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Title: Roman einer Ehe
Author: Tolstoy, Leo, graf
Language: German
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    Anmerkungen zur Transkription


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    ~so markiert~.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



    Graf Leo Tolstoi

    Roman einer Ehe

    Deutsch

    von

    Alexander Eliasberg

    [Illustration]

    O. C. Recht Verlag München



Copyright by O. C. Recht Verlag München 1921

Viertes bis siebentes Tausend


Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig



Erster Teil.


I

Wir trugen Trauer um unsere Mutter, die im Herbste gestorben war. Den
ganzen Winter verlebten wir, Katja, Ssonja und ich, auf dem Lande.

Katja war eine alte Freundin unseres Hauses, unsere Gouvernante, die
uns alle großgezogen hatte, und die ich kannte und liebte, seit ich
mich meiner überhaupt erinnere. Ssonja war meine jüngere Schwester. Wir
verlebten einen düsteren und traurigen Winter in unserem alten Hause zu
Pokrowskoje. Das Wetter war kalt, und der Wind hatte die Schneewehen
bis über die Fensterhöhe herangefegt; die Fenster waren immer vereist
und undurchsichtig, und wir gingen und fuhren fast den ganzen Winter
nicht aus. Nur selten kam jemand zu uns, und wenn auch jemand kam, so
brachte er uns weder Fröhlichkeit noch Freude ins Haus. Alle hatten
traurige Mienen, alle sprachen so leise, als fürchteten sie, jemand zu
wecken, niemand lachte, alle seufzten und weinten oft, wenn sie mich
und besonders die kleine Ssonja in ihrem schwarzen Kleidchen ansahen.
Im Hause ließ sich noch die Gegenwart des Todes spüren; Trauer und
Todesgrauen erfüllten die Luft. Mamas Zimmer war geschlossen, und es
war mir unheimlich zumute, und ich fühlte mich zugleich hingezogen, in
dieses kalte und leere Zimmer hineinzublicken, sooft ich auf dem Wege
nach meinem Schlafzimmer vorbeimußte.

Ich war damals siebzehn Jahre alt, und Mama hatte noch im gleichen
Jahre, als sie starb, die Absicht gehabt, in die Stadt zu übersiedeln,
um mich in die Gesellschaft einzuführen. Der Verlust meiner Mutter
bedeutete für mich einen schweren Kummer, aber zu diesem Gefühl
gesellte sich, ich muß es gestehen, auch noch der Gram darüber, daß
ich, die ich, wie mir alle sagten, jung und hübsch war, schon den
zweiten Winter in der ländlichen Einöde nutzlos verbringen mußte. Kurz
vor dem Ende des Winters steigerte sich das Gefühl der Trauer, der
Einsamkeit und auch der gewöhnlichen Langweile dermaßen, daß ich mein
Zimmer nicht mehr verließ, mein Klavier nicht mehr öffnete und kein
Buch in die Hand nahm. Wenn Katja mir zuredete, ich solle das eine oder
andere beginnen, so antwortete ich ihr: »Ich habe keine Lust, ich kann
nicht!« In meinem Herzen regte sich aber die Frage: -- Wozu? Warum soll
ich etwas beginnen, wenn meine beste Zeit unnütz dahingeht? Wozu? --
Und auf dieses »Wozu« gab es keine andere Antwort als Tränen.

Man sagte mir, ich sei während dieser Zeit mager geworden und hätte
viel von meiner Schönheit eingebüßt, aber auch das interessierte mich
nicht. Wozu? Für wen? Mir schien, als müsse mein ganzes Leben in dieser
Einöde, in dieser hilflosen Trauer dahingehen, aus der mich zu befreien
ich selbst keine Kraft und nicht einmal den Willen hatte. Gegen Ende
des Winters nahm sich Katja, die um mich sehr besorgt war, vor, mich
unbedingt ins Ausland zu bringen. Dazu brauchte man Geld, wir wußten
aber kaum, was uns nach dem Tode unserer Mutter geblieben war und
erwarteten von Tag zu Tag unseren Vormund, der kommen sollte, um die
Vermögensverhältnisse zu klären.

Im März kam der Vormund.

»Nun, Gott sei Dank!« sagte mir einmal Katja, als ich wie ein Schatten,
müßig, ohne Gedanken und ohne Wünsche von Winkel zu Winkel irrte.
»Ssergej Michailytsch ist angekommen, hat schon nach uns gefragt und
sich zum Mittagessen angemeldet. Nimm dich zusammen, Maschetschka,«
fügte sie hinzu. »Was soll er von dir denken? Er hat ja euch alle so
sehr geliebt.«

Ssergej Michailytsch war unser naher Nachbar und mit unserem
verstorbenen Vater befreundet gewesen, obwohl er viel jünger war als
dieser. Ganz abgesehen davon, daß seine Ankunft alle unsere Pläne über
den Haufen warf und uns die Möglichkeit gab, aus der ländlichen Einöde
herauszukommen, war ich schon von der frühesten Kindheit an gewöhnt,
ihn zu lieben und zu achten, und Katja hatte, als sie mir den Rat gab,
mich zusammenzunehmen, ganz richtig erraten, daß es mir schmerzvoller
war, mich Ssergej Michailowitsch als jemand anderem von unsern
Bekannten in ungünstigem Lichte zu zeigen. Abgesehen davon, daß ich
ihn, wie alle im Hause, von Katja und Ssonja, seiner Patentochter an,
bis zum letzten Kutscher schon aus Gewohnheit liebte, hatte er für mich
noch eine ganz besondere Bedeutung infolge einer Bemerkung, die Mama
einmal in meiner Gegenwart gemacht hatte. Sie hatte gesagt, daß sie
mir einen solchen Mann wünsche. Damals war mir das sonderbar und sogar
unangenehm erschienen. Mein Held sollte ganz anders aussehen: schlank,
hager, bleich und traurig, aber Ssergej Michailytsch war schon in den
Jahren, groß gewachsen, wohlbeleibt und, wie mir schien, immer lustig;
aber die Worte meiner Mutter hatten sich trotzdem in meiner Erinnerung
festgesetzt, und ich hatte mich noch vor sechs Jahren, als ich erst
elf Jahre alt war und er zu mir »du« sagte und mich »Veilchenmädchen«
nannte, zuweilen nicht ohne Schrecken gefragt, was ich tun sollte, wenn
er mich plötzlich heiraten wollen würde. --

Vor dem Mittagessen, bei dem es auf Katjas Anordnung außer den
gewöhnlichen Speisen auch noch Gefrorenes, eine Creme und eine
Spinatsauce gab, kam Ssergej Michailytsch an. Ich sah ihn durchs
Fenster in seinem kleinen Schlitten heranfahren; als er um die Ecke
bog, eilte ich ins Wohnzimmer und wollte so tun, als hätte ich ihn
gar nicht erwartet. Aber als ich im Vorzimmer seine Schritte, seine
laute Stimme und die Schritte Katjas hörte, hielt ich es doch nicht
aus und ging ihm entgegen. Er hielt Katja bei der Hand, sprach laut
und lächelte. Als er mich erblickte, verstummte er und sah mich einige
Zeit, ohne mich zu begrüßen, an. Ich wurde verlegen und fühlte, daß ich
errötete.

»Ach! Sind Sie es wirklich?« sagte er in seiner bestimmten, einfachen
Art, vor Erstaunen die Arme spreizend und auf mich zugehend. »Kann sich
denn ein Mensch so verändern! Wie groß Sie geworden sind! Das soll ein
Veilchen sein! Sie sind zu einer Rose aufgeblüht.«

Er ergriff mit seiner großen Hand die meine und drückte sie herzlich
und so stark, daß es mir fast weh tat. Ich glaubte, er würde mir die
Hand küssen und hatte mich schon vorgeneigt, um mit den Lippen seine
Stirn zu berühren, aber er drückte noch einmal meine Hand und sah mir
mit einem festen und lustigen Blicke gerade in die Augen.

Ich hatte ihn seit sechs Jahren nicht gesehen. Er hatte sich sehr
verändert: war älter und brauner geworden und hatte sich einen
Backenbart wachsen lassen, der ihm gar nicht stand; aber seine
einfachen Manieren, sein offenes, ehrliches Gesicht mit den scharfen
Zügen, die klugen, leuchtenden Augen und das freundliche, fast
kindliche Lächeln waren noch dieselben.

Nach fünf Minuten schon hatte er aufgehört Gast zu sein und war wieder
zu einem altvertrauten Familienmitglied geworden, wie für uns alle, so
auch für das Hausgesinde, das sich, was man seiner Dienstfertigkeit
ansah, über seine Ankunft besonders freute.

Er benahm sich ganz anders als alle Nachbarn, die nach dem Tode Mamas
zu uns kamen und es für nötig hielten, während der ganzen Dauer des
Besuchs zu schweigen oder uns zu bemitleiden; er war vielmehr sehr
redselig, lustig und kam mit keinem Worte auf Mama zu sprechen, so daß
diese Gleichgültigkeit seitens eines so nahe stehenden Menschen mir
zuerst seltsam und sogar unpassend vorkam. Später begriff ich aber,
daß dieses Gebaren keine Gleichgültigkeit, sondern eine besondere
Herzlichkeit bedeutete, und ich war ihm dafür dankbar. Abends tranken
wir im Wohnzimmer Tee; Katja schenkte wie bei Mamas Lebzeiten den
Tee ein und saß auf ihrem alten Platz; Ssonja und ich setzten uns
neben sie; der alte Grigorij brachte ihm Papas alte Pfeife, die er
aufgefunden hatte, und er begann wie vor Zeiten im Zimmer auf und ab zu
gehen.

»Wenn man es so bedenkt, welche furchtbaren Veränderungen in diesem
Hause!« sagte er, stehen bleibend.

»Ja,« erwiderte Katja mit einem Seufzer. Sie deckte den Samowar zu und
blickte Ssergej Michailytsch an, im Begriff, in Tränen auszubrechen.

»Sie können sich wohl noch Ihres Vaters erinnern?« wandte er sich an
mich.

»Kaum,« antwortete ich.

»Wie gut hätten Sie es jetzt, wenn er noch am Leben wäre!« sagte er,
indem er mir still und nachdenklich auf die Stirne blickte. »Ich habe
Ihren Vater immer sehr lieb gehabt!« fügte er leiser hinzu, und es kam
mir vor, als wären seine Augen noch glänzender geworden.

»Der Herr hat aber auch sie zu sich genommen!« sagte Katja. Sie legte
eine Serviette auf die Teekanne, holte ihr Tuch aus der Tasche und fing
zu weinen an.

»Ja, furchtbare Veränderungen in diesem Hause,« sagte er noch einmal,
sich wegwendend. »Ssonja, zeig mal deine Spielsachen,« fügte er nach
einer Weile hinzu und ging in den Salon. Als er fort war, sah ich Katja
mit Tränen in den Augen an.

»So ein guter Freund!« sagte sie.

Die Teilnahme dieses fremden und gütigen Menschen tat mir wirklich warm
und wohl.

Man hörte Ssonja im Salon lustig kreischen, während er mit ihr spielte.
Ich schickte ihm ein Glas Tee hinüber; dann hörten wir, wie er sich ans
Klavier setzte und mit Ssonjas Händchen auf die Tasten schlug.

»Marja Alexandrowna!« hörte ich ihn rufen, »kommen Sie her, spielen Sie
etwas.«

Es war mir angenehm, daß er sich so ungezwungen und in einem
freundschaftlich gebieterischen Ton an mich wandte; ich stand auf und
ging auf ihn zu.

»Spielen Sie mal das,« sagte er, das Beethovenheft bei dem Adagio der
Sonate Quasi una fantasia aufschlagend. »Wir wollen mal sehen, wie Sie
spielen,« fügte er hinzu und zog sich mit seinem Teeglas in eine Ecke
des Salons zurück.

Ich hatte, ich weiß selbst nicht warum, das Gefühl, daß es mir
unmöglich gewesen wäre, mich zu weigern oder vorauszuschicken, daß ich
schlecht spiele; ich setzte mich gehorsam ans Klavier und spielte so
gut ich konnte, obwohl ich mich vor seinem Urteil fürchtete: ich wußte,
daß er sich auf Musik verstand und sie liebte. Das Adagio entsprach
ganz der Stimmung der Erinnerungen, die das Gespräch am Teetisch in
mir geweckt hatte, und ich spielte es, glaube ich, recht anständig.
Aber das Scherzo wollte er mich nicht spielen lassen. »Nein, das werden
Sie nicht gut spielen,« sagte er, auf mich zugehend. »Lassen Sie das,
aber der erste Teil war nicht schlecht. Sie scheinen Verständnis für
Musik zu haben.« Dieses recht mäßige Lob freute mich so sehr, daß
ich sogar rot wurde. Es war mir so neu und so angenehm, daß er, der
Freund und beinahe Altersgenosse meines Vaters, zu mir ernst und wie zu
seinesgleichen sprach, und nicht wie zu einem Kinde wie einst. Katja
ging mit Ssonja hinauf, um sie zu Bett zu bringen, und wir blieben
allein im Salon.

Er erzählte mir von meinem Vater; wie er sich ihm angeschlossen
hatte, wie lustig sie gelebt hatten, als ich mich noch mit meinen
Lehrbüchern und Spielsachen abgab; und mein Vater erschien mir in
diesen Erzählungen als ein einfacher und lieber Mensch, wie ich ihn
noch gar nicht gekannt hatte. Er erkundigte sich auch danach, was ich
besonders liebe, was ich lese, was ich zu unternehmen gedenke und
gab mir Ratschläge. Er war jetzt für mich nicht mehr der stets zu
Scherzen aufgelegte lustige Patron, der mich einst gerne neckte und mir
Spielsachen anfertigte, sondern ein ernster, einfacher und liebender
Mann, dem ich unwillkürlich Achtung und Sympathie entgegenbrachte. Es
war mir so leicht und wohl ums Herz, zugleich spürte ich auch eine
gewisse Befangenheit, als ich mit ihm sprach. Ich fürchtete für jedes
meiner Worte; ich wollte bei ihm selbst die Liebe verdienen, die er
mir schon aus dem Grunde entgegenbrachte, weil ich die Tochter meines
Vaters war.

Nachdem Katja Ssonja zu Bett gebracht hatte, gesellte sie sich zu uns.
Sie beklagte sich über meine Apathie, von der ich selbst nichts gesagt
hatte.

»Das Wichtigste hat sie mir verschwiegen,« sagte er lächelnd und
schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

»Was soll ich darüber erzählen!« entgegnete ich. »Es ist sehr
langweilig und wird sich auch bald geben.« (Mir schien in jenem
Augenblick nicht nur, als müßte meine Langeweile vorübergehen, sondern
als wäre sie schon vorübergegangen und würde niemals wiederkehren.)

»Es ist nicht gut, wenn man die Einsamkeit nicht ertragen kann,« sagte
er. »Sind Sie denn ein Fräulein?«

»Natürlich bin ich ein Fräulein,« antwortete ich lachend.

»Nein, Sie sind ein schlechtes Fräulein, das nur dann lebendig
ist, solange man es bewundert, und das den Mut sinken läßt und zu
nichts mehr Lust hat, sobald es allein geblieben ist; alles nur als
Schauspiel für die anderen, und nichts für sich selbst.«

»Eine nette Meinung haben Sie von mir!« sagte ich, nur um etwas zu
sagen.

»Nein!« versetzte er nach kurzem Schweigen. »Nicht umsonst sehen Sie
Ihrem Vater ähnlich. _Es steckt etwas in Ihnen_ ...« Sein freundlicher,
aufmerksamer Blick schmeichelte mir wieder und brachte mich in freudige
Verlegenheit.

Erst jetzt entdeckte ich in seinem, im ersten Moment lustig scheinenden
Gesicht, diesen einzigen, nur ihm allein eigentümlichen Blick, der
anfangs heiter schien und dann immer forschender und sogar etwas
traurig wurde.

»Sie dürfen und können sich nicht langweilen,« sagte er. »Sie haben
Ihre Musik, für die Sie Verständnis haben, Ihre Bücher, Ihr Studium,
Sie haben ein ganzes Leben vor sich, auf das Sie sich nur jetzt
vorbereiten können, um es später nicht zu beklagen. Nach einem Jahr
wird es schon zu spät sein.«

Er sprach zu mir wie ein Vater oder wie ein Onkel, und ich fühlte, daß
er sich fortwährend die Mühe gab, sich wie meinesgleichen zu geben. Es
kränkte mich, daß er auf mich eigentlich von oben herabsah, und es war
mir zugleich angenehm, daß er sich mir zuliebe bemühte, als ein anderer
zu erscheinen.

Den Rest des Abends sprach er mit Katja über geschäftliche Dinge.

»Nun, lebt wohl, meine lieben Freunde,« sagte er, indem er sich erhob,
auf mich zuging und meine Hand ergriff.

»Wann werden wir uns wiedersehen?« fragte Katja.

»Im Frühjahr,« antwortete er, mich noch immer bei der Hand haltend.
»Jetzt fahre ich nach Danilowka (so hieß unser anderes Gut), um dort
alles festzustellen und, soweit ich kann, in Ordnung zu bringen, dann
in meinen eigenen Geschäften nach Moskau, und im Sommer werden wir uns
wiedersehen.«

»Warum verlassen Sie uns für so lange? ...« sagte ich furchtbar
traurig; ich hatte in der Tat gehofft, ihn jeden Tag zu sehen, und es
wurde mir plötzlich so trist und bange zumute, daß meine Schwermut
wiederkehren sollte. Wahrscheinlich war das auch in meinem Blick und in
meinem Ton zu lesen.

»Suchen Sie die Zeit mit Arbeit totzuschlagen und fangen Sie keine
Grillen,« sagte er mir, wie es mir schien, in einem viel zu kalten und
gleichgültigen Tone. »Im Frühjahr werde ich Sie examinieren,« fügte er
hinzu, meine Hand loslassend, und ohne mich anzublicken.

Im Vorzimmer, wohin wir ihn begleiteten, hatte er es sehr eilig, seinen
Pelz anzuziehen und vermied es, mich anzublicken. -- Umsonst gibt er
sich solche Mühe! -- dachte ich mir. -- Glaubt er denn wirklich, es sei
mir so angenehm, daß er mich ansieht? Er ist ein guter Mensch, ein sehr
guter Mensch ... aber das ist auch alles. --

Aber an diesem Abend konnten Katja und ich lange nicht einschlafen; wir
sprachen immer, doch nicht von ihm, sondern davon, wie wir den Sommer
verleben und wie und wo wir den nächsten Winter zubringen würden. Die
schreckliche Frage: »Wozu?« kam mir nicht mehr in den Sinn. Es erschien
mir so einfach und so klar, daß man leben müsse, um glücklich zu
sein, und daß mich in der Zukunft viel Glück erwarte. Als wäre unser
altes, düsteres Gutshaus von Pokrowskoje plötzlich mit Licht und Leben
erfüllt.


II

Indessen kam der Frühling. Meine frühere Schwermut war vergangen und an
ihre Stelle die träumerische Frühlingssehnsucht voller unbegreiflicher
Hoffnungen und Gelüste getreten. Ich lebte zwar nicht mehr so wie zu
Beginn des Winters, sondern gab mich mit Ssonja ab und beschäftigte
mich mit Musik und mit Lektüre; aber ich ging oft in den Garten und
irrte lange, lange allein durch die Alleen oder saß auf einer Bank, und
Gott allein weiß, was ich mir da dachte, was ich wünschte und worauf
ich hoffte. Manchmal saß ich ganze Nächte, besonders beim Mondschein
bis zum Morgen am Fenster meines Zimmers; zuweilen schlich ich mich
leise, damit es Katja nicht höre, bloß mit der Nachtjacke bekleidet, in
den Garten und lief über das taubedeckte Gras bis zum Teiche; einmal
gelangte ich sogar ins freie Feld und umwanderte eines Nachts allein
den ganzen Garten.

Jetzt fällt es mir schwer, mich der Träume, die damals meine Phantasie
beschäftigten, zu erinnern und sie zu begreifen. Wenn ich jetzt sogar
daran zurückdenke, kann ich kaum glauben, daß es wirklich meine Träume
gewesen seien: so seltsam und lebensfremd waren sie.

Ende Mai kam Ssergej Michailytsch, so wie er versprochen hatte, von
seiner Reise zurück.

Zum erstenmal besuchte er uns am Abend, als wir ihn gar nicht
erwarteten. Wir saßen auf der Terrasse und schickten uns an, Tee zu
trinken. Der Garten war schon dicht belaubt, und im Gebüsch nisteten
während der Petrifasten die Nachtigallen. Die krausen Fliederbüsche
sahen so aus, als wären sie oben mit etwas Weißem und Lila überpudert.
Das waren die aufbrechenden Knospen. Das Laub der Birkenallee war im
Scheine der untergehenden Sonne ganz durchsichtig. Auf der Terrasse
lag ein frischer, kühler Schatten. Das Gras erwartete reichlichen
Abendtau. Im Hofe hinter dem Garten ließen sich die letzten Laute des
Tages, die Geräusche der heimgekehrten Herde vernehmen; der närrische
Nikon fuhr mit einem Fasse auf dem Gartenwege vor der Terrasse auf und
nieder, und der kalte Wasserstrahl aus seiner Gießkanne schwärzte die
aufgewühlte Erde an den Stengeln der Georginen und ihren Stäben. Bei
uns auf der Terrasse funkelte und kochte auf dem weißen Tischtuch der
blank geputzte Samowar, standen Sahne, Brezeln und Gebäck. Katja spülte
als sorgsame Hausfrau mit ihren rundlichen Händen die Tassen. Ich hatte
nach dem Bade solchen Hunger, daß ich den Tee nicht erwarten konnte
und das Brot mit dicker frischer Sahne aß. Ich hatte eine Leinenbluse
mit offenen Ärmeln an, und meine feuchten Haare waren mit einem Tuch
umwunden. Katja hatte ihn als erste durch das Fenster erblickt.

»Ah, Ssergej Michailytsch!« rief sie. »Wir haben doch soeben von Ihnen
gesprochen.«

Ich stand auf und wollte gehen, um mich umzukleiden, er kam aber gerade
in dem Augenblick, als ich schon in der Türe war.

»Macht man denn auf dem Lande so große Umstände?« sagte er lächelnd,
mit einem Blick auf meinen mit dem Tuche umwundenen Kopf. »Vor
Grigorij genieren Sie sich doch nicht, ich bin aber für Sie doch so
gut wie Grigorij.« Aber es kam mir gerade in jenem Augenblick vor, als
sähe er mich gar nicht so an, wie mich Grigorij ansehen könnte, und ich
wurde verlegen.

»Ich komme gleich wieder,« sagte ich fortgehend.

»Warum sollte das unpassend sein!« rief er mir nach. »So sehen Sie doch
ganz wie eine junge Bäuerin aus.«

-- Wie seltsam hat er mich eben angesehen, -- dachte ich mir, während
ich mich oben umzog. -- Nun, Gott sei Dank, daß er gekommen ist:
jetzt wird es wieder lustiger werden! -- Ich warf noch einen Blick
in den Spiegel, eilte lustig die Treppe hinunter und kam außer
Atem, ohne irgendwie zu verheimlichen, daß ich mich beeilt hatte,
auf die Terrasse. Er saß am Tisch und sprach mit Katja über unsere
Vermögensverhältnisse. Er sah mich lächelnd an und fuhr in seinem
Gespräch fort. Unsere Verhältnisse waren nach seinen Worten im besten
Zustande. Wir müßten jetzt nur noch den Sommer auf dem Lande verbringen
und könnten dann entweder nach Petersburg, um für Ssonjas Erziehung zu
sorgen, oder ins Ausland gehen.

»Ja, wenn Sie doch mit uns ins Ausland mitkommen wollten,« sagte Katja.
»Allein würden wir uns dort so einsam wie in einem Walde fühlen.«

»Ach, wie gerne würde ich mit Ihnen eine Reise um die Welt machen!«
sagte er halb im Scherz und halb im Ernst.

»Nun,« erwiderte ich, »machen wir doch wirklich eine Reise um die Welt.«

Er lächelte und schüttelte den Kopf.

»Und meine Mutter? Und meine Geschäfte?« versetzte er. »Aber es
handelt sich jetzt nicht darum. Erzählen Sie mir lieber, wie Sie die
Zeit verbracht haben. Haben Sie denn wieder Grillen gefangen?«

Als ich ihm berichtete, was ich in seiner Abwesenheit getrieben,
und daß ich mich nicht gelangweilt hatte, und als Katja meine Worte
bestätigte, lobte er und liebkoste mich mit Worten und Blicken, als
ob ich noch ein Kind wäre, und er ein Recht darauf hätte. Ich hielt
es für meine Pflicht, ihm ausführlich und besonders aufrichtig über
alles zu berichten, was ich Gutes getan hatte, und ihm wie in der
Beichte alles zu gestehen, was seine Unzufriedenheit erregen konnte.
Der Abend war so schön, daß wir auch nach dem Tee auf der Terrasse
blieben, und das Gespräch fesselte mich so, daß ich gar nicht merkte,
wie ringsum allmählich alle menschlichen Laute verstummten. Von allen
Seiten duftete es nach Blumen, reichlicher Tau netzte das Gras, eine
Nachtigall begann in der Nähe in einem Fliederbusch zu schmettern und
verstummte, als sie unsere Stimmen hörte; der gestirnte Himmel senkte
sich gleichsam auf uns herab.

Ich merkte den Anbruch der Nacht erst dann, als eine Fledermaus lautlos
unter die Leinenmarkise der Terrasse geflogen kam und mein weißes
Kopftuch zu umflattern begann. Ich drückte mich an die Wand und wollte
schon aufschreien, aber die Fledermaus flog ebenso lautlos und schnell,
wie sie gekommen war, unter der Markise hinaus und verschwand im
Halbdunkel des Gartens.

»Wie liebe ich Euer Pokrowskoje,« sagte er, das Gespräch unterbrechend.
»Ich könnte mein ganzes Leben hier auf dieser Terrasse sitzen.«

»Nun, bleiben Sie doch wirklich hier sitzen,« sagte Katja.

»Ja, sitzen,« erwiderte er, »das Leben sitzt nicht still.«

»Warum heiraten Sie nicht?« fragte Katja. »Sie wären doch ein
vorzüglicher Ehemann.«

»Weil ich gerne sitze?« Er lachte auf. »Nein, Katerina Karlowna, wir
beide heiraten nicht mehr. Man hat schon längst aufgehört, mich für
einen Menschen zu halten, den man verheiraten könnte. Ich selbst denke
erst recht nicht daran, und seitdem ich es nicht mehr tue, fühle ich
mich wirklich wohl.«

Es kam mir vor, als spräche er das irgendwie unnatürlich und affektiert.

»Großartig! Mit sechsunddreißig Jahren wollen Sie schon das Leben
hinter sich haben,« versetzte Katja.

»Und wie!« fuhr er fort. »Ich habe nur noch den einen Wunsch, still zu
sitzen. Um zu heiraten, braucht man aber etwas anderes. Fragen Sie mal
sie,« fügte er hinzu, mit einer Kopfbewegung auf mich deutend. »Solche
müssen heiraten. Wir beide werden uns aber ihrer freuen.«

Im Tone seiner Stimme lagen eine verhaltene Trauer und Erregung, die
mir nicht entgingen. Er schwieg eine Weile; Katja und ich versetzten
kein Wort.

»Stellen Sie sich nur vor,« fuhr er fort, sich auf seinem Stuhle
umdrehend, »das Unglück wollte es, daß ich mich mit einem
siebzehnjährigen Mädchen verheiratete, zum Beispiel mit Masch... mit
Marja Alexandrowna. Das ist sogar ein schönes Beispiel, und ich freue
mich, daß es so gut paßt ... es ist das allerbeste Beispiel.«

Ich lachte und konnte unmöglich verstehen, worüber er sich so freute
und was da so gut paßte.

»Nun, sagen Sie mir aufrichtig, die Hand aufs Herz,« fuhr er fort, sich
scherzend an mich wendend, »wäre es denn für Sie kein Unglück, Ihr
Leben an das eines alten, abgelebten Mannes zu binden, der nur noch
ruhig sitzen will, während in Ihnen Gott weiß was für Wünsche gären?«

Ich wurde verlegen und schwieg, da ich nicht wußte, was darauf zu
antworten.

»Ich mache Ihnen ja keinen Antrag,« fuhr er lachend fort. »Sagen Sie
mir aber aufrichtig, Sie ersehnen sich doch nicht einen solchen Mann,
wenn Sie abends allein durch die Alleen wandeln? Das wäre doch ein
Unglück?«

»Kein Unglück ...« begann ich.

»Gut wäre es aber auch nicht,« sprach er meinen Satz zu Ende.

»Aber ich kann auch irren ...«

Er unterbrach mich wieder.

»Nun sehen Sie es selbst. Sie hat vollkommen recht, ich bin ihr für die
Aufrichtigkeit dankbar und freue mich, daß die Rede darauf gekommen
ist! Und noch mehr als das, es wäre auch für mich das größte Unglück,«
fügte er hinzu.

»Sie sind doch wirklich komisch und haben sich nicht im geringsten
verändert,« sagte Katja und verließ die Terrasse, um den Tisch zum
Abendessen decken zu lassen.

Als Katja gegangen war, verstummten wir beide, und auch alles um uns
herum war stumm. Nur die Nachtigall schmetterte, so daß es durch den
ganzen Garten schallte, doch nicht mehr so abgerissen und zaghaft wie
vorhin, sondern auf ihre nächtliche Weise, ruhig und ohne Übereilung;
eine zweite Nachtigall, die sich heute abend zum erstenmal vernehmen
ließ, antwortete ihr aus der Schlucht. Die erste Nachtigall verstummte
für eine Weile, als lauschte sie der anderen, und ließ dann noch
lauter und mächtiger ihre hellen Triller erschallen. Majestätisch
und ruhig klangen diese Stimmen durch ihre, uns fremde nächtliche
Welt. Der Gärtner ging vorüber, um sich im Gewächshaus schlafen zu
legen; seine Schritte in den schweren Stiefeln entfernten sich auf dem
Gartenwege und verhallten. Am Fuße des Berges ließ jemand zweimal einen
durchdringenden Pfiff erschallen, und alles wurde wieder still. Kaum
hörbar regte sich das Laub, schwankte die Zeltleinwand der Markise;
etwas Duftendes zog durch die Luft und verbreitete sich über die
Terrasse. Es war mir peinlich, nach allem, was schon gesagt worden war,
zu schweigen, aber ich wußte auch nicht, was zu sagen. Ich sah ihn an.
Er richtete seine im Halbdunkel glänzenden Augen auf mich.

»Es ist so schön, auf dieser Welt zu leben!« sagte er.

Ich seufzte auf, ich wußte selbst nicht warum.

»Was?«

»Es ist so schön, auf dieser Welt zu leben!« sprach ich seine Worte
nach.

Und wir schwiegen wieder, und ich fühlte mich wieder verlegen. Mir
kam immer wieder der Gedanke, daß ich ihm wehgetan hätte, als ich
zugegeben, daß er alt sei; ich wollte ihn trösten, wußte aber nicht,
wie.

»Nun, leben Sie wohl,« sagte er, sich erhebend. »Meine Mutter erwartet
mich zum Abendessen. Ich habe sie heute fast gar nicht gesehen.«

»Und ich wollte Ihnen gerade eine neue Sonate vorspielen,« sagte ich.

»Ein anderes Mal,« entgegnete er, wie mir schien, etwas kühl.

»Leben Sie wohl.«

Nun hatte ich noch mehr das Gefühl, daß ich ihm weh getan hätte, und er
tat mir leid. Katja und ich begleiteten ihn hinaus und blieben noch auf
dem Hofe, bis er unseren Blicken entschwand. Als die Hufschläge seines
Pferdes verhallt waren, ging ich um das Haus herum auf die Terrasse und
begann wieder in den Garten hinauszuschauen; im taufeuchten Nebel, in
dem alle nächtlichen Töne lebten, sah und hörte ich noch lange alles,
was ich sehen und hören wollte.

Er kam ein zweites und ein drittes Mal, und die Befangenheit, die von
unserem ersten seltsamen Gespräch herrührte, war ganz verschwunden
und kehrte nicht wieder. Im Laufe des ganzen Sommers besuchte er uns
zwei- und dreimal wöchentlich, und ich gewöhnte mich so sehr an ihn,
daß es mir, wenn er längere Zeit ausblieb, unbehaglich wurde, allein
zu leben; ich zürnte ihm und fand, daß er unrecht tat, wenn er mich
so allein ließ. Er behandelte mich wie einen jungen lieben Freund,
fragte mich über alles, forderte meine herzlichste Aufrichtigkeit
heraus, gab mir Ratschläge, lobte mich, machte mir manchmal Vorwürfe
und wies mich manchmal zurecht. -- Aber trotz seiner Bemühungen, immer
auf der gleichen Stufe mit mir zu stehen, fühlte ich, daß hinter dem,
was ich an ihm verstand, noch eine ganze mir fremde Welt blieb, in die
mich einzuführen er nicht für notwendig hielt, und das unterstützte
meine Achtung vor ihm und zog mich zu ihm hin. Ich wußte von Katja
und von den Nachbarn, daß er außer den Sorgen für die alte Mutter,
mit der er zusammenlebte, außer seiner Gutswirtschaft und den mit der
Vormundschaft verbundenen Mühen, auch noch irgendeine Tätigkeit im
Adelsausschuß hatte, die ihm große Unannehmlichkeiten einbrachte; aber
wie er das alles ansah, was für Überzeugungen, Pläne und Hoffnungen er
hatte, konnte ich von ihm niemals erfahren. Wenn ich nur die Rede auf
seine Geschäfte brachte, verzog er eigentümlich das Gesicht, als wollte
er sagen: »Hören Sie bitte auf, das kann Sie doch nicht interessieren,«
und brachte das Gespräch auf ein anderes Thema. Anfangs kränkte mich
das, aber dann gewöhnte ich mich so sehr daran, nur noch von Dingen zu
sprechen, die mich allein angingen, daß ich es vollkommen natürlich
fand.

Was mir anfangs gleichfalls mißfiel, aber mit der Zeit sogar angenehm
wurde, war seine völlige Gleichgültigkeit und beinahe Verachtung gegen
mein Äußeres. Er deutete niemals, weder mit einem Blicke, noch mit
einem Worte an, daß ich hübsch sei; im Gegenteil, er verzog das Gesicht
und lachte, wenn man mich in seiner Gegenwart hübsch nannte. Er liebte
es sogar, äußere Mängel an mir zu finden und mich mit ihnen zu necken.
Die modernen Kleider und Frisuren, mit denen mich Katja an Festtagen
herauszuputzen liebte, reizten ihn nur zu spöttischen Bemerkungen, die
die gute Katja kränkten und anfangs auch mich stutzig machten. Katja,
für die es feststand, daß ich ihm gefalle, konnte unmöglich begreifen,
wie es ein Mann nicht gerne sehen möchte, daß die ihm gefallende Frau
in einem möglichst günstigen Lichte erscheine. Ich aber kam bald
dahinter, was er eigentlich wollte. Er wollte glauben, daß ich nicht
kokett sei. Als ich das eingesehen hatte, blieb in mir keine Spur von
Koketterie in der Kleidung, in der Frisur und in den Bewegungen; an
ihre Stelle trat die allzu naive Koketterie der Einfachheit, während
ich noch gar nicht so einfach sein konnte. Ich wußte, daß er mich
liebte; ob aber wie ein Kind oder wie ein Weib, fragte ich mich noch
nicht; seine Liebe war mir teuer, und da ich fühlte, daß er mich
für das beste Mädchen in der Welt hielt, konnte ich nichts anderes
wünschen, als daß diese Täuschung bestehen bleibe. Und ich täuschte
ihn unwillkürlich. Aber indem ich ihn täuschte, wurde ich selbst
besser. Ich fühlte, daß es besser und würdiger für mich sei, ihm die
schönsten Seiten meiner Seele zu zeigen, als die meines Körpers. Meine
Haare, Hände, Gesichtszüge, Gewohnheiten hatte er, wie mir schien,
gleich auf den ersten Blick, wie sie auch sein mochten, ob gut oder
schlecht, richtig eingeschätzt und kannte sie so gut, daß ich meinem
Äußern nichts mehr hinzufügen konnte, außer der Sucht, ihn zu täuschen.
Meine Seele kannte er aber nicht, weil er sie liebte, weil sie sich
gerade in dieser Zeit entwickelte und wuchs, und darin konnte ich
ihn täuschen, was ich auch tat. Wie leicht fühlte ich mich in seiner
Gegenwart, als ich das begriffen hatte! Alle die grundlosen Hemmungen,
alle Befangenheit war vollständig verschwunden. Ich fühlte, daß er
mich, ganz gleich, ob er mich von vorn oder von der Seite, sitzend oder
stehend, mit hinauf- oder hinuntergekämmtem Haar sah, durch und durch
kannte, und es schien mir, daß er mit mir zufrieden sei, so wie ich
war. Ich glaube, daß, wenn er mir gegen seine Gewohnheit plötzlich wie
einer der anderen gesagt hätte, daß ich ein schönes Gesicht habe, ich
darüber gar nicht froh gewesen wäre. Wie wohl, wie leicht wurde es mir
dagegen ums Herz, wenn er mich nach irgendeinem Wort, das ich gerade
gesagt hatte, aufmerksam ansah und mit bewegter Stimme, der er einen
scherzhaften Ton zu geben versuchte, sagte:

»Ja, ja, in Ihnen steckt etwas. Sie sind ein gutes Mädchen, und ich muß
es Ihnen sagen.«

Wofür empfing ich aber damals diesen Lohn, der mein Herz mit Stolz
und Freude erfüllte? Nur weil ich sagte, daß ich die Liebe des alten
Grigorij zu seiner Enkelin teile, oder weil mich ein Gedicht oder ein
Roman, den ich gelesen, zu Tränen rührte, oder weil ich Mozart dem
Schulhof vorzog. Und ich wunderte mich selbst über den ungewöhnlichen
Spürsinn, mit dem ich immer erriet, was gut sei und was man lieben
müsse, obwohl ich damals noch gar nicht wußte, was gut ist und
was man lieben muß. Die Mehrzahl meiner früheren Gewohnheiten und
Neigungen gefiel ihm nicht, und er brauchte nur mit einer Bewegung
seiner Brauen oder mit einem Blick anzudeuten, daß ihm das, was ich
eben sagen wollte, mißfalle, oder nur die eigentümliche, mitleidige,
fast verächtliche Miene zu machen, damit es mir gleich vorkäme, daß
ich das, was mir erst eben gefiel, nicht mehr liebe. Zuweilen hatte
er erst die Absicht, mir irgendeinen Rat zu geben, aber ich glaubte
schon zu wissen, was er mir sagen wollte. Er fragte mich mit einem
stummen Blick, mir gerade in die Augen sehend, und sein Blick entlockte
mir sofort jeden Gedanken, den er nur wollte. Alle meine damaligen
Gedanken, alle meine damaligen Gefühle waren gar nicht mein; es waren
nur seine Gedanken und Gefühle, die plötzlich mein wurden, in mein
Leben übergingen und es erleuchteten. Ganz unmerklich fing ich an,
alles: Katja, unsere Dienstboten, Ssonja, mich selbst und auch meine
Beschäftigungen mit anderen Augen anzusehen. Die Bücher, die ich früher
zu lesen pflegte, nur um die Langeweile zu vertreiben, waren für mich
plötzlich zu einer der schönsten Lebensfreuden geworden, und das nur
aus dem Grunde, weil wir beide über Bücher sprachen, sie zusammen lasen
und er mir welche brachte. Die Beschäftigung mit Ssonja, die Stunden,
die ich ihr erteilte, waren für mich früher eine schwere Last gewesen,
die ich nur aus Pflichtgefühl auf mich nahm; als er aber einmal einer
Stunde beiwohnte, wurde es mir eine große Freude, die Fortschritte
Ssonjas zu verfolgen. Es erschien mir früher unmöglich, ein ganzes
Musikstück einzuüben; aber jetzt, wo ich wußte, daß er mir zuhören
und mich vielleicht auch loben würde, spielte ich oft vierzigmal
hintereinander die gleiche Stelle, so daß die arme Katja sich Watte
in die Ohren stopfte, während es mich nicht im geringsten langweilte.
Die gleichen alten Sonaten klangen jetzt ganz anders und gerieten mir
auch anders und viel besser. Selbst Katja, die ich so gut wie mich
selbst kannte und liebte, war in meinen Augen wie verändert. Jetzt
erst begriff ich, daß sie gar nicht verpflichtet war, uns eine Mutter,
eine Freundin und eine Sklavin, die sie uns in Wirklichkeit war, zu
sein. Ich begriff die ganze Selbstaufopferung und Hingebung dieses
liebevollen Wesens, begriff alles, was ich ihr schuldete, und liebte
sie noch mehr als früher. Er lehrte mich auch alle unsere Leute -- die
Bauern, das leibeigene Hausgesinde und die Dienstmädchen -- mit ganz
anderen Augen ansehen. Es klingt unglaublich, aber diese Menschen,
unter denen ich bis zu meinem siebzehnten Lebensjahre gelebt hatte,
waren mir viel fremder, als solche, die ich nie gesehen hatte; es war
mir kein einziges Mal in den Sinn gekommen, daß diese Menschen ebenso
liebten, wünschten und litten wie ich. Unser Garten, unsere Wälder,
unsere Felder, die ich so lange schon kannte, waren für mich plötzlich
neu und schön. Nicht umsonst pflegte er zu sagen, daß es im Leben nur
ein einziges, zweifelloses Glück gäbe: für einen andern zu leben.
Mir kam es zuerst seltsam vor, und ich begriff es nicht; aber diese
Überzeugung drang mir, ohne daß ich mir viel überlegte, ins Herz. Er
eröffnete mir eine ganze Welt von Freuden in der Gegenwart, ohne etwas
in meinem Leben zu ändern und meinen Eindrücken etwas hinzuzufügen
außer sich selbst. Alles, was mich von meiner Kindheit an stumm umgab,
war plötzlich lebendig geworden. Er brauchte nur zu mir zu kommen, und
alles fing sofort zu sprechen an und bestürmte meine Seele, sie mit
Glück erfüllend.

Oft ging ich in jenem Sommer in mein Zimmer hinauf, legte mich
aufs Bett und, statt der Frühlingssehnsucht mit ihren Wünschen und
Hoffnungen auf die Zukunft, umfing mich die Unruhe eines gegenwärtigen
Glücks. Ich konnte nicht einschlafen, ich stand auf, setzte mich zu
Katja aufs Bett und sagte ihr, daß ich vollkommen zufrieden sei, was
ich, wie ich jetzt weiß, ihr gar nicht zu sagen brauchte: sie konnte es
mir ansehen. Aber sie sagte mir, daß auch sie sich nichts mehr wünsche,
daß auch sie glücklich sei, und sie küßte mich. Ich glaubte es ihr, es
erschien mir so notwendig und gerecht, daß alle glücklich seien. Katja
wollte schlafen; sie stellte sich böse, jagte mich von ihrem Bette
fort und schlief ein; ich aber nahm noch lange alles durch, was mich so
glücklich machte. Manchmal stand ich auf und betete, betete mit eigenen
Worten, um Gott für all das Glück zu danken, das Er mir gab.

Im Zimmer war es still; Katja atmete regelmäßig im Schlafe, neben
ihr tickte die Uhr, ich aber wälzte mich hin und her und flüsterte
irgendwelche Worte oder bekreuzigte mich und küßte das Kreuz, das ich
am Halse trug. Die Türe war geschlossen, die Fensterläden waren zu, und
irgendeine Fliege oder Mücke summte immer an der gleichen Stelle. Und
mir war es, als wollte ich dieses Zimmer niemals verlassen, als wollte
ich nicht, daß der Morgen komme, daß die mich umgebende seelische
Atmosphäre sich verflüchtige. Mir schien, daß meine Gedanken, Gebete
und Empfindungen lebende Wesen seien, die hier im Dunkeln neben mir
wohnten, mein Bett umschwebten und über mir stünden. Und jeder Gedanke
war sein Gedanke, und jedes Gefühl -- sein Gefühl. Ich wußte damals
noch nicht, daß es die Liebe ist, ich glaubte, daß es immer so sein
könne, daß dieses Gefühl uns ganz einfach und ohne Grund gegeben werde.


III

Während der Getreideernte gingen wir, Katja, Ssonja und ich eines
Nachmittags in den Garten zu unserer Lieblingsbank im Schatten der
Linden über der Schlucht mit der Aussicht auf die Wälder und Felder.
Ssergej Michailytsch hatte uns schon seit drei Tagen nicht besucht,
und wir erwarteten ihn an diesem Tage, um so mehr als unser Verwalter
gesagt hatte, er hätte versprochen, aufs Feld herauszukommen. Gegen
zwei Uhr sahen wir ihn, wie er aufs Kornfeld geritten kam. Katja ließ
Pfirsiche und Kirschen bringen, die er gerne aß, blickte mich lächelnd
an, legte sich auf die Bank und schlummerte ein. Ich brach mir einen
krummen und flachen Lindenzweig mit saftigen Blättern und saftigem
Bast, der mir die Hand befeuchtete, fächelte damit Katja und fuhr
in meiner Lektüre fort, blickte aber immer vom Buche auf und spähte
nach dem Feldweg hin, auf dem er kommen mußte. Ssonja baute an den
Wurzeln der alten Linde eine Laube für ihre Puppen. Der Tag war heiß
und windstill, es war schwül, die Wolken ballten sich zusammen und
wurden immer schwärzer, ein Gewitter war schon seit dem frühen Morgen
im Anzug. Ich war erregt wie immer vor einem Gewitter. Aber nach der
Mittagsstunde hatten die Wolken angefangen, sich zu zerstreuen, und die
Sonne war in einen wolkenlosen Teil des Himmels getreten; nur an einem
Ende des Himmels grollte es noch, und die schwere Wolke, die tief über
dem Horizonte stand und mit dem Staube der Felder zusammenfloß, wurde
ab und zu bis zur Erde vom bleichen Zickzack des Blitzes zerrissen. Es
war klar, daß das Gewitter an diesem Tage nicht zur Entladung kommen
würde, wenigstens bei uns nicht. Auf dem hier und da hinter dem Garten
sichtbaren Wege zogen sich ununterbrochen Fuhrwerke hin: bald die
langsamen, knarrenden, hoch mit Garben beladenen Wagen, bald die ihnen
schnell entgegenfahrenden leeren; die Beine der auf ihnen stehenden
Bauern zitterten, und ihre Hemden flatterten. Die dichten Staubwolken
stiegen weder in die Höhe, noch sanken sie auf die Erde nieder, sondern
blieben hinter der Hecke zwischen dem durchsichtigen Laube der Bäume
des Gartens hängen. Etwas weiter, auf der Tenne, ließen sich die
gleichen Stimmen und das gleiche Knarren der Räder vernehmen, und
dieselben gelben Garben, die langsam längs des Zaunes vorübergefahren
waren, flogen dort durch die Luft und häuften sich vor meinen Augen zu
ovalen oben spitz zulaufenden Zelten, auf denen die Bauern sich wie die
Ameisen regten. Vorne, auf dem staubigen Felde bewegten sich ebenfalls
Wagen, waren ebenfalls gelbe Garben zu sehen, und das gleiche Knarren
der Wagen, Schreien und Singen hallten von fern. An einem Ende wurde
das Feld immer nackter und nackter, und die Streifen der mit Beifuß
bewachsenen Raine traten darauf hervor. Unten rechts hoben sich vom
abgemähten Felde, auf dem das Korn noch unordentlich herumlag, die
bunten Kleider der Frauen ab, die die Garben banden, sich bückten und
mit den Armen fuchtelten, und das unordentliche Feld säuberte sich
allmählich, und die Garben erschienen in hübschen, engen Reihen. Es
war, als verwandelte sich vor meinen Augen der Sommer in den Herbst.
Überall herrschten Staub und Glut; nur unser Lieblingsplätzchen im
Garten blieb davon verschont. An allen Seiten redete, lärmte und
bewegte sich in diesem Staube, unter dieser sengenden Sonne das
Arbeitervolk.

Katja schlief aber so süß mit dem Batisttaschentuch auf dem Gesicht auf
unserer kühlen Bank, die schwarzen Kirschen glänzten so saftig auf dem
Teller, unsere Kleider waren so frisch und rein, das Wasser im Kruge
spielte und schillerte so hell in der Sonne, und es war mir so wohl ums
Herz. -- Was soll ich machen? -- dachte ich. -- Ist es meine Schuld,
daß ich glücklich bin? Aber wie kann ich dieses Glück den anderen
mitteilen? Wie und wem soll ich mich und mein ganzes Glück hingeben? --

Die Sonne sank hinter die Wipfel der Birkenallee; der Staub auf den
Feldern legte sich; die Ferne wurde beim schräg fallenden Lichte immer
deutlicher und klarer; die Wolken hatten sich vollständig verzogen;
auf der Tenne ragten drei neue Getreideschober über die Bäume hinauf,
und die Bauern waren von ihnen herabgestiegen; die Wagen fuhren, wohl
zum letztenmal, unter lautem Geschrei der Arbeiter vorbei; die Weiber
gingen mit den Rechen auf den Schultern und den Garbenbändern im Gürtel
laut singend nach Hause, aber Ssergej Michailytsch wollte noch immer
nicht kommen, obwohl ich schon längst gesehen hatte, wie er von der
Anhöhe hinuntergeritten war. Plötzlich tauchte in der Allee, an der
Seite, wo ich ihn gar nicht erwartete, seine Gestalt auf (er war um die
Schlucht herumgegangen). Mit freudigem, strahlendem Gesicht, den Hut
in der Hand, näherte er sich mir mit schnellen Schritten. Als er sah,
daß Katja schlief, biß er sich in die Lippen, kniff die Augen zusammen
und kam auf den Fußspitzen näher; ich merkte sofort, daß er sich in der
eigentümlichen Stimmung einer grundlosen Freude befand, die ich an ihm
so furchtbar liebte und die wir »wildes Entzücken« nannten. Er war wie
ein Schuljunge, der aus der Schule entlaufen ist; sein ganzes Wesen,
vom Gesicht bis zu den Füßen atmete Zufriedenheit, Glück und kindliche
Ausgelassenheit.

»Nun, guten Tag, junges Veilchen, wie geht es Ihnen? Gut?« flüsterte
er, auf mich zugehend und mir die Hand drückend. »Mir geht es
ausgezeichnet,« antwortete er auf meine Frage nach seinem Befinden,
»ich bin heute dreizehn Jahre alt und habe Lust, Pferdchen zu spielen
und auf die Bäume zu klettern.«

»In wildem Entzücken?« fragte ich, ihm in die lachenden Augen blickend
und fühlend, daß dieses »wilde Entzücken« sich auch mir mitgeteilt
hatte.

»Ja,« antwortete er, mir mit einem Auge zublinzelnd und ein Lächeln
unterdrückend. »Warum schlagen Sie aber Katerina Karlowna auf die Nase?«

Ich hatte gar nicht bemerkt, daß ich, ihn immerfort ansehend, mit dem
Zweige das Taschentuch von Katja heruntergeworfen hatte und ihr mit den
Blättern über das Gesicht fuhr. Ich mußte lachen.

»Sie wird aber behaupten, sie hätte gar nicht geschlafen,« sagte ich
im Flüstertone, als fürchtete ich Katja zu wecken; aber ich tat es gar
nicht aus diesem Grunde: es war mir einfach angenehm, mit ihm so zu
sprechen.

Er bewegte, mir nachäffend, die Lippen, als hätte ich so leise
gesprochen, daß er nichts hören konnte. Als er den Teller mit den
Kirschen sah, ergriff er ihn mit einer Miene, als täte er es heimlich,
ging zu Ssonja unter die Linde und setzte sich auf ihre Puppen. Ssonja
wurde anfangs böse, aber er besänftigte sie bald damit, daß er ein
Spiel ersann, bei dem sie beide die Kirschen um die Wette essen mußten.

»Soll ich noch mehr holen lassen?« fragte ich. »Oder wollen Sie selbst
welche holen?«

Er nahm den Teller, setzte die Puppen darauf, und wir begaben uns zu
dritt zum Gewächshause. Ssonja lief uns lachend nach und zupfte ihn am
Mantel, damit er ihr ihre Puppen zurückgebe. Er gab sie ihr wieder und
wandte sich mit ernster Miene zu mir.

»Und Sie wollen kein Veilchen sein?« sagte er mir, immer noch leise,
obwohl niemand in der Nähe war, den er hätte wecken können. »Als ich
nach all dem Staub, der Hitze und Arbeit auf Sie zuging, da duftete
es gleich nach Veilchen. Und zwar nicht nach den starkriechenden
Gartenveilchen, sondern nach den anderen, ersten, dunklen, die nach
tauendem Schnee und Frühlingsgrase riechen.«

»Ist in der Wirtschaft alles in Ordnung?« fragte ich ihn, um die
freudige Verwirrung zu verbergen, die seine Worte in mir weckten.

»Ausgezeichnet! Diese Leute sind überall ausgezeichnet. Je mehr man sie
kennt, um so mehr liebt man sie.«

»Ja,« sagte ich, »ehe Sie kamen, sah ich heute vom Garten aus den
Arbeitern zu, und ich mußte mich plötzlich schämen, daß sie sich
abmühen, während es mir so wohl ist, daß ...«

»Kokettieren Sie nicht damit, liebes Kind,« unterbrach er mich, indem
er mir plötzlich ernst, doch liebevoll in die Augen blickte. »Das ist
eine heilige Sache. Behüte Sie Gott davor, damit zu kokettieren.«

»Aber ich sage es doch nur _Ihnen_.«

»Nun ja, ich weiß es. Wo sind aber die Kirschen?«

Das Gewächshaus war zugesperrt, und von den Gärtnern sah man niemand
(er hatte sie alle aufs Feld hinausgeschickt). Ssonja lief fort, den
Schlüssel zu holen; er wartete aber ihre Rückkehr nicht ab, stieg auf
den Eckpfosten, hob das Drahtnetz ab und sprang hinüber.

»Wollen Sie Kirschen?« hörte ich seine Stimme von drüben. »Geben Sie
mir den Teller.«

»Nein, ich will auch selbst pflücken, ich will den Schlüssel holen,«
sagte ich. »Ssonja wird ihn nicht finden ...«

Zugleich empfand ich den Wunsch, zu sehen, was er dort wohl tue und
wie er sich bewege, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Eigentlich
wollte ich ihn einfach für keinen Augenblick aus den Augen lassen.
Ich lief auf den Zehen durch die Brennesseln an die andere Seite des
Gewächshauses, wo die Umzäunung niedriger war, stieg auf ein leeres
Faß, so daß die Mauer mir bis an die Brust reichte, und lehnte mich
hinüber. Ich warf einen Blick in das Innere des Gewächshauses mit den
alten, krummen Bäumen und den breiten, zackigen Blättern, unter denen
die schwarzen, saftigen Kirschen schwer und senkrecht niederhingen;
ich steckte den Kopf unter das Netz und erblickte unter dem Aste
eines alten Kirschbaumes Ssergej Michailytsch. Er glaubte wohl, ich
sei fortgegangen und niemand beobachte ihn. Er saß ohne Hut, die
Augen geschlossen, auf dem morschen Stamme eines alten Kirschbaumes
und rollte mit den Fingern ein Stück Kirschharz zu einem Kügelchen
zusammen. Plötzlich zuckte er die Achseln, schlug die Augen auf, sagte
etwas und lächelte. Dieses Wort und dieses Lächeln nahmen sich bei ihm
so ungewohnt aus, daß ich mich schämte, ihn belauscht zu haben. Es
schien mir, als wäre dieses Wort -- »Mascha!« gewesen. -- Es kann nicht
sein, -- dachte ich mir. »Liebe Mascha!« wiederholte er noch leiser
und noch zärtlicher. Diese beiden Worte hörte ich aber schon ganz
deutlich. Mein Herz schlug so heftig, eine so aufregende, gleichsam
verbotene Freude hatte mich plötzlich ergriffen, daß ich mich an die
Mauer klammerte, um nicht umzufallen und mich nicht zu verraten. Er
hörte meine Bewegung, sah sich erschrocken um, schlug plötzlich die
Augen nieder und errötete wie ein Kind. Er wollte mir etwas sagen,
konnte es aber nicht, und immer neue Blutwellen röteten sein Gesicht.
Aber er lächelte, als er mich ansah. Auch ich lächelte. Sein ganzes
Gesicht erstrahlte vor Freude. Er war nicht mehr der alte Onkel, der
mich liebkoste und belehrte, er war ein Mann, der mir gleichstand, der
mich liebte und fürchtete und den auch ich fürchtete und liebte. Wir
sagten nichts und sahen bloß einander an. Plötzlich runzelte er aber
die Stirn, das Lächeln und der Glanz seiner Augen waren verschwunden,
und er wandte sich wieder kühl und väterlich an mich, als hätten wir
etwas Schlimmes getan, als wäre er zur Besinnung gekommen und rate auch
mir, zur Besinnung zu kommen.

»Steigen Sie herab, Sie können sich weh tun,« sagte er mir. »Bringen
Sie Ihr Haar in Ordnung, wie sehen Sie aus!«

-- Warum verstellt er sich so? Warum will er mir weh tun! -- fragte
ich mich ärgerlich. Im gleichen Augenblick kam mir das unwiderstehliche
Verlangen, ihn noch einmal in Verlegenheit zu bringen und meine Gewalt
über ihn zu erproben.

»Nein, ich will selbst pflücken!« sagte ich. Ich ergriff mit den Händen
den nächsten Ast und sprang mit den Füßen auf die Mauer. Er hatte
nicht Zeit, mich zu stützen, denn ich sprang mit einem Satz in das
Gewächshaus hinunter.

»Was machen Sie für Dummheiten!« sagte er, wieder errötend und seine
Verwirrung hinter der ärgerlichen Miene verbergend. »Sie haben sich
doch weh tun können. Wie wollen Sie von hier heraus?«

Er war in noch größerer Verwirrung als früher, aber dies freute mich
nicht mehr, sondern machte mir Angst. Diese Angst konnte ich nicht
verbergen, ich errötete, wich seinen Blicken aus und fing an, da ich
nicht wußte, was zu sagen, die Kirschen zu pflücken, die ich aber
nirgends hintun konnte. Ich machte mir Vorwürfe, ich bereute alles, ich
fürchtete, und es war mir, als hätte ich mich durch diesen Streich für
immer in seinen Augen blamiert. Ssonja, die mit dem Schlüssel gelaufen
kam, befreite uns aus dieser peinlichen Situation. Lange Zeit sprachen
wir nicht mehr miteinander und wandten uns nur an Ssonja. Als wir zu
Katja zurückkehrten, welche beteuerte, sie habe gar nicht geschlafen
und alles gehört, wurde ich wieder ruhig, während er versuchte, wieder
den herablassenden väterlichen Ton anzuschlagen; aber dieser Ton wollte
ihm nicht mehr gelingen, und er vermochte mich mit ihm nicht mehr zu
täuschen. Ich erinnerte mich lebhaft des Gesprächs, das wir vor einigen
Tagen geführt hatten.

Katja hatte gesagt, daß der Mann es leichter habe, zu lieben und seine
Liebe zu äußern als die Frau.

»Der Mann kann sagen, daß er liebt, die Frau kann es aber nicht,« hatte
sie gesagt.

»Mir scheint aber, auch der Mann kann und darf gar nicht sagen, daß er
liebt,« hatte er eingewandt.

»Warum?« hatte ich gefragt.

»Weil es immer eine Lüge sein wird. Was ist das für eine neue
Offenbarung, daß der Mensch liebt? Als ob in dem Augenblick, wo
er das sagt, etwas einschnappte: fertig, er liebt! Als müßte
in dem Augenblick, wo er dieses Wort ausspricht, irgend etwas
Außergewöhnliches geschehen, irgendein Zeichen am Himmel erscheinen,
als müßte ein Salut aus allen Kanonen erschallen. Mir scheint,« hatte
er weiter gesagt, »daß die Menschen, welche feierlich die Worte: ›Ich
liebe Sie‹ sprechen, entweder sich selbst oder, was noch schlimmer ist,
die andern betrügen.«

»Wie soll dann die Frau erfahren, daß man sie liebt, wenn man es ihr
nicht sagt?« hatte Katja gefragt.

»Das weiß ich nicht,« hatte er geantwortet. »Jeder Mensch hat seine
eigene Ausdrucksweise. Wo aber ein Gefühl ist, da kommt es auch von
selbst zum Ausdruck. Wenn ich einen Roman lese, so muß ich immer
denken, was für ein verdutztes Gesicht die Leutnants Strelskij oder
Alfred machen, wenn sie die Worte sprechen: ›Ich liebe dich, Eleonore!‹
und erwarten, daß plötzlich etwas Außergewöhnliches geschieht; es
geschieht aber weder an ihr noch an ihm etwas, die Augen, die Nase usw.
bleiben dieselben.«

Aus diesen scherzhaften Worten hatte ich schon damals etwas Ernstes
herausgehört, was sich auf mich bezog; aber Katja wollte nicht dulden,
daß er die Helden ihrer Romane so leichtfertig behandele.

»Ewig diese Paradoxen!« hatte sie gesagt. »Sagen Sie aufrichtig: haben
Sie denn nie einer Frau gestanden, daß Sie sie lieben?«

»Das habe ich niemals gesagt und habe auch nie ein Knie vor einer Frau
gebeugt,« hatte er lachend geantwortet, »und ich werde es auch niemals
tun.«

-- Er braucht mir wirklich nicht zu sagen, daß er mich liebt, -- dachte
ich nun, mich lebhaft an dieses Gespräch erinnernd. -- Er liebt mich,
ich weiß es. Und wenn er sich noch solche Mühe gibt, gleichgültig zu
erscheinen, wird er mir diese Gewißheit doch nicht nehmen. --

An diesem ganzen Abend sprach er sehr wenig mit mir, aber ich las
in jedem seiner Worte, die er an Katja oder Ssonja richtete, in
jeder seiner Bewegungen, in jedem seiner Blicke seine Liebe, und ich
zweifelte nicht mehr an ihr. Es verdroß und dauerte mich nur, daß er es
für nötig hielt, sein Gefühl zu verheimlichen und sich kalt zu stellen,
wo alles schon so klar war und wo man auf eine so leichte und einfache
Weise so unglaublich glücklich werden konnte. Aber mich bedrückte
es immer wie ein Verbrechen, daß ich zu ihm in das Gewächshaus
hineingesprungen war. Mir schien immer, als würde er nun aufhören, mich
zu achten und als sei er mir böse.

Nach dem Tee trat ich ans Klavier, und er folgte mir.

»Spielen Sie mir doch etwas, ich habe Sie schon lange nicht spielen
hören,« sagte er, als er mich im Wohnzimmer einholte.

»Ich wollte auch selbst ... Ssergej Michailytsch!« sagte ich, ihm
plötzlich gerade in die Augen blickend. »Sie sind mir doch nicht böse?«

»Weshalb denn?« fragte er.

»Weil ich heute nachmittag auf Sie nicht gehört habe,« antwortete ich
errötend.

Er verstand, was ich meinte, schüttelte den Kopf und lächelte. Sein
Blick sagte mir, daß er mich schelten müßte, aber keine Kraft dazu
hätte.

»Es ist nichts passiert, wir sind wieder gute Freunde,« sagte ich,
indem ich mich ans Klavier setzte.

»Und ob!« antwortete er.

Im großen, hohen Salon brannten nur die beiden Kerzen auf dem Klavier,
der übrige Raum war halbfinster. Durch die offenen Fenster blickte
die helle Sommernacht herein. Alles war still, wir hörten nur hin und
wieder, wie Katja im dunklen Wohnzimmer auf und ab ging und wie sein
unter einem der Fenster angebundenes Pferd schnaubte und mit den Hufen
auf die Pestwurzstauden stampfte. Er saß hinter mir, so daß ich ihn
nicht sehen konnte; aber ich fühlte überall -- im Halbdunkel dieses
Zimmers, in den Tönen, in mir selbst -- seine Gegenwart. Ich spürte
in meinem Herzen jeden seiner Blicke, jede seiner Bewegungen, die ich
nicht sehen konnte. Ich spielte die Fantasie-Sonate von Mozart, die
er mir gebracht und die ich in seinem Beisein und für ihn einstudiert
hatte. Ich dachte gar nicht daran, was ich spielte, aber ich glaube,
daß ich gut spielte, und es schien mir, daß es ihm gefiel. Ich
hatte den gleichen Genuß, den er empfand und fühlte auch, ohne ihn
anzusehen, seinen Blick, der auf meinem Rücken ruhte. Ich sah mich
ganz unwillkürlich nach ihm um, während meine Finger bewußtlos über
die Tasten liefen. Sein Kopf hob sich vom leuchtenden Hintergrunde des
nächtlichen Himmels ab. Er saß, den Kopf in die Hände gestützt, und
sah mich unverwandt mit glänzenden Augen an. Ich lächelte, als ich den
Blick bemerkte, und hörte zu spielen auf. Auch er lächelte und wies
vorwurfsvoll mit dem Kopf auf die Noten, damit ich weiter spiele. Als
ich fertig war, leuchtete der Mond, der nun hoch am Himmel stand, ins
Zimmer herein, und außer dem schwachen Scheine der Kerzen, war der Raum
auch noch von einem anderen silbernen Lichte erfüllt, das durch die
Fenster eindrang und sich auf den Boden legte. Katja sagte, es sei ganz
unerhört, daß ich gerade an der schönsten Stelle aufgehört, und daß
ich schlecht gespielt hätte; er aber meinte, ich hätte noch nie so gut
gespielt wie heute; und er fing an, auf und ab zu gehen, -- durch den
Saal ins dunkle Wohnzimmer und dann wieder durch den Saal, und sooft
er an mir vorüberging, lächelte er mir zu. Auch ich lächelte und hatte
sogar Lust, ohne jeden Grund zu lachen: so froh war ich über etwas,
was sich heute, soeben ereignet hatte. Sooft er in der Tür verschwand,
umarmte ich Katja, mit der ich am Klavier stand und küßte sie auf meine
Lieblingsstelle -- den vollen Hals unter dem Kinn; sobald er aber
wiederkam, machte ich ein ernstes Gesicht und hielt mit Mühe das Lachen
zurück.

»Was ist mit ihr heute auf einmal los?« fragte ihn Katja.

Er antwortete aber nicht und sah mich nur lächelnd an: er wußte, was
mit mir los war.

»Sehen Sie nur, welch eine Nacht!« rief er aus dem Wohnzimmer, vor der
offenen, auf den Garten hinausgehenden Balkontüre stehen bleibend.

Wir gingen zu ihm; es war in der Tat eine Nacht, wie ich sie später nie
wieder gesehen habe. Der Vollmond stand hinter uns über dem Hause, so
daß wir ihn nicht sehen konnten, und der halbe Schatten des Daches, der
Säulen und der Markise lag schräg und verkürzt auf dem sandbestreuten
Gartenwege und auf dem runden Rasenplatze. Alles übrige war hell und
von Tau und Mondlicht versilbert. Der breite, mit Blumen eingefaßte
Weg, auf den von der einen Seite die schrägen Schatten der Georginen
und ihrer Stäbe fielen, zog sich, ganz hell und kalt, durch den Nebel
in die Ferne hin, und der Schotter, mit dem er bestreut war, glänzte.
Hinter den Bäumen leuchtete das Dach des Gewächshauses hervor, und
aus der Schlucht stieg Nebel auf. Die schon ein wenig entblößten
Fliedersträuche waren bis zu den Ästen durchleuchtet. Alle vom Tau
befeuchteten Blumen waren deutlich voneinander zu unterscheiden. In den
Alleen hatten sich Licht und Schatten so innig miteinander vermischt,
daß die Alleen nicht mehr als von Bäumen eingefaßte Wege, sondern als
durchsichtige, schwankende und zitternde Gebäude erschienen. Rechts, im
Schatten des Hauses war alles schwarz, unbestimmt und unheimlich. Dafür
ragte aus diesem Dunkel noch heller der phantastische Wipfel der Pappel
hervor, die so seltsam in der Nähe des Hauses, oben im hellen Lichte
unbeweglich zu schweben schien, statt in den fernen bläulichen Himmel
emporzufliegen.

»Wollen wir etwas gehen,« sagte ich.

Katja war einverstanden, meinte aber, daß ich meine Galoschen anziehen
müßte.

»Es ist nicht nötig, Katja,« sagte ich, »Ssergej Michailytsch wird mir
ja den Arm geben.«

Als ob mich das hinderte, nasse Füße zu bekommen! Aber damals kam es
uns allen dreien ganz natürlich und gar nicht sonderbar vor. Er hatte
mir noch niemals den Arm gegeben, doch diesmal nahm ich ihn selbst, und
er fand auch das gar nicht sonderbar. Zu dritt gingen wir die Terrasse
hinab. Diese ganze Welt, dieser Himmel, dieser Garten, diese Luft waren
nicht mehr dieselben, die ich kannte.

Als ich die Allee, über die wir gingen, hinuntersah, war es mir, als
sei es unmöglich, noch weiter zu gehen, als habe die Welt des Möglichen
dort ihr Ende, als müsse dies alles für immer in seiner Schönheit
erstarren. Aber wir gingen weiter, und die Zauberwand der Schönheit
öffnete sich vor uns und ließ uns ein, und auch dort schien unser
alter Garten mit seinen Bäumen, Wegen und trockenem Laub zu liegen. Es
war, als ob wir über die Wege gingen, mit den Füßen auf die Licht- und
Schattenseite träten, als raschelte das welke Laub unter meinem Fuße
und als streifte ein frischer Zweig mein Gesicht. Es war, als ob er es
wäre, der gleichmäßig und langsam neben mir gehend, behutsam meinen Arm
hielt; als ob es wirklich Katja wäre, unter deren Schritten neben uns
der Sand knirschte. Es war wohl auch wirklich der Mond am Himmel, der
auf uns durch die regungslosen Zweige herabschien ...

Aber mit jedem Schritt schloß sich die Zauberwand wieder vor uns und
hinter uns, und ich hörte zu glauben auf, daß es möglich sei, noch
weiter zu gehen, und ich glaubte nicht mehr an das, was war.

»Ach! Ein Frosch!« rief Katja.

-- Wer sagt das und warum sagt er das? -- dachte ich mir. Aber später
begriff ich, daß es Katja sei, daß sie sich vor den Fröschen fürchtete,
und ich blickte vor meine Füße. Ein kleiner Frosch hüpfte und blieb
dann unbeweglich vor mir sitzen, und sein kleiner Schatten zeichnete
sich auf dem hellen, lehmigen Wege ab.

»Und Sie fürchten sich gar nicht?« fragte er.

Ich sah ihn an. Dort, wo wir eben gingen, fehlte in der Allee eine
Linde, und ich konnte sein Gesicht deutlich sehen. Es war so schön und
so glücklich ...

Er hatte gesagt: »Sie fürchten sich gar nicht?« aber ich hörte ihn
sagen: -- Ich liebe dich, mein liebes Mädchen! -- Ich liebe, ich liebe
dich! -- sagten sein Blick und sein Arm; auch Licht und Schatten und
die Luft sagten dasselbe.

Wir umwanderten den ganzen Garten. Katja ging neben uns mit ihren
kleinen Schritten und atmete schwer vor Müdigkeit. Sie sagte, daß es
Zeit sei, umzukehren, und die Ärmste tat mir so furchtbar leid. --
Warum fühlt sie nicht dasselbe wie wir? fragte ich mich. -- Warum sind
nicht alle so jung und so glücklich wie diese Nacht, wie wir beide?

Wir kehrten ins Haus zurück, aber er blieb noch lange bei uns, obwohl
die Hähne schon gekräht hatten, obwohl alle im Hause schliefen und
sein Pferd vor dem Fenster immer ungeduldiger schnaubte und mit den
Hufen auf die Pestwurzstauden stampfte. Katja sagte uns nicht, daß es
schon spät sei, und so blieben wir, von den gleichgültigsten Dingen
sprechend, ohne es selbst zu merken bis zur dritten Morgenstunde auf.
Die Hähne krähten schon zum drittenmal, und der Morgen dämmerte,
als er uns verließ. Er verabschiedete sich ganz wie sonst und sagte
nichts Außergewöhnliches; aber ich wußte, daß er von diesem Tage an
mir gehörte, und daß ich ihn nie wieder verlieren würde. Sobald ich
mir eingestanden hatte, daß ich ihn liebe, erzählte ich alles Katja.
Sie war sehr erfreut und gerührt, weil ich es ihr erzählte, aber die
Ärmste konnte diese ganze Nacht nicht einschlafen. Ich ging noch lange
auf der Terrasse auf und ab, stieg in den Garten hinunter, wandelte
durch die gleichen Alleen, durch die wir früher gewandelt, und suchte
mich jedes seiner Worte, jeder seiner Bewegungen zu entsinnen. Ich
schlief diese ganze Nacht nicht und sah zum erstenmal in meinem Leben
den Sonnenaufgang und den frühen Morgen. Eine solche Nacht und einen
solchen Morgen habe ich später nie wieder erlebt. -- Aber warum sagt
er mir nicht ganz einfach, daß er mich liebt? -- dachte ich. -- Warum
erfindet er allerlei Schwierigkeiten, warum nennt er sich einen alten
Mann, während alles doch so einfach und so herrlich ist? Warum verliert
er die goldene Zeit, die vielleicht niemals wiederkehrt? Mag er doch
nur einmal sagen: »ich liebe dich!«, mag er es mir nur einmal mit
Worten sagen, mag er meine Hand in die seine nehmen, seinen Kopf über
sie beugen und sagen: »ich liebe dich«. Mag er erröten und die Augen
vor mir niederschlagen, und dann will ich ihm auch alles sagen. Ich
werde es ihm nicht einmal sagen, ich werde ihn umarmen, mich an ihn
schmiegen und zu weinen anfangen. -- Aber wenn ich mich täusche, wenn
er mich gar nicht liebt? -- ging es mir plötzlich durch den Kopf.

Ich erschrak vor meinem Gefühl, -- Gott weiß, wohin es mich hätte
führen können; ich erinnerte mich seiner und meiner Verwirrung im
Gewächshaus, als ich plötzlich zu ihm hinuntersprang, und es wurde
mir so schwer, so schwer ums Herz. Tränen stürzten mir aus den Augen,
und ich begann zu beten. Und mir kam ein seltsamer Gedanke, der mich
beruhigte, und eine neue Hoffnung erfüllte mich. Ich entschloß mich,
gleich vom nächsten Morgen an zu fasten, an meinem Geburtstage zu
beichten und zu kommunizieren und am gleichen Tage seine Braut zu
werden.

Wie und warum es so kommen mußte, wußte ich gar nicht, aber von diesem
Augenblicke an glaubte ich fest, daß es so kommen würde. Es war schon
ganz hell geworden, und die Leute standen auf, als ich in mein Zimmer
zurückkehrte.


IV

Es waren die Fasten vor Mariä Himmelfahrt, und niemand im Hause
wunderte sich darum über meinen Entschluß, mich zur Beichte
vorzubereiten.

Diese ganze Woche war er kein einzigesmal bei uns gewesen, und mir fiel
es nicht nur nicht ein, mich darüber zu wundern, mich zu beunruhigen
und ihm deswegen zu zürnen, sondern ich war sogar froh, daß er nicht
kam und erwartete ihn erst an meinem Geburtstage. Im Laufe dieser
ganzen Woche stand ich jeden Morgen sehr früh auf. Während man den
Wagen für mich anspannte, ging ich allein im Garten auf und ab, nahm
alle meine Sünden des vorhergehenden Tages durch und überlegte mir, was
ich heute machen sollte, um mit diesem Tage zufrieden zu sein und kein
einziges Mal zu straucheln. Damals kam es mir so leicht vor, ganz rein
von Sünden zu sein. Ich dachte mir, es genüge, daß ich mich ein wenig
zusammennehme. Die Pferde fuhren vor, ich stieg mit Katja oder einem
der Dienstmädchen in die Liniendroschke, und wir begaben uns nach der
drei Werst entfernten Kirche. Beim Betreten der Kirche erinnerte ich
mich jedesmal, daß man für alle »mit Gottesfurcht Eintretenden« betet,
und bemühte mich, mit diesem Gefühl über die beiden grasbewachsenen
Stufen des Kirchenportals zu treten. In der Kirche waren um diese
Stunde nie mehr als an die zehn Bauern und Bäuerinnen, die sich
ebenfalls zur Beichte vorbereiteten; ich erwiderte mit besonderer
Demut ihre Verbeugungen, ging selbst, was mir als ein gottgefälliges
Werk erschien, zu der Kerzenlade, ließ mir vom Kirchenältesten, einem
alten Soldaten, eine Kerze geben und stellte sie dann selbst vor
die Heiligenbilder. Durch die »Zarenpforte« sah ich die von meiner
Mama gestickte Altardecke: über der Heiligenwand waren zwei Engel
mit Sternen angebracht, die mir, als ich noch klein war, so groß
erschienen, und eine Taube mit gelbem Heiligenschein, die mich damals
gleichfalls gefesselt hatte. Hinter dem Chore stand das zerbeulte
Taufbecken, über dem ich schon so oft die Kinder unserer Leibeigenen
als Taufpatin gehalten hatte und in dem ich einst selbst getauft worden
war. Der alte Priester trat vor den Altar in einem Ornat, das aus dem
Bahrtuch meines verstorbenen Vaters angefertigt worden war, und sprach
die Gebete mit der gleichen Stimme, mit der er immer, soweit ich mich
erinnern konnte, in unserem Hause die Gottesdienste abgehalten, Ssonja
getauft, die Seelenmesse für meinen Vater gelesen und die Leiche meiner
Mutter eingesegnet hatte. Die gleiche zitternde Stimme des Küsters
klang im Chor, und die gleiche alte Frau, die ich in dieser Kirche
von jeher und bei jedem Gottesdienste gesehen hatte, stand gebückt an
der Wand, blickte mit weinenden Augen auf das Heiligenbild im Chor,
drückte die zum Zeichen des Kreuzes zusammengelegten Finger an ihr
verschossenes Kopftuch und flüsterte etwas mit zahnlosem Munde. Dies
alles weckte jetzt in mir nicht mehr Neugierde, auch nicht bloß liebe
Erinnerungen, sondern war groß und heilig und schien mir von einer
tiefen Bedeutung erfüllt. Ich glaubte jedem Worte des Gebets, das der
Priester las, bemühte mich, auf jedes Wort mit innerem Gefühl Antwort
zu geben, und wenn ich etwas nicht verstand, so bat ich in Gedanken
Gott, mich zu erleuchten, oder erfand an Stelle des Gebetes, dem ich
nicht folgen konnte, mein eigenes. Wenn die Bußgebete gelesen wurden,
erinnerte ich mich meiner ganzen Vergangenheit, und diese kindliche und
unschuldige Vergangenheit erschien mir im Vergleich mit dem jetzigen
lichten Zustande meiner Seele so schwarz, daß ich weinte und mich
über mich selbst entsetzte; zugleich fühlte ich aber, daß mir dies
alles vergeben würde, und daß, wenn ich sogar noch mehr Sünden hätte,
die Reue für mich um so süßer wäre. Wenn der Priester am Ende des
Gottesdienstes die Worte sprach: »Gottes Segen über Euch«, glaubte ich
im gleichen Augenblick von einem körperlichen Wohlgefühl durchströmt zu
werden: es war, als ob mir plötzlich Licht und Wärme ins Herz drängen.
Nach dem Gottesdienste kam der Priester zu mir heraus und fragte, ob
und wann er zu uns ins Haus kommen solle, um eine Abendmesse zu lesen;
aber ich dankte ihm gerührt dafür, daß er es, wie ich glaubte, für mich
tun wollte, und sagte, daß ich selbst zu Fuß oder zu Wagen zur Kirche
kommen werde.

»Sie wollen sich selbst bemühen?« pflegte er zu fragen.

Ich wußte nicht, was zu antworten, ohne in die Sünde des Hochmuts zu
verfallen.

Nach der Messe schickte ich, wenn Katja nicht dabei war, die Pferde
immer weg und ging allein zu Fuß nach Hause. Unterwegs verbeugte ich
mich demütig vor allen, denen ich begegnete und suchte Gelegenheit,
jemand mit Tat oder Rat zu helfen, mich für jemand aufzuopfern; bald
half ich einem Bauern, einen umgekippten Wagen aufzuheben, bald wiegte
ich ein Kind und trat bald von der Straße in den Schmutz, um jemand
den Weg frei zu machen. Eines Abends hörte ich, wie der Verwalter
Katja erzählte, daß der Bauer Ssemjon zu ihm gekommen sei, um Bretter
zu einem Sarge für seine verstorbene Tochter und einen Rubel für die
Seelenmesse zu bitten, und daß er ihm beides gegeben habe. »Sind
denn die Leute so arm?« fragte ich. -- »Sie sind sehr arm, gnädiges
Fräulein, sie haben nicht mal Salz,« antwortete der Verwalter. Mein
Herz schnürte sich zusammen, und zugleich überkam mich etwas wie
Freude, als ich das hörte. Ich log Katja vor, daß ich spazieren gehen
möchte, lief hinauf, holte mein ganzes Geld (es war sehr wenig, aber
doch alles, was ich besaß), bekreuzigte mich und ging allein über die
Terrasse und den Garten ins Dorf zu Ssemjons Hause. Sein Haus stand am
Rande des Dorfes, ich trat, von niemand bemerkt, ans Fenster, legte
das Geld hinein und klopfte an. Die Tür knarrte, jemand kam aus dem
Hause und rief mich an; ich lief, vor Schreck zitternd und am ganzen
Leibe erkaltend, wie eine Verbrecherin heim. Katja fragte mich, wo ich
gewesen und was mit mir los sei, aber ich verstand nicht einmal, was
sie zu mir sagte, und gab ihr keine Antwort. Alles erschien mir auf
einmal so nichtig und eitel. Ich schloß mich in meinem Zimmer ein und
ging lange auf und ab, außerstande, etwas zu tun, an etwas zu denken,
außerstande, mir Rechenschaft über meine Empfindungen zu geben. Ich
dachte an die Freude, die ich der ganzen Familie bereitet hatte, an
die Worte, mit denen sie von demjenigen sprechen würden, der das Geld
hingelegt hatte, und es tat mir leid, daß ich ihnen das Geld nicht
in die Hand gegeben hatte. Ich dachte auch daran, was wohl Ssergej
Michailytsch sagen würde, wenn er von dieser Tat erführe und freute
mich darüber, daß niemand es erfahren würde. Und in mir war eine solche
Freude, alle Menschen und ich selbst erschienen mir so schlecht, und
ich betrachtete mich und die anderen so mild, daß der Gedanke an den
Tod mir wie ein Traum von Glück erschien. Ich lächelte und betete und
weinte und liebte in diesem Augenblick alle Menschen und auch mich
selbst so heiß und so leidenschaftlich. Zwischen den Messen las ich
im Evangelium, und immer verständlicher wurde mir dieses Buch, immer
rührender und einfacher erschien mir die Geschichte dieses göttlichen
Lebens und immer unheimlicher und unergründlicher die Tiefe des Gefühls
und der Gedanken, die ich in seiner Lehre fand. So klar und einfach
erschien mir dafür alles, wenn ich das Buch beiseite legte und tiefer
ins Leben schaute, das mich umgab. Es erschien mir so schwer, nicht
gut zu sein, und so einfach, alle zu lieben und von allen geliebt zu
werden. Alle waren so gut und sanft zu mir; sogar Ssonja, der ich
noch immer Unterricht erteilte, war eine ganz andere geworden und gab
sich Mühe, mich zu verstehen, mir gefällig zu sein und mich nicht zu
betrüben. Wie ich zu den Menschen war, so waren sie auch zu mir. Ich
überlegte mir, ob ich nicht Feinde hätte, die ich vor der Beichte
um Verzeihung bitten müßte, und erinnerte mich nur eines jungen
Mädchens aus der Nachbarschaft, über das ich mich einmal vor Gästen
lustig gemacht hatte und das uns nicht mehr besuchte. Ich schrieb ihr
einen Brief, in dem ich meine Schuld bekannte und sie um Vergebung
bat. Sie antwortete mir mit einem Briefe, in dem sie mich selbst um
Verzeihung bat und auch mir verzieh. Ich weinte vor Freude, als ich
diese einfachen Zeilen las, in denen ich damals ein ebenso tiefes und
rührendes Gefühl zu sehen glaubte. Die alte Kinderfrau weinte, als
ich sie um Vergebung bat. -- Warum sind sie alle so gut zu mir? Womit
habe ich solche Liebe verdient? -- fragte ich mich. Ich erinnerte mich
auch unwillkürlich Ssergej Michailytschs und dachte lange an ihn. Ich
konnte nicht anders und hielt es sogar auch nicht für Sünde. Aber
ich dachte an ihn jetzt ganz anders als in jener Nacht, wo ich zum
erstenmal erfuhr, daß ich ihn liebe; ich dachte an ihn wie an mich
selbst und verknüpfte ihn unwillkürlich mit jedem Gedanken an meine
eigene Zukunft. Der erdrückende Einfluß, den ich in seiner Gegenwart
verspürt hatte, war nun in meiner Fantasie vollkommen verschwunden.
Ich betrachtete mich als ihm gleich und verstand ihn vollkommen von
der Höhe der geistlichen Stimmung herab, in der ich mich befand.
Alles, was mir an ihm früher seltsam erschienen, war mir jetzt klar.
Erst jetzt begriff ich, warum er gesagt hatte, daß das Glück nur darin
liege, für andere zu leben, und ich war mit ihm jetzt darin vollkommen
einverstanden. Es schien mir, daß uns beide ein unendliches und ruhiges
Glück erwartete. Ich dachte aber dabei nicht an Reisen ins Ausland,
nicht an den Glanz der großen Welt, sondern an ein ganz anderes,
stilles Familienleben auf dem Lande, mit ewiger Selbstaufopferung,
mit ewiger Liebe zueinander und mit ewiger Erkenntnis der milden und
hilfreichen Vorsehung in allen Dingen.

Ich kommunizierte, wie ich es mir vorgenommen hatte, an meinem
Geburtstage. Als ich an diesem Tage aus der Kirche zurückkehrte, war
mein Herz von einem so vollkommenen Glück erfüllt, daß ich mich vor
dem Leben, vor jedem Eindruck, vor allem fürchtete, was dieses Glück
hätte stören können. Aber kaum waren wir der Liniendroschke vor unserer
Freitreppe entstiegen, als auf der Brücke das mir bekannte Kabriolett
rasselte und ich Ssergej Michailytsch erblickte. Er gratulierte mir,
und wir traten zusammen ins Wohnzimmer. Noch niemals, seitdem ich
ihn kannte, war ich so ruhig und meiner selbst sicher wie an diesem
Morgen. Ich fühlte in mir eine ganze neue Welt, die er nicht begriff,
die größer war als er. Ich empfand vor ihm nicht die geringste
Verlegenheit. Er merkte wohl, woher das kam, und benahm sich besonders
zartfühlend, sanft und fromm mir gegenüber. Ich trat an das Klavier,
aber er schloß es zu und steckte den Schlüssel in die Tasche.

»Verderben Sie Ihre Stimmung nicht,« sagte er. »In Ihrer Seele ist
jetzt eine Musik, die schöner ist als jede Musik auf Erden.«

Ich war ihm dankbar dafür, und doch war es mir zugleich auch etwas
unangenehm, daß er so leicht und klar alles begriff, was als Geheimnis
in meiner Seele ruhen sollte. Beim Mittagessen sagte er, er sei
gekommen, mir zu gratulieren und zugleich Abschied zu nehmen, weil er
morgen nach Moskau verreise. Als er das sagte, sah er nur Katja an;
dann streifte er aber auch mich mit einem Blick, und ich sah ihm an,
daß er fürchtete, in meinem Gesicht eine Erregung zu merken. Aber ich
war weder erstaunt noch erregt und fragte ihn nicht mal, ob er für
lange verreise. Ich hatte erwartet, daß er es sagen würde, und ich
wußte auch, daß er nicht verreisen würde. Wie ich das wußte? Jetzt kann
ich mir das unmöglich erklären; aber an jenem denkwürdigen Tage war
es mir, als ob ich alles, wie das Vergangene, so auch das Zukünftige
wüßte. Ich war wie in einem glücklichen Traum, wo mir alles, was auch
geschieht, schon bekannt vorkommt, wo ich alles schon längst weiß, es
aber erst in der Zukunft geschehen soll, und ich weiß, daß es geschehen
wird.

Er wollte gleich nach dem Essen wegfahren, aber Katja, die noch von
der Messe ermüdet war, zog sich zurück, um sich etwas hinzulegen, und
er mußte warten, bis sie erwachte, um sich von ihr zu verabschieden.
Im Salon war die Sonne, und wir gingen auf die Terrasse. Kaum hatten
wir uns hingesetzt, als ich in vollkommener Ruhe das Gespräch begann,
das über das Schicksal meiner Liebe entscheiden sollte. Ich fing zu
sprechen an, weder früher noch später, sondern just in dem Augenblick,
als wir uns hingesetzt hatten, als noch nichts gesagt worden war und
als weder der Ton noch der Charakter des Gesprächs mich darin, was ich
sagen wollte, hindern konnten. Ich weiß selbst nicht, wo ich damals
solche Ruhe, Entschlossenheit und Genauigkeit der Ausdrucksweise
hernahm. Es war, als sagte ich es nicht selbst, als spräche etwas, was
von meinem Willen nicht abhing, aus mir heraus. Er saß mir gegenüber,
die Ellbogen auf das Geländer gestützt und rupfte die Blätter von einem
Fliederzweige, den er zu sich herangezogen hatte. Als ich zu sprechen
anfing, ließ er den Zweig fahren und stützte den Kopf in die Hand.
Das konnte die Pose eines durchaus ruhigen, wie auch die eines sehr
aufgeregten Mannes sein.

»Warum verreisen Sie?« fragte ich bedeutungsvoll und langsam, ihm
gerade ins Gesicht blickend.

Er antwortete nicht gleich.

»Die Geschäfte!« versetzte er schließlich, die Augen senkend.

Ich begriff, wie schwer es ihm fiel, mir die Unwahrheit zu sagen und
dazu noch auf eine so aufrichtig gestellte Frage.

»Hören Sie,« sagte ich, »Sie wissen, was dieser Tag für mich ist. Er
ist mir in mancher Beziehung wichtig. Wenn ich Sie frage, so tue ich
es nicht nur, um mein Interesse für Sie zu zeigen (Sie wissen, daß ich
mich an Sie gewöhnt habe und Sie gerne mag); ich frage, weil ich es
wissen muß. Warum verreisen Sie?«

»Es ist mir sehr schwer, Ihnen die Wahrheit zu sagen, warum ich
verreise,« sagte er. »In dieser Woche habe ich viel an Sie und auch an
mich gedacht und bin zu dem Schluß gekommen, daß ich verreisen muß.
Sie verstehen doch, warum, und wenn Sie mich lieben, werden Sie nicht
weiter fragen.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirne und bedeckte
dann mit ihr die Augen. »Es fällt mir schwer ... Und Sie verstehen es
doch.«

Mein Herz fing heftig zu schlagen an.

»Ich kann es nicht verstehen,« entgegnete ich, »_ich kann es nicht_,
aber _Sie selbst_, sagen Sie es mir um Gottes willen, schon weil es ein
so besonderer Tag für mich ist, ich kann alles ruhig anhören!«

Er änderte seine Stellung, blickte mich an und zog den Fliederzweig
wieder zu sich.

»Übrigens,« sagte er nach kurzer Pause mit einer Stimme, die sich
vergebens bemühte, fest zu erscheinen, »obwohl es dumm und unmöglich
ist, es mit Worten auszusprechen, obwohl es mir schwer fällt, will ich
mich doch bemühen, es Ihnen zu erklären,« fügte er hinzu, das Gesicht
wie bei einem körperlichen Schmerz verziehend.

»Nun?« fragte ich.

»Denken Sie sich folgenden Fall: es war einmal ein Herr, sagen wir ein
Herr A.,« begann er, »ein alter und abgelebter Mann, und es war ein
gewisses Fräulein B., ein glückliches junges Mädchen, das das Leben und
die Menschen noch nicht kannte. Infolge besonderer Familienverhältnisse
gewann er sie wie eine Tochter lieb und dachte gar nicht daran, sie
anders lieben zu können.«

Er hielt inne, aber ich unterbrach ihn nicht.

»Aber er hatte vergessen, daß Fräulein B. so jung war, daß das Leben
für sie noch ein Spiel bedeutete,« fuhr er plötzlich schnell und
entschlossen fort, ohne mich anzublicken, »daß es sehr leicht sei, sie
anders zu lieben, und daß dies ihr sehr amüsant erscheinen würde. Er
hatte sich aber geirrt und fühlte plötzlich, daß ein anderes Gefühl, so
schwer wie die Reue sich in sein Herz einschlich, und er erschrak. Er
fürchtete, daß ihre früheren freundschaftlichen Beziehungen abbrechen
könnten, und er entschloß sich, zu verreisen, bevor dies geschähe.« Als
er das sagte, rieb er sich, wie zerstreut, mit der Hand die Augen und
schloß sie wieder.

»Warum fürchtete er denn, sie anders zu lieben?« fragte ich kaum
hörbar, meine Erregung zurückhaltend, so daß meine Stimme ruhig klang;
ihm erschien aber mein Ton wohl scherzhaft, und er antwortete wie
beleidigt:

»Sie sind jung, und ich bin nicht mehr jung. Sie wollen spielen, aber
ich will etwas anderes. Spielen Sie nur, aber nur nicht mit mir, denn
sonst werde ich es vielleicht ernst nehmen, und das wäre für mich nicht
gut, und Sie würden es bereuen. Das sagte der A.,« fügte er hinzu. »Es
sind lauter Dummheiten, aber Sie verstehen wohl, warum ich verreise.
Sprechen wir nie mehr davon, ich bitte Sie!«

»Nein! Nein! Sprechen wir gerade davon!« rief ich aus, und meine Stimme
zitterte vor zurückgehaltenen Tränen. »Liebte er sie oder nicht?«

Er gab keine Antwort.

»Wenn er sie aber nicht liebte, warum spielte er dann mit ihr wie mit
einem Kinde?« fragte ich.

»Ja, ja, das war eben seine Schuld,« antwortete er, mich hastig
unterbrechend, »aber alles war zu Ende, und sie schieden ... als
Freunde.«

»Aber es ist doch entsetzlich! Ist denn kein anderer Ausweg möglich?«
brachte ich mit Mühe hervor und erschrak gleich darauf über meine
eigenen Worte.

»Ja, es gibt wohl einen anderen Ausweg,« sagte er, indem er die Hand
von seinem aufgeregten Gesicht nahm und mir gerade in die Augen
blickte. »Es gibt zwei verschiedene Auswege. Aber um Gottes willen,
unterbrechen Sie mich nicht und versuchen Sie mich mit Ruhe zu
begreifen. Die einen sagen,« fing er an, indem er sich erhob, mit einem
schmerzvollen und schwermütigen Lächeln, »die einen sagen, A. sei
verrückt geworden, hätte sich in die B. wahnsinnig verliebt und ihr
seine Liebe gestanden ... Sie hätte aber nur gelacht. Für sie war es
nur ein Spiel, für ihn aber eine Lebensfrage.«

Ich fuhr zusammen und wollte ihn unterbrechen, wollte ihm sagen,
daß er sich nicht unterstehen dürfe, mir seine eigenen Gedanken
unterzuschieben, aber er legte seine Hand auf die meine, um mich
zurückzuhalten.

»Warten Sie,« sagte er mit bebender Stimme, »die einen sagen, sie
hätte Mitleid mit ihm gehabt; die Ärmste, die die Menschen noch nicht
kannte, hätte sich eingebildet, daß sie ihn wirklich lieben könne, und
eingewilligt, seine Frau zu werden. Er, der Wahnsinnige hätte geglaubt,
daß für ihn ein neues Leben beginnen würde, aber sie hätte selbst
begriffen, daß sie ihn betrogen habe, wie auch er sie ... Sprechen wir
nicht mehr davon,« schloß er, offenbar außerstande, weiter zu sprechen,
und fing an, vor mir auf und ab zu gehen.

Er sagte: »sprechen wir nicht mehr davon«, aber ich sah, daß er mit der
ganzen Sehnsucht seiner Seele ein Wort von mir erwartete. Ich wollte
sprechen, konnte es aber nicht: etwas preßte mir die Brust zusammen.
Ich sah ihn an: er war blaß, und seine Unterlippe zitterte. Ich fühlte
Mitleid mit ihm. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, zerriß plötzlich
die Fesseln des Schweigens und begann mit leiser, verhaltener Stimme,
die, wie ich fürchtete, jeden Augenblick versagen konnte.

»Und die dritte Möglichkeit,« begann ich und hielt inne; aber er
schwieg. »Die dritte Möglichkeit ist, daß er sie nicht liebte und
ihr sehr weh tat; er glaubte, im Rechte zu sein, und verließ sie und
rühmte sich auch noch dessen. Für Sie ist es ein Spiel, aber nicht für
mich, ich habe Sie vom ersten Tage an geliebt, geliebt!« wiederholte
ich, und beim Worte »geliebt« steigerte sich meine bis dahin leise
und verhaltene Stimme zu einem wilden Aufschrei, vor dem ich selbst
erschrak.

Er stand bleich vor mir, seine Lippe bebte immer heftiger, und zwei
Tränen rollten über seine Wangen.

»Das ist schlecht!« schrie ich fast, während mich die unterdrückten
Tränen der Kränkung zu ersticken drohten. »Womit habe ich das
verdient?« fragte ich und erhob mich, um fortzugehen.

Er ließ mich aber nicht fort. Sein Kopf lag auf meinem Schoße, seine
Lippen küßten meine zitternden Hände, und seine Tränen netzten sie.
»Mein Gott, wenn ich es gewußt hätte!« rief er.

»Womit? Womit?« wiederholte ich, und in meiner Seele war ein Glück, das
dann für immer entschwand und nie wiederkam.

Fünf Minuten später lief Ssonja zu Katja hinauf und schrie, daß es im
ganzen Hause hallte: »Mascha will Ssergej Michailytsch heiraten!«


V

Es lagen keine Gründe vor, die Hochzeit hinauszuschieben, und weder
er, noch ich wünschten das. Katja wollte allerdings erst nach Moskau
fahren, um Verschiedenes für die Aussteuer einzukaufen und zu
bestellen, und seine Mutter versuchte, darauf zu bestehen, daß er vor
der Heirat eine neue Equipage und neue Möbel anschaffe und das Haus neu
tapezieren lasse; wir beide setzten aber unseren Entschluß durch, dies
alles, wenn es schon so notwendig sei, erst später zu besorgen und uns
zwei Wochen nach meinem Geburtstage, in aller Stille, ohne Aussteuer,
ohne Gäste, ohne Hochzeitsbeistände, ohne Festtafel, Champagner und
sonstige Hochzeitsattribute trauen zu lassen. Er erzählte mir, wie
ungehalten seine Mutter darüber war, daß unsere Hochzeit ohne Musik,
ohne einen Berg von Truhen und ohne Erneuerung des ganzen Hauses
gefeiert werden sollte, ganz anders, als ihre Hochzeit, die einst
dreißigtausend Rubel gekostet habe, und wie sie hinter seinem Rücken
die alten Kisten und Kasten durchwühlt und sich mit der Wirtschafterin
Marjuschka ernsthaft wegen der für unser Glück unentbehrlichen
Teppiche, Gardinen und Tabletts beraten habe. Meine Katja machte es
ebenso mit der Wärterin Kusminischna. Darüber durfte man mit ihr nicht
scherzen. Sie war fest überzeugt, daß wir, wenn wir von unserer
Zukunft sprachen, nur tändelten und Unsinn trieben, wie es Menschen in
dieser Lage überhaupt eigen sei, daß aber das wesentliche Glück unserer
Zukunft nur davon abhänge, daß die Hemden richtig zugeschnitten und
genäht und die Tischtücher und Servietten ordentlich gesäumt seien.
Zwischen Pokrowskoje und Nikolskoje wurden einigemal am Tage geheime
Berichte darüber ausgetauscht, was auf der einen und auf der anderen
Seite vorbereitet wurde; obwohl die Beziehungen zwischen Katja und
seiner Mutter äußerlich die zärtlichsten waren, war doch eine etwas
feindselige, wenn auch raffinierte Diplomatie dabei. Seine Mutter,
Tatjana Ssemjonowna, die ich jetzt näher kennen lernte, war eine steife
und strenge Hausfrau, eine Dame der guten alten Zeit. Er liebte sie
nicht nur als Sohn aus Pflichtgefühl, sondern auch aus menschlicher
Neigung, da er sie für die beste, gütigste, klügste und liebreichste
Frau in der Welt hielt. Tatjana Ssemjonowna war immer gut zu uns,
besonders zu mir, und freute sich, daß ihr Sohn heiraten wollte; als
ich sie aber als seine Braut besuchte, kam es mir vor, als wollte sie
mich fühlen lassen, daß ich als die Auserwählte ihres Sohnes auch
besser hätte sein können und daß es mir gar nicht schaden würde, dessen
immer eingedenk zu sein. Ich verstand sie vollkommen und war mit ihr
einverstanden.

In den beiden letzten Wochen sahen wir uns jeden Tag. Er aß bei uns
zu Mittag und blieb dann bis Mitternacht. Aber obwohl er sagte -- und
ich wußte, daß er die Wahrheit sprach, -- daß er ohne mich gar nicht
lebe, verbrachte er doch nie einen ganzen Tag mit mir und bemühte sich
seinen Geschäften nachzugehen. Unsere äußeren Beziehungen blieben bis
zur Hochzeit die alten: wir fuhren fort, uns mit »Sie« anzureden, er
küßte mir nicht mal die Hand und suchte nicht nur keine Gelegenheit,
mit mir allein zu sein, sondern schien auch solche Gelegenheiten
zu meiden. Als fürchtete er, sich der allzu großen, gefährlichen
Zärtlichkeit hinzugeben, die in ihm war. Ich weiß nicht, wer sich von
uns beiden verändert hatte, er oder ich, aber jetzt fühlte ich mich ihm
vollkommen gleich, nahm an ihm nicht mehr jene geheuchelte Einfachheit
wahr, die mir früher so mißfiel, und sah vor mir oft mit Freude, statt
des Respekt und Furcht einflößenden Mannes, ein sanftes und vor Glück
fassungsloses Kind. -- Das ist also alles, was an ihm war! -- sagte ich
mir oft: -- Er ist genau so ein Mensch wie ich und nicht mehr. -- Jetzt
schien mir, daß ich ihn ganz durchschaut und erkannt hätte. Und alles,
was ich erkannt hatte, war so einfach und stimmte so ganz mit meinem
Wesen überein. Selbst seine Pläne über unser künftiges Leben waren auch
die meinigen, die er nur klarer und besser in Worte zu kleiden verstand.

Das Wetter war während dieser Wochen schlecht, und wir verbrachten die
meiste Zeit im Hause. Die schönsten und herzlichsten Gespräche führten
wir in der Ecke zwischen dem Klavier und dem Fenster. Auf dem dunklen
Fenster spiegelte sich ganz nahe das Licht der Kerzen, die Regentropfen
schlugen gegen die glänzenden Scheiben und flossen an ihnen herab.
Gegen das Dach prasselte es, in der Pfütze unter der Traufe klatschte
das Wasser, und durch das Fenster zog Feuchtigkeit herein.

»Wissen Sie, ich wollte Ihnen schon lange etwas sagen,« begann er
einmal, als wir sehr spät in unserem Winkel aufgeblieben waren.
»Solange Sie spielten, mußte ich fortwährend daran denken.«

»Sagen Sie nichts, ich weiß alles,« erwiderte ich.

»Ja, wirklich, sprechen wir nicht davon.«

»Nein, sagen Sie es mir doch, was ist es?« fragte ich.

»Also hören Sie. Erinnern Sie sich noch, wie ich Ihnen die Geschichte
von A. und B. erzählte?«

»Wie sollte ich mich dieser dummen Geschichte nicht erinnern? Es ist
gut, daß sie so ausgegangen ist ...«

»Ja, es hat nur ein Weniges gefehlt, und ich hätte selbst mein eigenes
Glück vernichtet. Sie haben mich errettet. Die Hauptsache aber ist, daß
ich damals log; ich schäme mich jetzt und will Ihnen die Geschichte zu
Ende erzählen.«

»Ach, bitte nicht.«

»Haben Sie keine Angst,« sagte er lächelnd. »Ich will mich nur
rechtfertigen. Als ich eben begann, wollte ich mit langen Betrachtungen
kommen.«

»Wozu Betrachtungen anstellen!« sagte ich. »Das soll man niemals.«

»Ja, ich hatte es auch schlecht gemacht. Nach allen meinen
Enttäuschungen, den Fehlern, die ich in meinem Leben begangen hatte,
sagte ich mir, als ich diesmal aufs Land kam, so entschieden, die
Liebe sei für mich zu Ende und es bleibe mir nur noch die Pflicht,
mein Leben irgendwie abzuschließen übrig, daß ich mir lange Zeit keine
Rechenschaft darüber gab, was eigentlich mein Gefühl gegen Sie sei und
wohin es mich bringen könne. Ich hoffte und hoffte auch nicht. Bald
schien es mir, daß Sie kokettieren, bald glaubte ich wieder, Sie seien
aufrichtig, und ich wußte selbst nicht, was ich tun würde. Aber nach
jenem Abend, Sie wissen doch, als wir nachts durch den Garten gingen,
erschrak ich plötzlich, und mein jetziges Glück erschien mir viel zu
groß und unmöglich. Nun, wie wäre es gekommen, wenn ich mir erlaubt
hätte, zu hoffen, und zwar vergebens? Aber ich dachte natürlich nur an
mich, denn ich bin ein ganz gemeiner Egoist.«

Er schwieg eine Weile und sah mich an.

»Aber es war auch nicht lauter Unsinn, was ich damals sagte. Ich durfte
und mußte auch fürchten. Ich empfange von Ihnen so viel und kann
Ihnen so wenig geben. Sie sind noch ein Kind, eine Knospe, die erst
aufbrechen wird, Sie lieben zum erstenmal, während ich ...«

»Ja, sagen Sie mir die Wahrheit ...« begann ich, bekam aber plötzlich
Angst vor seiner Antwort. »Nein, lieber nicht ...«

»Ob ich schon einmal geliebt habe? Ja?« fragte er, meinen Gedanken
sofort erratend. »Das kann ich Ihnen sagen. Nein, ich habe noch nicht
geliebt. Ich habe noch nie etwas empfunden, was diesem Gefühl ähnlich
wäre ...« Aber plötzlich war es, als wenn ihn eine schwere Erinnerung
durchzuckte. »Nein, ich müßte Ihr Herz haben, um Sie lieben zu dürfen,«
sagte er traurig. »Nun, mußte ich es mir nicht vorher überlegen, ehe
ich Ihnen sagen durfte, daß ich Sie liebe? Was gebe ich Ihnen? Meine
Liebe, allerdings.«

»Ist denn das wenig?« fragte ich, ihm in die Augen blickend.

»Es ist wenig, meine Freundin, für Sie ist es zu wenig,« fuhr er
fort. »Sie haben die Schönheit und die Jugend! Ich kann jetzt oft in
der Nacht vor Glück nicht einschlafen und denke immer daran, wie wir
zusammen leben werden. Ich habe schon viel gelebt und glaube das, was
ich zum Glücke brauche, gefunden zu haben. Ein stilles, einsames Leben
in unserer ländlichen Einöde, die Möglichkeit, den Menschen Gutes zu
tun, solchen Menschen, denen es so leicht ist, Gutes zu erweisen, weil
sie daran noch nicht gewöhnt sind; dann die Arbeit, die Arbeit, von der
man Nutzen erwartet, dann Erholung, die Natur, Bücher, Musik, die Liebe
zu den uns Nahestehenden, -- das ist mein Glück, das höchste Glück, das
ich mir ersehnte. Dazu noch eine solche Gefährtin wie Sie, vielleicht
auch eine Familie und alles, was der Mensch sich nur wünschen kann.«

»Ja!« sagte ich.

»Doch nur für mich, der ich meine Jugend hinter mir habe, aber nicht
für Sie,« fuhr er fort. »Sie haben noch nicht gelebt, Sie werden das
Glück vielleicht in anderen Dingen suchen wollen und es vielleicht auch
in anderen Dingen finden. Vielleicht kommt Ihnen das jetzt nur darum
als ein Glück vor, weil Sie mich lieben.«

»Nein, ich habe immer nur dieses stille Familienleben gewünscht und
geliebt,« erwiderte ich. »Und Sie sagen nur das, was ich mir schon
gedacht habe.«

Er lächelte.

»Es kommt Ihnen nur so vor, liebe Freundin. Aber das ist zu wenig für
Sie. Sie haben die Schönheit und die Jugend,« sagte er wieder.

Aber ich wurde böse, daß er mir nicht glauben wollte und mir meine
Schönheit und Jugend gleichsam zum Vorwurf machte.

»Warum lieben Sie mich dann?« fragte ich böse. »Um meiner Jugend oder
um meiner selbst willen?«

»Ich weiß es nicht, aber ich liebe Sie,« antwortete er und sah mich mit
einem durchdringenden und anziehenden Blicke an.

Ich antwortete nicht und blickte ihm unwillkürlich in die Augen.
Plötzlich geschah mit mir etwas Seltsames: zuerst hörte ich auf, das,
was mich umgab, zu sehen, dann verschwand auch sein Gesicht vor mir,
und nur seine Augen schienen ganz dicht vor meinen Augen zu glänzen;
dann war es mir, als ob seine Augen in mir wären; alles trübte sich,
ich sah nichts mehr und mußte meine Augen schließen, um mich von diesem
Gefühl von Wonne und Grauen zu befreien, das in mir dieser Blick
weckte ...

Am Vorabend unseres Hochzeitstages wurde das Wetter besser. Nach den
verregneten Sommertagen kam der erste kalte und heitere Herbstabend.
Alles war feucht, kalt und hell, und der Garten zeigte sich zum
erstenmal herbstlich leer, bunt und nackt. Der Himmel war klar, kalt
und bleich. Ich ging schlafen, glücklich, daß an meinem Hochzeitstage
schönes Wetter sein würde. Ich erwachte mit der Sonne, und der Gedanke,
daß es schon heute sei, erschreckte mich und setzte mich zugleich in
Erstaunen. Ich trat in den Garten. Die Sonne war erst eben aufgegangen
und leuchtete durch die halbentlaubten, gelb gewordenen Linden der
Allee hindurch. Der Gartenweg war mit raschelndem Laub bedeckt.
Die runzligen Beeren der Eberesche leuchteten rot auf den Zweigen
neben den spärlichen, vom Froste getöteten Blättern; die Georginen
waren zusammengeschrumpft und schwarz geworden. Der Reif lag zum
erstenmal silbern auf dem bleichen Rasen und auf den abgebrochenen
Pestwurzstauden vor dem Hause. Am heiteren kalten Himmel war kein
Wölkchen zu sehen, ein solches wäre auch nicht möglich gewesen.

-- Ist es wirklich heute? -- fragte ich mich, meinem Glücke nicht
trauend. -- Werde ich denn wirklich morgen nicht hier, sondern im
fremden, säulengeschmückten Hause von Nikolskoje erwachen? Werde ich
ihn nicht mehr hier erwarten, werde ihm nicht mehr entgegengehen
und abends und nachts nicht mehr mit Katja über ihn plaudern? Werde
nicht mehr mit ihm in Pokrowskoje am Klavier sitzen? Ihn nicht
mehr begleiten und mich um ihn in den finsteren Nächten nicht mehr
ängstigen? -- Aber ich erinnerte mich seiner Worte von gestern abend,
er käme zum letztenmal, und daß Katja mich genötigt, das Hochzeitskleid
anzuprobieren und dabei gesagt hatte: »Für morgen«; einen Augenblick
lang glaubte ich es und fing dann wieder zu zweifeln an. -- Werde ich
denn von morgen ab dort mit der Schwiegermutter, ohne die Nadeschda,
ohne den alten Grigorij, ohne Katja leben? Werde vor dem Schlafengehen
meine alte Wärterin nicht mehr küssen, und sie wird mich nicht
mehr nach alter Gewohnheit bekreuzigen und mir sagen: »Gute Nacht,
Fräulein«? Werde Ssonja nicht mehr unterrichten und mit ihr nicht mehr
spielen, des Morgens nicht mehr an die Wand ihres Zimmers klopfen und
ihr helles Lachen hören? Werde ich denn heute für mich selbst fremd
werden, wird sich vor mir ein neues Leben mit der Verwirklichung aller
meiner Wünsche und Hoffnungen auftun? Kommt dieses neue Leben für
immer? -- Ich erwartete ihn mit Ungeduld, denn es war mir so schwer,
allein alle diese Gedanken zu tragen. Er kam früh, und erst an seiner
Seite glaubte ich wirklich daran, daß ich heute seine Frau werden
sollte, und dieser Gedanke hatte für mich nichts Schreckliches mehr.

Vor dem Essen gingen wir in unsere Kirche, um eine Messe für meinen
verstorbenen Vater zu hören.

-- Wenn er doch jetzt am Leben wäre! -- dachte ich, als wir nach Hause
zurückkehrten und ich mich schweigend auf den Arm eines Mannes stützte,
der der beste Freund dessen gewesen war, an den ich dachte. Als ich
während des Gebets mit meiner Stirne die kalten steinernen Fußböden
der Kapelle berührte, sah ich meinen Vater so lebhaft vor mir, glaubte
so fest daran, daß seine Seele mich verstehe und meine Wahl segne, daß
es mir auch jetzt schien, seine Seele schwebe über uns, und daß ich
seinen Segen auf mir ruhen fühlte. Erinnerungen, Hoffnungen, Glück und
Trauer flossen zu einer einzigen, feierlichen und angenehmen Empfindung
zusammen, zu der diese unbewegliche, frische Luft, die Stille, die
entblößten Felder und der bleiche Himmel, von dem leuchtende, doch
ohnmächtige Strahlen herabfielen, die sich vergebens bemühten, mir die
Wange zu versengen, so wunderbar paßten. Mir schien, als ob auch er,
mit dem ich ging, mein Gefühl verstünde und teilte. Er ging langsam und
schweigend, und sein Gesicht, das ich ab und zu anblickte, drückte die
gleiche feierliche Stimmung, die halb Trauer und halb Freude war, aus,
von der die Natur und auch mein Herz erfüllt waren.

Plötzlich wandte er sich zu mir um; ich sah, daß er mir etwas sagen
wollte. -- Wie, wenn er mir jetzt dasselbe sagt, was ich selbst denke?
-- kam es mir in den Sinn. Er sprach aber von meinem Vater, ohne ihn
übrigens zu nennen.

»Einmal sagte er mir im Scherz: ›Heirate doch meine Mascha!‹«

»Wie glücklich wäre er jetzt,« sagte ich und drückte seinen Arm, der
den meinigen stützte, noch fester an mich.

»Ja, Sie waren damals noch ein Kind,« fuhr er fort, mir in die Augen
blickend. »Ich küßte damals diese Augen und liebte sie, nur weil sie
den seinigen glichen; aber ich dachte gar nicht daran, daß sie mir
einst um ihrer selbst willen so teuer sein würden. Ich nannte Sie
damals ›Mascha‹.«

»Sagen Sie doch ›du‹ zu mir,« sagte ich.

»Gerade wollte ich selbst ›du‹ zu dir sagen,« erwiderte er. »Erst jetzt
ist es mir, als wärest du ganz mein.« Sein ruhiger und glücklicher,
anziehender Blick ruhte auf mir.

Und wir gingen langsam über den noch wenig ausgetretenen Feldweg durch
das niedergestampfte Stoppelfeld; wir hörten nichts als unsere eigenen
Schritte und Stimmen. Auf der einen Seite zog sich über die Schlucht
bis zum fernen entlaubten Gehölz ein braunes Stoppelfeld hin, auf dem
ein Bauer mit seinem Pfluge lautlos einen immer breiter werdenden
schwarzen Streifen aufwühlte. Die Pferdeherde unten am Hügel schien
ganz nahe. An der anderen Seite und vor uns bis zum Garten und bis zu
unserem Hause, das hinter dem Garten hervorschaute, lag schwarz und
streifenweise auch schon grün der mit der Wintersaat bestellte Acker.
Auf alles leuchtete die nicht mehr heiße Sonne, und auf allen Dingen
lagen lange faserige Spinnenfäden. Sie schwebten in der Luft um uns
herum, legten sich auf die hartgefrorenen Stoppelfelder und fielen uns
auf die Augen, Haare und Kleider. Wenn wir sprachen, so klangen unsere
Stimmen so, als blieben sie über uns in der regungslosen Luft hängen,
als wären wir ganz allein in der ganzen Welt, allein unter diesem
blauen Himmelszelt, an dem zitternd und blinzelnd die gar nicht heiße
Sonne spielte.

Auch ich wollte zu ihm »du« sagen, aber ich schämte mich noch.

»Warum gehst du so schnell?« fragte ich hastig, beinahe im Flüstertone,
und mußte dabei erröten.

Er verlangsamte seine Schritte und blickte mich noch liebevoller, noch
freudiger und glücklicher an.

Als wir nach Hause kamen, waren dort schon seine Mutter und die Gäste
versammelt, die wir schließlich doch hatten einladen müssen, und so
blieb ich bis zu dem Augenblick, als wir aus der Kirche traten und uns
in den Wagen setzten, um nach Nikolskoje zu fahren, nicht mehr allein.

Die Kirche war fast leer, und ich sah mit einem flüchtigen Blick nur
seine Mutter, die auf dem kleinen Teppich neben dem Chor aufrecht
stand, Katja in einer Haube mit lila Bändern und mit Tränen an den
Wangen, und zwei oder drei leibeigene Dienstboten, die mich neugierig
musterten. Ihn sah ich nicht an, aber ich fühlte seine Nähe. Ich
lauschte den Worten der Gebete, sprach sie nach, aber in meiner Seele
weckten sie keinen Widerhall. Ich konnte nicht beten und blickte
stumpf auf die Heiligenbilder, auf die Kerzen, auf das Kreuz des
Ornates auf dem Rücken des Geistlichen, auf die Heiligenwand, auf
das Fenster der Kirche und konnte nichts verstehen. Ich fühlte nur,
daß mit mir etwas Ungewöhnliches geschah. Als der Geistliche sich
mit dem Kreuz zu uns wandte, uns gratulierte und sagte, daß er mich
einst getauft und es nun dank Gottes Gnade erlebt habe, mich auch zu
trauen, als Katja und seine Mutter uns küßten und Grigorijs Stimme
erklang, der nach dem Wagen rief, da erstaunte und erschrak ich beim
Gedanken, daß alles schon vorbei sei, und daß in meiner Seele nichts
Außergewöhnliches geschehen wäre, was dem heiligen Sakrament, das an
mir soeben vollzogen worden war, entspräche. Wir küßten uns, und dieser
Kuß war so seltsam und unserem Gefühle fremd. -- Ist das alles?! --
dachte ich mir. Wir traten vor das Portal, das Gerassel der Räder
hallte dumpf unter der Kuppel wider, ein frischer Lufthauch wehte mir
ins Gesicht, er setzte seinen Hut auf und half mir in den Wagen. Durch
das Wagenfenster sah ich den frostigen, von einem Hofe umgebenen Mond.
Er setzte sich neben mich und schloß den Wagenschlag. Etwas stach mich
ins Herz. Die Selbstverständlichkeit, mit der er es machte, kam mir
irgendwie verletzend vor. Katjas Stimme rief, ich solle mir den Kopf
gut einhüllen, die Räder rollten über die Steine, dann über die weiche
Landstraße, und wir fuhren davon. Ich drückte mich in die Ecke und
blickte auf die fernen, hellen Fluren und auf den Weg hinaus, der im
kalten Mondlichte dahinzulaufen schien. Ohne ihn anzublicken, fühlte
ich doch seine Nähe. -- Ist das alles, was mir dieser Augenblick gab,
von dem ich so viel erwartet hatte? -- dachte ich, und es kam mir noch
immer demütigend und beleidigend vor, so nahe neben ihm zu sitzen. Ich
wandte mich zu ihm um, mit der Absicht, ihm etwas zu sagen. Aber kein
Wort wollte mir über die Lippen kommen, als hätte sich das zärtliche
Gefühl von früher verflüchtigt und als wäre ein Gefühl von Kränkung und
Angst an seine Stelle getreten.

»Bis zu diesem Augenblick habe ich noch immer nicht geglaubt, daß es
möglich sei,« antwortete er leise auf meinen Blick.

»Ja, aber ich fürchte mich so, ich weiß selbst nicht, warum,« sagte ich.

»Du fürchtest dich vor mir, liebes Kind,« sagte er. Dann nahm er meine
Hand und beugte über sie sein Gesicht.

Meine Hand lag wie leblos in der seinen, und mein Herz tat mir vor
Kälte weh.

»Ja,« flüsterte ich.

Aber im gleichen Augenblick fing mein Herz heftiger zu klopfen an,
meine Hand zitterte und drückte seine Hand zusammen, es wurde mir
heiß, meine Augen suchten im Halbdunkel seinen Blick, und ich fühlte
plötzlich, daß ich ihn nicht mehr fürchtete, daß diese Furcht die Liebe
sei, eine neue, noch zärtlichere und größere Liebe als früher. Ich
fühlte, daß ich ihm ganz gehörte, und daß ich über seine Gewalt über
mich glücklich war.



Zweiter Teil.


I

Tage und Wochen, ganze zwei Monate des zurückgezogenen ländlichen
Lebens vergingen, wie es mir schien, unbemerkt; und doch hätten die
Gefühle, die Aufregungen und das Glück dieser beiden Monate für ein
ganzes Leben genügt. Meine und seine Träume von unserem Landleben waren
ganz anders in Erfüllung gegangen, als wir es erwartet hatten. Aber
unser Leben war nicht schlechter, als unsere Träume. Es gab nichts von
der ernsten Arbeit, von Pflichterfüllung, von Selbstaufopferung und
vom Leben für die anderen, die ich mir ausgemalt hatte, als ich noch
seine Braut gewesen; es war dagegen ein selbstsüchtiges Gefühl der
Liebe zueinander, der Wunsch, geliebt zu werden, eine immerwährende,
grundlose Heiterkeit und ein Vergessen aller Dinge auf der Welt. Er
zog sich zwar wirklich manchmal in sein Kabinett zurück, um etwas zu
tun, fuhr manchmal in Geschäften nach der Stadt oder ging aus dem
Hause, um nach der Wirtschaft zu sehen; aber ich sah, was für Mühe
es ihn kostete, sich von mir loszureißen. Er gestand mir später auch
selbst, daß alles in der Welt, wenn ich nicht dabei sei, ihm so nichtig
und unsinnig erscheine, daß er gar nicht verstehe, wie man sich damit
überhaupt abgeben könne. Mit mir verhielt es sich ebenso. Ich las,
trieb Musik, widmete mich der Schwiegermama und der Schule; doch ich
tat es nur, weil jede dieser Beschäftigungen mit ihm zusammenhing
und von ihm gutgeheißen wurde; aber wenn sich zu irgendeinem Tun der
Gedanke an ihn nicht gesellte, so sanken mir die Hände in den Schoß,
und es kam mir so komisch vor, daß es außer ihm auf der Welt noch etwas
geben könne. Vielleicht war es ein schlechtes, selbstsüchtiges Gefühl,
aber es gab mir Glück und hob mich über die ganze Welt empor. Nur er
allein existierte für mich auf der Erde, ihn hielt ich aber für den
herrlichsten und unfehlbarsten Menschen auf Erden; darum konnte ich für
nichts anderes leben als für ihn, als um in seinen Augen das zu sein,
für was er mich hielt. Er hielt mich aber für das erste und herrlichste
Weib auf Erden, begabt mit allen möglichen Tugenden; und ich bemühte
mich, in den Augen des ersten und besten Menschen auf der ganzen Welt
so ein Weib zu sein.

Einmal trat er zu mir ins Zimmer, als ich gerade betete. Ich sah mich
nach ihm um und betete weiter. Er setzte sich an den Tisch, um mich
nicht zu stören, und schlug ein Buch auf. Aber es kam mir vor, als sähe
er mich an, und ich wandte mich wieder um. Er lächelte, ich fing zu
lachen an und konnte nicht mehr beten.

»Hast du schon gebetet?« fragte ich ihn.

»Ja. Fahre nur fort, ich will weggehen.«

»Du betest doch hoffentlich?«

Er wollte gehen, ohne zu antworten, aber ich hielt ihn zurück.

»Liebster, tu es bitte für mich, sprich mal mit mir die Gebete.« Er
kniete neben mir nieder, ließ die Hände linkisch sinken und begann mit
ernstem Gesicht und stockend zu beten. Ab und zu wandte er sich zu mir
um und suchte in meinem Gesicht Zustimmung und Hilfe.

Als er fertig war, fing ich zu lachen an und umarmte ihn.

»Alles kannst du, alles kannst du! Es ist mir, als ob ich wieder ein
Junge von zehn Jahren wäre,« sagte er errötend und mir die Hände
küssend.

Unser Haus war eines von den alten Landsitzen, in denen mehrere
aufeinanderfolgende Generationen in Eintracht und gegenseitiger
Liebe und Achtung gelebt haben. Es war vom Dufte guter, ehrlicher
Familienerinnerungen erfüllt, welche plötzlich, als ich dieses Haus
betreten, auch zu meinen Erinnerungen geworden waren. Über die
Ausstattung des Hauses und die Lebensordnung wachte Tatjana Ssemjonowna
nach alter Weise. Man kann nicht behaupten, daß alles elegant und
hübsch gewesen wäre; aber von allem, von den Dienstboten bis zu den
Möbeln und Speisen war genug da, alles war reinlich, dauerhaft,
ordentlich und flößte Achtung ein. Im Wohnzimmer standen symmetrisch
die Möbel und hingen Familienbilder, auf dem Fußboden lagen hausgewebte
Teppiche und Läufer. Im »Diwanzimmer« befanden sich ein altes Klavier,
zwei Chiffonnièren von verschiedener Form, Diwans und Tischchen mit
Messingverzierungen und eingelegter Arbeit. In meinem Arbeitszimmer,
auf dessen Ausstattung Tatjana Ssemjonowna besondere Mühe verwandt
hatte, standen die besten Möbel aus verschiedenen Jahrhunderten und
von verschiedenen Fassons; unter anderem auch ein alter Trumeau, in
den ich anfangs nur schüchterne Blicke zu werfen wagte, der mir aber
später so lieb wurde wie ein alter Freund. Von Tatjana Ssemjonowna
war nichts zu hören, aber alles im Hause ging so regelmäßig, wie eine
aufgezogene Uhr. Es gab zwar viele überflüssige Dienstboten, aber
alle diese Leute, welche weiche Schuhe ohne Absätze trugen (Tatjana
Ssemjonowna hielt das Knarren der Sohlen und das Klappern der Absätze
für das Unangenehmste auf der Welt), -- alle diese Leute waren stolz
auf ihre Stellung, zitterten vor der alten Herrin, sahen auf mich und
meinen Mann mit einem gönnerhaften Lächeln herab und schienen ihre
Arbeit mit besonderer Freude zu verrichten. Jeden Sonnabend wurden
sämtliche Fußböden gescheuert und sämtliche Teppiche geklopft; an
jedem Ersten wurden Gottesdienste mit Wasserweihe abgehalten, und
an jedem Namenstage Tatjana Ssemjonownas oder ihres Sohnes (auch an
meinem -- zum erstenmal in diesem Herbst) gab es ein Festmahl für die
ganze Nachbarschaft. Dies alles geschah unverändert seit ältester
Zeit, soweit Tatjana Ssemjonowna sich ihrer selbst erinnerte. Mein
Mann mischte sich in den Haushalt nicht ein und beschäftigte sich
nur mit der Gutswirtschaft und den Bauern und das mit großem Eifer.
Er stand selbst im Winter so früh auf, daß ich ihn beim Aufwachen
nicht mehr sah. Er kam gewöhnlich zum Frühstückstee zurück, den wir
allein tranken, und befand sich um diese Stunde, nach allen Mühen
und Unannehmlichkeiten, die ihm die Wirtschaft bereitet hatte, in
der besonders lustigen Stimmung, die wir »wildes Entzücken« nannten.
Oft verlangte ich von ihm einen Bericht über alles, was er am Morgen
getrieben hatte, und er erzählte mir dann solchen Unsinn, daß wir uns
beide vor Lachen kugelten; manchmal bestand ich darauf, daß er mir
alles ernsthaft berichte, und er berichtete es mir, sein Lächeln
unterdrückend. Ich blickte ihm in die Augen, sah seine Lippen sich
bewegen, verstand nichts und freute mich nur darüber, daß ich ihn sah
und seine Stimme hörte.

»Nun, was habe ich eben gesagt? Wiederhole es!« verlangte er von mir.
Aber ich konnte nichts wiederholen. Es kam mir so komisch vor, daß
er mir nicht von sich selbst und nicht von mir erzählte, sondern von
irgendwelchen anderen Dingen. Als wäre es nicht ganz gleich, was es
dort alles gab! Erst viel später fing ich an, seine Sorgen einigermaßen
zu verstehen und mich für sie zu interessieren. Tatjana Ssemjonowna
zeigte sich am Vormittag nicht, trank ihren Tee allein und ließ uns
nur durch Abgesandte begrüßen. So seltsam klang in unserer eigenen,
wahnsinnig glücklichen kleinen Welt die Stimme aus jenem anderen
ordentlichen und vernünftigen Reich, daß ich mich oft nicht beherrschen
konnte und nur laut lachte, wenn ihre Zofe, die Hände auf der Brust
gefaltet, mir mit monotoner Stimme meldete, »Tatjana Ssemjonowna habe
ihr befohlen, zu fragen, wie wir nach dem gestrigen Spaziergange
geruht hätten; von sich selbst lasse sie aber berichten, daß ihr die
ganze Nacht eine Seite wehgetan hätte, und daß ein dummer Hund im
Dorfe gebellt und sie nicht schlafen lassen habe. Ferner lasse die
gnädige Frau fragen, wie uns das heutige Gebäck gemundet habe, und dazu
bemerken, daß heute nicht Taras, sondern zum ersten Male probeweise
Nikolascha gebacken habe; alles, besonders die kleinen Brezeln seien
ganz gut geraten, die Zwiebacke hätte er aber angebrannt.« Bis zum
Mittagessen blieben wir wenig zusammen. Ich spielte Klavier oder las
allein, er schrieb und ging noch einmal aus; aber zum Mittagessen,
das wir um vier Uhr einnahmen, trafen wir uns im Wohnzimmer; die Mama
tauchte aus ihrem Zimmer auf, und es erschienen irgendwelche arme,
adlige Damen oder Wallfahrerinnen, von denen immer zwei bis drei im
Hause wohnten. Mein Mann reichte regelmäßig nach alter Gewohnheit
seiner Mutter den Arm, sie verlangte aber, daß er den anderen Arm mir
reiche, und so gab es in der Türe regelmäßig Schwierigkeiten. Den
Vorsitz beim Mittagessen führte die Mama, und das Gespräch bei Tische
hatte immer einen ernsten und vernünftigen, etwas feierlichen Ton.
Die einfachen Worte, die ich mit meinem Manne wechselte, störten auf
eine angenehme Weise die Feierlichkeit dieser Sitzungen. Zwischen
Mutter und Sohn kam es zuweilen zu Streitigkeiten und Sticheleien;
ich mochte diese Streitigkeiten und Sticheleien besonders gern, weil
bei diesen Gelegenheiten die zärtliche und dauerhafte Liebe, die uns
verband, am stärksten zum Ausdruck kam. Nach dem Essen setzte sich
Mama in den großen Sessel im Wohnzimmer und rieb Tabak oder schnitt
die neuangekommenen Bücher auf, während wir etwas vorlasen oder ins
Diwanzimmer zum Klavier gingen. Wir lasen in dieser Zeit sehr viel,
aber die Musik war unser liebster und schönster Zeitvertreib, da sie
jedesmal neue Saiten in unseren Herzen zum Tönen brachte und uns
einander in einem neuen Lichte zeigte. Wenn ich seine Lieblingsstücke
spielte, setzte er sich auf ein fernes Sofa, wo ich ihn fast nicht
sehen konnte und bemühte sich aus Schamhaftigkeit den Eindruck zu
verbergen, den die Musik auf ihn machte; aber oft, wenn er es gar nicht
erwartete, stand ich vom Klavier auf und ging auf ihn zu, um in seinem
Gesicht noch die Spuren der Erregung und den unnatürlich feuchten
Glanz der Augen vorzufinden, die er vergebens vor mir zu verbergen
suchte. Mama hatte oft Lust, nach uns zu sehen, wenn wir im Diwanzimmer
waren; sie fürchtete wohl, uns zu stören, und ging zuweilen, ohne uns
anzublicken, mit einem geheuchelt ernsten und gleichgültigen Ausdruck
durchs Zimmer. Aber ich wußte, daß sie gar keinen Grund hatte, auf
ihr Zimmer zu gehen und so schnell zurückzukehren. Den Abendtee, den
ich einschenken mußte, tranken wir im großen Wohnzimmer, und alle
Hausgenossen versammelten sich wieder bei Tisch. Diese feierlichen
Sitzungen um den Samowar herum und das Verteilen der Gläser und Tassen
brachten mich lange Zeit in Verlegenheit. Es kam mir immer vor, als
sei ich der Ehre nicht würdig und viel zu jung und zu leichtsinnig,
um den Hahn des so großen Samowars umzudrehen, um Glas für Glas auf
Nikitas Tablett zu setzen und dabei zu sagen: »Für Pjotr Iwanowitsch,
für Marja Minitschna«, um zu fragen: »Ist es süß genug?« und um
einige Stück Zucker für die Kinderfrau und die verdienten Dienstboten
zurückzulegen. »Sehr gut, sehr gut,« sagte mir oft mein Mann, »ganz wie
eine Erwachsene!« Und das brachte mich in noch größere Verlegenheit.

Nach dem Tee legte die Schwiegermama Patience oder ließ sich von
Marja Minitschna die Karten schlagen; dann küßte und bekreuzigte
sie uns beide, und wir zogen uns zurück. Meistens blieben wir aber
noch bis nach Mitternacht auf, und das war unsere schönste und
angenehmste Zeit. Er erzählte mir von seiner Vergangenheit, wir
schmiedeten Pläne, philosophierten auch manchmal und bemühten uns
immer, recht leise zu sprechen, damit man uns oben nicht höre und es
nicht Tatjana Ssemjonowna melde, die von uns verlangte, daß wir zeitig
zu Bett gingen. Manchmal bekamen wir Appetit, schlichen uns in die
Speisekammer, verschafften uns durch Nikitas Protektion einen kalten
Imbiß und verzehrten ihn beim Scheine einer einzigen Kerze in meinem
Kabinett. So lebten wir beide wie fremde Leute in diesem großen, alten
Hause, in dem alles vom strengen Geist der alten Zeiten und dem Tatjana
Ssemjonownas beherrscht wurde. Nicht nur sie selbst, sondern auch die
Dienstboten, die ältlichen Mädchen, die Möbel, die Bilder flößten mir
Respekt, eine gewisse Scheu und das Bewußtsein ein, daß wir hier nicht
ganz auf unserem Platze seien und uns sehr vorsichtig und aufmerksam
zu benehmen hätten. Wenn ich mich jetzt jener Zeit erinnere, so sehe
ich, daß vieles -- diese lästige unabänderliche Hausordnung, diese
Menge müßiger und neugieriger Menschen in unserem Hause -- unbequem
und schwer zu ertragen war; aber diese Einengung vergrößerte unsere
Liebe. Nicht nur ich, sondern auch er verriet durch keine Miene, daß
ihm etwas mißfiele. Im Gegenteil, er schien sich sogar selbst von allem
fernzuhalten, was schlecht war. Mamas Kammerdiener, Dmitrij Ssidorow,
ein leidenschaftlicher Pfeifenraucher, ging regelmäßig nach dem Essen,
wenn wir uns im Diwanzimmer befanden, in das Kabinett meines Mannes,
um sich Tabak aus dem Kasten zu holen; man muß es gesehen haben, mit
welchem lustigen Schrecken Ssergej Michailytsch auf den Zehen zu mir
kam und, mit dem Finger drohend und mir zublinzelnd, auf Dmitrij
Ssidorow zeigte, der es gar nicht ahnte, daß man ihn beobachtete. Und
wenn Dmitrij Ssidorow fortging, ohne uns bemerkt zu haben, sagte mir
mein Mann vor Freude darüber, daß alles so gut abgelaufen war, wie
auch bei jeder anderen Gelegenheit, ich sei ein entzückendes Geschöpf
und gab mir einen Kuß. Diese Ruhe, diese Allverzeihung und scheinbare
Gleichgültigkeit gegen alles mißfielen mir zuweilen; ich merkte nicht,
daß in mir die gleichen Eigenschaften steckten und hielt sie für eine
Schwäche. -- Ganz wie ein Kind, das sich nicht getraut, seinen Willen
zu zeigen, -- dachte ich mir.

»Ach, liebe Freundin,« antwortete er mir, als ich ihm einmal sagte, daß
ich über seine Schwäche staunen müsse, »kann denn ein Mensch über etwas
unzufrieden sein, wenn er so glücklich ist, wie ich? Es ist doch viel
leichter, nachzugeben, als sich die anderen gefügig zu machen; davon
habe ich mich schon längst überzeugt, und es gibt keine Lebenslage, in
der man nicht glücklich sein könnte. Wir haben es aber so gut! Ich kann
nicht zürnen, es gibt für mich jetzt nichts Schlechtes, es gibt nur
Bemitleidenswertes und Komisches. Vor allen Dingen aber: ~le mieux est
l'ennemi du bien~. Glaube mir, wenn ich die Schelle eines Wagens höre,
wenn ich einen Brief erhalte oder auch nur einfach erwache, überkommt
mich zuweilen ein Grauen. Es ist so schrecklich, daß man leben muß, daß
sich etwas ändern kann; etwas Besseres als die Gegenwart kann es aber
gar nicht geben.«

Ich glaubte ihm, verstand ihn aber nicht; ich fühlte mich wohl, aber
ich glaubte, daß es gerade so und nicht anders sein müsse, und daß es
auch allen anderen Menschen ebenso ginge; daß es aber irgendwo auch
noch ein anderes, wenn auch nicht größeres, aber ein anderes Glück
gäbe.

So vergingen zwei Monate, es kam der Winter mit seinen Frösten und
Schneestürmen, und ich fing an, obwohl er mit mir war, mich einsam
zu fühlen; zu fühlen, daß das Leben sich wiederhole, daß weder in
mir noch in ihm etwas Neues sei, daß wir vielmehr wieder zum Alten
zurückkehrten. Er widmete sich jetzt immer mehr seinen Geschäften ohne
mich, und es kam mir wieder vor, als wäre in seiner Seele eine eigene
Welt, in die er mich nicht einlassen wolle. Seine immer ruhige Stimmung
reizte mich. Ich liebte ihn nicht weniger als früher und war auch über
seine Liebe nicht weniger glücklich als früher; aber meine Liebe war in
ihrem Wachstum stehengeblieben, und neben ihr keimte in meinem Herzen
irgendein neues unruhiges Gefühl. Es genügte mir nicht, ihn zu lieben,
nachdem ich das Glück genossen hatte, diese Liebe in mir aufblühen
zu fühlen. Ich sehnte mich nach Bewegung und nicht nach einem ruhig
dahinfließenden Leben. Ich sehnte mich nach Aufregungen, Gefahren und
Aufopferung des Gefühls wegen. Es war in mir ein Überfluß an Kraft,
die in unserem stillen Leben keine Anwendung fand. Mich überkamen
Anfälle von Schwermut, die ich wie etwas Schlimmes vor ihm zu verbergen
suchte, und Anfälle einer ungestümen Zärtlichkeit und Lustigkeit, die
ihn erschreckten. Er merkte meinen Zustand früher als ich und machte
mir den Vorschlag, in die Stadt zu ziehen; ich aber bat ihn, es nicht
zu tun, unsere Lebensweise nicht zu ändern und unser Glück nicht zu
stören. Ich war in der Tat glücklich, aber mich quälte es, daß dieses
Glück mich gar keine Mühe, gar kein Opfer kostete, während mich der
Überfluß an Tatkraft und Opferwilligkeit erdrückte. Ich liebte ihn
und sah, daß ich für ihn alles war; aber ich wünschte mir, daß alle
Menschen unsere Liebe sähen, daß man mich daran zu hindern suchte,
ihn zu lieben, und daß ich ihn trotzdem liebte. Mein Geist und sogar
meine Empfindung waren beschäftigt, aber es gab auch noch ein anderes
Gefühl von Jugend, ein Verlangen nach Bewegung, das in unserem stillen
Leben keine Befriedigung fand. Warum hatte er mir gesagt, daß wir in
die Stadt ziehen könnten, sobald ich es nur wünschte? Hätte er es mir
nicht gesagt, so hätte ich vielleicht verstanden, daß das Gefühl, das
mich bedrückte, eine dumme und schädliche Einbildung und ein Fehler
von mir war, daß das Opfer, nach dem ich lechzte, vor mir lag und in
der Unterdrückung dieses Gefühls bestand. Der Gedanke, daß ich meiner
Schwermut entgehen könnte, wenn ich nur in die Stadt zöge, kam mir
unwillkürlich in den Sinn; zugleich wäre es aber für mich beschämend
und schmerzlich, ihn von allem, was er liebte, loszureißen. Die Zeit
ging aber dahin, der Schnee häufte sich immer höher an den Hausmauern
auf, und wir waren immer allein und immer noch die gleichen zueinander;
aber irgendwo draußen wogten in Glanz und Lärm Scharen von Menschen,
die litten und sich freuten, ohne an uns und an unser dahinschwindendes
Dasein zu denken. Das Unangenehmste war für mich, daß ich fühlte, wie
die Gewohnheiten unser Leben mit jedem Tage zu einer bestimmten Form
erstarren machten, wie unser Gefühl, statt frei zu werden, sich dem
gleichmäßigen und leidenschaftslosen Gange der Zeit fügte. Des Morgens
waren wir lustig, um die Mittagsstunde höflich und am Abend zärtlich.
-- Gut! ... -- sagte ich mir, -- es ist gut, Gutes zu tun und ehrlich
zu leben, wie er es nennt; aber dazu haben wir noch Zeit, und es gibt
auch noch etwas anderes, wozu ich nur jetzt die Kraft habe. -- Mir tat
etwas anderes not, ich lechzte nach Kampf; ich wollte, daß das Gefühl
unser Leben leite und nicht vom Leben geleitet werde. Ich wollte mit
ihm an den Rand eines Abgrunds treten und sagen: -- Ein Schritt, und
ich stürze mich hinab, eine Bewegung, und ich bin verloren! -- Er aber
sollte am Rande des Abgrunds erbleichen, mich mit seinen kräftigen
Armen emporheben, eine Weile über dem Abgrunde halten, so daß mir das
Herz erkaltete, und mich dann forttragen, wohin er wollte.

Dieser Zustand beeinflußte sogar meine Gesundheit, und ich wurde
nervös. Eines Morgens fühlte ich mich noch schlechter als gewöhnlich;
er war aus dem Gutskontor in übler Laune zurückgekehrt, was bei ihm
selten der Fall war. Ich merkte es sofort und fragte ihn, was er habe.
Er wollte es mir aber nicht sagen und meinte, es sei nicht der Rede
wert. Wie ich später erfuhr, hatte der Isprawnik einige von unseren
Bauern zu sich berufen und von ihnen, um meinen Mann zu ärgern, unter
Drohungen etwas Ungesetzliches verlangt. Mein Mann hatte es noch nicht
so weit verdaut, daß es ihm bloß jämmerlich und lächerlich erschiene;
er war gereizt und wollte darum mit mir nicht sprechen. Mir schien
aber, er wolle darum nicht sprechen, weil er mich für ein Kind halte,
welches gar nicht verstehen könne, was ihn beschäftige. Ich wandte
mich von ihm weg, verstummte und ließ Marja Minitschna, die bei uns zu
Besuch war, zum Tee bitten. Nach dem Tee, der sehr schnell getrunken
war, ging ich mit Marja Minitschna ins Diwanzimmer und begann ihr
irgendeinen Unsinn zu erzählen, der mich gar nicht interessierte. Er
aber ging im Zimmer auf und ab und streifte uns ab und zu mit einem
Blick. Diese Blicke hatten auf mich diesmal die eigentümliche Wirkung,
daß ich immer größere Lust verspürte, zu sprechen und sogar zu lachen;
alles, was ich selbst sagte, und auch alles, was Marja Minitschna
sagte, kam mir so komisch vor. Er sagte mir kein Wort, zog sich in
sein Kabinett zurück und schloß die Türe. Sobald ich seine Schritte
nicht mehr hörte, verflüchtigte sich sofort meine ganze Lustigkeit,
so daß Marja Minitschna mich sogar fragte, was ich habe. Ohne ihr zu
antworten, setzte ich mich aufs Sofa und war bereit zu weinen. -- Was
fällt ihm bloß ein? -- dachte ich mir. -- Es ist irgendein Unsinn, der
ihm so wichtig erscheint; wenn er bloß versuchen wollte, es mir zu
sagen, so würde ich ihm zeigen, daß es ein Unsinn ist. Nein, er muß
sich unbedingt einreden, daß ich es nicht verstehen werde, er muß mich
mit seiner majestätischen Ruhe demütigen und immer Recht mir gegenüber
behalten. Dafür habe ich auch Recht, wenn ich mich langweile, wenn
mir alles leer erscheint, wenn ich leben und mich bewegen will, aber
nicht immer auf demselben Flecke bleiben und fühlen, wie die Zeit über
mich hinweggeht. Ich will vorwärtsgehen, ich will jeden Tag und jede
Stunde etwas Neues; aber er will stehenbleiben und auch mich zum Stehen
zwingen. Wie leicht könnte er es haben! Er brauchte mich gar nicht in
die Stadt zu bringen, es genügte, wenn er nur so wäre, wie ich, wenn
er sich keinen Zwang antäte, sich nicht zurückhielte und ganz einfach
leben wollte. Das rät er immer mir, ist aber dabei selbst gar nicht
einfach. Das ist es! --

Ich fühlte, wie mich die Tränen würgten, und daß ich gegen ihn gereizt
war. Ich erschrak vor diesem Gefühl und ging zu ihm. Er saß im Kabinett
und schrieb. Als er meine Schritte hörte, warf er mir einen kurzen,
gleichgültigen und ruhigen Blick zu und fuhr fort zu schreiben. Dieser
Blick gefiel mir nicht; statt zu ihm zu treten, blieb ich vor dem
Tische stehen, auf dem er schrieb, schlug ein Buch auf und blickte
hinein. Er hielt noch einmal in seinem Schreiben inne und sah mich an.

»Mascha, bist du heute schlecht gelaunt?« fragte er.

Ich antwortete mit einem kühlen Blick, welcher besagte: -- Brauchst
nicht zu fragen! Was sind das für Liebenswürdigkeiten? -- Er schüttelte
den Kopf und lächelte scheu und zärtlich; zum erstenmal antwortete ich
auf sein Lächeln nicht mit meinem Lächeln.

»Was hast du heute gehabt?« fragte ich. »Warum hast du es mir nicht
gesagt?«

»Unsinn! Eine kleine Unannehmlichkeit,« antwortete er. »Aber ich kann
es dir auch erzählen. Zwei Bauern gingen in die Stadt ...«

Aber ich ließ ihn nicht weitersprechen.

»Warum hast du es mir nicht schon beim Tee erzählt, als ich dich danach
fragte?«

»Damals hätte ich dir eine Dummheit gesagt, denn ich war wütend.«

»Aber ich wollte es gerade damals wissen.«

»Warum?«

»Warum glaubst du, ich könnte dir niemals helfen?«

»Und ob ich es glaube!« sagte er, die Feder fortlegend. »Ich glaube,
daß ich ohne dich nicht leben kann. In allen Dingen, in allen Dingen
hilfst du mir nicht nur, sondern tust alles statt meiner. Was dir
plötzlich einfällt!« rief er lachend. »Ich lebe doch nur dank dir.
Alles erscheint mir nur darum gut, weil du hier bist, weil man dich ...«

»Ja, ich weiß es: ich bin ein liebes Kind, das man beruhigen muß,«
sagte ich in einem solchen Ton, daß er mich so erstaunt, als sähe er
mich zum erstenmal, anblickte. »Ich will die Ruhe nicht, du hast sie ja
im Überfluß,« fügte ich hinzu.

»Nun siehst du selbst, worum es sich hier handelt,« begann er hastig,
mich unterbrechend, als fürchtete er, mich aussprechen zu lassen, »was
würdest du in diesem Falle sagen?«

»Jetzt will ich nichts sagen,« antwortete ich. Ich hatte zwar Lust, ihm
zuzuhören, aber es war mir so angenehm, seine Ruhe zu stören. »Ich will
nicht so tun, als ob ich lebte, ich will leben,« sagte ich, »genau so
wie du.«

Sein Gesicht, das jeden Eindruck so schnell und so lebhaft
wiederspiegelte, drückte Schmerz und gespannte Aufmerksamkeit aus.

»Ich will genau so wie du leben, mit dir ...«

Aber ich konnte nicht zu Ende sprechen: sein Gesicht nahm einen so
traurigen, einen so tieftraurigen Ausdruck an. Er schwieg eine Weile.

»Worin liegt der Unterschied zwischen meinem und deinem Leben?« fragte
er. »Doch nur darin, daß ich, und nicht du, mich mit dem Isprawnik und
den betrunkenen Bauern herumschlage ...«

»Nein, das ist nicht alles,« erwiderte ich.

»Begreife es doch, liebes Kind, um Gottes willen,« fuhr er fort, »ich
weiß, daß alle solche Aufregungen uns immer weh tun; ich kenne das
Leben und weiß es. Ich liebe dich und kann darum nichts anderes wollen,
als dir alle diese Aufregungen ersparen. Darin liegt mein Leben, in der
Liebe zu dir; erschwere mir nicht dieses Leben.«

»Du hast immer Recht!« sagte ich, ohne ihn anzusehen.

Es kränkte mich, daß in seiner Seele alles wieder so heiter und ruhig
war, während ich Ärger und ein Gefühl, das der Reue glich, empfand.

»Mascha, was hast du nur?« sagte er. »Die Rede ist doch nicht davon, ob
ich Recht habe oder du Recht hast, sondern von etwas ganz anderem: was
hast du gegen mich? Sage es mir nicht sofort, überlege es dir erst und
sage mir alles, was du dir denkst. Du bist mit mir unzufrieden, du hast
wahrscheinlich Recht, aber erkläre mir, worin ich Unrecht habe.«

Aber wie konnte ich ihm das Innerste meiner Seele aufdecken? Daß er
mich sofort verstanden hatte, daß ich wieder wie ein Kind vor ihm
dastand, daß ich nichts anfangen konnte, ohne daß er es begriff und
voraussah, -- regte mich noch mehr auf.

»Ich habe nichts gegen dich,« sagte ich. »Ich langweile mich nur und
will, daß diese Langweile aufhört. Aber du sagst, daß es so sein muß,
und hast wieder Recht!«

Nachdem ich das gesagt hatte, sah ich ihn an. Ich hatte meinen Zweck
erreicht: seine Ruhe war dahin, sein Gesicht drückte Schrecken und
Schmerz aus.

»Mascha,« begann er mit leiser, erregter Stimme, »es ist kein Scherz,
was wir jetzt treiben. Unser Schicksal steht auf dem Spiele. Ich bitte
dich, mir nichts zu antworten und mich anzuhören. Warum willst du mich
so quälen?«

Aber ich unterbrach ihn.

»Ich weiß, daß du Recht behältst. Sprich lieber nicht, du hast Recht,«
sagte ich kühl, als spräche ich es nicht selbst, sondern irgendein
böser Geist in mir.

»Wenn du nur wüßtest, was du tust!« sagte er mit zitternder Stimme.

Ich fing zu weinen an, und die Tränen erleichterten mir das Herz. Er
saß neben mir und schwieg. Ich empfand Mitleid mit ihm, ich schämte
mich und ärgerte mich über mein Tun. Ich sah ihn nicht an. Ich glaubte,
er müsse mich in diesem Augenblick entweder streng oder erstaunt
ansehen. Ich wandte mich zu ihm: ein sanfter, zärtlicher, wie um
Verzeihung bittender Blick war auf mich gerichtet. Ich nahm seine Hand
und sagte:

»Vergib mir! Ich weiß selbst nicht, was ich sagte.«

»Ja, aber ich weiß, was du sagtest, und du hattest Recht.«

»Wieso denn?« fragte ich.

»Wir müssen wirklich nach Petersburg gehen,« antwortete er. »Hier haben
wir nichts mehr zu tun.«

»Wie du willst,« sagte ich.

Er umarmte und küßte mich.

»Verzeih mir,« sagte er. »Ich war im Unrecht.«

An diesem Abend spielte ich ihm lange vor, während er im Zimmer auf und
ab ging und etwas flüsterte. Er hatte die Gewohnheit, so zu flüstern;
ich fragte ihn oft, was er geflüstert habe, und er sagte es mir dann
immer nach kurzem Besinnen; meistens waren es Verse und zuweilen auch
irgendein Unsinn, aber selbst an diesem Unsinn konnte ich immer seine
Stimmung erkennen.

»Was flüsterst du heute?« fragte ich.

Er blieb stehen, dachte nach und antwortete mir lächelnd mit den zwei
Zeilen Lermontows:

    »... Doch der Verwegne lechzt nach Stürmen,
    Als wäre in den Stürmen Ruh!«

-- Nein, er ist mehr als ein Mensch, er weiß alles! -- dachte ich mir.
-- Wie sollte ich ihn nicht lieben! --

Ich stand auf, ergriff seinen Arm und begann mit ihm auf und ab zu
gehen, mir Mühe gebend, gleichen Schritt mit ihm zu halten.

»Ja?« fragte er und sah mich lächelnd an.

»Ja,« antwortete ich flüsternd; und eine eigentümliche, lustige
Stimmung ergriff uns beide, unsere Augen lachten, wir machten immer
größere Schritte und reckten uns immer höher auf den Zehen empor. Mit
dem gleichen Schritt gingen wir zu großer Entrüstung Grigorijs und zum
Erstaunen Mamas, die im Wohnzimmer Patience legte, durch alle Zimmer
ins Speisezimmer, blieben dort stehen, sahen einander an und brachen in
Lachen aus.

Vierzehn Tage später, vor den Feiertagen, waren wir schon in
Petersburg.


II

Unsere Reise nach Petersburg, die acht Tage in Moskau, das Wiedersehen
mit seinen und meinen Verwandten, die Einrichtung in der neuen Wohnung,
die Fahrt selbst, die neuen Städte und die neuen Gesichter -- all das
zog wie ein Traum an mir vorüber. Das alles war so abwechslungsreich,
neu und lustig, so warm und hell von seiner Gegenwart, von seiner
Liebe erleuchtet, daß unser stilles Leben auf dem Lande mir als etwas
Längstvergangenes und Nichtiges erschien. Zu meinem großen Erstaunen
kamen mir alle (und zwar nicht nur die Verwandten, sondern auch die
Fremden), statt mit dem Hochmut und der Kälte der großen Welt, die
ich erwartete, mit einer so unverfälschten Liebenswürdigkeit und
Freude entgegen, daß ich den Eindruck hatte, als hätten sie nur an
mich gedacht und nur mich erwartet, um selbst ihre Freude an mir zu
haben. Ebenso unerwartet für mich zeigte es sich, daß mein Mann in
den vornehmsten Kreisen, die mir als die besten erschienen, viele
Bekannte hatte, von denen er mir niemals erzählt hatte; und es war
mir oft so sonderbar und unangenehm, aus seinem Munde strenge Urteile
über manche dieser Menschen zu hören, die mir so gut zu sein schienen.
Ich konnte nicht begreifen, warum er sie so kühl behandelte und
vielen Bekanntschaften aus dem Wege ging, die mir so schmeichelhaft
erschienen. Ich glaubte, je mehr gute Menschen man kenne, um so besser
sei es, und alle Menschen seien doch so gut.

»Siehst du, wie wir uns einrichten müssen,« hatte er mir vor der
Abreise vom Lande gesagt. »Hier sind wir reiche Leute, aber dort
sind wir es lange nicht. Darum dürfen wir in der Stadt nur bis zur
Osterwoche bleiben und müssen die große Welt meiden, sonst könnten wir
Schwierigkeiten haben; auch deinetwegen möchte ich es nicht anders.«

»Wozu die große Welt?« fragte ich. »Wir wollen nur die Theater und
unsere Verwandten besuchen, ein paarmal in die Oper gehen, gute Musik
hören und schon vor der Osterwoche aufs Land zurückkehren.«

Kaum kamen wir aber nach Petersburg, als diese Pläne vergessen waren.
Ich befand mich plötzlich in einer so neuen, glücklichen Welt, war von
so viel Freuden umfangen und von solchen neuen Interessen in Anspruch
genommen, daß ich mich sofort, wenn auch unbewußt, von meiner ganzen
Vergangenheit und den in der Vergangenheit gefaßten Plänen lossagte. --
Bisher war alles nur ein Spiel, das Richtige hatte noch nicht begonnen;
das da ist aber das wahre Leben! Und was erwartet mich noch alles?!
-- dachte ich mir. Die Unruhe und die beginnende Langweile, die mich
auf dem Lande gequält hatten, waren plötzlich wie durch einen Zauber
gänzlich verschwunden. Meine Liebe zu meinem Mann war ruhiger geworden,
und hier kam mir niemals der Gedanke, ob er mich nicht weniger liebe
als früher. Ich durfte auch nicht an seiner Liebe zweifeln: er erriet
sofort jeden meiner Gedanken, teilte jedes meiner Gefühle und erfüllte
jeden meiner Wünsche. Seine Ruhe war hier verschwunden oder hatte bloß
aufgehört, mich zu reizen. Dabei fühlte ich, daß zu seiner früheren
Liebe sich auch noch ein Entzücken gesellte. Gar oft sagte er nach
einem Besuch, oder wenn wir eine neue Bekanntschaft gemacht oder bei
uns eine Abendgesellschaft gehabt hatten, wo ich vor Angst, irgendeinen
Mißgriff zu machen, zitternd die Pflichten der Hausfrau erfüllte: --
»Sehr gut, mein Kind! Ausgezeichnet! Mut! Wirklich ausgezeichnet!« Und
ich war dann sehr froh. Bald nach unserer Ankunft in Petersburg schrieb
er seiner Mutter einen Brief, und als ich einige Worte hinzuschreiben
sollte, wollte er mir nicht zeigen, was er geschrieben hatte;
infolgedessen bestand ich natürlich darauf und bekam das Geschriebene
zu lesen. »Sie werden Mascha gar nicht wiedererkennen,« schrieb er ihr,
»und auch ich selbst erkenne sie nicht wieder. Woher hat sie nur diese
nette, graziöse Sicherheit, diese ›~affabilité~‹, diese Fähigkeit, in
der Gesellschaft durch Geist zu glänzen, und diese Liebenswürdigkeit!
Und all das ist bei ihr so einfach, lieb und gutmütig. Alle sind von
ihr entzückt, und auch ich selbst kann sie gar nicht genug bewundern;
wenn es möglich wäre, müßte ich sie noch mehr lieb gewinnen.«

-- Ach so, also so eine bin ich! -- dachte ich mir. Es wurde mir so
wohl und so lustig zumute, und es kam mir sogar vor, als liebte ich
ihn noch mehr. Mein Erfolg bei allen unseren Bekannten war für mich
völlig unerwartet. Von allen Seiten hörte ich, daß ich hier einem Onkel
besonders gut gefallen, daß dort eine Tante sich in mich verliebt
hätte; der eine sagte mir, daß es in ganz Petersburg keine ähnliche
Frau gäbe, die andere versicherte mich, ich brauche nur zu wollen,
um die »exklusivste« Dame der Gesellschaft zu werden. Besonderen
Eindruck machte ich auf eine Kusine meines Mannes, die Fürstin D.,
eine nicht mehr junge Dame der großen Welt; diese hatte sich plötzlich
in mich verliebt und sagte mir so schmeichelhafte Dinge, daß es mir
schwindelte. Als diese Kusine mich zum erstenmal aufforderte, einen
Ball zu besuchen, und meinen Mann darum bat, wandte er sich an mich
mit einem kaum merklichen schlauen Lächeln und fragte, ob ich hingehen
möchte. Ich nickte bejahend und fühlte, wie ich errötete.

»Sie gesteht wie eine Verbrecherin, was sie möchte,« sagte er mit einem
gutmütigen Lächeln.

»Du hattest doch selbst gesagt, daß wir keine großen Gesellschaften
besuchen würden, auch magst du so was nicht,« antwortete ich lächelnd
und ihn flehend anblickend.

»Wenn du so große Lust hast gehen wir hin,« sagte er.

»Nein, wirklich, lieber nicht.«

»Hast du große Lust?« fragte er wieder.

Ich gab keine Antwort.

»Die große Welt ist noch kein Übel,« fuhr er fort, »aber die
unbefriedigten Gelüste, die sie in uns weckt, sind schlimm und häßlich.
Wir müssen aber unbedingt hin und werden es auch tun,« schloß er sehr
bestimmt.

»Wenn ich dir die Wahrheit sagen soll,« entgegnete ich, »so wünsche ich
in der ganzen Welt nichts so sehr, wie diesen Ball zu besuchen.«

Wir gingen auch hin, und der Genuß, den mir der Ball verschaffte,
übertraf alle meine Erwartungen. Auf dem Balle hatte ich noch mehr
als früher den Eindruck, ich sei der Mittelpunkt, um den sich alles
bewegte, als sei dieser große Saal nur meinetwegen erleuchtet, als
spiele die Musik nur für mich und als hätten sich alle diese Menschen
versammelt, nur um mich zu bewundern. Alle, vom Friseur und der Zofe
bis zu den Greisen, die durch den Saal gingen, schienen mir zu sagen
und gaben mir zu fühlen, daß sie mich liebten. Das allgemeine Urteil,
das sich über mich auf diesem Balle gebildet hatte und das ich von der
Kusine zu hören bekam, lautete, daß ich allen anderen Damen gar nicht
ähnlich sehe, daß an mir etwas Besonderes, Ländlich-Einfaches und
Reizendes sei. Dieser Erfolg schmeichelte mir so sehr, daß ich meinem
Mann ganz offenherzig sagte, wie gerne ich in diesem Jahre noch zwei
oder drei Bälle besuchen möchte; »um sie ordentlich satt zu bekommen,«
fügte ich nicht ganz aufrichtig hinzu.

Mein Mann willigte gerne ein und führte mich in der ersten Zeit mit
sichtlichem Vergnügen auf die Bälle, freute sich über meine Erfolge und
schien das, was er früher gesagt hatte, ganz vergessen zu haben oder es
zu verleugnen.

Mit der Zeit fing er an sich offenbar zu langweilen und das Leben, das
wir führten, als eine Last zu empfinden. Aber ich kümmerte mich nicht
viel darum; wenn ich zuweilen auch seinen aufmerksamen und ernsten,
fragend auf mich gerichteten Blick sah, verstand ich seine Bedeutung
nicht. Ich war von diesem Gefühl, das ich so plötzlich in allen Fremden
geweckt hatte und das ich für Liebe hielt, von dieser Luft des Luxus,
der Vergnügungen und der neuen Eindrücke, die ich hier zum erstenmal
atmete, so benebelt, sein mich erdrückender moralischer Einfluß war so
spurlos verschwunden, es war mir so angenehm, hier in dieser Welt nicht
nur auf der gleichen Stufe mit ihm, sondern sogar über ihm zu stehen
und ihn darum noch mehr und selbständiger zu lieben als früher, daß
ich unmöglich verstehen konnte, was er in diesem Leben in der großen
Welt Unangenehmes für mich erblickte. Ich empfand das mir neue Gefühl
des Stolzes und der Genugtuung, wenn bei meinem Erscheinen auf einem
Balle alle Blicke sich auf mich richteten, während er, als schämte
er sich, dieser Menge zu zeigen, daß er mich besitze, mich eiligst
verließ und sich in der schwarzen Schar der Fracks verlor. -- Wart'
einmal! -- sagte ich mir oft, mit den Augen am Ende des Saales seine
unauffällige Gestalt mit dem oft gelangweilten Gesicht suchend, --
wart' einmal! -- sagte ich mir, -- wenn wir wieder zu Hause sind, so
wirst du auch verstehen, für wen ich so schön und glänzend sein wollte
und wen ich von allen, die mich am heutigen Abend umgeben, liebe. --
Ich glaubte selbst aufrichtig daran, daß meine Erfolge mich nur darum
so freuten, weil ich sie ihm zum Opfer bringen konnte. Das Einzige,
was mir in dieser großen Welt gefährlich werden konnte, glaubte ich,
sei die Möglichkeit, mich in einen der Männer, die ich da traf, zu
vergaffen und in meinem Manne Eifersucht zu wecken; aber er vertraute
mir so sehr und schien so ruhig und gleichgültig, und alle diese jungen
Männer kamen mir im Vergleich zu ihm so unbedeutend vor, daß diese
Gefahr, die ich für die einzige hielt, mich gar nicht erschreckte. Aber
die Aufmerksamkeit mancher Menschen in der Gesellschaft gewährte mir
dennoch Vergnügen, schmeichelte meinem Ehrgeiz, brachte mich auf den
Gedanken, daß meine Liebe zu meinem Manne mir als Verdienst anzurechnen
sei und verlieh meinem Benehmen gegen ihn eine gewisse Überlegenheit
und sogar Nachlässigkeit.

»Ich habe gesehen, wie lebhaft du dich mit der N. N. unterhalten
hast,« sagte ich ihm einmal bei der Rückkehr von einem Ball, ihm mit
dem Finger drohend und eine der bekannten Damen der Petersburger
Gesellschaft nennend, mit der er an diesem Abend wirklich gesprochen
hatte. Ich sagte dies, um ihn etwas aufzurütteln, denn er war besonders
schweigsam und langweilig.

»Ach, wie kann man nur so sprechen? Und das sagst du, Mascha!« sprach
er durch die Zähne und das Gesicht wie bei einem körperlichen Schmerz
verziehend. »Das steht uns beiden nicht! Überlaß das den anderen; solch
ein verlogenes Verhältnis könnte unser wahres Verhältnis zueinander
trüben, und ich hoffe doch, daß dieses wahre Verhältnis wiederkehrt.«

Ich schämte mich und schwieg.

»Es kehrt doch wieder, Mascha? Wie glaubst du?« fragte er.

»Es hat sich doch gar nicht getrübt und wird sich nie trüben,«
entgegnete ich und glaubte in jenem Augenblick wirklich daran.

»Gott gebe es!« sagte er. »Sonst wäre es Zeit, aufs Land
zurückzukehren.«

Das war aber auch das einzige Mal, daß er so zu mir sprach; sonst
schien es mir immer, daß er sich ebenso wohl fühlte wie ich, mir war
aber so lustig und fröhlich zumute. -- Wenn er sich sogar manchmal
langweilt, -- tröstete ich mich, -- so habe ich mich doch seinetwegen
genug auf dem Lande gelangweilt; und wenn unser Verhältnis sich auch
etwas verändert hat, so wird es doch wiederkehren, sobald wir im
Sommer wieder allein mit Tatjana Ssemjonowna in unserem Hause von
Nikolskoje sind. --

So verging für mich unmerklich dieser Winter, und wir blieben sogar,
entgegen unserer Absicht, auch die Osterwoche in Petersburg. In
der Woche nach Ostern, als wir schon reisefertig waren, als alles
eingepackt war und mein Mann, der die Geschenke, Blumen und andere
Gegenstände für unser Landleben einkaufte, besonders zärtlich und
fröhlich gestimmt war, kam zu uns unerwartet die Kusine, um uns
zu überreden, bis zum nächsten Sonnabend zu bleiben und noch eine
Soiree bei der Gräfin R. mitzumachen. Sie sagte, die Gräfin R. wolle
mich unbedingt bei sich sehen und der Prinz M., der sich damals in
Petersburg aufhielt, hätte noch auf dem letzten Ball den Wunsch
geäußert, mich kennenzulernen; er würde nur deswegen zu der Soiree
kommen und hätte gesagt, ich sei die hübscheste Frau in ganz Rußland.
Die ganze Stadt werde dabei sein, mit einem Worte, es wäre ganz
unerhört, wenn ich nicht käme.

Mein Mann stand am anderen Ende des Wohnzimmers und sprach mit jemand.

»Nun, werden Sie kommen, Marie?« fragte die Kusine.

»Wir wollen übermorgen aufs Land,« antwortete ich unentschlossen und
blickte meinen Mann an. Unsere Augen begegneten sich, und er wandte
sich schnell weg.

»Ich will ihn überreden, zu bleiben,« sagte die Kusine, »und am
Sonnabend gehen wir zur Gräfin, um allen die Köpfe zu verdrehen. Ja?«

»Das würde alle unsere Pläne über den Haufen werfen, und wir haben
auch schon gepackt,« antwortete ich, nahe daran, nachzugeben.

»Das beste wäre, sie ginge heute abend selbst zum Prinzen, um ihm ihre
Aufwartung zu machen,« sagte mein Mann vom anderen Ende des Zimmers in
einem so gereizten Ton, wie ich ihn bei ihm noch nie gehört hatte.

»Ach, er ist eifersüchtig! Das hätte ich doch nicht erwartet!« rief
die Kusine lachend. »Ich bitte sie ja nicht des Prinzen wegen, Ssergej
Michailytsch, sondern weil wir es alle wünschen. Wie flehentlich hat
mich doch die Gräfin R. darum gebeten!«

»Das hängt von ihr ab,« entgegnete mein Mann kühl und verließ das
Zimmer.

Ich sah, daß er erregter war als sonst; dies quälte mich, und ich
versprach der Kusine nichts. Als sie fort war, ging ich sofort zu
meinem Mann. Er ging nachdenklich auf und ab und sah und hörte nicht,
wie ich auf den Zehen zu ihm ins Zimmer trat.

-- Er denkt schon an sein liebes Haus zu Nikolskoje, -- sagte ich mir,
ihn anblickend, -- an den Morgenkaffee im hellen Wohnzimmer, an seine
Felder und Bauern, an die Abende im Diwanzimmer und an unsere geheimen
nächtlichen Mahlzeiten. Nein! -- sagte ich mir sehr entschieden, --
alle Bälle auf der Welt und die Schmeicheleien aller Prinzen gebe ich
gerne für seine freudige Verlegenheit und seine stillen Liebkosungen
hin! -- Ich wollte ihm schon sagen, daß ich zu der Soiree nicht gehen
würde, als er sich plötzlich umwandte, mich bemerkte und der sanfte
und nachdenkliche Ausdruck aus seinem Gesicht verschwand. Sein Blick
drückte wieder Klugheit, Weisheit und eine gönnerhafte Ruhe aus. Er
wollte nicht, daß ich ihn als einen gewöhnlichen Menschen sähe: er
mußte unbedingt als Halbgott auf einem Piedestal vor mir stehen.

»Was hast du, liebes Kind?« fragte er, sich gleichgültig und ruhig an
mich wendend.

Ich antwortete nicht. Mich verdroß es, daß er sich vor mir verstellte
und nicht so bleiben wollte, wie ich ihn liebte.

»Willst du also am Sonnabend zu der Soiree?« fragte er.

»Ich wollte es,« antwortete ich, »aber du hast keine Lust. Auch ist ja
schon alles gepackt,« fügte ich hinzu.

Noch nie hatte er mich so kalt angesehen, noch niemals so kalt mit mir
gesprochen.

»Ich reise nicht vor Dienstag ab und werde die Sachen wieder auspacken
lassen,« sagte er. »Darum kannst du auch die Soiree mitmachen, wenn du
Lust hast. Geh bitte hin. Ich reise nicht ab.«

Wie immer, wenn er aufgeregt war, ging er mit ungleichen Schritten auf
und ab und sah mich nicht an.

»Ich kann dich unmöglich verstehen,« sagte ich, ohne mich ihm zu
nähern und ihn mit den Augen verfolgend. »Du sagst, daß du immer so
ruhig seist (er hatte das niemals gesagt), warum sprichst du dann so
merkwürdig mit mir? Ich bin bereit, dir dieses Vergnügen zu opfern, du
aber verlangst von mir mit einer Ironie, mit der du zu mir noch niemals
gesprochen hast, daß ich zu der Soiree gehe.«

»Nun, du bringst _ein Opfer_ (er betonte dieses Wort ganz besonders),
auch ich bringe ein Opfer; was kann man sich besseres wünschen? Es
ist ein Wettstreit der Großmut. Kann man sich denn ein schöneres
Familienglück denken?«

Ich hörte von ihm zum erstenmal so erbitterte und höhnische Worte.
Sein Hohn beschämte mich nicht, sondern verletzte mich, und seine
Erbitterung erschreckte mich nicht, sondern teilte sich auch mir mit.
Kamen diese Worte wirklich von ihm, der sonst in unserem Verhältnis
jede Phrase mied und immer so aufrichtig und einfach war? Womit hatte
ich das verdient? Damit, daß ich ihm wirklich mein Vergnügen opfern
wollte, in dem ich nichts Schlimmes erblicken konnte, und daß ich ihn
erst vor einer Minute so gut verstanden und geliebt hatte! Wir hatten
die Rollen getauscht: er vermied die einfachen und direkten Worte,
während ich sie suchte.

»Du hast dich sehr verändert,« sagte ich seufzend. »Was habe ich
gegen dich verbrochen? Es ist nicht der Abend bei der Gräfin, es
ist etwas anderes, Altes, was du gegen mich im Herzen hast. Warum
diese Unaufrichtigkeit? Hast du sie denn bisher nicht selbst immer
gefürchtet? Sag mir ganz offen, was du gegen mich hast!« -- Was wird
er mir wohl sagen? -- dachte ich mir, von der angenehmen Gewißheit
erfüllt, daß ich mir im Laufe des ganzen Winters nichts zuschulden
kommen ließ, was er mir vorzuwerfen hätte.

Ich trat in die Mitte des Zimmers, so daß er ganz nahe an mir
vorübergehen mußte und sah ihn an. -- Er wird auf mich zugehen, mich
umarmen und damit wird alles enden, -- ging es mir durch den Kopf,
und es tat mir sogar leid, daß ich nicht dazu kommen würde, ihm zu
beweisen, daß er im Unrecht sei. Aber er blieb am Ende des Zimmers
stehen und sah mich an.

»Verstehst du noch immer nichts?« fragte er.

»Nein.«

»Dann will ich es dir sagen. Es ist mir ekelhaft, es ist mir zum
erstenmal ekelhaft, was ich empfinde und was ich empfinden muß ...« Er
blieb stehen, sichtlich vom rauhen Ton seiner eigenen Stimme erschreckt.

»Was ist es denn?« fragte ich mit Tränen der Entrüstung in den Augen.

»Es ist ekelhaft, daß der Prinz dich hübsch findet, und daß du ihm
darum nachlaufen willst, darüber deinen Mann, dich selbst und die
weibliche Würde vergißt und nicht begreifen willst, was dein Mann
an deiner Statt empfinden muß, wenn dir selbst das Gefühl der Würde
abgeht; im Gegenteil, du kommst zu deinem Mann und sagst ihm, daß du
ein _Opfer_ bringst, d. h.: ›es ist für mich ein großes Glück, mich
seiner Hoheit zu zeigen, aber ich bringe dieses Glück zum _Opfer_.‹«

Je länger er sprach, um so mehr geriet er in Feuer, und seine Stimme
klang giftig, grausam und roh. Niemals hatte ich ihn so gesehen und
von ihm so etwas auch nie erwartet; das ganze Blut schoß mir ins
Herz, ich fürchtete mich, aber zugleich erregte mich das Gefühl einer
unverdienten Beschämung und einer verletzten Eigenliebe, und ich fühlte
den Wunsch, mich an ihm zu rächen.

»Ich habe das schon längst erwartet,« sagte ich, »sprich nur, sprich.«

»Ich weiß nicht, was du erwartet hast,« fuhr er fort, »aber ich konnte
das Schlimmste erwarten, da ich dich täglich in diesem Schmutz, im
Müßiggange und Luxus dieser dummen Gesellschaft sah; und ich habe es
auch erlebt ... Ich hab' es erlebt, daß ich heute Scham und Schmerz
empfinde wie niemals; es war mir schmerzvoll genug, als deine Freundin
mit ihren schmutzigen Händen in mein Herz griff und von meiner
Eifersucht zu sprechen begann; und von was für einer Eifersucht? -- auf
einen Menschen, den keiner von uns, weder du noch ich, kennt. Du aber
willst mich wie zu Trotz nicht verstehen, du willst mir etwas zum Opfer
bringen, -- doch was? ... Ich muß mich für dich, für deine Erniedrigung
schämen! ... Ein Opfer!« wiederholte er.

-- Ach, so ist also die Gewalt des Mannes, -- dachte ich mir: --
Eine Frau zu beleidigen und zu demütigen, die nichts verbrochen hat.
Das sind also die Rechte des Mannes, aber ich werde mich ihnen nicht
fügen. --

»Nein, ich will dir nichts zum Opfer bringen,« sagte ich und fühlte,
wie meine Nüstern sich unnatürlich erweiterten und wie mir das Blut aus
dem Gesicht strömte. »Ich werde am Sonnabend zu der Soiree gehen, werde
unbedingt hingehen.«

»Gott gebe dir viel Vergnügen, aber zwischen uns ist alles aus!« rief
er in einem Anfalle von Raserei, die er nicht mehr beherrschen konnte.
»Aber du wirst mich nicht länger quälen. Ich war dumm, daß ich ...«
begann er wieder, aber seine Lippen zitterten, und er nahm sich mit
sichtlicher Anstrengung zusammen, um den angefangenen Satz nicht zu
Ende zu sprechen.

Ich fürchtete und haßte ihn in diesem Augenblick. Ich wollte ihm vieles
sagen und mich für alle die Beleidigungen rächen; hätte ich aber nur
den Mund aufgemacht, so wäre ich in Tränen ausgebrochen und hätte mich
vor ihm erniedrigt. Ich verließ schweigend das Zimmer. Als ich aber
seine Schritte nicht mehr hörte, entsetzte ich mich vor dem, was wir
getan hatten. Ich entsetzte mich vor dem Gedanken, daß dieses Band, das
mein Glück ausgemacht hatte, für immer zerreißen würde, und ich wollte
schon zu ihm zurückkehren. -- Hat er sich aber auch genügend beruhigt,
um mich zu verstehen, wenn ich ihm schweigend die Hand reiche und ihn
anblicke? -- fragte ich mich. -- Wird er meine Großmut begreifen? Wie,
wenn er meinen Schmerz für Heuchelei hält? Oder wenn er meine Reue mit
dem Bewußtsein seines Rechts und mit stolzer Ruhe hinnimmt und mir
verzeiht? Warum, warum hat er, den ich so sehr liebte, mich so grausam
beleidigt? --

Ich ging nicht zu ihm, sondern in mein Zimmer, wo ich lange allein saß
und weinte, mich mit Grauen jedes Wortes, das zwischen uns gefallen
war, erinnernd, diese Worte mit anderen vertauschend und andere, gute
Worte hinzufügend, dann wieder mit Entsetzen und einem Gefühl der
Kränkung des Vorgefallenen gedenkend. Als ich am Abend am Teetisch
erschien und in Gegenwart von S., der bei uns zu Besuch war, meinen
Mann traf, fühlte ich, daß an diesem Tage sich ein ganzer Abgrund
zwischen uns aufgetan hatte. S. fragte mich, wann wir abreisten. Ich
kam nicht dazu, ihm zu antworten.

»Am Dienstag,« antwortete mein Mann. »Wir wollen noch die Soiree bei
der Gräfin R. mitmachen. Du gehst doch hin?« wandte er sich an mich.

Ich erschrak über den einfachen Ton seiner Stimme und sah ihn ängstlich
an. Seine Augen waren gerade auf mich gerichtet, der Blick war boshaft
und spöttisch, seine Stimme klang gemessen und kalt.

»Ja,« antwortete ich.

Am Abend, als wir allein geblieben waren, ging er auf mich zu und
reichte mir die Hand.

»Vergiß bitte, was ich dir gesagt habe,« sagte er.

Ich ergriff seine Hand, ein zitterndes Lächeln erschien auf meinem
Gesicht, die Tränen wollten mir schon aus den Augen stürzen, aber er
zog seine Hand zurück und setzte sich in einen Sessel ziemlich weit
von mir, als fürchtete er eine empfindsame Szene. -- Glaubt er denn
wirklich, daß er im Rechte sei? -- dachte ich mir, und die schon
fertige Erklärung und die Bitte, nicht zur Soiree zu gehen, erstarben
mir auf den Lippen.

»Wir müssen Mama schreiben, daß wir die Abreise aufgeschoben haben,«
sagte er, »sonst wird sie unruhig werden.«

»Wann gedenkst du denn zu reisen?« fragte ich.

»Am Dienstag nach der Soiree,« antwortete er.

»Ich hoffe, daß es nicht meinetwegen geschieht,« sagte ich, ihm in die
Augen blickend, aber seine Augen sahen mich nur an und sagten nichts,
als wären sie verschleiert. Sein Gesicht kam mir plötzlich alt und
unangenehm vor.

Wir gingen zu der Soiree, und zwischen uns stellte sich äußerlich
wieder ein gutes und freundschaftliches Verhältnis ein; aber dieses
Verhältnis war ganz anders als das frühere.

Auf der Soiree saß ich unter den Damen, als der Prinz auf mich zuging,
so daß ich aufstehen mußte, um mit ihm zu sprechen. Als ich aufstand,
suchte ich unwillkürlich mit den Augen meinen Mann und sah, daß
er mich vom anderen Ende des Saales beobachtete und sich plötzlich
wegwandte. Ich empfand plötzlich solchen Schmerz und solche Scham,
daß ich unter den Augen des Prinzen furchtbar verlegen wurde und über
das Gesicht bis zum Hals hinunter errötete. Ich mußte aber stehen
und anhören, was er sagte, indem er mich von oben herab betrachtete.
Unser Gespräch war nur kurz, es gab neben mir keinen Platz, wo er sich
hinsetzen konnte, und er merkte wohl auch, daß ich mich unbehaglich
fühlte. Wir sprachen vom letzten Ball, wo ich den Sommer zuzubringen
pflege usw. Als er mich verließ, äußerte er den Wunsch, auch meinen
Mann kennenzulernen, und ich sah, wie sie sich am anderen Ende des
Saales trafen und ins Gespräch kamen. Der Prinz sagte wohl etwas von
mir, da er sich mitten im Gespräch lächelnd nach mir umwandte.

Mein Mann wurde plötzlich rot, machte eine tiefe Verbeugung und ließ
den Prinzen stehen. Auch ich errötete: ich mußte mich schämen, als ich
mir dachte, welche Vorstellung der Prinz wohl von mir und besonders
von meinem Manne gewonnen haben müßte. Mir kam vor, als hätten alle
bemerkt, wie verlegen ich war, als ich mit dem Prinzen sprach, als sei
allen auch das sonderbare Benehmen meines Mannes aufgefallen; Gott
weiß, wie sie es sich wohl erklären mögen; wissen sie vielleicht etwas
vom Gespräch, das ich mit ihm gehabt habe? Die Kusine brachte mich nach
Hause, und unterwegs kamen wir auch auf meinen Mann zu sprechen. Ich
konnte mich nicht beherrschen und erzählte ihr alles, was zwischen uns
anläßlich dieser unglückseligen Soiree vorgefallen war. Sie beruhigte
mich und sagte, daß es ein ganz bedeutungsloses, durchaus gewöhnliches
Zerwürfnis sei, das keinerlei Folgen haben werde; sie äußerte sich auch
von ihrem Standpunkte aus über den Charakter meines Mannes und meinte,
daß er verschlossen und stolz geworden sei; ich stimmte ihr bei, und es
war mir, als finge ich jetzt an, ihn ruhiger und besser zu beurteilen.

Aber später, als ich wieder allein mit meinem Manne war, lastete dieses
Urteil über ihn wie ein Verbrechen auf meinem Gewissen, und ich fühlte,
daß der uns trennende Abgrund noch größer geworden war.


III

Von diesem Tage an trat in unserem Leben und in unserem Verhältnis
eine tiefe Veränderung ein. Wir fühlten uns, wenn wir allein waren,
nicht mehr so wohl wie einst. Es gab Fragen, die wir umgingen, und
in Gegenwart eines Dritten war es uns viel leichter zu sprechen als
unter vier Augen. Wenn bloß die Rede auf das Landleben oder auf einen
Ball kam, fing es uns vor den Augen zu flimmern an, und wir schämten
uns, uns anzusehen. Als fühlten wir beide, wo der Abgrund lag, der uns
trennte, und als mieden wir, ihm nahe zu kommen. Ich war überzeugt, daß
er stolz und aufbrausend sei, und daß ich ihn vorsichtiger behandeln
müsse, um nicht seine schwachen Seiten zu verletzen. Er aber war
überzeugt, daß ich ohne die große Welt nicht leben könne, daß das Leben
auf dem Lande mir nicht passe, und daß er sich meinem unglücklichen
Geschmack fügen müsse. Wir vermieden beide jedes direkte Gespräch über
diese Gegenstände und beurteilten darum einander falsch. Wir hatten
schon lange aufgehört, einander für die vollkommensten Menschen auf
Erden zu halten; wir stellten vielmehr Vergleiche mit anderen an und
übten aneinander heimlich Kritik. Vor der Abreise erkrankte ich, und
wir zogen statt aufs Land in eine Sommerfrische in der Nähe der Stadt,
von wo mein Mann allein zu seiner Mutter reiste. Als er abreiste,
war ich schon so weit hergestellt, daß ich mit ihm hätte mitkommen
können, aber er bat mich, noch zu bleiben, als fürchtete er für
meine Gesundheit. Ich fühlte, daß ihm nicht meine Gesundheit Sorgen
machte, sondern der Gedanke, daß wir uns auf dem Lande zusammen nicht
wohl fühlen würden; ich widersprach ihm nicht viel und blieb. Ohne
ihn kam mir alles so leer und öde vor, als er aber wiederkam, merkte
ich, daß er meinem Leben nicht mehr das zu verleihen vermochte, was
er ihm früher verliehen hatte. Unsere früheren Beziehungen, wo jeder
Gedanke, jede Empfindung, die ich ihm nicht mitteilte, auf mir wie
ein Verbrechen lasteten, wo jede Handlung und jedes Wort von ihm mir
als der Gipfel der Vollkommenheit erschienen, wo wir immer vor Freude
lachen wollten, wenn wir uns bloß ansahen, -- dieses Verhältnis war
unmerklich zu einem anderen geworden und verschwunden, ehe wir uns
dessen versahen. Ein jeder von uns hatte jetzt seine eigenen Interessen
und Sorgen, die er gar nicht zu gemeinsamen zu machen suchte. Es
bedrückte uns sogar nicht mehr, daß jeder von uns seine eigene, für
den anderen fremde Welt hatte. Wir hatten uns an diesen Gedanken
gewöhnt, und nach einem Jahre hörte es schon sogar in unseren Augen
zu flimmern auf, wenn wir einander ansahen. Seine früheren Anfälle
plötzlicher Lustigkeit waren dahin, ebenso sein kindliches Wesen,
seine Allverzeihung und Gleichgültigkeit gegen alles, die mich früher
so empört hatten; vorbei war es mit seinem tiefen Blick, der mich
früher so verwirrte und erfreute, vorbei mit den gemeinsamen Gebeten
und Ekstasen; wir sahen uns sogar recht selten, denn er war immer auf
Reisen, und es tat ihm weder leid, noch ängstigte er sich, mich allein
zu lassen; ich aber war immer in der großen Welt, wo ich ihn nicht
brauchte.

Szenen und Zerwürfnisse kamen zwischen uns nicht mehr vor; ich bemühte
mich, ihm gefällig zu sein, er erfüllte alle meine Wünsche, und es sah
so aus, als ob wir einander noch liebten.

Wenn wir allein blieben, was nur selten vorkam, empfand ich in seiner
Gegenwart weder Freude, noch Aufregung oder Verwirrung, ganz als wäre
ich allein mit mir selbst. Ich wußte sehr gut, daß er mein Mann war,
nicht irgendein neuer, unbekannter Fremder, sondern ein guter Mensch,
mein Mann, den ich so gut kannte, wie mich selbst. Ich war überzeugt,
daß ich alles wisse, was er tun und was er sagen, und wie er dies oder
jenes ansehen würde, und wenn er etwas anders tat oder ansah, als ich
erwartete, so glaubte ich, _er_ habe sich geirrt. Ich erwartete von
ihm nichts. Mit einem Worte, er war mein Mann und sonst nichts. Mir
schien, als müsse es so sein, als gäbe es kein anderes Verhältnis, als
hätte es unter uns sogar nie ein anderes Verhältnis gegeben. Wenn er
verreiste, fühlte ich mich, besonders in der ersten Zeit, einsam; in
seiner Abwesenheit empfand ich stärker, welche Stütze ich in ihm hatte;
wenn er zurückkehrte, fiel ich ihm vor Freude um den Hals, obwohl ich
schon nach zwei Stunden diese Freude vergaß und nicht mehr wußte,
über was mit ihm zu sprechen. Nur in den Augenblicken der stillen,
gemäßigten Zärtlichkeit, die es zwischen uns manchmal gab, kam es mir
vor, als sei es nicht das Richtige, als hätte ich im Herzen ein Weh,
und ich glaubte auch in seinen Augen dasselbe zu lesen. Ich sah vor mir
jene Grenze der Zärtlichkeit, die zu überschreiten er nicht den Willen
und ich nicht die Kraft hatte. Manchmal stimmte mich das traurig, aber
ich hatte keine Zeit, mich irgendwelchen Betrachtungen hinzugeben,
und ich bemühte mich, diese Trauer über die Änderung, die ich dunkel
empfand, in den Zerstreuungen zu vergessen, die mir immer zur Verfügung
standen. Das Leben in der großen Welt, das mich anfangs mit seinem
Glanze benebelt und meinem Ehrgeiz geschmeichelt hatte, bemächtigte
sich bald aller meiner Neigungen, wurde mir zur Gewohnheit, schlug mich
in Fesseln und nahm in meiner Seele den ganzen Platz ein, der für die
Gefühle bereitet war. Ich blieb jetzt niemals allein mit mir selbst
und scheute es, über meine Lage zu grübeln. Die ganze Zeit vom frühen
Morgen bis spät in die Nacht hinein war besetzt und gehörte nicht mir,
selbst wenn ich nicht ausging. Das war mir jetzt weder lustig noch
langweilig, sondern ich hatte das Gefühl, als müsse es immer so und
nicht anders sein.

So vergingen drei Jahre, und während dieser Jahre blieben unsere
Beziehungen dieselben; sie waren gleichsam stehengeblieben, erstarrt
und konnten weder schlechter noch besser werden. Im Laufe dieser
drei Jahre gab es zwei wichtige Ereignisse in unserem Familienleben,
doch keines von den beiden vermochte mein Leben irgendwie zu ändern.
Es waren dies die Geburt meines ersten Kindes und der Tod Tatjana
Ssemjonownas. Das Muttergefühl hatte mich in der ersten Zeit so mächtig
ergriffen und ein so unerwartetes Entzücken in mir geweckt, daß ich
schon glaubte, nun beginne für mich ein neues Leben; aber nach zwei
Monaten, als ich wieder in den Strudel der großen Welt kam, fing
dieses Gefühl an, beständig abzunehmen und wurde schließlich zu einer
Gewohnheit und kalten Pflichterfüllung. Mein Mann dagegen war nach der
Geburt unseres ersten Sohnes wieder der frühere sanfte und ruhige
Stubenhocker geworden und hatte seine ganze Zärtlichkeit und Lustigkeit
auf das Kind übertragen. Oft, wenn ich im Ballkleide ins Kinderzimmer
kam, um es zum Abschied zu bekreuzigen, und dort meinen Mann traf,
fühlte ich seinen vorwurfsvollen und durchdringenden Blick auf mir
ruhen, und ich mußte mich schämen. Ich erschrak plötzlich über meine
Gleichgültigkeit gegen das Kind und fragte mich, ob ich denn schlechter
sei als die anderen Frauen. -- Was soll ich machen? -- dachte ich mir:
-- Ich liebe meinen Sohn, aber ich kann doch nicht tagelang bei ihm
sitzen, das ist mir langweilig; heucheln werde ich aber um nichts in
der Welt. -- Der Tod seiner Mutter war für ihn ein harter Schlag; es
war ihm schwer, wie er sagte, nach ihrem Tode in Nikolskoje zu wohnen;
obwohl ich sie auch betrauerte und meinem Mann mitfühlte, hätte ich
doch das Landleben vorgezogen, das mir angenehmer und ruhiger erschien.
Diese ganzen drei Jahre hatten wir zum größten Teil in der Stadt
verlebt, aufs Land kam ich nur einmal für zwei Monate, und im dritten
Jahre reisten wir ins Ausland.

Wir verbrachten den Sommer in einem Badeorte.

Ich war damals erst einundzwanzig Jahre alt; unsere
Vermögensverhältnisse waren, wie ich glaubte, im glänzendsten Zustande;
vom Familienleben verlangte ich nicht mehr, als es mir gab; alle,
die ich kannte, schienen mich zu lieben; mein Gesundheitszustand war
gut; meine Toiletten waren die schönsten im ganzen Badeorte; ich
wußte, daß ich schön war; das Wetter war herrlich; eine eigentümliche
Atmosphäre von Schönheit und Eleganz umgab mich, und es war mir sehr
lustig zumute. Aber ich war doch nicht so lustig, wie ich es in
Nikolskoje gewesen, als ich fühlte, daß ich in mir selbst glücklich
sei, glücklich, weil ich dieses Glück verdient habe, daß mein Glück
wohl groß sei, es aber irgendwo auch noch ein größeres Glück geben
müsse, und daß ich immer mehr und mehr von diesem Glück wolle. Damals
war es ganz anders gewesen; aber auch in diesem Sommer fühlte ich mich
wohl. Ich wünschte nichts, ich hoffte auf nichts, ich befürchtete
nichts, mein Leben erschien mir ganz ausgefüllt, und mein Gewissen
war ruhig. Unter allen jungen Männern jener Saison gab es nicht
einen einzigen, den ich irgendwie vor den anderen bevorzugte, --
nicht mal vor dem alten Fürsten K., unserem Gesandten, der mir den
Hof machte. Der eine war jung, der andere alt, der eine ein blonder
Engländer, der andere ein Franzose mit einem Spitzbart; sie erschienen
mir alle gleich, doch alle waren mir unentbehrlich. Es waren lauter
gleichgültige Menschen, die die freudige Lebensatmosphäre bildeten,
die mich umgab. Nur einer unter ihnen, der italienische Marchese D.,
hatte durch die kühne Art, sein Entzücken über mich zu äußern, mehr
als die anderen meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er ließ keine
Gelegenheit vorübergehen, um mit mir zusammen zu sein, zu tanzen,
auszureiten, mich im Kasino usw. zu treffen und mir zu sagen, daß ich
schön sei. Einigemal sah ich ihn durchs Fenster in der Nähe unseres
Hauses stehen, und oft hatte der unangenehme durchdringende Blick
seiner glänzenden Augen mich erröten gemacht und genötigt, mich
umzuwenden. Er war jung, hübsch, elegant und hatte, vor allen Dingen,
in seinem Lächeln und im Ausdruck seiner Stirne eine Ähnlichkeit mit
meinem Manne, obwohl er viel hübscher war als dieser. Die Ähnlichkeit
frappierte mich, obwohl er im allgemeinen, in den Augen, im Blick, im
langen Kinn, statt des reizenden Ausdruckes der Güte und der idealen
Ruhe meines Mannes, etwas Rohes und Tierisches hatte. Ich glaubte
damals, daß er mich leidenschaftlich liebe und dachte daran mit stolzem
Mitleid. Manchmal kam mir der Wunsch, ihn zu beruhigen und auf den
Ton einer halbfreundschaftlichen stillen Vertrautheit zu stimmen, er
wies aber alle solche Versuche schroff zurück und fuhr fort, mich auf
die unangenehmste Weise mit seiner noch unausgesprochenen, aber jeden
Augenblick zur Entladung kommen wollenden Leidenschaft in Verlegenheit
zu bringen. Obwohl ich es mir auch nicht eingestand, fürchtete ich doch
diesen Menschen und dachte oft unwillkürlich an ihn. Mein Mann kannte
ihn und begegnete ihm noch kühler und hochmütiger als unseren anderen
Bekannten, für die er bloß der Mann seiner Frau war. Gegen Ende der
Saison wurde ich krank und hütete vierzehn Tage lang das Zimmer. Als
ich zum erstenmal nach meiner Krankheit abends zur Kurmusik kam, erfuhr
ich, daß währenddessen die längst erwartete und wegen ihrer Schönheit
bekannte Lady S. angekommen sei. Um mich bildete sich ein Kreis,
man empfing mich mit großer Freude, aber ein noch schönerer Kreis
hatte sich um die neuangekommene Salonlöwin gebildet. Alle um mich
herum sprachen nur von ihrer Schönheit. Man zeigte sie mir; sie war
tatsächlich schön, aber ihr selbstbewußter Ausdruck war mir unangenehm,
und ich sprach es auch aus. An diesem Tage langweilte mich alles, was
mir früher lustig vorkam. Am nächsten Tage veranstaltete Lady S. einen
Ausflug zur Burg, an dem ich mich nicht beteiligte. Bei mir blieb fast
niemand, und alles hatte sich in meinen Augen verändert. Alle kamen mir
auf einmal so dumm und langweilig vor, ich weinte beinahe, ich wollte
meine Kur so schnell als möglich beenden und nach Rußland zurückkehren.
In meinem Herzen regte sich irgendein häßliches Gefühl, aber ich wollte
es mir nicht eingestehen. Unter dem Vorwande, daß ich zu schwach sei,
hörte ich auf, mich in der großen Gesellschaft zu zeigen und kam nur
manchmal des Morgens ganz allein zum Brunnen oder machte mit meiner
russischen Bekannten L. M. Ausflüge in die Umgegend. Mein Mann war
während dieser Zeit abwesend: er war für einige Tage nach Heidelberg
gefahren, um dort das Ende meiner Kur abzuwarten und dann zusammen mit
mir nach Rußland zurückzukehren, und besuchte mich nur ab und zu.

Eines Tages hatte Lady S. die ganze Gesellschaft zu einer Jagd
mitgenommen, während ich mit L. M. am Nachmittag zur Burg hinausfuhr.
Als unsere Equipage im Schritt die vielgewundene Chaussee zwischen
den hundertjährigen Kastanien hinauffuhr, durch die man die von den
Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtete liebliche Umgebung von
Baden-Baden sehen konnte, kam es zwischen uns zu einem so ernsten
Gespräch, wie wir es noch nie geführt hatten. L. M., die ich schon seit
langem kannte, erschien mir zum erstenmal als eine kluge und gute Frau,
mit der man über alles sprechen konnte und deren Freundschaft angenehm
war. Wir sprachen von unseren Familien und Kindern, von der Leere des
hiesigen Lebens, wir sehnten uns nach Rußland und dem Leben auf dem
Gute zurück, und es wurde uns plötzlich so schwermütig und wohl ums
Herz. Wir betraten die Burg unter dem Einflusse des gleichen ernsten
Gefühls. In ihren Mauern war es schattig und kühl, oben auf den Ruinen
spielte die Sonne und ließen sich Schritte und Stimmen vernehmen. Durch
die Türe zeigte sich uns wie in einem Rahmen das reizende, aber für
uns Russen so kalte Bild der Landschaft von Baden-Baden. Wir setzten
uns hin, um auszuruhen, und blickten schweigend auf die untergehende
Sonne. Die Stimmen erklangen deutlicher, und es war mir, als hörte ich
meinen Namen. Ich lauschte und hörte unwillkürlich jedes Wort. Die
Stimmen waren mir bekannt: es waren der Marchese D. und sein Freund,
ein Franzose, den ich ebenfalls kannte. Sie sprachen von mir und
von der Lady S. Der Franzose verglich mich mit ihr und kritisierte
meine und ihre Schönheit. Er sagte zwar nichts Beleidigendes, aber
mir strömte das ganze Blut zum Herzen, als ich seine Worte hörte. Er
erklärte sehr ausführlich, was an mir und was an Lady S. schön sei. Ich
hätte schon ein Kind, aber Lady S. sei erst neunzehn Jahre alt; mein
Haar sei schöner, dafür habe Lady S. eine schlankere Taille; die Lady
sei eine große Dame, »während Ihre Passion,« sagte er, »nur eine von
den kleinen russischen Fürstinnen ist, die in der letzten Zeit so oft
hier erscheinen.« Er schloß damit, daß ich sehr gut daran tue, mich mit
der Lady S. nicht zu messen, und daß ich nun in Baden-Baden endgültig
erledigt sei.

»Sie tut mir leid.«

»Wenn es ihr nur nicht einfällt, sich mit Ihnen zu trösten,« fügte er
mit einem lustigen und harten Lachen hinzu.

»Wenn sie verreist, folge ich ihr,« sagte roh die andere Stimme mit
italienischem Akzent.

»Der glückliche Sterbliche! Er kann noch lieben!« lachte der Franzose.

»Lieben!« antwortete die andere Stimme und fuhr nach einigem Schweigen
fort: »Ich kann nicht anders, ohne Liebe gibt es kein Leben. Aus seinem
Leben einen Roman machen, ist das einzig Schöne. Mein Roman bleibt aber
niemals in der Mitte stecken, und ich werde auch diesen zu Ende führen.«

»~Bonne chance, mon ami~,« sagte der Franzose.

Das Weitere hörten wir nicht, denn sie waren um eine Ecke gebogen, und
ihre Stimmen erklangen von der anderen Seite. Sie gingen die Treppe
hinunter, kamen nach einigen Minuten aus einer Seitentür und waren
sehr erstaunt, uns hier zu treffen. Ich errötete, als der Marchese D.
sich mir näherte, und erschrak, als er beim Verlassen der Burg mir
den Arm bot. Ich konnte nicht ablehnen, und so begaben wir uns hinter
L. M., die mit seinem Freunde vorausging, zu unserem Wagen. Die Worte
des Franzosen hatten mich beleidigt, obwohl er nur das, was ich selbst
fühlte, ausgesprochen hatte; aber die Worte des Marchese hatten mich
durch ihre Rohheit in Erstaunen gesetzt und empört. Mich peinigte der
Gedanke, daß er, obwohl ich seine Worte gehört hatte, keine Scheu vor
mir empfand. Es war mir ekelhaft, ihn so nahe neben mir zu fühlen, und
ich ging, ohne ihn anzusehen und ohne auf seine Worte zu antworten,
schnell hinter L. M. und dem Franzosen her und bemühte mich, meinen
Arm so zu halten, daß ich seine Worte nicht hören konnte. Der Marchese
sagte etwas über die schöne Aussicht, über das unerwartete Glück, mich
hier getroffen zu haben, und noch etwas, aber ich hörte ihm nicht zu.
Ich dachte die ganze Zeit an meinen Mann, an meinen Sohn, an Rußland;
ich empfand Scham, etwas tat mir leid, ich wünschte etwas und wollte
so schnell als möglich nach Hause, nach meinem einsamen Zimmer im
~Hôtel de Bade~, um ungestört über alles nachzudenken, was in meiner
Seele aufgewühlt worden war. Aber L. M. ging langsam, zum Wagen war es
noch weit, und mein Kavalier verlangsamte, wie mir schien, hartnäckig
seine Schritte, als versuchte er mich zurückzuhalten. -- Das darf nicht
sein! -- sagte ich mir und beschleunigte energisch meine Schritte. Aber
er hielt mich tatsächlich zurück und drückte sogar meinen Arm. L. M.
verschwand hinter einer Biegung des Weges, und wir blieben ganz allein.
Mich überkam ein Schreck.

»Entschuldigen Sie,« sagte ich kühl und versuchte meinen Arm zu
befreien, aber mein Spitzenärmel blieb an einem seiner Knöpfe
hängen. Er beugte sich mit der Brust nach vorn und begann den Ärmel
freizumachen, und die Finger seiner bloßen Hand berührten die meine.
Ein eigentümliches, mir ganz neues Gefühl, in dem sich ein Grauen und
eine Wonne vermischten, überlief mir kalt den Rücken. Ich sah ihn an,
um durch einen kalten Blick die ganze Verachtung auszusprechen, die
ich gegen ihn empfand; aber mein Blick drückte etwas ganz anderes aus:
Furcht und Erregung. Seine brennenden, feuchten Augen, die so nahe
an meinem Gesicht waren, sahen so eigentümlich auf mich, auf meinen
Hals, auf meine Brust; seine beiden Hände betasteten meine Hand über
dem Gelenk, seine offenen Lippen sprachen etwas, sie sagten, daß er
mich liebe, daß ich für ihn alles sei; und diese Lippen kamen immer
näher, und seine Hände drückten immer fester die meinen zusammen und
versengten mich. Ein Feuer lief durch alle meine Adern, es wurde mir
finster vor den Augen, ich zitterte, und die Worte, mit denen ich ihn
zurückhalten wollte, blieben mir in der Kehle stecken. Plötzlich fühlte
ich einen Kuß auf meiner Wange, ich blieb, am ganzen Leibe zitternd und
erkaltend, stehen und sah ihn an. Außerstande, zu sprechen oder mich
zu rühren, erwartete ich voller Schrecken etwas und verlangte zugleich
danach. Das alles dauerte nur einen Augenblick. Aber dieser Augenblick
war entsetzlich! Ich hatte ihn während dieses Augenblicks so genau
gesehen. So verständlich war mir sein Gesicht: diese niedrige, steile
Stirne, die der Stirne meines Mannes so ähnlich war, diese schöne,
gerade Nase mit den geblähten Nüstern, dieser lange, steif gewichste
Schnurr- und Kinnbart, diese glatt rasierten Wangen und der gebräunte
Hals. Ich haßte ihn, ich fürchtete ihn: so fremd war er mir; aber in
diesem Augenblick weckten in mir die Aufregung und die Leidenschaft
dieses verhaßten, fremden Mannes einen so mächtigen Widerhall, ich
fühlte ein so unüberwindliches Verlangen, mich den Küssen dieses rohen
und schönen Mundes und den Umschlingungen dieser weißen Hände mit den
feinen Adern und den ringgeschmückten Fingern hinzugeben, mich kopfüber
in den lockenden Abgrund verbotener Wonnen, der sich plötzlich vor mir
auftat, zu stürzen! ...

-- Ich bin so unglücklich, -- dachte ich --, möge sich noch mehr
Unglück über meinem Kopfe häufen. --

Er umschlang mich mit dem einen Arm und beugte sich über mein Gesicht.
-- Möge sich noch mehr Schande und Sünde über meinem Kopfe sammeln! --

»~Je vous aime~,« flüsterte er mit einer Stimme, die so sehr an die
meines Mannes erinnerte. Ich dachte an meinen Mann und an mein Kind
wie an längst entschwundene teure Wesen, mit denen mich nichts mehr
verband. Aber plötzlich erklang hinter der Biegung die Stimme der L.
M., die mich rief. Ich kam zur Besinnung, entriß ihm meine Hand und
lief fast, ohne ihn anzusehen, zu L. M. Wir stiegen in den Wagen, und
erst jetzt sah ich ihn an. Er nahm den Hut ab und sagte lächelnd etwas.
Er begriff wohl nicht den unsagbaren Ekel, den ich in diesem Augenblick
gegen ihn empfand.

Mein Leben erschien mir so unglücklich, meine Zukunft so hoffnungslos,
die Vergangenheit so schwarz! L. M. sprach etwas zu mir, aber ich
verstand ihre Worte nicht. Es war mir, als spräche sie mit mir nur aus
Mitleid, um die Verachtung zu verbergen, die ich in ihr weckte. In
jedem ihrer Worte, in jedem ihrer Blicke glaubte ich diese Verachtung,
dieses verletzende Mitleid zu fühlen. Der Kuß brannte mir wie ein
Schandmal auf der Wange, und der Gedanke an meinen Mann und an mein
Kind war mir unerträglich. Ich hoffte allein in meinem Zimmer über
meine Lage nachdenken zu können, aber es war mir so schrecklich, allein
zu sein. Ich trank den Tee, den man mir gebracht hatte, nicht aus und
machte mich mit fieberhafter Hast bereit, ohne zu wissen, warum, mit
dem Abendzug zu meinem Mann nach Heidelberg zu fahren.

Als ich mit meiner Zofe im leeren Wagen saß, die Maschine sich in
Bewegung setzte und die durch das Fenster hereinwehende frische Luft
mir über das Gesicht strich, kam ich allmählich zur Besinnung und
fing an, meine Vergangenheit und Zukunft klarer zu sehen. Mein ganzes
Eheleben vom Tage unserer Abreise nach Petersburg an erschien mir
in einem neuen Lichte und legte sich mir als schwerer Vorwurf aufs
Gewissen. Zum erstenmal erinnerte ich mich wieder lebhaft unserer
ersten Zeit auf dem Lande, unserer Pläne, und zum erstenmal kam mir die
Frage in den Sinn: welches waren seine Freuden während dieser ganzen
Zeit? Und ich fühlte mich schuldig gegen ihn. -- Warum hat er mich
aber nicht zurückgehalten, warum hat er geheuchelt, warum ist er allen
Erklärungen aus dem Wege gegangen, warum hat er mich beleidigt? --
fragte ich mich. -- Warum hat er nicht von der Macht seiner Liebe über
mich Gebrauch gemacht? Oder liebt er mich nicht? -- Aber so schuldig
er auch sein mochte, der Kuß jenes fremden Mannes brannte mir auf der
Wange, und ich fühlte ihn. Je mehr ich mich Heidelberg näherte, um so
klarer sah ich meinen Mann vor mir, und um so schrecklicher erschien
mir die bevorstehende Begegnung. -- Ich will ihm alles, alles sagen,
ich will alles mit den Tränen der Reue ausweinen, -- dachte ich, --
und er wird mir verzeihen. -- Aber ich wußte selbst nicht, was dieses
»alles« war, was ich ihm sagen wollte, und ich glaubte selbst nicht,
daß er mir verzeihen würde.

Als ich aber ins Zimmer meines Mannes trat und sein ruhiges, wenn auch
erstauntes Gesicht sah, fühlte ich, daß ich ihm nichts zu sagen, nichts
zu gestehen und auch nichts abzubitten habe. Der Gram und die Reue
mußten unausgesprochen in meiner Seele bleiben.

»Was ist dir eingefallen?« fragte er. »Ich wollte ja selbst morgen zu
dir kommen.« Als er aber mein Gesicht aufmerksamer betrachtete, schien
er erschrocken. »Was hast du? Was ist mit dir los?« fragte er mich.

»Nichts,« antwortete ich, meine Tränen mit Mühe zurückhaltend. »Ich bin
für ganz hergekommen. Fahren wir meinetwegen gleich morgen heim nach
Rußland.«

Er sah mich recht lange schweigend und aufmerksam an.

»Erzähle doch, was geschehen ist,« sagte er.

Ich errötete unwillkürlich und schlug die Augen nieder. In seinen Augen
flammte ein Ausdruck von Kränkung und Zorn auf. Ich erschrak vor den
Gedanken, die ihm kommen konnten, und sagte mit einer Verstellung, die
ich von mir selbst nicht erwartet hatte:

»Es ist nichts geschehen, es war mir nur so langweilig und traurig
allein zu sein, und ich dachte viel an unser Leben und an dich. Ich
fühle mich schon so lange schuldig gegen dich! Warum fährst du mit
mir dorthin, wo es dir nicht gefällt? Ich fühle mich schon so lange
schuldig gegen dich,« wiederholte ich, und die Tränen traten mir wieder
in die Augen. »Wollen wir doch auf unser Gut fahren und für immer.«

»Ach, liebes Kind, verschone mich mit solchen empfindsamen Szenen,«
sagte er kühl. »Daß du aufs Land willst, ist sehr schön, denn es ist
uns recht wenig Geld übrig geblieben; aber für immer, -- das ist nur
eine Phantasie. Ich weiß, daß du es nicht aushalten wirst. Jetzt aber
trinke Tee, das wird besser sein,« schloß er und stand auf, um dem
Kellner zu klingeln.

Ich stellte mir alles vor, was er von mir denken konnte, und fühlte
mich durch die schrecklichen Gedanken beleidigt, die ich ihm zuschrieb,
als ich seinen ungläubigen, gleichsam beschämten Blick, den er auf mich
gerichtet hielt, sah. -- Nein, er will und kann mich nicht verstehen!
-- Ich sagte ihm, daß ich nach dem Kinde sehen möchte und verließ ihn.
Ich wollte allein sein und weinen, weinen, weinen ...


IV

Das lange nicht geheizte leere Haus zu Nikolskoje wurde wieder
lebendig; aber das, was darin einst gelebt hatte, erwachte nicht mehr.
Die Mama war nicht mehr am Leben, und wir standen uns allein gegenüber.
Wir verlangten jetzt aber nicht nach dieser Einsamkeit, sie fiel uns
sogar zur Last. Der Winter verging für mich um so schlimmer, als ich
krank war und mich erst nach der Geburt meines zweiten Sohnes etwas
erholte. Das Verhältnis zu meinem Mann war noch immer so kühl und
freundschaftlich wie zur Zeit unseres Lebens in der Stadt; aber auf dem
Lande erinnerte mich jedes Dielenbrett, jede Wand, jedes Sofa daran,
was er für mich einst gewesen war und was ich verloren hatte! Zwischen
uns stand etwas wie eine nicht verziehene Kränkung, als bestrafte er
mich für irgend etwas und gäbe sich den Anschein, als merke er es
nicht. Ich hatte ihm nichts abzubitten, es war nichts, womit er mich
hätte verschonen können; er strafte mich nur damit, daß er sich und
seine ganze Seele mir nicht mehr hingab, wie früher; er gab sie auch
niemandem hin, als hätte er überhaupt keine Seele mehr. Manchmal kam
mir der Gedanke, er stelle sich nur so, um mich zu quälen, während in
ihm noch das alte Gefühl lebe, und ich bemühte mich, es zu wecken.
Aber er schien jedesmal einer offenen Aussprache aus dem Wege zu
gehen, mich der Verstellung zu verdächtigen und jede Empfindsamkeit
als etwas Lächerliches zu fürchten. Sein Blick und sein Ton sagten
mir: -- Ich weiß alles, ich weiß alles, du brauchst mir nichts zu
sagen, ich weiß alles, was du mir sagen willst. Ich weiß auch, daß du
das eine sagen und etwas anderes tun wirst. -- Diese Furcht vor einer
offenen Aussprache verletzte mich anfangs, aber dann gewöhnte ich mich
an den Gedanken, daß es kein Mangel an Offenheit, sondern das Fehlen
eines Bedürfnisses nach Offenheit sei. Ich hätte es niemals übers Herz
gebracht, ihm zu sagen, daß ich ihn liebe, oder ihn zu bitten, mit
mir zu beten oder ihn zu rufen, damit er meinem Klavierspiel zuhöre.
Im Verkehr zwischen uns hatten sich schon gewisse Anstandsgesetze
herausgebildet. Wir lebten ein jeder für sich: er mit seinen Arbeiten,
an denen mich zu beteiligen ich weder brauchte, noch wünschte, ich mit
meinem Müßiggang, der ihn nicht mehr kränkte und betrübte wie früher.
Die Kinder waren noch zu klein, um uns aneinander zu binden.

Da brach aber das Frühjahr an. Katja und Ssonja kamen für den Sommer
aufs Land, unser Haus in Nikolskoje wurde umgebaut, und wir siedelten
nach Pokrowskoje über. Es war dasselbe alte Haus von Pokrowskoje
mit seinem Ausziehtisch, dem Klavier in dem hellen Salon und meinem
ehemaligen Zimmer mit den weißen Vorhängen und meinen gleichsam
vergessenen Mädchenträumen. In diesem Zimmer standen zwei Kinderbetten:
in dem einen, in dem ich einst selbst gelegen hatte, bekreuzigte ich
jetzt jeden Abend den pausbackigen Kokoscha, und aus dem anderen,
kleineren guckte das Gesicht des kleinen Wanja aus seinen Windeln
hervor. Nachdem ich sie bekreuzigt hatte, blieb ich oft in der Mitte
dieses stillen Stübchens stehen, und plötzlich stiegen aus allen
Ecken, von den Wänden und den Vorhängen alte, vergessene Gesichte
meiner Jugend auf. Alte Stimmen sangen Mädchenlieder. Wo sind aber
diese Gesichte? Wo diese lieben, süßen Lieder? Alles, was ich kaum zu
hoffen wagte, war in Erfüllung gegangen. Unklare, ineinanderfließende
Träume waren zur Wirklichkeit geworden, und die Wirklichkeit hatte sich
in ein schweres, mühseliges und freudloses Leben verwandelt. Dabei war
aber alles noch das alte: der gleiche Garten liegt vor den Fenstern
mit dem gleichen Rasenplatz und den gleichen Wegen; die gleiche Bank
steht dort über der Schlucht, der gleiche Nachtigallengesang schallt
vom Teiche herüber, die gleichen Fliederbüsche prangen in voller Blüte,
und derselbe Mond steht über dem Hause; und doch hat sich alles in
einer so schrecklichen, so unmöglichen Weise verändert! So kalt ist
alles, was so lieb und so nahe sein könnte! Ich sitze genau wie einst
mit Katja im Wohnzimmer, und wir sprechen leise von ihm. Katjas Gesicht
ist aber von Runzeln durchfurcht und gelb, ihre Augen glänzen nicht
mehr vor Freude und Hoffnung, sondern drücken teilnahmsvolle Trauer
und Mitleid aus. Wir sprechen nicht mehr mit Entzücken von ihm, wir
kritisieren ihn; wir staunen nicht mehr, warum und wofür uns dieses
Glück beschieden ist und haben auch nicht mehr den Wunsch wie einst,
der ganzen Welt unsere Gefühle und Gedanken mitzuteilen; wir tuscheln
miteinander wie Verschworene und fragen uns zum hundertsten Male, warum
sich alles so traurig geändert habe. Er ist aber noch immer derselbe,
nur die Falte zwischen seinen Brauen ist tiefer geworden, an seinen
Schläfen schimmern mehr graue Haare, aber sein tiefer, aufmerksamer
Blick ist vor mir immer mit einer Wolke verhüllt. Auch ich bin noch
immer dieselbe, aber in mir ist keine Liebe und kein Verlangen nach
Liebe. Kein Bedürfnis nach Arbeit, keine Zufriedenheit mit mir selbst.
Und so fern und unmöglich erscheinen mir jetzt meine religiösen
Ekstasen, meine einstige Liebe zu ihm, die frühere Fülle meines Lebens.
Jetzt würde ich nicht mehr begreifen, was mir einst so klar und gerecht
erschien: das Glück, für einen anderen zu leben. Weshalb für einen
anderen, wenn ich nicht mal für mich selbst leben will?

Ich hatte seit der damaligen Petersburger Reise die Musik ganz
aufgegeben; aber das alte Klavier und die alten Noten weckten in mir
wieder die alte Lust.

Eines Tages fühlte ich mich etwas unwohl und blieb allein zu Hause;
Katja und Ssonja waren mit ihm nach Nikolskoje gefahren, um den Neubau
zu besichtigen. Der Teetisch war gedeckt; ich ging hinunter, um auf sie
zu warten, und setzte mich ans Klavier. Ich schlug die Sonate ~quasi
una fantasia~ auf und begann zu spielen. Niemand war zu sehen oder zu
hören, die Fenster nach dem Garten standen offen, und die bekannten
Töne voller majestätischer Trauer klangen durch das Zimmer. Als ich
mit dem ersten Teil zu Ende war, blickte ich aus alter Gewohnheit in
den Winkel, wo er einst zu sitzen und mir zuzuhören pflegte. Er war
aber nicht da; der Stuhl, den man schon lange nicht von der Stelle
gerückt hatte, stand noch in seiner Ecke; durch das Fenster sah
ich einen Fliederbusch, der sich vom hellen Abendhimmel abhob, und
die Kühle des Abends strömte durch das offene Fenster herein. Ich
stützte mich auf das Klavier, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen
und gab mich meinen Gedanken hin. Lange saß ich so, voller Schmerz
der unwiederbringlichen alten Zeiten gedenkend und ängstlich in die
Zukunft blickend. Aber die Zukunft schien leer, als ob ich mir nichts
mehr erhoffte, nichts mehr ersehnte. -- Habe ich denn mein Leben
schon hinter mir? -- fragte ich mich und hob entsetzt den Kopf. Um zu
vergessen und nicht mehr zu denken, begann ich noch einmal dasselbe
Andante zu spielen. -- Mein Gott! -- dachte ich mir, -- verzeih mir,
wenn ich schuldig bin, oder gib mir alles wieder, was in meiner Seele
so schön war, oder lehre mich, was ich jetzt tun, wie ich leben soll!
-- Ein Wagen rollte über den Rasen und hielt vor dem Hause, auf der
Terrasse ließen sich die bekannten vorsichtigen Schritte vernehmen,
die gleich wieder verhallten. Aber diese bekannten Schritte weckten
in meiner Seele nicht mehr das frühere Gefühl. Als ich zu Ende war,
hörte ich diese Schritte hinter mir, und eine Hand legte sich auf meine
Schulter.

»Wie klug von dir, daß du diese Sonate gespielt hast!« sagte er.

Ich schwieg.

»Hast du noch keinen Tee getrunken?«

Ich schüttelte verneinend den Kopf und sah mich nicht um, um die Spuren
der Erregung auf meinem Gesicht nicht zu verraten.

»Katja und Ssonja kommen gleich nach: das Pferd wollte nicht recht
laufen, sie sind an der Landstraße aus dem Wagen gestiegen und kommen
zu Fuß,« sagte er.

»Wir wollen auf sie warten,« sagte ich und trat auf die Terrasse, in
der Hoffnung, daß er mir folgen würde; er erkundigte sich aber nach den
Kindern und ging zu ihnen. Seine Gegenwart, der Ton seiner einfachen,
gütigen Stimme ließen es mir unglaublich erscheinen, daß ich etwas
verloren hätte. Was soll ich mir noch wünschen? Er ist gütig und mild,
er ist ein guter Gatte und Vater, ich weiß selbst nicht, was mir noch
fehlt. Ich trat auf die Terrasse und setzte mich unter die Markise,
auf die gleiche Bank, auf der ich am Tage unserer ersten Aussprache
gesessen hatte. Die Sonne war schon untergegangen, es dämmerte, eine
dunkle Frühlingswolke hing über dem Hause und dem Garten, und nur
durch die Bäume war noch ein wolkenloser Streif des Himmels mit dem
erlöschenden Abendrot und dem eben aufleuchtenden Abendstern zu sehen.
Auf allen Dingen lag der Schatten der leichten Wolke, und alles wartete
auf einen milden Frühlingsregen. Der Wind hatte sich gelegt, kein
Blatt, kein Halm regte sich, der Duft des Flieders und des Faulbaums
war im Garten und auf der Terrasse so stark, als stünde die ganze Luft
in Blüte, und wogte bald stärker, bald schwächer, so daß man die Augen
schließen wollte, um nichts zu sehen und nichts zu fühlen außer diesem
süßen Duft. Die Georginen und die noch nicht aufgeblühten Rosen standen
unbeweglich auf ihren aufgewühlten, schwarzen Beeten und schienen
langsam an ihren weißen Stäben hinaufzuwachsen; die Frösche quakten
unten in der Schlucht so laut und durchdringend, als wollten sie sich
zum letztenmal vor dem Regen, der sie ins Wasser treiben würde, gehörig
ausschreien. Ein ununterbrochenes, feines Rieseln tönte durch ihr
Geschrei hindurch. Die Nachtigallen riefen einander etwas zu, und man
hörte sie unruhig von der einen Stelle zu der anderen fliegen. Auch in
diesem Frühling versuchte eine Nachtigall, sich im Gebüsch unter dem
Fenster niederzulassen, und als ich hinaustrat, hörte ich, wie sie in
die Allee flog, dort noch einen Triller losließ und dann erwartungsvoll
verstummte.

Vergebens suchte ich mich zu beruhigen: ich erwartete und beklagte
etwas.

Er kam hinunter und setzte sich neben mich.

»Ich glaube, die beiden werden in den Regen kommen,« sagte er.

»Ja,« sagte ich. Dann schwiegen wir beide lange.

Die Wolke senkte sich immer tiefer in der windstillen Luft, alles
wurde stiller, duftender und unbeweglicher; plötzlich fiel ein Tropfen
nieder und prallte von der Markise ab; ein anderer zerschellte auf dem
Schotter des Gartenweges; dann klatschte es gegen die Pestwurzstauden,
und bald ging ein frischer, immer stärker werdender Regen nieder. Die
Nachtigallen und die Frösche waren ganz verstummt, das feine Rieseln
ließ sich noch immer vernehmen, obwohl es beim Rauschen des Regens aus
weiterer Ferne zu kommen schien; und irgendein Vogel, der sich wohl
im welken Laub nicht weit von der Terrasse versteckt hielt, ließ in
regelmäßigen Abständen seine zwei einförmigen Töne erklingen. Mein Mann
stand auf und wollte fortgehen.

»Wo willst du hin?« fragte ich, um ihn zurückzuhalten. »Es ist so schön
hier.«

»Man muß ihnen einen Regenschirm und Galoschen schicken,« antwortete er.

»Nicht nötig, der Regen hört gleich auf.«

Er stimmte mir bei, und wir blieben beide am Geländer der Terrasse
stehen. Ich stützte den Arm auf einen nassen, glatten Balken und hielt
den Kopf hinaus. Der kühle Regen tropfte mir auf Haar und Hals. Die
Wolke über uns wurde immer heller und dünner und erschöpfte sich; an
Stelle des gleichmäßigen Rauschens des Regens klangen bald nur noch die
einzelnen Tropfen, die aus der Luft und von den Blättern fielen. Wieder
schmetterten unten die Frösche, wieder regten sich die Nachtigallen,
die einander von der einen und von der anderen Seite etwas zuzurufen
begannen. Alles vor unseren Blicken war wieder heller geworden.

»Wie schön!« sagte er, sich auf das Geländer setzend und mit der Hand
über mein nasses Haar streichend.

Diese einfache Liebkosung wirkte auf mich wie ein Vorwurf: ich war nahe
daran, zu weinen.

»Was braucht der Mensch denn noch?« fragte er. »Ich bin jetzt so
zufrieden, daß ich nichts mehr brauche! Ich bin vollkommen glücklich!«

-- Ganz anders sprachst du zu mir einst von deinem Glücke, -- dachte
ich mir. -- Wie groß es auch war, sagtest du, daß du noch mehr
verlangtest. Jetzt aber bist du ruhig und zufrieden, während meine
Seele voll unausgesprochener Reue und nicht ausgeweinter Tränen ist. --

»Auch mir ist es so wohl,« sagte ich, »aber gerade das, daß alles vor
mir so schön ist, stimmt mich traurig. In meiner Seele ist alles so
unharmonisch und unvollständig, ich verlange nach etwas, und hier ist
alles so schön und ruhig. Mischt sich denn nicht auch bei dir eine
Trauer in den Naturgenuß, sehnst du dich nicht nach der Vergangenheit
zurück?«

Er nahm seine Hand von meinem Kopf und schwieg eine Weile.

»Ja, einst hatte auch ich dieses Gefühl, besonders im Frühjahr,« sagte
er, als besänne er sich auf etwas. »Ich blieb manche Nacht auf, mir
etwas ersehnend und auf etwas hoffend, und es waren schöne Nächte! ...
Aber damals hatte ich alles vor mir, und jetzt habe ich alles hinter
mir; jetzt genügt mir das, was ist, und es ist mir so wohl ums Herz,«
schloß er mit einer so lässigen Sicherheit, daß ich, wie schmerzlich
mir es auch zu hören war, glauben mußte, daß er die Wahrheit spreche.

»Du hast also gar keine Wünsche?« fragte ich.

»Ich wünsche mir nichts Unmögliches,« antwortete er, mein Gefühl
erratend. »Du machst dir den Kopf naß,« fügte er hinzu, mich wie ein
Kind liebkosend und mir wieder mit der Hand über das Haar streichend.
»Du beneidest die Blätter und das Gras, weil sie vom Regen benetzt
werden, du möchtest selbst Gras, Laub und Regen sein. Ich aber freue
mich nur über sie, wie über alles in der Welt, was schön, jung und
glücklich ist.«

»Und betrauerst du nichts Vergangenes?« fragte ich weiter; ich fühlte,
wie es mir immer schwerer ums Herz wurde.

Er wurde nachdenklich und schwieg. Ich sah, daß er mir ganz aufrichtig
antworten wollte.

»Nein!« antwortete er kurz.

»Es ist nicht wahr! Es ist nicht wahr!« sagte ich, mich zu ihm wendend
und ihm in die Augen blickend. »Betrauerst du nicht das Vergangene?«

»Nein!« sagte er wieder. »Ich bin dem Himmel dafür dankbar, aber ich
betrauere das Vergangene nicht.«

»Und du wünschst nicht einmal, daß es wiederkehre?« fragte ich.

Er wandte sich um und begann in den Garten hinauszublicken.

»Ich wünsche es nicht, wie ich auch nicht wünsche, daß mir Flügel
wachsen,« sagte er. »Es darf nicht sein.«

»Und du möchtest das Vergangene gar nicht besser machen? Du machst dir
oder mir gar keine Vorwürfe?«

»Niemals! Alles war zu unserem Besten.«

»Hör einmal!« sagte ich und berührte seine Hand, damit er sich nach mir
umblicke. »Hör einmal: warum hast du mir niemals gesagt, es sei dein
Wunsch, daß ich so lebe, wie du es möchtest? Warum gabst du mir die
Freiheit, mit der ich nichts anzufangen wußte, warum hast du aufgehört,
mich zu lehren? Wenn du nur wolltest, wenn du mich anders geleitet
hättest, so wäre nichts, gar nichts geschehen,« sagte ich mit einer
Stimme, aus der immer stärker ein kalter Ärger und Vorwurf, aber nicht
die frühere Liebe herausklang.

»Was wäre nicht geschehen?« fragte er, sich erstaunt nach mir
umwendend. »Es ist doch gar nichts geschehen. Alles ist gut. Sehr gut,«
fügte er mit einem Lächeln hinzu.

-- Versteht er denn nichts, oder will er, was noch schlimmer wäre,
nichts verstehen? -- fragte ich mich, und Tränen traten mir in die
Augen.

»Dann wäre es nicht geschehen, daß ich, die ich keine Schuld vor
dir trage, mit deiner Gleichgültigkeit, sogar mit deiner Verachtung
gestraft worden wäre,« entfuhr es mir plötzlich. »Dann wäre es nicht
geschehen, daß du mir plötzlich ohne jede Schuld von meiner Seite alles
genommen hättest, was mir teuer war.«

»Was sagst du, liebes Kind!« rief er, als verstünde er meine Worte
nicht.

»Nein, laß mich ausreden ... Du hast mir dein Vertrauen, deine Liebe,
sogar deine Achtung genommen; denn ich kann nicht glauben, daß du
mich nach allem, was einst war, noch liebst. Nein, laß mich doch
einmal aussprechen, was mich schon so lange quält,« unterbrach ich ihn
wieder. »Ist es denn meine Schuld, daß ich das Leben nicht kannte, und
daß du es mir überließest, meinen Weg allein zu suchen? ... Ist es
denn meine Schuld, daß du mich jetzt, wo ich schon selbst begriffen
habe, was not tut, wo ich mich schon seit einem Jahre abmühe, zu dir
zurückzukehren, von dir stößt, als verstündest du nicht, was ich will,
und zwar so, daß man dir gar nichts vorwerfen kann, während ich allein
schuldig und unglücklich bin?! Ja, du willst mich wieder in jenes Leben
zurückstoßen, das mir und dir zum Unglück werden könnte.«

»Womit habe ich denn das gezeigt?« fragte er mit aufrichtigem Entsetzen
und Erstaunen.

»Hast du mir denn nicht gestern noch gesagt und sagst du mir nicht
immer, daß ich es hier nicht aushalten werde, daß wir für den Winter
wieder nach Petersburg gehen müssen, das mir verhaßt ist?« fuhr ich
fort. »Statt mich zu stützen, vermeidest du jede offene Aussprache
mit mir, jedes aufrichtige, zärtliche Wort. Aber dann, wenn ich ganz
gesunken bin, wirst du mir Vorwürfe machen und dich über meinen Fall
freuen.«

»Wart, wart,« sagte er streng und kalt, »es ist nicht gut, was du jetzt
sagst. Das beweist nur, daß du jetzt gegen mich eingenommen bist, daß
du mich nicht ...«

»Daß ich dich nicht liebe? Sag es doch, sag!« sprach ich seinen Satz zu
Ende, und Tränen stürzten mir aus den Augen. Ich setzte mich auf die
Bank und bedeckte mein Gesicht mit dem Taschentuch.

-- So hat er mich also verstanden! -- dachte ich und gab mir Mühe, das
Schluchzen zu unterdrücken, das mich zu ersticken drohte. -- Es ist mit
unserer alten Liebe zu Ende, -- sagte eine Stimme in meinem Herzen.
Er ging nicht auf mich zu, er tröstete mich nicht. Er war durch meine
Worte beleidigt. Seine Stimme war ruhig und trocken.

»Ich weiß nicht, was du mir vorwirfst,« begann er, »wenn es nur das
ist, daß ich dich nicht mehr so liebe, wie ich dich früher liebte ...«

»Ja, wie du mich liebtest!« sagte ich in das Taschentuch hinein, das
die bitteren Tränen immer reichlicher netzten.

»So liegt es an der Zeit und auch an uns selbst. Jedes Alter hat seine
eigene Liebe ...« Er schwieg eine Weile. »Soll ich dir die ganze
Wahrheit sagen, wenn du Aufrichtigkeit verlangst? Soll ich dir sagen,
wie ich in jenem Jahre, als ich dich kennen lernte, manche schlaflose
Nacht an dich dachte, wie ich selbst meine Liebe schuf, wie diese Liebe
in meinem Herzen wuchs und wuchs, wie ich dann in Petersburg und im
Auslande viele schreckliche Nächte schlaflos verbrachte um diese Liebe,
die mich quälte, zerstörte und vernichtete? Ich zerstörte nicht sie,
sondern nur das, was mich quälte; ich habe mich beruhigt, und doch
liebe ich dich noch immer, aber mit einer anderen Liebe.«

»Ja, du nennst das Liebe, es ist aber eine Qual,« sagte ich. »Warum
erlaubtest du mir, in der großen Welt zu leben, wenn sie dir so
verderblich erschien, daß du mich um ihretwillen zu lieben aufgehört
hast?«

»Es ist nicht die große Welt, liebes Kind,« sagte er.

»Warum hast du nicht von deiner Gewalt Gebrauch gemacht,« fuhr ich
fort, »warum hast du mich nicht gebunden und getötet? Das wäre für mich
besser, als alles zu verlieren, was mein Glück ausmachte, es wäre mir
wohl, und ich müßte mich nicht so schämen.«

Ich fing wieder zu schluchzen an und bedeckte mein Gesicht mit dem Tuch.

In diesem Augenblick kamen Katja und Ssonja, lustig und durchnäßt,
laut redend und lachend auf die Terrasse; als sie uns aber erblickten,
verstummten sie und gingen sofort weg.

Als sie fort waren, schwiegen wir lange; ich hatte mich ausgeweint und
fühlte mich erleichtert. Ich sah ihn an. Er saß, den Kopf in die Hand
gestützt, und wollte etwas auf meinen Blick antworten; aber er seufzte
nur schwer auf und stützte den Kopf wieder in die Hand.

Ich ging auf ihn zu und nahm seine Hand. Er sah mich nachdenklich an.

»Ja,« begann er, als fahre er in seinen Gedanken fort. »Wir alle --
besonders aber ihr Frauen -- müssen die ganze Eitelkeit des Lebens
auskosten, um zum Leben selbst zurückzukehren; die Erfahrung eines
anderen kann uns nichts nützen. Du hattest damals diese verlockende und
liebe, eitle Lust am Leben, die ich in dir bewunderte, noch lange nicht
ausgekostet; ich ließ dich sie ganz auskosten und fühlte, daß ich kein
Recht hätte, dir Schwierigkeiten zu machen, obwohl für mich diese Zeit
längst vorbei war.«

»Warum hast du dann diese ganze Eitelkeit mit mir genossen, warum
ließest du mich sie genießen, wenn du mich liebst?« fragte ich.

»Weil du, selbst wenn du wolltest, mir nicht geglaubt haben würdest; du
mußtest alles selbst kennenlernen, und du hast es auch kennengelernt.«

»Du hast viel zu viel Überlegungen angestellt,« sagte ich. »Du hast zu
wenig geliebt.«

Wir schwiegen wieder eine Weile.

»Es ist grausam, was du eben sagtest, aber es ist wahr,« versetzte er,
indem er sich plötzlich erhob und auf der Terrasse auf und ab und zu
gehen begann. »Ja, es ist wahr. Ich war im Unrecht,« fügte er hinzu,
vor mir stehen bleibend, »entweder hätte ich mir gar nicht erlauben
dürfen, dich zu lieben, oder ich hätte dich einfacher lieben sollen.
Ja.«

»Vergessen wir alles,« sagte ich scheu.

»Nein, das Vergangene kehrt nicht wieder, kehrt niemals wieder.« Seine
Stimme wurde weicher, als er das sagte.

»Alles ist ja schon wiedergekehrt!« sagte ich, indem ich ihm meine Hand
auf die Schulter legte.

Er nahm meine Hand von seiner Schulter und drückte sie.

»Nein, ich sprach die Unwahrheit, als ich sagte, daß ich das Vergangene
nicht betrauere; nein, ich betrauere es wohl, ich beweine jene frühere
Liebe, die nicht mehr ist und nicht mehr wiederkehren kann. Wer die
Schuld trägt, weiß ich nicht. Es ist wohl eine Liebe geblieben, aber
es ist nicht die von einst; es ist nur ihr Platz geblieben, doch sie
selbst ist verkümmert, es ist weder Kraft noch Saft in ihr, es sind
nur die Erinnerungen und die Dankbarkeit geblieben, aber ...«

»Sprich nicht so ...« unterbrach ich ihn. »Mag alles wieder so werden,
wie es war. Das ist doch möglich? Ja?« fragte ich, ihm in die Augen
blickend. Aber seine Augen waren heiter und ruhig und blickten gar
nicht tief in die meinigen.

Während ich das sagte, fühlte ich schon, daß das, was ich wollte und um
was ich ihn bat, unmöglich sei. Er lächelte ein ruhiges, mildes, wie
mir schien greisenhaftes Lächeln.

»Wie jung du noch bist, und wie alt bin ich,« sagte er. »In mir ist
nichts mehr davon, was du suchst; warum soll man sich betrügen?« fügte
er mit dem gleichen Lächeln hinzu.

Ich stand schweigend neben ihm, und es wurde mir ruhiger ums Herz.

»Wir wollen nicht versuchen, das Leben zu wiederholen,« fuhr er fort,
»wir wollen uns nicht mehr belügen. Daß aber die alten Aufregungen und
Sorgen dahin sind, dafür müssen wir Gott danken! Wir haben nichts mehr
zu suchen, keinen Grund mehr, uns aufzuregen. Wir haben schon alles
gefunden, und es ist uns nicht wenig Glück zuteil geworden. Jetzt
müssen wir zur Seite treten und den Weg diesem da freigeben,« sagte er,
auf die Amme weisend, die mit Wanja auf dem Arme in der Terrassentüre
erschienen war. »Ja, so ist es, liebes Kind,« schloß er, meinen Kopf
niederbeugend und küssend. Es war kein Liebhaber mehr, sondern ein
alter Freund, der mich küßte.

Aus dem Garten zog aber immer stärker und süßer die duftende Frische
der Nacht herein, immer feierlicher wurden alle Töne und die Stille,
und immer mehr Sterne leuchteten am Himmel auf. Ich blickte ihn an,
und es wurde mir plötzlich so leicht ums Herz, als hätte man mir einen
kranken seelischen Nerv entfernt, der mir solche Schmerzen verursacht
hatte. Ich begriff plötzlich klar und ruhig, daß das Gefühl jener Zeit
so unwiederbringlich vorbei war, wie jene Zeit selbst, und daß es
nicht nur unmöglich, sondern auch unerträglich und schmerzvoll gewesen
wäre, jenes Gefühl wieder zu empfinden. War denn jene Zeit, die mir so
glücklich erschienen, auch wirklich so schön gewesen? Und wie lange,
wie lange war es schon her!

»Aber es ist Zeit, Tee zu trinken!« sagte er, und wir gingen zusammen
in das Wohnzimmer. In der Türe trafen wir wieder die Amme mit Wanja.
Ich nahm das Kind auf die Arme, deckte seine bloßen roten Beinchen zu,
drückte es an mich und küßte es, sein Köpfchen kaum mit den Lippen
berührend. Das Kind bewegte wie im Schlafe das Händchen mit den
gespreizten Fingerchen und schlug die trüben Äuglein auf, als suchte es
etwas oder als wollte es sich an etwas erinnern; seine Äuglein blieben
plötzlich an mir haften, ein Funke von Bewußtsein leuchtete in ihnen
auf, und die vollen, etwas vorstehenden Lippen öffneten sich zu einem
Lächeln. -- Mein, mein, mein! -- dachte ich, indem ich mir das Kind
mit einer beseligenden Spannung in allen Gliedern an die Brust drückte
und mich mit Mühe zusammennahm, um ihm nicht weh zu tun. Und ich
begann, seine kalten Füßchen, seinen Leib, seine Händchen und sein kaum
behaartes Köpfchen zu küssen. Mein Mann ging auf mich zu, ich verhüllte
schnell das Gesicht des Kindes und deckte es gleich wieder auf.

»Iwan Ssergejitsch!« sagte mein Mann, indem er das Kind mit dem Finger
unter dem Kinne berührte. Ich deckte aber den Iwan Ssergejitsch wieder
zu. Niemand durfte ihn lange ansehen außer mir. Ich sah meinen Mann an;
seine Augen lachten, indem sie in die meinen blickten, und es war mir
zum erstenmal seit langer Zeit so leicht und so wohl ums Herz, sie zu
sehen.

An diesem Tage endete mein Roman mit meinem Manne; das alte Gefühl
wurde zu einer teueren, unwiederbringlichen Erinnerung, und das neue
Gefühl der Liebe zu den Kindern und zum Vater meiner Kinder legte den
Grund zu einem neuen, in einem ganz anderen Sinne glücklichen Leben,
das ich in diesem Augenblicke noch nicht abgeschlossen habe ...



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    S. 59: bekam → bekam aber
      bekam {aber} plötzlich Angst

    S. 70: als ich → als ob ich
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