viele individuelle Unterschiede zur Geltung bringen, die jetzt durch
die Einrangierung in ein Klassenniveau, durch mangelhafte Ausbildung,
durch Arbeitsübermaß, durch Not und Sorge verkümmern. Dennoch würde
dem jetzigen Zustand gegenüber das Ausschalten der unverdienten
Bevorzugungen und Zurücksetzungen durch Geburt, Konjunkturen,
Kapitalansammlung, Verschiedenwertung des gleichen Arbeitsquantums
usw. jedenfalls zur erheblichsten Nivellierung der ökonomischen Lagen
führen. Und gemäß der strengen Abhängigkeit, die gerade für die
sozialistische Theorie zwischen dem wirtschaftlichen und dem gesamten
geistigen Status herrscht, müßte die relative Ausgleichung in jenem ihr
Gegenbild in einer umfassenden personalen finden. Die Hauptsache aber
ist, daß die je nach den Programmen verschiedenen Nivellierungsmaße
doch nur die Oszillationen der Theorie um die Tatsache des
Gleichheitsideales bedeuten, die zu den großen charakterologischen
Bestimmtheiten der Menschheit gehört. Es wird immer einen Typus von
Personen geben, deren soziale Wertgedanken mit der Gleichheit Aller
schlechthin abschließen, so nebelhaft und gar nicht im einzelnen
ausdenkbar dieses Ideal sei -- gerade wie für einen andern Typus die
Unterschiede und Distanzen einen letzten unreduzierbaren, durch sich
selbst gerechtfertigten Wert der gesellschaftlichen Existenzform
ausmachen. Wenn nun freilich einer der führenden Sozialisten
behauptet, alle sozialistischen Maßregeln, auch die äußerlich sich
als Zwänge darstellen, gingen auf Ausbildung und Sicherung der
freien Persönlichkeit, zum Beispiel bedeute der Maximalarbeitstag
nur das Verbot, auf die persönliche Freiheit für länger als eine
bestimmte Zahl von Stunden zu verzichten, stünde also prinzipiell
dem Verbote gleich, sich dauernd in persönliche Knechtschaft zu
verkaufen -- so zeigt das, daß er noch innerhalb des Individualismus
des 18. Jahrhunderts und seines schematischen Freiheitsbegriffes
steht. Vielleicht ist kein empirischer Mensch +ausschließlich+
von der einen oder von der andern jener beiden Tendenzen geleitet,
vielleicht würde auch die absolute Verwirklichung der einen oder der
andern etwas ganz Unmögliches sein; das hindert nicht, daß sie die
Grundtypen der Charakterverschiedenheiten in ihrer gesellschaftlichen
Äußerungsweise sind. Wo eine von beiden einmal besteht, wird man ihren
Träger durch verstandesmäßige Gründe nicht umstimmen; denn solche
Tendenz geht nicht aus Zweckmäßigkeitsüberlegungen um eines höheren
Endzweckes willen -- z. B. des allgemeinen Glückes der der personalen
Vervollkommnung oder der Rationalisierung des Lebens -- hervor, so oft
sie sich auch für das nachträgliche Bewußtsein so darstellen wird.
Sie ist vielmehr selbst die letzte Instanz, auf der sich dann erst
alle andern Absichten, Entscheidungen, Deduktionen aufbauen; in ihr
drückt sich das Sein des Menschen, die Substanz seines Wesens aus.
Sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen ist für ihn etwas zu Wichtiges,
Weitgreifendes, Fundamentales, als daß nicht die Entscheidung, ob
er ihnen gleich oder ungleich ist, sein will oder sein soll -- im
einzelnen wie im Prinzip -- aus seinem tiefsten Wesensgrund kommen
müßte. Aus den Naturen, die in dieser Weise dem ganz allgemeinen
Gleichheitsideal zu tendieren, scheint mir der Sozialismus seine
meisten, jedenfalls seine fanatischsten Anhänger zu beziehen. -- Das
Verhältnis nun, das die relative Gleichheit eines sozialisierten
Zustandes zu der Freiheit zeigen würde, ist ein sehr kompliziertes. Es
unterliegt einer typischen Zweideutigkeit, mit der die Differenzierung
der Klassen sehr oft einheitliche, die Gesamtheit treffende Einflüsse
oder Umgestaltungen heimsucht: indem nämlich die Ausbildungsstufe
und die Lebensbedingungen der Gruppenteile äußerst verschiedenartig
sind, wird eine gemeinsame Modifikation des Daseins an diesen Teilen
äußerst verschiedenartige, ja, diametral entgegengesetzte Erfolge
auslösen. Ebendasselbe Maß allgemeiner Egalisierung, das dem unter
der fortwährenden Hungerchance lebenden, von den Härten der Lohnarbeit
bedrückten Arbeiter ein sehr hohes Maß von Freiheit gewähren würde,
müßte für den Unternehmer, den Rentier, den Künstler, den Gelehrten,
für die führenden Persönlichkeiten der jetzigen Ordnung eine mindestens
ebenso erhebliche Einschränkung ihrer Freiheit bedeuten. Es ist ein
formal entsprechender soziologischer Dualismus, der die Frauenfrage
spaltet: dieselbe Freiheit zu wirtschaftlicher Produktivität, die
von Frauen der höheren Stände ersehnt wird, damit sie zu fundierter
Selbständigkeit und befriedigender Kraftbewährung kämen -- eben diese
ist für die Fabrikarbeiterin die fürchterliche Hemmung, ihren Pflichten
und ihrem Glück als Frau und Mutter nachzugehen. Die Aufhebung der
häuslich-familiären Umschränktheit läuft, auf zwei klassenmäßig
verschiedene Schichten treffend, in eine völlige Wertverschiedenheit
ihrer Erfolge aus. Diese Umbiegung hat also die Synthese von Freiheit
und Gleichheit in der sozialistischen Strömung erlitten: der Akzent ist
auf die Gleichheit gerückt, und nur daß diese von der Klasse, deren
Interessen der Sozialismus vertritt, im ersten Augenblick als Freiheit
empfunden werden würde, hat dieser Partei den Antagonismus beider
Ideale ferngestellt.

Nun könnte freilich die Freiheitseinbuße, die der Sozialismus
gewissen gesellschaftlichen Schichten auferlegen würde, nur
eine Übergangserscheinung sein, nur so lange bestehend, wie die
Nachwirkungen des jetzigen Zustandes noch Unterschiedsempfindungen
Raum geben. Gegenüber den oben berührten Schwierigkeiten für die
Vereinigung von Freiheit und Gleichheit bleibt dem Sozialismus
überhaupt nichts übrig, als auf eine +Anpassung+ an die Gleichheit
zu rekurrieren, die als Gesamtbefriedigung auch die über sie
hinausgehenden Freiheitswünsche zurückbildete. Indes ist das
Anrufen der allaushelfenden Anpassung schon deshalb bedenklich,
weil sie sich jeder gegenteiligen Chance nicht weniger bereitwillig
leiht. Nicht weniger plausibel könnte man behaupten, daß die auf
soziale +Differenzen+ ausgehenden Freiheitsinstinkte sich an jede
Verminderung des absoluten Quantums dieser Differenzen anpassen
könnten. Da unsere Empfindungen von Natur auf +Reizunterschiede+
angewiesen sind, so würden, nach einer kurzen Anpassungsperiode,
die individuellen Unterschiede an die geringen Lagedifferenzen, die
selbst der sozialisierteste Zustand nicht beseitigen kann, die ganz
unverminderten Leidenschaften des Begehrens und des Neides, der
Herrschaft und des Unterdrücktheitsgefühles knüpfen. Die Ausübung der
Freiheit auf Kosten anderer fände, angesichts jener psychologischen
Struktur des Menschen, selbst bei der äußersten erreichbaren Gleichheit
ein unvermindert ergiebiges Ausbreitungsfeld. Und wenn man selbst
die Gleichheit nur in dem Sinne der Gerechtigkeit verstünde: daß die
sozialen Einrichtungen einem jeden sein Freiheitsquantum nicht mit
mechanischer Immergleichheit, sondern genau im Verhältnis seiner
qualitativen Bedeutung zumäßen -- so würde dies doch unrealisierbar
sein, und zwar auf Grund einer selten hervorgehobenen Tatsache, die
indes für das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft
von der tiefsten Bedeutsamkeit ist. Während jedes gesellschaftliche
Leben eine Stufenfolge von Über- und Unterordnungen -- schon aus
technischen Gründen -- fordert, und unter dieser Voraussetzung
Gleichheit im Sinne der Gerechtigkeit nur bedeuten kann, daß die
persönliche Qualifikation und die Stelle auf jener Skala sich genau
entsprechen -- ist diese Proportion überhaupt und prinzipiell
unmöglich, und zwar aus dem sehr einfachen Grunde: daß es immer mehr
Personen gibt, die zu übergeordneten Stellungen befähigt sind, als
es übergeordnete Stellungen gibt. Von den Millionen Untertanen eines
Fürsten gibt es sicher eine große Anzahl, die ebenso gute oder bessere
Fürsten sein würden; von den Arbeitern einer Fabrik sehr viele, die
ebensogut Unternehmer oder wenigstens Werkführer sein könnten; von
den gemeinen Soldaten sehr viele, die die volle, wenngleich latente
Qualifikation zum Offizier haben. Hierin liegt die Beobachtungswahrheit
des Sprichwortes: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand
dazu. Der zur Ausfüllung höherer Stellungen erforderte „Verstand“
ist eben bei vielen Menschen vorhanden, aber er bewährt, entwickelt,
offenbart sich erst, wenn sie diese Stellungen einnehmen. Bedenkt
man die barocken Zufälle, durch die die Menschen auf allen Gebieten
in ihre Positionen gelangen, so wäre es ein unbegreifliches Wunder,
daß nicht eine sehr viel größere als die tatsächliche Summe von
Unfähigkeit in der Ausfüllung derselben hervortritt, wenn man nicht
annehmen müßte, daß eben die Fähigkeiten zu den Stellungen in sehr
großer Verbreitung vorhanden sind. Diese Inkommensurabilität zwischen
dem Quantum der Befähigungen zur Überordnung und dem ihrer möglichen
Betätigung erklärt sich vielleicht aus dem Unterschiede zwischen
dem Charakter der Menschen als Gruppenwesen und als Individuen, den
diese Blätter zuvor erörtert haben. Die Gruppe als solche ist niedrig
und führungsbedürftig, weil die Individuen im ganzen nur die Allen
gemeinsamen Seiten ihrer Persönlichkeit in sie hineingeben; welches
immer die gröberen, primitiveren, „untergeordneten“ sind. Sobald also
überhaupt gruppenmäßige Vereinigungen stattfinden, ist es zweckmäßig,
daß die ganze Masse sich in der Form der Unterordnung unter Wenige
organisiere. Das verhindert aber nicht, daß jeder einzelne aus dieser
Masse für sich höhere, feinere Eigenschaften besitze. Nur sind diese
individueller, gehen nach +verschiedenen+ Seiten über den Gemeinbesitz
hinaus und helfen deshalb der Niedrigkeit derjenigen Qualitäten nicht
auf, in denen sich alle mit Sicherheit begegnen. Aus diesem Verhältnis
folgt, daß die Gruppe als Ganzes des Führers bedarf, es also nur viele
Untergeordnete und nur wenig Übergeordnete geben kann, andrerseits aber
jeder einzelne aus der Gruppe höher qualifiziert bzw. öfter zu einer
führenden Stellung „berufen“ ist, als er als Gruppenelement realisieren
kann. Auch in der sozialen Struktur geht es nach dem Grundsatz zu:
Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt. Mit dieser Antinomie
findet sich das ständische Prinzip und die jetzige Ordnung ab, indem
sie Klassen pyramidenförmig mit immer geringerer Mitgliederzahl
übereinanderbauen und dadurch die Zahl der zu leitenden Stellungen
„Qualifizierten“ ~a priori~ einschränken. Da es bei Gleichberechtigung
aller zu allen Stellen unmöglich wäre, jeden berechtigten Anspruch
zu erfüllen, so trifft die ständische und klassenmäßige Ordnung eine
von vornherein beschränkende Auswahl, die sich gar nicht nach den
Individuen richtet, sondern umgekehrt die Individuen präjudiziert.
Ob eine sozialistische Ordnung schließlich ohne ein solches Apriori
für Über- und Unterordnung auskommen würde, ist fraglich. In ihr soll
einerseits, unter Wegfall jeder zufälligen Chance, nur die Begabung
über die Erreichung der Positionen entscheiden, andrerseits jede
Begabung sich „frei“ entwickeln, d. h. die ihr angemessene Stelle
finden, infolgedessen es, nach dem eben Erörterten, mehr Über- als
Untergeordnete, mehr Befehlende als Ausführende geben müßte. Bedeutet
Freiheit im sozialen Sinn, daß jedes Maß individueller Kraft und
Bedeutung sich in dem Mischungsmaß von Führen und Folgen innerhalb der
Gruppe adäquat ausdrückt, so ist sie von vornherein ausgeschlossen:
den Konflikt zwischen der individuellen Totalität des Menschen und
seinem Wesen als Element der Gruppe, der jene Proportion und damit die
Synthese von Freiheit und Gleichheit auf der Basis der Gerechtigkeit
hindert, kann auch eine sozialistische Verfassung nicht beseitigen,
weil er sozusagen zu den +logischen+ Voraussetzungen der Gesellschaft
überhaupt gehört.

Ich begnüge mich gegenüber dem vielbehandelten Verhältnis des
Sozialismus zur individuellen Freiheit mit diesen fragmentarischen
Andeutungen und skizziere jetzt die eigentümliche Form des
Individualismus, die die Synthese des 18. Jahrhunderts mit ihrer
Gründung der Gleichheit auf die Freiheit und der Freiheit auf die
Gleichheit auflöste. An die Stelle jener Gleichheit, die das tiefste
Sein der Menschen ausspricht und andrerseits erst realisiert werden
+soll+, setzt sie die Ungleichheit -- die, ebenso wie dort die
Gleichheit, nur der Freiheit bedürfe, um aus ihrer vielfach bloßen
Angelegtheit und Möglichkeit heraustretend, das menschliche Dasein
zu bestimmen. Die Freiheit bleibt der Generalnenner, auch bei dieser
Entgegengesetztheit ihrer Korrelate. Sobald das Ich im Gefühl der
Gleichheit und Allgemeinheit hinreichend erstarkt war, suchte es
wieder die Ungleichheit, aber nur die von innen heraus gesetzte.
Nachdem die prinzipielle Lösung des Individuums von den verrosteten
Ketten der Zunft, des Geburtsstandes, der Kirche vollbracht war, geht
sie nun dahin weiter, daß die so verselbständigten Individuen sich
auch +voneinander+ unterscheiden wollen: nicht mehr darauf, daß man
überhaupt ein freier Einzelner ist, kommt es an, sondern daß man dieser
Bestimmte und Unverwechselbare ist. Das moderne Differenzierungsstreben
kommt damit zu einer Steigerung, die seine soeben erst gewonnene
Form wieder dementiert, ohne daß diese Entgegengesetztheit an der
Identität des Grundtriebes irre machen dürfte. Er geht durch die ganze
Neuzeit: das Individuum sucht nach sich selber, als ob es sich noch
nicht hätte, und ist doch sicher, an seinem Ich den einzig festen
Punkt zu haben. Begreiflich genug verlangt es bei der unerhörten
Erweiterung des theoretischen und des praktischen Gesichtskreises nach
einem solchen immer dringlicher, und kann ihn nun aber in keiner
der Seele äußeren Instanz mehr finden. Das Doppelbedürfnis: nach
zweifelsfreier Deutlichkeit und nach rätselhafter Unergründlichkeit,
durch die geistige Entwicklung des modernen Menschen immer weiter
auseinandergetrieben, stillt sich, als wenn es ein einziges wäre,
am Ich, an dem Gefühle der Persönlichkeit -- freilich kommen auch
dem Sozialismus seine psychologischen Hilfskräfte einerseits aus
begrifflich demonstrierendem Rationalismus, andrerseits aus ganz
dunkeln, vielleicht atavistisch-kommunistischen Instinkten. Alle
Verhältnisse zu Andern sind so schließlich nur Stationen des Weges, auf
dem das Ich zu sich selber kommt: mag es sich den andern im letzten
Grunde gleichfühlen, weil es, auf sich und seinen Kräften allein
stehend, noch dieses stützenden Bewußtseins bedarf, sei es, daß es der
Einsamkeit seiner Qualität gewachsen ist und die vielen eigentlich nur
da sind, damit jeder einzelne an den andern seine Unvergleichbarkeit
und die Individualität seiner Welt ermessen könne.

Diese Individualisierungstendenz führt also historisch, wie
ich schon andeutete, über das Ideal der zwar völlig freien
und selbstverantwortlichen, aber der Hauptsache nach gleichen
Persönlichkeiten zu dem andern: der gerade ihrem tiefsten Wesen
nach unvergleichlichen Individualität, die zu einer nur durch sie
ausfüllbaren Rolle berufen ist. Im 18. Jahrhundert klingt dies Ideal
schon an, bei Lessing, Herder, Lavater; den Christuskult des letzteren
hat man seiner Sehnsucht, selbst Gott zu individualisieren, zugeschoben
und noch eine Steigerung davon seinem Verlangen nach immer neuen
Christusbildern. Seine erste volle Ausgestaltung gewinnt diese Form
des Individualismus im Kunstwerk: im Wilhelm Meister. Denn in den
Lehrjahren wird zum ersten Male eine Welt gezeichnet, die ganz auf
die individuelle Eigenheit ihrer Individuen gestellt ist und sich nur
durch diese organisiert und entwickelt, und zwar ganz unbeschadet
der Tatsache, daß die Figuren als Typen gemeint sind; so oft sie
sich in der Realität wiederholen mögen, es bleibt der innere Sinn
jeder einzelnen, daß jede gerade in ihrem letzten Grunde von der
andern, an die das Schicksal sie rühren läßt, unterschieden ist, daß
der +Akzent+ des Lebens und der Entwicklung nicht auf dem Gleichen,
sondern auf dem absolut Eigenen ruht. In den Wanderjahren rückt das
Interesse von den Menschen auf die Menschheit -- nicht in dem Sinne des
abstrakten Menschen überhaupt, den wir im 18. Jahrhundert herrschen
sehen, sondern im Sinne der Kollektivität, der konkreten Gesamtheit
der lebenden Gattung. Und nun ist es höchst interessant, wie jener
auf die Unvergleichlichkeit, die qualitative Einzigkeit gehende
Individualismus sich auch auf der Basis dieses Interesses geltend
macht. Nicht die ganze Persönlichkeit innerhalb der Gesellschaft wird
von der Besonderheitsforderung her gewertet, sondern die objektive
+Leistung+ der Persönlichkeit für die Gesellschaft. „Narrenpossen
sind, so heißt es jetzt, eure allgemeine Bildung und alle Anstalten
dazu. Daß ein Mensch +etwas+ vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein
anderer in der nächsten Umgebung, darauf kommt es an.“ Diese ganze
Gesinnung ist der absolute Gegensatz zu dem Ideal der freien und
gleichen Persönlichkeiten, den Fichte einmal, diese Geistesströmung
in einen Satz zusammendrängend, so formuliert: „Ein Vernunftwesen
muß schlechthin ein Individuum sein, aber nicht eben dieses oder
jenes bestimmte“ -- und in der Forderung, daß das individuelle,
unterschiedlich bestimmte Ich sich im sittlichen Prozeß wieder in
das reine, absolute Ich -- die philosophische Kristallisierung des
„allgemeinen Menschen“ des 18. Jahrhunderts -- hinaufentwickle. Wie
in zugespitzter Antithese hierzu hat Friedrich Schlegel den neuen
Individualismus in die Formel gefaßt: „Gerade die Individualität ist
das Ursprüngliche und Ewige im Menschen; an der Personalität ist so
viel nicht gelegen. Die Bildung und Entwicklung dieser Individualität
als höchsten Beruf zu treiben, wäre göttlicher Egoismus.“

Dieser neue Individualismus hat seinen Philosophen in Schleiermacher
gefunden. Für ihn ist die sittliche Aufgabe gerade die, daß jeder
die Menschheit auf eine +besondere+ Weise darstelle. Gewiß ist
jeder einzelne ein „Kompendium“ der ganzen Menschheit, ja, noch
weitergehend, eine Synthese der Kräfte, die das Universum bilden,
aber ein jeder formt dieses allen gemeinsame Material zu einer völlig
einzigen Gestalt, und auch hier wie bei der früheren Anschauung ist
die Wirklichkeit zugleich die Vorzeichnung des Sollens: nicht nur als
schon Seiender ist der Mensch unvergleichlich, in einen nur von ihm
erfüllten Rahmen gestellt, sondern, von anderer Seite gesehen, ist
die Verwirklichung dieser Unvergleichbarkeit, das Ausfüllen dieses
Rahmens, seine +sittliche+ Aufgabe, jeder ist +berufen+, sein eigenes,
nur ihm eigenes Urbild zu verwirklichen. Der große weltgeschichtliche
Gedanke, daß nicht nur die Gleichheit der Menschen, sondern auch ihre
Verschiedenheit eine sittliche Forderung sei, wird durch Schleiermacher
zum Drehpunkt einer Weltanschauung: durch die Vorstellung, daß
das Absolute nur in der Form des Individuellen lebe, daß die
Individualität nicht eine Einschränkung des Unendlichen sei, sondern
sein Ausdruck und Spiegel, wird das Sozialprinzip der Arbeitsteilung
in den metaphysischen Grund der Dinge eingesenkt. Freilich hat
die in die letzten Tiefen der individuellen Natur hinabreichende
Differenzierung leicht einen mystisch-fatalistischen Zug. („So mußt
du sein, dir kannst du nicht entfliehen. +So sagten schon Sibyllen,
so Propheten.+“) Dessentwegen mußte sie dem hellen Rationalismus der
Aufklärungsepoche fremd bleiben, während sie sich eben durch ihn
der Romantik empfahl, zu der Schleiermacher in engster Beziehung
stand. Für diesen Individualismus -- man könnte ihn den qualitativen
nennen gegenüber dem quantitativen des 18. Jahrhunderts oder den
der Einzigkeit gegenüber dem der Einzelheit -- war die Romantik
vielleicht der breiteste Kanal, durch den er in das Bewußtsein des 19.
Jahrhunderts einfloß. Wie Goethe die künstlerische, Schleiermacher die
metaphysische, so schuf sie ihm die Basis des Gefühls, des Erlebens.
Die Romantiker haben sich zuerst wieder nach Herder (in dem deshalb
auch ein Quell der qualitativen Individualistik zu suchen ist) in die
Besonderheit, Einzigkeit der historischen Realitäten hineingelebt; das
Recht und die singuläre Schönheit des geschmähten Mittelalters, des
Orients, den die Aktivitätskultur des liberalen Europas verachtete,
haben sie tief gefühlt: in diesem Sinn will Novalis seinen „einen
Geist“ sich in unendlich viele fremde verwandeln lassen und sagt, daß
er „gleichsam in allen Gegenständen steckt, die er betrachtet, und
die unendlichen, gleichzeitigen Empfindungen eines zusammenstimmenden
Pluralis fühlt“. Vor allem aber: der Romantiker erlebt innerhalb
seines +inneren+ Rhythmus die Unvergleichbarkeit, das Sonderrecht,
das scharfe, qualitative Sich-gegeneinander-Absetzen seiner Elemente
und Momente, das diese Form des Individualismus ja auch zwischen den
Bestandteilen der +Gesellschaft+ sieht. Auch hier zeigt Lavater ein
interessantes Vorläufertum: seine Physiognomik vergräbt sich manchmal
so in das Spezielle der sichtbaren und inneren Züge des Menschen, daß
er zu dessen +ganzer+ Individualität nicht zurückgelangt, sondern an
dem Interesse für dieses Individuell-Einzelnste hängen bleibt. Die
romantische Seele durchfühlt eine endlose Reihe von Gegensätzen, von
denen jeder einzelne im Augenblick seines Gelebtwerdens als Absolutes,
Fertiges, Selbstgenugsames erscheint, um im nächsten überwunden zu
werden, und genießt in dem Anderssein des einen gegen den andern
das Selbst eines jeden erst ganz. „Wer nur auf einem Punkte klebt,
ist nichts als eine vernünftige Auster“, sagt Friedrich Schlegel.
Das Leben des Romantikers überträgt in das proteische Nacheinander
seiner Gegensätzlichkeiten von Stimmung und Aufgabe, von Überzeugung
und Gefühl das Nebeneinander des Gesellschaftsbildes, in dem jeder
einzelne durch seinen Unterschied gegen den andern, durch die personale
Einzigkeit seines Wesens und seiner Betätigungen erst den Sinn seiner
Existenz findet -- der individuellen nicht weniger als der sozialen.

Diese Auffassung und Aufgabe des Individuums weist in ihrer rein
gesellschaftlichen Wendung ersichtlich auf die Herstellung eines
höheren Ganzen aus den so differenzierten Elementen hin. Je
eigenartiger die Leistung (aber auch die Bedürfnisse) des Einzelnen,
desto dringender ist die gegenseitige Ergänzung, desto höher erhebt
sich über die arbeitsteiligen Glieder der Gesamtorganismus, der aus
ihnen zusammenwächst und ihre ineinandergreifenden Wirkungen und
Gegenwirkungen einschließt und vermittelt. Die Besonderheit der
Individuen fordert eine Verfassungsmacht, die dem Einzelnen seinen
Platz anweist, aber damit auch zum Herrn über ihn wird. Darum schlägt
dieser Individualismus (die Freiheit auf ihren rein innerlichen Sinn
beschränkend) leicht in antiliberale Neigungen um und bildet auch
so das volle Gegenstück zu dem des 18. Jahrhunderts, der aus seinen
atomisierten und prinzipiell als ununterschieden gesetzten Individuen
konsequenterweise gar nicht zu der Idee einer Gesamtheit als eines aus
mannigfaltigen Gliedern vereinheitlichten Organismus gelangen konnte.
Wodurch dieser vielmehr die freien und gleichen Elemente zusammenhält,
das ist ausschließlich das über allen stehende +Gesetz+, dessen
Bedeutung es ist, die Freiheit eines jeden so weit einzuschränken, daß
sie mit der Freiheit eines jeden zusammen bestehen kann, das Gesetz,
dessen Paten die Gesetzlichkeit einer mechanistisch konstruierten Natur
und das Gesetz im römisch-rechtlichen Sinne waren. Von beiden Seiten
her entgeht diesem Individualismus das konkret-soziale Lebensgebilde,
das nicht aus den isolierten und gleichen Einzelnen summierbar ist,
sondern sich nur aus den arbeitsteiligen Wechselwirkungen und über
dieselben als eine in den Einzelnen auch nicht ~pro rata~ auffindbare
Einheit erhebt.

Die Lehre von Freiheit und Gleichheit ist die geistesgeschichtliche
Grundlage der freien Konkurrenz, die der differentiellen
Persönlichkeiten ist die Grundlage der Arbeitsteilung. Der
Liberalismus des 18. Jahrhunderts stellte den Einzelnen auf seine
eigenen Füße, und nun durfte er ganz so weit gehen, wie diese ihn
trugen. Die Theorie ließ die naturgegebene Verfassung der Dinge
dafür sorgen, daß die unbeschränkte Konkurrenz der Einzelnen zu
einer Harmonie aller Interessen zusammenging, daß das Ganze sich
bei dem rücksichtslosen Streben zum individuellen Vorteil am besten
befände: das ist die Metaphysik, mit der der Naturoptimismus des
18. Jahrhunderts die freie Konkurrenz sozial rechtfertigt. Mit dem
Individualismus des Andersseins, der Vertiefung der Individualität
bis zur Unvergleichlichkeit des Wesens ebenso wie der Leistung, zu
der man berufen ist -- war nun auch die Metaphysik der Arbeitsteilung
gefunden. Die beiden großen Prinzipien, die in der Wirtschaft des 19.
Jahrhunderts untrennbar zusammenwirken: Konkurrenz und Arbeitsteilung
-- erscheinen so als die wirtschaftlichen Projizierungen der
philosophischen Aspekte des sozialen Individuums oder diese umgekehrt
als die Sublimierungen jener ökonomisch-realen Produktionsformen;
oder, vielleicht richtiger und die Möglichkeit dieser doppelten
Verhältnisrichtungen begründend, entspringen sie gemeinsam einer jener
tiefen Wandlungen der Geschichte, die wir nicht nach ihrem eigentlichen
Wesen und Motiv, sondern nur nach den Erscheinungen erkennen können,
die sie gleichsam in der Mischung mit den einzelnen, inhaltlich
bestimmten Provinzen des Lebens ergeben.

Die Folgen freilich, die die unbeschränkte Konkurrenz und die
arbeitsteilige Vereinseitigung der Individuen für deren innere
Kultur ergeben haben, lassen sie nicht gerade als die geeignetsten
Mehrer dieser Kultur erscheinen. Vielleicht aber gibt es über der
wirtschaftlichen Form der Zusammenwirksamkeit der beiden großen
soziologischen Motive -- der einzigen bisher realisierten -- noch
eine höhere, die das verhüllte Ideal unserer Kultur ist. Lieber aber
möchte ich glauben, daß die Idee der schlechthin freien Persönlichkeit
und die der schlechthin einzigartigen Persönlichkeit noch nicht die
letzten Worte des Individualismus sind; daß die Arbeit der Menschheit
immer mehr, immer mannigfaltigere Formen aufbringen wird, mit denen
die Persönlichkeit sich bejahen und den Wert ihres Daseins beweisen
wird. Und wenn in glücklichen Perioden diese Mannigfaltigkeiten sich
zu Harmonien zusammenordnen, so ist doch auch ihr Widerspruch und
Kampf jener Arbeit nicht nur ein Hemmnis, sondern ruft sie zu neuen
Kraftentfaltungen auf und führt sie zu neuen Schöpfungen.





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