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Title: An geöffneter Tür
Author: Sudermann, Clara
Language: German
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  An geöffneter Tür


  von

  Clara Sudermann


  Dritte Auflage

  Felix Lehmann Verlag / Berlin =W=


  Alle Rechte vom Verleger gewahrt
  =Copyright 1914 by Felix Lehmann=
  =Verlagsbuchhandlung Berlin W 35=



An geöffneter Tür


Wie das sonderbar ist, ... eigentlich wie ein Traum. Ich sitze ganz
allein in einem Passantenzimmerchen des Glarner Hofs in Glarus. In
den Gartenanlagen vor meinem Fenster plätschert hinter dickblätterigem
Buschwerk das Wasser eines Springbrunnens. Das wird heute mein Wiegenlied
sein und mir einen guten Schlaf bringen. Aber noch will ich nicht schlafen.
Ich habe das Herz so voll.

Es ist ganz still im Hause und auf der Straße. Als ich vorhin am Fenster
stand, kam der Mond gerade hinter dem Glärnisch vor und schüttete
schimmernde Streifen über Schroffen und Halden und Wasserfäden, die sich
hinunterringeln. Da wurde der Riese lebendig und bekam eine Stimme.

Ach, du lieber, geliebter Riese, ich verstehe ja deine Sprache, ich fühle
sie, und als Antwort möchte ich mich an dich hinanschmiegen, dich ganz
umfassen mit all deinen Gipfeln, deinen Abgründen und den stillen, grünen
Matten ...

Ich bin frei, und ich glaube an das Leben, an mein Leben, über dem Jahre
hindurch das Schwert hing!

Als heute vor vierzehn Tagen in Davos Dr. Herholz in mein Zimmer kam und
mir ganz ohne Vorbereitung sagte: »Fräulein Lydia, wir sind so weit, rüsten
Sie sich zur Heimfahrt,« ... da stand mir das Herz still vor Schreck.

Wie oft hatte ich mir diesen Augenblick ausgemalt, in dem der lächelnde
Henker vor mich treten und mir sagen würde wie schon so vielen vor mir:
»Sie sind als geheilt entlassen.«

Wie hatte ich in voller Fassung und Würde dieses Todesurteil entgegennehmen
wollen, auch lächelnd und dem Anschein nach den lügnerischen Worten Glauben
schenkend. Und nun ...?

Ich fühle jetzt noch die eiskalte Leere, die plötzlich um mich war. Meine
Jugend, meine armen vierundzwanzig Jahre schrien jammernd um Hilfe. »Wie
lange also noch, Doktor?« brachte ich endlich vor.

Doktor Herholz, übrigens einer der wenigen unter der Herde von Ärzten,
die mein Leben durchzieht, der mir immer gleichmäßig freundliche Teilnahme
gezeigt hat, nahm meine Hand und fühlte gewohnheitsmäßig den Puls.

»Ruhig, ruhig -- es ist Ernst, Fräulein Lydia,« sagte er und sah mich
treuherzig und froh an. »Sie brauchen nicht mißtrauisch zu sein. Ich habe
das aber bei Ihrer skeptischen Veranlagung vorausgesehen und Ihnen den
Krankheitsbericht seit der drittletzten Injektion mitgebracht. Kommen Sie,
sehen Sie selbst.«

Es flimmerte mir vor den Augen. Ich las wohl mechanisch ... Gewicht ...
Temperatur ... Sputum ... usw. Diese ganze entsetzliche Reihenfolge, die
tagaus, tagein Gedanken und Gespräche beherrscht hatte, und ich mußte mich
von dem günstigen Ergebnis überzeugen, das ja meinen eigenen Wahrnehmungen
entsprach. Aber hinter der leise aufdämmernden Hoffnung sprangen die
schwarzen Kreuzchen auf, die in meinen Erinnerungsbüchern bei so vielen
Namen stehen, -- Namen von armen Menschenkindern, mit denen ich ein
Stückchen Weg gemeinsam gemacht hatte, und denen fast allen einmal, wie
heute mir, verkündigt worden war: »Sie sind als geheilt entlassen.«

»Sie dürfen das nicht, Doktor,« sagte ich dann. »Es ist eine überflüssige
Grausamkeit. Das ist alles Täuschung, ein vorübergehendes Aufflackern, ...
ich weiß zu genau Bescheid, und ich will mich nicht selbst betrügen und mir
auch keine falschen Erwartungen einimpfen lassen ...«

»Ich gebe Ihnen die ehrliche Versicherung, daß es Ihnen verhältnismäßig gut
geht, Fräulein Lydia. Natürlich sind Sie kein Riese, -- dürfen sich nie
für ganz gesund halten, -- müssen vorsichtig und maßvoll in jeder Beziehung
leben, -- körperlich und geistig ...«

Und nun begann er einen ganzen Strom ärztlicher Weisheit über mich zu
ergießen. Mir war wunderlich dabei zumute. Ich widerstrebte innerlich, aber
hier und da fing etwas in seinen Auseinandersetzungen an mir einzuleuchten,
und endlich, als er von den Gefahren eines Rückfalls, ja des »letalen
Ausgangs« sprach, die durch Erkältungen, Anstrengungen oder Erregungen
herbeigeholt werden könnten, denen aber durch Willenskraft und Überlegung
vorzubeugen war, -- da schwankte ich schon in dem festen Vornehmen, mich
trügerischen Hoffnungen zu verschließen, und die Möglichkeit, daß er die
Wahrheit sprechen möchte, hob sich zaghaft und verlangend in mir.

»Doktor, Sie begehen eine schwere Sünde, wenn Sie mich betrügen. Sie
könnten mich ruhig so weiter dämmern lassen. Es ist ja gerade in Ihrem
Sanatorium ganz vergnüglich. Man lebt so von der Hand in den Mund und
täuscht sich über vieles hinweg in der schönen Natur ... Und Sie wissen ja,
verlangen nach mir, um mich noch pflegen und lieben zu können, wie das so
üblich ist, tut zu Hause niemand ...«

»Das weiß ich gar nicht,« sagte der gute Doktor etwas verlegen, »aber es
spricht auch gar nicht mit. Hören Sie doch zu. Wenn's so wäre, wie Sie
annehmen, wie es leider ja auch oft geschieht und aus Menschlichkeit und
tausend anderen Gründen geschehen muß -- erinnern Sie sich nicht an den
Gebrauch in solchen Fällen? -- Dann führe ich den betreffenden Patienten
doch zum Chef, und der weiß mit seiner exorbitanten, sachlich scheinenden
Beredsamkeit jedes Bedenken ganz anders totzuschlagen als ich. Das wäre ihm
auch bei Ihnen eine Kleinigkeit gewesen. Sie kennen doch die leuchtenden
Augen, mit denen die vollkommen Überzeugten dann aus dem heiligen
Arbeitszimmer zu kommen pflegen, auch wenn Sie vorher noch so mißtrauisch
waren.« Das stimmte. Wie eine Bestätigung dieser Worte glitt das Bild des
Einen, Unvergeßlichen durch meine Gedanken, der sich auch nie durch die
berüchtigte Endunterhaltung hatte täuschen lassen wollen, der dann doch
beglückt dahergekommen war wie alle die anderen und doch denselben Weg
gegangen war wie sie ...

»Sehen Sie, Fräulein Sargent,« sagte der Doktor weiter, »wir zwei haben uns
doch ganz hübsch eingelebt miteinander, der Chef weiß das. Und als wir bei
der letzten Konferenz gestern endgültig feststellten, was wir eigentlich
schon seit Monaten wissen, daß von uns aus, im Augenblick nämlich, nichts
mehr für Sie zu tun ist, sagte er mir großmütigerweise: »»Sie können dem
Wurm die Nachricht bringen. Sie stehen ihr ja näher als ich, und wenn Sie
wollen, besorgen Sie auch die Korrespondenz mit den Angehörigen,«« -- was,
nebenbei gesagt, bereits geschehen ist« ...

Nun wurde mir doch schwindlig, und -- was soll ich es vor mir selbst nicht
eingestehen -- eine ungeheure Freude brannte wie eine Flamme in mir auf.
Fassungslos warf ich mich dem guten Doktor an den Hals und weinte, --
weinte bis zum Vergehen ...

.... Und dann sind die Reisevorbereitungen gekommen, vor allem der
Briefwechsel mit den Meinen, der mich nicht sonderlich enttäuschte, weil
dieses brausende Glück, das aus dem Hinterhalt über mich hergestürzt ist,
ihm das Gegengewicht hielt.

Im Grunde benahm man sich genau so, wie ich es mir hatte vorstellen können.
Eine matte, etwas ungläubige Freude und Verlegenheit, viel Verlegenheit.
Man weiß augenscheinlich nicht, was mit mir anfangen. Die ganze Familie
sitzt in Gastein. Ob ich dorthin kommen wolle, ob es ein geeigneter Ort als
Übergang für mich wäre. Die Kur könnte man nicht unterbrechen, Papa hätte
sie so nötig gebraucht, und meine Mutter dürfte ihn nicht verlassen.

Natürlich bin ich ihnen mit der Idee entgegengekommen, daß ich zuerst
noch ein wenig für mich bleiben wolle, in einer gut empfohlenen
Schwarzwaldpension vielleicht, jedenfalls meine Kräfte erst einmal erproben
und die Welt mit den Augen der Gesundenden sehen lernen. Und dieser Wunsch
traf auch auf keinen Widerspruch. -- Seit ich mündig bin, habe ich mir
ohnedies die sonst nötig und standesgemäß gefundene Begleitung abgeschafft.
-- Und mein Stiefvater schrieb mir sogar einen ganz herzlichen Brief. Er
wolle mit seinem vollen Titel -- »der Ministerialdirektor imponiert auch
in der freien Schweiz« meint er irrtümlicherweise -- mein Zimmer in dem
Züricher Hotel bestellen, in dem ich die erste Station machen sollte.

Und Mama? ...

Jedenfalls ist ihr eine Last von dem hin und her gezerrten Herzen gefallen,
und sie wird sicher mit der frohen Steigerung ihres Wesens, die sie immer
so liebenswürdig macht, die nächsten Wochen in Gastein genießen.

Ich aber bin nach fröhlichem Abschied von Davos, -- von dem Hofrat, den
ich gar nicht, dem Doktor Herholz, den ich sehr gern mochte, heute früh
abgereist und, einer plötzlichen Eingebung folgend, in Weesen ausgestiegen
und anstatt in Zürich in Glarus gelandet.

Das ist so gekommen:

In meinem Coupé sprachen zwei Herren von einer gewaltigen Arbeit, die
man eben im Glarnerland, im Klöntal, unternähme. Man staue einen großen
Bergsee, mache sein Gefälle höher und gewänne durch eine Leitung, die bis
nach Zürich ginge, eine ungeheure Kraft, die industriell verwertet werden
solle.

Nie im Leben hatte ich etwas Ähnliches gehört und, ich weiß nicht, als mir
der Gedanke durch den Kopf schoß, was es nun alles für mich auf der Welt
zu sehen und zu erleben gäbe, war ich auch schon entschlossen, mir diese
Sache, die mir ganz ungeheuerlich erschien, zu betrachten.

Vielleicht hat bei diesem plötzlichen Entschluß auch ein klein wenig die
Abneigung gegen das in Zürich von dem »Ministerialdirektor« bestellte
Zimmer mitgesprochen, jedenfalls sitze ich hier in Glarus mit meinem
glücklicherweise ausreichenden Handgepäck, während das große nach Zürich
weitergereist ist.

Und ich freue mich ... Freue mich des einfachen Zimmers, das man
der einzelnen Dame ohne Koffer angewiesen hat, freue mich meiner
Selbständigkeit und meiner Einsamkeit. Ich möchte die große, gierige
Lebensfreude, die in mir rumort, hinausschreien, und doch ist mir's gerade
recht, daß kein Mensch da ist, in dem sie wiederhallt.

Ich brauche niemand auf der Welt, wie mich niemand braucht.

Ich stelle mich ans Fenster, und der Glärnisch mit dem Mondgeriesel
über seiner machtvollen nächtigen Schönheit gibt mir, was ich in diesem
Augenblick nötig habe -- so an der geöffneten Tür zu Leben und Welt....

  -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Nach traumlos durchschlafener Nacht ein halbes Erwachen voller Beklemmung
und Bangen. Vergebliches Suchen nach der heißen Milch ... Die Hand greift
nach dem Fieberthermometer ... Schwester Marie ist nicht da ...

Ach, und dann die Seligkeit! ... Das ist ja alles vorbei für immer oder --
seien wir vernünftig -- für lange Zeit ...

Ich habe gefrühstückt, einen Wagen bestellt, um ins Klöntal zu fahren,
und warte nur noch auf meinen grünen Schirm, dessen Stock mir der Portier
gestern zerbrochen hat, und den ich heute repariert zurückerhalten soll.

Die Sonne liegt schon mit voller Glut auf den Bergen und in den breiten,
nüchternen Straßen der Stadt. Die Stimmung von gestern abend ist's nicht,
aber dafür zittert eine satte Sommerfreude in der klaren Luft. Wär' ich nur
schon draußen! ... Nein, so gut ist mir's nicht geworden.

Eine Depesche. Da liegt sie neben mir auf dem Tisch und mahnt: hinter den
Bergen wohnen Leute, die sich wie ein Keil in das drängen, was sich eben in
mir zusammenfügen will aus dem Durcheinander, das Krankheit und Einsamkeit
in mir geschaffen haben ... Natürlich Mama -- natürlich sehr lang --
das spart einen versprochenen Brief, der nicht geschrieben wird, was der
Ärmsten dann doch wieder ein paar schlaflose Nächte macht....

»Warum Glarus? Bitte jetzt jedenfalls dortbleiben. Kommerzienrat Hillmann,
Jugendfreund deines Vaters, mit Sohn wollten dich Zürich aufsuchen, kommen
nun Glarus. Bitte herzlich aufnehmen. Näheres brieflich. Soll ich Edina
schicken? Treue Grüße. Mama.«

Unglaublich ..., unerhört ... Hätte ich doch auf den Schirm nicht gewartet
-- dann wäre ich jetzt unterwegs, erst übermorgen zurückgekommen, und
die eiligen Herren, die die Familie mir auf den Hals schickt, hätten das
Nachsehen gehabt. Was können sie denn von mir wollen? Ich habe zwar eine
Verbindung mit »Hillmann«, aber nur eine in Geldsachen, und ich weiß im
Augenblick nicht einmal, welcher Art.

Was hindert mich übrigens auch jetzt noch, einfach meiner Wege zu gehen?

Mamas Bitte?

Nein ... Mama ist eine liebe, fremde Frau, die sich bereitwillig unter
das Joch des »Ministerialdirektors« geduckt hat und nur manchmal aus ihrem
behaglichen Nest nach ihrer verlassenen Ältesten angstvoll hinüberstarrt
... Ach ..., ich klage sie nicht an. Ich klage niemand an, aber ich habe
sie mir alle abgewöhnt -- jeden einzeln und die ganze Familie zusammen.

Eine dunkle Erinnerung aus einem anderen Leben rührt hier und da an mein
Herz.

In einem schönen Lande am blauen Meer, an dem Palmen stehen -- die Riviera
-- San Remo, wo mein armer Vater an der Schwindsucht gestorben ist und auch
begraben -- war ich ein geliebtes und vergöttertes Kind. Unzertrennlich von
meiner traurigen Mutter, die vor Sehnsucht und Gram um den Heimgegangenen
fast verging. Mein kleines Bett stand neben dem ihren, ich kletterte zu
ihr, wenn ich sie weinen hörte, kuschelte mich an sie, und dann schliefen
wir zusammen ein. Sie war sehr schön und gut, meine Mama -- und liebte
mich sehr. Vielleicht ist das Übermaß an Liebe, das sie damals auf mich
geschüttet hat, das gewesen, was sich sonst auf ein ganzes Leben verteilt.

Als ich sieben Jahre alt war, lernten wir den Ministerialdirektor kennen,
der aber damals noch Regierungsrat war. Ich begreife es ganz gut, daß
der energische, herrische Mann mit seiner schnurgeraden, unanfechtbaren
Korrektheit und meine weiche, hochgestimmte und haltbedürftige Mutter sich
so gut zusammengefunden haben. Auch mein kleines Herz jubelte ihm damals
entgegen, denn Mama wurde zusehends heiter und glücklich im Verkehr mit
ihm, und ich selbst war sein großer Verzug ... Blieb es auch eine kurze
Zeit -- in der neuen Häuslichkeit in Berlin sogar noch, -- bis der Alltag
und eine große Geselligkeit mich allmählich von ihm und auch von der Mutter
abzudrängen begannen ... Zu meinem maßlosen Erstaunen....

Edina erschien auf der Bildfläche. Mit ihrem Schweizer Französisch, ihrer
peinigenden Ordnungsliebe und der barbarischen Strenge, wenn ich allein mit
ihr war, doch -- um gerecht zu sein -- auch mit einem im Grunde
liebevollen Herzen und dem heißen Wunsch, die ratlose kleine Entthronte zu
entschädigen. Mama wurde sogar ein ganz klein wenig eifersüchtig und wollte
sie fortschicken.

Die gute Mama! Heute ist Edina ihr im Hause alles, und daß sie sie mir
herschicken will, ein Opfer, das die ganze Wirtschaft aus dem Gleichgewicht
brächte, wenn ich es annähme. Aber das tue ich nicht. Ich brauche Edina
nicht mehr, wenn ich mich auch damals an die zankende kleine Französin
klammerte. Damals, als sich das Herz meiner Mutter langsam von mir
abwendete, weil die Vergangenheit versank -- versinken sollte, und ich mit
dem Gesicht eines, der auch nicht mehr da sein durfte, als Mahner daran
dastand.

Das ist ja wohl ganz einfach und nur menschlich, aber die junge, heiße
Kinderseele konnte sich in diesem wirren Rätsel nicht zurechtfinden und
wußte nicht wohin mit aller unerwünschten Liebesfähigkeit. Dann kamen die
kleinen Geschwister, und die habe ich mit einer Seligkeit in mein banges
Herz geschlossen, die ich zuweilen heute noch nachempfinden kann. Und eine
kurze Zeit frohen Kinderglücks ist mir ja dann auch noch beschieden
gewesen unter den süßen, strampelnden Geschöpfchen, die die Arme nach Liddy
ausstreckten und sich heiser nach ihr schrien.

Und -- da ich einmal diese alten Erinnerungen zurückrufe -- mein Stiefvater
fing in dieser Zeit an, sich mehr als je mit mir zu beschäftigen. Wohl
seiner im Grunde gerechten Natur folgend -- um dann mit gutem Gewissen
seine eigenen zwei mit der ganzen echten Liebe zu überschütten -- die er
für mich natürlich nicht empfinden konnte. Und noch einmal ist mein Herz
für ihn aufgeglüht mit unbeschreiblicher Anbetung. Ich habe wahrhaftig den
=bon Dieu=, zu dem ich abends meine =prières= sagen mußte, abgeschafft und
den heißgeliebten Papa an seine Stelle gesetzt.

Gott, Gott, was kann solch ein kleiner Mensch lieben und leiden, und wie
gut ist es, daß ich das alles in so jungen Jahren habe abstreifen müssen!
Wie hätte ich wohl mein hartes Schicksal, wie dieses schwerste des letzten
Jahres, tragen können, wenn Liebes- und Leidensfähigkeit mit dem Alter noch
gewachsen wären! ...

Als die erste Lungenentzündung kam, ist wohl das bißchen bleiche Sonne aus
meinem Kinderleben ganz verschwunden. Natürlich bin ich sorgsam gepflegt
worden, aber als ich genesen war, fiel mir das blasse Entsetzen, von
dem meine arme Mutter bei meinem leisesten Hüsteln oder dem leichtesten
Unwohlsein geschüttelt wurde, doch als etwas Ungewöhnliches auf.

Bei dem nächsten Katarrh, wie ihn Annie und Mia auch eben durchgemacht
hatten, wurde mein Bett aus dem Kinderzimmer geschafft und meine
Arbeitsstunden so gelegt, daß sie in die Zeit fielen, in der die Kleinen
wach waren und sonst mit mir gespielt hatten. Ich durfte sie auch nicht
mehr herzen und küssen wie früher, und es schien mir, daß man mir aus dem
Wege ging, wo ich mich zeigte.

Natürlich war das eine übertriebene Ängstlichkeit und wohl auch noch Sorge
um mich dabei, aber das konnte ich nicht begreifen, und eine furchtbare
Verdüsterung kroch in mich hinein. Sie wuchs zu einer grenzenlosen
Verzweiflung an, die mich heute noch in der Erinnerung erbeben läßt, als
eines Tages mein Stiefvater mich unsanft beiseite stieß, wie ich, das
Verbot vergessend, die kleine Mia in die Arme nahm und sie lachend und
tollend abküßte.

Ach, dieser Blick, dieser eisige, böse Blick, der sich in mein Herz bohrte,
den ich nie, nie vergessen werde, wenn mein Stiefvater und ich auch auf dem
angenehmsten Verkehrsfuße stehen!

Ich glaube, jenes kleine Ereignis ist die Veranlassung gewesen, daß man
mich fortbrachte.

In ein Pensionat für lungenleidende Kinder. Nach Davos -- mit einer jungen,
sanften, freundlichen Erzieherin. Man erwies dem armen Ding damit zugleich
eine Wohltat, denn sie war eine schwer Leidende, und sie ist auch die erste
geworden, deren Namen mit einem schwarzen Kreuz in meinem Fremdenbuch den
langen Zug des Todes eröffnet hat, der von da an mein Leben geleitet.

Eine Heimat habe ich seitdem nicht mehr gehabt. Bis zur Konfirmation das
Pensionat mit seinen leidenden Insassen, meist Waisen oder Halbwaisen
wie ich. Daß man mich durch die Übersiedelung aus dem Hause nach einem
verseuchten Orte, -- mich und manche andere vermutlich in bester Absicht
-- erst aus der Welt des Blühens in die des Vergehens gestoßen hat, ist
mir übrigens feste Überzeugung geworden. Ich habe mich wenigstens ohne die
Anzeichen der furchtbaren Krankheit, die ich ererbt haben sollte, gehalten,
bis ich vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war. Die ersten Fieberanfälle
bei den rasch aufeinander folgenden Katarrhen waren ein Geschenk für die
erwachende Jungfrau.

Und damit hat das Wandern von Sanatorium zu Sanatorium und jenen Hotels,
in denen man Lungenkranke aufnimmt, begonnen -- unterbrochen durch einen
kurzen Aufenthalt in der jeweiligen Sommerfrische der Eltern, in
Begleitung der eben lebenden Erzieherin oder später Gesellschafterin, unter
sorgfältiger Beobachtung aller nur denkbaren Desinfektionsveranstaltungen,
unterbrochen durch einen mehrtägigen Besuch der Mutter, zuweilen auch des
Vaters, in meinem Winterasyl.

Ich kenne sie alle -- Andreasberg, Badenweiler, Wehrawald -- Ospedaletti,
Mentone, Nervi, San Remo -- Davos und wieder Davos. -- Im Grunde, wenn das
Fieber schlief, ein sorgloses Leben voll äußeren Behagens. Ich bin nur
in den teuersten und vornehmsten Anstalten und Hotels gewesen, dank dem
Reichtum von meinem verstorbenen Vater her. Um mich herum ein buntes,
internationales Treiben, eine verzärtelte Kultur, viel unbeschützte Jugend
neben den lebenserfahrenen reiferen Leidensgenossen. Allen gemeinsam eine
gesteigerte Lebens- und Liebesgier und allen gemeinsam der Tod im Nacken.
Ich habe von allem gekostet, innerhalb der Grenzen, die ein gewisses, wohl
ererbtes Schicklichkeitsgefühl meinem Temperament immer gezogen hat, und
der Gesamtinhalt dieser Jugendjahre ist überhitzter Flirt, überhitzte
Fröhlichkeit, überhitzte Trauer und Einsamkeit -- Einsamkeit --
Einsamkeit....

Mit einer kurzen Unterbrechung.

Ich taste jetzt manchmal mit scheuen Händen in dieser Erinnerung herum, die
mich noch vor einem Jahre bis dicht vor den Abgrund der Selbstvernichtung
riß.

Heute, in diesem Augenblick, ist es mir sogar beinahe Bedürfnis, mir Walter
Hertog hierher zu rufen, ihn vor mir zu sehen, wie ich ihn in Arosa zuerst
sah. Groß, schmalschulterig, damals noch sehr aufrecht -- ein Römerkopf
mit brennenden Augen und einem Zug so verbitterten Leidens um den
schmallippigen Mund, daß mir jetzt noch bange wird, wenn ich daran denke.

Wir haben uns sehr bald zusammengefunden.

Ich war der rechte Kamerad für einen, dessen schmerzvoller Kampf gegen das
Sterbensollen ein viel härterer war als der der vergehenden Kreatur, den
ich so oft mit angesehen hatte, denn bei meinem neuen Freunde wurde er
verschärft durch einen fressenden Ehrgeiz, dem die Todeskrankheit plötzlich
das Ziel entrissen hatte.

Hertog, obwohl auf dem Boden der bestehenden Staatsformen stehend, hielt
sich -- wohl nicht mit Unrecht -- für einen großen sozialen Reformer.
Er hatte eben als junger Assessor den ersten Schritt getan, der ihn
der Verwirklichung seiner Pläne zuführen sollte, er war ins Ministerium
berufen, und das Feld für seine offene und heimliche Arbeitsgier lag frei
vor ihm. Da hatte ihn die Familienkrankheit, der er mit seinem eisernen
Willen zu entwischen hoffte, nach einer starken Influenza gepackt und
niedergeworfen.

Zwei Jahre lang sind wir Weggenossen gewesen im Schwarzwald, in den
Schweizer Bergen und am Mittelländischen Meer.

Mein Gott -- welch ein wildflackerndes Leben! -- Und dabei Liegestuhl an
Liegestuhl!

Er hielt mich natürlich ganz und gar in seinem Bann. Er war ja so weise
wie niemand, den ich kannte. Er hatte den Dingen dieser Welt auf den Grund
geschaut. Er konnte das anscheinend Gute, mit dem sie sich umkleideten, von
ihnen reißen und ihr nacktes Skelett offenbaren.

Alles war Moder -- alles, was leuchtete, Verwesungserscheinung. Der Tod
beherrschte sein ganzes Denken, weil _er_ sich ihm verfallen sah. Und mich
mit ....

Oft sprachen wir über das alles, bis sich das Fieber über uns warf. Dann
waren wir für Tage getrennt, und wenn wir uns wieder trafen, fingen wir
auch wieder an, das Leben zu zerteilen und zu verhöhnen. Wir verspotteten
jedes Gefühl, unser eigenes zuerst.

Denn natürlich -- trotz allem -- liebten wir uns.

An Frühlingsabenden, wenn in der Halle die Italiener »=vorrei morire=«
heruntertremolierten, dann kam es wohl, daß uns Jugend und Rausch doch
packten.

Wir liefen hinunter zu den Bambusbüschen oder zu den roten Rosensträuchern,
die eben aufblühen wollten, und lagen uns in den Armen und küßten uns
voller Leidenschaft.

An die Zukunft zu denken, hüteten wir uns. Wenn wir am Tage über das süße
Erlebnis der schwachen Stunde sprachen, fanden wir großartige Worte, bald
der Entsagung, bald des Hohnes.

Manchmal gingen wir in unseren Gesprächen auch bis auf das Äußerste -- die
gänzliche Vereinigung in Rausch und Glut....

Einmal ganzes, volles Menschenglück ... einmal vor dem Tode....

Aber dann kam jedesmal eine große Abkühlung. Wir höhnten wohl über die
höhere Tochter und den Regierungsassessor -- aber aus ihnen herauskriechen
konnten wir doch nicht....

Nach einer längeren Sommertrennung trafen wir uns in Davos wieder.

Da fing es plötzlich an, ihm besser zu gehen. Ach wie hab' ich jeden
kleinen Fortschritt mit ihm erlebt und genossen! Wie hab' ich für ihn
gejubelt! Er selbst blieb lange Zeit ungläubig.

Bis eines Tages Dr. Herholz ihn zum Professor rief.

Da kam er denn glühend und mit leuchtenden Augen zu mir, setzte sich an
meinen Liegestuhl und sagte in staunender Glückseligkeit nur immer vor sich
hin: »Geheilt entlassen -- geheilt entlassen.«

Und dann hat er die Lehne meines Stuhls umklammert. Ich habe mich
aufgerichtet, seinen Kopf in meine Hände genommen, -- und habe ihn küssen
wollen.... Und da -- Aug' in Auge -- sah ich in dem seinen plötzlich etwas
aufblitzen.... Bangigkeit -- Furcht -- Grauen....

Ein Blick, ähnlich wie jener, der meine Kindheit vergiftet hat, damals,
als ich mein Schwesterchen küssen wollte, und mein Stiefvater mich
zurückriß....

Er hat sich dann rasch losgemacht und allerlei gesprochen -- von der
Ehrlichkeit, auf die unsere Freundschaft sich gründete -- -- er hätte in
der Tat eben ein wohl entschuldbares Gefühl von Furcht gehabt -- die Furcht
des Genesenden vor dem Kranken -- das wäre etwas ganz Animalisches und
hätte nichts mit unserem Seelenbund zu tun ... ich solle das richtig und
gütig auffassen ....

Nein und tausendmal nein. -- Ich habe ihm äußerlich recht gegeben und bin
beherrscht und freundlich geblieben bis zum Abschied. Aber nächtelang
habe ich gewinselt wie ein geschlagener Hund -- und hab' ihn gehaßt und
verwünscht und bin doch nicht von ihm losgekommen, wie sehr ich auch nach
einem Abschluß gejammert habe....

Nun, der war ja bald da, ein ganz radikaler dazu....

Sechs Wochen später kam seine Todesnachricht.... Überarbeitung --
Lebensrausch -- Erregungen -- sagte man uns -- alles vernichtende Dinge für
einen »geheilt Entlassenen«....

Gilt das nicht auch mir? Ahne ich nicht jetzt eben schon den langsam
aufstechenden Schmerz in den kranken Stellen? -- Steigt mir nicht eben
schon der fade, flaue Geschmack des ausströmenden Blutes in die Kehle? ...
Nein, ich will nicht.... Ich habe mit dem Tode jetzt nichts zu schaffen --,
leben will ich -- unter Lebenden will ich mir meinen Platz suchen. Fort mit
den Toten....

Mamas Freunde sollen kommen -- sie haben Fleisch und Blut und werden die
Schatten, unter denen ich hause, verscheuchen....

Ich werde keine einsame, mehrtägige Fahrt unternehmen, um ihnen aus dem
Wege zu gehen -- ich will Stimmen hören, die nicht aphonisch geworden
sind, ich will mir von Dingen erzählen lassen, die in der Welt des Lebens
vorgehen.

Ich will auch den beiden Abgesandten der Familie zeigen, daß ich zu den
Gesunden gehöre.

Und darum hole ich mir jetzt Frische und Klarheit für meinen etwas
schwindelnden Kopf.... Mein Wagen steht vor der Tür -- also hinaus in
die Sonne --, und um das neue Leben nicht mit einiger Folgerichtigkeit zu
beginnen --, an den schönen Bergsee, den sie zwingen wollen, weitab von
seiner heiligen Stille mit 45000 Pferdekräften für sie zu arbeiten.

       *       *       *       *       *

Also die Begegnung mit dem Kommerzienrat Hillman ist mir geradezu ein
Erlebnis geworden.

Meine Gedanken schwirren auf allen möglichen Lebensfeldern umher und
praktische, bange, kokette, glückverlangende Erwägungen überstürzen sich in
mir. Seit einer Stunde laufe ich in dem kleinen hellen Salon, den ich mir
habe geben lassen, hin und her, unstet und ruhelos.

Nur wenn ich an dem blumenumrankten Eckspiegel haltmache, schießt ein
Gefühl von -- ich kann nicht anders sagen -- stolzem Entzücken in mir auf.
Ich habe eine hohe Freude an meiner Schönheit. Sie ist, mit allem anderen,
ein Erbteil meines Vaters. -- Und gerade jetzt, wo die Hoffnung neues Leben
in mein Gesicht gezaubert hat, dessen Züge ich so genau und so sachlich
studiert habe, -- muß ich selbst staunen, welche Kraft und welchen Glanz
meine blauen Augen bekommen haben.

Ich gleiche genau dem vielbewunderten letzten Bilde meines armen Papa,
dem das Schicksal die letzte Grausamkeit, den Verfall durch die gräßliche
Krankheit ersparte, indem es ihm einen plötzlichen Tod bescherte.

Merkwürdig übrigens, daß Todesnähe und intensives Lebensbewußtsein so
gleiche Ausdrucksmittel haben können....

Vielleicht, weil beide die Blicke für noch Ungeschautes weiten?

Ach, ich fühle ja bei jedem Schritt, den ich im Verkehr mit der lebendigen
Welt mich vorwärts taste, daß Neues, Wunderbares auf mich wartet, und
ich muß für mich immer wieder auf das Bild zurückkommen, daß ich an
einer geöffneten Tür stehe, hinter der viele Wege in das schöne, große,
unbekannte Leben führen.

Welchen werde ich wählen unter den sonnen- und mondglänzenden, den
dämmerigen und den dunkeln? ...

Ob der Freund meines Vaters, der mich vorhin verlassen hat, dieser
weltkundige alte Mann mit den jungen, zärtlichen Augen irgendwo als
Wegweiser dastehen wird?

Es ist so merkwürdig, wie da plötzlich eine Brücke von dem alten
verschollenen Kinderland über die Gegenwart hinweg in die Zukunft führt.

... Als der Kommerzienrat Hillmann pünktlich auf die Minute seiner
Anmeldung bei mir eintrat, hatte ich in demselben Augenblick ein ganz
deutliches Bild vor mir, dessen ich mir eigentlich nie klar bewußt gewesen
bin.

... Ein Balkon, von stark duftenden blauen Blumen überhangen, ein Stückchen
grauer Himmel, im Winde raschelnde Wedel einer Dattelpalme, die hoch über
das Haus ragt, -- ein Liegestuhl mit einem Kranken darin, der schwer atmet
und hüstelt. Über ihn gebeugt -- dieser Mann, der eben eintrat, meine Hand
festhielt und mich anstarrte wie ich ihn.

»Es ist geradezu wunderbar wie Sie ihm gleichen, liebes Kind,« sagte er und
nahm auch meine andere Hand.

Mir war's, als tauche hinter dem Forschen seiner herrschenden dunklen Augen
etwas wie Güte und Teilnahme auf, aber es rührte mich nicht.

»Ich glaube Sie wiederzuerkennen, Herr Hillmann. Ich muß Sie an der Riviera
irgendwo, als kleines Kind gesehen haben,« sagte ich. Wir setzten uns, und
ein kleines Schweigen entstand....

»Sehr richtig, in San Remo,« sagte er dann, und das menschlich Herzliche
verschwand aus seinem Blick. Er war nun ganz der aufs äußerste soignierte,
gut erhaltene ältere Lebemann, ein Typ, den ich -- ach wie genau! -- kenne,
und mit dem ich immer gut fertig werde.

Diese Art Männer, die ihr Leben auf das Weib gestellt haben, scheinen mir
in der gewissen Abendbeleuchtung, die über ihrem Wesen liegt, anziehend
und rührend; sie sind dankbar für jedes Lächeln, und nehmen jede
Augenblicksstimmung als das, was sie ist, ohne Versprechen für
die Zukunft.... Und sie haben so viel von den schauerlich-schönen
Lebensgeheimnissen ergründet, die uns Junge so mit Qual und Erwartung
füllen -- und sie lieben die Jugend mit einer so schmerzlichen Liebe und
wissen ohne Worte darüber zu reden.

Ja, auch mein Gast und ich verständigten uns in diesem Sinne -- und ich
will es gar nicht leugnen, daß mir bei seinen Blicken voll sanfter und
diskreter Bewunderung sehr wohl war.

Und dann gab er in liebenswürdiger und wohltuender Weise der Freude
Ausdruck, mich in so blühender Frische vor sich zu sehen. Welche
Überraschung das wohl für die Meinen sein würde, deren noch ganz warme
Grüße er mir übrigens zu bringen hätte -- und die schon jetzt ganz
fassungslos wären vor Glück -- meine Mutter natürlich am meisten....

»Sie zweifeln doch nicht daran, gnädiges Fräulein?« fragte er vorwurfsvoll
auf mein unwillkürliches Lächeln....

»Gott bewahre -- aber -- pardon, ich bin in Gedanken bei der Depesche
meiner Mutter, die mich etwas erregt und neugierig gestimmt hat.« So ging
ich nun aufs Ziel los.

»Ihre Frau Mutter hat Ihnen Andeutungen gemacht, um was es sich handelt?«

»Nur über Ihre Jugendfreundschaft zu meinem Vater, und daß Sie mich
eigentlich in Zürich aufsuchen wollten.«

»Ja, aber merkwürdigerweise waren wir ohnedies auf dem Wege nach
Glarus. Ein großes technisches Unternehmen hier -- interessiert uns aus
verschiedenen Gründen.«

»Wohl der See?« sagte ich in Gedanken....

»Ah -- Sie wissen also doch, um was es sich zwischen uns handelt?«

Ich war ganz betroffen. Nein, ich wußte gar nichts. War es ein Zufall? --
oder hatte irgendeine unbekannte Strömung mich mit sich getragen? -- Ich
konnte mir zwischen den beiden Herren, dem Klönthaler See und meiner armen
Person nicht die mindeste Beziehung denken.

Herr Hillmann warf mir wieder einen seiner weichen, schmeichelnden Blicke
zu und strich dann mit der feinen, unberingten Hand über die Augen.

»Es ist keine leichte Sache,« sagte er, »mit einer geschäftlichen
Angelegenheit über Sie herzufallen. Der Geschäftsmann möchte hinter dem
Freund ganz und gar verschwinden.«

»Warum denn? Der Freund kann ja für den Geschäftsmann -- wie Sie sagen --
sprechen.«

»Sie haben recht, liebes Kind -- gestatten Sie mir diese Anrede....
Ihr Vater und ich sind wirklich nahe Freunde gewesen.... Schul- und
Studentenzeit hindurch, bis zu seinem frühen Tode.... Und darüber
hinaus.... Seine sorgende Freundschaft hat mir mein Leben aufbauen
helfen.... Und nun hören Sie gut zu, um was es sich handelt, damit Sie sich
überlegen können, ob Sie meine Bitte gewähren wollen.«

Ich habe gut aufgepaßt, und mir, was ich nicht gleich verstand -- denn es
war mir alles neu -- wiederholen lassen. Die Sache ist folgende, ich mache
sie mir im Aufschreiben noch einmal klar:

Mein Vater hat seinem Freunde Hillmann, der damals ein unbekannter
und vermögensloser Ingenieur war, und für dessen Pläne er sich lebhaft
interessierte -- es handelte sich um neue Konstruktionen von Brückenträgern
und irgendwelchen Maschinen -- kurz vor seinem Tode ein großes Kapital,
200000 Mark auf zwanzig Jahre, mit vier Prozent verzinsbar, geliehen, --
Herrn Hillmann oder seinem Rechtsnachfolger, wie es heißt.

Nachdem er gestorben war, hatte Mama zuerst die Verwaltung des ganzen
hinterbliebenen Vermögens, von dem die Hälfte mir gehörte, übernommen, sich
aber bei ihrer zweiten Heirat mit meinem Vormund auseinandersetzen müssen.
Mein Anteil war auf Wunsch meines Stiefvaters ganz für sich niedergelegt
worden. Nur das Kapital, das in den Fabriken des Herrn Hillmann festlag,
war von der Teilung ausgenommen geblieben.

Man hat mir, als ich vor drei Jahren mündig wurde, wie ich mich auch ganz
dunkel erinnere, davon Mitteilung gemacht. Ich habe aber auf die einzelnen
Posten nicht geachtet und alles unterschrieben, was mir auf dem Gericht
vorgelegt wurde. Die Zinsen sind nach wie vor an Mama gegangen, die sie
dann auf mein Bankkonto eingezahlt hat. Natürlich hat mein Stiefvater das
besorgt, denn Mama versteht von diesen Dingen noch weniger als ich.

Nun sind in einem halben Jahre die zwanzig Jahre um, und Herr Hillmann hat
auf seine Anfrage von Papa eine Kündigung des Anteils von Mama erhalten.
Das ist ihm im Augenblick sehr unangenehm, da er mit seiner ganzen
Kapitalkraft auch außerhalb der eigenen Maschinenwerke in großen
Unternehmungen festliegt. Er ist darum nach Gastein gegangen, um durch
persönliche Rücksprache eine Verlängerung von fünf Jahren zu erwirken.

Mama wäre in Erinnerung an die alte Freundschaft wohl nicht abgeneigt
gewesen, seinen Wunsch zu erfüllen, aber mein Stiefvater hätte klipp und
klar und mit Gründen, gegen die er, Herr Hillmann, nichts hätte erwidern
können, alles abgeschlagen. Meinen Entschluß wolle er in keiner Weise
beeinflussen, das Geld seiner Frau müßte er aber unter allen Umständen
herausziehen.

Da hätte Mama ihm den Rat gegeben, mit mir zu sprechen, da für mich die
Erwägungen, die für sie als Familienmutter ausschlaggebend wären, nicht
in Betracht kämen. Vielleicht, so hätte sie gemeint, würde ich gern an die
Stelle meines verstorbenen Vaters treten.

Das zu tun, und auch Mamas ihm entzogenen Anteil, wenn irgend möglich, aus
meinem anderweitigen Kapital zu ersetzen, wäre, kurz gesagt, seine Bitte an
mich. Das Geld stände sicher, ich erhielte es verzinst wie bisher, und ihm
erwiese ich eine Gefälligkeit, für die er mir stets dankbar bleiben würde.

»Was soll ich nun antworten?« dachte ich. »Warum stellt man mich vor eine
solche Entscheidung? Wer rät mir? Vielleicht ein Rechtsanwalt? Mein Vormund
ist tot, mein Stiefvater lehnt es ab, und seine Ansicht liegt ja auch in
seinem eigenen Vorgehen.

Dazu brannten die dunklen Augen dieses Mannes -- ich kann nicht anders
sagen, als beunruhigend -- in die meinen, und ich muß es vor mir bekennen,
daß etwas in mir sich ihm unterwarf.«

»Ich habe ja keine Ahnung, was ich Ihnen antworten soll,« quälte ich mir
endlich ab.

Da fing er noch einmal an mit Zahlen und Geschäftsberichten auf mich
einzureden, so daß ich fühlte, er machte es wie für ein Kind zurecht.

Ich verstand doch nichts, ich wollte auch gar nicht recht zuhören. Mein
Kopf und mein Rücken taten so weh. Und schließlich dachte ich: Wenn du da
mit der Hand, die mein toter Vater noch gedrückt hat, meine nehmen oder
mein Haar streicheln wolltest, so würde ich wenig nach Zinsen und Kapital,
Maschinen, Aktien und Jahresabschlüssen fragen.

»Denken Sie nach, ziehen Sie Erkundigungen ein,« sagte er schließlich, »ich
werde Ihnen Adressen dalassen. Sie werden sich ja doch, bis ein Berufener
Ihnen diese Sorgen aus der Hand nimmt, damit beschäftigen müssen.
Übermorgen bin ich hier und gebe Ihnen selbst noch jede gewünschte
Auskunft.«

Dann sah er mich schärfer und voller Mitleid an.... »Ich quäle Sie, armes
Kind, Sie sind ganz weiß geworden. Vielleicht hat mein Sohn doch recht
gehabt.«

»Ja, Ihr Sohn sollte doch auch mitkommen. Wo ist er?« fragte ich
gleichgültig.

Herr Hillmann sah etwas verlegen über mich weg. »Mein Sohn, -- o, -- er ist
geschäftlich verhindert, -- das heißt, offen gestanden, -- mein Sohn ist
ein wundervoller Mensch, -- aber ein Träumer, -- ein Träumer sage ich Ihnen
-- mit dem man sich oft kaum verständigen könnte, wenn man ihn nicht so
lieb haben müßte.«

»Und?« fragte ich nun etwas neugierig.

»Ja, als wir über Sie und die Ihren eingehend sprachen, war er schließlich
dagegen, Sie in meine Geschäftsangelegenheiten zu ziehen. Es würde zu weit
führen, wollte ich Ihnen erklären, warum.«

Ich konnte nur verständnislos die Achseln zucken.

»Und die Meinen?« fragte ich, da er noch nicht aufstand. »Sie haben mir
noch nicht erzählt, wie Sie sie fanden.«

»In vollem, fröhlichem Leben, liebes gnädiges Fräulein. Der Anblick, als
wir auf die Hotelveranda geführt wurden, gab ein unvergeßliches Bild. Die
immer noch schöne Mama, in jedem Arm eins der bezaubernden Mädels, -- alle
drei die blonden Köpfe lachend zusammengesteckt, -- dazu der vornehme,
schöne Vater -- Herr v. Hasberg ist eine auffallend distinguierte
Erscheinung.« ...

Herr Hillmann brach ab. Ich fürchte, er sah, daß meine Augen voll Wasser
standen.

»Ich ermüde Sie -- Sie leiden,« sagte er, »vergeben Sie mir. Und noch eins,
liebes Kind ... ich weiß nicht, sind Sie ganz allein hier? -- Sorgt man für
Sie?«

»O, ich brauche niemand,« sagte ich schnell. »Ich bin sonst ganz frisch,
nur das lange Sprechen und Zuhören heute hat mich, ehrlich gestanden, etwas
angegriffen.«

»Vergeben Sie mir und hören Sie noch etwas, das mir eben durch den Kopf
geht. Ich kenne Ihre Pläne nicht, weiß nur, daß Sie vorläufig noch
nicht nach Gastein gehen. Ich kann Ihnen für mich keine Gastfreundschaft
anbieten, denn ich führe nur eine Garçonwirtschaft, -- ich bin seit Jahren
Witwer. -- Aber, liebes Kind, ich habe in Heidelberg einen großen und
anregenden Kreis. Sie fänden da guten Anschluß und auch meine Freundschaft
-- von der Sie überzeugt sind, nicht wahr? Ich meine natürlich nur, bis
Ihre Verhältnisse geordnet sind ... und wenn Sie nichts Besseres wissen.«

»Bis ich nach Hause gehe,« sagte ich bange.

Er sah merkwürdig ausdruckslos zur Seite.

»Sie sind sehr gut, Herr Hillmann, aber ich fühle selbst, daß ich nach
dem langen Sanatoriumleben noch eine Zeit für mich sein muß, ehe ich unter
Menschen gehe.«

Dann hat er mich endlich verlassen, mit herzlichen Worten und mitleidigen
Blicken.

Und ich habe mich auf meine Chaiselongue geworfen und gegrübelt und in
Schlaf geweint.

Dann eine Depesche an Papa mit der Bitte um Rat. Ich will äußerlich nichts
versäumen, ich _muß_ ja auch irgend jemand fragen. Was fange ich sonst an?
Die Antwort lautet:

»Halte es für unpraktisch, größere Kapitalien in Privatunternehmungen zu
stecken, doch will deinen Entschluß und Mamas Wunsch nicht beeinflussen.
Adresse tüchtigen Rechtsanwalts Heidelberg, Liepelhausener Straße 21, =Dr.=
Pförtner. Alles Gute von uns allen.«

Eine Stunde später noch ein Telegramm:

»Bin mit allen Gedanken und heißer Sehnsucht bei Dir, geliebtes Kind.
Mama.«

Ach, ... es schreit wieder etwas in mir ganz jammervoll.

Das Glücksbild, das mir der Fremde geschildert hat, steht vor mir und
peinigt mich.

Sie wollen mich nicht -- ich habe es geahnt -- jetzt weiß ich es.

Ich werde wie ein Gespenst in diesem glücklichen Hause auftauchen. Man
glaubt nicht, daß ich gesund bin, man will es nicht glauben.

Ach, ich hasse die Familie.... Nein, ich vergehe vor Gram, und
Sehnsuchtsschauer machen mich krank.

Was soll ich allein mit dem Gelde? Herr Hillmann soll haben, was er will!
Er soll auch wiederkommen, er war gut gegen mich. Ich schreibe ihm
gleich und gebe auch der Nationalbank den Auftrag, ihm das Kapital zu
überweisen....

So, das wäre geschehen, und ich habe ein leises Gefühl von
Erleichterung.... Habe ich es?

Schließlich ... was hat sich denn seit gestern abend geändert?

Gerade um diese Zeit saß ich auch an diesem Tisch und schrieb unter
Glückstränen und voll seliger Ahnungen.

Ich reiße meine Fenster auf. Der Mond fließt wie gestern an dem Glärnisch
hernieder, und die Bäche funkeln....

Ich will das stolze Gefühl der Einsamkeit wieder haben, wie ich es bei
diesem Anblick gestern empfand, als ich noch nicht durch die geöffnete Tür
gesehen hatte.

Was ist das nur?!

Ich fürchte mich hinauszutreten -- es kommt niemand, wenn ich rufe....

Diese grausige Leere wird mich wieder krank machen. Ich soll mich nicht
erregen, und ich fühle, das Fieber steigt auf....

Ach -- ich habe Sehnsucht nach meinem Bett in Davos -- ja, wahrhaftig, auch
nach der Schwester und den Ärzten.

Ich brauche die Gesundheit nicht....

Ach ... meine stolze Einsamkeit heißt ... Verlassenheit....

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»Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen.« Drei Tage bin ich allein, und
jeder hat mich durch Glück, Ängste, Verlangen, Haß und warmes Empfinden
gejagt ...

Und jetzt? ...

Ich weiß gar nicht, wie mir zu Mut ist.... So frei -- so gelöst von allem
Bitteren und Schweren.... Ob ich Fieber messen soll? Meine Gedanken quirlen
so merkwürdig durcheinander, und der Puls jagt....

Vorsicht! ... Jetzt will ich nicht sterben, auch nicht von neuem
hinsiechen.

Ich habe einen Weg vor mir, wenigstens die Andeutung eines Weges ... und er
führt in heiliges Land. Alles versinkt, was drohend und gespensterhaft vor
mir aufgetürmt lag. Ich stehe da wie eine Träumende....

Aber ich will nicht phantasieren. Mich zusammenfassen will ich und
mit glücklichem Bewußtsein das Erlebnis der letzten Stunde noch einmal
durchleben....

Ich bin ja gesund dadurch geworden. Weg sind die gefährlichen, stechenden
Schmerzen nach der furchtbaren Nacht mit ihren Todesängsten, Atemnöten und
gierigen Lebenswünschen.

Auch von dem Kummer über Mamas Brief, der mir trotz der Liebesworte doch
nur die Bestätigung meiner Verlassenheit brachte, fühle ich mich befreit.

Und war doch so elend. Die öden Stunden den langen Vormittag über, mit
beängstigenden Zweifeln ausgefüllt, die ich mit aller Willenskraft nicht
bannen konnte, wollten nicht vergehen. Wenn Herr Hillmann doch wiederkäme!
So stark, so frisch und so voller Teilnahme!

Nach meinem einsamen Mittagessen lag ich im Halbschlaf und von jagenden
Bildern gequält auf meiner Chaiselongue, als meine Madline, das junge
Zimmermädchen, eine Karte brachte: Herbert Hillmann, Dr. ing.

Ich fuhr in Enttäuschung auf ... Die Worte Herrn Hillmanns über seinen Sohn
fielen mir ein.

Gut, des Vaters wegen wollte ich ihn mir ansehen -- aber über die
Geldangelegenheit würde ich mit ihm nicht sprechen. Dieser elende
kaufmännische Jargon sollte mir nicht noch einmal eine Stunde verderben.

Müde und so in Gedanken, daß ich nicht einmal einen Blick in den Spiegel
warf, schleppte ich mich in den kleinen Salon, und da stand er, eine
dunkle Silhouette gegen den hohen, hellen Wandschirm.... Nichts von der
Stattlichkeit des Vaters, mich selbst mit seiner schmalen Gestalt nur um
weniges überragend. Nichts von dem Fluidum des herrschenden, sieggewohnten
Mannes, das gestern von dem Vater wie ein Funke auf mich übergesprungen
war.

Ein hageres, durchgearbeitetes Gesicht mit sehr hoher Stirn, ganz
beherrscht von hellen Augen voller Stetigkeit und Klarheit -- eine feste,
kühle Hand, die meine heiße einen Augenblick herzhaft drückt.

»Sie sehen aber gar nicht so übermäßig frisch aus,« sind die ersten Worte,
die ich von der hallenden Stimme höre, deren Klangfarbe mich ganz hinnimmt.

Ich wundere mich über diese Aufrichtigkeit und sage ebenso offenherzig:
»Daran ist Ihr Herr Vater schuld.«

»Haben Sie trotzdem ein wenig Zeit für mich?«

»Natürlich.«

Er interessierte mich als völliger Gegensatz zu seinem Vater doch zu sehr,
als daß ich hätte Nein sagen mögen.

Und so setzten wir uns, und ich wartete. Nach einer kleinen Pause sagte er:

»Ich komme auf eigene Rechnung und Gefahr....«

»Warum Rechnung, und warum Gefahr?« warf ich in meinem üblichen,
flirtbereiten Ton hin, mit dem ich immer Anschluß zu finden pflegte.

Das war hier nicht der Fall.

Mein Besuch schien zu überlegen, sah zur Seite und dann wieder mich an.
Sehr ernst und forschend.

»Woraufhin prüfen Sie mich, Herr Doktor Hillmann?«

»Auf die Möglichkeit, von Ihnen ausgelacht oder als zudringlich abgewiesen
zu werden....«

»Ja, um was handelt es sich denn?«

»Im Grunde um nichts Positives. Ich wollte Ihnen die Hand drücken, Ihnen
sagen, daß Sie mir leid tun, daß ich Sie bedaure.«

Mir wurde etwas unbehaglich zumute.

»Ja, vielleicht bin ich zu bedauern, aber, mein bester Herr Doktor, das
pflegt man doch, auch wenn man Grund hat, es anzunehmen, den Leuten nicht
so ohne weiteres ins Gesicht zu sagen.«

»Das ist wohl wahr, und wenn es Sie verletzt, muß ich um Verzeihung bitten
und meinen Hut nehmen.«

»Nein, das werden Sie nun natürlich nicht. Sie werden mir erklären,
warum Sie hergekommen sind und warum Sie mich so offen Ihres Mitleids
versichern.«

»Ich konnte doch nicht anders.«

»Das ist mindestens etwas ungewöhnlich.«

»Es weicht von den gesellschaftlichen Regeln ab,« sagte er wie in Gedanken
und sah mich unverwandt an.

Und dabei glitt über sein junges, scharfes Gesicht ein so seltsam
träumerischer, weicher, liebevoller Ausdruck, daß ich mich plötzlich bis
ins Tiefste erschüttert fühlte. Und wußte doch nicht, warum. Aber ich
konnte ihn nicht mehr ansehen, ich mußte auf den Fußboden starren, weil ich
fürchtete, ich würde anfangen zu weinen....

»Ich hatte mir, offen gestanden, das alles anders gedacht,« sagte er dann
etwas freier. »Als ich in Gastein von Ihnen sprechen hörte, habe ich mir
ein hilfloses, kränkliches, junges Mädchen vorgestellt, und nun finde
ich eine schöne, sichere und heitere Weltdame. Nein, heiter sind Sie doch
nicht.«

»Welch ein seltsames Gespräch! Mir ist noch niemals etwas Ähnliches
begegnet. Gestern mit Ihrem Vater, und ...«

»Damit habe ich nicht das mindeste zu tun, wie ich schon bemerkte,«
entgegnete er eifrig.

»Nun, die Angelegenheit ist auch ein für allemal erledigt,« sagte ich,
eigentlich um festen Boden zu gewinnen. »Ihr Vater hat seine Antwort und
meine Bank ihren Auftrag.«

»Sehen Sie,« sagte er, mit einem Ruck sich aufrichtend, »das gerade ist
nun auch etwas, das mich in Ihrem Interesse beunruhigt und über das ich mit
Ihnen sprechen will, weil ich es mir ungefähr so vorstellte.«

»Ich verstehe kein Wort. Sie meinen vielleicht, daß ich das Geld doch
verlieren könnte.«

»Dieses Geld nicht. Dafür bürgt mein Vater. Aber wie durften Sie so
schnell entscheiden? Wie kann man Sie in solchen Dingen ganz sich selbst
überlassen?«

»Man hat mich wohl immer mir selbst überlassen,« fuhr es mir heraus.
»Eigentlich aber müßte ich Ihnen antworten: Ich bin mündig, und mein
Entschluß hat seine Gründe.«

Er sah mich wieder zweifelnd und traurig an.

»Es wäre ja immerhin möglich, daß ich mich geirrt habe, daß Sie gar nicht
so hilfsbedürftig sind und so allein, wie es mir den Anschein hatte« ....

Mir war, als hätte ich einen Peitschenhieb von diesem fremden Mann
empfangen.

»Was wollen Sie von mir? Was kümmert Sie mein Alleinsein? Wie kommen Sie zu
solchen Reden?«

Ich glaube, ich schrie ihm das zu. Und er war eine kleine Weile still. Dann
sagte er:

»Ich wollte Ihnen helfen. Ich wollte mit Ihnen sprechen als Mensch zum
Menschen. Und in Ihrem blassen Gesicht liegt etwas, das mir sagt, ich
habe recht getan, als ich meiner Eingebung folgte, und ich will auch ohne
konventionelle Bedenken reden, wie ich's mir vorgenommen habe.«

»Ja, was denn nur? -- was denn?«

»Liebes Fräulein, ich ging mit meinem Vater nach Gastein -- übrigens ohne
die näheren Verhältnisse zu kennen -- um die Geldangelegenheit ordnen zu
helfen, von der Sie ja wissen und an der Sie beteiligt sind. Wir kamen
in eine Familie, die mit dem ganzen Egoismus der Glücklichen
zusammengeschlossen stand -- gegen ...«

»Gegen mich?!«

»Gegen etwas, das sie als unverdientes Schicksal zu empfinden schien....
Die sich wehrte gegen das, was Sie hineintragen könnten, Krankheit,
Siechtum, Rücksichtnehmenmüssen.«

»Und das hat man Sie, den Fremden, merken lassen? Mein Stiefvater mit
seiner Weltläufigkeit? Meine Mutter -- meine Mutter? -- ich glaube Ihnen
einfach nicht.«

Ach, ich glaubte ihm wohl. Ich hätte ihm von den Einsamkeitsschauern
erzählen können, die mich heute Nacht zerbrochen und die Sehnsucht nach
meinem Krankenanstaltsleben neu aufgeweckt hatten ...

Ich tat es nicht, noch nicht. Aber als ich aufsah, diesem jungen Menschen
ins Gesicht, das wie durchleuchtet schien, von etwas Gutem, Hohem,
Hilfsbereitem, da stieg plötzlich, mit einem scharfen Herzstich zugleich
eine große Gier nach dem Menschen, dem Genossen in mir auf, an den ich
mich anklammern konnte in schwarzen Stunden, wenn die eisige Furcht
angeschlichen kam.

Dieses Gefühl tauchte auf und ging, wie eine Ahnung, wie ein Traum.

»Einmal, vor ein paar Jahren,« sagte mein Gast dann, »als ich in einer
verzweifelten Lage war, aus der ich, weltfremd, jung wie ich war, keinen
Ausweg mehr sah -- ich will Ihnen später einmal, wenn sich's so fügt, davon
erzählen -- kam ein großer und guter Mensch ganz unerwartet zu mir. Ein
Zufall hatte ihn meine Not ahnen lassen und, ohne mich zu kennen, kam er
und half mir, ganz uneigennützig und ohne jede äußere Veranlassung. Das
Leben führte uns verschiedene Wege, wir haben uns seitdem nie mehr gesehen,
aber ich habe mir damals gelobt, wenn ich je von einem hören würde, dem es
nützen könnte, daß man ihm die Hand entgegenstreckte, dann wollte ich es
tun. Versuchen, ob ich ihm helfen könnte, wie mir damals geholfen wurde.
Nur ihm sagen: da bin ich, ich will mit dir in deiner Einsamkeit beraten,
welchen Weg du gehen mußt, wie du dein Leben für dich und deinesgleichen
ausnützen kannst, lieber Bruder oder liebe Schwester!«

Wenn ich ein langes, langes Leben vor mir habe, diese Worte werden in mir
fortklingen, wie sie jetzt in mir zittern, wie sie vorhin heiße Tränen in
meine Augen drängten.

»Und so haben Sie mich gesucht, auch ohne etwas mehr von mir zu wissen, als
daß es mir nicht gut gehen dürfte, daß ich allein wäre?«

»Die in die Augen springende innere Kälte Ihres Stiefvaters, seine schroffe
Ablehnung, Ihnen in der besprochenen Geldangelegenheit zu raten, machte
mich auf Ihre Lage aufmerksam. Dann schlug Ihre Mutter vor, Sie nach
Gastein kommen zu lassen. Herr von Herholz wies das unbedingt ab. Sie
hätten selbst wohl das richtige Gefühl gehabt, daß es nicht anginge, aus
einem verseuchten Hause in eine erholungsbedürftige Familie hineinzufallen.
Da müßten vorher noch Übergänge geschaffen werden. Sie wären sicher wohl
besser orientiert über Orte, in denen Genesende eine zusagende Unterkunft
fänden, an denen es sich herausstellte, ob sie wirklich Genesende wären --
und in dem Ton weiter.«

Ich kannte diesen Ton. Der Hals wurde mir trocken. »Und Mama?«

Ich solle versuchen, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie habe nach
etwas bewegtem Hinundher zugestanden, daß sie als Mutter gesunder Kinder
Opfer zu bringen hätte, auch wenn sie innerlich auseinandergerissen
würde.... Von da ab hätte er immer und immer an mich denken müssen! ...
Das arme Mädchen, wie mag es leiden, wie einsam sein im Vergleich zu den
lachenden blonden Schwestern, die mit ihrem blühenden Leben den ganzen Raum
füllten. »Nein, sagte ich mir, ganz allein soll die andere nicht bleiben,
und sich nicht darum grämen, daß die Familie die Tür vor ihr zuschließt.
Meine eigene dunkle Lebensstunde stand wieder vor mir, ich fühlte wieder
die Hand meines gütigen Retters auf meinem Kopf, und da war ich auch schon
entschlossen: Jetzt versuche ich, ob ich ein Mensch bin, der es wert
ist, einem anderen, der es dunkel hat, ein bißchen Licht zu bringen. Die
Auseinandersetzung mit meinem Vater habe ich Ihnen nicht ersparen können,
so sehr ich mir das auch gewünscht habe -- aber -- nun -- wenn Sie einen
brauchen -- zum Aussprechen, zum Plänemachen, nur um da zu sein, wenn Sie
einen Zusammenhang mit dem Leben suchen....«

Ich griff nach den ausgestreckten Händen und hielt sie fest.

Und dann haben wir lange gesprochen. Zuerst habe ich erzählt von allem, was
bisher mein Leben ausgemacht hat, von allem Leid, mit dem wir Armen uns von
Anstalt zu Anstalt schleppen, von Wehrawald nach Andreasberg, nach Arosa,
nach -- lieber Gott, überall hin, wo man ein bißchen Lebensluft aufzusaugen
glaubt und wo die gierig um sich greifenden Hände doch schließlich immer
nur den einen fassen: den Zerstörer. Von den vielen, die, von der Familie
ausgestoßen, wie ich, allein und in jammervoller Sehnsucht nach einem
Zuhause in den Tod mußten.

Da hat mein neuer Freund mich unterbrochen: Ich wäre jetzt in der Lage,
mich innerlich von der Familie zu lösen oder mein Verhältnis zu ihr
auf einer anderen Basis neu zu erbauen, wenn ich den Zusammenhang nicht
entbehren könnte.

Es verwirrte und erregte mich zuerst ganz, was er im Anschluß daran sagte,
aber als ich ihn begriff, tat sich eine neue Welt vor mir auf, und meine
Seele wurde groß und weit.

Die hohen und guten Worte, mit denen er in mich eindrang, vermag ich nicht
zu wiederholen, aber ich fühle jedes, und es soll in mir wachsen.

Die klagenden Stimmen hinter den Freuden der Welt vernehmen und ihnen
nachgehen, sagt er, den mitleidenden Menschen zeigen ohne Rücksicht auf
Alter oder Geschlecht oder Stand. Den Gedanken des Entbehrens ausschalten,
-- das Bewußtsein des geistigen und gemütlichen Überflusses, von dem man
geben und immer geben kann, in sich stärken, -- durch das eigene reine
Menschentum den Menschen in dem anderen wachrufen, -- und so in aller
Stille eine menschliche Gemeinsamkeit mitschaffen helfen, die unter der
Asche der gesellschaftlichen Einrichtungen tief verschüttet liegt.

»Wieviel selbstverleugnende Güte muß man sich aber erwerben, um solche Wege
gehen zu können,« sagte ich endlich. »Ich bin sicher nicht gut genug dazu.«

»Das kann ich noch nicht beurteilen, aber seien Sie es zunächst mit dem
Verstande, tun Sie vor sich selbst so, als ob Sie es wären. Nach dem ersten
Erfolg wird ein Glücksgefühl in Ihnen erwachen, das mit nichts vergleichbar
ist. Und damit zugleich wird Ihre Macht, Irrungen, Trübsal, Einsamkeiten
zu bannen, stetig wachsen. Mit Ihren Hilfsmitteln, Schönheit, Temperament,
Reichtum, ist sie von vornherein sehr groß.«

Er sah mit seinen lichtvollen Augen über mich weg.

»Sind _Sie_ denn glücklich auf diese Weise, und brauchen Sie nichts
anderes?« fragte ich.

»Wenn ich mit der Überzeugung von Ihnen gehe, daß ich den Willen zum
Glück, wie ich es verstehe, in Ihnen erweckt habe, daß Sie meiner kleinen
heimlichen Gemeinde angehören und dadurch für sie werben wollen, werde ich
da unten in einem Rausch herumlaufen und nach Ihrem Licht sehen, als ob es
aus einer anderen Welt käme.«

Das Herz brannte in mir. Ich habe die Arme ausgebreitet, mein Gesicht
an seines gelegt und ihn fest an mich gepreßt. Und es ist kein Hauch von
Liebesverlangen in mir gewesen. Nur ein heiliges, machtvolles Gefühl von
Gebundensein an ein Wesen meiner Art.

... Morgen früh kommt er wieder, und wir werden überlegen, wohin ich gehen,
was ich zunächst mit dem Leben beginnen soll.

Leben ... Leben ... alles ist, wie es war. Draußen ragt der Glärnisch gegen
den dunkelnden Himmel. Glocken läuten wie gestern das Ave, und geschäftige
Menschen laufen hin und her.

Wer seid ihr, meine Brüder, meine Schwestern? Was freut euch? Wie leidet
ihr?

Ich sitze an demselben Platz, allein wie gestern und immer, aber es braust
um mich und in mir wie ein mächtiger Orgelklang....

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Man läutete zum Diner.

In dem Speisesaal hatte die Hotelgesellschaft an den kleinen, runden
Tischen Platz genommen, die mit ihrem Blumenschmuck und den gelbumschirmten
Lichtern lustig und festlich aussahen.

Einer, an dem die junge Dame von Nummer 27 sonst gesessen hatte, war noch
leer.

Eben aber fragte man nach ihr.

Eine einsame Nachzüglerin kam mit hastigen Schritten vom nahen Bahnhof und
trat in die Vorhalle zum Eßsaal. Mit schriller, kleiner Stimme rief sie
der Saaltochter französisch zu, daß sie Fräulein Sargent, deren
Gesellschafterin sie sei, zu sprechen wünsche. Geschwätzig erzählte sie dem
sie hinaufgeleitenden Mädchen, daß Madame, die Mutter des Fräuleins, sie
hergeschickt und daß sie, Edina Petitpierre, Fräulein Sargent sozusagen
großgezogen hätte.

Das Zimmermädchen klopfte. Edina Petitpierre trat ein.

In dem Korbsessel am Fenster vor dem Schreibtisch lehnte Lydia Sargent.

Eine große Bogenlampe leuchtete von der Straße her mit milchweißem Schein
in ihr Gesicht.

Mit ausgebreiteten Armen lief die alte Französin auf das Fenster zu.

»=Chérie, est-ce que tu dors?=«

Aber Lydia Sargent schlief nicht.

Sie atmete nicht mehr.

Ein dünner Blutfaden sickerte aus dem linken Mundwinkel.

Aus dem weißen Gesicht mit den weitgeöffneten, blicklosen Augen lag ein
Ausdruck verklärten Staunens, als ob sie unsagbar Feierliches und Schönes
hörte und sähe.



Enrique Bisterro und Heinrich Biester


... Das alte Tor warf einen wunderlichen, langgestreckten Schatten auf den
großen Marktplatz, sonst lag gelbe, glühende Sonne auf der ganzen Fläche,
in deren weitem Rechteck sich nichts regte.

Und ringsum standen die alten, kleinen Häuser, gerade wie sie vor zwanzig
Jahren dagestanden hatten -- eins oder das andere wohl mit grellem,
neuem Anstrich versehen -- die meisten grau, dürftig und hier und da mit
schwarzen Firmenschildern gezeichnet, die auch schon alle vor langen Zeiten
da ebenso gehangen hatten.

Nicht einmal die Namen waren andere geworden. Und das war auch schon
immer so gewesen. Die Ignee, die Pflug, die Voß, und wie sie sich auf den
Schildern nannten, schliefen schon damals lange. Die Leute, die in den
kleinen Läden mit dem gleichen Kram weiter handelten, hießen vielleicht
Wiesenberg und Gädicke und Cohn -- aber der alte Geist, der Geist der
Ignee, der Pflug, der Voß, regierte weiter, und unter seinem Zeichen schien
das ganze kleine Nest wohl auch heute noch zu leben, in dem gleichen Tempo,
mit den gleichen Bedürfnissen und den gleichen Ansprüchen.

War das wirklich möglich? ...

An einer der Eingangstraßen zum Markt stand ein Mann, der eben den langen,
sonnigen Weg von der Station zur Stadt geschlichen war und mit einem
bänglichen, erwartungsvollen Gefühl, wie es seinen Jahren gar nicht mehr
zukam, auf diesem stillen Platze Umschau hielt.

Die Sonne tat ihm nichts. Die hatte ihm in Südamerika auf dem schattenlosen
Plateau von Caracas in langen Jahren den Körper ausgetrocknet. Hier
streichelte sie den Fröstelnden nur mit ganz leisem Finger und störte seine
Gedanken nicht.

Gedanken waren es übrigens kaum. Nur unbestimmte Empfindungen. Und auch die
kamen nicht von innen heraus -- nein, sie strömten aus den kleinen Häusern
ringsherum auf den schmalbrüstigen, hüstelnden Mann zu und zerrten tüchtig
an ihm herum. Er widerstrebte nicht, aber er wunderte sich, denn diese
wehmütigen, beunruhigenden Dinge, die um ihn raunten und durcheinander
flatterten, waren gar nicht mit dem verknüpft, was hier vor langer Zeit
seine junge und heiße Jugend ausgemacht hatte.

Die Gestalten, die unklar und schattenhaft um ihn her auftauchten und zu
ihm flüsterten, waren keine, die in seinem Empfinden eine Rolle gespielt
hatten. Sie sahen nur wie zufällig aus den Fenstern ringsum -- der alte
Bluhm mit dem würdevollen Gesicht und dem schneeweißen Schifferbart -- der
alte Puppel, der sich bis an sein Lebensende nicht hatte beruhigen können,
daß er Töpfer Walters Tochter nicht hatte heiraten dürfen -- eben huschte
auch sie, ein verschrumpeltes altes Jüngferchen, mit mächtigem, buntem
Strickbeutel schemenhaft um die Ecke -- die Faktorsfrau Blez, die täglich
in die Apotheke geschlichen war, um »Hoffmannstropfen« zu holen -- und
so viele andere noch, die das tägliche Leben des damals jungen Provisors
gestreift hatten, ohne daß er ihnen näher gekommen wäre.

Der Fremde strich mit der Hand über die feuchte Stirn und sah sich noch
einmal um.

»Dummes Volk, was wollt ihr eigentlich von mir?« dachte er mit wehmütigem
Lachen -- »wenn die anderen nicht kommen -- die beiden Alten -- der Merten
-- und alle, alle, mit denen ich in der Erinnerung was zu tun gehabt habe.«

Nein, die kamen nicht. Auch die kleine schwarze Käthe kam nicht. Und die
anderen, die eben noch um Heinrich Biester -- oder, wie er schon seit
langen Jahren hieß, »Enrique Bisterro« -- herumgegaukelt waren,
die verschwanden auch. Und nun lag der Marktplatz wieder leer und
sonnendurchglüht da wie jeder andere in jedem anderen eingeschlafenen
Landstädtchen um die Mittagstunde.

Ein paar Hunde, die in dem schmalen Schattenstreif an den Häusern
die Einsamkeit bewachten, wurden auf den fremden Mann aufmerksam. Der
Wolfsspitz, der sich ihm zunächst sielte, stand auf und fing zu bellen an.

Da öffnete sich das Fenster in einem niedrigen ersten Stock, und eine
junge Frau mit großen, verschlafenen Augen sah auf den noch immer stille
Stehenden. Sie rief etwas ins Zimmer, da kam auch ein Mann mit rotem,
verarbeitetem Gesicht, und beide fragten voller Staunen ohne Worte
herunter: Was willst du denn hier? Was suchst du denn hier? ...

Ja, was wollte er hier? Er ging nun weiter auf das einzige größere Haus
zu, das neben dem alten Ordenstor in tiefem Schatten stand. Es war die
Apotheke, und dahin wollte er....

Sein eigenes Haus -- auch eine Apotheke -- in Entechua in Caracas, war ein
leichtgebautes Holzhaus mit herumlaufenden Veranden. Er hatte mit der Zeit
aus der schmucklosen Bude, die er vorgefunden, mit den reichlichen
Mitteln, die er daran wenden konnte, etwas sehr Zierliches, Hübsches und
Zweckmäßiges gemacht.

Sogar seine Frau, Doña Eustachia, von der doch alle Welt wußte, daß sie
sehr große Ansprüche an Behaglichkeit stellte, war mit ihrer Hazienda sehr
zufrieden, und wenn sie gut aufgelegt war, lobte sie ihn wohl auch einmal
für sein Bauwerk und nannte ihn einen =destinguido arquitecto=.

Das schönste an seinem Besitztum aber hatte ihm die Natur geschenkt.
Der Blick auf die mächtigen Bergschroffen war von einer unerhörten
Großartigkeit, und von dem weiten Bogenfenster seiner Offizin aus sah er
beständig eins der herrlichsten Bilder der Welt: den Bergpfad, unten
von schaukelnden Yukkas bestanden, weiterhin an einer halben Kehre in
geheimnisvollem Blau verlaufend. Menschen und Tiere, fremdartig und bunt
gekleidet und gezäumt, belebten ihn.

Und alle trugen ihm Brot hinunter ins Haus.

Er war heute ein reicher Mann, verglichen mit seinem ehemaligen Prinzipal
hier, obgleich der für ihn doch damals schon längst zu den oberen
Zehntausend gehört hatte.

Manchmal in seinen Träumen sprach er mit ihm und rühmte sich seines
Reichtums und seiner Angesehenheit und sagte:

»Sehen Sie wohl, als ich Lehrling bei Ihnen war und dann Provisor, da
hielten Sie immer nichts von mir. Ihre Käthe gaben Sie mir nicht und
sagten: >Heinrich Biester, Sie sind ein Faselkopf und werden auf keinen
grünen Zweig kommen. Bleiben Sie im Lande, und nähren Sie sich redlich.
Solch ein ausgemachter Phantast wie Sie gehört zu Muttern, die ihn an der
Strippe hält, und nicht in die weite Welt ...<

Das sagten Sie, lieber Herr Prang; und ich bin doch gegangen und an einen
der herrlichsten Orte der Welt gekommen. Da stand schon alles für mich
bereit: die Apotheke, die auf einen Herrn wartete, und die wunderschöne
Tochter darin. Und alles, alles hab' ich gewonnen und noch viel Hab und
Gut dazu. Sehen Sie da: Weib und Kind und Freunde und gute Nachbarn und --
welch ein Leben!«

Er schilderte es mit prunkenden Worten, und dann -- immer im Traum --
pflegte Herr Prang ihm begeistert die Hand zu drücken und ihn und sein
selbstgeschaffenes Los über alles Sagen und Denken zu preisen ... Und alles
auf spanisch ...

Aber am Tage, wenn die Sonne näher und näher kam wie ein glühendes
Gespenst, das den Atem aufsaugen will -- er konnte _nicht_ schlafen wie
Doña Eustachia in ihrem Schaukelstuhl und die schwarzhaarigen Kinder, die
zusammengerollt auf den Matten der Veranda herumlagen -- dann fiel alles
Spanische und alles Rühmenwollen von ihm ab, und eine ganz klägliche,
tränenselige Sehnsucht nach dem kleinen Nest im fernsten Osten
Deutschlands, nach der schattenkühlen Apotheke darin mit der großen
mahagonigetäfelten Vorhalle und den herumlaufenden ausgesessenen Bänken kam
angeschlichen und hielt sein Herz so fest umkrampft, daß es gar nicht mehr
schlagen wollte ...

Wenn es Abend wurde, dann war's wieder besser. Dann fielen Heimweh und
Melancholie wie lästige Schleier von der Seele, und der frische Bursch
wachte auf, der dem alten Lande kurz entschlossen den Rücken gedreht hatte,
als das Glück ihm dort nicht willfährig gewesen war.

Hier genoß er es nun. Er saß mit den Seinen und den neuen Freunden an
dem fremden Strom ... er sah die violetten Schatten den Monte Avila
hinaufklimmen und das Kreuz an dem schwarzblauen Himmel funkeln. Die Fächer
klapperten -- langgezogene, dunkeltönige Melodien klangen um ihn her,
starke Düfte berauschten, und schöne, braune Menschen mit seltsam
gehaltenen Bewegungen redeten in vertraut gewordener Sprache über Tages
Freud und Leid.

Dann flogen nur flüchtige Gedanken in das kleine Städtchen hinüber, das
plötzlich nüchtern und kahl schien -- ein Wunsch: könntet ihr doch einmal
hier sein und mich sehen, ihr alle, die ihr in Enge und Philisterei dort
eingerammt geblieben seid ... und im Traum sprach er dann wieder mit
dem Prinzipal und rühmte sein Glück und sein Leben in der neuen, schönen
Heimat.

Tageswerk und Gewohnheit arbeiteten natürlich nicht umsonst daran, das
allzu Unausgeglichene in diesen beiden Stimmungen zu mildern -- ganz gelang
es aber nie.

Die Leute um ihn sagten zuweilen, wenn sie ihn so vor ihren Augen
zusammenfallen und sich wieder aufrichten sahen: »Der arme Don Enrique
leidet an den Giften in seiner Apotheke.«

»Ach nein,« pflegte er dann zu erwidern, »die Sonne ist hier zu stark. Mein
Organismus ist auf so viel Glut nicht eingerichtet.«

Allmählich, als die Jugend Abschied genommen hatte, fing er auch körperlich
zu kränkeln an. Das Fieber kam. Es warf ihn nicht ganz nieder, es riß nur
immer ein bißchen an ihm herum. Er konnte seines Lebens gar nicht mehr froh
werden.

Und seine Freunde, der »große« französische Arzt Terrifet, der einen neuen
Nasenspiegel erfunden hatte, und der gute, kleine deutsche Pastor, der aus
lauter Selbstzucht und Tugend nur einmal im Jahr in seinem vergötterten
Gottfried von Straßburg las, beratschlagten, was sie mit ihm anfangen
könnten. Weil neuerdings in seinen halben Fieberreden die alte Apotheke
in der deutschen Heimat mit dem dunklen Holzgetäfel und den breiten Bänken
wieder auftauchte, faßten sie nach vielem Hin- und Herdenken den Entschluß,
ihn zu einer Erholungsreise in das Jugendland zu überreden.

Doña Eustachia, im Lauf der Jahre sehr fromm und sehr dick geworden, hatte
den Torheiten der Eifersucht auf fremde Weiber und fremde Länder längst
entsagt. Sie redete darum mit den Freunden eindringlich auf den armen
Señor Enrique ein, sorgte in ungewohnter Hausmütterlichkeit für äußerliche
Reisebequemlichkeiten und versöhnte sich sogar mit dem =assistente=, der
ihr sonst ein Dorn im Auge, weil er kein Messenläufer war ...

Und so kam es denn, daß sich Señor Enrique Bisterro nach einer wie im Traum
vergangenen Fahrt, nach zwanzig langen »süß und bitteren« Jahren an diesem
heißen Julivormittag auf dem Marktplatz in Bartenberg und vor der dunklen
Tür seiner alten Apotheke als Heinrich Biester wiederfand ...

Nun stand er da und sah mit übergehenden Augen auf den blanken
Messingklopfer, der ihn ehemals in der Nacht oft aus beginnendem Schlaf
geschreckt hatte. Schwerfällig ging er die zwei ausgetretenen Steinstufen
hinauf. Es war nicht Sitte, bei Tage mit dem Löwenkopf an die Tür zu
hämmern, denn sie war nur nachts geschlossen. Das hätte er wohl noch wissen
können, aber in Gedanken tat er's doch und erschrak zugleich über den
hallenden Klang.

»Mit solchem Geräusch in die alte, stille Halle zu kommen,« dachte er
unwillig und drückte die Klinke auf. Aber sie gab gar nicht nach, bis
endlich auch von innen dagegen gedrückt wurde. Erst dann ging sie auf, und
er bohrte die gierigen Augen über die Person weg, die ihm geöffnet hatte,
in das dunkle, kühle Paradies seiner Träume.

Ein paar brennende Tropfen waren ihm über die Backen gelaufen, ohne daß er
darauf geachtet hatte -- aber nun, nun stand er wie erstarrt da und sah und
sah ...

»Wer sind Sie denn, und was wünschen Sie?« fragte man ihn.

Er schob die Fragende beiseite und sah wie verzaubert um sich.

Was war das nur?

Statt des rotdunkeln Holzgetäfels und der Bänke um Wände und Fensternische
herum sah er einen weiten, weißen Raum mit viel grünen Palmen darin, Palmen
und feinblättrigem Bambus. Schaukelstühle und Strohsessel standen auf den
Matten wie bei ihm zu Hause. Es war überhaupt, als erinnere ihn manches an
seine Veranda in Entechua. Verwirrt blickte er nach dem abgeteilten Raum,
in dem der Verkaufstisch und die Medikamentenschränke stehen mußten. Da war
er, aber der Tisch stand nicht mehr drin, und der dunkle Holzbogen der
ihn von der Halle trennte, war wie ein großes Fenster von Hängepflanzen
eingerahmt. Die Flaschen und Kruken waren von der Wand verschwunden, dafür
leuchtete eine tropische Berglandschaft, von einer orangegelben Sonne
bestrahlt, wie ein matter Gruß der gewohnten Glut und Farbe zu ihm herüber.

Er mußte die Augen schließen, denn er glaubte im Fieber zu sein. Der feine
Apothekenduft, der noch alles durchdrang, ermunterte ihn.

»Ich wollte doch in die Prangsche Apotheke,« stammelte er und machte die
Augen wieder auf.

»Ja, wo kommen Sie denn her, daß Sie die hier noch suchen?« fragte eine
hohe, helle Stimme. »Sie mußten in das Haus nebenbei gehen.«

Da rüttelte er sich zusammen und sah wieder mit nüchternen Blicken um sich.

Vor ihm stand eine zierliche Frau in einem weißen Kleide von etwas
phantastischem Schnitt. Sie hatte ein bläßliches Gesicht mit sprechenden,
dunklen Augen und sah ihn halb lachend und halb ungeduldig an.

»Verzeihung, Señorita, aber wer sind Sie eigentlich?«

»Señorita?« fragte das Mädchen erstaunt. »Nun, ich bin doch Justine Prang
-- aber Sie, wer in aller Welt sind ...?«

Da schrie Enrique Bisterro ordentlich auf.

»Sie, Sie sind das kleine Justinchen ... Sie? ... Und Käthe? ... Und der
Vater? ... Und wo ist meine Apotheke geblieben?«

Er war sehr schwach, der Arme -- sonst hätte er sich nicht so schwer in den
weißen Korbstuhl sinken lassen und so atemlos und bang um sich gesehen. --
Und er hätte wohl auch bemerkt, daß das Mädchen geisterhaft blaß vor
ihm zurückwich und ebenso bang suchend nach ihm starrte, wie er nach den
verschwundenen Bildern seiner Jugend.

Sie faßte sich dann wohl zuerst.

»Sind Sie etwa ...?«

»Enrique Bisterro ...« Er stand mit der zur Gewohnheit gewordenen Grandezza
auf und verbeugte sich tief.

Sie hielt die Hände vor's Gesicht und murmelte etwas wie »nein, nein,
nein.« Aber dann nahm sie sich zusammen, ergriff _seine_ Hände und zog ihn
zu der großen Fensternische, in der viel hohe Bambusbüsche standen.

Und da sahen die beiden sich prüfend an und fragten und antworteten
allerlei ohne Worte.

»Also Sie sind das kleine Justinchen, das der Käthe wie ein Schatten
hinterher war?« sagte er dann.

»Lang, lang ist's her,« sagte sie. »Und die Käthe ist schon zehn Jahre
tot.«

Lieber Gott! ... Es bewegte ihn nicht sonderlich. Ihm war seine Jugendliebe
längst aus der Welt der Wirklichkeit verschwunden, und wo er sie zuweilen
suchte, da lebte sie so lange wie er. Aber dieses Mädchen, noch jung, doch
schon am Rande des Welkens, was war das mit der? Warum sah sie ihn so an,
so voller Staunen, so voller Bewunderung -- und was zwang ihn, sich zu
seiner vollen Höhe aufzurecken, sich recht, recht spanisch zurechtzurichten
und ihr mit ein paar Koseworten in der Sprache der neuen Heimat über die
dunklen Scheitel zu streichen?

Warum neigte sie so demütig den Kopf und sagte so leise und zitternd: »Ich
hab' es ja immer gewußt, daß Sie wiederkommen würden!«

»Traum ... Traum ...« sagte er. »Warum hast du das immer gewußt?«

»Erst hat meine Schwester Käthe gewartet,« sagte sie. »Und ich war noch
ein Kind und hörte begierig all die Geschichten, die da in dem schönen
Tropenland passierten. Und Sie sah ich immer -- ich weiß nicht -- so wie in
goldener Rüstung und im Kampf mit allerlei Tieren und wilden Menschen ...
Und dann, als die Sachen kamen, die Sie schickten ...«

Sie zog ihn nun in den Verkaufsraum, wo er früher seine Tage und einen Teil
seiner Nächte zugebracht hatte, und wo jetzt im Bilde ein schwacher Abglanz
südländischer Herrlichkeit von der Wand herunterleuchtete.

Dort fand er mit rührender Sorgfalt die wertlosen kleinen Sachen geordnet,
die er einst, in der ersten Zeit des Tropenrausches, nach dem alten
Heimatnest gesendet hatte. Kokosnüsse, Indianerflechtarbeiten,
Muschelketten, elfenbeinweiße Kugeln, aus der Wurzel der Lagospalme
gedreht, Skorpione und Riesenspinnen und in einem Glaskasten an der
Seitenwand die leuchtenden blauen Schmetterlinge, die er selbst in
südlicher Sonne über den Riesengräsern der Pampas hatte flattern sehen,
blauen Flämmchen gleich.

Er konnte gar nichts sagen. Die Stunden heißer Sehnsucht aus der neuen
Heimat in die alte hatten hier eine Stimme bekommen, die leise und
eindringlich murmelte.

»Das ist ja aber alles so unendlich lange her, Justinchen --« sagte er
dann. »Ein ganz anderes Leben liegt dazwischen ... Und ich habe auch nie
geahnt, daß ich hier bei euch in so gutem Andenken stand.«

»Bei _mir_, nur bei mir -- aber die anderen mußten einfach mit,« sagte sie
mit einem kindlichen Eifer, der dem verblühenden Gesicht seltsam anstand.
»Und gutes Andenken müssen Sie auch nicht einmal sagen ... Zuerst, als die
Käthe heiratete, da nahm ich mir vor -- kindisch, wie ich ja noch war --
daß _eine_ wenigstens Ihnen Treue halten sollte ...«

»Ist die Käthe glücklich geworden?« fragte er.

»Sehr ... Ich habe das ja nicht begreifen können -- denn schließlich war
sie doch Ihre ...«

Er wehrte ab. »Nicht doch, sie brauchte nicht treu zu sein, liebes Kind ...
ich auch nicht ... Was uns in jenen schönen Tagen band, war ja so flüchtig.
Ich kann jetzt nicht einmal mehr sagen, wie und was es war. Meine Sprache
ist mir auch gar nicht mehr geläufig genug dafür ... Aber Sie, sagen Sie
mir, Sie ... oder du? Warum hast _du_ denn an mich gedacht ... und wie?
Du hast dir doch ausrechnen müssen, daß ich ein alter Mann bin, und
schließlich ist es doch ein Zufall, daß ich herkam ... nachdem wir seit
langen Jahren nichts mehr voneinander wußten ...«

»Kein Zufall, o nein.« Sie schüttelte den Kopf und sah ihn mit großen,
nassen Augen an. »Und alt? Das hätte ich nie gedacht, und nun ist's ja auch
nicht so ... Wer draußen in der großen Welt und in fremder Schönheit lebt,
der _kann_ ja gar nicht alt werden für einen, der in Enge und Einsamkeit
sitzt. Und wenn man dann so jemand hat, an den man seine große Sehnsucht
anhaken kann, wissen Sie, das zieht einen mit in allerlei schöne Träume ...
Ich bin ja so glücklich gewesen all diese langen Jahre, daß ich die hatte
... Ach, was für Freunde diese Schmetterlinge und dieser große bunte Arara
mir geworden sind! ... So was Fremdes und Heißes und Schönes war immer
um mich, wenn ich an Sie denken konnte. Und wissen Sie, was ich jetzt
eigentlich glaube? Dies alles ist nur ein Traum, und wenn ich aufwache,
wird's nicht wahr sein. Oder ist _dieses_ wahr? Und das _andere_ ein
Traum ...? Nein, nein -- Träume sind schöner als das Leben. Ach, lassen Sie
mich reden ... es ist so wundervoll, zu Ihnen reden zu können, zu Ihnen in
Wirklichkeit reden zu können ...«

Und das tat sie denn auch und sagte noch viel schöne Dinge zu Heinrich
Biester. Oder zu Enrique Bisterro -- oder zu wem ... zu wem?

Voll traumseligen Staunens hörte er zu. Und allmählich rauschte ein heißes
Entzücken in seinem Blut auf. Alter, Kränklichkeit, Fieber, das gab es ja
gar nicht mehr. Jung wie vor dreiundzwanzig Jahren konnte er dieses Mädchen
in seine Arme reißen, wenn er nur wollte. Er, der Starke, der Stolze, der
Märchenprinz, für den hier die Palmen wuchsen und die blauen Schmetterlinge
gaukelten. So empfand er für Augenblicke mit der fortgerissenen Phantasie.
Aber der legt die Wirklichkeit schließlich doch Zügel an, und vom Empfinden
zum gesprochenen Wort führt ein langer Weg.

Darum zog er zuletzt Justine Prang nur sanft zu sich und streichelte sie
mit seiner mageren, heißen Hand. Und sagte nur ein paarmal: »Laß es dir nie
leid tun, Kind, laß dir diese Stunde nie leid tun ...«

»Wenn ich sie wirklich erlebe, dann soll sie die schönste in meinem Leben
sein ... die Höhe ...«

»Still, still,« sagte er, sie immer noch leise streichelnd. »Ich danke
Ihnen schön, Justinchen ... Und -- und, ich möchte nun am liebsten
fortgehen. Was sagen Sie dazu? Noch bevor Sie mich in der Sonne von
Bartenberg sehen!« ...

Nun sah sie ihn forschend an, ebenso wie er sie, und er bemerkte, wie das
glühende, begeisterte Gesicht unter seinem Blick zusehends spitz und blaß
wurde, und wie der Freudenschimmer in den großen, dunkel umrandeten Augen
erlosch.

Sogar die Stimme schien ihm anders, als sie zu reden anfing, und wenn nicht
die weiße Halle und der Arara und die Palmen dagewesen wären, hätte er
denken können, er hätte die ganze kurze Zwiesprache geträumt.

»Das ginge wohl nicht,« sagte sie. »Was sollte der Vater dazu sagen und
Hellmund ...?«

»Wer ist denn Hellmund?«

»Ach ja, Sie können das ja alles nicht wissen. Der Vater ist doch ganz alt
und sehr müde. Manchmal könnte man denken, sein Geist wäre nicht mehr ganz,
-- aber dann merkt man doch wieder, daß er -- wie soll ich das sagen? ...
daß er bloß so schläft. Und Hellmund ist schon sechs Jahre da und besorgt
alles -- und die neue Apotheke gehört zur Hälfte ihm ... und wir ... und
ich ...«

Sie hielt befangen inne. Aber Heinrich Biester merkte darauf nicht.

»Der Vater ...« Er strich ein paarmal aufgeregt über den ergrauenden Bart.
Ja, nun kam man doch wieder auf wirklichen Boden. Nun war die Stunde da,
wie er sie sich unterwegs oft ausgedacht hatte. Nun stand er alsbald
dem Mann gegenüber, dem er das Recht gab, ihn abzuhören, ob er seine
Lebensaufgabe auch gut zu Ende gebracht hätte.

Wie gut es nach dem phantastischen Begebnis der letzten Viertelstunde tat,
sich wieder darauf zu besinnen, daß er vorzeiten hier gescholten und gelobt
und von einer festen, aber warmen Hand hin und her geschoben worden war,
bis er sich allein hatte zurechtfinden müssen!

»Ja, ja, Justinchen, führen Sie mich zum Vater ... Kommen Sie ...«

»Ich muß es ihm erst sagen ... und dann ist doch auch Hellmund bei ihm.«

»Ich werde ihn doch allein sehen und sprechen?« fragte er ängstlich.

Sie nickte und ging steif und gerade an ihm vorüber nach der Tür, die
früher zum Laboratorium geführt hatte. Sie war niedrig, und der Prinzipal
hatte sich immer bücken müssen, wenn er in den Laden trat.

Heinrich Biester vernahm den erstaunten Ausruf einer tiefen Männerstimme
und ein Geräusch, als ob ein Stuhl rasch beiseite geschoben würde. Dann
öffnete Justine die Tür, und er konnte eintreten.

Vor dem Fenster, an dem ehemaligen Platz des Experimentiertisches, sah
er einen Krankensessel mit einem Schachtischchen davor und flüchtig einen
weißhaarigen Kopf. Vor dieses Bild aber drängte sich ein junger, großer,
massiver Mensch mit einem derben, roten Gesicht und lustig blitzenden
Augen. Der streckte ihm beide Hände entgegen, und in seiner dröhnenden
Stimme klang ein Ton warmer Herzlichkeit.

»Also, es geschehen wirklich Zeichen und Wunder,« rief er. »Nein, nein,
Gott! Hat das phantastische kleine Frauenzimmer doch wahr und wahrhaftig
recht behalten ... Ich geh schon, Goldchen -- sehen Sie, wie sie mir winkt.
Natürlich sollen Sie den Vater für sich haben, aber da der zum erstenmal
eine längere Sitzung nicht vertragen wird, hoffe ich, Sie nachher zum
Frühstück bei mir zu sehen, Herr -- oder wie sagt man auf spanisch? --
Señor Enrique -- nicht? Wiedersehn! -- Wiedersehn!«

Und er ging, sich bückend wie früher Herr Prang, durch die niedrige Tür und
streichelte vorher noch im Vorübergehen dem still dastehenden Justinchen
mit seiner großen, runden Hand das farblose Gesicht. Heinrich Biester
empfand das lärmende, gesunde Leben, das sich hier an der Stätte seiner
Träume breitmachte, wie einen Mißton, aber nur für eine Sekunde, denn aus
dem Lehnstuhl winkte ihm der Mann, der klein, mager und zusammengekauert
darin ruhte.

Scharfe, doch ausgeblaßte Augen blickten ihm aus einem runzligen
Greisengesicht entgegen, und an diesen Augen allein erkannte er den hohen,
gebieterischen Mann, mit dem er sich in den Nächten daheim auf spanisch
unterhielt.

»Sieh, sieh,« sagte dieser fremde Greis mit klangloser Stimme, »das also
ist der Strudelkopf ... der Lockenkopf ... der Ausländer, für den die
imprägnierten Palmen in meiner alten Apotheke wachsen ... Komm doch mal
her, mein Sohn ... die Justine sagt, du bist der Heinrich Biester -- aber
mir scheint, wir erkennen uns nicht mehr ...«

»Doch, doch,« sagte Heinrich Biester eifrig, »die Augen ... und der ganze
Ton ...«

Er nahm die welke, kalte Hand, die matt heruntersank, als er sie losließ.
Dann schwiegen beide. Aber die Blicke des alten Mannes bohrten sich in das
Gesicht seines Gastes mit eigenem, hellseherischem Spähen. Sie leuchteten
auf und erloschen dann ganz schnell.

»Justine,« rief Heinrich Biester ängstlich, aber die blieb an ihrem Platze.

»Sprechen Sie nur etwas,« sagte sie, »dann ermuntert er sich.«

»Herr Prang,« sagte da Biester, »ich habe mich so auf dieses Wiedersehen
gefreut. Ich habe Ihnen so viel zu erzählen, Sie glauben ja gar nicht ...«

Der alte Mann ließ den Kopf mit den halbgeschlossenen Augen auf der Lehne
seines Stuhls liegen.

»Ich hab's schon gesehen ... alles ... dir ist's nicht gut gegangen, mein
Sohn ...«

»Mir ist's doch aber _sehr_ gut gegangen, Herr Prang,« sagte Heinrich
Biester verwirrt.

Herr Prang machte nun die Augen wieder auf und hob die müden, weißen Hände.

»Erzähl davon den Kindern ... der neuen Zeit, mein Sohn,« sagte er mit der
ausgeklungenen Stimme. »Die Schubfächer in meinem Kopf sind alle voll ...
Mit deinen grauen Haaren und dem ausgetrockneten Gesicht krieg ich
dich nicht mehr herein ... Ich hab' dich drin, wie du noch ein lieber,
leichtsinniger Junge warst und meine Käthe nicht bekamst ... Nachher,
wie meine Frauenzimmer den Señor Enrique Bisterro mit Indianerfedern und
Heldentum aufputzten, da hab' ich ja noch ein Weilchen mitgemacht, so aus
Spielerei -- ich alter Hansnarr ... Aber jetzt -- nehmen Sie's mir nicht
übel, lieber Heinrich Biester, ich werde mich schon auch noch freuen, wenn
Sie wiederkommen ... aber ich bin ein sehr alter Mann ... ein sehr alter
Mann, und die weiße Verschalung auf meinem schönen Mahagonigetäfel ...
Sehen Sie mal zu, daß Sie die abreißen und auch das ganze staubige Zeug
samt den Schmetterlingen und den Palmen, und dann wird ja auch die Justine
mit ihrem Hellmund wie andere Leute ...«

Da flatterte Justine in ihrem weiten, weißen Kleid heran und sagte mit
ihrer hohen und klingenden Stimme: »Die Justine wird gar nichts. Wenn man
sein lebelang unter Palmen gewohnt hat ...«

Der Alte winkte ihr zu schweigen und gab Heinrich Biester die Hand.

»Glauben Sie nicht, Sie Weitgereister, daß es sich auch unter einem
schönen, strammen Lindenbaum gut hausen läßt?« sagte er, und ein
halb wehmütiges, halb verschmitztes Lächeln lief über sein runzliges
Greisengesicht.

Eine Antwort erwartete er aber nicht. Er behielt die Hand seines Gastes
noch einen Augenblick in seiner, kroch dann in sich zusammen und fing an zu
murmeln: »Wenn du wieder so spät nach Hause kommen wirst -- mein Junge ...
warte mal ...«

Heinrich Biester hatte es verstanden. Es war wie das Gespenstchen der
Stimme von früher, und das rief allerlei Fremdes und Empfindsames in ihm
an.

Als er mit Justine wieder draußen stand, stiegen ihm die Tränen in
die Augen, und er wußte gar nicht, was er mit dem Gemisch von Wehmut,
Verdrießlichkeit und Verlangen in sich anfangen sollte.

»Wollen wir jetzt nicht hinübergehn --?« fragte da Justine
niedergeschlagen. »Vielleicht frühstücken?«

Er sah sie groß an und schüttelte nur den Kopf. Ihre brennenden Augen, die
von ihm zu den weißen Wänden irrten, taten ihm wohl und weh zugleich --
aber der heiße Strom von vorhin rauschte nicht wieder in ihm auf.

Merkwürdigerweise mischte sich sogar in alles widerspruchsvolle
Durcheinander seiner Gedanken ein Stimmengewirr von weit her -- ein
paar tiefe und ein paar gellende Töne -- Rufe von Frau Eustachia und den
Kindern, die er zu Hause oft genug mit Mißbehagen gehört hatte, aus
denen ihm in diesem flüchtigen Augenblick jedoch ein Klang unersättlicher
Lebensfülle entgegenschwirrte.

Das dauerte aber auch nur eine Sekunde und war vielleicht seinem Wunsche
fortzugehen entsprungen. Denn dieser Wunsch war da und beherrschte das
sanfte Gefühl von Dank und Rührung.

»Ich will dir lieber Lebewohl sagen, Justinchen, jetzt, dir allein, und
keinen und nichts mehr sehn und wiedersehn. Begreifst du das? Und weißt du,
wie reich ich durch dich geworden bin?«

Sie lächelte bitter und traurig und sagte: »Reich? ... Reich?« ...

Da blieben ihm die spanischen Koseworte, die ihm durch den Kopf schossen,
in der Kehle stecken.

Er küßte mit kalten Lippen ihre Stirn und ging langsam hinaus.

Sie blieb ganz still.

Er hatte die Tür aus alter Gewohnheit offen gelassen und sah sich noch
einmal nach ihr um: da stand sie mitten in der dämmrigen Halle in ihrem
weißen Kleide mit den nackten Armen und hatte die Hände gerungen.

Aber als er noch länger nach dem geheimnisvoll schönen Bilde starrte, da
schien es sich mit silbrig grünem Schleier zu umhüllen und zerfloß ihm vor
den Augen.

Dann wurde die Tür zugemacht, und er sah noch eine Weile wie im Traum
auf diese dunkle Pforte mit dem leuchtenden Messinglöwenkopf, die die
Vergangenheit für ihn abschloß, und hinter der sich ihm doch ein neues,
wunderliches Seelenheim aufgetan hatte ...

Der Markt lag wie vor einer halben Stunde sonnenüberglüht und ausgestorben
da, aber nun hatten auch die kleinen Häuser tote Augen, und keine Stimme
mehr. Kein Fenster öffnete sich, und keine Schatten huschten über die
Straßen.

Nur der Löwenkopf an der Apothekentür funkelte und sprach.

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Nun saß Enrique Bisterro längst wieder auf der Veranda in Entechua unter
den Seinen und den rauchenden und schwatzenden Freunden. Er hörte
den Guairastrom rauschen und sah die Yukkas am Fuß des Monte Avila
emporstreben. Duft und Glut waren um ihn, und die Schönheit der taghellen
Mondnächte kaum zu ertragen.

Das war früher auch alles so gewesen -- aber er wußte nicht, wie es kam --
seit seiner Heimkehr sah er die alten Bilder mit neuen Blicken, ja, er nahm
sie oft mit einer Befriedigung auf, die an Freude grenzte. Seine Freunde
fanden, daß die Reise in die Heimat Wunder an ihm getan habe, sie machten
sogar kleine, anzügliche Bemerkungen, die Doña Eustachia nicht zu Ohren
kommen durften. Er selber gab ihnen nicht Unrecht, wenn er sich auch den
Wechsel in seinem Empfinden und seinem ganzen Wesen nicht ganz erklären
konnte.

Während des Tages, den er in der lähmenden Glut sonst verdrossen und
kränklich, voller Mattigkeit und unbestimmter Sehnsucht, hingeschleppt
hatte, dachte er an die Heimat jetzt nie mehr. Die schöne Wirklichkeit
um ihn triumphierte über den matten Widerschein, den er dort angetroffen
hatte. Er schaffte mit frischer Kraft und Freudigkeit. Er fühlte sich
in seinem Beruf, als Familienvater, als Würdenträger in der kleinen,
zusammengewürfelten Gemeinde von Entechua ganz als der Enrique Bisterro,
den man hier von ihm erwartete, und wußte nichts von dem Heinrich Biester
des Jugendlandes.

Seine Träume dagegen führten ihn nach wie vor in das alte Heimatnest, aber
er prahlte nicht mehr wie früher mit seinem Glück und seinem Wohlergehen.
Er sprach auch nicht mehr Spanisch -- und nicht mehr mit dem Prinzipal.
Er stand in der dämmrigweißen Halle -- und ihm gegenüber, neben dem
feinblättrigen Bambus, unter den ewig lebenden Palmen, die für ihn da
hingepflanzt waren, das Justinchen -- mit leuchtenden, verständnisvollen
Augen ihm die Worte von den Lippen lesend. Und was der heiße Tag von
Entechua an starkem, jungem Fühlen, an Wehmut und Verdrossenheit, an Traum
und Jugendsehnen erstickte, das strömte da in den langen und beweglichen
Zwiesprachen aus. -- In denen klang kein Ton von dem würdigen,
arbeitsfrohen Don Enrique, die quollen ganz aus dem Herzen und aus der
Seele des Heinrich Biester.



Jungfräuliche Königin


Der Doktor auf einem Schimmel, vor sich im Sattel den Terrier Fips, hatte
die Tête. Der Hauptmann und der Leutnant von Wachowski ließen die Gäule mit
lockerem Zügel laufen und wechselten zwischen mattem Trab und Schritt.

Der Doktor sah sich um, und als er wahrnahm, daß sich die Entfernung
zwischen ihm und den anderen vergrößerte, hielt er.

Weites, ebenes Land breitete sich bis zu dem fernen bläulichen Waldbande
aus. Regelmäßig angelegte, gut gehaltene Wege führten kreuz und quer zu den
Äckern, die in gelben, taufunkelnden Stoppelbreiten ruhten, oder in frisch
aufgebrochenem Erdreich mit ihrer Wintersaat kommenden Segen erwarteten.
Obstbäume mit weißgestrichenen Stämmen beugten sich an den Wegrändern in
gleichmäßiger Entfernung voneinander unter der Bürde ihrer goldenen und
roten Früchte, Kirschalleen liefen, schmuck und schön, von trockenem
Astwerk gesäubert, geradlinig wie zwei Reihen Soldaten, zu einem noch nicht
abgeernteten Kohlfeld, dessen blaurote Köpfe in schier unwahrscheinlicher
Größe und Üppigkeit auf dem schwarzen Boden lagen.

»Donnerwetter, ist das eine Kultur!« rief der Doktor den näherkommenden
Herren zu. »Schon Terkittener Boden, nehme ich an.«

»Hören Sie, Doktorchen,« sagte der liebenswürdige Hauptmann Riesberg, »dies
Terkitten ist ein Paradies, höre ich eben von dem Leutnant, -- und das
Merkwürdige bei der Sache -- das Paradies wird von einem Teufel regiert.«

»Ich hab' auch schon so was gehört ... der alte Terkittener ist wohl sein
Lebelang ein berüchtigter Rauf-, Saufbold usw. gewesen?«

»Ne, ne, ne -- der Teufel ist diesmal =feminini generis=. Neues ist aus
den Ruinen erblüht, wie der Dichter sagt. Wachowski hat mir nette Chosen
erzählt.«

In diesem Augenblick stieg seitwärts aus den Stoppeln ein Volk Hühner auf
und schwirrte surrend über den Weg. Das war zuviel für Fipsens Terrierherz.
Mit einem Satz war er unten, mit einem zweiten im Felde.

»Um Gotteswillen,« ... »den Köter zurück« ... »Fips«, ... die hallende
Stimme seines Herrn, -- ein kurzer Knall, -- atemloses Schweigen -- fast
auf den Bruchteil einer Sekunde fiel das alles zusammen. Und einen Moment
später waren die Herren abgesprungen und beteiligten sich mit erleichterten
Zurufen an der Abstrafung des Schuldigen, der seine Jagdhiebe an Stelle der
Todesstrafe in Empfang nahm.

»Hätte sie mir meinen kleinen Kameraden beinah totgeschossen,« sagte der
noch ganz blasse Doktor, der sich den Terrier selbst aufgezogen hatte und
ihn wie ein menschliches Wesen liebte.

»Wissen Sie, meine Herren, das ist unerhört,« rief der Hauptmann entrüstet.
»So was tut man doch nicht. Man knallt doch keinen edlen Hund einfach
nieder, wenn man sieht, daß er nicht herrenlos ist.... So 'n verfluchter
Kerl ... das soll ihm angestrichen werden ... dem wollen wir's besorgen.«

Der Leutnant deutete stumm auf einen Ebereschenweg links.

»Die hohe Herrin selber!«

Zwischen den noch kleinen Bäumen, die unter der Last von glühend roten
Beeren leuchteten, stand eine hochgewachsene, sehr schlanke Frau, die sich
eben langsam umwandte und in entgegengesetzter Richtung weiterging.

Man sah über der graugrünen Lodenjoppe unter einem kleinen Jägerhut eine
festgerollte Fülle brandroten Haares, Lenox und Jagdtasche hingen zur
Seite, und der kurze Rock ließ ein paar Stiefel frei, die nichts mit
koketter Damensportbeschuhung gemein hatten. Beim Schreiten aber machte
sich eine böse Störung in der sonst untadligen Harmonie dieser Erscheinung
bemerkbar: Der rechte Fuß schleppte erheblich, und bei der energischen
Bewegung des ganzen federnden Körpers fiel das um so mehr auf.

»Da haben wir also den berufenen Teufel wie auf Stichwort,« bemerkte der
Leutnant.

»Und hinken tut er wirklich auch noch, wie alle Teufel« ...

Der Doktor fing jetzt erst an, sich von dem ausgestandenen Schreck zu
erholen und seiner Entrüstung freien Lauf zu lassen.

»Bei diesem Frauenzimmer muß man Gastfreundschaft genießen ... den Ruhetag
noch dazu!? ... das ist hart ... wenn Herr Hauptmann mich noch beurlauben
könnten ...«

»Stopp, stopp!« rief der Hauptmann. »Ich habe mir sagen lassen, daß für
jeden passionierten Jäger die Versuchung nahe liegt, ein wilderndes Tier
abzuschießen, und Fräulein von Terkuhn soll ja eine sehr temperamentvolle
Dame sein, wie unser Leutnant mir eben erzählt.«

»_Fräulein_ von Terkuhn? Nicht Frau?«

»_Na_, Wachowski, schießen Sie mal los ... und erzählen Sie, warum Sie so
erpicht auf dieses Quartier waren, und woher Sie so orientiert sind.«

»Wenn Herr Hauptmann gestatten,« sagte der Sommerleutnant etwas verlegen,
und sein auffallend hübsches, offnes Jünglingsgesicht nahm an der
Verlegenheit der Stimme Teil. »Eine kleine entfernte Cousine von mir ist
Gesellschaftsdame bei dem Fräulein von Terkuhn. Wir sind sozusagen zusammen
aufgewachsen, haben uns ein Jahr lang nicht gesehen ...«

»So, so -- also sehr begreiflich. Und die junge Dame hat Sie auch über die
Verhältnisse unterrichtet?«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann! Ich habe das Gefühl, die Terkittener
Herrschaften und den ganzen alten Kasten genau zu kennen. Ich wundere mich
auch gar nicht, daß Fräulein Adalisa von Terkuhn dem Doktor seinen Fips so
ohne weiteres niederknallen wollte. Wie sollte Eine tierfreundlich sein,
die so menschenfeindlich ist!«

»Na unter den Verhältnissen mußte sie das vielleicht werden ... denken Sie,
Doktor, der Leutnant erzählt, als vierjähriges Kind hat ihr Vater sie
im Suff einem Kumpan als Fangball zugeworfen ... dabei ist ihr die
Hüfte ausgerenkt, oder so was ... Dann eine gräßliche liederliche
Fräuleinwirtschaft, -- die Mutter tot ...«

»Und dann ist sie nach Gnadenfrei gebracht worden,« erzählte der Leutnant
weiter, »aber da ist sie ausgerissen -- und das hat dem Alten imponiert.
Er hat sie im Hause behalten und ganz als Junge aufgezogen. Sie hat ihm mit
der Zeit all seine boshaften Triks abgelernt, ihn aber bald noch überholt.
Was ich darüber so von meiner Cousine höre -- ich kann Ihnen sagen,
meine Herren, es ist kaum zu glauben, daß in unseren Tagen so was an
mittelalterlichen Verhältnissen existiert.«

»Und Ihr Fräulein Cousine ist doch schon längere Zeit dort?«

Wachowski lächelte: »Die, ja die ist ein so sanftes, liebes und tüchtiges
Mädel, daß da selbst der Teufel Halt macht. Und dann sagt sie auch ganz
richtig: All das ganze Wesen geht mich ja eigentlich nichts an, ich werde
meine Brotherrin ja doch nicht erziehen. Ich tue meine Arbeit, eher noch
etwas darüber, und damit fertig.«

»Sagen Sie mal, der alte Herr lebt doch noch?«

»Jawohl ... aber wie. Rechts gelähmt, -- sitzt wie ein böser alter Uhu
im Krankenstuhl ... und hat schlimme Tage. Wissen Sie, die liebenswürdige
Tochter, die nun natürlich ganz das Regiment führt, hat einmal ganz offen
gesagt, als Lena -- meine Cousine -- einige Anordnungen zu seinen Gunsten
machen wollte: »Nein, lassen Sie, -- er hat mir meine Jugend verdorben, ich
will ihm dafür sein Alter verderben.«

»Na erlauben Sie mal, das ist ja einfach unglaublich ... So was äußert sie
zu ihrer Gesellschaftsdame?«

»Ja, sie soll alles offen sagen und tun. Sie sagt solche Dinge auch zum
Diener oder zum Briefträger. Sie ist so hochmütig, daß es ihr auf niemandes
Meinung ankommt.«

»Natürlich hat dieser Engel Geld,« meinte der Hauptmann.

»Viel,« sagte Wachowski. »Und die Dukaten wachsen ihr nur noch so zu, da
sie geschäftsschlauer sein soll als zehn Juden, und -- alles was wahr ist
-- auch sehr tüchtig und tätig ... Und nun läuft alles, was an Männlichem
hier in der Gegend in Betracht kommt, hinter ihr her, trotzdem jedermann
weiß, wess' Geistes Kind sie ist ...«

»Ja, Geld und ein schönes Gut sind und bleiben einmal Magneten,« sagte der
Hauptmann, »und weiß Gott, vielleicht denkt auch dieser oder jener, daß ein
Petrucchio in ihm steckt.«

»Wie meinen Herr Hauptmann?« fragte Wachowski unbefangen.

»Na, den Kerl aus der Widerspenstigen mein' ich.«

»Shakespeare,« sagte der Doktor lächelnd.

»Ach so, ach so ... ja, ich erinnere mich schon ... Aber, pardon, lachen
Sie mich nur aus, Doktor, ich bin kein Schriftgelehrter -- mehr fürs
praktische Leben ...«

Die beiden Herren nickten ihm wohlwollend zu. Er war ihnen in der
Manöverzeit mit seiner heiteren, wasserklaren Liebenswürdigkeit ein
angenehmer Kamerad gewesen. Sie kannten sein einfaches, arbeitsvolles
Landwirtsleben, seine Lehr- und Wanderjahre auf mehreren großen Gütern der
Provinz, seine bescheidenen Zukunftspläne bis zu dem Obstgütchen, auf
das er nach der Übung die Hand legen wollte, so genau, daß sie ordentlich
erstaunt über die bisher nicht erwähnte Cousine waren. Das fiel wohl beiden
im Augenblick ein, aber hinter diesem freundlichkleinen Schicksal tauchte
die böse, hinkende, schöne Rothaarige auf, die dem Vater das Alter verdarb
und die fremde, edle Hunde gnadenlos niederknallte.

»Im Moment, in dem der Köter hinuntersprang, sah ich ja den Rotkopf, kam
aber natürlich nicht dazu, sie mir näher anzuschauen,« sagte der Doktor.
»Ich sah sie anlegen ... Herr Hauptmann nicht?«

Der Hauptmann schüttelte den Kopf und strich seinen Schnurrbart. Er war ein
bißchen Idealist und lief, wenn sich's so traf, dem Fünkchen Romantik nach,
das irgendwo an seinem Weg aufleuchtete. Man sah ihm jetzt ordentlich an,
daß er träumte.

»Natürlich Petrucchio« dachte der Doktor, der ihn mit einem aufmerksamen
Blick streifte. Aber er sagte nichts, teils aus Gutmütigkeit und teils aus
Disziplin.

Schweigend ritten sie nun eine Weile weiter ...

»Das ist die große Pappelallee, die zum Hof führt,« sagte dann Wachowski
lebhaft und ein wenig unruhig. »Ja, da stehen auch unsere Kerls.« ...

Man nahm den Weg unter den hohen Pappeln in schlankem Trab, sprach an der
Ecke mit den wartenden Burschen, die schon seit einer Stunde da waren und
bog dann in den Hof.

Das Gutshaus, ein einstöckiges, weinumranktes Haus mit aufgesetztem Giebel,
lag rechtwinklig zu dem Wirtschaftshof, dessen prachtvolle Stallungen und
Scheunen dem Leutnant einen Ausruf der Bewunderung entlockten, obgleich ihm
doch andere Gedanken näherlagen.

Auf der einfachen, von Pfeifenkraut umwucherten Holzveranda, an der die
Herren hielten, stand ein alter Diener, der sie, nachdem ihnen die Burschen
ihre Pferde abgenommen hatten, in eine große, niedrige Halle führte.

Eine zierlich gewachsene junge Dame mit klarem, brünettem
Jungmädchengesicht trat ihnen entgegen, -- die Cousine. »Hauptmann
Riesberg«, stellte dieser sich vor, und dann den Doktor, da der Leutnant
sich zurückhielt und nun erst sich einen herzlichen Blick und Händedruck
holte. Die erwartungsvolle Stimmung der letzten halben Stunde verschwand
angesichts der anmutigen Unbefangenheit, mit der das junge Mädchen die
verbindlichen Worte erwiderte, mit denen die Gäste die verwandtschaftlichen
Beziehungen noch einmal feststellten.

»Ich habe als Schaffnerin des Hauses den Auftrag, für die Behaglichkeit
der Herren zu sorgen,« sagte sie dann. »Das Frühstück ist auf den Zimmern
bereit, der Diener wird führen. Und wenn die Herren in bezug auf die Zeit
des Mittagessens einen Wunsch haben ...«

Sie fügten sich gern den Gewohnheiten des Hauses und waren mit der üblichen
Tischzeit um 2 Uhr sehr einverstanden. -- Wann sie den Herrschaften ihre
Aufwartung machen dürften?

»Das gnädige Fräulein bittet vor Tisch im Salon.«

Während der Hauptmann sich bei den Burschen nach der Unterkunft von Leuten
und Pferden erkundigte, die er vor dem Frühstück noch gesehen haben wollte,
verweilten die beiden anderen mit Fräulein Lena Aussig in der Halle.

Wachowski und sie reichten sich wieder die Hände und jetzt mit mühsam
unterdrücktem Jubel ...

»Entschuldigen Sie,« bat sie den Doktor mit feuchten Augen, »aber ich habe
mich so sehr auf meinen Vetter gefreut ... Dir, Hans, will ich nur noch
schnell sagen, daß ich dich nach Tisch eine Stunde für mich haben darf,
wenn der Dienst es dir erlaubt. Jetzt muß ich mich verabschieden. Die
Wirtschaft ruft.« ...

»Ein liebes Menschenkind,« sagte der Doktor. Wachowski sah ihr mit weit
offenen, glücklichen Augen nach. Dann folgten beide dem Diener über
eine breite, ausgetretene Treppe in ihre altväterisch behaglichen,
asterngeschmückten Zimmer.

       *       *       *       *       *

Adalisa von Terkuhn erwartete die Einquartierungsgäste in dem großen
Gartensaal, der Sommer und Winter ihr Lieblingsaufenthalt war. Noch blieb
eine Stunde Zeit bis zum Mittagessen, und sie hatte sich die Tageszeitungen
mitgenommen, die ihre einzige Lektüre bildeten. Aber sie las nicht, sie
ging in einer kleinen, ihr sonst nicht gewohnten Unruhe hin und her.

Der große, niedrige Saal mit seinen vier bogigen Glastüren nach dem
verwachsenen Garten und seinem Eckfenster nach dem Wirtschaftshof hin,
wirkte wie ein eigens für sie geschaffenes Umbild.

Er hatte eine altmodisch grüne Wandbekleidung, von der sich ein paar
Familienporträts aus alten Zeiten lebensvoll abhoben. Keine eigentliche
Ahnengallerie, dazu waren es zu wenige. Die Terkuhns, Jahrhunderte lang auf
derselben Scholle ansässig, hatten nur ein paar Vertreter ihres Namens
in die Welt entsandt, wo sie sich Geltung und Lorbeeren holen konnten. Es
waren immer wenig Kinder in der Familie gewesen, und wer bleiben konnte,
blieb in dem alten Waldwinkel, in dem er hochgewachsen war. Bis in die
alten Preußenzeiten wollten die Terkuhns ihren Ursprung hinunterleiten, und
wunderlich mischten sich in den Familiensagen Heidentums-, Ordensritter-
und Polengeschichten durcheinander. Da es aber selten einen
Schriftgelehrten im Hause gegeben hatte, beruhte fast alles, was man von
den alten Zeiten erzählte, auf mündlicher Überlieferung. Nur ein paar auf
dickem Pergament gemalte Urkunden mit Wachssiegeln daran gab es --
die lagen als Gerippe der von einer rohen und blutdürstigen Romantik
durchwehten Begebnisse der Familiengeschichte in der plumpen, uralten
Eisenkiste, die unter dem Bildnis des weiland kurbrandenburgischen
Fahnenjunkers ihren Platz hatte.

Dieses und ein paar andere aus den verschiedenen Jahrhunderten übrig
gebliebene Terkuhnbilder sahen alle unter demselben Rothaar hervor,
aus denselben hellen Raubvogelaugen um sich, und die Allen gleiche
kinnvorstreckende Haltung des kleinen Kopfes war sicher nicht von dem
jeweiligen Maler erfunden worden.

Auch Adalise von Terkuhn, die letzte des alten Stammes, gehörte so ganz
und gar zu ihnen, als ob sie aus einem der alten, ungefügen Rahmen
heruntergestiegen wäre. Und sie empfand das so stark, daß dieses Gefühl
zwischen ihr und Allem was um sie lebte eine Schranke zog.

Es war ein Lieblingsträumen von ihr, sich die Jahrhunderte
hinabzuschleichen bis zu dem alten Preußenführer hin, der, die Steinkeule
um die rote Mähne schwingend, hinter der heiligen Eiche hervorsprang um den
Fremden gnadenlos zu erschlagen, der das Heiligtum betrat.

An dieser selben Eiche zu stehen und all das Dunkle, gar nicht in Worte zu
Fassende in sich aufwachen und beben zu fühlen, war ein Gottesdienst für
sie.

Daß sie sich aus solchen Träumen ihren seelischen Bedarf an Steigerung
holte, machte sie sich in richtig zusammengefaßten Gedanken nicht klar,
aber wenn die Alltagslasten, die sie sich mit brutaler Energie aufgeladen
hatte, sie zu ermüden anfingen, dann vertiefte sie sich in diese
Zwiesprache mit »ihresgleichen«, den Gleichen, die sie um sich her nicht
finden wollte. Was sie in ihren Tag daraus heimtrug, hieß Kampf.

Und sie kämpfte mit dem vernachlässigten Boden, mit der Trägheit und
Dummheit ihrer Leute, mit den Getreide- und Viehhändlern, die in früheren
Zeiten jahraus, jahrein aus der lässigen Arbeit ihres Vaters den Vorteil
gezogen hatten -- und endlich gegen die Freier, die das schöne Terkitten
mitsamt ihrer streitbaren Person als ehehörig an sich reißen wollten ...

Aber es war kein frischer und fröhlicher Kampf. Ein verbissener Groll
wohnte auf seinem Grunde, und die Waffen, mit denen sie ihn führte,
waren durch Hohn und Bitterkeit vergiftet. Sie empfand ihren körperlichen
Schaden, obgleich sie ihn mit eiserner Willenskraft ihrer Beweglichkeit
untertan gemacht hatte, als eine Schmach für die Terkuhns, und aus dem
Haß gegen ihren Vater, der sie zu einer Gezeichneten herabgewürdigt und
zugleich die Schönheit des ganzen Geschlechts geschändet hatte, wuchs mit
der Zeit noch allerlei Hartes und Zersetzendes heraus, das sie mit einer
gewissen Freude pflegte.

So war sie trotz ihres Reichtums und ihrer Schönheit keine begehrenswerte
Freundin oder Frau. Das wußte sie sehr wohl! Aber sie wollte es auch nicht
sein. Und daß man sich ihr trotzdem immer wieder näherte, erfüllte sie mit
einer grenzenlosen Nichtachtung und einem unbesiegbaren Mißtrauen gegen
alles und alles, vornehmlich aber gegen den Mann.

Dabei sagte sie sich täglich und stündlich, daß sie zu der engsten
Lebensgemeinschaft, der Ehe, verurteilt sei.

Der Gatte, den sie wählen würde, sollte nach Königsbestimmung den Namen
Terkuhn tragen -- auf ihr lag die Verpflichtung, das alte, heilige
Geschlecht zu erhalten.

Wo aber war der, den sie als würdig betrachten konnte, ihren Namen zu
führen und Vater ihrer Kinder zu werden? So eifrig sie auch im Geheimen mit
ihren hellen Augen Umschau gehalten hatte, bisher war es unmöglich gewesen,
einen Mann zu finden, den sie in eine Reihe mit »ihresgleichen« hätte
stellen können.

Ihr Herz hatte nie, ihre Sinne ein paarmal gesprochen.

Einmal, vor mehreren Jahren, war es ein hübscher, rotköpfiger Stallknecht
gewesen, zu dem eine unerklärlich heiße Wallung sie gezogen hatte. Als sie
merkte, daß dieses Fremde in ihr sie überwältigen wollte, hatte sie dem
ahnungslosen Burschen bei einem geringfügigen Versehen, das er begangen,
die Reitpeitsche um die Ohren geschlagen und ihn davongejagt.

Das andere Mal kam eine standesgemäße Verirrung. Der bekannte Don Juan,
Graf Revetzow, der als Reichstagskanditat des Bundes der Landwirte seine
Besuche in dem Kreise machte und mit seiner glänzenden, draufgängerischen
Persönlichkeit auch trotz höherer Semester eine ständige Gefahr für das
ewig Weibliche geblieben war.

Seine festen Händedrücke, seine heißen Blicke und gewagten Worte, bei
ihm Klischee, für Adalisa von Terkuhn eine neue, seltsame Erfahrung,
verursachten ihr noch längere Zeit in der Erinnerung eine schwindelnde,
wonnige Sehnsucht.

Aber der Graf war Familienvater, wohnte weit ab und kam nie wieder. Da
erlosch das Feuer, das er angezündet hatte allmählich, und die kühle,
verständige Gattensuche der letzten Jahre begann von neuem.

Und immer und immer vergeblich. Und es wurde Zeit, Ernst zu machen. Sie
hatte ihren 30. Geburtstag gefeiert, und es verging kein Tag, an dem ihr
Vater von seinem Rollstuhl aus ihr nicht ein paar rohe, wie Peitschenhiebe
treffende Worte über ihr vergebliches Bemühen und ihre verdammte Pflicht
und Schuldigkeit ins Gesicht geworfen hätte.

Da sah sie sich denn auch in weiteren Kreisen um, wo sie es konnte, ohne
ihrem Hochmut allzu große Opfer aufzuerlegen. Auf Pferdemärkten, auf den
Rennen in Königsberg. Sie hatte sich bei einem Besuch des Kaisers in der
Provinz vorstellen lassen; und überall, schön, scheu und abstoßend wie sie
war, hatte sich dasselbe Spiel wiederholt, das sie nun seit Jahren kannte.
An den Tagen nach solchen Festlichkeiten, denen sie, stilgerecht und
kostbar gekleidet, beigewohnt hatte, häuften sich Blumen und Briefe, von
fremden Namen unterzeichnet, in denen man ihr Herz und Hand zu Füßen legte.
Zähneknirschend buchte sie es dann jedesmal, daß nur die Minderwertigen
sich ihr näherten und suchte und suchte weiter.

Sie fing an, auf den Zufall zu rechnen, und seit vor acht Tagen die
Meldung der Einquartierung gekommen war -- in dem abgelegenen Winkel eine
Seltenheit -- beschäftigten sich ihre Gedanken auch mit diesen in ihren
Gesichtskreis tretenden Männern, die als Offiziere und adlig, wie sie
annahm, immerhin in Betracht kommen konnten.

Sie war ihnen am Morgen mit Absicht entgegengegangen, um sie, selbst
ungesehen, zu beobachten, und in der Wut über diesen unwürdigen Entschluß,
vielleicht auch darüber, daß sie von keinem der drei den gewünschten
Eindruck empfangen, hatte sie auf den wildernden Hund gezielt.

Jetzt war es ihr übrigens doch lieber, daß sie ihn nicht getroffen hatte.
Es wäre ein peinliches Zusammenkommen gewesen, die Entschuldigung schon
jetzt nicht angenehm, solchen gleichgültigen und ungeladenen Gästen
gegenüber. Dem, der den Terrier mit sich schleppte, grollte sie geradezu.
»Warum kommt keiner wie du?« dachte sie, voll von der neuen Enttäuschung
vor dem Bilde des Fahnenjunkers stehen bleibend. »Und warum muß ich wie
eine Hündin hinter den Männern herlaufen, die ich verachte?«

Es klopfte. Fräulein Lena trat ein.

»Was wünschen Sie?«

»Ich wollte fragen, ob das gnädige Fräulein noch einen Blick auf die Tafel
werfen möchte ... und dann wegen der Plätze ...«

»Der Tisch interessiert mich nicht -- und die Ordnung? Mich führt natürlich
der Hauptmann und rechts der Nächstälteste ...«

»Das wäre der Stabsarzt ...«

»Warten Sie mal ... wer ist denn mit einer Töle angekommen? Den möchte ich
nicht an meiner Seite haben. Den können Sie sich nach unten nehmen.«

»Der Stabsarzt hatte, so viel ich sah, einen Hund bei sich, den er dem
Burschen übergab,« sagte Fräulein Lena ein klein wenig enttäuscht. »Dann
käme also der Leutnant von Wachowski rechts vom gnädigen Fräulein.«

»Wer von den Herren war doch Ihr Verwandter, Fräulein?«

»Leutnant von Wachowski« sagte Fräulein Lena mit einem kleinen
Hoffnungsschimmer in den Augen, der ihrer Herrin nicht entging.

»Also den Leutnant rechts, und den Hauptmann -- wissen Sie, wie er
heißt? ...«

»Riesberg ...«

»Gut« nickte Fräulein von Terkuhn und machte eine entlassende Bewegung.
Dann besann sie sich noch einmal. »Fräulein!«

»Gnädiges Fräulein befehlen?«

»Wie kommen Sie zu einem Vetter, der adliger Leutnant ist? Und wird es ihm
nicht unangenehm sein, Sie hier in dienender Stellung zu finden?«

»Ach nein« sagte Fräulein Lena mit einem halb stolzen Lächeln. »Meine
Mutter war eine Wachowski. Unsere Güter lagen im Posenschen nebeneinander.
Wir sind fast zusammen aufgewachsen, und wir haben uns sehr gefreut
auf dieses Zusammentreffen ... Ja und dann ist er ja auch nur
Reserveleutnant ...«

»So so, -- was treibt er denn sonst?« ...

»Er ist Landwirt, gnädiges Fräulein, und er wird sich nach der Übung ein
kleines Gut in der Mark kaufen. Er hat eins in Aussicht ...«

»Hat er Ihnen das in aller Eile beim Empfang erzählt? Ich hoffe, Sie haben
die Verwandtschaft bei den anderen Herren nicht betont. Sie müssen
sich selbst sagen, daß das in Ihrer Stellung sehr wenig passend gewesen
wäre ...«

»Es ist auch nicht geschehen, gnädiges Fräulein. Die Herren sind gleich
auf ihre Zimmer gegangen, -- ich habe meinem Vetter nur gesagt, daß ich
Erlaubnis hätte, nach Tisch eine Stunde mit ihm zusammen zu sein ...«

»Wenn nichts Besonderes dazwischen kommt,« sagte Fräulein von Terkuhn.
»Sagen Sie also dem Ferdinand Bescheid, daß er die Herren hier hereinführt,
und lassen Sie dann sofort anrichten ...«

       *       *       *       *       *

Und nun traten die Herren ein und standen alle drei in leiser Befangenheit
der königlich schönen Hausherrin gegenüber, die doch selbst immer
ihren ganzen Hochmut zu Hilfe nehmen mußte, um ihre Weltungewandheit zu
verbergen. Wenn sie mit niedergeschlagenen Augen da stand, wie eben jetzt,
war sie neben all ihrer stolzen und regelmäßigen Schönheit auch noch
lieblich. Nur wenn sie sie aufhob, diese graugelben Terkuhnaugen hinter
den starken roten Wimpern, dann huschte ein böser Zug über ihr Gesicht, der
seinen Reiz verminderte und ihm Schärfe und Charakter gab.

Der Doktor beobachtete das kritisierend, der Hauptmann und der Leutnant
aber waren wie geblendet, der eine von gesteigertem Lebensgefühl, der
andere von einer fast ängstlichen Scheu ganz erfüllt.

Fräulein von Terkuhn entschuldigte mit ein paar Worten ihren Vater, der die
Herren bei Tisch begrüßen würde, gewann es auch über sich, für die geplante
Entschuldigung die passenden Worte zu suchen. Nur wandte sie sich damit
nicht an den Doktor, sondern an den Hauptmann, und sah, während sie sprach,
mit großen Blicken nach dem armen Wachowski, dem dabei heiß und kalt wurde.

Und dann meldete der Diener, daß serviert wäre, und Fräulein von Terkuhn
ging an dem Arm des Hauptmanns in den nebenan gelegenen düsteren Eßsaal.

An einer Schmalseite der Tafel saß im Rollstuhl der alte Herr, der die
Tischgäste mit lauter, heiserer Stimme willkommen hieß und einige bittere,
humoristisch sein sollende Bemerkungen über seine Hilflosigkeit machte.
Neben ihm stand vor der Suppenterrine Fräulein Lena. Ihr anmutiger Gruß
nahm den Fremden das Gefühl der Unbehaglichkeit und gab vor allem dem
Leutnant seine verschwundene Fassung wieder.

Es wurde aber doch ein merkwürdiges Mittagessen. Äußerlich sah alles üblich
und anmutend aus. Der blumen- und weinlaub-geschmückte Tisch in der Mitte
des langen, mit schwerem Urväterhausrat ausgestatteten Zimmers trug plumpe
Silberschaustücke und uralte dickfüßige Gläser mit eingeschnittenen Wappen.
Ihre Anzahl ließ übrigens auf eine sehr ausgiebige Mahlzeit schließen --
eine sonst im Manöver mit angenehmen Empfindungen begrüßte Aussicht. Aber
heute nahm außer dem alten Herrn, der mit gierigen Blicken die üppige
Anordnung streifte, kaum jemand Notiz davon. Schon daß Fräulein von
Terkuhn den Leutnant, der sich seiner Cousine genähert hatte, zu sich
herüberwinkte, gab Veranlassung zu einer gewissen nachdenklichen Stimmung
-- bei ihm mit Enttäuschung und dem bangen Gefühl gemischt, das ihn neben
der rothaarigen Gutsherrin wieder ganz gefangen nahm.

Nur mit Anstrengung des Hauptmanns kam das Tischgespräch anscheinend in
heiteren Fluß. Allerlei Worte flogen hin und her, über Krieg und Frieden,
über ehemalige Kameraden des Hausherrn, Pferdemärkte und Geselligkeit in
Königsberg, über Manöver und Dienst, über Jagd und Ernte.

Aber hinter all diesen gesprochenen Worten vereinten sich die _gedachten_
zu einem Strom, der Herz und Sinne mit Spannung und Unruhe überflutete und
in jedem einzelnen Empfindungen wach rief, die mit dem, was man sagte, in
geringem Zusammenhang standen.

In dem alten Terkuhn kämpfte der Groll, von den Lebensfreuden vorzeitig
ausgeschlossen zu sein, mit dem Verlangen danach -- der Hauptmann, benommen
von seiner Nachbarin, zitterte innerlich, wenn ihr Kleid ihn streifte --,
der Doktor beobachtete nach seiner Art und machte sich Bilder von dem
persönlichen dieser schwatzenden Menschen zurecht; zwischen Wachowski und
Fräulein Lena flogen sehnsüchtige Blicke hin und her, und das Merkwürdigste
erlebte Adalisa von Terkuhn an sich, obgleich gerade sie scharfe und
treffende Bemerkungen in die allgemeine Unterhaltung warf und auch hier
und da ihren begeisterten Verehrer, den Hauptmann, mit einem vollen
Augenaufschlag beglückte und erschreckte.

Sie hatte zuerst angefangen, sich mit dem stillen, fast abweisenden Gesicht
des Doktors zu beschäftigen, der, wie sie mit Unbehagen merkte, nur gerade
aus Höflichkeit Notiz von ihr nahm, aber dann hatte sie einen Blick Lena
Aussigs nach Wachowski hin aufgefangen. Ganz flüchtig, aber so voller
Innigkeit und Bangen, daß Adalisa von Terkuhn erschrocken und empört
darüber war.

Es fiel ihr zum erstenmal ein, ihre Gesellschafterin, die ihr bisher
nur wie eine gutgehende, leistungsfähige Maschine erschienen war, als
Persönlichkeit zu betrachten. Und da fand sie, daß da ihr gegenüber ein
sehr anmutiges, junges Mädchen saß, das in dem anspruchslosen Sommerkleide,
mit den glatten, tiefschwarzen Scheiteln, den blühenden Farben und den
dunkeln, vielsagenden Augen Reize entwickelte, die ihr selbst ganz und
gar fehlten. Jetzt erinnerte sie sich, daß jedermann von dem »Fräulein«
eingenommen zu sein schien, nicht nur ihr Vater, dessen ausgesprochene
Vorliebe sie wohl der senilen Neigung für alles Jungweibliche überhaupt
zugeschrieben hatte.

Auch die Herren heute, wie verhielten sie sich diesem dienenden Geschöpf,
diesem Nichts gegenüber? Den Hauptmann hielt sie selbst in ihrem Bann,
das fühlte sie, aber dieser Doktor, der ihr mit gleichgültigem Respekt
begegnete, hatte einen zutraulichen Ton in der Stimme, wenn er mit seiner
Nachbarin sprach. Und der Leutnant, der sogenannte Vetter? Sie beobachtete
ihn von der Seite, und nun nahm sie auch in seinen Augen jenes zärtliche
Blicken wahr, das auf Einverständnis und Zusammengehörigkeit schließen
ließ.

In heißem Groll zog sich ihr Herz zusammen. Warum hatte sie noch nie in
ihrem Leben ein solches Spiel zartsinniger Hingabe über sich erstehen
gefühlt? Sie sah, wie ihre Dienerin sich ordentlich verschönte dabei, wie
ein träumerischer Glanz die braunen Augen vertiefte und das junge Gesicht
von innen heraus zu leuchten begann.

Freilich, der sogenannte Vetter rechtfertigte wohl diese auffällige und
beinahe anstößige Verliebtheit.

Welch ein schöner Bursch' war das mit der schlanken, sehnigen Gestalt,
dem offenen, braunen Gesicht, in dem die graublauen Augen wie zwei Lichter
brannten, in dem der volllippige, rote Mund unter dem braunen Bärtchen
lockte.

Wenigstens leicht entzündbare Personen, wie diese Lena, die
augenscheinlich ganz vergaß, daß sie an dem herrschaftlichen Tisch ihre
Privatangelegenheiten denn doch in anständiger Verborgenheit zu halten
hatte.

Ob's nicht an der Zeit war, ihr und ihrem =vis-à-vis= das deutlich zu
machen? Ein dunkler Instinkt warnte sie, und sie schwieg, während heiße
Wellen von Groll und Neid in ihr auf und ab fluteten.

Sie hatte, in ihre Gedanken vertieft, den jungen Leutnant so scharf ins
Auge gefaßt, daß der Hauptmann in Verlegenheit geriet und sprach, ohne zu
wissen was, und daß Wachowski selbst, als er es endlich merken mußte, einen
halb unbehaglichen Schauer in sich aufsteigen fühlte.

Der alte Herr brach den Bann, den außer Adalisa die ganze Gesellschaft zu
spüren anfing.

»Ja, warum nimmst du denn den Leutnant so aufs Korn, Adalisa?« rief er
mit seiner heiseren, gebrochenen Stimme, »der bekommt ja ordentlich das
Graulen.«

Nun fuhr sie zusammen und schlug die Augen nieder wie ein verlegenes,
junges Mädel. Das halbe geheimnisvolle Lächeln um den großen, weichen
Mund gab ihr einen plötzlichen Liebreiz, der nicht Einem ging. Dem jungen
Leutnant, der eben noch voller Sehnsucht und Zärtlichkeit nach seiner
Cousine geblickt hatte, begann das Herz zu schlagen, und er wartete in
Unruhe auf das Wort, das kommen mußte.

»Ich suchte etwas in dem Gesicht des Herrn von Wachowski,« sagte Fräulein
von Terkuhn und lächelte weiter.

»Eine Ähnlichkeit natürlich,« half ihr der Hauptmann. »Es ist sonderbar,
Wachowski, erinnern Sie sich nur, wer hat nicht alles schon Ähnlichkeit
zwischen Ihnen und Bekannten oder Verwandten zu finden gemeint? Ich nicht.
Ich habe kein Talent dazu.«

Der Leutnant konnte sich durchaus nicht erinnern und sah sich mit fragenden
Blicken um. Ihm war gar nicht behaglich zu Mute, er hatte das Gefühl, daß
die hellen Falkenaugen seiner schönen Nachbarin durch die Lider hindurch in
ihn hineindrangen.

Was in aller Welt konnte sie in seinem Gesicht zu suchen haben?

Ja, was suchte Adalisa von Terkuhn in diesem klaren, glattwangigen
Jünglingsgesicht? --

Sie suchte nicht mehr, sie hatte schon gefunden. In dem Moment der Frage
ihres Vaters war der Gedanke wie ein Blitz in ihr aufgesprungen. Nun nahm
er, getränkt von Herrschfreude, Begehren und einer Spur vorschauender
Überlegung ganz und gar von ihr Besitz: diesen Mann wollte sie zu einem
Herrn von Terkuhn, ihrem Gatten und Sklaven machen.

Von diesem Augenblick an gab sie sich keine Mühe mehr, die Wirtin auch nur
zu markieren. Sie wendete sich von dem Hauptmann ab und ganz dem jungen
Wachowski zu, während ihr Vater die Unterhaltung mit den anderen nach
seinem Belieben, immer lauter im Ton und kräftiger im Stoffe, führen
durfte. Die arme kleine Lena hätte wohl rot werden können bei all den
derben agrarischen Späßen des losgelassenen alten Junkers, aber sie hörte
nicht hin. Sie antwortete auch nur mechanisch auf die Fragen des Doktors,
der ohne viel Erfolg den Hausherrn zu unterbrechen versuchte -- sie mußte
voll Staunen und Bangen immer wieder nach dem Paar ihr gegenüber sehen.

Was bedeutete das nur? Was wollte das Fräulein von Terkuhn, die Hochmütige,
die Männerfeindin, gerade von ihrem Vetter? Und was wußte sie von ihm?
Jedenfalls würde nur Schlimmes für den armen Hans dabei herauskommen, denn
Fräulein Adalisa war gefährlicher in ihrer festlichen Freundlichkeit, als
in der grollenden Alltagsstimmung, das hatte sie an sich erfahren. Wenn nur
erst der Kaffee serviert würde, dann konnte sie ihm ein Wort der Warnung
zuflüstern und dann kam ja auch die heißersehnte Freistunde, die sie mit
ihm zusammenführen sollte. Wie hatte auch er sich vorher darauf gefreut!

Plötzlich war es ihr, als ob zwischen den liebevollen Blicken, die sie
noch vor kaum einer halben Stunde gewechselt hatten und seinem jetzigen
An-ihr-vorübersehen Ewigkeiten lägen. Was war das nur? Was ging in ihm
vor? ...

Ja, was ging in ihm vor?

Als sich die wunderschöne Frau -- »Mädchen« wagte er sie kaum vor sich zu
nennen -- mit einem Ruck ihm zugewendet hatte, als dann ihre scharfen
Augen sich mit großen Blicken in die seinen tauchten, um ihn nicht mehr
loszulassen, da war mit einem elektrischen Schlage zugleich eine heiße
Angst in ihm hochgestiegen.

Dann fing sie an zu fragen, so geradezu, wie sonst fremde Damen
in Gesellschaft nicht zu fragen pflegen, nach Familien- und
Vermögensverhältnissen, nach Alter, Gesundheit und Neigungen. Darüber war
er halb erstaunt und halb empört, aber er antwortete doch wie unter einem
Zwange. Einmal überflog ihn die Idee, daß sie ihn Lenas wegen so ausfrage,
aber dann kam eine eigentümliche Bemerkung von ihr, die ihn von diesem Wege
wieder abbrachte.

Sie erkundigte sich, ob es eine Geschichte seiner Familie gäbe, und ob sein
Adel Sobieski-Adel wäre.

Das war nun seine schwache Seite, da man seinen polnischen Namen oft nicht
für vollgültig ansah.

Nein, sie waren zwar verarmt, aber ein altes Starostengeschlecht. In
der Polengeschichte wimmelte es von stolzen und tapferen Wachowskis. Bei
Rednitzko lagen die Trümmer ihrer alten Raubburg. Da hatte z. B. vor drei
Jahrhunderten ein Bogis Wachowski gehaust, dessen Schandtaten, wie er
leider bekennen mußte, heute noch in den Liedern des Volkes lebten.

Da rief das Fräulein von Terkuhn ganz laut und triumphierend: »Wie mich das
freut! Wie mich das freut!«

»Warum nur?«

Er erhielt keine Antwort. Und nun schoß es ihm durch den Kopf: »Sie braucht
einen Güterdirektor und will mich engagieren -- und hochmütig wie sie ist,
freut sie sich, daß ich von Adel bin -- aber daraus wird nichts« -- und mit
einem lächelnden Blick sah er endlich wieder zu Lena herüber.

Da aber lehnte Fräulein von Terkuhn sich fest an seinen Stuhl, ihre
Schulter streifte ihn, und ihre Augen blickten in die seinen so
herausfordernd, so heiß und weich zugleich, daß er mit einemmal wußte, was
sie von ihm erwartete. Er gefiel ihr als Mann, er dieser unnahbar
Stolzen, vor deren Falkenauge sonst keiner Gnade fand -- er, der kleine
Sommerleutnant dieser wunderschönen Herrin -- seine Jugend -- seine Person
rissen dieses Weib zu ihm. -- Das Weib. -- Nur das Weib.

Wie ein heißer Traum sank es über ihn, und von nun an sah er alles um sich
her durch einen rotgoldenen Schleier. Die arme Lena stand dahinter wie
eine liebe, aber halb vergessene Bekannte aus fernen Zeiten, zu der man im
Vorübergehen freundlich hinüberwinkt ...

Als endlich die Tafel aufgehoben wurde, trat sie zu ihm und sagte, daß sie
ihn nach dem Kaffee zu einem Spaziergang erwarte.

Er sah sie verträumt und lächelnd an und nickte ein »Ja«, aber dann
stand er schon wieder neben Fräulein von Terkuhn und fand es ganz
selbstverständlich, daß sie den Arm in den seinen legte.

»Sorgen Sie für Kaffee und Likör, Fräulein Aussig« sagte sie über die
Schulter weg, »und leisten Sie den Herren, so lange es gewünscht wird,
Gesellschaft. Sehen Sie auch nach meinem Vater. Ich gehe mit dem Herrn von
Wachowski nach den neuen Obstpflanzungen.«

Den Herren kurz und mit lässiger Handbewegung zuwinkend, stieg sie die
breite Treppe zum Garten hinab, -- Hans von Wachowski schweigend und
glühend neben ihr. Der rote Kopf überragte seinen dunkeln um ein Weniges,
und wie der leichte Gang ihres Begleiters sich dem wiegenden, schleppenden
unterordnete, den sie sich für ihre Person zurechtgestimmt hatte, schien
_er_ der Unsichere, während sie den Schritt angab.

»Jungfräuliche Königin,« entfuhr es dem Hauptmann, der den so ohne Umstände
sich Absondernden verblüfft nachblickte.

»Ich möchte sagen: der Teufel mit der armen Seele« erwiderte der Doktor
achselzuckend und sah sich nach Fräulein Lena um.

Die unterdrückte mit der Selbstzucht, die ihre Stellung sie gelehrt hatte,
die Tränen, die aus bangem Herzen aufquellen wollten. Sie bot den Gästen
den Kaffee an, überredete Herrn von Terkuhn sein Zimmer aufzusuchen, und
verabschiedete sich dann, dem Wunsch ihrer Herrin entgegen, von den Beiden,
die voll mitleidiger Rücksichtnahme keinen Widerspruch wagten. -- -- Das
Fräulein von Terkuhn und ihr Begleiter gingen inzwischen durch den alten
Lindengang, und ihre Füße wühlten in gelben, raschelnden Blättern.

Es war ein goldner Septembertag, die Laubbäume standen in ihren
herbstlichen Prunkkleidern bunt und leuchtend umher, und die mächtigen
Weymouthskiefern zeichneten ihr tiefdunkles Grün doppelt düster dagegen.
Der Himmel spannte sich so hoch und klarblau wie im Süden, aber die Sonne
mit all ihrem Goldgefunkel wärmte nicht mehr. Große Blumenbüsche sahen
hinter Hecken und Sträuchern hervor -- gelbe Sonnenblumen, rote Malven,
alles leuchtend, aber ohne den süßen Sommerduft. Dafür atmete der Herbst
kräftig und herb durch Baum und Strauch über die glattgemähten Wiesen und
von den jungen Schonungen her, die sich jenseits des alten Staketenzauns
aufreckten. Es war so still, daß das liebliche Zirpen des Zaunkönigs schon
wie ein helles Stimmchen aus dieser Stille aufsprang -- und das Schweigen
der beiden Menschen darin war eine Selbstverständlichkeit.

Übrigens gingen beide so tief in Gedanken, daß es ihnen gar nicht auffiel.

Adalisa von Terkuhn fühlte eine trunkene Freude. Eine Art von Jägerinstinkt
sagte ihr, daß sie eine gute Wahl träfe, wenn sie diesen Mann an sich
zog. Es war nicht Zärtlichkeit, die sie empfand, wenn sie seine
sanften, dunkelbewimperten Augen an sich hängen sah, auch nicht eine der
Aufwallungen, die sie als »Niedrigkeiten« in sich hier und da zu bekämpfen
hatte, -- es war mehr eine aufquellende Dankbarkeit, weil sie sich ihrem
Ziel endlich nahe fühlte. Und dann tauchte auch noch etwas anderes dahinter
auf, etwas Schlimmes, was doch zu den seltenen Freuden gehörte, die das
Leben ihrem Wesen bot -- das Bewußtsein, einem anderen Menschen wehe zu
tun, darben zu machen, während sie genoß. Ohne daß sie das alles in Worte
faßte, kochte es in ihrem Hirn durcheinander -- praktische Fragen quirlten
mit auf -- Bedenken, ob dieser junge Mann Kenntnisse und Überblick genug
für eine so große Herrschaft besitzen werde, -- denn der Oberinspektor
mußte natürlich fort -- der rote Kopf des Fahnenjunkers tauchte dazwischen
auf -- auch eine flüchtige Vorstellung von rothaarigen Buben, die
auf wilden, kleinen Pferden über die Felder jagten. In all dieses
phantasierende Denken und Bedenken hinein rief eine Stimme immer ganz laut:
»Greif zu, greif zu.« ...

Durch die Obstkulturen waren sie nun schon gegangen und kamen an den
weißgestrichenen, stachelbewehrten Zaun, der den Obstgarten von einem
Wiesengelände schied. Da blieb sie stehen und legte den Arm um einen
glatten Stamm. Ihre Augen suchten mit forderndem Blicke die seinen. Er
strich mit der feinen, braunen Hand darüber, als ob er den Schlaf daraus
wegwischten wollte und betrachtete aufmerksam den Baum.

»Es ist eine Grumbkow mit einer Muntos okuliert,« sagte er verwirrt ...
»merkwürdig, daß das Experiment gelungen ist.« ...

Sie sah ihn unverwandt und lächelnd an.

»Wir wollen über die Wiese in den Eichenkamp,« sagte sie dann mit
emporgehobener weisender Hand. Und dort gingen sie auf schmalem Pfad dicht
nebeneinander zu den Eichen, unter denen auf einer kleinen Bodenerhöhung
jene sagengeweihte mit ihrem mächtigen, knorrigen Stamm und dem harten,
kleinblätterigen Geäste stand.

»Sie wissen doch von dem heiligen Hain Romove und seiner Eiche?« fragte
sie.

Er schüttelte den Kopf, sagte dann doch »ja, ja« und sah ganz abwesend um
sich.

»So eine ist dies auch,« sagte das Fräulein von Terkuhn und lehnte sich an
den Stamm.

Und plötzlich faßte sie den Träumenden an beiden Schultern und drehte ihn
sich zu.

»Was denken Sie von alledem, junger Wachowski?« flüsterte sie.

Er stand blaß und mit wildschlagendem Pulse da. »Ich wag' es kaum -- ich
wag' es kaum« ... und doch wagte es sein verlangender Mund, den ihren zu
suchen. Aber da traf ihn das helle Funkeln der Raubtieraugen, und es war,
als ob die beiden Hände auf seinen Schultern ihn mit schwerem Gewicht zu
Boden drückten. Er fiel vor ihr nieder, seine gleitenden Arme umfaßten sie,
und er preßte den Kopf in ihren Schoß ...

Nach einem Augenblick, in Flammen verlebt, machte sie sich los und kniete
neben ihm nieder.

Ihr Kopf mit den leuchtenden Haaren lag nun an der alten Terkuhneiche, und
die breiten Lider deckten die gefährlichen Augen. Da war sie ein Weib wie
andere, und der junge, heiß Betörte fühlte mit einer Wonne ohnegleichen,
wie Scheu und Traumbefangenheit von ihm abfielen und daß er als Mann und
Herrscher dieses königliche Geschöpf in seine Arme zwingen konnte.

Er tat es, ohne daß sie ihm wehrte, und küßte sie stürmend und fordernd ...

-- -- In die außerweltliche Stille dieser Augenblicke tönte scharf und
mahnend die Vesperglocke vom Hof her.

»Steh auf,« sagte da Adalisa von Terkuhn. »Weißt du, daß du jetzt ein
Terkuhn werden wirst, -- einer von uns -- ein Terkuhn?« ...

Er folgte ihr benommen und mit schwerem Kopf. »Ich kann das alles noch gar
nicht glauben,« sagte er und fuhr in ihr schweres, an der rechten Seite
halb gelöstes Haar, wie um sich zu überzeugen, daß er nicht träume.

Sie schüttelte seine Hand ab, nahm sie aber wieder und hielt sie fest
während des ganzen Weges.

Er stammelte hier und da ein zärtliches Wort, aber er konnte das rechte,
das er suchte nicht finden. Sie achtete auch nicht darauf, aber von Zeit
zu Zeit blieb sie stehen und sah ihn mit großen, forschenden Blicken an. So
gingen sie zuletzt ganz schweigend denselben Weg zurück, den sie gekommen
waren.

Als sie den langen Lindengang mit den raschelnden Blättern wieder betraten,
sahen sie am Ende auf der Terrasse die Uniformen der beiden Herren und das
helle Kleid Fräulein Lenas.

Hans Wachowski zuckte zusammen und wollte unwillkürlich seine Hand lösen,
aber Adalisa von Terkuhn hielt sie fest.

Sie kamen näher und näher. Nun hatte man sie bemerkt.

»Ich glaube, Sie müssen Ihr Haar in Ordnung bringen,« sagte er, nach der
herabhängenden Strähne blickend, in der sich ein paar rote Herbstblättchen
verfangen hatten.

Sie lächelte hochmütig und ließ seine Hand endlich los.

»Ich zeige mich jedermann, wie ich bin -- du mußt's auch lernen,« sagte
sie.

Und dann zog sie ihn zu der kleinen Gruppe, die ihnen in schweigendem
Staunen entgegensah.

Nicht sie, aber die beiden Männer, von Wachowski mechanisch nach der
Vorschrift begrüßt, sahen verlegen zur Seite. Fräulein Lena trat sehr ernst
und blaß zu ihr und dem Vetter.

Das Fräulein von Terkuhn nahm keine Notiz davon. »Haben Sie sich Garten
und Hof angesehen, meine Herren?« fragte sie ein wenig von oben herab:
»Ich kann mich Ihnen leider heute nicht widmen. Ich bitte, Leutnant von
Wachowski ...«

Der blickte wie gebannt nach der Jugendfreundin.

»Gnädiges Fräulein, ich habe mit meinem Vetter noch zu sprechen, und bitte,
ihn mir für eine halbe Stunde zu überlassen ... Hans!« wandte sich Fräulein
Lena mit dringendem Ton an ihn.

»Später, Fräulein, später,« lächelte Adalisa von Terkuhn, das ganze Gesicht
in Schadenfreude getaucht. »Auf Wiedersehn!«

Und sie deutete Hans von Wachowski den Weg, den er zu nehmen hatte, und
ging hinter ihm langsam und großartig in ihrem zerdrückten Kleid und dem
hängenden Haar an den drei stumm Dastehenden vorbei. Durch den Festsaal
und über den Korridor zu einer niedrigen, breiten Tür, hinter der laute
Scheltworte hallten.

»Wohin führen Sie mich? -- Und meine Cousine Lena muß ich in der Tat
dringend sprechen,« sagte Wachowski endlich beklommen.

»Zu meinem Vater. Es ist eine leere Form, aber sie muß gewahrt werden.«

Sie klopfte. Der alte Diener öffnete, von einem Donnerwetter aus dem
Rollstuhl begleitet, und verschwand auf einen Wink seiner Herrin.

Die Luft war von Tabaksqualm so dick, daß man das Schimpfen hörte, dessen
Urheber aber nicht sah. Hans von Wachowski konnte in dem beizenden Rauch
die Augen kaum offen behalten. Seine Führerin schien daran gewöhnt. Sie zog
ihn zu dem Fensterplatz, an dem der alte Herr seine Kutscherpfeife rauchte.

»Vater, ich habe mich mit dem Herrn von Wachowski verlobt. Ich bringe dir
deinen Schwiegersohn, den zukünftigen Herrn von Terkuhn-Terkitten.«

Der Alte stieß ein grelles, dröhnendes Lachen aus.

»So ... so ... so ... Also gelungen ... also endlich. Na mir soll's recht
sein. Ich liebe zwar die edlen Pollen nicht --«

»Bitte, ich mache dir die Mitteilung, Vater -- eine Kritik wird nicht
verlangt.«

»Also meine untertänigste Gratulation zum Prinz-Gemahl. Seid fruchtbar
und mehret euch, meine Kinder, -- aber bringt mir keine Pollacken in die
Familie -- wie gesagt die edlen Pollen ...«

»Wir werden von der bevorstehenden Heirat noch heute Mitteilung machen ...«

»Nee, das werden wir nich,« grinste der Alte. »Das schickt sich nich
-- meine vieledle Tochter. Wir sind die Terkuhns auf Terkitten, und wir
greifen uns keinen Sommerleutnant zwischen Diner und Tee -- oder vielmehr,
wir tun's schon -- aber wir zeigen's nicht -- verstanden?«

Hans von Wachowski fuhr nun endlich aus seiner Benommenheit auf. »Fräulein
von Terkuhn, ich bin in einer unwürdigen Situation. Ich liebe Sie heiß,
aber von allem, was Sie sagen, von Heirat und Verlobung ist doch kein Wort
zwischen uns gefallen. Ich würde ja gar nicht wagen -- wie sollte ich? --
ich denke nicht ...«

»Das Jungchen will nicht,« höhnte der Alte. »Nutzt Ihnen nichts, mein
Sohnchen, wenn die Adalisa einmal zugreift, hält sie fest, da hilft kein
Wehren. Was wollen Sie auch? Erbarmen! Terkitten ist ein schönes Stück
Erde, und die Freier haben sich Dackelbeine danach gelaufen.«

»Ich muß bitten, mich zu entlassen,« sagte Hans Wachowski, zitternd vor
Scham und Ingrimm. »Ich habe keine Veranlassung zu dieser peinlichen Szene
gegeben. Ich kann nicht fassen, daß mir derartiges begegnen soll.«

Da langte, von blauem Rauch umflossen, die große, weiße Hand Adalisa
Terkuhns zu ihm herüber. Die eben noch scharfe Stimme sänftigte sich zu
einem Anflug von Zärtlichkeit.

»Was haben wir zwei mit Brutalitäten zu schaffen, die uns beschimpfen
sollen? Ich hab' dich als den besten, den lange Gesuchten, erkannt, gleich,
als du in den Saal tratst. Und an unserer Eiche haben wir uns verstanden
... Daß ich dich nicht aus Leichtsinn oder zum Zeitvertreib küßte -- das
wußtest du doch.«

Er schwieg.

Da neigte sich das zarte Gesicht mit dem leuchtenden Rothaar darüber zu
ihm. Ernst und feierlich küßte sie ihn auf den Mund und sagte:

»Hans Terkuhn, du sollst gesegnet sein und Segen bringen.«

Er fühlte die weichen Arme um sich, und die heiße Seligkeit von vorhin
stieg wieder in ihm hoch. Aber das Wort, das sich ihm entringen wollte,
blieb ungesprochen -- und was er mit Mühe unterdrückte, war -- ach wie
er sich schämte! -- ein bitterliches Schluchzen, wie manchmal in längst
vergangenen Schülerzeiten, wenn er im Ringkampf besiegt worden war und
Haltung hatte bewahren müssen.

»Donnerwetter!« sagte der Alte, »also es wird Ernst. Da will ich also
meinen Rat wiederholen, mit der Veröffentlichung bis nach dem Manöver zu
warten. Gründe sind klar.«

»Ja!« sagte Adalisa nach kurzem Bedenken. »In allseitigem Interesse ist
es vielleicht richtiger. Obgleich die Herren natürlich gemerkt haben, was
vorgegangen ist.«

»Und Lena?« brach nun Hans Wachowski los. »Was soll die denken? Ich weiß
nicht, wie ich der unter die Augen treten soll. Wir sind doch so gut
wie ...«

»Still!« unterbrach Adalisa gebieterisch. »Das werden wir in Ruhe
besprechen und drüben bei mir. Guten Abend, Vater« ...

»Sie scheinen ein anständiger Junge zu sein« -- knurrte der alte Terkuhn,
Wachowskis Hand pressend und ihn einen Augenblick zurückhaltend. »Wie
wär's, wenn Sie ausrissen? -- Ne -- ne -- ich meine man so -- ich bin
grundsätzlich gegen die Ehe -- gegen die Ehe.«

Die Tür schloß sich, und Hans Wachowski sah wirr und mit innerlichem
Zittern den nächsten Augenblicken entgegen. Wie ein Zuschauer und mit
gebundenen Händen stand er jetzt in demselben Gartensaal, in dem vor
wenigen Stunden dieses rothaarige Schicksal in sein friedliches Leben
gebrochen war -- und wußte nicht aus noch ein.

»Du mußt dich nicht fürchten, mein Freund,« sagte Adalisa von Terkuhn,
»weil das alles so schnell kommt. Ich kann keine schönen Worte finden, aber
ich möchte es dir gern erklären. Ich sehe doch, es ist immer nur der
_eine_ Augenblick der Entscheidung, der wichtig ist. Alles vorher -- die
Vorbereitungen -- sieh mal, das hält doch alles auf, und ist eigentlich
überflüssig, nicht? Komm, wir wollen uns hier zu meinen toten Vorfahren
setzen, das sind die wahren Verwandten, bald auch die deinen, da wollen wir
ordentlich besprechen, wie wir alles einrichten müssen.«

Und sie erzählte, -- und der übermäßige Eifer, mit dem sie sprach, belebte
wie ein feuriger Strom die stockenden und ungewandten Worte, -- daß
nach dem unheilbaren Erkranken ihres Vaters, als sie notgedrungen die
Generalvollmacht für die Verwaltung hatte bekommen müssen, der Rechtsanwalt
des Hauses das vielbesprochene Immediatgesuch an den Kaiser aufgesetzt
hatte, nach dem der Mann, den sie heiratete, den Namen Terkuhn führen
und das stolze Geschlecht vertreten sollte. Es war zustimmend beantwortet
worden. Sie sprach dann von geschäftlichen Dingen, von der Lebensarbeit,
die in ihrer Hand nun vor ihm lag, von dem erhöhten Ansehen, das sie Beide
dem alten Namen schaffen würden, von dem Glück, diesem und diesem, -- sie
deutete auf die rothaarigen Zuschauer an der Wand -- zu beweisen, daß die
Gegenwart doch auch wieder etwas wert sei, nachdem manch ein Terkuhn um die
Ecke gegangen wäre.

Sie sprach und sprach, und ihre leise, harte Stimme rüttelte an dem jungen
Zuhörer, der in bebender Haltlosigkeit dasaß.

»Nun sprich du, sag mir etwas Gutes, sag, wie du dich freust,« schloß
endlich das Fräulein von Terkuhn, und sah ihn mit einem ermunternden Blicke
an.

Er wollte auch etwas Kluges und Warmes sagen, aber es fiel ihm nichts ein.
So sah er bange vor sich hin und versuchte dann nach ihrer Hand zu fassen.

Sie gab sie ihm mit kräftigem Druck. »Also gute Gemeinschaft, Hans von
Wachowski.«

Da stammelte er endlich: »Ach von dem allen versteh ich nichts.« Und dann
brachen die angesammelten Worte sich Bahn, und er fuhr hastig fort: »Es
ist mir über den Kopf gekommen, ich weiß nicht, wie. Ich habe nicht einmal
geahnt, daß ich mich getrauen könnte, eine Frau wie Sie nur leise zu
berühren, und nun ...«

»Du mußt »du« sagen.« --

»Du, also du,« rief er nun aufspringend. »Dann laß uns nicht von allem
sprechen, was noch in weiter Ferne liegt, laß mich in deinem schönen Haar
wühlen, laß mich mich satt küssen, damit ich etwas Wirkliches habe. Ich bin
ja wild vor Verlangen nach dir, du Schöne, du -- du -- du --!! Dein Sklave
will ich ...«

»Sklave -- -- Sklave,« wiederholte sie mit ihrem geheimnisvollen Lächeln
und legte seine beiden heißen Hände an ihre Schläfen. »Also unbedingte
Ergebenheit -- ja, die erwarte ich.«

Ihn an den Handgelenken haltend, fühlte sie das Schlagen seiner Pulse, und
seine Jugend zitterte in ihr nach. Aber alles, was sie empfand, steigerte
sich zu einer heißen Gier, die Beute nun auch so in Sicherheit zu bringen,
daß nichts sie ihr mehr streitig machen konnte, und in diesem Gedanken ließ
sie die zuckenden Hände fallen und sagte in ihrem harten Alltagston:

»Wir wollen zunächst also Fräulein Aussig rufen und ihr mitteilen, was
wir beschlossen haben. Natürlich darf sie aber dem anderen Personal nichts
sagen.«

Das war nicht klug. Die Gluten erloschen bei dem kühlen Wort. Die eben
niedergerissenen Schranken richteten sich wieder auf, und hüben und drüben
standen nicht mehr der Liebe heischende Mann und das sich neigende Weib,
sondern die Gutsherrin und der an Gehorsam gewöhnte Inspektor, in dem sich
jetzt ein entschiedener Widerspruch regte.

»Ich muß meine Cousine allein sprechen!« sagte er. »Es geht auch nicht, daß
sie zum Personal gerechnet werden soll, -- nein, das geht ja alles nicht!«
rief er laut, »Fräulein von Terkuhn, das geht ja alles nicht.«

Ein heißer Wutschauer, mit brennender Scham gemischt, überflog Adalisa
von Terkuhn, aber noch hielt sie an sich. Der Jägerinstinkt gebot:
»Selbstbeherrschung und Ruhe.«

»Du hast mich wohl nicht ganz verstanden,« sagte sie leise. »Ich will doch
gerade deine Cousine als Verwandte begrüßen. Ich rufe sie jetzt.«

»Nein, nein,« bat Hans voll Pein und Ratlosigkeit. »Ich will das nicht.«

Aber da war es schon zu spät. Auf das zweimalige Glockenzeichen trat nach
leisem Klopfen Lena Aussig in den Saal.

Wie blaß und ernst sie in dem dämmerigen Herbstabendlicht dastand! Kein
Wort auf den weißen Lippen, die Augen gesenkt -- denn wie sollten sie das
Bild ertragen, das sich ihnen bot!

In einem der großen Fensterbogen standen die beiden eng aneinander
geschmiegten Gestalten. Das Fräulein von Terkuhn hatte den Kopf an die
Schulter von Hans Wachowski gelehnt.

Blutrote Weinranken schwankten hinter ihnen, und der rötliche Dunst der
vergehenden Herbstsonne war um sie wie ein Schimmer, der aus ihnen selbst
herausstrahlte. Zwei Glückliche, von roter Lebensglut umflossen. Das wollte
die arme Lena länger nicht sehen, und darum ging sie zur Tür zurück.

»Fräulein Lena, Sie sollen uns gratulieren. Ihr Vetter, Hans Wachowski, und
ich haben uns eben verlobt,« sagte das Fräulein von Terkuhn und trat mit
dem Mann an der Hand aus dem roten Licht.

Nun fand Lena Aussig ihre Haltung wieder. »Ach nein,« sagte sie. »Den
Glückwunsch wird mir Hans wohl ersparen. Er kann ihn auch nicht erwartet
haben. Guten Abend, gnädiges Fräulein ...«

Da riß Hans Wachowski sich von den Fingern los, die ihn umklammert hielten
und trat dicht zu dem jungen Mädchen hin. Ihm war in diesem Augenblick, als
müßte sie ihm zusprechen, ihn trösten, als wäre er ganz allein mit ihr, und
könnte ihr klagen und mit ihr beraten.

»Lena, Lena,« sagte er. »Ich hätte dich vorher sprechen müssen, vergib. Ich
bin ja selbst ganz wirr, sie hat mir alles über den Kopf weggenommen.«

Das Fräulein von Terkuhn richtete sich kampfbereit auf. Ihre Augen begannen
zu funkeln.

»Schweig,« rief sie heiser.

Aber in seiner großen Erregung sah und hörte Hans von Wachowski sie nicht.

»Lena, Lena,« sagte er mit einer Zärtlichkeit in der Stimme, von der
Fräulein von Terkuhn trotz des heißen Küssens nichts vernommen hatte, »sieh
mich nicht so an; es wird alles wieder gut.«

Nun geriet auch Lena außer sich.

»Was soll gut werden, nachdem du dich von dem Fräulein da hast fangen
lassen, wie?«

»Sie Unverschämte,« zischte das Fräulein von Terkuhn und sprang, von den
fliegenden Haaren umflattert, auf das hochaufgerichtete Mädchen zu. In
diesem Augenblick trafen sich ihre gelben, funkelnden Augen mit denen des
Junkers an der Wand, der seine kurbrandenburgische Fahne in steifer Hand
vorstreckte und starr und feierlich wie immer zusah, was die Terkuhns von
heute taten und trieben. Aus dem dunkeln Zugehörigkeitsgefühl zu diesem
toten Bundesgenossen schäumte eine rasende, besinnungslose Wut in Adalisa
von Terkuhn auf. -- Beutegier, Berechnung, Sinnesrausch -- alles ertrank
darin. Wie mit tausend Händen aller vergangenen Terkuhns regte es sich
in ihr, um die Plebejer da niederzureißen und zu vernichten. Rote Ströme
rauschten, wie aus Blut und Glut gemischt, und das Weib, das daraus
auftauchte, Spitzenfetzen in den ausgespreizten Armen, die Raubtieraugen
in übermenschlichem Glanz sprühend, fremde, unverständliche Töne schreiend,
war in seiner furchtbaren Schönheit etwas so entsetzliches, daß die beiden
vor ihr in Grauen und Furcht erstarrten.

Mechanisch trat Hans Wachowski vor seine Cousine, um sie vor dem zu
schützen, was kommen konnte, aber das Fräulein von Terkuhn rührte sich
nicht, nur ein fauchendes Hohnlachen löste den furchtbaren Krampf in ihr
und zwischen zusammenschlagenden Zähnen stieß sie ein »Hinaus« hervor.

»Geh,« sagte auch Hans Wachowski und schob die zitternde Lena durch die Tür
nach dem Korridor.

Er hatte sich auf sich selbst besonnen. Die fremde schöne Bestie, die da
noch zuckend und keuchend an ihrem Platz stand, hatte keine Gewalt mehr
über ihn. Zwar, der innerste kleine, feige Mensch in ihm zitterte, aber er
mußte tapfer sein und dann kam die Manneszucht ihm zu Hilfe. Er durfte sich
von diesem Weib nicht hinausweisen lassen.

Und so trat er dicht an sie heran.

»Verzeihung, gnädiges Fräulein« sagte er leise und heiser, »ich bitte um
die Erlaubnis, mich zu verabschieden.«

Es klang ihm selbst dünn und ärmlich, was er da sagte, -- so als ob er
gegen einen tosenden Wasserfall spräche. -- Das verächtliche Lachen, das
wie mit Peitschenhieben über ihn herfiel, befreite dann die unterdrückte
Empörung in ihm. »Sie ..., was denken Sie sich eigentlich? ..., Sie ...«

Er kam zu keinem weiteren Wort. Das Weib sah mit wilden Augen und
fletschenden Zähnen um sich und duckte sich wie zu einem Sprunge.

Unwillkürlich hielt er die Hand schützend vor sich. Da riß sie sie hinunter
und mit einem rauhen, stöhnenden Schrei schlug sie die spitzen Zähne in das
Handgelenk.

Und dann eine Sekunde tiefes Schweigen. Blaß und schlotternd richtete sie
sich auf und sah wie ein klagendes Tier nach dem Fahnenjunker an der Wand.

Der andere war nicht mehr da für sie. Sie bemerkte es nicht, daß er in
dumpfem Erstaunen die hervorquellenden Blutstropfen betrachtete, noch
einen scheuen Blick voller Grauen und Widerwillen auf sie warf und dann
hinausging.

Vor der Tür stand der alte Diener. Mit gesenktem Kopf auf den Zehenspitzen
ging er führend vor dem Leutnant her und geleitete ihn zu der Zimmertür des
Hauptmanns.

»Der Herr Hauptmann wünschen den Herrn Leutnant dringend zu sprechen.«

  -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Um 6½ Uhr war zum Aufbruch geblasen. Man hatte von den Herrschaften nichts
mehr gesehen und schon gestern Abend sich in formellster Weise von dem
alten Herrn verabschiedet -- mit Ausnahme des Leutnants von Wachowski, der
wegen starken Kopfwehs sein Zimmer nicht verlassen hatte. Die Damen waren
nicht mehr zum Vorschein gekommen. Fräulein Aussig war sogar plötzlich in
das nahe Städtchen gefahren und hatte ihren Vetter durch einen Brief über
diese schnelle Abreise verständigt.

Jetzt ritt man zu dreien, wie gestern morgen, aber in entgegengesetzter
Richtung davon. Leute und Pferde waren über die Chaussee gegangen, die drei
Herren nahmen den kürzeren Waldweg durch den Eichenkamp.

Wieder wie gestern, der Doktor mit Fips, dem Terrier, voran, die beiden
anderen schweigend hinterher.

Über Nacht hatte es einen Sturm gegeben. Die bunten und gelben Blätter
lagen über abgeschlagenen, dürren Ästen in Haufen auf dem Wege und
raschelten. Die Sonne war noch nicht durch, und der graue, tropfende
Herbstnebel verschleierte die Ferne und zog in Ballen und Streifen über die
rostroten Gebüsche und die kahlen Stämme. Hier und da hob er sich, und dann
sah man in einem Ausschnitt über Wiesen und Lichtungen weit in den Wald
hinein.

So geschah es jetzt eben. Und da stand mitten auf einem kahlen, nur von
kleinem Eichengestrüpp überwucherten Platz eine uralte Eiche mit weit
ausgreifendem, verknorrtem Geäst. Unten an dem mächtigen Stamme bewegte
sich etwas Graugrünes. Der Weg nahm die Richtung auf den Baum zu und führte
in etwa 20 Schritte Entfernung daran vorbei.

Der Leutnant sah auf und fuhr zusammen.

Auch der Doktor hielt und wartete.

»Vorsicht!« sagte er, »ich schlage vor, wir nehmen den Leutnant in die
Mitte und reiten da Schritt vorüber. Ich kann an der Spitze bleiben.«

Der Hauptmann hatte sich auch orientiert.

»Nein, Sie mit Fips dürfen nicht voran. Ich nehme die Tête.«

Und so geschah es. Ohne weitere Worte über die Gründe dieser Vorsicht,
in gespannter Aufmerksamkeit, mit weit geöffneten Augen zogen die Reiter
hintereinander langsam und lautlos den Weg hinunter, auf dem noch die
Schatten der Wünsche von gestern kauerten.

Einen Augenblick hob sich an dem zerklüfteten Stamm ein leuchtend roter
Fleck aus den grauen Nebelschleiern. Aber gerade als die drei an der
Wegbiegung anlangten, von der aus man den ganzen Platz hätte übersehen
können, jagte ein leiser Wind flatternde Nebelwolken aus dem Linksgebüsch
auf und verhüllte die alte Terkuhneiche und was darunter stand.

Es war nun nichts mehr zu sehen als ein paar kahle Arme des mächtigen
Baumes, und nichts zu hören, als der krächzende Schrei von streifenden
Krähen ...

Von dem Fräulein von Terkuhn war nichts mehr zu spüren ...



Nach zehn Jahren


Wie ein Fremder in eine fremde Stadt zog Doktor Wilhelm Born an einem
kühlen Septembernachmittag in Eyslau, seinem Geburtsnest, wieder ein.

Niemand erwartete ihn. Die wenigen Personen auf dem Bahnsteig sahen
ihm nach wie einem Unbekannten, der weiter nichts Auffälliges oder
Interessantes an sich hat, und auch er streifte sie mit den gleichgültig
übersehenden Blicken des Wandernden, der nur körperlich und ohne inneres
Aufmerken um sich schaut.

Dem kleinen, zerlumpten Jungen, dem er seinen vielgebrauchten Handkoffer
auflud, gab er an:

»Nach dem Grünen Kranz zur alten Frau Born.«

»Is kein Wirtshaus mehr,« sagte der Bursche.

»Weiß ich, vorwärts,« lautete der kurze Bescheid. Der Junge sah ihn groß
an und setzte sich in Trab. Er selbst ging langsam hinterher. Durch die
Bahnhofstraße mit ihrer kümmerlichen Kastanienallee, deren Bäume halb
entblättert und zerzaust in dem kalten Winde schwankten. Durch die
enge Badergasse, in der ein hoher Getreidespeicher mitten unter kleinen
Armeleutshäuschen aufragte. Dann kam der Markt, ausgestorben und kahl, ein
Tanzplatz für zusammengewirbelte Herbstblätter, und nun rechts hinauf die
Grüne Straße, aus der schon Dämmerungsschatten stiegen.

Die Häuser, dürftig und grau, standen ziemlich dicht einander gegenüber.
Sie waren alle gleichmäßig aufgebaut und getüncht und alle gleichmäßig
kahl. Das vierte hatte neben dem Hauseingang einen großen Torweg, der mit
einer schiefen, fahlroten Holztür verschlossen war.

Da blickte Doktor Born auf, lohnte seinen Kofferträger ab und ging durch
die Einfahrt auf den Hof. Hier, am Fenster der großen Stube, die den Anbau
ausfüllte, saß in einem braunen Großvaterstuhl die alte Frau Born. Sie
hatte die Brille auf der Nase und das Strickzeug in den verkrümmten
Gichthänden. Ein Ausdruck von Zufriedenheit lag auf dem alten Gesicht
... Nun hob sie es langsam und gewahrte den Draußenstehenden. Verwundern,
Erschrecken, Erkennen flogen darüber hin, und zuletzt, wie ein
aufflackerndes Licht, ein frohes Lächeln.

Da ließ Doktor Born den Koffer fallen und lief in die dämmerige Stube
hinein. Er nahm die alte Frau an seine Brust und drückte sie fest an sich.

»Gott sei Dank, daß du noch da bist, Mutter!«

»Du -- du --« sagte sie, sich freimachend. »Beinahe hätt' ich dich nicht
erkannt ... Herrgott, ich dacht' ja, der Vater stand draußen ... Und schon
graue Haare? ... Und nun wirst du hier zu Hause doktern? Jung', Jung' ...
zehn Jahre! ... Wir dachten, du wolltst erst am Freitag kommen. Zu tun
wirst du schon haben. Der alte Sanitätsrat hatte ja die meisten ... Zu dem
Doktor Heymann gehn sie ja nicht. Bloß die paar Kathol'schen und die Juden
... Konnt' das nicht der Vater erlebt haben? ... Der Wilhelm! Und hier bei
uns Doktor!« So und mehr schwatzte das alte Weibchen und lief dabei in der
Stube herum und rückte hier an den birkenen Stühlen und glättete dort das
gehäkelte Deckchen auf der Kommode und blieb zuletzt vor dem Sohn stehen,
der sich in den Großvaterstuhl gedrückt hatte.

»Ja, Mutter, da wären wir also zu Hause ... Gut gegangen ist mir's gerade
nicht. Geschuftet hab' ich mir das Fleisch von den Knochen.« Er streckte
einen vermagerten Arm vor. »Jünger bin ich auch nicht geworden, und
herausgekommen ist gar nichts dabei.«

»Na, jetzt bist du doch in schönem Amt und Brot,« sagte die Mutter. »Und
hier legen sie ja alle was zurück. Essen mußt du bei uns, wenn du vorlieb
nimmst, Wilhelm ... Wohnen? Das wird hernach ja wohl nicht gehn.«

»Nein, das ist schon alles abgemacht, Mutter. Als mir der Sanitätsrat
schrieb, daß er fortgehen wolle, und mir seine Praxis anbot, hat er mir
auch vorgeschlagen, seine Wohnung zum Teil zu übernehmen. Das ist bequem
und gut so ...«

»Also da ... am Markt? Beim Kürschner Bartke? ... ja, ja ...«

Die blöden alten Augen wurden vor Stolz naß. Sie trocknete sie mit dem
Handrücken ... »Ja, ich dacht', du wollt'st schreiben, wenn du kommst ...
Aber deine Stube haben wir schon zurecht ... Betten bezogen und alles. Die
Käthe sagte gleich: »Der kommt ungemeldet.«

Der Doktor stand auf und ging eine Weile schweigend im Zimmer umher. »Noch
der alte Flickenteppich,« sagte er dann. »An dem hab' ich nähen geholfen
... Ja, die Käthe ist nun also ganz bei dir, schreibst du? ...«

Die Mutter nickte: »Ja, gottlob ... Es bringt sich doch alles ein ... Was
hat der Vater damals geredet und geredet ... weißt du noch? Wie der Kantor
Müller starb, und die Marjell, die Käthe, mitten im Lehrerinlernen, und
nichts mehr da, daß sie's zu Ende bringen konnt' ... Na, und da sagt' ich
zu Vater ... Nein, Born, sagt' ich, das Kind übernehm' ich, und wenn ich's
mir am Mund absparen sollte ... Und ist es nun nicht gut für mich, daß ich
sie auf meine alten Tage hab'? ... Ich brauch' mich nun nicht mehr viel
zu rühren ... das heißt, ihr ist es auch wohl ... Sie hat sich mit ihrem
kranken Herz schändlich abrackern müssen, wie sie noch Gouvernante war ...
Gottchen, die weiß ja noch nichts! Herrje, ich hol' sie schon.«

Der Doktor strich in Gedanken seinen Bart.

»Wo ist sie denn?«

»In der alten Kontorstube ... Da wohnt sie jetzt wieder ... Ich geh'
schon ...«

»Laß, Mutter, ich werde selbst ...«

Die Mutter nickte zufrieden.

»Ja, ja ... Ich mach' derweil die Lampe zurecht, daß ich dich doch ganz zu
sehn krieg', du ...«

Draußen auf dem dunkeln Hausflur blieb Wilhelm Born einen Augenblick
stehen. Dann schüttelte er sich und machte schnell, ohne anzuklopfen, die
Tür rechts auf.

In dem einfenstrigen Zimmerchen war noch bleichgraues Taglicht. Neben
der andern Tür, die auf die Einfahrt hinausführte, vor der alten Kommode,
kniete eine dunkelgekleidete Frau.

Bei dem Geräusch des Eintretenden wandte sie sich um und sprang auf. Ein
jähes Zucken lief über ihr Gesicht. In den Augen, die unter vorstehenden
Stirnbogen und dichten schwarzen Brauen versteckt lagen, brannte eine hohe
Erregung auf.

Sie streckte die Hände aus und ließ sie wieder sinken ...

»Wilhelm ...«

»Sieh mal, du erkennst mich also gleich?« sagte er mit nicht ganz freiem
Ton. »Und ich hätte an dir ruhig vorbeigehn können ... Du mußt damals doch
noch ein Kind gewesen sein ... Jetzt bist du so groß wie ich ...«

Sie richtete sich höher auf und sagte nichts. Die Hände auf dem Rücken sah
sie ihn voll an.

Unter seinen matt neugierigen Blicken verfinsterte sich ihr blasses,
großzügiges Gesicht. Die Augen funkelten, der üppige Mund zog sich
zusammen, und der Atem drängte sich gepreßt über die Lippen.

Auch sein Ausdruck veränderte sich. Statt des verlegen freundlichen
Lächelns, das durch tiefe Kummerfalten melancholisch eingeschränkt war,
überzog zuletzt eine gemachte verletzende Gleichgültigkeit sein hageres
Gesicht, und seine scharfen, kleinen Augen hefteten sich fest an die ihren.

So standen sie sekundenlang ohne ein Wort.

Dann trat der Doktor einen Schritt näher.

»Sag mal, Käthe, was soll das eigentlich heißen? Wir starren uns an wie
ein paar Feinde, und waren doch gute Kameraden ... Ich komme ganz
friedlich ...«

»Nach zehn Jahren,« stieß sie höhnisch hervor. »Und was für Jahren!«

»Ja,« sagte er, »Käthe, das ist nun mal nicht anders im Leben. Wir haben
eine schöne Zeit zusammen verlebt -- der Sommer _war_ schön, wir beide
jung, und gaben uns gegenseitig, was wir hatten.«

»Du hast mein Leben schimpfiert -- ich war siebzehn ...«

Wilhelm Born zuckte die Achseln.

»Und ich vierundzwanzig ... Mein Gott, Käthe, was soll es dir geschadet
haben, daß wir toll und voll glücklich waren? ...«

»Gebrandmarkt hat es mich ... körperlich, seelisch verelendet ... Ein Wort
von dir, _ein_ gutes Wort in der ersten gräßlichen Zeit, und alles wäre
anders gewesen ... Aber so ... Als ich nach den Sommerferien damals wieder
in die Selekta kam, elend zum Sterben -- und wartete und wartete ...«

»Herrgott, Käthe, das ist eine Ewigkeit her. Und du hast doch das
wirkliche Leben kennen gelernt und solltest dich jetzt nicht mit kindischen
Sentimentalitäten abgeben ... Außerdem hat's nie einer geahnt ...«

»Nein, ich habe mich immer nur vor mir allein zu schämen gehabt, daß ich
dem ersten, der kam, alles hingeworfen habe, Jugend und Gesundheit und
alles ... Einem, der es hinterher nicht einmal der Mühe für wert hielt,
zu fragen ... nachzusehen ... o pfui, pfui ... das war roh ... das war
schlecht ... das soll dir auf der Seele brennen ... das soll ...«

»Sei still!« befahl er. »Was verlangtest du denn eigentlich? ... Hast wohl
gar, trotz der Abrede, noch an Heiraten gedacht? ... Nein, mein Kind, dazu
langte es nicht ... Nicht die Kraft und nicht die Neigung ... Auf mich
wartete nach ein paar Feierstunden die schwere Arbeit ...«

»Ich hasse dich, ich verabscheue dich,« sagte sie tonlos.

»So?! Weshalb kamst du denn gerade zu meiner Mutter? ... Die Welt ist
doch groß genug. Und du bist jung und konntest dich auch anderswo nützlich
machen. Nützlicher als hier ...«

»Wilhelm,« schrie sie und fuhr sich mit beiden Händen durch die schwarzen
Haare, »wo sollte ich denn hin? Ich habe niemand, und ich bin krank ...
Acht Jahre von Haus zu Haus gegangen, und immer mehr arbeiten müssen, als
ich konnte ... Meine letzte Stelle wurde mir gekündigt. Da trieb mich die
Not her, Wilhelm. Not und Krankheit ... Und wer konnte denn ahnen, daß du
auf immer herkommen wolltest?«

»Ja, das konnte keiner ahnen,« sagte er und setzte sich auf den Stuhl am
Fenster. »Wenn mir einer vor zehn Jahren gesagt hätte, daß ich in diesem
verwünschten Nest einmal die Praxis vom alten Burkhard übernehmen würde,
dem hätte ich ins Gesicht gelacht ... Und nun sitzt man _doch_ da ...«

Er zog eines der fahlen Schnurrbartenden durch die Lippen und brütete vor
sich hin.

»Warum denn? Warum bist du nicht in Wien geblieben?« fragte Käthe mit
demselben Widerwillen im Ton.

»Ach ... warum soll ich's übrigens auch nicht aussprechen ... Es ist mir
schlecht gegangen, Käthe ... Ich habe mich -- nun, sagen wir unter uns --
etwas blamiert.«

Er lachte voll Bitterkeit.

Käthe kam einen Schritt näher und sah ihn musternd an.

»Ja, man merkt's ... Du hast viel durchgemacht?« sagte sie hart, aber doch
voll auffordernder Teilnahme. »Du bist wohl irgendwie ins Unglück geraten,
wie es ja euch Ärzten durch einen Zufall passieren kann? Wohl gar mit dem
Staatsanwalt?«

Er stand auf.

»Unsinn ... Es ist eine elende Sache, an der man erstickt ...«

»So sag's doch.«

»Warum nicht? -- ja doch,« sagte er gleichgültig. »Es tut sogar gut, einmal
so etwas hinauszuschreien, zur Abwechslung einmal nicht bloß gegen den
Wind. Außerdem wußtest du auch schon vor Jahren, aus meiner letzten
Studentenzeit, daß ich hinter einer neuen Entdeckung herjagte --
Adernerkrankungen ... weißt du noch?«

Ihr Gesicht verzog sich in Bitterkeit.

»Höhne nur, höhne! Das schadet nichts. Wenn man Tag für Tag und Nacht für
Nacht auf sich selber herumhaut, müssen ein paar Nadelstiche von einer
boshaften Frau ja eine wahre Erleichterung sein.«

Nun sah sie ihn wirklich böse an.

Er aber warf die Lippen geringschätzig auf.

»Ja, vor fünf Jahren war meine große Idee in der Theorie da ... Eine
neue Kontraktionsmethode, teils durch chemische ... doch -- das ist ja
gleichgültig -- etwas Neues, Großes war es ... Ein weites Feld abgerungen,
vielen Verlorenen eine Hilfe -- und für einen selbst der Gipfel ... Ich
brauchte Experimente -- das Glück verschaffte mir die Gelegenheit. Ich
kam in die Abteilung für innere Krankheiten zu Frotha, unbesoldet ... Die
Privatpraxis, die sich zugefunden hatte, gab ich auf ... Ich habe unter
Schwierigkeiten ... ach, das läßt sich ja gar nicht erzählen -- so
kaltblütig ... Aber die Entbehrungen, diese Intrigen, Verantwortung,
Verschleierung bei den Experimenten ...«

»Auf so ein paar Menschenleben kam es dir dabei natürlich nicht an?« fragte
sie höhnisch.

»Nicht im geringsten,« gab er ebenso zurück. »Nein, nein« -- er richtete
sich auf -- »in ehrlichem Ernst gesprochen -- es kam mir _nicht_ darauf
an ... Ich habe die Sterbegeschichten von fünf Menschen -- wertloses und
verlorenes Menschenmaterial übrigens -- ja, die hab ich verwertet ... Unter
Blutschwitzen hab' ich also mein Buch geschrieben ... der letzte Strich
fertig -- alles zum Druck fertig -- auch der Verleger da -- und ich
betrunken vor Freude -- da ...«

Er ballte die Fäuste gegen die Schläfen ...

»Was -- was?«

»Da kommt dieser verfluchte Italiener, der Kamazotti, Und bringt seine
Abhandlung über meine Materie. Schon fertig -- Und meine sollte erst
gedruckt werden ... Aber nun das Schlimmste ... Ich lese -- und lese -- mit
einem Teil meiner Experimente das Gegenteil meiner Aufstellungen bewiesen
-- und -- der Hund hat recht ... Der Hund hat recht ...«

Er schlug mit der umgekehrten Hand auf das Fensterbrett und sah abwesend
vor sich hin.

Käthe warf den Kopf zurück.

»Wenn dein Buch noch nicht gedruckt war, ahnt ja niemand ...«

»Schöner Trost ... Und meine verlorene Arbeit? Meine Hoffnungen? Mein
verlorenes Selbstvertrauen? ... Meinst du, wenn ich davon noch einen Funken
übrig hätte, säße ich hier auf dem Sande?«

Käthe trat dicht vor ihn hin.

»Und _meine_ verlorene Jugend? und meine Gesundheit? Mein verlorenes
Selbstgefühl? -- Siehst du!«

Er schob sie von sich.

»Ja, so,« sagte er. »Ich vergesse ja, wem ich von meinem Unglück erzähle
... Du bist ja selbst so voll von deinem eigenen eingebildeten, und ich
sehe ... ja, wahrhaftig ... das ist ja Schadenfreude ... Pfui, Käthe -- laß
mich hinaus ... Und ein für allemal ... wir sehen uns ja ab und zu -- wenn
du hierbleibst -- bilde dir nicht ein, daß wir noch einmal von intimeren
Dingen reden werden. Und mäßige deine Blicke -- deinen Ton -- sonst --«

»Sonst?« fragte sie.

»Ach nichts --« sagte er widerwillig. »Mir ist ja alles egal. Ich habe den
Kopf voll von anderen Sachen ... Also tu und mach, was du willst --
aber mich laß in Frieden mit Vorwürfen und Erinnerungen und solchen
Geschichten.«

Sie biß die Zähne zusammen und schlug die Augen nieder.

Er sah noch einmal nach ihr. Sie stand in dem Fensterrahmen. Ihre hohe
Gestalt in dem schwarzen Kleide schien das kümmerliche Dämmerlicht, das
vorher noch die Stube gefüllt hatte, aufgeschluckt zu haben. Es war fast
dunkel.

Einen Augenblick blieb der Doktor noch stehen. Als sie kein Wort sagte,
ging er hinaus.

In der Wohnstube jenseits des Korridors brannte die Lampe. Die Mutter
hantierte in der Küche nebenan.

»Ich geh' noch fort,« rief er ihr zu, »und mach dir keine Umstände mit mir,
Mutterchen. Verwöhnt bin ich nicht ...«

Die alte Frau kam doch angelaufen. Sie hatte die Küchenlampe in der Hand,
hob sie hoch und besah ihn.

»Und das is mein Kind ... mein Jung' ...«

»Ja, das ist dein Jung'. Und nun setz mal die Küchenlampe hin und nimm
seinen alten, häßlichen Kopf in deine Hände und wünsch ... Ach -- das ist
ja alles gräßlicher, sentimentaler Unsinn ... Guten Abend! Und wenn ich
wiederkomme, Mutter, laß mich still in dem alten Großvaterstuhl sitzen ...
Und allein wollen wir zwei den ersten Abend sein, ohne Fremde, ja?«

Damit lief er hinaus.

Und lief durch das Städtchen. Vorbei an der verwitterten Mauer des
Amtshofes, die ehemals den Zuggraben der alten Ritterburg eingefaßt hatte,
den Landweg zur Oberförsterei hinunter und dann entlang an den weiten
Mooren, aus denen raschelnde Schilfbüschel aufstiegen, über die verspätete
Wasservögel geräuschlos strichen, deren jenseitige Ufer schwarzes
Kieferngestrüpp, zwerghaft und häßlich in den Umrissen, abgrenzte.

Trostlos, einsam, reizlos ... Ein dunkles Bild, von laufenden Abendschatten
überhuscht, mit gelben, verblassenden Lichtern am Horizont spärlich
gefleckt, eine Welt verkörpernd, aus der Freude, Hoffnung und
Vorwärtsstreben gewichen sind.

Dieses Bild begleitete den Doktor Born, der frierend den Fußweg am Ufer
entlang ging, der scheuen, widerwilligen Blicks aufsog, was sich um ihn
ausbreitete und der zuletzt auf dem Rückwege, als es immer dunkler und
stiller wurde, die Fäuste ballte und abgebrochene Worte vor sich hin
sprach. Als er wieder in die Stadt einbog, waren schon die Laternen
angesteckt. Sie brannten trübe und in langen Abständen, und alles sah
weiter und größer aus in diesem ungewissen Licht.

Auch sein Elternhaus. Die Fenster darin waren dunkel, nur aus dem der alten
Kontorstube fiel ein gelbes Lichtherz durch den Ausschnitt der Holzläden
auf die Straße.

In Gedanken starrte er darauf hin, dann ging er zum Torweg und machte die
Tür auf.

Die Einfahrt war ganz dunkel. Auch die Hoftür schien geschlossen, nur ein
paar trübgraue Streifen fielen als einzige Lichter durch ihre Ritzen in den
Raum.

Doktor Born tastete die Wand entlang.

Da drängte sich etwas an ihn. Er fuhr zurück. Da schlangen sich ein paar
Arme um ihn, fest und weich.

»Wer? ... Käthe?« ...

»Wilhelm, ja, ich bin es ... Wilhelm, ich sah dir vorhin nach, als du über
die Straße gingst. So elend -- so elend ... Ach ... Wilhelm -- da hab' ich
auf dich gewartet ... Du kamst ja immer durch die Einfahrt ...«

»Was willst du?« ...

Die Arme schlangen sich fester um ihn.

»Armer Wilhelm ... armer Wilhelm ...«

Sein Gesicht wurde von ihren Tränen naß.

»Laß mich doch, Käthe,« sagte er in schwacher Abwehr.

»Nein, Wilhelm -- nein ... Hier, im Dunkeln muß ich's dir sagen ... Ich
habe dich ja lieb wie damals -- nein, tausendmal mehr ... Ich hab' ja
all diese zehn Jahre nur an dich gedacht ... Tag und Nacht ... Und immer
gewartet ... Und vorhin, in die Arme wollt' ich dir fliegen ... aber du
... Und jetzt seh' ich, wie du dich grämst ... Da drängt sich etwas aus mir
heraus ... Und für mich will ich nichts -- gar nichts ... nein ... nein
... Aber das Herz möcht' ich mir ausreißen und dir hinhalten ... nur daß du
wieder lachst und arbeitest.«

Er schüttelte sie von sich.

»Laß mich, Käthe ...«

Sie hielt ihn fest.

»Laß mich ... wir haben zusammen nichts mehr ... Was fehlt dir? -- So laß
mich doch ...«

»Nein ... Nein.« Sie zog ihn mit sich.

»Sieh diese Tür ... vor zehn Jahren hast du den Pfahl da« -- sie bückte
sich und zog einen anscheinend fest eingerammten Pfahl aus dem Boden vor
der Tür, an der sie standen -- »den hast du damals losgemacht, damit du
unbemerkt zu mir herein konntest ... Weißt du nicht mehr?«

»Ich weiß schon,« sagte er fröstelnd.

Sie stieß die Tür auf. Die führte in die Kontorstube, ihre Stube.

Beide standen nun im hellen Lampenlicht.

Sie ein glühendes, schönes Weib, sehnsüchtige Liebe, heißes Mitleid in den
Augen -- er ein grämlicher, alternder, verbitterter Mann, lichtscheu
nach der dunkelsten Ecke der Einfahrt blickend, als ob er sich vor dem
Überschwall an Licht und Liebe dorthin verkriechen wollte.

Aber schon hatte sie ihn in das Zimmer gezogen, aus dem er vor ein paar
Stunden zornig und widerwillig hinausgegangen war.

»Was bedeutet das alles? ... Was soll ich hier?« fuhr er sie an.

»Du sollst an die Sommernächte denken,« sagte sie leise und demütig, »in
denen wir da auf dem Bettrand saßen, Hand in Hand ... oder dein Kopf an
meiner Brust ... Und an die schöne, gute Welt von damals sollst du denken
-- und dann ...« sie breitete die Arme aus -- »dann sollst du wiederkommen
und hier -- hier weinen -- weil alles so anders ist, als man's sich gedacht
hat -- und dann ...«

»Liebes Kind,« sagte er und sah nach der Tür, »quäl dich nicht und quäl
mich nicht ... Was du da sagst -- --«

»Hör nicht auf das, was ich sage,« unterbrach sie ihn hastig. »Ich hab' ja
solche Herzensangst, daß ich nicht das Richtige finde -- denn _wenn_
ich das fände, dann mußt du ja kommen und bleiben ... Es ist ja
menschenunmöglich ... Sieh, ich will ja nur dasein, wenn du keine bessere
hast. Ich bin bloß für dich da ... Leib ... Seele ... jeder Gedanke ... all
die zehn Jahre ... Und jetzt, wo ich dich wieder hier hab' ... Komm, komm
... Geh nicht weg ohne ein gutes Wort ... Du nimmst mein Leben mit, wenn du
gehst -- mit so kalten Augen -- vielleicht böse wegen vorhin ... Ach nein
... das war ja ...«

Glühend, schwer atmend, mit angstvoll bettelnden Augen sah sie ihm ins
Gesicht.

Aber er streckte abwehrend die Hände aus.

»Du bist sehr aufgeregt, Käthe,« sagte er mit erzwungener Ruhe. »Du mußt
dich zusammennehmen. Ich kann da nicht mit, und ich will auch nicht ...«

»Du willst auch nicht ...« sagte sie nach.

Und die Glut aus ihrem Gesicht wich, die Spannung der Glieder ließ nach,
und eine plötzliche Erschöpfung machte sie schlaff und weich.

Sie schleppte sich die zwei Schritte zum Bettrand, setzte sich darauf und
sah mit verblaßten Augen zu ihm auf.

»Geh nun,« sagte sie matt.

Er reichte seine Hand herüber. Sie nahm sie nicht.

»Nein, Käthe -- ein für allemal -- mir ist die Lust an Aufregungen solcher
Art längst vergangen, wie die Lust zur Liebe überhaupt ... Ich kann dich
nicht brauchen -- ich kann keine brauchen. Willst du das nicht begreifen,
dann können wir eben nicht zusammen hier hausen -- und es ist besser --«

»Ich gehe,« sagte sie tonlos.

»Versuch's mit dem Bleiben, Käthe ... Du überwindest es schon ... Es ist ja
auch alles nicht wahr ... Einbildung ... Vorhin warst du ganz vernünftig.
Quäl uns nun nicht mehr.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Gute Nacht, Käthe ... Komm nicht mehr herüber ... Wir sind beide wohl müde
... Gute Nacht!« ...

»Du sagst das so weich und gut ... Noch einmal ...« Sie machte die Augen
zu.

»Gute Nacht,« sagte er und ging.

Eine Stunde wohl nach dem einfachen Abendbrot saß er erschöpft bei der
Mutter, die ihm tausenderlei erzählte, was in der langen Zeit im Ort
vorgegangen war. Dann suchte er seine alte Studentenstube im Giebel auf und
streckte sich in den dicken, lavendelduftenden Federbetten.

Einmal, schon halb im Schlaf, sprang er auf. Er hatte vergessen, die Tür
zuzuschließen.

       *       *       *       *       *

Am nächsten Morgen weckte ihn lautes Klopfen.

»Wilhelm! Wilhelm!«

Es war die Mutter.

»Komm doch schnell, die Käthe macht gar nicht auf. Am End' ist ihr was
passiert. Ich hab' schon solche Angst ...«

In wenigen Augenblicken war er fertig und stand mit der Mutter an Käthens
Stubentür.

Alles Rütteln vergeblich.

»Hol' ein Hackmesser ... oder Beil.«

Die Alte lief in die Küche.

Er rüttelte noch einmal, da gab das Schloß nach, die Tür wich.

Hoch oben, der Tür gegenüber, die zur Einfahrt führte, baumelte ein Strick,
ein umgefallener Stuhl lag davor.

Er sprang vorwärts.

An dem rechten Türpfosten zusammengesunken, augenscheinlich vom Stuhl
herabgestürzt, ehe sie ihren Vorsatz ausführen konnte, so fand er Käthe.
Sie war nur mit ihrem langen Nachthemde bekleidet, der Kopf hing über die
Brust, und die langen schwarzen Zöpfe fielen auf den Boden.

Er riß hastig den Strick herab, dann hob er sie auf und schleppte sie in
das Bett, das noch die Eindrücke ihres Körpers zeigte.

»Starken Kaffee ... Äther,« rief er angstvoll der Mutter zu, die eintrat
und aufschreiend davonlief.

Und dann, allein mit ihr, stieß er die Läden auf und begann zu arbeiten ...
unaufhörlich ... die üblichen Bewegungen mit ihren Armen, die sich gestern
noch so fest um seinen Hals geschlungen hatten und nun schon kalt waren.

Vergebens ... Das Herz schlug längst nicht mehr. Der Tod hatte schon hinter
ihr gestanden, als sie ihn rief ...

Schwindlig richtete Wilhelm Born sich endlich auf. Eine kümmerliche, gelbe
Herbstsonnenwelle schlug eben ins Zimmer.

Da sah er, wie die offenen, gebrochenen Augen klagend aufstarrten, wie die
Brauen schmerzvoll zusammengezogen waren und wie ein krampfiger Leidenszug
den erblaßten Mund umschloß.

Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er griff nach der Decke.

Aber wie seine Blicke noch einmal diesen blühenden Menschenleib umspannten,
der nur für ihn auf der Welt gewesen war -- »Leib -- Seele -- jeder
Gedanke« -- da zwang es ihn plötzlich zu Boden.

Er legte den Kopf auf die erkaltete Brust. Erlösende Schauer
leidenschaftlicher Sehnsucht überrieselten ihn ...

»Käthe -- wach auf -- Käthe ... Käthe!«



Der leuchtende Tag


Herr und Frau Doktor Lohrer bildeten in dem locker zusammengefügten Teil
der Berliner Gesellschaft, der aus einem fließenden Durcheinander von
öffentlichen vornehmen Festen und Wohltätigkeitsvorstellungen besteht --
mit ein wenig militärischem Einschlag und, wenn das Glück günstig ist, auch
einmal unter hoher offizieller Protektion --, etwas wie einen festen Punkt.

Das elegante Paar mit seiner unbeirrten Sicherheit des Auftretens, vor
allem mit der überzarten, fremdartig dunklen Schönheit der Frau, gab jeder
geselligen Zusammenkunft Schmuck und Stil.

Die jungen, noch ungewandten Frauen und Jungfräulein studierten sogar
Haltung und Toilette an Frau Erika Lohrer. Sie achteten darauf, wen
sie begrüßte und mit welcher Abtönung sie das tat. Es war immer das
Vorgeschriebene und der augenblicklichen Lage genau Angemessene -- und das,
was daran fehlte, das Persönliche oder gar Herzliche, konnte ja immer und
nach Temperament oder Liebenswürdigkeit hinzugefügt werden.

Denn daß man etwas wie einen eigenen Ton in dem tadellosen und anmutigen
Gebaren der schönen Frau vermißte, war nicht zu leugnen.

Niemand konnte sie sich mit verschwiegen oder heiß strömenden Tränen oder
mit lautem, glücklichem Lachen vorstellen. Sie lächelte wohl, und bei
gebotener Gelegenheit sah man es auch in ihren schönen, braunen Augen
feucht aufschimmern, aber der Mangel an innerer Beteiligung fiel selbst
in einer Gesellschaft auf, deren betontes Ziel es ist, sich in schönem
Gleichmaß an der Oberfläche zu halten, Tiefen im eigenen Leben nicht ahnen
zu lassen und in dem anderer nicht zu bemerken.

Dabei wußte man durch Verbindungen mit der thüringischen Fabrikstadt, in
der die großen Farbwerke der Familie Lohrer lagen und die auch bis vor
kurzer Zeit ihr Wohnort gewesen war, daß diese Frau, die in schönen
Kleidern durch alle Fährlichkeiten des Lebens zu steuern, Gefühlen und
Irrungen still und freundlich auszuweichen schien, durchaus nicht ohne
Schicksalsschläge ihren äußerlich so glatten Weg hatte gehen dürfen.

Frau Erika stammte aus einer ostpreußischen Mittelstadt, in der ihr Vater,
ein bekannter und sehr beschäftigter Rechtsanwalt, ein für die dortigen
Verhältnisse herausfordernd großes Leben geführt hatte. Von der jungen, zu
holdseliger Schönheit erblühten Tochter wußte man zu erzählen, daß sie eine
voreilige Verlobung mit einem Ulanenoffizier eingegangen war, bei der es
aus Vermögensrücksichten zu keiner Heirat habe kommen können. Die Eltern
hatten sie, damit sie dieses Erlebnis leichter verwinden lerne, zu den
reichen Verwandten Lohrer nach Thüringen geschickt. Während sie dort war,
nahm die falsche Herrlichkeit des Vaterhauses ein Ende mit Schrecken.

Justizrat Lollin und seine Gattin waren eines schönen Tages tot, an
Kohlendunst erstickt, in ihren Betten gefunden worden. Niemand hatte
an einen unglücklichen Zufall geglaubt, berechtigte Gerüchte über die
Notwendigkeit, sich durch den Tod vor Not und Schande zu retten, waren
aufgetaucht, aber auch sofort wieder verstummt. Denn der junge Doktor
Lohrer war erschienen, hatte die Sichtung des Nachlasses in die Hand
genommen und alles so geordnet, daß niemand im geringsten geschädigt worden
war.

Die junge Erika hatte Eltern und Heimat nie wiedergesehen. Sie war im
Lohrerschen Hause geblieben und nicht lange nach dem schrecklichen Ereignis
die vielbeneidete Frau des Doktor Lovis Lohrer geworden.

Ein furchtbarer Schlag hatte sie einige Jahre später allerdings auch noch
getroffen. Ihr einziges Kind, ein schöner blondlockiger Junge, natürlich
Abgott der Eltern, war bei einer Autofahrt mit der Bonne zusammen
verunglückt.

Man hörte, daß Doktor Lohrer verhältnismäßig schwerer daran getragen
habe als Frau Erika, bei deren zarter Gesundheit auf keinen Ersatz des
Verlorenen zu rechnen war. Schließlich aber -- überwunden hatten es nun
wohl beide in ihrem ruhelosen Berliner Leben. Was Frau Erika vielleicht als
sichtbare Spur des Erlebten zurückbehalten hatte, eine weiße Strähne, die
seltsam in das schwarze Haar hineingewachsen war, diente noch dazu, den
Reiz ihrer Erscheinung zu erhöhen.

Ihr Gatte, der in Fragen der Ästhetik auch bei Übelwollenden als Autorität
galt, liebte und bewunderte diese Locke sehr und überwachte selbst die
Unordnung der Frisur, wenn er mit seiner Frau »Staat machen« wollte, wie er
lachend oder vielmehr lächelnd erzählte.

Laut war nämlich auch Doktor Lohrer selten oder nie in seinen Meinungs- und
Gefühlsäußerungen. Aber bei ihm fühlte man zuweilen den Zwang, den er sich
antat, um so unpersönlich und korrekt zu erscheinen, und wer ernsthaft
mit ihm zu tun hatte, wußte, daß diese übergroße, schmale, etwas schlappe
Gestalt sich plötzlich, wie von Federn gestrafft, aufrichten und daß der
gleichmütig verbindliche Ausdruck des glattrasierten Fuchsgesichts sich
je nach Veranlassung in einen beängstigend energischen oder abschreckend
zynischen verwandeln konnte.

Im allgemeinen stand er der Welt, in die er sich verpflanzt hatte, näher
als seine Frau, vielleicht gerade durch die hervorbrechenden kleinen
Schwächen, die man ihm nachweisen konnte, wenn man wollte. Einen
hervorragenden, wenn auch versteckten Platz darunter nahm die für das ewig
Weibliche ein. Man verargte sie ihm nicht, da er in der Öffentlichkeit
stets unzertrennlich von seiner schönen Frau erschien und sie vor aller
Augen mit zartester Aufmerksamkeit umgab.

In Herrengesellschaft und zu vorgerückter Stunde war er ein guter Kumpan,
der mit erfrischendem Gelächter über salonunfähige Witze quittierte und
gelegentlich selbst welche zum besten gab, die vielleicht an Pikanterie die
vorhererzählten noch übertrumpften.

Dann konnte er auch aufrichtig und harmlos von seinem zweiten Heim in der
Eichstädter Straße sprechen, das er sein »hemdärmeliges« zu nennen pflegte,
und von der »Kleinen«, die dort das Herdfeuer hütete.

Hier gab er auch zuweilen ein paar befreundeten Junggesellen hübsche Abende
in vorgeschrittenem Kabarettstil. Das geschah aber sehr diskret und in
einem engen Kreise zuverlässiger Gesinnungsgenossen, und wohl nie, ohne daß
Herr Doktor Lohrer in leuchtender Vaterfreude einen süßen, blondhaarigen
Buben präsentierte, »zu dem die Mutter nun doch einmal gehörte« ...
»Und was wollen Sie, ich bin nun einmal ein Kindernarr, und leider ...
leider ...«

Er zuckte dann bekümmert die Achseln, und man begriff die kleine
»Unregelmäßigkeit«, wo man von ihr erfuhr. Sie war schließlich zu
entschuldigen und vielleicht auch nur eine Art Ausruhen von all der
tadellosen, wohltemperierten Vornehmheit und Stille des eigentlichen
Hauswesens und dessen Herrscherin.

Frau Erika hatte natürlich keine Ahnung von dieser Abweichung ihres Gatten
über den geraden Weg der ehelichen Treue hinaus, -- wenn auch der Verkehr
zwischen der Eichstädter und der Bendlerstraße telephonisch ein ziemlich
reger war.

In der Abwesenheit des Hausherrn besorgte ihn die treue Lina, die Jungfer
der Frau Erika, -- eine Person, auf die man sich in jeder Hinsicht
unbedingt verlassen konnte, wie _Frau_ Lohrer gleichgültig und gläubig
annahm und wie _Herr_ Doktor Lohrer ausgiebig erprobt hatte.

... Es war ein Novembervormittag und ein launenhaft aufspringender Wind
peitschte große Regentropfen auf das Glasdach des Ganges, der in der
Lohrerschen Wohnung die hinteren mit den vorderen Räumen verband. Dieser
Gang enthielt auch die Telephonzelle, aus der eben die treue Lina auf die
Diele hinaustrat, auf der sie den Schritt des heimkehrenden Herrn gehört
hatte.

»Ob Herr Doktor um 7 Uhr in der Eichstädter Straße erwartet werden dürfte?«
fragte sie mit dem vorschriftsmäßig bewegungslosen Gesicht, dem nur
ein kleiner, schräg glitzernder Seitenblick die Andeutung vertraulichen
Einverständnisses gab.

»Wollen sehen -- glaube kaum, Lina.«

Sie nahm ihm den nassen Überrock ab. --

»Grauenhaftes Wetter ... Nichts passiert?« ...

»Gnädige Frau hat Besuch.«

»Besuch? ... Jetzt? ... Die gnädige Frau empfängt doch nur Dienstags ...
Und mit ihrer Erkältung! ... Wer ist's denn?« ...

»Eine ... Dame ... Sie trägt Reform ... Das ... das ist ihr Regenschirm.«

Sie wies auf einen nassen, nichts weniger als eleganten Schirm, der in der
Garderobe stand.

»Teufel auch ... also eine Bettelei ... Aber Lina! Besser aufpassen! Die
gnädige Frau ist viel zu unwohl, um sich Strapazen mit Fremden auszusetzen.
Das wissen Sie doch ...«

Die treue Lina schüttelte den Kopf.

»Gnädige Frau machte eben die Salontür auf, als ich öffnete, und nahm
das Fräulein selbst in Empfang. Es scheint gar keine Fremde. Ich hatte im
Nebenzimmer das Fenster zu schließen ... die Damen sprachen sehr laut von
Ostpreußen, und die gnädige Frau war auch sehr lebhaft ...«

Herr Doktor Lohrer sah nachdenklich vor sich hin und ging dann
achselzuckend fort sich umzukleiden, während die treue Tina im Nebenzimmer
_noch_ ein Fenster schloß.

In dem kleinen, grünen Salon, einem von berühmter Künstlerhand auf
die Erscheinung der Hausfrau gestimmten Raum, saßen in wahrer
Treibhaustemperatur und in einer von einer Fülle mattfarbiger Chrysanthemen
überhangenen Ecke -- Frau Erika blaß, fröstelnd und hustend, mit ihrem
Besuch, einem frischen, blondhaarigen Mädel in braungrauem Hängekleid.

Frau Erika hörte meist zu, sprach aber, wenn sie etwas sagte, mit mehr
innerem Anteil, als es sonst in ihrer Art lag.

Kein Wunder ... Das Mädchen war die jüngste Tochter eines Hauses, in dem
vor Jahren, als die Eltern noch lebten, die junge Erika in Jugendfrohsinn
und Glückstraum unvergeßliche Tage verlebt hatte.

Jene Beziehungen waren längst abgebrochen. Die befreundete Familie
auseinandergestoben, und die damals sechsjährige Kleine lebte allein hier
in Berlin und studierte Musik.

Die bittere Not einer erkrankten Studiengenossin hatte sie nach langem
Überlegen veranlaßt, das Lohrersche Haus aufzusuchen und die Hilfe der
Frau zu erbitten, deren Name unter keiner der glänzenden
Wohltätigkeitsveranstaltungen fehlte.

Die Angelegenheit war, nachdem Frau Erika sich von dem ersten Staunen
erholt hatte, rasch erledigt. Der lungenkranken Patientin sollte geholfen
werden. Nun waren in raschem Gespräch, dessen Kosten Fräulein Marta trug,
vergessene Namen, verschwundene Gestalten, an deren Wiederkehr sie nie
gedacht hatte, in Frau Erikas Erinnerung aufgetaucht, und ein Schimmer der
untergegangenen Jugendsonne begann hier und da aufzuglänzen.

Sie vergaß darüber die quälende Influenza, die sich steigernden Schmerzen
beim Atmen und hörte mit träumerischem Interesse zu.

»Ja und wissen Sie, gnädige Frau,« sagte das junge Mädchen mit ihrem stark
ostpreußischen Tonfall, »was ich auch nie vergessen habe? ... Wie Sie
damals, vor unserem Ball in die Kinderstube kamen ... noch nicht angezogen,
in einem weißen Spitzenunterrock und langem Frisiermantel ... Ganz
toll lustig waren Sie und sangen: »Da kam aus dem Wasser ein großes
Krokodil ...« Und wie es weiterging: »Galopp, Menuett und Walzer, wer weiß,
wie das geschah!« ... Da nahmen Sie mich auf den Arm, und wirbelten mich
durch die ganze Stube ... und da bekamen Sie so das Lachen, daß wir beide
hinfielen und gar nicht mehr aufstehen konnten!« ...

»Ich? ...« sagte Frau Erika verwundert ... »das war wirklich ... ich? ...«

»Na ja, freilich!« lachte Fräulein Marta, »der feine Schlußrefrain ist
mir ja dann auch Leitmotiv geworden: »Gelobet seist du allezeit, Frau
Musika! ...«

»Ja richtig ... Sind Sie denn schon weit? ... und wo studieren Sie
eigentlich?« ...

Da erzählte Fräulein Marta, und ihr glühendes Gesicht fing an zu strahlen.

Sie liebte ihre Kunst und ihre Arbeit ... Ach, wie heiß sie sie liebte! ...
»In all dem knappen Leben ... ostpreußische Gutsbesitzer ... Sie wissen ja
... und wir waren sechs Geschwister ... aber man freute sich doch auf jeden
neuen Tag ... Wenn man mal ein Mittagessen überschlug, hatte man eine Mark
für ein Busoni- oder d'Albertkonzert und konnte sich dann gar träumen, daß
man an ihrer Stelle steht ... Überhaupt, wie war das wundervoll! ... Von
einem Traum immer in den anderen geworfen ...«

Frau Erika lächelte beklommen und hustete.

Das junge Mädchen stand auf.

»Ich habe Ihre Güte zu lange in Anspruch genommen, gnädige Frau ... Sie
müssen sich pflegen, zu Bett gehen, Aspirin nehmen ... verzeihen Sie! ...«

»Nicht doch, liebes Fräulein. Ihr Besuch ist mir sehr lieb gewesen. Sie
haben mir einen so frischen Wind hereingebracht ... und dann all die
Erinnerungen ... Sie müssen wiederkommen ...«

»Gern, wenn ich darf,« sagte Fräulein Marta und drückte die Hand, die sich
ihr entgegenstreckte.

»Telephonieren Sie aber vorher,« bat Frau Lohrer, »ich bin so viel aus.«

Sie geleitete sie bis auf die Diele und küßte sie auf die pralle, frische
Backe, was die treue Lina, die die Außentür öffnete, staunend und mißfällig
bemerkte.

Frau Erika wurde rot und ging schnell in ihr grünes Zimmer zurück.

Eben steckte Doktor Lohrer den kurzgeschorenen, blonden Fuchskopf zur Tür
herein.

»Die Luft rein?« fragte er. »Was bedeutete denn das? ... Das war ja die
unverfälschteste Robert-Johannes-Vorstellung ... Und nach nassen Kleidern
und Schmierstiefeln hat dein Besuch auch gerochen ...«

»Oh ... ich bitte dich ... es war ...« Und nun erzählte Frau Erika ihrem
Mann, sehr heiser, aber mit einer Spur von Freude im Ton, von dem jungen
Mädchen aus der vergessenen Heimat. Herr Doktor Lohrer hörte schweigend zu
und sagte dann:

»Peinlich! ... hoffentlich kommt sie nicht wieder ... Sie soll jedenfalls
nicht angenommen werden ...«

»Ja, warum nicht? Ich will sie gerne wiedersehen, und ich habe sie
eingeladen! ...«

»Aber ... aber! Unbesonnen bis zum Übermaß,« tadelte Herr Doktor Lohrer
sanft. »Verzeih', liebes Kind ...«

»Ja, erkläre mir ...«

»Nun, findest du es angenehm ... wenn vergangene Geschichten ... ich möchte
nicht undelikat sein, aber ... verzeih' ... es läuft noch mancher in der
alten Gegend herum, der durch deines Vaters ... sagen wir ... Versehen ...
um Haus und Hof gekommen wäre -- wenn ...«

»O! ...«

Frau Erika seufzte schwer.

»Nun, nimm es nicht wieder tragisch, Liebe,« sagte er beruhigend. »Es
ist ja alles geordnet. Aber ich meine doch, gerade jetzt --, wo wir eine
Position zu erhalten -- eine noch höhere zu erwarten haben ... muß man
vorsichtig mit allem sein, was nicht ganz durchsichtig -- nicht ganz ...«

»Ich bitte dich ... laß das ... du hast recht ... sicher ... aber ...« ein
heftiger Hustenanfall unterbrach sie.

»Nun, siehst du ... ich weiß es ja, daß wir immer einer Meinung sind,
liebes Kind ... Übrigens siehst du schlecht aus ... und dein Husten ist
auch nicht besser. Ob wir nicht gut daran tun, auf die Philharmonie heute
zu verzichten?«

»Sicherlich,« sagte Frau Erika. »Ich fühle mich gar nicht frisch.«

»Und übermorgen, für die Sitzung im Unterrichtsministerium, mußt du es
ja unbedingt sein, liebes Herz. Das ist für den ganzen Winter von großer
Tragweite ... Die Erkundigungen wegen der verschämten Armen, die du
Exzellenz Berens abgenommen hast, sind erledigt, nicht? ... Du weißt, daß
du Exzellenz übermorgen triffst? ...«

Frau Erika nickte.

»Bis auf eine,« sagte sie tonlos ... »Du bist sehr gut, daran zu denken.«

Er strich leicht über ihr Haar und zog mit spitzen Fingern die weiße Locke
tiefer in die Stirn.

»Abends werde ich dann allein etwas unternehmen, wenn du einverstanden bist
... Die Philharmonie lasse ich auch ...«

Natürlich war Frau Erika einverstanden, und die treue Lina telephonierte
einen zusagenden Bescheid des Herrn Doktor nach der Eichstädter Straße.

... Als der Abend gekommen war und eine fast fühlbare Stille über den
Räumen lag, in denen eine feingestimmte Beleuchtung die Farbenzauber des
Tages geheimnisvoll vertiefte oder verschwimmen ließ, ging Frau Erika, das
ungewohnte abendliche Alleinsein unbewußt genießend, in der Zimmerflucht
hin und her.

Ihre Gedanken wanderten erst in den gewohnten Geleisen:

... Bazar für das Säuglingsheim ... Toilette dazu ... Anprobe ... Sie
sah in ihrem Notizbüchelchen nach, wann? ... zwei =five o'clocks= ... die
Erkundigung nach dem lahmen Mädchen für Exzellenz Berens ... Neue Franzosen
bei Cassirer ... Zwölf-Personen-Diner im Hause ... Das alles tauchte kraus
durcheinander in ihren Überlegungen auf.

Aber sie war dabei voller Unruhe, und wahrscheinlich fieberte sie, -- denn
mitten in diesen notwendigen und auch wichtigen Tageseinteilungen glaubte
sie beständig die Stimme ihres Vormittagsgastes zu hören, die sehr laut
geklungen haben mußte ... Daher wohl auch die Eindringlichkeit der Worte,
die schließlich doch nichts anderes gewesen waren, als der Ausdruck
erwartungsvoller Lebensfreude, -- wie sie selbst sie vor Jahren hätte
aussprechen können ...

Damals ... als sie das Studentenlied von dem lustigen Musikanten gesungen
hatte ... wenn sie das wirklich gewesen war ...

Sie versank in Grübeln und Brüten, und verscheuchte Erinnerungen rangen
sich zaghaft wieder hervor.

... Jetzt ein Bild ... ein Brief mit guten Worten aus längst vergangenen
Zeiten ... oder etwas von den kleinen Heiligtümern, die ihr als Reste von
dem jauchzenden Leben des Kindes übrig geblieben waren.

Ihr Mann nannte das Ballast, und alle Dinge, die nicht in den Stil
des neuen Lebens paßten, hatten wohlverpackt auf dem großen Boden des
Saalfelder Hauses zurückgelassen werden müssen.

Aber eine kleine Kiste fiel ihr ein, die irrtümlicherweise mit nach Berlin
gekommen war, und die sie nicht hatte öffnen lassen, weil sie wußte, daß
sie nur Wertloses enthalten konnte.

Heute hatte sie Sehnsucht, irgendeinen Gegenstand aus jenen vergangenen
Zeiten vor sich zu sehen.

Sie klingelte und gab den Befehl, die kleine Kiste herbeizuschaffen.

Die treue Lina zog die Augenbrauen in die Höhe. Das Kistchen stünde
wohl auf einer Bodenkammer, aber da wäre doch, soviel sie wüßte, nur ein
Porzellankopf drin ...

Ob sie es denn geöffnet hätte? ...

Jawohl, die gnädige Frau würde sich doch erinnern, daß sie es selbst
befohlen hätte ...

Nein, -- sie erinnerte sich nicht, wiederholte aber den Wunsch, die Kiste
bei sich zu haben.

Die treue Lina holte es also und setzte es mit einem leidenden Seufzer
auf den perlmuttereingelegten Hocker, wo es plump und frech in der zarten
Umgebung dastand.

Frau Erika konnte es kaum erwarten, den darin verpackten Gegenstand zu
enthüllen.

Nun sie ihn in der Hand hielt, gab es eine große Enttäuschung.

Es war ein häßlicher Matrosenkopf in grell bemaltem Porzellan, wie ihn vor
vielen Jahren, vielleicht zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, die Seefahrer
aus England herübergebracht hatten. Die großen, hervortretenden Augen
starrten. Blanke Goldringe steckten in den Ohren und eine Pfeife hing aus
dem breiten, roten Mund. Den Schädel verdeckte ein schwarzer Lackhut,
den man abnehmen mußte, wenn man zu dem Tabak gelangen wollte, der in dem
hohlen Innern aufbewahrt wurde. Man spürte jetzt noch den schwachen Geruch,
-- -- und wie lange mochte wohl nichts mehr darin gewesen sein? ...

Frau Erika schloß die Augen, und dann riefen die Erlebnisse aus den
Kindheitstagen sie an, in die dieser Kopf von seiner Ecke her, oben auf dem
eintürigen Schrank, hineingeschaut hatte.

Und wie sie den verödeten Gedankenwegen nachging, tauchten von Neuem lang
vergessene Bilder in ihr auf. Einfache und bedeutungslose, -- aber sie
hauchten ein wunderlich starkes Leben aus ...

... Da war in dem kleinen Haus in der ostpreußischen Hafenstadt ein
Stübchen, wie eine Schiffskabine ausgestattet ... Auf dem schwarzen
Ledersofa sah sie den alten Großohm mit dem breiten, roten Gesicht und dem
schneeweißen Bartkranz drum herum. Neben ihm, zart und fein, die kleine
Großtante im schwarzen Kopftuch, lange, schmale Fidibusstreifen aus weißem
Papier faltend.

Sie selbst auf kleinem Schemel neben dem Tisch. Es wurde stark duftender
Tee aus hohen, goldenen Tassen getrunken, und kleine Gewürzkuchen gab es
dazu, die die Großtante aus einer Blechbüchse hervorholte.

Und dann erzählte der alte Mann Geschichten. Wunderliche Geschichten ...
von Seestürmen, ... von lachenden Küsten, wo die Menschen nackt gingen, --
von Meerungeheuern, die die langen Arme aus dem Wasser reckten und sich mit
tellergroßen Saugnäpfen am Schiffe festsogen, von den wilden Späßen, wenn
man die Linie passierte ... und auch von dem Schattenschiff, das in der
Meerenge Bab-el-Mandeb sein grausiges Wesen trieb.

Von den siebzehn Menschen, denen er dann hier in seiner Tätigkeit als
Oberlotse das Leben gerettet hatte, erzählte wieder seine alte Frau, --
und zuweilen kam auch ihre, Erikas eigene schöne, junge Mutter dazu und
streichelte mit ihren weißen Händen die knotigen Gichtfinger des Alten und
lachte so leise und lustig, wie nur sie lachen konnte, wenn er sie dran
erinnerte, daß sie oben im Sund auf einem Heringsschiff zur Welt gekommen
war. Und die Sonne funkelte in die Fenster des Puppenhäuschens, und abends
kam der Mond und schimmerte auf den weißen Tauen und Segeln des Schiffes,
das in der Mitte des Zimmers von der Decke hing -- oder er glitzerte auf
dem Matrosenkopf, der so lebendig zu werden schien, daß man sich ordentlich
vor ihm fürchte.

Wie fluteten diese Bilder aus goldenen Kinder- und Ferientagen, einfach und
doch so vielsagend, durch das Van-de-Velde-Zimmer!

Mit welch ergreifend rauher Stimme rief jenes Leben die weiche Existenz
von heute an. Aber nun nicht weiter ... Nichts von Elternhaus, nichts von
lustigen Ritten und tränenschwerem Abschied -- nichts von alledem, was dann
kam ... In Gedanken an der See bleiben -- -- bei den lieben, alten Leuten.

Frau Erika legte die heiße Stirn an den häßlichen Matrosenkopf -- man
konnte schon sagen »zärtlich«, meinte die treue Lina an ihrer Türspalte
-- dann setzte sie ihn behutsam auf die Schreibtischecke neben ein
spiegeltragendes Tanagrafigürchen, dessen ausgestreckter zarter Arm sich
gegen die gemeine Nachbarschaft zu wehren schien ...

Es war schon spät, und Frau Erika schlief unter dumpfem Brausen ein, das
von irgendwoher kam. Sie wußte nicht, rauschte das fiebernde Blut in ihr,
oder schlug die Ostsee mit langen, schäumenden Wellen an den Strand, den
sie damals von den kleinen Fenstern des Lotsenhäuschens in Pillau hatte
sehen können ...

Am nächsten Morgen wunderte sie sich über die Stimmungen des vergangenen
Tages und glaubte, sie geträumt zu haben. Das Aufstehen wurde ihr schwer,
die Glieder wollten ihr nicht gehorchen, und die Brust schmerzte sie beim
Atmen noch mehr als gestern. Aber es ließ sich überwinden, und so saß sie
beim Frühstück mit ihrem gewohnten Lächeln dem Gatten gegenüber, der, in
seine Zeitungen vertieft, nicht auf sie achtete.

Schwindlig ging sie dann in ihr grünes Zimmer und legte sich auf die
Chaiselongue unter die großen Latanie.

Der Matrosenkopf, den sie gestern mit so viel wehmütiger Zärtlichkeit auf
den Eckplatz gestellt hatte, war heute in seiner rohen Häßlichkeit geradezu
eine Verunstaltung des schönen Raumes. Und doch konnte sie die Augen nicht
von ihm lassen und glaubte sogar, den schwachen Tabakgeruch zu verspüren,
der doch nur in nächster Nähe zu merken war.

»Ich muß ihn fortsetzen, ehe Lovis kommt,« dachte sie, aber sie rührte sich
nicht.

Und da trat Doktor Lohrer schon ein. Gedämpft fröhlich und mit aufmerksamem
Lächeln um den spitzen Mund.

»Nun,« sagte er -- »dir geht's also besser? ...«

Sie mußte jetzt »ja« sagen. Sie wußte, das erwartete er. Aber plötzlich
regte sich der Wunsch in ihr, bedauert und gepflegt zu werden, und so sagte
sie statt dessen:

»Nein, ich möchte mich am liebsten wieder zu Bett legen.«

»Wegen einer kleinen Erkältung, mit der du sonst die anstrengendsten Dinge
unternimmst? Wenn du dich jetzt legst, bricht unfehlbar der Schnupfen los,
der dich für morgen unmöglich macht.«

Sie schwieg.

»Hast du etwa die fade Absicht, die Sitzung und den Tee im Ministerium
abzusagen?«

»Ich weiß nicht,« sagte sie ängstlich, »ob ich hinkann.«

Jetzt hatte er sich umgewendet und den Matrosenkopf gesehen.

»Erika« ... rief er ganz fassungslos vor Entsetzen ... »Bist du von Sinnen?
... Wie kannst du das Monstrum da vor dir dulden? ... Ist das etwa ein
Geschenk von deiner neuen Freundin?«

Frau Erika bemerkte, wie aufgebracht er war. Sie lenkte ein.

»Verzeih ... ich ließ mich vielleicht wirklich etwas gehen ... das Scheusal
da ist aus Versehen stehen geblieben ... Ein Überbleibsel aus meiner
Kinderzeit ... ich will mir's aufbewahren« ...

»Aber möglichst unsichtbar, wenn ich bitten darf ... Und, -- daß du dich
auf deine Verpflichtungen besinnst und dich nicht hängen läßt, liebes Kind,
freut mich, -- ist aber wohl selbstverständlich.«

»Und du bist überzeugt, daß es sehr wichtig ist?« fragte Frau Erika, ohne
Ton in der Stimme.

»Das ist doch keine Frage! ... Es hat Mühe genug gekostet, dich dahin zu
lanzieren ... Da wir leider keine Kinder haben, will ich wenigstens für
meine Person und für deine natürlich ... aber warum das immer
wiederholen. Wir sind ja einer Meinung und haben uns oft genug darüber
ausgesprochen ...«

Dieser in bösen Stunden immer wiederkehrende Hinweis auf ihre
Kinderlosigkeit, vereint mit dem Vorwurf über ihren Mangel an Vorsicht
bei jenem schrecklichen Unfall, der ihnen das Kind geraubt hatte, wirkte
jedesmal auf Frau Erika, als ob sie zu Boden geschlagen würde. Wenn sie
sich dann erhoben hatte, ging sie wieder gehorsam den gemeinsamen Weg.

Er war übrigens in ihren eigenen, wie den Augen der Welt weit entfernt
davon, ein Dornenweg zu sein ...

Nach dem Lunch, als Herr Doktor Lohrer längst fortgegangen war, hatte Frau
Erika noch ein paar Schwächeanfälle, Frost- und Hitzeschauer. Wenn sie
dann die Augen zumachte, wollte sie sich von neuem die beruhigenden Bilder
vergegenwärtigen, die sich gestern beim Anblick des alten Porzellankopfes
eingefunden hatten.

Sie holte ihn auch wieder aus dem Schränkchen hervor, in dem sie ihn
verborgen hatte, aber heute stand er einfach in seiner kulturlosen
Häßlichkeit da und wollte ihr nichts Schönes erzählen.

Im Gegenteil -- die Gedanken irrten von ihm ab zu verbotenen Wegen, auf
denen einstmals alle Schrecknisse des Menschenlebens, Unglück, Sorge,
Schande und Verlassenheit über sie hatten herfallen wollen ...

Und das waren Töne, die hier nicht anklingen durften ... Mit Gewalt mußten
sie vertrieben werden ... Ein ander Bild ... ein frohes ... Galopp, Menuett
und Walzer ... Nein, _das_ war ja nicht jenes Lied, das sie als Kind
mitgesungen hatte, wenn in den Sommerferien alt und jung vor der Tür des
Lotsenhäuschens zusammensaß ... Das hieß doch: »Morgen, da geht's in die
brausende See ... morgen, da geht's in die brau ... au ... sende See ...«

Sie fuhr auf ... Was war das? ... Sie phantasierte ja am hellen Tage ...
Sie wollte vielleicht doch den Arzt kommen lassen.

Sie stand auf, um zu ihrem Telephon an den Schreibtisch zu gehen.

Da trat die treue Lina ein.

»Herr Doktor telephonieren eben, gnädige Frau möchte nicht vergessen, die
Erkundigung Eichstädter Straße 9 einzuziehen ...«

»Eichstädter Straße 9?« fragte Frau Erika. Die treue Lina senkte bestürzt
die gefärbte Tolle. Sie hatte den Auftrag eben von der Eichstädter Straße
aus bekommen und, in Gedanken noch dort, diese vielgebrauchte Adresse
versehentlich ausgesprochen.

»Ach nein ... nicht Eichstädter -- Heilbronner Straße.«

»Ja gut, Heilbronner, ich hab's ja notiert,« sagte Frau Lohrer. »Bringen
Sie meine Sachen, ich will dann gleich hin ...«

Sie mußte sich zusammennehmen ... Der Doktor hatte bis morgen abend Zeit
... nach dem Tee bei der Ministerin.

Es war schwer, mit den stechenden Schmerzen in der Brust, gegen den Wind
anzukämpfen, und in den Gliedern lag's ihr wie Blei.

Alle melancholischen Schauer eines grauen Novembernachmittags gingen um
... Der erste Schnee war in losen Flocken gefallen und auf dem Pflaster
zu schmutzigem Wasser geworden. Schwere, bleifarbene Wolken drückten sich
immer tiefer in die Straße hinein, und ein leise winselnder, müder Wind
versuchte hier und da vergebens, sie aufzujagen.

Es war noch früh, aber trübe Dämmerung verwischte die Umrisse der Häuser
und Bäume. Menschen und Gefährte bewegten sich wie Schatten.

Von aufspringenden und wieder verschwindenden Gedanken gequält, ging Frau
Erika ihres Weges, und weiter, als sie beabsichtigt hatte. Mitten in der
Potsdamer Straße fiel ihr ein, daß sie mit ihren Brustschmerzen eigentlich
gar nicht gehen durfte, und sie stieg in ein Auto.

Die zuletzt gehörte Adresse klang noch in ihren Ohren, und sie nannte sie:
»Eichstädter Straße 9.«

Die Gegend, in die sie kam, war ihr fremd.

Phantastische Formen sprangen aus dem zitternden Nebel auf. Hier glitzerte
ein Goldbeschlag aus massigen Steinen heraus -- da grüßte eine fratzenhafte
Maske mit aufgerissenem Rachen von einem hohen Torpfeiler herunter ...
dort hob sich eine schwere schmiedeeiserne Einzäunung, hinter der Zypressen
wuchsen, und nun ein Goldgitter ...

Wo war sie? ... Das Auto hielt. Sie zahlte mechanisch.

Aus dem Eingangstor des Hauses, vor dem sie stand, fiel ein breiter,
blutroter Schein auf das nasse Pflaster und rang mit dem blendenden Lichte
einer großen elektrischen Kugellaterne, die eben aufflammte.

»Alles Neubauten,« sagte ein Gedanke in dem fiebernden Hirn der kranken
Frau. Und weiter:

»Wie bin ich hierher gekommen, so weit ab von meiner Wohnung ... und was
will ich hier? ... Ach, das steht in meinem Notizbuch.« ...

Und Frau Erika drückte auf die Glocke.

Die Tür öffnete sich. Sie stand in einem roterleuchteten Vorraum, an
dessen Wänden ein Gewirr von weißen Arabesken, Früchten, Masken und Putten
lebendig zu werden schien ...

Und dann, während Frau Erika in ihrer Handtasche nach dem Notizbuch kramte,
kam ein Wunder: Die weiße Tür links wurde aufgerissen -- ein paar tappende
Schritte ... und auf der obersten Stufe der Treppe die herunterführte,
stand ein Bübchen in weißem, zottigem Mantel, die weiße Kappe aus dem
blühenden Gesicht mit dem blonden Kraushaar geschoben, die dicken
Händchen gespreizt ... und mit Augen, die ganz weit vor Verwunderung
hinunterblickten ... mit Augen!!

Wie kam ihr toter Junge hierher?!?

»Mein Kind ... mein Bub' ... mein alles ... wo warst du so lange? ... wo
haben sie dich versteckt? ... liebes ... liebes ...«

Sie war oben und riß das Bürschchen an sich.

Das war einen Augenblick stumm vor Schreck. Dann fing es zu strampeln und
zu schreien an.

»Loslassen ... loslassen ... Mutti ... Mutti!«

»Was gibt's denn?«

In der offenen Tür stand eine schöne, lebenstrotzende Frau, im eng
anliegenden Schneiderkleid, zum Ausgehen fertig.

Das blühende, breite Gesicht unter dicken, rotbraunen Haarwellen leuchtete
vor Gesundheit. Jeder Muskel des starken Körpers schien von Kraft gespannt
und geschwellt.

»Setzen Sie mal sofort den Jungen hin,« rief sie laut und grell. »Was
bedeutet denn das? ... Ah ... Sie?!! ... Sie?!! ...«

Ihre Stimme überschlug sich. In den schmalen, glitzernden, grauen Augen
brannte eine vernichtende Feindseligkeit auf ... das ganze junge Weib wand
sich in Verlegenheit und giftigem Haß.

Frau Lohrer achtete nicht darauf.

Sie hatte den Buben zur Erde gleiten lassen und stand weiß und stumm da.

»Verzeihung,« sagte sie dann. »Er gleicht zum Verwechseln meinem
verstorbenen Kinde« ...

Die schöne, kraftvolle Person hob das Bürschchen hoch, drückte es an sich
und lachte laut und höhnisch auf.

Dann trat sie hastig in die Wohnung zurück und schloß die Tür hinter sich
zu.

Frau Erika stand noch einige Sekunden da und starrte den Verschwundenen
nach.

Der Portier öffnete sein Fenster und kam dann heraus.

»Zu wem wünschen gnädige Frau?« fragte er höflich.

Frau Erika schüttelte den Kopf und sagte nur: »Nach Hause.«

»Soll ich Auto besorgen?«

Sie nickte, achtete nicht darauf, wie lange sie wartete, und bemerkte auch
das verwunderte Kopfschütteln des Portiers nicht, als sie ihre Adresse
angab.

Die Augen fielen ihr zu, und sie fuhr aus dem Dämmerzustand erst auf, als
der Wagen vor dem Hause in der Bendlerstraße hielt.

Wie im Schlaf ging sie hinauf, vorbei an der treuen Lina, die ihr beim
Ablegen helfen wollte, und in ihr grünes Zimmer.

Eine beklemmende Angst nahm ihr den Atem. Sie wußte nicht mehr, wo sie war.
Sie konnte nicht mehr Traum und Wirklichkeit unterscheiden -- nicht mehr
Leben und Sterben ...

Ja ... das blühende Leben hatte die Tür vor ihr zugeschlagen und ihr Kind
im Arm davongetragen, und sie ... sie stand hier ganz allein, ganz fremd.
Sie brauchte etwas, um sich daran zu halten ... denn sie fiel um ...
irgendwohin in die Finsternis ... Aber da war nichts ... kein Mensch ...
kein Ton ... kein Bild ... Nur Schönheit, bunter Farbenzauber, fremdes
Gerät, an das sich kein Erleben knüpft ...

... Doch! ... Der Matrosenkopf stand noch von vorhin auf dem kleinen
Tischchen neben der Chaiselongue und grinste ...

Nach ihm streckte sich ihre Hand aus.

Da fiel er zur Erde, gegen ein bauchiges Bronzegefäß, und zerbrach in ein
paar große Stücke ... Frau Erika griff voll Entsetzen nach dem einen -- es
war ein Ohr, mit dem blanken Ohrring darin --, dann warf sie sich auf die
Chaiselongue und fing fassungslos zu weinen an.

Nicht, wie ein Mensch weint, dem ein großer Kummer das Herz getroffen hat.
Es war ein Winseln, wie das des müden Windes draußen, der die grauen Wolken
nicht verjagen konnte. Ein jammervolles, grauenhaftes Weinen.

Die treue Lina beugte sich verständnislos zu der Liegenden.

»Fehlt der gnädigen Frau etwas?«

»Mein einziges, ... mein letztes« ...

Nur eine matte Handbewegung nach den Scherben am Boden.

Achselzuckend sah die Jungfer darauf nieder.

»Beruhigen sich gnädige Frau doch ... gnädige Frau schaden sich. Herr
Doktor ist auch schon zu Hause und kann jeden Augenblick hereinkommen« ...
Das jammernde Weinen hörte nicht auf. Leise und eintönig klagte es weiter.

Die treue Lina stand ratlos daneben und ließ in Gedanken die im Hause
verkehrenden Herren an sich vorübergehen.

So irgendeine heimliche Geschichte mußte doch dahinter stecken! ... Was
konnte nur geschehen sein? ... Sie hatte schon immer gedacht ... diese
Stillen ... Ob sie nun nicht doch den Herrn rief?

Da schlug matt draußen das Telephon an.

Sie ging schnell hinaus und nahm mit überraschtem Aufschrei die Meldung
entgegen.

Dann klopfte sie, nachdem sie die Bluse zurechtgerückt und den Rock über
den Hüften heruntergestrichen hatte, an die Arbeitszimmertür des Herrn
=Dr.= Lohrer.

Diese Stunde nun war die, in der er durchaus ungestört zu sein wünschte, --
in der er die Geschäftsdispositionen für den übernächsten Tag ausarbeitete,
-- in der allein er auch vor sich selbst alle ästhetischen und
gesellschaftlichen Rücksichten wegwarf und seiner eigentlichen Natur die
Zügel schießen ließ.

Sogar die treue Lina hatte um diese Tageszeit doppelt tadellos zu sein,
wenn sie, im Notfall, ihn an seinem Schreibtisch aufsuchen mußte.

Heute trat sie etwas hastiger ein als sonst.

»Darf ich Herrn Doktor stören?«

»Zum Kuckuck ... nein! Was gibt's? ...«

»Gnädige Frau liegt auf der Chaiselongue und weint ganz furchtbar.«

Doktor Lohrer drehte sich auf seinem Stuhl um. »Und?« ... fragte er eisig.

»Sie sagt, weil sie den gräßlichen Puppenkopf zerschlagen hat ... Aber ...«

»Aber? Nun? ...«

Die treue Lina trat einen Schritt näher:

»Aus der Eichstädter Straße telephoniert man eben ... die gnädige Frau ist
in der Wohnung gewesen, -- und es scheint, -- sie hat den Bubi fortnehmen
wollen ...«

Doktor Lohrer sprang auf.

Seine hohe, schlaffe Gestalt streckte sich, und sein schmales Fuchsgesicht
bekam den gefürchteten Raubtierausdruck.

»Hallo!!«

Und er ging unverwandt in das Zimmer seiner Frau.

Der Anblick, der sich ihm bot, war nicht geeignet, seine Empörung über
die verbrecherische Geschmacklosigkeit, von der er eben erfahren hatte, zu
besänftigen.

Frau Erika lag mit verschobenen Kleidern, noch in Hut und Mantel,
mit niedergesunkenem Kopf über der Chaiselongue und winselte wie ein
gepeinigtes Tier.

»Erika,« ... rief Doktor Lohrer in fassungslosem Zorn.

Sie rührte sich nicht.

Er rüttelte sie an den Schultern. Der Körper gab nach, aber sie öffnete die
Augen nicht, aus denen unaufhörlich die Tränen hervorquollen.

Er griff nach der herabhängenden Hand. Sie war behandschuht, aber er fühlte
die Glut durch das Leder. --

Es war keine Frage, -- seine Frau fieberte. Sie war krank, kränker leider,
als sie es in Anbetracht der morgigen Sitzung im Unterrichtsministerium und
der gesellschaftlichen Aussichten, die sich für den Winter daran knüpften,
sein durfte. Und es war auch nicht an der Zeit, um Taktlosigkeiten, die in
solchem Zustande begangen worden waren, zu rechten.

Mit Hilfe der treuen Lina wurde Frau Erika der Straßenkleidung entledigt.
Eine sanfte Gewalt mußte angewandt werden, als die Hand, die den Scherben
des Matrosenkopfes fest umklammert hielt, von dem Handschuh befreit werden
sollte.

Dann erst durfte nach dem Arzt telephoniert werden.

»Wie konnten Sie die gnädige Frau in einem solchen Zustande ausgehen
lassen?« ... schrie Doktor Lohrer die treue Lina an.

Sie wollte aufbegehren. Aber ein Blick in das verbissen grübelnde Gesicht
und die zornigen Augen belehrten sie, daß dies im Augenblick unangebracht
war.

»Gnädige Frau ist doch nicht leicht zu beeinflussen ... bei aller Güte ...«
wagte sie zu bemerken. »Auch mit dem häßlichen Porzellankopf ...«

Er winkte abwehrend.

»Telephonieren Sie sofort nach der Eichstädter Straße, daß das, was Sie
vorhin sagten, unbedingt ein Irrtum sein müsse ... die gnädige Frau läge
mit hohem Fieber zu Bett ... Ich lasse das sagen ... verstehen Sie? ...«

Natürlich verstand die treue Lina und richtete die Bestellung aus, während
Doktor Lohrer, peinlich erregt, neben seiner zusammenhanglos murmelnden
Gattin den Arzt erwartete. -- -- -- -- --

Es war eine doppelseitige Lungenentzündung, bei dem schwachen Herzen
und der zarten Konstitution der Kranken von vornherein eine böse, fast
aussichtslose Sache.

Herr Doktor Lohrer stand anfangs ungeduldig und voller Erbitterung
und Staunen an dem Bette seiner Frau und spielte in Gedanken mit allen
Möglichkeiten -- aber er spielte.

Daß das Äußerste in Wirklichkeit eintreten könnte, fiel ihm noch nicht
ein zu glauben. Noch empfand er, was geschah, als eine ihm zugefügte
Beleidigung, sogar als die Lage schon fast hoffnungslos war.

Der harte Kampf dauerte länger, als man gedacht hatte. Der ganze Apparat,
der der Krankheit zu Leibe geht, wenn sie in ein reiches Haus eingebrochen
ist, war in Tätigkeit.

Der Wagen des berühmten Spezialisten hielt morgens, mittags und abends
vor der Tür. Der vornehme Hausarzt wich kaum von dem Krankenlager, und
ein jüngerer Kollege war zur Hand, wenn er seiner anderen Praxis nachgehen
mußte.

Im Krankenzimmer selbst waltete eine barmherzige Schwester mit trüben
Augen und fest zusammengezogenem Munde ihres Amtes. Was die Medizin an
Hilfsmitteln geben konnte, war in Anwendung, aber das Fieber, das an dem
zarten Körper fraß und schüttelte, übertrumpfte alle Sorgfalt, alle Bäder
und alle Medikamente. Atemnöte und Beklemmungen füllten die langen, bangen
Stunden ... und wenn die Temperatur nur ein weniges zurückging, wollte das
Herz seinen Dienst nicht mehr tun.

Nach mühseligem Kampf gegen die zunehmende Schwäche kam der Augenblick,
in dem die Ärzte andeuteten, daß man, wenn nicht ein Wunder geschähe, in
kurzem auf das Schlimmste gefaßt sein müßte ...

Herr Doktor Lohrer, der seinen vollen Anteil an der Pflege aufopfernd
Tag und Nacht getragen hatte, nahm die Botschaft stumm und mit gebotener
Fassung entgegen und achtete nach wie vor auf die peinlich genaue
Ausführung der ärztlichen Anordnungen.

Inzwischen lief er ruhelos zwischen dem Krankenzimmer und seinem
Schreibtisch hin und her.

Auf einer dieser Wanderungen, nachdem er minutenlang das arme zuckende und
gedunsene Gesicht der Sterbenden kummervoll betrachtet hatte, ging er zu
dem Marmorporträt in seinem Zimmer hinüber, das vor zwei Jahren in Brüssel
Lambert von ihr geschaffen hatte.

Aus dem, wie es die Mode betont, teilweise roh gebliebenen Marmor, hob sich
das feine Köpfchen Erikas mit dem überzarten Halsansatz. Ein träumerisch
scheues Lächeln, eine kleine melancholische Ironie belebten die
regelmäßigen Formen.

Ja, _das_ war die Gattin von Lovis Lohrer, das war das Bild der Frau, die
seinem schönen Hause den Stempel zartester Ästhetik aufgedrückt hatte,
das war das Bild, vor dem er erleichtert aufatmete. Von dem der armen
Leidenden, die schmerzentstellt, Vernichtung in den verzerrten Zügen, da
drüben kämpfte, wendete sich etwas ihm ab ...

       *       *       *       *       *

Draußen kroch der Tag langsam und grau heran.

Da hörte auf dem Sterbelager das stoßweise Atmen und Röcheln plötzlich auf.

Die Schwester schreckte zusammen und beugte sich über ihre Kranke.

Die lag, plötzlich weiß und schmal geworden, mit großen, schimmernden Augen
da.

Die Schwester trocknete ihre feuchte Stirn und nahm ihre Hand.

»Muß ich sterben?« flüsterte Frau Erika heiser, an der Pflegerin
vorüberblickend.

Die sah sich mit scheuem Auge um, und als auch im Nebenzimmer alles still
blieb, sagte sie feierlich und laut:

»Ja! ... Wir wollen beten!« ...

Frau Erika antwortete nicht.

Sie richtete sich mühsam auf und flüsterte Unverständliches vor sich hin.

»Das ist ja alles nicht wahr,« sagte sie dann plötzlich ganz klar. »Wenn
ich leben bleibe, dann will ich wirklich ... wirklich ... nicht bloß zum
Schein ... nicht hindämmern« ...

»Nach der Dämmerung bricht der leuchtende Tag des Herrn an,« sagte die
Schwester, »der leuchtende Tag, der Tag der Erlösung. Der Friede ...«

»Finster ... Finster ...« ächzte Frau Erika und griff mit zuckenden Händen
um sich.

Dann taumelte sie in den Abgrund, in dem Schein und Sein versinken.

  -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
  -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

In dem kleinen Wintergarten, der sich an das grüne Wohnzimmer schloß, unter
weißen Rosen und weißem Treibhausflieder ruhte nun die Herrin dieser Räume
noch eine kleine Stunde, ehe sie unter die verschneite Erde gebettet wurde.

In einer Stunde nämlich versammelte sich der Bekanntenkreis, und dann kam
auch der Geistliche, die Verstorbene für die letzte Fahrt einzusegnen,
die sie nach der thüringischen Heimatstadt antreten sollte, um neben ihrem
Kinde zu schlafen, wie sie es wohl gewünscht haben würde, wenn ihr in ihrem
geräuschvollen Leben der Gedanke an ewige Ruhe je gekommen wäre.

Herr Doktor Lohrer ging durch alle Räume, um mit dem Blick des Herrn
festzustellen, ob alles der Sachlage und seinen Anordnungen gemäß auf der
Höhe wäre.

Zuletzt kam er in den Wintergarten und warf einen prüfenden Blick auf die
Tote, deren leise Stimme noch in diesem Raum zu klingen schien.

Er hatte sich mit dem Ungeheuerlichen, das über ihn hergefallen war,
als Mann von Selbstbeherrschung äußerlich abzufinden gesucht. Aber seine
Gestalt sah sehr zusammengefallen und das Fuchsgesicht spitz und gelb aus.

Er schloß einen Augenblick die Augen, deren Lider rot und geschwollen
waren. Als er sie wieder öffnete, fiel ihm die rötliche Orchidee in den
starren Händen der Ruhenden auf, und er überlegte, ob dieser einzige
Farbfleck die Harmonie des weißgrünen Bildes herabsetzte oder erhöhte.
Er bemerkte auch, daß irgend etwas um das holde, friedvolle Gesicht nicht
stimmte, es leer scheinen ließ ... Natürlich! Wie hatte er es übersehen
können! Die weiße Locke, die viel bewunderte, fiel ja nicht in die Stirn
wie im Leben. Der Friseur hatte sie ungeschickterweise versteckt. Er fuhr
mit spitzen Fingern in das Haar und zog sie vor.

Aber sie hatte das Flockige verloren und lag rauh und ohne Glanz da.

Welch ein Glück, daß er im letzten Augenblick das noch ändern konnte!

Er rief nach der treuen Lina, die in angemessener Trauerhaltung nach kurzem
Schaudern mit der Brennschere die gewohnte Ordnung herstellte.

Den scheuen Blick, mit dem sie aus zitternden Lidern ihren Herrn streifte,
bemerkte er nicht.

Er winkte ihr, hinauszugehen, und dann nahm er doch die blaßrote Orchidee
fort, die »wie ein Tropfen Lebensblut das Bild des Todes in seiner
Absolutheit störte.« So dachte er.

Er legte sie auf den Kübel der Latanie, die sonst über die Chaiselongue im
Nebenzimmer ihre großen Blätter hängen ließ ...

Die Blume fiel auf einen Scherben, ein rotes Ohr mit einem blanken
Ring darin. Vor einigen Tagen hatte man ihn der fieberglühenden, jetzt
erstarrten Hand entrissen und ihn auf den Platz geworfen, auf dem er
achtlos liegen geblieben war.

... Und nun konnte die Trauerfeier vor sich gehen. Die Wachskerzen, die
Doktor Lohrer selbst anzündete, legten ihren klaren, gelblichen Schein auf
ein Bild von unbeschreiblicher, ruhevoller Schönheit und Poesie.

Er stand davor voller Bewunderung und Rührung. Mit einem Gefühl von
Dankbarkeit streichelte er die eisigen Hände und rechnete in Wehmut und
Güte mit der Toten ab.

»Sie hat ihren Zweck erfüllt ... sie war der Schmuck meines Lebens ...
Vielleicht durfte sie nicht hinwelken ... um mir ein unvergeßliches Bild
zu hinterlassen ... Aber auch ich hatte sie weich gebettet nach ihrem
traurigen Jugendschicksal ... in Glück und Glanz ... Nicht jeder ... aber
gleichviel ... es ist hart ... bitter hart ...«

Nach einem letzten trüben Blick auf die Ruhende richtete Doktor Lohrer sich
straff auf und dachte an seine Pflicht.

Aus den Nebenräumen drang Stimmengemurmel. Er schob den Vorhang zur Seite
-- -- und mit noch feuchten Augen, war das erste, was er leise befriedigt
wahrnahm --, der weiße Spitzbart des Unterrichtsministers ...



Unter gleichem Winde


Gerade als die buntfarbigen Laternen in der nebeligen Dämmerung des
Novemberabends die ganze Tauentzienstraße hinunter unnatürlich
groß aufflammten, sprang eine Dame an der Haltestelle der
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von einem Wagen der =A=-Bahn, ehe er noch
vollständig stillstand. Ein großgewachsener, hagerer Herr, der anscheinend
mitfahren wollte, kam in ihren Weg und streckte höflich den Arm aus, um sie
zu stützen. In der Heftigkeit des Sprunges aber taumelte sie gegen ihn, und
eine aus dem Mantel herausfliegende Lorgnonkette hängte sich so fest an den
Knopf seines Überziehers, daß er sie nicht schnell genug losmachen konnte
und den Wagen, den er hatte benutzen wollen, vorüberfahren lassen mußte.

»Pardon -- wie ärgerlich!« sagte die Dame und zog an der Kette.

»Wollen gnädige Frau vielleicht bis zum Schaufenster dort treten, damit wir
in dem helleren Licht die Schnur, oder was es ist, lösen können, ohne sie
zu zerreißen?«

Die Dame fuhr zusammen und sah ihm ins Gesicht. Sie hatte eine kleine und
zierliche Gestalt, rasche, lebendige Bewegungen, und ihre Farben schienen
hinter dem Punktschleier jung und rosig, aber die Art ihrer eleganten
Straßenkleidung zeigte doch auf den ersten Blick, daß sie mehr auf Würde
als auf Jugendlichkeit Anspruch zu machen hatte.

Sie standen nun in der strahlend weißen Beleuchtung der Tapetenhandlung
und sahen einander an, ohne an die Kette zu denken, prüfend und voll
ängstlichen Staunens.

»Ist das möglich,« sagte die Dame leise und riß mit einem Ruck ihre Kette
los, »Doktor Ender?«

Er hob den Hut und fuhr sich über die kahle Stirn. »Ja, gewiß. Und Sie?
Wie ich Sie zu nennen habe, weiß ich nicht einmal. Man hat mir vor Jahren
erzählt, daß Sie sich nach dem Tod von Major Splettner wieder verheiratet
haben.«

Sie nickte. »Frau von Betzwold ... Irmgard Betzwold ...«

Ein nervöser Zug, der wie ein verzerrtes Lächeln aussah, zuckte um seinen
Mund.

»Jawohl ... Irmgard! ... Leben Sie denn hier?«

»Ja, seit langem. Mein Mann ist Beamter. Geheimrat -- im Verkehrsressort
... Und Sie?«

»Ich halte mich seit mehreren Jahren hier auf.«

Sie waren ein paar Schritte weitergegangen und blieben nun wieder stehen.
Fragende, verstehende, überquellende Blicke senkten sich ineinander.

Die Frau schüttelte zuerst den Bann des Schweigens ab, der sich auf sie
gelegt hatte.

»Da vermeidet man sich ein halbes Leben lang, und dann kommt solch ein
närrischer Zufall und kettet einen sozusagen wieder aneinander ... Wollen
wir eine Viertelstunde zusammenbleiben?«

»Gewiß,« sagte er. »Es wäre unnatürlich, wenn wir uns jetzt mit höflichem
Gruß trennen wollten. Wo befehlen Sie?«

»Möchten Sie ein Stück mit mir gehen? Ich wohne in der Leibnizstraße und
wollte ohnedies zu Fuß nach Hause.«

Er schwieg erst und deutete dann auf die Menge der Menschen, die beide
Seiten des Kurfürstendamms hinauf und hinunter strömte, schwatzend,
eilend oder schlendernd und gegeneinander drängend. »Können wir nicht eine
Viertelstunde irgendwo ungestört sitzen?« fragte er. »Ich weiß hier in
einer Nebenstraße ein kleines Restaurant, in dem man um diese Zeit sicher
niemand trifft.«

»Nein,« sagte sie, ein wenig lächelnd. »Es dürfte doch befremdend wirken,
wenn zufällig jemand von meinen Bekannten mich in so einem Lokal sähe.
Dagegen können wir hier in die Konditorei eintreten. Da kennt man mich --
wir sitzen in dem Erker da -- sehen Sie -- vor aller Augen und doch ganz
allein.«

Er musterte sie einen Augenblick verwundert, als ob er fragen wollte: Was
fürchtest du denn noch? Sie verstand und antwortete auf die stumme Frage:
Nein, nein. Sie mache durchaus Gebrauch von dem Recht ihrer weißen Haare
-- aber in dem Beamtenstaat, in dem sie lebe, wäre alles gewissermaßen
numeriert, die Leute, mit denen man umginge, die Orte, die man besuche.
Übrigens hätte sie auch aus den Erfahrungen ihrer früheren Jahre gelernt,
etwas wie Schutz in einer umzäunten Lebensenge zu finden ... Sie könne
gut mit einem Jugendbekannten in einer vornehmen, großen Konditorei
zusammensitzen -- in einer obskuren, kleinen Restauration, die sie sonst
nicht beträte, würde es aussehen, als ob sie mit ihm über wer weiß was zu
reden hätte ...

Sie sagte das lächelnd, im Eintreten; und sich geschickt durch die
enggestellten Tische windend, dirigierte sie ihn zugleich in den vorhin
bezeichneten Erker, der durch zwei Goldsäulen von dem großen Raum
geschieden war.

Und nun saßen sie einander gegenüber. Ein Paar Tassen zwischen sich, von
dem faden Geruch der süßen Backware, des Kaffees, des Grogs eingehüllt,
von dem leisen Rauschen der Zeitungsblätter in den Händen der ringsumher
Lesenden, von dem Kommen und Gehen der Gäste, von durcheinanderhallenden
Gesprächsbrocken umgeben.

Doktor Ender hatte sich aufgestützt und ließ den kahlen Kopf hängen. Frau
von Betzwold nestelte an dem Schleier, musterte zerstreut und unruhig das
Publikum und wandte sich dann, in den Schatten der Säule rückend, ganz dem
Schweigenden zu.

»Wir müssen aber die kurze Zeit, die wir uns schenken, ausnützen ...
Erzählen Sie zuerst von sich, lieber Freund! Was haben Sie in all den
langen Jahren angefangen?«

Der verbitterte und traurige Zug um seinen Mund vertiefte sich, und das
nervöse Zucken zitterte sekundenlang über eine Hälfte seines Gesichts.

»Ich habe nicht viel Tatsächliches zu erzählen ... Mein Onkel Farrstein --
wenn Sie sich noch erinnern,« Frau von Betzwold nickte -- »starb ein
paar Jahre nach -- nach unserer Trennung und hinterließ ein viel größeres
Vermögen, als ich erwartet hatte. -- Übrigens machte ich damals den letzten
Versuch, mich Ihnen zu nähern -- ich bekam aber meinen Brief, den ich
nach Sagan schickte, wohin Ihr Gatte doch gegangen war, als unbestellbar
zurück.«

»Das wird wohl in der Zeit gewesen sein, in der ich in Sanatorien
herumwanderte -- die Jungen im Korps waren -- mein Mann auf irgendeiner
der Probestellungen, die er nach seiner Pensionierung in allen möglichen
Branchen suchte ... Schließlich landeten wir ja dann doch wieder in Sagan,
wo er auch starb ... Aber zu Ihnen, lieber Freund -- was fingen Sie nun
an?«

»Meine Erbschaft ermöglichte es mir, die Last des traurigen Berufs
abzuwerfen.«

»Sie waren doch Lehrer aus Passion! ...«

»Nicht mehr nach unserem Erlebnis! ...«

»Und womit beschäftigten Sie sich denn? ... Sie hatten doch einen so
ungeheuren Tätigkeitsdrang....«

»Nicht mehr nach unserem Erlebnis,« wiederholte Doktor Ender. »Ich bin in
der Welt herumgewesen, habe gesehen und erlebt, was man als Reisender ohne
Anhang und ohne Ziel erlebt ... Und zuletzt, als mich das zu ermüden anfing
-- ich auch die eine Note begriffen hatte, auf die mein ganzes Wesen --
seit damals -- gestimmt war -- habe ich mich in eine Tätigkeit gestürzt,
die nun eine Art Lebenszweck geworden ist ... Ich versuche nämlich,
unschuldig Verurteilten zu helfen -- nach meiner Meinung ist ihr
Prozentsatz ein erschreckend hoher. -- Alle großen Mordprozesse, bei denen
die Täterschaft zweifelhaft ist, durcharbeite ich mit und suche sie mit
Aufwand all meiner Kräfte und Mittel aufzuhellen. Hier und da habe ich auch
schon einen kleinen Erfolg gehabt, -- die öffentliche Meinung beeinflußt
im Sinn der Gerechtigkeit. -- Ich betrachte meine Arbeit als eine Art Sühne
... Sie werden das begreifen, nicht? ...«

Die Geheimrätin sah sehr bestürzt vor sich nieder und erwiderte nichts.

»Und Sie?« fragte er, als sie schwieg.

»Ach, mit mir hat's das Leben schließlich noch gut gemeint. Wohl als
Revanche für die schrecklichen Erfahrungen ... Daß ich damals -- nachdem
ich Sie verließ, an der See schwerkrank war, und von da gleich nach Jena
in eine Nervenheilanstalt geschickt wurde, haben Sie wohl noch erfahren ...
Dann haben Sie ja aufgehört, nach mir zu fragen, wofür ich Ihnen übrigens
von Herzen dankbar gewesen bin -- denn ich hätte ein Zusammenkommen nicht
mehr ertragen, wie ich auch lieber gestorben wäre, als nach Kreuzstadt
zurückzugehen ... Nachdem dann die gräßliche Geschichte dort ihre --
Erledigung gefunden hatte und ich wieder fähig war, unter gesunden Menschen
zu existieren, bin ich nach Sagan gekommen. Daß der Tod meines Mannes, der
bald darauf erfolgte, mich nicht besonders tief traf, werden Sie begreifen
... Zwei Jahre danach lernte ich in Thüringen meinen jetzigen Gatten
kennen, und da ist dann alles Böse und Traurige versunken, und ich bin eine
recht glückliche Frau geworden ...«

»Und die Buben -- die Zwillinge?!« fragte Doktor Ender.

»Beide vor dem Oberleutnant -- prachtvoll geworden. Und meine beiden Mädel
aus _dieser_ Ehe auch liebe, schöne Geschöpfe ... Ich bin eine sehr stolze
Mutter -- und, wie gesagt, ich habe allen Grund, zufrieden zurück und wohl
auch in die Zukunft zu sehen.«

»Irmgard Splettner,« sagte Doktor Ender nach kurzem Schweigen, »ich
bewundere Sie. Ich bewundere Ihre Selbstbeherrschung und Ihre Lebenskraft
... Fast noch jugendlich und blühend an der Schwelle des Alters ... Ich
habe mich nicht so bemeistern können. Mir hat unser Erlebnis -- unsere
Schuld das Leben zerbrochen, jedes Streben vernichtet ... Dabei habe ich
mir noch Vorwürfe gemacht, daß ich dich, das Weib, die schwächere, nicht
stützen und trösten konnte -- und nun bist du ...«

Bei diesem »Du« zuckte Frau Irmgard zusammen und machte eine kleine,
abwehrende Bewegung.

Doktor Ender bemerkte es nicht. Er saß zusammengesunken da und sah mit den
ausgeblaßten, trüben Augen starr vor sich hin.

»Lieber Freund -- wir haben, seitdem das -- das Peinliche sich ereignete,
so viel erlebt und erfahren, Schlimmes und Gutes, jedenfalls Ausfüllendes
-- Sie doch auch -- daß jenes Erlebnis restlos, man kann wohl sagen --
verschlungen ist ... Warum jetzt noch einmal darauf zurückkommen? ...«

»Haben Sie denn wirklich und wahrhaftig vergessen -- und ohne
Gewissensqualen weiter leben können? ...«

Frau Irmgard seufzte ein wenig beklommen.

»Mein Gott, natürlich habe ich seinerzeit viel ausgestanden, tödliche Angst
vor allem -- aber es ist doch auch viel geopfert worden -- alle Wünsche
-- und -- das, ja -- Sie wissen es ja am besten -- wir haben uns doch nie
wiedergesehn seitdem.«

»Ich weiß, daß wir auseinandergegangen und aneinander vorübergeschlichen
sind wie zwei Feiglinge, wie zwei Verbrecher, die wir schließlich auch
waren ...«

Frau Irmgard wurde weiß bis in die Lippen.

»Ich bitte Sie -- leise! Was wollen Sie mit diesen pathetischen Worten --
mit diesem gewaltsamen Aufwecken längst verschollener Dinge? Das war ein
anderes Leben, so weit ab von dem jetzigen ...«

»Natürlich, natürlich.« Er nickte und lachte mit einem gequälten, höhnenden
Ton. »So weit ab, wie etwa das Lokal hier -- von der Wirtschaft -- dem
Heidekrug ...«

»Schweigen Sie!« befahl Frau von Betzwold. »Sonst gehe ich auf der Stelle
... Ich will das nicht -- ich bin fertig damit ... Wie können Sie nur,«
lenkte sie ein, als sie in sein graues, vergrämtes Gesicht mit den
trostlosen Augen sah. »Warum quälen Sie _sich_ und schließlich auch _mich_
so? ...«

»Sie haben recht, es ist ganz überflüssig. Aber ich bitte Sie -- bleiben
Sie. Sie mögen mich für einen sehr schwachen Menschen halten. Aber bedenken
Sie -- das lebenslange Schweigen, das Herumirren in der Welt unter Fremden,
immer in der Maske des Ehrenmanns, der man vor sich doch nicht ist -- und
nun plötzlich die einzige, die einen kennt, mit der man sprechen kann
über all diese verquälte Zeit, weil sie die gleiche Last durch das Leben
geschleppt hat ...«

»Nein, nein, ich sagte schon wiederholt, ich habe das längst abgetan ...
Mein Gott -- unsere gemeinsame Schuld -- gewiß, es war eine, -- in meiner
Welt von jetzt genau wie in der von damals -- ich war sicherlich eine
untreue Frau -- aber wenn man die mürrische, grausame Strenge meines Mannes
bedenkt -- -- und _wir_ zwei hatten uns lieb -- waren so jung und so froh!
... Was haben wir zusammen gelacht und geschwärmt ... Schöne Zeiten waren
es trotz alledem!« ...

Ja, jene Zeiten!

Durch den bläulichen Dunst, das leise Stimmengeschwirr, durch die hastende
Unruhe im Kommen und Gehen schlichen sie in den Erker und schütteten die
Erinnerungen an harmlose Freuden und Leiden, an verschwiegenes Wünschen und
erfülltes Sehnen über die beiden Menschen, die traumverloren da saßen ...

Frau Irmgard sah ein paar längst versunkene Lebensbilder zum Greifen
deutlich vor sich aufzucken.

Das kleine Haus der Bezirkskommandantur in der stillen Straße hinter dem
Ordenstor, ihr damaliges Heim ... Major Splettner, ihr damaliger Gatte,
grämlich und verbittert wegen der zu früh abgeschlossenen Karriere ...
Seine ewig scheltende Stimme mischt sich mit dem zwitschernden Jubel der
Zwillingspuppen, mit denen sie selbst kindlich froh herumtobt, wenn der
Hausherr nicht da ist ...

Wie ein Schatten huscht der lange Adjutant über die Straße, der vierte in
dem lustigen Bund, und in der Kaprifoliumlaube des verwilderten Hausgartens
kräht er zum Ergötzen seines dankbaren Publikums wie ein Hahn, gackert
wie ein Huhn, wenn es ein Ei gelegt hat, und läßt mit dem Mund
Champagnerpfropfen knallen ...

Aber das Tollen muß aufhören, die Jungen, noch nicht sechsjährig, sollen zu
lernen anfangen, bestimmt der Major. Und da bringt eines Tages der Adjutant
seinen Freund Doktor Ender ins Haus. Er ist Reserveoffizier bei dem
Infanterieregiment, von dem zwei Bataillone im Städtchen liegen; das
legitimiert den jungen Gymnasiallehrer bei dem Major, der ihn sonst
nicht ernsthaft genug und bedenklich jung findet ... Mutter und Lehrer
bemißtrauen sich im Anfang anscheinend, sind eifersüchtig aufeinander und
beklagen sich gegenseitig bei dem gemeinsamen Freunde. Aber auf dem
ersten Spaziergang mit ihm und den Kindern, an einem Märztag, längs den
abfallenden Ufern der raschfließenden Aller -- beim Kätzchenpflücken
-- stehen sie plötzlich voreinander -- tief erschrocken, einander stumm
anblickend: das bist du ... das hab' ich ja nicht gewußt ...

»Es ist sonderbar, daß man in einem Augenblick ganze Monate in der
Erinnerung durchleben kann,« sagte Frau Irmgard von Betzwold aufatmend ...

»Ja, ich habe eben auch vieles deutlich gesehn und empfunden, was über dem
grausigen Abschluß längst vergessen war ... Vieles Schöne und Liebe.«

»Und schließlich war es auch nicht einmal eine Schuld,« sagte Frau Irmgard
unbewußt. »Es hätte so aussehen können, wenn es je einer geahnt hätte ...
Was nahm ich ihm denn? ... Gar nichts! Ich versteckte unser kurzes Glück
vor ihm, wie ich vor seiner Gehässigkeit jede kleinste Lebensfreude
verbergen mußte ...«

»Freilich war diese Schuld eine geringfügige gegen das andere,« sagte er.
»Sonderbar übrigens, daß das, was uns zum erstenmal einander in die Arme
jagte, auch ein Mord war ... Denkst du daran? ...«

Ob sie daran dachte ... An den unvergeßlich grauenhaften und doch schönen
Tag ...

Die Nachbarkatze hatte das einzige, was der Major auf der Welt liebte --
seinen Kanarienvogel, gefressen -- und er, mit dem Burschen gemeinsam, sie
gefangen und mit einem alten Degen lebendig an die Wand gespießt.

Sie schauderte noch heute, wenn sie daran zu denken wagte. Halb
bewußtlos vor Grauen, war sie zitternd aus der Wohnung gelaufen. In der
Abenddämmerung durch den Garten über den Wiesenweg zu dem kleinen Haus
neben dem Tannenkrug, in dem Doktor Ender allein wohnte ...

Fassungslos war sie ihm um den Hals gefallen und hatte nicht mehr fortgehen
wollen -- und war dann doch selig -- als sein Weib -- unempfindlich gegen
das, was sie zu Hause erwarten konnte, heimgeschlichen ...

»Hätten wir damals -- nach jenem Maiabend, den Mut gehabt, uns zueinander
zu bekennen« -- sagte Doktor Ender nachdenklich.

»Um Gottes willen,« rief die Geheimrätin. »Ohne Existenzmittel -- die
Kinder in seinen Händen ... Sie selbst haben das doch damals für unmöglich
gehalten ... Ich hätte es ja auch gar nicht überlebt -- Splettner
hätte mich wie jene Katze, glaube ich -- doch warum diese überflüssigen
Erwägungen? ... Vier Jahre später war er tot ...«

»Und wieder ein paar Jahre später war ich ein wohlhabender Mann -- aber
was half uns beiden das? Uns hatte die Nacht vom 8. September
auseinandergefegt. Und doch hätte sie uns zusammenkitten müssen, wenn man's
recht bedenkt ...«

»Nein, nein, es war schon richtig so, daß wir uns nicht mehr sahen ...«

»Angst war es vor der Welt -- bei mir mißverstandenes Ehrgefühl dazu.
Darüber haben wir einen unschuldigen Menschen ins Verderben und in einen
frühzeitigen Tod gejagt. Haben Sie daran nie gedacht? ...«

»Dieser Kellner Hake war ohnedies ein verlorener Mensch. Er hatte allerlei
Schandtaten auf dem Gewissen. Ich habe mich später erkundigt ...«

»Aber die, wegen der er lebenslänglich verurteilt, wurde und dann auch im
Zuchthaus starb, hatte er nicht begangen. Und wir wußten es.«

»Wir konnten es nicht genau wissen -- es war immerhin möglich ...«

»Beschönige es nicht. Sieh noch einmal das Ganze, wie es war ...«

Frau von Betzwold stützte sich auf und sah mit überquellenden Augen in ihre
Schokoladentasse, aber sie schwieg. Sie ließ die Worte des Mannes über sich
hinstreichen wie einen Wind, dem man schutzlos preisgegeben ist.

»... Wir hatten uns drei Wochen nicht gesehen. Ihr wart an der See -- in
Cranz, und wolltet noch den ganzen September dort bleiben. Da warst du
auf die Idee gekommen, irgendeine Reparatur in deiner Wohnung vornehmen zu
lassen, und kamst für einen Tag herüber. Weißt du es?«

Sie nickte. »Leider ...«

»Am Tage zeigtest du dich im Städtchen. Die Nacht gehörte uns. Du kamst
über den Wiesenweg -- ganz feucht von den Abendnebeln kamst du ... Am
Morgen schlichen wir hinaus. Auf der schiefen Bank im Ellernbusch, oben am
Ufer, dicht neben der Gartenpforte hinter dem Tannenkrug, setzten wir uns
nieder. Wir drückten uns schweigend aneinander und sahen glückssatt in die
fahle, stumme Welt um uns, und ich weiß noch, wie eine große Eule vor
dir aufflog, ohne daß man sie hörte ... Und da schlurrte das Schicksal
heran ...«

»O Gott,« seufzte Frau Irmgard.

»Da, es war der Gastwirt Passinner. Er kam über seinen Hof geschlichen,
und wir sahen ihn erst, als er mit der Last, die er schleppte, dicht neben
unserm Busch stand, so dicht, daß wir durch das Blattwerk auch die wilden
Augen sehen konnten, mit denen er um sich spähte, bevor er den blutigen
Sack das steile Ufer hinab in das Wasser warf ... Er keuchte und stöhnte --
es war wohl keine leichte Last gewesen, und der schwarze Zopf ...«

»Ich sterbe, wenn du nicht schweigst,« unterbrach Frau Irmgard mit
vergehenden Blicken.

»Das war ja alles ... Weiter gab's ja nichts ... Wir rührten uns ja nicht
... Wir sahen einen Mörder davontaumeln und blieben muckstill ...«

»Ja, natürlich ... vor Entsetzen ... Wie gelähmt waren wir, konnten nicht
sprechen und saßen wie versteinert da.«

»Aber du mußtest doch nach Hause. Heimbringen durfte ich dich nicht.
Ich blieb im Ellernbusch und sah dich wie einen Schatten durch den Nebel
gleiten ...«

»Ach, ich in meiner schauerlichen Angst rannte und rannte. Ich riß zu Hause
meine paar Sachen zusammen und lief auf den Bahnhof und saß zwei Stunden im
Wartesaal und klammerte mich an unseren Kohlenlieferanten, der auch mit dem
Morgenzug fahren wollte, und der sich meiner dann später auch angenommen
hat. An dich habe ich gar nicht gedacht ... Es war in mir alles wie
ausgelöscht, Liebe und alles. Mit einem Mal und für immer ...«

»Also bei dir auch?« sagte Doktor Ender. »Ich wollte es mir anfangs gar
nicht zugeben. Auch war ja die Sehnsucht nach dir oft groß ... Keine
Liebessehnsucht -- nein --. Aber du hattest ja das Wundermittel der
Erlösung in Händen -- ein mutiges Wort von dir, und der unglückliche
Kellner -- den sie schuldig sprachen, als der Mord, trotz der
unzugänglichen Stelle am Fluß, bekannt wurde -- während der wirkliche
Mörder als Hauptbelastungszeuge auftrat -- -- und er ist ja dann auch bis
an sein seliges Ende frei herumgelaufen ...«

»Ach, es war ja alles verlorenes Volk, lieber Freund. Selbst die
unglückliche, ermordete Hausiererin mußte ihr Leben wegen einer Diebsbeute
lassen ... Wir dagegen hatten alles zu verlieren, Kinder, Stellung ...
Sagen Sie selbst: wie hätten wir weiter leben sollen, wenn wir öffentlich
bekannt hätten? ... O Gott, nein -- so furchtbar das alles war, käme es
heute noch einmal -- ich würde genau so handeln wie vor zwanzig Jahren --
oder, besser gesagt, mich gerade so treiben lassen ...«

»Das ist doch aber das Schrecklichste von allem gewesen -- dies sich gegen
seinen Willen Treibenlassenmüssen,« sagte Doktor Ender. »Da stehen die
Gerechtigkeit und die Wahrheit. Man ist ein anständiger Kerl, kann sich
eine Weltordnung ohne die nicht vorstellen -- und man schleicht an ihnen
vorbei. So ins Nichts, ins Dunkle ... Ich kann Ihnen sagen, Irmgard
Splettner, keine Stunde hab' ich meinen Jungen in der Klasse mehr geben
können -- mittendrin kam's über mich -- so einer wie du, der Mitwisser
einer scheußlichen Tat -- der ganz ruhig zusieht, wie ein armer,
unschuldiger Mensch seiner Ehre, seiner Freiheit beraubt wird -- mit
welchem Recht will der Jugend belehren und erziehen? Ich hatte ja keinen
Grund mehr unter den Füßen -- ich hab' ihn nie wieder erobern können ...«

»Leiser ... man wird sonst aufmerksam auf uns,« sagte die Geheimrätin
ängstlich ... »Ich begreife es ja nicht, daß Sie innerlich nicht ruhiger
wurden, als es bei den Verhandlungen herauskam, was für ein Verbrecher
dieser Kellner Hake auch ohne diesen Raubmord war -- aber sagen Sie mir
eins. Wenn Sie mich schonen wollten, und das mußten Sie natürlich -- warum
meldeten Sie sich nicht allein zur Zeugenschaft? Niemand wußte von mir --
kein Mensch hatte mich gesehen ...«

Doktor Ender beugte sich zu ihr hinüber.

»Das ist's ja eben, was Sie nicht wußten, und was ich Ihnen auf keine Weise
mitteilen konnte ... Er hat Sie gesehen, und er hat auch mich gesehen, wenn
ich auch den Kopf gleich wieder in den Busch zurückzog und er ganz ruhig
blieb ...«

»Wer -- um Himmels willen, wer? ...«

Starr und leichenblaß saß Frau von Betzwold da.

»Der Passinner, der Mörder,« flüsterte Ender. »Als du davonliefst und ich
dir wenigstens schutzbereit nachsah, raschelte es am Zaun, und ich sah ihn,
schwer auf den Querpfahl gelehnt und mit seinen Glotzaugen dir folgend und
auch mich streifend, als ich tödlich erschreckt vortrat, um dir zu Hilfe zu
eilen ...«

»Und?«

»Nichts weiter. Er ließ den Kopf hängen, ich zog mich in unüberlegtem,
feigem Abwarten zurück und sah ihn dann sich nach dem Haus schleppen.«

»Und hast ihn nie gesprochen?«

»Nie ... Es war ja alles wie ein quälender Traum, und ich konnte mir
manchmal auch denken, daß meine vernichteten Nerven mir das vorgespiegelt
hätten -- nur ...«

»Mein Gott, wir wollen jetzt nicht mehr alle Möglichkeiten erwägen ... er
ist ja lange tot ... Gott sei Dank, lange tot ... Und welch ein Glück, daß
ich dies letztere nie erfuhr ... Ach, alle längst vergessene Bangigkeit und
herzbeklemmende Sorge war in einem Moment wieder aufgewacht ... Lassen Sie
uns anderes reden ... Wissen Sie, daß mein Interesse für ähnliche Vorgänge
mich eigentlich mit meinem Gatten zusammengeführt hat? ...«

»So, weiß er also? ...« fragte Doktor Ender freudig interessiert.

»Um Gottes willen! ... Aber ich habe doch über alles, auch das Juristische
Bescheid bekommen -- und ich bin ganz, ganz ruhig geworden ...«

Doktor Ender sank wieder zusammen.

»Aber es steht doch alles für Sie auf einem schwankenden Boden. Haben Sie
das nie bedacht? Das Wirkliche an sich, das ganz einfach Wahre haben wir
doch verschleiern geholfen. Damit haben wir unseren Anteil an der einzig
allgemeinen Kulturaufgabe, die zugleich das einzige Bindeglied zwischen
Mensch und Mensch ist, fortgeworfen -- das einzige Steuer, mit dem man an
der Bosheit und Dummheit der Welt vorüberkommen kann, zerbrochen. Im Licht
wandeln ... Haben Sie nie daran gedacht, welch ein Glück es sein muß,
nichts zu verbergen zu haben? ... Im Licht wandeln ...«

»Sind Sie ein Frommer?« fragte Frau Irmgard ängstlich mit der unbestimmten
Erinnerung an ein Bibelwort und drückte seine gestikulierende Hand auf den
Tisch.

»Was ich bin? Weiß ich das? Jedenfalls ein Lügner, einer, der das
Weltgefüge zerstören helfen wollte, und dabei, wie alle seinesgleichen,
sich selbst zerstört hat.«

»Das werden Sie tun, wenn Sie mit solchen Grübeleien fortfahren, die Sie ja
unglücklich machen müssen ... Ich verstehe Sie ja nicht und bin froh, daß
ich all das so anders auffasse ... Mein und der Meinen Leben hab' ich dabei
nicht verdunkelt, im Gegenteil ...«

»Und das wieder ist mir ein unlösbares Rätsel,« sagte Doktor Ender müde.
»Das gleiche Schicksal, der gleiche Sturm faßt uns, und Sie treibt er in
ein stilles friedliches Leben -- mich in eine wüste Einsamkeit, in die
keine warme Menschenstimme mehr dringt -- nichts als die Schreie der
unschuldig Verurteilten aller Zeiten.«

»Lieber Freund, Sie haben sich in böse Phantasien eingesponnen, und ich
bin nicht stark genug, um Ihnen diese gefährlichen Entstellungen der klaren
Wirklichkeit zu zerstören.«

»Entstellungen der klaren Wirklichkeit? ... Mir? ... Und das sagen Sie
-- Irmgard Splettner, deren ganzes Leben sich wie hinter einer getrübten
Scheibe abspielt?«

Die Geheimrätin lächelte halb nachsichtig, aber doch mit einem kleinen,
ungeduldigen Blick in den noch immer schönen, ruhigen Augen.

Doktor Ender zuckte darunter zusammen. Er stand auf. Sein eben noch in
Bewegung zuckendes Gesicht nahm einen starr höflichen Ausdruck an.

»Meine gnädige Frau, unser Zusammentreffen hat mir die allerletzte Illusion
genommen, daß es einen Menschen auf dieser Welt gibt, mit dem gemeinsam ich
eine gleich schwere Last trage. Im Grunde müßte ich in Ihrem Interesse
wohl froh darüber sein ... Leben Sie wohl. Hoffentlich tauche ich mit der
Vergangenheit in die Verdunklung zurück, die Ihnen das Leben so leicht
gemacht hat.«

Frau von Betzwold streckte ihm die Hand entgegen. »Das sicherlich nicht.
Ich will an das Liebe und Schöne denken, das unsere Jugend uns beschert hat
und ...!«

Doktor Ender beugte sich fremd über die gebotene Hand, und mit bitterem
Lächeln um den zusammengekniffenen Mund ging er hinaus, ohne noch einmal in
das Gesicht zu sehen, das ihm doch einst das liebste gewesen war.

Die Geheimrätin blieb noch einen Augenblick in ihrem Erker. Anfangs als
sie sich wieder allein sah, hatte sie das Gefühl, die letzte Viertelstunde
geträumt zu haben.

Dann schäumte ein wildes Durcheinander von Stimmen, Bildern, Ängsten, --
ein beklemmendes Entsetzen in ihr auf, peitschte ihr Blut und ließ ihr Herz
jagen ... Was war das? Wie hatte sie das erleben können? ... Wie durfte sie
das erleben? ... Dieser arme Phantast, -- was war aus dem lachenden Jungen
geworden? Jetzt waren ihre Zwillinge so alt wie er damals.

Dieser Gedanke riß sie wieder in die gewohnte Bahn.

Nicht mehr diesen verschollenen Geschichten nachhängen, nicht mehr daran
denken -- nie mehr. Das war man sich und dem Leben mit seinen großen und
kleinen Anforderungen als pflichttreue Gattin, Mutter und Frau von Welt
schuldig ...

Heute abend machte man Kammermusik bei ihr. Brahms H-Moll. Ihr Gatte war
ein vorzüglicher Cellist -- ihre Tochter Eva fast Meisterin auf der Geige.

O, es tat gut, in diese Welt der Harmonie zurückzukehren, die vor
schreienden und klagenden Stimmen, vor schuldvollen Erinnerungen, vor
begrabenen Jugendsehnsüchten und Ängsten ihre klingenden Tore schloß.



Todesbotschaft


Der alte Sandsteinheilige stand auf dem Hügel und breitete über das
lachende, sonnengebadete Tal segnend seine Armstümpfe. Die Hände waren ihm
nämlich in Wirklichkeit vor Jahrhunderten gerade an diesem Fleck abgehauen
worden, ehe man ihn erschlug. Daß er nun schon lange in steinernem Bilde
seinen Segen gerade von dem Ort her spendete, der sein Blut getrunken
hatte, schien dem blühenden Lande, wie es da vor und unter ihm lag, wohl
zugute zu kommen.

Es war, als ob es alle Sonne auffinge. Die gelben Ährenfelder leuchteten,
die harzigen Spitzen der jungen Fichtenpflanzungen funkelten wie kostbare
Steine, das Wässerchen, das sich durch die saftgrünen Wiesen wand,
glitzerte und sprühte mit blausilbernen Funken -- kurz, es war ein Lachen
und Leuchten in dem ganzen Gesichtsfeld des heiligen Mannes, das ihm wohl
gefallen konnte. Dafür sah es hinter seinem Rücken ganz anders aus. Da
führte ein schmaler Weg in einen mächtigen, düsteren Wald. An dem schien
die Sonne abzuprallen. Seine uralten Buchen wehrten sich gegen die heiße
Flut, die draußen das Tal überströmte, und nur ärmliche, grüngoldene
Wellchen zitterten über den Weg, der, langsam ansteigend, sich in grüner
Dämmerung verlor.

Am Eingang dieses Weges stand eben eine einsame Frau, die aus einem der
großen Sanatorien des Badeortes drüben hierhergekommen und im Vorübergehen
mit dem alten Steinbild und all der goldenen Lebendigkeit ringsherum gut
Freund geworden war.

Sie stand auch noch ein Weilchen da und sah mit den stillen Augen, aus
denen das Leben Lachen und Weinen herausgeholt hatte, voller Verwunderung
über so viel Glanz und Fülle um sich. Zu ihren Füßen standen Blumen in
unbeschreiblicher Mannigfaltigkeit.

Als ob sie einen Teil der Sommerschönheit für sich bergen wolle, bückte
sie sich trotz ihres kranken Herzens, dem, wie sie wohl wußte, hastige
Bewegungen verderblich werden konnten, und fing an, eifrig davon zu
pflücken ... Rote Kuckucksnelken und tiefblaue Glockenblumen, weißglänzende
Schafgarben, Wicken, Windengeranke, den gelben Steinbrech, der so stark und
schwül duftet, und mancherlei anderes buntes und liebliches Sommergewächs.

Ehe sie sich dessen versah, hatte sie einen ganzen Armvoll. Und den Kopf
mit dem schon silbern schimmernden Haar hineingedrückt, schlug sie nun in
Gedanken den düsteren Waldweg ein.

Kühle und Dämmerung unter den hohen Bäumen strichen wie liebkosende Hände
über ihren heißen Leib. Ein paar blasse, huschende Lichter tauchten in dem
dunkeln Laub auf oder kletterten zitternd an den Stämmen empor. Ein Specht
pochte in der Ferne, sonst war alles still ... Die Wirklichkeit schien in
dem Sonnental geblieben. Hier im Schatten standen die Träume auf ...

Zuerst ging die Frau mit dem Arm voller Blumen weiter und weiter, unbewußt
sich ihres Alleinseins freuend, ohne um sich zu hören und zu sehen.
Allmählich aber sprangen aus dem Walddunkel Töne und Worte über sie her,
ohne Zusammenhang -- hier eines und dort eines, und plötzlich war es ein
altes Studentenlied, das ihr in den Sinn kam.

Vor vielen Jahren hatte sie es von einem gehört, der schon lange tot war
und der ihr auch eine Geschichte dazu erzählt hatte, die sie nicht mehr
wußte. Aber die Worte waren nun da, und sie summte sie vor sich hin, im
Takt danach schreitend:

  Wo seid ihr
  Zur Zeit mir
  Ihr Lieben
  Geblieben,
  Die einen --
  Sie weinen --
  Die andern --
  Sie wandern,
  Die dritten --
  Noch mitten
  Im Strome der Zeit.
  Gestorben --
  Verdorben --
  Zu den Toten
  Entboten --
  Ach alle, wie weit ...

Im Gehen dämmerte ihr auch der Sinn der gedankenlos hingemurmelten Verse
auf, und damit kam eine flüchtige Erinnerung angeschlichen. Dahinter eine
andere und dann mehr und immer mehr, bis zuletzt nichts als ein großes
Fragen in ihrer Seele war: »Ja, wo seid ihr alle, mit denen ich einmal
wanderte, ich, die ich jetzt so allein bin?« Sie setzte sich auf eine Bank,
die sich in ein Erlengebüsch schmiegte und von der aus man endlos weit in
den grün dämmerigen Weg sehen konnte, lehnte den Kopf an den Stamm hinter
sich und machte die Augen zu.

Aus den Fragen wurde eine große Sehnsucht und aus der Sehnsucht ein Rufen:

»Ach, wenn ihr doch wiederkämt -- wenn ihr doch wiederkämt -- du -- und du
-- und du!« Und wie sie dann aus halbgeöffneten, traumverschleierten Augen
aufsah, schien es ihr, als ob Schatten um sie her aufstiegen und langsam
vorüberglitten. Sie fürchtete sich nicht.

»Ja, kommt nur,« sagte sie und suchte, ob sie nicht liebe entschwundene
Gestalten unter den gleitenden zu erkennen vermöchte.

Fast war es ihr auch, als ob sie einen und den andern von ihren
Heimgegangenen den dunkeln Weg heraufziehen sähe. Hier und da tauchte ein
wohlbekanntes Gesicht hinter einem Baumstamm auf, aber es zerfloß, und ein
anderes erschien, das irgend eines Weggenossen kurzer Stunden.

Und niemand von ihnen machte vor ihr Halt. Niemand hauchte ihr im
Vorüberstreifen ein gutes Wort zu, auch die Liebsten glitten mit weit
offenen und doch blicklosen Augen an ihr vorbei und zerflatterten in dem
grünen Dämmer.

»Ich habe nicht Kraft genug, euch zu rufen oder zu halten,« dachte sie
traurig, »sonst sprächt ihr wohl mit mir.«

Sie senkte die Blicke und drückte das Gesicht in die lebendigen Blumen ...

»Was machst du mit all dem blühenden Unsinn?« fragte da aus dem
Schattenzuge her eine spöttische Stimme.

Ja, was macht man mit blühendem Unsinn? -- Man freut sich daran -- man hebt
ihn auf -- man wirft ihn weg.

»Doch -- wer fragte mich denn? -- wer war das?«

Sie schaute auf, und da sah sie dicht vor sich den, der sie vor langer,
langer Zeit jenes Lied gelehrt hatte, mit dessen Versen sie diesen Weg
gegangen war.

»Wie kommst denn _du_ her zu mir? An dich hab' ich kaum gedacht -- und
gerade _du_ bist da?«

Ein leises Lachen. Und wie der Schatten immer körperlicher wurde! Zum
Erstaunen lebendig, gar kein Traum mehr ... die große, gedrungene Gestalt
mit der nachlässigen Haltung ... die breiten, festen Hände -- das Gesicht,
häßlich mit seinen hervortretenden Backenknochen, dem grausamen Munde,
um den Zärtlichkeit und Hohn spielten ... Und die Augen. Ja auch diese
merkwürdigen grauen Augen mit dem rasch wechselnden Blick ...

»Es ist kaum zu glauben, wie deutlich ich dich sehe,« sagte die Frau. »Dich
... dich? ... Ja, hab' ich dich denn noch »du« genannt, als wir uns zuletzt
sahen?«

»Ja, sage nur >du.< Dein Mann ist ja nicht da. Auch keine beste Freundin
... Und vergißt du ganz, daß ich schon lange gestorben bin?«

»Du lebst ja -- du lebst vor mir in diesem Augenblick wie in jenen Jahren,
als ich, kaum erwachsen, zu meiner alten Pate Stephany kam und wir in eurem
Haus über eurer Schlosserwerkstatt wohnten ... Und du Student auf Ferien,
zum Examenarbeiten ... Und wenn ich konnte, lief ich hinunter in den Garten
über dem Moor ... in dem der Kibitz schrie ... und die Wasserhühner pfiffen
... Und wir saßen zusammen und sahen zu, wie die Sternschnuppen fielen, und
wünschten uns tausenderlei ... so lebst du ... jetzt mit einem Male, und
warst doch so lange tot ...«

»Ich lebe von _deinen_ Gnaden. Ich feiere meine Auferstehung auf _deinen_
Ruf.«

»Ich rief dich nicht; du warst gar nicht in meinen Gedanken.«

»Dein Sehnen rief mich, du weißt's nur nicht.«

»Wie sollte das wohl zugehen?« fragte sie. »Ich weiß, daß ich träume. Ich
bin im Walde eingeschlafen. Du hast dich in meinen Traum geschlichen.«

»Soll ich wieder fortgehen?« fragte er, und es war, als ob er in das
Gebüsch hinüberflösse.

»Nein, nein, bleibe. Und sprich. Es ist ein so merkwürdiger Ton in deiner
Stimme. Keine hat je wieder so geklungen. Und dabei hast du mir nicht
einmal viel Gutes gesagt damals.«

»Es war aber alles wahr. Und darum hast du es in deinem Herzen aufbewahrt.
Darum ist anderes, was deinem Sinn schmeichelt, was du gerne hörst und doch
innerlich nicht anerkennst, verklungen. Heute sind die Lebendigen tot, und
ich, der Tote, lebe ...«

»Du mußt nicht sagen, daß du tot bist. Wenn wir hier nebeneinander sitzen,
sollst du diese Stunde ganz leben und mit mir reden ...«

»Wie einst im Mai ...« höhnte er.

»Geradeso war es immer mit dir,« sagte sie. »Wenn man ernst oder
eindringlich mit dir sprechen wollte, fingst du an zu spotten.«

»Ich konnte Sentimentalität nie vertragen,« sagte er. »Du hattest immer
Anlage dazu. Sonst hättest du auch später den langen Erwin, genannt
>Latte<, nicht genommen, als er nach seiner auseinandergegangenen Verlobung
Trost bei dir suchte.«

»Laß doch meinen Mann aus dem Spiel. Hat er nicht das Leben gezwungen?«

»Jawohl ... Leiter so einer großen Bank ist eine schöne Sache ... Ich wäre
jetzt höchstens Justizrat irgendwo in Posemuckel -- wenn ich nicht zugrunde
gegangen wäre.«

»An den Weibern ...«

»Sag: am Weibe, das ist präziser ... Aber freilich Präzision und du! -- Du
mit den huschenden Gedanken und den phantastischen Reden ... Wie hat mein
vielgeliebter Korpsbruder Erwin, die präzise Klarheit in Wort und Wandel,
da wohl gestaunt! Kennen tat er dich ja kaum, als ihr heiratetet ...«

»Das ist auch nicht nötig. Dazu ist das gemeinsame Leben lang genug ... Und
dann -- schließlich -- nach allen Versuchen, sich kennen lernen zu wollen,
ist doch jedes Menschen Los die Einsamkeit ...«

»Ja -- wenn der Lebensweg des sogenannten Gefährten in der Börse mündet,
während die Frau Traumwege sucht und mit Toten geht ...«

»Hätte ich Kinder, wäre das anders. Aber -- es ist auch so gut. Ich bin
jetzt längst jenseits aller Wünsche -- ich gräme mich nicht mehr -- ich
freue mich nicht mehr -- aber ich bin zufrieden.«

»Ist das deine Endweisheit, Sonntagskind? Als deine Haare noch dunkel
waren, verlangtest du andres.«

»Sonntagskind?« sagte sie. »Das hab' ich vergessen in meinem langen Leben.
Es hat auch keiner mehr danach gefragt, seit damals -- seit wir unter
der großen Birke -- dein Vater hatte sie an deinem Geburtstag gepflanzt,
erzähltest du« -- er nickte und sah sie an wie damals, schien es ihr --
»als wir unter jener Birke saßen an einem schönen Sonntagvormittag, an dem
ich die Kirche geschwänzt hatte. Meine Pate und ihre Tochter waren fromm
hingegangen. Da kamst du den langen Gang hinter eurer Schlosserwerkstatt
her und wolltest mir Gedichte vorlesen. Aber die Sonne brannte, und darum
gingen wir in eure Kaprifoliumlaube, in die du mir jeden Morgen ein paar
schöne Verse legtest. Schade, daß ich sie nie zu nehmen wagte.«

»Ja ... ich, ich, ich, den das Weib schon damals in den Fängen hielt, ich
dichtete ein unreifes Mädel an ...«

»An diesem Sonntag aber sagtest du eins aus dem Kopf, das ich schon kannte:
>Es war ein Kind in Avelun.< Und da erzählte ich dir, daß ich auch ein
Sonntagskind wäre, und du sagtest, das hättest du längst gewußt.«

»Und jetzt müßte ich armer heraufbeschworener Schatten wohl den hübschen
Schlußvers sagen: >Wer Liebe singt, der singet Leid -- o Sonntagskind -- o
Sommerzeit! ...< Übrigens sprachen wir damals von Liebe noch wenig ... wir
sprachen von Wagner und Raabes Abu Telfan, von Genie und Charakter, von
Ruhm und Zukunft ...«

»Ja, ja, und von einem Roman, den du schreiben wolltest, haben wir viel
geredet ... Wahrhaftig, ich besinne mich ... =Vitium cordis= sollte
er heißen ... Ach, wie war ich stolz auf ihn! ... Wenn ich's mir recht
überlege, war er naturalistisch vorempfunden ...«

»Erlaube, das ist eine Bemerkung, die in das Reich der Lebendigen gehört.
Vergiß nicht, daß ich da nicht mehr zu Hause bin.«

»Denk doch nicht an die Lebendigen,« sagte sie eifrig; »ich bin ja so froh,
da nun all diese Bilder und Gedanken kommen, die ganz verschüttet in mir
waren. Sprich weiter, sprich! ...«

»Ich spreche ja eigentlich nicht ... _du_ bist es ...«

»Ja, und weißt du, ich vergesse ganz, daß ich eine alte Frau bin und ein
krankes Herz habe. In diesem schönen Traume schlägt es so stark wie in der
Jugend.«

»Schlug es stark? Ja,« sagte er in dem halb nachdenklichen, halb
spöttischen Ton, den sie so gut an ihm gekannt hatte, »ja, für allerhand
Kinkerlitzchen -- für den Sultan Abdul Hamid -- für du-Bois-Reymonds
Grenzen des Naturerkennens.«

Sie lachte hell und froh.

»Geradeso sagtest du damals und wolltest, ich sollte mich mit meinen
Gefühlen auf meine Umgebung konzentrieren ... Es lag wohl nahe, auf wen!«

»Glaubst du, daß dir das Schaden an deiner Seele getan hätte? Glaubst du,
daß deine Lebenden von heute zu kurz gekommen wären, wenn? ...«

»Nichts von den Lebenden. Das Leben liegt in diesem Augenblick so farblos
hinter mir. Dieser Traum wird so schnell vergehen, und das Leben ist noch
so lang ...«

»Glaubst du?« fragte er.

»Glaubst du?« klang es wie ein leiser Widerhall in allen Büschen, von allen
Seiten.

Sie drehte sich um.

»Aus dieser Frage kommt es wie ein kalter Hauch,« sagte sie erschauernd.
»Was willst du damit sagen? Sollte mir der Abschied von der Erde so nahe
sein? Willst du _das_ damit sagen?«

»Hast du nicht schon Abschied genommen, als du sagtest, das Leben läge
farblos hinter dir? Schlägt dein Herz, sonst so kraftlos und müde, nicht
stark und jung, wenn du den alten Garten, wenn du mich siehst, und wenn du
alles mit dem vergleichst, was dir da vorn in Tag und Sonne lebt?«

»Wenn ich Kinder hätte,« seufzte sie, »dann ginge ich mit in die Zukunft
und brauchte meine Seele nicht an die Vergangenheit zu haken.«

»Du wolltest ja keine. Was überhaupt wolltest du je mit dem starken Willen,
der schon Tat ist?«

»Bist du wiedergekommen, um mich zu quälen? Glaubst du, ich weiß nicht, daß
ich mich verirrt habe? Zu den Höhen wollte ich ...«

»Und bist in die fruchtbaren Niederungen der guten Diners gekommen, aus
denen Rangordnung die Kraft des Empfindens und Handelns verjagt hat.«

»Ich höre dich sprechen wie einst, ich sehe dich blicken ... ach, wie habe
ich diesen Blick vergessen können? Wie sich die wehtuende Kälte darin löste
-- zu Weichheit, zu Liebe, zu bedingungslosem Aufgehen ...«

»Wunder auch!« sagte er. »Du machtest mir ja damals meine Seele gesund.
Und zweimal gab es in unserm fernen gemeinsamen Leben dieses heiße,
geheimnisvolle Überströmen von Zusammengehörigkeit, das noch keine Weisheit
erklärt hat ... Weißt du? Ruf es dir ins Gedächtnis das erste Mal. Frau
von Stephany hatte Gäste geladen und bewirtete sie in dem Garten. Für
den Hauswirtssohn, dem sie sonst wohlwollte, war diesmal unter den vielen
adligen Verwandten und Freunden kein Platz gewesen. In Erbitterung darüber
hatte ich mich in die Laube, _unsre_ Laube, gesetzt, von wo aus ich
ungesehen alles beobachten konnte. Und ich sah dich mit einem Gefolge von
dreien herumschwirren, sah, wie der alte Wüstling, der Landrat, in falscher
Väterlichkeit deinen Arm drückte und dich um die Taille faßte ... Und ich
hörte dein Lachen, und ich fühlte einen großen Haß gegen dich. Aber da --
wie ich wieder aufsah, standest du ganz allein, mit herabhängenden Armen
und suchenden Augen, und dann kamst du langsam auf mein Versteck zu ... und
wußtest doch nicht, daß ich drin war.«

»Ach, ich hab's dir ja später gesagt -- ich wußte es -- ich weiß nicht,
woher ... Und als ich vor dir in der Laube stand, gaben wir uns die beiden
Hände und sahen uns an.«

»Und da war es -- das selige, glückselige Fühlen -- du und ich -- eins sind
wir -- _eine_ unendliche Welt wir beide -- _ein_ starkes, heißes Gefühl --
über den Worten stehend -- weißt du?«

»Ich weiß, wie ich stumm und erschüttert fortging zu den Gästen, und mich
bewegte und sprach und wußte nicht, wie und was ... Und dann die Nacht
durch saß ich auf meinem Fensterbrett, bis der Morgen zu dämmern anfing,
und fragte mich immerzu: Was war das in der Laube? Was hatte mich da
gepackt? Was ist über mich gekommen? Ich kann doch diesen Mann nicht
lieben, der Jagd auf die Dienstmädchen der Nachbarschaft macht, der über
Ehre und Recht lacht, der keine Gnade hat mit der Schwäche und keine
Achtung vor der Kraft.«

»Von allem war etwas in mir, gerade wie du es dir dachtest. Und heute
weißt du aus Erfahrung: das Leben ist eine Mischung von unendlich Rohem,
Brutalem, Gemeinem und zierlichen Gebilden, die in unschuldiger und
unbegreiflich zarter Schönheit dazwischen aufblühen. Solch ein schillerndes
Ding war jene Minute.«

»Selig, wem sie beschieden war! ... Leben, wo bist du? ... Weiter -- sprich
weiter ...«

»Ich wiederhole es dir -- _du_ bist es, die alle Worte aus mir quellen
läßt. Dem Tode die Hand hinstreckend, empfängst du die Macht, die Toten in
dir zu erwecken und sie zu dir zu rufen -- zum Selbsterkennen -- und zum
Gericht ...«

»Gericht?«

»Welcher Lebende, an den dich schmerzende Fäden binden, könnte richten über
ein Wesen seiner Art, das noch mit ihm im Drang des Wollens, des Kämpfens
und Unterliegens steht?«

»Wir wollen nicht von Kämpfen und Unterliegen sprechen. Nur noch einen
Blick in das Versunkene und Vergessene, ehe ich aufwache. Laß uns davon
reden, wie wir uns wiedertrafen.«

»Drei Jahre später. Über die scheuen und reinen Tändeleien der alten Zeit
hatten sich Erfahrungen aller Art gehäuft ... Auch bei dir ... Weißt du,
wie wir uns am Tage meiner Ankunft zufällig in der kleinen Buchhandlung am
Markte trafen? Wie wir uns mit kühlen Blicken maßen und uns dann doch mit
einem Frohgefühl die Hände drückten?«

»Ja, ja -- und doch störtest du mich und beunruhigtest mich, wo wir
zusammenkamen auch später. Und dazu gab es viel Gelegenheit. Man feierte so
viele Feste bei uns.«

»Niemand wußte, daß wir uns mehr als flüchtig kannten. Und es kümmerte
sich auch eigentlich einer um den andern nicht, aber das Geheimnis unserer
Geißblattlaube koppelte uns aneinander. Und manchmal ohne irgendeine
Veranlassung gab's ein plötzliches Zucken hinüber und herüber, und ein
Wort, ein Blick tauchte in die versteckten Seelen ... War's nicht so? Und
dann kam ja auch wieder ein Sommertag ...«

»Ja, es war wieder Sommer. Du solltest nun bald fort. Oft stand mir das
Herz still, wenn ich daran dachte, aber dann schien es mir auch wieder,
als ob ich mich freuen würde, wenn ich dich nicht mehr zu sehen brauchte --
damit ich endlich zur Ruhe käme.«

»Als eine Art Abschiedsfest für mich war ein Ausflug in den Stadtwald, den
»Wolfswinkel«, verabredet worden ... Man ging zu zweien und dreien durch
reifende Felder, über Wiesen, auf denen Heu ausgebreitet lag. Wir beide
schlenderten zusammen dahin, von diesem und jenem sprechend, dann wurden
wir stiller und stiller, gaben zerstreute Antworten, und zuletzt schwiegen
wir ganz, benommen von Sonne und Sommerduft und hin und her schwirrenden
Gedanken.«

»Mir war ganz verstört und seltsam zumute, und ich wachte aus meiner
Versunkenheit erst auf, als du weit weg von mir warst. Jeder lachte und
sprach nun doppelt so viel mit den andern, und unsere Blicke, die sich
zuweilen streiften, sagten sich: Siehst du, wie wohl ich's mir hier sein
lasse ohne dich.«

»Du trugst eine weiße Rose an deinem blauen Sommerkleid und spieltest
damit. Sie fiel zur Erde.«

»Du sprangst hinzu und hobst sie auf, und unsere Hände kamen zusammen
... Und da war's wieder wie vor Jahren ... Aber jetzt wußte ich, was es
bedeutete ... Ein sekundenlanger heißer Traum voller Sehnsucht, voller
Wonne, voller Glut und Erfüllung ... Du warst ganz blaß, und deine Augen
brannten ... Keiner merkte etwas -- die jungen schwatzten und liefen
durcheinander, und die alten saßen auf den langen Holzbänken und waren mit
sich beschäftigt.«

»Und wir standen mitten darunter und doch auf einer außerweltlichen Insel,
an der berghohe Wellen heißesten Sehnens brandeten. Unter all dem zahmen
Hausgetier zwei wilde Vögel, denen die Natur ein brausendes Lied von der
höchsten Lebensvollendung in die Herzen schrie ...«

»Still -- still -- ich hab's nie wieder gehört.«

»Dann liefen wir auseinander und machten die kindlichen Scherze und Spiele
der anderen mit und sorgten dafür, daß wir uns nicht trafen.«

»Bis der Abend kam und ein glücklicher Zufall uns für den Heimweg
zusammenführte. Erst sagtest du viel Böses und Höhnisches über den Zwang
der öden Stunden -- dann --«

»Deine Hand in meiner, jede mit Zucken sich wehrend, so gingen wir über das
Waldmoos, den anderen weit voran ... der Mond stand groß und rötlich hinter
der alten heiligen Eiche ... ein feuchtschwerer Nachtwind raschelte durch
ihre Blätter ... die alten Heidengötter sprachen.«

»_Du_ sprachst ... _du_ ... deine Worte brannten. Ein Glück so voller
Glut, daß seine Seligkeit in den göttlichsten Schmerzen ersterben muß.
Vernichtung des Menschen und Aufwachen des Gottes. Wo hast du die Töne
hergenommen, woher quollen diese Worte, die mich mit Entsetzen und Wonne
durchschüttelten?«

»Ich glaubte, du wärest eine Feuerseele, aber du warst nur ein zahmes
Hausfrauenseelchen. Du ersticktest den kleinen Widerhall, den meine Glut
in dir löste, du warfst dich nicht dem verschuldeten Referendar in die Arme
und sagtest: Sturm, nimm uns und trag uns fort, gleichviel wohin ... Du
starrtest zitternd in die raschelnden Bäume am Wege und horchtest schon
halb auf die näherkommenden Schritte des biedermeiernden Justizrats und des
langen Erwin ... die Schritte deines Schicksals ...«

»Ja ... ist es denn ein so schlimmes geworden? Habe ich Erwin nicht
liebgehabt? Bin ich nicht glücklich gewesen? Hab' ich nicht lachen und
weinen können, als ich noch nicht müde war? Hab' ich an dich und all die
tollen Sehnsüchte und Träume gedacht, die du in mir erwecktest und die doch
sterben mußten?«

»Sie sind nicht gestorben. Sie schliefen nur in dir, wie ich. Solange das
Leben fließt und die Alltagswellen darüberströmen, so lange schläft das
Unterdrückte, das Innerste. Aber es kommt der Tag, an dem der Strom einen
anderen Lauf nimmt und den Lebenswillen nicht mehr trifft, es kommt die
Stunde, die euch in den Schattenweg führt, wie eben dich. Dann wacht das
auf, was widerrechtlich zum Schweigen gebracht war, und es ruft stärker
und stärker, bis es uns Tote in euch auferweckt ... dann stehn wir mit
der vergewaltigten Natur zusammen richtend vor euch und heulen euch in die
Ohren: »Was habt ihr aus euerm Leben gemacht? -- -- --«

Mit einem hellen Schrei sprang die Frau auf.

Es war niemand da -- alles leer, nur die Sommerblumen lagen verstreut um
sie herum.

Das Blut jagte mit tausend Stichen durch ihren Körper, das kranke Herz
flatterte, ein eisiges Grauen kroch über sie hin und verzehrte ihre
Gedanken. Sekundenlang stand sie da und starrte um sich. Aber es blieb
alles totenstill in der grünen Dämmerung. Nur der Specht hämmerte in der
Ferne ... Da stürzte sie den dunkeln Weg zurück, über Wurzeln stolpernd,
mit versagendem Atem, bis zu dem Waldeingang, wo in der leuchtenden Sonne
der Heilige das Tal bewachte.

»Sonne, Leben ... haltet mich, behaltet mich!« stöhnte die Erschöpfte und
sank bei dem Bildnis in die Knie ...

»Welche Wirrnis, welches Grauen!« dachte sie, sich allmählich beruhigend.
Diese verschollene kleine Liebesgeschichte! Wie ein Todesgruß!

Und doch -- erhob sich in allem Fürchten und Verwundern nicht schon wieder
eine schwache Stimme, die sie in das Versunkene zurücklocken wollte, dem
sie eben in Todesangst entflohen war?

»Is Ihna net recht?« fragte da ein altes Weibchen, das mit seinem
Rückenkorb den Weg heraufkam. »Se schaun aber schlimm us!«

Die Frau nickte ihr mit mühsamem Lächeln zu. »Es geht schon, ich habe mich
übermüdet und war im Wald da eingeschlafen.«

Das Weibchen schüttelte den Kopf.

»Oh, oh, das is aba nimma gut in den sprindigen, kalten Wald. Wenn ma kann,
soll ma schon in de Sonn bleibe.«

Und sie ging langsam weiter.

»Ja, solange man kann, soll man in der Sonne bleiben,« dachte die Frau, von
heißen und kalten Schauern überrieselt.

Und dann schlich sie mit stechend schlagendem Herzen den lieblichen Weg
hinab zu ihresgleichen -- Menschen, die lebten und atmeten. Wie heute auch
sie noch.... Heute noch! ...


G. Pätz'sche Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.



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uneinheitlicher Schreibweisen, mit folgenden Ausnahmen,

  Seite 14:
  "nächttigen" geändert in "nächtigen"
  (über seiner machtvollen nächtigen Schönheit)

  Seite 14:
  ".." geändert in "..."
  (Schwester Marie ist nicht da ...)

  Seite 17:
  "Re-,gierungsrat" geändert in "Regierungsrat"
  (der aber damals noch Regierungsrat war)

  Seite 34:
  "«" hinter "unterwarf." entfernt
  (daß etwas in mir sich ihm unterwarf.)

  Seite 43:
  "«" eingefügt
  (Gestern mit Ihrem Vater, und ...«)

  Seite 64:
  "«," geändert in ",«"
  (»Ich wollte doch in die Prangsche Apotheke,« stammelte er)

  Seite 73:
  "«" eingefügt
  (wir erkennen uns nicht mehr ...«)

  Seite 86:
  "«" an das Satzende verschoben
  (wenn Herr Hauptmann mich noch beurlauben könnten ...«)

  Seite 89:
  "«" eingefügt
  (jedermann weiß, wess' Geistes Kind sie ist ...«)

  Seite 90:
  "." eingefügt
  (edle Hunde gnadenlos niederknallte.)

  Seite 91:
  "näherlageu" geändert in "näherlagen"
  (obgleich ihm doch andere Gedanken näherlagen.)

  Seite 92:
  "Einqartierungsgäste" geändert in "Einquartierungsgäste"
  (Adalisa von Terkuhn erwartete die Einquartierungsgäste)

  Seite 111:
  "«," geändert in ",«"
  (»Jungfräuliche Königin,« entfuhr es dem Hauptmann)

  Seite 114:
  "«?" geändert in "?«"
  (und seiner Eiche?« fragte sie)

  Seite 123:
  " ...«" eingefügt, die Textzeile endet im Original unvermittelt
  (Dein Sklave will ich ...«)

  Seite 138:
  "«" eingefügt
  (Käthe ist nun also ganz bei dir, schreibst du? ...«)

  Seite 147:
  "," eingefügt
  (Ein dunkles Bild, von laufenden Abendschatten überhuscht)

  Seite 165:
  "«" eingefügt
  (»das war wirklich ... ich? ...«)

  Seite 169:
  "Exzellens" geändert in "Exzellenz"
  (dem lahmen Mädchen für Exzellenz Berens)

  Seite 185:
  "»" eingefügt
  (»Aber? Nun? ...«)

  Seite 197:
  "Haltestellte" geändert in "Haltestelle"
  (an der Haltestelle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche)

  Seite 204:
  "," eingefügt
  (so viel erlebt und erfahren, Schlimmes und Gutes)

  Seite 205:
  "«" eingefügt
  (und schließlich auch _mich_ so? ...«)

  Seite 208:
  "«" eingefügt
  (Denkst du daran? ...«)

  Seite 211:
  "«," geändert in ",«"
  (»Ich sterbe, wenn du nicht schweigst,« unterbrach)

  Seite 217:
  "«" eingefügt
  (das unsere Jugend uns beschert hat und ...!«)

  Seite 223:
  "unb" geändert in "und"
  (sprach und wußte nicht, wie und was)

  Seite 235:
  "«" hinter "warst." entfernt
  (als du weit weg von mir warst.)

  Seite 235:
  "«" eingefügt
  (wie wohl ich's mir hier sein lasse ohne dich.«) ]





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