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Title: Umwege
Author: Hesse, Hermann
Language: German
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                                  Umwege

                                Erzählungen

                                    von

                               Hermann Hesse

                        S. Fischer, Verlag, Berlin
                                   1912


                             *Neunte Auflage.*
        Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
                Copyright 1912 S. Fischer, Verlag, Berlin.



Inhalt


  Ladidel                                                              9

  Die Heimkehr                                                        88

  Der Weltverbesserer                                                149

  Emil Kolb                                                          211

  Pater Matthias                                                     265



Ladidel


Erstes Kapitel

Der junge Herr Alfred Ladidel wußte von Kind auf das Leben leicht zu
nehmen. Es war sein Wunsch gewesen, sich den höheren Studien zu widmen,
doch als er mit einiger Verspätung die zu den oberen Gymnasialklassen
führende Prüfung nur notdürftig bestanden hatte, entschloß er sich
nicht allzuschwer, dem Rat seiner Lehrer und Eltern zu folgen und auf
diese Laufbahn zu verzichten. Und kaum war dies geschehen und er als
Lehrling in der Schreibstube eines Notars untergebracht, so lernte er
einsehen, wie sehr Studententum und Wissenschaft doch meist überschätzt
werden und wie wenig der wahre Wert eines Mannes von bestandenen
Prüfungen und akademischen Semestern abhänge. Gar bald schlug diese
Ansicht Wurzel in ihm, überwältigte sein Gedächtnis und veranlaßte ihn
manchmal unter Kollegen zu erzählen, wie er nach reiflichem Überlegen
gegen den Wunsch der Lehrer diese scheinbar einfachere Laufbahn erwählt
habe, und daß dies der klügste und wertvollste Entschluß seines Lebens
gewesen sei, wenn er ihn auch ein beträchtliches Opfer gekostet habe.
Seinen Altersgenossen, die in der Schule geblieben waren und die er
jeden Tag mit ihren Büchermappen auf der Gasse antraf, nickte er mit
Herablassung zu und freute sich, wenn er sie vor ihren Lehrern die Hüte
ziehen sah, was er selber längst nimmer tat. Tagsüber stand er geduldig
unter dem Regiment seines Notars, der es den Anfängern nicht leicht
machte, und eignete sich mit Geschick manche liebliche und stattliche
Kontorgewohnheit an, die ihn freute, zierte und schon jetzt äußerlich
den älteren Kollegen gleichstellte. Am Abend übte er mit Kameraden
die Kunst des Zigarrenrauchens und des sorglosen Flanierens durch die
Gassen, auch trank er im Notfall unter seinesgleichen ein Glas Bier
schon mit Anmut und nachlässiger Ruhe, obwohl er seine von der Mama
erbettelten Taschengelder lieber zum Konditor trug, wie er denn auch im
Kontor, wenn die andern zur Vesper ein Butterbrot mit Most genossen,
stets etwas Süßes verzehrte, sei es nun an schmalen Tagen nur ein
Brötchen mit Eingemachtem oder in reichlichern Zeiten ein Mohrenkopf,
Butterteiggipfel oder Makrönchen.

Indessen hatte er seine erste Lehrzeit abgebüßt und war mit Stolz
nach der Hauptstadt verzogen, wo es ihm überaus wohl gefiel. Erst
hier kam der höhere Schwung seiner Natur zur vollen Entfaltung, und
wenn er bisher immer noch eine Sehnsucht und heimliche Begierde in
sich getragen hatte, so gedieh nun sein Wesen völlig zu Glanz und
heiterem Glücke. Schon früher hatte sich der Jüngling zu den schönen
Künsten hingezogen gefühlt und im Stillen nach Schönheit und Ruhm
Begierde getragen. Jetzt galt er unter seinen jüngeren Kollegen und
Freunden unbestritten für einen famosen Bruder und begabten Kerl, der
in Angelegenheiten der feineren Geselligkeit und des Geschmacks als
Führer galt und um Rat gefragt wurde. Denn hatte er schon als Knabe mit
Kunst und Liebe gesungen, gepfiffen, deklamiert und getanzt, so war er
in allen diesen schönen Übungen seither zum Meister geworden, ja er
hatte neue dazu gelernt. Vor allem besaß er eine Gitarre, mit der er
Lieder und spaßhafte Verslein begleitete und bei jeder Geselligkeit
Ruhm und Beifall erntete, ferner machte er zuweilen Gedichte, die er
aus dem Stegreif nach bekannten Melodien zur Gitarre vortrug, und
ohne die Würde seines Standes zu verletzen, wußte er sich auf eine
Art zu kleiden, die ihn als etwas Besonderes, Geniales kennzeichnete.
Namentlich schlang er seine Halsbinden mit einer kühnen, freien
Schleife, die keinem andern so gelang, und wußte sein hübsches braunes
Haar höchst edel und kavaliermäßig zu kämmen. Wer den Alfred Ladidel
sah, wenn er an einem geselligen Abend des Vereins Quodlibet tanzte
und die Damen unterhielt, oder wenn er im Verein Fidelitas im Sessel
zurückgelehnt seine kleinen lustigen Liedlein sang und dazu auf der
am grünen Bande hängenden Gitarre mit zärtlichen Fingern harfte, und
wie er dann abbrach und den lauten Beifall bescheidentlich abwehrte
und sinnend leise auf den Saiten weiterfingerte, bis alles stürmisch
um einen neuen Gesang bat, der mußte ihn hochschätzen, ja beneiden.
Da er außer seinem kleinen Monatsgehalt von Hause ein anständiges
Sackgeld bezog, konnte er sich diesen gesellschaftlichen Freuden ohne
Sorgen hingeben und tat es mit Zufriedenheit und ohne Schaden, da er
immer noch trotz seiner Weltfertigkeit in manchen Dingen fast noch ein
Kind geblieben war. So trank er noch immer lieber Himbeerwasser als
Bier und nahm, wenn es sein konnte, statt mancher Mahlzeit lieber eine
Tasse Schokolade und ein paar Stücklein Kuchen beim Zuckerbäcker. Die
Streber und Mißgünstigen unter seinen Kameraden, an denen es natürlich
nicht fehlte, nannten ihn darum das Baby und nahmen ihn trotz allen
schönen Künsten nicht ernst. Dies war das einzige, was ihm je und je zu
schaffen und betrübte Stunden machte.

Mit der Zeit kam dazu allerdings noch ein anderer Schatten, der leise
doch immerhin düsternd über diesen hellen Lebensfrühling zog. Seinem
Alter gemäß begann der junge Herr Ladidel den hübschen Mädchen sinnend
nachzuschauen und war beständig in die eine oder andre verliebt. Das
bereitete ihm anfänglich zwar ein neues, inniges Vergnügen, bald aber
doch mehr Pein als Lust, denn während sein Liebesverlangen wuchs,
sanken sein Mut und Unternehmungsgeist auf diesem Gebiete immer mehr.
Wohl sang er daheim in seinem Stüblein zum Saitenspiel viele verliebte
und gefühlvolle Lieder, in Gegenwart schöner Mädchen aber entfiel
ihm aller Mut. Wohl war er immer noch ein vorzüglicher Tänzer, aber
seine Unterhaltungskunst ließ ihn ganz im Stiche, wenn er je versuchen
wollte, einiges von seinen Gefühlen kundzugeben. Desto gewaltiger
redete und sang und glänzte er dann freilich im Kreis seiner Freunde,
allein er hätte ihren Beifall und alle seine Lorbeeren gerne für einen
Kuß, ja für ein liebes Wort vom Munde eines schönen Mädchens hingegeben.

Diese Schüchternheit, die zu seinem übrigen Wesen nicht recht zu passen
schien, hatte ihren Grund in einer Unverdorbenheit des Herzens, welche
ihm seine Freunde gar nicht zutrauten. Diese fanden, wenn ihre Begierde
es wollte, ihr Liebesvergnügen da und dort in kleinen Verhältnissen
mit Dienstmädchen und Köchinnen, wobei es zwar verliebt zuging, von
Leidenschaft und idealer Liebe oder gar von ewiger Treue und künftigem
Ehebund aber keine Rede war. Und ohne dies alles mochte der junge Herr
Ladidel sich die Liebe nicht vorstellen. Er verliebte sich stets in
hübsche, wohlangesehene Bürgerstöchter und dachte sich dabei zwar wohl
auch einigen Sinnengenuß, vor allem aber doch eine richtige, sittsame
Brautschaft. An eine solche war nun bei seinem Alter und Einkommen
nicht von ferne zu denken, was er wohl wußte, und da seine Sinne
maßvoll beschaffen waren, begnügte er sich lieber mit einem zarten
Schmachten und Notleiden, als daß er wie andere es mit einem Kochmädel
probiert hätte.

Dabei sahen ihn, ohne daß er es zu bemerken wagte, die Mädchen gern.
Ihnen gefiel sein hübsches Gesicht, seine Tanzkunst und sein Gesang,
und sie hatten auch das schüchterne Begehren an ihm gern und fühlten,
daß unter seiner Schönheit und zierlichen Bildung ein unverbrauchtes
und noch halb kindliches Herz sich verbarg.

Allein von diesen geheimen Sympathien hatte er einstweilen nichts, und
wenn er auch in der Fidelitas noch immer Bewunderung und Beliebtheit
genoß, ward doch der Schatten tiefer und bänglicher und drohte sein
bisheriges leichtes und lichtes Leben allmählich fast zu verdunklen.
In solchen übeln Zeiten legte er sich mit gewaltsamem Eifer auf seine
Arbeit, war zeitweilig ein musterhafter Notariatsgehilfe und bereitete
sich abends mit Fleiß auf das Amtsexamen vor, teils um seine Gedanken
auf andere Wege zu zwingen, teils um desto eher und sicherer in die
ersehnte Lage zu kommen, als ein Werber, ja mit gutem Glück als
ein Bräutigam auftreten zu können. Allerdings währten diese Zeiten
niemals lange, da Sitzleder und harte Kopfarbeit seiner Natur nicht
angemessen waren. Hatte der Eifer ausgetobt, so griff der Jüngling
wieder zur Gitarre, spazierte zierlich und sehnsüchtig in den schönen
hauptstädtischen Straßen oder schrieb Gedichte in sein Heftlein.
Neuerdings waren diese meist verliebter und gefühlvoller Art, und sie
bestanden aus Worten und Versen, Reimen und hübschen Wendungen, die
er in Liederbüchlein da und dort gelesen und behalten hatte. Diese
setzte er zusammen, ohne weiteres dazu zu tun, und so entstand ein
sauberes Mosaik von gangbaren Ausdrücken beliebter Liebesdichter und
andren naiven Plagiaten. Es bereitete ihm Vergnügen, diese Verslein mit
leichter, sauberer Kanzleihandschrift ins Reine zu schreiben, und er
vergaß darüber oft für eine Stunde seinen Kummer ganz. Auch sonst lag
es in seiner glücklichen Natur, daß er in guten wie bösen Zeiten gern
ins Spielen geriet und darüber Wichtiges und Wirkliches vergaß. Schon
das tägliche Herstellen seiner äußeren Erscheinung gab einen hübschen
Zeitvertreib, das Führen des Kammes und der Bürste durch das halblange
braune Haar, das Wichsen und sonstige Liebkosen des kleinen, lichten
Schnurrbärtchens, das Schlingen des Krawattenknotens, das genaue
Abbürsten des Rockes und das Reinigen und Glätten der Fingernägel.
Weiterhin beschäftigte ihn häufig das Ordnen und Betrachten seiner
Kleinodien, die er in einem Kästchen aus Mahagoniholz verwahrte.
Darunter befanden sich ein Paar vergoldeter Manschettenknöpfe, ein in
grünen Sammet gebundenes Büchlein mit der Aufschrift »Vergißmeinnicht«,
worein er seine nächsten Freunde ihre Namen und Geburtstage eintragen
ließ, ein aus weißem Bein geschnitzter Federhalter mit filigran-feinen
gotischen Ornamenten und einem winzigen Glassplitter, der -- wenn
man ihn gegen das Licht hielt und hineinsah -- eine Ansicht des
Niederwalddenkmals enthielt, des weiteren ein Herz aus Silber, das
man mit einem unendlich kleinen Schlüsselchen erschließen konnte, ein
Sonntagstaschenmesser mit elfenbeinerner Schale und eingeschnitzten
Edelweißblüten, endlich eine zerbrochene Mädchenbrosche mit mehreren
zum Teil aufgesprungenen Granatsteinen, welche der Besitzer später bei
einer festlichen Gelegenheit zu einem Schmuckstück für sich selber
verarbeiten zu lassen gedachte. Daß es ihm außerdem an einem dünnen,
eleganten Spazierstöcklein nicht fehlte, dessen Griff den Kopf eines
Windhundes darstellte, sowie an einer Busennadel in Form einer goldenen
Leier, versteht sich von selbst.

Wie der junge Mann seine Kostbarkeiten und Glanzstücke verwahrte
und wert hielt, so trug er auch sein kleines, ständig brennendes
Liebesfeuerlein getreu mit sich herum, besah es je nachdem mit Lust
oder Wehmut und hoffte auf eine Zeit, da er es würdig verwenden und von
sich geben könne.

Mittlerweile kam unter den Kollegen ein neuer Zug auf, der Ladideln
nicht gefiel und seine bisherige Beliebtheit und Autorität stark
erschütterte. Irgendein junger Privatdozent der technischen Hochschule
begann abendliche Vorlesungen über Volkswirtschaft zu halten, die
namentlich von den Angestellten der Schreibstuben und niedern Ämter
fleißig besucht wurden. Ladidels Bekannte gingen alle hin und in
ihren Zusammenkünften erhoben sich nun feurige Debatten über soziale
Angelegenheiten und innere Politik, an welchen Ladidel weder teilnehmen
wollte noch konnte. Es wurden Vorträge gehalten und Bücher gelesen
und besprochen, und ob er auch versuchte mitzutun und Interesse zu
zeigen, es kam ihm das alles doch im Grunde der Seele als Streberei und
Wichtigtuerei vor. Er langweilte und ärgerte sich dabei, und da über
dem neuen Geiste seine früheren Künste von den Kameraden fast vergessen
und kaum mehr geschätzt oder begehrt wurden, sank er mehr und mehr von
seiner einstigen Höhe herab in ein ruhmloses Dunkel. Anfangs kämpfte
er noch und nahm mehrmals eines von den dicken Büchern mit nach Hause,
allein er fand sie hoffnungslos langweilig, legte sie mit Seufzen
wieder weg und tat auf die Gelehrsamkeit wie auf den Ruhm Verzicht.

In dieser Zeit, da er den hübschen Kopf weniger hoch und
Unzufriedenheit im Gemüte trug, vergaß er eines Freitags, sich rasieren
zu lassen, was er immer an diesem Tage sowie am Dienstag zu besorgen
pflegte. Darum trat er auf dem abendlichen Heimweg, da er längst
über die Straße hinausgegangen war, wo sein Barbier wohnte, in der
Nähe seines Speisehauses in einen bescheidenen Friseurladen, um das
Versäumte nachzuholen; denn ob ihn auch Sorgen bedrückten, mochte er
dennoch keiner Gewohnheit untreu werden. Auch war ihm die Viertelstunde
beim Barbier immer ein kleines Fest; er hatte nichts dawider, wenn er
etwa warten mußte, sondern saß alsdann vergnügt auf seinem Sessel,
blätterte in einer Zeitung und betrachtete die mit Bildern geschmückten
Anpreisungen von Seifen, Haarölen und Bartwichsen an der Wand, bis
er an die Reihe kam und mit Genuß den Kopf zurücklegte, um die
vorsichtigen Finger des Gehilfen, das kühle Messer und zuletzt die
zärtliche Puderquaste auf seinen Wangen zu fühlen.

Auch jetzt flog ihn die gute Laune an, da er unter den im Winde
klingenden Messingbecken weg den Laden betrat, den Stock an die Wand
stellte und den Hut aufhängte, sich in den weiten Frisierstuhl lehnte
und das Rauschen des schwach duftenden Seifenschaumes vernahm. Es
bediente ihn ein junger Gehilfe mit aller Aufmerksamkeit, rasierte ihn,
wusch ihn ab, hielt ihm den ovalen Handspiegel vor, trocknete ihm die
Wangen, fuhr spielend mit der Puderquaste darüber und fragte höflich:
»Sonst nichts gefällig?« Dann folgte er dem aufstehenden Gaste mit
leisem Tritt, bürstete ihm den Rockkragen ab, empfing das wohlverdiente
Rasiergeld und reichte ihm Stock und Hut. Das alles hatte den jungen
Herrn in eine gütige und zufriedene Stimmung gebracht, er spitzte schon
die Lippen, um mit einem wohligen Pfeifen auf die Straße zu treten,
da hörte er den Friseurgehilfen, den er kaum angesehen hatte, fragen:
»Verzeihen Sie, heißen Sie nicht Alfred Ladidel?«

Während er erstaunt die Frage bejahte, faßte er den Mann ins Auge
und erkannte sofort seinen ehemaligen Schulkameraden Fritz Kleuber
in ihm. Nun hätte er unter andern Umständen diese Bekanntschaft mit
wenig Vergnügen anerkannt und sich gehütet, einen Verkehr mit einem
Barbiergehilfen anzufangen, dessen er sich vor Kollegen zu schämen
gehabt hätte. Allein er war in diesem Augenblick herzlich gut gestimmt,
und außerdem hatte sein Stolz und Standesgefühl in dieser letzten Zeit
bedeutend nachgelassen. Darum geschah es ebenso aus guter Laune wie aus
einem Bedürfnis nach Freundschaftlichkeit und Anerkennung, daß er dem
Friseur die Hand hinstreckte und rief: »Schau, der Fritz Kleuber! Wir
werden doch noch Du zueinander sagen? Wie geht dir's?« Der Schulkamerad
nahm die dargebotene Hand und das Du fröhlich an, und da er im Dienst
war und jetzt keine Zeit hatte, verabredeten sie eine Zusammenkunft für
den Sonntag Nachmittag.

Auf diese Stunde freute der Barbier sich sehr, und er war dem alten
Kameraden dankbar, daß er trotz seinem vornehmern Stande sich ihrer
Schulfreundschaft hatte erinnern mögen. Fritz Kleuber hatte für seinen
Nachbarssohn und Klassengenossen immer eine gewisse Verehrung gehabt,
da jener ihm in allen Lebenskünsten überlegen gewesen war, und Ladidels
Eleganz und zierliche Erscheinung hatte ihm auch jetzt wieder tiefen
Eindruck gemacht. Darum bereitete er sich am Sonntag, sobald sein
Dienst getan war, mit Sorgfalt auf den Besuch vor, legte seine besten
Kleider an und bewegte sich auf der Straße mit Vorsicht, um nicht
staubig zu werden. Ehe er in das Haus trat, in dem Ladidel wohnte,
wischte er die Stiefel mit einer Zeitung ab, dann stieg er freudig
die Treppen empor und klopfte an die Türe, an der er Alfreds große
Visitenkarte leuchten sah.

Auch dieser hatte sich ein wenig vorbereitet, da er seinem Landsmann
und Jugendfreund gern einen glänzenden Eindruck machen wollte.
Er empfing ihn mit großer Herzlichkeit, wennschon nicht ohne
rücksichtsvolle Überlegenheit, und hatte einen vortrefflichen Kaffee
mit feinem Gebäck auf dem Tische stehen, zu dem er Kleuber burschikos
einlud.

»Keine Umstände, alter Freund, nicht wahr? Wir trinken unsern Kaffee
zusammen und machen nachher einen Spaziergang, wenn dir's recht ist.«

Gewiß, es war ihm recht, er nahm dankbar Platz, trank Kaffee und
aß Kuchen, bekam alsdann eine Zigarette und zeigte über diese
schöne Gastlichkeit eine so unverstellte Freude, daß auch dem
Notariatskandidaten das Herz aufging. Sie plauderten bald im alten
heimatlichen Ton von den vergangenen Zeiten, von den Lehrern und
Mitschülern und was aus diesen allen geworden sei. Der Friseur mußte
ein wenig erzählen, wie es ihm seither gegangen und wo er überall
herumgekommen sei, dann hub der andre an und berichtete ausführlich
über sein Leben und seine Aussichten. Und am Ende nahm er die Gitarre
von der Wand, stimmte und zupfte, fing zu singen an und sang Lied um
Lied, lauter lustige Sachen, daß dem Friseur vor Lachen und Wohlbehagen
die Tränen in den Augen standen. Sie verzichteten auf den Spaziergang
und beschauten statt dessen einige von Ladidels Kostbarkeiten, und
darüber kamen sie in ein Gespräch über das, was jeder von ihnen sich
unter einer feinen und noblen Lebensführung vorstellte. Da waren
freilich des Barbiers Ansprüche an das Glück um vieles bescheidener als
die seines Freundes, aber am Ende spielte er ganz ohne Absicht einen
Trumpf aus, mit dem er dessen Achtung und Neid gewann. Er erzählte
nämlich, daß er eine Braut in der Stadt habe, und lud den Freund ein,
bald einmal mit ihm in ihr Haus zu gehen, wo er willkommen sein werde.

»Ei sieh,« rief Ladidel, »du hast eine Braut! So weit bin ich leider
noch nicht. Wisset ihr denn schon, wann ihr heiraten könnet?«

»Noch nicht ganz genau, aber länger als zwei Jahre warten wir nimmer,
wir sind schon über ein Jahr versprochen. Ich habe ein Muttererbe von
dreitausend Mark, und wenn ich dazu noch ein oder zwei Jahre fleißig
bin und was erspare, können wir wohl ein eigenes Geschäft aufmachen.
Ich weiß auch schon wo, nämlich in Schaffhausen in der Schweiz, da
habe ich zwei Jahre gearbeitet, der Meister hat mich gern und ist alt
und hat mir noch nicht lang geschrieben, wenn ich so weit sei, mir
überlasse er seine Sache am liebsten und nicht zu teuer. Ich kenne ja
das Geschäft gut von damals her, es geht recht flott und ist gerade
neben einem Hotel, da kommen viele Fremde, und außer dem Geschäft ist
ein Handel mit Ansichtskarten dabei.«

Er griff in die Brusttasche seines braunen Sonntagsrockes und zog eine
Brieftasche heraus, darin hatte er sowohl den Brief des schaffhausener
Meisters, wie auch eine in Seidenpapier eingeschlagene Ansichtskarte
mitgebracht, die er seinem Freunde zeigte.

»Ah, der Rheinfall!« rief Alfred, und sie schauten das Bild zusammen
an. Es war der Rheinfall in einer purpurnen bengalischen Beleuchtung,
der Friseur beschrieb alles, kannte jeden Fleck darauf und erzählte
davon und von den vielen Fremden, die das Naturwunder besuchen, kam
dann wieder auf seinen Meister und dessen Geschäft, las seinen Brief
vor und war voller Eifer und Freude, so daß sein Kamerad schließlich
auch wieder zu Wort kommen und etwas gelten wollte. Darum fing er
an vom Niederwalddenkmal zu sprechen, das er selber zwar nicht
gesehen hatte, wohl aber ein Onkel von ihm, und er öffnete seine
Schatztruhe, holte den beinernen Federhalter heraus und ließ den
Freund durch das kleine Gläslein schauen, das die Pracht verbarg.
Fritz Kleuber gab gerne zu, daß das eine nicht mindere Schönheit
sei als sein roter Wasserfall, und überließ bescheiden dem andern
wieder das Wort, der sich nun, sei es aus wirklichem Interesse oder
zum Teil aus Höflichkeit, nach dem Gewerbe seines Gastes erkundigte.
Das Gespräch ward lebhaft, Ladidel wußte immer neues zu fragen und
Kleuber gab gewissenhaft und treulich Auskunft. Es war vom Schliff
der Rasiermesser, von den Handgriffen beim Haarschneiden, von Pomaden
und Ölen die Rede, und bei dieser Gelegenheit zog Fritz eine kleine
Porzellandose mit feiner Pomade aus der Tasche, die er seinem Freunde
und Wirt als ein bescheidenes Gastgeschenk anbot. Nach einigem Zögern
nahm dieser die Gabe an, die Dose ward geöffnet und berochen, ein wenig
probiert und endlich auf den Waschtisch gestellt. Hier nahm Alfred
Gelegenheit, Fritz seine Toilettesachen vorzuweisen, die ohne Luxus
doch vollkommen und wohlgewählt waren, nur mit der Seife wollte Kleuber
nicht einverstanden sein und empfahl eine andere, welche zwar etwas
weniger dufte, dafür aber keinerlei schädliche Dinge enthalte.

Mittlerweile war es Abend geworden, Fritz wollte bei seiner Braut
speisen und nahm Abschied, nicht ohne sich für das Genossene freundlich
zu bedanken. Auch Alfred fand, es sei ein schöner und wohlverbrachter
Nachmittag gewesen, und sie wurden einig, sich am Dienstag oder
Mittwoch abend wieder zu treffen.


Zweites Kapitel

Inzwischen fiel es Fritz Kleuber ein, daß er sich für die
Sonntagseinladung und den Kaffee bei Ladidel revanchieren und auch ihm
wieder eine Ehre antun müsse. Darum schrieb er ihm Montags einen Brief
mit goldnem Rande und einer ins feine Papier gepreßten Taube und lud
ihn ein, am Mittwoch abend mit ihm bei seiner Braut, dem Fräulein
Meta Weber in der Hirschengasse, zu speisen. Darauf erhielt er mit der
nächsten Post Ladidels elegante Visitenkarte mit den Worten »-- dankt
für die freundliche Einladung und wird um acht Uhr kommen.«

Auf diesen Abend bereitete Alfred Ladidel sich mit aller Sorgfalt vor.
Er hatte sich über das Fräulein Meta Weber erkundigt und in Erfahrung
gebracht, daß sie neben einer ebenfalls noch ledigen Schwester von
einem lang verstorbenen Kanzleischreiber Weber abstammte, also eine
Beamtentochter war, so daß er mit Ehren ihr Gast sein konnte. Diese
Erwägung und auch der Gedanke an die noch ledige Schwester veranlaßten
ihn, sich besonders schön zu machen und auch im voraus ein wenig an die
Konversation zu denken.

Wohlausgerüstet erschien er gegen acht Uhr in der Hirschengasse und
hatte das Haus bald gefunden, ging aber nicht hinein, sondern aus der
Gasse auf und ab, bis nach einer Viertelstunde sein Freund Kleuber
daherkam. Dem schloß er sich an, und sie stiegen hintereinander in die
hochgelegene Wohnung der Jungfern hinauf. An der Glastüre empfing sie
die Witwe Weber, eine schüchterne kleine Dame mit einem versorgten
alten Leidensgesicht, das dem Notariatskandidaten wenig Frohes zu
versprechen schien. Er grüßte sehr tief, ward vorgestellt und in den
Gang geführt, wo es dunkel war und nach der Küche duftete. Von da ging
es in eine Stube, die war so groß und hell und fröhlich, wie man es
nicht erwartet hätte; und vom Fenster her, wo Geranien im Abendscheine
tief wie Kirchenfenster leuchteten, traten munter die zwei Töchter
der kleinen Witwe. Diese waren ebenfalls freudige Überraschungen und
überboten das Beste, was sich von dem kleinen alten Fräulein erwarten
ließ, um ein Bedeutendes. Sie trugen beide auf schlanken, kräftigen
Gestalten kluge, frische Blondköpfe und waren ganz hell gekleidet.

»Grüßgott,« sagte die eine und gab dem Friseur die Hand.

»Meine Braut,« sagte er zu Ladidel, und dieser näherte sich dem
hübschen Mädchen mit einer Verbeugung ohne Tadel, zog die hinterm
Rücken versteckte Hand hervor und bot der Jungfer einen Maiblumenstrauß
dar, den er unterwegs gekauft hatte. Sie lachte und sagte Dank und
schob ihre Schwester heran, die ebenfalls lachte und hübsch und blond
war und Martha hieß. Dann setzte man sich unverweilt an den gedeckten
Tisch zum Tee und einer mit Kressensalat bekränzten Eierspeise. Während
der Mahlzeit wurde fast kein Wort gesprochen, Fritz saß neben seiner
Braut, die ihm Butterbrote strich, und die alte Mutter schaute mühsam
kauend um sich, mit dem unveränderlichen kummervollen Blick, hinter
dem es ihr recht wohl war, der aber auf Ladidel einen beängstigenden
Eindruck machte, so daß er wenig aß und sich bedrückt und still
verhielt wie in einem Trauerhaus.

Nach Tisch blieb die Mutter zwar im Zimmer, verschwand jedoch in einem
Lehnstuhl am Fenster, dessen Gardinen sie zuvor geschlossen hatte,
und schien zu schlummern. Die Jugend blühte dafür munter auf, und die
Mädchen verwickelten den Gast in ein neckendes und kampflustiges
Gespräch, wobei Fritz seinen Freund unterstützte. Von der Wand schaute
der selige Herr Weber aus einem kirschholzenen Rahmen verwundert und
bescheiden hernieder, außer seinem Bildnis aber war alles in dem
behaglichen Zimmer hübsch und frohgemut, von den in der Dämmerung
verglühenden Geranien bis zu den Kleidern und Schühlein der Mädchen und
bis zu einer an der Schmalwand hängenden Mandoline. Auf diese fiel,
als das Gespräch ihm anfing heiß zu machen, der Blick des Gastes, er
äugte heftig hinüber und drückte sich um eine fällige Antwort, die
ihm Not machte, indem er sich erkundigte, welche von den Schwestern
denn musikalisch sei und die Mandoline spiele. Das blieb nun an Martha
hängen, und sie wurde sogleich von Schwester und Schwager ausgelacht,
da die Mandoline seit den verschollenen Zeiten einer längst verwehten
Backfischschwärmerei her kaum mehr Töne von sich gegeben hatte. Dennoch
bestand Herr Ladidel mit Ernst und Innigkeit darauf, Martha müsse etwas
vorspielen, und bekannte sich als einen unerbittlichen Musikfreund. Da
das Fräulein durchaus nicht zu bewegen war, griff schließlich Meta nach
dem Instrument und legte es vor sie hin, und da sie abwehrend lachte
und rot wurde, nahm Ladidel die Mandoline an sich und klimperte leise
mit suchenden Fingern darauf herum.

»Ei, Sie können es ja,« rief Martha. »Sie sind ein Schöner, bringen
andre Leute in Verlegenheit und können es nachher selber besser.«

Er erklärte bescheiden, das sei nicht der Fall, er habe kaum jemals so
ein Ding in Händen gehabt, hingegen spiele er allerdings seit mehreren
Jahren die Gitarre.

»Ja,« rief Fritz, »ihr solltet ihn nur hören! Warum hast du auch das
Instrument nicht mitgebracht? Das mußt du nächstesmal tun, gelt!«

Darum baten auch die Schwestern dringlich, und der Gast begann einigen
Glanz zu gewinnen und auszustrahlen. Zögernd erklärte er sich bereit,
die Bitte zu erfüllen, wenn er wirklich den Damen mit seiner Stümperei
ein bißchen Vergnügen machen könne. Er fürchte nur, man werde ihn
hernach auslachen, und es werde dann Fräulein Martha sich doch noch
als Virtuosin entpuppen, wofür er sie einstweilen immer noch zu halten
geneigt sei.

Der Abend ging hin wie auf Flügeln. Als die beiden Jünglinge Abschied
nahmen, erhob sich am Fenster klein und sorgenvoll die vergessene
Mutter, legte ihre schmale, wesenlose Hand in die warmen, kräftigen
Hände der Jungen und wünschte eine gute Nacht. Fritz ging noch ein paar
Gassen weit mit Ladidel, der des Vergnügens und Lobes voll war.

In der still gewordenen Weberschen Wohnung wurde gleich nach dem
Weggange der Gäste der Tisch geräumt und das Licht gelöscht. In der
Schlafstube hielten wie gewöhnlich die beiden Mädchen sich still,
bis die Mutter eingeschlafen war. Alsdann begann Martha, anfänglich
flüsternd, das Geplauder.

»Wo hast du denn deine Maiblumen hingetan?«

»Du hast's ja gesehen, ins Glas auf dem Ofen.«

-- »Ach ja. Gut Nacht!« --

»Ja, bist müd?«

»Ein bißchen.«

»Du, wie hat dir denn der Notar gefallen? Ein bissel geschleckt, nicht?«

»Warum?«

»Na, ich hab immer denken müssen, mein Fritz hätte Notar werden sollen
und dafür der andre Friseur. Findest du nicht auch? Er hat so was
Süßes.«

»Ja, ein wenig schon. Aber er ist doch nett, und hat Geschmack. Hast du
seine Krawatte gesehen?«

»Freilich.«

»Und dann, weißt du, er hat etwas Unverdorbenes. Anfangs war er ja ganz
schüchtern.«

»Er ist auch erst zwanzig Jahr. -- Na, gut Nacht also!«

Fräulein Martha dachte noch eine Weile, bis sie einschlief, an den
Alfred Ladidel. Er hatte ihr gefallen, und sie ließ einstweilen, ohne
sich weiter preiszugeben, eine kleine Kammer in ihrem Herzen für den
hübschen Jungen offen, falls er eines Tages Lust hätte, einzutreten
und Ernst zu machen. Denn an einer bloßen Liebelei war ihr nicht
gelegen, teils weil sie diese Vorschule schon vor Zeiten hinter sich
gebracht hatte (woher noch die Mandoline rührte), teils weil sie nicht
Lust hatte, noch lange neben der um ein Jahr jüngeren Meta unverlobt
einherzugehen. Was an diesem Abend in ihr aufgegangen war, das tat
nicht weh und brannte nicht, sondern hatte vorerst nur ein zartes,
vertraulich stilles Licht wie die junge, zage Sonne eines Tages, der
sich Zeit lassen kann und ohne Eile schön zu werden verspricht.

Auch dem Notariatskandidaten war das Herz nicht unbewegt geblieben.
Zwar lebte er noch in dem dumpfen Liebesdurst eines kaum flügge
Gewordnen und verliebte sich in jedes hübsche Töchterlein, das er zu
sehen bekam; und es hatte ihm eigentlich Meta besser gefallen. Doch
war diese nun einmal schon Fritzens Braut und nimmer zu haben, und
Martha konnte sich neben jener wohl auch zeigen; so war Alfreds Herz
im Laufe des Abends mehr und mehr nach ihrer Seite geglitten und trug
ihr Bildnis mit dem hellen, schweren Kranz von blonden Zöpfen in
unbestimmter Verehrung davon.

Bei solchen Umständen dauerte es nur wenige Tage, bis die kleine
Gesellschaft wieder in der abendlichen Wohnstube beisammen saß; nur
daß diesmal die jungen Herren später gekommen waren, da der Tisch
der Witwe eine so häufige Bewirtung von Gästen nicht vermocht hätte.
Dafür brachte Ladidel seine Gitarre mit, die ihm Fritz mit Stolz
vorantrug, und in kurzem tönte und lachte das Zimmer vergnüglich in
den warmen Abend hinaus, an der alten Mutter vorüber, die am Fenster
ruhte und unbeschadet ihres Trauergesichtes ihre heimliche Freude und
Verwunderung an der Lust der Jugend hatte. Der Musikant wußte es so
einzurichten, daß zwar seine Kunst zur Geltung kam und reichen Beifall
erweckte, er aber doch nicht allein blieb und alle Kosten trug. Denn
nachdem er einige Lieder vorgetragen und in Kürze die Kunst seines
Gesangs und Saitenspiels entfaltet hatte, zog er die andern mit ins
Spiel und stimmte lauter Weisen an, die gleich beim ersten Takt von
selber zum Mitsingen verlockten.

Das Brautpaar, von der Musik und der festlichen Stimmung erwärmt und
benommen, rückte nahe zusammen und sang nur leise und strophenweise
mit, dazwischen plaudernd und sich mit verstohlenen Fingern
streichelnd, wogegen Martha dem Spieler gegenüber saß, ihn im Auge
behielt und alle Verse freudig mitsang. So waren zwei Paare entstanden,
ohne daß jemand dessen achtete, und war ein Anfang für Alfred und
Martha gewonnen, den sie ohne Mißbrauch während dieser Abendstunde bis
zum stillen Einverständnis einer guten Kameradschaft führten.

Nur als beim Abschiednehmen in dem schlecht erleuchteten Gang das
Brautpaar seine Küsse tauschte, standen die beiden andern, mit dem
Adieusagen schon fertig, eine Minute lang verlegen wartend da. Im Bett
brachte sodann Meta die Rede wieder auf den Notar, wie sie ihn immer
nannte, dieses Mal voller Anerkennung und Lob. Aber die Schwester
sagte nur Ja ja, legte den blonden Kopf auf beide Hände und lag lange
still und wach, ins Dunkle schauend und tief atmend. Später, als die
Schwester schon schlief, stieß Martha einen langen, leisen Seufzer aus,
der jedoch keinem gegenwärtigen Leide galt, sondern nur einem dumpfen
Gefühl für die Unsicherheit aller Liebeshoffnungen entsprang, und den
sie nicht wiederholte. Vielmehr entschlief sie bald darauf leicht und
mit einem innigen Lächeln auf dem frischen Munde.

Der Verkehr gedieh behaglich weiter, Fritz Kleuber nannte den eleganten
Alfred mit Stolz seinen Freund, Meta sah es gerne, daß ihr Verlobter
nicht allein kam, sondern den Musikanten mitbrachte, und Martha
gewann den Gast desto lieber, je mehr sie seine fast noch kindliche
Harmlosigkeit erkannte. Ihr schien, dieser hübsche und lenksame
Jüngling wäre recht zu einem Manne für sie geschaffen, mit dem sie
sich zeigen und auf den sie stolz sein könnte, ohne ihm doch jegliche
Herrschaft überlassen zu müssen.

Auch Alfred, der mit seinem Empfang bei den Weberschen sehr zufrieden
war, spürte in Marthas Freundlichkeit eine heimliche Wärme, die er
bei aller Schüchternheit wohl zu schätzen wußte. Eine Liebschaft und
Verlobung mit dem schönen, stattlichen Mädchen wollte ihm in kühnen
Stunden nicht ganz unmöglich, zu allen Zeiten aber begehrenswert und
selig lockend erscheinen.

Dennoch geschah von beiden Seiten nichts Entscheidendes. Alfred
kam sehr häufig mit seinem Freund zu Besuch, zweimal wurden auch
gemeinsame Sonntagsspaziergänge unternommen, aber es blieb bei dem
Zustande vertraulicher Nachbarschaft, den jener erste Gitarrenabend
begründet hatte. Daß nichts Weiteres geschah, hatte manche Gründe.
Vor allem hatte Martha an dem jungen Manne im längeren Umgang manches
allzu Unreife und Knabenhafte entdeckt und es rätlich gefunden, einem
noch so unerfahrenen Jünglinge den Weg zum Glücke nicht allzusehr zu
erleichtern, sondern abzuwarten, bis er die ersten Stufen selber fände
und unterwegs etwa, sei es auch nicht ohne Bitternis, einige Reife
und Zuverlässigkeit gewänne. Sie sah wohl, daß es ihr ein Leichtes
wäre, ihn an sich zu nehmen und festzuhalten; allein sie hatte es gar
nicht so eilig, und war selber, wenn auch unverletzt, so doch nicht
unerfahren und ungewitzigt aus den üblichen Enttäuschungen erster
Liebeswege hervorgegangen. So erschien es ihr billig, daß der junge
Herr es auch nicht allzuleicht habe und nicht am Ende gar den Eindruck
gewänne, sie habe sich ihm nachgeworfen. Immerhin war es ihr Wille, ihn
zu bekommen, und sie beschloß, ihn einstweilen wohl im Auge zu behalten
und gerüstet den Zeitpunkt zu erwarten, da er seines Glückes würdig
sein würde.

Bei Ladidel waren es andere Bedenken, die ihm die Zunge banden. Da
war zuerst seine Schüchternheit, die ihn immer wieder dazu brachte,
seinen Beobachtungen zu mißtrauen und an der Einbildung, er werde
geliebt und begehrt, zu verzweifeln. Sodann fühlte er sich dem großen,
gescheiten, sicheren Mädchen gegenüber elend jung und unfertig, --
nicht mit Unrecht, obwohl sie kaum drei oder vier Jahre älter sein
konnte als er. Und schließlich erwog er in ernsthaften Stunden mit
Bangen, auf welch unfesten Grund seine äußere Existenz gebaut war.
Je näher nämlich das Jahr heranrückte, in dem er die bisherige
untergeordnete Tätigkeit beenden und im Staatsexamen seine Fähigkeit
und Wissenschaft kundtun mußte, desto dringender wurden seine Zweifel.
Wohl hatte er alle hübschen, kleinen Übungen und Äußerlichkeiten des
Amtes rasch und sicher erlernt, er machte im Büro eine gute Figur und
spielte den beschäftigten Schreiber vortrefflich; aber das Studium
der Gesetze fiel ihm schwer, und wenn er an alles das dachte, was im
Examen verlangt wurde, brach ihm der Schweiß aus. Konnte er denn um
ein Mädchen anhalten oder auch nur Hoffnungen in ihr erwecken, ehe er
diese lebensgefährliche Klippe hinter sich und ein auskömmliches und
ehrenhaftes Leben vor sich sah?

Zuweilen sperrte er sich verzweifelt in seiner Stube ein und beschloß,
den steilen Berg der Wissenschaft im Sturm zu nehmen. Kompendien,
Gesetzbücher und Kommentare lagen auf seinem Tisch, auch entlieh er
handschriftliche Auszüge aus den Fragen und Aufgaben früherer Examina,
er stand morgens früh auf und setzte sich fröstelnd hin, er spitzte
Bleistifte und machte sich genaue Arbeitspläne für Wochen voraus.
Aber sein Wille war schwach, er hielt niemals lange aus, er fand
immer andres zu tun, was im Augenblick nötiger und wichtiger schien;
und je länger die Bücher dalagen und ihn anschauten, desto bitterer
und ungenießbarer ward ihr Inhalt. Er verschob es wieder, es war ja
noch Zeit, und er meinte, wenn es erst brennend würde und zu drängen
begänne, werde wohl das Notwendige doch noch bewältigt werden.

Inzwischen wurde seine Freundschaft mit Fritz Kleuber immer fester und
erfreulicher. Es geschah zuweilen, daß Fritz ihn abends aufsuchte und,
wenn es eben nötig schien, sich erbot, ihn zu rasieren. Dabei fiel
es Alfred ein, diese nette, leichte, saubere Hantierung selber ein
wenig zu probieren, und Fritz ging mit Vergnügen darauf ein. Auf seine
ernsthafte und beinah ehrerbietige Art zeigte er dem hochgeschätzten
Freund die Handgriffe, lehrte ihn ein Messer tadellos abziehen und
einen guten, haltbaren Seifenschaum schlagen. Alfred zeigte sich,
wie der andre vorausgesagt hatte, überaus gelehrig und fingerfertig.
Bald vermochte er nicht nur sich selber schnell und fehlerlos zu
barbieren, sondern auch seinem Freund und Lehrmeister diesen Dienst
zu tun, und er fand darin ein Vergnügen und eine Befriedigung, die
ihm manchen von den Studien verbitterten Tag auf den Abend noch rosig
machte. Eine ungeahnte Lust bereitete es ihm, als Fritz ihn auch noch
in das Haarflechten einweihte. Er brachte ihm nämlich, von seinen
schnellen Fortschritten entzückt, eines Tages einen künstlichen Zopf
aus Frauenhaar mit und zeigte ihm, wie ein solches Kunstwerk entstehe.
Ladidel war sofort begeistert für dieses zarte Handwerk und machte
sich mit feinen, geduldigen Fingern daran, die Strähne zu lösen und
wieder ineinander zu flechten. Es gelang ihm bald, und nun kam Fritz
mit schwereren und feineren Arbeiten, und Alfred lernte spielend, zog
das lange seidne Haar mit Feinschmeckerei durch die Finger, vertiefte
sich in die Flechtarten und Frisurstile, ließ sich bald auch das
Lockenbrennen zeigen und hatte nun bei jedem Zusammensein mit dem
Freunde lange, lebhafte Unterhaltungen über fachmännische Dinge. Er
schaute nun auch die Frisuren aller Frauen und Mädchen, denen er
begegnete, mit prüfendem und lernendem Auge an und überraschte Kleuber
durch manches treffende Urteil.

Nur bat er ihn wiederholt und dringend, den beiden Fräulein Weber
nichts von diesem Zeitvertreib zu sagen. Er fühlte, daß er mit dieser
neuen Kunst dort wenig Ehre ernten würde. Und dennoch war es sein
Lieblingstraum und verstohlener Herzenswunsch, einmal die langen
blonden Haare der Jungfer Martha in seinen Händen zu haben und ihr
neue, feine, kunstvolle Zöpfe zu flechten.

Darüber vergingen die Tage und Wochen des Sommers. Es war in den
letzten Augusttagen, da nahm Ladidel an einem Spaziergang der Familie
Weber teil. Man wanderte das Flußtal hinauf zu einer Burgruine und
ruhte in deren Schatten auf einer schrägen Bergwiese vom Gehen aus.
Martha war an diesem Tage besonders freundlich und vertraulich mit
Alfred umgegangen, nun lag sie in seiner Nähe auf dem grünen Hang,
ordnete einen Strauß von späten Feldblumen, tat ein paar silbrige
zitternde Grasblüten hinzu und sah gar lieb und reizend aus, so daß
Alfred den Blick nicht von ihr lassen konnte. Da bemerkte er, daß etwas
an ihrer Frisur aufgegangen war, rückte ihr nahe und sagte es, und
zugleich wagte er es, streckte seine Hände nach den blonden Zöpfen aus
und erbot sich, sie in Ordnung zu bringen. Martha aber, einer solchen
Annäherung von ihm ganz ungewohnt, wurde rot und ärgerlich, wies ihn
kurz ab und bat ihre Schwester, das Haar aufzustecken. Alfred schwieg
betrübt und ein wenig verletzt, schämte sich und nahm später die
Einladung, bei Frau Weber zu speisen, nicht an, sondern ging nach der
Rückkehr in die Stadt sogleich seiner Wege.

Es war die erste kleine Verstimmung zwischen den Halbverliebten und sie
hätte wohl dazu dienen können, ihre Sache zu fördern und in Gang zu
bringen. Doch ging es umgekehrt, und es kamen andere Dinge dazwischen.

War Alfred Ladidel auch eine kindliche und leichte Natur und zum Glücke
geboren, so sollte doch auch er einigen Sturm erleben und einmal das
Wasser an der Kehle spüren, ehe sein fröhliches Schiff zum Hafen kam.


Drittes Kapitel

Martha hatte es mit ihrem Verweise nicht schlimm gemeint und war nun
erstaunt, als sie wahrnahm, daß Alfred eine Woche und länger ihr
Haus mied. Er tat ihr ein wenig leid und sie hätte ihn gar gerne
wiedergesehen. Als er aber acht und zehn Tage ausblieb und wirklich zu
grollen schien, besann sie sich darauf, daß sie ihm das Recht zu einem
so liebhabermäßigen Betragen niemals eingeräumt habe. Nun begann sie
selber zu zürnen. Wenn er wiederkäme und den gnädig Versöhnten spielen
würde, wollte sie ihm zeigen, wie sehr er sich getäuscht habe.

Indessen war sie selbst im Irrtum, denn Ladidels Ausbleiben hatte nicht
Zorn und Trotz, sondern Schüchternheit und Furcht vor Marthas Strenge
zur Ursache. Er wollte einige Zeit vergehen lassen, bis sie ihm seine
damalige Zudringlichkeit vergeben und er selber die Dummheit vergessen
und die Scham überwunden habe. In dieser Bußzeit spürte er deutlich,
wie sehr er sich schon an den Umgang mit Martha gewöhnt hatte und wie
sauer es ihn ankommen würde, auf die warme Nähe eines lieben Mädchens
wieder zu verzichten. Das Studieren, das er zur Verstärkung seiner Buße
und zum Kampf wider die lange Zeit betrieb, trug nicht dazu bei, ihn
zu trösten und geduldiger zu machen. So hielt er es denn nicht länger
als bis in die Mitte der zweiten Woche aus, rasierte sich eines Tages
sorgfältig, schlang eine neue Binde um den reinen Hemdkragen und sprach
bei den Weberschen vor, diesmal ohne Fritz, den er nicht zum Zeugen
seiner Beschämtheit machen wollte.

Um nicht mit leeren Händen und lediglich als Bettler zu erscheinen,
hatte er sich einen hübschen Plan ausgedacht. Es stand für die letzte
Woche des September ein großes Fest- und Preisschießen bevor, worauf
die ganze Stadt schon eifrig rüstete. Zu dieser Lustbarkeit gedachte
Alfred Ladidel, der selber ein Liebhaber solcher Festfreuden war,
die beiden Fräulein Weber einzuladen und hoffte damit eine hübsche
Begründung seines Besuches wie auch gleich einen Stein im Brett bei
Martha zu gewinnen.

Ein freundlicher oder auch nur milder Empfang hätte den Verliebten, der
seit Tagen seiner Einsamkeit übersatt war, getröstet und zum treuen
Diener gemacht. Nun hatte aber Martha, durch sein Ausbleiben, das sie
für Trotz hielt, verletzt, sich hart und strenge gemacht. Sie grüßte
kaum, als er die Stube betrat, überließ Empfang und Unterhaltung
ihrer Schwester und ging, mit Abstauben beschäftigt, im Zimmer ab und
zu, als wäre sie allein. Ladidel war sehr eingeschüchtert, machte ein
betrübtes, demütiges Gesicht, und wagte erst nach einer Weile, da
sein verlegenes Gespräch mit Meta versiegte, sich an die Beleidigte
zu wenden und seine Einladung vorzubringen, von welcher er sich einen
Umschwung und Marthas Versöhnung versprach.

Die aber war jetzt nimmer zu fangen. Alfreds Bestürzung und demütige
Ergebenheit bestärkte nur ihren Beschluß, das Bürschlein diesmal in die
Kur zu nehmen und ihm die Krallen zu stutzen. Sie hörte kühl zu, dankte
kurz und höflich, lehnte die Einladung jedoch ab mit der Begründung,
es stehe ihr nicht zu, mit jungen Herren Feste zu besuchen, und was
ihre Schwester angehe, so sei diese verlobt und sei es Sache ihres
Bräutigams, sie einzuladen und mitzunehmen, falls er dazu Lust habe.

Das alles brachte sie so frostig vor, und schien Alfreds guten Willen
so wenig anzuerkennen, daß er erstaunt und ernstlich verletzt sich
an Meta mit der Frage wandte, ob sie diese Meinung teile. Und da
Meta, wenn schon höflicher, der Schwester recht gab, griff Ladidel
nach seinem Hut, verbeugte sich kurz und ging davon wie ein Mann, der
bedauert, an einer falschen Türe angeklopft zu haben, und nicht im Sinn
hat wiederzukommen. Die alte Frau Weber war nicht da, Meta versuchte
zwar ihn zurückzuhalten und ihm zuzureden, Martha aber hatte seine
Verbeugung mit einem Nicken gleichmütig erwidert, und Alfred war es
nicht anders zumute, als hätte sie ihm für immer abgewinkt. Er ging
hinaus und schnell die Treppe hinab, und je schneller er lief und je
weiter er wegkam, desto rascher verwandelten sich seine Bestürzung und
Enttäuschung in Beleidigung und Zorn, da er eine solche Aufnahme seines
redlichen Willens durchaus nicht verdient zu haben glaubte.

Einen geringen Trost gewährte ihm der Gedanke, daß er sich in dieser
Sache männlich und stolz gezeigt habe. Zorn und Trauer überwogen
jedoch, grimmig lief er nach Hause, und als am Abend Fritz Kleuber ihn
besuchen wollte, ließ er ihn an der Türe klopfen und wieder gehen,
ohne sich zu zeigen. Die Bücher sahen ihn ermahnend an, die Gitarre
hing an der Wand, aber er ließ alles liegen und hängen, ging aus und
trieb sich den Abend in den Gassen herum, bis er müde war. Dabei fiel
ihm alles ein, was er je Böses über die Falschheit und Wandelbarkeit
der Weiber hatte sagen hören, und was ihm früher als ein leeres und
scheelsüchtiges Geschwätz erschienen war. Jetzt begriff er alles, fand
auch die bittersten Worte zutreffend, wenn nicht zu milde, und hätte
wohl ein Gedicht mit kräftigen Sprüchen solcher Art zusammengestellt,
wenn es ihm nicht doch zu elend ums Herz gewesen wäre.

Es vergingen einige Tage, und Alfred hoffte beständig, gegen seinen
Stolz und Willen, es möchte etwas geschehen, ein Brieflein oder eine
Botschaft durch Fritz kommen, denn nachdem der erste Groll vertan war,
schien ihm eine Versöhnung doch nicht ganz außer der Möglichkeit,
und sein Herz wandte sich über alle Gründe hinweg stetig zu dem
bösen Mädchen zurück. Allein es geschah nichts und es kam niemand.
Das große Schützenfest jedoch rückte näher, und ob es dem betrübten
Ladidel gefiel oder nicht, er mußte tagaus tagein sehen und hören, wie
jedermann sich bereitmachte, die glänzenden Tage zu feiern. Es wurden
Bäume errichtet und Girlanden geflochten, Häuser mit Tannenzweigen
geschmückt und Torbögen mit Inschriften, die große Festhalle am Wasen
war fertig und ließ schon Fahnen flattern, und dazu tat der Herbst
seine schönste Bläue auf, stieg die Sonne aus den leichten Morgennebeln
täglich klarer und festlicher empor.

Obwohl Ladidel sich wochenlang auf das Fest gefreut hatte, und obwohl
ihm und seinen Kollegen ein freier Tag oder gar zwei bevorstanden,
verschloß er sich doch der Freude gewaltsam und hatte fest im Sinn,
die Festlichkeiten mit keinem Auge zu betrachten und in den Tagen der
allgemeinen Fröhlichkeit desto trotziger bei seinem Schmerz zu bleiben.
Mit Bitterkeit sah er Fahnen und Laubgewinde, hörte da und dort in den
Gassen hinter offenen Fenstern die Musikkapellen Proben halten und die
Mädchen bei der Arbeit singen, und je mehr die Stadt von Erwartung und
Vorfreude scholl und tönte, desto feindseliger ging er in dem Getümmel
seinen finstern Weg, das Herz voll Bitternis und grimmiger Entsagung.
In der Schreibstube hatten die Kollegen schon seit einiger Zeit von
nichts als dem Fest mehr gesprochen und Pläne ausgeheckt, wie sie der
Herrlichkeit recht schlau und gründlich froh werden wollen. Zuweilen
gelang es Ladidel, den Unbefangenen zu spielen und so zu tun, als freue
auch er sich und habe seine Absichten und Pläne; meistens aber saß er
schweigend an seinem Pult und trug einen wilden Fleiß zur Schau. Dabei
brannte ihm die Seele nicht nur um Martha und den Verdruß mit ihr,
sondern mehr und mehr auch um die große Festlichkeit, auf die er so
lang und freudig gewartet hatte und von der er nun nichts haben sollte.

Seine letzte Hoffnung fiel dahin, als Kleuber ihn aufsuchte, wenige
Tage vor dem Beginn des Festes. Dieser machte ein betrübtes Gesicht und
erzählte, er wisse gar nicht, was den Mädchen zu Kopf gestiegen sei,
sie hätten seine Einladung zum Fest abgelehnt und erklärt, in ihren
Verhältnissen könne man keine Lustbarkeiten mitmachen. Nun machte er
Alfred den Vorschlag, mit ihm zusammen sich frohe Festtage zu schaffen,
wenn auch in aller Bescheidenheit, denn wenn er auch nicht gesonnen
sei, auf alles zu verzichten, so wisse er doch, was er seinem Stande
als Bräutigam schulde. Immerhin geschähe es den spröden Jungfern ganz
recht, wenn er nun eben ohne sie den einen oder andern Taler draufgehen
lasse. Allein Ladidel widerstand auch dieser Versuchung. Er dankte
freundlich, erklärte aber, er sei nicht recht wohl und wolle auch die
freie Zeit dazu benutzen, um in seinen Studien weiterzukommen. Von
diesen Studien hatte er seinem Freunde früher so viel erzählt und so
viele Kunstausdrücke und Fremdwörter dabei aufgewendet, daß Fritz
nun in tiefem Respekt keine Einwände wagte und traurig wieder ging.
Aber als er fort war, langte Alfred die Gitarre herab, stimmte und
präludierte, räusperte sich und sang in seinem Leide das Lied: »Wie
die Blümlein draußen zittern.« Und als der Refrain zum zweiten Male
wiederkehrte: »O bleib bei mir und geh nicht fort, mein Herz ist ja
dein Heimatort!«, da überschlug ihm die Stimme und er ließ den Kopf
über die Gitarre sinken und seine Tränen über die Saiten laufen. Erst
eine Stunde später, als er schon im Bette lag, fiel ihm ein, daß das
Instrument leiden könnte, und er stand auf, um es abzuwischen, aber die
Tropfen waren schon im trocknen Holz verronnen.

Indessen kam der Tag, da das Schützenfest eröffnet werden sollte.
Es war ein Sonntag, und das Fest sollte die ganze Woche dauern. Die
Stadt hallte von Gesang, Blechmusik, Böllerschießen und Freudenrufen
wider, aus allen Straßen her kamen und sammelten sich Züge, Vereine
aus dem ganzen Lande waren angekommen, und der Bahnhof wimmelte von
Festbesuchern, die in Extrazügen gefahren kamen. Allenthalben schallte
Musik, und die Ströme der Menschen und die Weisen der Musikkapellen
trafen am Ende alle vor der Stadt am Schützenhause zusammen, wo das
Volk seit dem Morgen zu Tausenden wartend stand. Schwarz drängte
der Zug in dickem Fluß heran, schwer wankten die Fahnen darüber und
stellten sich auf, bis ihrer wohl hundert waren, und eine Musikbande
um die andere schwenkte rauschend auf den gewaltigen Platz. Auf alle
diese Pracht schien mit noch fast sommerlicher Wärme eine heitere
Sonntagssonne hernieder. Die Bannerträger hatten dicke Tropfen auf
den geröteten Stirnen, die Festordner schrieen heiser und rannten wie
Besessene umher, von der Menge gehänselt und durch Zurufe angefeuert;
wer in der Nähe war und Zutritt fand, nahm die Gelegenheit wahr,
schon um diese frühe Stunde an den wohlversehenen Trinkhallen einen
frischen Trunk zu erkämpfen. Die Wirte riefen sich heiß, traktierten
und befahlen einem Volk von Kellnern, Schenkmädchen, Knechten und
Verkäuferinnen, fluchten und schwitzten und rechneten, in der Stille
lachend, für diesen Glanztag einen Goldregen voraus.

Während dieses feierlichen Tumultes saß Ladidel in seiner Stube auf
dem Bett und hatte noch nicht einmal Stiefel an, so wenig schien ihm
an der Freude gelegen. Er trug sich jetzt, nach langen ermüdenden
Nachtgedanken, mit dem Vorsatz, einen Brief an Martha zu schreiben.
Er wollte sie bitten, ihm die Ursache ihres Zürnens zu nennen, ihr
sein Unglück darstellen und ihr Herz bewegen, von dem er noch immer in
leiser Ahnung sich einiger Anhänglichkeit und Freundschaft versah. Nun
zog er aus der Tischlade sein Schreibzeug und einen feinen Briefbogen
mit seinem Monogramm hervor, desgleichen ein blaues Kuvert, steckte
eine gute neue Feder ins Rohr, machte sie mit der Zunge naß, prüfte
die Tinte und schrieb alsdann in einer runden, elegant ausholenden
Kanzleischrift zunächst die Adresse, an das wohlgeborne Fäulein Martha
Weber in der Hirschgasse, zu eigenen Händen. Mittlerweile stimmte ihn
das aus der Ferne herübertönende Geblase und Festgelärme elegisch
und er fand es gut, seinen Brief mit der Schilderung dieser Stimmung
anzufangen. So begann er mit Sorgfalt:

                              »Sehr geehrtes Fräulein!

Erlauben Sie mir, mich an Sie zu wenden. Es ist Sonntag morgen und die
Musik spielt von ferne, weil das Schützenfest beginnt. Nur ich kann an
demselben nicht teilnehmen und bleibe daheim.«

Er überlas die Zeilen, war zufrieden und besann sich weiter. Da fiel
ihm noch manche schöne und treffende Wendung ein, mit welcher er
seinen betrübten Zustand schildern konnte. Aber was dann? Es wurde ihm
klar, daß dies alles nur insofern einen Wert und Sinn haben konnte,
als es die Einleitung zu einer Liebeserklärung und Werbung wäre. Und
wie konnte er dies wagen? Und je länger er sann, desto mehr ward ihm
klar, daß es mit dem Briefe nicht gehe. Und was er auch dachte und
ausfand, es hatte alles keinen Wert, solange er nicht sein Examen und
damit die Berechtigung zur Werbung hatte. Nun hätte er dies ja wohl
im Dunkeln lassen und die Zeit bis dahin als Wartezeit und kurzen
Aufschub betrachten können; allein er wußte recht wohl, wie es um seine
Aussichten im Examen stand, und konnte weder sich selber noch das
Mädchen über diese Sorge wegtäuschen.

Also saß er wieder unschlüssig und verzweifelt, und wieder schien
ihm alles, was Martha ihm Freundliches erwiesen und was er zu seinen
Gunsten zu deuten hatte, jämmerlich ungewiß und gering. Eine Stunde
verging und er kam nicht weiter. Das ganze Haus lag in tiefer Ruhe,
da alles draußen war, und über die Dächer hinweg jubelte die ferne
Musik und das Brausen der Glocken. Ladidel hing seiner Trauer nach und
bedachte, wieviel Freude und Lust ihm heute verloren ging, und daß er
kaum in langer Zeit, ja vielleicht niemals wieder Gelegenheit haben
würde, eine so große und glänzende Festlichkeit zu sehen. Darüber
überfiel ihn ein Mitleiden mit sich selber und ein unüberwindliches
Trostbedürfnis, dem die Gitarre nicht zu genügen vermochte.

Darum tat er gegen Mittag das, was er durchaus nicht hatte tun wollen.
Er zog seine Stiefel an und verließ das Haus, und während er nur hin
und wider zu wandeln meinte und bald wieder daheim sein und an den
Brief und an sein Elend denken wollte, zogen ihn Musik und Lärm und
Festzauber von Gasse zu Gasse wie der Magnetberg ein Schiff, und
unversehens stand er bei dem Schützenhaus. Da wachte er auf und schämte
sich seiner Schwäche und meinte seine Trauer verraten zu haben, doch
währte alles dies nur Augenblicke, denn die Menge trieb und toste
betäubend, und Ladidel war nicht der Mann, in diesem Jubel fest zu
bleiben oder wieder zu gehen. Auf sein Gemüt wirkten, wie bei einem
Kinde und wie beim niederen Volk, Umgebung und Ton und Luft zerstreuend
und erregend, der Taumel so vieler zog ihn mit und nahm ihn wie eine
mächtige Wolke von sich selber und allem kaum Gewesenen hinweg in ein
verzaubertes Reich des Feiertags und der besinnungslosen Lust.

Ladidel trieb ohne Ziel und ohne Willen umher, von der Menge
mitgenommen, und sah und hörte und roch und atmete so viel Fremdes,
Erregendes ein, daß ihm wohlig schwindelte. Ungefragt erfuhr er alles,
was der Menge wichtig war und wissenswert erschien, daß das Schießen
erst am Nachmittag beginnen sollte, dagegen die Festtafel bald anhebe,
daß nach Tische vielleicht der König herauskommen werde, um sich das
auch zu besehen, ferner wieviel und welcherlei Preise bereitlägen und
wer sie gestiftet habe, was der Eintritt zur Halle und was ein Gedeck
an der Festtafel koste. Dazwischen rauschte aus Trompeten und Hörnern
da und dort und überall feurige Musik, und in Pausen drang von der
Ferne her, wo das Tafeln begonnen hatte, eindringlich und süß die
weichere Musik von Geigen und Flöten. Außerdem geschah auf Schritt
und Tritt in der Menge des Volkes viel Sonderbares, Erheiterndes und
Erschreckendes, es wurden Pferde scheu, Kinder fielen um und schrien,
ein vorzeitig Betrunkener sang unbekümmert, als wäre er allein, sein
Lied und schien über sein eigenes Taumeln und Entrücktsein überaus
belustigt und vergnügt. Händler zogen rufend umher, mit Orangen und
Zuckerwaren, mit Luftballonen für die Kinder, mit Backwerk und mit
künstlichen Blumensträußchen für die Hüte der Burschen, abseits drehte
sich unter heftiger Orgelmusik ein Karussell. Hier hatte ein Hausierer
laute Händel mit einem Käufer, der nicht zahlen wollte, dort führte ein
Polizeidiener ein verlaufenes Büblein an der Hand.

Dieses heftige Leben sog der betäubte Ladidel in sich und fühlte sich
beglückt, an einem solchen Treiben teilzunehmen und Dinge mit Augen zu
sehen, von denen man noch lange im ganzen Lande reden würde. Es war
ihm wichtig, zu hören, um welche Stunde man den König erwarte, und
als es ihm gelungen war, in die Nähe der Ehrenhalle zu dringen, wo
die Tafel auf einer fahnengeschmückten Höhe stattfand, schaute er mit
Bewunderung und Verehrung den Oberbürgermeister, die Stadtvorstände,
den Oberamtmann und andre Würdenträger mit Orden und Abzeichen zumitten
des Ehrentisches sitzen und speisen und weißen Wein aus geschliffenen
Gläsern trinken. Flüsternd nannte man die Namen der Männer, und wer
etwas Weiteres über sie wußte oder gar schon mit ihnen zu tun gehabt
hatte, fand dankbare Zuhörer. Ein bekannter Fabrikant und Millionär
wurde erkannt und besprochen, dann der Sohn eines Ministers, und
schließlich wollte man in einem jungen Manne oben an der Tafel einen
Prinzen erkennen. Daß das alles vor seinen Augen vor sich ging und
soviel Glanz zu schauen ihm vergönnt war, machte einen jeden glücklich.
Auch der kleine Ladidel staunte und bewunderte und fühlte sich groß und
bedeutend als Zuschauer solcher Dinge; er sah ferne Tage voraus, da er
Leuten, die weniger glücklich waren und nicht hatten dabei sein können,
die ganze Herrlichkeit genau beschreiben würde.

Das Mittagessen vergaß er ganz, und als er nach einigen Stunden
Hunger verspürte, setzte er sich in das Zelt eines Zuckerbäckers
und verzehrte ein paar Stücke Kuchen. Dann eilte er, um ja nichts zu
versäumen, wieder ins Gewühl, und war so glücklich, den König zu sehen,
wenn auch nur von hinten. Nun erkaufte er sich den Eintritt zu den
Schießständen, und wenn er auch vom Schießwesen nichts verstand, sah
er doch mit Vergnügen und Spannung den Schützen zu, ließ sich einige
berühmte Helden zeigen und betrachtete mit Ehrfurcht das Mienenspiel
und Augenzwinkern der Schießenden. Alsdann suchte er das Karussell auf
und sah ihm eine Weile zu, wandelte unter den Bäumen in der frohen
Menschenflut, kaufte eine Ansichtskarte mit dem Bildnis des Königs
und dem Landeswappen, hörte alsdann lange Zeit einem Marktschreier
zu, der seine Waren fleißig ausrief und einen Witz um den andern
machte, und weidete seine Augen am Anblick der geputzten Volksscharen.
Errötend entwich er von der Bude eines Photographen, dessen Frau ihn
zum Eintritt eingeladen und unter dem Gelächter der Umstehenden einen
entzückenden jungen Don Juan genannt hatte. Und immer wieder blieb er
stehen, um einer Musik zuzuhören, bekannte Melodien mitzusummen und
sein Stöcklein im Takt dazu zu schwingen.

Über dem allem wurde es Abend, das Schießen hatte ein Ende, und es
begann da und dort ein Zechen in Hallen oder unter Bäumen. Während
der Himmel noch in zartem Lichte schwamm und Türme und ferne Berge in
der Herbstabendklarheit standen, glommen hier und dort schon Lichter
und Laternen auf. Ladidel ging in seinem Rausche dahin und bedauerte
das Sinken des Tages. Die solide Bürgerschaft eilte nun heimwärts zum
Abendessen, müdgewordene Kinder ritten taumelnd auf den Schultern der
Väter, die eleganten Wagen verschwanden. Dafür regten sich Lust und
Übermut der Jugend, die sich auf Tanz und Wein freute, und wie es auf
dem Platze und den Gassen leerer ward, tauchte da und dort und an jeder
Ecke bald scheu, bald kühn ein Liebespaar auf, Arm in Arm und noch mit
sonntäglichem Anstande, jedoch voll Ungeduld und Ahnung nächtlicher
Lust.

Um diese Stunde begann die Fröhlichkeit und Selbstvergessenheit
Ladidels sich zu verlieren wie das hinschwindende Tageslicht. Die
Erinnerung an Trauer und Leid kehrte mählich wieder, vermischt mit
einem ungelöschten Festdurst und Erlebensdrang. Ergriffen und traurig
werdend strich der einsame Jüngling durch den warmen Abend. Es kicherte
kein Liebespaar an ihm vorbei, dem er nicht nachsah, und als nun in
einem Garten unter hohen schwarzen Kastanien mit lockender Pracht
Reihen von roten Papierampeln aufglühten und aus eben diesem Garten
her eine weiche, sehnliche Musik ertönte, da folgte er dem Ruf der
heißen, flüsternden Geigen und trat ein. An langen Tischen aß und
trank viel junges Volk, dahinter wartete ein großer Tanzplan erst halb
erleuchtet. Der junge Mann nahm am leeren Ende eines Tisches Platz und
verlangte, als ein Kellner zu ihm kam, Wein und Essen. Dann ruhte er
aus, atmete die Gartenluft und horchte auf die Musik, aß ein weniges
und trank langsam in kleinen Schlücken den ungewohnten Wein. Je länger
er in die roten Lampen schaute, die Geigen spielen hörte und den Duft
der Festnacht atmete, desto einsamer und elender kam er sich vor,
und zugleich erschien ihm dieser Ort als eine Stätte seliger Lust,
von deren Genuß nur er allein ausgeschlossen sei. Wohin er blickte,
sah er rote Wangen und begierige Augen leuchten, junge Burschen in
Sonntagskleidern mit kühnen und herrischen Blicken, Mädchen im Putz mit
verlangenden Augen und tanzbereiten, unruhigen Füßen. Und er war noch
nicht lange mit seinem Abendessen fertig, als die Musik mit erneuter
Wucht und Süße anstimmte, der Tanzplatz von hundert Lichtern strahlte
und Paar auf Paar in Eile und hastiger Begierde sich zum Tanze drängte.

Ladidel sog langsam an seinem Wein, um noch eine Weile dableiben zu
können, und als der Wein doch schließlich zu Ende war, konnte er
sich nicht entschließen, heimzugehen. Er ließ nochmals ein kleines
Fläschlein kommen und saß und starrte und fiel in eine stachelnde
Unruhe, als müsse allem zum Trotz an diesem Abend ihm ein Glück blühen
und etwas vom Überfluß der Wonne auch für ihn abfallen. Und wenn es
nicht geschah, so schrieb er sich in Leid und Trotz das Recht zu,
wenigstens dem Fest und seinem Unglück zu Ehren den ersten Rausch
seines Lebens zu trinken.

Zu diesem wäre es nun wohl trotzdem nicht gekommen, denn so schlimm er
es meinte, seine Natur war klüger und hätte ihm nicht erlaubt, mehr
als einen kindlichen Versuch nach dieser Seite hin zu tun. Es war auch
keineswegs der Wein, der ihn verlockte, und den Rausch hatte er nimmer
nötig, da Umtrieb und Lärm und Freudenschwall ihm den Kopf hinreichend
erhitzt und verwirrt hatten. Aber der mäßige und zierliche Jüngling
konnte soviel Übermut und Lustbarkeit, soviel Tanzmusik und den
Anblick so vieler hübscher erhitzter Tänzerinnen nicht ertragen, ohne
gleichfalls ein Verlangen nach Lust und Selbstvergessen und blühender
Jugendtorheit zu verspüren. Und so stiegen, je heftiger rings um ihn
die Freude tobte, sein Unglück sowohl wie sein Trostbedürfnis höher,
und rissen den Unbeschützten zur Übertreibung und zum Rausche hin. Die
Stunde war gekommen, da der Most seiner Jugend verderben oder sich Lust
schaffen mußte.


Viertes Kapitel

Während Ladidel vor seinem Weinglas am Tische saß und mit heißen Augen
in das Tanzgewühl blickte, vom roten Licht der Ampeln und vom raschen
Takt der Musik bezaubert und seines Kummers bis zur Verzweiflung
überdrüssig, hörte er plötzlich neben sich eine leise Stimme, die
fragte: »Ganz allein?«

Schnell wandte er sich um und sah über die Lehne der Bank gebeugt
ein hübsches Mädchen mit schwarzen Haaren, mit einem weißen linnenen
Hütlein und einer roten leichten Bluse angetan. Sie lachte mit einem
hellroten Munde, während ihr um die erhitzte Stirn und die dunkeln
Augen ein paar lose Locken hingen. »Ganz allein?« fragte sie mitleidig
und schelmisch, und er gab Antwort: »Ach ja, leider.« Da nahm sie sein
Weinglas, fragte mit einem Blick um Erlaubnis, sagte Prosit und trank
es in einem durstigen Zuge aus. Er sah dabei ihren schlanken Hals,
der bräunlich aus dem roten leichten Stoff emporstieg, und indessen
sie trank, fühlte er mit heftig klopfendem Herzen, daß sich hier ein
Abenteuer anspinne. Er fühlte es nicht ohne Schrecken, aber er war
allsofort entschlossen, dabei zu bleiben und alles gehen zu lassen, wie
es wollte.

Und es ging vortrefflich. Um doch etwas zur Sache zu tun, schenkte
Ladidel das leere Glas wieder voll und bot es dem Mädchen an. Aber sie
schüttelte den Kopf und blickte rückwärts nach dem Tanzplatz, wo soeben
eine neue Musik erscholl.

»Tanzen möcht ich,« sagte sie und sah dem Jüngling in die Augen, der
augenblicklich aufstand, sich vor ihr verbeugte und seinen Namen nannte.

»Ladidel heißen Sie? Und mit dem Vornamen? Ich heiße Fanny.«

Sie nahm ihn an sich und beide tauchten in den Strom und Schwall des
Walzers, den Ladidel noch nie so ausgezeichnet getanzt hatte. Früher
war er beim Tanzen lediglich seiner Geschicklichkeit, seiner flinken
Beine und feinen Haltung froh geworden und hatte dabei stets daran
gedacht, wie er aussehe und ob er auch einen guten Eindruck mache.
Jetzt war daran nicht zu denken. Er flog in einem feurigen Wirbel mit,
gezogen und hingeweht und wehrlos, aber glücklich und im Innersten
erregt. Bald zog und schwang ihn seine Tänzerin, daß ihm Boden und Atem
verloren ging, bald lag sie still und eng an ihn gelehnt, daß ihre
Pulse an seinen schlugen und ihre Wärme die seine entfachte.

Als der Tanz zu Ende war, legte Fanny ihren Arm in den ihres Begleiters
und zog ihn mit sich weg. Tief atmend wandelten sie langsam einen
Laubengang entlang, zwischen vielen andern Paaren, in einer Dämmerung
voll warmer Farben. Durch die Bäume schien tief der Nachthimmel mit
blanken Sternen herein, von der Seite her spielte, von beweglichen
Schatten unterbrochen, der rote Schein der Festampeln, und in diesem
ungewissen Licht bewegten sich plaudernd die ausruhenden Tänzer, die
Mädchen in weißen und andern hellfarbigen Kleidern und Hüten, mit
bloßen Hälsen und Armen, manche mit stattlichen Fächern versehen, die
gleich Pfauenrädern spielten. Ladidel nahm das alles nur als einen
farbigen Nebel wahr, der mit Musik und Nachtluft zusammenfloß, und
daraus nur hin und wieder im nahen Vorbeistreifen ein helles Gesicht
mit funkelnden Augen, ein offener lachender Mund mit glänzenden
Zähnen, ein zärtlich gebogener weißer Arm für Augenblicke deutlich
hervorschimmerte.

»Alfred!« sagte Fanny leise.

»Ja, was?«

»Gelt, du hast auch keinen Schatz? Meiner ist nach Amerika.«

»Nein, ich hab keinen.«

»Willst du nicht mein Schatz sein?«

»Ich will schon.«

Sie lag ganz in seinem Arm und bot ihm den feuchten hellroten Mund.
Liebestaumel wehte in den Bäumen und Wegen; Ladidel küßte den roten
Mund und küßte den weißen Hals und den bräunlichen Nacken, die Hand und
den Arm seines Mädchens. Er führte sie, oder sie ihn, an einen Tisch
abseits im tiefen Schatten, ließ Wein kommen und trank mit ihr aus
einem Glase, hatte den Arm um ihre Hüfte gelegt und fühlte Feuer in
allen Adern. Seit einer Stunde war die Welt und alles Vergangene hinter
ihm versunken und ins Bodenlose gefallen, um ihn wehte allmächtig die
glühende Nacht, ohne Gestern und ohne Morgen.

Auch die hübsche Fanny freute sich ihres neuen Schatzes und ihrer
blühenden Jugend, jedoch weniger rückhaltslos und gedankenlos als ihr
Liebster, dessen Feuer sie mit der einen Hand zu mehren, mit der andern
abzuwehren bemüht war. Der schöne Tanzabend gefiel auch ihr wohl, und
sie tanzte ihre Touren mit heißen Wangen und blitzenden Augen; doch war
sie nicht gesonnen, darüber ihre Absichten und Zwecke zu vergessen, und
diese gingen nicht auf Vergnügen und flüchtiges Liebesglück, sondern
auf soliden Erwerb.

Darum erfuhr Ladidel im Laufe des Abends, zwischen Wein und Tanz, von
seiner Geliebten eine lange traurige Geschichte, die mit einer kranken
Mutter begann und mit Schulden und drohender Obdachlosigkeit endete.
Sie bot dem bestürzten Liebhaber diese bedenklichen Mitteilungen nicht
auf einmal dar, sondern mit vielen Pausen, während deren er sich stets
wieder erholen und neue Glut fassen konnte, sie bat ihn sogar, nicht
allzuviel daran zu denken und sich den schönen Abend nicht verderben
zu lassen, bald aber seufzte sie wieder tief auf und wischte sich die
Augen. Bei dem guten Ladidel wirkte denn auch, wie bei allen Anfängern,
das Mitleid eher entflammend als niederschlagend, sodaß er das Mädchen
gar nimmer aus den Armen ließ und ihr zwischen Küssen goldene Berge für
die Zukunft versprach.

Sie nahm es hin, ohne sich getröstet zu zeigen, und fand dann
plötzlich, es sei spät, und sie dürfe ihre arme kranke Mutter nicht
länger warten lassen. Ladidel bat und flehte, wollte sie dabehalten
oder zumindest begleiten, schalt und klagte und ließ auf alle Weise
merken, daß er die Angel geschluckt habe und nimmer entrinnen könne.

Mehr hatte Fanny nicht gewollt. Sie zuckte hoffnungslos die Achseln,
streichelte Ladidels Hand und bat ihn, nun für immer von ihr Abschied
zu nehmen. Denn, wenn sie bis morgen Abend nicht im Besitze von hundert
Mark sei, so werde sie samt ihrer armen Mama auf die Straße gesetzt
werden und könne für das, wozu die Verzweiflung sie dann treiben würde,
nicht einstehen. Ach, sie wollte ja gern lieb sein und ihrem Alfred
jede Gunst gewähren, da sie ihn nun einmal so schrecklich liebe, aber
unter diesen Umständen sei es doch besser, auseinanderzugehen und sich
mit der ewigen Erinnerung an diesen schönen Abend zu begnügen.

Dieser Meinung war Ladidel nicht. Ohne sich viel zu besinnen, versprach
er das Geld morgen Abend herzubringen, und schien fast zu bedauern,
daß sie seine Liebe auf keine größere Probe stelle.

»Ach, wenn du das könntest!« seufzte Fanny. Dabei schmiegte sie sich an
ihn, daß er beinahe den Atem verlor.

»Verlaß dich drauf,« sagte er. Und nun wollte er sie nach Hause
begleiten, aber sie war so scheu und hatte plötzlich eine so furchtbare
Angst, man möchte sie sehen und ihr guter Ruf möchte notleiden, daß er
mitleidig nachgab und sie allein ziehen ließ.

Darauf schweifte er noch wohl eine Stunde lang umher. Da und dort
tönte aus Gärten und Zelten noch nächtliche Festlichkeit. Erhitzt
und müde kam er endlich nach Hause, ging zu Bett und fiel sogleich
in einen unruhigen Schlaf, aus dem er schon nach einer Stunde wieder
erwachte. Da brauchte er lange, um sich aus einem zähen Wirrwarr
verliebter Träume zurechtzufinden. Die Nacht stand bleich und grau
im Fenster, die Stube war dunkel und alles still, sodaß Ladidel, der
nicht an schlaflose Nächte gewöhnt war, verwirrt und ängstlich in die
Finsternis blickte und den noch nicht verwundenen Rausch des Abends im
Kopf rumoren fühlte. Irgend etwas, was er vergessen hatte und woran zu
denken ihm doch notwendig schien, quälte ihn eine gute Weile. Am Ende
klärte sich jedoch die peinigende Trübe und der ernüchterte Träumer
wußte wieder genau, um was es sich handle. Und nun drehten seine
Gedanken sich die ganze lange Nacht hindurch um die Frage, woher das
Geld kommen solle, das er seinem neuen Schätzchen versprochen hatte. Er
begriff nimmer, wie er das Versprechen hatte geben können, es mußte in
einer Bezauberung geschehen sein. Auch trat ihm der Gedanke, sein Wort
zu brechen, nahe und sah gar friedlich aus. Doch gewann er den Sieg
nicht, zum Teil, weil eine ehrliche Gutmütigkeit den Jüngling abhielt,
eine Notleidende umsonst auf die zugesagte Hilfe warten zu lassen. Noch
mächtiger freilich war die Erinnerung an Fannys Schönheit, an ihre
Küsse und die Wärme ihres Leibes, und die sichere Hoffnung, das alles
schon morgen ganz zu eigen zu haben. Darum entschlug und schämte er
sich des Gedankens, ihr untreu zu werden, und wandte allen Scharfsinn
daran, einen sicheren und ungefährlichen Weg zu dem versprochenen Gelde
zu ersinnen. Allein je mehr er sann und spann, desto größer ward in
seiner Vorstellung die Summe und desto unmöglicher ihre Erlangung.

Als Ladidel am Morgen grau und müde, mit verwachten Augen und
schwindelndem Kopfe, ins Kontor trat und sich an seinen Platz setzte,
wußte er noch immer keinen Ausweg und hätte gern für die hundert
Mark seine Seligkeit verkauft. Er war in der Frühe schon bei einem
Pfandleiher gewesen und hatte seine Uhr und Uhrkette samt allen
seinen kleinen Kostbarkeiten versetzen wollen, doch war der saure und
beschämende Gang vergeblich gewesen, denn man hatte ihm für das Ganze
nicht mehr als zehn Mark geben wollen. Nun bückte er sich traurig über
seine Arbeit und brachte eine öde Stunde über Tabellen hin, da kam mit
der Post, die ein Lehrling brachte, ein kleiner Brief für ihn. Erstaunt
öffnete er das zierliche Kuvert, steckte es in die Tasche und las
heimlich das kleine rosenrote Billett, das er darin gefunden hatte.
»Liebster, gelt du kommst heut Abend? Mit Kuß deine Fanny.«

Das gab den Ausschlag. Ladidel beschloß, unter allen Umständen und um
jeden Preis sein Versprechen zu halten. Das Brieflein verbarg er in der
Brusttasche und zog es je und je heimlich hervor, um daran zu riechen,
denn es hatte einen feinen warmen Duft, der ihm wie Wein zu Kopfe stieg.

Schon in den Überlegungen der vergangenen Nacht war der Gedanke in ihm
aufgestiegen, im Notfalle das Geld auf eine verbotene Weise an sich zu
bringen, doch hatte er diesen Plänen keinen Raum in sich gegönnt. Nun
kamen sie wieder und waren stärker und schmeichelnder geworden. Ob ihm
auch als einem redlichen Menschen vor Diebstahl und Betrug im Herzen
graute, so wollte ihm doch der Gedanke, es handle sich dabei nur um
eine erzwungene Anleihe, deren Erstattung ihm heilig sein würde, mehr
und mehr einleuchten. Über die Art der Ausführung aber zerbrach er
sich vergeblich den Kopf. Es wäre ihm leicht gewesen, sich die Summe
auf der Bank, wo man ihn kannte, zu verschaffen, wenn er sich hätte
entschließen können, die Handschrift seines Prinzipals zu fälschen.
Aber zu einem solchen richtigen Spitzbubenstück reichte es ihm doch
nicht. Er brachte den Tag verstört und bitter hin, sann und plante,
und er wäre am Ende betrübt, doch unbefleckt, aus dieser Prüfung
hervorgegangen, wenn ihn nicht am Abend, in der letzten Stunde, eine
allzu verlockende Gelegenheit doch noch zum Schelm gemacht hätte.

Der Prinzipal gab ihm Auftrag, da und dahin einen Wertbrief zu senden,
und zählte ihm die Banknoten hin. Es waren sieben Scheine, die er
zweimal durchzählte. Da widerstand er nicht länger, brachte mit
zitternder Hand eines von den Papieren an sich und siegelte die sechse
ein, die denn auch zur Post kamen und abreisten.

Die Tat wollte ihn reuen, schon als der Lehrling den Siegelbrief
wegtrug, dessen Aufschrift nicht mit seinem Inhalte stimmte. Von allen
Arten der Unterschlagung schien ihm diese nun die törichtste und
gefährlichste, da im besten Fall nur Tage vergehen konnten, bis das
Fehlen des Geldes entdeckt und Bericht darüber einlaufen würde. Als der
Brief fort und nichts zu bessern war, hatte der im Bösen unbewanderte
Ladidel das Gefühl eines Selbstmörders, der den Strick um den Hals
und den Schemel schon weggestoßen hat, nun aber gerne doch noch leben
möchte. Drei Tage kann es dauern, dachte er, vielleicht aber auch nur
einen, dann bin ich meines guten Rufes, meiner Freiheit und Zukunft
ledig, und alles um die hundert Mark, die nicht einmal für mich sind.
Er sah sich verhört, verurteilt, mit Schanden fortgejagt und ins
Gefängnis gesteckt und mußte zugeben, daß das alles durchaus verdient
und in der Ordnung sei.

Erst auf dem Wege zum Abendessen fiel ihm ein, es könnte am Ende auch
besser ablaufen. Daß die Sache gar nicht entdeckt werden würde, wagte
er zwar nicht zu hoffen; aber wenn nun das Geld auch fehlte, wie wollte
man beweisen, daß er der Dieb war? Um sich zu stärken, trank er wider
seine Gewohnheit ein Bier zum Abendbrot und ging dann nach Hause, um
sich schön zu machen. Mit dem Sonntagsrock und seiner besten Wäsche
angetan, erschien er eine Stunde später auf dem Tanzplatze. Unterwegs
war seine Zuversicht zurückgekehrt, oder es hatten doch die wieder
erwachten heißen Wünsche seiner Jugend die Angstgefühle übertäubt.

Es ging auch an diesem Abend lebhaft zu, doch fiel es dem einsam
wartenden Ladidel auf, daß der Ort nicht von der guten Bürgerschaft,
sondern zumeist von geringeren Leuten und auch von manchen verdächtig
Aussehenden besucht war. Als er sein Viertel Landwein getrunken hatte
und Fanny noch nicht gekommen war, befiel ihn ein Mißbehagen an dieser
Gesellschaft und er verließ den Garten, um draußen hinterm Zaun zu
warten. Da lehnte er in der Abendkühle an einer finstern Stelle des
Geheges, sah in das Gewühl und wunderte sich, daß er gestern inmitten
derselben Leute und bei derselben Musik so glücklich gewesen war und so
ausgelassen getanzt hatte. Heute wollte ihm alles weniger gefallen; von
den Mädchen sahen viele frech und liederlich aus, die Burschen hatten
üble Manieren und unterhielten selbst während des Tanzes ein lärmendes
Einverständnis durch Schreie und Pfiffe. Auch die roten Papierlaternen
sahen weniger festlich und leuchtend aus, als sie ihm gestern
erschienen waren. Er wußte nicht, ob nur Müdigkeit und Ernüchterung,
oder ob sein schlechtes Gewissen daran schuld sei; aber je länger er
zuschaute und wartete, desto weniger wollte der Festrausch wieder
kommen, und er nahm sich vor, mit Fanny, sobald sie käme, von diesem
Ort wegzugehen.

Als er wohl eine Stunde gewartet hatte und müd und ungeduldig zu
werden begann, sah er am jenseitigen Eingang des Gartens sein Mädchen
ankommen, in der roten Bluse und mit dem weißen Segeltuchhütchen, und
betrachtete sie neugierig. Da er solang hatte warten müssen, wollte er
nun auch sie ein wenig necken und warten lassen, auch reizte es ihn,
sie so aus dem Verborgenen zu belauschen.

Die hübsche Fanny spazierte langsam durch den Garten und suchte; und da
sie Ladidel nicht fand, setzte sie sich beiseite an einen Tisch. Ein
Kellner kam, doch winkte sie ihm ab. Dann sah Ladidel, wie sich ihr
ein Bursche näherte, der ihm schon gestern als ein vorlauter und roher
Patron aufgefallen war. Er schien sie gut zu kennen, und soweit Ladidel
sehen konnte, fragte sie ihn eifrig nach etwas, wohl nach ihm, und der
Bursche zeigte nach dem Ausgang und schien zu erzählen, der Gesuchte
sei dagewesen, aber wieder fortgegangen.

Nun begann Ladidel Mitleid zu haben und wollte zu ihr eilen, doch sah
er in demselben Augenblick mit Schrecken, wie der unangenehme Bursche
die Fanny ergriff und mit ihr zum Tanz antrat. Aufmerksam beobachtete
er sie beide, und wenn ihm auch ein paar grobe Liebkosungen des Mannes
das Blut ins Gesicht trieben, so schien doch das Mädchen gleichgültig
zu sein, ja ihn abzuwehren.

Kaum war der Tanz zu Ende, so ward Fanny von ihrem Begleiter einem
andern zugeschoben, der den Hut vor ihr zog und sie höflich zur neuen
Tour aufforderte. Ladidel wollte ihr zurufen, wollte über den Zaun zu
ihr hinein, doch kam es nicht dazu, und er mußte in trauriger Betäubung
zusehen, wie sie dem Fremden zulächelte und mit ihm den Schottischen
begann. Und während des Schottischen sah er sie schön mit dem andern
tun und seine Hände streicheln und sich an ihn lehnen, gerade wie sie
es gestern ihm selbst getan hatte, und er sah den Fremden warm werden
und sie fester umfassen und am Schluß des Tanzes mit ihr durch die
dunkleren Laubengänge wandeln, wobei das Paar dem Lauscher peinlich
nahe kam und er ihre Worte und Küsse gar deutlich hörten konnte.

Da ging Alfred Ladidel heimwärts, mit tränenden Augen, das Herz voll
Scham und Wut und dennoch froh, der Hure entgangen zu sein. Junge Leute
kehrten von den Festplätzen heim und sangen, Musik und Gelächter drang
aus den Gärten; ihm aber klang alles wie ein Hohn auf ihn und alle
Lust, und wie vergiftet. Als er heimkam, war er todmüde und hatte kein
Verlangen mehr als zu schlafen. Und da er seinen Sonntagsrock auszog
und gewohnterweise seine Falten glatt strich, knisterte es in der
Tasche und er zog unversehrt den blauen Geldschein hervor. Unschuldig
lag das Papier im Kerzenschein auf dem Tische; er sah es eine Weile an,
schloß es dann in die Schublade und schüttelte den Kopf dazu. Um das zu
erleben, hatte er nun gestohlen und sein Leben verdorben.

Gegen eine Stunde lag er noch wach, doch dachte er in dieser Zeit nicht
mehr an Fanny und nicht mehr an die hundert Mark, noch an das, was
jetzt über ihn kommen würde, sondern er dachte an Martha Weber und
daran, daß er sich nun alle Wege zu ihr verschüttet habe.


Fünftes Kapitel

Was er jetzt zu tun habe, wußte Ladidel genau. Er hatte erfahren, wie
bitter es ist, sich vor sich selber schämen zu müssen, und stand sein
Mut auch tief, so war er dennoch fest entschlossen, mit dem Gelde und
einem ehrlichen Geständnis zu seinem Prinzipal zu gehen und von seiner
Ehre und Zukunft zu retten, was noch zu retten wäre.

Darum war es ihm nicht wenig peinlich, als am folgenden Tage der Notar
nicht ins Kontor kam. Er wartete bis Mittag und vermochte seinen
Kollegen kaum in die Augen zu blicken, da er nicht wußte, ob er morgen
noch an diesem Platze stehen und als ihresgleichen gelten werde.

Nach Tische erschien der Notar wieder nicht, und es verlautete, er sei
unwohl und werde heut nimmer ins Geschäft kommen. Da hielt Ladidel
es nicht länger aus. Er ging unter einem Vorwand weg und geradenwegs
in die Wohnung seines Prinzipals. Man wollte ihn nicht vorlassen, er
bestand aber mit Verzweiflung darauf, nannte seinen Namen und begehrte
in einer wichtigen Sache den Herrn zu sprechen. So wurde er in ein
Vorzimmer geführt und aufgefordert zu warten.

Die Dienstmagd ließ ihn allein, er stand in Verwirrung und Angst
zwischen plüschbezogenen Stühlen, lauschte auf jeden Ton im Hause und
hatte das Sacktuch in der Hand, da ihm ohne Unterlaß der Schweiß über
die Stirn lief. Auf einem ovalen Tische lagen goldverzierte Bücher,
Schillers Glocke und der siebziger Krieg, ferner stand dort ein Löwe
aus grauem Stein und in Stehrahmen eine Menge von Photographien.
Es sah hier feiner, doch ähnlich aus wie in der schönen Stube von
Ladidels Eltern, und alles mahnte an Ehrbarkeit, Wohlstand und
Würde. Die Photographien stellten lauter wohlgekleidete Leute vor,
Brautpaare im Hochzeitsstaat, Frauen und Männer von guter Familie und
zweifellos bestem Rufe, und von der Wand schaute ein wohl lebensgroßer
Mannskopf herab, dessen Züge und Augen Ladidel an das Bildnis des
verstorbenen Vaters bei den Weberschen Damen erinnerten. Zwischen so
viel bürgerlicher Würde sank der Sünder in seinen eigenen Augen von
Augenblick zu Augenblick tiefer, er fühlte sich durch seine Übeltat
von diesem und jedem ehrbaren Kreise ausgeschlossen und unter die
Abgängigen und Ehrlosen geworfen, von denen keine Photographien
gemacht und unter Glas gespannt und in den guten Stuben rechter Leute
aufgestellt werden.

Eine große Wanduhr von der Art, die man Regulatoren nennt, schwang
ihren messingenen Perpendikel gleichmütig und unangefochten hin und
wider, und einmal, nachdem Ladidel schon recht lang gewartet hatte,
räusperte sie sich leise und tat sodann einen tiefen, schönen, vollen
Schlag. Der arme Jüngling schrak auf, und in demselben Augenblick
trat ihm gegenüber der Notar durch die Türe. Er beachtete Ladidels
Verbeugung nicht, sondern wies sogleich befehlend auf einen Sessel,
nahm selber Platz und sagte: »Was führt Sie her?«

»Ich wollte,« begann Ladidel, »ich hatte, ich wäre -- --.« Dann aber
schluckte er energisch und stieß heraus: »Ich habe Sie bestehlen
wollen.«

Der Notar nickte und sagte ruhig: »Sie haben mich sogar wirklich
bestohlen, ich weiß es schon. Es ist vor einer Stunde telegraphiert
worden. Sie haben also wirklich einen von den Hundertmarkscheinen
genommen?«

Statt der Antwort zog Ladidel den Schein aus der Tasche und streckte
ihn dar. Erstaunt nahm der Herr ihn in die Finger, spielte damit und
sah Ladidel scharf an.

»Wie geht das zu? Haben Sie schon Ersatz geschafft?«

»Nein, es ist derselbe Schein, den ich weggenommen hatte. Ich habe ihn
nicht gebraucht.«

»Sie sind ein Sonderling, Ladidel. Daß Sie das Geld genommen hätten,
wußte ich sofort. Es konnte ja sonst niemand sein. Und außerdem wurde
mir gestern erzählt, man habe Sie am Sonntag Abend auf dem Festplatz
in einer etwas verrufenen Tanzbude gesehen. Oder hängt es nicht damit
zusammen?«

Nun mußte Ladidel erzählen, und so sehr er sich Mühe gab, das
Beschämendste zu unterdrücken, es kam wider seinen Willen doch fast
alles heraus. Der alte Herr unterbrach ihn nur zwei-, dreimal durch
kurze Fragen, im übrigen hörte er gedankenvoll zu und sah zuweilen dem
Beichtenden ins Gesicht, sonst aber zu Boden, um ihn nicht zu stören.

Am Ende stand er auf und ging in der Stube hin und wider. Nachdenklich
nahm er eine von den Photographien in die Hand. Plötzlich bot er das
Bild dem Übeltäter hin, der in seinem Sessel ganz zusammengebrochen
kauerte.

»Sehen Sie,« sagte er, »das ist der Direktor einer großen Fabrik in
Amerika. Er ist ein Vetter von mir, Sie brauchen es ja nicht jedermann
zu erzählen, und er hat als junger Mensch in einer ähnlichen Lage wie
Sie tausend Mark entwendet. Er wurde von seinem Vater preisgegeben,
mußte hinter Schloß und Riegel und ging nachher nach Amerika.«

Er schwieg und wanderte wieder umher, während Ladidel das Bild des
stattlichen Mannes ansah und einigen Trost daraus sog, daß also auch in
dieser ehrenwerten Familie ein Fehltritt vorgekommen sei, und daß der
Sünder es doch noch zu etwas gebracht habe und nun gleich den Gerechten
gelte, und sein Bild zwischen den Bildern unbescholtener Leute stehen
dürfe.

Inzwischen hatte der Notar seine Gedanken zu Ende gesponnen und trat zu
Ladidel, der ihn schüchtern anschaute.

Er sagte fast freundlich: »Sie tun mir leid, Ladidel. Ich glaube
nicht, daß Sie schlecht sind, und hoffe, Sie kommen wieder auf rechte
Wege. Am Ende würde ich es sogar wagen und Sie behalten. Aber das geht
doch nicht. Es wäre für uns beide unerquicklich und ginge gegen meine
Grundsätze. Und einem Kollegen kann ich Sie auch nicht empfehlen, wenn
ich auch an Ihre guten Vorsätze gern glauben will. Wir wollen also die
Sache zwischen uns für abgetan ansehen, ich werde niemand davon sagen.
Aber bei mir bleiben können Sie nicht.«

Ladidel war zwar überfroh, die böse Sache so menschlich behandelt zu
sehen. Da er sich aber nun ans Freie gesetzt und so ins Ungewisse
geschickt fand, verzagte er doch und klagte: »Ach, was soll ich aber
jetzt anfangen?«

»Etwas Neues,« rief der Notar, und unversehens lächelte er. »Seien
Sie ehrlich, Ladidel, und sagen Sie: wie wäre es Ihnen wohl nächstes
Frühjahr im Staatsexamen gegangen? Schauen Sie, Sie werden rot. Nun,
wenn Sie auch schließlich den Winter über noch manches hätten nachholen
können, so hätte es doch schwerlich gereicht, und ich hatte ohnehin
schon seit einiger Zeit die Absicht, darüber mit Ihnen zu reden. Jetzt
ist ja die beste Gelegenheit dazu. Meine Überzeugung, und vielleicht
im Stillen auch Ihre, ist die, daß Sie Ihren Beruf verfehlt haben. Sie
passen nicht zum Notar und überhaupt nicht ins Amtsleben. Nehmen Sie
an, Sie seien im Examen durchgefallen, und suchen Sie recht bald einen
andern Beruf, in dem Sie es weiter bringen können. Vielleicht ist es
für eine Kaufmannslehre noch nicht zu spät -- aber das ist Ihre und
Ihres Vaters Sache. Ihr Monatsgeld schicke ich Ihnen morgen. Wenn Sie
noch etwas im Kontor liegen haben, was Ihnen gehört, so holen Sie es
jetzt. -- Nur noch eins: Ihr Vater muß die Sache natürlich wissen!«

Ladidel sagte leise ja und senkte den Kopf.

»Es ist das Beste, Sie sagen es ihm selbst. Aber tun Sie es gewiß, und
warten Sie damit nicht lang, denn schreiben muß ich ihm doch. Am besten
fahren Sie gleich morgen nach Hause. Und jetzt adieu. Sehen Sie mir ins
Gesicht! Und behalten Sie mich in gutem Andenken. Wenn Sie mir später
einmal Bericht geben, wird es mich freuen. Nur jetzt den Kopf nicht
ganz hängen lassen und keine neuen Dummheiten machen! -- Adieu denn,
und grüßen Sie den Herrn Vater von mir!«

Er gab dem Bestürzten die Hand, drückte ihm die seine kräftig und schob
ihn, der noch reden und danken wollte, zur Tür.

Damit stand unser Freund auf der Gasse und konnte sehen, was
weiter käme. Er hatte im Kontor nur ein paar schwarze Ärmelschoner
zurückgelassen, an denen war ihm nichts gelegen, und er zog es vor,
sich dort nimmer zu zeigen und sich das Abschiednehmen von den
Kollegen zu ersparen. Allein so betrübt er war und so sehr ihm vor
der Heimfahrt und dem Vater und der ganzen kommenden Zeit graute, auf
dem Grund seiner Seele war er doch dankbar und beinahe vergnügt, der
furchtbaren Angst vor Polizei und Schande ledig zu sein; und während
er langsam durch die Straßen ging, schlich auch der Gedanke, daß er
nun kein Examen mehr vor sich habe, als ein tröstlicher Lichtstrahl in
sein Gemüt, das von den vielen Erlebnissen dieser Tage auszuruhen und
aufzuatmen begehrte.

So begann ihm beim Dahinwandeln allmählich auch das ungewohnte
Vergnügen, Werktags um diese Tageszeit frei durch die Stadt zu
spazieren, recht wohl zu gefallen. Er blieb vor den Auslagen der
Kaufleute stehen, betrachtete die Kutschenpferde, die an den Ecken
warteten, schaute auch zum zartblauen Herbsthimmel hinan und genoß für
eine Stunde ein unverhofftes Ferien- und Herrengefühl. Dann kehrten
seine Gedanken in den alten engen Kreis zurück, und als er, schon
wieder gedrückt und ziemlich mutlos, in der Nähe seiner Wohnung um eine
Gassenecke bog, mußte ihm gerade eine hübsche junge Dame begegnen, die
dem Fräulein Martha Weber ähnlich sah. Da fiel ihm alles wieder recht
aufs Herz, seine mißglückten und lächerlichen Versuche auf dem Gebiete
der Liebe zumal, und er mußte sich vorstellen, was wohl die Martha
denken und sagen würde, wenn sie seine ganze Geschichte erführe. Erst
jetzt fiel ihm ein, daß sein Fortgehen von hier ihn nicht nur von Amt
und Zukunft, sondern auch aus der Nähe des geliebten Mädchens entführe.
Und alles um diese Fanny.

Je mehr ihm das klar wurde, desto stärker ward sein Verlangen, nicht
ohne einen Gruß an Martha fortzugehen. Schreiben mochte und durfte er
ihr nicht, es blieb ihm nur der Weg durch Fritz Kleuber. Darum kehrte
er, kurz vor dem Hause, um und suchte Kleuber in seiner Rasierstube auf.

Der gute Fritz hatte eine ehrliche Freude, ihn wieder zu sehen. Doch
deutete Ladidel ihm nur in Kürze an, er müsse aus besonderen Gründen
seine Stelle verlassen und wegreisen.

»Nein aber!« rief Fritz betrübt. »Da müssen wir aber wenigstens noch
einmal zusammensein, wer weiß, wann man sich wieder sieht! Wann mußt du
denn reisen?«

Alfred überlegte. »Morgen muß ich doch noch packen. Also übermorgen.«

»Dann mache ich mich morgen abend frei und komme zu dir, wenn dir's
recht ist.«

»Ja, gut. Und gelt, wenn du wieder zu deiner Braut kommst, sagst du
viele Grüße von mir -- an alle!«

»Ja, gern. Aber willst du nicht selber noch hingehen?«

»Ach, das geht jetzt nimmer. -- Also morgen!«

Trotzdem überlegte er diesen und den ganzen folgenden Tag, ob er es
nicht doch tun solle. Allein er fand nicht den Mut dazu. Was hätte
er sagen und wie seine Abreise erklären sollen? Ohnehin überfiel ihn
heute eine heillose Angst vor der Heimreise und vor seinem Vater,
vor den Leuten daheim und aller Schande, der er entgegenging. Und er
packte nicht, er fand nicht einmal den Mut, seiner Wirtin die Stube zu
kündigen. Statt all dies Notwendige zu tun, saß er und füllte Bogen mit
Entwürfen zu einem Brief an seinen Vater.

»Lieber Vater! Der Notar kann mich nicht mehr brauchen --«

»Lieber Vater! Da ich doch zum Notar nicht recht passe --«. Es war
nicht leicht, das Schreckliche sanft und doch deutlich zu sagen.
Aber es war immerhin leichter, diesen Brief zusammenzudichten als
heimzufahren und zu sagen: Da bin ich wieder, man hat mich fortgejagt.
Und so ward denn bis zum Abend der Brief wirklich fertig. Hatte der
Sünder beim Schreiben und Wiederschreiben seine Vergehen oftmals
überdenken und den bittern Trank der Scham und Reue leeren müssen, so
hatte er im Verlauf doch auch Gelegenheit gefunden, die böse Sache von
freundlicheren Seiten her zu betrachten und Balsam auf die Wunde zu
streichen.

Dennoch war er am Abend mürbe und mitgenommen, und Kleuber fand ihn so
milde und weich wie noch nie. Er hatte ihm, als ein Abschiedsgeschenk,
eine kleine geschliffene Glasflasche mit edelm Odeur mitgebracht. Die
bot er ihm hin und sagte: »Darf ich dir das zum Andenken mitgeben? Es
wird schon noch in den Koffer gehen.« Indessen sah er sich um und rief
verwundert: »Du hast ja noch gar nicht gepackt! Soll ich dir helfen?«

Ladidel sah ihn unsicher an und meinte: »Ja, ich bin noch nicht soweit.
Ich muß noch auf einen Brief warten.«

»Das freut mich,« sagte Fritz vergnügt, »so hat man doch Zeit zum
Adieusagen. Weißt du, wir könnten eigentlich heut Abend miteinander zu
den Webers gehen. Es wäre doch schade, wenn du so wegreisen würdest.«

Dem armen Ladidel war es, als ginge eine Tür zum Himmel auf und würde
im selben Augenblick wieder zugeschlagen. Er wollte etwas sagen,
schüttelte aber nur den Kopf, und als er sich zwingen wollte, würgten
die Worte ihn in der Kehle, und unversehens brach er vor dem erstaunten
Fritz in ein Schluchzen aus.

»Ja lieber Gott, was hast du?« rief der erschrocken. Ladidel winkte
schweigend ab, aber Kleuber war darüber, daß er seinen bewunderten und
stolzen Freund in Tränen sah, so ergriffen und gerührt, daß er ihn in
die Arme nahm wie einen Kranken, ihm die Hände streichelte und ihm in
unbestimmten Ausdrücken seine Hilfe anbot.

»Ach, du kannst mir nicht helfen,« sagte Alfred, als er wieder
reden konnte. Doch ließ Kleuber ihm keine Ruhe, und schließlich kam
es Ladidel wie eine Erlösung vor, einer so wohlmeinenden Seele zu
beichten, so daß er nachgab. Sie setzten sich einander gegenüber,
Ladidel wandte sein Gesicht ins Dunkle und fing an: »Weißt du, damals
als wir zum erstenmal miteinander zu deiner Braut gegangen sind --«
und erzählte weiter, alles und alles, von seiner Liebe zu Martha, von
ihrem kleinen Streit und Auseinanderkommen, und wie leid ihm das tue.
Sodann kam er auf das Schützenfest zu sprechen, auf seine Verstimmung
und Verlassenheit, von der Tanzwirtschaft und der Fanny, von dem
Hundertmarkschein, und wie dieser unverwendet geblieben sei, endlich
von dem gestrigen Gespräch mit dem Notar und seiner jetzigen Lage.
Er gestand auch, daß er das Herz nicht habe, so vor seinen Vater zu
kommen, daß er ihm geschrieben habe und nun mit Schrecken des Kommenden
warte.

Dem allem hörte Fritz Kleuber still und aufmerksam zu, betrübt und in
der Seele aufgewühlt durch solche Ereignisse. Als der andre schwieg
und das Wort an ihm war, sagte er leise und schüchtern: »Da tust du
mir leid.« Und obschon er selber gewiß niemals im Leben einen Pfennig
veruntreut hatte, fuhr er fort: »Es kann ja jedem so etwas passieren,
und du hast ja das Geld auch wieder zurückgebracht. Was soll ich da
sagen? Die Hauptsache ist jetzt, was du anfangen sollst.«

»Ja, wenn ich das wüßte! Ich wollt, ich wär tot.«

»So darfst du nicht reden,« rief Fritz entsetzt. »Weißt du denn
wirklich nichts?«

»Gar nichts. Ich kann jetzt Steinklopfer werden.«

»Das wird nicht nötig sein. -- Wenn ich nur wüßte, ob es dir keine
Beleidigung ist -- --«

»Was denn?«

»Ja, ich hätte einen Vorschlag. Ich fürchte nur, es ist eine Dummheit
von mir, und du nimmst es übel.«

»Aber sicher nicht! Ich kann mirs gar nicht denken.«

»Sieh, ich denke mir so -- du hast ja hie und da dich für meine Arbeit
interessiert, und hast selber zum Vergnügen es damit probiert. Du hast
auch viel Genie dafür und könntest es bald besser als ich, weil du
geschickte Finger hast und so einen feinen Geschmack. Ich meine, wenn
sich vielleicht nicht gleich etwas Besseres findet, ob du es nicht mit
unsrem Handwerk probieren möchtest?«

Ladidel war erstaunt; daran hatte er nie gedacht. Das Gewerbe eines
Barbiers war ihm bisher zwar nicht schimpflich, doch aber wenig nobel
vorgekommen. Nun aber war er von jener hohen Stufe herabgesunken und
hatte wenig Grund mehr, irgendein ehrliches Gewerbe gering zu achten.
Das fühlte er auch; und daß Fritz sein Talent so rühmte, tat ihm wohl.
Er meinte nach einigem Besinnen: »Das wäre vielleicht gar nicht das
Dümmste. Aber weißt du, ich bin doch schon erwachsen, und auch an einen
andern Stand gewöhnt; da würde ich schwer tun, noch einmal als Lehrbub
bei irgendeinem Meister anzufangen.«

Fritz nickte. »Wohl, wohl. So ist es auch nicht gemeint!«

»Ja wie denn sonst?«

»Ich meine, du könntest bei mir lernen, was noch zu lernen ist.
Entweder warten wir, bis ich mein eigenes Geschäft habe, das dauert
nimmer lang. Du könntest aber auch schon jetzt zu mir kommen. Mein
Meister nähme ganz gern einen Volontär, der geschickt ist und keinen
Lohn will. Dann würde ich dich anleiten, und sobald ich mein eigenes
Geschäft anfange, kannst du bei mir eintreten. Es ist ja vielleicht
nicht leicht für dich, dich dran zu gewöhnen; aber wenn man eine gute
und feine Kundschaft hat, ist es doch kein übles Geschäft.«

Ladidel hörte mit angenehmer Verwunderung zu und spürte im Herzen, daß
hier sein Schicksal sich entschied. War es auch vom Notar zum Friseur
ein gewisser Rückschritt, so empfand er doch zum erstenmal im Leben die
innige Befriedigung eines Mannes, der seinen wahren Beruf entdeckt und
den ihm bestimmten Weg gefunden hat.

»Du, das ist ja großartig,« rief er glücklich und streckte Kleubern die
Hand hin. »Jetzt ist mir erst wieder wohl in meiner Haut. Mein Alter
wird ja vielleicht nicht gleich einverstanden sein, aber er muß es ja
einsehen. Gelt, du redest dann auch ein Wort mit ihm?«

»Wenn du meinst --«, sagte Fritz schüchtern.

Nun war Ladidel so entzückt von seinem zukünftigen Beruf und so voll
Eifers, daß er begehrte, augenblicklich eine Probe abzulegen. Kleuber
mochte wollen oder nicht, er mußte sich hinsetzen und sich von seinem
Freunde rasieren, den Kopf waschen und frisieren lassen. Und siehe, es
glückte alles vorzüglich, kaum daß Fritz ein paar kleine Ratschläge zu
geben hatte. Ladidel bot ihm Zigaretten an, holte den Weingeistkocher
und setzte Tee an, plauderte und setzte seinen Freund durch diese
rasche Heilung von seinem Trübsinn nicht wenig in Erstaunen. Fritz
brauchte länger, um sich in die veränderte Stimmung zu finden, doch riß
Alfreds Laune ihn endlich mit, und wenig fehlte, so hätte dieser wie
in frühern vergnügten Zeiten die Gitarre ergriffen und Schelmenlieder
angestimmt. Es hielt ihn davon nur der Anblick des Briefes an seinen
Vater ab, der noch auf dem Tische lag und ihn am spätern Abend nach
Kleubers Weggehen noch lang beschäftigte. Er las ihn wieder durch, war
nimmer mit ihm zufrieden und faßte am Ende den Entschluß, nun doch
heimzufahren und seine Beichte selber abzulegen. Nun wagte er es, da er
einen Ausweg aus der Trübsal und ein neues Glück seiner warten wußte.


Sechstes Kapitel

Als Ladidel von dem Besuch bei seinem Vater wiederkehrte, war er zwar
etwas stiller geworden, hatte aber seine Absicht erreicht und trat
für ein halbes Jahr als Volontär bei Kleubers Meister ein. Fürs erste
sah er damit seine Lage bedeutend verschlechtert, da er nichts mehr
verdiente und das Monatsgeld von Hause sehr sparsam gemessen war. Er
mußte seine hübsche Stube aufgeben und eine geringe Kammer nehmen,
auch sonst trennte er sich von manchen Gewohnheiten, die seiner neuen
Stellung nicht mehr angemessen schienen. Nur die Gitarre blieb bei
ihm und half ihm über vieles weg, auch konnte er seiner Neigung zu
sorgfältiger Pflege seines Haupthaares und Schnurrbartes, seiner Hände
und Fingernägel jetzt ohne Beschränkung frönen. Er schuf sich nach
kurzem Studium eine Frisur, die jedermann bewunderte, und ließ seiner
Haut mit Bürsten, Pinseln, Salben, Seifen, Wassern und Pudern das
Beste zukommen. Was ihn jedoch mehr als dies alles beglückte und mit
dem Wechsel seines Standes versöhnte, war die Befriedigung, die er im
neuen Berufe fand, und die innerliche Gewißheit, nunmehr ein Metier zu
betreiben, das seinen Talenten entsprach und in dem er Aussicht hatte,
Bedeutendes zu leisten.

Anfänglich ließ man ihn freilich nur untergeordnete Arbeiten tun. Er
mußte Knaben die Haare schneiden, Arbeiter rasieren und Kämme und
Bürsten reinigen, doch erwarb er durch seine Fertigkeit im Flechten
künstlicher Zöpfe bald seines Meisters Vertrauen und erlebte nach
kurzem Warten den Ehrentag, da er einen wohlgekleideten, nobel
aussehenden Herrn bedienen durfte. Dieser war zufrieden und gab
sogar ein Trinkgeld, und nun ging es Stufe für Stufe vorwärts. Ein
einzigesmal schnitt er einen Kunden in die Wange und mußte Tadel über
sich ergehen lassen, im übrigen erlebte er beinahe nur Anerkennung und
Erfolge. Besonders war es Fritz Kleuber, der ihn bewunderte und nun
erst recht für einen Auserwählten ansah. Denn wenn er selbst auch ein
tüchtiger Arbeiter und seiner Fertigkeit sicher war, so fehlte ihm
doch sowohl die leichte Erfindungskraft, die für jeden Kopf sofort
die entsprechende Frisur zu schaffen weiß, wie auch das leichte,
unterhaltende, angenehme Wesen im Umgang mit nobler Kundschaft. Hierin
war Ladidel bedeutend, und nach einem Vierteljahr begehrten schon die
verwöhnteren Stammgäste immer von ihm bedient zu werden. Er verstand
es auch vortrefflich, nebenher seine Herren zum häufigeren Ankauf
neuer Pomaden, Bartwichsen und Seifen, teurer Bürstchen und Kämme zu
überreden; und in der Tat mußte in diesen Dingen jedermann seinen Rat
willig und dankbar hinnehmen, denn er selbst sah beneidenswert tadellos
und wohlbestellt aus.

Da die Arbeit ihn so in Anspruch nahm und befriedigte, trug er jede
Entbehrung leichter, und so hielt er auch die lange Trennung von Martha
Weber geduldig aus. Ein Schamgefühl hatte ihn gehindert, sich ihr in
seiner neuen Gestalt zu zeigen, ja er hatte Fritz inständig gebeten,
seinen neuen Stand vor den Damen zu verheimlichen. Dies war allerdings
nur eine kurze Zeit möglich gewesen. Meta, der die Neigung ihrer
Schwester zu dem hübschen Notar nicht unbekannt geblieben war, hatte
sich hinter Fritz gesteckt und bald ohne Mühe alles herausbekommen.
So konnte sie der Schwester nach und nach ihre Neuigkeiten enthüllen
und Martha erfuhr nicht nur den Berufswechsel ihres Geliebten, den
er jedoch aus Gesundheitsrücksichten vorgenommen habe, sondern auch
seine unveränderte treue Verliebtheit. Sie erfuhr ferner, daß er sich
seines neuen Standes vor ihr schämen zu müssen meine und jedenfalls
nicht eher sich wieder zeigen möge, als bis er es zu etwas gebracht und
begründete Aussichten für die Zukunft habe.

Eines Abends war in dem Mädchenstübchen wieder vom »Notar« die Rede.
Meta hatte ihn über den Schellenkönig gelobt, Martha aber sich wie
immer spröde verhalten und es vermieden, Farbe zu bekennen.

»Paß auf,« sagte Meta, »der macht so schnell voran, daß er am Ende noch
vor meinem Fritz ans Heiraten kommt.«

»Meinetwegen, ich gönns ihm ja.«

»Und dir aber auch, nicht? Oder tust du's unter einem Notar durchaus
nicht?«

»Laß mich aus dem Spiel! Der Ladidel wird schon wissen, wo er sich eine
zu suchen hat.«

»Das wird er, hoff ich. Bloß hat man ihn zu spröd empfangen, und jetzt
ist er scheu und findet den Weg nimmer recht. Dem wenn man einen Wink
gäbe, er käm auf allen Vieren gelaufen.«

»Kann schon sein.«

»Wohl. Soll ich winken?«

»Willst denn du ihn haben? Du hast doch deinen Bartscherer, mein ich.«

Meta schwieg nun und lachte in sich hinein. Sie sah wohl, wie ihrer
Schwester ihre vorige Schärfe leid tat und sie gar zu gern ihren Alfred
auf gute Art wieder zu Handen gekriegt hätte. Sie sann auf Wege, den
Scheugewordenen wieder herzulocken, und hörte Marthas verheimlichten
Seufzern mit einer kleinen Schadenfreude zu.

Mittlerweile meldete sich von Schaffhausen her Fritzens alter Meister
wieder und ließ wissen, er wünsche nun bald sich einen Feierabend zu
gönnen. Da frage er an, wie es mit Kleubers Absichten stehe. Zugleich
nannte er die Summe, um welche sein Geschäft ihm feil sei, und wieviel
davon er angezahlt haben müsse. Diese Bedingungen waren nun billig und
wohlmeinend, jedoch reichten Kleubers Mittel dazu nicht hin, so daß er
in Sorgen umherging, und diese gute Gelegenheit zum Selbständigwerden
und Heiratenkönnen zu versäumen fürchtete. Und endlich überwand er sich
und schrieb ab, und erst dann erzählte er die ganze Sache Ladideln.

Der schalt ihn, daß er ihn das nicht habe früher wissen lassen, und
machte sogleich den Vorschlag, er wolle die Angelegenheit vor seinen
Vater bringen. Wenn der zu gewinnen sei, könnten sie ja das Geschäft
gemeinsam übernehmen.

Der alte Ladidel war überrascht, als die beiden jungen Leute mit ihrem
Anliegen zu ihm kamen, und wollte nicht sogleich daran, obwohl die
Summe seinen Beutel nicht erschöpft hätte. Doch hatte er zu Fritz
Kleuber, der sich seines Sohnes in einer entscheidenden Stunde so wohl
angenommen hatte, ein gutes Vertrauen, auch hatte Alfred von seinem
jetzigen Meister ein überaus lobendes Zeugnis mitgebracht. Ihm schien,
sein Sohn sei jetzt auf gutem Wege, und er zögerte, ihm nun einen Stein
darein zu werfen. Nach einigen Tagen des Hin- und Widerredens entschloß
er sich und fuhr selber nach Schaffhausen, um sich alles anzusehen.

Der Kauf kam zustande, und die beiden Kompagnone wurden von allen
Kollegen beglückwünscht. Kleuber beschloß im Frühjahr Hochzeit zu
halten und bat sich Ladidel als ersten Brautführer aus. Da war ein
Besuch im Hause Weber nicht mehr zu umgehen. Ladidel kam in Fritzens
Gesellschaft sehr rot und schämig daher, und konnte vor Herzklopfen
kaum die vielen Treppen hinaufkommen. Oben empfing ihn der gewohnte
Duft und das gewohnte Halbdunkel, Meta begrüßte ihn lachend, und die
alte Mutter schaute ihn ängstlich und bekümmert an. Hinten in der
hellen Stube aber stand Martha ernsthaft und etwas blaß in einem
dunkeln Kleide, gab ihm auch die Hand und war diesmal kaum minder
verwirrt als er selber. Man tauschte Höflichkeiten, fragte nach der
Gesundheit, trank aus kleinen altmodischen Kelchgläsern einen hellroten
süßen Stachelbeerwein und besprach dabei die Hochzeit und alles
dazu gehörige. Herr Ladidel bat sich die Ehre aus, Fräulein Marthas
Kavalier sein zu dürfen, und wurde eingeladen, sich nun auch wieder
fleißig im Hause zu zeigen. Beide sprachen miteinander nur höfliche und
unbedeutende Worte, sahen einander aber heimlich an, und jedes fand
das andre auf eine nicht auszudrückende, doch reizende Art verändert.
Ohne es einander zu sagen, wußten und spürten sie jedes, daß auch das
andre in dieser Zeit gelitten habe, und beschlossen heimlich, einander
nicht wieder ohne Grund weh zu tun. Zugleich merkten sie auch beide mit
Verwunderung, daß die lange Trennung und das Trotzen sie einander nicht
entfremdet, sondern näher gebracht habe, und es wollte ihnen scheinen,
nun seien wenig Worte mehr notwendig und die Hauptsache zwischen ihnen
in Ordnung.

So war es denn auch, und dazu trug nicht wenig bei, daß Meta und Fritz
die beiden nach schweigendem Übereinkommen wie ein versprochenes Paar
ansahen. Wenn Ladidel ins Haus kam, was jetzt häufiger als je geschah,
so schien es allen selbstverständlich, daß er Marthas wegen komme
und vor allem mit ihr zusammen sein wolle. Ladidel half treulich bei
den Vorbereitungen zur Hochzeit mit und tat es so eifrig und mit dem
Herzen, als gälte es seine eigene Heirat. Verschwiegen aber und mit
unendlicher Kunst erdachte er sich für Martha eine herrliche neue
Frisur.

Einige Tage vor der Hochzeit nun, da es im Hause drüber und drunter
ging, erschien er eines Tages feierlich, wartete einen Augenblick ab,
da er mit Martha still allein war, und eröffnete ihr, es liege ihm eine
gewagte Bitte an sie auf dem Herzen. Sie ward rot und glaubte alles zu
ahnen, und wenn sie den Tag auch nicht gut gewählt fand, wollte sie
doch nichts versäumen und gab bescheiden Antwort, er möge nur reden.
Ermutigt brachte er dann seine Bitte vor, die auf nichts andres zielte
als auf die Erlaubnis, dem Fräulein für den Festtag mit einer neuen von
ihm ausgedachten Frisur aufwarten zu dürfen.

Verwundert willigte Martha ein, daß eine Probe gemacht werde. Meta
mußte helfen, und nun erlebte Ladidel den Augenblick, daß sein alter
Wunsch in Erfüllung ging, und er Marthas lange blonde Haare in den
Händen hielt. Zu Anfang wollte diese zwar haben, daß Meta allein
sie frisiere und er nur mit Rat beistehe. Doch ließ dieses sich
nicht durchführen, sondern bald mußte er mit eigener Hand zugreifen
und verließ nun den Posten nicht mehr. Als das Haargebäude seiner
Vollendung nahe war, ließ Meta die beiden allein, angeblich nur für
einen Augenblick, doch blieb sie lange aus. Inzwischen war Ladidel mit
seiner Kunst fertig geworden. Martha sah sich im Spiegel königlich
verschönt, und er stand hinter ihr, da und dort noch bessernd. Da
übermochte ihn die Ergriffenheit, daß er dem schönen Mädchen mit leiser
Hand liebkosend über die Schläfe strich. Und da sie sich beklommen
umwandte und ihn still mit nassen Augen ansah, geschah es von selbst,
daß er sich über sie beugte und sie küßte und, von ihr in Tränen
festgehalten, vor ihr kniete und als ihr Liebhaber und Bräutigam wieder
aufstand.

»Wir müssen es der Mama sagen,« war alsdann ihr erstes schmeichelndes
Wort, und er stimmte zu, obwohl ihm vor der betrübten alten Witwe ein
wenig bange war. Als er jedoch vor ihr stand und Martha an der Hand
führte und um ihre Hand anhielt, schüttelte die alte Frau nur ein
wenig den Kopf, sah sie beide ratlos und bekümmert an und hatte nichts
dafür und nichts dawider zu sagen. Doch rief sie Meta herbei, und nun
umarmten sich die Schwestern, lachten und weinten, bis Meta plötzlich
stehen blieb, die Schwester mit beiden Armen von sich schob, sie dann
festhielt und begierig ihre Frisur bewunderte.

»Wahrhaftig,« sagte sie zu Ladidel, und gab ihm die Hand, »das ist Ihr
Meisterstück. Aber gelt, wir sagen jetzt Du zu einander?«

Am vorbestimmten Tage fand mit Glanz die Hochzeit und zugleich die
Verlobungsfeier statt. Darauf reiste Ladidel in Eile nach Schaffhausen,
während die Kleubers in derselben Richtung ihre Hochzeitsreise
antraten. Der alte Meister übergab Ladidel das Geschäft, und der fing
sofort an, als hätte er nie etwas anderes getrieben. In den Tagen bis
zu Kleubers Ankunft half der Alte mit, und es war nötig, denn die
Ladentüre ging fleißig. Ladidel sah bald, daß hier sein Weizen blühe,
und als Kleuber mit seiner Frau auf dem Dampfschiff von Konstanz her
ankam, und er ihn abholte, packte er schon auf dem Heimwege seine
Vorschläge zur künftigen Vergrößerung des Geschäftes aus.

Am nächsten Sonntag spazierten die Freunde samt der jungen Frau zum
Rheinfall hinaus, der um diese Jahreszeit reichlich Wasser führte. Hier
saßen sie zufrieden unter jungbelaubten Bäumen, sahen das weiße Wasser
strömen und zerstäuben und redeten von der vergangenen Zeit. »Ja,«
sagte Ladidel nachdenklich und schaute auf den tobenden Strom hinab,
»nächste Woche wäre mein Examen gewesen.«

»Tut dirs nicht leid?« fragte Meta. Ladidel gab keine Antwort. Er
schüttelte nur den Kopf und lachte. Dann zog er aus der Brusttasche ein
kleines Paket, machte es auf und brachte ein halb Dutzend feine kleine
Kuchen hervor, von denen er den andern anbot und sich selber nahm.

»Du fängst gut an,« lachte Fritz Kleuber. »Meinst du, das Geschäft
trage schon soviel?«

»Es trägts,« nickte Ladidel im Kauen. »Es trägts und muß noch mehr
tragen.«



Die Heimkehr


Die Gerbersauer wandern im ganzen nicht ungerne und es ist Herkommen,
daß ein junger Mensch ein Stück Welt und fremde Sitte sieht, ehe er
sich selbständig macht, heiratet und sich für immer in den Bann der
heimischen Gewohnheiten und Regeln begibt. Doch pflegen die meisten
schon nach kurzen Wanderzeiten die Vorzüge der Heimat einzusehen und
wiederzukehren, und es ist eine Rarität, daß einer bis in die höheren
Mannesjahre oder gar für immer in der Fremde hängen bleibt. Immerhin
kommt es je und je einmal vor und macht den, der es tut, zu einer
widerwillig anerkannten, doch vielbesprochenen Berühmtheit in der
Heimatstadt.

Ein solcher war August Schlotterbeck, der einzige Sohn des Weißgerbers
Schlotterbeck an der Badwiese. Er ging wie andere junge Leute auf
Wanderschaft, und zwar als Kaufmann, denn er war als Knabe schwächlich
gewesen und für die Gerberei untauglich befunden worden. Später
freilich zeigte sich, wie es häufig mit solchen Kindern geht, daß die
Zartheit und Schwäche nur eine Laune der Wachsjahre gewesen und dieser
August ein recht kräftiger und zäher Bursche war. Jedoch hatte er nun
schon den Handelsberuf ergriffen und schaute im Schreibstubenrock mit
Ärmelschonern auf die Handwerker zwar duldsam, doch mit einigem Mitleid
herab, seinen Vater nicht ausgenommen. Und sei es nun, daß der alte
Schlotterbeck dadurch an Vaterzärtlichkeit verlor, sei es, daß er in
Ermangelung weiterer Söhne doch einmal darauf verzichten mußte, die
alte Schlotterbecksche Gerberei der Familie zu erhalten -- kurz, er
begann gegen seine alten Tage das Geschäft sichtlich zu vernachlässigen
und es sich wohl sein zu lassen, als wäre keine Nachkommenschaft da,
und endete damit, daß er nach sorglos verlebtem Alter entschlief und
seinem einzigen Sohne das Geschäft so verschuldet hinterließ, daß
August froh sein mußte, es um ein Geringes an einen jungen, eben
Meister gewordenen Gerber loszuwerden.

Vielleicht war dies die Ursache, daß August länger als nötig in der
Fremde verblieb, wo es ihm übrigens gut erging, und schließlich
überhaupt nimmer an die Heimkehr dachte. Als er etwas über dreißig
Jahre alt war und weder zur Begründung eines eigenen Geschäftes noch
zu einer Heirat Veranlassung gefunden hatte, erfaßte ihn spät ein
Reisedurst. Er hatte die letzten Jahre bei gutem Gehalt in einer
Fabrikstadt der Ostschweiz gearbeitet, nun gab er diese Stellung auf
und begab sich nach England, um mehr zu lernen und nicht einzurosten.
Obwohl ihm England und die Stadt Glasgow, in der er Arbeit genommen
hatte, nicht sonderlich gefiel, geschah es doch, daß er dort sich an
ein Weltbürgertum und eine unbeschränkte Freizügigkeit gewöhnte und
das Zugehörigkeitsgefühl zur Heimat verlor oder auf die ganze Welt
ausdehnte. Und da ihn nichts hielt, kam ihm ein Angebot aus Chicago,
als Direktor eine große Fabrik zu leiten, ganz gelegen, und er war
bald in Amerika so heimisch oder so wenig heimisch geworden wie an den
früheren Orten. Längst sah ihm niemand mehr den Gerbersauer an, und
wenn er einmal Landsleute traf, was alle paar Jahre vorkam, begrüßte
und behandelte er sie nett und höflich wie andere Leute auch, wodurch
ihm in der Heimat der Ruf erwuchs, er sei zwar reich und gewaltig, aber
auch gar hochmütig und amerikanisch geworden.

Als er nach Jahren in Chicago genug gelernt und genug erspart zu
haben meinte, folgte er seinem einzigen Freunde, einem Deutschen aus
Südrußland, in dessen Heimat und tat dort in Bälde eine kleine Fabrik
auf, die ihn ernährte und einen guten Ruf genoß. Er heiratete die
Tochter seines Freundes und dachte nun für den Rest seines Lebens
unter Dach zu sein. Aber das Weitere ging nicht nach seinem Sinn.
Zunächst verdroß und bekümmerte es ihn, daß er ohne Kinder blieb,
worüber seine Ehe an Frieden und Genüge viel verlor. Dann starb
die Frau, was ihm trotz allem weh tat und den rüstigen, fast noch
jünglinghaften Mann etwas älter und nachdenklicher machte. Nach einigen
weiteren Jahren begannen die Geschäfte sich zu verschlechtern und
infolge von politischen Unruhen am Ende bedenklich zu stocken. Als
aber wiederum ein Jahr später auch noch sein Freund und Schwiegervater
starb und ihn ganz allein ließ, war es um die wohlerworbene Ruhe und
Seßhaftigkeit des Mannes geschehen. Er merkte, daß doch nicht ein jeder
Fleck Erde gleich dem andern ist, wenigstens nicht für einen, dessen
Jugend und Glückszeit sich gegen das Ende neigt. Es geschah, daß er
die gesicherten politischen Zustände der Heimat in Gedanken mit dem
dortigen Skandal verglich, daß er mit Unbehagen an das Altwerden und
den Feierabend zu denken kam, daß ihm ohne Anlaß heimische Namen und
Worte, Geschichten und sogar Liederverse einfielen. Aus diesen Zeichen
schloß August Schlotterbeck, daß er trotz seiner guten Gesundheit und
obwohl er kaum mehr als fünfzig Jahre hatte, kein junger Mensch mehr
sei, und mit dem Bewußtsein der unerschütterten Jugendlichkeit ging ihm
auch das des Weltbürgertums und der unbedingten Freiheit verloren. Er
dachte mehr und mehr daran, wie er sich noch eines zufriedenen Alters
versichern möchte, und da die Geschäfte wenig Lockung mehr für ihn
hatten, andrerseits der Wandertrieb und die Schwungkraft der früheren
Jahre sich verloren hatte, kreiste die Sehnsucht und Hoffnung des
alternden Fabrikanten zu seiner eigenen Verwunderung immer enger und
begehrlicher um das Heimatland und um das Städtlein Gerbersau, dessen
er in Jahrzehnten nur selten und ohne Rührung gedacht hatte.

Daheim war unterdessen der Auswanderer in einige Vergessenheit
gesunken, nachdem vor manchen Jahren sein letztes Lebenszeichen ihm den
Ruf großen Edelmutes und Reichtums eingetragen hatte. Es war damals ein
Vetter von ihm gestorben und August hatte Anspruch auf einen mäßigen
großmütterlichen Erbesanteil, dessen Genuß jetzt an ihn fiel. Die Sache
war ihm mitgeteilt und er zu einer Äußerung aufgefordert worden, da
hatte er zu Gunsten der Waisen des Verstorbenen Verzicht geleistet.
Seither aber hatte er weder den Dankbrief des Vormundes beantwortet
noch sonst das Geringste von sich hören lassen. Man wußte zwar oder
nahm an, er sei noch am Leben, fand sonst aber keinen Stoff zum Bereden
an dem Entfernten, den die jetzige junge Generation nicht mehr kannte,
und so erlosch, wenigstens außerhalb der engsten Verwandtschaft, sein
Andenken mehr und mehr. Er ward vergessen im selben Maße als er selber
neuerdings sich in Gedanken wieder der fernen Heimat näherte, und von
seinen Jugendgenossen erwartete keiner ihn wiederzusehen.

Inzwischen wurden Schlotterbecks Gedanken und Bedenklichkeiten ihm
lästig und eines Tages faßte er mit der Schnelligkeit und Ruhe seiner
früheren Zeiten den Beschluß, die kaum noch rentierende Fabrik
aufzugeben und das ihm stets fremd gebliebene Land zu verlassen.
Mit entschlossenem Eifer, doch ohne Übereilung betrieb er den
Verkauf seines Geschäftes, dann den des Hauses und endlich des
gesamten Hausrats, brachte das ledig gewordene Vermögen vorläufig in
süddeutschen Banken unter, brach sein Zelt ab und reiste über Venedig
und Wien nach Deutschland.

Mit Behagen trank er an einer Grenzstation das erste bayrische Bier
seit vielen Jahren, aber erst als die Namen der Städte heimatlicher zu
tönen begannen und als die Mundart der Mitreisenden immer deutlicher
und schneller nach Gerbersau hinwies, ergriff den Weltreisenden eine
starke Unruhe, bis er, über sich selber verwundert, beinahe mit
Herzklopfen die Stationen ausrufen hörte und in den Gesichtern der
Einsteigenden lauter wohlbekannt und fast verwandtschaftlich anmutende
Züge fand. Und endlich fuhr der Zug die letzte steile Strecke in langen
Windungen talabwärts, und unten lag zuerst klein und von Windung
zu Windung größer und näher und wirklicher das Städtlein am Fluß,
zu Füßen der Tannenwaldberge. Dem Reisenden lag ein starker Druck
auf dem Herzen, wie er alles noch stehen sah wie vor Zeiten, und
unversehens fielen ihm lauter Begebenheiten aus der Bubenzeit und aus
der Lehrlingszeit ein, die er eigentlich lang vergessen hatte. Das
tatsächliche Nochvorhandensein dieser ganzen Welt, des Flusses und des
Rathaustürmchens, der Gassen und Gärten bedrückte ihn mit einer Art von
Tadel, daß er das alles so lang vernachlässigt und vergessen und aus
dem Herzen verloren hatte.

Doch dauerte diese ungewöhnliche und eigentlich beängstigende Rührung
nicht lange, und am Bahnhofe stieg Herr Schlotterbeck aus und ergriff
seine hübsche gelblederne Reisetasche wie ein Mann, der in Geschäften
unterwegs ist und sich freut, bei der Gelegenheit einen von früher
her bekannten Ort einmal wieder zu sehen. Er fand an der Station die
Knechte von drei Gasthöfen, was ihm einen Eindruck von Fortschritt und
Entwickelung machte, und da der eine auf seiner Mütze den Namen des
alten Gasthauses zum Schwanen trug, dessen sich Schlotterbeck aus der
Vergangenheit her erinnerte, gab er diesem sein Gepäck und ging allein
zu Fuß stadteinwärts.

Der gut und einfach, doch ein klein wenig ausländisch gekleidete Fremde
zog bei seinem langsamen Dahinschreiten manche Blicke auf sich, ohne
darauf zu achten. Er hatte die alte, beobachtungsfrohe Reiselaune
wieder gefunden und betrachtete das alte Nest mit Aufmerksamkeit, ohne
es mit Begrüßungen und Fragen und Auftritten des Wiedererkennens
eilig zu haben. Zunächst wandelte er durch die etwas veränderte
Bahnhofstraße dem Flusse zu, auf dessen grünem Spiegel wie sonst die
Gänse schwammen und dem wie ehemals die Häuser ihre ungepflegten
Rückseiten und winzigen Hintergärtchen zukehrten. Dann schritt er über
den oberen Steg und durch unveränderte, arme enge Gassen der Gegend zu,
wo einst die Schlotterbecksche Weißgerberei gewesen war. Da suchte er
jedoch das hohe Giebelhaus und den großen Grasgarten mit den Lohgruben
vergebens. Das Haus war verschwunden und der Garten und Gerberplatz
überbaut. Etwas betreten und unwillig wandte er sich ab und weiter,
um den Marktplatz zu besuchen, den er im alten Zustande fand, nur
schien er kleiner geworden, und auch das stattliche Rathaus war weniger
ansehnlich, als er es in der Erinnerung getragen hatte. Dafür war die
Kirche erneuert und gediehen, und die Bäume davor nicht mehr die von
damals, sondern junge, die aber auch schon wieder recht ehrwürdige
Wipfel zur Schau trugen.

Der Heimgekehrte hatte nun fürs erste genug gesehen und fand ohne Mühe
den Weg zum Schwanen, wo er ein gutes Essen verlangte und auf die erste
Erkennungsszene gefaßt war. Doch fand er die frühere Wirtsfamilie nicht
mehr und ward ganz wie ein willkommener, doch fremder Gast behandelt,
was ihm auch lieb war. Jetzt bemerkte er auch erst, daß seine Redeweise
und Aussprache, die er in allen den Jahren immer für gut schwäbisch
und kaum verändert gehalten hatte, hier fremd und sonderbar klang und
von der Kellnerin mit einiger Mühe verstanden wurde. Es fiel auch
auf, daß er beim Essen den Salat zurückwies und neuen verlangte, den
er sich selber anmachte, und daß er statt der süßen Mehlspeise, aus
der in Gerbersau jedes Dessert besteht, Eingemachtes verlangte, von
dem er dann einen ganzen Topf ausaß. Und als er nach Tische sich einen
zweiten Stuhl heranzog und die Füße auf ihn legte, um ein wenig zu
ruhen, waren Wirtsleute und Mitgäste darüber heftigst erstaunt. Ein
Gast am Nebentisch, den diese fremde Sitte aufregte, stand auf und
wischte seinen Stuhl mit dem Sacktuch ab, wobei er sagte: »Ich hab ganz
vergessen abzuwischen. Wie leicht könnt einer seine dreckigen Stiefel
drauf gehabt haben!« Man lachte leise, Schlotterbeck drehte aber nur
den Kopf hinüber und schnell wieder zurück, dann legte er die Hände
zusammen und pflegte der Verdauung.

Eine Stunde später machte er sich auf und streifte nochmals durch die
ganze Stadt. Neugierig schaute er durch die Scheiben in manchen Laden
und manche Werkstatt, um zu sehen, ob da oder dort etwa noch einer von
den ganz Alten, die zu seiner Zeit schon die Alten gewesen waren, übrig
wäre. Von diesen sah er jedoch fürs erste einzig einen Lehrer, bei dem
er einstmals sein erstes Alphabet auf die Tafel gemalt hatte, auf der
Straße vorübergehen. Der Mann mußte zumindest hoch in den siebenzig
sein und ging alt geworden und wohl schon lange außer Amtes, doch noch
deutlich am Schwung der Nase und sogar an den Bewegungen erkennbar,
noch leidlich aufrecht und zufrieden einher. Schlotterbeck hatte Lust
ihn anzusprechen, doch hielt ihn immer noch eine leise Angst vor dem
Sturm der Begrüßungen und Händedrücke zurück. Er ging weiter, ohne
jemand zu grüßen, von vielen betrachtet, doch von keinem erkannt, und
brachte so diesen ganzen ersten Tag in der Heimat als ein Fremder und
Unbekannter zu.

Wenn es nun auch an menschlicher Ansprache und Bewillkommnung mangelte,
sprach doch die Stadt selber desto deutlicher und eindringlicher zu
ihrem heimgekehrten Kinde. Wohl gab es überall Veränderungen und Neues,
das Angesicht des Städtleins aber war nicht älter noch anders geworden
und sah den Ankömmling vertraut und mütterlich an, so daß es ihm wohl
und geborgen zu Mute ward und die Jahrzehnte der Fremde und Reisen
und Abenteuer wunderlich zusammengingen und einschmolzen, als wären
sie nur ein Abstecher und kleiner Umweg gewesen. Geschäfte gemacht
und Geld verdient hatte er da und dort, er hatte auch in der Ferne
ein Weib genommen und verloren, sich wohl gefühlt und Leid erfahren,
allein zugehörig und daheim war er doch nur hier, und während er für
einen Fremden galt und sogar als Ausländer betrachtet wurde, kam er
sich selber ganz zu Hause und gleichartig mit diesen Leuten, Gassen
und Häusern vor. Es ging bei diesen Betrachtungen nicht ohne eine
kleine Wehmut ab; denn statt nun hier Haus und Arbeit, Familie und
Nachkommen zu haben, hatte er seine guten Jahre in der Ferne verbraucht
und weder eine neue Heimat erworben, noch sich in der alten befestigt
und angewurzelt. Doch ließ er solche Gefühle nicht Meister werden,
hörte ihnen nur mit halber Billigung zu und war im ganzen doch der
Meinung, es sei nicht zu spät, daß er heimkomme, und er habe noch ein
hinreichendes Stück Leben zugute, um noch einmal ein Gerbersauer zu
werden und haltbare Wurzeln am alten Ort zu schlagen.

Die Neuerungen in der Stadt gefielen ihm nicht übel. Er fand, es sei
auch hier Arbeit und Bedürfnis gewachsen, wenn auch mit Maß, und sowohl
die Gasanstalt wie das neue Volksschulhaus fand seine Billigung. Die
Bevölkerung schien ihm, der dafür in der Welt ein Auge bekommen hatte,
recht wohlerhalten, ob auch nicht mehr so ungemischt einheimisch wie
vor Zeiten, da die Enkel von Zugewanderten noch durchaus für Fremde
gegolten hatten. Die ansehnlicheren Geschäfte schienen alle noch in den
Händen von ortsbürtigen Leuten zu sein, der Zuwachs aus Eindringlingen
war nur unter der Arbeiterschaft deutlich zu spüren. Es mußte also das
bürgerliche Leben von einstmals noch wohlerhalten fortbestehen, und es
war zu hoffen, daß ein Heimkommender auch nach langer Abwesenheit sich
bald zurechtfinden und wieder heimisch machen könne.

Kurz, dem einsam und beschäftigungslos gewordenen Manne kam die
Heimat, die er sich nicht in den Zeiten der Fremde durch Heimweh und
Erinnerungslust unnütz verklärt hatte, nun lieblich vor und atmete
einen friedvoll wohligen Zauber, dem der im Gefühlswesen Unverdorbene
und Ungeübte nicht widerstand. Als er zeitig am Abend in das Gasthaus
zurückkehrte, war er in guter Stimmung und bereute nicht, diese Reise
getan zu haben. Er nahm sich vor, zunächst einige Zeit hier zu bleiben
und abzuwarten, und wenn dann die Befriedigung anhielte, sich am Ort
niederzulassen. Es ließe sich dann, dachte er, selbständig oder im
Anschluß an eine der Gerbersauer Fabriken mit der Zeit eine neue,
erfreuliche Tätigkeit beginnen. Denn er glaubte doch schon jetzt zu
spüren, daß ein beschauliches Rentenverzehren und Spazierengehen nicht
seine Sache sein werde.

Das Bewußtsein, in der alten heimischen Stadt zu sein und doch von
keinem einzigen Menschen erkannt und begrüßt zu werden, tat ihm gar
nicht weh, wenn es auch wunderlich war, so wie in einer Maske zwischen
lauter Schulfreunden, Jugendgenossen und Verwandten einherzugehen. Er
genoß es mit schlauer Freude und mit dem Hintergedanken, daß er jetzt
immer noch ohne alles Aufheben wieder verschwinden könnte, wenn es
ihm einfiele. Dazu wußte er genau, daß das Begrüßen und Anstaunen und
Ausfragen gar reichlich auf ihn warte; denn er kannte die hiesige Art
noch wohl genug, um sich das alles recht gut vorausdenken zu können. Er
hatte es damit nicht eilig, da ja nach einer so langen Zeit auch von
den ehemaligen Freunden mehr Neugierde und freundliche Überraschung als
Freundschaft und Teilnahme zu erwarten war.

Das behaglich erwartungsvolle Inkognito des alten Weltfahrers nahm
denn auch bald sein Ende. Nach dem Abendessen brachte der Schwanenwirt
seinem Gaste das Logierbuch und ersuchte ihn höflich, die Rubriken
unter Nummer soundso auszufüllen. Er tat es weniger, weil es unbedingt
notwendig war, als weil er selber es satt hatte, sich über Herkunft
und Rang des Fremdlings den Kopf zu zerbrechen. Und der Gast nahm das
dicke Buch, las eine Weile die Namen vormaliger Gäste durch, nahm dann
dem wartenden Wirte die eingetauchte Feder aus der Hand und schrieb
mit kräftigen, deutlichen Buchstaben, alle Fächlein gewissenhaft
ausfüllend. Der Wirt sagte Dank, streute Sand auf und entfernte sich
mit dem Folianten wie mit einer Beute, um vor der Türe sofort seine
Neugierde zu stillen. Er las: Schlotterbeck, August -- aus Rußland
-- auf Geschäftsreisen. Und wenn er auch die Herkunft und Geschichte
des Mannes nicht kannte, so schien der Name Schlotterbeck doch auf
einen Gerbersauer hinzudeuten. In die Gaststube zurückkehrend, fing
der Wirt mit dem Fremden ein vorsichtiges und respektvolles Gespräch
an. Er begann mit dem Gedeihen und Wachstum der hiesigen Stadt, kam
auf Straßenverbesserungen und neue Eisenbahnanschlüsse zu sprechen,
berührte die Stadtpolitik, äußerte sich über die letztjährige
Dividende der Wollspinnerei-Aktiengesellschaft und schloß nach einem
Viertelstündchen mit der harmlosen Frage, ob der Herr nicht Verwandte
am Orte habe. Darauf antwortete Schlotterbeck gelassen, ja, er habe
Verwandte hier und gedenke etwa noch bei ihnen vorzusprechen, fragte
aber nach keinem und zeigte so wenig Neugier, daß das Gespräch bald
versiegend dahinschwankte und in sich selbst versank, und der Wirt mit
Höflichkeit sich zurückziehen mußte. Der Gast trank einen guten Wein
mit Maß und Genuß, las unberührt von den Gesprächen des Nachbartisches
eine Zeitung und suchte früh seine Schlafstube auf.

Inzwischen taten der Eintrag ins Fremdenbuch und die Unterhaltung
mit dem Schwanenwirt in aller Stille ihre Wirkung, und während
August Schlotterbeck ahnungslos und zufrieden in dem guten, auf
heimische Art geschichteten Wirtsbette den ersten Schlaf und Traum im
Vaterlande tat, machte sein Name und das Gerücht von seiner Ankunft
manche Leute munter und gesprächig und einen sogar schlaflos. Dieser
war Augusts leiblicher Vetter und nächster Verwandter, der Kaufmann
Lukas Pfrommer an der Spitalgasse. Eigentlich war er Buchbinder und
hatte früher als Handwerksbursche ein paar Jahre lang in deutschen
Landen das Handwerk gegrüßt, alsdann in Gerbersau eine bescheidene
Werkstätte eröffnet und lange Zeit den Schulkindern ihre ruinierten
Fibeln wieder geflickt und der Frau Amtsrichter halbjährlich die
Gartenlaube eingebunden, auch Schreibhefte hergestellt und Haussegen
eingerahmt, vom Untergang bedrohte Holzschnitte durch Hinterkleben
und Aufziehen der Welt erhalten und den Kanzleien graue und grüne
Aktendeckel, Mappen und Kartonbände geliefert. Dabei hatte er
unmerklich etwas erspart und hinter sich gebracht, jedenfalls keine
Sorgen gehabt. Alsdann hatten die Zeiten sich verändert, die kleinen
Handwerker hatten fast alle irgend ein Schaufenster und Ladengeschäft
angefangen, die größeren waren Fabrikanten geworden. Da hatte auch
Pfrommer die Vorderwand seines Häusleins durchschlagen und ein
Schaufenster eingesetzt, sein Erspartes von der Bank genommen und
einen Papier- und Galanteriewarenladen eröffnet, wo seine Frau den
Verkauf betrieb und Haushalt und Kinder drüber zu kurz kommen ließ,
indessen der Mann weiter in seiner Werkstatt schaffte. Doch war der
Laden jetzt die Hauptsache, wenigstens vor den Leuten, und wenn er
nicht mehr einbrachte, als das Handwerk, so kostete er doch mehr und
machte mehr Sorgen. So war Pfrommer Kaufmann geworden. Mit der Zeit
gewöhnte er sich an diese geachtete und stattlichere Stellung, zeigte
sich in den Straßen nimmer in der grünen Schürze, sondern stets im
guten Rock, lernte mit Kredit und Hypotheken arbeiten und konnte sich
zwar in Ehren halten, hatte die Ehre aber weit teurer als früher. Die
Vorräte an unverkäuflich gewordenen Neujahrskarten, Bildchen, Albumen,
an abgelegenen Zigarren und im Schaufenster verbleichtem Trödelkram
wuchsen langsam, doch sicher und kamen ihm nicht selten im Traume vor.
Und seine Frau, eine geborene Pfisterer aus der oberen Vorstadt, die
früher ein lustiges und erfreuliches Weibchen gewesen war, verwandelte
sich durch das Empfehlen und Schöntun im Laden sowie später durch die
Sorgen und Rechenkünste allmählich in eine unruhige Sorgerin, der das
seßhaft gewordene süße Ladenlächeln gar nimmer in das altgewordene
Gesicht paßte. Es war keine Not im Hause, und Herr Pfrommer galt in
seiner Heimat für einen ansehnlichen Vertreter des guten Bürgerstandes,
aber ihm selber war es in den bescheidenen Handwerkszeiten, in die er
doch jetzt nimmer zurückgekehrt wäre, bedeutend wohler gewesen und
besser gegangen als in der neuen Pracht.

Dieser Mann, Schlotterbecks Vetter, hatte gestern Abend gegen neun Uhr,
als er mit der Zeitung bei der Lampe saß, zu seiner großen Überraschung
einen Besuch des Schwanenwirtes erhalten. Er hatte ihn erstaunt
empfangen, jener aber hatte nicht Platz nehmen wollen, sondern erklärt,
er müsse sofort zu seinen Gästen zurück, unter denen er übrigens den
Herrn Pfrommer in letzter Zeit leider nur selten habe sehen dürfen.
Aber er sei der Meinung, unter Mitbürgern und Nachbarn sei ein kleiner
Liebesdienst selbstverständlich und Ehrensache, darum wolle er ihm in
allem Vertrauen mitteilen, daß bei ihm seit heute ein fremder Herr
logiere, mit wohlhabenden Manieren, der sich Schlotterbeck schreibe
und aus Rußland zu kommen vorgebe. Da war Lukas Pfrommer aufgesprungen
und hatte wie bei einem Hausbrand der Frau gerufen, die schon im Bette
war, nach Stiefeln, Stock und Sonntagshut gekeucht und sich sogar in
aller Eile noch die Hände gewaschen, um dann im Laufschritt hinter dem
Wirte her in den Schwanen zu eilen. Dort hatte er aber den russischen
Vetter nicht mehr im Gastzimmer angetroffen, und ihn in der Schlafstube
aufzusuchen wagte er doch nicht, denn er mußte sich sagen, wenn der
Vetter extra seinetwegen die große Reise getan hätte, so hätte er
ihn wohl schon bei sich gesehen. So trank er denn erregt und halb
enttäuscht einen halben Liter Heilbronner zu sechzig, um dem Wirte
eine Ehre anzutun, lauschte auf die Unterhaltung einiger Stammgäste
und hütete sich, etwas von dem eigentlichen Zwecke seines Hierseins zu
verraten.

Am Morgen war Schlotterbeck kaum in den Kleidern und zum Kaffee
heruntergekommen, als ein älterer Mann von kleinem Wuchs, der offenbar
schon eine gute Weile bei seinem Gläschen Kirschengeist gewartet hatte,
sich seinem Tische in Befangenheit näherte und ihn mit einem recht
schüchternen Kompliment begrüßte. Schlotterbeck sagte guten Morgen und
fuhr fort, sein Butterbrot mit herrlichem Honig zu bestreichen; der
Besucher aber blieb stehen, sah ein wenig zu und räusperte sich wie
ein Redner, ohne doch etwas Deutsches herauszubringen. Erst als ihn
der Fremde fragend anblickte, entschloß er sich, mit einem zweiten
Kompliment an den Tisch heranzutreten und mit seinen Eröffnungen zu
beginnen.

»Mein Name ist Lukas Pfrommer«, sagte er und schaute den Rußländer
erwartungsvoll an.

»So«, sagte dieser, ohne sich aufzuregen. »Sind Sie Buchbinder, wenn
ich fragen darf?«

»Ja, Kaufmann und Buchbinder, an der Spitalgasse. Sind Sie -- --«

Schlotterbeck sah ein, daß er jetzt preisgegeben sei, und suchte nicht
länger hinterm Berg zu halten.

»Dann bist du mein Vetter«, sagte er einfach. »Hast du schon
gefrühstückt?«

»Also doch!« rief Pfrommer triumphierend. »Ich hätte dich kaum mehr
gekannt.«

Er streckte mit plötzlicher Freudigkeit dem Vetter die Hand
entgegen und konnte erst nach manchen Gebärden und Armbewegungen der
Ergriffenheit am Tische Platz nehmen.

»Ja du lieber Gott,« rief er bewegt, »wer hätt' es gedacht, daß
wir dich einmal wiedersehen würden. Aus Rußland! Ist es eine
Geschäftsreise?«

»Ja, nimmst du eine Zigarre? Was hat dich eigentlich hergeführt?«

Ach, den Buchbinder hatte vieles hergeführt, wovon er jedoch vorerst
schwieg. Er habe ein Gerücht gehört, der Vetter sei wieder im Land,
und da habe er keine Ruhe mehr gehabt. Gott sei Dank, nun habe er ihn
gesehen und begrüßt; es hätte ihm sein Leben lang leid getan, wenn ihm
jemand zuvorgekommen wäre. Der Vetter sei doch wohl? Und was denn die
liebe Familie mache?

»Danke. Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben.«

Entsetzt fuhr Pfrommer zurück. »Nein, ist's möglich?« rief er mit
tiefem Schmerz. »Und wir haben gar nichts gewußt und haben nicht einmal
kondolieren können! Meine herzliche Teilnahme, Vetter!«

»Laß nur, es ist ja schon lang her. Und wie geht's bei dir? Du bist
Kaufmann geworden?«

»Ein bißchen. Man sucht sich eben über Wasser zu halten und womöglich
was für die Kinder auf die Seite zu tun. Ich führe auch recht gute
Zigarren. -- Und du? Was macht die Fabrik?«

»Die hab' ich aufgegeben.«

»Im Ernst? Ja warum denn?«

»Die Geschäfte sind nimmer gegangen. Wir haben Hungersnot und Aufstände
gehabt.«

»Ja, das Rußland! Ich hab' mich immer ein bißchen gewundert, daß
du gerade in Rußland ein Geschäft angefangen hast. Schon dieser
Despotismus, und dann die Nihilisten, und die Beamtenwirtschaft
muß ja arg sein. Ich habe mich immer ein bißchen auf dem Laufenden
gehalten, du begreifst, wenn ich doch einen Verwandten dort wußte. Der
Pobjedonoszeff -- --«

»Ja, der lebt auch noch. Aber verzeih', von Politik verstehst du sicher
mehr als ich.«

»Ich? Ich bin gar kein Politiker. Man liest ja so ein bißchen im Blatt,
aber -- -- Nun, und was machst du denn jetzt für Geschäfte? Hast du
viel verloren?«

»Ja, tüchtig.«

»Das sagt er so ruhig! Mein Beileid, Vetter! Wir haben hier ja keine
Ahnung gehabt.«

Schlotterbeck lächelte ein wenig.

»Ja,« sagte er nachdenklich, »ich dachte damals in der schlimmsten Zeit
daran, mich vielleicht an euch hier zu wenden. Nun, es ist schließlich
auch so gegangen. Es wäre auch dumm gewesen. Wer wird einem so
entfernten Verwandten, den man kaum mehr kennt, noch Geld in die Pleite
nachwerfen.«

»Ja du mein Gott, -- Pleite, sagst du?«

»Nun ja, es hätte so kommen können. Wie gesagt, ich fand dann
anderwärts Hilfe ...«

»Das war wirklich nicht recht von dir! Sieh, wir sind ja arme Teufel
und brauchen unser bißchen nötig genug; aber daß wir dich gerade hätten
stecken lassen, nein, es ist nicht recht von dir, daß du das hast
meinen können.«

»Na, tröste dich, es ist ja besser so. Wie geht's denn deiner Frau?«

»Danke, gut. Ich Esel, fast hätte ich's in der Freude vergessen, ich
soll dich ja zum Mittagessen einladen. Du kommst doch?«

»Gut. Danke schön. Ich hab' unterwegs eine Kleinigkeit für die
Kinder eingekauft, das könntest du gerade mit nehmen und deine Frau
einstweilen von mir grüßen.«

Damit wurde er ihn los. Der Buchbinder zog erfreut mit einem Paketchen
nach Hause, und da der Inhalt sich als recht nobel erwies, nahm seine
Meinung von des Vetters Geschäften wieder einen Aufschwung. Dieser war
indessen froh, den gesprächigen Mann für eine Weile vom Hals zu haben,
und begab sich aufs Rathaus, um seinen Paß vorzulegen und sich zu einem
hiesigen Aufenthalt für unbestimmte Zeit anzumelden.

Es hätte dieser Anmeldung nicht bedurft, um Schlotterbecks Heimkehr
in der Stadt bekannt zu machen. Dies geschah ohne sein Bemühen durch
eine geheimnisvolle drahtlose Telegraphie, so daß er jetzt auf Schritt
und Tritt angerufen, begrüßt oder zumindest angeschaut und durch
Lüftung der Hüte bewillkommnet wurde. Man wußte schon gar viel von
ihm, namentlich aber nahm sein Barvermögen in der Leute Mund schnell
einen fürstlichen Umfang an. Einige verwechselten beim Weiterberichten
in der Eile Chicago mit San Franzisko und Rußland mit der Türkei, nur
das mit unbekannten Geschäften erworbene Vermögen blieb ein fester
Glaubenssatz, und in den nächsten Tagen wimmelte es in Gerbersau von
Lesarten, die zwischen einer halben und zehn Millionen und zwischen
den Erwerbsarten vom Kriegslieferanten bis zum Sklavenhändler je nach
Temperament und Phantasie der Erzähler auf und nieder spielten. Man
erinnerte sich des längstverstorbenen alten Weißgerbers Schlotterbeck
und der Jugendgeschichte seines Sohnes, es fanden sich solche, die
ihn als Lehrling und als Schulbuben und als Konfirmanden noch im
Gedächtnis hatten, und eine verstorbene Fabrikantenfrau wurde zu seiner
unglücklichen Jugendliebe ernannt.

Er selber bekam, da es ihn nicht interessierte, wenig von diesen
Historien zu hören. An jenem Tage, da er bei seinem Vetter zu Tisch
geladen war, hatte ihn vor dessen Frau und Kindern ein unüberwindliches
Grauen erfaßt, so übel maskiert war ihm die Spekulation auf den
Erbvetter entgegengetreten. Er hatte um des Friedens willen dem
Verwandten, der viel zu klagen gewußt hatte, ein mäßiges Darlehn
gewährt, zugleich aber war er sehr kühl und wortkarg geworden und hatte
sich für weitere Einladungen einstweilen im voraus freundlich bedankt.
Die Frau war enttäuscht und gekränkt, doch ward im Hause Pfrommer von
dem Vetter vor Zeugen nur ehrerbietig geredet.

Dieser blieb noch ein paar Tage im Schwanen wohnen. Dann fand er ein
Quartier, das ihm zusagte. Es war oberhalb der Stadt gegen die Wälder
hin eine neue Straße entstanden, vorerst nur für den Bedarf einiger
Steinbrüche, die weiter oben lagen. Doch hatte ein Baumeister, der
in dieser etwas beschwerlich zu erreichenden, doch wunderschönen
Lage künftige Geschäfte witterte, auf dem noch für wenige Kreuzer
käuflichen Boden am Beginn des neuen Weges einstweilen drei hübsche
kleine Häuschen gebaut, weiß verputzt mit braunem Gebälk. Man schaute
von hier aus hoch auf die Altstadt hinab und konnte sehen und hören,
was da unten getrieben wurde, weiterhin sah man talabwärts den Fluß
durch die Wiesen laufen und gegenüber die roten Felsenhöhen hängen,
und rückwärts hatte man in nächster Nähe den Tannenwald. Von den drei
hübschen Spekulantenhäuslein stand eines fertig, doch leer, eines
hatte schon vor drei Jahren ein pensionierter Gerichtsvollzieher
gekauft, und das dritte war noch im Bau. Da dieser aber der Vollendung
entgegenrückte und nur noch wenige Handwerker darin zu tun hatten,
ging es hier oben recht still und friedevoll zu. Denn auch der
Gerichtsvollzieher, übrigens ein friedfertiger und geduldiger Mann, war
schon nicht mehr da. Er hatte das untätige Leben nicht ertragen und
war einem alten Leiden, das er bis dahin manche Jahrzehnte lang mit
Arbeit und Humor überwunden hatte, nach kurzer Zeit erlegen. In dem
Häuschen saß nun ganz allein mit einer ältlichen Schwägerin die Witwe
des Gerichtsvollziehers, ein recht frisches und sauberes Frauchen, von
welcher noch zu reden sein wird.

In dem mittleren Hause, das je hundert Schritt von dem Witwensitz
und dem Neubau entfernt lag, richtete nun Schlotterbeck sich ein. Er
mietete den unteren Stock, der drei Zimmer und eine Küche enthielt,
und da er keine Lust hatte, seine Mahlzeiten hier oben in völliger
Einsamkeit einzunehmen, kaufte und mietete er nur Bett, Tische, Stühle,
Kanapee, ließ die Küche leer und dingte zur täglichen Aufwartung eine
Frau, die zweimal des Tages kam. Den Kaffee kochte er sich am Morgen,
wie früher in langen Junggesellenjahren, selber auf Weingeist, mittags
und abends aß er in der Stadt. Die kleine Einrichtung gab ihm eine
Weile angenehm zu tun, auch trafen nun seine Koffer aus Rußland ein,
deren Inhalt die leeren Wandschränke füllte. Täglich erhielt und las
er einige Zeitungen, darunter zwei ausländische, auch ein lebhafter
Briefwechsel kam in Gang und dazwischen machte er da und dort in der
Stadt seine Besuche, teils bei Verwandten und alten Bekannten, teils
bei den Geschäftsleuten, namentlich in den Fabriken. Denn er suchte
ohne Hast, doch aufmerksam nach einer bequemen und vorteilhaften
Gelegenheit, sich mit Geld und Arbeit an einem gewerblichen Unternehmen
zu beteiligen. Dabei trat er allmählich auch zu der bürgerlichen
Gesellschaft seiner Vaterstadt wieder in einige Beziehung. Er wurde
da und dort eingeladen, auch zu den geselligen Vereinen und an die
Stammtische der Honoratioren. Freundlich und mit den Manieren eines
gereisten Mannes von Vermögen nahm er da und dort teil, ohne sich fest
zu verpflichten, aber auch ohne zu wissen, wie viel Kritik hinter
seinem Rücken an ihm geübt wurde.

August Schlotterbeck war trotz seines offenen Blickes in einer
Täuschung über sich selbst befangen. Er meinte zwar ein klein wenig
über seinen Landsleuten zu stehen, lebte aber doch in dem Gefühl,
ein Gerbersauer zu sein und in allem Wesentlichen recht wieder an
den alten Ort zu passen. Und das stimmte nun nicht so ganz. Er wußte
nicht, wie sehr er in der Sprache und Lebensweise, in Gedanken und
Gewohnheiten von seinen Mitbürgern abstach. Diese empfanden das desto
besser, und wenn auch Schlotterbecks guter Ruf im Schatten seines
Geldbeutels eine schöne Sicherheit genoß, wurde doch im einzelnen gar
viel über ihn gesprochen, was er nicht gern gehört hätte. Manches,
was er ahnungslos in alter Gewohnheit tat, erregte hier Kritik und
Mißfallen, man fand seine Sprache zu frei, seine Ausdrücke zu fremd,
seine Anschauungen amerikanisch und sein ungezwungenes Benehmen mit
jedermann anspruchsvoll und unfein. Er sprach mit seiner Aufwärterin
wenig anders als mit dem Stadtschultheißen, er ließ sich zu Tisch
laden, ohne innerhalb sieben Tagen eine Verdauungsvisite abzustatten,
er machte zwar im Männerkreis kein Zotenflüstern mit, sagte aber Dinge,
die ihm natürlich und von Gott gewollt schienen, auch in Familien in
Gegenwart der Damen harmlos heraus. Namentlich in den Beamtenkreisen,
die in der Stadt wie billig zuoberst standen und den feinen Ton
angaben, in der Sphäre zwischen Oberamtmann und Oberpostmeister, machte
er keine Eroberungen. Diese kleine, ängstlich geschonte und behütete
Welt amtlicher Machthaber und ihrer Frauen, voll von gegenseitiger
Hochachtung und Rücksicht, wo jeder des anderen Verhältnisse bis auf
den letzten Faden kennt und jeder in einem Glashause sitzt, hatte
an dem heimgekehrten Weltfahrer keine Freude, um so mehr da sie von
seinem sagenhaften Reichtum doch keinen Vorteil zu ziehen hoffen
konnte. Und in Amerika hatte Schlotterbeck sich angewöhnt, Beamte
einfach für Angestellte zu halten, die wie andere Leute für Geld ihre
Arbeit tun, während er sie in Rußland als eine schlimme, gefürchtete
Kaste kennen gelernt hatte, bei der nur Geld etwas vermochte. Da
war es schwer für ihn, dem niemand Anweisungen gab, die Heiligkeit
der Titel und die ganze zarte Würde dieses Kreises richtig zu
begreifen, am rechten Ort Ehrfurcht zu zeigen, Obersekretäre nicht mit
Untersekretären zu verwechseln und im geselligen Verkehr überall den
rechten Ton zu treffen. Als Fremder kannte er auch die verwickelten
Familiengeschichten nicht und es konnte gelegentlich ohne seine
Schuld passieren, daß er im Hause des Gehenkten vom Strick redete.
Da sammelten sich denn unter der Decke unverwüstlicher Höflichkeit
und verbindlichsten Lächelns die kleinen Posten seiner Verfehlungen
zu säuberlich gebuchten und kontrollierten Sümmchen an, von denen er
keine Ahnung hatte, und wer konnte, sah mit Schadenfreude zu. Auch
andere Harmlosigkeiten, die Schlotterbeck mit dem besten Gewissen
beging, wurden ihm übelgenommen. Er konnte jemand, dessen Stiefel ihm
gefielen, ohne lange Einleitungen nach ihrem Preise fragen. Und eine
Advokatenfrau, die zu ihrem Kummer unbekannte Sünden der Vorfahren
dadurch büßen mußte, daß ihr von Geburt an der linke Zeigefinger
fehlte, und dies unverschuldete Gebrechen mit Kunst und Eifer zu
verbergen suchte, wurde von ihm mit aufrichtigem Mitleid gefragt,
wann und wo sie denn ihres Fingers verlustig geworden sei. Der Mann,
der Jahrzehnte in mancherlei Ländern sich seiner Haut gewehrt und
seine Geschäfte getrieben hatte, konnte nicht wissen, daß man einen
Amtsrichter nicht fragen darf, was seine Hosen kosten. Er hatte wohl
gelernt, im Gespräch mit jedermann höflich und vorsichtig zu sein,
er wußte, daß manche Völker kein Schweinefleisch oder keine Taube
verzehren, daß man zwischen Russen, Armeniern und Türken es vermeidet,
sich zu einer allein wahren Religion zu bekennen; aber daß mitten in
Europa es große Gesellschaftskreise und Stände gab, in welchen es für
roh gilt, von Leben und Tod, Essen und Trinken, Geld und Gesundheit
freiweg zu reden, das war diesem entarteten Gerbersauer unbekannt
geblieben. Daß man Gift streuen und Fallen legen nach Belieben, aber
von niemand geradezu sagen darf, man könne ihn nicht ausstehen, das
war nebst mancher andern goldenen Regel ihm weder in Amerika noch in
Rußland beigebracht worden.

Auch konnte es ihm im Grunde einerlei sein, ob man mit ihm zufrieden
sei, da er wenig Ansprüche an die Menschen machte, viel weniger als
sie an ihn. Er ward zu allerlei guten Zwecken um Beiträge angegangen
und gab sie jeweils nach seinem Ermessen. Man dankte dafür höflichst
und kam bald mit neuen Anliegen wieder, doch war man auch hier nur
halb zufrieden und hatte Gold und Banknoten erwartet, wo er Silber und
Nickel gab. Zum Glück erfuhr er von diesen Verurteilungen nichts und
lebte eine gute Zeit im fröhlichen Glauben dahin, ein einwandfreier
Bürger und wohlgelittener, wenn nicht gar beliebter Mann zu sein.

Bei jedem Gange in die Stadt hinab, also täglich mehrere Male, kam
Herr Schlotterbeck an dem netten kleinen Hause der Frau Entriß vorbei,
der Witwe des Gerichtsvollziehers, die hier in Gesellschaft einer
schweigsamen und etwas blöden Schwägerin ein sehr stilles Leben führte.

Diese noch wohlerhaltene und dem Leben nicht abgestorbene Witwe hätte
im Genuß ihrer Freiheit und eines kleinen Vermögens ganz angenehme und
unterhaltsame Tage haben können. Es hinderte sie daran aber sowohl
ihr eigener Charakter wie auch der Ruf, den sie sich im Lauf ihrer
Gerbersauer Jahre erworben hatte. Sie stammte aus dem Badischen,
und man hatte sie einst, schon aus Rücksicht für ihren in der Stadt
wohlbeliebten Mann, freundlich und erwartungsvoll aufgenommen. Doch
hatte mit der Zeit sich ein abfälliger Leumund über sie gebildet,
dessen eigentliche Wurzel ihre übertriebene Sparsamkeit war. Daraus
machte das Gerede einen giftigen Geiz, und da man einmal kein Gefallen
an der Frau gefunden hatte, hängte sich beim Plaudern eins ans andere
und sie wurde nicht nur als ein Geizkragen und eine Pfennigklauberin,
sondern auch als Hausdrache verrufen. Der Gerichtsvollzieher selber
war nun nicht der Mann, der über die eigene Frau schlecht gesprochen
hätte, aber immerhin blieb es nicht verborgen, daß der heitere und
gesellige Mann seine Freude und Erholung weniger daheim bei der Frau
als im Rößle oder Schwanen bei abendlichen Biersitzungen suchte. Nicht
daß er ein Trinker geworden wäre, Trinker gab es in Gerbersau unter
der angesehenen Bürgerschaft überhaupt nicht. Aber doch gewöhnte er
sich daran, einen Teil seiner Mußezeit im Wirtshaus hinzubringen und
auch tagsüber zwischenein gelegentlich einen Schoppen zu nehmen.
Trotz seiner schlechten Gesundheit setzte er dieses Leben so lange
fort, bis ihm vom Arzt und auch von der Behörde nahegelegt ward, sein
anstrengendes Amt aufzugeben und im Ruhestand seiner bedürftigen
Gesundheit zu leben. Doch war es nach seiner Pensionierung eher
schlimmer gegangen, und jetzt war alles darüber einig, daß die Frau
ihm das Haus verleidet und von Anfang an den Untergang des braven
Mannes verschuldet habe. Als er dann starb, ergoß sich der allgemeine
Unwille über die Witwe. Sie blieb allein mit der Schwägerin sitzen und
fand weder Frauentrost noch männliche Beschützer, obwohl außer dem
schuldenfreien Haus auch noch einiges Vermögen vorhanden war.

Die unbeliebte Witwe schien jedoch unter der Einsamkeit nicht
unerträglich zu leiden. Sie hielt Haus und Hausrat, Bankbüchlein
und Garten in bester Ordnung und hatte damit genug zu tun, denn die
Schwägerin litt an einer leisen Verdunkelung des Verstandes und tat
nichts anderes als zuschauen und sich die stillen Tage mit Murmeln,
Reiben der Nase und häufigerem Betrachten eines alten Bilderalbums
vertreiben. Die Gerbersauer, damit das Gerede über die Frau auch nach
des Mannes Tode nicht aufhöre, hatten sich ausgedacht, sie halte das
arme Wesen zu kurz, ja in furchtbarer Gefangenschaft. Es hieß, die
Gemütskranke leide Hunger, werde zu schwerer Arbeit angehalten, schlafe
in einem nie gereinigten und gelüfteten Verschlag, Hitze und Kälte
ausgesetzt, und werde das alles sicherlich nimmer lange aushalten, was
ja auch im Interesse der Entriß liege und ihre Absicht sei. Da diese
Gerüchte immer offener hervortraten, mußte schließlich von Amts wegen
etwas getan werden, und eines Tages erschien im Haus der erstaunten
Frau der Stadtschultheiß mit dem Oberamtsarzt, sagte ernstlich mahnende
Worte über die Verantwortung, verlangte zu sehen, wie die Kranke wohne
und schlafe, was sie arbeite und esse, und schloß mit der Drohung, wenn
nicht alles einwandfrei befunden werde, müsse die Gestörte in einem
staatlichen Krankenhause versorgt werden, natürlich auf Kosten der
Frau Entriß. Diese verhielt sich kühl und gab zur Antwort, man möge
nur alles untersuchen. Ihre Schwägerin sei harmlos und ungefährlich,
wenn in der Stadt der Blödsinn überhand nehme, müsse er aus einer
andern Quelle kommen, und wenn man die Kranke anderwärts versorgen
wolle, könne es ihr nur lieb sein, es müsse das aber auf Kosten der
Stadt geschehen und sie zweifle, ob das arme Geschöpf es dann besser
haben werde als bei ihr. Die Untersuchung ergab, daß die Kranke
keinerlei Mangel litt, anständig und reinlich gekleidet war und bei der
wohlwollenden Frage, ob sie etwa gern anderswo leben möchte, wo sie
es sehr gut haben werde, furchtbar erschrak und flehentlich sich an
ihrer Schwägerin festhielt. Der Arzt fand sie durchaus wohlgenährt und
ohne alle Spuren harter Arbeit, und er ging samt dem Stadtschultheiß
verlegen wieder fort.

Was nun den Geiz der Frau Entriß betrifft, so kann man darüber
verschieden urteilen. Es ist gar leicht, Charakter und Lebensführung
einer schutzlosen Frau zu tadeln. Daß sie sparsam war, steht fest.
Sie hatte nicht nur vor dem Gelde, sondern vor jeder Habe und jedem
noch so kleinen Werte eine tiefe Hochachtung, so daß es ihr bitter
schwer fiel, etwas auszugeben, und unmöglich war, etwas wegzuwerfen
oder umkommen zu lassen. Von dem Gelde, das ihr Mann seinerzeit in die
Wirtshäuser getragen hatte, tat ihr ein jeder Kreuzer heute noch leid
wie ein unsühnbares Unrecht, und es mag wohl sein, daß darüber die
Eintracht ihrer Ehe entzweigegangen war. Desto eifriger hatte sie, was
der Mann so leichtsinnig vertat, durch genaue Rechnung im Hause und
durch fleißige Arbeit einigermaßen einzubringen gesucht. Und nun, da er
gestorben und damit das schreckliche Loch im Beutel geschlossen war,
da kein Taler und kein Pfennig mehr unnütz aus dem Hause ging und ein
Teil der Zinsen jährlich zum Kapital geschlagen werden konnte, erlebte
die gute Haushalterin ein spätes, ruhiges Glück, ja Behagen. Nicht daß
sie sich irgendetwas über das Notwendige gegönnt hätte, sie sparte eher
mehr als früher, aber das Bewußtsein, daß es Früchte trug und sich
langsam summierte, verlieh ihrem Wesen eine stille Zufriedenheit, die
sie nimmer aufs Spiel zu setzen entschlossen war.

Eine ganz besondere Freude und Genugtuung empfand Frau Entriß, wenn
sie irgend etwas Wertloses zu Wert bringen, etwas finden oder erobern
konnte, etwas Weggeworfenes doch noch brauchen und etwas Verachtetes
verwerten. Diese Leidenschaft war keineswegs nur auf den baren Nutzen
gerichtet, sondern hier verließ ihr Denken und Begehren den engen Kreis
des Notwendigen und erhob sich in das Gebiet des Ästhetischen. Die
Frau Gerichtsvollzieher war dem Schönen und dem Luxus nicht abgeneigt,
sie mochte es auch gerne hübsch und wohlig haben, nur durfte das
niemals einen Pfennig bares Geld kosten. So war ihre Kleidung äußerst
bescheiden, aber sauber und nett, und seit sie mit dem Häuslein auch
ein kleines Stück Boden besaß, hatte ihr Bedürfnis nach Schönem und
Erfreulichem ein lohnendes Ziel gefunden. Sie wurde eine eifrige
Gärtnerin.

Wenn August Schlotterbeck am Zaun seiner Nachbarin vorüberschritt,
schaute er jedesmal mit Freude und einem leisen Neid in die kleine
bescheidene Gartenpracht der stillen Witwe. Nett bestellte Gemüsebeete
waren appetitlich von Rabatten mit Schnittlauch und Erdbeeren, aber
auch mit Blumen eingefaßt, und Rosen, Levkojen, Goldlack und Reseden
schienen ein anspruchsloses, in sich begnügsames Glück zu verkünden.

Es war nicht leicht gewesen, auf dem steilen Gelände und in dem
hoffnungslos unfruchtbaren Sandboden einen solchen Wuchs zu erzielen.
Hier hatte Frau Entrißens Leidenschaft Wunder getan, und tat sie
noch immer. Sie brachte mit eigenen Händen aus dem Walde schwarze
Erde und Laub herbei, sie ging des Abends auf den Spuren der
schweren Steinbruchwagen und sammelte mit zierlichem Schäufelein den
goldeswerten Dung, den die Pferde und ihre Herren achtlos liegen
ließen. Hinterm Hause tat sie jeden Abfall und jede Kartoffelschale
sorgsam auf den Haufen, der im nächsten Frühling durch seine Verwesung
das arme leichte Land schwerer und reicher machen mußte. Sie brachte
aus dem Walde auch wilde Rosen und Setzlinge von Maiblumen und
Schneeglöckchen mit, und den Winter hindurch zog sie im Zimmer und
Keller ihre Ableger mit aller Sorgfalt auf. Ein wenig ahnungsvolles
Begehren nach Schönheit, das in jedem Menschengemüt verborgen duftet,
eine Freude am Nützen des Brachliegenden und Verwenden des umsonst
zu Habenden, und vielleicht unbewußt auch ein still glimmender Rest
unbefriedigter Weiblichkeit machten sie zu einer vortrefflichen
Gartenmutter.

Ohne von der Nachbarin etwas zu wissen, tat Herr Schlotterbeck täglich
mehrmals anerkennende Blicke in die von jedem Unkraut reinen Beete und
Wegchen, labte seine Augen an dem frohen Grün der Gemüse, dem zarten
Rosenrot und den luftigen Farben der Winden, und wenn ein leichter
Wind ging und ihm beim Weitergehen eine Handvoll süßen Gartenduftes
nachwehte, freute er sich dieser lieblichen Nachbarschaft mit einer
zunehmenden Dankbarkeit. Denn es gab immerhin Stunden, in denen er
ahnte, daß der Heimatboden ihm das Wurzelfassen nicht eben leicht
mache, und sich einigermaßen vereinsamt und betrogen vorkam.

Als er sich gelegentlich bei Bekannten nach der Gartenbesitzerin
erkundigte, bekam er die Geschichte des seligen Gerichtsvollziehers
und viel arge Urteile über seine Witwe zu hören, so daß er nun eine
Zeitlang das friedevolle Haus im Garten mit einem traurigen Erstaunen
darüber betrachtete, daß diese anmutende Lieblichkeit der Wohnsitz
einer so verworfenen Seele sein müsse.

Da begab es sich, daß er sie eines Morgens zum erstenmal hinter ihrem
niederen Zaune sah und anredete. Bisher war sie stets, wenn sie ihn
von weitem daherkommen sah, still ins Haus entwichen. Diesmal hatte
sie ihn, über ein Beet gebückt, im Arbeitseifer nicht kommen hören,
und nun stand er am Zaune, hielt höflich den Hut in der Hand und
sagte freundlich guten Morgen. Sie gab, halb wider ihren Willen, den
Gruß zurück, und er hatte es nicht eilig, sondern fragte sie: »Schon
fleißig, Frau Nachbarin?«

»Ein bißchen«, sagte sie, und er fuhr ermuntert fort: »Was Sie für
einen schönen Garten haben!«

Sie gab darauf keine Antwort, und er schaute sie, die schon wieder
an ihren Gräslein zupfte, verwundert an. Er hatte sie sich, jenem
Gerede nach, mehr furienmäßig vorgestellt, und nun war sie zu seinem
angenehmen Erstaunen recht ordentlich und gefällig von Gestalt,
das Gesicht ein wenig streng und ungesellig, aber frisch und ohne
Hinterhalt, und so im ganzen eine gar nicht unerquickliche Erscheinung.

»Ja, dann will ich weitergehen«, sagte er freundlich. »Adieu, Frau
Nachbarin.«

Sie blickte auf und nickte, wie er den Hut schwang, sah ihm drei, vier
Schritte weit nach und fuhr darauf gleichmütig in ihrer Arbeit fort,
ohne sich über den Nachbar Gedanken zu machen. Dieser aber dachte noch
eine Weile an sie. Es war ihm wunderlich, daß diese Person ein solches
Greuel sein solle, und er nahm sich vor, sie ein wenig zu beobachten.
Das tat er denn auch, und als ein weltkundiger Mann sah er bald aus
vielen kleinen Zügen ein Bild zusammen, das keinem Engel gleichsah,
aber auch nicht zu dem Teufel paßte, den die Leute aus ihr machen
wollten. Er nahm wahr, wie sie ihre paar Einkäufe in der Stadt still
und rasch ohne langes Herumschweifen und Reden besorgte, er sah sie
den Garten pflegen und ihre Wäsche sonnen, stellte fest, daß sie keine
Besuche empfing, und belauschte das kleine, einsame Leben der fleißigen
Frau mit Hochachtung und Rührung. Auch ihre etwas scheuen, abendlichen
Gänge nach den Roßäpfeln, um die sie sehr verschrien war, blieben ihm
nicht verborgen. Doch fiel es ihm nicht ein, darüber zu spotten, wenn
er auch darüber lächeln mußte. Er fand sie ein wenig scheu geworden,
aber ehrenwert und tapfer, und er dachte sich, es sei schade, daß
soviel Sorge und Achtsamkeit an so kleine Zwecke gewendet werde. Zum
erstenmal begann er jetzt, durch diesen Fall stutzig geworden, dem
Urteil der Gerbersauer zu mißtrauen und manches faul zu finden, was er
bisher gläubig hingenommen hatte.

Inzwischen traf er die Frau Nachbarin je und je wieder und wechselte
ein paar Worte mit ihr. Er redete sie jetzt mit ihrem Namen an, und
auch sie wußte ja, wer er sei, und sagte Herr Schlotterbeck zu ihm.
Er wartete gern mit dem Ausgehen, bis er sie im Freien sah, und ging
dann nicht vorüber, ohne ein kleines Gespräch über Witterung und
Gartenaussichten anzuknüpfen und sich an ihren einfachen, ehrlichen und
recht gescheiten Antworten zu freuen.

Einst brachte er einen seiner Bekannten abends im Adler auf die Frau zu
sprechen. Er erzählte, wie der saubere Garten ihm aufgefallen sei, wie
er die Frau in ihrem stillen Leben beobachtet habe und nicht begreifen
könne, daß sie in so üblem Ruf stehe. Der Mann hörte ihm höflich zu,
dann meinte er: »Sehen Sie, Sie haben ihren Mann nicht gekannt. Ein
Prachtskerl, wissen Sie, immer witzig, ein lieber Kamerad, und so gut
wie ein Kind! Und den hat sie einfach auf dem Gewissen.«

»An was ist er denn gestorben?«

»An einem Nierenleiden. Aber das hat er schon jahrelang gehabt und ist
fidel dabei gewesen. Dann nach seiner Pensionierung, statt daß ihm die
Frau es jetzt nett und freundlich daheim gemacht hätte, ist er ganz
hausscheu geworden. Manchmal ist er schon zum Mittagessen ausgegangen,
weil sie ihm zu schlecht gekocht hat! Ein bißchen leichtsinnig mag er
ja von Natur gewesen sein, aber daß er am Ende gar zuviel geschöppelt
hat, daran ist allein sie schuld gewesen. Sie ist ein Ripp, wissen Sie.
Da hat sie zum Beispiel eine Schwägerin im Haus, ein armes krankes
Ding, das seit Jahren tiefsinnig ist. Die hat sie wahrhaftig so
behandelt und hungern lassen, daß die Behörde sich darum bekümmern und
sie kontrollieren mußte.«

Auf so bösen Bericht war Schlotterbeck doch nicht gefaßt gewesen.
Er traute dem Erzähler nicht recht, aber die Sache ward ihm überall
bestätigt, wo er darum anklopfte. Es schien ihm wunderlich und wollte
ihm leid tun, daß er sich in der Frau so hatte täuschen können. Aber
so oft er sie wiedersah und einen Gruß mit ihr wechselte, schwand
aller Groll und Verdacht wieder dahin. Er entschloß sich und ging
zum Stadtschultheiß, um etwas Sicheres zu erfahren. Er wurde mit
Freundlichkeit aufgenommen; als er jedoch seine Frage vorbrachte,
wie es denn mit der Frau Entriß und ihrer Schwägerin stehe, ob sie
wirklich im Verdacht der Mißhandlung und unter Kontrolle sei, da
meinte der Stadtschultheiß abweisend: »Es ist ja nett, daß Sie sich
für Ihre Nachbarin so interessieren, aber ich glaube doch, daß diese
Sachen Sie eigentlich wenig angehen. Ich denke, Sie können es uns ruhig
überlassen, daß wir zum Rechten sehen. Oder haben Sie eine Beschwerde
vorzubringen?«

Da wurde Schlotterbeck eiskalt und schneidig, wie er es in Amerika
manchmal hatte sein müssen. Er ging leise und machte die Türe zu,
setzte sich dann wieder und sagte: »Herr Stadtschultheiß, Sie wissen,
wie über die Frau Entriß geredet wird, und da Sie selber bei ihr
waren, müssen Sie auch wissen, was wahr daran ist. Ich brauche ja keine
Antwort mehr, es ist alles verlogen und böswilliger Klatsch. Oder
nicht? -- Also. Warum dulden Sie das?«

Der Herr war anfangs erschrocken, hatte sich aber schnell wieder
gefaßt. Er zuckte die Achseln und sagte: »Lieber Herr, ich habe
wirklich anderes zu tun, als mich mit solchen Sachen zu befassen. Es
kann sein, daß da und dort der Frau etwas nachgeredet wird, was nicht
recht ist, aber dagegen muß sie sich selber wehren. Sie kann ja klagen.«

»Gut,« sagte Schlotterbeck, »das genügt mir. Sie geben mir also die
Versicherung, daß die Kranke dort Ihres Wissens in guter Behandlung
ist?«

»Ihretwegen, ja, Herr Schlotterbeck. Aber wenn ich Ihnen raten darf,
lassen Sie die Finger davon! Sie kennen die Leute hier nicht und machen
sich bloß mißliebig, wenn Sie sich in ihre Sachen mischen.«

»Danke, Herr Stadtschultheiß. Ich will mir's überlegen. Aber
einstweilen, wenn ich wieder einen so über die Frau reden höre, werde
ich ihn einen Ehrabschneider heißen und mich dabei auf Ihr Zeugnis
berufen.«

»Tun Sie das nicht! Der Frau nutzen Sie damit doch nichts, und Sie
haben nur Verdruß davon. Ich warne Sie, weil es mir leid täte, wenn --«

»Ja, ich danke schön.«

Die Folge dieses Besuches war zunächst, daß Schlotterbeck von seinem
Vetter Pfrommer aufgesucht wurde. Es hatte sich herumgeredet, daß er
ein merkwürdiges Interesse für die schlimme Witwe zeige, und Pfrommer
war von einer Angst ergriffen worden, der verrückte Vetter möchte auf
seine alten Tage noch Torheiten machen. Wenn es zum Schlimmsten käme
und er die Frau heiratete, würden seine Kinder von den ganzen Millionen
keinen Taler kriegen. Mit großer Vorsicht unterhielt er seinen Vetter
von der hübschen Lage seiner Wohnung, kam langsam auf die Nachbarschaft
zu sprechen und ließ vermuten, er wisse viel über die Frau Entriß
zu erzählen, falls es den Vetter interessiere. Der winkte jedoch
gleichmütig ab, bot dem Buchbinder einen vortrefflichen Kognak an und
ließ ihn zu alldem, was er hatte sagen wollen, gar nicht kommen.

Aber noch am selben Nachmittag sah er seine Nachbarin im Garten
erscheinen und ging hinüber. Zum erstenmal hatte er ein langes,
vertrauliches Gespräch mit ihr, worin er auf sein einsames Leben
hinwies und ihre freundlich-tröstliche Nachbarschaft dankbar rühmte.
Sie ging klug und bescheiden darauf ein, des eigentlichen Plauderns
ungewohnt und doch mit frauenhafter Anpassung und, wie ihm schien, auch
Anmut.

Diese Unterhaltungen wiederholten sich von jetzt an täglich, immer
über den Staketenzaun hinweg, denn seine Bitte, ihn auch einmal im
Garten selber oder gar im Hause zu empfangen, lehnte sie mit stiller
Entschiedenheit ab.

»Das geht nicht«, sagte sie lächelnd. »Wir sind ja beide keine jungen
Leute mehr, aber die Gerbersauer haben immer gern was zu plappern und
es wäre schnell ein dummes Gerede beieinander. Ich bin ohnehin übel
angeschrieben, und Sie gelten auch für eine Art Sonderling, wissen Sie.«

Ja, das wußte er jetzt, im zweiten Monat seines Hierseins, und
seine Freude an Gerbersau und den Landsleuten hatte schon bedeutend
nachgelassen. Er begann zu merken, daß er hier doch fremd sei und daß
Höflichkeit, Duldung und Entgegenkommen der Leute nicht seinem Namen
und Wesen oder dem aus der Fremde heimgekehrten Mitbürger, sondern eben
seinem Geldsack galt. Es belustigte ihn, daß man sein Vermögen weit
überschätzte, und die ängstliche Beflissenheit seines Vetters Pfrommer
und anderer Angelkünstler machte ihm einen gewissen Spaß, aber für die
beginnende Enttäuschung konnte ihn das nicht entschädigen, und er hatte
den Wunsch, sich dauernd hier niederzulassen, heimlich schon wieder
zurückgenommen. Vielleicht wäre er einfach wieder abgereist und hätte
nochmals wie in jungen Jahren die Wanderschaft gekostet, wovor ihm
nicht bange war. Es hielt ihn aber jetzt ein feiner Dorn zurück, so daß
er spürte, er werde nicht gehen können, ohne sich zu verletzen und ein
Stücklein von sich hängen zu lassen.

Darum blieb er wo er war, und ging häufig an dem kleinen, weiß und
braunen Nachbarhaus vorüber. Das Schicksal der Frau Entriß war ihm
jetzt nimmer so dunkel, da er sie besser kannte und sie ihm auch
manches erzählt hatte. Namentlich vermochte er sich den seligen
Gerichtsvollzieher jetzt recht deutlich vorzustellen, von dem die
Witwe ruhig und ohne Tadel sprach, der aber doch im Grunde genommen ein
Windbeutel gewesen sein mußte, daß er es nicht verstanden hatte, unter
der Herbe und Strenge dieser Frau den köstlichen Kern aufzuspüren und
ans Licht zu bringen. Herr Schlotterbeck war überzeugt, daß sie neben
einem verständigen Manne, vollends in reichlichen Verhältnissen, eine
Perle abgeben müßte. Ihr Geiz war eine in Einsamkeit und Enttäuschung
zur Leidenschaft ausgewachsene Liebhaberei, schien ihm, und war auch
eigentlich keine Habsucht, da sie soviel Respekt vor jedem Werte besaß,
um ihn auch ohne eigenen Vorteil möglichst zu retten und zu bewahren.

Je mehr er die Frau kennen lernte und ein Bild von ihr bekam, worin
freilich Neigung und Hoffnung stark mitmalen halfen, desto besser
begriff er, daß sie in Gerbersau unmöglich verstanden werden konnte.
Denn auch der Gerbersauer Charakter schien ihm nun verständlicher
geworden, wenn auch dadurch nicht lieber. Jedenfalls erkannte er,
daß er selber diesen Charakter nicht oder nicht mehr habe und hier
ebensowenig gedeihen und sich entfalten könne wie die Frau Entriß.
Diese Gedanken waren, ihm unbewußt, lauter spielende Paraphrasen zu
seinem stillen Verlangen nach einem nochmaligen Ehebund und Versuch,
sein einsam gebliebenes Leben doch noch fruchtbar und unsterblich zu
machen.

Der Sommer hatte seine Höhe erreicht und der Garten der Witwe duftete
mitten in der sandigen und glühenden Umgebung triumphierend weit über
seinen niederen Zaun hinaus, besonders am Abend, wenn dazu noch vom
nahen Waldrande die Vögel aufatmend den schönen Tag lobten und aus
dem Tale in der Stille nach dem Schluß der Fabriken der Fluß leise
herauf rauschte. An einem solchen Abend kam August Schlotterbeck zu
Frau Entriß und trat ungefragt nicht nur in den Garten, sondern auch
in die Haustüre, wo eine dünne, erschrockene Glocke ihn anmeldete und
die Hausfrau ihn verwundert und fast ein wenig ungehalten ansprach. Er
erklärte aber, heute durchaus hereinkommen zu müssen, und ward denn von
ihr in die Stube geführt, wo er sich umblickte und es allerdings etwas
kahl und schmucklos, doch reinlich und abendsonnig fand. Die Frau legte
schnell ihre Schürze ab, setzte sich auf einen Stuhl beim Fenster und
hieß auch ihn sich setzen.

Da fing Herr Schlotterbeck eine lange, hübsche Rede an. Er erzählte
sein ganzes Leben, seine erste kurze Ehe nicht ausgenommen, mit
einfacher Trockenheit, schilderte dann etwas wärmer seine Heimkehr
nach Gerbersau, seine erste Bekanntschaft mit ihr und erinnerte sie an
manche Gespräche, in denen sie einander so gut verstanden hätten. Und
nun sei er da, sie wisse schon warum, und hoffe, sie sei nicht gar zu
sehr überrascht.

»Über mein Vermögen kann ich mich ausweisen. Ich bin kein Millionär,
wie die Leute hier herumreden, aber so ungefähr eine viertel Million
oder etwas drüber wird schon da sein. Im übrigen meine ich, wir seien
beide noch zu jung und kräftig, als daß es schon Zeit wäre, Verzicht
zu leisten und sich einzuspinnen. Was soll eine Frau wie Sie schon
allein sitzen und sich mit dem Gärtlein bescheiden, statt noch einmal
anzufangen und vielleicht hereinzubringen, was früher am rechten Glück
gefehlt hat?«

Die Frau Entriß hatte beide Hände still auf ihren Knien liegen und
hörte aufmerksam dem Freier zu, der allmählich warm und lebhaft wurde
und wiederholt seine rechte Hand ausstreckte, als fordere er sie auf,
sie zu nehmen und festzuhalten. Sie tat aber nichts dergleichen, sie
saß ganz still und genoß es, ohne alles wirklich mit den Gedanken zu
erfassen, daß hier jemand gekommen war, um ihr Freundlichkeit und
Liebe und guten Willen zu zeigen. Die beiden Leute saßen einander nahe
gegenüber, er von seinem Willen und Verlangen erwärmt und verjüngt, sie
aber von einem zarten Wohlsein und einer nur halb erwarteten Ehrung
leise erregt wie eine Jubilarin, und über beide Gesichter glühte mit
feiner Abschiedsröte die tiefstehende Sonne durch das offene Fenster.
Da sie weder Antwort gab noch aus ihrem seltsamen Traumgefühle
aufsah, fuhr Schlotterbeck nach einer Pause zu reden fort. Gütig und
hoffnungsvoll stellte er ihr vor, wie es sein und werden könnte,
wenn sie einverstanden wäre, wie da an einem andern, neuen Ort ohne
unliebe Erinnerungen sich ein friedlich fleißiges Leben führen ließe,
bescheiden und doch etwas mehr aus dem Vollen, mit einem größeren
Garten und einem reichlicheren Monatsgelde, wobei dennoch jährlich
zurückgelegt würde. Er sprach, von ihrem lieben Anblick besänftigt und
von dem rotgelben, innigen Abendscheine leicht und wohlig geblendet,
recht milde mit halber Stimme und zufrieden, daß sie wenigstens zuhörte
und ihn da sein und gelten und werben ließ. Und sie hörte und schwieg,
von einer angenehmen Müdigkeit in der Seele leicht gelähmt. Es ward ihr
nicht völlig bewußt, daß das eine Werbung und eine Entscheidung für ihr
Leben bedeute, auch schuf dieser Gedanke ihr weder Erregung noch Qual,
denn sie war durchaus entschieden und dachte keine Sekunde daran, das
für Ernst zu nehmen. Aber die Minuten gingen so gleitend und leicht
und wie von einer Musik getragen, daß sie benommen lauschte und keines
Entschlusses fähig war, auch nicht des kleinen, den Kopf zu schütteln
oder aufzustehen.

Wieder hielt Schlotterbeck inne und atmete tief, sah sie fragend an und
sah sie unverändert mit niedergeschlagenen Augen und fein geröteten
Wangen verharren, als schaue sie ein wohlgefälliges Spiel oder lausche
einer seltenen Musik. Und wieder hielt er ihr die Hand entgegen, die
sie aber nicht zu sehen schien, und fing nochmals an, gläubig wie
ein Träumer von der Zukunft zu reden, die er schon an einem kleinen
goldenen Faden zu halten meinte. Ihre Bewegung verstand er nicht,
denn er deutete sie zu seinen Gunsten, aber er fühlte doch denselben
hingenommenen und traumhaften Zustand und hörte gleich ihr die
merkwürdigen Augenblicke wie auf wohllautend rauschenden Flügeln durch
das abendhelle Stüblein und durch sein Gemüt reisen.

Beiden schien es später, sie seien eine gar lange Zeit so
halbverzaubert beieinander gesessen, doch waren es nur Minuten, denn
die Sonne stand noch immer nah am Rande der jenseitigen Berge, als sie
aus dieser Stille jäh erweckt wurden.

Im Nebenzimmer hatte sich die kranke Schwägerin aufgehalten und war,
schon durch den ungewohnten Besuch in Aufregung und einige Angst
geraten, bei dem langen, leisen Gespräch und Beisammensein der Beiden
von argen Ahnungen und Wahnvorstellungen befallen worden. Es schien
ihr Ungewöhnliches und Gefährliches vorzugehen und allmählich ergriff
sie, die nur an sich selber zu denken vermochte, eine wachsende Furcht,
der fremde Mann möchte gekommen sein, um sie fortzuholen. Denn eine
stille, argwöhnische Angst hievor war das Ergebnis jenes Besuches der
Magistratsherren gewesen, und seither konnte nichts noch so Geringes
im Hause vorfallen, ohne daß die arme Jungfer mit Entsetzen an eine
gewaltsame Hinwegführung und Einsperrung an einem unbekannten fernen
Orte denken mußte.

Darum kam sie jetzt, nachdem sie eine Weile mit immer abnehmenden
Kräften gegen das Grauen gekämpft hatte, gewaltsam schluchzend und
in Verzweiflung aufgelöst in die Stube gelaufen, warf sich vor ihrer
Schwägerin nieder und umfaßte ihre Knie unter Stöhnen und zuckendem
Weinen, so daß Schlotterbeck erschrocken auffuhr und die Frau Entriß
plötzlich aus ihrer Benommenheit gerissen alles wieder mit nüchternem
Verstande wahrnahm und sich der vorigen Verlorenheit unwillig schämte.

Sie stand eilig auf, zog die Kniende mit sich empor, fuhr ihr mit
tröstender Hand übers Haar und redete halblaut und eintönig auf sie ein
wie auf ein heulendes Kind.

»Nein, nein, Seelchen, nicht weinen! Gelt, du weinst jetzt nicht mehr?
Komm, Kindelchen, komm, wir sind vergnügt und kriegen was Gutes zum
Nachtessen. Hast gemeint, er will dich fortnehmen? O, Dummes du, es
nimmt dich niemand fort; nein, nein, darfst mir's glauben, kein Mensch
darf dir was tun. Nimmer weinen, Dummelein, nimmer weinen!«

August Schlotterbeck sah mit Verlegenheit und auch mit Rührung zu,
die Kranke weinte schon ruhiger und fast mit einem kindlichen Genuß,
wiegte den Kopf hin und wider, klagte mit abnehmender Stimme und verzog
ihr verzweifeltes Gesicht unter den noch munter laufenden Tränen
unversehens zu einem blöden, hilflosen Kleinkinderlächeln. Doch kam
sich der Besucher bei dem allen unnütz und mehr als entbehrlich vor,
er hustete darum ein wenig und sagte: »Das tut mir leid, Frau Entriß,
hoffentlich geht es gut vorbei. Ich werde so frei sein und morgen
wiederkommen, wenn ich darf.«

Erst in diesem Augenblick fiel der Frau alles aufs Herz, wie er um sie
geworben und sie ihm zugehört und es geduldet habe, ohne daß sie doch
willens war, ihn zu erhören. Sie erstaunte über sich selber, es konnte
ja aussehen, als habe sie mit ihm gespielt. Nun durfte sie ihn nicht
fortgehen und die Täuschung mitnehmen lassen, das sah sie ein, und sie
sagte: »Nein, bleiben Sie da, es ist schon vorüber. Wir müssen noch
reden.« Ihre Stimme war ruhig und ihr Gesicht unbewegt, aber die Röte
der Sonne und die Röte der lieblichen Erregung war verglüht und ihre
Augen schauten klug und kühl, doch mit einem kleinen bangen Glanz von
Trauer auf den Werber, der mit dem Hute in den Händen wieder niedersaß
und nicht begriff, wohin seine Freudigkeit und ihre liebe Wärme
gekommen sei.

Sie setzte indessen die Schwägerin auf einen Stuhl und kehrte an ihren
vorigen Platz zurück. »Wir müssen sie im Zimmer lassen,« sagte sie
leise, »sonst wird sie wieder unruhig und macht Dummheiten. -- Ich habe
Sie vorher reden lassen, Herr Nachbar, ich weiß selber nicht warum,
ich bin ein wenig müd gewesen. Hoffentlich haben Sie es nicht falsch
gedeutet. Es ist nämlich schon lange mein fester Entschluß, mich nicht
mehr zu verändern. Ich bin fast vierzig Jahre alt, und Sie werden gewiß
reichlich fünfzig sein, in diesem Alter heiraten vorsichtige Leute
nimmer. Daß ich Ihnen als einem freundlichen Nachbar gut und dankbar
bin, wissen Sie ja, und wenn Sie wollen, können wir es weiter so haben.
Aber damit wollen wir zufrieden sein, wir könnten sonst den Schaden
haben.«

Herr Schlotterbeck sah sie betrübt, doch freundlich an. Unter
Umständen, dachte er, würde er jetzt ganz ruhig abziehen und ihr recht
geben. Allein der Glanz, den sie vor einer Viertelstunde im Gesicht
gehabt hatte, war ihm noch wie ein ernsthaft schöner Spätsommerflor im
Gedächtnis und hielt sein Begehren mit Macht am Leben. Wäre der Glanz
nicht gewesen, er wäre betrübt, doch ohne Stachel im Herzen seiner
Wege gegangen; so aber schien ihm, er habe das Glück schon wie einen
zutraulichen Vogel auf dem Finger sitzen gehabt und nur den Augenblick
des Zugreifens verpaßt. Und Vögel, die man schon so nahe gehabt, läßt
man nicht ohne grimmige Hoffnung auf eine neue Gelegenheit zum Fang
entrinnen. Außerdem, und trotz des Ärgers über ihr Entwischen, nachdem
sie schon so fromm über seine Freiersrede erglüht war, hatte er sie
jetzt viel lieber als noch vor einer Stunde. Bis dahin war es seine
Meinung gewesen, eine angenehme und ersprießliche Vernunftheirat zu
betreiben, nun aber hatte die stille Weichheit dieser Abendstunde ihn
vollends wahrhaft verliebt gemacht, so daß jetzt an ein einfaches,
freundlich kühles Bedauern und Adieusagen nimmer zu denken war.

»Frau Entriß,« sagte er deshalb entschlossen, »Sie sind jetzt
erschreckt worden und vielleicht von meinem Vorschlag zu sehr
überrascht. Auch habe ich vielleicht zu wenig gesagt und mich zu
sehr an das Praktische und Geschäftliche der Sache gehalten, wenn es
auch nicht so gemeint war. Ich will darum nur sagen, daß mein Herz
es ernst meint und nicht von seiner Liebe lassen will, wenn es auch
Gründe dagegen geben mag. Ich kann das nicht so ausdrücken, es steht
mir nicht an, aber es ist mein Entschluß, davon nimmer zu lassen. Ich
habe Sie lieb, und da Sie nur mit dem Verstande Widerstand leisten,
kann ich mich nicht zufrieden geben wie ein Handelsmann, den man um
ein Haus weiterschickt. Sondern es ist meine Meinung, diesen Krieg
weiterzuführen und Sie nach meinen Kräften zu belagern, damit es sich
zeigt, wer der Stärkere ist.«

Auf diesen Ton war sie nicht gefaßt gewesen, er klang, wenn auch nicht
überzeugend, so doch warm und schmeichelhaft in ihr Frauengemüt und
tat ihr im Innern wohl wie ein erster Amselruf im Februar, wenn sie es
auch nicht wahr haben wollte. Doch war sie nicht gewohnt, so dunkeln
Regungen Macht zu gönnen, und fest entschlossen, den Angriff abzuwehren
und ihre liebgewordene Freiheit zu behalten.

Sie sagte: »Sie machen mir ja Angst, Herr Nachbar! Die Männer bleiben
eben länger jung als unsereine, und es tut mir leid, daß Sie mit meinem
Bescheide nicht zufrieden sein wollen. Denn bei mir sieht es nun einmal
nimmer so lebenslustig aus, ich kann mich nicht wieder jung machen und
verliebt tun, es käme nicht von Herzen. Auch ist mir mein Leben, so wie
es jetzt ist, lieb und gewohnt geworden, ich habe meine Freiheit und
keine Sorgen. Und da ist auch das arme Ding, meine Schwägerin, die mich
braucht und die ich nicht im Stich lasse, das hab' ich ihr versprochen
und will dabei bleiben. -- Aber was rede ich lang, wo nichts zu sagen
ist! Ich will nicht und ich kann nicht, und wenn Sie es gut mit mir
meinen, so lassen Sie mir meinen Frieden und drohen mir nicht mit
Belagerungen und dergleichen, ich müßte Ihnen sonst zürnen und würde
kein Wort mehr von Ihnen anhören. Wenn Sie wollen, so vergessen wir das
heutige und bleiben gute Nachbarn. Im andern Fall kann ich Sie nimmer
sehen.«

Schlotterbeck stand auf, verabschiedete sich jedoch noch nicht, sondern
ging in erregten Gedanken, als wäre er im eigenen Hause, heftig auf und
ab, um einen Weg aus dieser Not zu finden. Sie sah ihm eine Weile zu,
ein wenig belustigt, ein wenig gerührt und ein wenig beleidigt, bis es
ihr zu viel ward. Da rief sie ihn an: »Seien Sie nicht töricht, Herr
Nachbar: Wir wollen jetzt zu Nacht essen, und für Sie wird es auch Zeit
sein.«

Aber er hatte eben jetzt seinen Entschluß gefunden. Er nahm seinen
Hut, den er in der Aufregung weggelegt hatte, manierlich in die linke
Hand, verbeugte sich und sagte mit einem schwachen, etwas mißlungenen
Lächeln: »Gut, ich gehe jetzt, Frau Entriß. Sie müssen heut ein bißchen
Nachsicht mit mir haben. Ich sage Ihnen jetzt Adieu und werde Sie eine
Zeitlang nimmer belästigen. Sie sollen mich nicht für gewalttätig
halten. Aber ich komme wieder, sagen wir in vier, fünf Wochen, und ich
bitte um nichts, als daß Sie in der Zeit sich diese Sache noch einmal
in Gedanken betrachten und mir alsdann eine richtige Antwort geben,
ganz wie es Ihnen dann ums Herz sein wird. Ich reise fort, das hatte
ich ohnehin im Sinn, und Sie werden also alle Ruhe vor mir haben. Und
wenn ich wiederkomme, ist es nur, um Ihre Antwort zu holen. Wenn Sie
dann Nein sagen, verspreche ich damit zufrieden zu sein und werde dann
Sie auch von meiner Nachbarschaft befreien. Sie sind das Einzige, was
mich noch in Gerbersau halten könnte. Also leben Sie recht wohl, und
auf Wiedersehen!«

Sie nahm seine Hand nicht an, die er ihr hinbot, gab aber in
freundlichem Ton Antwort: »Meine Meinung kennen Sie schon, sie wird
nicht anders werden. Damit Sie meinen guten Willen sehen, will ich
Ihren Vorschlag gelten lassen. Aber ich hoffe, bis Sie wiederkommen,
sehen Sie selber das alles ruhiger an, auch das mit dem Fortziehen, und
bleiben mein Nachbar. Adieu denn, und gute Reise!«

»Ja, adieu,« sagte Schlotterbeck wehmütig, nahm den Türgriff in die
Hand, warf einen Blick ins Zimmer zurück, den nur die Schwägerin
erwiderte, und trat unbegleitet aus dem Hause in die noch lichte
Dämmerung. Er schüttelte eine Faust gegen die schwach herauftönende
Stadt, welcher er alle Schuld an Frau Entrißens Verstocktheit
zuschrieb, und beschloß im Herzen, sie so bald wie möglich für immer
zu verlassen, sei es nun mit oder ohne Frau. Dieser Entschluß tat ihm
in seinem übrigen schwebenden und abhängigen Zustande wohl, als ein
Ausblick auf selbständigere und gesichertere Zeiten, nach denen ihn
sehnlich verlangte.

Langsam tat er den kurzen Gang zu seiner Wohnung hinüber, nicht
ohne mehrmals nach dem Nachbarhäuschen zurückzuschauen, das mit
geschlossener Tür und Gartenpforte gleichmütig und kühl die späte
Sommernacht erwartete. Ganz fern stand am verglühten Himmel noch
eine kleine Wolke, kaum ein Hauch, und blühte hinsterbend in einem
sanften rosigen Goldduft dem ersten Stern entgegen. Bei ihrem Anblick
fühlte der Mann noch einmal die feine, innig glühende Erregung der
vergangenen Stunde vorüberziehen und schüttelte lächelnd den alten
Kopf zu den töricht süßen Wünschen seines Herzens. Dann betrat er sein
einsames Haus, verzichtete auf das Abendessen in der Stadt, aß nur ein
halbes Pfund Kirschen, die er morgens gekauft hatte, und fing noch am
selben Abend an, sich für die Reise zu rüsten.

Am Nachmittag des andern Tages war er fertig, übergab die Schlüssel
seiner Aufwärterin und den Koffer einem Dienstmann, seufzte befreit
und ging davon, in die Stadt hinunter und dem Bahnhof zu, ohne im
Vorbeigehen einen Blick in den Garten und die Fenster der Frau Entriß
zu wagen. Sie aber sah ihn wohl, wie er vom Kofferträger begleitet,
elegisch dahinging. Er tat ihr leid und sie wünschte ihm von Herzen
gute Erholung.

Für Frau Entriß begannen nun stille Tage. Ihr bescheidenes Leben glitt
wieder in die vorige Einsamkeit zurück, es kam niemand zu ihr und
es schaute niemand mehr über ihren Gartenzaun herein. In der Stadt
wußte man genau, daß sie mit allen Künsten nach dem reichen Rußländer
geangelt habe, und gönnte ihr seine Abreise, die natürlich keinen Tag
verborgen blieb. Sie kümmerte sich nach ihrer Art um das alles nicht,
sondern ging ruhig ihren Pflichten und Gewohnheiten nach. Es tat ihr
leid, daß es mit Herrn Schlotterbeck so gegangen war, denn sie hatte
ihn gern gesehen und sah die freundliche Nachbarlichkeit mit Bedauern
gestört. Doch war sie sich keiner Schuld bewußt und in langen Jahren an
das Alleinleben so gewöhnt, daß sein Fortgehen ihr keinen ernstlichen
Kummer machte. Sie sammelte Blumensamen von den verblühenden Beeten,
goß am Morgen und Abend, erntete das Beerenobst, machte ein und tat mit
zufriedener Emsigkeit die vielen Sommerarbeiten. Und dann machte ihr
die Schwägerin unverhofft zu schaffen.

Diese hatte sich seit jenem Abend still verhalten, schien aber seither
noch mehr als früher mit einer heimlichen Angst zu kämpfen, welche eine
Art von Verfolgungswahnsinn war und in einem mißtrauischen Träumen von
Entführung und Gewalttaten bestand. Der heiße Sommer, der ungewöhnlich
viele Gewitter brachte, tat ihr auch nicht gut, und schließlich konnte
Frau Entriß kaum mehr auf eine halbe Stunde zu Einkäufen ausgehen, da
die Kranke das Alleinbleiben nimmer ertrug. Das elende Wesen fühlte
sich nur in der nächsten Nähe der gewohnten Pflegerin sicher und umgab
die geplagte Frau mit Seufzen, Händeringen und scheuen Blicken einer
grundlosen Furcht. Am Ende mußte sie den Arzt holen, vor dem die Kranke
in neues Entsetzen geriet und der nun alle paar Tage zur Beobachtung
wiederkam. Für die Gerbersauer war das wieder ein Grund, von erneuter
Mißhandlung und behördlicher Kontrolle zu erzählen; die Sache ward nun
in Verbindung mit ihren Absichten auf Schlotterbeck gebracht und zu
einem skandalösen Fall von arglistiger Habsucht gestaltet.

Unterdessen war August Schlotterbeck nach Wildbad gefahren, wo es
ihm jedoch zu heiß und zu lebhaft wurde, so daß er, auch von einiger
innerer Unrast geplagt, bald wieder aufpackte und weiterfuhr,
diesmal nach Freudenstadt, das ihm von jungen Zeiten her bekannt
war. Dort gefiel es ihm recht wohl, er fand die Gesellschaft eines
schwäbischen Fabrikanten, mit dem er gut Freund wurde und über
technische und kaufmännische Dinge seiner Erfahrung reden konnte.
Mit diesem Manne, der Viktor Trefz hieß und gleich ihm selber weit
in der Welt herumgekommen war, machte er täglich lange Spaziergänge
in den kühlen Wäldern, zum Kniebis hinauf und nach Rippoldsau, oder
das schöne Murgtal hinunter, wo man überall in schöner Landschaft und
Waldnähe marschieren und in hübschen Ortschaften und guten Gasthäusern
sich ausruhen kann. Herr Trefz besaß im Osten des Landes eine
Lederwarenfabrik von altem und bekanntem Ruf, sein neuer Freund fragte
ihn nach allem aus und ihm war es wohl dabei, seine Erholungstage
in so angenehmen und vertrauten Gesprächen hinbringen zu können. Es
entstand zwischen den beiden alten Herren eine höfliche Vertraulichkeit
und gegenseitige Hochschätzung, denn Schlotterbeck zeigte in der
Lederbranche vortreffliche Kenntnisse und außerdem eine Bekanntschaft
mit dem Weltmarkt, die für einen Privatier erstaunlich war. So währte
es nicht lange, bis er dem Fabrikanten seine Geschichte und Lage
genauer mitteilte, und es wollte beiden scheinen, sie könnten unter
Umständen einmal auch in Geschäften recht gute Kameraden werden.

Die erhoffte Erholung fand Schlotterbeck also reichlich, er vergaß
sogar für halbe Tage seinen schwebenden Handel mit der Witwe in
Gerbersau, von dem er Herrn Trefz keine Mitteilung hatte machen mögen.
Den alten Geschäftsmann belebte und erregte die Unterhaltung mit einem
gewiegten Kollegen und die Aussicht auf etwaige neue Unternehmungen
nicht wenig, und die Bedürfnisse seines Herzens zogen sich, da er
ihnen nie allzuvielen Raum gegönnt hatte, bescheidentlich zurück.
Nur wenn er allein war, etwa abends vor dem Einschlafen, suchte ihn
das Bild der Frau Entriß heim und machte ihn wieder warm. Doch auch
dann schien ihm die Angelegenheit nicht mehr gar so verzweifelt und
gewichtig. Er dachte an jenen Abend im Häuschen der Nachbarin und
fand schließlich, sie habe nicht völlig unrecht gehabt. Er sah ein,
daß der Mangel an Arbeit und das Alleinhausen zu einem großen Teil an
seinen Heiratsgedanken schuld gewesen seien. Nicht daß er nun kalt und
untreu geworden wäre, das lag nicht in seiner Art, aber wenn nun, wie
zu vermuten war, es bei jener ersten Antwort der Frau bleiben würde,
schien ihm das Unglück immerhin unter den jetzigen Umständen nicht
unerträglich.

Auf einem Spaziergang im Fichtenwalde wurde er von Herrn Trefz
eingeladen, diesen Herbst ihn zu besuchen und seinen Betrieb
anzuschauen. Es war noch mit keinem Wort von geschäftlichen Beziehungen
die Rede gewesen, doch wußten beide, wie es stand und daß der Besuch
sehr wohl zu einer Teilhaberschaft und Vergrößerung des Geschäfts
führen könnte. Schlotterbeck nahm dankend an und nannte dem Freunde die
Bank, bei der er sich über ihn erkundigen könne.

»Danke, es ist gut,« sagte Trefz, »das Weitere besprechen wir dann,
falls Sie Lust haben, an Ort und Stelle.«

Damit fühlte sich August Schlotterbeck dem Leben wiedergewonnen, dem er
nun eine unfrohe Weile nur unbeteiligt zugesehen hatte. Er sah Arbeit
und Sorge, Gewinn und Erregung des Handels in naher Zukunft winken, und
mehr als einst auf die Heimkehr in die alte Heimat freute er sich jetzt
auf die Rückkehr zum gewohnten Leben eines Arbeiters und Unternehmers,
auf Einrichtungen und Reisen, Korrespondenzen und Berechnungen, auf
Telegramme, Verwicklungen und Kämpfe. Es war weniger des Geldes wegen,
dessen er für den Bedarf seines Alters genug besaß, als aus Freude
an Umtrieb und Wagnis, aus einer gewissen Lust am Verkehr mit dem
Welthandel und den Abenteuern des kühnen Kaufmanns. Fröhlich stieg er
an jenem Tag in sein Bett und schlief ein, ohne heut ein einziges Mal
an seine Witwe gedacht zu haben.

Er ahnte nicht, daß diese eben jetzt recht üble Zeit habe und seinen
Beistand wohl hätte brauchen können. Die Schwägerin war unter der
Beobachtung des Oberamtsarztes noch scheuer und unheimlicher geworden
und machte das kleine Häuschen zu einem Orte des Jammers, indem sie
bald schrie wie am Spieß, bald rastlos und schwer seufzend die Treppen
auf und ab stieg und durch die Stuben wanderte, bald auch sich in ihrer
Kammer einschloß und eingebildete Belagerungen unter Gebet und Winseln
bestand. Das arme Geschöpf mußte immerfort bewacht werden, wenn auch
ruhige Tage dazwischen kamen, und der geängstigte Doktor, der in
solchen Dingen keine Erfahrung hatte, drängte zur Fortschaffung und
Versorgung in einer Anstalt. Frau Entriß widersetzte sich dem, so lange
sie konnte. Sie hatte sich an die Nähe der schwermütigen Jungfer in
langen Jahren gewöhnt und zog ihre Gesellschaft der völligen Einsamkeit
immerhin vor, auch hoffte sie, es werde dieser schlimme Zustand nicht
lange dauern, und schließlich fürchtete sie die bedenklichen Kosten,
die möglicherweise nach Abgang der Kranken in eine Irrenanstalt ihr
entstehen könnten. Sie wollte gern der Unglücklichen ihr Lebenlang
kochen, waschen und aufwarten, ihre Launen ertragen und sich um
sie sorgen; aber die Aussicht, es möchte für dies zerstörte Leben
vielleicht jahrelang ihr Erspartes dahingehen und in einen Sack ohne
Boden rinnen, war ihr furchtbar. So hatte sie außer der täglichen Sorge
um die Gemütskranke auch noch diese Angst und Last zu tragen, und sie
fing trotz ihrer Zähigkeit an, etwas vom Fleisch zu fallen und im
Gesicht ein wenig zu altern.

Von dem allem wußte Schlotterbeck kein Wort. Er war der sicheren
Meinung, die muntere Witwe sitze vergnügt in ihrem hübschen kleinen
Hause und sei womöglich froh, den lästigen Nachbarn und Bewerber für
eine Weile los zu sein.

Dies stimmte aber nun schon nicht mehr. Zwar hatte die Abreise des
Herrn Schlotterbeck nicht die Folge gehabt, ihr nach dem Entfernten
Sehnsucht zu wecken und ihr sein Bild zärtlich zu verklären, doch wäre
sie jetzt in ihrer Not ganz froh gewesen, einen Freund und Berater
zu haben, und war mit ihrer Selbstherrlichkeit durchaus nicht mehr so
stolz zufrieden wie bisher. Ja sie hätte, falls es mit der Schwägerin
schlimm gehen sollte, sich wohl auch die Bewerbung des reichen Mannes
noch einmal näher und freundlicher angesehen.

In Gerbersau war unterdessen das Gespräch über die Abreise
Schlotterbecks und ihre vermutliche Bedeutung und Dauer verstummt, da
man jetzt an der Witwe Entriß wieder für eine Weile die Mäuler voll
hatte. Und während unter den schönen Tannenbäumen von Freudenstadt die
beiden Geschäftsleute und Freunde sich immer besser verstanden und
schon deutlicher von künftigen gemeinsamen Unternehmungen miteinander
plauderten, saß daheim in der Spitalgasse der Buchbinder Pfrommer zwei
lange Abende an einem Schreiben an seinen Vetter, dessen Wohl und
Zukunft ihm gar sehr am Herzen lag. Einige Tage später hielt August
Schlotterbeck diesen Brief, der auf das beste Papier mit einem goldenen
Rande geschrieben war, verwundert in den Händen und las ihn langsam
zweimal durch. Er lautete:

Lieber und werter Vetter Schlotterbeck!

Der Herr Aktuar Schwarzmantel, der neulich eine Schwarzwaldtour gemacht
hat, hat uns berichtet, daß er Dich in Freudenstadt gesehen und daß Du
wohl bist und in der Linde logierst. Das hat uns gefreut, und möchte
ich Dir an diesem schönen Ort eine gute Erholung wünschen. Wenn man
es vermag, ist ja eine solche Sommerkur immer sehr gut, ich war auch
einmal ein paar Tage in Herrenalb, weil ich krank gewesen war, und hat
mir vorzügliche Dienste getan. Wünsche also nochmals besten Erfolg, und
wird unser heimatlicher Schwarzwald mit seinem Tannenrauschen auch Dir
gewiß nur gut gefallen.

Lieber Vetter, wir haben alle lange Zeit nach Dir, und wenn du nach
guter Erholung wieder heimkommst, wird es Dir gewiß in Gerbersau wieder
recht gut gefallen. Der Mensch hat doch nur eine Heimat, und wenn es
auch draußen in der Welt viel Schönes geben mag, kann man doch bloß in
der Heimat wirklich glücklich sein. Du hast Dich auch in der Stadt sehr
beliebt gemacht, alle freuen sich bis Du wiederkommst.

Es ist nur gut, daß Du gerade jetzt verreist bist, wo es in Deiner
Nachbarschaft wieder so arg zugeht. Ich weiß es nicht, ob es Dir schon
bekannt ist. Die Frau Entriß hat jetzt also doch ihre kranke Schwägerin
hergeben müssen. Sie war so mit ihr umgegangen, daß das unglückliche
Geschöpf es nimmer hat aushalten können und hat Tag und Nacht um Hilfe
gerufen, bis man den Oberamtsarzt geholt hat. Da hat sich gezeigt, daß
es mit der kranken Jungfer furchtbar stand, und trotzdem hat die Entriß
drauf bestehen und sie um jeden Preis dabehalten wollen, man kann sich
denken warum. Aber jetzt ist ihr das Handwerk gelegt, man hat ihr
die Schwägerin weggenommen und vielleicht muß sie sich noch anderswo
verantworten. Dieselbe ist im Narrenhaus in Zwiefalten untergebracht
worden, und die Entriß muß tüchtig für sie zahlen. Warum hat sie früher
so an der Kranken gespart!

Wie man das arme Ding fortgebracht hat, das hättest Du sehen sollen,
es war ein Jammer. Sie hatten einen Wagen genommen, da saß die Entriß,
der Oberamtsarzt, ein Wärter aus Zwiefalten drin und die Patientin. Da
fing sie an und hat den ganzen Weg geschrien wie verrückt, daß alles
nachgelaufen ist, bis auf den Bahnhof. Auf dem Heimweg hat die Entriß
dann allerlei zu hören gekriegt, ein Bub hat ihr sogar einen Stein
nachgeworfen.

Lieber Vetter, falls ich Dir hier irgend etwas besorgen kann, tue ich
es sehr gern. Du bist ja dreißig Jahre lang von der Heimat fortgewesen,
aber das macht nichts und für meine Verwandten ist mir, wie Du weißt,
nichts zuviel. Meine Frau läßt Dich auch grüßen.

Ich wünsche Dir gutes Wetter für Deine Sommerfrische. In dem
Freudenstadt droben wird es schon kühler sein als hier in dem engen
Loch, wir haben sehr heiß und viel Gewitter. Im Bayrischen Hof hat es
vorgestern eingeschlagen, aber kalt.

Wenn Du etwas brauchst, stehe ich ganz zur Verfügung. In alter Treue
Dein Vetter und Freund

                                                        Lukas Pfrommer.

Herr Schlotterbeck las diesen Brief aufmerksam durch, steckte ihn in
die Tasche, zog ihn wieder heraus und las ihn nochmals, dann sagte
er: »O du Simpel,« was seinem Vetter galt. Doch hielt er sich nicht
lange mit Gedanken an den Briefschreiber auf, sondern bedachte sich
den Brief selber recht genau, übersetzte ihn aus dem Gerbersauerischen
ins Deutsche und suchte sich die geschilderten Begebenheiten vor
Augen zu denken. Dabei ergriff ihn Scham und Zorn, er sah das arme
Frauelein verhöhnt und preisgegeben, mit Tränen kämpfen und ohne Trost
allein sitzen. Je mehr er es überlegte und je deutlicher er alles
sah und begriff, desto mehr schwand sein stilles Schmunzeln über den
briefschreibenden Vetter dahin. Er war über ihn und über ganz Gerbersau
herzlich empört und wollte schon Rache beschließen, da fiel ihm
allmählich ein, wie wenig er selber in dieser letzten Zeit an die Frau
Entriß gedacht hatte. Er hatte Pläne geschmiedet und sich ohne viel
Heimweh gute Tage gegönnt, und währenddessen war es der lieben Frau
übel gegangen, sie hatte es schwer gehabt und vielleicht auf seinen
Beistand gehofft.

Indem er das bedachte, begann er sich sehr zu schämen. Das Bildnis der
kleinen Witwe stand ihm nun wieder so klar und nett vor Augen, daß er
nicht begriff, wie er sie tagelang fast ganz habe vergessen können.
Was war jetzt zu tun? Jedenfalls wollte er sofort heimreisen. Ohne
Verzug rief er den Wirt, ordnete für morgen früh seine Abreise an und
teilte dies auch dem Herrn Trefz mit, der sich darüber sehr betrübt
zeigte. Doch ward verabredet, daß Schlotterbeck ihn bald besuchen
und seine Fabrik ansehen solle. Dann packte dieser seinen Koffer,
worin er viel Übung und Geschick hatte, und während er dies tat und
die Dämmerung hereinbrach, vergaß er die Scham und den Zorn und alle
Bedenken und verfiel in eine muntere, tröstliche Heiterkeit, die ihn
den ganzen Abend nimmer verließ. Es war ihm klar geworden, daß alle
diese Geschichten nur Wasser auf seine Mühle seien. Die Schwägerin war
fort, Gott sei Dank, die Frau Entriß saß vereinsamt und traurig und
hatte wohl auch Geldsorgen, da war es Zeit, daß er nochmals vor sie
trat und in dem abendsonnigen Stüblein ihr sein Angebot wiederholte.
Vergnügt pfiff er ein Freudenlied, das stark mißglückte und ihn doch
noch froher und mutiger machte, und den Abend verbrachte er mit Herrn
Trefz bei einem guten Markgräflerwein. Die Männer stießen auf ein gutes
Wiedersehen und eine weiterdauernde Freundschaft an, der Wirt trank ein
Glas mit und hoffte beide gute Gäste im nächsten Jahr wiederzusehen.

Am andern Morgen stand Schlotterbeck zeitig an der Eisenbahn und
erwartete den Zug. Der Wirt hatte ihn begleitet und drückte ihm
nochmals die Hand, der Hausknecht hob den Koffer in den Wagen und bekam
sein Trinkgeld, der Zug fuhr dahin, und nach einigen ungeduldigen
Stunden war die Reise getan und Schlotterbeck wandelte an dem grüßenden
Stationsvorstande vorbei in die Stadt hinein.

Er nahm nur ein kurzes Frühstück im Adler, der am Wege lag, ließ sich
dort den Rock abbürsten und ging alsdann geraden Weges zur Frau Entriß
hinauf, deren Garten ihn in der alten Sauberkeit begrüßte. Das Tor
war verschlossen und er mußte ein paar Augenblicke warten, bis die
Hausfrau daherkam und mit einem fragenden Gesicht -- denn sie hatte ihn
nicht kommen sehen -- die Tür auftat. Da sie ihn erkannte, wurde sie
rot und versuchte ein strenges Gesicht zu machen, er trat aber mit
freundlichem Gruß herein und sie führte ihn in die Stube.

Sein Kommen hatte sie überrascht. Sie hatte in der vergangenen Zeit
wenig an ihn denken können, doch war seine Wiederkunft ihr immerhin
kein Schrecken mehr, sondern eher ein Trost. Er sah das auch, trotz
ihrer Stille und künstlichen Kühle, sehr wohl, und machte ihr und sich
selber die Sache leicht, indem er sie herzhaft an beiden Schultern
faßte, ihr halb lachend ins rote Gesicht schaute und fragte: »Es ist
jetzt recht, nicht wahr?«

Da wollte sie lächeln und noch ein wenig sprödeln und Worte machen;
aber unversehens übernahm sie die Bewegung, die Erinnerung an so viel
Sorge und Bitterkeit dieser Wochen, die sie bis zum Augenblick tapfer
und trocken durchgemacht hatte, und sie brach zu seinem und ihrem
eigenen Schrecken plötzlich in helle Tränen aus. Bald hernach aber
erschien auf ihren Wangen wieder der schüchterne Glücksschein, den Herr
Schlotterbeck vom letztenmal her kannte, sie lehnte sich an ihn, ließ
sich von ihm umfangen, und als nach einem sanften Kusse der Bräutigam
sie auf einen Stuhl niedersetzte, sagte er wohlgemut: »Gott sei Dank,
das stimmt also. Aber auf den Herbst wird das Häusel verkauft, oder
willst du um jeden Preis in dem Nest hier bleiben?«

Sie schüttelte den Kopf, und er sagte fröhlich: »Da bin ich froh! Und
das Privatisieren hört auch bald auf. Was meinst du zum Beispiel zu
einer Lederwarenfabrik?«



Der Weltverbesserer


1

Berthold Reichardt war vierundzwanzig Jahre alt. Aus einem guten
bürgerlichen Hause stammend, besaß er einen angeborenen Sinn für das
Schickliche und Angenehme, den aber ein begehrlicher, auf eigene Wege
und Erlebnisse erpichter Verstand vor den Gefahren der Bequemlichkeit
des Philistertums bewahrte. Zum Unglück hatte er die Eltern früh
verloren und von seinen mehrmals wechselnden Erziehern hatte nur ein
einziger Einfluß auf ihn bekommen, ein edler doch fanatischer Mensch
und frommer Freigeist, welcher dem Jüngling früh die Gewohnheit eines
Denkens beibrachte, das bei scheinbarer Gerechtigkeit doch eben nicht
ohne Hochmut den Dingen seine Form aufzwang.

Nun wäre es für den jungen Menschen Zeit gewesen, unbefangen seine
Kräfte im Spiel der Welt zu versuchen und im Anschluß an irgendeinen
Kreis tätigen Lebens sich unter die Menschen zu begeben, um ohne Hast
sich nach dem ihm zukömmlichen und erreichbaren Lebensglück umzusehen,
auf das er als ein gescheiter und gutartiger, dabei hübscher und
wohlhabender Mann gewiß nicht lange hätte zu warten brauchen.

Von diesem natürlichen und einfachen Wege hielten jedoch zwei
Umstände ihn ab, beide mehr in seinem Erziehungsgang als seiner Natur
begründet, beide unschuldig und edel von Ansehen. Zunächst war da, von
jenem wohlmeinenden Erzieher geweckt und befestigt, in dem Jüngling
eine Neigung nach dem Abstrakten, die ihn zwang, allen Dingen auf
den Grund zu gehen, auch wo kein solcher abzusehen war, und aus
Zuständen, für die er nicht verantwortlich war, persönliche Gedanken-
und Gewissensprobleme zu ziehen wie Schalen von der Zwiebel, wobei
denn jeder natürliche Leichtsinn und jede schöne Unschuld des Denkens
erkrankt und verkümmert war.

Daraus hatte sich auch der zweite Übelstand ergeben: Berthold Reichardt
hatte keinen bestimmten Beruf gewählt. Gewissenhaft und eifrig hatte er
seine Neigungen und Gaben immer wieder geprüft und war dabei geblieben,
sich erst recht gründlich im Allgemeinen zu bilden und zu festigen, ehe
er den folgenschweren Schritt in eine begrenzte und verantwortliche
Tätigkeit wage. Seinen Neigungen gemäß hatte er bei guten Lehrern,
auf Reisen und aus Büchern Philosophie und Geschichte studiert mit
einer Tendenz nach den ästhetischen Fächern. Sein ursprünglicher
Wunsch, Baumeister zu werden, war dabei in den Studienjahren
abwechselnd erkaltet und wieder aufgeflammt; schließlich war er, um
doch ein festes Ergebnis zu erreichen, bei der Kunstgeschichte stehen
geblieben und hatte vorläufig seine Lehrjahre durch eine Doktorarbeit
über die Ornamentik in der Architektur der süddeutschen Renaissance
abgeschlossen. Als junger Doktor traf er nun in München ein, wo er im
Zusammenströmen so vieler junger Talente, Kräfte und Bedürfnisse am
ehesten die Menschen und die Tätigkeit zu finden hoffte, zu denen seine
Natur auf noch verdunkelten Wegen doch immer stärker hinstrebte. Er
dürstete danach, Verkehr mit dem Leben und Einfluß auf Menschen zu
üben, am Entstehen neuer Zeiten und Werke mitzuraten und mitzubauen und
im Werden und Emporkommen seiner Generation mitzuwachsen.

Des Vorteiles, den jeder Friseurgehilfe hat: durch Beruf und Stellung
von allem Anfang an ein festes, klares Verhältnis zum Leben und eine
berechtigte Stelle im Gefüge der menschlichen Tätigkeiten zu haben,
dieses Vorteils also mußte Berthold bei seinem Eintritt in die Welt und
ins männliche Alter entraten. Sein Doktorname bezeichnete keine Arbeit
und Stellung, kein Amt und keine Richtung, er war nur ein Titel und
Schmuck, am Sonntag zu tragen. Freilich empfand Berthold selbst diesen
Mangel an äußerer Bestimmung lediglich als goldene Freiheit, welche er
hochzuhalten und durchaus nur um den allerhöchsten Preis, um die Krone
des Lebens selber, daranzugeben gewillt war.

In München, wo er schon früher ein Jahr als Student gelebt hatte,
war der junge Herr Doktor Reichardt in mehreren Häusern eingeführt,
hatte es aber mit den Begrüßungen und den Besuchen nicht eilig, da er
seinen Umgang in aller Freiheit suchen und unabhängig von früheren
Verpflichtungen sein Leben einrichten wollte. Vor allem war er auf die
Künstlerwelt begierig, welche zurzeit eben wieder voll neuer Ideen
gärte und beinahe täglich Zustände, Gesetze und Sitten entdeckte,
welchen der Krieg zu erklären war.

Da Verwandtes dem Verwandten zustrebt, geriet Reichardt, ohne sich
darum Mühe gegeben zu haben, bald in näheren Umgang mit einem kleinen
Kreise moderner junger Künstler dieser Art. Man traf sich bei
Tische und im Kaffeehaus, bei öffentlichen Vorträgen und bald auch
freundschaftlich in den Wohnungen und Ateliers, meistens in dem des
Malers Hans Konegen, der eine Art geistiger Führerschaft in dieser
Künstlergruppe ausübte.

Das Wohlwollen dieser meist noch sehr jungen Leute hatte sich Berthold
vor allem durch die Bescheidenheit erworben, mit welcher er ihren oft
verblüffend kühnen Reden zuhörte und auch die gegen seine Person und
seinen Stand gerichtete freimütige Kritik hinnahm. Als Hans Konegen
ihn einstmals nach seinem Beruf gefragt und Reichardt sich als eine
Art von Privatgelehrten vorstellte, der sich durch kunstgeschichtliche
Studien den Doktorgrad erworben habe, da hatte ihm der Maler geradezu
ins Gesicht gelacht und gesagt: »Ach, Sie sind Kunsthistoriker!« und
hatte dieses Wort mit einer so erstaunten Verächtlichkeit betont, als
wäre es mit Idiot oder Raubmörder gleichbedeutend. Reichardt aber hatte
nur verwundert mitgelacht und ohne Empfindlichkeit zugegeben, daß
allerdings das gelehrte Kunststudium viel Äußerliches an sich habe, wie
es denn auch für ihn nur eine methodische Bildung bedeute, welche er
nun womöglich in einer mehr auf das Leben selbst gerichteten Tätigkeit
anzuwenden hoffe.

Im weiteren Umgang mit den jungen Künstlern fand er nun noch manchen
Anlaß zur Verwunderung, ohne darüber den guten Willen zum Lernen
zu verlieren. Es fiel ihm vor allem auf, daß die paar berühmten
Maler und Bildhauer, deren Namen er stets in enger Verbindung mit
den jungen künstlerischen Revolutionen nennen gehört oder gelesen
hatte, offenbar diesem reformierenden Denken und Treiben der Jungen
weit ferner standen, als er gedacht hätte, daß sie vielmehr in einer
gewissen Einsamkeit und Unsichtbarkeit nur ihrer persönlichen Arbeit zu
leben schienen. Ja, diese Weitberühmten wurden, worüber er anfänglich
geradezu erschrak, von den jungen Kollegen keineswegs als Vorbilder
bewundert, sondern mit Schärfe, ja mit Lieblosigkeit kritisiert und zum
Teil sogar beinahe verachtet. Es schien, als begehe jeder Künstler,
der unbekümmert seine Werke schuf, damit einen Verrat an der Sache der
revolutionierenden Jugend, ja, als sei trotz Goethe es eines rechten
Künstlers Art und Pflicht nicht so sehr zu malen und zu bilden als zu
denken und zu reden.

Leider entsprach dieser Verirrung ein gewisser jugendlich-pedantischer,
ideologischer Zug in Reichardts Wesen selbst, so daß er trotz
gelegentlichen Bedenken dieser ganzen Art sehr bald zustimmte. Es
fiel ihm nicht auf, wie wenig und mit wie geringer Leidenschaft in
den Ateliers seiner Freunde gearbeitet wurde. Da er selbst ohne
Beruf und ohne Nötigung zu positiver Arbeit war, gefiel es ihm wohl,
daß auch seine Malerfreunde fast immer Zeit und Lust zum reden und
theoretisieren hatten. Namentlich schloß er sich an Hans Konegen an,
dessen kaltblütige Kritiklust ihm ebensosehr imponierte wie sein
unverhohlenes Selbstbewußtsein. Mit ihm durchstreifte er häufig die
vielen Kunstausstellungen und hatte die Überzeugung, dabei erstaunlich
viel zu lernen, denn es gab kaum ein Kunstwerk, an dem Konegen nicht
klar und schön darzulegen wußte, wo seine Fehler lagen. Anfangs hatte
es Berthold oft weh getan, wenn der andere über ein Bild, das ihm
gefiel und in das er sich eben mit Freude hineingesehen hatte, gröblich
und schonungslos hergefallen war; mit der Zeit gefiel ihm jedoch dieser
Ton und färbte sogar auf seinen eigenen ab.

Da hing eine zarte grüne Landschaft, ein Flußtal mit bewaldeten Hügeln,
von Frühsommerwolken überflogen, treu und zart gemalt, das Werk eines
noch jungen, doch schon rühmlich bekannten bayerischen Malers. »Das
schätzen und kaufen nun die Leute,« sagte Hans Konegen dazu, »und es
ist ja ganz nett, die Wolkenspiegel im Wasser sind sogar direkt gut.
Aber wo ist da Größe, Wucht, Linie, kurz -- Rhythmus? Eine nette kleine
Arbeit, sauber und lieb, gewiß, aber das soll nun ein Berühmter sein!
Ich bitte Sie: wir sind ein Volk, das den größten Krieg der modernen
Geschichte gewonnen hat, das Handel und Industrie im größten Maßstab
treibt, das reich geworden ist und Machtbewußtsein hat, das eben noch
zu den Füßen Bismarcks und Nietzsches saß -- und das soll nun unsere
Kunst sein!«

Ob ein hübsches waldiges Flußtal geeignet sei, mit monumentaler Wucht
gemalt zu werden, oder ob das Gefühl für einfache Schönheiten der
ländlichen Natur unseres Volkes unwürdig sei, davon sprach er nicht,
und tat man einen derartigen Einwurf, so hieß es unverweilt: »Nun ja,
wir können ja auch über das Ding an sich oder über den Kaukasus reden,
warum nicht? Aber da wir nun doch einmal gerade von diesem Bild hier
sprechen, kann ich nur wiederholen: ist hier Monumentalität? Ist hier
Größe? Ist hier der Ausdruck dessen, was unser Volk bewegt?« und so
weiter.

Berthold Reichardt verlernte es unter dieser Führung, sich still
und bescheiden in irgendein schönes Werk zu vertiefen, und wenn er
schließlich gleich seinen neuen Freunden mit Bitterkeit fragte: »Was
sollen uns alle diese Ausstellungen? Sie lassen uns ja doch alle
kalt!« so hatte er damit mehr Recht als er selber wußte, denn wirklich
mochte das geringste dieser Bilder, in einem schlechten Farbendruck
reproduziert und einem Bauernbuben geschenkt, diesem weit mehr Freude
bereiten als dem so kritischen Betrachter alle Galerien.

Doktor Reichardt wußte nicht, daß seine Bekannten keineswegs die
Blüte der heutigen Künstlerjugend darstellten, denn nach ihren Reden,
ihrem Auftreten und ihren vielen theoretischen Kenntnissen taten sie
das entschieden. Er wußte nicht, daß sie höchstens einen mäßigen
Durchschnitt, ja vielleicht nur eine launige Luftblase und Zerrform
bedeuteten, und wußte nicht, daß neben dieser lärmenden und überklugen
Jugend unbeachtet gar viele stille Talente hausten und arbeiteten. Er
wußte auch nicht, wie wenig gründlich und gewissenhaft die Urteile
Konegens waren, der von schlichten Landschaften den großen Stil, von
Riesenkartons aber tonige Weichheit, von Studienblättern Bildwirkung
und von Staffeleibildern größere Naturnähe verlangte, so daß freilich
seine Ansprüche stets weit größer blieben als die Kunst aller Könner.
Und er fragte nicht, ob eigentlich Konegens eigene Arbeiten so mächtig
seien, daß sie ihm das Recht zu solchen Ansprüchen und Urteilen gäben.
Wie es Art und schönes Recht der Jugend ist, unterschied er nicht
zwischen seiner Freunde Idealen und ihren Taten, und wenn er ihnen in
lebhafter Unterredung gegenüberstand, genoß er das Gefühl, als Freund
neben lauter Talenten und Ausnahmegeistern zu leben, unter glücklichen
Repräsentanten der zeitgenössischen Jugend.

Es übten übrigens auch diese eine Art von auffallender Bescheidenheit.
Während sie nämlich über Hodler wie über Botticelli zu reden und alle
Forderungen der höchsten Kunst genau zu formulieren wußten, galt
ihre eigene Arbeit meistens recht anspruchslosen Dingen, kleinen
Gegenständen und Spielereien dekorativer und gewerblicher Art. Aber
wie das Können des größten Malers klein wurde und elend dahinschmolz,
wenn man es an ihren Forderungen an ihn und ihren Urteilen über ihn
maß, so wuchsen ihre eigenen kleinen Geschäftigkeiten ins Gewaltige,
wenn man sie darüber sprechen hörte. Der eine hatte eine ganz hübsche
Zeichnung zu einer Vase oder Tasse gemacht und wußte nachzuweisen, daß
diese Arbeit, so unscheinbar sie sei, doch vielleicht mehr bedeute als
mancher Saal voll Bilder, da sie in ihrem schlichten Ausdrucke das
Gepräge des Notwendigen trage und auf einer Erkenntnis der statischen
und konstruktiven Grundgesetze jedes gewerblichen Gegenstandes, ja
des Weltgefüges selbst, beruhe. Ein anderer versah ein Stück graues
Papier, das zu Büchereinbänden dienen sollte, mit einigen regellos
verteilten gelblichen Flecken und konnte darüber ebenfalls eine Stunde
lang philosophieren, wie die Art der Verteilung jener Flecken etwas
Kosmisches zeige und ein Gefühl von Sternhimmel und Unendlichkeit zu
wecken vermöge und wie der Zusammenklang des Grau mit dem Gelb etwas
melancholisch Schweres, aber doch dämonisch Kräftiges habe.

Dergleichen Unfug lag in der Luft und wurde von der Jugend als eine
Mode betrieben; mancher kluge, doch schwache Künstler mochte es auch
ernstlich darauf anlegen, mangelnden natürlichen Geschmack durch
solche Raisonnements zu ersetzen oder zu entschuldigen. Reichardt aber
in seiner langsamen Gründlichkeit nahm alles eine Zeit lang ernst
und lernte dabei von Grund aus die verderbliche Müßiggängerkunst
eines intellektualistischen Beschäftigtseins, das der Todfeind jeder
wertvollen Arbeit ist.


2

Über diesem Umgange und Treiben aber konnte er, als ein ziemlich gut
erzogener Mensch, doch auf die Dauer nicht alle gesellschaftlichen
Verpflichtungen vergessen, und so erinnerte er sich vor allem eines
Hauses, in dem er einst als Student verkehrt hatte, da der Hausherr
vor Zeiten mit Bertholds Vater in näheren Beziehungen gestanden
war. Es war dies ein Herr Justizrat Weinland, der ehemals Diplomat
gewesen, dann zur Rechtswissenschaft zurückgekehrt war und als
leidenschaftlicher Freund der Kunst und der Geselligkeit ein belebtes
und glänzendes Haus geführt hatte. Dort wollte nun Reichardt, nachdem
er schon gegen einen Monat in der Stadt wohnte, einen Besuch machen
und sprach in sorgfältiger Toilette in dem Hause vor, dessen erste
Etage der Rat einst bewohnt hatte. Da fand er zu seinem Erstaunen einen
fremden Namen auf dem Türschilde stehen, und als er einen zufällig
heraustretenden Diener nach der jetzigen Wohnung des Justizrats fragte,
erfuhr er diese und zugleich die Nachricht, der Herr Rat selbst sei vor
mehr als Jahresfrist gestorben.

Die Wohnung der Witwe, die Berthold sich aufgeschrieben hatte, lag
weit draußen in einer unbekannten stillen Straße am Rande der Stadt,
und ehe er dorthin ging, suchte er durch Kaffeehausbekannte, deren
er einige noch von der Studentenzeit her vorgefunden hatte, über
Schicksal und jetzigen Zustand des Hauses Weinland Bericht zu erhalten.
Das hielt nicht schwer, da der verstorbene Rat ein weithin gekannter
Mann gewesen war, und so erfuhr Berthold eine ganze Geschichte:
Weinland hatte allezeit weit über seine Verhältnisse gelebt und war
so tief in Schulden, ja in zweifelhafte und mißliche Finanzgeschäfte
hineingeraten, daß niemand seinen plötzlichen Tod für einen natürlichen
hatte halten mögen. Jedenfalls hatte sofort nach diesem unerklärten
Todesfall die Familie alle Habe verkaufen müssen und sei, obwohl noch
in der Stadt wohnhaft, so gut wie vergessen und verschollen, da die
angesehenen Freunde sich alle mißtrauisch zurückgezogen hätten und die
ganz verarmte Frau nicht in der Lage sei, ein Haus zu machen. Schade
sei es dabei am meisten um die Tochter, der jedermann ein besseres
Schicksal gegönnt hätte.

Der junge Mann, von solchen Nachrichten überrascht und mitleidig
ergriffen, wunderte sich doch über das Dasein dieser Tochter, welche
je gesehen zu haben er sich nicht erinnern konnte, und es geschah
zum Teil aus Neugierde auf das Mädchen, als er nach einigen Tagen
beschloß, die Weinlands zu besuchen. Er nahm einen Mietwagen und fuhr
hinaus, durch eine unvornehme Vorstadt bis an die Grenze des freien
Feldes, das zum Teil durch einen Exerzierplatz eingenommen wurde, wo
im nassen Herbstwetter einige kleine Truppen sich unfroh bewegten. Der
Wagen hielt vor einem einzeln stehenden mehrstöckigen Miethause, das
trotz seiner Neuheit in Fluren und Treppen schon den trüben Duft der
Ärmlichkeit angenommen hatte.

Etwas verlegen trat er in die kleine Wohnung im zweiten Stockwerk,
dessen Türe ihm eine Küchenmagd, offenbar erstaunt über den eleganten
Besuch, geöffnet hatte. Sogleich erkannte er in der einfachen Stube
mit neuen billigen Möbeln die Frau Rätin, deren strenge magere
Gestalt und ruhig würdiges Gesicht ihm beinahe unverändert und nur
um einen Schatten reservierter und kühler geworden schien. Neben ihr
aber tauchte die Tochter auf, und nun wußte er genau, daß er diese
noch nie gesehen habe, denn sonst hätte er sie gewiß nicht so ganz
vergessen können. Sie hatte die Figur der Mutter, ohne ihr im Gesicht
ähnlich zu sein, und sah mit dem gesunden Gesicht, in der strammen,
elastischen Haltung und einfachen, doch tadellosen Toilette wie eine
junge Offiziersfrau oder Sportsdame aus. Dies war der erste Eindruck,
und schon der war angenehm genug. Bei längerem Betrachten ergab sich
dann, daß in dem frischen, herben Gesicht ruhige dunkelbraune Augen
ihre Stätte hatten, und in diesen ruhigen Augen sowohl, wie in manchen
weichen Bewegungen der strengen und beherrschten Gestalt schien erst
der wahre Charakter des schönen Mädchens zu wohnen, den das übrige
Äußere härter und kälter vermuten ließ, als er war.

Reichardt blieb eine halbe Stunde bei den Frauen. Das Fräulein Agnes
war, wie er nun erfuhr, während der Zeit seines früheren Verkehrs
in ihrem Vaterhause im Auslande gewesen, und er meinte sich nun zu
erinnern, daß damals zuweilen von ihr die Rede gewesen sei. Doch
vermieden sie es alle, näher an die Vergangenheit zu rühren, und so kam
es von selbst, daß vor allem des Besuchers Person und Leben besprochen
wurde. Beide Frauen zeigten sich ein wenig verwundert, ihn so zuwartend
und unschlüssig an den Toren des Lebens stehen zu sehen, und Agnes
meinte geradezu, wenn er einiges Talent zum Baumeister in sich fühle,
so sei das ein so herrlicher Beruf, daß sie sein Zaudern nicht
begreife. Beim Abschied fragte er, ob sein gelegentliches Wiederkommen
die Damen in ihrer stillen Zurückgezogenheit nicht stören würde, und
erhielt die Erlaubnis, nach Belieben sich wieder einzufinden.

Von den veränderten Umständen der Familie, von ihrer Vereinsamung
und Verarmung hatte zwar die Lage und Bescheidenheit ihrer Wohnung
Kunde gegeben, die Frauen selbst aber hatten dessen nicht nur mit
keinem Worte gedacht, sondern auch in ihrem ganzen Wesen und Benehmen
kein Wissen von Armut oder Bedrücktheit gezeigt, vielmehr den Ton
innegehalten, der in ihrer früheren weitläuftigen Lebensführung ihnen
geläufig und selbstverständlich gewesen war. Erst als Reichardt sich,
die Damen im Zimmer zurücklassend, auf dem engen finstern Flur allein
fand und tappend nach dem Türgriff suchen mußte, kam ihm die Lage
dieser Frauen wieder in den Sinn. Er nahm eine ihm noch kaum bewußte
Teilnahme und Bewunderung für die schöne, tapfere Tochter mit sich
in die abendliche Stadt hinein und fühlte sich bis zur Nacht und zum
Augenblick des Einschlafens von einer wohlig reizenden Atmosphäre
umgeben, wie vom tiefen, warmen Braun ihrer Blicke.

Dieser sanfte Reiz spornte den Doktor auch zu neuen Arbeitsgedanken
und Lebensplänen an. Wenige Tage nach seinem Besuche bei den Frauen
Weinland hatte er ein langes, ernstes Gespräch mit dem Maler Konegen,
das zwar zu keinem Ziel führte, ihm aber den von ihm noch unerkannten
Vorteil einer Abkühlung dieser Freundschaft brachte. Hans Konegen hatte
auf Reichardts Klagen hin sofort einen breiten, genial konstruierten
Arbeitsplan entworfen, er war in dem großen Atelier heftig hin und
wieder geschritten, hatte seinen rotbraunen Bart mit nervösen Händen
gedreht und sich alsbald, wie es seine unheimliche Gabe war, in ein
flimmerndes Gehäuse eingesponnen, das aus lauter Beredtsamkeit bestand
und dem Regendache jenes Meisterfechters im Volksmärchen glich, unter
welchem jener trocken stand, obwohl es aus nichts bestund als dem
rasenden Kreisschwung seines Degens.

Er rechtfertigte zuerst die Existenz seines Freundes Reichardt, indem
er den Wert und die Bedeutung solcher Intelligenzen ausführte, die
als kritische und heimlich mitschöpferische Berater der Kunst helfen
und dienen könnten. Ja, es sei das Wesen der Kunst so kompliziert
und unseren materiellen Zeitbestrebungen so fremd geworden, daß ein
richtiges verstehendes Verhältnis zur wahren Kunst vielleicht überhaupt
nur noch den Künstlern selber und etwa noch solchen emsigen und klugen
Kunstgelehrten, wie Reichardt, möglich sei. Um so mehr nun sei es also
dessen Pflicht, seine Kräfte der Kunst dienstbar zu machen und als
unbeirrbarer Kämpfer für das einzutreten, was er als den Sinn und das
Ideal der modernen Kunst erkannt habe. Er möge daher trachten, an einer
angesehenen Kunstzeitschrift oder noch besser an einer Tageszeitung
kritischer Mitarbeiter zu werden und zu Einfluß zu kommen. Dann würde
er, Hans Konegen, ihm durch eine Gesamtausstellung seiner Schöpfungen
Gelegenheit geben, einer guten Sache zu dienen und der Welt etwas Neues
zu zeigen.

Als Berthold ein wenig mißmutig den Freund daran erinnerte, wie
verächtlich sich dieser noch kürzlich über alle Zeitungen und
Zeitschriften und über das Amt des Kritikers im allgemeinen geäußert
habe, bekannte sich der Maler sogleich freudig zu jener Äußerung, die
er zu jeder Stunde zu wiederholen und zu beweisen bereit sei, nahm
sie dann aber sofort zur Folie für seine heutigen Absichten und legte
dar, wie eben bei dem traurig tiefen Stande der Kritik ein wahrhaft
edler und freier Geist auf diesem Gebiete zum Reformator werden könne,
zum Lessing unserer Zeit. Übrigens stehe, so lenkte er nach einem
freundlichen Seitenpfade ein, dem Kunstschriftsteller auch noch ein
anderer und schönerer Weg offen, nämlich der des Buches. Er selbst habe
schon manchmal daran gedacht, die Herausgabe einer Monographie über
ihn, Hans Konegen, zu veranlassen; nun sei in Reichardt endlich der
rechte Mann für die nicht leichte Aufgabe gefunden. Berthold solle den
Text schreiben, die Illustration des Buches übernehme er selbst, werde
auch Handdrucke seiner drei Holzschnitte in Japanabzügen beiheften
und schon dadurch jeden echten und reichen Kunstfreund zum Erwerb des
Buches geradezu nötigen.

Reichardt hörte die wortreichen Vorschläge mit einer zunehmenden
Verstimmung an. Heute, da er das Übel seiner berufslosen
Entbehrlichkeit besonders stark empfand und für einen guten Rat oder
auch schon für ein wenig Trost empfänglich und dankbar gewesen wäre,
tat es ihm weh zu sehen, wie der Maler in diesem Zustande nichts
anderes fand als eine Verlockung, ihn seinem persönlichen Ruhm oder
Vorteil dienstbar zu machen.

Aber als er ermüdet und betrübt ihm ins Wort fiel und diese Pläne kurz
von der Hand wies, war Hans Konegen keineswegs geschlagen.

»Gut, gut,« sagte er wohlwollend, »ich verstehe Sie vollkommen und
muß Ihnen eigentlich recht geben. Die Kritik und die verfluchte
Federfuchserei überhaupt ist ja im Grunde eine entbehrliche und
lächerliche Sache. Sie wollen Werte schaffen helfen, nicht wahr? Tun
Sie das! Sie haben Kenntnisse und Geschmack, Sie haben mich und einige
Freunde und dadurch eine direkte Verbindung mit dem schaffenden Geist
der Zeit. Gründen Sie also ein schönes Unternehmen, mit dem Sie einen
unmittelbaren Einfluß auf das Kunstleben ausüben können! Gründen
Sie zum Beispiel einen Kunstverlag, eine Stelle für Herstellung und
Vertrieb wertvoller Graphik, ich stelle dazu das Verlagsrecht meiner
Holzschnitte und zahlreicher Entwürfe zur Verfügung, ich richte Ihre
Druckerei und Ihr Privatbureau ein, die Möbel etwa in Ahornholz mit
Messingbeschlägen. Oder noch besser, hören Sie! Beginnen wir eine
kleine Werkstätte für vornehmes Kunstgewerbe! Nehmen Sie mich als
Berater oder Direktor, für gute Hilfskräfte werde ich sorgen, ein
Freund von mir modelliert zum Beispiel prachtvoll und versteht sich
auch auf Bronzeguß.«

Und so ging es weiter, munter Plan auf Plan, bis Reichardt beinahe
wieder lachen konnte. Überall sollte er der Unternehmer sein, das
Geld aufbringen und riskieren, Konegen aber war der Direktor, der
Beirat, der technische Leiter, kurz die Seele von allem. Zum ersten
Male erkannte Berthold deutlich, wie eng und selbstsüchtig alle
Kunstgedanken und Zukunftsideale des Malergenies nur um dessen eigene
Person und Eitelkeit oder Gewinnsucht kreisten, und er sah nachträglich
mit Unbehagen, wie wenig schön die Rolle war, die er in der Vorstellung
und den Absichten dieser Leute gespielt hatte.

Doch überschätzte er sie immer noch, indem er nun darauf dachte, sich
still von diesem Umgang zurückzuziehen, unter möglichster Delikatesse
und Schonung. Denn kaum hatte Herr Konegen nach mehrmals wiederholten
Beredungsversuchen eingesehen, daß Reichardt wirklich nicht gesonnen
war, diese Unternehmergelüste zu befriedigen, so fiel die ganze
Bekanntschaft dahin, als wäre sie nie gewesen. Der Doktor hatte diesen
Leuten ihre paar Holzschnitte und Töpfchen längst abgekauft, einigen
auch kleine Geldbeträge geliehen; wenn er nun seiner Wege gehen
wollte, hielt niemand ihn zurück. Reichardt, mit den Sitten der Boheme
noch wenig vertraut, sah sich mit unbehaglichem Erstaunen von seinen
Künstlerfreunden vergessen und kaum mehr gegrüßt, während er sich
noch damit quälte, eine ebensolche Entfremdung langsam und vorsichtig
einzuleiten. Ein junger Zeichner schickte ihm noch den Entwurf zu
einem Exlibris zu, das Herr Reichardt einmal mündlich bei ihm bestellt
habe. Er kaufte das kleine Blättchen an, obwohl er sich des Auftrages
nicht erinnerte, und legte es in dieselbe Mappe, welche auch Konegens
Holzschnitte barg.


3

Zuweilen sprach Doktor Reichardt in dem öden Vorstadthause bei der
Frau Rat Weinland vor, wo es ihm jedesmal merkwürdig wohl wurde. Der
vornehme Ton dort bildete einen angenehmen erzieherischen Gegensatz
zu den Reden und Sitten des Zigeunertums, in welchen der junge Mann
sich bewegte, ohne sie freilich selbst je ganz anzunehmen, und immer
ernsthafter beschäftigte ihn die Tochter, die ihn zweimal allein
empfing, und deren strenge Anmut ihn jedesmal entzückte und verwirrte.
Denn er fand es unmöglich, mit ihr jemals über Gefühle zu reden oder
doch die ihren kennen zu lernen, da sie bei all ihrer damenhaften
Schönheit die Verständigkeit selbst zu sein schien. Und zwar besaß sie
jene praktische, auf das Notwendige und Nächste gerichtete Klugheit,
welche das nur spielerische Sichabgeben mit geistigen Dingen nicht
kennt und welche, wie er sich gestand, von den Bohemiens gewiß als
philiströs verlacht worden wäre, während sie ihm doch jedesmal Eindruck
machte.

Agnes zeigte eine freundliche, sachliche Teilnahme für den Zustand, in
dem sie ihn befangen sah, und wurde nicht müde, ihn auszufragen und
ihm zuzureden, ja sie machte gar kein Hehl daraus, daß sie es eines
Mannes unwürdig finde, sich seinen Beruf so im Weiten zu suchen wie man
Abenteuer suche, statt mit Bescheidenheit und festem Willen an einem
bestimmten Punkte zu beginnen. Von den Weisheiten des Malers Konegen
hielt sie ebenso wenig wie von dessen Holzschnitten, die ihr Reichardt
mitgebracht hatte.

»Das sind Spielereien,« sagte sie bestimmt, »und ich hoffe, Ihr Freund
treibe dergleichen nur in Mußestunden. Es sind, so viel ich davon
verstehe, Nachahmungen japanischer Arbeiten, die vielleicht den Wert
von Stilübungen haben können. Mein Gott, was sind denn das für Männer,
die in den besten Jugendjahren sich daran verlieren, ein Grün und ein
Grau gegeneinander abzustimmen! Jede Frau von einigem Geschmack leistet
ja mehr, wenn sie sich ihre Kleiderstoffe aussucht!«

Die wehrhafte Gestalt bot selber in ihrem sehr einfachen, doch
sorgfältig und bewußt zusammengestellten Kostüm das Beispiel einer
solchen Frau. Recht als wolle es ihn mit der Nase darauf stoßen, hatte
sein Glück ihm diese prächtige Figur in seinen Weg gestellt, daß er
sich an sie halte und von ihr zum Rechten geleitet werde. Aber der
Mensch ist zu nichts schwerer zu bringen als zu seinem Glück, wenn er
einmal verrannt und in Abwege und Spekulationen geraten ist.

Nämlich Berthold hatte, nachdem die Sache mit dem Maler Konegen abgetan
war, sich im Labyrinthe seiner Unsicherheit ungesäumt einen neuen
stattlichen Gang erwählt, der überallhin führen konnte, und den er
jetzt mit dem Eifer verfolgte, dessen gute Grübler seiner Art leider
meist nur für Undinge fähig sind.

Bei einem öffentlichen Vortrag über das Thema »Kunst und Leben, oder
neue Wege zu einer künstlerischen Kultur« hatte er etwas erfahren,
das er umso bereitwilliger aufnahm, als es seiner augenblicklichen
enttäuschten Gedankenlage entsprach, nämlich daß es nottue, aus
allen ästhetischen und intellektualistischen Interessantheiten
herauszukommen. Fort mit der formalistischen und negativen Kritik
unserer Kultur, fort mit dem kraftlosen Geistreichtun auf Kosten
heiliger Güter und Angelegenheiten unserer Zeit! Dies war der Ruf, dem
er wie ein Erlöster folgte. Er folgte ihm in einer Art von Bekehrung
sofort und unbedingt, einerlei wohin er führe.

Und er führte auf eine Straße, deren Pflaster für Bertholds
Steckenpferde wie geschaffen war, nämlich zu einer neuen Ethik. War
nicht ringsum alles faul und verdorben, wohin der Blick auch fallen
mochte? Unsere Häuser, Möbel und Kleider geschmacklos, auf Schein
berechnet und unecht, unsere Geselligkeit hohl und eitel, unsere
Wissenschaft verknöchert, unser Adel vertrottelt und unser Bürgertum
verfettet? Beruhte nicht unsere Industrie auf einem Raubsystem, und war
es nicht eben deshalb, daß sie das häßliche Widerspiel ihres wahren
Ideals darstellte? Warf sie etwa, wie sie könnte und sollte, Schönheit
und Heiterkeit in die Massen, erleichterte sie das Leben, förderte sie
Freude und Edelmut? Nein, ach nein. Überall saß einer und wollte Geld
verdienen, von der Politik bis zur bildenden Kunst war jede geistige
Tätigkeit von Anfang an ein Kompromiß mit der Unkultur.

Der gelehrige Gelehrte sah sich plötzlich von Falschheit und Schwindel
umgeben, er sah die Städte vom Kohlenrauch beschmutzt und vom
Geldhunger korrumpiert, das Land entvölkert, das Bauerntum aussterbend;
jede echte und heilige Lebensregung an der Wurzel bedroht. Dinge, die
er noch vor Tagen mit Gleichmut, ja mit Vergnügen betrachtet hatte,
enthüllten ihm nun ihre innere Fäulnis. Berthold fühlte sich für dies
alles mit verantwortlich und zur Mitarbeit an der neuen Ethik und
Kultur verpflichtet.

Als er dem Fräulein Weinland zum erstenmal davon berichtete, wurde
sie aufrichtig betrübt. Sie hatte Berthold gerne und traute es sich
zu, ihm zu einem tüchtigen und schönen Leben zu verhelfen, und nun
sah sie ihn, der sie doch sichtlich liebte, blind in diese Lehren und
Umtriebe stürzen, für die er nicht der Mann war, und bei denen er nur
zu verlieren hatte. Sie sagte ihm ihre Meinung recht deutlich und
meinte, jeder der auch nur eine Stiefelsohle mache oder einen Knopf
annähe, sei der Menschheit und der Kultur gewiß nützlicher und lieber
als alle Propheten. Es gebe in jedem kleinen Menschenleben Anlaß genug,
edel zu sein und Mut zu zeigen, und nur wenige seien dazu berufen, das
Bestehende anzugreifen und Lehrer der Menschheit zu werden.

Er antwortete dagegen mit Feuer, eben diese Gesinnung, die sie
äußere, sei die übliche weltkluge Lauheit, mit welcher es zu halten
sein Gewissen ihm verbiete. Es war der erste kleine Streit, den die
beiden hatten, und Agnes sah mit Betrübnis, wie der liebe Mensch immer
weiter von seinem eigenen Leben und Glück abgedrängt und in endlose
Wasserwüsten der Theorie und Einbildungen verschlagen wurde. Schon war
er im Begriffe, blind und stolz an der hübschen Glücksinsel vorüber zu
segeln, wo sie auf ihn wartete.

Die Sache wurde um so übler, als Reichardt jetzt in den Einfluß eines
wirklichen Propheten geriet, den er in einem ethischen Verein kennen
gelernt hatte. Dieser Mann, welcher Eduard van Vlissen hieß, war erst
Theologe, dann Künstler gewesen und hatte überall, wohin er kam,
rasch eine große Macht in den Kreisen der Suchenden und Verirrten
gewonnen, welche ihm auch zukam, da er nicht nur unerbittlich im
Erkennen und Verurteilen sozialer Übelstände, sondern persönlich auch
zu jeder Stunde bereit war, für seine Gedanken einzustehen und sich
ihnen zu opfern. Als katholischer Theologe hatte er eine Schrift über
den heiligen Franz von Assisi veröffentlicht, worin er den Untergang
seiner Ideen aus seinem Kompromiß mit dem Papsttum erklärt und den
Gegensatz von heiliger Intuition und echter Sittlichkeit gegen Dogma
und Kirchenmacht auf das Schroffste ausgemalt hatte. Von der Kanzel
deshalb vertrieben, nahm er seinen Austritt aus der Kirche und tauchte
bald darauf in belgischen Kunstausstellungen als Urheber seltsamer
mystischer Gemälde auf, die viel von sich reden machten. Seit Jahren
aber lebte er nun auf Reisen, ohne Erwerb und ohne festen Wohnort,
ganz dem Drange seiner Mission hingegeben. Er gab einem Armen achtlos
sein letztes kleines Geldstück, um dann selbst zu betteln. In den
Häusern der Reichsten verkehrte er unbefangen und freimütig, stets in
dasselbe anständige, doch überaus einfache Lodenkleid gehüllt, das
er auch auf seinen Fußwanderungen und Reisen trug. Seine Lehre war
ohne feste Dogmen, er liebte und empfahl vor allem Bedürfnislosigkeit
und Wahrhaftigkeit, so daß er auch die kleinste Höflichkeitslüge
verabscheute. Wenn er daher zu jemand, den er kennen lernte, sagte »Es
freut mich,« so galt das für eine Auszeichnung, und eben das hatte er
zu Reichardt gesagt.

Seit dieser den merkwürdigen und bedeutenden Mann gesehen hatte und
seinen Umgang genoß, wurde sein Verhältnis zu Agnes Weinland immer
lockerer und unsicherer. Der Prophet, von dem man sagte, er habe nie in
seinem Leben mit Frauen zu tun gehabt, war allerdings in Liebessachen
kein Kenner. Während jeder kluge Arzt oder Beichtvater einen jungen
Menschen, der mit sich unzufrieden ist, vor allem nach einer etwaigen
Liebe oder Brautschaft befragen würde, dachte van Vlissen daran
nicht. Er sah in Reichardt einen sympathischen und begabten jungen
Mann, der im Getriebe der Welt keinen rechten Platz finden konnte,
und den er keineswegs zu beruhigen und zu versöhnen dachte, denn er
liebte und brauchte solche Unzufriedene, deren Not er teilte und aus
deren Bedürfnis und Auflehnung er die Entstehung der besseren Zeiten
erwartete. Während dilettantische Weltverbesserer stets an ihren
eigenen Unzulänglichkeiten leiden, die sie der Weltordnung zuschreiben,
und über die sie niemals hinauskommen, war dieser holländische Prophet
gegen sein eigenes Wohl oder Wehe nahezu völlig unempfindlich und
richtete alle Kraft seiner Wünsche und seines Kopfes auf jene Übel,
die er als prinzipielle Feinde und Zerstörer menschlichen Friedens
ansah. Er haßte den Krieg und die Machtpolitik, er haßte das Geld und
den Luxus, und er sah seine Mission darin, seinen Haß auszubreiten und
aus dem Funken zur großen Flamme zu machen, damit sie einst das Übel
vernichte. In der Tat kannte er Hunderte und Tausende von notleidenden
und suchenden Seelen in der Welt, und seine Verbindungen mit solchen
reichten vom russischen Gutshofe des Grafen Tolstoi bis in die
Friedens- und Vegetarierkolonien an der südfranzösischen Küste und auf
Madeira.

Berthold verfiel der Anziehungskraft dieses Mannes vollkommen. Van
Vlissen hielt sich nur drei Wochen in München auf und wohnte bei einem
schwedischen Maler, in dessen Atelier er sich nachts eine Hängematte
ausspannte, und dessen mageres Frühstück er teilte, obwohl er genug
reiche Freunde hatte, die ihn mit Einladungen bedrängten. Öffentliche
Vorträge hielt er nicht, war aber von früh bis spät und selbst bei
Gängen auf der Straße umgeben von einem Kreise Gleichgesinnter oder
Ratsuchender, mit denen er einzeln oder in Gruppen redete, ohne zu
ermüden. Mit einer einfachen, volkstümlichen Dialektik wußte er alle
Propheten und Weisen als seine Bundesgenossen darzustellen und ihre
Sprüche als Belege für seine Lehre zu zitieren, nicht nur den heiligen
Franz, sondern ebenso Jesus selbst, Sokrates, Buddha, Konfuzius.
Hätte Berthold seine Reden irgendwo gedruckt gelesen, so hätten sie
vielleicht wenig Eindruck auf ihn gemacht, jedenfalls hätte er sofort
ihre ebenso schöne wie gefährliche Einseitigkeit erkannt. So aber
unterlag er willig dem Einfluß einer so starken und seltsam anziehenden
Persönlichkeit.

Wie ihm ging es auch hundert anderen, die sich in van Vlissens Nähe
hielten. Aber Reichardt war einer von den ganz Wenigen, die sich nicht
mit der Sensation und Stimmung des gegenwärtigen Augenblicks begnügten,
sondern eine ernstliche Umkehrung des Willens in sich erlebten, wozu es
gewiß keiner überlegenen Urteilskraft, wohl aber eines ungetrübten und
zarten sittlichen Empfindens bedarf.

In dieser Zeit besuchte er Agnes Weinland und ihre Mutter nur ein
einzigesmal. Die Frauen bemerkten die Veränderung seines Wesens
alsbald; seine fast knabenhafte Begeisterung, die doch keinen kleinsten
Widerspruch ertragen konnte, und die fanatisierte Gehobenheit seiner
Sprache mißfielen ihnen beiden, und indem er ahnungslos in seinem
glücklichen Eifer sich immer heißer und immer weiter von Agnes weg
redete, sorgte der böse Feind dafür, daß auch noch gerade heute ihn das
denkbar unglücklichste Thema beschäftigen mußte.

Dieses war die damals vielbesprochene Reform der Frauenkleidung,
welche von vielen Seiten fanatisch gefordert wurde, von Künstlern aus
ästhetischen Gründen, von Hygienikern aus hygienischen, von Ethikern
aus ethischen. Während eine lärmende Jugend, von manchen ernsthaften
Männern und Frauen bedeutsam unterstützt, gegen die bisherigen
Frauenkleider auftrat und der Mode ihre Lebensberechtigung absprach,
sah man freilich die schönen und eleganten Frauen der berühmten
Künstler, Ärzte und so weiter nach wie vor sich mit dem schönen
Schein dieser verfolgten Mode schmücken; und mochte es nun tiefer
begründet sein oder nur an mangelnder Gewöhnung der Augen liegen, diese
eleganten Frauen gefielen sich und der Welt entschieden besser als
die Erstlingsopfer der neuen Reform, die mutig in ungewohnten, fast
faltenlosen Kostümen einhergingen.

Reichardt nun stand neuerdings unbedingt auf der Seite der Reformer.
Die anfangs humoristischen, dann ernster werdenden und schließlich
leicht indignierten Einwürfe der beiden Damen beantwortete er nicht
gerade heftig oder unhöflich, aber in einem anmaßend überlegenen
Tone, wie ein Weiser, der zu Kindern spricht. Die alte Dame versuchte
mehrmals das Gespräch in andere Gleise zu lenken, doch vergebens, bis
schließlich Agnes mit Entschiedenheit sagte: »Sprechen wir nicht mehr
davon! Ich bin darüber erstaunt, Herr Doktor, wie viel Sie von diesem
Gebiet verstehen, auf dem ich mich auch ein wenig auszukennen glaubte,
denn ich mache alle meine Kleider selber. Da habe ich denn also, ohne
es zu ahnen, Ihre Gesinnungen und Ihren Geschmack durch meine Trachten
fortwährend beleidigt.«

Erst bei diesen Worten ward Reichardt inne, wie undelikat und anmaßend
sein Predigen gewesen sei, und errötend bat er um Entschuldigung.
»Meine Überzeugung zwar bleibt völlig bestehen,« sagte er ernsthaft,
»aber es ist mir tatsächlich niemals eingefallen, auch nur einen
Augenblick dabei an Ihre Person zu denken, die mir für solche Kritik
viel zu hoch steht. Auch muß ich gestehen, daß ich selbst wider meine
Anschauungen sündige, indem Sie mich in einer Kleidung sehen, deren
Prinzip ich verwerfe. Mit anderen Änderungen meiner Lebensweise, die
ich schon vorbereite, werde ich auch zu einer anderen Tracht übergehen,
mit deren Beschreibung ich Sie jedoch nicht belästigen darf.«

Unwillkürlich musterte bei diesen Worten Agnes seine Gestalt, die in
ihrer unauffällig eleganten Besuchskleidung recht hübsch und nobel
aussah, und sie rief mit einem Seufzer: »Sie werden doch nicht im Ernst
hier in München in einem Prophetenmantel herumlaufen wollen!«

»Nein,« sagte der Doktor, »ich begreife, daß dies lächerlich und
unnütz wäre. Aber ich habe eingesehen, daß ich überhaupt nicht in das
Stadtleben tauge, und will mich in Bälde auf das Land zurückziehen, um
in schlichter Tätigkeit ein einfaches und naturgemäßes Leben zu führen.«

Eine gewisse Befangenheit, der sie alle drei verfielen, lag lähmend
über der weiteren Unterhaltung, so daß Reichardt nach wenigen Minuten
Abschied nahm. Er reichte der Rätin die Hand, dann der Tochter, die
jedoch erklärte, ihn hinausbegleiten zu wollen. Sie ging, was sie
noch nie getan hatte, mit ihm in den engen Flur hinaus und wartete,
bis er im Überzieher war. Dann öffnete sie die Tür zur Treppe, und
als er ihr nun Abschied nehmend die Hand gab, hielt sie diese einen
Augenblick fest, sah ihn mit dunklen Augen aus dem erbleichten Gesicht
durchdringend an und sagte: »Tun Sie das nicht! Tun Sie nichts von dem,
was Ihr Prophet verlangt! Ich meine es gut.«

Unter ihrem halb flehenden, halb befehlenden Blick überlief ihn ein
süßer, starker Schauder von Glück, und im Augenblick mußte er es sich
wie eine selige Erlösung vorstellen, sein Leben dieser Frau in die
Hände zu geben. Er fühlte, wie weit aus ihrer spröden Selbständigkeit
sie ihm hatte entgegenkommen müssen, und einige Sekunden lang
schwankte, von diesem Wort und Blick erschüttert, das ganze Gebäude
seiner Gedankenwelt, als wolle es einstürzen.

Indessen hatte sie seine Hand losgelassen und leise die Türe hinter ihm
geschlossen.


4

Am folgenden Tag merkte van Vlissen wohl, daß sein Jünger unsicher
geworden und von fremden Einflüssen gestört war. Er sah ihm lächelnd
ins Gesicht, mit seinen merkwürdig klaren, doch leidvollen Augen, doch
tat er keine Frage und lud statt dessen, als sie einen Augenblick in
Reichardts Wohnung allein waren, ihn zu einem Spaziergange ein. Das
hatte er noch nie getan, und Berthold ließ alsbald einen Wagen kommen,
in dem sie weit vor die Stadt hinaus isaraufwärts fuhren. Im Walde
ließ van Vlissen halten und schickte den Wagen zurück. Der Wald stand
vorwinterlich verlassen unter dem bleichen grauen Himmel, es war weit
und still, nur aus großer Ferne her hörten sie die Axtschläge von
Holzhauern durch die graue Kühle klingen.

Auch jetzt begann der Apostel kein Gespräch. Er schritt mit leichtem,
wandergewohntem Gange dahin, aufmerksam mit allen Sinnen die Waldstille
einatmend und durchdringend. Wie er die Luft eintrank und den Boden
trat, wie er einem entfliehenden Eichhorn nachblickte und mit lautloser
Gebärde den Begleiter auf einen nahesitzenden Specht aufmerksam machte,
da war etwas still Zwingendes in seinem Wesen, eine ungetrübte Wachheit
und überall mitlebende Unschuld oder Güte, in welche der mächtige Mann
wie in einen Zaubermantel gehüllt ein Reich zu durchwandern schien,
dessen heimlicher König er war. Aus dem Walde tretend sahen sie weite
Äcker ausgebreitet, ein Bauer fuhr am Horizont langsam mit schweren
Gäulen dahin, und langsam begann van Vlissen zu sprechen, von Saat und
Ernte, von Erde und Dung und lauter bäuerlichen Dingen und entfaltete
in einfachen Worten ein Bild des ländlichen Lebens, das der stumpfe
Bauer unbewußt führe, das aber, von bewußten und dankbaren Menschen
geführt, voll Heiligung und Frieden und geheimer Kraft sein müsse.
Und der Jünger fühlte, wie die Weite und Stille und der ruhige große
Atem der ländlichen Natur Sprache gewann und sich seines Herzens
bemächtigte. Erst gegen Abend kehrten sie in die Stadt zurück.

Wenige Tage später fuhr van Vlissen zu Freunden nach Tirol, und
Reichhardt reiste mit ihm, und in einem schönen südlichen Tal kaufte er
einen Obstgarten und ein kleines, etwas verfallenes Weinberghäuschen,
in das er ohne Säumen einziehen wollte, um sein neues Leben zu
beginnen. Er trug ein einfaches Kleid aus grauem Loden, wie das des
Holländers, und fuhr in diesem Kleide auch nach München zurück, wo er
sein Zelt abbrechen und Abschied nehmen wollte.

Schon aus seinem langen Wegbleiben hatte Agnes geschlossen, daß ihr
Rettungsversuch vergeblich gewesen sei. Das stolze Mädchen war betrübt,
den Mann und die an ihn geknüpften Hoffnungen zu verlieren, doch nicht
minder in ihrem Selbstgefühl verletzt, sich einer Grille wegen von
ihm verschmäht zu sehen, dem sie nicht ohne Selbstüberwindung so weit
entgegengekommen war.

Als jetzt Berthold Reichardt gemeldet wurde, hatte sie alle Lust, ihn
gar nicht zu empfangen, bezwang jedoch ihre Verstimmung und sah ihm
ohne eigentliche Hoffnung, doch mit einer gewissen erregten Neugierde
entgegen. Die Mutter lag im rückwärtigen Zimmer mit einer Erkältung zu
Bette.

Mit Verwunderung sah Agnes den Mann eintreten, um den sie mit
einem Luftgespinste zu kämpfen hatte, und der nun etwas verlegen
und wunderlich verändert vor ihr stand. Er trug nämlich die Tracht
van Vlissens, Wams und Beinkleider von grobem Filztuch, statt
steifgebügelter Wäsche ein Hemd aus naturfarbenem Linnen mit einem
ziemlich breiten weichen Halskragen.

Agnes, die ihn nie anders als im schwarzen Besuchsrock oder im
modischen Straßenanzug gesehen hatte, betrachtete ihn einen Augenblick
mit Enttäuschung und Staunen, dann bot sie ihm einen Stuhl an und sagte
mit einem kleinen Anklang von Spott: »Sie haben sich verändert, Herr
Doktor.«

Er lächelte befangen und sagte: »Allerdings, und Sie wissen ja auch,
was diese Veränderung bedeutet. Ich komme, um Abschied zu nehmen, denn
ich übersiedele dieser Tage nach meinem kleinen Gute in Tirol.«

»Sie haben Güter in Tirol? Davon wußten wir ja gar nichts.«

»O, es ist nur ein Garten und Weinberg, und gehört mir erst seit
einer Woche. Sie haben die große Güte gehabt, sich um mein Vorhaben
und Ergehen zu kümmern, darum glaube ich Ihnen darüber Rechenschaft
schuldig zu sein. Oder darf ich nun auf jene liebe Teilnahme nicht mehr
rechnen?«

Agnes Weinland zog die Brauen zusammen und sah ihn an.

»Ihr Ergehen,« sagte sie leise und klar, »hat mich interessiert, so
lange ich so etwas wie einen tätigen Anteil daran nehmen konnte. Für
die Versuche mit Tolstoischer Lebensweise, die Sie vorhaben, kann ich
aber leider nur wenig Interesse aufbringen.«

»Seien Sie nicht zu strenge!« sagte er bittend. »Aber wie Sie auch von
mir denken mögen, Fräulein Agnes, ich werde Sie nicht vergessen können,
und ich hoffe von Herzen, Sie werden mir das, was ich tue, verzeihen,
sobald Sie mich hierin ganz verstehen.«

»O, zu verzeihen habe ich Ihnen nichts.«

Berthold beugte sich vor und fragte leise: »Und wenn wir beide guten
Willens wären, glauben Sie nicht, daß Sie dann vielleicht diesen Weg
mit mir gemeinsam gehen könnten?«

Sie stand auf und sagte ohne Erregung: »Nein, Herr Reichardt, das
glaube ich nicht. Ich kann Ihnen alles Glück wünschen. Aber ich bin in
all meiner Armut gar nicht so unglücklich, daß ich Lust hätte, einen Weg
zu teilen, der aus der Welt hinaus ins Unsichere führt.«

Und plötzlich aufflammend rief sie fast heftig: »Gehen Sie nur Ihren
Weg! Gehen Sie ihn!«

Mit einer zornigstolzen, prachtvollen Gebärde lud sie ihn ein sich zu
verabschieden, was er betroffen und bekümmert tat, und indessen er
draußen die Türe öffnete und schloß und die Treppe hinabstieg, hatte
sie, die seine Schritte verklingen hörte, genau dasselbe wunderlich
bittere und hoffnungslose Gefühl im Herzen wie der davongehende Mann,
als gehe hier einer Torheit wegen eine schöne und köstliche Sache
zugrunde; nur daß jedes dabei der Torheit des andern dachte.


5

Es begann jetzt Berthold Reichardts Martyrium. In den ersten Anfängen
sah es gar nicht übel aus. Wenn er ziemlich früh am Morgen das Lager
verließ, das er sich selber bereitete, schaute durch das kleine
Fenster seiner Schlafkammer das stille morgendliche Tal herein, an
dessen tiefster Stelle die Sonne hervortrat. Der Tag begann mit
angenehmen und kurzweiligen Betätigungen des Einsiedlerlehrlings, mit
dem Waschen oder auch Baden im Brunnentrog, je nach der Wärme des
Tages, mit dem Feuermachen im Steinherde, dem Herrichten der Kammer,
Milchkochen und trinken. Sodann erschien, alle Tage pünktlich zu
seiner Stunde, der Knecht und Lehrmeister, Ratgeber und Minister Xaver
aus dem Dorfe, der auch das Brot mitbrachte. Mit ihm ging Berthold
nun an die Arbeit, bei gutem Wetter im Freien, sonst im Holzschuppen
oder in der Stube. Emsig lernte er unter des Knechtes Anleitung die
wichtigsten Geräte handhaben, die Gais melken und füttern, den Boden
graben, Obstbäume putzen, den Gartenzaun flicken, Scheitholz für den
Herd spalten und Reisig für den Ofen bündeln, und war es kalt und wüst,
so wurden im Hause Wände und Fenster verstopft, Körbe und Strohseile
geflochten, Spatenstiele geschnitzt und ähnliche Dinge betrieben, wobei
der Knecht vergnügt seine Holzpfeife rauchte und aus dem dichten Gewölk
hervor eine Menge Geschichten erzählte.

Während aber dem Knechte dies Leben als ein leichtes und halbmüßiges
wohlgefiel, offenbarte es dem Herrn die kräftige Würze der Arbeit, die
ihm nicht minder gefiel und wohltat. Wenn er mit dem von ihm selbst
gespaltenen Holze in der urtümlichen Feuerstelle unterm riesigen
schwarzen Schlunde des Küchenrauchfanges Feuer anmachte und das Wasser
oder die Milch im viel zu großen Hängekessel zu sieden begann, dann
konnte er ein robustes Lebensgefühl robinsonschen Behagens in den
Gliedern spüren, das er seit fernen Knabenzeiten nicht gekannt hatte,
und in dem er schon die ersten Atemzüge der ersehnten inneren Erlösung
zu kosten meinte.

In der Tat mag es für den Kulturmenschen und Städter nichts
Erfrischenderes geben als eine Weile mit bäuerlicher Arbeit zu spielen,
die Gedanken ruhen zu lassen und die Glieder zu ermüden, früh schlafen
zu gehen und früh aufzustehen. Es lassen sich jedoch ererbte und
erworbene Gewohnheiten und Bedürfnisse nicht wie Hemden wechseln,
und wer seit Schülerzeiten gelernt hat, vorwiegend mit dem Gehirn zu
arbeiten, der kann kein Kleinbauer mehr werden. Diese Binsenwahrheit
mußte auch Reichardt erfahren.

Seine Abende brachte er allein im Häuschen zu, dann ging der Knecht
mit seinem guten Tagelohn nach Hause oder ins Wirtshaus, um unter
seinesgleichen froh zu sein und von dem Treiben seines wunderlichen
Brotgebers zu erzählen; der Herr aber saß bei der Lampe und las in den
Büchern, die er mitgebracht hatte, und die vom Garten- und Obstbau
handelten. Diese vermochten ihn aber nicht lange zu fesseln. Er las und
lernte gläubig, daß das Steinobst die Neigung hat, mit seinen Wurzeln
in die Breite zu gehen, das Kernobst aber mehr in die Tiefe, und daß
dem Blumenkohl nichts so bekömmlich sei wie eine gleichmäßige feuchte
Wärme. Er interessierte sich auch noch dafür, daß die Samen von Lauch
und Zwiebeln ihre Keimkraft nach zwei Jahren verlieren, während die
Kerne von Gurken und Melonen ihr geheimnisvolles Leben bis ins sechste
Jahr behalten. Bald aber ermüdeten und langweilten ihn diese Dinge, die
er von Xaver doch besser lernen konnte, und er gab diese Lektüre auf.

Dafür nahm er jetzt einen kleinen Bücherstoß hervor, der sich in der
letzten münchener Zeit bei ihm angesammelt, da er dies und jenes
Zeitbuch auf dringende Empfehlungen hin gekauft hatte, zum Lesen aber
nie gekommen war. Nun schien ihm die Zeit gekommen, diese Kleinode
in Stille und Sammlung auf sich wirken zu lassen. Beim Ordnen dieser
Bücher und Schriften fielen ihm freilich einige in die Hände, die
er als unnütz beiseite tat, denn sie stammten aus den Tagen seines
Verkehrs mit Hans Konegen und handelten von »Ornament und Symbol«, vom
»Stil der Zukunft« und ähnlichen Materien. Dann folgten zwei Bändchen
von Tolstoi, van Vlissens Abhandlung über den Heiligen von Assisi,
Schriften wider den Alkohol, wider die Laster der Großstadt, wider den
Luxus, den Industrialismus, den Krieg.

Von diesen Büchern fühlte sich der junge Weltflüchtige wieder
kräftig und wohltätig in allen seinen Prinzipien bestätigt, er
sog sich mit erbittertem Vergnügen voll an der Philosophie der
Unzufriedenen, Asketen und Idealisten, aus deren Schriften her ein
feiner Heiligenschein über sein eigenes jetziges Leben fiel. Und als
nun bald der Frühling begann, erlebte Berthold mit Wonne den Segen
natürlicher Arbeit und Lebensweise, er sah unter seinem Rechen
hübsche Beete entstehen, tat zum erstenmal in seinem Leben die schöne,
vertrauensvolle Arbeit des Säens und hatte seine Lust am Keimen und
Gedeihen der Gewächse. Die Arbeit hielt ihn jetzt bis weit in die
Abende hinein gefangen, die müßigen Stunden wurden selten, und in
den Nächten schlief er tief und rastbedürftig wie ein rechter Bauer.
Wenn er jetzt, in einer Ruhepause auf den Spaten gestützt oder am
Brunnen das Vollwerden der Gießkanne abwartend, an Agnes Weinland
denken mußte, so zog sich wohl sein Herz ein wenig zusammen, aber
das Leiden war ohne Verzweiflung, und er dachte es mit der Zeit wohl
vollends zu überwinden, denn er meinte, es wäre doch töricht und schade
gewesen, hätte er sich von dieser Liebe verführen und in der argen Welt
zurückhalten lassen.

Dazu kam, daß von der Zeit des Wonnemonats an sich auch die Einsamkeit
mehr und mehr verlor wie ein Winternebel. Von dieser Zeit an erschienen
je und je unerwartete, freundlich aufgenommene Gäste verschiedener
Art, lauter fremde Menschen, von denen er nie gewußt hatte, und deren
eigentümliche Klasse er nun kennen lernte, da sie alle aus unbekannter
Quelle seine Adresse wußten und keiner ihres Ordens durch das Tal
zog, ohne ihn heimzusuchen. Es waren dies verstreute Angehörige jener
großen Schar von Sonderlingsexistenzen, die außerhalb der gewöhnlichen
Weltordnung ein kometenhaftes Wanderleben führen, und deren einzelne
Typen nun Berthold allmählich unterscheiden lernte. Denn ihrer sind
viele, aber sie lassen sich ordnen und einteilen und bilden Klassen und
Gruppen wie andere Lebewesen auch.

Der erste, der sich zeigte, war ein ziemlich bürgerlich aussehender
Mann oder Herr aus Leipzig, der die Welt mit Vorträgen über die
Gefahren des Alkohols bereiste und auf einer Ferientour unterwegs war.
Er blieb nur eine Stunde oder zwei, hinterließ aber bei Reichardt ein
angenehmes Gefühl, er sei nicht völlig in der Welt vergessen und gehöre
einer heimlichen Gemeinschaft edel strebender Menschen an.

Der nächste Besucher sah schon aparter aus, es war ein regsamer,
begeisterter Herr in einem weiten altmodischen Gehrocke, zu welchem
er keine Weste, dafür aber ein Jägerhemd, gelbe karrierte Beinkleider
und auf dem Kopfe einen hellbraunen, malerisch breitrandigen Filzhut
trug. Dieser Mann, welcher sich Salomon Adolfus Wolff nannte, benahm
sich mit einer so leutseligen Fürstlichkeit und nannte seinen Namen so
bescheiden lächelnd und alle zu hohen Ehrbezeugungen im voraus etwas
nervös ablehnend, daß Reichardt in eine kleine Verlegenheit geriet, da
er ihn nicht kannte und seinen Namen nie gehört hatte.

Der Fremde war, soweit aus seinem eigenen Berichte hervorging, ein
hervorragendes Werkzeug Gottes und vollzog wundersame Heilungen, wegen
deren er zwar von Ärzten und Gerichten beargwohnt und angefeindet, ja
grimmig verfolgt, von der kleinen Schar der Weisen und Gerechten aber
desto höher verehrt wurde. Er hatte soeben in Italien einer Gräfin,
deren Namen er nicht verraten dürfe, durch bloßes Händeauflegen das
schon verloren gegebene Leben wiedergeschenkt. Nun war er, als ein
Verächter der modernen Hastigkeit und häßlichen Eile, zu Fuß auf
dem Rückwege nach der Heimat, wo ihn zahlreiche Bedürftige sehnlich
erwarteten. Leider sehe er sich die Reise durch Geldmangel erschwert,
denn es sei ihm unmöglich, für seine Heilungen anderen Entgelt
anzunehmen, als die Dankestränen der Genesenen, und er schäme sich
daher nicht, seinen Bruder Reichardt, zu welchem Gott ihn gewiesen,
um ein kleines Darlehen zu bitten, welches nicht seiner Person -- an
welcher nichts gelegen sei -- sondern eben den auf seine Rückkunft
harrenden Bedürftigen zugute kommen sollte.

Das Gegenteil dieses Heilandes stellte ein junger Mann von russischem
Aussehen vor, welcher eines Abends vorsprach, und dessen feine
Gesichtszüge und Hände in Widerspruch standen mit seiner äußerst
dürftigen Arbeiterkleidung und den zerrissenen groben Schuhen. Er
sprach nur wenige Worte deutsch, und Reichardt erfuhr nie, ob er
einen verfolgten Anarchisten, einen heruntergekommenen Künstler oder
einen Heiligen beherbergt habe. Der Fremdling begnügte sich damit,
einen glühend forschenden Blick in Reichardts Gesicht zu tun und ihn
dann mit einem geheimen Signal der aufgehobenen Hände zu begrüßen. Er
ging schweigend durch das ganze Häuschen, von dem verwunderten Wirte
gefolgt, zeigte dann auf eine leerstehende Kammer mit einer breiten
Wandbank und fragte demütig: »Ich hier kann schlafen?« Reichardt
nickte, lud den Mann zur Abendsuppe ein und machte ihm auf jener Bank
ein Nachtlager zurecht, ohne daß der Fremde noch ein Wort gesprochen
hätte. Am nächsten Morgen nahm er noch eine Tasse Milch an, sagte mit
tiefem Gurgelton »Danke« und ging fort.

Bald nach ihm erschien ein halbnackter Vegetarier, der erste einer
langen Reihe von Pflanzenessern, in Sandalen und einer Art von
baumwollener Hemdhose. Er hatte, wie die meisten Brüder seiner Zunft,
außer einiger Arbeitsscheu keine Laster, sondern war ein lieber,
kindlicher Mensch von rührender Bedürfnislosigkeit, der in seinem
sonderbaren Gespinste von hygienischen und sozialen Erlösungsgedanken
ebenso frei und natürlich dahinlebte, wie er äußerlich seine etwas
theaterhafte Wüstentracht nicht ohne Würde trug.

Dieser einfache, kindliche Mann machte Eindruck auf Reichardt.
Er predigte nicht Haß und Kampf, sondern war in stolzer Demut
überzeugt, daß auf dem Grunde seiner Lehre ganz von selbst ein neues
paradiesisches Menschendasein erblühen werde, dessen er selbst sich
schon teilhaftig fühlte. Sein oberstes Gebot war: »Du sollst nicht
töten!«, was er nicht nur auf Mitmenschen und Tiere bezog, sondern
als eine grenzenlose Verehrung alles Lebendigen auffaßte. Ein Tier
zu töten, schien ihm scheußlich, und er glaubte fest daran, daß nach
Ablauf der jetzigen Periode von Entartung und Blindheit die Menschheit
von diesem Verbrechen wieder völlig ablassen werde. Er fand es aber
auch mörderisch, Blumen abzureißen und Bäume zu fällen; von allen
Gaben der Natur schienen ihm nur die Früchte dem Menschen bestimmt
und erlaubt zu sein, welche man auch essen könne, ohne den Gewächsen
zu schaden. Reichardt wandte ein, daß wir, ohne Bäume zu fällen, ja
keine Häuser bauen könnten, worauf der Frugivore eifrig nickte: »Ganz
recht! Wir sollen ja auch keine Häuser haben, so wenig wie Kleider,
das alles trennt uns von der Natur und führt uns weiter zu allen den
Bedürfnissen, um deren willen Mord und Krieg und alle Laster entstanden
sind.« Und als Reichardt wieder einwarf, es möchte sich kaum irgendein
Mensch finden, der in unserem Klima ohne Haus und ohne Kleider einen
Winter überleben könnte, da lächelte sein Gast abermals freudig und
sagte: »Gut so, gut so! Sie verstehen mich ausgezeichnet. Eben das ist
ja die Hauptquelle alles Elends in der Welt, daß der Mensch seine Wiege
und natürliche Heimat im Schoß Asiens verlassen hat. Dahin wird der Weg
der Menschheit zurückführen, und dann werden wir alle wieder im Garten
Eden sein.«

Berthold hatte, trotz der offenkundigen Untiefen, eine gewisse Freude
an dieser idyllisch harmlosen Philosophie, die er noch von manchen
anderen Verkündern in anderen Tönungen zu hören bekam, und er hätte
ein Riese sein müssen, wenn nicht allmählich jedes dieser Bekenntnisse
ihm, der außerhalb der Welt lebte, bleibende Eindrücke gemacht und
sein eigenes Denken gefärbt hätte. Die Welt, wie er sie jetzt sah und
nicht anders sehen konnte, bestand aus dem kleinen Kreise primitiver
Tätigkeiten, denen er oblag, darüber hinaus war nichts vorhanden als
auf der einen Seite eine verderbte, verfaulende und daher von ihm
verlassene Kultur, auf der anderen eine über die Welt verteilte kleine
Gemeinde von Zukünftigen, welcher er sich zurechnen mußte, und zu der
auch alle die Gäste zählten, deren manche tagelang bei ihm blieben und
gegen deren drollige Außenseite er bald abgestumpft war, während ihr
Glauben und Hoffen, ihr Aberglaube und Fanatismus die Luft war, in der
sein Geist atmete.

Nun begriff er auch wohl den sonderbar religiös-schwärmerischen
Anhauch, den alle diese seine Gäste und Brüder hatten. Askese und
Mönchtum, Sektenwesen und Ekstase waren nicht Erscheinungen gewisser
Zeiten und Religionen, sondern immer und überall in tausend Formen
unter den Menschen vorhanden gewesen und heute noch da, und alle diese
Wanderer, Prediger, Asketen und Phantasten gehörten in diesen Kreis.
Sie waren das Salz der Erde, die Umschaffenden und Zukunftbringenden,
geheime geistige Kräfte hatten sich mit ihnen verbündet, von den
Fasten und Mysterien der Ägypter und Inder bis zu den Phantasien der
langhaarigen Obstesser und den Heilungswundern der Magnetiseure oder
Gesundbeter.

Daß aus diesen Erlebnissen und Beobachtungen alsbald wieder eine
systematische Theorie oder Weltanschauung werde, dafür sorgte nicht
nur des Doktors eigenes Geistesbedürfnis, sondern auch eine ganze
Literatur von Schriften, die ihm von diesen Gästen teils mitgebracht,
teils zugesandt, teils als notwendig empfohlen wurden. Eine
seltsame Bibliothek entstand in dem kleinen Häuschen, beginnend mit
vegetarischen Kochbüchern und endend mit den tollsten mystischen
Systemen, über Christentum, Platonismus, Gnostizismus, Spiritismus
und Theosophie hinweg alle Gebiete geistigen Lebens in einer allen
diesen Autoren gemeinsamen Neigung zu okkultistischer Wichtigtuerei
umfassend. Der eine Autor wußte die Identität der pythagoreischen Lehre
mit dem Spiritismus darzutun, der andere Jesus als Verkündiger des
Vegetarismus zu deuten, der dritte das lästige Liebesbedürfnis als eine
Übergangsstufe der Natur zu erweisen, welche sich der Fortpflanzung nur
vorläufig bediene, in ihren Endabsichten aber die wandellose leibliche
Unsterblichkeit der Individuen anstrebe.

Mit den vielen Bekanntschaften dieses Sommers und Herbstes und mit
dieser Büchersammlung fand sich Berthold schließlich bei rasch
abnehmenden Tagen seinem zweiten tiroler Winter gegenübergestellt. Mit
dem Eintritt der kühlen Zeit und der Herbständerung der Fahrpläne hörte
nämlich der Gästeverkehr, an den er sich gewöhnt hatte, urplötzlich auf
wie mit der Schere abgeschnitten. Die Apostel und Brüder saßen jetzt
entweder still im eigenen Winternest oder hielten sich, soweit sie
heimatlos von Wanderung und Bettel lebten, an andere Gegenden und an
die Adressen städtischer Gesinnungsgenossen.

Um diese Zeit las Reichardt in der einzigen Zeitung, die er bezog, die
Nachricht von dem Tode des Eduard van Vlissen. Der hatte in einem
Dorf an der russischen Grenze, wo er der Cholera wegen in Quarantäne
gehalten, aber kaum bewacht wurde, in der Bauernschenke gegen den
Schnaps gepredigt und war im ausbrechenden Tumult erschlagen worden.


6

Vereinsamt sah Berthold dem Einwintern in seinem Tale zu. Seit
einem Jahre hatte er sein Stücklein Boden nimmer verlassen und sich
zugeschworen, auch ferner dem Leben der Welt den Rücken zu kehren. Die
Genügsamkeit und erste Kinderfreude am Neuen war aber nicht mehr in
seinem Herzen, er trieb sich viel auf mühsamen Spaziergängen im Schnee
herum, denn der Winter war viel härter als der vorjährige, und überließ
die häusliche Handarbeit immer häufiger dem Xaver, der sich längst in
dem kleinen Haushalt unentbehrlich wußte und das Gehorchen so ziemlich
verlernt hatte.

Mochte sich aber Reichardt noch so viel draußen herumtreiben, so mußte
er doch alle die unendlich langen, stillen, toten Abende allein in
der Hütte sitzen, und ihm gegenüber mit furchtbaren großen Augen saß
die Einsamkeit wie ein Wolf, den er nicht anders zu bannen wußte als
durch ein stetes waches Starren in seine leeren Augen, und der ihn
doch von hinten überfiel, so oft er den Blick abwandte. Die Einsamkeit
saß nachts auf seinem Bett, wenn er durch leibliche Ermüdung den
Schlaf gefunden hatte, und vergiftete ihm Schlaf und Träume. Und
wenn am Abend der Knecht das Haus verließ und mit wohligen Schritten
pfeifend durch den Obstgarten hinab gegen das Dorf verschwand, sah
ihm sein Herr nicht selten mit nacktem Neide nach. Für unbefestigte
Menschen ist nichts gefährlicher und seelenmordender als die beständige
Beschäftigung mit dem eigenen Wesen und Ergehen, dem eigenen Leben,
der eigenen einsamen Unzufriedenheit und Schwäche. Die ganze Krankheit
dieses Zustandes mußte nun der gute Eremit an sich erleben, und durch
die Lektüre so manches mystischen Buches geschult konnte er nun an sich
selbst beobachten, wie unheimlich wahr alle die vielen Legenden von
den Nöten und Versuchungen der frommen Einsiedler in der Wüste Thebais
waren. Von den Entrückungen und dem Einswerden mit dem Herzschlag der
Natur, welche jene Heiligen ihrer Askese verdankten, wurde ihm nichts
zuteil, es sei denn der bitter traurige Einsamkeitsstolz des freiwillig
Ausgeschlossenen, der allein ihn aufrecht hielt.

So brachte er trostlose Monate hin, dem Leben entfremdet und an der
Wurzel der Seele krank. Er sah übel aus, und seine früheren Freunde
hätten ihn nicht mehr erkannt; denn über dem wetterfarbenen, aber
eingesunkenen Gesichte war Bart und Haar lang gewachsen, und aus dem
hohlen Gesicht brannten hungrig und durch die Einsamkeit scheu geworden
die Augen, als hätten sie niemals gelacht und niemals sich unschuldig
an der Buntheit der Welt gefreut.

Ein einziges Mal suchte er, als ihm das Alleinsein in einer schlimmen
Stunde unerträglich wurde, das Dorfwirtshaus auf. Sauber gebürstet
und gekämmt, doch fremd und wunderlich trat er in die Stube, setzte
sich an einen Tisch und ließ sich Wein bringen, von dem er nur wenige
Tropfen in ein Glas Wasser goß; und die Stille bei seinem Eintritt,
das einsilbige Grüßen und nachherige Wegrücken der Tischnachbarn, das
verhaltene Lachen am Nebentische machten ihn sofort verzagt und ließen
ihn bereuen, daß er gekommen war. Ach nein, er war kein Prophet wie
van Vlissen, der unter Menschen jeder Art seine Überlegenheit bewahrt
hatte! Bedrückt und beinahe weinend vor Enttäuschung und Schwächegefühl
ging er bald wieder davon.

Es blies schon der erste Föhnwind, da brachte eines Tages der Knecht
mit der Zeitung auch einen kleinen Brief herauf, die gedruckte
Einladung zu einer Versammlung aller derer, die mit Wort oder Tat
sich um eine Reform des Lebens und der Menschheit mühten. Die
Versammlung, zu deren Einberufung theosophische, vegetarische und
andere Gesellschaften sich vereinigt hatten, sollte zu Ende des Februar
in München abgehalten werden. Wohlfeile Wohnungen und fleischfreie
Kosttische zu vermitteln erbot sich ein dortiger Verein.

Mehrere Tage schwankte Reichardt ungewiß, ob ihm diese Einladung eine
Erlösung oder Versuchung bedeute, dann aber faßte er seinen Entschluß
und meldete sich in München an. Und nun dachte er drei Wochen lang an
nichts anderes als an dieses Unternehmen. Schon die Reise, so einfach
sie war, machte ihm, der länger als ein Jahr eingesponnen hier gehaust
hatte, Gedanken und Sorgen; er ließ sich ein Kursbuch kommen und las
nachdenklich die Namen der Haltestellen und Umsteigestationen, die er
von mancher sorglosen Reise der früheren Zeiten her kannte. Gern hätte
er auch zum Bader geschickt und sich Bart und Haar zuschneiden lassen,
doch scheute er davor zurück, da es ihm als eine feige Konzession
an die Weltsitten erschien, und da er wußte, daß manche der ihm
befreundeten Sektierer auf nichts einen so hohen Wert legten wie auf
die religiös eingehaltene Unbeschnittenheit des Haarwuchses. Dafür ließ
er sich im Dorfe einen neuen Anzug machen, gleich in Art und Schnitt
wie sein van Vlissensches Büßerkleid, aber von gutem Tuche, und einen
langen, landesüblichen Lodenkragen als Mantel.

Am vorbestimmten Tage verließ er früh am kalten Morgen sein Häuschen,
dessen Schlüssel er im Dorf bei Xaver abgab, und wanderte in der
Dämmerung das stille Tal hinab bis zum nächsten Bahnhof. Da saß er nun
im Wartesaal, von Marktfrauen und Bauernburschen neugierig beobachtet,
und aß sein mitgebrachtes Frühstück. Gar gerne wäre er in der zweiten
oder ersten Klasse gefahren, nicht so sehr aus alter Gewohnheit als um
weniger beobachtet unter diskreten Mitreisenden zu sitzen; aber die
Schändlichkeit eines solchen Rückfalles in Luxus und Weltrücksicht
war einleuchtend, und er ließ davon ab. Mit Hilfe zweier schöner
Äpfel, die von seinem Imbiß übrig waren, machte er sich die Kinder
einer Bauernfrau zu Freunden und kam mit den Leuten in ein leidliches
Gespräch, das ihm wohltat und Mut machte. Er stieg mit in ihren Wagen
und nahm beim Anschluß an die Hauptbahnlinie in Freundschaft Abschied.
Nun saß er geborgen und mit einer lang nicht mehr gekosteten frohen
Reiseunruhe im Münchener Zug und fuhr aufmerksam durch das schöne Land,
unendlich froh, dem unerträglichen heimischen Zustand für ungewisse
Tage entronnen zu sein. Von Kufstein an wuchs seine Erregung. Wie war
das wunderlich, daß Kufstein und Rosenheim und München und die ganze
alte Welt noch unverändert und gleichmütig dastand, und daß alles
das, was er sich aus dem Herzen gerissen und in höheren Erkenntnissen
ertränkt hatte, doch eben noch da war und lebte!

Es war der Tag vor dem Beginn der Versammlung, und es begrüßten
den Ankommenden gleich am Bahnhof die ersten Zeichen derselben.
Aus einem Zug, der mit dem seinen zugleich ankam, stieg eine ganze
Gesellschaft von Naturverehrern in malerisch exotischen Kostümen
und auf Sandalen, mit Christusköpfen und Apostelköpfen, und mehrere
Entgegenkömmlinge gleicher Art aus der Stadt begrüßten die Brüder,
bis alle sich in einer ansehnlichen Prozession in Bewegung setzten.
Reichardt, den ein ebenfalls heute zugereister Buddhist, einer seiner
Sommerbesuche, erkannt hatte, mußte sich anschließen, und so hielt
er seinen Wiedereinzug in München in einem Aufzug von Erscheinungen,
deren Absonderlichkeit ihm hier im Straßenbilde augenblicklich peinlich
störend auffiel. Unter dem lauten Vergnügen einer nachfolgenden
Knabenhorde und den belustigten Blicken aller Vorübergehenden wallte
die seltsame Schar stadteinwärts zur Begrüßung im Empfangssaale.

Reichardt erfragte so bald als möglich die ihm zugewiesene Wohnung
und bekam einen Zettel mit der Adresse in die Hand gedrückt. Er
verabschiedete sich, nahm an der nächsten Straßenecke einen Wagen
und fuhr, ermüdet und verwirrt, nach der ihm unbekannten Straße. Da
rauschte um ihn her das Leben der wohlbekannten Stadt, die ihn nichts
mehr angehen sollte, da standen die Ausstellungsgebäude, in denen er
einst mit dem Maler Konegen Kunstkritik getrieben hatte, dort lag
seine ehemalige Wohnung, mit erleuchteten Fenstern, da drüben hatte
früher der Justizrat Weinland gewohnt. Er aber war vereinsamt und
beziehungslos geworden und hatte nichts mehr mit alledem zu tun, und
doch bereitete jede von den wieder erweckten Erinnerungen ihm einen
leisen süßen Schmerz. Und in den Straßen lief und fuhr das Volk wie
ehemals und immer, als sei nichts Arges dabei und sei keine Sorge noch
Gefahr in der Welt, elegante Wagen fuhren auf lautlosen Rädern zu den
Theatern, und Soldaten hatten ihre Mädel am Arm.

Das alles erregte den Einsamen, das wogende rötliche Licht, das im
feuchten Pflaster sich mit froher Eitelkeit abspiegelte, und das
Gesumme der Wagen und Schritte, das ganze wie selbstverständlich
spielende Getriebe. Da war Laster und Not, Luxus und Selbstsucht, aber
da war auch Freude und Glanz, Geselligkeit und Liebe, und vor allem
war da die naive Rechenschaftslosigkeit und gleichmütige Lebenslust
einer Welt, deren mahnendes Gewissen er hatte sein wollen, und die ihn
einfach beiseite getan hatte, ohne einen Verlust zu fühlen, während
sein bißchen Glück darüber in Scherben gegangen war. Und dies alles
sprach zu ihm, zog mit ungelösten Fäden an seinen Gefühlen und machte
ihn traurig.

Sein Wagen hielt vor einem großen Mietshause, seinem Zettel folgend
stieg er zwei Treppen hinan und wurde von einer kleinen roten Frau,
die ihn fast mißtrauisch musterte, in ein überaus kahles Zimmerchen
geführt, das ihn kalt und ungastlich empfing.

»Für wieviel Tage ist es?« fragte die Vermieterin kühl und bedeutete
ihm ohne Zartheit, daß das Mietgeld im Voraus zu erlegen sei.

Unwillig zog er die Geldtasche und fragte, während sie auf die Zahlung
lauerte, nach einem besseren Zimmer.

»Für anderthalb Mark im Tag gibt es keine besseren Zimmer, in ganz
München nicht,« sagte die Frau kurz und sachlich. Nun mußte er lächeln.

»Es scheint hier ein Mißverständnis zu walten,« sagte er rasch. »Ich
suche ein schönes, großes, bequemes Zimmer, nicht eine Schlafstelle.
Die Herren, die hier für mich bestellt haben, waren so freundlich,
meine Börse möglichst schonen zu wollen. Mir liegt aber nichts am
Preise, wenn Sie ein schöneres Zimmer haben.«

Die Vermieterin ging wortlos durch den Korridor voran, öffnete ein
anderes Zimmer, drehte das elektrische Licht an und sagte: »Das hier
wäre noch frei, das kostet aber dreieinhalb.«

Zufrieden sah der Gast sich in dem weit größeren und wohnlich, fast
behaglich eingerichteten Zimmer um, legte den Mantel ab, gab der Frau
ihr Geld für einige Tage voraus und sah erst nachträglich, als er
in dem fremden Raume umherging und sich auszukleiden begann, daß er
allerdings als ein Fremder in höchst uneleganter Kleidung ohne anderes
Gepäck als den Rucksack kaum Ansprüche auf einen besseren Empfang
machen durfte.


7

Erst am Morgen, da er in dem ungewohnt weichen fremden Bett erwachte
und sich auf den vorigen Abend besann, ward ihm bewußt, daß seine
Unzufriedenheit mit der einfachen Schlafstelle und sein herrenmäßiges
Verlangen nach größerer Bequemlichkeit eigentlich wider sein Gewissen
sei. Allein er nahm es sich nicht zu Herzen, stieg vielmehr munter aus
dem Bette und sah dem Tag mit Spannung entgegen. Früh ging er aus,
und beim nüchternen Gehen durch die noch ruhigen Straßen erkannte
er auf Schritt und Tritt bekannte Bilder wieder, mit einer gewissen
frohen Dankbarkeit, die ihn selbst überraschte. Es war herrlich, hier
umherzugehen und als kleiner Mitbewohner dem großen Mechanismus einer
schönen Stadt anzugehören, statt im verzauberten Ring der Einsamkeit zu
lechzen und immer nur vom eigenen Gehirn zu zehren. Sogar die weither
ertönenden Morgenpfeifen der Fabriken klangen ihm nicht häßlich und
erinnerten ihn nicht an Not und Industriesünden, sondern erzählten nur,
daß jetzt überall Menschen an ihre Arbeit gingen.

Die großen Kaffeehäuser und Läden waren noch geschlossen, er suchte
daher eine volkstümliche Frühstückshalle, um eine Schale Milch zu
genießen.

»Kaffee gefällig?« fragte der Kellner und begann schon einzugießen.
Lächelnd ließ Reichardt ihn gewähren und roch mit heimlichem Vergnügen
den Duft des Trankes, den er ein Jahr lang entbehrt hatte. Doch ließ er
es bei diesem kleinen Genusse bewenden, aß nur ein Stück Brot dazu und
nahm eine Zeitung zur Hand.

Da fand er bald einen kurzen Artikel, in dem die heutige Versammlung
angekündigt und begrüßt wurde. Man sei gespannt, hieß es, auf
diesen Kongreß von Menschen, die ein redliches Bemühen um wichtige
Lebensfragen vereine, und man hoffe, es werde aus dem Vielerlei
widerstreitender Bekenntnisse sich ein brauchbarer Niederschlag
gemeinsamer Grundgedanken ergeben. Mit leisem Spott wurde einiger
Extravaganzen und Drolligkeiten gedacht und mit Aufrichtigkeit
bedauert, daß die Mehrzahl dieser Weltverbesserer allzufern vom
Tagesleben sich in Spekulationen verliere, statt tätig da und dort
mitzuwirken und sich an praktischen Bewegungen und Unternehmungen der
Zeit zu beteiligen.

Das alles war freundlich und hübsch gesagt, und es fiel dem stillen
Leser auf, wie sehr diese Urbanität sich von der gehässigen
Unzulänglichkeit unterscheide, mit welcher die meisten Schriften
der neuen Propheten die Welt beurteilten. Nachdenklich ging er weg
und suchte den Versammlungssaal auf, den er mit Palmen und Lorbeer
geschmückt und schon von vielen Gästen belebt fand. Die Naturburschen
waren sehr in der Minderzahl, und die alttestamentlichen oder
tropischen Kostüme fielen auch hier als Seltsamkeiten auf, dafür sah
man manchen feinen Gelehrtenkopf und viel Künstlerjugend. Die gestrige
Gruppe von langhaarigen Barfüßern stand fremd als wunderliche Insel im
Gewoge.

Ein eleganter Wiener trat als erster Redner auf und sprach den Wunsch
aus, die Angehörigen der vielen Einzelgruppen möchten sich hier nicht
noch weiter auseinanderreden, sondern das Gemeinsame suchen und Freunde
werden. Dann sprach er parteilos über die religiösen Neubildungen
der Zeit und ihr Verhältnis zur Frage des Weltfriedens. Ihm folgte
ein greiser Theosoph aus England, der seinen Glauben als universale
Vereinigung der einzelnen Lichtpunkte aller Weltreligionen empfahl.
Ihn löste ein Rassentheoretiker ab, der mit scharfer Höflichkeit
für die Belehrung dankte, jedoch den Gedanken einer internationalen
Weltreligion als eine gefährliche Utopie brandmarkte, da jede Nation
oder doch jede Rasse das Bedürfnis und Recht auf einen eigenen, nach
seiner Sonderart geformten und gefärbten Glauben habe.

Während dieser Rede wurde eine neben Reichardt sitzende Frau unwohl,
und er begleitete sie hilfreich durch den Saal bis zum nächsten
Ausgang. Um nicht weiter zu stören, blieb er alsdann hier stehen und
suchte den Faden des Vortrages wieder zu erhaschen, während sein Blick
über die benachbarten Stuhlreihen wanderte.

Da sah er gar nicht weit entfernt in aufmerksamer Haltung eine schöne
Frauenfigur sitzen, die seinen Blick gefangen hielt, und während sein
Herz unruhig wurde und jeder Gedanke an die Worte des Redners ihn
jäh verließ, erkannte er Agnes Weinland. Heftig zitternd lehnte er
sich an den Türbalken und hatte keine andere Empfindung als die eines
Verirrten, dem in Qual und Verzweiflung unerwartet über fremde Höhen
hinweg die Türme der Heimat winken. Denn kaum hatte er die freie,
stolze Haltung ihres Kopfes erkannt und von hinten den verlorenen Umriß
ihrer Wange erfühlt, so sank ihm Religion und Rasse, Menschenmenge und
Ort wie Nebel dahin, und er wußte nichts auf der Welt als sich und
sie, und wußte, der Schritt zu ihr und der Blick ihrer braunen Augen
und der Kuß ihres Mundes sei das Einzige, was seinem Leben fehle und
ohne welches keine Weisheit und kein Trost ihm helfen könne. Und dies
alles schien ihm möglich und in Treue aufbewahrt; denn er meinte mit
liebender Ahnung zu fühlen, daß sie, die sonst für dergleichen Dinge
wenig Teilnahme hatte, nur seinetwegen oder doch im Gedanken an ihn
diese Versammlung aufgesucht habe.

Als der Redner zu Ende war, meldeten sich viele zur Erwiderung, und es
machte sich bereits die erste Woge der Rechthaberei und Unduldsamkeit
bemerklich, welche fast allen diesen ehrlichen Köpfen die Weite,
Freiheit und Liebe nahm, und woran auch dieser ganze Kongreß, statt
der Welterlösung zu dienen, kläglich scheitern sollte.

Berthold Reichardt jedoch hatte für diese Vorboten naher Stürme kein
Ohr. Er starrte auf die Gestalt seiner Geliebten, als sei sein ganzes
Wesen sich bewußt, daß es einzig von ihr gerettet und zu Leben und
Glück zurückgeleitet werden könne. Mit dem Schluß jener Rede erhob
sich das Fräulein, schritt schlank und geschmeidig dem Ausgang zu und
zeigte ein ernstkühles Gesicht, in welchem sichtlich ein Widerwille
gegen diese ganzen Verhandlungen unterdrückt wurde. Sie ging ganz nahe
an Berthold vorbei, ohne ihn doch zu beachten, und er konnte deutlich
sehen, wie ihr beherrschtes kühles Gesicht noch immer in frischer
Farbe blühte, doch um einen feinen lieben Schatten älter und stiller
geworden war. Zugleich bemerkte er mit wunderlich frohem Stolz, wie die
Vorüberschreitende überall von bewundernden und achtungsvollen Blicken
begleitet wurde.

Sie trat ins Freie und ging die Straße hinab, wie sonst in tadelloser
Kleidung und mit ihrem sportmäßigen, kräftig gleichmäßigen Schritt,
nicht eben fröhlich, aber aufrecht und elastisch wie in einem guten
Lebensglauben. Ohne Eile ging sie dahin, von Straße zu Straße, nur vor
einem prächtig prangenden Blumenladen eine Weile sich vergnügend, ohne
zu ahnen, daß ihr Berthold immerzu folgte und in ihrer Nähe war. Und er
blieb hinter ihr bis zur Ecke der fernen Vorstadtstraße, wo er sie im
Tor ihrer alten Wohnung verschwinden sah.

Dann kehrte er um, und im langsamen Gehen blickte er an sich nieder. Er
war froh, daß sie ihn nicht gesehen hatte, und die ganze ungepflegte
Dürftigkeit seiner Erscheinung, die ihn schon seit gestern bedrückt
hatte, schien ihm jetzt unerträglich. Sein erster Gang war zu einem
Barbier, der ihm das Haar scheren und den Bart abnehmen mußte, und
als er in den Spiegel sah und dann wieder auf die Gasse trat und die
duftige Frische der rasierten Wangen im leisen Winde spürte, fiel alle
Befangenheit und einsiedlerische Scheu vollends ganz von ihm ab. Eilig
fuhr er nach einem großen Kleidergeschäft, kaufte einen modischen Anzug
und ließ ihn so sorgfältig wie möglich seiner Figur anpassen, kaufte
nebenan weiße Wäsche, Halsbinde, Hut und amerikanische Stiefel, sah
sein Geld zu Ende gehen und fuhr zur Bank um neues, fügte dem Anzug
einen Mantel und den Stiefeln Gummischuhe hinzu und fand am Abend, als
er in angenehmer Ermüdung heimkehrte, alles schon in Schachteln und
Paketen daliegen und auf ihn warten.

Nun konnte er nicht widerstehen, sofort eine Probe zu machen, und zog
sich alsbald vom Kopfe zu Füßen mit den neuen Sachen an, lächelte
sich etwas verlegen im Spiegel zu und konnte sich nicht erinnern, je
in seinem Leben eine so knabenhafte Freude über neue Kleider gehabt
zu haben. Daneben hing, unsorglich über seinen Stuhl geworfen, sein
asketisches Lodenzeug grau und entbehrlich geworden wie die brüchige
Puppenhülle eines jungen Schmetterlings.

Während er so vor dem Spiegel stand, unschlüssig, ob er noch einmal
ausgehen sollte, wurde an seine Tür geklopft, und er hatte kaum Antwort
gegeben, so trat geräuschvoll ein stattlicher Mann herein, in welchem
er sofort den Herrn Salomon Adolfus Wolff erkannte, jenen reisenden
Wundertäter, der ihn vor Monaten in der tiroler Einsiedelei besucht
hatte.

Wolff begrüßte den »Freund« mit heftigem Händeschütteln und nahm mit
Verwunderung dessen frische Eleganz wahr. Er selbst trug den braunen
Hut und alten Gehrock von damals, jedoch diesmal auch eine schwarze
Weste dazu und neue hellgraue Beinkleider, die jedoch für längere
Beine als die seinen gearbeitet schienen, da sie oberhalb der Stiefel
eine harmonikaähnliche Anordnung von kleinen widerwilligen Querfalten
aufwiesen. Er beglückwünschte den Doktor zu seinem guten Aussehen und
hatte nichts dagegen, als dieser ihn zum Abendessen einlud.

Schon unterwegs auf der Straße begann Salomon Adolfus mit Leidenschaft
von den heutigen Reden und Verhandlungen zu sprechen und konnte es
kaum glauben, daß Reichardt ihnen nicht beigewohnt habe. Am Nachmittag
hatte ein schöner langlockiger Russe über Pflanzenkost und soziales
Elend gesprochen und dadurch Skandal erregt, daß er beständig den
nichtvegetarianischen Teil der Menschheit als Leichenfresser bezeichnet
hatte. Darüber waren die Leidenschaften der Parteien erwacht, mitten
im Gezänke hatte sich ein Anarchist des Wortes bemächtigt und mußte
durch Polizeigewalt von der Tribüne entfernt werden. Die Buddhisten
hatten stumm in geschlossenem Zuge den Saal verlassen, die Theosophen
vergebens zum Frieden gemahnt. Ein Redner habe das von ihm selbst
verfaßte »Bundeslied der Zukunft« vorgetragen, mit dem Refrain:

          »Ich laß der Welt ihr Teil,
          Im All allein ist Heil!«

und das Publikum sei schließlich unter Lachen und Schimpfen
auseinandergegangen.

Erst beim Essen beruhigte sich der erregte Mann und wurde dann gelassen
und heiter, indem er ankündigte, er werde morgen selbst im Saale
sprechen. Es sei ja traurig, all diesen Streit um nichts mit anzusehen,
wenn man selbst im Besitz der so einfachen Wahrheit sei. Und er
entwickelte seine Lehre, die vom »Geheimnis des Lebens« handelte und in
der Weckung der in jedem Menschen vorhandenen magischen Seelenkräfte
das Heilmittel für die Übel der Welt erblickte.

»Sie werden doch dabei sein, Bruder Reichardt?« sagte er einladend.

»Leider nicht, Bruder Wolff,« meinte dieser lächelnd. »Ich kenne ja
Ihre Lehre schon, der ich guten Erfolg wünsche. Ich selber bin in
Familiensachen hier in München und morgen leider nicht frei. Aber wenn
ich Ihnen sonst irgendeinen Dienst erweisen kann, tue ich es sehr
gerne.«

Wolff sah ihn mißtrauisch an, konnte aber in Reichardts Mienen nur
Freundliches entdecken.

»Nun denn,« sagte er rasch. »Sie haben mir diesen Sommer mit einem
Darlehen von zehn Kronen geholfen, die nicht vergessen sind, wenn ich
auch bis jetzt nicht in der Lage war, sie zurückzugeben. Wenn Sie mir
nun nochmals mit einer Kleinigkeit aushelfen wollten -- mein Aufenthalt
hier im Dienst unserer Sache ist mit Kosten verbunden, die niemand mir
ersetzt.«

Berthold gab ihm ein Goldstück und wünschte nochmals Glück für morgen,
dann nahm er Abschied und ging nach Hause, um zu schlafen.

Kaum lag er jedoch im Bette und hatte das Licht gelöscht, da war
Müdigkeit und Schlaf plötzlich dahin, und er lag die ganze Nacht
brennend in Gedanken an Agnes und in tausend bitteren Zweifeln, denen
doch das Herz in stiller Ahnung tapfer widersprach.

Früh am Morgen verließ er das Haus, unruhig und von der schlaflosen
Nacht erschöpft. Er brachte die frühen Stunden auf einem Spaziergange
und im Schwimmbad zu, saß dann noch eine ungeduldige halbe Stunde vor
einer Tasse Tee und fuhr, sobald ein Besuch möglich schien, in einem
hübschen Wagen an der Weinlandschen Wohnung vor.

Nachdem er die Glocke gezogen, mußte er eine Weile warten, dann fragte
ihn ein kleines neues Mädchen, keine richtige Magd, erstaunt und
unbeholfen nach seinem Begehren. Er fragte nach den Damen und die
Kleine lief, die Tür offen lassend, nach der Küche davon. Dort wurde
nun ein Gespräch hörbar und zur Hälfte verständlich.

»Es geht nicht,« sagte Agnesens Stimme, »du mußt sagen, daß die gnädige
Frau krank ist. -- Wie sieht er denn aus?«

Schließlich aber kam Agnes selbst heraus, in einem blauen leinenen
Küchenkleide, sah ihn fragend an und sprach kein Wort, da sie ihn
unverweilt erkannte.

Er streckte ihr die Hand entgegen. »Darf ich hereinkommen?« fragte er,
und ehe weiteres gesagt wurde, traten sie in das bekannte Wohnzimmer,
wo die Frau Rat in einen Wollenschal gehüllt im Lehnstuhl saß, sich bei
seinem Anblick aber alsbald steif und tadellos aufrichtete.

»Der Herr Doktor Reichardt ist gekommen,« sagte Agnes zur Mutter, die
dem Besuch die Hand gab.

Sie selbst aber sah nun im Morgenlicht der hellen Stube den Mann an,
las die Not eines verfehlten und schweren Jahres in seinem mageren
Gesicht und die Sicherheit und den Willen einer geklärten Liebe in
seinen Augen.

Sie ließ seinen Blick nicht mehr los, und eines vom andern wortlos
angezogen gaben sie einander nochmals die Hand.

»Kind, aber Kind!« rief die Rätin erschrocken, als unversehens ihre
Tochter große Tränen in den Augen hatte und ihr erbleichtes Gesicht
neben dem der Mutter im Lehnstuhl verbarg.

Das Mädchen richtete sich aber mit neu erglühten Wangen sogleich wieder
auf und lächelte noch mit Tränen in den Augen.

»Es ist schön, daß Sie wieder gekommen sind,« begann nun die alte Dame.
Da stand das hübsche Paar schon Hand in Hand bei ihr und sah dabei so
gut und lachend aus, als habe es schon seit langem zusammengehört.



Emil Kolb


Die geborenen Dilettanten, aus welchen ein so großer Teil der
Menschheit zu bestehen scheint, könnte man als Karikaturen der
Willensfreiheit bezeichnen. Indem sie nämlich, unendlich weit von der
Natur abgeirrt und von der Erkenntnis des Notwendigen entfernt, die
ursprüngliche Fähigkeit jedes originellen Menschen entbehren, den Ruf
der Natur im eigenen Innern zu vernehmen, treiben sie leichtsinnig und
unentschlossen in einem wertlosen Leben scheinbarer Willkür dahin. Da
sie Eigenes nicht in sich haben, finden sie sich auf das Nachahmen
verwiesen und betreiben nun das, was sie andere aus innerer Anlage und
Notwendigkeit tun sehen, spielerisch und willkürlich als Affen der
Natur.

Zu diesen Vielen gehörte auch der Knabe Emil Kolb in Gerbersau, und der
Zufall (da man bei solchen Menschen doch wohl nicht von Schicksal reden
darf) brachte es dahin, daß er mit seinem Dilettantentum nicht gleich
vielen anderen zu Ehren und Wohlstande, sondern zu Unehre und Elend
kam, obwohl er um nichts schlimmer war als tausend seiner Art.

Emil Kolbs Vater war ein sehr bescheidener Flickschuster, und nur seine
Verwandtschaft mit den hochgeschätzten Bürgerfamilien der Dierlamm und
der Giebenrath hielt ihn im städtischen Leben etwas oberhalb des Grades
von Mißachtung, dessen Leute ohne Geld und ohne Glück sonst unter ihren
Mitbürgern genießen.

Diesen großen Verwandten gegenüber machte Herr Kolb vorsichtigerweise
von seinem Vetternrecht nahezu gar keinen Gebrauch. Es fiel ihm nicht
ein, etwa bei einer Leichenfeier oder in einem Festzuge neben einem
Giebenrath schreiten zu wollen oder zu erwarten, daß ihn ein Dierlamm
zu seiner Hochzeit oder Taufe einlade. Desto häufiger und stolzer
erinnerte er in seinem Hause und unter seinesgleichen an die ehrenvolle
Verwandtschaft, die ihm immerhin von Nutzen war. Es war diesem
Manne die Gabe versagt, im Walten der Natur und in der Entfaltung
menschlicher Schicksale das unabänderlich Notwendige zu erkennen und
anzuerkennen; deshalb hielt er denn auch, was seinem Tun und Leben
versagt war, wenigstens seinen Wünschen und müßigen Träumen für erlaubt
und schwelgte gerne in Vorstellungen eines anderen reicheren, schöneren
Lebens, soweit seine auf das Materielle gerichtete Phantasie dessen
fähig war.

Kaum hatte diesem Flickschuster sein Weib einen leidlich rüstigen
Knaben geboren, so übertrug er seine Schwärmereien auf dessen Zukunft,
und damit rückte dies alles, was bisher nur Gedankensünde und
Fabelvergnügen gewesen war, in ein bestimmtes Licht des Möglichen,
das bald zum Wahrscheinlichen und endlich zum Gewissen wurde. Denn
der junge Emil Kolb spürte diese väterlichen Wünsche und Träume schon
frühe als eine warme und treibende Luft um sich und gedieh darin wie
der Kürbis im Dünger, er nahm sich gleich in den ersten Schuljahren
vor, der Messias seiner armen Familie zu werden und später einmal
unerbittlich alles zu ernten, was nach seiner seltsamen Religion
das Glück ihm nach so langen Entbehrungen der Eltern und Vorfahren
schuldete. Emil Kolb fühlte den Mut in sich, einmal das Schicksal eines
Gewaltigen auf sich zu nehmen, eines Bürgermeisters oder Millionärs,
und wäre heute schon eine goldene Kutsche mit vier Schimmeln bei
seines Vaters Hause vorgefahren, so hätte keinerlei Schüchternheit
ihn abgehalten, sich hineinzusetzen und mit ruhigem Lächeln die
ehrerbietigen Grüße der Mitbürger einzustreichen.

Mag das Träumen und Ersehnen goldener Zukunftsfrüchte das beste Recht
aller Jugend sein und manchem tüchtigen Manne die Jahre schwerer
Erwartung tragen helfen -- jene Tüchtigen meinen es eben doch etwas
anders, als Emil es meinte, welchem nicht Verdienst und Können, Macht
des Wissens oder Macht der Kunst vorschwebte, sondern lediglich gut
Essen und Wohnen, schöne Kleider und feistes Wohlergehen. Schon früh
erschienen ihm die wenigen originellen Menschen, die er kennen lernte,
lächerlich und geradezu närrisch, daß sie es vorzogen, heimlichen
Idealen zu opfern und einen nutzlosen Ehrgeiz zu pflegen, statt ihre
guten Gaben einem glatten baren Lohne dienstbar zu machen. So zeigte
er auch für alle jene Fächer der Schulwissenschaft reichlichen Eifer,
die von den Dingen dieser Erde handeln, wogegen ihm die Beschäftigung
mit Geschichten und Sagen der Vorzeit, mit Gesang, Turnen und anderen
ähnlichen Dingen als ein reiner Zeitverderb erschien.

Eine besondere Hochachtung jedoch hatte der junge Streber vor
der Kunst der Sprache, worunter er aber nicht die Torheiten der
Dichter verstand, sondern die Pflege des Ausdruckes zugunsten realer
geschäftlicher Handlungen und Vorteile. Er las alle Dokumente
geschäftlicher oder rechtlicher Natur, von der einfachen Rechnung
oder Quittung bis zum öffentlichen Anschlag oder Zeitungsaufruf, mit
tiefem Verständnis und reiner Bewunderung. Denn er sah gar wohl, daß
die Sprache solcher Kunsterzeugnisse, von der gemeinen Sprache der
Gasse ebenso weit entfernt wie nur irgendeine tolle Dichtung, geeignet
sei, Eindruck zu machen, Macht zu üben und über Unverständige Vorteile
zu erlangen. In seinen Schulaufsätzen strebte er diesen Vorbildern
beharrlich nach und brachte manche Blüte hervor, die einer kleineren
Kanzlei kaum unwürdig gewesen wäre. Und einen in seiner Sammlung
solcher Dokumente befindlichen Steckbrief, den er aus der Zeitung des
Vaters ausgeschnitten hatte, versah er in einer guten Stunde sogar
mit einer kleinen Korrektur, die ihm ein inniges Vergnügen bereitete.
Es hieß nämlich dort, nach der Beschreibung des Vermißten: »Wer etwas
über den Gesuchten weiß, möge sich beim unterzeichneten Notariatsamt
melden«. Dafür setzte Emil Kolb die Worte ein: »Personen, welche in der
Lage sein sollten, Auskünfte über den Gesuchten beizubringen -- --«.

Eben diese Vorliebe für den feinen Kanzleistil gab den Anlaß und
Ankergrund für Emil Kolbs einzige Freundschaft. Der Lehrer hatte seine
Klasse einst einen Aufsatz über den Frühling verfassen und mehrere
dieser Arbeiten von ihren Urhebern vorlesen lassen. Da tat mancher
zwölfjährige Schüler seine ersten scheuen Flüge in das Land der
schaffenden Phantasie, und frühe Bücherleser schmückten ihre Aufsätze
mit begeisterten Nachbildungen der Frühlingsschilderungen gangbarer
Dichter. Es war vom Amselruf und von Maifesten die Rede, und ein
besonders Belesener hatte sogar das Wort Philomele gebraucht. Alle
diese Schönheiten aber hatten den zuhörenden Emil nicht zu rühren
vermocht, er fand das alles blöd und töricht. Da kam, vom Lehrer
aufgerufen, der Sohn des Kannenwirts, Franz Remppis, an die Reihe,
seinen Aufsatz vorzulesen. Und gleich bei den ersten Worten »Es ist
nicht zu bestreiten, daß der Frühling immerhin eine sehr angenehme
Jahreszeit genannt zu werden verdient« -- gleich bei diesen Worten
merkte Kolb mit entzücktem Ohre den Klang einer ihm verwandten Seele,
lauschte scharf und beifällig und ließ sich kein Wort entgehen. Dies
war der Stil, in welchem das Wochenblatt seine Berichte aus Stadt
und Land abzufassen pflegte und den Emil selbst schon mit einiger
Sicherheit anzuwenden wußte.

Nach dem Schluß der Schule sprach Kolb dem Mitschüler seine Anerkennung
aus, und von der Stunde ab hatten die beiden Knaben das Gefühl,
einander zu verstehen und zu einander zu gehören. Da keiner von ihnen
je bereit gewesen wäre, ein Opfer zu bringen, verlangte es auch keiner
vom andern, vielmehr spürten sie, daß es gut sei, einander gelten und
bestehen zu lassen, um einmal einer am andern etwas zu haben und etwa
später größere Dinge gemeinsam unternehmen zu können.

Emil begann damit, daß er die Gründung einer gemeinschaftlichen
Sparkasse vorschlug. Er wußte die Vorteile des Zusammenlegens und der
gegenseitigen Ermunterung zur Sparsamkeit so beredt darzulegen, daß
Franz Remppis darauf einging und sich bereit erklärte, sein Erspartes
dieser Kasse anzuvertrauen. Doch war er klug genug, darauf zu bestehen,
daß das Geld solange in seinen Händen bleibe, bis auch der Freund eine
bare Einlage gemacht habe, und da es hierzu niemals kommen wollte,
versank der gute Plan, ohne daß Emil an ihn erinnert oder Franz ihm den
Versuch einer Überlistung übelgenommen hätte. Ohnehin fand Kolb sehr
bald einen Weg, seine kümmerlichen Umstände vorteilhaft mit den weit
bessern des Wirtssohnes zu verknüpfen, indem er seinem Kameraden gegen
kleine Geschenke und eßbare Gaben in manchen Schulfächern mit seinen
Fähigkeiten aushalf. Das dauerte bis zum Ende der Schulzeit, und gegen
das Versprechen eines Honorars von fünfzig Pfennigen lieferte Emil Kolb
dem Franz die mathematische Arbeit im Abgangsexamen, welches sie auf
diese Weise beide wohl bestanden. Emil hatte sogar so gute Zeugnisse
eingeheimst, daß sein Vater darauf schwor, an dem prächtigen Jungen
sei ein Gelehrter verloren gegangen. Allein an fernere Studien war
nicht zu denken. Doch gab sich der Vater Kolb jede Mühe und tat manchen
sauren Bittgang zu den wohlhabenden Verwandten, um seinem Sohne einen
besonderen Platz im Leben zu verschaffen und seine Hoffnungen auf eine
glänzende Zukunft nach Kräften zu fördern. Durch die Befürwortung
der Familie Dierlamm gelang es ihm, seinen Knaben als Lehrling im
Bankgeschäft der Brüder Dreiß unterzubringen. Damit schien ihm ein
bedeutender Schritt nach oben hin getan und eine Gewähr für die
Erfüllung weit kühnerer Träume gegeben.

Für junge Gerbersauer, die sich dem Kaufmannsberufe widmen wollten,
gab es keine rühmlichere und hoffnungsreichere Eröffnung dieser
Laufbahn als die Lehrlingschaft bei den Brüdern Dreiß. Deren Bank und
Warengeschäft war alt und hochangesehen, und die Herren hatten jedes
Jahr die Wahl unter den besten Schülern der obersten Klassen, deren
sie jährlich einen oder zwei als Lehrlinge in ihr Geschäft aufnahmen.
So hatten sie stets, da die Lehrzeit dreijährig war, zwischen vier und
sechs junger Leute in Lehre und Kost, welche zwar vom zweiten Lehrjahr
an die Kost, sonst aber für ihre Arbeit keine Entschädigung erhielten.
Dafür konnten sie dann den Lehrbrief des alten ehrwürdigen Hauses als
eine überall im Lande gültige Empfehlung ins Leben mitnehmen.

Dieses Jahr war Emil Kolb der einzige neu eintretende Lehrling und
wurde darum von manchem beneidet, der sich selbst auf diesen Ehrenplatz
gewünscht hatte. Er selbst fand hingegen die Ehre gering und recht
teuer bezahlt; denn als jüngster Lehrbub war er derjenige, an welchem
alle älteren, auch schon die vom vorigen Jahr, die Stiefel glaubten
abreiben zu müssen. Wo etwas im Hause zu tun war, das zu tun sich
jeder scheute und zu gut hielt, da rief man nach Emil, dessen Name
immerzu gleich einer Dienstbotenglocke durchs Haus erschallte, so
daß der junge Mensch nur selten Zeit fand, in einer Kellerecke hinter
den Erdölfässern oder auf dem Dachboden bei den leeren Kisten eine
kurze Weile seinen Träumen vom Glanz der Zukunft nachzuhängen. Es
entschädigte ihn für dies rauhe Leben nur die sichere Rechnung auf den
Glanz späterer Tage und die gute reichliche Kost des Hauses. Die Brüder
Dreiß, die mit ihrem Lehrlingswesen gute Geschäfte machten und sich
außerdem noch einen gut zahlenden Volontär hielten, pflegten an allem
zu sparen, nur am Essen für ihre Leute nicht. So konnte der junge Kolb
sich jeden Tag dreimal vollständig satt essen, was er mit Eifer tat,
und wenn er trotzdem in Bälde lernte, über die miserable Verpflegung
zu schimpfen, so war das nur eine zum Brauch der Lehrlinge gehörende
Übung, welcher er mit derselben Treue oblag, wie dem Stiefelwichsen am
Morgen und dem Rauchen gestohlener Zigaretten am Abend.

Ein Kummer war es ihm gewesen, daß er beim Eintritt in diese Vorhölle
seines Berufes sich von dem Freund hatte trennen müssen. Franz
Remppis wurde von seinem Vater in eine auswärtige Lehrstelle verdingt
und erschien eines Tages, um von Emil Abschied zu nehmen und ihm
seinen rotbraunen neuen Leinwandkoffer zu zeigen, auf dessen Ecken
aus Weißblech sein Name graviert war. Franzens Trost, daß sie beide
einander fleißig schreiben wollten, leuchtete dem armen Emil wenig ein;
denn er wußte nicht, woher er das Geld für die Briefmarken hätte nehmen
sollen.

Wirklich kam schon bald ein Brief aus Lächstetten, worin Remppis von
seinem Einstand am neuen Orte berichtete. Dieses Schreiben, das mit
großem Fleiß und Vergnügen aus vielen vortrefflichen Phrasen und
kaufmännischen Ausdrücken zusammengestellt war, regte Emil zu einer
langen, sorgfältigen Antwort an, mit deren Abfassung er mehrere Abende
hinbrachte, deren Absendung ihm jedoch fürs Erste nicht möglich war.
Endlich gelang es ihm doch, und er sah es vor sich selbst als eine
Entschuldigung und halbe Rechtfertigung an, daß sein erster Fehltritt
dem edlen Gefühle der Freundschaft entsprang. Er mußte nämlich einige
Briefe zur Post tragen und da es eben eilte, gab der Oberlehrling ihm
die Briefmarken dazu in die Hand, die er unterwegs aufkleben solle.
Diese Gelegenheit nahm Emil wahr. Er beklebte den Brief an Franz, den
er in der Brusttasche bei sich trug, mit einer der hübschen neuen
Briefmarken und steckte dafür einen von den Geschäftsbriefen ohne Marke
in den Postkasten.

Mit dieser Tat begab sich der junge Mensch unbewußt über eine Grenze,
die für ihn besonders gefährlich und lockend war. Wohl hatte er auch
zuvor schon je und je, gleich den anderen Lehrbuben, Kleinigkeiten zu
sich gesteckt, die seinen Herren angehörten, etwa ein paar gedörrte
Zwetschgen oder eine Zigarre. Allein diese Näschereien verübte ein
jeder mit ganz heilem Gewissen -- sie stellten eine flotte und
herrische Gebärde dar, womit der Täter vor sich selber prahlte und
seine Zugehörigkeit zum Hause und dessen Vorräten dartat. Hingegen war
mit dem Diebstahl der Briefmarke etwas anderes geschehen, etwas weit
Schwereres, ein heimlicher Raub an Geldeswert, den keine Gewohnheit
und kein Beispiel entschuldigen konnte. Es schlug denn auch dem jungen
Missetäter das Herz in geziemender Angst, und einige Tage lang war
er zu jeder Stunde darauf gefaßt, daß sein Vergehen entdeckt und
er zur Rechenschaft gezogen werde. Es ist selbst für leichtsinnige
Menschen und auch für solche, die schon im Vaterhaus genascht und
gediebelt haben, dennoch der erste richtige Diebstahl ein unheimliches
Erlebnis, und mancher trägt schwerer daran als an weit größeren Sünden.
Wenigstens zeigt die Erfahrung, daß häufig junge Gelegenheitsdiebe ihre
erste Untat nicht zu tragen vermögen und ohne äußere Nötigung sich
durch ein Geständnis erleichtern und für immer reinigen.

Dieses nun tat Emil Kolb nicht. Er litt einige Angst vor der möglichen
Entdeckung, und vermutlich brannte auch sein wenig feines Gewissen ein
wenig, aber als die Tage gingen und die Sonne weiter schien und die
Geschäfte ihren Gang dahinliefen, als wäre nichts geschehen und als
habe er nichts zu verantworten, da erschien ihm diese Möglichkeit, in
allem Frieden aus fremder Tasche Nutzen zu ziehen, als ein Ausweg aus
hundert Nöten, ja vielleicht als der ihm bestimmte Weg zum Glücke.
Denn da ihn die Arbeit und Geschäfte nur als ein mühsamer Umweg zum
Erwerb und Vergnügen zu freuen vermochten, da er stets wie alle Toren
nur das Ziel und nie den Weg bedachte, mußte die Erfahrung, daß man
unter Umständen sich ungestraft allerlei Vorteil erstehlen könne, ihn
gewaltig in Versuchung führen.

Und dieser Versuchung widerstand er nicht. Es gibt für ein Männlein
seines Alters hundert kleine schwer entbehrte Dinge, die vor seinen
Träumen wie begehrenswerte Früchte des Paradieses hängen und welchen
das Kind armer Eltern stets einen doppelten Wert beimißt. Sobald Emil
Kolb begonnen hatte, mit der Vorstellung weiteren unredlichen Erwerbs
zu spielen, sobald der Besitz eines Nickelstücks, ja einer Silbermünze
ihm keine Unmöglichkeit mehr, sondern jederzeit erreichbar schien,
richtete sich sein Verlangen lüstern auf viele kleine Sachen, an die
er zuvor kaum gedacht hatte. Da besaß sein Mitlehrling Färber ein
Taschenmesser mit einer Säge und einem Stahlrädchen zum Glasschneiden
daran, und obwohl das Sägen und Glasschneiden ihm durchaus kein
Bedürfnis war, wollte ihm doch der Besitz eines solchen Prachtstückes
von Messer überaus wünschenswert vorkommen. Und nicht übel wäre es
auch, am Sonntag eine solche blau und braun gefärbte Krawatte zu
tragen, wie sie jetzt bei den feineren Lehrjungen die Mode waren.
Sodann war es ärgerlich genug zu sehen, wie die vierzehnjährigen
Fabriklehrbuben am Feierabend schon zum Bier gingen, während ein
Kaufmannslehrling, schon um ein Jahr älter und an Stande so viel
höher als jene, jahraus, jahrein kein Wirtshaus von innen zu sehen
bekam. Und war es nicht ebenso mit den Mädchen? Sah man nicht manchen
halbwüchsigen Stricker oder Weber aus den Fabriken schon am Sonntag
freimütig mit den Kolleginnen verkehren oder gar Arm in Arm gehen? Und
ein junger Kaufmann sollte seine ganze drei- oder vierjährige Lehrzeit
erst abwarten müssen, ehe er imstande wäre, einem hübschen Mädel das
Karussellfahren zu bezahlen und eine Bretzel anzubieten?

Diesen Übelständen beschloß der junge Kolb ein Ende zu machen. Es
war weder sein Gaumen für die herbe Würze des Bieres noch sein Herz
und Auge für die Reize der Mädchen reif, aber er strebte selbst im
Vergnügen fremden Zielen nach und wünschte nichts, als so zu sein und
zu leben wie die angesehenen und flotten unter seinen Kollegen.

Bei aller Torheit war Emil aber gar nicht dumm. Er bedachte seine
Diebeslaufbahn nicht minder sorgfältig, als er zuvor seine erste
Berufswahl bedacht hatte, und es blieb seinem Nachdenken nicht
verborgen, daß auch dem besten Dieb stets ein Feind am Wege lauere.
Es durfte durchaus nicht geschehen, daß er je erwischt wurde, darum
wollte er lieber einige Mühe daran wenden und die Sache weitläufig
vorbereiten, als einem verfrühten Genusse zulieb den Hals wagen. So
überlegte und untersuchte er alle Wege zum verbotenen Gelde, die ihm
etwa offen standen, und fand am Ende, daß er sich bis zum nächsten
Jahre gedulden müsse. Er wußte nämlich, wenn er sein erstes Lehrjahr
tadelfrei abdiene, so würden die Herren ihm die sogenannte Portokasse
übertragen, welche stets der zweitjüngste Lehrling zu führen hatte. Um
also seine Herren im kommenden Jahre bequemer bestehlen zu können,
diente ihnen der Jüngling nun mit der größten Aufmerksamkeit. Er wäre
darüber beinahe seinem Entschlusse untreu und wieder ehrlich geworden;
denn der ältere von seinen Prinzipalen, der seinen beflissenen Eifer
bemerkte und mit dem armen Schustersöhnlein Mitleid hatte, gab ihm
gelegentlich einen Zehner oder wandte ihm solche Besorgungen zu, welche
ein Trinkgeld abzuwerfen versprachen. So war er häufig im Besitz
kleinen Geldes und brachte es dazu, noch mit ehrlich verdientem Gelde
sich eine von den braun und blau gescheckten Krawatten zu kaufen, womit
die Feinen unter seinen Kollegen sich am Sonntag schmückten.

Mit dieser Halsbinde angetan tat der junge Herr seinen ersten Schritt
in die Welt der Erwachsenen und feierte sein erstes Fest. Bisher hatte
er sich wohl des Sonntags manchmal den Kameraden angeschlossen, wenn
sie langsam und unentschlossen durch die sonnigen Gassen bummelten,
vorübergehenden Kollegen ein Witzwort nachriefen und recht heimatlos
und verstoßen sich umhertrieben, aus der farbigen Kinderwelt ohne Gnade
entlassen und in die würdige Welt der Männer noch nicht aufgenommen. Da
hatte Emil sehr wohl gefühlt, daß sie alle noch weit bis zu Glück und
Ehre hätten, und hatte nicht ohne bitteren Neid den jungen Fabriklern
nachgeschaut, die mit langen Zigarren im Munde und Mädchen am Arm der
Musik einer Ziehharmonika folgten.

Nun aber sollte auch er zum erstenmal seit der Schulzeit einen
festlichen Sonntag mitfeiern. Sein Freund Remppis hatte in
Lächstetten, wie es schien, mehr Glück gehabt als Emil daheim. Und
neulich hatte er einen Brief geschrieben, der den Freund Kolb zum Kauf
der feinen Halsbinde veranlaßt hatte.

Lieber, sehr geehrter Freund!

Im Besitz Deines Werten vom 12. _hujus_ bin in der angenehmen Lage,
Dich für kommenden Sonntag, 23. _hj._, zu kleiner Fidelität einzuladen.
Unser Verein jüngerer Angehöriger des Handelsstandes macht am Sonntag
seinen Jahresausflug und möchte nicht verfehlen, Dich dazu herzlich
einzuladen. Erwarte Dich bald nach Mittag, da erst noch bei meinem Chef
essen muß. Werde Sorge tragen, daß alles Deine Anerkennung findet,
und bitte, Dich sodann ganz als meinen Gast betrachten zu dürfen.
Selbstverständlich sind auch Damen eingeladen! Zusagendenfalls erbitte
Antwort wie sonst _poste restante_ Merkur 01137. Deinem Werten mit
Vergnügen entgegensehend empfiehlt sich mit Gruß Dein

                             Franz Remppis, Mitglied des V. j. A. d. H.

Sofort hatte Emil Kolb geantwortet:

Lieber, sehr geehrter Freund!

In umgehender Beantwortung Deines Geschätzten von gestern sage für
Deine gütige Einladung besten Dank und wird es mir ein Vergnügen
sein, derselben Folge zu leisten. Die Aussicht auf die Bekanntschaft
mit den werten Herren und Damen eures löblichen Vereins ist mir so
wertvoll wie schmeichelhaft und kann ich nicht umhin, Dich zu dem
regen gesellschaftlichen Leben von Lächstetten zu beglückwünschen.
Alles Weitere auf unser demnächstiges mündliches Zusammentreffen
verschiebend, verbleibe mit besten Grüßen Dein ergebener Freund

                                                             Emil Kolb.

_P. S._ In Eile erlaube mir noch speziellen Dank für die geschäftliche
Seite Deiner Einladung, von welcher dankbar Gebrauch machen werde, da
zurzeit leider meine Kasse größeren Ansprüchen nicht gewachsen sein
dürfte.

                                                    Dein treuer Obiger.

Nun war dieser Sonntag gekommen. Es war gegen Ende Juni und da seit
wenigen Tagen nach langem Regen heißes Sommerwetter eingetreten war,
sah man überall die Heuernte in vollem Gange. Emil hatte für den
ganzen Tag ohne Schwierigkeit Urlaub, jedoch kein Geld für die kleine
Eisenbahnfahrt nach Lächstetten erhalten. Darum machte er sich zeitig
am Vormittag auf den Weg und war bis zur verabredeten Stunde lange
genug unterwegs, um sich die bevorstehenden Freuden und Ehren in
reichlicher Fülle und Schönheit ausdenken zu können. Daneben tat er
an günstigen Orten auch den eben reifenden Kirschen Ehre an und kam
bequemlich zur rechten Zeit in Lächstetten an, das er noch nie gesehen
hatte. Nach den Schilderungen seines Freundes Remppis hatte er sich
diese Stadt in vollem Gegensatze zu dem schlechten, spießigen Gerbersau
als einen glänzenden, reichen Ort herrlichster Lebenslust vorgestellt
und war nun etwas enttäuscht, die Gassen, Plätze, Häuser und Brunnen
eher geringer und schmuckloser zu finden als in der Vaterstadt. Auch
das Geschäftshaus Johann Löhle, in welchem sein Freund die Geheimnisse
des Handels erlernen sollte, konnte sich mit dem stattlichen Hause
der Brüder Dreiß in Gerbersau nicht messen. Dies alles stimmte Emils
Erwartungen und Freudebereitschaft einigermaßen herab, doch stärkten
diese kritischen Wahrnehmungen seinen Mut und seine Hoffnung, er würde
neben der weltgewandteren und lebensfroheren Jugend dieser Stadt
bestehen können.

Eine Weile umstrich der Ankömmling das Handelshaus, ohne daß er den
Mut gefunden hätte, einzutreten und nach seinem Landsmann zu fragen.
Er ging hin und wieder, atmete den Duft der Fremde und Wanderschaft
und wagte nur hie und da schüchtern einen Liedanfang zu pfeifen, der
in früheren Zeiten als Signal zwischen Franz Remppis und ihm gegolten
hatte. Nach einiger Zeit erschien der Gesuchte denn auch in einem
hohen Mansardenfensterchen, winkte hinab und wies den Freund durch
Zeichen an, ihn nicht vor dem Hause, sondern unten am Marktplatz zu
erwarten. Leicht enttäuscht begab sich Emil hinweg und brachte seine
Wartezeit vor dem Schaufenster eines Eisenhändlers zu, wo er von neuem
feststellte, daß es hier am Orte weniger fein und modern aussehe und
zugehe als daheim in Gerbersau.

Nun aber kam Franz daher, und sogleich sank Emils Kritiklust zusammen,
da er den Schulfreund in einem ganz neuen Anzug mit einem steifen,
unmäßig hohen Hemdkragen und sogar mit Manschetten geschmückt sah.

»Servus!« rief der junge Remppis fröhlich. »Jetzt kann es also
losgehen. Hast du Zigarren?«

Und da Emil keine hatte, schob er ihm eine kleine Handvoll in die
Brusttasche.

»Schon recht, du bist ja mein Gast. Ums Haar hätte ich heut nicht
frei gekriegt, der Alte war verflucht scharf. Aber jetzt wollen wir
marschieren.«

So sehr das flotte Wesen Emil gefiel, so konnte er eine Enttäuschung
doch nicht verbergen. Er war zu einem Vereinsausfluge eingeladen, er
hatte Fahnen und vielleicht sogar Musik erwartet.

»Ja, wo ist denn euer Verein jüngerer Angehöriger des Handelsstandes?«
fragte er mißtrauisch.

»Der wird schon kommen. Wir können doch nicht unter den Fenstern der
Prinzipale ausrücken! Die gönnen einem so wie so kein Vergnügen. Nein,
wir treffen uns vor der Stadt beim alten Galgen.«

»So so. Beim Galgen?«

»Ja, so heißt es dort. Es ist ein Wirtshaus. Da sind wir ganz sicher,
daß keiner von den Alten hinkommt.«

Bald hatten sie den alten Galgen erreicht, ein kleines Gehölz und ein
altes schäbiges Wirtshäuschen, wo sie rasch eintraten, nachdem Franz
sich scharf umgesehen hatte, ob niemand ihn beobachte. Drinnen wurden
sie von sechs oder sieben anderen Lehrlingen empfangen, die alle
vor hohen Biergläsern saßen und Zigarren rauchten. Remppis stellte
seinen Landsmann den Kameraden vor, und Emil ward feierlich willkommen
geheißen.

»Sie gehören wohl alle zum Verein?« fragte er.

»Gewiß,« wurde ihm geantwortet. »Wir haben diesen Verein ins Leben
gerufen, um die Interessen unseres Standes zu fördern, vor allem aber
um unter uns die Geselligkeit zu pflegen. Wenn Sie einverstanden sind,
Herr Kolb, so wollen wir jetzt aufbrechen.«

Schüchtern fragte Emil seinen Freund nach den Damen, die doch
eingeladen seien, und erfuhr, daß man diese später im Walde zu treffen
hoffe.

Munter wanderten die jungen Leute in den glänzenden Sommertag hinein.
Es fiel Emil auf, mit welchem Eifer Franz sich seiner Vaterstadt
rühmte, die er in seinen Briefen beinahe verleugnet hatte.

»Ja, unser Gerbersau!« pries der Freund. »Nicht wahr, Emil, da geht es
anders zu als hierzuland! Und was es dort für schöne Mädchen gibt!«

Emil stimmte etwas befangen zu, wurde dann gesprächig und erzählte
freimütig, wie wenig groß und schön er Lächstetten im Vergleich mit
Gerbersau finde. Einige von den jungen Leuten, die schon in Gerbersau
gewesen waren, gaben ihm recht. Bald sprach ein jeder darauf los,
rühmte ein jeder seine Stadt und Herkunft, wie es da ein anderes
und flotteres Leben sei als in diesem verdammten Nest, und die paar
geborenen Lächstettener, die dabei waren, gaben ihnen recht und
schimpften auf die eigene Heimat. Sie alle waren voll unerlöster
Kindlichkeit und zielloser Freiheitsliebe, sie rauchten ihre Zigarren
und rückten an ihren hohen Stehkragen und taten so männlich und wild,
als sie konnten. Emil Kolb fand sich rasch in diesen Ton, den er
daheim wohl auch schon gehört und ein wenig geübt hatte, und wurde mit
allen gut Freund.

Eine halbe Stunde weiter draußen, am Eingang eines prächtigen
Föhrenwaldes, erwartete sie eine kleine Gesellschaft von vier
halbwüchsigen Mädchen in hellen Sonntagskleidern. Es waren Töchter
geringer Häuser, denen es an Beaufsichtigung fehlte und die zum Teil
schon als Schulmädel mit Schülern oder Lehrbuben zärtliche Verhältnisse
unterhielten. Sie wurden dem Emil Kolb als Fräulein Berta, Luise, Emma
und Agnes vorgestellt. Zwei von ihnen hatten schon feste Verhältnisse
und hängten sich sofort an ihre Verehrer, die beiden anderen gingen
lose nebenher und gaben sich Mühe, die ganze Gesellschaft zu
unterhalten. Es war nämlich nach dem Hinzutritt der Damen die frühere
lärmende Gesprächigkeit der Jünglinge plötzlich erkaltet und an deren
Stelle eine verlegen schweigsame Liebenswürdigkeit getreten, in deren
Bann auch Franz und Emil fielen. Alle diese jungen Leute waren noch
durchaus Kinder, und ihnen allen fiel es weit leichter, die Manieren
von Männern nachzuahmen, als sich ihrem eigenen Alter und Wesen gemäß
zu benehmen. Sie alle wären im Grunde lieber ohne Mädchen gewesen oder
hätten doch mit diesen wie mit ihresgleichen geschwatzt und gescherzt,
aber das schien nicht anzugehen, und da sie alle wohl wußten, daß die
Mädchen ohne Erlaubnis ihrer Eltern und unter Gefahren für ihren Ruf
diese Wege gingen, suchte ein jeder von diesen jungen Handelsleuten
das nachzuahmen, was er sich nach Hörensagen und Lektüre unter einem
feinen geselligen Wesen vorstellte. Die Mädchen waren überlegen und
gaben den Ton an, der auf eine empfindsame Schwärmerei gestimmt war,
und sie alle, die nach Verlust der Kindesunschuld doch der Liebe noch
nicht fähig waren, bewegten sich recht ängstlich und befangen in einer
phantastisch verlogenen Sphäre zierlicher Sentimentalität.

Emil genoß als Fremder besondere Aufmerksamkeit, und das Fräulein Emma
verstrickte ihn bald in ein schönes Gespräch über den Reiz sommerlicher
Waldausflüge, das später in eine Unterhaltung über Emils Herkunft
und Lebensumstände überging und wobei Emil sich nicht übel bewährte,
da er nur Fragen zu beantworten hatte. Bald wußte das Mädchen alles
Wissenswerte über den jungen Mann, den sie sich zum Kavalier für
diesen Tag erlesen hatte; nur war freilich des Jünglings Auskunft über
sich und sein Leben mehr ein Notbehelf und poetischer Zeitvertreib
als eine Mitteilung realer Dinge. Denn wenn Fräulein Emma nach dem
Stande seines Vaters fragte, schien ihm das Wort Flickschuster gar zu
schroff und häßlich und er umschrieb die Sache, indem er erklärte, sein
Papa habe ein Schuhgeschäft. Alsbald sah des Fräuleins Phantasie ein
glänzendes Schaufenster voll schwarzer und farbiger Schuhwaren, dem ein
solcher Duft von Eleganz und geschmackvoller Wohlhabenheit entstieg,
daß ihre weiteren Fragen immer schon einen guten Teil solchen Glanzes
als vorhanden voraussetzten und den Schusterssohn unvermerkt zu immer
kräftigeren Beschönigungen der Wirklichkeit nötigten. Es entstand aus
Fragen und Antworten eine hübsche, angenehme Legende. Nach derselben
war Emil der etwas streng gehaltene, doch geliebte Sohn nicht eben
reicher, doch wohlhabender Eltern, den seine Neigung und Begabung früh
von den Schulstudien zum Handel hingeführt hatte. Er erlernte als
Volontär, welches Wort auf Rechnung der Emma kam, in einem mächtigen
alten Handelshause die Obliegenheiten seines künftigen Berufes und
war heute, durch das herrliche Wetter verlockt, herübergekommen, um
seinen Schulfreund Franz zu besuchen. Was die Zukunft betraf, so konnte
Emil ohne Gefahr und Gewissensbedrängnis die Farben verschwenden,
und je weniger von Wirklichkeit, Gegenwart und Arbeit, je mehr von
Zukunft, Genuß und Hoffnungen die Rede war, desto mehr kam er ins
Feuer und desto besser gefiel er dem Fräulein Emma. Diese hatte von
ihrer Abstammung nichts und von ihren übrigen Verhältnissen nur soviel
erzählt, daß sie als zartfühlende Tochter einer wenig begüterten und
leider auch etwas herrischen, ja groben Witwe manches zu leiden habe,
das sie jedoch kraft eines tapferen Herzens ohne Murren zu ertragen
wisse.

Auf den jungen Kolb machten sowohl diese moralischen Eigenschaften
wie auch das Äußere des Fräuleins einen starken Eindruck. Vielleicht
und vermutlich hätte er sich in irgendeine andere, sofern sie nicht
gerade häßlich war, ebenso verliebt. Es war das erstemal, daß er so mit
einem Mädchen ging, daß ein Mädchen solches Interesse für ihn zeigte
und daß er allen Ernstes ein Gebiet betrat, für das er in der Stille
sich selber noch zu jung erschien. Desto feierlicher lauschte er den
Erzählungen der Emma und gab sich Mühe, keine Höflichkeit zu versäumen.
Es blieb ihm nicht verborgen, daß sein Auftreten und sein Erfolg bei
Emma ihm Ansehen verlieh und daß es namentlich dem Franz imponierte.

So war der erhoffte Vereinsausflug mit Fahnen, Musik und lärmender
Lustbarkeit für den Gerbersauer Gast ein stilles Erlebnis und
jedenfalls etwas nicht minder Schönes geworden. Es geschahen zwischen
ihm und seinem schönen Fräulein keine Liebeserklärungen und keine
Zärtlichkeiten, vor dem Küssen hätte es ihm auch noch gegraut, aber es
entstand doch Emils erste Vertrautheit mit einem Mädchen, er war zum
erstenmal verliebt und zum erstenmal Kavalier, und beides gefiel ihm
nicht wenig.

Da man der Damen wegen nicht wagte, in einer Herberge einzukehren,
wurden in der Nähe eines Dorfes zwei von den Jünglingen auf Proviant
ausgeschickt. Sie kehrten mit Brot und Käse, Bierflaschen und Gläsern
wieder, und es ergab sich ein heiteres Gelage im Grünen, wobei die
Mädchen das Brotschneiden und Einschenken übernahmen und mit ihren
hellen Sommerkleidern froh und festlich aussahen. Emil, der den ganzen
Tag auf den Beinen und ohne Mittagbrot gewesen war, griff nun mit
eifrigem Hunger zu den guten Sachen und war der fröhlichste von allen.
Doch mußte er bei diesem ersten Fest seines Mannesalters die bittere
Erfahrung machen, daß nicht alles Wohlschmeckende auch wohltut und daß
seine Kräfte im Schlürfen männlicher Genüsse noch die eines Kindes
waren. Er erlag mit Schmach dem dritten oder vierten Glase Bier und
mußte den Heimweg nach Lächstetten als Nachzügler unter des Freundes
Obhut in Schmerzen und Reue zurücklegen.

Wehmütig nahm er am Abend von dem Freunde Abschied und trug ihm Grüße
an die Kameraden und an die lieben Fräulein auf, die er nicht mehr zu
Gesicht bekommen hatte. Großmütig hatte ihm Franz Remppis ein Billet
für die Eisenbahn geschenkt, und während er im Fahren durchs Fenster
die schöne sommerliche Landschaft abendlich werden und festlich
verglühen sah, empfand er alle Ernüchterung der Rückkehr zu Arbeit und
Entbehrung voraus und hätte nichts dagegen gehabt, wenn es angegangen
wäre, diesen Tag wieder auszustreichen und zu den ungelebten zu legen.

Dennoch konnte er, ohne zu lügen, nach vier Tagen seinem Freunde
schreiben:

                                  »Lieber Freund!

In Anbetracht des verflossenen Sonntags möchte nicht unterlassen,
Dir nochmals meinen Dank auszusprechen. Zu meinem lebhaften Bedauern
ist mir unterwegs jenes Versehen passiert und hoffe ich sehr, es
möchte Dir und den Herren und Damen den schönen Festtag nicht gestört
haben. Namentlich wäre Dir äußerst verpflichtet, wenn Du die Güte
haben wolltest, dem Fräulein Emma einen Gruß von mir und meine Bitte
um Entschuldigung für jenes Unglück zu bestellen. Zugleich wäre ich
sehr gespannt, Deine Ansicht über Fräulein Emma erfahren zu dürfen,
da ich nicht verhehlen kann, daß eben diese mir völlig zugesagt und
ich eventuell nicht abgeneigt wäre, bei späterem Anlaß an selbe mit
ernsteren Anträgen heranzutreten. Diesbezüglich Deine strengste
Diskretion erbittend und voraussetzend verbleibe mit besten Grüßen in
freundschaftlicher Ergebenheit Dein Emil Kolb.«

Franz gab hierauf nie eine richtige Antwort. Er ließ wissen, daß
der Gruß ausgerichtet sei und daß die Herren vom Verein sich freuen
würden, Emil bald einmal wieder bei sich zu sehen. Der Sommer ging
hin, und die Freunde sahen sich in Monaten nur ein einziges Mal,
bei einer Zusammenkunft in dem Dorfe Walzenbach, das in der Mitte
zwischen Lächstetten und Gerbersau lag und wohin Emil den Schulfreund
bestellt hatte. Es kam jedoch keine richtige Wiedersehensfreude auf,
denn Emil hatte keinen anderen Gedanken, als etwas über das Fräulein
Emma zu erfahren, und Franz wußte seinen Fragen nach ihr immer wieder
hartnäckig auszuweichen. Er hatte nämlich seit jenem Sonntage selbst
seine Blicke auf diese Jungfer gerichtet und seinen Freund bei ihr
auszustechen versucht. Unschönerweise hatte er damit begonnen, daß
er dessen Legende zerstört und seine geringe Herkunft ohne Schonung
dargetan hatte. Zum Teil wegen dieses Verrates am Freunde, noch mehr
aber wegen einer sogenannten Hasenscharte, welche Franz am Munde hatte
und die der Emma mißfiel, wies sie ihn sehr kühl ab, wovon Emil jedoch
nichts erfuhr. Und nun saßen die alten Freunde einander unoffen und
enttäuscht gegenüber und waren beim Auseinandergehen am Abend nur
darin einig, daß keiner von beiden eine baldige Wiederholung dieser
Zusammenkunft für notwendig hielt.

Im Geschäft der Brüder Dreiß hatte sich Emil indessen zwar nicht eben
beliebt, wohl aber nützlich gemacht und soviel Vertrauen erworben,
daß im Herbst, nach dem Avancement des ältesten Lehrlings und dem
Eintritt eines neuen, die Prinzipale keinen Grund fanden, von einer
alten Gewohnheit abzugehen, und dem Jüngling die sogenannte Portokasse
übergaben. Es wurde ihm ein Stehpult angewiesen und zugleich Büchlein
und Kasse übergeben, ein flaches Kästlein aus grünem Drahtgeflechte,
worin oben die Bogen mit Briefmarken, unten aber das bare Geld geordnet
lagen.

Der Jüngling, am Ziele langer Wünsche und Pläne angelangt, verwaltete
in der ersten Zeit die paar Taler seiner Kasse mit äußerster
Gewissenhaftigkeit. Seit Monaten mit dem Gedanken vertraut, aus dieser
Quelle zu schöpfen, nahm er nun doch keinen Pfennig an sich. Diese
Ehrlichkeit wurzelte nur zum Teil in der Furcht und in der klugen
Voraussetzung, man werde seine Führung in dieser ersten Zeit besonders
genau beobachten. Vielmehr war es ein Gefühl von Feierlichkeit und
innerer Befriedigung, das ihn gut machte und vom Bösen abhielt.
Emil sah sich, im Besitz eines eigenen Stehpultes im Kontor und als
Verwalter baren Geldes, in die Reihe der Erwachsenen und Geachteten
emporgerückt; er genoß diese Stellung mit Andacht und sah auf
den soeben neu eingetretenen jüngsten Lehrling mit großem Mitleid
hernieder. Diese gütige und weiche Stimmung hielt ihn gefangen.
Allein wie den schwachen Burschen eine Stimmung vom Bösen abzuhalten
vermochte, so genügte auch eine Stimmung, ihn an seine üblen Vorsätze
zu erinnern und diese zur Ausführung zu bringen.

Es begann, wie alle Sünden junger Geschäftsleute, an einem Montage.
Dieser Tag, an welchem nach kurzer Sonntagsfreiheit und mancher
Lustbarkeit die Nebel des Dienstes, des Gehorchenmüssens und der
Arbeit sich wieder für so lange Tage senken, ist auch für fleißige und
tüchtige junge Menschen eine Prüfung, zumal wenn auch die Vorgesetzten
den Sonntag der Lust geweiht und alle gute Laune einer Woche im voraus
verbraucht haben.

Es war ein Montag zu Anfang des November. Die beiden älteren Lehrlinge
waren tags zuvor samt dem Herrn Volontär in der Vorstellung einer
durchreisenden Theatertruppe gewesen und hatten nun, durch das
gemeinsame seltne Erlebnis heimlich verbunden, viel untereinander
zu flüstern. Der Volontär, ein junger Lebemann aus der Hauptstadt,
ahmte an seinem Stehpult Grimassen und Gebärden eines Komikers nach
und weckte die Erinnerung an gestrige Genüsse jeden Augenblick von
neuem. Emil, der den regnerischen Sonntag zu Hause mit Lesen und
kaufmännischen Stilübungen hingebracht hatte, horchte mit Neid und
Ärger hinüber. Der jüngere Chef hatte ihn am frühen Morgen schon in
bitterer Montagslaune angebrummt, allein und ausgeschlossen stand er
an seinem Platz, während die anderen ans Theater dachten und ihn ohne
Zweifel bemitleideten.

Traurig und erbittert durchlas er einen Brief seines Prinzipals, den
er abschicken sollte und aus dem er zuvor noch Stilistisches zu lernen
hoffte. Es war ein Brief an einen großen Lieferanten und begann »Sehr
geehrter Herr! Ihre geschätzte Faktura noch immer vergebens erwartend,
bitte nun endlich, Berechnung über die am 11. Vorigen erhaltenen Waren
einzusenden.« Es war nichts Neues, enttäuscht legte der Lehrling den
Brief zu den anderen. In diesem Augenblick erschallte draußen auf dem
Marktplatz ein fröhlich schmetternder Trompetenstoß, der sich zweimal
wiederholte. Das Signal, seit einigen Tagen der ganzen Stadt vertraut,
kündete den Ausrufer der Schauspielerfamilie an, der auch sogleich
auf dem Platz erschien, sich auf die Vortreppe des Rathauses schwang
und mit rollender Stimme verkündete: »Meine Herrschaften! Damen und
Herren! Es findet heute Abend acht Uhr im Saale des Hotels zum grauen
Hecht die unwiderruflich letzte Vorstellung der bekannten Truppe Elvira
statt. Zur Aufführung gelangt das berühmte Stück »Der Graf von Felsheim
oder Vaterfluch und Brudermord«. Zu dieser unwiderruflich allerletzten
Hauptgalavorstellung wird Alt und Jung hiermit ergebenst eingeladen.
Trara! Trara! Am Schlusse findet eine Verlosung wertvoller Gegenstände
statt! Jeder Inhaber einer Karte zum ersten und zweiten Rang erhält
vollständig gratis ein Los. Trara! Trara! Letztes Auftreten
der berühmten Truppe! Letztes Auftreten auf Wunsch zahlreicher
Kunstfreunde! Heute Abend halb acht Uhr Kassenöffnung!«

Dieser Lockruf mitten in der Trübe des nüchternen Montagmorgens
traf den einsamen Lehrling ins Herz. Die Gebärden und Gesichter des
Volontärs, das Tuscheln der Kollegen, bunte, wirre Vorstellungen von
unerhörtem Glanz und Genuß flossen zu dem glühenden Verlangen zusammen,
endlich auch einmal dies alles zu sehen und zu genießen, und das
Verlangen ward alsbald zum Vorsatz, denn die Mittel waren ja in seiner
Hand.

An diesem Tage schrieb Emil Kolb zum erstenmal falsche Zahlen in sein
kleines sauberes Kassabüchlein und nahm einige Nickelstücke von dem ihm
Anvertrauten weg. Aber obwohl dies schlimmer war als vor Monaten jener
Diebstahl einer Briefmarke, blieb doch diesmal sein Herz ruhig. Er
hatte sich seit langem an den Gedanken dieser Tat gewöhnt, er fürchtete
keine Entdeckung, ja er fühlte einen leisen Triumph, als er sich abends
vom Prinzipal verabschiedete. Da ging er nun hinweg, das Geld des
Mannes in seiner Tasche, und er würde es noch oft so machen, und der
dumme Kerl würde nichts merken.

Das Theater machte ihn sehr glücklich. In großen Städten, hatte er
sagen hören, gab es noch weit größere und glänzendere Theater, und da
gab es Leute, die jeden lieben Abend hineingingen, immer auf die besten
Plätze. So wollte er es auch einmal haben. War ihm auch der Sinn des
Theaterspielens dunkel, so amüsierten ihn doch die farbigen Figuren
und Bilder der Bühne, außerdem war es nobel und gab Ansehen, wenn einer
so im Parkett sitzen und sich von den Lustigmachern für sein Geld was
vorspielen lassen konnte.

Von da an hatte die Portokasse des Hauses Dreiß ein unsichtbares Loch,
durch welches in aller Stille immerzu ein kleiner dünner Geldfluß
entwich und dem Lehrling Kolb gute Tage machte. Das Theater freilich
zog hinweg in andere Städte, und ähnliches kam sobald nicht wieder.
Aber da war bald eine Kirchweih in Hängstett, bald auf dem Brühel ein
Karussell, und außer dem Fahrgeld und Bier oder Kuchen war meistens
dazu auch ein neuer Hemdkragen oder Schlips unentbehrlich, oder beides.
Ganz allmählich wurde der arme junge Mensch zu einem verwöhnten Manne,
der sich überlegt, wo er am kommenden Sonntag vergnügt sein will, und
der aufs Geld nicht zu sehen braucht. Er hatte bald gelernt, daß es
beim Vergnügen auf anderes ankommt als aufs Notwendige, und tat mit
Genuß Dinge, die er früher für Sünde und Dummheit gehalten hätte. Beim
Bier schrieb er an die jungen Herren in Lächstetten Ansichtskarten,
und nicht die billigsten, sondern stets von den lackierten farbigen
mit den tiefblauen Himmeln und brandroten Dächern, auf denen jede
Gegend schöner aussah, als am schönsten Sommertage. Und wo er sonst ein
trockenes Brot verzehrt hatte, fragte er nun nach Wurst oder Käse dazu,
er lernte in Wirtschaften herrisch nach Senf und Zündhölzern verlangen
und den Zigarettenrauch durch die Nase blasen.

Immerhin mußte er in solchem Verbrauch seines Wohlstandes vorsichtig
sein und durfte nicht immer auftreten, wie es ihm gerade Spaß gemacht
hätte. Die paar ersten Male spürte er auch vor dem Monatsende und
der Kontrolle seiner Kasse ziemliches Bangen. Aber stets ging alles
gut, und nirgends fand sich eine Nötigung, den begonnenen Unfug
einzustellen. So wurde Kolb, wie jeder Gewohnheitsdieb, trotz aller
Vorsicht am Ende sicher und blind.

Und eines Tages, da er wieder das Portogeld für sieben Briefe statt für
vier aufgeschrieben hatte und da sein Herr ihm den falschen Eintrag
vorhielt, blieb er frech dabei, es müßten sieben Briefe gewesen sein.
Und da der Herr Dreiß sich dabei zu beruhigen schien, ging Emil
friedlich seiner Wege. Am Abend aber setzte sich der Herr, ohne daß
der Schelm davon wußte, hinter sein Büchlein und studierte es sorgsam
durch. Denn es war ihm nicht nur der größere Portoverbrauch in letzter
Zeit aufgefallen, sondern es hatte ihm heute ein Gastwirt aus der
Vorstadt erzählt, der junge Kolb komme neuerdings am Sonntag öfter zu
ihm und scheine mehr für Bier auszugeben, als der Vater ihm dafür geben
könne. Und nun hatte der Kaufherr geringe Mühe, das Übel zu übersehen
und die Ursache mancher Veränderung im Wesen und Treiben seines jungen
Kassiers zu erkennen.

Da der ältere Bruder Dreiß gerade auf Reisen war, ließ der jüngere
der Sache zunächst ihren Lauf, indem er nur täglich in der Stille die
kleinen Unterschlagungen betrachtete und notierte. Er sah, daß sein
Verdacht dem jungen Manne nicht Unrecht getan hatte, und wunderte sich
ärgerlich über die Ruhe und geschickte Sachlichkeit, mit der ihn der
Bursche eine so lange Zeit hintergangen und bestohlen hatte.

Der Bruder kehrte zurück, und am folgenden Morgen beriefen die beiden
Herren den Sünder in ihr Privatkontor. Da versagte denn doch die
erworbene Sicherheit des Gewissens; kaum hatte Emil Kolb die beiden
ernsten Gesichter der Prinzipale und in des einen Händen sein schmales
Kassenbüchlein erblickt, so wurde er weiß im Gesicht und verlor den
Atem.

Hier begannen Emils schlimme Tage. Als würde ein schmucker Marktplatz
durchsichtig, oder eine nette helle Gasse, und man sähe unterm Boden
Kanäle, Kloaken und trübe Wasser rinnen, von Gewürm bevölkert und übel
riechend, so lag der unreine Grund dieses scheinbar harmlosen jungen
Lebens häßlich aufgedeckt vor seinen und seiner Herren Augen da. Das
Schlimmste, was er je gefürchtet, war hereingebrochen, und es war
übler, als er gedacht hätte. Alles Saubere, Ehrliche, das bisher in
seinem Leben gewesen war, versank und war weg, sein Fleiß und Gehorsam
war nicht gewesen, es blieb von einem fleißigen Leben zweier Jahre
nichts übrig als die Schmach seines Vergehens.

Emil Kolb, der bis dahin einfach ein kleiner Schelm und bescheidener
Hausdieb gewesen war, wurde nun zu dem, was die Zeitungen ein Opfer der
Gesellschaft nennen.

Denn die beiden Brüder Dreiß waren nicht darauf eingerichtet, in ihren
vielen Lehrbuben junge Menschen mit jungen wartenden Schicksalen zu
sehen, sondern nur eben Arbeiter, deren Unterhalt wenig kostete und
die für Jahre eines nicht leichten Dienstes noch dankbar sein mußten.
Sie konnten nicht sehen, daß hier ein verwahrlostes junges Leben an
der Wende stand, wo es ins Dunkel hinabgeht, wenn nicht ein guter und
williger Mensch zu helfen bereit ist. Einem jungen Diebe zu helfen wäre
ihnen im Gegenteil als Sünde und Torheit erschienen. Sie hatten einem
Buben aus armem Hause Vertrauen geschenkt und ihr Haus geöffnet, nun
hatte dieser Mensch sie hintergangen und ihr Vertrauen mißbraucht --
das war eine klare Sache. Die Herren Dreiß waren sogar edel und kamen
überein, den armen Kerl nicht der Polizei zu übergeben, und doch wäre
dies das Beste gewesen, wenn sie doch einmal selbst die Hand von dem
Entgleisten abziehen wollten. Sie entließen ihn vielmehr, ausgescholten
und zerschmettert, und trugen ihm auf, er möge zu seinem Vater gehen
und ihm selber sagen, weshalb man ihn in einem anständigen Handelshause
nicht mehr brauchen könne.

Daraus darf jedoch den Brüdern Dreiß kein Vorwurf gemacht werden. Sie
waren ehrenwerte Männer und auf ihre Art wohlmeinend, sie waren nur
gewohnt, in allem Geschehenden »Fälle« zu sehen, auf welche sie je
nachdem eine der Regeln bürgerlichen Tuns anwenden mußten. So war auch
Emil Kolb für sie nicht ein gefährdeter und untersinkender Mensch,
sondern ein bedauerlicher Fall, welchen sie nach allen Regeln ohne
Härte erledigten.

Sie waren sogar über das notwendige Maß pflichtbewußt und gingen am
folgenden Tage selber zu Emils Vater, um mit ihm zu reden, die Sache
zu erzählen und etwa mit einem Rate zu dienen. Aber der Vater Kolb
wußte noch gar nichts von dem Unglück. Sein Sohn war gestern nicht nach
Hause gekommen, er war davongelaufen und hatte die Nacht im Freien
hingebracht. Zur Stunde, da seine Prinzipale ihn beim Vater suchten,
stand er frierend und hungrig überm Tale am Waldrand und hatte sich, im
Selbsterhaltungsdrang gegen die Versuchung freiwilligen Untergangs, so
hart und trotzig gemacht, wie es dem schwachen Jungen sonst in Jahren
nicht möglich gewesen wäre.

Sein erster Wunsch und Gedanke war gewesen, sich nur zu flüchten,
sich zu verbergen und die Augen zu schließen, da er die Schande wie
einen großen giftigen Schatten über sich fühlte. Erst allmählich,
da er einsah, er müsse zurückkehren und irgendwie das Leben weiter
führen, hatte sein Lebenswille sich zu Trotz verhärtet und er hatte
sich vorgenommen, den Brüdern Dreiß das Haus anzuzünden. Indessen war
auch diese Rachelust vergangen. Emil sah ein, wie sehr er sich den
weiteren Weg zu jedem Glück erschwert habe, und kam am Ende mit seinen
Gedanken zu dem Schlusse, es sei ihm nun doch jeder lichte Pfad verbaut
und er müsse nun erst recht und mit verdoppelten Kräften den Weg des
Bösen gehen, um doch noch auf seine Weise Recht zu behalten und das
Schicksal zu zwingen.

Der entsetzte kleine Flüchtling von gestern kehrte nach einer
verwachten und durchfrornen Nacht als ein junger Bösewicht nach der
Heimat zurück, auf Schmach und üble Behandlung gefaßt und zu Krieg und
Widerstand gegen die Gesetze dieser schnöden Welt gewillt.

Nun wieder wäre es an seinem Vater gewesen, ihn ohne Umgehung der
Prügelstrafe in eine ernsthafte Kur zu nehmen und den geschwächten
Willen nicht vollends zu brechen, sondern langsam wieder zu erheben
und zum Guten zu wenden. Das war indessen mehr, als der Schuster Kolb
vermochte. So wenig wie sein Sohn vermochte dieser Mann das Gesetz
des Zusammenhanges von Ursache und Wirkung zu erkennen oder doch zu
fühlen. Statt die Entgleisung seines Sprößlings als eine Folge seiner
schlechten Erziehung zu nehmen und den Versuch einer Besserung an
sich und dem Kinde zu beginnen, tat Herr Kolb so, als sei von seiner
Seite her alles in Ordnung und als habe er allen Grund gehabt, von
seinem Söhnlein nur Gutes zu erwarten. Freilich, Vater Kolb hatte nie
gestohlen, doch war in seinem Hause der Geist nie gewesen, der allein
in den Seelen der Kinder das Gewissen wecken und der Lust zur Entartung
trotzen kann.

Der zornige, gekränkte Mann empfing den heimkehrenden Sünder wie ein
Höllenwächter bellend und fauchend, er rühmte ohne Grund den guten
Ruf seines Hauses, ja er rühmte seine redliche Armut, die er sonst
hundertmal verwünscht hatte, und lud alles Elend, alle Last und
Enttäuschung seines Lebens auf den halbwüchsigen Sohn, der sein Haus
in Schande gebracht und seinen Namen in den Schmutz gezogen habe.
Alle diese Ausdrücke kamen nicht aus seinem erschrockenen und völlig
ratlosen Herzen, sondern aus Erinnerung, er befolgte damit eine Regel
und erledigte einen Fall, ähnlich und trauriger, als es die Dreiß getan
hatten.

Emil stand ruhig und ließ den Strom verrinnen, er hielt den Kopf
gesenkt und schwieg, er fühlte sich elend, aber beinahe doch dem
ohnmächtig wetternden Alten überlegen. Alles was der Vater von der
ehrlichen Armut vom besudelten Namen und vom Zuchthause schrie, kam ihm
nichtig vor; wenn er irgendeine andere Unterkunft in der Welt gewußt
hätte, wäre er ohne Antwort hinweggegangen. Er war in der überlegenen
Lage dessen, dem alles einerlei ist, weil er soeben von dem bitteren
Wasser der Verzweiflung und des Grauens getrunken hat. Dagegen verstand
er die Mutter wohl, die hinten am Tische saß und stille weinte. Er
fühlte, daß sie in dieser Stunde etwas von dem kosten mußte, woran
er selber diese Nacht gewürgt hatte, aber er fand keinen Weg zu ihr,
der er am wehesten getan hatte und von der er doch am ehesten Mitleid
erwartete.

Das Haus Kolb war nicht in der Lage oder nicht willens, einen nahezu
erwachsenen Sohn unbeschäftigt herumsitzen zu haben.

Der Meister Kolb, als er sich vom ersten Schrecken aufgerafft hatte,
hatte zwar noch alles versucht, dem Schlingel trotz allem eine feinere
Zukunft zu ermöglichen. Aber ein Lehrling, den die Brüder Dreiß, wenn
auch aus unbekannten Ursachen, plötzlich weggejagt hatten, fand in
Gerbersau keinen Boden mehr. Nicht einmal der Schreinermeister Kiderle,
der doch im Blatt einen Lehrbuben bei freier Kost gesucht hatte, konnte
sich entschließen, den Emil aufzunehmen. Ein Schneider freilich war
noch da, der hätte ihn genommen, aber dagegen sträubte sich Emil selbst
so wild und verzweifelt, daß man ihn gewähren lassen mußte.

Schließlich, als eine Woche nutzlos verstrichen war, sagte der Vater:
»Ja, wenn alles nicht hilft, mußt du halt in die Fabrik!«

Er war auf Klagen und Widerstand gefaßt, aber Emil sagte ganz
zufrieden: »Mir ist's recht. Aber den Hiesigen mach' ich die Freude
nicht, daß sie mich in die Fabrik gehen sehen.«

Daraufhin fuhr Herr Kolb mit seinem Sohne nach Lächstetten hinüber.
Da sprach er beim Fabrikanten Erler vor, der tannene Faßspunden
herstellte, fand aber kein Gehör, und dann beim Walkmüller, der
ebenfalls eilig dankte, und ging schließlich verzweifelnd, nur weil vor
dem Abgang des Zuges noch eine halbe Stunde Zeit übrig war, auch noch
in die Spindlersche Maschinenstrickerei, wo er im Werkführer zu seiner
Überraschung einen Bekannten fand, der sich für ihn verwendete. So ließ
man den Zug fahren und wartete auf den Fabrikanten, der nach wenig
Worten den jungen Menschen auf Probe zu nehmen einwilligte.

Nach der Art gedankenloser Leute war Vater Kolb froh, als am folgenden
Montag sein mißratener Sohn das Haus verließ, um sein Fabriklerleben
in Lächstetten zu beginnen. Auch dem Sohne war es wohl, daß er aus den
Augen der Eltern kam. Er nahm Abschied, als wäre es für wenige Tage,
und hatte doch fest im Sinne, sich daheim nimmer oder doch lange Zeit
nicht mehr zu zeigen.

Der Eintritt in die Fabrik fiel ihm trotz aller desperaten Vorsätze
doch nicht leicht. Wer einmal gewohnt war, wenn auch nur als geringstes
Glied, zu den geachteten Ständen zu gehören und über den Pöbel die Nase
zu rümpfen, dem ist es ein saurer Bissen, wenn er einmal selber den
guten Rock ausziehen und zu den Verachteten zählen soll.

Dazu kam, daß Emil bei dem Wegzug nach Lächstetten sich darauf
verlassen hatte, daß er dort an seinem Freunde Remppis einen guten
Halt finden werde. Darin hatte der schlaue Jüngling sich indessen
verrechnet. Er hatte nicht gewagt, seinen Freund im stolzen Hause des
Prinzipals aufzusuchen, begegnete ihm aber gleich am zweiten Abend auf
der Gasse. Erfreut trat er auf ihn zu und rief ihn bei Namen.

»Grüß Gott, Franz, das freut mich aber! Denk, ich bin jetzt auch in
Lächstetten!«

Der Freund aber machte gar kein frohes Gesicht. »Ich weiß schon,« sagte
er sehr kühl, »man hat es mir geschrieben.«

Sie gingen miteinander die Gasse hinab. Emil suchte einen leichten
Ton anzustimmen, aber die Mißachtung, die der Freund ihm so deutlich
zeigte, drückte ihn nieder. Er versuchte zu erzählen, zu fragen, ein
Zusammentreffen am Sonntag zu verabreden; aber auf alles antwortete
Franz Remppis kühl und vorsichtig. Er habe jetzt so wenig Zeit, sei
auch nicht recht wohl, und gerade heut erwarte ihn ein Kamerad in einer
wichtigen Angelegenheit, und auf einmal war er weg und Emil ging allein
durch den Abend zu seiner ärmlichen Schlafstelle, erzürnt und traurig.
Er nahm sich vor, dem Freunde bald seine Untreue in einem beweglichen
Briefe vorzuhalten, und fand in diesem Vorsatz einigen Trost.

Allein auch hierin kam ihm Franz zuvor. Schon am folgenden Tage erhielt
der junge Fabrikler beim abendlichen Nachhausekommen einen Brief, den
er mit Sorgen öffnete und mit Schrecken las:

Geehrter Emil!

Unter Bezugnahme auf unser Mündliches von gestern, möchte Dir
nahelegen, künftighin auf unsere bisherigen angenehmen Beziehungen zu
verzichten. Ohne Dir im geringsten zu nahe treten zu wollen, dürfte es
doch angezeigt sein, daß jeder von uns seinen Umgang im Kreise seiner
Standesgenossen sucht. Ebendaher erlaube mir auch vorzuschlagen, uns
künftig gegebenenfalls lieber mit dem höflichen Sie anzureden.

Ergebenst grüßend Ihr ehemaliger

                                                         Franz Remppis.

Auf dem Wege des jungen Kolb, der von da an stetig abwärts führte,
war hier der Punkt des letzten Zurückschauens, der letzten Besinnung,
ob es nicht auch anders hätte gehen können, ja ob nicht jetzt noch
eine Wandlung möglich wäre. Nach einigen Tagen lag dies alles abgetan
dahinten, und der junge Mensch lief vollends blindlings in der engen
Sackgasse seines Schicksals weiter.

Die Arbeit in der Fabrik war nicht so schlimm, wie sie ihm geschildert
worden war. Er hatte zu Anfang nur Handlangerdienste zu tun, Kisten zu
öffnen oder zu vernageln, Körbe mit Wolle in die Säle zu tragen, Gänge
zum Magazin und zur Reparaturwerkstätte zu besorgen. Es dauerte jedoch
nicht lange, so bekam er probeweise einen Strickstuhl zu besorgen,
und da er sich anstellig zeigte, saß er in Bälde an seinem eigenen
Stuhl und arbeitete im Akkord, so daß es ganz von seinem Fleiß und
Willen abhing, wieviel Geld er in der Woche verdienen wollte. Dieses
Verhältnis, das sich in keinem anderen Berufe so findet, gefiel dem
jungen Burschen sehr wohl, und er genoß seine Freiheit mit grimmigem
Behagen, indem er am Feierabend und Sonntag mit den wildesten
Kameraden aus der Fabrik bummeln ging. Da gab es keinen Prinzipal
mehr, der in häßlicher Nähe kontrollierend saß, und keine Hausordnung
eines alten strengen Handelshauses, keine Eltern und nicht einmal
ein Standesbewußtsein, das störende Forderungen machen konnte. Geld
verdienen und Geld verbrauchen war des Lebens Sinn, und das Vergnügen
bestand neben Bier und Tanzen und Zigarren vor allem im Gefühl frecher
Unabhängigkeit, womit man am Sonntag den schwarzgekleideten Kaufleuten
und anderen Philistern ins Gesicht grinsen konnte, ohne daß es jemand
gab, der einem verbieten oder befehlen durfte.

Dafür, daß es ihm mißlungen war, aus seinem geringen Vaterhause in die
höheren Stände empor zu gelangen, rächte sich Emil Kolb nun an diesen
höheren Ständen. Er fing, wie billig, oben an und ließ den lieben Gott
seine Verachtung fühlen, indem er weder Predigt noch Katechese je
besuchte und dem Pfarrer, den er zu grüßen gewohnt gewesen war, beim
Begegnen auf der Straße vergnügt den Rauch seiner langen Zigarre ins
Gesicht blies. Schön war es auch, am Abend sich vor das beleuchtete
Schaufenster zu stellen, hinter welchem der Lehrling Remppis noch saure
Abendstunden an der Arbeit war, oder in den Laden selbst hinein zu
gehen und mit dem baren Gelde in der Hosentasche eine gute Zigarre zu
verlangen.

Das Schönste aber waren ohne Zweifel die Mädchen. In der ersten
Zeit hielt sich Emil den Frauensälen der Fabrik fern, bis er eines
Tages in der Mittagspause aus dem Saal der Sortiererinnen eine junge
Mädchengestalt hervortreten sah, die er trotz mancher Veränderungen
alsbald wieder erkannte. Er lief hinüber und rief sie an.

»Fräulein Emma! Kennen Sie mich noch?«

Erst in diesem Augenblicke fiel ihm ein, unter welch anderen Umständen
er das Mädchen im vorigen Jahre kennen gelernt hatte und wie wenig sein
jetziger Zustand dem entsprach, was er ihr damals von sich erzählt
hatte.

Auch sie schien sich jener Unterhaltungen noch wohl zu erinnern, denn
sie grüßte ihn ziemlich kalt und meinte: »So, Sie sind's? Ja, was tun
denn Sie hier?«

Doch gewann er für den Augenblick das Spiel, indem er mit lebhafter
Galanterie antwortete: »Es versteht sich doch von selbst, daß ich nur
Ihretwegen hier bin!«

Das Fräulein Emma hatte seit dem Sonntagsausflug mit dem Verein
jüngerer Angehöriger des Handelsstandes ein wenig an Anmut und
Mädchenzierlichkeit verloren, hingegen sehr an Lebenserfahrung und
Kühnheit gewonnen. Nach einer kurzen Prüfungszeit bemächtigte sie
sich des jungen Liebhabers entschieden, der nun seine Sonntage stolz
und herrisch am Arm der Schönen verbummelte und an Tanzplätzen und
Ausflugsorten seine junge Mannheit sehen ließ.

Es kam da auch zu einem Wiedersehen mit jenem Häuflein junger
Ladenschwengel, dessen Gäste Emma und ihr Schatz damals gewesen waren.
Da mochten nun die Herren Lehrlinge noch so sehr die Nasen hochziehen
und fremd tun, Emil lachte sie geradezu an und hatte sein Mädchen so
frech und herausfordernd im Arme, und sie lachte auch so laut und hing
ihm so hingegeben an, daß freilich die Handelsständler an ihrem Glücke
nicht zweifeln konnten.

Genug Geld zu haben und ohne lästige Kontrolle nach seinem Belieben
ausgeben zu dürfen, war für Kolb ein lang ersehntes Vergnügen, dessen
er jetzt schwelgerisch genoß. Trotzdem aber und trotz seines blühenden
Liebesfrühlings war es dem Manne nicht völlig wohl. Was ihm fehlte,
war die Lust des unrechtmäßigen Besitzes und der Kitzel des schlechten
Gewissens. Zum Stehlen gab es in seinem jetzigen Leben kaum eine
Gelegenheit. Nichts ist dem Menschen schwerer zu entbehren als ein
Laster, und wenige Laster sind so zäh wie das der Diebe. Außerdem hatte
der junge Mensch in seiner Verwahrlosung einen Haß gegen die Reichen
und Angesehenen in sich ausgebildet, aus deren Reihen er für immer
ausgestoßen war, und mit dem Hasse ein Verlangen, diese Leute nach
Möglichkeit zu überlisten und zu schädigen. Das Gefühl, am Samstag
Abend mit einigen wohlverdienten Talern im Beutel aus der Fabrik zu
gehen, war ganz angenehm. Aber jenes Gefühl, heimlich über fremde
Gelder zu verfügen und einen dummen Kerl von Prinzipal beliebig prellen
zu können, war doch weit köstlicher gewesen.

Darum sann Emil Kolb mitten in seinem Glücke immer gieriger auf neue
Möglichkeiten zu unehrlichem Erwerb. Eine neue Leidenschaft, die
soeben Gewalt über ihn zu üben anfing, tat diesen Plänen Vorschub.
Es kam neuerdings manchmal vor, daß er ohne Geld war, obwohl er über
seinen Bedarf verdiente. Er hatte nämlich, durch einen Zeitungsartikel
angeregt, sich in den Gedanken verliebt, einmal durch einen
Lotteriegewinn reich zu werden. Das war schon seinem Vater im Blut
gelegen, der in früheren Zeiten manchen Taler an Lose vergeudet, seit
langem aber das Geld dafür nimmer aufgebracht hatte. Emil kaufte sich
mehrere Lose, und da sie alle nicht gewannen, die Spannung aber im
Erwarten und Lesen der Ziehungslisten ihn immer heftiger kitzelte,
wurde es ihm zur Gewohnheit, immer wieder sein Geld an diese wilden
Hoffnungen zu wagen.

Die Energie eines planmäßigen Denkens, welche er im täglichen Leben und
zu redlichen Zwecken kaum aufbrachte, fand er in seinen Diebesplänen
wieder. Geduldig suchte er Gelegenheit und Ort eines größeren
Unternehmens ausfindig zu machen, und da er durch die heimatlichen
Erfahrungen gewitzigt war, schien es ihm richtig, diesmal das eigene
Geschäft zu schonen und etwas Entlegneres zu suchen. Da stach ihm
der Laden ins Auge, wo Franz Remppis als Lehrling diente, das größte
Geschäft des Städtchens.

Das Haus Johann Löhle in Lächstetten entsprach etwa dem der
Brüder Dreiß in Gerbersau. Es führte außer Kolonialwaren und
landwirtschaftlichen Geräten alle Artikel des täglichen Gebrauches, vom
Briefpapier und Siegellack bis zu Kleiderstoffen und eisernen Öfen, und
hielt nebenher eine kleine Bank. Den Laden kannte Emil Kolb genau, er
war oft genug darin gewesen und über die Standorte mancher Kiste und
Lade sowie über Ort und Beschaffenheit der Kasse wohl unterrichtet.
Über die sonstigen Räume des Hauses wußte er durch frühere Erzählungen
seines Freundes einigermaßen Bescheid, und was ihm zu wissen noch
unentbehrlich schien, erfragte er bei gelegentlichen Besuchen des
Ladens. Er sagte etwa, wenn er abends gegen sieben Uhr den Laden
betrat, zum Hausknecht oder jüngsten Lehrling: »Na, jetzt ist bald
Feierabend!« Sagte der dann: »Noch lange nicht, es kann halb neune
werden«, so fragte Emil weiter: »So so; aber dann kannst du wenigstens
gleich weglaufen, das Ladenschließen wird nicht deine Sache sein.« Und
dann erfuhr er, daß der Prokurist Menzel oder zu andern Zeiten der Sohn
des Prinzipals immer als Letzter das Geschäft verlasse, und richtete
nach alle dem seine Pläne ein.

Darüber verging die Zeit, und es war seit seinem Eintritt in die Fabrik
schon ein Jahr vergangen. Diese lange Zeit war auch an dem Fräulein
Emma nicht spurlos vorübergegangen. Sie begann etwas gealtert und
unfrisch auszusehen; was aber ihren Liebhaber am meisten erschreckte,
war der nicht mehr zu verbergende Umstand, daß sie ein Kind erwartete.
Das verdarb ihm die Lächstettener Luft, und je näher die gefürchtete
Niederkunft heranrückte, desto fester wurde in Kolb der Vorsatz, noch
vor diesem Ereignis den Ort zu verlassen. Er erkundigte sich daher
fleißig nach auswärtigen Arbeitsgelegenheiten und stellte fest, daß er
nichts zu verlieren habe, wenn er sich der Schweiz zuwendete.

Auf den schönen Plan einer Erleichterung des Johann Löhleschen
Ladens jedoch dachte er deswegen nicht zu verzichten. Ja es schien
ihm sehr gut und schlau, seinen Abgang aus der Stadt mit der Tat zu
verbinden. Darum hielt er eine letzte Übersicht über alle seine Mittel
und Aussichten, schloß die Rechnung befriedigt ab und vermißte zur
Ausführung seines Unternehmens nichts als ein wenig Mut. Der kam ihm
jedoch während einer sehr untröstlichen Unterredung mit der Emma, so
daß er im Ärger der Stunde ungesäumt den Weg des Schicksals betrat und
beim Aufseher für die nächste Woche kündigte. Es wurde ihm ohne Erfolg
zum Dableiben geraten, und da er vom Wandern nicht abzubringen war,
versprach ihm der Aufseher ein gutes Zeugnis und eine Empfehlung an
mehrere Schweizer Fabriken mitzugeben.

So setzte er denn den Tag seiner Abreise fest, und am Abend zuvor
beschloß er den Handstreich bei Johann Löhle auszuführen. Er war auf
den Einfall gekommen, sich am Abend in das Haus einschließen zu lassen.
So suchte er denn, vor dem Hause gegen den Abend hin lungernd, schon
mit seinem Zeugnis und Wanderpaß in der Tasche, einen Eingang und fand
ihn in einem Augenblick, da niemand in der Nähe schien, durch das
große, weit offen stehende Hoftor. Vom Hof schlich er sich still in das
Magazin hinüber, das mit dem Laden in unmittelbarer Verbindung stand,
und blieb zwischen Fässern und hohen Kisten verborgen, bis es nachtete
und das Leben im Geschäfte erlosch. Gegen acht Uhr war es in dem Raume
schon völlig dunkel, eine Stunde später verließ der junge Herr Löhle
das Geschäft, schloß hinter sich ab und verschwand nach dem oberen
Stockwerk, wo seine Wohnung lag.

Der im finstern Magazin versteckte Dieb wartete zwei ganze Stunden, ehe
er den Mut fand, einen Schritt zu tun. Dann wurde es ringsum stille,
auch von Straße und Marktplatz her war kaum ein Ton mehr zu hören,
und Emil trat vorsichtig im Finstern aus seinem Loche hervor. Die
Stille des großen, verödeten Raumes beengte ihm das Herz, und als er
an der Türe zum Laden hin den Riegel zurückschob, kam ihm plötzlich
zum Bewußtsein, daß Einbruch ein schweres Verbrechen sei und schwer
bestraft werde. Nun aber, im Laden drinnen, nahm die Fülle der guten
und schönen Dinge seine Aufmerksamkeit ganz gefangen. Es wurde ihm
feierlich zumute, da er die Laden und Wandfächer voller Waren ansah.
Da lagen in einem Glaskasten, nach Sorten geordnet, Hunderte von
schönen Zigarren, und oben auf dem Wandgerüste standen davon weitere
Kisten voll; Zuckerhüte und Feigenkränze, geräucherte lange Würste und
Blechkästen voll Zwieback schauten ihn heiter an, und er konnte nicht
widerstehen, fürs erste wenigstens eine Handvoll feiner Zigarren in
seine Brusttasche zu stopfen.

Beim schwachen Schein seiner winzigen Laterne suchte er alsdann die
Kasse auf, eine einfache Holzschieblade im Ladentisch, die jedoch
verschlossen war. Aus Vorsicht, damit es ihn nicht verriete, hatte er
keinerlei Werkzeuge mitgebracht und suchte sich nun im Laden selbst
Stemmeisen, Zange und Schraubenzieher aus. Damit machte er sorgfältig
das Schloß der Lade los und hatte bald ohne Mühe die Kasse eröffnet.
Mit Begier schaute er beim schwachen Lichte hinein und sah erregt in
kleinen Abteilungen geordnet die Münzen liegen, leise glänzend, Zehner
bei Zehner und Pfennig bei Pfennig. Er begann das Ausräumen mit den
größeren Münzstücken, deren aber sehr wenige da waren, und hatte bald
zu seiner zornigen Enttäuschung überrechnet, daß der ganze Inhalt
der erbrochenen Kasse höchstens zwanzig Mark betrage. Mit so wenigem
hatte er nicht gerechnet und kam sich nun elend betrogen vor. Sein Zorn
war so groß, daß er das Haus hätte anzünden mögen. Da war er nun, so
sorgfältig vorbereitet, zum erstenmal in seinem Leben eingebrochen,
hatte seine schöne Freiheit riskiert und sich in schwere Gefahr
begeben, um die paar elenden Geldstückchen zu erbeuten! Den großen
Haufen Kupfergeld ließ er verächtlich liegen, tat das andere in seinen
Geldbeutel und hielt nun Umschau, was etwa sonst noch des Mitnehmens
wert sein möchte. Da war nun genug des Begehrenswerten, aber lauter
große und schwere Sachen, die ohne Hilfe nicht hinwegzubringen waren.
Wieder kam er sich betrogen vor und war vor Enttäuschung und Kränkung
dem Weinen nahe, als er, ohne mehr etwas dabei zu denken, noch einige
Zigarren und von einem großen Vorrat, der auf dem Tische gestapelt
lag, eine kleine Handvoll Ansichtskarten zu sich steckte und den Laden
verließ. Ängstlich suchte er, ohne Licht, den Weg durch das Magazin
in den Hof zurück und erschrak nicht wenig, als das schwere Hoftor
seinen Bemühungen nicht gleich nachgeben wollte. Verzweifelt arbeitete
er am großen Riegel, der in seiner Steinritze am Boden spannte, und
atmete tief auf, als er nachgab und das Tor langsam aufging. Er zog es
hinter sich notdürftig zu und schritt nun mit einem merkwürdig kühlen
Gefühl von Ernüchterung und Bangigkeit durch die toten nächtigen Gassen
zu seiner Schlafstelle. Hier lag er ohne Schlaf drei bange Stunden
wartend, bis der Morgen graute. Da sprang er auf, wusch sich die Augen
klar und trat mit dem alten kecken Gesicht bei den Hauswirten ein,
um Adieu zu sagen. Er bekam einen Kaffee eingeschenkt und viel gute
Reisewünsche, nahm sein Köfferlein am Stock über die Schulter und ging
zum Bahnhof. Und als im Städtchen der Tag erwachte und der Löhlesche
Hausknecht beim Ladenöffnen die Kasse aufgebrochen fand, da fuhr Emil
Kolb schon ein paar Meilen weiter durch ein schönes Waldland, das er
vom Wagenfenster mit Neugierde betrachtete, denn es war die erste so
große Reise seines Lebens.

Im Hause Johann Löhle erregte die Entdeckung des Verbrechens großen
Sturm, und auch nachdem der Schaden festgestellt und als recht
geringfügig erkannt war, summte die lüsterne Aufregung weiter und
verbreitete sich durch die ganze Stadt. Polizei und Landjägerschaft
erschien, nahm die übliche Reihe von symbolischen Handlungen vor und
stieß die vor dem berühmt gewordenen Hause sich drängende Menschenmenge
hin und wider.

Auch der Amtsrichter erschien selber und besah sich die schlimme
Sache, aber auch er konnte den Täter nicht finden noch ahnen. Es ward
der Hausknecht und der Packer und die ganze Reihe der erschrockenen
und dennoch über das Unerhörte heimlich wild entzückten Lehrlinge ins
Verhör genommen, es wurde nach allen Käufern gefragt, die gestern den
Laden beehrt hatten, doch alles war vergebens. Alsdann setzte der
Amtsrichter einen Bericht über das Schrecknis auf samt einem genauen
Verzeichnis der gestohlenen Sachen. An Emil Kolb dachte niemand.

Indessen dachte dieser selbst sehr häufig an Lächstetten und das Haus
Löhle zurück. Er las mit tiefem Bangen, hernach mit Genugtuung die
heimatlichen Zeitungen, deren mehrere sich mit dem Fall beschäftigten,
und da er sah, daß auf ihn gar kein Verdacht gefallen sei, freute er
sich geschmeichelt seiner Geriebenheit und war trotz der kleinen Beute
mit seinem ersten Einbruch ganz zufrieden.

Noch war er auf der Wanderschaft und hielt sich gerade in der Gegend
des Bodensees auf, denn er hatte wenig Eile und wollte unterwegs auch
etwas sehen. Seine erste Empfehlung lautete nach Winterthur, wo er erst
einzutreffen gedachte, wenn sein Geld knapp werden würde.

Behaglich saß er in einem kleinen hübschen Wirtshause bei einer guten
Wurst, deren Scheiben er bedachtsam und reichlich mit Senf bestrich,
dessen Schärfe er sodann mit einem kühlen guten Bier bekämpfte.
Darüber ward ihm wohl und fast wehmütig vor Erinnerung und abgeklärter
Seelenruhe, so daß er ohne Groll an seine Emma denken konnte. Es schien
ihm nun, sie habe es doch gut mit ihm gemeint, ja sie tat ihm leid und
er hätte sie gerne ein wenig versöhnt und getröstet. Je länger er daran
kaute, desto mehr tat ihm das Mädel leid, und während er das dritte
oder vierte Glas von dem guten Bier bestellte und erwartete, kam er zu
dem Entschlusse, ihr einen Gruß zu schreiben.

Vergnügt griff er in die Tasche, wo noch ein kleiner Vorrat von den
Löhleschen Zigarren übrig war, und zog das kleine steife Päcklein
heraus, worin die Lächstettener Ansichtspostkarten waren. Die Kellnerin
lieh ihm einen Bleistift, und während er ihn mit der Zungenspitze
befeuchtete, schaute er das Bildchen auf den Karten zum erstenmal
genauer an. Es stellte die untere Brücke in Lächstetten vor und war auf
eine ganz neue Manier mit glänzenden Farben gedruckt, wie sie die arme
Wirklichkeit nicht hat. Befriedigt betrachtete Kolb diese Beute, nahm
einen Schluck aus dem Bierglas, das die Kellnerin ihm eben gebracht
hatte, und fing zu schreiben an.

Mit Deutlichkeit malte er die Adresse, wobei ihm der Stift abbrach.
Doch ließ er sich die Laune dadurch nicht verderben, schnitzte
den Stift in aller Ruhe wieder zurecht und schrieb dann unter das
schönfarbene Bild: »Gedenke Deiner in der Fremde und bin mit vielen
Grüßen Dein getreuer E. K.«

Diese zärtliche Karte bekam die betrübte Emma zwar zu Gesicht, jedoch
nicht ohne Verzögerung und nicht aus den Händen des Briefboten, sondern
aus denen des Herrn Amtsrichters, der das Mädchen durch die plötzliche
Vorladung auf sein Amtszimmer nicht wenig erschreckt hatte.

Es waren nämlich jene Ansichtskarten erst vor ganz wenigen Tagen in den
Löhleschen Laden gekommen und von dem ganzen Vorrate waren erst drei
oder vier Stück verkauft worden, deren Käufer man hatte feststellen
können. Es war daher auf die vom Diebe mitgenommenen Karten die
Hoffnung seiner Entdeckung gesetzt worden und die davon unterrichteten
Postbeamten hatten die vom Bodensee her eintreffende Postkarte mit dem
Bild der unteren Brücke von Lächstetten sofort erkannt und angehalten.

Immerhin gelangte Emil Kolb noch bis Winterthur, so daß seine
Gefangennehmung und Überlieferung nicht so einfach und glanzlos
verlief, sondern mit den Stempeln und Uniformen zweier Länder als
feierliche Auslieferung der Schweiz an das Deutsche Reich als
Staatsaktion verlief.

Damit ist die Geschichte Emil Kolbs zu Ende. Seine Einlieferung in
Lächstetten verlief wie ein großes Volksfest, wobei der Triumph der
Einwohnerschaft über den gefesselt einhergeführten achtzehnjährigen
Dieb einer kleinen Ladenkasse alle jenen kleinen Züge zeigte, welche
dem Leser solcher Berichte den Verbrecher bemitleidenswert und die
Einwohnerschaft verächtlich machen. Sein Prozeß dauerte nicht lange.
Ob er nun aus dem Zuchthause, das ihn einstweilen aufgenommen hat,
zu längerem Aufenthalt in unsere Welt zurückkehren oder -- wie ich
glaube -- den Rest seines Lebens mit kleinen Pausen vollends in solchen
Strafanstalten hinbringen wird, jedenfalls wird seine Geschichte uns
wenig mehr zu sagen und zu lehren haben. Denn Emil Kolb war kein
Charakter, auch nicht als Verbrecher, sondern war auch als Verbrecher
nur eben ein Dilettant, der denn auf unsere Achtung keinen Anspruch
hat, unser Mitleid aber eher verdient und braucht als mancher, dessen
Unglück weniger in seiner eigenen Seele begründet scheint.



Pater Matthias


Erstes Kapitel

An der Biegung des grünen Flusses, ganz in der Mitte der hügeligen
alten Stadt, lag im Vormittagslicht eines sonnigen Spätsommertages
das stille Kloster. Von der Stadt durch den hoch ummauerten Garten,
vom ebenso großen und stillen Nonnenkloster durch den Fluß getrennt,
ruhte der dunkle breite Bau in behaglicher Ehrwürdigkeit am gekrümmten
Ufer und schaute mit vielen blinden Fensterscheiben hochmütig in die
entartete Zeit. In seinem Rücken an der schattigen Hügelseite stieg
die fromme Stadt mit Kirchen, Kapellen, Kollegien und geistlichen
Herrenhäusern bergan bis zum hohen Dom; gegenüber aber jenseits des
Wassers und des einsam stehenden Schwesterklosters lag helle Sonne auf
der steilen Halde, deren lichte Matten und Obsthänge da und dort von
goldbraun schimmernden Geröllwällen und Lehmgruben unterbrochen wurden.

An einem offenen Fenster des zweiten Stockwerkes saß lesend der Pater
Matthias, ein blondbärtiger Mann im besten Alter, der im Kloster
und anderwärts den Ruf eines freundlichen, wohlwollenden und sehr
achtbaren Herrn genoß. Es spielte jedoch unter der Oberfläche seines
hübschen Gesichtes und ruhigen Blickes ein Schatten von verheimlichter
Dunkelheit und Unordnung, den die Brüder, sofern sie ihn wahrnahmen,
als einen gelinden Nachklang der tiefen Jugendmelancholie betrachteten,
welche vor zwölf Jahren den Pater in dieses stille Kloster getrieben
hatte und seit geraumer Zeit immer mehr untergesunken und in
liebenswürdige Gemütsruhe verwandelt schien. Aber der Schein trügt, und
Pater Matthias selbst war der einzige, der um die verborgenen Ursachen
dieses Schattens wußte.

Nach heftigen Stürmen einer leidenschaftlichen Jugend hatte ein
Schiffbruch diesen einst glühenden Menschen in das Kloster geführt, wo
er Jahre in zerstörender Selbstverleugnung und Schwermut hinbrachte,
bis die geduldige Zeit und die ursprüngliche kräftige Gesundheit seiner
Natur ihm Vergessen und neuen Lebensmut brachte. Er war ein beliebter
Bruder geworden und stand im gesegneten Ruf, er habe eine besondere
Gabe, auf Missionsreisen und in frommen Häusern ländlicher Gemeinden
die Herzen zu rühren und die Hände zu öffnen, so daß er von solchen
Zügen stets mit reichlichen Erträgen an barem Gut und rechtskräftigen
Legaten in das beglückte Kloster heimkehrte.

Ohne Zweifel war dieser Ruf wohl erworben, sein Glanz jedoch und der
des klingenden Geldes hatte die Väter für einige andere Züge im Bild
ihres lieben Bruders blind gemacht. Denn wohl hatte Pater Matthias
die Seelenstürme jener dunklen Jugendzeiten überwunden und machte
den Eindruck eines ruhig gewordenen, doch vorwiegend frohgesinnten
Mannes, dessen Wünsche und Gedanken im Frieden mit seinen Pflichten
beisammen wohnten; wirkliche Seelenkenner aber hätten doch wohl sehen
müssen, daß die angenehme Bonhommie des Paters nur einen Teil seines
inneren Zustandes wirklich ausdrückte, über manchen verschwiegenen
Unebenheiten aber nur als eine hübsche Maske lag. Der Pater Matthias
war nicht ein Vollkommener, in dessen Brust alle Schlacken des ehemals
untergegangen waren; vielmehr hatte mit der Gesundung seiner Seele auch
der alte, eingeborne Kern dieses Menschen wieder eine Genesung begangen
und schaute, wenn auch aus veränderten und beherrschten Augen, längst
wieder mit heller Begierde nach dem funkelnden Leben der Welt.

Um es ohne Umschweife zu sagen: Der Pater hatte schon mehrmals die
Klostergelübde gebrochen. Seiner reinlichen Natur widerstrebte es zwar,
unterm Mantel der Frömmigkeit Weltlust zu suchen, und er hatte seine
Kutte nie befleckt. Wohl aber hatte er sie, wovon kein Mensch etwas
wußte, schon mehrmals beiseite getan, um sie säuberlich zu erhalten und
nach einem Ausflug ins Weltliche wieder anzulegen.

Pater Matthias hatte ein gefährliches Geheimnis. Er besaß, an sicherem
Orte verborgen, eine angenehme, ja elegante Bürgerkleidung samt
Wäsche, Hut und Schmuck, und wenn er auch neunundneunzig von hunderten
seiner Tage durchaus ehrbar in Kutte und Pflichtübung hinbrachte,
so weilten seine heimlichen Gedanken doch allzu oft bei jenen
seltenen, geheimnisvollen Tagen, die er da und dort als Weltmann unter
Weltmenschen verlebt hatte.

Dieses Doppelleben, dessen Ironie auszukosten des Paters Gemüt viel zu
redlich war, lastete als ungebeichtetes Verbrechen auf seiner Seele.
Wäre er ein schlechter, uneifriger und unbeliebter Pater gewesen,
so hätte er längst den Mut gefunden, sich des Ordenskleides unwürdig
zu bekennen und eine ehrliche Freiheit zu gewinnen. So aber sah er
sich geachtet und geliebt und tat seinem Orden die trefflichsten
Dienste, neben welchen ihm sogar zuweilen seine Verfehlungen beinahe
verzeihlich erscheinen wollten. Ihm war wohl und frei ums Herz, wenn
er in ehrlicher Arbeit für die Kirche und seinen Orden wirken konnte.
Wohl war ihm auch, wenn er auf verbotenen Wegen den Begierden seiner
Natur Genüge tun und lang unterdrückte Wünsche ihres Stachels berauben
konnte. In allen müßigen Zwischenzeiten jedoch erschien in seinem guten
Blick der unliebliche Schatten, da schwankte seine nach Sicherheit
begehrende Seele zwischen Reue und Trotz, Mut und Angst hin und wider,
und bald beneidete er jeden Mitbruder um seine Unschuld, bald jeden
Städter draußen um seine Freiheit.

So saß er auch jetzt, vom Lesen nicht erfüllt, an seinem Fenster
und sah häufig vom Buche weg ins Freie hinaus. Indem er mit müßigem
Auge den lichten frohen Hügelhang gegenüber betrachtete, sah er
einen merkwürdigen Menschenzug dort drüben erscheinen, der von der
Höhenstraße her auf einem Fußpfad näher kam.

Es waren vier Männer, von denen der eine fast elegant, die anderen
schäbig und kümmerlich gekleidet waren, ein Landjäger in glitzernder
Uniform ging ihnen voraus und zwei andere Landjäger folgten hinten
nach. Der neugierig zuschauende Pater erkannte bald, daß es Verurteilte
waren, welche vom Bahnhofe her auf diesem nächsten Wege dem
Kreisgefängnis zugeführt wurden, wie er es öfter gesehen hatte.

Erfreut durch die Ablenkung, beschaute er sich die betrübte
Gruppe, jedoch nicht ohne in seinem heimlichen Mißmut unzufriedene
Betrachtungen daran zu knüpfen. Er empfand zwar wohl ein Mitleid mit
diesen armen Teufeln, von welchen namentlich einer den Kopf hängen
ließ und jeden Schritt voll Widerstrebens tat; doch meinte er, es
ginge ihnen eigentlich nicht gar so übel wie ihre augenblickliche Lage
andeute.

»Jeder von diesen Gefangenen«, dachte er, »hat als ersehntes Ziel den
Tag vor Augen, da er entlassen und wieder frei wird. Ich aber habe
keinen solchen Tag vor mir, nicht nah noch ferne, sondern eine endlose
bequeme Gefangenschaft, nur durch seltene gestohlene Stunden einer
eingebildeten Freiheit unterbrochen. Der eine oder andere von den armen
Kerlen da drüben mag mich jetzt hier sitzen sehen und mich herzlich
beneiden. Sobald sie aber wieder frei sind und ins Leben zurückkehren,
hat der Neid ein Ende und sie halten mich lediglich für einen armen
Tropf, der wohlgenährt hinterm zierlichen Gitter sitzt.«

Während er noch, in den Anblick der Dahingeführten und Soldaten
verloren, solchen Gedanken nachhing, trat ein Bruder bei ihm ein
und meldete, er werde vom Guardian in dessen Amtszimmer erwartet.
Freundlich kam der gewohnte Gruß und Dank von seinen Lippen, lächelnd
erhob er sich, tat das Buch an seinen Ort, wischte über den braunen
Ärmel seiner Kutte, auf dem ein Lichtreflex vom Wasser herauf in
rostfarbenen Flecken tanzte, und ging sogleich mit seinem unfehlbar
anmutig-würdigen Schritt über die langen kühlen Korridore zum Guardian
hinüber.

Dieser empfing ihn mit gemessener Herzlichkeit, bot ihm einen Stuhl an
und begann ein Gespräch über die schlimme Zeit, über das scheinbare
Abnehmen des Gottesreiches auf Erden und die zunehmende Teuerung.
Pater Matthias, der dieses Gespräch seit langem kannte, gab ernsthaft
die erwarteten Antworten und Einwürfe von sich und sah mit froher
Erregung dem Endziel entgegen, welchem sich denn auch der würdige Herr
ohne Eile näherte. Es sei, so schloß er seufzend, eine Ausfahrt ins
Land sehr notwendig, auf welcher Matthias den Glauben treuer Seelen
ermuntern, den Wankelmut ungetreuer vermahnen solle und von welcher
er, wie man hoffe, eine erfreuliche Beute von Liebesgaben heimbringen
werde. Der Zeitpunkt sei nämlich ungewöhnlich günstig, da ja soeben in
einem fernen südlichen Lande bei Anlaß einer politischen Revolution
Kirchen und Klöster mörderlich heimgesucht worden, wovon alle Zeitungen
meldeten. Und er gab dem Pater eine sorgfältige Auswahl von teils
schrecklichen, teils rührenden Einzelheiten aus diesen neuesten
Martyrien der kämpfenden Kirche.

Dankend zog sich der erfreute Pater zurück, schrieb Notizen in sein
kleines Taschenbüchlein, überdachte mit geschlossenen Augen seine
Aufgabe und fand eine glückliche Wendung und Lösung um die andere,
ging zur gewohnten Stunde munter zu Tische und brachte alsdann den
Nachmittag mit den vielen kleinen Vorbereitungen zur Reise hin.
Sein unscheinbares Bündel war bald beisammen; weit mehr Zeit und
Sorgfalt erforderten die Anmeldungen in Pfarrhäusern und bei treuen
gastfreien Anhängern, deren er manche wußte. Gegen Abend trug er eine
Handvoll Briefe zur Post und hatte dann noch eine ganze Weile auf
dem Telegraphenamt zu tun. Schließlich legte er noch einen tüchtigen
Taschenvorrat von kleinen Traktaten, Flugblättern und frommen Bildchen
bereit und schlief danach fest und friedevoll als ein Mann, der
wohlgerüstet einer ehrenvollen Arbeit entgegengeht.


Zweites Kapitel

Am Morgen gab es, gerade vor seiner Abreise, noch eine kleine
unerfreuliche Szene. Es lebte im Kloster ein junger Laienbruder von
geringem Verstand, der früher an Epilepsie gelitten hatte, aber seiner
zutraulichen Unschuld und rührenden Dienstwilligkeit wegen von allen
im Hause geliebt wurde. Dieser einfältige Bursche begleitete den
Pater Matthias zur Eisenbahn, seine kleine Reisetasche tragend. Schon
unterwegs zeigte er ein etwas erregtes und gestörtes Wesen, auf dem
Bahnhofe aber zog er plötzlich mit flehenden Mienen den reisefertigen
Pater in eine menschenleere Ecke und bat ihn mit Tränen in den Augen,
er möge doch um Gotteswillen von dieser Reise abstehen, deren
unheilvollen Ausgang ihm eine sichere Ahnung vorausverkünde.

»Ich weiß, Ihr kommet nicht wieder!« rief er weinend mit verzerrtem
Gesicht. »Ach ich weiß gewiß, Ihr werdet nimmer wiederkommen!«

Der gute Matthias hatte alle Mühe, dem Trostlosen, dessen Zuneigung er
kannte, zuzureden; er mußte sich am Ende beinahe mit Gewalt losreißen
und sprang in den Wagen, als der Zug schon die Räder zu drehen begann.
Und im Wegfahren sah er von draußen das angstvolle Gesicht des
Halbklugen mit Wehmut und Sorge auf sich gerichtet. Der unscheinbare
Mensch in seiner schäbigen und verflickten Kutte winkte ihm noch lange
nach, Abschied nehmend und beschwörend, und es ging dem Abreisenden
noch eine Weile ein leiser kühler Schauder nach.

Bald indessen überkam ihn die hintangehaltene Freude am Reisen, das
er über alles liebte, so daß er die peinliche Szene rasch vergaß und
mit zufriedenem Blick und gespannten Seelenkräften den Abenteuern und
Siegen seines Beutezuges entgegenfuhr. Die hügelige und waldreiche
Landschaft leuchtete ahnungsvoll einem glänzenden Tag entgegen,
schon von ersten herbstlichen Feuern überflogen, und der reisende
Pater ließ bald das Brevier wie das kleine wohlgerüstete Notizbuch
ruhen und schaute in wohliger Erwartung durchs offne Wagenfenster
in den siegreichen Tag, der über Wälder hinweg und aus noch
nebelverschleierten Tälern emporwuchs und Kraft gewann, um bald in Blau
und Goldglanz makellos zu erstehen. Seine Gedanken gingen elastisch
zwischen diesem Reisevergnügen und den ihm bevorstehenden Aufgaben hin
und wider. Wie wollte er die fruchtbringende Schönheit dieser Erntetage
hinmalen, und den nahen sicheren Ertrag an Obst und Wein, und wie würde
sich von diesem paradiesischen Grunde das Entsetzliche abheben, das
er von den heimgesuchten Gläubigen in dem fernen gottlosen Lande zu
berichten hatte!

Die zwei oder drei Stunden der Eisenbahnfahrt vergingen schnell. An dem
bescheidenen Bahnhofe, an welchem Pater Matthias ausstieg und welcher
einsam neben einem kleinen Gehölz im freien Felde lag, erwartete ihn
ein hübscher Einspänner, dessen Besitzer den geistlichen Gast mit
Ehrerbietung begrüßte. Dieser gab leutselig Antwort, stieg vergnügt
in das bequeme Gefährt und fuhr sogleich an Ackerland und schöner
Weide vorbei dem stattlichen Dorfe entgegen, wo seine Tätigkeit
beginnen sollte und das ihn bald einladend und festlich anlachte,
zwischen Weinbergen und Gärten gelegen. Der fröhliche Ankommende
betrachtete das hübsche gastliche Dorf mit Wohlwollen. Da wuchs Korn
und Rübe, gedieh Wein und Obst, stand Kartoffel und Kohl in Fülle, da
war überall Wohlsein und feiste Gedeihlichkeit zu spüren; wie sollte
nicht von diesem Born des Überflusses ein voller Opferbecher auch dem
anklopfenden Gaste zugut kommen?

Der Pfarrherr empfing ihn und bot ihm Quartier im Pfarrhause an,
teilte ihm auch mit, daß er schon auf den heutigen Abend des Paters
Gastpredigt in der Dorfkirche angekündigt habe und daß, bei dem Ruf
des Herrn Paters, ein bedeutender Zulauf auch aus dem Filialdorfe zu
erwarten sei. Der Gast nahm die Schmeichelei mit Liebenswürdigkeit
auf und gab sich Mühe, den Kollegen mit Höflichkeit einzuspinnen, da
er die Neigung kleiner Landpfarrer wohl kannte, auf wortgewandte und
erfolgreiche Gastspieler ihrer Kanzeln eifersüchtig zu werden.

Hinwieder hielt der Geistliche mit einem recht üppigen Mittagessen im
Hinterhalt, das alsbald nach der Ankunft im Pfarrhause aufgetragen
wurde. Und auch hier wußte Matthias die Mittelstraße zwischen Pflicht
und Neigung zu finden, indem er unter schmeichelnder Anerkennung
hiesiger Küchenkünste dem Dargebotenen mit gesunder Begierde
zusprach, ohne doch -- zumal beim Weine -- ein ihm bekömmliches
Maß zu überschreiten und seiner Aufgabe zu vergessen. Gestärkt und
fröhlich konnte er schon nach einer ganz kurzen Ruhepause dem Gastgeber
mitteilen, er fühle sich nun ganz in der Stimmung, seine Arbeit im
Weinberge des Herrn zu beginnen. Hatte also der Wirt etwa den schlimmen
Plan gehabt, unseren Pater durch die so reichliche Bewirtung lahm zu
legen, so war er ihm völlig mißlungen.

Dafür hatte nun allerdings der Pfarrer dem Gast eine Arbeit
eingefädelt, welche an Schwierigkeit und Delikatesse nichts zu wünschen
ließ. Seit kurzem lebte im Dorf, als am Heimatorte ihres Mannes, in
einem neu erbauten Landhause die Witwe eines reichen Bierbrauers, die
wegen ihres skeptischen Verstandes und ihrer anmutig gewandten Zunge
nicht minder bekannt und mit Scheu geachtet war als wegen ihres Geldes.
Diese Frau Franziska Tanner stand zuoberst auf der Liste derer, deren
spezielle Heimsuchung der Pfarrer dem Pater Matthias ans Herz legte.

So erschien, auf das zu Gewärtigende vom geistlichen Kollegen wenig
vorbereitet, der satte Pater zu guter Nachmittagsstunde im Landhause
und begehrte mit der Frau Tanner zu sprechen. Eine nette Magd
führte ihn in das Besuchszimmer, wo er eine längere Weile warten
mußte, was ihn als eine ungewohnte Respektlosigkeit verwirrte und
warnte. Alsdann trat zu seinem Erstaunen nicht eine ländliche Person
und schwarzgekleidete Witwe, sondern eine grauseidene damenhafte
Erscheinung in das Zimmer, die ihn gelassen willkommen hieß und nach
seinem Begehren fragte.

Und nun versuchte er der Reihe nach alle Register, und jedes versagte,
und Schlag um Schlag ging ins Leere, während die geschickte Frau
lächelnd entglitt und von Satz zu Satz neue Angeln auslegte. War
er weihevoll, so begann sie zu scherzen; neigte er zu geistlichen
Bedrohungen, so ließ sie harmlos ihren Reichtum und ihre Lust zu
mildtätigen Werken glänzen, so daß er aufs neue Feuer fing und ins
Disputieren kam, denn sie ließ ihn deutlich merken, sie kenne seine
Endabsicht genau und sei auch bereit, Geld zu geben, wenn es ihm nur
gelänge, ihr die tatsächliche Nützlichkeit einer solchen Gabe zu
beweisen. War es ihr kaum gelungen, den gar nicht ungeschickten Herrn
in einen leichten geselligen Weltton zu verstricken, so redete sie ihn
plötzlich wieder devot mit Hochwürden an, und begann er sie wieder
geistlicherweise als Tochter zu ermahnen, so war sie unversehens eine
kühle Dame.

Trotz dieser Maskenspiele und Redekämpfe hatten die beiden ein
Gefallen aneinander. Sie schätzte an dem hübschen Pater die männliche
Aufmerksamkeit, mit der er ihrem Spiel zu folgen und sie im Besiegen
zu schonen suchte, und er hatte mitten im Schweiß der Bedrängnis eine
heimliche natürliche Freude an dem Schauspiel weiblich beweglicher
Koketterie, so daß es trotz schwieriger Augenblicke zu einer ganz guten
Unterhaltung kam und der lange Besuch in gutem Frieden verlief, wobei
unausgesprochenerweise freilich der moralische Sieg auf der Seite der
Dame blieb. Sie übergab zwar dem Pater am Ende eine Banknote und sprach
ihm und seinem Orden ihre Anerkennung aus, doch geschah es in ganz
gesellschaftlichen Formen und beinahe mit einem Hauch von Ironie, und
auch sein Dank und Abschied fiel so diskret und weltmännisch aus, daß
er sogar den üblichen feierlichen Segensspruch vergaß.

Die weiteren Besuche im Dorf wurden etwas abgekürzt und verliefen nach
der Regel. Pater Matthias zog sich noch eine halbe Stunde in seine
Stube zurück, aus welcher er wohlbereitet und frisch zur Abendpredigt
wieder hervorging.

Diese Predigt gelang vortrefflich. Zwischen den im entlegenen Süden
geplünderten Altären und Klöstern und dem Bedürfnis des eigenen
Klosters nach einigen Geldern entstand ganz zauberhaft ein inniger
Zusammenhang, der weniger auf kühlen logischen Folgerungen als auf
einer mit Kunst erzeugten und gesteigerten Stimmung des Mitleids und
unbestimmter frommer Erregung beruhte. Die Frauen weinten und die
Opferbüchsen klangen, und der Pfarrer sah mit Erstaunen die Frau Tanner
unter den Andächtigen sitzen und dem Vortrage zwar ohne Aufregung, doch
mit freundlichster Aufmerksamkeit lauschen.

Damit hatte der feierliche Beutezug des beliebten Paters seinen
glänzenden Anfang genommen. Auf seinem Angesicht glänzte Pflichteifer
und herzliche Befriedigung, in seiner verborgenen Brusttasche ruhte und
wuchs der kleine Schatz, in einige gefällige Banknoten und Goldstücke
umgewechselt. Daß inzwischen die größeren Zeitungen draußen in der Welt
berichteten, es stehe um die bei jener Revolution geschädigten Klöster
bei weitem nicht so übel, als es im ersten Wirrwarr geschienen habe,
das wußte der Pater nicht und hätte sich dadurch wohl auch wenig stören
lassen.

Sechs, sieben Gemeinden hatten die Freude, ihn bei sich zu sehen, und
die ganze Reise verlief aufs erfreulichste. Nun, indem er sich schon
gegen die protestantische Nachbargegend hin dem letzten kleinen Weiler
näherte, den zu besuchen ihm noch oblag, nun dachte er mit Stolz und
Wehmut an den Glanz dieser Triumphtage und daran, daß nun für eine
ungewisse Weile Klosterstille und mißmutige Langeweile den genußreichen
Erregungen seiner Fahrt nachfolgen würden.

Diese Zeiten waren dem Pater stets verhaßt und gefährlich gewesen,
da das Geräusch und die Leidenschaft einer frohen außerordentlichen
Tätigkeit sich legte und hinter den prächtigen Kulissen der klanglose
Alltag hervorschaute. Die Schlacht war geschlagen, der Lohn im Beutel,
nun blieb nichts Lockendes mehr als die kurze Freude der Ablieferung
und Anerkennung daheim, und diese Freude war auch schon keine richtige
mehr.

Hingegen war von hier der Ort nicht weit entfernt, wo er sein
merkwürdiges Geheimnis verwahrte, und je mehr die Feststimmung in ihm
verglühte und je näher die Heimkehr bevorstand, desto heftiger ward
seine Begierde, die Gelegenheit zu nützen und einen wilden frohen Tag
ohne Kutte zu genießen. Noch gestern hätte er davon nichts wissen
mögen, allein so ging es jedesmal und er war es schon müde, dagegen
anzukämpfen: am Schluß einer solchen Reise stand immer der Versucher
plötzlich da, und fast immer war er ihm unterlegen.

So ging es auch dieses Mal. Der kleine Weiler wurde noch besucht und
gewissenhaft erledigt, dann wanderte Pater Matthias zu Fuße nach dem
nächsten Bahnhof, ließ den nach seiner Heimat führenden Zug trotzig
davonfahren und kaufte sich ein Billett nach der nächsten größeren
Stadt, welche in protestantischem Lande lag und für ihn sicher war. In
der Hand aber trug er einen kleinen hübschen Reisekoffer, den gestern
noch niemand bei ihm gesehen hatte.


Drittes Kapitel

Am Bahnhof eines lebhaften Vorortes, wo beständig viele Züge aus-
und einliefen, stieg Pater Matthias aus, den Koffer in der Hand, und
bewegte sich ruhig, von niemandem beachtet, einem kleinen hölzernen
Gebäude zu, auf dessen weißem Schilde die Inschrift »Für Männer« stand.
An diesem Ort verhielt er sich wohl eine Stunde, bis gerade wieder
mehrere ankommende Züge ein Gewühl von Menschen ergossen, und da er
in diesem Augenblicke wieder hervortrat, trug er wohl noch denselben
Koffer bei sich, war aber nicht der Pater Matthias mehr, sondern ein
angenehmer, blühender Herr in guter, wennschon nicht ganz modischer
Kleidung, der sein Gepäck am Schalter in Verwahrung gab und alsdann
ruhig der Stadt entgegenschlenderte, wo er bald auf der Plattform eines
Trambahnwagens, bald vor einem Schaufenster zu sehen war und endlich im
Straßengetöse sich verlor.

Mit diesem vielfach zusammengesetzten, ohne Pause schwingenden Getöne,
mit dem Glanz der Geschäfte, dem durchsonnten Staub der Straßen atmete
Herr Matthias die berauschende Vielfältigkeit und liebe Farbigkeit der
törichten Welt, für welche seine wenig verdorbenen Sinne empfänglich
waren, und gab sich jedem frohen Eindruck willig hin. Es schien ihm
herrlich, die eleganten Damen in Federhüten spazieren oder in feinen
Equipagen fahren zu sehen, und köstlich, als Frühstück in einem
schönen Laden von marmornem Tische eine Tasse Schokolade und einen
zarten, süßen französischen Likör zu nehmen. Und daraufhin, innerlich
erwärmt und erheitert, hin und wider zu gehen, sich an Plakatsäulen
über die für den Abend versprochenen Unterhaltungen zu unterrichten
und darüber nachzudenken, wo es nachher sich am besten zu Mittag werde
speisen lassen; das tat ihm in allen Fasern wohl. Allen diesen größeren
und kleineren Genüssen ging er ohne Eile in dankbarer Kindlichkeit
nach, und wer ihn dabei beobachtet hätte, wäre niemals auf den Gedanken
gekommen, dieser schlichte, sympathische Herr könnte verbotene Wege
gehen.

Ein treffliches Mittagessen zog Matthias beim schwarzen Kaffee und
einer Zigarre weit in den Nachmittag hinein. Er saß nahe an einer der
gewaltigen bis zum Fußboden reichenden Fensterscheiben des Restaurants
und sah durch den duftenden Rauch seiner Zigarre mit Behagen auf die
belebte Straße hinaus. Vom Essen und Sitzen war er ein wenig schwer
geworden und schaute gleichmütig auf den Strom der Vorübergehenden.
Nur einmal reckte er sich plötzlich auf, leicht errötend, und blickte
aufmerksam einer schlanken Frauengestalt nach, in welcher er einen
Augenblick lang die Frau Tanner zu erkennen glaubte. Er sah jedoch, daß
er sich getäuscht habe, fühlte eine leise Ernüchterung und erhob sich,
um weiter zu gehen.

Unschlüssig stand er eine Stunde später vor den Reklametafeln eines
kinematographischen Theaters und las die großgedruckten Titel der
versprochenen Darbietungen. Dabei hielt er eine brennende Zigarre
in der Hand und wurde plötzlich im Lesen durch einen jungen Mann
unterbrochen, der ihn mit Höflichkeit um Feuer für seine Zigarette bat.

Bereitwillig erfüllte er die kleine Bitte, sah dabei den Fremden an und
sagte: »Mir scheint, ich habe Sie schon gesehen. Waren Sie nicht heute
früh im Café Royal?«

Der Fremde bejahte, dankte freundlich, griff an den Hut und wollte
weiter gehen, besann sich aber plötzlich anders und sagte lächelnd:
»Ich glaube, wir sind beide fremd hier. Ich bin auf der Reise und suche
hier nichts als ein paar Stunden gute Unterhaltung und vielleicht ein
bißchen holde Weiblichkeit für den Abend. Wenn es Ihnen nicht zuwider
ist, könnten wir ja zusammen bleiben.«

Das gefiel Herrn Matthias durchaus, und die beiden Müßiggänger
flanierten nun nebeneinander weiter, wobei der Fremde sich dem Älteren
stets höflich zur Linken hielt. Er fragte ohne Zudringlichkeit
ein wenig nach Herkunft und Absichten des neuen Bekannten, und da
er merkte, daß Matthias hierüber nur undeutlich und beinahe etwas
befangen sich äußerte, ließ er die Frage lässig fallen und begann ein
munteres Geplauder, das Herrn Matthias sehr wohl gefiel. Der junge Herr
Breitinger schien viel gereist zu sein und die Kunst wohl zu verstehen,
wie man in fremden Städten sich einen vergnügten Tag macht. Auch am
hiesigen Ort war er schon je und je gewesen und erinnerte sich einiger
Vergnügungslokale, wo er damals recht nette Gesellschaft gefunden und
köstliche Stunden verlebt habe. So ergab es sich bald von selbst, daß
er mit des Herrn Matthias dankbarer Einwilligung die Führung übernahm.
Nur einen heiklen Punkt erlaubte sich Herr Breitinger im voraus zu
berühren. Er bat, es ihm nicht zu verübeln, wenn er darauf bestehe,
daß jeder von ihnen beiden überall seine Zeche sofort aus dem eigenen
Beutel bezahle. Denn, so fügte er entschuldigend bei, er sei zwar kein
Rechner und Knicker, habe jedoch in Geldsachen gern reinliche Ordnung
und sei zudem nicht gesonnen, seinem heutigen Vergnügen mehr als ein
paar Goldfüchse zu opfern, und wenn etwa sein Begleiter großartigere
Gewohnheiten habe, so würde es besser sein, sich in Frieden zu trennen,
statt etwaige Enttäuschungen und Ärgerlichkeiten zu wagen.

Auch dieser Freimut war ganz nach Matthias' Geschmack. Er erklärte, auf
einen goldenen Zwanziger hin oder her komme es ihm allerdings nicht an,
doch sei er gerne einverstanden und im voraus überzeugt, daß sie beide
aufs beste miteinander auskommen würden.

Darüber hatte Breitinger, wie er sagte, einen kleinen Durst bekommen,
und ohnehin war es jetzt nach seiner Meinung Zeit, die angenehme
Bekanntschaft durch Anstoßen mit einem Glase Wein zu feiern. Er
führte den Freund durch unbekannte Gassen nach einer kleinen, abseits
gelegenen Gastwirtschaft, wo man sicher sein dürfe, einen raren Tropfen
zu bekommen, und sie traten durch eine klirrende Glastüre in die
enge niedere Stube, in der sie die einzigen Gäste waren. Ein etwas
unfreundlicher Wirt brachte auf Breitingers Verlangen eine Flasche
herbei, die er öffnete, und woraus er den Gästen einen hellgelben
kühlen, leicht prickelnden Wein einschenkte, mit welchem sie denn
anstießen. Darauf zog sich der Wirt zurück, und bald erschien statt
seiner ein großes hübsches Mädchen, das die Herren lächelnd begrüßte
und, da eben das erste Glas geleert war, das Einschenken übernahm.

»Prosit!« sagte Breitinger zu Matthias, und indem er sich zu dem
Mädchen wandte: »Prosit, schönes Fräulein!«

Sie lachte und hielt scherzweise dem Herrn ein Salzfaß zum Anstoßen hin.

»Ach, Sie haben ja nichts zum Anstoßen,« rief Breitinger und holte
selbst von der Kredenz ein Glas für sie. »Kommen Sie, Fräulein, und
leisten Sie uns ein bißchen Gesellschaft!«

Damit schenkte er ihr Glas voll und hieß sie, die sich nicht sträubte,
zwischen ihm und seinem Bekannten sitzen. Diese zwanglose Leichtigkeit
der Anknüpfung machte Herrn Matthias Eindruck. Er stieß nun auch
seinerseits mit dem Mädchen an und rückte seinen Stuhl dem ihren nahe.
Es war indessen in dem unfrohen Raume schon dunkel geworden, die
Kellnerin zündete ein paar Gasflammen an und bemerkte nun, daß kein
Wein mehr in der Flasche sei.

»Die zweite Bouteille geht auf meine Kosten!« rief Herr Breitinger.
Aber der andere wollte das nicht dulden, und es gab einen kleinen
Wortkrieg, bis er sich unter der Bedingung fügte, daß nachher auf seine
Rechnung noch eine Flasche Champagner getrunken werde. Fräulein Meta
hatte inzwischen die neue Flasche herbeigebracht und ihren Platz wieder
eingenommen, und während der Jüngere mit dem Korkziehen beschäftigt
war, streichelte sie unterm Tische leise die Hand des Herrn Matthias,
der alsbald mit Feuer auf diese Eroberung einging und sie weiter
verfolgte, indem er seinen Fuß auf ihren setzte. Nun zog sie den Fuß
zwar zurück, liebkoste dafür aber wieder seine Hand, und so blieben sie
in stillem Einverständnis triumphierend beieinander sitzen. Matthias
ward jetzt gesprächig, er redete vom Wein und erzählte von Zechgelagen,
die er früher mitgemacht habe, stieß immer wieder mit den beiden an,
und der erhitzende falsche Wein machte seine Augen glänzen.

Als eine Weile später Fräulein Meta meinte, sie habe in der
Nachbarschaft eine sehr nette und lustige Freundin, da hatte keiner
von den Kavalieren etwas dagegen, daß sie diese einlade, den Abend
mitzufeiern. Eine alte Frau, die inzwischen den Wirt abgelöst hatte,
wurde mit dem Auftrag weggeschickt. Als nun Herr Breitinger sich für
Minuten zurückzog, nahm Matthias die hübsche Meta an sich und küßte sie
heftig auf den Mund. Sie ließ es still und lächelnd geschehen, da er
aber stürmisch ward und mehr begehrte, leuchtete sie ihn aus feurigen
Augen an und wehrte: »Später, du, später!«

Die klappernde Glastüre mehr als ihre beschwichtigende Gebärde hielt
ihn zurück, und es kam mit der Alten nicht nur die erwartete Freundin
herein, sondern auch noch eine zweite mit ihrem Bräutigam, einem
halbeleganten Jüngling mit steifem Hütchen und glatt in der Mitte
gescheiteltem schwarzem Haar, dessen Mund unter einem gezwickelten
Schnauzbärtchen hervor hochmütig und gewalttätig ausschaute. Zugleich
trat auch Breitinger wieder ein, es entstand eine Begrüßung und man
rückte zwei Tische aneinander, um gemeinsam zu Abend zu essen. Matthias
sollte bestellen und war für einen Fisch mit nachfolgendem Rindsbraten,
dazu kam auf Metas Vorschlag noch eine Platte mit Kaviar, Lachs und
Sardinen, sowie auf den Wunsch ihrer Freundin eine Punschtorte. Der
Bräutigam aber erklärte mit merkwürdig gereizter Verächtlichkeit, ohne
Geflügel tauge ein Abendessen nichts, und wenn auf das Rindfleisch
nicht ein Fasanenbraten folge, so esse er schon lieber gar nicht mit.
Meta wollte ihm zureden, aber Herr Matthias, der inzwischen zu einem
Burgunderwein übergegangen war, rief munter dazwischen: »Ach was, man
soll doch den Fasan bestellen! Die Herrschaften sind doch hoffentlich
alle meine Gäste?«

Das wurde angenommen, die Alte verschwand mit dem Speisezettel, der
Wirt tauchte auch wieder auf. Meta hatte sich nun ganz an Matthias
angeschlossen, ihre Freundin saß gegenüber neben Herrn Breitinger. Das
Essen, das nicht im Hause gekocht, sondern über die Straße herbeigeholt
schien, wurde rasch aufgetragen und war gut. Beim Nachtisch machte
Fräulein Meta ihren Verehrer mit einem neuen Genusse bekannt: er bekam
in einem großen fußlosen Glase ein delikates Getränk dargereicht,
das sie ihm eigens zubereitet hatte und das, wie sie erzählte, aus
Champagner, Sherry und Kognak gemischt war. Es schmeckte gut, nur
etwas schwer und süß, und sie nippte jedesmal selber am Glase, wenn
sie ihn zum Trinken einlud. Matthias wollte nun auch Herrn Breitinger
ein solches Glas anbieten. Der lehnte jedoch ab, da er das Süße nicht
liebe, auch habe dies Getränk den leidigen Nachteil, daß man darauf hin
nur noch Champagner genießen könne.

»Hoho, das ist doch kein Nachteil!« rief Matthias überlaut. »Ihr Leute,
Champagner her!«

Er brach in ein heftiges Gelächter aus, wobei ihm die Augen voll Wasser
liefen, und war von diesem Augenblicke an ein hoffnungslos betrunkener
Mann, der beständig ohne Ursache lachte, Wein über den Tisch vergoß
und rechenschaftslos auf einem breiten Strome von Rausch und Wohlleben
dahintrieb. Nur zuweilen besann er sich für eine Minute, blickte
verwundert in die Lustbarkeit und griff nach Metas Hand, die er küßte
und streichelte, um sie bald wieder loszulassen und zu vergessen.
Einmal erhob er sich, um einen Trinkspruch auszubringen, doch fiel ihm
das schwankende Glas aus der Hand und zersprang auf dem überschwemmten
Tische, worüber er wieder ein herzliches, doch schon ermüdetes
Gelächter begann. Meta zog ihn in seinen Stuhl zurück, und Breitinger
bot ihm mit ernsthafter Zurede ein Glas Kirschwasser an, das er leerte
und dessen scharfer brennender Geschmack das Letzte war, was ihm von
diesem Abend dunkel im Gedächtnis blieb.


Viertes Kapitel

Nach einem todschweren Schlaf erwachte Herr Matthias blinzelnd zu einem
schauderhaften Gefühl von Leere, Zerschlagenheit, Schmerz und Ekel.
Kopfweh und Schwindel hielten ihn nieder, die Augen brannten trocken
und entzündet, an der Hand schmerzte ihn ein breiter verkrusteter Riß,
an dessen Herkunft er keine Erinnerung hatte. Nur langsam erholte sich
sein Bewußtsein, da richtete er sich plötzlich auf, sah an sich nieder
und suchte Stützen für sein Gedächtnis zu gewinnen. Er lag, nur halb
entkleidet, in einem fremden Zimmer und Bett, und da er erschreckend
aufsprang und zum Fenster trat, blickte er in eine morgendliche
unbekannte Straße hinab. Stöhnend goß er ein Waschbecken voll und
badete das entstellte heiße Gesicht, und während er mit dem Handtuch
darüber fuhr, schlug ihm plötzlich ein böser Argwohn wie ein Blitz
ins Gehirn. Hastig stürzte er sich auf seinen Rock, der am Boden lag,
riß ihn an sich, betastete und wendete ihn, griff in alle Taschen und
ließ ihn erstarrt aus zitternden Händen sinken. Er war beraubt. Die
schwarzlederne Brustmappe war fort.

Er besann sich, er wußte alles plötzlich wieder. Es waren über tausend
Kronen in Papier und Gold gewesen.

Still legte er sich wieder auf das Bett und blieb wohl eine halbe
Stunde wie ein Erschlagener liegen. Weindunst und Schlaftrunkenheit
waren völlig verflogen, auch die Schmerzen spürte er nicht mehr, nur
eine große Müdigkeit und Trauer. Langsam erhob er sich wieder, wusch
sich mit Sorgfalt, klopfte und schabte seine beschmutzten Kleider nach
Möglichkeit zurecht, zog sich an und schaute in den Spiegel, wo ein
gedunsenes trauriges Gesicht ihm fremd entgegensah. Dann faßte er alle
Kraft mit einem heftigen Entschluß zusammen und überdachte seine Lage.
Und dann tat er ruhig und bitter das Wenige, was ihm zu tun übrigblieb.

Vor allem durchsuchte er seine ganze Kleidung, auch Bett und
Fußboden genau. Der Rock war leer, im Beinkleid jedoch fand sich ein
zerknitterter Schein von fünfzig Kronen und zehn Kronen in Gold. Sonst
war kein Geld mehr da.

Nun zog er die Glocke und fragte den erscheinenden Kellner, um welche
Zeit er heute Nacht angekommen sei. Der junge Mensch sah ihm lächelnd
ins Gesicht und meinte, wenn der Herr selber sich nimmer erinnern
könne, so werde einzig der Portier Bescheid wissen.

Und er ließ den Portier kommen, gab ihm das Goldstück und fragte ihn
aus. Wann er ins Haus gebracht worden sei? -- Gegen zwölf Uhr. -- Ob
er bewußtlos gewesen? -- Nein, nur anscheinend bezecht. -- Wer ihn
hergebracht habe? -- Zwei junge Männer. Sie hätten erzählt, der Herr
habe sich bei einem Gastmahl übernommen und begehre hier zu schlafen.
Er habe ihn zuerst nicht aufnehmen wollen, sei jedoch durch ein schönes
Trinkgeld doch dazu bestimmt worden. -- Ob der Portier die beiden
Männer wieder erkennen würde? -- Ja, das heißt wohl nur den einen, den
mit dem steifen Hut.

Matthias entließ den Mann und bestellte seine Rechnung samt einer Tasse
Kaffee. Den trank er heiß hinunter, bezahlte und ging weg.

Er kannte den Teil der Stadt, in dem sein Gasthaus lag, nicht, und ob
er wohl nach längerem Gehen bekannte und halbbekannte Straßen traf, so
gelang es ihm doch in mehreren Stunden angestrengter Wanderung nicht,
jenes kleine Wirtshaus wieder zu finden, wo das Gestrige passiert war.

Doch hatte er sich ohnehin kaum Hoffnung gemacht, etwas von dem
Verlorenen wieder zu gewinnen. Von dem Augenblick an, da er
in plötzlich aufzuckendem Verdacht seinen Rock untersucht und
die Brusttasche leer gefunden hatte, war er von der Erkenntnis
durchdrungen, es sei nicht das Kleinste mehr zu retten. Dieses Gefühl
hatte durchaus mit der Empfindung eines ärgerlichen Zufalls oder
Unglücks nichts zu tun, sondern war frei von jeder Auflehnung und
glich mehr einer zwar bitteren, doch entschiedenen Zustimmung zu dem
Geschehenen. Dies Gefühl vom Einklang des Geschehens mit dem eigenen
Gemüt, der äußeren und inneren Notwendigkeit, dessen ganz geringe
Menschen niemals fähig sind, rettete den armen betrogenen Pater vor der
Verzweiflung. Er dachte nicht einen Augenblick daran, sich etwa durch
List reinzuwaschen und wieder in Ehre und Achtung zurückzustehlen,
noch auch trat ihm der Gedanke nahe, sich ein Leid anzutun. Nein, er
fühlte nichts als eine völlig klare und gerechte Notwendigkeit, die
ihn zwar traurig machte, gegen welche er jedoch mit keinem Gedanken
protestierte. Denn stärker als Bangnis und Sorge, wenn auch noch
verborgen und außerhalb des Bewußtseins, war in ihm die Empfindung
einer großen Erlösung vorhanden, da jetzt unzweifelhaft seiner
bisherigen Unzufriedenheit und dem unklaren, durch Jahre geführten
und verheimlichten Doppelleben ein Ende gesetzt war. Er fühlte wie
früher zuweilen nach kleineren Verfehlungen die schmerzliche innere
Befreitheit eines Mannes, der vor dem Beichtstuhl kniet und dem zwar
eine Demütigung und Bestrafung bevorsteht, dessen Seele aber die
beklemmende Last verheimlichter Taten schon weichen fühlt.

Dennoch aber war er über das, was nun zu tun sei, keineswegs im
klaren. Hatte er innerlich seinen Austritt aus dem Orden schon
genommen und Verzicht auf alle Ehren getan, so schien es ihm doch
ärgerlich und recht unnütz, nun alle häßlichen und schmerzenden Szenen
einer feierlichen Ausstoßung und Verurteilung auskosten zu sollen.
Schließlich hatte er, weltlich gedacht, kein gar so schändliches
Verbrechen begangen, und das viele Klostergeld hatte ja nicht er
gestohlen, sondern offenbar jener Herr Breitinger.

Klar war ihm zunächst nur, daß noch heute etwas Entscheidendes zu
geschehen habe; denn blieb er länger als noch diesen Tag dem Kloster
fern, so entstand Verdacht und Untersuchung und ward ihm die Freiheit
des Handelns abgeschnitten. Ermüdet und hungrig suchte er ein
Speisehaus, aß einen Teller Suppe und schaute alsdann, rasch gesättigt
und von verwirrten Erinnerungsbildern gequält, mit müden Augen durchs
Fenster auf die Straße hinaus, genau wie er es gestern ungefähr um
dieselbe Zeit getan hatte.

Indem er seine Lage hin und her bedachte, fiel es ihm grausam auf die
Seele, daß er auf Erden keinen einzigen Menschen habe, dem er mit
Vertrauen und Hoffnung seine Not klagen könnte, der ihm hülfe und
riete, der ihn zurechtweise, rette oder doch tröste. Ein Auftritt,
den er erst vor einer Woche erlebt und schon völlig wieder vergessen
hatte, stieg unversehens rührend und wunderlich in seinem Gedächtnis
auf: der junge halbgescheite Laienbruder in seiner verflickten Kutte,
wie er am heimischen Bahnhofe stand und ihm nachschaute, angstvoll und
beschwörend.

Heftig wendete er sich von diesem Bilde ab und zwang seinen Blick, dem
Straßenleben draußen zu folgen. Da trat ihm, auf seltsamen Umwegen der
Erinnerung, mit einem Male ein Name und eine Gestalt vor die Seele,
woran sie sich sofort mit instinktivem Zutrauen klammerte.

Diese Gestalt war die der Frau Franziska Tanner, jener reichen
jungen Witwe, deren Geist und Takt er erst kürzlich bewundert, und
deren anmutig strenges Bild ihn heimlich begleitet hatte. Er schloß
die Augen und sah sie, im grauseidenen Kleide, mit dem klugen und
beinahe spöttischen Mund im hübschen blassen Gesicht, und je genauer
er zuschaute und je deutlicher nun auch der kräftig entschlossene
Ton ihrer hellen Stimme und der feste, ruhig beobachtende Blick
ihrer grauen Augen ihm wieder vorschwebte, desto leichter, ja
selbstverständlicher schien es ihm, das Vertrauen dieser ungewöhnlichen
Frau in seiner ungewöhnlichen Lage anzurufen.

Dankbar und froh, das nächste Stück seines Weges endlich klar vor sich
zu sehen, machte er sich sofort daran, seinen Entschluß auszuführen.
Von dieser Minute an bis zu jener, da er wirklich vor Frau Tanner
stand, tat er jeden Schritt sicher und rasch, nur ein einzigesmal
geriet er ins Zaudern. Das war, als er jenen Bahnhof des Vorortes
wieder erreichte, wo er gestern seinen Sündenwandel begonnen hatte
und wo seither sein Köfferchen in Verwahrung stand. Er war des Sinnes
gewesen, wieder als Pater in der Kutte vor die hochgeschätzte Frau
zu treten, schon um sie nicht allzu sehr zu erschrecken, und hatte
deshalb den Weg hieher genommen. Nun jedoch, da er nur eines Schrittes
bedurfte, um am Schalter sein Eigentum wieder zu fordern, kam diese
Absicht ihm plötzlich töricht und unredlich vor, ja er empfand, wie nie
zuvor, vor der Rückkehr in die klösterliche Tracht einen wahren Schreck
und Abscheu, so daß er seinen Plan im Augenblick änderte und vor sich
selber schwor, die Kutte niemals wieder anzulegen, es komme, wie es
wolle.

Daß mit den übrigen Wertsachen ihm auch der Gepäckschein entwendet
worden war, wußte und bedachte er dabei gar nicht.

Darum ließ er sein Gepäck liegen, wo es lag, und reiste denselben Weg,
den er gestern in der Frühe noch als Pater gefahren, im schlichten
Bürgerrocke zurück. Dabei schlug ihm das Herz immerhin, je näher er
dem Ziele kam, desto peinlicher; denn er fuhr nun schon wieder durch
die Gegend, welcher er vor Tagen noch gepredigt hatte, und mußte in
jedem neu einsteigenden Fahrgaste den beargwöhnen, der ihn erkennen
und als erster seine Schande sehen würde. Doch war der Zufall und der
einbrechende Abend ihm günstig, so daß er die letzte Station unerkannt
und unbelästigt erreichte.

Bei sinkender Nacht wanderte er auf müden Beinen den Weg zum Dorfe hin,
den er zuletzt bei Sonnenschein im Einspänner gefahren war, und zog, da
er noch überall Licht hinter den Läden bemerkte, noch am selben Abend
die Glocke am Tore des Tannerschen Landhauses.

Die gleiche Magd wie neulich tat ihm auf und fragte nach seinem
Begehren, ohne ihn zu erkennen. Matthias bat, die Hausfrau noch heute
abend sprechen zu dürfen, und gab dem Mädchen ein verschlossenes
Billett mit, das er vorsorglich noch in der Stadt geschrieben hatte.
Sie ließ ihn, der späten Stunde wegen ängstlich, im Freien warten,
schloß das Tor wieder ab und blieb eine bange Weile aus. Dann aber
schloß sie rasch wieder auf, hieß ihn mit verlegener Entschuldigung
ihrer vorigen Ängstlichkeit eintreten und führte ihn in das Wohnzimmer
der Frau, die ihn dort allein erwartete.

»Guten Abend, Frau Tanner,« sagte er mit etwas befangener Stimme, »darf
ich Sie nochmals für eine kleine Weile stören?«

Sie grüßte gemessen und sah ihn an.

»Da Sie, wie Ihr Billett mir sagt, in einer sehr wichtigen Sache
kommen, stehe ich gerne zur Verfügung. -- Aber wie sehen Sie denn aus?«

»Ich werde Ihnen alles erklären, bitte, erschrecken Sie nicht! Ich wäre
nicht zu Ihnen gekommen, wenn ich nicht das Zutrauen hätte, Sie werden
mich in einer sehr schlimmen Lage nicht ohne Rat und Teilnahme lassen.
Ach, verehrte Frau, was ist aus mir geworden!«

Seine Stimme brach, und es schien, als würgten ihn Tränen. Doch hielt
er sich tapfer, entschuldigte sich mit großer Erschöpfung und begann
alsdann, in einem bequemen Sessel ruhend, seine Erzählung. Er fing
damit an, daß er schon seit mehreren Jahren des Klosterlebens müde
sei und sich mehrere Verfehlungen vorzuwerfen habe. Dann gab er eine
kurze Darstellung seines früheren Lebens und seiner Klosterzeit, seiner
Predigtreisen und auch seiner letzten Mission. Und darauf berichtete er
ohne viel Einzelheiten, aber ehrlich und verständlich sein Abenteuer in
der Stadt.


Fünftes Kapitel

Es folgte auf seine Erzählung eine lange Pause. Frau Tanner hatte
aufmerksam und ohne jede Unterbrechung zugehört, zuweilen gelächelt
und zuweilen den Kopf geschüttelt, schließlich aber jedes Wort mit
einem gleichbleibenden gespannten Ernst verfolgt. Nun schwiegen sie
beide eine Weile.

»Wollen Sie jetzt nicht vor allem andern einen Imbiß nehmen?« fragte
sie endlich. »Sie bleiben jedenfalls die Nacht hier und können in der
Gärtnerwohnung schlafen.«

Die Herberge nahm der Pater dankbar an, wollte jedoch von Essen und
Trinken nichts wissen.

»Was wollen Sie nun von mir haben?« fragte sie langsam.

»Vor allem Ihren Rat. Ich weiß selber nicht genau, woher mein Vertrauen
zu Ihnen kommt. Aber in allen diesen schlimmen Stunden ist mir niemand
sonst eingefallen, auf den ich hätte hoffen mögen. Bitte, sagen Sie
mir, was ich tun soll!«

Nun lächelte sie ein wenig.

»Es ist eigentlich schade,« sagte sie, »daß Sie mich das nicht neulich
schon gefragt haben. Daß Sie für einen Mönch zu gut oder doch zu
lebenslustig sind, kann ich wohl begreifen. Es ist aber nicht schön,
daß Sie Ihre Rückkehr ins Weltleben so heimlich betreiben wollten.
Dafür sind Sie nun gestraft. Denn Sie müssen den Austritt aus Ihrem
Orden, den Sie freiwillig und in Ehren hätten suchen sollen, jetzt
eben unfreiwillig tun. Mir scheint, Sie können gar nichts anderes tun,
als Ihre Sache mit aller Offenheit Ihren Oberen anheimstellen. Ist das
nicht Ihre Meinung?«

»Ja, das ist sie; ich habe es mir nicht anders gedacht.«

»Gut also. Und was wird dann aus Ihnen werden?«

»Das ist es eben! Ich werde ohne Zweifel nicht im Orden behalten
werden, was ich auch keinesfalls annehmen würde. Mein Wille ist, ein
stilles Leben als ein fleißiger und ehrlicher Mensch anzufangen; denn
ich bin zu jeder anständigen Arbeit bereit und habe manche Kenntnisse,
die mir nützen können.«

»Recht so, das habe ich von Ihnen erwartet.«

»Ja. Aber nun werde ich nicht nur aus dem Kloster entlassen werden,
sondern muß auch für die mir anvertrauten Summen, die dem Kloster
gehören, mit meiner Person eintreten. Da ich diese Summen in der
Hauptsache nicht selber veruntreut, sondern an Schelme verloren habe,
wäre es mir doch gar bitter, für sie wie ein gemeiner Betrüger zur
Rechenschaft gezogen zu werden.«

»Das verstehe ich wohl. Aber wie wollen Sie das verhüten?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich würde, wie es selbstverständlich ist, das
Geld so bald und so vollkommen als möglich zu ersetzen suchen. Wenn es
möglich wäre, dafür eine einstweilige Bürgschaft zu stellen, so könnte
wohl ein gerichtliches Verfahren ganz vermieden werden.«

Die Frau sah ihn forschend an.

»Was wären in diesem Falle Ihre Pläne?« fragte sie dann ruhig.

»Dann würde ich außer Landes eine Arbeit suchen und mich bemühen, vor
allem jene Summe abzutragen. Sollte jedoch die Person, welche für mich
bürgt, mir anders raten und mich anders zu verwenden wünschen, so wäre
mir natürlich dieser Wunsch Befehl.«

Frau Tanner erhob sich und tat einige erregte Schritte durchs Zimmer.
Sie blieb außerhalb des Lichtkreises der Lampe in der Dämmerung stehen
und sagte leise von dort herüber: »Und die Person, von der Sie reden
und die für Sie bürgen soll, die soll ich sein?«

Herr Matthias war ebenfalls aufgestanden.

»Wenn Sie wollen -- ja,« sagte er tief atmend. »Da ich mich Ihnen,
die ich noch kaum kannte, so weit eröffnet habe, mag auch das gewagt
sein. Ach, liebe Frau Tanner, es ist mir wunderlich, wie ich in meiner
elenden Lage zu solcher Kühnheit komme. Aber ich weiß keinen Richter,
dem ich mich so leicht und gerne zu jedem Urteilsspruch überließe, wie
Ihnen. Sagen Sie ein Wort, so gehe ich heute noch für immer aus Ihren
Augen.«

Sie trat an den Tisch zurück, wo vom Abend her noch eine feine
Stickarbeit und eine umgefalzte Zeitung lag, und verbarg ihre leicht
zitternden Hände hinter ihrem Rücken. Dann lächelte sie ganz leicht und
sagte: »Danke für Ihr Vertrauen, Herr Matthias, es soll in guten Händen
sein. Aber Geschäfte tut man nicht so in einer Abendstimmung ab. Wir
wollen jetzt zur Ruhe gehen, die Magd wird Sie ins Gärtnerhaus führen.
Morgen früh um sieben wollen wir hier frühstücken und weiter reden,
dann können Sie noch leicht den ersten Bahnzug erreichen.«

       *       *       *       *       *

In dieser Nacht hatte der flüchtige Pater einen weit besseren Schlaf
als seine gütige Wirtin. Er holte in einer tiefen achtstündigen Ruhe
das Versäumte zweier Tage und Nächte ein und erwachte zur rechten Zeit
ausgeruht und helläugig, so daß ihn die Frau Tanner beim Frühstück
erstaunt und wohlgefällig betrachten mußte.

Diese verlor über der Sache Matthias den größeren Teil ihrer Nachtruhe.
Die Bitte des Paters hätte, soweit sie nur das verlorene Geld betraf,
ihr dies nicht angetan. Aber es war ihr sonderbar zu Herzen gegangen,
wie da ein fremder Mensch, der nur ein einzigesmal zuvor flüchtig ihren
Weg gestreift, in der Stunde peinlicher Not so voll Vertrauen zu ihr
gekommen war, fast wie ein Kind zur Mutter. Und daß ihr selber dies
doch eigentlich nicht erstaunlich gewesen war, daß sie es ohne weiteres
verstanden und beinahe wie etwas Erwartetes aufgenommen hatte, während
sie sonst eher zum Mißtrauen neigte, das schien ihr darauf zu deuten,
daß zwischen ihr und dem Fremden ein Zug von Geschwisterlichkeit und
heimlicher Harmonie bestehe.

Der Pater hatte ihr schon bei seinem ersten Besuche neulich einen
angenehmen Eindruck gemacht. Sie mußte ihn für einen lebenstüchtigen,
harmlosen Menschen halten, dazu war er ein hübscher und gebildeter
Mann. An diesem Urteil hatte das seither Erfahrene nichts geändert,
nur daß die Gestalt des Paters dadurch in ein etwas schwankendes Licht
von Abenteuer gerückt und in seinem Charakter immerhin eine gewisse
Schwäche enthüllt schien.

Dies alles hätte hingereicht, dem Mann ihre Teilnahme zu gewinnen,
wobei sie die geforderte Bürgschaft oder Geldsumme gar nicht beachtet
haben würde. Durch die merkwürdige Sympathie jedoch, die sie mit dem
Fremden verband und die auch in den sorgenvollen Gedanken dieser Nacht
nicht abgenommen hatte, war alles in eine andere Beleuchtung getreten,
wo das Geschäftliche und Persönliche gar eng aneinander hing und wo
sonst harmlose Dinge ein bedeutendes, ja schicksalhaftes Aussehen
gewannen. Wenn wirklich dieser Mann so viel Macht über sie hatte und
so viel Anziehung zwischen ihnen beiden bestand, so war es mit einem
Geschenke nicht getan, sondern es mußten daraus dauernde Verhältnisse
und Beziehungen entstehen, die immerhin auf ihr Leben großen Einfluß
gewinnen konnten.

Dem gewesenen Pater schlechthin mit einer Geldgabe aus der Not und ins
Ausland zu helfen, unter Ausschluß aller weiteren Beteiligung an seinem
Schicksal als einfache Abfindung, das ging nicht an, dazu stand ihr der
Mann zu hoch. Andererseits trug sie Bedenken, ihn auf seine immerhin
seltsamen Geständnisse hin ohne weiteres in ihr Leben aufzunehmen,
dessen Freiheit und Übersicht sie liebte. Und wieder tat es ihr weh und
schien ihr unmöglich, den Armen ganz ohne Hilfe zu lassen.

So sann sie mehrere Stunden hin und wider, und als sie nach kurzem
Schlaf in guter Toilette das Frühstückszimmer betrat, sah sie ein wenig
geschwächt und müde aus. Matthias begrüßte sie und blickte ihr so klar
in die Augen, daß ihr Herz sich rasch wieder erwärmte. Sie sah, es war
ihm mit allem, was er gestern gesagt, vollkommen Ernst, und er würde
zuverlässig dabei bleiben.

Sie schenkte ihm Kaffee und Milch ein, ohne mehr als die notwendigen
geselligen Worte dazu zu sagen, und gab Auftrag, daß später für ihren
Gast der Wagen angespannt werde, da er zum Bahnhof müsse. Zierlich aß
sie aus silbernem Becherlein ein Ei und trank eine Schale Milch dazu,
und erst als sie damit und der Gast ebenfalls mit seinem Morgenkaffee
fertig war, begann sie zu sprechen.

»Sie haben mir gestern,« sagte sie, »eine Frage und Bitte vorgelegt,
über die ich mich nun besonnen habe. Sie haben auch ein Versprechen
gegeben, nämlich in allem und jedem es so zu halten, wie ich es gut
finden werde. Ist das Ihr Ernst gewesen und wollen Sie sich noch dazu
bekennen?«

Er sah sie ernsthaft und innig an und sagte einfach: »Ja«.

»Gut, so will ich Ihnen sagen, was ich mir zurechtgelegt habe. Sie
wissen selbst, daß Sie mit Ihrer Bitte nicht nur mein Schuldner werden,
sondern mir und meinem Leben auf eine Weise nähertreten wollen, deren
Bedeutung und Folgen für uns beide wichtig werden können. Sie wollen
nicht ein Geschenk von mir haben, sondern mein Vertrauen und meine
Freundschaft. Das ist mir lieb und ehrenvoll, doch müssen Sie selbst
zugeben, daß Ihre Bitte in einem Augenblick an mich gekommen ist, wo
Sie nicht völlig tadelfrei dastehen und wo manches Bedenken wider Sie
erlaubt und möglich ist.«

Matthias nickte errötend, lächelte aber ein klein wenig dazu, weshalb
sie ihren Ton sofort um einen Schatten strenger werden ließ.

»Eben darum kann ich leider Ihren Vorschlag nicht annehmen, werter
Herr. Es ist mir für die Zuverlässigkeit und Dauer Ihrer guten
Gesinnung zu wenig Gewähr vorhanden. Wie es mit Ihrer Freundschaft und
Treue beschaffen ist, das kann nur die Zeit lehren, und was aus meinem
Gelde würde, kann ich auch nicht wissen, seit Sie mir das mit Ihrem
Freunde Breitinger erzählt haben. Ich bin daher gesonnen, Sie beim
Wort zu nehmen. Sie sind mir zu gut, als daß ich Sie mit Geld abfinden
möchte, und Sie sind mir wieder zu fremd und unsicher, als daß ich Sie
ohne weiteres in meinen Lebenskreis aufnehmen könnte. Darum stelle ich
Ihre Treue auf eine vielleicht schwere Probe, indem ich Sie bitte:
Reisen Sie heim, übergeben Sie Ihren ganzen Handel dem Kloster, fügen
Sie sich in alles, auch in eine Bestrafung durch die Gerichte! Wenn Sie
das tapfer und ehrlich tun wollen, ohne mich in der Sache irgend zu
nennen, so verspreche ich Ihnen dagegen, nachher keinen Zweifel mehr an
Ihnen zu haben und Ihnen zu helfen, wenn Sie mit Mut und Fröhlichkeit
ein neues Leben anfangen wollen. -- Haben Sie mich verstanden und soll
es gelten?«

Herr Matthias nahm ihre ausgestreckte Hand, blickte ihr mit Bewunderung
und tiefer Rührung in das schön erregte bleiche Gesicht und machte eine
sonderbare stürmische Bewegung, beinahe als wollte er sie in die Arme
schließen. Statt dessen verbeugte er sich sehr tief und drückte auf
die schmale Damenhand einen festen Kuß. Dann ging er aufrecht aus dem
Zimmer, ohne weiteren Abschied zu nehmen, und schritt durch den Garten
und stieg in das draußen wartende Kabriolet, während die überraschte
Frau seiner großen Gestalt und entschiedenen Bewegung in sonderbar
gemischter Empfindung nachschaute.


Sechstes Kapitel

Als der Pater Matthias in seinem städtischen Anzug und mit einem
merkwürdig veränderten Gesicht wieder in sein Kloster gegangen kam
und ohne Umweg den Guardian aufsuchte, da zuckte Schrecken, Erstaunen
und lüsterne Neugierde durch die alten Hallen. Doch erfuhr niemand
etwas Gewisses. Hingegen fand schon nach einer Stunde eine geheime
Sitzung der Oberen statt, in welcher die Herren trotz manchen Bedenken
schlüssig wurden, den übeln Fall mit aller Sorgfalt geheim zu halten,
die verlorenen Gelder zu verschmerzen und den Pater lediglich mit einer
längeren Buße in einem ausländischen Kloster zu bestrafen.

Da er hereingeführt und ihm dieser Entscheid mitgeteilt wurde, setzte
er die milden Richter durch seine Weigerung, ihren Spruch anzuerkennen,
in kein geringes Erstaunen. Allein es half kein Drohen und kein gütiges
Zureden, Matthias blieb dabei, um seine Entlassung aus dem Orden zu
bitten. Wolle man ihm, fügte er hinzu, die durch seinen Leichtsinn
verloren gegangene Opfersumme als persönliche Schuld stunden und deren
allmähliche Abtragung erlauben, so würde er dies dankbar als eine große
Gnade annehmen, andernfalls jedoch ziehe er es vor, daß seine Sache vor
einem weltlichen Gericht ausgetragen werde.

Da war guter Rat teuer, und während Matthias Tag um Tag einsam in
strengem Zellenarrest gehalten wurde, beschäftigte seine Angelegenheit
die Vorgesetzten bis nach Rom hin, ohne daß der Gefangene über den
Stand der Dinge das Geringste erfahren konnte.

Es hätte auch noch viele Zeit darüber hingehen können, wäre nicht
durch einen unvermuteten Anstoß von außen her plötzlich alles in Fluß
gekommen und nach einer ganz anderen Entwicklung hin gedrängt worden.

Es wurde nämlich, zehn Tage nach des Paters unseliger Rückkehr, amtlich
und eilig von der Behörde angefragt, ob etwa dem Kloster neuestens ein
Insasse oder doch eine so und so beschriebene Ordenskleidung abhanden
gekommen, da diese Gewandung soeben als Inhalt eines auf dem und dem
Bahnhofe abgegebenen rätselhaften Handkoffers festgestellt worden sei.
Es habe dieser Koffer, der seit genau zwölf Tagen an jener Station
lagere, infolge eines schwebenden Prozesses geöffnet werden müssen,
da ein unter schwerem Verdacht verhafteter Gauner neben anderem
gestohlenen Gute auch den auf obigen Koffer lautenden Gepäckschein bei
sich getragen habe.

Eilig lief nun einer der Väter zur Behörde, bat um nähere Auskünfte
und reiste, da er diese nicht erhielt, unverweilt in die benachbarte
Provinzhauptstadt, wo er sich viele, doch vergebliche Mühe gab,
die Person und die Spuren des guten Paters Matthias als mit dem
Gaunerprozesse unzusammenhängend darzustellen. Der Staatsanwalt zeigte
im Gegenteil für diese Spuren ein lebhaftes Interesse und eine große
Lust, den einstweilen als krankliegend entschuldigten Pater Matthias
selber kennen zu lernen.

Durch diese Ereignisse kam plötzlich eine schroffe Änderung in die
Taktik der Väter. Es wurde nun, um zu retten, was noch zu retten wäre,
der Pater Matthias mit aller Feierlichkeit aus dem Orden ausgestoßen,
der Staatsanwaltschaft übergeben und wegen Veruntreuung von
Klostergeldern angeklagt. Und von dieser Stunde an füllte der Prozeß
des Paters nicht nur die Aktenmappen der Richter und Anwälte, sondern
auch als Skandalgeschichte alle Zeitungen, so daß sein Name im ganzen
Lande widerhallte.

Da niemand sich des Mannes annahm, da sein Orden ihn völlig preisgab
und die öffentliche Meinung, dargestellt durch die Artikel der
liberalen Tagesblätter, den Pater keineswegs schonte und den Anlaß
zu einer kleinen frohen Hetze wider die Klöster benutzte, kam der
Angeklagte in eine wahre Hölle von Verdacht und Verleumdung und bekam
eine schlimmere Suppe auszuessen, als er sich eingebrockt zu haben
meinte. Er hielt sich aber in aller Bedrängnis brav und tat keine
einzige Aussage, die sich nicht bewährt hätte.

Im übrigen nahmen die beiden ineinander verwickelten Prozesse ihren
raschen Verlauf. Mit wunderlichen Gefühlen sah sich Matthias bald als
Angeklagter den Pfarrern und Meßnern jener Missionsgegend, bald als
Zeuge der hübschen Meta und dem Herrn Breitinger gegenübergestellt, der
gar nicht Breitinger hieß und in weiten Kreisen als Gauner und Zuhälter
unter dem Namen des dünnen Jakob bekannt war. Sobald sein Anteil an der
Breitingerschen Affäre klargestellt war, entschwand dieser und seine
Gefolgschaft aus des Paters Augen, und es wurde in wenigen kräftigen
Verhandlungen sein eigenes Urteil vorbereitet.

Er war auf eine Verurteilung von allem Anfang an gefaßt gewesen.
Inzwischen hatte die Enthüllung der Einzelheiten jenes Tages in der
Stadt, das Verhalten seiner Oberen und die öffentliche Stimmung auf
seine allgemeine Beurteilung gedrückt, so daß die Richter auf sein
unbestrittenes Vergehen den gefährlichsten Paragraphen anwendeten und
ihn zu einer recht langen Gefängnisstrafe verurteilten.

Das war ihm nun doch ein empfindlicher Schlag, und es wollte ihm
scheinen, eine so harte Buße habe sein in keiner eigentlichen Bosheit
beruhendes Vergehen doch nicht verdient. Am meisten quälte ihn dabei
der Gedanke an die Frau Tanner und ob sie ihn, wenn er nach Verbüßung
einer so langwierigen Strafe und überhaupt nach diesem unerwartet viel
beschrieenen Skandal sich ihr wieder vorstelle, noch überhaupt werde
kennen wollen.

Zu gleicher Zeit bekümmerte und empörte sich Frau Tanner kaum weniger
über diesen Ausgang der Sache und machte sich Vorwürfe darüber, daß
sie ihn doch eigentlich ohne Not da hineingetrieben habe. Sie schrieb
auch ein Brieflein an ihn, worin sie ihn ihres unveränderten Zutrauens
versicherte und die Hoffnung aussprach, er werde gerade in der
unverdienten Härte seines Urteils eine Mahnung sehen, sich innerlich
ungebeugt und unverbittert für bessere Tage zu erhalten. Allein dann
fand sie wieder, es sei kein Grund vorhanden, an Matthias zu zweifeln,
und sie müsse es nun erst recht darauf ankommen lassen, wie er die
Probe bestehe. Und sie legte den geschriebenen Brief, ohne ihn nochmals
anzusehen, in ein Fach ihres Schreibtisches, das sie sorgfältig
verschloß.

       *       *       *       *       *

Über alledem war es längst völlig Herbst geworden und der Wein schon
gekeltert, als nach einigen trüben Wochen der Spätherbst noch einmal
warme, blaue, zart verklärte Tage brachte. Friedlich lag, vom Wasser in
gebrochenen Linien gespiegelt, an der Biegung des grünen Flusses das
alte Kloster und schaute mit vielen Fensterscheiben in den zartgolden
blühenden Tag. Da zog in dem schönen Spätherbstwetter wieder einmal ein
trauriges Trüpplein unter der Führung einiger bewaffneter Landjäger auf
dem hohen Weg überm steilen Ufer dahin.

Unter den Gefangenen war auch der ehemalige Pater Matthias, der
zuweilen den gesenkten Kopf aufrichtete und in die sonnige Weite des
Tales und zum stillen Kloster hinunter sah. Er hatte keine guten Tage,
aber seine Hoffnung stand immer wieder, von allen Zweifeln unzerstört,
auf das Bild der hübschen blassen Frau gerichtet, deren Hand er vor
dem bitteren Gang in die Schande gehalten und geküßt hatte. Und indem
er unwillkürlich jenes Tages vor seiner Schicksalsreise gedachte, da
er noch aus dem Schutz und Schatten des Klosters in Langeweile und
Mißmut hier herübergeblickt hatte, da ging ein feines Lächeln über sein
mager gewordenes Gesicht, und es schien ihm das halbzufriedene Damals
keineswegs besser und wünschenswerter als das hoffnungsvolle Heute.

                              Ende



Werke von Hermann Hesse


Peter Camenzind

Roman. 60. Auflage. Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark.

Wenn du aber zu den Menschen gehörst, die weinen können, weil der
Himmel kornblumenblau über einem goldenen Weizenfeld steht, wenn du
einer von denen bist, die jauchzen können, wenn der Wind durch blühende
Lindenbäume rauscht, dann schnür dein Bündel und pack die Geschichte
des Peter Camenzind obenauf. Und dann wandre und wandre, bis du zu
einem dunklen See kommst, der zu Füßen einiger hoher Bergschroffen
liegt. Dort sitz nieder und lies, was dir Peter Camenzind von den
Bergen und vom Walde, von den Strömen und von der Liebe zu erzählen
hat. Und glaub mir: Du wirst größer, reiner, freier wieder heimkehren
in die Stadtwirrnis.

                                                            (Die Woche)


Unterm Rad

Roman. 19. Auflage. Geheftet 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.

Es ist die einfache Geschichte von einem Jungen, der stolz und mit
der Anwartschaft auf Ruhm und Glück ins Leben eintritt und unters Rad
kommt und überfahren wird; ein Buch voll Schwermut und heimlicher
leiser Klage und ein Buch voll Anklage. Schwer und gewichtig in seiner
Einfachheit, die um so tiefer wirkt, als sie das Resultat einer
unnachahmlichen sprachlichen Meisterschaft und stilistischen Adels ist.

                                                    (Münchener Zeitung)

Es ist dieser Roman ein gutes, tiefes, starkes Buch, geläuterter noch
als der »Camenzind«, von einer tüchtigen Männlichkeit durchweht, eine
Wohltat für den, der ihn liest, treuherzig, überzeugend, von lebhaftem,
heißem Natursinn kündend, frei von ästhetischer Kränkelei -- ein klares
Schwabenbuch, ein durch und durch deutscher Roman.

                                        (Münchener Neueste Nachrichten)


Diesseits

Erzählungen. 18. Aufl. Geh. 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.

Wie man etwa Eduard Mörikes Gedichte lesen sollte, an einem stillen,
schönen Sommertage im Grase liegend, der Zeit und jeder Alltäglichkeit
weit entrückt, ruhevoll nur sich und dem Weben der leise schaffenden
Natur lauschend, in solcher Sonntagsstimmung sollte man Hermann Hesses
neuen Novellenband »Diesseits« lesen.

                                                 (Neue Zürcher Zeitung)

Wie lange habe ich mich darauf gefreut, dieses Buch anzuzeigen! Es ist
ein stilles, vornehmes und unsäglich schönes Buch geworden, das man
ehrfürchtig in die Hand nimmt, ehrfürchtig aus der Hand legt, still,
ergriffen, nachdenklich, voll einer Liebe zu dem Menschen, der ein
so starkes, reines Herz hat und es so lauter schenkt. Hermann Hesse
bedeutet einen Gipfelpunkt deutscher Erzählerkunst.

                                                    (Münchener Zeitung)


Nachbarn

Erzählungen. 12. Aufl. Geh. 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.

Es ist eigentlich eine einzige Geschichte, die wir da in den
fünf Erzählungen des neuen Hessebandes erleben; so harmonisch
zusammengeschweißt erscheinen sie ... Ruhig, über allen Dingen
schwebend, ohne Leidenschaft und vollkommen abgeklärt werden uns diese
Geschichten erzählt. Aber in einer Sprache, die ihresgleichen sucht,
und die den Stolz in uns aufleben läßt: sehet, das ist Deutsch. Gott
sei Dank, daß es eine deutsche Sprache gibt. Und Dichter, die sie adeln.

                                     (Württemberger Zeitung, Stuttgart)

Hesse arbeitet aus der Stimmung, aus der Landschaft, und darum
fließen seine Erzählungen ineinander über. Sie lesen sich entzückend.
Natürlicheres, Traulicheres, Feineres wird heute kaum geschrieben.

                                            (Vossische Zeitung, Berlin)


Spamersche Buchdruckerei in Leipzig.



Anmerkungen zur Transkription:

In "er war in dem großen Atelier heftig hin und wieder geschritten,
hatte seinen rotbraunen Bart mit nervösen Händen gedreht und sich
alsbald, wie es seine unheimliche Gabe war, in ein flimmerndes
Gehäuse eingesponnen, das aus lauter Beredtsamkeit bestand und dem
Regendache jenes Meisterfechters im Volksmärchen glich, unter welchem
jener trocken stand, obwohl es aus nichts bestand als dem rasenden
Kreisschwung seines Degens." stand "bestund" statt des zweiten
"bestand".

In "Berthold hatte, trotz der offenkundigen Untiefen, eine gewisse
Freude an dieser idyllisch harmlosen Philosophie, die er noch von
manchen anderen Verkündern in anderen Tönungen zu hören bekam, und
er hätte ein Riese sein müssen, wenn nicht allmählich jedes dieser
Bekenntnisse ihm, der außerhalb der Welt lebte, bleibende Eindrücke
gemacht und sein eigenes Denken gefärbt hätte." stand "Welte" statt
"Welt"

In "Denn er sah gar wohl, daß die Sprache solcher Kunsterzeugnisse, von
der gemeinen Sprache der Gasse ebenso weit entfernt wie nur irgendeine
tolle Dichtung, geeignet sei, Eindruck zu machen, Macht zu üben und
über Unverständige Vorteile zu erlangen." stand "entlernt" statt
"entfernt".





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