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Title: Geschichten aus den vier Winden
Author: Dauthendey, Max
Language: German
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Geschichten aus den vier Winden



  Ein Verzeichnis
  sämtlicher Bücher von
  Max Dauthendey
  findet sich am Schluß
  dieses Buches



  Max Dauthendey

  Geschichten aus den
  vier Winden

  6. bis 8. Tausend

  Albert Langen Verlag, München
  1921



  Copyright 1915 by Albert Langen, Munich
  Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung.
  (Siehe auch Art. III der Übereinkunft zwischen
  Deutschland und Rußland zum Schutze von Werken
  der Literatur und Kunst vom August 1913.)

  _Albert Langen_          _Max Dauthendey_

  Druck von Hesse & Becker in Leipzig
  Einbände von E. Ä. Enders in Leipzig



Geschichten aus den vier Winden


                                     Seite

  Das Giftfläschchen                     7

  Himalayafinsternis                    41

  Hecksel und die Bergwerkflöhe         77

  Zwei Reiter am Meer                  129

  Auf dem Weg zu den Eulenkäfigen      143

  Nächtliche Schaufenster              173

  An eine Sechzehnjährige              195

  Zur Stunde der Maus                  209

  Die Kurzsichtige und der Komet       241

  Das Iguanodon                        281



Das Giftfläschchen


Berlin war ein Feuerbrand von Sonne. Die Dächer der Häuser und die
Fenster zitterten vor Junihitze, so wie die Hitzeluft über Steinwüsten
zittert. Es war, als heizten die Scharen der Autos mit ihren
Benzindämpfen die Straßen, wie fliegende Öfen. Und die Sonne schien
an diesem heißen Junitag nicht von der Stelle zu wandern. Überall war
Sonne, überall Höllenhitze.

Vom Stettiner Bahnhof in Berlin fuhr abends der Zug voll von
Skandinaviern nach Saßnitz. Es war, als ob alle Menschen vor der
deutschen Junihitze flüchteten. Das vornehme palastartige Fährboot, das
in vier Stunden in der Nacht von Saßnitz übers Meer nach Trelleborg
fährt, landete aber am Morgen in Schweden im flachen Schonen immer noch
wie von der berliner Hitze begleitet.

Der Drang, möglichst rasch nach dem kühleren Norden zu kommen, ließ uns
nirgends Halt machen. Wir, die Frau, die ich liebe, und ich, hatten
uns vorgenommen, zuerst die Route an der Westküste von Trelleborg bis
Strömstad zu fahren und dann nach Lappland zu reisen. Wir reisten die
zwölf Stunden von Trelleborg bis zur nördlichen Grenze Schwedens an der
Westküste ohne Aufenthalt, mit Ausnahme einer kurzen Mittagpause in
Gothenburg, und wir waren am Abend um sieben Uhr am Ende unserer ersten
Reiseroute in Strömstad angekommen.

Zweiundzwanzig Stunden trennten mich hier von Berlin, so sagte mir der
Fahrplan. Aber meine Augen hatten mir unterwegs von Stunde zu Stunde
gesagt: jede Stunde wird hier ein Jahrtausend, und in Strömstad trennen
dich zweiundzwanzig Jahrtausende von Berlin.

Kaum stieg ich am Ende der Sackbahn in Strömstad aus, so versank ich
in diese Jahrtausende wie ein Meteor, das von einem fremden Stern auf
die Erde gefallen ist. Und nicht nur zwei kleine Stufen stieg ich
vom Trittbrett der Eisenbahn bis zum Perron der schwedischen Erde,
sondern ich war wie zweiundzwanzig Tausend Meilen tief in eine fremde
Erde -- bei einem fremden Meer, bei einem fremden Himmel, bei einer
fremden Sonne -- eingedrungen, als ich in Strömstad aus dem Waggon
gestiegen war. Und ich kam nicht mehr los und saß dort bei Strömstad
auf einer Insel im Meer und ließ mir neue Ohren wachsen, und soviel
Haare ich sonst auf dem Kopf hatte, so viele Augen schien ich jetzt im
Kopf zu haben. Mein Herz, das sonst in Deutschland im Gewohnten und
Althergebrachten eingekapselt saß, flutete und löste sich und wurde wie
das Herz Adams am Tag, da Gott ihm das Paradies zeigte und alle Bäume.

Die Insel, auf der ich saß, und wo ich die Reisebillette meiner anderen
beiden großen Reiserouten in Schweden verfallen ließ, hieß Koster.
Es ist eine Insel im Kattegat, und sie wird dreimal in der Woche von
einem Dampfschiff angelaufen, das den Weg in dreiviertel Stunden von
Strömstad zurücklegt und die Post bringt. Das macht aber nichts, wenn
auch die Post dreimal in der Woche dorthin kommt, diese Insel ist und
bleibt doch für mich immer und ewig ein Pünktchen am Ende der Welt.

Schon »am Ende der Welt« angekommen zu sein -- nachdem man noch
zweiundzwanzig Stunden vorher in Berlin die Automobile rasen sah
--, das ist etwas Verblüffendes und Erstaunliches, und ich habe
mir vorgenommen, ein ganzes dickes Buch über die Insel Koster zu
schreiben. Aber mit dieser kleinen Erzählung hier will ich euch nur den
Mund wässerig machen auf dieses Pünktchen am Ende der Welt, auf diese
Insel, dieses Kopfkissen aller Seligkeit. Ob das Buch, das ich einmal
über diese Insel schreiben will »die Königstöchter von Koster« heißen
soll, oder »die Insel der heiligen Kühe«, oder »wilde Rosen, Wachholder
und Urgestein«, oder »die Insel am Ende der Welt«, das weiß ich heute
noch nicht genau zu sagen. Die Titel verrate ich aber hier nur deshalb,
weil sie andeuten, was dort alles zu finden ist für den, der sich ein
Billett nimmt und in zweiundzwanzig Stunden von Berlin hinreist und
zweiundzwanzig Jahrtausende in der Zeit zurück, in der Urzeit dort
ankommt.

Stellt euch meine Insel vor. Nachdem wir in Südschweden, in Schonen,
aus dem Eisenbahnfenster zuerst weite Kornflächen gesehen hatten und
grüne Waldzüge, aus denen die herrlichsten Buchen und die stämmigsten
Eichen nah am Meer die Luft mit Blätter- und Rindenduft würzen
und die reichen Gehöfte dort umwehen, verläßt uns plötzlich die
weiche sinnliche Erde. Statt der runden Buchenwälder wachsen runde
Granithügel auf, und von allen Bäumen bleiben nur noch die Tannen am
Wege, die Birken und die Eichen. Aber der Buche, dem Ahorn, der Pappel,
dem Nußbaum und der Kastanie, -- allen diesen geht der Atem aus vor dem
Granit, der mit rostroten Eisenadern gezeichnet ist. Das Land ist dort
mit Granit gepanzert, und hinter Gothenburg beginnt eine Steinzone,
wie sie sich kein Deutscher in keiner Ecke Deutschlands träumen kann,
nicht in den Alpen, nicht im Riesengebirge, -- nirgends; und auf
meiner Reise um die ganze Erde, die ich vor fünf Jahren machte, bin
ich niemals, selbst nicht am Himalaja, einer solch grotesken Steinwelt
begegnet, wie die ist, die sich von Gothenburg bis nach Strömstad
breitet. Am Meer ist die unterhaltendste Partie dieser Steinwelt die
Station Fjellbacka, die nur eine Schiffstation ist und keine Eisenbahn
hat. An der Eisenbahn aber, zwischen Gothenburg und Strömstad, ist es
hauptsächlich der Umkreis um die Station Tanum; hier ist die Steinwelt
derart furchtbar, daß das Land hier nicht mehr von Menschen bevölkert
scheint, nicht von Tieren, nicht von Vögeln, nicht von Bäumen, sondern
von gigantischen blauen und grauen Granitfiguren.

Das Meer, das vor Jahrhunderten noch hier in das Land hereinreichte,
hat das Steinreich in ein Figurenreich verwandelt, durch urewige
Waschungen. Die gerundeten Bergfiguren gleichen bald riesigen
versteinerten Walrossen, bald meilenlangen Herdenzügen von Mammuttieren
und den Rücken versteinerter Elefantenherden. Dazwischen lagern
Schichten von versteinerten Urweltbäumen, von denen mancher eine Meile
lang scheint; und von der Totenstille, die dieser blaugraue Granit
ausströmt, macht sich kein Ohr, das bisher nur in Gebirgen, Feldern und
in Wäldern gelebt hat, eine Vorstellung.

Hier und da sitzen eine Holzhütte, ein zwerghafter Baum, ein winziges
Fleckchen Rasen wie verschollen zwischen diesen ungeschlachten grauen
Granitungeheuern. Das graue Land dort am Meer scheint wie mit einer
einzigen Rüstung voll Eisenbuckeln bedeckt. Und wo der Bahnweg den
Granit mit Dynamit zersprengt hat, wirkt der Mensch im Vorbeifahren
wie eine Ameise, vor der Geste eines einzigen gespaltenen Blockes,
der auch nach der Sprengung seinen Starrsinn nicht aufgegeben hat
und herausfordernd daliegt, wie ein Gigant, den das Dynamit nur ein
bißchen auf die Seite gerollt hat, an dem aber das Dynamit wie machtlos
verrauchte. Denn wenn auch der gigantische Riesenblock gespalten wurde,
er ist ja nur ein Sandkorn, auf das das Dynamit hintrat, und auf Meilen
liegt hier die Welt voll neuer Granitbuckel. Und der Gedanke kommt
einem, daß es kein Zufall ist, daß in Schweden, dem Granitlande, Nobel,
der Erfinder des Dynamits, geboren wurde. Schweden, dieses Stein- und
Eisenland von ursprünglichster Kraft, forderte direkt das menschliche
Gehirn dazu auf, dem Steintrotz einen Menschentrotz entgegenzustemmen
und das Dynamit zu erfinden.

Ebenso steinig wie der Küstenlandstreifen von Gothenburg bis Strömstad
sind auch die Inseln, die Schären, die dem Küstenstreifen vorgelagert
sind. Und die Insel Koster ist ungefähr eine der letzten großen Schären
im Norden, ehe das Meer in die Kristianiabucht einschneidet. Diese
Steininseln und der Steinlandstreifen waren einst die eigentliche
Heimat der alten Wikinger. Hier sind noch Inschriften, Runensteine, und
bei Strömstad auf einem Hügel das berühmte steinerne Wikingschiff.

Auf der Insel Koster gibt es aber in den Talsenkungen einige Bäume:
Erlen und kurze Eichen. Die ganze Insel wirkt durch ihre seltsamen
Zwergbäume, Zwergeichen und Zwergwacholder, die in gedrungenen grünen
Figuren auf dem manchmal himmelblauen Granitgestein wachsen, zwerghaft
wie die Landschaft eines japanischen Gartens.

Zwischen dem Heidekraut auf dieser Insel und bei den reichen wilden
Rosenbüschen, die ganz überschüttet von rosa Kelchen dastanden, als
ich im Juni landete, liegen die seltsamsten Steine zerstreut; dort ein
blendend weißer, wie ein großes Marmorei, dort ein gelber, wie ein
harter Honigbrocken oder wie ein Stück Bernstein, dort ein rosenroter
wie eine Fleischkeule von einem geschlachteten Tier, dort ein schwarzer
flacher wie ein Rabenflügel oder ein runder wie ein Seehundkopf. Hinter
den Wacholderfiguren und unter den schirmartigen kurzen Eichen, deren
Kronen flach wie grüne Teller auf dem Stamm wachsen, von den Seewinden
wie mit einem Messer beschnitten, -- bei diesen kleinen Eichen und
großen Wacholderbüschen weiden glänzende rothaarige Kühe und Kühe, weiß
und schwarz gesprenkelt, als hätten sie sich von der Nacht bemalen
lassen mit dunkeln Flecken und mit weißen Flecken vom Mond, mit gelben
und roten Flecken von der Sonne. Und die wandernden Kühe mit ihren
Flecken, auf der totstillen Insel bei den Flecken der fleischfarbenen
schwarzen, weißen und blauen Steine, wandern in der feuerblauen
Meerumrahmung, zwischen den grünen Sonnenflecken unter den Eichen,
zwischen den rosa Flecken der Rosenbüsche und im Weihrauchgeruch der
Wacholderbüsche, wie vierbeinige kauende Götzenbilder. Tags fressen sie
immer alle nach einer Richtung hin gewendet, den Sonnenschein zwischen
den geschweiften Hörnern auf der Stirne tragend, und hinter ihnen
kreischen die silberweißen Flecken von Möwenscharen im indigoblauen
Junihimmel. Nachts, in den Sommernächten, in denen die Sonne kaum für
eine Viertelstunde um Mitternacht untergeht, liegen die Kühe draußen
unter den Eichen und schlafen alle mit der Stirn nach Osten gerichtet
und liegen beieinander in der lauen Dämmerung der hellen Nacht und
unter den Schirmen der Eichen wie ein schwarzweißer Teppich von
Hermelin.

Kleine Hütten sind überall zerstreut. In einer, bei einem großen
Getreidefelde, wohnt der König von Koster. Es ist der älteste und der
reichste Fischer und hat fast die ganze Insel mit seinen Söhnen und
Töchtern bevölkert. Die Königstöchter waschen und bügeln, schlagen Gras
und mähen Korn, melken die Kühe und singen abends. Die Königssöhne
spielen abends auf Fideln und Mundharmonikas, nähen tags Fischernetze,
fahren Mist, liegen draußen in den Booten, sehen nach ihren
Hummerkästen und angeln Makrelen und Dorsche, drehen Taue und teeren
Taue und ziehen im Winter hinunter nach Gothenburg auf den Heringsfang.

Manche Fischer wurden Kapitäne auf Last- und Personendampfern an
der Steinküste, andere wurden Matrosen und fahren rund um die Erde.
Andere wanderten nach Amerika aus und wollten Gold holen in Klondyke,
und kamen heim statt mit Gold mit amerikanischen Zeitungspapieren
in den Taschen und gingen wieder zurück zu ihren Hummerkästen und
Angelschnüren.

_Nie aber, solange die Könige, die Königstöchter und die Königssöhne
von Koster zurückdenken können, hat es auf dieser Insel einen Diebstahl
oder gar einen Totschlag gegeben. Niemals war eine Gerichtssitzung
oder ein Polizist auf Koster gewesen._ Die Menschen dieser Insel sind
unschuldig wie der Mensch am ersten Tage der Schöpfung.

Dies alles muß man vorher wissen, um die winzige Geschichte von dem
winzigen Giftfläschchen zu verstehen. --

Es war kurz nach Johanni, als das große Makrelenboot abfuhr, das
die jungen Leute von Koster und von den umliegenden Inseln abgeholt
hatte, um hinaus in die Nordsee zu fahren und draußen während des
Makrelenfangs liegen zu bleiben, bis es Herbst wurde. Dieser war der
wichtigste Sommertag für alle Bewohner der Insel: der Abfahrtstag des
Makrelenbootes. Im kleinen Hafensund schwamm, als das große Boot mit
seinen großen rotbraunen Segeln wie eine Riesenpflugschar im Meer um
die Ecke der Insel verschwand, ein Dutzend Rudernachen. In jedem Boot
saßen ein oder zwei Frauensleute und hielten ihre Schürzen vor das
Gesicht und weinten. Es waren Frauen, die ihre Männer fortsegeln sahen,
Bräute ihre Bräutigams und Mütter ihre Söhne.

Das ganze weibliche Königsgeschlecht von Koster saß dort auf dem Wasser
und weinte, und auf dem Mammutrücken der blauen Granitklippen standen
vereinzelt einige Hofhunde, die hinter ihren fortziehenden Herren
herbellten, und neben den weinenden Frauen in den Booten bellten andere
Hunde, so daß die Luft voll Schluchzen und Bellen war.

Ein älterer Mann, den alle den »Heiden« nannten, weil er fürchterlich
fluchen konnte und seit Jahren niemals bei einer Kirchenversammlung
auf einer der Inseln gesehen wurde, er, der früher Kapitän gewesen
war und zwei Dampfschiffe verloren hatte, trat jetzt auf mich zu und
reichte mir ein kleines Fläschchen mit einem zusammengefalteten kleinen
Zettel. Der Alte war blaurot im Gesicht, und sein grauer Spitzbart
saß ihm trotzig kurzgeschnitten am Kinn. Er hatte seinen guten blauen
sonntäglichen Tuchanzug an und seine alte Kapitänsmütze auf, mit einer
goldenen Borte daran.

»Sir,« sagte er, denn er sprach mit Vorliebe einige Brocken Englisch,
um seine höhere Weltkenntnis vor den andern Bewohnern der Insel
hervorzutun. Er untermischte immer seine Rede mit »Well« und »Allright«
und verabschiedete sich nie, ohne »Goodbye« zu sagen.

»Sir, ich habe das gefunden,« sagte er und schob mir das kleine
Fläschchen aufdringlich in die Hand, als wenn dieses mir eben erst aus
der Tasche gefallen wäre. Und breitspurig wanderte er davon.

»Ich habe das nicht verloren,« rief ich ihm nach. Er aber sah sich
nicht mehr um und stolperte über die Granitbuckel und über das
Heidekraut und zeigte mir seinen breiten ungeheuren Rücken, der so
viereckig war, als trüge er eine große Schulschiefertafel unter dem
Rock.

Auf dem kleinen Zettel, den er mir mit dem Fläschchen gegeben hatte,
und an welchem man noch den Abdruck des Fläschchens bemerkte, das
in das Papier eingewickelt gewesen war, auf diesem Zettel stand
mit vergilbter alter Tinte das Wort »Gift« geschrieben, dreimal
unterstrichen und dann:

»_Zehn Tropfen_ reizen die Sinnlichkeit (es war ein derberes Wort
gebraucht, das ich hier nicht wiedergeben kann).

_Zwanzig Tropfen_ bringen den _Wahnsinn_ und

_jeder Tropfen_ darüber -- _den Tod_.« So stand auf dem Zettel. --

Ich betrachtete das Fläschchen verblüfft. Es war mit einer
gelbwässerigen Flüssigkeit zur Hälfte gefüllt und mochte vielleicht
vierzig Tropfen enthalten.

Da stand ich nun plötzlich mitten auf der großen unschuldigen
Steininsel, umgeben von der Freudigkeit des Sommerhimmels, umgeben von
der unendlichen Festlichkeit des durchdringend blauen Sommermeeres,
sah die unschuldigen buntscheckigen Kühe ihre vollen Euter über das
Heidekraut tragen, sah sie in friedlichen gutmütigen Reihen wildes
Rosenlaub, Eichenlaub und Kräuter auf dem Granit abweiden, diese
Kühe, die gutmütig wie die Erdgüte selber waren; ich hörte die wilden
Bienen und die Hummeln, die sich über die Blüten des Heidekrauts
summend verbreiteten, und sah sie Honig suchen, Sonnensüße für den
Winter sammeln; ich sah dann über die Insel hin, auf welcher niemals
noch eine böse Tat begangen worden war, wo man nicht Gefängnis, nicht
Gericht und keine menschliche Niedertracht kennen gelernt hatte.
Und ich, ich hatte da plötzlich ein schauderhaftes Gift in einem
kleinen Fläschchen zwischen meinen Fingern, eine kleine Hölle von
vierzig Tropfen. Mit diesen vierzig Tropfen konnte ich Selbstmord
begehen und Mord. Ich schaute auf die weinenden Bräute hinunter, auf
die jungen weinenden Frauen, die in den Booten neben den bellenden
Hunden jetzt langsam wieder zum Ufer zurückruderten, und die von
ihren Männern verlassen waren. Hier konnte ich Unheil stiften, ich
konnte blindlings den Verführer spielen. Ein paar Tropfen in ein Glas
Milch, ein paar Tropfen in einen Teller Suppe hätten die züchtigen,
unschuldigen, aber zu derber Sinnlichkeit veranlagten Fischermädchen in
geile, gierige, männertolle Furien verwandeln können. Ich schauderte
vor diesen ekelhaften Gedanken, die mir von diesem Giftfläschchen
aufgezwungen wurden, und wunderte mich. Ich schauderte vor dem winzigen
Giftfläschchen, das da plötzlich in meine Hände gekommen war, hier
fern von aller überreizten Kultur, fern von dem großen Menschentrubel
Europas, fern von jener Welt, in der Abenteuer, Morde und Selbstmorde
täglich die Zeilen der Zeitungen überschwemmten. Hier, sozusagen am
Ende der Welt, wie kam hier, zweiundzwanzig Jahrtausende hinter Berlin,
auf diese unschuldige Erde dieses rasend und liebestoll machende Gift?

Die Geschichte des Fläschchens war die:

Der Heide, der alte Kapitän, erzählte sie mir endlich notgezwungen
nach ein paar Tagen. Ich traf ihn zufällig wieder, bei einem Besuch
in einer Hütte, wo man seit ein paar Wochen einen plötzlich tobsüchtig
gewordenen jungen Mann eingesperrt hielt. Die Leute sagten, der junge
Mann hätte beim Fischen auf offener See einen Sonnenstich bekommen,
und einige Männer, die nicht mit dem Makrelenboot auf den Nordseefang
hinausgezogen waren, mußten abwechselnd bei dem Tobsüchtigen Wache
halten, denn die Gemeinde hatte sich noch nicht entscheiden können,
diesen als wahnsinnig in ein Spital einer der Städte an der Küste
abzuliefern. Ich hatte bis jetzt noch nichts von dem geheimgehaltenen
Wahnsinnigen der Insel gewußt und fand auf einem Spaziergang durch
Zufall die Hütte, im Innern der Insel, wo der Tobsüchtige von seiner
Wache von vier Männern, die sich täglich ablösten, festgehalten wurde.

Dort fand ich auch unter den Wachthabenden den alten Kapitän, der mir
das Giftfläschchen gegeben hatte.

Er war besonders dort begehrt, da er, wie die Leute sagten, »feste
Handschuhe anhabe«, womit sie seine straffen Fäuste meinten. Nach dem
zufälligen Zusammentreffen am Makrelenbootstag mit dem Kapitän, hatte
ich diesen täglich in seiner Hütte aufgesucht und ihn niemals daheim
getroffen. Jetzt nahm ich ihn zur Seite und bestand darauf, daß er mir
die genaue Herkunft des Giftfläschchens berichten sollte.

Da hörte ich endlich nach vielem unverständlichem Geknurre: wohl habe
er die Flasche »gefunden«; aber das war schon ungefähr _dreißig Jahre_
her. Er fand sie in der Kapitänskabine eines Dampfers, den er sich
gekauft hatte, und der ihm dann gestrandet war. In einem Geheimfach des
Schiffsbücherschrankes stand dies Fläschchen in Papier eingewickelt,
und der Alte behauptete, er habe bis heute keinen Tropfen daraus
vergossen. Ich glaubte es ihm.

Wir hockten einander gegenüber auf zwei Steinen im Heidekraut. In der
Nähe bei uns rannte eine schwarze angepflockte Ziege, schwarz wie des
Teufels Großmutter, meckernd hin und her. Und obwohl es schon gegen
Abend war, wo sich die Kühle des Meeres mit der Granitwärme der Steine
vermengt, wischte sich der alte Kapitän, während er mir erzählte,
doch fortgesetzt die blaurote Stirn ab, auf welcher ihm ein steter
Angstschweiß zu perlen schien.

Ich hatte in den paar Tagen vorher niemals richtig den Entschluß fassen
können, das Fläschchen ins Meer zu schleudern oder an einem Steine zu
zerschellen oder es zu öffnen und den Inhalt auszuschütten. Hundert
Gründe spukten in meinem Hirn und sprachen dafür und dagegen, das
Fläschchen los zu werden. Welches Unglück konnte es anrichten, wenn das
Fläschchen, das fest verkittet war, im Meer weiterschwamm und von einem
Fischernetz oder einem Hummerkasten aufgefischt wurde!

Oder wenn sein Inhalt, wenn ich es zerschellte, herumspritzte und
vielleicht auf eine Erdbeere, eine Wacholderbeere oder irgend ein
Teekraut fiel, welches Kinder sammelten. Ins Feuer werfen! Wer weiß
ob das Fläschchen verbrannte und nicht in der Asche gefunden wurde.
Irgendwo vergraben! Auch das war recht unzuverlässig. Ich durfte es
nicht einmal mehr in meinem Zimmer stehen lassen, nicht in meinem
Koffer. Seit ich dieses Giftfläschchen in die Hand bekommen hatte,
lebte ich nicht mehr mein eigenes Leben. Ich lebte so wie die Wache,
die einen Tobsüchtigen bewacht und ihre Aufmerksamkeit zersplittern
muß zwischen Verstand und Irrsinn. Ich war nicht mehr harmloser
Beobachter des Lebens. Ich trug mit dem Giftfläschchen wie ein
Zauberer geheimnisvolle Kräfte der schwarzen Magie in der Tasche, ich
erschien mir über alle menschlichen Begriffe einer dämonischen Kraft,
einer Willkür, preisgegeben. Mit einem Wort, -- ich war nicht mehr ich.
Ich war der Sklave dieses Giftfläschchens geworden. Ich schrie nachts
im Traum auf, träumte vom Vergiften und Morden; und so wie der Kapitän
jetzt, hatte ich mir in den letzten drei Tagen, seit ich das Gift
besaß, hundertmal den Angstschweiß von der Stirn wischen müssen.

»Dreißig Jahre,« hatte der Kapitän erzählt, »habe ich das Fläschchen
mit mir getragen und habe es nicht los werden können. Jahrelang habe
ich eine Lust gehabt, es zu behalten, jahrelang eine Lust, es zu
vernichten. Mein ganzes Leben ist von diesem Fläschchen gelenkt worden.
Bald fühlte ich mich übermütig allmächtig durch den Giftbesitz, bald
unheimlich verfolgt. Die Leute nennen mich, seitdem ich das Gift
besitze, den ›_Heiden_‹.«

Ich begriff den alten Mann. Ich war in den drei Tagen, in denen ich das
Gift besaß, mir selbst fremd geworden. Aber ich hätte das Fläschchen um
keinen Preis hergegeben, wenn man es von mir gefordert hätte. Und als
der Alte sagte: »Was haben Sie mit dem Giftfläschchen getan?« log ich
mitten im Sonnenschein, zwischen den gütig kauenden Kühen, umgeben vom
himmelblauen Meer, log ich mich aus dem Paradies hinaus. »Ich habe es
fortgeworfen,« sagte ich, damit es der Alte nicht zurückfordern konnte.
--

Was wollte ich mit dem Fläschchen tun? Ich wollte es doch los sein!
Warum gab ich es ihm nicht? Warum warf ich es ihm nicht vor die Füße?
Ich fühlte, wie mich das viereckige Fläschchen in meinem weißen
Flanellsommeranzug unbequem drückte, und ich fuhr seitdem ängstlich,
oft mitten in den ruhigsten Stunden, plötzlich mit der Hand nach meiner
Westentasche. Ich wich dem Kapitän von diesem Tage an aus, damit er
nicht nach dem Fläschchen fragen sollte. --

Mitten in dem herrlichen Gesicht dieses Sommers 1910, mitten in dem
herrlichen Gesicht dieser Insel am Ende der Welt, die nie eine Schuld,
nie ein Verbrechen, nie eine Niedertracht kannte, trug ich nun diesen
Ekelfleck mit mir in der Westentasche herum, diesen Giftfund, dieses
Giftfläschchen. Täglich wünschte ich das Gift zu behalten und täglich,
es los zu werden. --

Ein nordischer Sommer ist schnell verflogen, ist schnell abgekühlt.
Schon ein paar Wochen nach Johanni, wenn die Nächte wieder die
Dunkelheit wie eine schwarze Maske über das Land legen und die
paar Wiesenflecken abgemäht sind, die es da gibt, und die paar
Kornstrecken, und Ende Juli schon der Stillstand eines frühen Herbstes
die Bäume aussehen läßt, als wären sie aus verblichenem grünem Papier
angefertigt, dann werden all die Kühe in die Ställe zu den Hütten
heimgetrieben, und eine Totenstille, Langweile und Leere sitzt bald an
Stelle des Saftes und der Frische im Steingesicht dieser Insel. Die
kleinen Hütten ertrinken abends im Nebel. An Stelle der Kühe laufen
weiße Möwenscharen auf den abgemähten Wiesen herum, Wiesen, die nur
jährlich einmal Gras geben, dann nicht mehr wachsen und sich mit den
weißen Möwen bedecken, die des Morgens vor Sonnenaufgang anzusehen sind
wie der Vorschein frühen Schnees.

Oft habe ich des Morgens vor Sonnenaufgang, da ich Bayer bin und in dem
katholischen Lande an Morgenläuten, Mittag- und Abendläuten gewöhnt
bin, hinausgehorcht. Aber nichts rührte sich. Es gab auf der Insel
keine Kirche, keine einzige Glocke, und die Leute fuhren ihre Kinder
zur Taufe mit Kähnen auf andere Inseln. Ebenso mußten die Brautpaare
und die Leichen oft tagelang auf guten Segelwind warten, um zur
Hochzeit oder ins Grab auf die ferne Kircheninsel zu kommen.

Die Insel Koster selbst lag glockenlos in der großen blauen Glocke des
Himmels, und der »Heide«, der alte Kapitän, hatte recht, wenn er einmal
in der Handelsbude, in dem einzigen Kaufladen, den es auf der Insel
gibt, dröhnend auf den Tisch schlug und ausrief:

»Was brauchen wir hier Christentum, wir auf Koster! In alter Zeit waren
wir Heiden und Helden. Und jetzt ist uns das Heldentum verboten. Aber
Heiden sind wir immer noch im Grunde. Wir zahlen unsere Steuern, und
die Sonne scheint nicht schöner, ob wir Christen sind oder Heiden. Und
die Makrelen und die Heringe lassen sich so gut fangen von den Heiden,
wie von den Christen.«

Und das stämmige Königsgeschlecht von Koster lächelt gutmütig über
seinen Stammheiden, über den Kapitän.

Der Sommer war hier früher zu Ende, als man sich in Deutschland
vorstellen kann. Und in den ersten Tagen des August sahen die Frau,
die ich liebe, und der ich noch nichts von dem Giftfläschchen in meiner
Westentasche erzählt hatte, und ich, wir beide sahen mit Frösteln das
schnelle Müdewerden der nordischen Sommersonne. Und eine unbändige
Sehnsucht nach neuer Sonne wachte jeden Morgen mit uns auf und war
jeden Abend unser letztes Gespräch.

Frauen, die sich sehr geliebt fühlen, fassen immer resoluteste
Entschlüsse. So sagte diese Frau eines Tages:

»Wir wollen nach Italien. Dort ist es noch Hochsommer. Es ist viel zu
spät für die lappländische Reise. Wir würden nur den schönen Eindruck
von Koster verwischen. Schweden ist zu schön, als daß man es in
einem Sommer flüchtig durchreisen kann. Man muß viele Sommer darauf
verwenden, um alle seine Schönheiten zu erreisen. Damit wir den Norden
recht verstehen, sollen wir jetzt als Kontrast den Süden aufsuchen.«

Ich deutete schwerfällig und gewissenhaft wie jeder Mann auf den großen
Koffer, in welchem die Wintersachen für Lappland lagen, auf Pelz und
Wolle. »Sollen die ganz umsonst hieher gewandert sein?« fragte ich.

Aber hartnäckig, weil sie meine Sehnsucht nach Sonne kannte, sagte die
Frau:

»Wenn du soviel Respekt vor Koffern hast, möchte ich sie schon gleich
ins Meer versenken.«

»Gerade so wie ich mein Giftfläschchen,« entfuhr es mir. Und nun mußte
ich die ganze Geschichte vom Giftfläschchen, das mir wie ein Dämon in
der Westentasche saß, und das den Kapitän wie ein Dämon dreißig Jahre
lang gefoltert hatte, meiner Geliebten erzählen.

»Das ist ein neuer Grund,« rief diese erfinderisch aus. »Ich sehe,
du und ich, wir werden dieses Giftfläschchen ebensowenig los wie der
Heide, der Kapitän. Aber es fällt mir gar nicht ein, deine Liebe mit
einer Giftflasche zu teilen. Wir müssen nach Rom und das Gift an der
einzigen Stelle der Welt, wo es hingehört und keinen Schaden anrichtet,
abliefern.«

»Ja, wenn noch in Rom die alten Römer leben würden,« meinte ich. »Aber
dort sind ja nur Ruinen, wie du selbst immer sagst.«

»Dort ist der heilige Vater! Seiner Heiligkeit drückst du einfach das
Fläschchen in die Hand, so wie es der Kapitän dir plötzlich in die Hand
gedrückt hat.«

»Liebende Frauen sind weise Frauen,« sagte ich. Und indessen sie die
Koffer packte und die Wolle für Lappland zu unterst stopfte und dabei
italienische Lieder vor sich hinsang, reiste ich in sechzig Stunden von
Strömstad direkt nach Rom, immer das Giftfläschchen in der Westentasche
betastend, daß es mir nicht auskäme.

Als ich in Rom dann das Fläschchen Seiner Heiligkeit in die Hand
drückte, wie es mir die weise und liebe Frau geraten hatte, lächelte
Pius und sagte verständnisvoll:

»Das macht nichts, das kommt öfters vor.«

»Natürlich,« sagte ich eilfertig aus Verlegenheit. »Darf ich Eure
Heiligkeit fragen, was Sie damit anfangen werden,« setzte ich neugierig
hinzu.

»Das stellen wir zu den andern,« nickte der Papst. Und ebenso nickte
Seine Eminenz, der Kardinal del Val, der bei meiner Audienz zugegen
war: »Das stellen wir zu den andern.«

Das Gespräch wurde in den vatikanischen Gärten geführt, die mir
durch ihre Regelmäßigkeit, regelrecht gestutzte Taxushecken, etwas
pedantisch und langweilig vorkamen, mir, der ich gerade von der _Insel
der heiligen Kühe_ kam, _vom Lande, wo die Steine sprechen_, von
_Wacholder_, _wilden Rosen_ und _Urgestein_, _von_ der _schwedischen
Heideninsel_, wo in der blauen Glocke des Himmels die Sonne täglich
zu einem Fest geglänzt hatte, wo das große freie Meer geläutet hatte,
und wo die Fischerleute arm, bescheiden und ehrlich waren wie der
Fischer Petrus und wie die Apostel, welche einst Fischer waren am See
Genezareth.

»Und um die Erde sind Sie auch gereist?« meinte Seine Eminenz der
Kardinal. »Und haben einen amerikanischen Bischof unterwegs getroffen,
der von allen Göttern der Welt ein Probebild mit nach Philadelphia
nahm! Der ganze Vatikan hat diesen Winter »die geflügelte Erde«
studiert. Wenn die sündige Erde wirklich rundum so voll schöner Wunder
ist, wie Sie da beschreiben, dann gibt sie uns hier vieles Nachdenken.
Wir hatten wirklich nicht geglaubt, daß noch etwas irdisch Schönes
an der Welt wäre. Wir dachten, wir hätten alles Verführerische mit
heiliger Christenstrenge ausgemerzt.«

»O!« rief ich aus und machte meinen Mund größer auf, als in den
vatikanischen Gärten erlaubt ist, »wenn Sie nur ›die geflügelte Erde‹
gelesen haben, dann haben Sie noch nicht vom Schönsten gehört, was ich
gesehen habe.«

Seine Heiligkeit, welche wir auf den Wegen des Gartens zwischen uns
gehen ließen, setzte sich auf das Stühlchen, das die Schweizer Wache,
die hinter uns ging, ihm unterschob. Der Papst hielt immer noch mein
Giftfläschchen zwischen den Fingern, obwohl es ihm der Kardinal öfters
hatte abnehmen wollen. Der Papst hielt das Giftfläschchen gegen die
Sonne:

»Wieviel Gifttropfen sind darin und wie wirken sie?«

Ah, dachte ich. Dem Papst geht es jetzt wie dem Heiden auf Koster. Der
Kapitän hat das Fläschchen auch nicht mehr hergegeben, als er es einmal
zwischen den Fingern hatte. Und obwohl ich vom Allerschönsten, was es
auf der Welt gab, eben hatte erzählen wollen, hatte der Papst nicht
zugehört, sondern immer an das Gift denken müssen.

Der Kardinal kam mir zuvor und beantwortete die Fragen, die das Gift
betrafen, und ich bewunderte dabei des Kardinals scharfes Gedächtnis,
der alles genau behalten hatte, was ich ihm über das Giftfläschchen
vorher mitgeteilt hatte.

»Was gibt es Schöneres in der Welt als Rom,« fragte der Papst,
schwärmerisch durch das Giftfläschchen den römischen Himmel betrachtend.

»Die Insel Koster,« sagte ich prompt. »Dort würden Eure Heiligkeit sich
einmal recht von allem Glockengeläute erholen.«

Auch der Kardinal ließ sich jetzt von der Schweizer Wache, die auf
seinen Wink herbei eilte, ein Stühlchen unterschieben.

Da saßen sie nun vor mir in dem Taxusheckengang, Seine milde Heiligkeit
im weißen fleckenlosen Gewand und der Kardinal im Scharlachkleid.

Wenn jetzt nur die Frau, die ich liebe, und die ich auf Koster singend
beim Kofferpacken zurückgelassen habe, aus der Taxushecke käme! Nur sie
könnte mir jetzt aus der peinlichen Verlegenheit helfen, dachte ich.
Denn dieses mit dem Glockengeläute habe ich verkehrt gesagt, das sah
ich den beiden Italienern an den gelben Gesichtern an.

»Die Insel Koster, trotzdem sie keine Kirche und keine Glocken hat,«
fuhr ich fort und eilte mich mit den Worten, um mich bei den Italienern
wieder in Gunst zu reden, »diese Insel Koster ist nämlich heute noch
der unschuldigste Platz der Welt. Dort gab es noch nie eine Lüge, nie
einen Diebstahl, nie einen Mord; nie mußte dort jemals das Gericht
einschreiten und keine Polizei. Die Menschen dort sind noch die
reinsten unschuldigsten Heiden,« platzte ich heraus, weil mich die
hochmütigen Gesichter der römischen Herren ärgerten.

Meine Worte mußten sehr gut gewirkt haben, denn Seine Heiligkeit
lächelte Seine Eminenz an, und Seine Eminenz lächelte Seine Heiligkeit
an. Und diese Lächeln gingen miteinander über die Taxushecken, über die
Palmen und über die weißen Geländer der Terrassen des vatikanischen
Gartens, versöhnlich hinauf bis in den üppigen blauen römischen Himmel.

Der Papst hob das Giftfläschchen, das zugleich mit dem großen Ring am
Daumen seiner Hand funkelte, wieder ans Licht.

Die Allmacht dieses Siegelringes zuckte mir zu gleicher Zeit mit dem
Schiller des Giftfläschchens entgegen. Ich verstand nicht sogleich,
daß diese Geste des Papstes mir meine schöne unschuldige Insel Koster
beleidigen wollte.

»Menschliches Gift kann lange im Verborgenen leben,« sagte der alte
Mann mit den blassen Wangen, mit dem blassen Kinn, mit der blassen Nase
und mit den blassen Augen, die mir plötzlich unheimlich lebensmüde aus
dem dunkelgrünen schwülen Palmengarten entgegenleuchteten.

»Lieber Dichter, habt Ihr nicht dieses Gift, wie Ihr erzählet, von
jener Barbareninsel gebracht?« tönte es ironisch von seinen blassen
Lippen.

»Ja,« sagte ich eifrig, meine Insel Koster verteidigend. »Das Gift
kam von der Welt dorthin. Aber jetzt ist kein Gifttropfen mehr dort.
Ich habe alles Gift Eurer Heiligkeit gebracht, direkt nach einer
Sechzigstundenfahrt, und das Giftfläschchen gleich übergeben, damit
Eure Heiligkeit es aus der Welt schaffen.«

»Mein Lieber,« sagte die weiße Figur vor mir, die da unter dem blauen
römischen Himmel im Garten zugleich mit dem Kardinal von dem Stühlchen
aufstand, und deren weiße Lippen tief Atem holten, als wollten sie mir
eine tiefe Wahrheit sagen, und ich dachte schon vorschnell:

Seine Heiligkeit wird sagen: _nichts kann das Gift der Welt aus der
Welt schaffen, nicht der Papst, nicht der Dichter, nicht die Christen,
nicht die Heiden. Und ich dachte, daß ich mit dieser großen Weisheit
dann entlassen würde._

Aber nein, -- Pius reichte mir nur die Hand, die das Giftfläschchen
hielt, zum Abschiedskuß, und mit den Augen auf das Fläschchen deutend:

»Mein Lieber, wir werden es zu den andern stellen.« -- -- --

»Wenn das nur nicht großes Unglück anstiftet,« sagte später die Frau,
die ich liebe, zu mir. »Das kann nicht gut sein, wenn man im Vatikan
ein Giftfläschchen zum andern stellt. Der Kapitän auf Koster, der
dreißig Jahre das Fläschchen aufbewahrt hatte, ist ganz wild davon
geworden, und die Leute nannten ihn schließlich einen Heiden. Wenn nur
nicht der ganze Vatikan von dem Kostergift wild wird!«

Und wirklich, die vielgeliebte Frau hatte wieder recht. Ein paar Wochen
später schon begann die Geschichte mit den Modernisteneiden, und die
Bannflüche fliegen seitdem wie Giftpfeile aus dem Vatikan über die
Alpen.

»Das kommt davon,« sage ich zu meiner Frau (wenn ich die Bayerische
Landeszeitung aus der Hand lege, worin der Memminger so genau die
Zustände und die Aufregungen des Papstes schildert), -- »das kommt
davon, daß der Papst als Ratgeber nur Kardinäle und keine Frau hat. Die
Liebe einer Frau ratet besser als alle Kardinäle.« --



Himalajafinsternis


Das ist der Fluch und zugleich die Wollust des Reisens, daß es dir
Orte, die dir vorher in der Unendlichkeit und in der Unerreichbarkeit
lagen, endlich und erreichbar macht. Diese Endlichkeit und
Erreichbarkeit zieht dir aber geistige Grenzen, die du nie mehr los
werden wirst.

Wenn sich deine Seele, ohne daß dein Leib reist, an einen Ort hin
versetzt, in dem du nie warst, so kann sie an dem Ort bald im
Sonnenschein, bald im Regen, bald im Winter, bald im Frühling wandern,
geisterleicht in einer Geisterlandschaft. Hast du aber den Ort einmal
reisend mit deinem Leib erreicht und wirkliche Tage dort erlebt, so
bist du dem Gefängnis der Wirklichkeit verfallen. Sobald du dich in
späteren Jahren an den bereisten Ort im Geist zurückversetzt, kommst du
nicht über die Grenzen der ehemaligen wirklichen Tage hinaus. Du siehst
jenen Ort immer wieder, in ermüdender Wiederkehr, in derselben Tages-
oder Jahreszeitstimmung, in der du ihn damals gesehen. Du kannst ihn
nicht willkürlich mehr verwandeln. Du bist verdammt, ihn ewig genau
so zu sehen, wie er sich dir auf der Reise gezeigt hat. Dies ist der
Fluch, der die Seele des Reisenden belastet. Die Flügel der Geistigkeit
werden ihm von der Wirklichkeit beschnitten. Der Vielgereiste haftet
mehr an der Erde als der Niegereiste. Er erscheint mir sterblicher als
die übrigen Sterblichen.

Es gibt eine einzige Möglichkeit, den Wirklichkeitsbann des
Reisens zu durchbrechen und abzuschütteln. Das geschieht, wenn wir
unsterbliche Erlebnisse heimbringen; wenn sich das Schicksal des
Reisenden mit Menschenschicksalen fremder Orte so verknüpft, daß der
Ort, die Landschaft, das Gesehene ganz an Bedeutung verlieren, ins
Nichts sinken, und das am eigenen Schicksal Erfahrene Zeit, Ort und
Wirklichkeit überragt.

Solche Erlebnisse sind selten, aber eins, zwei solcher Erlebnisse auf
großen Reisen bleiben einem im Blut und Geist haften und überfallen
einen zeitweise in der Erinnerung, und solche Erlebnisse können
uns modernen Menschen den Schauer, die Ehrfurcht und die Erhebung
ersetzen, die die früheren naiven Menschen in Gotteshäusern vor ihren
Altären und Göttern empfanden, vor Göttern, die wir Modernen längst zum
alten Eisen gelegt haben.

Ehe ich auf meinen Reisen oben im Himalajagebirge gewesen, konnte ich
mir diese höchsten Erdzinken immer nur tief in weißem Schnee und unter
ewig eisigblauem Himmel vorstellen, ähnlich den Erinnerungsbildern, die
ich vom Montblanc, von den Dolomiten und den Schweizer Alpen mit mir
trug. Jetzt aber, nachdem ich vor Jahren am Himalaja war, sehe ich dort
im Geist keine ehernen Gletscher, keinen eisblauen Himmel mehr. Ich
sehe dort die Erde grau in grau wandern, denn es war im Februar, als
die Nebel aus der indischen Talsohle wie graue Felder heraufstiegen,
Nebel in allen Schattierungen, in Schatten und Beleuchtungen wechselnd.
Es war, als flögen die Berge; dann wieder versanken sie. In den
Sternennächten wirbelten diese Nebel im Mondschein. Der riesige
Himalaja schien sich fortzuwälzen. Bald stellten sich die Nebel wie
Riesentreppen auf, schlugen sich zum Himmel hinauf und drehten sich
um ihre Achsen wie ungeheuere Windmühlenflügel. Es blieb kein Oben,
kein Unten, kein Links und kein Rechts mehr bestehen, als wäre der
Himalaja eine Gedankenwelt geworden, in der sich fluchtartig Bilder und
Eindrücke, Wirklichkeit und Unwirklichkeit jagten.

Siebentausend Fuß hoch oben in Darjeeling, dem weltbekannten
Erholungsort der englisch-indischen Beamten, Offiziere und reichen
Kaufleute, waren im Februar die meisten Villen geschlossen. Sie liegen
mit ihren Glaswänden und Glasveranden wie aus Bergkristall aufgebaut
an der Berglehne der hohen Gelände von Darjeeling. Dazwischen ziehen
sich Teegärten mit niedrigem Teegebüsch hin, denn der Tropenbrodem,
der vom großen indischen Reiche am Fuße des Himalaja zu den Höhen von
Darjeeling heraufraucht, bringt einen Atem von Fruchtbarkeit über diese
Südabhänge des Himalaja.

Heimgekehrt nach Europa, wäre ich jetzt, wenn ich an den Himalaja
zurückdenke, ewig dazu verbannt, dort droben in Darjeeling den
unendlichen, lautlosen, träufelnden Februarregen zu sehen, der aus den
Nebelschwaden niedertroff, und ich müßte immer in die nebelwandernden
Berge schauen, die mir nie mehr stillstehen würden, wäre mir nicht
dort jenes Erlebnis begegnet, das mich zeitlos und weltlos ansieht,
nicht gebunden an Tag und Jahreszeiten, sondern nur gebunden an die
Allmenschlichkeit, an das Menschenherz, das rund um die Erde, an allen
Orten gleich handelnd liebt und leidet, als wäre es ein einziges Herz.

Eines Nachmittags hatten mich die fünf Tibetaner, die meine Rikscha
schoben, nach dem einzigen tibetanischen Tempel gefahren, der an einem
Ende des Bergdorfes Darjeeling, nach langen Fahrten, auf verschlungenen
Wegen erreicht wird. Der Tempel war einfach wie ein weißgekalktes
Scheunenhaus und unterschied sich fast in nichts von tibetanischen
Bauernhäusern. Er lag am senkrechten Abhang, von einigen verwilderten
Bäumen umstanden, ein wenig einfach, und man hätte ihn ebensogut von
weitem für einen kleinen Gasthof halten können.

Ich mußte einen nassen Vorgarten durchschreiten und hörte von weitem
einen regelmäßig klingenden Ton. Es war der Laut der Gebetsmühlen, die
nach jeder Umdrehung antönen. Unter dem Vordach des Tempelhauses stand
eine mannshohe und mannsdicke gelbe Röhre aufgerichtet. Sie war von
oben bis unten eng mit Gebeten beschrieben. Ein Tempelknabe in gelber
Kutte drehte mit der Hand den gelben Zylinder, der sich auf einem
Gestell rund um eine Achse bewegte. Jede Umdrehung des Zylinders galt
soviel als das vollständige Ablesen der tausend Gebete, die eingedrängt
auf ihr geschrieben waren.

Drinnen im Tempel war es dunkel wie in einem Stall. Hinter dicken
Holzgittern standen die geschnitzten Götter, deren alte gebräunte
Vergoldung kaum noch glänzte. Da war kein friedlicher Gott darunter.
Alle Götter standen oder hockten in wilden verrenkten Stellungen, als
wären sie den verzerrten Nebeln draußen nachgebildet.

Aus unzähligen Ölnäpfchen, voll kleiner Nachtlichter, flimmerten
winzige Flämmchen. Wie die Futtertröge der Götter, so standen sie da
vor den Gittern und nährten die speckigen Goldgesichter mit ihrem Ruß
und belebten sie mit dem Gewimmel ihrer knisternden Flämmchen.

Nicht an allen Wänden standen Götterbilder. Es waren da Lücken, und
dort am berußten und schmutzigen Wandkalk entdeckte ich Photographien,
Ansichtspostkarten und Holzschnitte aus illustrierten englischen
Zeitungen. Es waren Bilder von englischen, deutschen, französischen,
russischen Prinzen und Generälen und Abbildungen von neuerfundenen
Maschinen, Bilder, welche von den tibetanischen Priestern heilig
gesprochen waren, vielleicht um den Europäern zu schmeicheln,
vielleicht auch aus abergläubischer Furcht vor unbekannten fremden
Seelenkräften.

Am Fußboden in einer Ecke bemerkte ich geleerte englische Bierflaschen.
Ein paar tibetanische Priester mit glattrasierten kahlen Köpfen, in
schmutziggelben Kutten, hockten am Boden und rauchten, lehnten mit dem
Rücken an der Wand und stierten zur offenen Tür hinaus, zu der ein
wenig Tageslicht in den fensterlosen Raum hereinfiel und glasig auf den
Augäpfeln der Priester glänzte.

Die knisternden Reihen von Nachtlichtern, die blöden Augen der
Priester und hie und da hinter den Gittern ein Götterbauch, an
dessen abgenütztem Gold sich die Ölflämmchen spiegelten, der
süßliche Tabakrauch aus den Priesterpfeifen und ein noch süßlicherer
Geruch von erkaltetem Räucherwerk, die grotesken Papierfetzen aus
illustrierten europäischen Zeitschriften, -- dieser Wirrwarr von
zeitlosem Spuk --, und draußen im Türviereck die ewig im Nebel
fortwandernden Himalajaberge wie Spuklandschaften, die bald in den
Himmel stiegen, bald zur Erde fielen, ein Nebelgekröse, das plötzlich
bis zur Tür herankroch; die gelben Ungeheuer der Gebetmühlen, die sich
einförmig drehten und in regelmäßigen Zwischenräumen mit einem dünnen
Metallton anschlugen, -- all das sah abenteuerlich aus, einfältig und
ungeheuerlich zu gleicher Zeit. Denn es bestand schon seit Tausenden
von Jahren und schien unvergänglich wie die Götter der Dummheit,
die neben den Göttern des Verstandes und des Gefühls ewig die Erde
beherrschen.

Aber wie die Abgründe draußen vor der Tempeltür, an deren Rändern
das Schwindelgefühl saß, das Menschen, Tiere und Steinmassen in die
Himalajaschluchten reißen konnte, so lag hinter dem Gefühl der dumpfen
Dummheit, die in dieser stallartigen Tempelstube hockte, zugleich
eine kaltblütige Grausamkeit. Sie blickte beinahe schelmisch aus den
stieren Augen der kahlköpfigen tibetanischen Priester und grinste
grotesk freundlich aus den lachenden Mäulern der Gesichtsmasken der im
Halbdunkel hockenden Götterfiguren.

Meine fünf tibetanischen Wagenschieber, die wie Eskimos in sackartigen
Kleidern vermummt steckten und von hünenhaften Kräften waren, fuhren
mich dann im Rikschawagen zurück, an fast senkrechten Bergwegen
hinauf. Dabei wieherten sie wie Pferdchen, meckerten wie Geißböcke
und prusteten wie Walrosse. Zugleich verfolgten meinen Wagen drei
tibetanische Riesenweiber, die ihre Schmuckketten aus kleinen
blauen Türkisen, Brocken Bergkristall und Stücken ungereinigter
Silberbronze, mit rötlichem Carneol verarbeitet, vom Hals und von den
Armgelenken rissen und mir zum Verkauf vor mein Gesicht hielten. Immer
gestikulierend sprangen die Tibetfrauen neben meinen Wagenrädern hin
und her, umgeben von einer bellenden Schar wilder Himalajahunde.

Eine der Frauen nahm sich während des Springens die Türkisenohrringe
ab, eine andere drehte von ihrer Hand einen plumpen Silberring mit
rotem Carneolstein, die dritte zog sich bronzene Haarpfeile aus ihrem
ungekämmten, verwilderten und vom Regen nassen Haarknoten. Einige Worte
Englisch und hundert geschnatterte tibetanische Worte, durchsetzt
mit Hundegebell und begleitet vom Gelächter und Geschnauf meiner
schwitzenden Wagenschieber, schallten mir unausgesetzt vor den Ohren.

Endlich kaufte ich dem einen Weib einen Ring ab, und da der
Rikschawagen an den Abhangwegen im Fahren keinen Augenblick halten
konnte, wurde der bewegte Handel durch Zuwerfen des Ringes und
Zurückwerfen des Geldes abgeschlossen.

Zwei der Frauen blieben jetzt zurück. Nur das dritte Weib, das immer
noch ihre Haarpfeile verkaufslustig in der Luft schwang, haftete noch
an der Seite meines Wagens, vom Gekläff der Hunde umgeben.

Als die Tibetanerin mich kaufunlustig sah, lockte sie mit den Augen,
so daß ihr die Wagenschieber tibetanische Scherzworte zuriefen, gegen
die sie sich eifrig verteidigte. Da mich die Haarpfeile nicht reizten
und des Weibes Augen mich nicht überreden konnten, fuhr sie immer neben
dem Wagen herspringend, mit den Händen in die Falten ihres sackgroben
Mantelkleides und fand in irgend einer Tasche eine kleine Silberkette,
die mir aber ebensowenig gefiel. Zugleich aber, wie sie die Kette in
der Luft schüttelte, flog, zwischen ihren Fingern durch, ein kleines
Bronzeamulett, das an einer Darmseite angebunden gewesen, und flog zu
mir in den Wagen auf meinen Schoß.

Mit einem Blick sah ich, daß das Amulett ein echtes kleines
Bronze-Götzenbild war, nicht größer als ein Fingerglied. Es stellte in
viereckigen primitiven Formen zwei winzige Menschen dar, einen nackten
Mann, an welchem eine nackte Frau emporkletterte.

Ich schloß meine Hand, in die das Amulett gefallen war, griff mit
der andern Hand in meine Westentasche, in der ich loses Silbergeld
trug, und warf dem Weib ein paar große Silbermünzen zu. Sie sah mich
erstaunt an, fing blitzschnell das Geld auf und blieb zurück. Zufällig
bog der Wagen um eine Wegecke. Ich konnte jetzt das Weib, das in dem
Haufen der bellenden Hunde stillstand, noch einmal von weitem sehen.
Sie schüttelte fortwährend den Kopf, als verstünde sie nicht, wie sie
zu dem Gelde gekommen sei. Sie hielt die Haarpfeile im Mund zwischen
den Zähnen und wickelte die Geldstücke in ein kleines Stückchen gelben
Tuches. Vielleicht war es dasselbe Stückchen Tuch, in welchem vorher
die Silberkette und das Amulett eingewickelt gewesen.

Ich vergaß die Begebenheit, denn es ereignete sich jeden Augenblick
viel Neues in der mich umgebenden Reisewelt. Ich entsinne mich nur,
daß, als ich eine halbe Stunde später im Hotel das Amulett betrachtete,
mir nicht mehr dieses eine Weib in Erinnerung kam, sondern die zwei
anderen, die zurückgeblieben waren, und deren Wangen mit einer
roten Masse eingerieben waren. Ich fragte einen der tibetanischen
Fellverkäufer, die in der Vorhalle des Hotels bei ihren Pelzwaren
kauerten, und die alle Englisch sprachen, mit was sich die Weiber hier
die Wangen einrieben, daß sie so braunrot würden. Er sagte, daß die
Farbe Ochsenblut sei. Aber nur die Witwen bestreichen sich die Wangen
mit Ochsenblut und nur diejenigen Witfrauen, die den Männern zeigen
möchten, daß sie wieder heiraten wollen.

Während ich noch sprach, läutete die erste Dinnerglocke im Stiegenhaus
des Hotels, die Glocke, welche die reisenden Damen und Herren darauf
aufmerksam macht, daß es an der Zeit ist, sich für das Mittagessen, daß
um 7 Uhr serviert wird, umzukleiden. Denn auch hoch oben im Himalaja
erscheinen die englischen Herren abends in Frack und Smoking und die
Damen in Schleppkleidern, tief ausgeschnitten und frisiert, als wären
sie für eine Galaoper geschmückt.

Ich ging in mein Zimmer, wo eben ein tibetanischer Zimmerbursche das
Kaminfeuer angezündet hatte und jetzt nebenan im Baderaum, welcher zum
Zimmer gehörte, Wasser in die Badewanne schleppte.

Der Baderaum hatte einen besonderen Eingang durch einen Balkon, der an
der Rückseite des Hauses entlang lief. Nachdem das Bad hergerichtet
war, murmelte der tibetanische Diener sein »all right Sir« und
verschwand durch die Hintertür des Badezimmers.

Nachdem ich ins Bad gestiegen war und aufrecht im dampfenden Wasser
stand und einige Turnübungen ausführte, fühlte ich im Rücken einen
eiskalten Luftstrom, als ob jemand die Hintertür des Baderaumes zum
Balkon geöffnet habe. Ich rufe auf Englisch: »Tür zu!« Und um mich vor
dem eisigen Luftstrom zu schützen, tauche ich im heißen Wasser der
Badewanne bis zum Hals unter. Ich bemerke zugleich durch den Dampf, der
das Zimmer füllte, den Schatten einer Gestalt und frage: »Wer ist da?«

Nur der Strahl des Kaminfeuers fiel von meinem Schlafzimmer in den
Baderaum herein, und ich merkte zu meinem Erstaunen, daß die kleine
Lampe, welche der Diener in eine Fensternische gestellt hatte, die aber
vorher kaum leuchtete, jetzt vollständig ausgegangen war.

Als ich auf meine zweimaligen Zurufe keine Antwort bekam, erhob ich
mich wieder aus dem dampfenden Wasser. Im selben Augenblick fühlte ich
wieder den Eishauch von der Türe her, die wahrscheinlich wieder hinter
dem Dampfnebel geöffnet worden war. Der menschliche Schatten, den ich
vorher gesehen hatte, war aber verschwunden.

Mir schien, wenn ich mir die Gestalt vergegenwärtigte, als wäre es eine
Frau gewesen, die vorher eingetreten und die jetzt wieder verschwunden
war.

Ich tastete in den Dampfnebel, fragte noch ein paar Mal, beendete dann
mein Bad schneller, als ich es sonst getan hätte, wickelte mich ins
Badelaken, machte Licht im Schlafzimmer und leuchtete in den Baderaum,
fand aber niemand. Dann kleidete ich mich an, klingelte und fragte den
Diener, ob man jemand hereingelassen, während ich im Bad war.

Dieser schüttelte den Kopf und wußte von nichts.

Ich vergaß auch diese Begebenheit wieder. Aber nach Mitternacht, als
ich mich zu Bett legte, schloß ich vorsichtig alle Türen.

Das Amulett hatte ich genau betrachtet, und nach dem Alter der
Darmseite zu schließen, an die es gebunden und die vom Tragen sehr
abgenützt war, konnte ich mir vorstellen, daß das Amulett wohl schon
mehrere Menschenalter um den Hals verschiedener Personen gehangen
und auf der Brust verschiedener Leute geruht haben mußte. Bis diese
starke Darmseite sich abnützen und durchwetzen konnte, mußten manche
Menschenleben dahingegangen sein.

Die an der Männergestalt emporkletternde kleine Frauengestalt war von
geschwärzter Silberbronze. Der Mann schien aus Eisenbronze zu sein.

Klobig, simpel, primitiv war die nußgroße Figurengruppe
zusammengeschweißt, wahrscheinlich in irgend einer Bergschmiede
tief im Himalajagebirge. Vielleicht war sie in einer tibetanischen
Klosterschmiede gearbeitet, in einem jener ungeheuerlichen Klöster,
die an unzugänglichen Stellen, an Bergabhängen und Bergseen zerstreut
liegen auf der Straße nach Lassa hin, jener Straße, die zu der
geheimnisvollsten Klosterstadt der Welt führt.

Ich mußte wieder an das stattliche Tibetweib denken, wie es da mitten
im Haufen bellender Hunde gestanden und gedankenvoll mein Geld in das
gelbe Tuch gewickelt hatte.

Plötzlich fiel mir ein: nach ihrem verwunderten Gesicht zu schließen,
hatte die Frau, als mir das Amulett zuflog, vielleicht gar nicht
gewußt, daß sie es mir zugeworfen hatte. Sie hatte eine Silberkette
in der Hand geschüttelt, und wenn ich jetzt darüber nachdachte, so
schien es mir, als wäre ihr unbewußt das Amulett aus den Fingern
geglitten, denn ihr Gesicht war verblüfft und nachdenklich, als sie
meine Silbermünzen auffing und einsteckte. Jedenfalls aber hatte ich
das Amulett mit meinem Gelde bezahlt, und es war mein. So sagte ich mir
und legte mich beruhigt zu Bett.

Ich weiß nicht, wie viel Stunden ich geschlafen hatte, als ich durch
einen Knall und ein Scherbenklingen geweckt wurde. Ich fuhr auf und
hörte ein Geräusch wie von flatternden Flügelschlägen.

Das Kaminfeuer war vollständig niedergebrannt, und der kleine
Glutbrocken leuchtete nicht mehr an die Zimmerdecke und nicht mehr an
die Wände, von wo aus das klatschende Flügelschlagen herkam.

Ich machte Licht und sah ein schwarzes Tier, groß wie eine Eule, von
Winkel zu Winkel fliegen. Als ich auf einen Stuhl stieg, sah ich, daß
es eine große Vampirfledermaus war. Ich öffnete die Schlafzimmertüre,
die nach der Treppe ging, weit, und rief ins Treppenhaus hinunter,
indessen ich mich in meinen Mantel wickelte. Drunten am Kaminfeuer
saßen immer einige Diener, die die Nachtwache hatten. Einer von
den Männern kam nun herauf, riß die Bettdecke von meinem Bett und
schlug mit dem Tuch nach dem Tier in die Luft und scheuchte die
Riesenfledermaus durchs geöffnete Fenster in die Nacht hinaus.

Im Fenster selbst fanden wir dann eine Ecke der Scheibe eingestoßen.
Doch unerklärlich war es mir, wie die weiche und zartknochige
Fledermaus es fertig gebracht hatte, die harte Fensterscheibe
einzustoßen.

In dieser Nacht schlief ich nicht mehr. Ich ließ das Licht brennen und
befahl dem Diener, das Kaminfeuer zu schüren. Ich setzte mich dann an
den Kamin und las, das heißt, ich wollte lesen, um nicht einzuschlafen.
Aber mehrmals mußte ich aufhorchen. Es war mir, als hörte ich Schritte
auf dem Balkon, auf welchen das zerbrochene Fenster führte.

Ich sah vom Lesen nicht auf. Ich sagte mir, es wird einer der Diener
sein, der sich überzeugen will, ob mein Kaminfeuer noch brennt, und der
mich nicht zu stören wagt und deshalb auf dem Balkon herumschleicht und
hereinsieht.

Nach einer Stunde war mir, als verbreite sich ein durchdringender
Blumengeruch im Zimmer. Ich schloß die Augen, lehnte meinen Kopf im
Ledersessel zurück und überlegte, ob die Nachtnebel, die aus den
Himalajateegärten und aus der indischen Tiefebene heraufstiegen,
solch einen betäubenden Blütengeruch mit sich führen können. Durch
das zerbrochene Fenster schien der Geruch mit dem Nebelrauch
hereinzuziehen, denn ich sah einen feinen bläulichen Dampf, der vom
zerbrochenen Fenster her das Zimmer erfüllte. Ich wollte aufstehen, ein
Handtuch oder einen Reiseschal nehmen und die zerbrochene Scheibenecke
zustopfen, um den betäubenden Nebel abzuwehren.

Aber es blieb bei dem in meinem Gehirn sich immer wiederholenden
Wunsch, aufzustehen. Meine Augen fielen zu. Einige Zeit hielt ich das
Buch noch in der einen Hand fest. Aber das Buch schien immer größer
und schwerer zu werden. Das Buch wuchs und stand vor mir wie die Wand
so groß. Und immer, wenn ich mich aufrichten wollte, stand vor mir das
aufgerichtete wandgroße Buch. Es war mir, als wohne ich nicht mehr
in einem Zimmer. Ich wohnte in einem Buch. Und ich hatte das Gefühl,
dieses Riesenbuch könnte zuklappen und mich zwischen seinen Seiten
erdrücken. Das Buch roch so süß wie die Süße aus einem alten Schrank,
in welchem getrocknete Blumen und Lavendel lagen. Mit diesem gemischten
Gefühl von Süße und drückender Bangigkeit verbrachte ich, wie es mir
schien, Jahre, ohne daß sich etwas in meinem Zustande änderte.

Ich wachte durch ein Klopfen auf. Es klopfte irgendwo jemand auf meinen
Schädel. Es wurde lange und heftig geklopft. Bald war es mir auch
wieder, als klopfe man schon jahrelang. Ich horchte auf. Meine Augen
öffneten sich und sahen immer noch Kaminglut. Draußen war es immer noch
Nacht. Das Klopfen kam von den verschiedenen Zimmertüren im Korridor.
Die Hotelgäste wurden geweckt.

Ich erinnerte mich jetzt, daß unsere Reisegesellschaft, die zehn Damen
und Herren, die sich hier in Darjeeling im Hotel zusammengefunden,
verabredet hatten, um drei Uhr morgens bei Mondschein aufzubrechen,
um auf Paßwegen zu dem zweitausend Fuß höher gelegenen »Tigerhill« zu
reiten, wo man den Sonnenaufgang über dem Mont Everest und anderen
Riesen des Himalaja erwarten wollte.

Im Zimmer war noch immer der süßliche Dunst. Ich kleidete mich im
halbtrunkenen Zustand an. Ein Diener brachte mir dann den Morgentee und
sagte, daß die Pferde gesattelt seien und unten an der Veranda warten.

Als ich ein paar Minuten später aufs Pferd stieg, freute ich mich über
die klare Bergluft, über den eisklaren Halbmond, der am Himmel hing,
und über den reinen Neuschnee, der gefallen war, und ich hatte bald
ganz und gar den Blumendunst vergessen und die letzten Stunden jenes
schweren Schlafes, der mehr einem Alpdruck als einem gesunden Schlaf
ähnlich gewesen.

Auf den schmalen Paßwegen, auf denen die Pferde hintereinander
schreiten mußten, schwiegen das Geplauder und Gelächter der Damen und
Herren. Es war, als ritten wir nicht auf der Erde, sondern auf Wolken,
an Wolkenrändern entlang. Die Mondsichel hatte nicht Kraft genug, die
Himalajagründe auszuleuchten. Meere von Finsternis lagen an den Rändern
der Paßwege, die nur einige Hufbreiten breit auf den Berggraten entlang
zogen. Bäume, die so alt waren, daß sie kein Blatt mehr trieben und nur
wie moosbehangene Skelette ragten, waren durch Nebel und Schnee wie vom
Erdboden abgeschnitten und hingen in der Luft wie vom Himmel herab.
Einige waren wie hausgroße Skelette ungeheuerlicher Fledermäuse. Diese
Gespensterbäume und der jasminweiße Mond auf dem grünlichen Nachtäther
erinnerten mich wieder an mein Nachterlebnis. Aber die großen
geöffneten unergründlichen Himalajaabgründe, die den Eindruck gaben,
als könnte man so tief in die finstere Erde hineinsehen, so tief wie in
den Nachthimmel, diese Abgründe, an denen die Pferde zagend und tastend
und lautlos im glitschigen Schnee wie balancierend zwischen Leben und
Tod entlang gingen, verschluckten Rückerinnerungen und Gedanken, diese
Abgründe wollten mich einschläfern, stärker noch als der Blumengeruch
es vorher getan hatte.

Der warme, schweißdampfende Pferderücken, der mich trug und der mich
rüttelte, war das einzige Stück Wirklichkeit, das ich noch fühlte,
denn der Traumzustand der Gespensterlandschaft wollte sich mit dem
Traumzustand meiner noch nicht völlig wachen Gedanken vermischen und
mich in die Abgründe ziehen.

Endlich verflüchtete sich die Nacht, und wir erreichten in der
blaugrauen Dämmerung, die dem Sonnenaufgang vorausgeht, die Höhe des
Tigerhills.

Tibetanische Diener waren vom Hotel vorausgeschickt worden. Ein großer
Holzstoß war angezündet worden, aber das Holz war naß und rauchte mehr
als es brannte. Der Schnee war im Umkreis des Feuers weggeschmolzen.
Wir versuchten, unsere vom Reiten erstarrten Füße beim Feuer zu wärmen,
umwanderten stampfend den qualmenden Holzstoß, vertrieben uns die Zeit
mit Teetrinken und warteten auf die ersten Zeichen des Sonnenaufgangs.

Auf einmal sagte jemand neben mir: »Das ist der
Schmetterlingshändler!« Der Genannte war ein Deutsch-Engländer aus
Darjeeling, der einen tibetanischen Antiquitätenladen dort hatte und
zugleich einen Handel mit Himalajaschmetterlingen trieb, von denen er
die schönsten Exemplare auf Bestellung nach Europa sandte.

Wie der Mann auf den Tigerhill gekommen, ob er uns auf einer
Nachtreise aus dem Inneren des Gebirges begegnet war, oder ob er
die Reisegesellschaft von Darjeeling aus begleitet hatte, wußte
ich nicht. Ich dachte nur im selben Augenblick, wie ich das Wort
»Schmetterlingshändler« hörte, an die seltsame Trommel, die ich in
seinem Laden zwei Tage vorher gekauft hatte; eine Trommel, angefertigt
aus den Hirnschalen zweier Menschen, aus der Hirnschale eines Mannes
und aus der eines Weibes. Jede Schalenhöhle war mit einer Membrane
überzogen; an der Wölbung aber waren die beiden Gehirnschalen
zusammengeschweißt, so daß sie zwei kleine Trommeln bildeten.
Schüttelte man diese, so schlug in jeder Schädelhöhle eine kleine,
hinter der Membrane eingesperrte Elfenbeinkugel an die Schädelwand und
an die Membrane und trommelte unausgesetzt. Der Schmetterlingshändler
hatte mir erzählt:

»Ich habe diese Trommel von einem tibetanischen Priester in einem
tibetanischen Tempel gekauft. Es sind die Schädelschalen eines
treulosen Mannes und eines treulosen Weibes. Diese Trommel wurde
täglich zur Gebetstunde angeschlagen, denn die Treulosen sollen, ewig
aneinander gekittet, im Tode keine Ruhe haben. Der Priester, der auf
dem Leichenstein beim Tempel die Leichen zu zerschneiden und den
Vögeln hinzuwerfen hat, hat das Recht, die Schädelschalen zweier,
die die Treue gebrochen haben, nach dem Tode zu solchen Trommeln zu
verarbeiten.« --

Mit großer Mühe hatte der Schmetterlingshändler die Trommel aus dem
Tempel erhalten.

Machte es die dünne hohe Gebirgsluft, daß meine Ohren jetzt plötzlich
aus allen finstern Himalajaabgründen ein Donnern hörten, als seien die
Bergschlünde trommelnde Schädelhöhlen von Ungetreuen?

»Hören Sie die Lawinen, die bei Sonnenaufgang sich von den Gletschern
lösen und in die Tiefe donnern?« sagte ein Herr neben mir zu einer
Dame. Dann war tiefe Stille. Keine Teetasse klapperte, kein Schritt im
Schnee knirschte mehr. Die Pferde spitzten die Ohren und schnupperten.
Drüben im Nebel, über einem tageweiten Abgrund, erschien der fleischige
Arm eines Riesen, die rosige fleischige Brust einer Frau, Nacken,
Schultern, Hüften in gigantischen Dimensionen. Es waren die Umrisse des
Mount Everest und des Kantschindschanga, die wie ein nacktes Riesenpaar
höher als der Mond im Himmel lagen.

»Die Sonne,« flüsterte eine Dame.

Ich sah über meine Schulter von den Bergen fort und entdeckte eine rote
glühende Lawine, die sich auf Nebelfeldern kaum merklich fortrollte und
größer und röter wurde, -- die Sonne. Wie eine große rote Sintflut gab
sie den Gletschern Blut und machte den Schnee zu Fleisch.

Im selben Augenblick, mitten in diesem feierlichsten Augenblick des
Sonnenaufgangs, nahm jemand meine Hand, führte meine Finger in eine
Westentasche und sagte: Wo ist das Amulett, das du gestern kauftest?
Sehen die großen fleischfarbenen Gletscher dort nicht aus wie die
Männer- und die Frauenfigur deines Amuletts, das du der Tibetfrau
gestern abkauftest?

Das Amulett war nicht in meiner Westentasche. Aber das Geld, das ich
dafür bezahlt hatte, die drei großen Silberstücke, befand sich wieder
in meiner Westentasche.

Der Gedanke an das Amulett hatte meine Hand in die Westentasche
geschoben.

Wer hat jetzt laut gelacht? Alle Gesichter sahen sich nach mir um. Es
wurde mir unheimlich vor mir selbst. Wie ich meinen Pelzrock geöffnet
hatte, um das Amulett zu suchen, stieg mir aus der Kleiderwärme
wieder jener geheimnisvolle Blumengeruch entgegen. Aber jetzt bei der
aufgehenden Sonne, in der Schneefrische des Morgens, erkannte ich in
dem Geruch ein betäubendes tibetanisches Tempelräucherwerk, das, in
großen Massen eingeatmet, einschläfert und Visionen verschafft, und
dieser Geruch steckte noch von der Nacht her in meinen Kleidern.

Auf dem Pferderücken vorhin war mir schon der Geruch stark in die Nase
gestiegen. Ich selbst war aber noch zu sehr von der Schlafzimmerluft
betäubt gewesen, um seinen Ursprung zu erkennen.

Jetzt wandte ich mich mit einem energischen Ruck an den
Schmetterlingshändler, um ihn zu fragen: »Glauben Sie, daß es Amulette
gibt, die ihren Besitzern so teuer sind, daß sie sie für nichts
verkaufen würden? Glauben Sie, daß, wenn ein tibetanisches Weib
ein solches Amulett zufällig von sich geschleudert hätte, es alle
Listen seiner listigen Natur anwenden würde, um das Amulett wieder
zu erhalten? Glauben Sie, daß es durch Hintertüren in die Häuser
eindringen würde und sich nicht scheuen würde ein Fenster einzustoßen,
um das Amulett zu erhalten?

Sie werden mir sagen: ›Das zerbrechende Fenster würde jedermann
wecken!‹ Aber ich sage Ihnen: Man kann zugleich durch das zerbrochene
Fenster eine lebende Fledermaus ins Zimmer werfen, die die
Aufmerksamkeit auf sich lenkt und nicht den Gedanken aufkommen läßt,
daß ein Mensch mit Absicht das Fenster zerschlagen hätte. Betäubt man
dann noch durch eine Räucherstange den im Zimmer Anwesenden, so ist es
ein leichtes, nachher mit dem Arm durch die zerbrochene Fensterscheibe
in das Zimmer zu langen, den Fensterknopf von innen aufzudrücken,
durchs geöffnete Fenster vom Balkon hineinzusteigen, das verlorene
Amulett zu suchen, zu finden und, wenn eine Kaufsumme dafür hergegeben
war, das Geld wieder hinzulegen und das Amulett mitzunehmen.«

Alles dieses wollte ich mit energischem Entschluß den
Schmetterlingshändler jetzt fragen. Ich öffnete den Mund. Aber die
Worte, die ich sprechen wollte, verwandelten sich in Atemrauch, und ich
hörte in meinen Ohren, daß ich sagte: »Wenn Sie wieder einige seltene
Exemplare von Himalajaschmetterlingen haben, können Sie mir dieselben
an meine Adresse nach Europa senden.« Dabei nahm ich aus meiner
Westentasche dasselbe Silbergeld, womit ich gestern schon das Amulett
bezahlt hatte, und bezahlte im voraus den Preis für drei Schmetterlinge.

Ich hatte nichts mehr gesprochen. Die Sonne war bald wieder in Nebeln
verschwunden, und wir ritten im Tageslicht, das aber mehr dem Mondlicht
glich, an den nebelnden Abgründen zurück nach Darjeeling.

Das Amulett fand ich nicht mehr. Es war nicht auf meinem Tisch zu Hause
im Hotelzimmer, nicht in meinen Taschen, nicht in meinen Koffern.

Ich erinnerte mich jetzt, daß, als ich gestern abend nach dem
Diner durch die Billardsäle zu den Spielzimmern gegangen war, wo
die befrackten Herren und die dekolletierten Damen an den grünen
Spieltischen vor den lodernden Kaminen saßen, mich einen Augenblick
eine Sehnsucht gepackt hatte, fortzukommen aus den europäischen Sälen,
die man hier in Asien sogar noch hoch im Himalaja für verwöhnte
Millionäre und Milliardäre hingestellt hat.

Ich war dann auf die breite Hotelterrasse hinausgetreten und hatte
dem Hexenspiel der rollenden Bergnebel über den Schluchten zugesehen
und den Sternen, die über den bewegten Nebeln zu tanzen schienen.
Dann fielen ein paar Regentropfen, mit Schneeflocken untermischt, aus
fortflüchtenden Nebelwellen, die um den Mond kreiselten.

Als ich wieder ins Hotel zurückgehen wollte, war mir, als sähe ich
ein großes Tier unter der Terrassenbrüstung um die Hausecke laufen.
Gestern abend hatte ich gedacht, es sei ein Hund. Jetzt wußte ich
aber, daß es ein Mensch gewesen, der auf allen vieren ging, eine Frau,
wahrscheinlich die Frau, deren Amulett ich besaß, die während der
ganzen Nacht um das Hotel geschlichen war, und die sich mit aller List
das Amulett aus meinem Zimmer von meinem Tisch geholt hatte.

Dies bedachte ich jetzt nach der Rückkunft vom Mondscheinritt im
Hotel und sehnte mich, mit jemandem darüber zu sprechen. Aber meine
europäischen Reisegefährten schienen mir alle zu banal, als daß
ich Lust gehabt hätte, sie in die Mystik dieses Nachterlebnisses
einzuweihen.

Nachmittags um drei Uhr sollte mein Zug abgehen, der mich zum Abend
wieder hinunter in die Kaffeegärten und Zuckerrohrpflanzungen Indiens
bringen würde, und der am nächsten Morgen mit mir in Kalkutta
eintreffen sollte.

Auf dem Weg zum Bergbahnhof konnte ich mich nicht enthalten, die
Rikscha am Laden des Schmetterlingshändlers warten zu lassen. Ich stieg
aus. Als ich die Ladentüre öffnen will, wird seltsamerweise dieselbe
schon von Innen aufgemacht, und an mir vorbei läuft ein tibetanisches
Weib heraus. Ich hätte aber die Frau kaum wiedererkannt, da mir alle
Tibetanerinnen untereinander so ähnlich schienen, sowie auch die Neger
und Chinesen für den Europäer immer einander ähnlich sehen, hätte die
Frau nicht mit einer heftig erschrockenen Bewegung in die Brustfalten
ihres Mantelrockes gegriffen, als wolle sie dort etwas beschützen, was
ich ihr hätte entreißen können. Mir schien, als ob sie hohläugiger und
blasser wäre als am Tage vorher. Laut mit sich selbst sprechend und
mit den Ellenbogen in die Luft fuchtelnd, als müßte sie hundert Hände
abwehren, die sich nach ihr streckten, stürzte sie die Bergstraße
hinunter fort, begleitet vom Gelächter meiner Rikschaschieber, welche
das Gebaren der Frau noch sonderbarer fanden als ich.

Im Laden kam ich nicht dazu, dem Schmetterlingshändler vom Amulett
zu sprechen, denn ehe ich noch den Mund öffnen konnte, zeigte er
mir in einem geschnitzten Kästchen einen aufgespießten sogenannten
Handflächenschmetterling. Jene Frau hatte ihm eben den seltenen
Schmetterling verkauft. Er wurde in einem Kästchen aus Kampferholz
aufbewahrt, denn der Geruch dieses Holzes schützt die Schmetterlinge
gegen zerstörende Witterungseinflüsse. Durch Generationen hindurch
kann man einen solchen Schmetterling im Kampferholz bei vollem Glanz
erhalten. Auch diese Frau hatte den Schmetterling schon lange als ein
Erbstück ihrer Familie besessen. Warum sie ihn verkaufen wollte, da er
doch unbezahlbar war, konnte der Schmetterlingshändler nicht begreifen,
denn ein Handflächenschmetterling wird alle hundert Jahre einmal
im Gebirge gefunden. Auf seinen Flügeln sind dunkle Linien, deren
Zeichnung den Linien in der Handfläche einer Menschenhand gleichen.

»Diese Frau,« sagte der Schmetterlingshändler, »muß vielleicht für
irgendeine eingebildete Schuld ein Tempelopfer bringen, da sie mit
einem solchen Schmetterling ihren besten Familienschatz verkauft, um
Opfergeld zu erlangen.«

Ich erstand den Schmetterling. Und kaum hatte ich ihn in Händen,
so wurde mir auch, ohne daß ich fragte, eine Erklärung über meinen
Amulettverlust zuteil.

Der Schmetterlingshändler erzählte mir, daß jene Frau eine sogenannte
»ewige Witwe« sei, eine von jenen, die ihre Wangen nicht mit Ochsenblut
bemalen und nicht mehr das Verlangen haben, einen anderen Mann als
den Gestorbenen zu lieben. Um aber auch des Toten sicher zu sein, daß
dieser ihr im nächsten Leben treu wird, wie sie ihm treu sein will,
trägt eine solche Frau an einer unzerreißbaren Darmseite ein Amulett
an der Brust, welches ein Menschenpaar darstellt. Wenn die Witwe
aber dieses Amulett verliert, -- denn ein Amulett wird eine Frau nie
verkaufen, -- hat sie damit die Treue des Toten verloren und wird
ihren Geliebten im nächsten Leben nicht wieder finden.

Ein solches Amulett wird niemals verkauft, und sollte es verloren
gehen, so setzt eine jede tibetanische Frau ihr Leben daran, um das
kostbare Amulett der Treue wieder zu erhalten. --

Während dieses Nachmittags, als ich im Zug saß und in die finsteren
Abgründe des Himalaja hinunterfuhr, sah ich im Dampf, der aus der
Lokomotive kam, und der in den Dschungelwäldern und an den Urwaldästen
hängen blieb, hunderte Male die Gestalt jener ewigen Witwe, wie sie
bald gebückt und geduckt suchte, und wie sie aufgerichtet forttanzte
über die Urwaldwipfel, wie sie die Arme an die Brust drückte und nach
dem Amulett fühlte, das ihr die Treue und die Liebe ihres Geliebten im
nächsten Leben versprach.

Dann, als es dunkel wurde und ich draußen keinen Wald und keinen
Dampf mehr sah, betrachtete ich lange bei der trüben Wagenlampe den
großen Handflächenschmetterling in dem Kampferkästchen, dessen Linien
so verschlungen sind wie die Schicksalslinien in den Handflächen
der Menschen und dessen Linien in dunkle Nachtränder auslaufen, in
unergründliche Finsternisse, ähnlich den Himalajaabgründen, die voll
Finsternis und Aberglauben draußen dicht bei den Schienengeleisen der
Bergbahn drohten.



Häcksel und die Bergwerkflöhe


Häcksel war der Sohn des Finsterer, und der war Bergmann im Annaschacht
gewesen. Und Finsterer war der Sohn des Labemann, und der war Bergmann
im Annaschacht gewesen. Und Labemann war der Sohn des Flegels, und
Flegel war Bergmann im Annaschacht gewesen. Keiner von denen war
ehelich geboren. Dieses aber ist der Stammbaum der Geliebten der Mütter
jener Bergmänner.

Häcksel war, was alle seine außerehelichen Vorfahren gewesen, Bergmann,
und er war mehr unter der Erde als auf der Erde zu Hause.

Der junge Bursch von fünfundzwanzig Jahren war, solange er sich unter
der Erde befand, höflich, friedlich und zufrieden. Aber oben auf der
Erdoberfläche, beim Tageslicht besehen, schien Häcksel das Gegenteil zu
sein, störrisch, unfreundlich und ungemütlich. Teils war es das Licht
und die laute Welt, die ihn im Gegensatz zur molligen Grabesstille
und traulichen Dunkelheit, an die er unter der Erde gewöhnt war,
immer wieder von neuem reizten. Aber Licht und Lärm waren es nicht
allein, die den stillen harmlosen Burschen in ein widerhaariges Ekel
verwandelten. Wenn Häcksel sichs klar gemacht hätte, warum er sich oben
auf der Erde, außerhalb des Schachtes, verwandelte, so würde er erzählt
haben, daß ihm draußen im Leben, außerhalb der Kohlengrube, seine
liebsten Unterhalter fehlten, die Bergwerkflöhe, denen er zugetan war,
und die neben der Arbeit seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.

Die Bergwerkflöhe aber lieben nur die laue Wärme, die im Erdinnern
herrscht, und sind nicht zu bewegen, jemals an die Oberfläche zu
kommen. Sie begleiten den Bergmann, den sie sich als Nahrungsfeld
ausersehen haben, nie ans Licht. Sie springen immer im letzten
Augenblick ab, ehe der Förderkorb den Schacht verläßt.

Häcksel hatte sich durch nichts als durch sein süßes Blut bei den
Flöhen des Annaschachtes beliebt gemacht. Vielleicht war er deshalb
beliebter, weil sein Blut seit Geschlechtern außerehelich, also
wildsüß, gezeugt worden war.

Wenn keiner einen Floh im Schacht hatte, Häcksel hatte immer einen zur
Unterhaltung bereit, und dieses verschaffte ihm manchen wahren Freund
im Bergwerk. Denn die Bergleute rechnen in ihrem unterirdischen Dasein
die Anregung und Unterhaltung, die ihnen die Bergwerkflöhe bieten, als
eine Erhöhung ihrer lahmgelegten Lebenslust.

Wenn irgendwo in einem entlegenen Stollen zur Erhöhung der Geselligkeit
ein Floh fehlte, schickten die Leute hin zu Häcksel und erhielten auch
schon für einen Schluck kalten Kaffee einen schönen ausgewachsenen Floh
von Häcksel geliefert.

Man weiß aber, daß durch fortgesetzte Inzucht auch die lebhaftesten
Flöhe allmählich verblöden können, und das geschah, -- nachdem aus den
Zeiten Flegels, Labemanns und Finsterers, die, solange das Bergwerk
bestand, drei Menschengeschlechter hindurch, immer nur untereinander
gelebt und sich fortgezeugt hatten, -- zur Zeit, da Häcksel
fünfundzwanzig Jahre alt wurde und von Schwächezuständen befallen war.
Die Bergleute stellten fest, daß die heutigen Flöhe ihres Geschlechtes
nicht mehr so hoch springen konnten, daß sie sich auch nicht mehr so
lebhaft untereinander angezogen fühlten, nicht mehr dieselben Tänze
vollführten, die vorher die halbnackten Bergleute auf Brust und Rücken
ihrer Kameraden bewundert hatten. Man konnte ihrem Mutterwitz nicht
mehr vertrauen. Sie ließen sich von jeder täppischen Hand fangen. Sie
versimpelten so sehr, daß es eine Schande für das ganze Bergwerk war.

Eines Tages, es war im Februar, im Taumonat, der die Erde aufweckt und
auch die Triebe der Bergwerkflöhe in der Erde beleben kann, fühlte sich
Häcksel, der eben Feierabend machen wollte und seinen Pickel, womit
er Kohlen gehackt hatte, an die Flötzmauer stellte, besonders lebhaft
hinterm linken Ohr gebissen, so lebhaft, wie seit langem nicht mehr.
Häcksel glaubte, es sei Stänker, sein Leibfloh, der frühlingslustig
geworden wäre. Aber als der Bergmann mit dem Zeigefinger hinters Ohr
fühlte, merkte er, daß ein kleiner, zierlicher, weiblicher Floh dasaß,
und er erkannte auch bald, daß es Zinnoberchen war, eine Flöhin, die
so genannt wurde, weil sie am rötesten von allen Flohdamen leuchtete,
wenn sie sich an Menschenblut satt getrunken hatte und man sie auf
der Hand vor das Grubenlicht hielt. Zinnoberchen war so zart, daß das
Menschenblut aus ihrem Körper einen rötlichen Schatten neben sie legte,
wo sie gerade saß.

Häcksel war über den unerwarteten Besuch ein wenig erstaunt. Denn um
die Feierabendstunde, die die Flöhe gut kannten, war meistens jede
Unterhaltung zwischen den Bergleuten und ihren lieben Leibtierchen zu
Ende. Die kleinen Herrschaften zogen sich jeden Abend unaufgefordert
in den Pferdestall des Bergwerks zurück. Dieser Stall lag neben den
Kohlenschachten und befand sich ebenso wie diese viele Hundert Fuß
unter der Erde. Die alten Gäule, die dort fern vom Tageslicht in der
Grube zum Ziehen der Kohlenkarren gehalten wurden, bekamen niemals
die Sonne zu sehen und wurden mit der Zeit blind. Im Mähnenhaar der
Blinden, auf den Rückenwirbeln und in den Schwanzhaaren übernachteten
die Bergwerkflöhe mit Vorliebe. Dorthin eilten sie, wenn die
Feierabendstunde nahte.

»Ich dachte, du wärest schon schlafen gegangen,« sagte Häcksel, als er
Zinnoberchen auf seinem Zeigefinger ans Grubenlicht hielt. »Du bist ja
ganz abgehärmt, liebes Kind,« fuhr er in Gedanken lautlos zu reden
fort. »Ich weiß, Euch fehlt neues Blut.« Er nickte und hüstelte.

Der junge Häcksel war nicht stark. Er war schwer lungenleidend. Seine
Vorfahren, die da unter der Erde in der weichlichen Luft seit einem
Jahrhundert Kohlenstaub schluckten, hatten ihm keine starke Lunge
vererben können. Der Bergwerksarzt hatte zu dem schwindsüchtigen
Häcksel gesagt, ein schwacher Mann wie er dürfe nicht heiraten, und er
dürfe auch keine Frau küssen, da er mit Kuß und Umarmung nur Unheil
anstiften könne. Ein Schwindsüchtiger müsse nicht daran denken, Kinder
zu zeugen. Durch ihn würden nur armselige kranke Menschen entstehen,
die ihm und der Welt zur Last fallen würden.

Häcksel hatte es am Feierabend darum nie so eilig wie seine Kameraden,
um hinauf ans Licht der Welt zurückzukehren. Ihm war im Bauch der
Erde wohl, wo es in Dunkel und Einsamkeit keine Wünsche gab. Nichts
erwartete ihn außerhalb des Bergwerkes als ein Strohsack in seiner
Kammer, und es lockte ihn nicht einmal dieser, da das Stroh ein
Geheimnis verbarg. Häcksel hatte im Stroh seit Jahren eine alte
Geldtasche verborgen. Die war voll alter Silbergulden. Die hatte er
in einem blinden Stollen unter der Erde gefunden, in einem Gang des
Bergwerks, der nur ihm allein bekannt war, und der im Bergwerksbuch
als vor Jahren von einem schlagenden Wetter verschüttet aus dem
Bergwerkplan ausgestrichen und nur als blinder Stollen bezeichnet stand.

Häcksel hatte von jenem Unglück von seinem Vater öfters erzählen
hören. Der Alte hatte behauptet, bei den Verschütteten dort in dem
blinden Stollen müsse sich auch Geld befinden, denn es war bei den
Verunglückten damals ein zufälliger Besucher des Bergwerks mit
umgekommen. Man hatte wohl versucht, nachzugraben, hatte aber die
mühsamen Arbeiten bald eingestellt und den Stollen verlassen.

Häcksel strolchte dort gern im Bergwerk herum und klopfte mit seinem
Pickel jahraus jahrein nach Feierabend in dem verschütteten Gang das
Gestein zur Seite. Eines Tages stieß er auf ein Gerippe, bald auf ein
zweites und drittes Gerippe, und dort fand er auch die alte Geldkatze
voll alter Silbergulden bei den Gebeinen liegen.

Häcksel konnte gut schweigen. Wenn ihn manchmal der Gedanke lockte,
seinen Kameraden von dem Fund zu erzählen, so hustete er sich schnell
und heftig den Sprechreiz aus Brust und Kehle fort.

Das Bergwerk lag in der Nähe eines oberbayrischen Sees, in den
Vorbergen der Alpen, und eine kleine Bummelbahn führte von dort an den
Dörfern vorüber bis München. In mancher Nacht, wenn Häcksel daheim in
seiner Hütte die alten Silbergulden mit gepulverter Kreide blankputzte,
nahm er sich vor, am nächsten Tag hinein nach München zu fahren und
das Geld bei einem Wechsler in Markstücke umzutauschen. Aber er hatte
sich fest vorgenommen: zum Leben wollte er nichts von diesem Geld
ausgeben. Das Geld sollte nur für sein Begräbnis ausgegeben werden.
Denn der Todesgedanke war Häcksels Lieblingsgedanke. Er sagte sich
immer, vom Tod könne er nur das Beste erwarten. Vor allem erwartete er
vom Tod Gesundheit. Wenn er diesen kranken, elenden, ewig hüstelnden
Körper abgelegt hätte, dann würde er gesund auferstehn, meinte Häcksel.
Es stand fest und klar in ihm, daß er mit seinem Tod ein neues und
gesundes Dasein beginnen würde. Darum war sein Sterben sein schönstes
und stolzestes Ereignis, das er zu erwarten hatte, und er wünschte
sich, um diese Verwandlung von Krankheit zur Gesundheit würdig zu
begehen, ein würdiges Begräbnis, eine teuere Seelenmesse, mit Orgel,
Musik und Glockengeläute, ebenso wie das, das unlängst der Hauptmann
der Feuerwehr des Bauernortes, in welchem Häcksel wohnte, bekommen
hatte, welches ein erstklassiges Begräbnis gewesen war. Ob nun das
Silbergeld im Berg bei den Gerippen lag, untätig und unnütz, oder ob es
für ein schönes Grab und einen schönen Sarg Verwendung finden würde,
das konnte den Gebeinen des Kaufmanns, den der Kohlenschutt deckte,
wohl gleich sein.

An diesem Feierabend, an welchem Häcksel auf seinem Zeigefinger die
kleine Flöhin Zinnoberchen vor das Grubenlicht hielt, dachte er eben
lebhaft daran, einen Tag festzusetzen, um endlich die Silbergulden in
der Stadt in Markstücke umzuwandeln, als ihm die Flöhin lebhaft hinter
das linke Ohr gebissen hatte. Dann ging er mit dem Tierchen nach dem
Pferdestall, um Zinnoberchen sorgsam auf einen Pferderücken zu setzen.
Aber auf halbem Weg war ihm seine alte Flohbekanntschaft vom Finger
verschwunden. Er glaubte, sie habe allein den Weg zum Pferdestall
gesucht. Der Floh aber war auf seine Bergwerkmütze gesprungen. Dort saß
er zwischen Hutschirm und Band, und in der Nacht in Häcksels Kammer
blieb er beharrlich auf Häcksels Mütze sitzen, und als es ganz still
im Zimmer war, hörte der Bursch den Floh auf der flachen Mütze leise
springen.

»Ah,« sagte Häcksel zu sich, »Zinnoberchen hat meinen Entschluß gehört!
Vielleicht habe ich laut vor mich hingesprochen im Bergwerk unten?
Zinnoberchen will mit nach München.«

»Ja, das will ich,« gab der fröhlich hüpfende Floh durch Tanzlaute auf
der Mütze kund.

In der Nacht noch band sich Häcksel die alte Geldtasche voll
Silbergulden um den Leib. Ehe das Tageslicht kam, setzte er seine
Mütze auf, auf der der Floh Sprünge machte, die, wenn man sie in Töne
umgesetzt hätte, Juchzer gewesen wären.

Der Bursch ging durch den Wald zur nächsten Bahnstation. Es war
Sonntagmorgen, und er wollte nicht vom Bahnhof des Heimatortes
abreisen, damit man seine Reise nicht bemerken sollte. Am nächsten Tag
wollte Häcksel wieder zurückkehren und wollte eine Ausrede gebrauchen.
Er wollte sich im Bergwerk entschuldigen und sagen, er habe sich zwei
Tage im Walde verirrt und verlaufen.

Der Floh, den morgens im kalten Februarwald fror, setzte sich
hinter Häcksels linke Ohrmuschel unter das warme Haar des Burschen
und betrachtete von dort die Gegend. Bald merkte Häcksel, daß alle
Gedanken, die er im linken Ohr hörte, ihm von Zinnoberchen eingegeben
waren, und nur die Gedanken im rechten Ohr waren seine eigenen. So
schritt er mit den zweierlei Gedanken wie im Frage- und Antwortspiel
über den holprigen Waldweg, wo der Schnee getaut war und fast laues
Vorfrühlingswetter herrschte.

»Ich bin der erste Bergwerkfloh der Welt, der an das Tageslicht kommt,«
sagte Zinnoberchen zum linken Ohre Häcksels.

»Nun weiß ich, warum ich so zufrieden bin,« meinte das rechte Ohr zum
linken Ohr, »weil ich Bergwerkgesellschaft habe am hellen Tag.«

Zinnoberchen hing sich an einem Schläfenhaar fest und schaukelte an
diesem Haar im Winde hin und her, denn es war ihm kreuzwohl.

Plötzlich aber fuhr dem Häcksel ein schrecklicher Gedanke durch das
rechte Ohr, und fuhr ihm vom Ohr in Hals und Brust, so daß er heftig
und schmerzhaft husten mußte.

Die Flöhin sprang bei der Erschütterung aus dem Haar fort und rasch
hinter Häcksels Ohr, kam aber gleich wieder zurück, unerschrocken, und
hing sich wieder fest an das Schläfenhaar und schaukelte weiter.

Der wilde Gedanke schoß aber in Häcksel kreuz und quer und rief:

»Vielleicht ist dir deshalb heute ein Bergwerkfloh zum erstenmal ans
Tageslicht gefolgt, weil es heute in der Grube ein Unglück gibt. Denn
man sagt, die Bergwerkflöhe verlassen nur dann die tiefen Stollen, wenn
sie schlagende Wetter vorauswittern.«

Dieses wußte Häcksel aus dem Munde seines seligen, außerehelichen
Vaters.

»Nein, nein und nochmals nein,« antwortete aber darauf das linke Ohr,
das von Zinnoberchen beraten war. »Es ist eine höhere Notwendigkeit,
warum ich das Bergwerk heute verließ.«

»Eine höhere Notwendigkeit?« echote es in Häcksel erstaunt.

»Jawohl,« rief die Flöhin auf Häcksels Kopf von links. »Daß ich
heute reise, geschieht aus allerhöchster Notwendigkeit. Ich bin eine
Abgesandte. Ich muß Flohmänner ins Bergwerk herbeiholen, frische
kräftige gesunde starke Flohkerle.«

»Warum ist Stänker, mein Leibfloh, zu diesem Auftrag nicht gut genug
gewesen,« fragte Häcksel ein wenig verletzt die Flöhin.

»Hat man je gehört, daß ein Flohkerl so reizend ist, daß seinetwegen
andere Flohkerle einen Sprung machen? Es muß schon eine Flöhin kommen,
wenn Flohmänner sich holen lassen sollen.«

»Und da hat man dich also, die Zarteste, mit mir nach München
geschickt?«

»Ach was! Man hat nicht mich mit dir geschickt. Sondern du bist von
mir und uns allen ausersehen worden, mich nach München zu bringen,«
behauptete die Abgesandte hinter Häcksels Ohr.

»Ich gehe meinethalben und nicht deinethalben, nicht in
Flohangelegenheiten, sondern in meinen gesunden Todesangelegenheiten
gehe ich nach München,« meinte Häcksel störrisch, als eben das
Morgenlicht aus den Waldbäumen grell auf seine Nase schien. »Licht und
Lärm kommen immer zusammen,« fügte er mürrisch und gereizt hinzu.
»Wenn ich nun aber umkehre?« setzte er fort. »Was dann?«

»Dann lassen wir dir irgend etwas Schlechtes geschehen. Unsere Art zu
erhalten, dazu ist uns kein Ausweg zu ungeheuer. Und ein Menschenleben
ist noch lange kein Flohleben wert, noch dazu ein so wackeliges
Menschenleben wie deines, das nur noch an einem Faden, sagen wir
lieber, nur noch an einem Fädchen hängt.«

»Ich wußte es ja,« schmunzelte Häcksel plötzlich aufgeräumt. »Ich
sterbe bald. Ich habe es auch nur deshalb so eilig, weil ich die alten
Gulden umwechseln will, um Geld zu einem schönen Begräbnis bereit zu
haben.«

»Den Glauben will ich dir gern lassen,« meinte die Flöhin zweideutig.

»Wie meinst du das?« fuhr Häcksel auf. »Werde ich am Ende doch nicht
bald sterben? Oder werde ich das Geld am Ende gar nicht zum Begräbnis
verwenden dürfen?«

»Das kommt darauf an. Versprechungen oder gar Belehrungen teilen wir
Flöhe eigentlich selten aus. Wir denken zuerst an uns. Und da du als
Mensch in unserer Flohgewalt bist, mußt du gehorchen.«

»Hoho!« hustete Häcksel und hustete sich blaurot vor Eifer. »Ich bin in
niemandes Gewalt. Ich bin ein freier Bergwerkarbeiter. Nicht mal der
Grubenherr hat mir außerhalb des Bergwerkes etwas zu sagen. Heutzutage
herrscht Freiheit im Arbeitervolk. Wir sind keine altmodischen Knechte
mehr.«

»Daß ich nicht lach,« kicherte Zinnoberchen und ließ das schaukelnde
Schläfenhaar los, sprang zurück und biß herzhaft dem Häcksel in das
linke Ohrwatschel, so daß ein Blutstropfen, groß wie der dickste Floh,
dem Burschen aus der Haut quoll.

Häcksel hielt wie immer still, wenn ihn ein Floh biß, teils um seiner
Gesellschaft nicht verlustig zu gehen, teils weil er es so seit
Väterszeiten im Bergwerk gewöhnt war.

Zinnoberchen setzte sich an den Blutstropfen, sagte nichts mehr und
frühstückte lebhaft beschäftigt, während der arme Bursche unter den
kahlen Waldbäumen ging, manchmal von Husten geschüttelt und von Hunger
gekrümmt.

Als die Flöhin von Menschenblut satt war, sagte sie nicht einmal
»danke«, sondern kroch unter dem Mützenrand unten durch auf Häcksels
Kopf, wo die Luft zwischen Haar und Mützenfutter gemütlich warm war.
Dort machte sie sich's bequem. Zuerst putzte sie ihre furchtbaren
Beißwerkzeuge, strich dann ihre gewaltigen Springbeine glatt, dehnte
sich und streckte sich auf dem weichen fettigen Haarboden zu einem
Verdauungsschläfchen aus. Sie hüstelte nicht, sie dachte nicht an den
Tod. Sie dachte nur an Lebensfortsetzung und Lebensgenuß. Sie murmelte
im Einschlafen, indem sie mit den Hinterbeinen zum Vergnügen ein wenig
auf den Haarboden trommelte: »Dummkopf! Dummkopf! Du meinst, du bist
der Stärkere! Du, der mir doch zum Frühstück dienen muß!« Dann schlief
die altadlige Flöhin aus dem vornehmen Bergwerkgeschlecht sanft ein,
indessen der hungrige Bergmann unter ihr wie ein Kamel weitertrabte und
hungernd und hustend den Bahnhof des nächsten Dorfes erreichte.

Häcksel hatte auf der letzten Strecke zum Bahnhof stark nachgegrübelt,
wie er unauffällig mit dem nächsten Zug nach München kommen könnte.
Niemand sollte seine Abwesenheit oder seine Reise bemerken. Da war ihm
eingefallen, daß immer ein langer Kohlengüterzug um diese Morgenstunde
nach München fuhr. Er kannte aber den Bremser des Zuges, und dieses
schien ihm gefährlich, denn er wollte sich niemandem anvertrauen, um
seine Silbergulden ungestört umwechseln zu können. Er beschloß, sich
unter einem Kohlenwagen anzuklammern und dort in dem Versteck sich nach
München fahren zu lassen.

Der Kohlenzug kam immer langsam und gemächlich daher und hielt einen
Augenblick draußen vor dem Bahnhof, bis die Weiche gestellt wurde und
er dann ebenso gemächlich weitertrotten konnte. Dieses hatte Häcksel
früher beobachtet, und diesen Augenblick wollte er benutzen und sich
unter den Wagen an den Ketten dort anhängen. Der Platz war schrecklich
unheimlich und grauenhaft qualvoll, und der Güterzug würde erst in
der Nacht in München ankommen. Aber was machte das dem Burschen, der
so dringend ein reiches Begräbnis erster Klasse haben wollte. Für die
Ehren, die seinen Leichnam später dann einmal erwarten würden, hätte er
gern noch Schlimmeres ertragen.

Indessen nun der junge Bergmann eingeklemmt und gemartert zwischen
Rädern, Ketten und Eisenstangen hing und in ewiger Todesgefahr schwebte
und der furchtbare Eisenlärm, das Schütteln und Rasseln und Stampfen
des Wagens, unter dem er schweißtriefend angeklammert war, ihn zu
betäuben drohte, schlief die Flöhin im Kopfhaar des Burschen köstlich,
und wenn sie hungrig wurde, krabbelte sie an Häcksels Nacken entlang
und suchte sich eine möglichst zarte Stelle seines Rückens oder seiner
Brust aus, biß herzhaft zu und sog das süße heiße Menschenblut in sich
ein.

So kamen beide, jedes auf seine Art, vorwärts. Der Mensch geplagt,
geängstigt und verliebt in seinen Tod, der Floh zufrieden, gesättigt
und verliebt in Blut und Leben.

Spät in der Nacht fuhr der Güterzug langsam in den Bahngeleisen von
München ein. Unbemerkt machte der erschöpfte blinde Mitreisende sich
unter dem Wagen los und schlich sich im Güterbahnhof auf Seitenwegen
über Schienen, über einen Stachelzaun und eine Plankenwand kletternd
davon.

Der Güterbahnhof lag abseits, und in dem Stadtviertel in nächster Nähe
standen einfache schweigende Häuserreihen, und in weiten Abständen
brannten einsame Laternen. Häcksel wollte einen Gasthof aufsuchen und
am nächsten Morgen die alten Guldenstücke umwechseln und dann mit
der Bahn gemächlich auf einem Sitzplatz zurückfahren und auf einer
Haltestelle, etwas entfernt vom Heimatdorf, aussteigen. So würde dann
die Reise unbemerkt geblieben sein, er wäre dann nur als Waldverirrter
in die Kohlengrube zurückgekehrt und hätte ohne viel Worte seine Arbeit
im Stollen aufgenommen, nachdem das gewechselte Geld im Strohsack
versteckt und eingenäht worden wäre.

Aber es sind immer bei Entschlüssen mehrere Mächte mitbeteiligt, und
niemand führt einen Entschluß allein aus. Das sollte jeder bedenken,
ehe er Heimliches tun will. Unser Alleinsein ist immer nur ein
scheinbares, in Wirklichkeit ist jedes Handeln unsichtbar mit tausend
Mithandelnden verknüpft.

So hatte Häcksel nicht daran gedacht, daß nach der langen Fahrt unter
dem Kohlenwagen sein Kopf betäubt, seine Kräfte erschöpft, sein Herz
schreckhaft und gedankenlos sein würde, wie es nicht am Morgen, da er
frisch ausgeschlafen die Reise angetreten, gewesen war.

Außerdem hatte er vergessen, daß es Fastnachtsonntag war. Der
Fastnachttrubel in der Großstadt München war ihm ganz unbekannt.
Häcksel lebte jahraus, jahrein menschenscheu und ins Bergwerkleben
versunken, so daß er ganz abseits stand von allen Lebenserfahrungen.
Nie war er in einer Stadt gewesen, nichts wußte er von Faschingstagen,
nichts vom närrischen Treiben einer Maskenwelt, die er nie gesehen oder
erlebt hatte.

So ging er, in München angekommen, mit schwankenden müden Knien unter
den dunkeln Vorstadthäusern hin, die ihn mit ihren vielen Stockwerken
und ihren vielen dunkeln Fenstern einschüchterten. Als seine Schritte
in der Nacht so einsam auf dem leeren Vorstadtpflaster hallten, wurde
ihm schwindlig vor Hunger, Schwäche und Aufregung. Und ängstlich
gemacht, weil er glaubte, die stillen Häuserbewohner wecken zu können,
zog er seine harten Stiefel aus und ging auf lautlosen Socken weiter.

Er hatte keine Ahnung, daß in den leeren Häusern, die meistens
Neubauten waren, noch gar keine Menschen wohnten, und so schlich er an
den unbewohnten frischweißen Häusern stumm und behutsam und lautlos
wie ein Nachtvogel hin und wußte nicht, daß er wie ein ertappter Dieb
aussah.

Zinnoberchen aber, seine Flohherrin, war längst wach und aufmerksam
und witterte mit Begierde, von Häcksels linker Schläfe aus, die
tausend Flöhe der Stadt München, die jetzt in der Nacht alle auf
waren und springend bei Tanz und Leibesfreuden wacher als die Sterne
am kalten Februarhimmel lebten. Trotzdem die Häuser hier unbewohnt
waren, witterte die eifrige Flöhin den menschlichen Blutgeruch aus den
nächsten bewohnten Stadtteilen, und Häcksels Beine gingen ihr viel zu
langsam vorwärts; sie wäre am liebsten in großen Sprüngen über die
nächsten Dächer dem vor Schwäche taumelnden Häcksel vorausgeeilt.

Und nun stieß Häcksel gar mit dem Kopf an einen Laternenpfahl, wankte
und fiel, von Hunger und Überanstrengung geschwächt, besinnungslos
neben der Laterne nieder.

Das brachte die Flöhin ganz aus ihrer Ruhe, und sie stieß einen jener
Pfiffe aus, den nur die feinen Flohohren hören können, der aber weiter
zu hören ist als jeder Menschenruf. Dem groben Menschenohr aber ist ein
Flohpfiff zu fein, das menschliche Trommelfell steht wie eine Mauer
tot dort, wo ein Flohohr noch Laute hört. Sofort antwortete der Flöhin
ein Antwortpfiff. Es war aber kein Floh, sondern auch eine Flöhin,
die sich aus einem Neubau bemerkbar machte. Im dunkeln Bau brannte
ein rotglühender Trockenofen und dort bei dem Arbeiter, der den Ofen
bewachte, saß ein Mädchen auf ein paar aufgeschichteten Backsteinen.
Das hatte die Flöhin, die Häcksels Flöhin zupfiff, im Nacken sitzen.
Der Arbeiter vor dem Ofen hatte eine Teufelsmaske auf seine Stirn
hinaufgerückt, so zeigte er zwei Gesichter übereinander. Der Mann war
gerade von einem Maskenball in der Nacht auf den Bau gekommen, und
seine Tänzerin, die eine »Königin der Nacht« vorstellte, hatte ihn
begleitet. Beide stritten eben, wer von ihnen das meiste seiner Habe
zum Pfandhaus getragen habe. Das Mädchen behauptete, sie habe nur noch
einen Sonnenschirm bei einer Tante vergessen, den könne sie morgen noch
versetzen. Der Arbeiter aber behauptete, das Mädchen habe ihn betrogen,
weil sie bei einer Freundin noch ein Bügeleisen verborgen halte, das
sie nicht versetzen wolle. Er sagte, er wolle morgen nicht mehr mit ihr
zum Tanzen gehen, sie solle sich einen andern Tänzer suchen.

»Ich habe auch noch einen Floh, den ich nicht versetzt habe,« lachte
das Mädchen übermütig und sagte frech, sie werde sich nicht erst
morgen, sondern gleich für diese Karnevalsnacht noch einen neuen Tänzer
suchen.

Der Arbeiter gab ihr einen Tritt, daß sie von den Backsteinen aufflog
und es an der Zeit fand zu verschwinden. Aber ehe sie ging, warf sie
noch einen Backstein hinter sich in den Trockenofen, so daß Funken und
Feuer dem fluchenden Mann um seine zwei Gesichter flogen.

Die Königin der Nacht öffnete rasch die Plankenzauntüre und wollte
nochmals dem Arbeiter eine rohe Antwort zurückrufen, als sie nahe bei
sich unter der nächsten Laterne den ohnmächtigen Häcksel liegen sah.

Inzwischen hatten sich aber die beiden Flohweiber schon laut
verständigt und verstanden.

»Ich habe da einen Esel von einem Kerl,« rief Zinnoberchen der andern
Flöhin, die sich »Vielliebchen« nannte, zu. »Ich will nicht in der
Nacht mit dem Dickschädel zusammen erfrieren. Wissen Sie nicht, wie
man einen solchen Tölpel zur Besinnung zurückruft? Ich habe nämlich
Eile und will auf ihm weiterreiten. Nein, was einen doch manchmal die
Menschentiere ärgern können! Ich habe ihn schon in den Augendeckel
gebissen, aber er schlägt die Augen nicht auf.«

»Guten Abend,« rief Vielliebchen vom Nacken des Mädchens. »Ist Ihnen
Ihr Mensch gestürzt? Ach Gott, springen Sie doch lieber ab und kommen
Sie herüber zu mir. Ich nehme Sie auf meinem Vieh mit zur Stadt.«

»Ach, nein, das geht nicht,« pfiff Zinnoberchen, »ich würde den
Schwächling schon gern verlassen, da er doch bald krepiert, der Kerl.
Aber erst muß er mich doch noch nach unserem Bergwerk zurücktragen.«

»Ah, ah, Sie sind aus einem Bergwerk,« wunderte sich die Stadtflöhin
laut. »Sie sind wohl zum Tanzvergnügen in die Stadt gekommen?«

»Ja, hm, hm,« meinte die Flöhin Häcksels, welche sich ärgerte, daß die
Rednerin kein Floh war, den sie hätte ins Bergwerk einladen können.
Doch ihren Auftrag, Männer zu suchen, wollte sie nicht gleich verraten.

Der Kopf der »Königin der Nacht« bog sich eben ganz nah über
Häcksels Kopf, und die beiden Flohfrauen konnten sich schweigend
betrachten, indessen die maskierte Menschenfrau die Westentaschen des
besinnungslosen Bergmannes nach Geld durchsuchte. Als sie nichts fand,
nahm sie die Stiefel, die neben Häcksel lagen, und warf den einen über
den Bretterzaun dem Arbeiter am Ofen an den Kopf.

»Das geht nicht. Den Stiefel her, sie muß sofort den Stiefel wieder
holen,« begehrte heftig ärgerlich Zinnoberchen. »Wir brauchen den
Stiefel zum Heimweg.«

»Den Stiefel her,« rief jetzt auch Vielliebchen.

»Er kommt schon,« antwortete ein dritter weiblicher Floh fernher vom
Bauch des Arbeiters am Trockenofen. Und zugleich warf der erboste
Arbeiter, der das Wurfgeschoß im Eifer für einen zweiten Backstein
gehalten hatte, den Stiefel über den Zaun zurück, und er fiel Häcksel
auf die Stirn, so daß der Besinnungslose erwachte, als eben die
Maskierte seine Hosentasche nach Geld durchsuchen wollte.

»O, o,« seufzte Häcksel und starrte auf die in schwarze Schleier
gehüllte Gestalt, an der unzählige stählerne aufgenähte
Paillettensterne im Laternenlicht bläulich glitzerten. »Wer bist du?«
fragte der Erwachte.

»Wer ich bin? Ich bin halt eine von der Gasse. Ach, du betrachtest
meine Sterne am Gewand! Ja, ich stelle nämlich die Königin der Nacht
vor. So heißt man meine Maskentracht.«

Verdutzt und verblödet vor Schwäche und Staunen schüttelte Häcksel den
Kopf.

»Wenn ich nur was zu essen hätte,« murmelte er, »dann wär alles gut.«

»Wenn du ein Geld hast, gehst halt mit mir; ich bring dich schon wohin,
wo du bald satt wirst.«

Erschrocken fuhr Häcksel mit den Händen um seinen Leib und tastete
nach seinem Leibgurt, und er wurde kräftig, als er merkte, daß ihm die
Silbergulden nicht fehlten.

Nachdem er verwundert zugesehen, wie ihm die Königin der Nacht
geholfen, die Stiefel anzuziehen, wanderten beide nebeneinander weiter.

Aber vorher sah Häcksel noch etwas Schreckliches. Er erblickte durch
die offenstehende Plankentür im Erdgeschoß eines Hauses einen großen
fensterlosen Raum, dort stand ein glühender Ofen, und vor der offenen
roten Ofentüre stocherte ein Mann mit zwei Gesichtern im Feuer herum.

»Was tut der dort?« stotterte Häcksel erschrocken.

»Komm weiter!« sagte die geheimnisvolle Schwarzverschleierte, »das ist
mein Schatz gewesen, der war mit mir beim Tanzen heute. Aber ich laß
ihn laufen, weil der arme Teufel kein Geld nie hat. Du bist jetzt mein
Schatz, wenn du ein Geld hast. Aber erst zeigen!«

»Was zeigen?« fragte Häcksel.

»Geld zeigen,« schnauzte ihn die Königin der Nacht barsch an.

»Niemals,« gab der Verwirrte zurück. »Das ist mein Begräbnisgeld, das
verausgabe ich nicht fürs Tanzen. Das gäb ich auch nicht dem Teufel!«

»Was, du Aff, du blöder,« kreischte ihn das Frauenzimmer an. »Von mir
aus kannst du dich auf dem Mist begraben lassen!« Und da sie von fern
den Schritt eines Schutzmannes hörte, gab das Frauenzimmer dem Häcksel
eine sausende Ohrfeige und sprang in die Nacht davon.

Dieser Backenstreich hatte das Gute, daß er den Burschen wärmer machte,
als wenn er einen Kognak bekommen hätte. Und ganz wach geworden, begann
auch er zu laufen, so rasch er konnte, dorthin, wo am Ende der dunklen
Neubautenstraße der Nachthimmel heller leuchtete, und wo ihm Leben zu
sein schien, das ihn lockte.

»Danke Ihnen!« hatte Zinnoberchen dem Vielliebchen noch nachgerufen,
als sie spürte, wie ihr Menschenvieh wieder flott weitertrabte. Sie
hatte, während Häcksel sich mit Hilfe des Mädchens aufgerafft hatte,
allerhand Ratschläge von der Flöhin erhalten, besonders nachdem
sie berichtet hatte, welches ihr Reisezweck war. »Sie müssen Ihren
Kerl in ein Haftlokal lenken,« hatte ihr die kluge Stadtflöhin noch
zuletzt geraten. »Dort wimmelt es von allerhand Möglichkeiten,
Flohmännerbekanntschaften zu schließen.« Dann hatte sie ihrem
Menschenvieh ins Ohr geschrien: »Haue ihm eine Ohrfeige hin.« Was
auch geschah. Also ermuntert von dem guten Einfall Vielliebchens, war
Häcksel stark und unternehmend ins Leben zurückgekehrt und fühlte
sein Blut besonders auf der linken Gesichtshälfte, wo der Schlag
hingefallen, angenehm warm kreisen.

Man ist doch in der Hauptstadt gleich mitten im Leben, dachte heiß
der Geohrfeigte. Die Königin der Nacht und der Teufel sind mir schon
begegnet. In unserem Bergwerk daheim werden die Flöhe staunen, wenn sie
davon hören.

Und er überzeugte sich, mit dem Zeigefinger hinter sein Ohr tastend,
daß er die Flöhin Zinnoberchen noch nicht verloren hatte, und war
zufrieden darüber.

Dann fand Häcksel endlich eine lebhaftere Straße, und da funkelte
Licht, und erleuchtete Wagen ohne Pferde surrten heran und jagten
vorüber. Und in der nächsten Straße war so viel Licht, als wenn Häcksel
einen Schlag mit der Faust ins Auge bekommen hätte und Feuerfunken
tanzen sehen könnte. Menschen, Männer und Frauen, Arm in Arm, sich
wiegend und lachend und kreischend, kamen herangezogen. Manche hatten
weiße, andere rote, andere schwarze Gesichter, und einige hatten
besonders große Nasen vom Gesicht abstehen, aber alle grinsten
vergnügt. Häcksel hatte niemals ähnliche Menschen gesehen und wurde
scheu und ängstlich. Und wie er an ein besonders hellerleuchtetes
Haus kam, dachte er, das müsse ein Gasthaus sein. Denn es war ein
leuchtendes Schild davor, das glänzte auf und verschwand, und der Wirt,
der das Gasthaus besaß, hieß »Kino«.

Der Mann stand in einem langen grünen Rock vor der hellerleuchteten
Türe, und viele goldene Knöpfe glänzten an ihm und goldene Tressen.

»Ach, Herr Wirt,« grüßte Häcksel den Türwächter des Kinotheaters, das
er für ein Wirtshaus hielt, »kann ich hier ein Glas Bier trinken.«

»Natürlich,« nickte der, »Bier gibt es auch in den Zwischenpausen.«

Dann mußte Häcksel an einer Kasse einen Platz für das Biertrinken
bezahlen und kam in einen dunkeln Saal, wo man mit dem Licht sparte.
Das kam ihm seltsam vor. Im dunkeln Saal war nur eine helle Wand, durch
die sah man hinaus auf eine lebendige Welt.

Häcksel dachte: Die Leute sitzen hier wie in der Kirche, und die
Dunkelheit ist gruselig, vielleicht ist das das Jüngste Gericht. Denn
alle Anwesenden waren totenstill und alle sahen auf Schattenmenschen,
die auf einer Wand erschienen und zitternd in einem Lichtstrahl
vorüberliefen, lautlos und ohne Stimme, und dazu ertönte von
unsichtbaren Musikanten eine Musik. Aber Häcksel nahm sich vor,
lieber auch auf das Glas Bier zu verzichten, als sich dem totstillen
Jüngsten Gericht auszuliefern und einzugestehen, daß er einen Gurt voll
unrechtmäßig erworbener Silbergulden bei sich habe.

Er drehte sich rasch entschlossen auf dem Absatz um und lief wieder
auf die Straße hinaus.

Da kam ein erleuchteter langer Straßenbahnwagen gefahren, und Häcksel
sah, daß viele Leute dort in den Wagen einstiegen. Und allen Leuten
glitzerten bunte Kleider unter den Mänteln, und alle trugen bunte
Mützen, und die Frauen hatten Kapuzen überm Kopf, und alle kicherten
und lachten und kreischten, und sie waren so vergnügt, als ob sie in
den Himmel führen.

Und Häcksel drängte auch mit in den Wagen, und als das Gefährt sich
bewegte, begann er zu schwanken und fiel auf den Schoß eines Mannes,
der hatte einen pechschwarzen Backenbart um ein rosiges Gesicht
hängen. Und er hatte einen breiten Leibgurt und war in tiroler Tracht
gekleidet, und auf dem Gurt stand mit silbernen Fäden gestickt:
»Andreas Hofer«.

Daß das der Andreas Hofer selbst war, glaubte Häcksel nicht. Er müßte
höchstens dann von den Toten auferstanden sein. Aber es war vielleicht
ein Verwandter von Andreas Hofer, der den Gurt geerbt hatte, meinte der
Bergmann. Und wie er noch ganz verblüfft dem Andreas Hofer im Schoß
saß, schien ihm der Mann so anziehend, als wenn er gar kein Mann,
sondern eine Frau wäre. Und er blieb ruhig sitzen, wo er warm und weich
saß, weil gar kein Platz im Wagen war als auf dem Schoß von Andreas
Hofer.

Inzwischen flüsterte ihm dieser heimlich ins Ohr: »Ich heiße Ida
Fliegenhitzer. Willst mit? Dann bist gern eingeladen!«

Der Häcksel war zwar ein schwachbrüstiger, sonst aber ein ganz
schmucker Bursch. Wenn er nicht die Schwindsucht gehabt hätte, wäre er
eine Männerschönheit gewesen. Es fehlte ihm nichts als rote Backen und
ein Brustkasten.

Eine wunderschöne Stadt, diese Stadt München! Die Männer verwandeln
sich in Weiber, sogar wenn sie vorher Andreas Hofer geheißen haben und
einen schwarzen Backenbart besitzen.

Also ging Häcksel mit der Ida Fliegenhitzer in ein Bräu, nachdem sie
ihm vorher gezeigt hatte, daß ihr Bart nicht angewachsen war. In dem
Brauhaus war es noch erstaunlicher als auf der Straße.

Im Gedräng erschien dort plötzlich ein Mann mit goldener Krone auf dem
Kopf, das war der König, und er hatte auch einen roten Mantel und ein
goldenes Zepter. Der nahm augenblicklich dem Häcksel die Andreas Hofer
vor der Nase weg und hob sie auf seine Schulter und trug sie davon.

Der Häcksel staunte schon bald über gar nichts mehr, auch nicht, als
er sich ein Glas Bier bestellte und es ihm von einem vorübertanzenden
Neger mitgenommen und ausgetrunken wurde.

In der Straßenbahn war der Bergmann im Gedräng mitgefahren, ohne zu
bezahlen; im Kino hatte er das einzige Zehnmarkstück, das er bei
sich hatte, aus der Hand verloren oder hatte es dem Andreas Hofer in
den Schoß fallen lassen; er wußte es nicht mehr genau. Er wußte nur,
daß er plötzlich kein Geld hatte als die ungewechselten altmodischen
Silbergulden. Als ihm das Bier ausgetrunken wurde, bezahlte er es
nicht, sondern drückte sich heimlich auf die Straße zurück.

Dabei fühlte Häcksel plötzlich, daß ihm viel Leben in die Kleider
gekommen war. Denn die Bergwerkflöhin hatte überall im Gedräng
Flohgenossen gewittert und diese laut zu sich eingeladen, und die
Neuangekommenen untersuchten nun das Vieh, das die Flöhin ritt, um
sich zu entscheiden, ob diese Menschenart ihnen zusagte, ehe sie
einwilligen wollten, die Reise nach dem Bergwerk mitanzutreten.

Das Zinnoberchen lobte Häcksels Blut über alle Maßen. Es wäre besonders
süß, sagte sie, da der Bursch immer Fieber habe, und deshalb sei sein
Blut immer um einiges wärmer, als Menschenblut sonst ist.

Die Flöhe aber waren alle zimperliche verwöhnte Stadtherren und fanden
gar keinen Gefallen an Häcksel. Sie nahmen sich vor, einer nach dem
andern wieder im Gedränge abzuspringen und die Bergwerkflöhin mit ihrem
Menschenvieh allein zu lassen, denn sie fanden sein Blut matt und
abgestanden. Trotz der Ohrfeige, die, wie die Flöhin ihnen versicherte,
das Vieh eben bekommen habe, fanden sie das Bergmannblut nicht süß,
sondern säuerlich. Ein älterer Flohherr gab der Bergwerkflöhin noch
rasch einen guten Rat, ehe er zum Absprung ansetzte. Sie müsse den
Menschenkerl in ein Haftlokal bringen, dort wäre manchmal eine Zufuhr
von frischen Arbeiter- und Kroatenflöhen vorrätig. Diese könnten dem
Bergwerk gut zur Auffrischung der Lebenslust dienen.

Häcksel, dessen Magen leer und überhungert war, schwankte wieder in
das Brauhaus zurück, denn es war ihm zu seinem Hunger auch noch ein
großer Schrecken in die Glieder gefahren. Er hatte draußen unter einer
Laterne den leibhaftigen Tod aus einer Droschke aussteigen sehen.
Eine lange weiße Gestalt mit einer Sense in der Knochenhand hatte
er gesehen, und unter einem weißen Laken grinste ihn ein Totenkopf
so schaurig an, wie nur die Totenköpfe der Verschütteten ausgesehen
hatten, die Häcksel im blinden Stollen ausgegraben, ehe er auf den
Geldgurt gestoßen war.

Rasch wendete sich Häcksel, am ganzen Leibe schlotternd, wieder in
das Brauhaus zurück und ließ sich vom Gedränge vorwärtsschieben, halb
erwürgt von Hunger, Durst, Schwäche und Angst.

Da stand ein hübsches Mädchengesicht vor ihm; das war von einem
Vergißmeinnichtkranz umrahmt, und kleine flachsblonde Locken kräuselten
sich ihr zierlich um Stirn und Nacken und verdeckten die Ohren. Vom
Kopf fiel ein bräutlicher Schleier, der war dem blonden Geschöpf unterm
Kinn zusammengebunden und hüllte auch den Körper zart und dicht ein.
Auch Silberspangen und Silbergürtel glänzten an ihr.

»Bist du mein Schutzengel?« stieß der geängstigte Häcksel hervor. Die
weiße Gestalt nickte geheimnisvoll und hing sich an seinen Arm und
legte ihren weißbehandschuhten Zeigefinger auf ihren Mund, zum Zeichen,
daß sie schweigen müsse.

Der Bursche war froh, daß er nach dem Anblick des Totenkopfes jetzt von
dem vergißmeinnichtbekränzten Mädchen begleitet wurde. Er bestellte bei
der Kellnerin zwei Glas Bier und vieles Essen und entschloß sich, die
Zeche von seinem Begräbnisgeld zu bezahlen.

»Du bist ja so blaß,« wisperte der Schutzengel und schmiegte sich am
Biertisch, der dichtbesetzt war, auf Häcksels Schoß. Die Bekränzte
reichte ihm dann aus ihrem Handtäschchen einen Spiegel und einen roten
Stift. Während Häcksel in den Spiegel guckte, malte das Mädchen ihm
gesunde rote Backen und eine kräftige rote Nase in sein Gesicht.

Häcksel mußte lachen und sich wundern über das, was die Schutzengel
alles verstehen. Er, der kranke blasse Häcksel, sah nun wie das
glühende Leben aus. Mindestens so rot, als ob er zwei neue Ohrfeigen
links und rechts und einen Faustschlag auf die Nase bekommen hätte.

Während er eben erleichtert aufatmen wollte, fand er sich ums
Zwerchfell besonders leicht geworden, und er bemerkte, wie ihm sein
Schutzengel den schweren Geldgurt abgeknöpft hatte, indessen er in sein
gesundes rotbackiges Spiegelbild vertieft gewesen. Der Schutzengel
wollte eben den Gurt in der Tiefe seiner Schleier verschwinden lassen,
als Häcksel zugriff und den Gurt heftig an sich riß.

Dieses geschah im gleichen Augenblick, als die Kellnerin mit vielen
Tellern und Schüsseln, voll mit leckerem Braten, Kraut, Kartoffeln
und Brot und mit Biergläsern beladen, sich über den Tisch beugte und
Essen und Trunk vor Häcksel niedersetzte. Die Bratendämpfe stiegen dem
schwachen Burschen wunderbar anregend in die Nase, und er vergaß den
Schutzengel einen Dieb zu nennen, da Bier und Speisen, die vor ihm
hingerückt waren, ihn ganz mit Essensgier erfüllten.

Aber ein lautes Klingeln und Rollen von vielen Silberstücken unter
Tisch und Stühlen und der offene leichte Geldgurt, aus dem ihm alle
Silbergulden fortgerollt waren, erschreckten ihn, und er fuhr auf.
Der helle Schutzengel, der sich noch nach einigen Silbergulden gebückt
hatte, verschwand rasch im Gedränge zwischen den nächsten Tischen.

Die Leute in nächster Nähe, die das viele Geldherumrollen hörten,
bückten sich alle zugleich und suchten nach dem Geld. Viele halfen die
Gulden aufheben. Man lachte und brachte die Gulden zurück, aber viele
Gulden blieben auch in den Händen der Suchenden und unter ihren Füßen,
die sich fest daraufstellten und nicht weiterrückten.

Häcksel bekam nicht die Hälfte der Gulden zurück, und der Gurt war viel
leichter als vorher, und es schmerzte den Burschen sehr, als er dachte,
um wievieles weniger schön sein Begräbnis nun werden würde. Und Schuld
daran war sein diebischer Schutzengel.

Inzwischen hatten sich auch einige Bratenteller geleert und das Bier
war verschwunden, und nur ein Teller mit Brot war vor Häcksel stehen
geblieben. Er war eben dabei, ein Brot zu nehmen und den ersten
Bissen, den er an diesem Tag bekam, in den Mund zu stecken, als ihm
das Brot aus der Hand genommen wurde und der Schutzengel wieder mit
einem rothaarigen Menschen vor Häcksel stand und diesen für einen
Falschmünzer erklärte.

Die alten Gulden wären nachgemachte Gulden aus Zinn, erklärte der
Rothaarige und forderte von Häcksel, daß er ihm augenblicklich den
Ledergurt mit den Münzen ausliefere.

Häcksel sagte das, was er sich für alle Fälle vorher zurechtgelegt
hatte, er habe die Silbergulden geerbt.

»Es sind Zinnmünzen,« erklärte der Rothaarige und winkte einem
Schutzmann, der den Schutzengel und Häcksel beide zum Saal
hinausdrängte. Viel Volk begleitete sie, und draußen wurden beide in
die Droschke gepackt, aus der vorher der Tod ausgestiegen war.

Dem Häcksel schwirrte der Kopf. Der Schutzengel aber und der
Schutzmann, die mit ihm in der Droschke saßen, flüsterten miteinander.
Dann hielt der Wagen, und beide stiegen aus und hießen ihn warten.
Der Rothaarige, der beim Kutscher auf dem Bock gesessen hatte, sagte,
nachdem er sich mit dem Schutzengel am Wagenschlag leise besprochen
hatte, Häcksel müsse aussteigen und an einem Tor warten, bis sie
wiederkämen. Wenn er sich aber rühren würde, dann kämen die Bluthunde
hinter dem Zaun hervor und würden ihn zerreißen.

Häcksel, der kaum noch vor Hunger und Aufregung sehen und hören konnte,
setzte sich auf einen Prellstein am Tor nieder.

Dort fand ihn nach mehreren Stunden ein seltsames Paar. Ein in ein Fell
eingenähter Mensch, der einen künstlichen Löwenkopf aufgestülpt hatte,
und ein kahlköpfiger Alter in grauem Kaftan, der eine Laterne in der
Hand trug, die fanden Häcksel tief eingeschlafen.

Der Löwe beschnupperte den Schlafenden, und der Laternenmann
beleuchtete ihn, und dann setzten sich Löwe und Greis zu beiden Seiten
neben Häcksel nieder und schliefen neben Häcksel ein. Die Laterne,
die auf dem Pflaster stand, beleuchtete alle drei Gesichter, und
auf Häcksels Stirn kamen seine Schicksalslenker zusammen. Das waren
stattliche Flohkerle, die aus den Polstern der alten Droschkenkissen zu
Häcksels Flöhin Zinnoberchen gehüpft waren. Die Flöhe berieten, was aus
ihnen werden sollte, denn sie hatten gesehen, wie der Rothaarige, der
Schutzmann und der Schutzengel Häcksels ganzes Geld behalten hatten,
und sie wußten, daß diese Leute Spitzbuben gewesen waren.

»Seid nur ruhig!« sagte ein Floh des Laternenmannes. »Wir treffen alle
zusammen im Haftlokal wieder. Sie sind schon verhaftet worden, weil die
vielen Silbergulden, die sie ausgaben, Verdacht erweckten.«

Und ein Floh aus dem Löwenfell machte Zinnoberchen stark den Hof und
tat sehr verliebt und versicherte, ihr bis ans Weltende folgen zu
wollen. Als er aber von ihr seinen verliebten Willen erreicht hatte,
sprang er vergnügt hoch in die Luft, kam aber aus der Luft nicht mehr
zurück. Denn er war heimlich hinter den Plankenzaun gesprungen, wo ein
Hühnerhaus stand, und dort ließ er es sich wohl sein bei den Flöhen der
Hühner.

Die Laterne brannte noch, als es schon Tag wurde, und der Löwe, der
Greis und Häcksel, alle drei schliefen fest und schnarchten wie
besessen, trotzdem die Bäckerjungen auf Fahrrädern mit Körben und
Säcken voll Brot an ihnen vorbeiradelten und ihr Morgenlied pfiffen.

Einmal aber versah sich einer der Bäcker aus Erstaunen über die drei
Schläfer, so daß sein Rad an den Straßenrand stieß und sein Korb mit
Brot im Bogen fortflog und gerade dem schlafenden Häcksel an die Stirn
fiel.

Häcksel erwachte, sah vor sich einen offenen Korb, der voll duftender
frischer Brötchen war. Er griff mit beiden Händen zu, und er hatte
bereits zwei Wecken verschlungen, als der gestürzte Bäckerbursche
herbeigelaufen kam und ein großes Geschrei aufschlug, weil er Häcksel
sah, der ein Brot nach dem andern verzehren wollte. Auch der Löwe
und der Greis waren erwacht und griffen, da es sie hungerte, nach
dem Brot. Als der Bäcker so sehr schrie, warf ihm der eine die
brennende Laterne an den Kopf. Zuletzt aber, wie der Bäcker die
drei einträchtlich seine Brötchen verschlingen sah und sie genauer
betrachtete, lachte er hellauf und fuhr rasch radelnd davon, denn er
war in der Nacht als weiblicher Schutzengel verkleidet gewesen und
erkannte plötzlich Häcksel wieder, dem er das Silbergeld gestohlen
hatte. Er war entschlüpft, als man seine Kameraden, den Rothaarigen
und den Schutzmann, verhaftet hatte und hatte zu Hause seinen
Vergißmeinnichtkranz, seine blonde Perrücke und sein Schleiergewand
abgelegt und war in seine Bäckerei, wo er Lehrling war, geeilt, weil
er die Wecken austragen mußte. Jetzt aber fürchtete er, von Häcksel
erkannt zu werden, und eilte schleunigst fort.

In dem Korb waren aber auch Bierbrezeln, und als der Löwe und der Greis
sich satt gegessen hatten, ließen sie Häcksel den Korb und sagten,
als er ihnen klagte, daß ihm sein Geld gestohlen sei, er solle die
Bierbrezeln in den Wirtshäusern verkaufen, damit er Heimreisegeld
bekäme. Dann raffte der Greis seine Laterne auf, und der Löwe verbeugte
sich, und beide verschwanden am Ende der Straße im Morgennebel.

Häcksel aber, dem der Mund trocken war, ging zu einer Straßenpumpe,
wo eben ein Kutscher seinem Gaul Wasser gab. Er bat den Kutscher, daß
er ihm vom Wasser aus der Pferdekufe trinken lasse. Als er getrunken
hatte und sich aufrichtete, erzählte er auch diesem Kutscher, daß man
ihm sein Geld gestohlen hatte. Der sagte, er habe schon davon gehört.
Ein Kollege habe ihm heute morgen erzählt, daß zwei Fahrgäste, ein
Rothaariger und einer, der als Schutzmann verkleidet war, einem Mann
einen Ledergurt mit Silbergulden gestohlen hätten, und daß beide von
wirklichen Schutzleuten zum Haftlokal geführt worden seien.

Dem Häcksel wurde ganz wohl, als er das hörte, und er schenkte dem
Kutscher die Bierbrezeln und bat, ihn dafür zu jener Polizeistation zu
fahren, da er seinen Ledergurt wiederholen wollte.

Der Kutscher tat das auch. Und Zinnoberchen, als es hörte, daß Häcksel
freiwillig zum Haftlokal fahren wollte, war vergnügt und guter Dinge
und vermißte ihren treulosen Floh aus dem Löwenfell nicht länger.

Aber auch Flöhe bekommen nicht in allem ihren Willen. Häcksel wurde
nicht ins Haftzimmer, sondern nur in die Polizeiwachtstube geführt.
Dort fand die Flöhin gar nicht, was sie wollte.

Man gab Häcksel seinen Gurt zwar nicht zurück, aber man zeigte ihm
denselben, und er erkannte ihn als den seinen.

Dann wurde ein Polizist beauftragt, Häcksel in sein Heimatdorf zu
begleiten und dort in Erfahrung zu bringen, wie Häcksel zu dem
Silbergeld gekommen sei.

Häcksel behauptete immer noch, er habe es geerbt. So kam Häcksel auf
Polizeikosten zurück in sein Heimatdorf. Nach langem Fragen glaubte
man endlich Häcksel, und man ließ ihn wieder seine Bergwerkarbeit
antreten.

Zinnoberchen bekam inzwischen viele Junge. Es waren Flohkinder, von
ihm, der damals in der Nacht über den Plankenzaun in den Hühnerstall
geflüchtet war. Die Flohmänner waren ihr unterwegs alle wieder abhanden
gekommen. Sie kehrte einsam und nur mit vielen Kindern beschenkt mit
Häcksel ins Bergwerk zurück.

Häcksel aber bekam zwar jenen Geldgurt zurück, doch fand sich kein
einziger Silbergulden mehr in dem Gurt. Die letzten waren auf der
Polizei herausgerollt, und niemand wußte wohin.

Als Häcksel den leeren Gurt umschnallte, wurde er schwermütig. Er
fieberte täglich heftiger und heftiger und wollte doch nicht sterben,
da ihn kein Begräbnis erster Klasse erwartete.

Häcksel hat sich dann im Bergwerkpferdestall anstellen lassen und kam
gar nicht mehr an die Erdoberfläche. Davon, daß er überhaupt nicht
mehr die Luft wechselte und immer in der durchwärmten Schachtluft
wohlbeschützt dahinlebte, heilte seine Lunge aus, und er genas von
seiner Schwindsucht und dem Fieber.

Aber eines Tages schlug ihm ein Pferd, als er sich eben bückte, mit dem
Hinterfuß vor den Kopf, da Häcksels Leibfloh das Pferd unsanfter als
sonst in die Weichen gebissen hatte.

Eine ganze Nacht lag Häcksel in seinem Blut unter dem Pferd. Niemand
war da, und nur die Flöhe sahen von allen Pferderücken herunter
neugierig zu, wie so ein Menschenvieh endlich einmal stirbt. Sie
lachten und kicherten, bissen in die Pferdeweichen und hatten es
wunderschön, indessen Häcksel nochmals die Nacht durchlebte, da er
alles Geld verloren hat. Der Teufel mit zwei Gesichtern setzte sich
auf eine Pferdekrippe in die Stallecke, wo der rote Laternenschein
den Stall schwach aufhellte, und von der Decke über dem Heu, wo die
Spinnweben dick festhingen, löste sich die Königin der Nacht los
und krallte eine Hand in Häcksels Kopfwunde, die ihm der Pferdehuf
geschlagen hatte.

»Laß mich, laß mich,« krächzte der Verwundete und wälzte sich zum
Vergnügen der jungen Flöhe hin und her. Und er sah dann, wie der
schwarzbärtige Andreas Hofer mit der Königin der Nacht zu ringen
begann. Es wurde im Stall heller, weil die Nacht von Andreas Hofer
besiegt wurde.

Dann nahte der vergißmeinnichtbekränzte Schutzengel und fragte Häcksel
streng, ob er noch etwas zu gestehen hätte, er solle sich das Herz
durch ein Geständnis erleichtern.

Die Flöhe verfolgten von den Pferderücken herunter dieses Theater im
fiebernden Hirn des Sterbenden mit Spannung. Denn da sie ihr Lebenlang
mit dem Menschenblut des Häcksels aufgefüttert waren, verstanden sie
dieses Blutes Sprache gut und sahen alles, was der Sterbende zu sehen
vermeinte.

»Ich wette, er wird nichts gestehen,« lachte der Jüngste der Flohbrut.
»Gesteh nichts, sag nichts, es ist dein gutes Recht zu schweigen,« rief
er mit Eifer zu Häcksel herunter.

»Nein, sage es nur! Er weiß es ja schon selber, daß du die Silbergulden
aus dem blinden Stollen gestohlen hast,« kreischte der Chor der andern
frech und lustig.

Häcksel schwieg und ächzte. Er schwieg auch, als alle Toten aus dem
blinden Schacht mit vorwurfsvollen Gesichtern an ihm vorüberzogen.

Da winkte der Teufel in der Ecke des Stalles, und herein sprang der
Höllenhund und stand wie ein großer Löwe mitten im Stall und schüttelte
sich knurrend.

Aber zugleich kam auch ein Greis herein -- das war Petrus -- und faßte
den Höllenhund an der Mähne, so daß er sich nicht auf Häcksel stürzen
konnte.

»Gesteh, daß du das Silbergeld nicht geerbt hast,« drohte der
glatzköpfige Petrus und griff nach der Stallaterne und drohte,
daß er das Lebenslicht in der Laterne, das dem Häcksel gehörte,
ausblasen würde, so daß der Halsstarrige dann vom finstern Höllenhund
verschlungen werden müßte.

»Bravo,« lachten die Flöhe und höhnten, »siehst du, jetzt hast du dein
erstklassiges Begräbnis im Bauch des Höllenhundes.«

»Ich habe das Geld -- das gar kein Geld war, von dem ich gar nichts
ausgegeben habe, von dem ich mir nicht einmal ein Glas Bier bezahlt
habe, -- im Stollen ausgegraben und nicht geerbt,« schrie Häcksel.

»Hier hast du ein Stück Holzkohle aus dem Feuerbecken des Teufels. Mit
diesem schreibe dein Geständnis an die Kalkwand des Stalles, damit die
Leute dein Geständnis schwarz auf weiß haben.«

Dann, als Häcksel geschrieben hatte, sagte Petrus und hob den
Zeigefinger drohend:

»Siehst du, mein lieber Häcksel, du hast es erleben sollen, daß
unehrlich angeeignetes Gut nicht den kleinsten Genuß bereitet. Und daß
Diebstahl einem mehr Mühe, Schweiß und Ärger bereitet als die härteste
ehrliche Arbeit, das weißt du jetzt.

Da du aber im Leben bereits deine Tat gebüßt hast, will ich dir nun
doch ein Begräbnis erster Klasse auf himmlische Staatskosten bereiten.
Komm und steige in die Himmelskutsche, die vor der Stalltüre steht. Mit
dir wird aber auch Zinnoberchen den Himmel und das Begräbnis erster
Klasse teilen, denn der Pferdehuf hat sie auf deiner Stirn zertreten,
als er dich traf.«

Da erst erfuhr die Flohbrut den Tot ihrer Mutter. Und nun duckten sie
sich alle vor Schrecken. Und das Pferdeblut und das Menschenblut in
ihren Leibern wurde ganz blaß, und sie sprangen für diese Nacht weit
fort in das Bergwerk und kehrten erst nach Tagen in den Stall zurück,
als man Häcksels Leichnam an die Erdoberfläche gebracht und dort wieder
in die Erde gebettet hatte.

Dieses ist die Geschichte von Häcksel und den Bergwerkflöhen. Und wenn
die Flöhe inzwischen im Bergwerk nicht doch ausgestorben sind, so leben
sie heute noch dort, so frech wie damals.



Zwei Reiter am Meer


Einige Gäste erhoben sich und verabschiedeten sich von der in Trauer
gekleideten Hausfrau und vom Hausherrn, der die Abschiednehmenden durch
die Diele zum Vorzimmer begleitete.

Ein Herr und ich waren allein die Letzten in dem großen
Bibliothekzimmer, wo wir nach dem Abendessen, zu dem wir geladen
gewesen, alle um einen runden Mahagonitisch beim Licht einer
grünverschleierten elektrischen Hängelampe plaudernd gesessen hatten.

Ich hatte mich an diesem Abend nicht viel am Gespräch beteiligen
können. Die weitgeöffneten Türen in die erleuchteten Nebenräume, in das
Musikzimmer, in den Speisesaal und in das Teezimmer, in denen überall
sanftes Licht und eine unendliche Ruhe sich ausbreiteten, hatten meine
Gedanken immer weiter von mir fortgezogen, und es war mir, als stünde
mein Stuhl nicht im Bibliothekzimmer eines vornehmen Landhauses
draußen im Waldhäuserviertel am Rande einer Weltstadt, sondern am
Rande eines Weltteils stand ich und sah auf ein Weltmeer, auf einen
grauen Ozean, dessen Wasserlinie in der Ferne zu Himmelswolken wurde,
zu Nebelbrodem; und nur in weiten Abständen warf manches Mal eine
langgezogene Strandwelle eine weiße Sprühschaumwolke in die Luft. Nur
diese eine große Wellenzuckung zeigte Leben auf jenem Wasserweltteil.
Sonst waren Himmel und Wasserfläche atemlos ausgebreitet und
verschwanden weit draußen im Nichts der Unendlichkeit.

Vor mir aber, ganz nahe am Wasserrand im Dünensande, lebte das rassige
Gliederspiel zweier vorüberschreitender Reitpferde, die von zwei
Menschen geritten wurden, die ich aber nicht näher beachtete, weil
vorerst nur die beiden Pferde und das einheitliche ungeheuerliche
Weltalleben von Meer und Himmel meine Aufmerksamkeit anzogen.

Der Glanz von den Flanken der spiegelglatten Tiere und hie und da der
Glanz im Meer, der von den weithin streichenden Linienwellen angeregt
auf- und abzuckte, machten Pferde und Reiter wie zu Spiegelgebilden,
zu Schattentänzern vor dem weiten Luft- und Wasserraum.

Es war ein hoheitsvolles Schreiten in den Beinen und Fesseln der
spielend und tänzelnd auftretenden Pferdegestalten. Es war wie ein
Musizieren in der Luft, ein gaukelndes Tönespiel in der adligen
Beweglichkeit der Tiere, als müßten das Meer und der Himmel zu einem
riesigen Instrument werden, auf dem Melodien geboren wurden beim
rhythmischen Vorwärtsschreiten beider Reitpferde.

Es kam mir nicht zum Bewußtsein, daß der lautlose Dünensand alle
Geräusche verschlucken könnte. Auch der Sand, schien mir, wurde zu
rieselnden Tönen unter der Berührung der zierlichen und rassigen
Glieder der Pferde.

Das Weltall um die Reitenden tönte bald gedämpft jauchzend auf, bald
klang es schneidend weh zu mir her wie die Geräusche der langen
schneidenden Linien der flachen Strandwellen.

Dieses Bild, das ich so lebendig sah, das Bild der zwei Reiter am Meer,
hing im nächsten Zimmer, im Musiksaal, in goldenem Rahmen über dem
Flügel. Ich konnte es vom Bibliothekzimmer aus nicht mehr sehen, aber
das Bild kam immer wieder zu mir.

Der Hausherr hatte mich, als wir nach dem Abendessen aus dem Speisesaal
kamen, auf das Bild, das ihm das Lieblingsgemälde seines Hauses war,
aufmerksam gemacht. Und ich hatte mich einen Augenblick auf eine
Sessellehne gestützt und hatte meinen Körper am Sessel verlassen und
war mit meinem Geist durch den Rahmen des Bildes aus dem Haus, aus dem
Land weit fort gegangen und an den Meerrand getreten. Als wir dann
später im Bibliothekzimmer um den runden Tisch saßen, war es, wie
ich es eben beschrieb. Das Bild kam immer wieder zu mir. Es hob die
Wände der Zimmer fort. Die Ruhe der beleuchteten Nebensäle wurde zur
Ruhe des Weltmeeres, das gedämpfte Licht in den Räumen zur Ruhe des
Himmelslichtes über den Urwassern.

So wußte ich, als ich mechanisch aufgestanden war und der Hausherr mit
einigen Gästen das Zimmer verließ, bald nicht mehr, was Wirklichkeit
und was Unwirklichkeit war.

Es stand eine weite gedämpfte Festlichkeit um mich, von der ich mich
halb nicht trennen konnte, und halb wieder getrennt fühlte, da diese
Festlichkeit nicht mir gehörte. Denn es war die Festlichkeit der
Schmerz und Freude ausgleichenden Todesstunde, die aus den Zimmern
dieses Hauses noch nicht gewichen war, die den Alltagsräumen eine
höhere Verklärung hatte geben können, als es sonst hier laute Feste
vermocht hatten.

Ich war in demselben Hause vor Jahren zu einem großen Abendfest
gewesen, aber die erlesen geschmückten Frauen und geistesgewandten
Männer hatten bei Tanzschritten, Witz und Fröhlichkeit, bei Wein und
Musik keine ähnliche Größe der Festlichkeit schaffen können, keine
ähnliche Erhöhung des Hauses, wie es jetzt ein einziger Mensch getan,
ein junger Mensch, der einzige Sohn, der durch seinen Todesschritt das
Haus an den Rand der Unendlichkeit gestellt hatte. Wie diesem war es
nur dem Künstler gelungen, das Haus fortzuheben, ihm, der jenes Gemälde
geschaffen, das nicht bloß über dem Flügel im Nebenzimmer hing, sondern
das die Kraft hatte, Haus und Beschauer an das Erdende zu entrücken,
dorthin, wo das Reich der fliehenden Wasser, das menschenleere Reich
der Ozeane beginnt, darauf der Mensch nur zeitweiliger Gast sein, aber
nicht Fuß fassen kann, wo ihn Tiefe und Weite verschlängen, wenn er die
Grenze von der Wirklichkeit zum Nichts überschreiten würde.

Ich stand noch unschlüssig, überlegend, ob ich den Gästen, die gegangen
waren, folgen sollte, oder ob ich noch bei der Todesfestlichkeit, die
in diesen Räumen lag und mich anzog, verweilen durfte.

Der Gestorbene war ein junger Musiker gewesen. Drüben am Flügel
hatten Mutter und Sohn oft Stunden verbracht, wenn sie sang, was
der junge Mann erdacht; wenn er ihr vorspielte, was die Stimme
seiner Jünglingsgefühle, seines Jünglingsernstes und seiner
Jünglingseinsamkeit auftönen lassen mußte.

Damals waren beider Herzen, das der Mutter und das des Sohnes, wie die
zwei Reiter am Meer gewesen, deren Pferde im gleichen Takt schritten,
und die melodisch vor der Unendlichkeit des Himmels und des Meeres, vor
der Zukunft und vor der Vergangenheit hinzogen.

Nun war die Einheit zerrissen. Die zarte und zierliche, tief getroffene
Mutter stand noch fassungslos vor dem unfaßbaren Schmerz. Die Melodie
der Einheit war abgebrochen. Das Leben gab keinen Klang mehr als den
des Schluchzens. Schluchzen noch nachts in den Träumen, Schluchzen
morgens beim Erwachen, Schluchzen am Tage beim Schreiten durch die
lautlosen Räume des Hauses und durch den noch lautloseren Raum des
eigenen Herzens.

In den letzten Sommertagen war der junge Mann noch Leben und Lebenslust
gewesen. Dann war er erkrankt. Seine Lunge fieberte. Die Sprache, seine
Stimme, starb zuerst. Dann entglitt der Blick, die Augen erlöschten,
und der warme Körper, den die Mutter umschlang, entfremdete sich selbst
dem Mutterherzen und verschwand in der Kälte des Todes.

Nun waren Monate vergangen. Niemals mehr hatte die Mutter den Flügel
im Musikzimmer öffnen können. Sie hatte den Sohn immer noch begraben
müssen, den Gestorbenen immer wieder begraben. Sie hatte noch nicht
die Kraft gehabt, den Sohn verklärt vor sich auferstehen zu lassen.
Aber alles Abschiednehmen muß von einem Wiederkommen abgelöst werden.
Auf die Trennung, die das Sterben bringt, folgt die Wiederkehr, die
Stunde der Auferstehung. Das Leben läßt sich nicht bis ins Unendliche
begraben, auch das tote Leben nicht. Auch im Tod ist ein Wellenschlag.
Das Land hat seine Berge und Hügel, das Meer seine Wellen und Wogen,
der Himmel seine Wolken und seine Glätte. Und auch das vergangene Leben
hat sein Gehen und Wiederkehren.

An diesem Abend war mir unbewußt klar geworden: der Tote war zu seiner
Mutter und zu seinem Vater verklärt wiedergekehrt. Er war wieder
auferstanden in den Räumen des Hauses. Der junge Mann stand neben uns
und wollte uns von seiner Übersinnlichkeit einen Ausdruck geben. Seine
Todeswelle, raumloser als die räumlichen Wellen, die wir Lebenden
fühlen, wollte sich vor uns verkörpern.

Dieser feierliche Schauder berührte mich noch, als die trauernde Frau
des Hauses zu mir sagte und auf den Gast deutete, der außer mir noch im
Zimmer geblieben war:

»Sie gehen doch noch nicht? Ich dachte, wir wollten heute abend noch
ein wenig Musik hören. Sie wissen, es ist seit Monaten kein Ton in
diesem Hause gespielt worden.«

Der junge Mann, den sie zum Spielen aufforderte, war ein sehr feiner,
künstlerisch ernster und gewandter Klavierspieler. Er spielte uns dann
gute Werke großer Komponisten vor, verabschiedete sich aber bald.

Mich jedoch hielt eine Spannung fest, eine Erwartung, eine Sehnsucht
nach der Verkörperung der überirdischen Festlichkeit des Todes, die
mich in diesen Räumen nicht verließ.

Die beiden Klavierlampen brannten noch am offenstehenden Flügel. Unweit
von mir auf einem kleinen Damenschreibtisch stand die Photographie des
jungen Verstorbenen.

Draußen vor den weißverschleierten Fenstern des Hauses lehnte das
Schweigen des dunkeln Gartens, des dunkeln Waldes. Ich wußte, die
Nachtlandschaft draußen war schneelos und winterlich düster. Es
war Februar, und das Grab des Toten lag fern irgendwo in einem der
mächtigen Großstadtfriedhöfe. Und jenes Grab unterschied sich in nichts
von der Wintererde und in nichts von den andern Millionen Grabhügeln,
die überall auf der Welt jahraus, jahrein hervorwachsen, die im Sommer
begrünt sind wie die Wälder und Wiesen und im Winter verlassen scheinen
wie die Wälder und Wiesen.

Der Geist der Toten aber lebt Sommer und Winter in einer verklärten
Jahreszeit, die wir auf Erden nicht kennen, die sich aber auf uns
herabsenkt, wenn sich ein Toter uns mitteilen will. Beim Gemisch der
eisigen Wellen des Toten und der Wärmewellen unseres Herzens entsteht
jene schauersüße Stimmung, in der wir fröstelnd fühlen, der Tote ist
auferstanden und kehrt verklärt bei uns ein.

Ich wagte unter dem Bann dieser Stimmung die Frage an die trauernde
Mutter, ob sie nicht ein Lied ihres verstorbenen Sohnes singen oder ein
Musikstück von ihm spielen möchte.

Sie lächelte schmerzlich und ging zum Flügel. Aber als wenn sie sich
selbst vom gleichen Wunsch zum Klavier hingezogen gefühlt hätte, schien
sie mir dabei freudiger im Gang, von einer verhaltenen Freude umgeben.
Allein im Hause, hätte sie es vielleicht nicht gewagt, jetzt schon vor
dem Vater des Verstorbenen Lieder und Töne aufleben zu lassen.

Als die Trauernde sich zwischen die zwei hellen verschleierten Lampen
an den schwarzglänzenden Flügel setzte und ihre schwarz eingehüllten
schmalen Schultern sich von den schneeweißen Tüllvorhängen abhoben, die
senkrecht vor den Fenstern hinter ihr herabhingen, da war es mir noch
nicht gewiß, ob Leben aus dem Flügel erwachen würde. Ich mußte immer
noch denken, daß diese in tiefe Trauer gehüllte Mutter den Sohn immer
noch begrub. Der Flügel vor ihr wurde mir wie zum glänzend schwarzen
Sarg, an dem sie sich, wie mir schien, niederlassen mußte, um zu
schluchzen, um zu weinen und zu begraben.

Ich wußte nicht, ob die Trauernde schon reif war, den Toten auferstehen
zu lassen, in jener Verklärung, in der ich als Fremder ihn bereits in
den Räumen eingetreten fühlte.

Es würde mich nicht verwundert haben, wenn die noch schwer Erschütterte
nach den ersten Tönen das Spiel abgebrochen und ihr Gesicht in die
Hände vergraben hätte.

Aber sie war reif zum Empfang des Zurückkehrenden. Mit einem
wunderbaren Mut, als überschritte sie selbst freudig die Schwelle vom
Leben zum Tod, entlockte sie dem Flügel die alten Wohllaute, die nur
ihr vertrauten einsamen Jünglingsgefühle des Sohnes, die männlich junge
Lust und die männlich jungen Zweifel, die einst in ihm gerungen hatten.

Und als sie eines der letzten seiner Lieder sang, geschah vor
meinen Augen das Wunderbare: die reife schöne Frau sang sich an den
jugendlichen Weisen ihres Sohnes zur eigenen frühesten Jugend zurück.
Und ihr Frauengesicht wurde mädchenhaft, aller Enttäuschungen bar.
Mädchenhaft gläubig und vertrauend wurden die Augen beim Aus- und
Einatmen der Musik. Die Vergrämte verklärte sich unter der Verklärung
des Toten. Und ich sah Mutter und Sohn auf zwei großen, überweltlich
großen, jugendlichen Rossen, von denen jedes die Verkörperung eines
Schicksals zu sein schien, am Meer der Unendlichkeit hinreiten.

So sehe ich beide dort heute noch und in Ewigkeit als zwei Reiter am
ungeheuren Meer am Rand der Welt.

Und wenn ich in neuen Stunden und in anderen Räumen dieser Frau
wiederbegegnen werde, sie wird für mich immer die vom Todesschmerz
mädchenhaft verklärte Mutter sein, die, auf der Linie zwischen Leben
und Tod, lebender in der Entrückung auflebt als im Irdischen.



Auf dem Weg zu den Eulenkäfigen


Ich habe manchmal darüber nachgedacht, wenn ich Frau Claudia nach
Jahren in dieser oder jener Weltstadt wiedersah, womit sich ihre Augen
vergleichen ließen. Es machte mich oft in ihrer Nähe unruhig, daß ich
keinen Maßstab für ihre Augen fand, und wenn ich aus der Ferne, bei
Gesprächen oder in Gedanken, das Bild Claudias vor mich hinstellte,
stotterte meine Vorstellung, möchte ich sagen, und brachte niemals
einen Vergleich zustande, eine Beschreibung jener Frauenaugen.

Sie sind schwarz, aber man kann sie nicht einfach schwarz nennen, denn
sie sind nicht schwarz, wenn sie einen treffen. Sie sind von einer
Dunkelheit, die ist über Schwarz hinaus, eine abgründigere Farbe,
vielleicht müßte man diese Augen Saturnschwarz nennen.

Einmal habe ich von Claudia, welche die Frau eines meiner Freunde ist,
und mit der mich nur rein freundschaftliche Beziehungen verbinden, ein
wenig ehebrecherisch geträumt.

Es war ein ziemlich harmloser Ehebruchstraum. Da ich gar nicht für
Vielweiberei veranlagt bin, erstaunte mich der Traum, und ich mußte am
Morgen ein kleines Gedicht darüber schreiben. Das Gedicht schilderte
ein paar Tanzschritte, die ich im Traum mit Claudia tanzte. Sie war
vom Hals bis zum Fuß in einen weißen Seidenschal schlank eingewickelt,
und wir hielten uns zum Tanz nah, und dabei sahen Claudias Augen, jene
unbeschreibbaren Augen, unerbittlich in mich hinein. Ich fand auch in
jenem Gedicht wieder keinen zutreffenden Vergleich für diesen Blick,
sondern nur den ganz blöden romanhaften, daß Claudias Auge ähnlich
einer Messerklinge war, die auf schwarzem Samt liegt.

Dieser Vergleich mag mir deshalb gekommen sein, weil Claudia einmal in
einer zornigen Aufwallung ein spitzes Messer nach ihrem leichtlebigen
Gatten geschleudert hatte. Dieses Messer sauste damals, ich weiß nicht,
ob ich sagen soll zum Glück oder zum Unglück, an dem sich behend
Duckenden vorbei, blieb aber senkrecht wie ein Stahlpfeil im Türbrett
stecken, wo es noch eine lange Weile zitterte.

Nur deshalb verzieh ich mir in dem Gedicht jenen romantischen
Vergleich. Aber jetzt brauche ich mich überhaupt nicht mehr abzumühen,
mir die Augen Claudias zu erklären. Sie selbst hat es neulich getan.

Es war im Winter, ich hatte mich mit einigen Freunden und Freundinnen,
unter denen auch Claudia war, verabredet, mich mit ihnen am Eingang
des Zoologischen Gartens zu treffen. Ich kam etwas verspätet aus
einer Kunstausstellung und dachte, daß alle Freunde schon gekommen
wären. Durch die großen Scheiben des Autos blickte ich unruhig der
Fahrt voraus, um schnell zu wissen, ob ich wirklich der letzte sei,
denn die Verspätung ärgerte mich. Meine Uhr aber schien falsch zu
gehen. Ich war noch zu zeitig da, sogar einer der ersten, denn nur
Claudia wartete schon vor dem Eingang. Ich sah sie dort im schwarzen
Samtmantel mit schwarzem Skunksschal, schwarzer Samtkappe mit schwarzem
Reiher, schwarz auf dem hellen kahlen Asphaltpflaster im kahlen
Januarnachmittag stehen und sich nach meinem vorfahrenden Auto umsehen.

Aber es ist nicht richtig, wenn ich sage, daß ich all dieses Schwarz,
in dem Frau Claudia jetzt immer mit Vorliebe auf der Straße erschien,
zuerst gesehen hätte. Ich sah zuerst nur jene schwarzen Augen, nachdem
mich ihr Blick aus dem immer todbleichen Gesicht traf. Auch Claudias
Haar ist schwarz, wie ihre Kleidung. Dieses schwarze Haar trennt sich
aber vom Gesicht nicht mehr als das Kleid. Es lebt nicht mehr als
dieses. Leben haben nur Claudias Augen, ein Leben, das ungeheuerlich
weit aus dem Gesicht fortgerückt scheint. Nicht Leben, das einem
entgegenkommt. Man könnte sagen, daß man eine aufgezeichnete Landkarte
vom Leben, Weltteile von einem Leben, in den schwarzen Augen schaute,
wenn der Blick jener Frau einen traf.

Nach einer Weile kamen die andern Freunde, und wir traten in den leeren
Zoologischen Garten ein, wo die blätterlosen Bäume öde gegen den
mattgrauen Winterhimmel standen und, ebenso wie die Augen Claudias,
nur Lebenslinien, hoch von der Erde weggerückt, Haltung und Bestimmung
zeigten, aber keine blätterrauschende Sommerfreude.

»Wo wollen wir zuerst hin?« fragte einer den andern.

Jemand schlug vor, zu den Raubtieren zu gehen. Ein anderer wollte
zu den Affen. Ein dritter zu den Papageien. Nur Claudia sagte immer
dazwischen:

»Aber zu den Eulen müssen wir auch gehen! Ihr wißt nicht, wie schön die
Eulen sind. Ihr habt ihre Augen sicher nie betrachtet. Ich sage euch,
es sind wunderschöne Vögel. Ich gehe nie aus dem Zoologischen Garten
fort, ohne bei den Eulen gewesen zu sein.«

Als Claudia so eifrig die Eulen bevorzugte, ging sie in der Mitte
der kleinen Gesellschaft, von den Damen und Herren umgeben, und sie
blickte nur ab und zu nach links und rechts, und sie lächelte. Und ich
mußte an den Rattenfänger von Hameln denken, der an der Spitze einer
Kinderschar schreitet und diese mit seinen eindringlichen gleichmäßigen
Flötenlauten in einen finsteren Berg lockt, der sich bald hinter den
Ahnungslosen schließen wird.

So gingen diese schwarzen Augen, die ich bis zu jener Stunde immer noch
nicht beschreiben konnte, allen anderen Augen voran, von denen keine
mit so schicksalstiefen Blicken, unheimlichen Flötenlauten ähnlich,
anziehen konnten wie Claudias Augen. Mir schien, wir andern wären
plötzlich alle schwarz wie Claudia gekleidet, als sie uns immer wieder
von den düsteren Eulen sprach. Eulen waren ihr die liebsten Tiere des
ganzen Gartens und die schönsten Vögel der Welt. Und ich konnte mich
bald nicht mehr des Wunsches erwehren, zu keinen anderen Tieren zu
gehen als zu den Eulen. So ging es schließlich allen, die um Claudia
waren. Die Eulen wurden für jeden der Mittelpunkt des Gartens. Und
während die Stimme der schwarzäugigen Frau die Eulen pries, wie ich es
noch nie von jemandem gehört hatte, und während einer nach dem andern
seine eigenen Wünsche fallen ließ, sah ich auf dem Fünfminutenweg hin
zu den Eulenkäfigen Claudias Leben, das sich rasend vor mir abspielte.
Man sagt, daß einem von einem Turm oder Berg Stürzenden innerhalb
der Sturzsekunden das Leben in blitzartigen Bildern vor den Augen
vorüberrase. So geschah es mir mit Claudias Leben auf dem Weg zu den
Eulenkäfigen.

Vorher hatte ich es nie im Zusammenhang gesehen. Nie hatte sie
selbst mir viel erzählt. Nur Andeutungen, nur Sätze und nur kurze
Geschehnisse, erzählt von gemeinsamen Freunden über sie, lagen
zerstreut in mir.

Nun aber schossen mir alle diese Eindrücke, wie von einem Magneten
angezogen, auf dem Weg zu den Eulen zu einem so tragischen
Lebensbilde zusammen, daß mich jeder Schritt marterte, den ich neben
Claudia weitergehen mußte. Und doch lockte mich die Erhabenheit
eines verfinsterten Menschenlebens, so wie schmerzliche Flötenlaute
bestricken und uns fortführen können in ein Dickicht, durch Stacheln
und Dornen.

Claudia war einst eine starke, mutige, das Leben herausfordernde,
tapfere, junge Studentin gewesen. Der Mann, den sie heute noch liebt,
trotzdem er ihr Grauen einflößt, trotzdem er täglich Mühlsteine an
ihre Seele hängt, war damals ein hoher schlanker Student. Claudia
hatte ihm den Namen Dagon gegeben; Dagon, der biamesische Gott des
Ungeheuerlichen, der Gott des Verschlingens ohne Ende, der Gott der
Lebensunsicherheit, zu dem alle Sterblichen beten, und der ihnen nichts
für ihr Gebet gibt, keine andere Gewißheit als den Tod. Dagon, der
Gott des grauenhaften Nichts, der Schicksalsrachen, der die Menschheit
zermalmt, dem niemand Widerstand leisten kann, der Gott, für den die
Blumen welken, die Vögel tot aus dem Himmel fallen, vor dem aus Furcht
die Erde zu zwei Dritteilen in das bittere Angstwasser ihrer Meere
gehüllt steht, während nur ein Drittel der Erde Dagon die Stirnen der
Berge als Widerstand hinstellt.

Claudia hatte diesen Namen wie in einer Vorahnung ihres Schicksals dem
jungen Studenten gegeben, damals noch nicht wissend, wie tief erkennend
sie dabei war. Denn wie stark der Gott allmächtiger Willkür in dem
Geliebten verkörpert war, das erfuhr sie erst im Laufe der Zeit.

Es waren zuerst nur Kleinigkeiten gewesen, die Claudia den Namen Dagon
und damit die Erscheinung des gruseligen Gottes vor die Augen führte,
wenn sie den jungen Mann und zukünftigen Lebensgefährten beobachtete.
Es belustigte sie, den Geliebten auf Widersprüchen zu ertappen, aus
denen er sich lächelnd und kühl überlegend oder mit einem gewandten
Geistessprung ins Blaue ihren starken schwarzen Augen entrückte. Damals
merkte sie zuerst, daß jener Mann in noch einer ihr fremden Dimension
lebte, die sie nicht an anderen Menschen kannte, die Dimension des
Fabelhaften, die Dimension, in der die Wirklichkeit und der Schein,
die Wahrheit und die Lüge nebelhaft ineinander gleiten. Eine Welt
war in ihm, wo Wirklichkeit auf dem Kopf steht und Unwirklichkeit
wird, ähnlich wie Häuser am Ufer eines Flusses im Spiegelglanz des
Wassers mit dem Dach nach unten stehen und scheinbar auf einer anderen
Weltseite leben, einer Welt, die tief scheinen will, unergründlich
aussehen will, die aber nichts ist als ein auf den Kopf gestelltes
Zerrbild der Wirklichkeit.

So spiegelte das Gehirn jenes Mannes, mit scheinbaren
Unergründlichkeiten verblüffend, die Ufer des Lebens wieder, indem
es das Feste beweglich machte, es wahnwitzig verzerrte, es für
unergründlich ausgab.

Ehe Claudia sich mit dem Studenten verlobte, war ein anderer Mann
ihrem schwarzen Blick verfallen, ein junger Adeliger, der sich von
ihrer Anziehungskraft nicht losmachen konnte, trotzdem er von Claudia
nichts zu hoffen hatte. Sie trug damals ihr schwarzes Haar kurzlockig
geschnitten und, nach Knabenart, in der Mitte gescheitelt. Sie rauchte
auch, als es noch nicht allgemein war, daß Frauen Zigaretten rauchten.
Sie wäre vielleicht auch am liebsten in Herrenkleidung ausgegangen. Ihr
immer elfenbeinblasses Gesicht zeigte rote frische trotzige Lippen, und
alles Verwegene, Herausfordernde, menschlich Kühne erregte sie, da ihr
eigener junger Körper der Welt knabenhaft verwegen und widerspruchsvoll
gegenübertrat.

Ein Freund jenes jungen Adeligen suchte sie eines Tages in ihrem
Studentenzimmer auf und bat sie, sich doch zu entscheiden, ob sie
nicht die Frau seines Freundes werden wollte. Als sie »nein« sagte,
schlug der Abgesandte, der ein ernster und zielbewußter Mensch war,
in ehrlichem Zorn mit der Hand auf den Tisch und fragte Claudia, was
sie veranlasse, die Hand eines ehrbaren jungen Mannes mit einem Nein
abzuweisen.

Die Gefragte sagte ganz einfach, daß sie bereits gewählt habe, und
nannte den Namen Dagons.

»Dann prophezeie ich Ihnen, daß sie niemals glücklich werden,« entfuhr
es dem heftig Erregten, der seinen Freund verdrängt sah von einem, der
ihm Widerwillen einflößte. »Aber sagen Sie mir, ehe ich gehe,« fügte er
hinzu, »was haben Sie gegen meinen Freund einzuwenden?«

»Daß er adelig ist,« antwortete ihm frei und stolz die junge Studentin,
»ist der Grund, der immer bleiben würde, wenn ich nicht bereits einen
andern vor ihm gewählt hätte. Ich will nicht, daß man in seiner Familie
auf mich als auf eine Bürgerliche herabschaut.«

Claudia prahlte niemals mit ihren Anbetern. Nur einmal, als ich sie
tief unglücklich antraf und ganz natürlich fragte: »Wie sind Sie denn
mit diesem Mann zusammengekommen, der Ihnen jetzt so viel Qualen
bereitet?«, da erzählte sie diese kleine Verlobungsperiode, und sie
schloß: »Gerade weil mich der Freund jenes Adeligen vor Dagon warnte
und mir Unheil prophezeite, gerade das war es, was mich herausforderte,
Dagon erst recht zu wählen. Es machte mir Lust, mit meinem Geliebten
Seele gegen Seele zu ringen. Das fabelhaft Verwandlungsfähige seiner
Seele reizte die eisernen, starren und gefestigten Lebensbegriffe in
mir. Mir war, als könnte Dagon alles Feste in Wolken auflösen. Mir
war, als sähe ich einem Zauberer zu, wenn er mich leise und lächelnd
schon in der ersten Zeit unseres Bekanntwerdens belügen konnte. Dann
drang ich mit meinen Augen in ihn ein, und mir war, als müßte ich das
Lügen aus ihm ausbrennen. Er lächelte wieder und log hilflos weiter und
tat, als hätte ich wirklich das leichte Lügen an der feinsten Wurzel
in ihm abgetötet. Aber ich ahnte ja nicht, daß er immer wieder neue
Fäden der Lüge hinter sich herziehen konnte, wie die Spinne ihre Fäden,
daran sie tanzt, daran sie sich über Abgründe schwingt. Während ich
aber glaubte, in Dagon die Lüge abzutöten, wurde ich langsam von ihm
abgetötet, entkräftet. Denn Unheil ist sein Schaffen, und nur Unheil
war er für mein ganzes Leben.«

Und Claudia erzählte weiter:

»Am ersten Weihnachtsfest, das wir zusammen als Verlobte feiern
wollten, reiste ich zum erstenmal in meinem Leben zum Fest nicht nach
Hause, trotz der Bitten meiner Eltern und Geschwister und obwohl
ich wußte, daß mein Vater alt und krank war. Aber am Nachmittag des
Weihnachtsabends, auf den ich mich so sehr gefreut hatte, bekam ich
ein Telegramm, das mir den Tod meines Vaters anzeigte. Ich saß eine
Stunde später im Eisenbahnzug und durfte den Abend weder bei dem
geliebten Mann, noch in meiner geliebten Familie verbringen, sondern
war in einer Hölle von Einsamkeit, zwischen zwei Zielen hin und her
schwankend, zwischen dem Ziel des Lebens und dem Ziel des Todes.
Leidend, weinend und erschüttert saß ich in der weihevollen Nacht als
einziger Reisender im leeren Zug, von Selbstvorwürfen gepeinigt, weil
ich meinem toten Vater den letzten Wunsch nicht erfüllt hatte, ihn auf
seinem Krankenbett am Weihnachtsabend zu besuchen.

Ich hatte nun an diesem Abend nichts, weder den Geliebten, noch das
Heim. Ich hatte die Leere. Das war der Anfang des Verschlingens, das
von Dagon ausgeht. Aber ich hatte mir Dagon gewählt, das mußte ich mir
immer wieder sagen. Ich hätte auf dem Landgut des Adeligen vielleicht
ein ruhiges, seßhaftes Leben führen können, gepflegt von einem mich
aufrichtig Liebenden. Ich hatte es nicht gewollt. Mich hat der Kampf
mit dem Unklaren, Ungewissen gelockt. Ich wußte es damals nicht: es ist
der Kampf mit dem Nichts gewesen.«

So erzählte mir Claudia ohne Pathos, ohne große Geste, mit
schwarzblanken Augen, die glänzend zu sein schienen von den Abgründen
ihres Unglückes. Es war auch, als triumphiere in ihrem Blick das
Bewußtsein des Unentrinnbaren, als käme sich jene Frau selbst
erstaunlich vor und als ließe sie ihr Erstaunen über sich aus ihrer
Augenschwärze strahlen. Deshalb klagte sie eigentlich nicht, wie andere
klagen, wenn sie Grauenhaftes, Martervolles erleben. Sie lebt in einer
Unglücksekstase, und mir scheint, ihre Augen werden immer glänzender,
je unglücklicher sie von Jahr zu Jahr wird.

Nur einmal in jenem Winter erschrak ich. Da verflüchtigte sich das
Feuer ihres Willens zum Unglück. Ihre Augen sahen so verklärt aus, als
ginge sie nur noch mit den Zehenspitzen wie eine Traumwandlerin auf den
Dächern der Welt.

Als Claudia und Dagon ein Jahr verheiratet waren und sie sich schwanger
werden fühlte, waren sie beide nach Kanada ausgewandert. Sie wußte
nicht mehr, wer zuerst den Plan gehegt hatte. Sicher blieb nur, daß
es ihr Unglück war, daß er ausgeführt wurde. Sie, die schon damals
fühlte, daß sie in dem Mann so wenig Sicherheit hatte, als wenn sie
sich an seinen Schatten anklammern würde, hatte begeistert den Weg ins
freiheitliche Amerika angetreten, schwärmend für alles Großzügige,
Unbegrenzte, nie Dagewesene. Dort in dem jugendlichen Land Amerika,
wo die Frau den Mann regiert, hoffte Claudia vielleicht, Dagon allein
für sich zu bekommen und seine Augen, die alle Frauen wie Irrlichter
umgleiten konnten, zum festen Blick zu zwingen, der sich dann von
ihrem Herzen nicht mehr abwenden sollte. Denn Claudia wollte Dagons
eidechsenhaften Seelenbewegungen die schwerthafte Stärke ihrer Augen
geben.

Aber was half es ihr. Alle ihre Kraft verpuffte nur wie nasses Pulver,
da Dagons Schicksal feindlich gegen ihr Schicksal gerichtet war.

Kaum waren beide in Amerika gelandet, so erhielten sie die
Nachricht, daß Dagon seinen Vater verloren habe und wegen wichtiger
Erbschaftsangelegenheiten nach Deutschland zurückkehren müsse.

Claudia konnte nicht umkehren; sie hatte eben ihr erstes Kind geboren
und lag zu Bett. Und Dagon entglitt ihr, wie sie es immer erwartet
hatte. Der Ozean trennte sie bald. Sie, die keine Stunde ohne ihn sein
wollte, war gezwungen, ihm von einem Weltteil zum andern nachzuklagen.
Und als Dagon später Claudia nachkommen ließ und sie in Europa
erwartete, hatten sie nicht den Ozean hinter sich gelassen, als sie
sich wieder die Hände reichten. Zwischen ihrer beider Augen blieb der
erste Ozean der Trennung, und viele Ozeane folgten, die sich einer an
den andern reihten. Denn Dagon hatte Claudia von da ab mit der und
jener Frau betrogen, mit der und jener Freundin. Wenn sie auch immer
Geständnisse aus ihm herauslockte, das Urversprechen einer Treue, einer
männlichen Festigkeit, auf der ihre schwarzen Augen ruhen wollten,
konnte sie Dagon nie abringen.

Claudia warf sich dann auf die Arbeit. Sie hatte studiert, hatte
ihr Examen gemacht. Sie wurde Ärztin und arbeitete an Dagons Seite
unentwegt und damals noch ungelähmt. Sie tat ihre Arbeit gern, um ihren
Mann zu ihrem Schuldner zu machen. Denn Dagon hatte kein Vermögen
geerbt, wie sie beide es erwartet hatten. Dagons Geschwister hatten es
vermocht, den sterbenden Vater zu veranlassen, seinen leichtlebigen
Sohn zu enterben, ihn nur auf Pflichtteil zu setzen, und dieses Geld
sollte Claudias Kindern und nicht Dagon ausgezahlt werden.

Sie verdiente nun neben ihrem Mann, denn sie hatten beide hohe
Lebensansprüche. Die Luft um Dagon wurde immer trüber. Er blieb halbe
Tage fort, ohne daß Claudia wußte, wo er war. Sie erfuhr immer wieder
von neuen kleinen Leidenschaften zu Frauen aller Kreise, die Dagon
fesselten und die er ausleben mußte.

Er selbst spaßte nur darüber, als wären seine Liebeserlebnisse nicht
mehr als kleine Warzen an der Hand, die kommen und gehen und dem
Wohlergehen nicht weiter schädlich sind.

Bei jedem neuen Erlebnis ihres Mannes hoffte Claudia, es würde das
letzte sein. In jener Zeit war es einmal, daß ihr die Geduld plötzlich
riß und sie ein Messer nach Dagon schleuderte, das in der Tür stecken
blieb. Und endlich mußte sie erkennen, daß ihres Mannes Seele, wenn
sie nach ihr griff, immer ihrer Hand entglitt, so wie man den feinen
Wüstensand nicht in der Hand behalten kann; denn wenn man die Faust
zudrückt, rieselt dieser ewig bewegliche und ewig erhitzte Sand durch
die Fingerritzen, und wenn man die Faust öffnet, hat man nichts in der
Hand.

So war das Herz Dagons in der Hand Claudias. Wenn sie es noch eben
festhielt, -- es war nicht mehr da, wenn sie die Hand öffnete und
nachsah.

Darüber wurde ihr eigenes Herz dürr. Es wurde von den Leiden und
Schmerzen und von der Leidenschaft versüßt wie getrocknete Datteln,
die zuckriges Fleisch um einen steinharten Kern tragen. Den Stein
in Claudias Herzen löste nichts auf. Der Stein saß im süßen Fleisch
unbeweglich, und das süße Fleisch welkte und dörrte.

Da wurde eines Tages Claudia von Verzweiflung gepackt. Ich war damals
nicht in ihrer Nähe und hörte nur aus Briefen meiner Freunde, daß jene
Frau ihrem Mann Gleiches mit Gleichem vergolten und sich einen Freund
genommen hatte, einen jungen Kaukasier, mit dem sie fortgereist war,
um ihre gereizten Gefühle zu beschwichtigen. Später hörte ich, daß sie
diesen Freund wieder verlassen, ihr und Dagons Kind zu sich genommen
habe und in verschiedenen Weltteilen allein herumreise. Sie hatte
nach dem Tode ihrer Mutter ein Vermögen geerbt, und da ihr die Arbeit
keine Freude mehr machte, lebte sie in dem Genuß des Müßiggangs. Die
Liebeslust und die Arbeitslust waren in ihr abgetötet. Sie lebte dem
Kinde, das sie fernhalten wollte von dem Unheilschatten jenes Mannes,
dem sie glaubte entronnen zu sein.

Er aber lebte wie ein Junggeselle, bald hier, bald dort, in den
verschiedensten Städten, vertiefte sich in Wissenschaften, wie er sich
in Frauen vertiefte, hastig, blendend und geblendet.

Dann plötzlich eines Tages, als ich in jene Großstadt kam, wo
Claudia und Dagon vorher gewohnt hatten, hörte ich, daß beide wieder
zusammenlebten. Ich besuchte sie. Da hingen im Korridor große welke
Kränze mit langen breiten Seidenbändern. Dagon glaubte plötzlich eine
musikalische Begabung bei sich entdeckt zu haben und hatte öffentlich
eigene Kompositionen gespielt und seine ersten Konzerte gegeben.

Seltsamerweise hatten alle Wohnungen, welche jene beiden Menschen
bewohnten, den gleichen hellen und lichten Reiz eines glücklichen
Heims. Niemand konnte in diesen weiten, behaglichen und lässig vornehm
eingerichteten Räumen vermuten, daß hier zwei hausten, die sich
marterten. Beider Zartfühligkeit traf sich hier und vereinigte sich im
Ausdruck von Möbeln, Spiegel und Bildern. Die innere Zartfühligkeit
Claudias gab den Räumen vornehme Ruhe, und die äußere Zartfühligkeit
Dagons gab den Räumen jene unnachahmbare lässige Vornehmheit, die den
Besucher glücklich einlullte. Erlesene Bücher, erlesene Kunstwerke
und Musikinstrumente täuschten jeden, der nicht eingeweiht war in
die Herzensschrecknisse, die sich hier zwischen zwei Lebenskameraden
abspielten.

Claudia leitete ihr Haus lautlos, erzog ihr Kind glücklich und wußte
sich immer ihren Freunden in ihrem Äußeren reizvoll modisch in Kleid,
Haartracht und Schmuck zu zeigen.

Nie fehlen Blumen auf ihrem Teetisch, nie geht bürgerlich langweilige
Luft durch ihre Zimmer. Es ist Claudia ein Genuß, wenigstens äußerlich
glücklich zu wirken -- auf die nicht Eingeweihten, die nicht in ihren
schwarzen Augen zu lesen verstehen.

Lange Zeit erschien sie immer als glückliche Gattin, die, leicht die
Achsel zuckend, die Lebensweise ihres Mannes hinzunehmen schien. Und
viele mögen verblüfft gewesen sein, als Claudia plötzlich mit dem
Kaukasier verschwand. Aber nicht einer hatte es ihr beim näheren
Hinsehen verdenken können.

Und nun zurückgekehrt, scheint sie die Rolle der Glücklichen nicht mehr
harmlos spielen zu können. Dazu ist ihr Gesicht doch zu blaß geworden,
und ihre Züge sind wachsmaskenartig erstarrt. Ihre Augen funkeln nicht
mehr lebenstrotzig. Der Trotz sieht versteinert aus und steckt als Kern
in ihrem Herzen.

Am Weihnachtsabend, als ich bei Claudia und Dagon mit einigen
Gästen eingeladen war und jene Frau uns alle unter den brennenden
Weihnachtsbäumen ihres Salons beschenkte, da schien es für Sekunden,
als könnte doch vielleicht das Wachs ihres Gesichtes nochmals weich
werden und schmelzen. Dann aber, als es während des Abendessens
klingelte und unter den Geschenken, die von Bekannten geschickt wurden,
auch Aufmerksamkeiten von einigen Damen waren, deren Gunst Dagon in
letzter Zeit errungen hatte, da sah ich, wie Claudia zu frieren begann.
Trotzdem die Zimmer von der Wärmeleitung und den Weihnachtskerzen
heiß waren, bat sie, daß man die Fenster schließen möchte, die eine
der eingeladenen Damen geöffnet hatte. Die Gepeinigte fror von innen
heraus. Ich glaube, sie muß ihr Herz in diesem Augenblick so schmerzend
gefühlt haben, wie man in der Winternacht das Eisen einer Türklinke
brennend kalt fühlt, wenn man die Hand darauf legt.

Dagon hat schon längst keine Geheimnisse mehr vor seiner Frau. Das
letzte Schamgefühl ist zwischen ihnen gefallen. Im Gegenteil, er
will, daß Claudia nichts fühlen soll und nichts mit ihm teilen soll
als die Lust, die ihm seine Abenteuer geben. Sie soll die Lust an dem
Verbrechen, das er an ihrer Liebe begeht, sich selbst verleugnend mit
ihm genießen.

Wieder haben jetzt beide eine Wohnung, in der kein Hauch von Unglück
zu spüren ist. Die hellen weißen und himmelblauen Gemächer, mit
gelbseiden verschleierten elektrischen Lampen und voll mit Bildern und
Büchern und von zierlichen asiatischen Nippes belebt, sind wie eine
irisierende Haut über einem Pfuhl von pechschwarzem Wasser.

Aber die einzige tiefe Empfindung, die man in diesen hellen und
gefälligen Räumen erlebt, kommt nicht von den Büchern in den
Schränken und nicht von den Kunstwerken aus, sie geht aus von den
unglücksglänzenden schwarzen Augen Claudias; diese Augen, denen das
Weinen schon längst kein Trost und keine Erlösung mehr ist, glänzen vor
Schmerzen.

Bald nach dem Weihnachtsfest sah ich Claudia bei einem Besuch wieder.
Sie stand an ihrem Teetisch und trug über dem schwarzen Seidenrock
eine goldgelbe Seidenjacke, die war von einem etwas dunkleren Goldgelb
als die Schleier ihrer Lampen. Sie schien Ruhe und Wärme auszuströmen,
und ich fragte mich erstaunt: was geht in ihr vor? Ihre Augen
waren entkräftet und schienen außerhalb des Zimmers traumwandelnd
herumzugehen. Ich erfuhr dann, daß sie krank sei, sie hustete, sie
hatte Fieber. Es war eine rein äußerliche Krankheit, und Claudia trug
diese Krankheit wie ein Weihnachtsgeschenk des Himmels mit sich. Sie,
die einstmals so stark war, daß sie nicht für den Tod geboren schien,
freute sich, daß ihr Fieber täglich stieg, freute sich, daß ihre Augen
erlöschen wollten. Und wenn man sagte, daß sie sich pflegen müßte,
lächelte sie nur. Sie erwartete das Sterben und freute sich.

Der Tod kam nicht. Die Schwäche ging vorüber. »Weshalb?« fragte sie
erschrocken.

Sie lebt jetzt immer noch im selben Hause mit dem, mit dem sie einst
gerungen und gekämpft hat. Sie lebt kampflos jetzt. Beide sehen sich
täglich, aber sie sprechen sich wenig. Claudia weiß nie, wohin Dagon
geht, wenn er abends seinen Frack anzieht. Sie will es auch gar nicht
wissen.

Und er fragt nicht, wenn Claudia ins Theater fährt, wohin sie geht. Und
das ist vielleicht noch schmerzlicher für sie zu ertragen, daß er sie
gehen läßt, wohin sie will.

Das Kind, ihre Tochter, ist bald erwachsen und sieht und versteht und
hört alles. Und das ist das Allerschmerzlichste für Claudia.

Der selbstherrliche Mann schont die beiden Frauen nicht, nicht die
Tochter und nicht die Mutter. Er lächelt über sie hinweg, plaudert zu
den beiden von seinen Erfolgen bei den Frauen, will, daß sie mit ihm
über die Scherze, die er mit dem Liebesleben und seinem eigenen Herzen
treibt, lachen sollen.

Und Dagon lächelt sein allesverschlingendes Lächeln, wenn die beiden
Frauen ihm ausweichen. Wenn die beiden Frauen anklagen, lächelt er und
verschlingt ihre Anklagen. Wenn die beiden Frauen ihn morden wollen,
lächelt er und verschlingt ihre Mordgedanken.

Er ist liebenswürdig, spaßhaft; er ist nie mürrisch. Er ist nur
launenhaft verschlossen, wo er sich fürchtet zu sprechen, weil er sich
bei aller lächelnder Offenheit nie ganz offen gibt.

Seine lächelnde Offenheit ist ein Abgrund, in den er die Offenheit
der andern hineinlockt. Und er sieht lächelnd zu, wie Menschen in
diesen stürzen, die er angelockt hat. Er lächelt und gleitet über die
Angstblicke, die er sehen müßte, hinweg.

Welches ist das Schicksal, das ihn ereilen wird? Wo ist die Grenze, die
seiner Unendlichkeit im Grausamsein gesetzt ist?

Seht, dieses sind die Blicke, die als einziges Leben aus den
Augen Claudias starren. Will sie sein Ende erleben, und ist sie
deshalb noch nicht gestorben? fragte ich mich. Das ungeheuerliche
Ende, die ungeheuerliche Todesstunde, die in der Brust Dagons das
lächelnde Herz voll Ungeheuerlichkeiten töten wird, die ihm und sein
allesverschlingendes Lächeln aus der Welt schaffen wird, -- wartet
Claudia darauf? --

Als wir zu den Eulenkäfigen kamen, trug ich diese letzte Frage in
mir. Da saßen wie seltsame weiße und graue Federgruppen die Eulen,
diese weichen, lautlosen Nachtgeschöpfe, auf den Ästen abgestorbener
Bäume hinter den Gitterstäben. Einige konnten die Köpfe ganz rund
um den Nacken drehen. Andere spitzten die katzenartigen Ohren. Aber
alle saßen da wie ausgestopfte Federbälge. Die einen hatten wunderbar
silberweißes Gefieder, und es wirkte jeder weiße Vogel wie eine einzige
ungeheuerliche Riesenschneeflocke. Andere graue Eulen waren wie ein
dicker Ballen Spinnweben. Und wenn sie nicht manchmal die Köpfe rundum
gedreht hätten, so daß das Gesicht nicht auf der Brust, sondern
plötzlich auf den Rücken stand, so hätte man in ihnen kein Leben
vermutet.

So sahen die Eulen aus, als wir von weitem an die Käfige kamen. Aber
als wir nähertraten, da verschwanden die Federkörper. Da standen nur
in der Luft über den abgestorbenen Baumästen paarweise ungeheuerliche
schwarze Augen. Augen, die so groß und rund in ihrer Schwärze starrten,
als müßten sie alles und nichts sehen; als könnten sie die Tiefe des
ganzen Weltalls umfassen, alle Schmerzen und alle Trostlosigkeiten der
Abgründe des Lebens.

Während sich alle meine Freunde beim Näherkommen über die Federn, die
Haltung, die Kopfwendungen der Eulen ereifert hatten, wurden sie jetzt
stumm. Und nur Claudia, die vorher stumm gewesen war, als wir die Eulen
zuerst erblickten, wurde jetzt vor den Eulenaugen laut und begeistert.

»Haben diese Vögel nicht die schönsten Augen der Welt? Da sprechen
die Menschen immer von glotzenden Eulenaugen, und ich finde, es
sind die feierlichsten, ausdrucksvollsten, geheimnisreichsten und
schicksalsschwersten Blicke, mit denen nur je ein lebendes Wesen auf
die Welt herabsehen kann. Solche Augen möchte ich haben,« setzte
Claudia hinzu. »Wie ich diese Tiere um ihre Augen beneide! Auf was
warten sie nur, diese Eulenaugen?« --

Als wir uns später unter dem schwerhölzernen, blutroten chinesischen
Tor am Ausgang des Zoologischen Gartens trennten und der Abend schon
über den Straßenschachten dunkelnd lag, die elektrischen Lampen in
den Straßenfluchten aufleuchteten, ging ich einsam heim. Der Himmel
wurde immer nachtdunkler, und als ich in den nachtschwarzen Äther sah,
der noch sternlos über den Dächern der Häuser stand, erkannte ich in
dem schwarzen Himmelsabgrund, den Eulenaugen und Claudias Augen eine
Einheit. In der Nacht und in jenen Augen war kein Blick mehr, den man
hätte fühlen können. Sie schienen alles innere Leben hergegeben zu
haben. Und nur ein Wille war in ihrer Finsternis. Der: mit stummer
Macht den Untergang der Lebenden, auf die sie herabsahen, zu erwarten.



Nächtliche Schaufenster


Wenn ich spät nach Mitternacht in der Potsdamerstraße nach Hause
ging, eilte ich mich meistens nicht sehr, denn die Nachtluft kam mir
erfrischend entgegen. Sie war wie ein Wanderer, der aus Grenzwäldern
über Flüsse und Seen herkam und über Berlin hinschritt. Und während
ich von einer Laterne zur andern ging, war die Nachtluft schon über
die Provinz Brandenburg fortgezogen an die Elbe, an den Rhein, und im
Vorübergehen hatte sie mich leicht verhext und hatte mir Meilengedanken
gegeben, so daß ich darnach nicht mehr zwischen Laternen weiter ging,
sondern fort über mich selbst.

Auf einer Plakatsäule sah ich in einer Nacht einen großen Tigerkopf.
Darunter stand »Indien in Berlin«. Der gefleckte Tigerkopf sah aus
gelbem Bambusröhricht heraus und war ein praller Katzenkopf; über ihm
lag ein bleichblau gemalter Himmel.

Eine Weile schien mir dann, als ginge ich durch indische Dschungeln,
indessen ich doch nur auf dem Streifen breiter Pflasterplatten
wandelte, die sich als eine lange Zeile in der Mitte des Bürgersteiges
hinzogen.

Die vielen offenen und dunkeln Schaufensterscheiben glitzerten
neben mir wie mondbeschienene Gewässer auf, ähnlich den heimlichen
Tränkestätten von Raubtieren, die unhörbar durch die Dschungeln
schleichen. Eine Autohuppe brüllte manchmal in einer Nebengasse. Dieser
Laut wurde mir fast zu Löwengeheul. Und schleifte der Gummireifen eines
vorbeisausenden Autos mit surrendem Laut über den glatten Asphalt des
Fahrdammes, dann waren da in der Vorstellung galoppierende Dickhäuter,
pfauchende Nashornherden und aufgescheuchte Scharen von Nachtvögeln,
die vorbeifegten.

Ich blieb an einem Schaufenster stehen. Das kannte ich gut. Dort stand
ich immer eine Weile in jeder Nacht und nahm mir vor dem Schlafengehen
Zeit, die lebende gefiederte Ware einer Vogelhandlung zu bedauern.

Da waren chinesische Nachtigallen in Drahtkäfigen mit roten Schnäbeln
und grüngelber Brust. Und smaragdgrüne Sittiche aus Australien
und afrikanische Finken, silbergrau wie deutsche Schwalben und mit
korallenroten Schnäbeln. In einem Käfig allein saß eine deutsche
schwarze Amsel, und ein anderer Käfig war voll mit zitronengelben
Kanarienvögeln. Da waren auch Käfige mit Turteltauben, deren Federleib
war silbrig und weiß wie Holzasche.

Alle diese Vögel saßen in ihren Drahtzellen wie bestrafte Verbrecher.
Die meisten von ihnen waren zwar im Käfig geboren, aber ich mußte
nachgrübeln, was wohl ihre Vorfahren in China, Afrika, Australien
begangen haben mochten, daß ihre Kindeskinder hier, verbannt und
gefangen, im Schaufenster der Potsdamerstraße ihre Lebenstage
verbringen mußten.

Das elektrische Licht der nächsten Straßenlaterne sah schrecklich grell
durch die glänzenden Drahtstäbe der Gitter auf die dünnen geschlossenen
Augenhäute der kleinen unruhigen Schläfer. Das scharfe unnatürliche
Licht mußte noch den Schlaf der Gefangenen schmerzhaft machen. Und die
brüllenden Autohuppen, deren Fahrzeuge mit Gedröhn während der ganzen
Nacht die große Stadt durchrasten, mußten die feinen musikalischen
Ohren der Singvögel noch im Schlaf quälen.

Vögel, die gewöhnt sind, in lauschigen Buschverstecken in der Urstille
ewiger Wälder zu nisten, zu picken, zu flattern und die grünen
Dämmerungen der Blättergehäuse alter Bäume zu durchfliegen, hatten hier
einen kaum fußbreiten Raum zwischen den blitzenden Metallgittern. Aber
sie schienen sich sanft und gütig zu bescheiden und schienen mir weiser
zu sein als ihre gefangenen Wärter.

Einmal hatte ich am Tage hier an dem Schaufenster um die Mittagstunde
mit den Händen in den Taschen einen armen, ganz dürftig gekleideten
Arbeiter stehen sehen. Der schien sich in das Leid der Vögel
hineingedacht zu haben. Er sah andächtig jedes Tierchen an und war
verwundert, wie mir schien, daß diese schönen geflügelten Geschöpfe
kein besseres Schicksal hatten als das des Gefängnisses. Nicht einmal
ihren Gesang konnten sie genießen. Denn es singen die verschiedenen
Vogelarten zu gleicher Zeit lärmend durcheinander. Es sang der Weltteil
Afrika, der Weltteil Australien, der Weltteil Asien. Die Spitzen der
Flugfedern an Schwanz und Flügeln haben sich die Vögel an den Gittern
abgestoßen. Am Tag fallen ihnen die Augen vor Müdigkeit zu, und nachts
reißen sie sie auf vor Schrecken und gequält von dem stechenden,
kaltweißen Bogenlicht der Straße und von den wütend jagenden
Automobilen.

Um zwei Uhr, drei Uhr, vier Uhr nachts rücken die armen Vögel immer
noch unruhig hin und her, zu müde, um wach sein zu können, und zu wach
gehalten, um einschlafen zu können.

Ich kam mir unbehaglich wie ein großer wandelnder Turm vor, solange
ich vor den winzigen Vögelchen stand, und so ging ich weiter, an den
Glaswänden der Schaufenster entlang. Es ist da auch ein Blumenladen,
den eine Dame besitzt, die am Tage immer mit schönen frauenhaften
Bewegungen frische Blumen dort ausstellt, geschmackvoll in Vasen und
Körben geordnet, und die ein Band oder ein Buch in die Nähe der Blumen
legt und an den grauen Wandschirm, der im Hintergrund des Schaufensters
steht, ein Bild hinhängt, das einer beliebten Tänzerin, oder einen
alten Kupferstich, darstellend eine längst verstorbene Prinzessin.

Hier erhole ich mich etwas von meinem Leid. Vielleicht leiden
abgeschnittene Blumen ebensoviel wie eingesperrte Vögel. Aber sie sind
nicht Fleisch und Blut, und deshalb leide ich bei ihnen ebenso wenig,
als ich mit meinen Haaren leide, wenn ich sie schneiden lasse.

Wie gerne möchte ich einer Einbrecherbande angehören, dachte ich
neulich. Die müßte aber nicht einbrechen des Diebstahls wegen, sondern
der Ordnung wegen. Dann würde ich nachts die Tür der Vogelhandlung
aufbrechen und mit meinen Spießgesellen alle Käfige herausholen.
Fliegen würde ich die Vögel nicht lassen. Sie würden sonst verhungern
und erfrieren. Ich würde aber die Tür auch des Blumenladens aufbrechen,
und dort in der lauwarmen Luft wollte ich alle Futternäpfe der Vögel
zwischen die Schalen der Anemonenvasen stellen, zwischen die Körbe voll
Hyazinthen, zwischen die dicken Efeukränze und um den hohen Krug, darin
die Weidenruten voll Silberkätzchen stecken. Und über den Töpfen der
Mimosen bei den gespenstig geformten Figuren der Orchideenblüten und
bei den geisterhaft weißen Bechern der Callablüten, dort würde ich die
fliegenden Bewohner von Afrika, Australien und Asien es sich wohl sein
lassen.

Einige Häuser weiter von dieser Blumenhandlung ist, ehe ich zu meiner
Haustüre komme, noch solch ein exotischer Sklavenmarkt. Dort sitzen
im Schaufenster neben kleinen Affen und Papageien in winzigen Käfigen
weiße Mäuse und in Gläsern Laubfrösche.

Kein Schaufenster von ganz Berlin ist am Tage so von Leuten aller
Stände besucht wie dieses, an dem ich immer vorüber muß, wenn ich
aus dem Hause trete. Dort habe ich Bekanntschaft gemacht mit einem
Mammosettäffchen. Ich habe keine Ahnung, warum das Tier Mammosett
heißt. Aber der Name steht auf einem Zettel am Käfig. Und ich denke
immer, der Name müßte von Mimose kommen, da das Tier von mimosenhafter
Empfindsamkeit ist. »Wird sehr zahm« steht auch daneben. Das glaube
ich gern. Gewöhnlich, wenn die Tiere sehr zahm geworden sind, sterben
sie weg, wie jenes Pferd, von dem der Bauer behauptete, daß es von der
Luft allein leben könnte, und das starb, als es sich eben ans Hungern
gewöhnt hatte.

Mammosett erschien um die Weihnachtszeit im Schaufenster. Trotzdem
es in diesen Tagen Lawinen schneite, blieben alle Leute stehen, um
Mammosett zu betrachten. Das winzige, nur handgroße Äffchen ist »das
kleinste Äffchen der Welt«, -- das steht auch auf dem Zettel am
Käfig. Aber ich finde, trotzdem hätte man Mammosett nicht in einen
Kanarienvogelkäfig sperren dürfen. Denn auch seine Winzigkeit verlangt
Bewegung und Freiheit. In den ersten Tagen sprang das Tierchen wie
irrsinnig in seinem Käfig herum, ähnlich den weißen Tanzmäusen in den
Nebenkäfigen, die Tag und Nacht um eine Spule rennen. Die kamen mir
immer vor wie kleine tanzende Derwische, die heftig rund herum rennen,
damit sie eines Tages tot umfallen und so aus der Gefangenschaft des
Lebens befreit sind.

Ich erkundigte mich in der Tierhandlung, was Mammosett kostet. Aber ich
hörte am selben Tag von einer Dame, daß diese Äffchen, wenn sie zahm
werden, alles zerreißen, was ihnen unter die Finger kommt. Seit ich das
weiß, möchte ich auch hier beim Mammosettäffchen Einbrecher werden und
Mammosett befreien. Und ich hab mir schon eine Geschichte ausgedacht,
wie dieses Mammosettäffchen, frei gelassen, alle seine Mitgefangenen,
die Papageien, die Mäuse und die Laubfrösche, und zuletzt den
Tierhändler selbst in kleine Stückchen zerreißen würde. Vom Tierhändler
müßte das Äffchen jeden Tag nur ein Stückchen abreißen, einmal ein
Ohrläppchen, einmal einen Nasenflügel, einmal einen Haarschopf, bis der
Tierhändler daläge wie ein zerstückelter Brief im Papierkorb.

Jetzt, nach zwei Monaten, ist das Äffchen in seinem Käfig ruhiger
geworden, »zahm« würde der Tierhändler sagen. Ich sage »todesmatt«.
Es kauert in einem Häufchen Holzwolle und knabbert manchmal an einem
Kuchenstück und zittert den ganzen Tag.

Auf der Stange des Käfigs, darauf eigentlich ein Kanarienvogel sitzen
sollte, kauert mühsam das Äffchen. Die Stange ist zu schmal, und es
fällt oft herunter. Wenn es sich in dem winzigen Gitterraum bewegen
wollte, müßte es sich rund um sich selbst bewegen wie die weißen Mäuse
und müßte irrsinnig werden. Weil es aber ein sanftes Tierchen ist,
so will es keines irrsinnigen, sondern eines sanften Todes sterben.
Es wird also scheinbar zahm, das heißt, es sitzt auf einem Fleck und
stirbt langsam ab.

Wenn ich die nächtlichen Straßen hinauf und hinunter sehe, so scheinen
mir die menschlichen Häuser auch nichts anderes als steinerne Käfige
zum Zahmwerden und zum Absterben.

An einer Straßenecke stand während zweier Monate in jeder Nacht um
zwei, drei, vier Uhr eine und dieselbe Frau. Sie war gekleidet wie eine
Hausmeisterin in ein einfaches Hauskleid und hatte nur ein wollenes
Tuch über dem Kopf und über der wollenen Manteljacke. Armselig, aber
atemlos lauernd, stand sie immer am selben Fleck. Sie _wartete_ nicht
auf jemanden, aber sie _horchte_ nach jemandem hin. Sie horchte
nach der Richtung einer Haustüre hin. Sie war eine vertrocknete,
abgearbeitete Frau, die sich durch Spionage einen Nachtverdienst
machte, das erfuhr ich eines Abends. Im Haus aber, das sie behorchte,
sang oft in der Nacht im Oberstock eine Frauenstimme.

Wenn ich mit Freunden dort vorbei ging, oder wenn ich allein aus
Theatern und Gesellschaften kam, immer stand diese Aufpasserin an dem
Gitter des Vorgartens, angewurzelt wie ein Baum. Immer horchte sie
nach jener Haustüre hin, aber nicht immer sang die Frauenstimme in der
einzelnen Villa.

Eines Abends, als ich eben wieder von meiner Vogelhandlung und von dort
zur Blumenhandlung und von dort zum Mammosettäffchen gewandert war, kam
eine vornehme Dame aus dem Schatten eines Haustores. Sie schien mir
wie von der Nachtluft aus irgend einer fremden Stadt hergeweht auf die
Potsdamer Straße. Vielleicht hatte sie mich schon längst beobachtet und
hatte mich bei den gefangenen Vögeln, dann bei den gefangenen Blumen
und jetzt bei dem gefangenen Äffchen stehen sehen.

»O, mein Herr,« sagte sie, »darf ich Sie um einen Dienst ersuchen?« Und
ihre Stimme war wehklagend wie die Stimme einer Gefangenen. »Würden
Sie mir den Gefallen tun, jene Frau dort um die Ecke anzureden und zu
fragen, warum sie immer Nacht für Nacht dort steht, und wer sie dort
hingestellt hat zum Aufpassen?«

»Gern,« sagte ich. »Ich bin selbst neugierig, es zu wissen.«

»Ich werde Sie hier erwarten,« sagte die erregte Dame. Ihre Brust hob
und senkte sich, und ihr zitternder Atem kam wie ein feiner Nebel aus
ihrem Schleier und verflüchtigte sich in der eisigen Nachtluft.

Dieser feine graue Hauch aus den Lippen der sichtbar Geängstigten,
trieb mich zur Eile an.

Ich ging und zwang meine Schritte, daß sie möglichst gleichgültig
schienen. Ich bog um die Straßenecke und ging dort zuerst an dem
horchenden kleinen ältlichen Weib vorbei. Ich sah sie gar nicht an.
Dann wendete ich wieder einige Schritte um und ging langsam denselben
Weg zurück. Dabei betrachtete ich die Aufpasserin genau, denn sie sah
mir unter der Laterne, wo sie stand, ins Gesicht.

Ihr dumpfrotes dickes Kopftuch war ein wenig vom Schädel
zurückgerutscht, und sie sah mit dem grauen platten Haar elend
und armselig aus. Aber ihre kleine Stirn hatte etwas hartnäckig
Ausdauerndes wie ein Stein, den man vergeblich auf Steine stößt und
der nicht zerspringt. Mager und blutleer, ausgekältet von ewigen
Nachtfrösten, stand sie dort. Aber nicht zusammengekauert vom Elend,
sondern verzweifelt, halsstarrig wie ein Nagel, der spitz aus einer
Kiste heraussteht, und an dem sich alle Vorübergehenden die Kleider
zerreißen. Der Nagel aber weicht nicht, er sticht und reißt jeden in
die Haut, der unvorsichtig in seine Nähe kommt. So stand diese Gestalt
seit Monaten von Mitternacht bis zum Morgengrauen und wich nicht und
änderte ihren Standplatz nie.

Sie hatte keinen wirklichen Blick in ihren Augen. Trotzdem sie mich
anstarrte, schien sie mich nicht zu sehen. Sie horchte nur, immer
weilte ihre Aufmerksamkeit nur in ihren Ohren. Man merkte es ihr aber
an, daß sie geschäftsmäßig, auf Bestellung und für Bezahlung dastand,
denn sie zeigte in Haltung und Miene ärmlich weiblichen Pflichteifer.

»Sagen Sie mir,« fragte ich laut und dabei lächelnd und blieb eine
Sekunde im Gehen stehen, »warum um Gottes willen warten Sie Nacht um
Nacht bis zum Morgen hier? Ich habe Sie nun schon oft beobachtet. --
Dürfen Sie es nicht sagen?« fuhr ich fort, als sie schwieg. Sie hatte
mich einen Augenblick von der Seite angesehen, beinahe ebenfalls
belustigt wie ich, dann aber starrte sie mit abgewendetem Gesicht nach
einer andern Himmelsrichtung, wie ein Hund, den man anredet, und der
fortsieht und sich besinnt, ob er böse werden soll oder nicht.

»Na, wenn Sie es nicht sagen wollen,« sagte ich gedehnt und wartete, um
ihr Zeit zu lassen. Sie aber sah immer starr in die Seitenstraße und
rührte sich nicht.

»Wenn Sie nichts sagen dürfen --,« lachte ich und ging langsam und
nahm mir vor, wenn nicht heute, dann doch morgen von neuem zu fragen.
Aber diese Frau würde sicher nie antworten, sagte ich mir zugleich.
Sie mußte ihr Geld verdienen und verdiente es nur, wenn sie schwieg
und horchte. Mir schien, man hätte ihr ein Stemmeisen zwischen die
Lippen stoßen können, sie hätte keinen Laut von sich gegeben und den
Mund nicht geöffnet. Dieses war mein Eindruck. Welch schrecklicher
Gefangenwärter war sie! Und wessen Gefängnis mochte sie bewachen? --

Ich bog in die Seitenstraße und ging bis zur Potsdamer Straße zurück.
Dort fand ich die Dame im Schatten eines tiefen Haustores, auch stand
ein Automobil am Straßenrand, dessen Tür offen war.

Ich schüttelte von weitem den Kopf, und die Fremde nickte und kam mir
entgegen. »Ich wußte, daß diese Kreatur nichts verraten würde,« klagte
die Dame enttäuscht. »Ich habe sie neulich bereits selbst gefragt und
habe sie befragen lassen, aber sie antwortet niemandem. Sie bewacht
nämlich die Haustüre einer unglücklichen Freundin von mir. Und ich
möchte wissen, ob der ungetreue Mann meiner Freundin oder andere Leute
diese reinste aller Frauen beobachten lassen, um sie in Verdacht
zu bringen.« Sie dankte mir dann und entschuldigte sich und ging
zum Auto, das ein Privatwagen war. Ich hatte das Fahrzeug vorher in
meiner Überraschung, und da ich in Gedanken am Schaufenster bei dem
Mammosettäffchen gestanden hatte, gar nicht bemerkt. Der Wagenschlag
wurde vom Kutscher zugeworfen, und die Dame flog wie der Nachtwind aus
meiner Sehweite fort. Ich stand und wunderte mich eigentlich gar nicht.
Denn daß ein Geheimnis, eine Grausamkeit, eine Ungerechtigkeit mit der
geheimnisvollen nachtwachenden Kreatur drüben um die Straßenecke in
Verbindung stand, das hatte ich mir schon lange gedacht.

An einem der nächsten Abende begleitete ich eine mir befreundete Dame
vom Künstlertheater nach Hause, und da es eine sternhelle Nacht war,
wollte meine Begleiterin nicht fahren, sondern sie wollte schlendern
und die Nachtluft atmen. Wir kamen in der Nettelbeckstraße an dem
Schaufenster eines Juweliers vorüber, das die ganze Nacht über
beleuchtet dasteht. In diesem Laden gibt es nur alte Schmucksachen,
alte Familienschmuckstücke, Familiensilber, altmodische Fingerringe.
Da sind viele ergraute Perlen, müde gewordene Edelsteine, graue matte
Rosensteine in grauen, trüb gewordenen Silberfassungen.

Wir standen und ließen unsere Augen wühlen und freuten uns, uns
gegenseitig zu überraschen mit unserer Vorliebe für die verschiedenen
Steine, indem wir in allen Verstecken des Schaufensters nach besonders
edlen Fassungen und besonders schönen Schmuckstücken suchten.

Bei diesem lässigen Spiel kam mir der Gedanke, daß die alten
Schmuckwaren hinter der Glasscheibe mehr Sorge als Freude in sich
trügen, und daß das Schaufenster aussah wie voll Gefangener, die da,
herausgerissen aus ihren Lebenswegen, warten mußten, bis sie aus dem
Fenster befreit würden, bis sie wieder an warmen Menschenhänden, an
zarten Frauennacken, in Frauenhaaren und an Frauenwangen leuchten,
aufleben und frei sein durften. Denn das Leben der Steine beginnt
erst, wenn sie in Schönheit getragen werden, bei festlichem Licht und
festlichem Blut.

Und ich mußte bei den alten gefangenen Edelsteinen an die Schaufenster
voll gefangener Vögel, Blumen und Affen denken.

Ich sagte dieses zu meiner Begleiterin, und im Anschluß an die
Erzählung von meinen nächtlichen Schaufenstern berichtete ich ihr
auch mein Erlebnis mit der Dame und der Aufpasserin, die jenes Haus
allnächtlich bewachte.

Meine Freundin wollte sofort, daß wir die Aufpasserin besuchen sollten.
Wir kamen dann vor jenes Haus, aber wir vermieden die Häuserseite und
gingen unter den winterkahlen Bäumen der anderen Straßenseite am Rande
eines schwarzen Kanalwassers entlang.

Wir sahen die Frau wieder horchend am Eisengitter des Vorgartens
stehen, oben aber in der Villa, deren Tür die Aufpasserin ins Auge
gefaßt hatte, waren zwei erleuchtete Fenster.

Meine Begleiterin, die ein sehr feines Gehör besitzt, sagte plötzlich
zu mir: »Hören Sie doch, im Hause singt eine Frauenstimme!«

Wir standen hinter einem breiten Baumstamm still, und in den Pausen,
die zwischen dem Lärm vorübersausender Autos nur sekundenweise
eintraten, hörten wir einen wundervollen Gesang. Dazu die feine
Begleitung eines Instrumentes.

Ich hätte die Autos aufhalten mögen, die sich immer wieder an dem Kanal
und der Baumreihe entlangstürzten und die mich nur kleine Stücke des
großen Liedes auffangen ließen.

»Eine Sängerin,« sagte meine Begleiterin mit begeisterten Augen. »Und
zwar muß es eine große Sängerin sein, denn ihre Stimme ist herrlich.«
»Sie singt,« sagte ich, »sie singt so erschütternd und ergreifend. Es
ist, als schluchzt sie die Töne, als wäre sie eine weinende Quelle in
einem heiligen Hain, wo die Bäume dunkel und feierlich nicht rauschen
dürfen, solange die Quellenstimme singt.«

Wir standen lange still. Dann verdunkelte sich oben das eine Fenster,
und für einen Augenblick erschien der dunkle Umriß einer schöngebauten
Frauengestalt hinter dem Vorhang, die in Haltung und Wuchs edel war
wie ihr Lied. Es war eine hoheitsvolle mütterliche Erscheinung. Der
Kopf schien in den bestirnten Nachthimmel zu schauen, und mir war,
als trüge sie noch die Rhythmen des Liedes wie große Schwingen an
ihrer aufgerichteten Gestalt. Das Aufpasserweib unten am Vorgarten
stierte hoch und ging langsam, wie beunruhigt, einige Schritte von der
Haustüre fort. Dann wurde nach einer Weile das Licht oben ausgelöscht.
Das Haus lag wie ein toter Käfig bei den andern Häuserkäfigen. Und
die Aufpasserin stand wieder an ihrem Platz wie eine Schildwache. Wir
gingen dann weiter. Meine Begleiterin war nachdenklich geworden. Sie
schien im Geist in jenes Haus eingedrungen zu sein, um die bewachte und
singende Frau dort auszuforschen. Aber sie schien dabei ebenso wenig
eine Antwort zu bekommen wie ich damals, als ich die Aufpasserin in
jener Nacht gefragt hatte.

»Sie ist unglücklich und kann dabei noch singen, wunderschön singen,
verstehen Sie das?« fragte sie mich dann.

»Das tun die Nachtigallen auch, die unglücklich sind, wenn sie
eingesperrt sind, sie singen um so schöner, je dunkler es um sie wird,«
mußte ich erwidern. »Aber warum ist sie bewacht, wenn sie engelrein
ist, wie ihre Freundin sagte? Verstehen Sie das?« fragte sie mich
hartnäckig weiter.

»Der Schuldige belauert immer den Unschuldigen. Ihr Mann soll ihr
untreu sein, hat jene Dame neulich nachts gesagt,« suchte ich zu
erklären.

»Aber warum trennen die beiden sich nicht, warum? Können Sie mir das
erklären?«

»Das kann ich nicht erklären,« sagte ich darauf.

»Aber Sie müssen es mir erklären,« bat meine Begleiterin ängstlich.
»Ich fühle, ich kann in dieser Nacht nicht schlafen und werde immer an
jene singende Frau denken müssen, die ihren Gram, ihren Herzkummer und
ihre Einsamkeit sich fortsingen muß.«

Und welche Stimme, dachte ich bei mir: so singen nur die Erzengel vor
Gottes Thron, so mächtig, wenn sie aufweinen über die Schmerzen der
Welt.

»Erklären Sie mir das Geheimnis! Erklären Sie mir, wie kann man
Ungerechtigkeit erdulden, ohne sich zu wehren?«

»Wie wehren sich die gefangenen Singvögel, wie wehren sich wehrlose
Frauen? Sie singen aus Notwehr, wenn sie Stimme und angeborene Musik
in sich tragen; sie singen sich ihr Weh vom Leibe. Sie singen sich vom
Gift der Qualen frei. Anders wehren sich die, die innerlich singen
können, nie.«



An eine Sechzehnjährige


Wenn ich an Oda denke, wird mein altes Herz süß wie eine Blume, die man
sich gedankenlos zwischen die Zähne steckt und am Stiel hin und her
dreht, während man eine selbsterfundene Melodie ohne Anfang, ohne Ende,
nur einem selbst hörbar, vor sich hinsummt.

Oda ist knapp sechzehn Jahre alt.

Die Luft um Odas Augen ist ohne Licht, nicht bloß, weil Sechzehnjährige
eine Binde tragen, da sie mit dem Leben noch Blindekuh spielen, sondern
weil die Sonne, die so viele Millionen Jahre alt ist, für dieses Alter
gar nicht aufgehen mag. Denn sie hat für dieses Alter gar kein Licht,
das jung genug wäre.

In Odas Nähe reizt mich vor allem immer eine gewisse natürliche und
doch jungfräulich mystische Dunkelheit, in der Oda sich selbst Licht
spendet. Nur ein zerstreutes Licht ist um sie, nicht mehr als um ein
Küken im Ei, ehe es die Schale zerbrochen hat.

Und doch -- wie glänzen Odas mohnrote Augen! Ich behaupte, die
Jugendliche hat mohnrote Augen. Ich fühle Röte und viele Träume in
ihren Augen, Träume, wie nur ein Opiumraucher sie haben kann.

Wenn Oda dieses lesen würde, würde sie finden, daß ich alles das, was
ich von ihr schreibe, über mich selbst schreibe. Denn sie glaubt sich
klar zu sehen wie eine Photographie. Das mag sein, ich gebe ihr recht.
Ich beschreibe nicht Odas Augenbild, sondern ihr Wirkungsbild.

Ich habe noch niemals Frauen sehen, sondern stets nur fühlen können.
Ich fühle sie mit den Augen, fühle sie mit den Ohren, fühle sie mit dem
Blut.

Liebe Oda, da du dich also nicht fühlen kannst, wie das Feuer sich
nicht als heiß und hell fühlt, das Wasser sich nicht selbst als naß und
weich fühlt, -- so mußt auch du, wenn du dieses einmal über dich lesen
wirst, mir glauben, wie du von mir gefühlt wirst.

Du möchtest Schauspielerin werden, und ich zittere für dich, daß du
Wege gehen mußt, die dich weglos wie einen Kometen in eine Irrwelt
werfen können.

Aber du willst, und alle wollen mit dir, was du willst. Und wenn ich
das bedenke, müßte ich eigentlich nicht mehr für dich zittern, denn
deine Wege können höchstens Umwege, aber keine Abwege werden, wie ich
dich kenne. Wenn du nur immer weißt, daß du willst.

Du kommst und setzt dich, wenn alle Damen in deiner Mutter Teestunde
schon, eifrig plaudernd, das Zimmer unruhig wie ein auf- und
abwankendes Fahrzeug machen. Du setzt dich mit deiner sechzehnjährigen
Mädchenruhe in einen leeren Diwanwinkel und hast deine Glieder, wie
nackt ohne Kleid, ohne Bewußtheit, mitgebracht und hast nicht deinen
Körper vergessen, wie viele der viel zuviel gekleideten Damen es tun.

Dein Mund redete noch nicht, auch deine Glieder reden noch nichts.
Du fühlst auch noch nichts. Und du bist da in deiner Dunkelheit vor
mir, von deiner Mutter mit Sorgfalt in einfache zarte Kittel aus Seide
gekleidet. Neulich war es grüne, herbgrüne Seide, deren Grün nichts
gemein hatte mit Pflanzen oder Metallen oder Tierfarben. Es war ein
fernweltliches Grün, weil aus dir ein Erlebnis strahlte. Du kamst aus
einer Welt her, wo eine grüne Sonne geschienen hatte, und davon warst
du noch feierlich zartglänzend und lieblich leuchtend.

Du sitzt auffällig in deiner Unauffälligkeit vor mir, und ich höre
alles, was du nicht redest, lauter als rundum die glänzenden Reden der
Sprechenden. Dein Herz aber ist flüssig, wenn es so, nichts sprechend,
mit uns allen und mit niemandem spricht. Während uns die Teetassen
in den Fingern zittern und der Witz der Nachbarn uns benachrichtigen
will von Geschehnissen, die uns anfallen, bald kalt, bald glitzernd
von Neugier, Eitelkeit und geistreicher Gewandtheit, bist du, Oda,
verschwunden und wieder erschienen. Es rief dich irgend ein göttlich
zweckloser Zweck.

Neulich, als ich zum ersten Mal seit Jahren wieder zu euch zu Besuch
kam, war es der kleine zahme Kanarienvogel, den du in der Hand
brachtest und mir auf den Ärmel setztest; und du lachtest, als ich
verwundert aufschaute.

Warum brachtest du nicht alle Kanarienvögel der Stadt, damit ich dich
hätte tausendmal lachen hören können! Ich sah den zahmen kleinen
Vogel kaum, ich fühlte nur mein Herz schmerzen, weil du nur so kurz
gelacht hattest, und weil, wenn du laut wirst wie die andern, ich
dann unendlich viel Wirklichkeit von dir erleben möchte, von deinem
unwirklichen und noch weltfernen Dasein.

Bei meinem zweiten Besuch fand ich dich, ein Tabakhäufchen zwischen
zwei Fingern zu einer kleinen Kugel drehend, am Schreibtisch deines
Vaters, und du stopftest eine kleine japanische Silberpfeife, die
du dann rauchtest. Und du lachtest wieder kurz auf, als ich aus dem
Nebenzimmer von den andern fortgegangen war, von Tee und Musik, und
dich fand. Wie ein Eichhorn in einem Waldbusch versteckt, so kauertest
du auf der Ottomane unter dem blauen Nebel des Tabakrauches und ließest
dich nicht stören. Du lachtest einmal nur dieses kurze, gestoßene
Lachen, und wieder schmerzte durch einen kleinen Ruck mein großes altes
Herz, weil du einmal und nicht tausendmal lachen konntest. Weil die
Lust so kurz ist, die du anschlägst und auslöschst.

Warum schmerzte aber mein Herz nicht, als du ein andermal am gleichen
Schreibtisch, ans Telephon gerufen, mit einem jungen Kameraden
lachtest? Er wollte dich mit andern jungen Damen abholen und zum
Eisplatz zum Schlittschuhlaufen begleiten. Hinter dir aber stand
dein Vater wie ein lang gen die Zimmerdecke gezeichneter Schatten
und lächelte und war neckisch und sagte dir, da du um eine Antwort
am Telephon verlegen warst, daß du absagen müßtest. Der Bursche am
Telephon sei fad und nicht klug genug für dich. Du lachtest kurz auf,
aber ich fühlte nichts bei diesem Lachen, diesmal nicht den Seufzer,
nicht den zitternden Wunsch, dich noch mehr lachen zu hören.

Und wieder an einem andern Sonntag, zu einer andern
Nachmittagsteestunde, als ein Freund eures Hauses, ein beweglicher,
nicht alter, nicht junger Mann, vor dir hockte und vom Theater
plauderte und du in einem Sessel, an die hohe Lehne zurückgedrückt, vor
dem Sprecher saßest, da zitterte Schrecken in mir. Denn der Erzähler
war ein gewandter Frauenverführer, und er war geistreich, weltlustig
und zielte mit seinen Augen auf dich wie ein geübter Revolverschütze
auf eine Scheibe. Und wie eine Zielscheibe flach lehntest du, in
den Sessel tief zurückgedrückt, an der Sessellehne, und diese deine
Stellung war jenem Mann Triumph genug. Und gleich wandte er sich an
deine Mutter und machte den Vorschlag, dich mit ihm die Probe eines
neuen Stückes besuchen zu lassen, der er beiwohnen wollte.

Und ich sah seinen vorgebeugten, glattrasierten Kopf, der wie ein
Straußenei unterm Kronleuchter glänzte, und sah, wie er mit Eifer deine
Mutter davon überzeugte, daß diese Theaterprobe dir nützen würde für
deine Theaterkenntnis, die du dir aneignen möchtest.

Und es wurde verabredet, daß du an einem der nächsten Morgen um 11
Uhr in seine Loge kommen solltest, um die Probe zu sehen. Er hob den
Zeigefinger und sagte:

»Aber es darf kein Geräusch gemacht werden, denn die Regie ist streng,
und es darf eigentlich niemand wissen, daß wir zur Probe kommen. Aber
im dunkeln Theaterraum und in der finsteren Loge wird niemand uns
finden, wenn wir ganz leise sind.«

Ich sah dich bereits im Geist lautlos in jener dunkeln Loge und fühlte,
wie du neben deinem Verführer im Dunkeln kaum zu atmen wagtest aus Lust
am Theater, wie jener aber kaum zu atmen wagte aus Lust an dir.

Es waren drei Tage bis zu jenem Tage der Verabredung, die du, Oda, mit
dem andern hattest. Und in jeder Nacht von diesen beiden Nächten, die
zwischen den drei Tagen lagen, wachte ich auf und horchte. Ich hörte
zuerst nur ferne Automobile durch die todstillen Straßen surren. Ich
fühlte aber dann, wie sich die Häuser auflösten und wie sie ihre Mauern
und ihre Steine nach mir warfen. Die ganze große Stadt steinigte meine
Brust. Ich stöhnte, und morgens erwachte ich wie zerschlagen. Und
mitten am Tage in meiner Arbeit wollte ich ans Telephon gehen. Es war
mir, als müßte ich deine Mutter rufen und weiter nichts zu ihr sagen
als: »Hilfe, Hilfe!« wie einer, der ein Unglück sieht und ratlos ist.

Zufällig hörte ich dann später von deiner Mutter, du würdest doch nicht
zu jener Theaterprobe gehen. Aber ich glaubte es nicht. Warum glaubte
ich es nicht? Warum atmete ich nicht auf? Ich glaubte es nicht, weil du
ja doch deine Umwege oder Irrwege gehen mußt, wie wir alle sie gingen,
denn keine andern führen ins Leben.

Als ich nach Wochen wieder einmal zu deinem Vater kam, nötigte er mich,
zum Mittagessen zu bleiben. Ganz flüchtig sollte der Besuch sein, denn
wir hatten nur geschäftlich zu sprechen.

Du warst mit deiner Mutter in der Stadt, und ihr machtet an diesem Tage
andere Besuche und wart nicht zum Essen zu Hause.

Dein kleiner Bruder Nickel, der flinke und geweckte Junge, sprang
mit seinem graublonden Lockenkopf mitten beim Essen vom Tisch auf und
holte plötzlich den kleinen Kanarienvogel aus dem Bauer und setzte ihn
auf das Tischtuch. Dort spazierte das hellgelbe Vögelchen zwischen dem
weißen Porzellan und den Kristallgläsern und um das Silbergeräte und
pickte und lugte mich mit einem Auge an.

Der kleine Kanarienvogel war erbärmlich anzusehen. Ein Beinchen war
ihm gebrochen, das schleifte er nach sich. Aber der Bruch war schon
geheilt und schmerzte ihn nicht mehr. Doch sein Köpfchen war ganz kahl.
Er hatte alle Federn am Kopf verloren, und man sah, was man sonst nie
sehen konnte, die großen Ohrlöcher des Vogels zu beiden Seiten des
Köpfchens. Sie waren im nackten Schädel wie Löcher, durch die eine
Kugel gegangen war.

Wieviel hat dieser Vogel gefühlt mit diesen Ohrlöchern? Wieviel Weh-
und Wohllaute zogen durch den kleinen Schädel in das Herz ein?

Er hat Oda lachen und weinen gehört. Er hat Oda tanzen gehört und auch
gehört, wie sie aufstampfte im Zorn. Er hat Oda besungen, wenn er
andächtig wurde.

So gerupft gehen wir alle aus der Lebensandacht hervor, dachte ich bei
mir. Früher oder später zieht das Herz einen geknickten Fuß nach. Oder
man verliert die Locken des Mutes.

Nach dem Essen, als ich noch einen Augenblick in deines Vaters
Schreibzimmer im Ledersessel saß, las und rauchte und auf deinen
Vater wartete, der sich zum Ausgehen umzog, da tönte des gerupften
blankschädligen Vögeleins Singstimme aus dem Nebenzimmer.

O, er sang, als wäre er gerührt über sich selbst. Er sang so schmelzend
und zärtlich, als hätte dein Bruder Nickel einen Spiegel geholt und
der Kanarienvogel hätte sein verunglücktes Bild im Glase gesehen. Und
er sang, um den trauernden gerupften Vogel im Spiegel zu trösten, sein
lebenssüßestes Lied. Denn er erkannte sich selbst nicht und glaubte für
einen Fremden zu singen.

Da hätte ich gewünscht, Oda, du hättest mit meinen Ohren hören, mit
meinen Augen sehen können.

Ich habe Wiedersehen gefeiert mit eigenem Leid. In deinen
sechzehnjährigen Augen sehe ich meine eigenen Gebrechen wie in einem
Spiegel, alle Wunden, die mir das Leben angetan.

An einem der nächsten Abende, zu dem ich mich mit deinen Eltern
verabredet hatte, wurde ich zu Hause bei mir ans Telephon gerufen.

Als ich Antwort gab, rief mir eine Stimme zu: »Ich bin es!«

»Wer?« fragte ich ahnungslos.

»Ich, ich, ich,« riefst du mir zu, und es belustigte dich, daß ich
deine Stimme nicht gleich erkannte.

Wie seltsam, daß ich deine Stimme nicht wiedererkannte!

Aber da lachtest du das kurze Stoßlachen, das immer wieder zu rasch
auslöscht.

Da erkannte ich dich wieder.

Noch oft im Leben werde ich dich nicht erkennen, wenn du sprichst, aber
ich hoffe, daß ich dich immer erkennen werde, wenn du lachst.



Zur Stunde der Maus


In einer Stadt der Provinz hatte ein Südfrüchtenhändler einen Laden
eingerichtet, der sich über einem tiefen Keller befand, zu welchem eine
Falltüre hinunterführte.

Aus diesem Keller kamen jede Nacht die Mäuse in Scharen in die
Südfrüchtenhandlung herauf. Sie nagten dort die schönen, in
Seidenpapier eingewickelten Kalvillenäpfel an, sie fraßen Datteln
und Feigen, Rosinen und Bananen und schonten auch nicht die
jungen Gemüse und die Maltakartoffeln. Keine Ware, die sich in
der Südfrüchtenhandlung befand, war vor den kleinen zudringlichen
Nagetieren zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang sicher.

Solange nachts Lärm auf den Straßen war und die Wagen fuhren, hielten
sich die Mäuse noch still im Keller. Aber sobald es Mitternacht
geschlagen hatte und es still in jener Straße wurde, kamen sie in
Scharen, vergnügten sich an den süßen Vorräten und feierten wahre
Freßorgien, deren Spuren den Südfrüchtenhändler jeden Morgen beim
Betreten des Ladens in Verzweiflung setzten.

Den Laden zu räumen und einen anderen zu beziehen, das ging nicht gut
an, da hier im Mittelpunkt der Stadt ein gutes Absatzgebiet war und dem
Händler durch einen Umzug wahrscheinlich viele Kunden verloren gegangen
wären.

Und so versuchte er, sich auf alle Weise gegen die Mäuse zu schützen.
Er schaffte sich Katzen an, aber er mußte sie wieder abschaffen, da es
vorgekommen war, daß die Tiere in der Nacht den Ladenraum verunreinigt
hatten und der Geruch davon, der am Morgen nicht auszutreiben war, die
Käufer entsetzt hatte.

Er schaffte sich dann Hunde, Rattenfänger, an. Aber diese stürmischen
Tiere schlugen in den Nächten ein wildes Gebell auf, wenn sie hinter
den Mäusen herjagten, und sie warfen dabei, wenn sie über die mit Obst
gefüllten Körbe sprangen, Früchte und Körbe über den Haufen, so daß der
Händler auch die Hunde wieder abschaffen mußte, weil die Nachbarn sich
über das nächtliche Gebell beschwert hatten und der Schaden, den die
hetzenden Hunde anstifteten, dem Schaden der Mäuse gleichkam.

Gift gegen die Mäuse zu legen, war nicht ratsam, da die halbvergifteten
Tiere das Gift über die Eßwaren verschleppen konnten und dann großes
Unglück durch die Vergiftung von Früchten hätte entstehen können.

So blieb dem armen, von Mäusen geplagten Südfrüchtenhändler nichts
übrig, als sich um Mitternacht, zur Stunde der Maus, in den Ladenraum
zu begeben und, versehen mit einem Stock, seine Fruchtkörbe selbst zu
bewachen und durch Händeklatschen und Fußstampfen die eindringenden
Mäusescharen zu verjagen.

Er allein konnte nicht Nacht um Nacht wachen, und so teilte er sich mit
seiner Frau in die Nachtwachen. Aber dieses ermüdete auf die Dauer die
beiden sehr.

Da kamen sie auf den Gedanken, eine entfernte Verwandte, die gerade
eine Stellung suchte, zu sich ins Haus zu nehmen, damit diese die
Mäusewache jede dritte Nacht übernähme.

Der Südfrüchtenhändler hatte es sich aber zur Pflicht gemacht, manchmal
nachzusehen, wenn das junge Mädchen die Wache hatte, ob es nicht
eingeschlafen wäre.

Er traf das Mädchen aber niemals schlafend an, denn es vertrieb sich
die Zeit mit Lesen von Balladen und Romanzen, für die es eine Vorliebe
hatte.

Mit der Zeit waren dem Händler die Augenblicke, die er zur Stunde der
Maus mit dem jungen Mädchen verplauderte, wenn sie im Laden zusammen
hinter die Körbe schauten, um die kleinen Ladenräuber zu verjagen, oder
wenn sie ihm eine ihrer Romanzen vortrug, die sie bald alle auswendig
kannte und die sie bei der Nachtwache laut hersagte, damit sie mit
ihrer Stimme die Mäuse verjagte, -- so zur angenehmen Gewohnheit
geworden, daß er die Minuten im Laden unbewußt immer länger ausdehnte
und sich eines Nachts klar wurde, daß er sich in das junge Mädchen
verliebt habe.

Das kam, als das junge Fräulein ihn eines Nachts, da er wieder lange
ihren Balladen zugehört hatte und noch eine Romanze zu hören wünschte,
daran erinnerte, es sei Zeit, daß er wieder hinauf ins Schlafzimmer zu
seiner Frau ginge. Und sie hatte lachend hinzugesetzt, sie wisse, daß
er recht glücklich verheiratet wäre.

Dabei hatte sie den Kalvillenapfel, den er als den schönsten für sie
ausgesucht und ihr für ihren Balladenvortrag zum Geschenk gemacht
hatte, vorsichtig wieder in das schützende Seidenpapier eingewickelt
und hatte ihn auf die Apfelpyramide zurückgelegt, von wo ihn der
Händler genommen hatte.

»Für mich sind weniger schöne Äpfel auch gut genug. Auch wird sich
vielleicht Ihre Frau ärgern, wenn ich den besten Apfel, der im Laden
ist, aufesse.«

Als sie dieses gesagt, hatte sie leise geseufzt, und der Mann war aus
dem Laden gegangen. Vorher hatte er ihr noch lachend zugerufen:

»Natürlich bin ich glücklich verheiratet, sogar sehr glücklich.«

Aber seit dieser Stunde, seit dieser Versicherung seines Glückes,
war der Mann von einer Unruhe geplagt, die ihn unglücklich machte.
Es war ihm, als habe er im Augenblicke der öffentlichen Feststellung
seines Eheglückes den Gipfelpunkt dieses Glückes schon überschritten.
Denn er war abergläubisch und glaubte bestimmt daran, daß er mit dem
Eingeständnis seines Glückes sich ein Unglück ins Haus eingeladen
habe. Er war aber zugleich ein ehrlicher und treuer Mann, der seine
ihm angetraute Frau niemals betrogen hatte, und dessen Herz heftig
erschreckte, als es zur Stunde der Maus seine Augen dabei ertappte,
wie sie mit Wohlgefallen an dem Gedichte vortragenden Mädchen im
mitternächtigen Laden hängen geblieben waren, so daß er die Zeit und
den Schlaf vergessen konnte.

Das junge Geschöpf mit seinen erdbraunen Augen und seinen tabakfarbenen
Haaren paßte gut zwischen die Pyramiden von Blutorangen und goldgrünen
Zitronen und neben die weinduftenden Ananasfrüchte. Und oft am Tage,
wenn der Südfrüchtenhändler die Kunden bediente und das Mädchen gar
nicht im Laden anwesend war, schien ihm, als ob in den leichten flachen
Holzschachteln die plattgepreßten gedörrten Malagatrauben oder die
in Silberstanniol eingewickelten spanischen Mandarinen den gleichen
Duft ausströmten, der ihm vom Nacken jenes Mädchens, von den feinen
Haarwurzeln ihrer tabakbraunen Locken entgegengeströmt war und den er
deutlich kannte von den Augenblicken, da sie beide zur Stunde der Maus
hinter den Säcken mit Maltakartoffeln und hinter den Körben voll von
afrikanischem Blumenkohl mit Stöcken nach den Mäusen geschlagen hatten.

Des Händlers Unruhe wuchs allmählich, besonders seiner Frau gegenüber,
die er wirklich aufrichtig liebte und die er mit seiner Untreue nicht
betrüben wollte.

Er wußte sich keinen Rat mehr, wenn er sich auch vornahm, das junge
Mädchen zur Zeit, da es Wache hatte, nicht mehr im Laden aufzusuchen.
Doch nützte ihm das nicht viel, denn er traf es am Tage, und er konnte
nicht daran denken, es fortzuschicken, weil es für die Nachtwachen
unentbehrlich war; und er hätte auch gar keinen Grund gehabt als den
seiner Zuneigung, den er aber natürlich kaum sich selbst eingestehen
wollte und den er noch weniger jemand anderem offenbaren konnte.

Es geschah auch, daß, wenn er dem Mädchen jetzt am Tage auf der Treppe
oder im Ladenraum oder in seiner Wohnung begegnete, er ein kühleres
Gesicht aufsetzte, um seine Gefühle mit Gewalt zu verleugnen. Und ihm
schien es dann, als ob das junge Mädchen durch sein verändertes Wesen
verletzt wurde, und daß es ihn leicht verächtlich behandelte.

Es war ihm in der Erinnerung unangenehm, daß er zu dem Mädchen gesagt
hatte, er sei glücklich, sehr glücklich. Er fand es roh und häßlich,
daß er glücklich sein sollte, während das junge Geschöpf glücklos war
und die Lebenstage nur für die bezahlte Arbeit kommen und gehen sah.

Bei einem größeren Einkauf einer Warensendung, die er immer in der
nächsten Hafenstadt, wo die Frachtschiffe aus dem Süden ankamen, machen
mußte, wurde ihm der Vorschlag unterbreitet, ein Zweiggeschäft in
jener großen Seestadt zu gründen, damit er die durch die Verpackung
und Reise schon etwas beschädigten, aber noch guten Obstvorräte, denen
eine Eisenbahnversendung nicht gut bekommen würde, an Ort und Stelle
absetzen könnte.

Der Händler ging mit Freuden auf dieses Geschäftsunternehmen ein.
Und da ihn die Fruchtversteigerungen oft nach der Hafenstadt gerufen
hatten, so fand auch seine Frau es ganz in der Ordnung, wenn ihr Mann
dem neuen Zweiggeschäft in der Hafenstadt vorstünde, wogegen sie den
Laden in der Provinzstadt weiterführen wollte.

Für die Festtage des Jahres hatten die Eheleute verabredet, sich zu
besuchen. Da aber die Frau zur Weihnachtszeit nicht von dem Laden
abkommen konnte, erwartete sie der Mann erst zum Neujahrsabend, zur
Silvesterfeier.

In der ersten Zeit der Trennung war der Südfrüchtenhändler von seinem
neuen Geschäft so in Anspruch genommen, daß er weder seine Frau noch
das junge Mädchen, das nach wie vor in dem Laden in der Provinz die
Nachtwache hatte, vermißte.

Aber als das neue Geschäft im Gang war und sich eintönig abwickelte,
kehrten seine Erinnerungen doppelt heftig zurück, und die Gerüche der
Früchte im Laden, die ihre Süßigkeit durch die Luft verbreiteten,
erweckten wieder, besonders, wenn er abends den Laden geschlossen,
seine Rechnungsbücher durchgesehen und zugeklappt hatte und sich
der Beschaulichkeit und dem Träumen überlassen durfte, das Bild des
Mädchens und den Duft ihres Leibes, wie er ihm begegnet war vormals zur
Stunde der Maus.

Er merkte, daß er sich sogar einzelner Verse jener Balladen und
Romanzen erinnerte, die sie immer in der nächtlichen Stille im
Kreis der Fruchtkörbe vorgetragen hatte, und die ihn auf ferne
Inseln und zu fernen Ländern, unter fremdartige Bäume, zu feurigen
und fremdgearteten Menschen versetzt hatten, deren Sprache voll
auffallender Leidenschaftsworte lebhaft leuchtete, wie die Farben der
Südfrüchte, die von den nüchternen Eisensäulen des Ladens, von den
kahlen Kalkwänden und vom strengen Kassenpult wie bengalische Feuer
abstachen, die man im nüchternen Tageslicht abbrennt.

Wenn der Mann dann aus dem Laden in sein Zimmer in einem der höher
gelegenen Stockwerke des Hauses kam, wo er jetzt ohne Weib hausen
mußte, gingen die Düfte der südlichen Länder, die an seinem Rock
hafteten, mit in seine Träume. Und er umarmte in seinem Schlaf nicht
sein Weib, sondern er zog das junge Mädchen an sein Herz, während ihm
ihre Brüste wie zwei frische Kalvillenäpfel entgegendufteten.

Und besonders zur Stunde der Maus lag er oft auf dem Kissen wach, mit
den verschränkten Armen unter seinem Kopf, und stellte sich seinen
Laden in der Provinz vor, wo eine der Gaslampen brannte und sie, die er
ersehnte, mit hochgezogenen Beinen auf dem Drehstuhl beim Ladentisch
saß und ihre Balladen sprach und dazwischen aufsprang und nach einer
Ecke schlich, wo überall Mausefallen waren, die aber den Mäusen so
bekannt waren, daß keine mehr Lust hatte, sich fangen zu lassen.

Dann sah er, wie sie sich bückte und eine Falle, die von selbst
zugeklappt war, wieder aufstellte, wobei sie vielleicht den Vers
hersagte:

    Ein Held, deß' Herz wie Feuer war,
    Ritt durch die Wälder sieben Jahr.
    Verschwiegen hat er sieben Jahr,
    Daß er ein Fraß der Flammen war.

Bald mußte sich der Händler auch am Tage mit seinen verliebten Träumen
beschäftigen. Und der Gedanke, daß seine Sehnsucht die Ersehnte
vielleicht herziehen könnte, wollte nicht mehr von ihm weichen.

Er nahm sich endlich vor, einen Brief zu schreiben und seiner Frau
zu sagen, daß er eine Hilfe im Laden brauche und daß er nicht
immer die Ladentüre abschließen könne, wenn er stundenlang zu den
Fruchtversteigerungen gehen müsse, und er wollte ganz harmlos im Briefe
bemerken, daß sie ihm jene Verwandte schicken sollte.

Er hatte den Brief im Geist vielleicht tausendmal abgefaßt, nachts und
am Tag. Wo er ging und stand, schrieb er diesen Brief in Gedanken.

Aber er konnte sich nicht entschließen, die Feder in die Hand zu
nehmen, die Tinte und das Briefpapier. Er wäre sich wie ein Verräter
vorgekommen, Verräter an der Treue, die er seiner Frau halten wollte,
und Verräter an seinem Herzen, das ehrlich bleiben wollte.

So schrieb er diesen Brief nur mit den Augen in die Luft. Er schrieb
ihn abends stundenlang, wenn er seine Rechnungen abgeschlossen
hatte, unter die Summen der Zahlen ins Hauptbuch, in das er brütend
starrte. Er schrieb den Brief mit den Augen auf die Kistendeckel der
Orangensendungen, wenn er das Kistenbrett in der Hand hielt und in
Gedanken anstarrte, statt es in eine Ecke zu stellen. Er schrieb den
Brief auf die rötlichen blanken Schalen der Blutorangen. Er schrieb den
Brief an die leeren Kalkwände seines Verkaufsgewölbes, und er las ihn
am Tag hundertmal, während er Früchte in die weißen Tüten hineinzählte,
die er den jungen Mädchen und Frauen zureichen mußte. Auf allen
Frauenhänden, die die Fruchttüten aus seiner Hand empfingen, las er
jenen Brief, den seine Augen unaufhörlich schrieben.

Aber wie man sich scheut, mit bloßen Füßen durch brennendes Feuer zu
gehen oder die bloßen Hände in helles Feuer zu legen, so scheute er
sich, seine Hände und seinen Willen dazu herzugeben, den Brief zu
schreiben und abzusenden, den Brief, der die heimlich Ersehnte zu ihm
bestellen sollte.

Der Gefolterte suchte sich mit der Zeit die brennende Sehnsucht nur
dadurch ein wenig zu erleichtern, indem er tat, als ginge er auf die
Forderungen seines Blutes scheinbar ein. Er ging, wenn es ihm seine
Zeit erlaubte, in die Warenhäuser und kaufte Dinge für sein Zimmer ein,
die er sonst nie für sich gekauft hätte, und die er aufstellte wie
zum Empfang für diejenige, die er noch nie empfangen hatte. Er kaufte
Kissen für das Sofa, unnütze Vasen, in die er Blumensträuße stellte,
die er aber verwelken ließ wie die Stunden seiner Träume. Er kaufte
romantische Bilder, mit denen er die Wände schmückte, kaufte Balladen-
und Romanzenbücher, die er auf ein Bücherbrett aufreihte. Er kaufte
Weingläser, eine Porzellanschale für Kuchen, eine Kristallschale für
Früchte und eine große seidene Bettdecke.

Er kaufte sich neben seinen gewöhnlichen Zigarren, die er täglich
rauchte, eine Schachtel bester und teuerster Havannastengel, die er
nur dann rauchen wollte, wenn der ersehnte Besuch gekommen sein würde.

Mit diesen und noch mancherlei Einkäufen beschwichtigte er das still
schwellende Sehnsuchtsfieber, das in ihm umging wie ein unheimlicher
Feueratem, der ihn entfachen wollte.

Aber den Brief, den er hätte schreiben müssen, schrieb er nicht.

Oft, wenn ihm ein Besuch angezeigt wurde, fuhr er erschreckt zusammen
und dachte, jenes Mädchen könne plötzlich auf seiner Türschwelle
stehen, gerufen von den lautlosen Hilfeschreien seines geknebelten
Herzens.

Zum Silvester kam dann, wie es verabredet war, seine ahnungslose Frau
zu ihm zu Besuch.

Sie war, seit er den Laden in der Hafenstadt aufgemacht hatte, noch
nicht bei ihm gewesen. Und als er sie jetzt vom Bahnhof abholte und in
sein Zimmer führte, wo von der Decke eine rosa Glasampel hing, die er
angezündet hatte, da schlug die gute Frau erstaunt die Hände zusammen
und vergaß, den Hut und den Mantel abzulegen. Sie drehte sich auf
einem Fleck, mitten im Zimmer stehend, um sich selbst und ließ die
zerbrechlichen feinen Vasen mit Blumen auf sich wirken, die schönen
gebundenen aufgereihten Bücher auf dem Bord, den Porzellanteller mit
Kuchen, die Kristallschale mit Früchten, die vielen romantischen Bilder
an den Wänden. Und als sie zuletzt gar die gleißende Seidendecke auf
dem breiten Bett bemerkte, da gingen ihr gerührt die Augen über, und
sie umarmte ihren Gatten und bedankte sich, daß er so zärtlich alles
für ihren Empfang hergerichtet hatte.

Der sagte nichts und umarmte seine Frau wieder. Denn während er diese
Dinge zum Schmuck des Zimmers alle eingekauft und aufgestellt hatte,
hatte er auch da nie mit Bewußtheit und Offenheit sich eingestanden,
daß er dies nicht für seine Frau, sondern für das junge Mädchen tat.

Er hatte wie ein Schlafwandelnder gehandelt, getrieben von einer
inneren Lust, sein Zimmer zu schmücken, handelnd zwischen Wachen und
Träumen. Und wie er nun seine Frau, die er immer noch treu liebte und
vor der er sich keine untreue Handlung vorzuwerfen hatte, umarmte,
schien es ihm wirklich einen Augenblick als wahrscheinlich, daß er für
sie und sich zur Silvesterfeier und zum Wiedersehen das Zimmer so
sorgsam und festlich geschmückt hatte.

Am Abend gingen Mann und Frau mit Bekannten in eine Weinstube, und dort
tranken sie, bis es zwölf Uhr schlug und das neue Jahr anbrach. Und von
Glühwein und Bowle erhitzt, wurde der Südfrüchtenhändler lustig und
ausgelassen, wie ihn seine Frau selten gesehen hatte.

Als nun das neue Jahr mit vielen »Prosit« empfangen worden war, sehnte
sich die Frau aus dem lärmenden Kreis der Menschen fort und dachte an
das schön geschmückte Zimmer, das sie beide erwartete, das ihr Mann
mit soviel Zärtlichkeit hergerichtet hatte, und wo sie ihm jetzt mit
gleicher Zärtlichkeit zu danken wünschte.

Sie zupfte ihren Mann am Ärmel, aber der schien an gar kein
Nachhausegehen denken zu wollen und trank immer wieder seinen Freunden
zu und ließ sich zutrinken und bestellte neuen Wein.

Aber es waren auch noch andere Frauen im Kreise, die auch heimzugehen
wünschten, und die Frauen verabredeten sich untereinander und standen
auf und setzten ihre Hüte auf und zogen ihre Mäntel an und traten
dann angekleidet vor die im Tabakrauch und Weindunst laut schwatzenden
Männer und baten sie, heimgeführt zu werden.

Die Männer wollten auch folgsam alle gehen. Nur der Südfrüchtenhändler
wollte ans Aufbrechen nicht denken. Der saß auf seinem Stuhl fest und
behauptete, er ginge nicht zur Stunde der Maus nach Hause, denn da
gingen Gespenster bei ihm um.

»Was für Gespenster?« fragten ihn alle.

»Mäuse und junge Mädchen,« entfuhr es dem etwas Angetrunkenen.

Die Männer lachten und warfen sich zwinkernde Blicke zu. Die Frauen
aber trieben beharrlich zum Aufbruch an.

Die Frau des Südfrüchtenhändlers war bei der Rede ihres Mannes
plötzlich blaß und zitternd geworden, und auf der Straße zog sie ihren
Gatten auf die Seite:

»Was hast du da geschwatzt von Gespenstern, von Mäusen und jungen
Mädchen, die bei dir umgehen? Nun weiß ich es, für wen du das Zimmer so
festlich geschmückt hast! Jedenfalls nicht für mich.«

»Was?« sagte der unschuldige Mann. »Was habe ich von jungen Mädchen
gesagt?« und er hielt seinen Hut in der Hand und ließ die eisige
Nachtluft seinen erhitzten Kopf abkühlen. »Du glaubst wohl gar, daß ich
junge Mädchen nachts bei mir empfange?«

»Ja, was soll ich denn anderes glauben?« wimmerte die weinende Frau und
drückte ihren Muff vors Gesicht. »Du hast es ja selbst vorhin vor allen
Freunden gesagt, daß zur Stunde der Maus junge Mädchen bei dir umgehen.«

»Da habe ich im Weinnebel Dummheiten gesprochen,« verteidigte sich der
Mann. »Mein Zimmer hat niemals ein anderer Frauenfuß betreten als der
deinige, mit Ausnahme des alten Weibes, das dort Ordnung macht und
täglich die Stube reinigt.«

»Ist das wahr?« sagte die Frau des Südfrüchtenhändlers und sah ihren
Mann an und zog ihn am Arm, damit er ihr ins Gesicht sehen sollte.

»Ich schwöre es dir,« beteuerte er. Aber er sah sie nicht an, sondern
starrte hinauf in den Himmel, wo die Sterne wie Pyramiden aufgehäufter
goldener Früchte glänzten.

Die Frau atmete auf und lachte sich selbst aus, daß sie so schnell
Übles gedacht hatte von dem, den sie immer als rechtschaffen und treu
gekannt hatte. Und sie nahm sich jetzt erst recht vor, zärtlich zu
ihm zu sein, da er nun doch das Zimmer nur für sie so schön geschmückt
hatte.

Zu Hause, als sie den Mantel abgelegt, sah sie, wie ihr Mann, nachdem
er nach der Uhr gesehen, nach einem der Balladenbücher griff und es vom
Bücherbord herunterlangte. Und statt sich auszukleiden, streckte er
seine Beine auf dem Sofa aus und schlug das Buch auf und las für sich.

Die Frau entkleidete sich inzwischen und kämmte ihr Haar am Spiegel
aus, schlüpfte dann ins Bett unter die seidene Bettdecke und verhielt
sich eine Weile mäuschenstill, um abzuwarten, bis ihr Mann ausgelesen
hatte.

Nach einer Weile klappte er das Buch zu, und sie sah, wie er sich aus
einer bisher ungeöffneten Zigarrenschachtel eine große Zigarre holte
und diese anzündete. Und als sie den fein duftenden Rauch roch, dachte
sie bei sich: so gute Zigarren raucht er doch sonst nicht. Die hat er
auch zu meinem Empfang gekauft.

Und sie nahm jede Rauchwolke, die er von sich blies, als eine Huldigung
dar.

Dabei kam ihr der Gedanke, daß sie eigentlich noch gern einen Schluck
schwarzen Kaffee getrunken hätte. Und da fragte sie ihn:

»Hättest du nicht auch gern ein Täßchen Kaffee zu deiner guten Zigarre?«

Da stand er auf und ging zu einem kleinen Kredenzschrank, holte eine
neue vernickelte Kaffeemaschine und zwei winzige Mokkatassen, stellte
sie auf den runden Tisch unter die Ampel und goß Spiritus in den
Brenner, nahm aus einer Büchse gemahlenen Kaffee und schickte sich an,
den Kaffee zu bereiten, von dem sie gesprochen.

Sie sah vom Bett aus mit Erstaunen seinen Händen nach, und plötzlich
schienen ihr die Hände des lautlosen Mannes, die da am Tisch handelten,
die gespensterhaften Hände eines Traumwandlers zu sein. Und sie
fühlte mit den Augen einer liebenden Frau, wie das Herz dessen, der
da umherging, nicht im Zimmer anwesend war. Sie wurde wieder bestürzt
und ratlos und fühlte, daß Gespenster umgingen hier im Zimmer zur
Stunde der Maus, so wie es ihr Mann vorher beim Wein gesagt hatte.
Zugleich wußte sie auch, daß ihr Mann sie niemals belügen konnte. Und
sie schaute in die fremde Welt des fremdgeschmückten Zimmers, wo sie
den, den sie liebte, nicht mehr erkannte. Nur wie ein Gespenst saß er
dort auf dem Sofa. Auch sein Rauchen war unnatürlich und gezwungen.
Seine Augen sahen in die Spiritusflamme, die da unter dem Kessel
leise sauste, und dabei schienen sie die Flamme doch nicht zu sehen.
Seine Ohren schienen auf die summende Kaffeemaschine zu lauschen und
schienen doch noch anderes zu hören. Seine eine Hand aber streichelte
unausgesetzt und wie abwesend den Deckel des Buches, das vor ihm lag.
Und mit eifersüchtigem Liebessinn wurde die Frau von jenem Buche
angezogen. Und als das Kaffeewasser kochte und ihr Mann an die Maschine
trat, um den Kaffee in die Tassen einzuschenken, da stieg sie leise aus
dem Bett und zog, scheinbar harmlos, das Buch vom Tisch an sich. Sie
blätterte darin und erkannte sofort, daß es Balladen waren, die jene
junge Verwandte, die sie daheim hatte, immer las und vortrug.

Sie wußte jetzt mit raschem Gedankengang plötzlich, wer das Gespenst
war, wer das junge Mädchen war, das um die Stunde der Maus im Zimmer
ihres Mannes umging.

Sie fühlte, daß seine Gedanken nur bei jener Verwandten weilten, und
sie wurde zornig, da sie glaubte, er habe sie in jenen Augenblicken, da
er das Mädchen zur Nachtwache im Provinzladen aufgesucht, daheim schon
betrogen.

Als der Mann mit der gefüllten Kaffeetasse zu ihr ans Bett trat, wies
sie den Kaffee zurück, wandte das Gesicht gegen die Wand und brach
in Schluchzen aus. Und auf seine Fragen stürzten ihr Vorwürfe über
die Lippen. Aber er konnte ruhig entgegnen, daß kein Wort und nichts
zwischen ihm und jenem Mädchen ausgetauscht worden war, was seine Treue
hätte in Frage stellen können.

»Es muß aber doch etwas zwischen euch gewesen sein,« fuhr die Frau
hartnäckig fort, »denn ich erinnere mich jetzt, daß du ganz plötzlich
deine Aufsicht über die Nachtwachen im Laden abgebrochen hast. Sage
mir, was war das letzte Wort, das ihr dort zusammen spracht?«

»Ich sagte ihr, daß ich glücklich, sehr glücklich verheiratet bin,«
erwiderte der Mann nach einigem Nachdenken.

Die Frau sah erstaunt mit tränendem Gesicht zu ihm auf und sagte: »Ich
glaube dir's. Aber ich weiß doch, daß sie allein das Gespenst ist, das
nach Mitternacht hier umgeht. Kannst du mir wirklich versichern, daß du
alles das, die Tassen, die Kaffeemaschine und alle Dinge im Zimmer nur
für mich und dich gekauft hast und die andere im Geist niemals neben
dir hast sitzen sehen?«

Da sagte er einfach und langsam: »Wenn ich jetzt um diese Stunde an das
Mädchen erinnert werde, wird es mir klar, daß ich alles, was du hier
siehst, eingekauft habe, um sie und nicht dich zu empfangen. In allen
andern Stunden wußte ich nichts davon.«

Da weinte die Frau. Und als ihr Mann sich neben sie aufs Bett setzte
und die seidene Decke über sie legte, stieß sie die Decke heftig
zurück. Und ihm war es, als habe sie mit dieser Bewegung nach dem
Mädchen gestoßen, das er neben ihr heimlich liebte.

Da löste sich sein geknebeltes Herz auf. Und er ging und setzte sich
in eine entfernte Zimmerecke und bedeckte sein Gesicht mit den beiden
Händen.

Gegen Morgen, als das Geräusch der vorüberfahrenden Milchwagen und der
ersten Straßenbahn die Fensterscheiben leise klirren machte, rief die
Frau vom Bett aus ihres Mannes Namen. Aber als er dann zu ihr trat,
brach sie wieder in Weinen aus.

»Es ist dir nichts geschehen und wird dir nichts geschehen, denn ich
werde mich nie diesem Mädchen verraten. Meine Gedanken an sie werden
mit der Zeit erkalten müssen. Wenn du mich nicht an sie verrätst, werde
ich sie vergessen können.«

Und die Frau versprach ihm, wenn sie heimkommen würde, dem Mädchen,
das so unschuldig war wie ihr Mann, nicht gram sein zu wollen und über
alles zu schweigen, was sie von ihm in dieser Nacht erfahren. Er wußte,
was sie versprochen habe, würde sie auch halten.

Nachdem die Frau wieder abgereist war, nahm der Mann bald ein Bild
nach dem andern von den Wänden herab und rückte die Vasen in eine Ecke
eines hohen Schrankes, wo er sie nicht sehen konnte, rollte die seidene
Decke zusammen und packte sie fort. Auch die Balladenbücher nahm er
vom Brett und legte sie in eine Schublade, die er verschloß. Denn seit
jener Aussprache in der Silvesternacht war der Geist des Mädchens, der
sonst um die Stunde der Maus in seinem Herzen schwül umgegangen war,
von ihm ferngeblieben, und die stille Leidenschaft starb in dem Mann
allmählich ab. Der Händler ging eifrig seinen Geschäften nach, vermied
es, die Abende allein zu verbringen, suchte Freunde und Bekannte auf
und schien allmählich vollständig zu genesen von dem Liebesalp, der ihn
so lange heimlich bedrückt hatte.

Da erhielt er eines Tages ein Telegramm, worin seine Frau ihn bat,
schleunigst nach Hause zu kommen, da jener jungen Verwandten ein
schweres Unglück zugestoßen wäre.

Der Mann zitterte einen Augenblick, als er das Papier mit der Nachricht
in den Händen hielt. Dann aber machte er sich kühl und hart gegen alte
auflodernde Gefühle und reiste mit dem nächsten Zug nach Hause.

Die Frau empfing ihn mit verweinten Augen und schluchzte an seinem Hals
und sagte ihm, daß das junge Mädchen durch einen plötzlichen Unfall
getötet worden war. Dabei aber stotterte sie:

»Du wirst glauben, ich bin schuld an ihrem Tod. Aber ich schwöre dir,
ich bin unschuldig.«

Der Mann erstaunte und fragte, welches Unglück sich ereignet habe, und
hörte dann von der schluchzenden Frau, daß das Mädchen durch einen
unvorsichtigen Schritt in die geöffnete Falltür, die sich im Fußboden
des Ladens befand, abends im Dunkeln, als sie eben die Nachtwache
antreten wollte, in den tiefen Keller gestürzt war, auf dessen mit
Steinplatten gepflastertem Boden man die Unglückliche mit gebrochenem
Rückgrat tot aufgefunden hatte.

»Aber wer hat denn die Tür in den Keller aufstehen lassen?« fragte der
Südfrüchtenhändler entsetzt.

Die Frau verbarg das Gesicht an seiner Brust und schluchzte von neuem:

»Ich bin es gewesen, ich. Ich bin wohl an ihrem Tode schuld, aber ich
habe ihn nicht absichtlich verschuldet.«

Da durchlief den Mann ein Schauder, und er zog sich aus der Umarmung
seiner Frau zurück.

Sie aber klammerte sich fest an ihn und rief verzweifelt: »Als es
mir plötzlich einfiel, daß ich die Kellertür offen gelassen hatte,
bin ich oben aus dem Zimmer in das Stiegenhaus gestürzt und habe ihr
nachgerufen, sie solle nicht in den Laden gehen, da die Falltür zu dem
Keller offen wäre. Im selben Augenblick aber hörte ich schon einen
Schreckensruf und den polternden Aufschlag eines Körpers im tiefen
Gewölbe.«

Die Frau setzte sich auf einen Stuhl und schluchzte in ihre beiden
Hände. Und als sie nach einer Weile wieder aufsah, war das Zimmer leer.

Sie glaubte, der Mann wäre auf den Kirchhof in die Leichenhalle
gegangen, um das Mädchen noch einmal zu sehen. Aber er war, ohne
Abschied zu nehmen, in sein Geschäft in der Hafenstadt zurückgereist
und ließ seine Frau deutlich fühlen, daß er es nicht glauben konnte,
sie habe die Falltür ohne Absicht offenstehen lassen.

Gleich nach der Beerdigung des Mädchens reiste sie zu ihm und erklärte
ihm noch einmal, daß sie unschuldig wäre. Er aber ging wieder aus dem
Zimmer und wollte nicht mit ihr sprechen.

Sie kehrte in den Laden in der Provinz zurück, verzweifelt darüber, daß
sie ihren Mann nicht zum Glauben an ihre Unschuld bringen konnte.

Von dem ausgestandenen Schrecken und von dem Schweigen ihres fernen
Mannes gefoltert, wurde sie immer schwächer und erkrankte zuletzt an
einem Gehirnfieber.

Eines Tages erhielt der Südfrüchtenhändler einen Eilbrief von einem
Arzt, der ihn aufforderte, schleunigst zu kommen, wenn er seine Frau
noch am Leben finden wollte, denn ihre Stunden wären gezählt.

Der Mann kam, aber die Fiebernde kannte ihn nicht mehr. Der Arzt sagte,
er solle sich an ihr Bett niedersetzen, es wäre möglich, daß sie kurz
vor dem Sterben zum Bewußtsein kommen und ihn erkennen würde.

Da saß er nun und hörte die Fiebergespräche, in denen sie immer wieder
die Worte wiederholte, daß sie unschuldig wäre. Aber er konnte es doch
nicht glauben. Sie hat aus Eifersucht getötet, sagte er zu sich selbst.

Plötzlich richtete sich die Fiebernde im Bett auf und erkannte ihren
Mann.

»Bist du gekommen, mir zu glauben?« rief sie erleichtert aus.

Da sah er in ihre Augen, und beim Ton ihrer Stimme mußte er glauben,
daß sie unschuldig war am Tod der andern.

Und er bat in seinem Herzen das Schicksal um ein Wunder: Die Sterbende
soll leben bleiben und gesund werden, wenn sie unschuldig ist, sagte er
in seinem Schweigen.

Er sah ihr fest ins Auge und beschwor ihr fliehendes Leben mit seinem
innersten Wunsch.

»Ich glaube dir. Du bist unschuldig. Wir haben beide keine Schuld und
wollen glücklich und ruhig weiterleben,« sagte er laut zu der Kranken,
deren Kopf erschöpft auf die Seite sank, während ihre Augen ihn
halbverklärt betrachteten.

»Ich will schlafen, und wenn ich aufwache, will ich mit dir glücklich
sein wie früher,« sagte die Frau mit schwacher Stimme.

Seine Hände betteten ihren Kopf sorgsam in die Kissen. Er wachte dann
zwölf Stunden an ihrem Bette, und in all der Zeit hielt er ihre Hände
in seinen Händen.

Nach zwölf Stunden schlug die Frau einen Augenblick die Augen auf, und
als sie sein Gesicht neben sich sah, lächelte sie.

»Schlafe dich gesund!« sagte ihr Mann. Sie schloß wieder die Augen und
schlief noch einmal zwölf Stunden. Und nach der vierundzwanzigsten
Stunde saß der Mann immer noch wach an ihrem Bett und hielt ihre Hände
fest wie in der ersten Stunde.

Sie schlug die Augen auf, und als sie ihn immer noch neben sich
sah, war sie glücklich und gestärkt und fühlte, daß sie zum Leben
zurückkehrte. Und sie fuhr streichelnd mit der Hand über die Augen
ihres Mannes. Dann sank sein Kopf zu ihr auf die Kissen, und er schlief
ein, und sie schliefen beide noch einmal zwölf Stunden.

Dann erwachte sie gesund und gestärkt. Und seit dieser Stunde war bei
ihnen alles Vergangene vergessen, und ihr Leben wurde von jetzt ab
glücklich wie in den ersten Jahren ihrer Ehe.



Die Kurzsichtige und der Komet


Es war in einem Winter, als die Astronomen von Europa einen bisher
unbekannt gewesenen kleinen Kometen entdeckt hatten, der kurz nach
Sonnenuntergang am Abendhimmel mit bloßen Augen zu sehen sein sollte,
später in der Nacht aber hinterm Horizont verschwand.

In jenem Winter sah man täglich um die fünfte Abendstunde die Leute mit
Operngläsern in den Händen auf verschiedenen freien Plätzen von Berlin
sich zusammenrotten. Und einer versuchte vom andern die Stellung des
neuen Kometen zu erfahren. Indessen der Wagenstrom laut und lärmend
wie immer auf dem Straßendamm rollte, stockte auf den Bürgersteigen
der Verkehr. Die Leute schoben und drängten und standen den Eilenden
im Wege, und niemals haben zu gleicher Zeit nachts so viele Augen in
den Sternen gesucht als in jenen Winterabenden in der Stunde nach
Sonnenuntergang in Berlin und in ganz Europa.

Ich hatte mehrmals am Potsdamer Platz versucht, den Kometen für mich
zu entdecken, aber die Lichtreklamen, die dort über den Kaffeehäusern
und über den Dächern der Potsdamer Straße und der Königsgrätzer Straße
gegen den Himmel auf- und abflammten, erschwerten das ruhige Betrachten
des Nachthimmels.

Deshalb war ich eines Abends mit der elektrischen Straßenbahn nach
dem südlichen Teil der Stadt zum Kreuzberg gefahren, um dort von den
Parkanlagen des Hügels aus beschaulicher nach dem Kometen suchen zu
können.

Als ich in der Nähe des Kreuzbergs aus der Straßenbahn stieg, bemerkte
ich, daß viele Leute denselben Weg nahmen wie ich. Ganze Familien
gingen in Reihen vor mir her. Auch laute Schulknaben, die sich
zusammengerottet hatten, und stille Liebespaare stiegen dort in den
Parkwegen hügelaufwärts und Hunderte kamen vom Kreuzberg herunter. Es
war ein allgemeines Wandern, als wäre da oben ein Jahrmarkt.

Die Wege waren ziemlich dunkel; selten brannte eine Laterne. Schnee
lag in dünner Schicht vor den finstern Tannengruppen, und der klare,
eisige Winterhimmel war trotz der späten Stunde noch leicht hell und
schimmerte zwischen den finstern Bäumen.

Dort, wo es in den Anlagen ganz dunkel war und Treppenstufen zwischen
künstlichen aufgetürmten Stufen emporstiegen, halfen sich die Menschen
mit lautem Gelächter weiter. Die Heruntersteigenden lachten, und die
Hinaufkletternden lachten. Und man tastete sich aneinander vorüber,
und die jungen Mädchen, in Pelzmäntel vermummt, kicherten, und die
jungen Männer erschreckten sie mit plötzlichen Zurufen; und mancher
zündete ein Streichholz an, um ein Geländer oder eine Treppenstufe zu
beleuchten.

Ich hatte mich an meinem Spazierstock bergauf getastet und traf, bald
oben, auf der Höhe des Hügels unter den Bäumen eines verschneiten
Grasplanes wohl hundert Menschen, die über die Häuserwelt von Berlin
wegsahen und, gen Westen gewendet, den Himmel absuchten, wo die Sonne
untergegangen war und ein Stückchen vom zunehmenden Mond blinkte.

Mir kam es aber vor, als ob keiner den Kometen wirklich fände, alle
aber ihn im Geiste sahen. Und da sie ihn heftig gern zu sehen
wünschten, deuteten sie auch alle nach einer Richtung, wo hier und da
ein Stern blitzte, und jeder vermeinte, in diesem oder jenem Stern den
Kometen zu sehen. Ich glaube, jeder fand sich seinen eigenen Kometen.
Die, die keinen am Himmel entdeckten, fanden ihn sicher auf der Erde.
Denn es streifte im Dunkeln manch blitzendes Auge umher. Alle Menschen
hier hatten den einen Zweck, herumzustehen, und manche durften sich
anreden und ihrer Redelust Luft machen und ihrer Wissenslust und ihrem
Gefühlsdrang Raum geben beim Schauen in den aufrichtigen Nachthimmel,
auf diesem Hügel, der da im weiten steinernen Häuserkranz Berlins wie
eine Insel zwischen Wellenkämmen lag.

Man lieh sich gegenseitig Gläser und Brillen und Fernrohre. Man half
sich, im nächtlichen Garten des Himmels spazierenzugehen, wobei die
Augen als Füße dienten, und man unterstützte sich gegenseitig hilfreich
im Lustwandeln am Nachtfirmament.

Manche Pärchen sonderten sich ab und setzten sich trotz Kälte und
Schnee auf einsame Bänke, die da auf der Hügelhöhe standen.

Einige Knaben bildeten Gruppen, einzelne rauchten verbotene Zigaretten,
und die anderen leisteten ihnen neidisch Gesellschaft.

Ältere Herren im Kreise von Bekannten erzählten von früheren
Kometenjahren, und auch Fremde stellten sich um sie herum und gaben
ihre Weisheit dazu.

Von der Stadt sah man nur einige mattgelb erleuchtete Straßenzüge
mit unzähligen glitzernden Fenstern. Aber eigentlich fühlte man von
der großen Stadt hier oben nichts mehr. Berlin war nur noch ein
gespenstiger Körper rund um den Hügel, ein Körper, der sich ins
Unendliche verlor und hier und da aus seinen Poren Feuerstaub zu atmen
schien.

Ich hatte so eine Weile in Betrachtung der Stadt, der Menschen und des
Himmels mich an meinem Stock gelehnt, den ich wagrecht gegen den Stamm
eines Kiefernbaumes gestemmt hatte.

Vor mir lichtete und verdichtete sich das Gedränge der Menschen. Nur
der Himmel über mir blieb immer gleich klar und unbeweglich.

Ich stellte mir eben vor: so aller Berufe entkleidet, so gleichgemacht
und von dem einen einzigen Gedanken der Ewigkeit und Unendlichkeit
entrückt, müßten auf irgendeinem Eiland, wenn es das gäbe, die Schatten
der Gestorbenen umhergehen, aufgestiegen in Höhen, wo sich keine
Weltunrast mehr findet, und hingegeben einzig dem Betrachten der
Ewigkeit in uns und um uns...

Schatten gingen und neue Schatten kamen über den weißen, leicht
beschneiten Grasflächen. Menschen lösten sich aus Bäumen, und andere
schienen in Bäume zu verschwinden.

Der Schnee, der fein bläulich schimmerte wie eine Phosphormasse,
schien mir aus weißen, eisigen Blüten zu bestehen, den Blumen der
Vergessenheit, die diesem Eiland im Weltraum unklares Licht gaben, und
über denen die Schatten der Menschen sich lautlos begegneten.

Sobald wir vergessen können, sind wir selbst nicht mehr und werden
unendliches Gefühl ohne Wissen...

Wie ich noch diesem Gedanken nachhing, sah ich eine Dame, ein wenig
vorgebeugt, mit unsicheren kleinen Schritten über den Schnee kommen,
und ich erkannte sie sofort, trotzdem ich nichts sah als den schwarzen
Schattenriß ihrer Gestalt. Sie war aus einer dunklen Baummasse
hervorgetreten, und wie ein Teil des Dunkels erinnerte sie mich an
Geschehnisse, an Herzenserlebnisse, die in meiner Vergangenheit lagen,
in jener gespenstigen Vergangenheit, die wir im Rückblick Jugend nennen.

Wer kann aber sagen, daß er jemals altert!

Die zierliche kleine Dame kam näher, und ich sah, wie sie sich
bückte. Zu beiden Seiten ihrer Füße stand je ein kleiner Hund, und
sie band diese beiden Tierchen an einen Riemen. Die Tiere liefen dann
aneinandergekoppelt vor ihr her, indessen sie die Riemenschnur in der
Hand hielt.

Sie kam gerade auf den Baum zu, an dessen Stamm gestützt ich meinen
Stock hielt. Mir schien es, als wollte sie die Hunde an den Baumstamm
anbinden.

An ihrem Gang und ihrer Art merkte ich, daß sie noch immer sehr
kurzsichtig war, und ich erinnerte mich jetzt, daß sie schon viele
Abenteuer infolge dieser starken Kurzsichtigkeit hatte erleiden müssen.

Ich wollte abwarten, bis die Dame ihre Hunde an den Baum gebunden habe,
und wollte dann zu ihr treten und sie begrüßen.

Wir hatten uns viele Jahre nicht gesehen, seit langen Jahren uns aus
den Augen verloren, und vielleicht wäre es gar nicht gut, wenn ich die
beinah Vergessene begrüßen würde. Vielleicht würden die Erinnerungen,
die wir aufwühlen mußten, Martern werden.

Man lernt sein eigenes Wesen niemals ganz kennen und weiß niemals, wie
tief die Wunden zuheilen. Wir wissen auch nicht, ob wir Unheilbares in
uns tragen, oder ob wir unverwundbar sind. Solange wir atmen in diesem
warmen Leibe, den wir uns aufgebaut haben, studieren wir diesen Leib,
von dem wir wissen, daß er nur künstlich und vergänglich ist. Aber wir
schaudern oft im geheimen vor seinem Dasein, weil unser Leib uns ebenso
fremd bleibt wie unser ewiges Teil. Weil der Leib plötzlich im Blut
Sehnsüchte wie Abgründe öffnen kann.

Gottlob, daß Leib und Seele nicht mit Zahlen, nicht mit Gesetzen, nicht
mit Maßstäben, nicht mit Erfahrungen zu begreifen und zu ergründen
sind. In seiner Unbegreiflichkeit ergänzt der sterbliche Teil den
ewigen Teil.

Ich wußte nicht, sollte ich jene Dame grüßen oder sollte ich ihr
ausweichen. Ich wollte eben meinen Spazierstock, den ich in der Höhe
meiner Hüfte wagrecht gegen den Baumstamm gestellt hatte, zurückziehen
und wollte einige Schritte weitergehen.

Da sehe und fühle ich erstaunend, daß die Dame ihre Foxterrier an
meinen Spazierstock, den sie wohl für einen Baumast hielt, festband.

Ich hielt den Stock jetzt belustigt still, während mich der eine Hund
beschnüffelte und der andere an seine Herrin hochsprang.

Diese war ganz in ihre mühsame Arbeit vertieft und band die
Riemenschnur um meinen Stock zu einem festen Knoten. Vorher hatte sie
ganz flüchtig mit ihrer behandschuhten Hand meinen nicht glatten,
sondern etwas knorrigen Stock abgetastet und sich überzeugt, daß er
fest genug war, um die beiden Hunde zu halten.

Viele Leute kamen und gingen. Ich fiel der Dame nicht weiter auf, sie
hielt mich eben für einen der vielen Herumstehenden, die nach dem
Kometen suchten.

Wie seltsam war dieses Wiedersehen! Tragisch-komisch, wie alle
kurzsichtigen Abenteuer jener Dame.

Ich sah, daß sie ein Opernglas umhängen hatte, und zugleich baumelte an
einer langen Kette über ihrem Mantel ein Lorgnon, das ich so gut aus
früheren Jahren kannte.

Die Dame entfernte sich jetzt einige Schritte, nachdem sie ihren Hunden
geboten hatte, sich niederzulegen.

Die Tiere aber gehorchten nicht gleich. Sie zerrten an der Schnur, und
ich mußte mich mit meiner ganzen Kraft mit dem Stock gegen den Baum
stützen und hatte alle Mühe, meinen Spazierstock festzuhalten.

Sie aber sah nichts anderes als ihre Hunde. Sie rief ihnen nochmals zu,
und da sie glaubte, daß sie sie an einem Baumast festgebunden, ging sie
weiter, wobei sie ihr Opernglas aus dem Lederbehälter nahm.

Ich kannte die Hunde beim Namen, und als die Dame weit genug über
den Schnee fortgegangen war, flüsterte ich den Tieren ihre Namen zu.
Sie sahen erstaunt nach mir und stellten das gemeinsame Kläffen ein,
beschnüffelten mich nochmals, wedelten ein wenig belustigt mit ihren
Schweifstummeln und setzten sich still zu meinen Füßen nebeneinander.

Ich nahm mir vor, die Terrier festzuhalten und meinen Stock einen
Baumast vorstellen zu lassen, bis die Hunde von der Kurzsichtigen
wieder abgeholt wurden.

Ich sah die zierliche Gestalt der Dame sich am Rand der Hügelfläche
gegen den Nachthimmel abzeichnen und sah, wie sie abwechselnd das
Lorgnon nahm und dann wieder das Opernglas, um unter den Menschen zu
suchen und unter den Sternen am Himmel.

Es war eine Unruhe über ihr, die mir von ihrer Kurzsichtigkeit
auszugehen schien. Und während alle Leute den Kometen im Westen finden
wollten, hatte sie sich allein nach der östlichen Himmelsrichtung
gewendet, wo sie den Kometen sicher niemals erblicken konnte. --

Wir hatten uns vor Jahren auf eine sonderbare Weise kennen gelernt.

Ich saß damals eines Tages auf der Terrasse des Café Josti am
Potsdamer Platz. Es war an einem Nachmittag zur Pfingstzeit.
Frühlingslebhaftigkeit war über allen Menschen. Blumenverkäuferinnen
mit Flieder, Schneeballen und Pfingstrosen standen mit ihren breiten
Körben draußen vor der Terrassenbrüstung neben den Zeitungsverkäufern.
Damen mit neuen Sommerhüten und Herren mit neuen Strohhüten spazierten,
eilten und schlenderten vorüber.

Die langen Reihen der Straßenbahnen, die Autos und Lastkarren
stockten manchmal, wenn einer der vielen Polizisten an den breiten
Straßenmündungen die weißbehandschuhte Hand hob.

Ich sah zufällig über den Platz hin und bemerkte, daß ein Schutzmann
eine junge Dame, die mit zwei Foxterrier den Fahrdamm überschreiten
wollte, herübergeleitete, und daß die Dame, am Trottoirrand angekommen,
ihr Portemonnaie zog, um den Schutzmann ein Trinkgeld zu geben.

Die Umstehenden lachten. Der vielbeschäftigte Schutzmann aber grüßte
nur kurz und ließ die Dame stehen. Diese erkannte die Verlegenheit, in
die sie den Schutzmann und die Umstehenden gebracht hatte, und darüber
etwas ratlos, gab sie das Geldstück, das sie nun einmal in der Hand
hielt, einer Blumenverkäuferin.

Diese meinte natürlich, die Dame wolle eines ihrer kleinen
Moosrosensträußchen kaufen, und beeilte sich, ihr einen Strauß aus
ihrem Korb zu geben. Indessen schritt aber die Kurzsichtige schon zum
Eingang der Terrasse des Cafés. Die Blumenverkäuferin wußte nun nicht,
wem sie das Sträußchen geben sollte, und gab es einem Herrn, der den
Verkauf beobachtet hatte, und bat ihn, der Dame nachzueilen.

Der Herr lachte und holte die Dame gerade am Eingang des Cafés ein.
Dort zog er höflich den neuen Strohhut, verneigte sich und reichte
der Kurzsichtigen den kleinen Rosenstrauß. Sie sah den Herrn erstaunt
von der Seite an. Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, ließ sie ihn
mit den Blumen stehen, denn sie hielt ihn augenscheinlich für einen
Zudringlichen und glaubte wahrscheinlich, die Überreichung des
Sträußchens bezwecke eine Annäherung. Dann stieg die Dame die wenigen
Stufen zur Caféhausterrasse empor, und die Foxterrier, die in der Hitze
mit offenen Mäulern stoßweise atmeten, zogen die Dame seltsamerweise
nach meinem Tisch hin.

Vielleicht hatten die Terrier mein Interesse, das ich an ihrer Herrin
nahm, in Fernwirkung empfunden. Denn ich hatte die Ankommende zwischen,
über und neben den Köpfen der um mich Sitzenden mit meinen Augen
aufmerksam verfolgt.

Und nun saß sie nach einer Weile neben mir. Die Hunde lagen unter
dem Tisch. Sie entnahm einer Handtasche ein kleines Taschentuch und
säuberte eifrig die Gläser ihres Lorgnons.

Sie war unauffällig geschmackvoll gekleidet. Ich erinnere mich, daß
ein großer, brauner Strohhut mit sehr breiter Krempe mir ihr Gesicht
verdeckte, das ich nur einen Augenblick vorher gesehen hatte. Es war
mild und blaß, und zwei dunkelbraune Augen schauten aus ihm in die
Welt, ohne die Welt genau zu sehen.

Die Dame kam mir damals vor, als ginge sie in einer Dunkelheit und
müsse sich im Gehen und Handeln mehr auf ihren Instinkt als auf ihre
Augen verlassen.

Sie hatte bei dem vorüberrennenden Kellner eine Limonade bestellt. Der
Kellner hatte mir eben auch meine Limonade gebracht. Ich las dann aber
in meiner Zeitung weiter und wurde für ein paar Augenblicke von einem
Artikel gefesselt. Als ich wieder aufsah, trank die Kurzsichtige neben
mir meine Limonade aus meinem Glase.

Ich rührte mich nicht und ließ die Dame im Glauben, daß das ihre
Limonade war. Bis der Kellner kam, hatte sie das Glas ausgetrunken. Und
als er die bestellte Limonade vor sie hinsetzte, sah sie ihn erstaunt
an, nahm ihr Lorgnon vor die Augen und bemerkte nun auch mich. Aus
ihren Bewegungen konnte ich ersehen, wie sie sich über sich ärgerte.
Ich dachte, sie würde mir jetzt ihre Limonade anbieten und eine
Entschuldigung vorbringen. Sie aber ließ ihr Lorgnon fallen, zuckte
mit der einen Schulter, legte rasch Geld aus ihrem Portemonnaie auf
den Tisch und murmelte dabei: »Das ist doch unverschämt.« Dann stand
sie mit einem Rucke auf, zog ihre Hunde, die sich eben zum Schlafen
hingestreckt hatten, hinter sich her und verließ offensichtlich
geärgert die Terrasse.

In der Schnelligkeit hatte sie nicht bemerkt, daß ihr Taschentuch
von ihrem Schoß unter den Tisch gefallen war. Ich war aber durch den
Ausspruch »Das ist unverschämt« so verwundert, daß ich mich nicht
gleich bücken mochte. Dann aber belustigte mich das Ganze. Ich nahm das
Taschentuch an mich, und als der Kellner kam, fragte ich ihn, ob er die
Dame kenne, die eben da gesessen.

»Ja,« sagte er, »sie hat ein paar Mal morgens ihren Kaffee hier
getrunken. Sie scheint sehr zerstreut zu sein. Neulich hat sie in
Gedanken unsere Getränkekarte beim Aufstehen mitgenommen, und als einer
von uns sie darauf aufmerksam machte, zeigte es sich, daß sie geglaubt
hatte, ihr Notenheft in der Hand zu halten. Sie ist Musikschülerin, und
ich sah sie auch schon öfters mit einem Geigenkasten vorübergehen. Sie
muß hier in der Nähe wohnen.«

Ich hatte das Taschentuch zu mir gesteckt und mir vorgenommen, es der
jungen Dame selbst auszuhändigen, wenn ich sie einmal wieder sehen
sollte.

Gleich am nächsten Nachmittag, ungefähr um die selbe Stunde, traf ich
die Kurzsichtige wieder. Diesmal war sie ohne ihre Hunde.

Sie stand an dem Schaufenster eines Photographen und betrachtete
durch ihr Lorgnon die Bilder. Der Kasten befand sich dicht an einer
Straßenecke.

Ich war auf der anderen Seite der Straße und mußte einige Automobile
vorüberfahren lassen, ehe ich den Fahrdamm überschreiten konnte. Als
ich dann durch das Wagengedränge hinüberkam, sah ich, wie die Dame,
immer noch mit dem Lorgnon vor den Augen, um die Ecke der Straße ging.
Dort mußte sich ein zweiter Photographenkasten befinden, denn sie sah
mit voller Aufmerksamkeit gegen das Haus.

Ich zögerte einen Augenblick, ihr sofort zu folgen, und stellte mich
vor die Bilder an den Kasten, vor dem sie vorher gestanden. Mein Herz
klopfte ein wenig, als ich überlegte, mit welchen Worten ich ihr das
Taschentuch überreichen sollte hier an der Straßenecke. Wahrscheinlich
würde sie mich gar nicht anhören, wenn ich mich verbeugen und meinen
Hut ziehen würde. Vielleicht würde sie mich kurz angebunden stehen
lassen, wie sie den Herrn neulich mit dem von ihr selbst bezahlten
Rosenstrauß hatte stehen lassen.

Nur wenige Augenblicke überlegte ich das alles und stellte mir vor:
wenn ich jetzt um die Ecke des Hauses treten würde, wollte ich mich
zuerst neben sie stellen und die Widerspiegelung ihres Gesichtes in
dem Schaukasten ein wenig beobachten, ehe ich sie anspräche. Ich
konnte sehen, daß sie noch dort stand, denn ich sah die Spitze ihres
grünseidenen Sonnenschirms.

Zugleich bemerkte ich aber jetzt, daß die meisten Leute, die an
der Dame vorübergegangen waren und um jene Straßenecke bogen, sich
erstaunt, verblüfft oder belustigt lachend nach ihr, die nur mir noch
verborgen war, umsahen.

Es war doch nicht möglich, daß sie alle diese Leute kannte! Auch sah
ich nicht, daß ein einziger von ihnen grüßte oder gegrüßt hatte. Einige
sogar kehrten um, und ich sah an den Schatten, die über den weißen
Asphalt der Straße fielen, daß sich Menschen dort ansammelten, wo sie
stand.

Was ist da nur so Urkomisches an dem Schaukasten des Photographen zu
sehen, fragte ich mich.

Ich trat nun um die Ecke des Hauses. Da war gar kein Photographenkasten
an der Wand. Da war auch kein Plakat, keine Inschrift. Da war nur eine
leere Mauer, eine einfach gekalkte Wand, an deren Mörtel für mich
nichts zu sehen war. Aber vor der Wand stand jene Dame, die ich suchte,
mit ihrem Lorgnon vor den Augen und sah so hin und her an der Wand, ein
wenig hinauf, ein wenig zur Seite, ebenso wie sie es vorher vor dem
Schaufenster getan hatte.

In einigem Abstand hinter ihr waren die Leute stehen geblieben,
vorübergehende Herren und Damen, Dienstboten und Arbeiter, die sich mit
Gesten und Blicken stumme Zeichen machten.

Ich begriff nun: die Kurzsichtige mußte tief in Gedanken sein, und weil
sie an der einen Seite der Ecke vorher Bilder betrachtet hatte, schien
sie auch hier Bilder erwartet zu haben, und schien im Geist auch solche
zu sehen.

Das Ganze spielte nur wenige Sekunden. Dann schien die Dame sich bewußt
zu werden, daß die Wand leer war.

Auf diesen Augenblick mußten alle Umstehenden gewartet haben. Mit
demselben Ruck, mit dem die Kurzsichtige gestern vom Tisch aufgestanden
war, trennte sie sich plötzlich von der leeren Wand, erleuchtet von
einer schreckhaften Erkenntnis ihrer Zerstreutheit. Dann schob sie das
Lorgnon zusammen und schritt energisch an den Leuten vorbei, in Flucht
vor dem grausamen Lächeln der anderen. Sie überquerte den Fahrdamm und
trat drüben mit demselben Ruck und Eifer in einen Schreibwarenladen ein.

Nun wußte ich, ich würde ihr öfters begegnen, und ich beeilte mich
nicht, ihr mit dem Taschentuch nachzulaufen. Ich hatte an ihrem Gang
gemerkt, daß sie in dieser Straße zu Hause war. Sie schien immer zu
dieser Stunde Besorgungen oder einen Spaziergang zu machen.

Ich hatte aber nicht gedacht, daß ich bald ihren Namen erfahren würde,
ohne sie danach gefragt zu haben.

Einen Tag später merkte ich zu meinem Erstaunen, daß von dem
Schreibwarenladen, in welchem jene Dame neulich eingetreten war, bis zu
einem Haus nahe bei jenem, in welchem meine Wohnung lag, Visitenkarten
reihenweise hingefallen lagen. Es regnete, und einige Karten waren
von den Füßen der Straßengänger in den Rinnstein geschoben worden.
Dort schwammen sie im Regenbach entlang der Straße, wie weiße, kleine
Gondeln.

Als ich eben an der Haustüre, wo das letzte Visitenkartenhäufchen lag,
vorübergehen wollte, öffnete sich diese und eine Frau trat heraus,
die die Hausmeisterin jenes Hauses sein mußte. Sie schlug die Hände
zusammen und sah schmunzelnd und lachend auf die verlorenen Karten. Und
als sie mich auch staunen sah, erklärte sie mir, in ihrem Hause wohne
eine kurzsichtige und sehr zerstreute Geigenspielerin. Die habe ein
Paketchen Visitenkarten so ungeschickt nach Hause getragen, daß sie
alle Karten auf dem Wege zwischen dem Laden und der Haustüre verloren
habe. Die Schachtel, die seitlich zu öffnen gewesen, habe sie leer nach
Hause gebracht, da die Gummischnur unterwegs zerrissen war, die das
Päckchen zusammengehalten hatte. Die Dame schäme sich nun fürchterlich
oben in ihrem Zimmer, und darum habe sie die Hausmeisterin gebeten,
hinauszugehen und die Visitenkarten aufzulesen.

Ich benützte die Gelegenheit und gab der Hausmeisterin, als sie mir
eine Visitenkarte gezeigt hatte, das Taschentuch, das die Dame neulich
im Café hatte liegen lassen.

»O,« sagte die Frau, »sie weiß nie, wohin ihre Taschentücher
verschwinden. Aber über die ganze Stadt liegen ihre Taschentücher
zerstreut.«

Dann fragte mich die Hausmeisterin, ob ich der Herr sei, der im
Nebenhause die Atelierwohnung gemietet habe.

Als ich es bejahte, sagte sie, das kurzsichtige Fräulein habe die
gleiche Wohnung in diesem Hause, Atelier, Schlafzimmer und Küche. Die
Häuser seien Zwillingshäuser und hätten dieselbe Einteilung.

Da schoß es mir durch den Kopf, daß vor einigen Wochen jemand nachts
um zwölf Uhr, als ich mich ausgekleidet hatte, um zu Bett zu gehen,
am Schloß meiner Flurtür mit einem Schlüssel herumgestochert hatte.
Erst hatte ich geglaubt, es wäre ein Einbrecher, dann war mir das
Geräusch doch zu selbstverständlich erschienen, und ich dachte, es
müßte sich jemand im Stockwerk geirrt haben. Als nun die Hausmeisterin
weiter erzählte, daß die kurzsichtige Dame eines Nachts die Haustüren
verwechselt hätte, wußte ich, daß es die Kurzsichtige gewesen war, die
mich an meiner Tür erschreckt hatte.

Am nächsten Nachmittag war schönes Wetter, und ich stellte mich ans
Fenster, um die Dame, wenn sie ausgehen würde, zu beobachten. Sie
kam auch, wie ich mir gedacht hatte. Sie hielt in der einen Hand
einen Brief, und dann sah ich, wie sie den Brief in ihre Seitentasche
schob und langsamen Schrittes am Bürgersteig hinging bis zum nächsten
Briefkasten. Dort aber steckte sie nicht den Brief in den Kasten,
sondern ein kleines Futteral, das nur ein Brillenfutteral sein konnte.

Ich mußte herzlich für mich lachen. Ich sah der Dame weiter nach. Sie
überschritt die Straße und ging in eine Konditorei, wo sie in einem
stillen Hinterzimmer ungestört ihren Nachmittagskaffee trinken wollte.

Die Arme hat ihre Brille in den Briefkasten geworfen und wird sie sehr
bald vermissen! Ich muß ihr die Brille wieder verschaffen und sie ihr
in die Konditorei bringen.

Sie war wie eine hübsche kleine Japanerin, harmlos und gedankenvoll,
scheinbar immer der Welt entrückt.

Ich nahm Hut und Stock und ging hinunter an den Briefkasten und
wartete, bis der Radler auf seinem Postrad kam, der den Briefkasten in
seine große braune Leinwandtasche leeren sollte. Ich sagte ihm, ich
hätte aus Versehen mit einem Brief zusammen mein Brillenfutteral in den
Briefkasten gesteckt.

Er begriff mich erst nicht, und ich mußte meine Rede wiederholen.
Dann lachte er, und mich ein wenig geringschätzig von Kopf bis zu Fuß
ansehend, wie man einen bedauerlichen Dummkopf betrachtet, händigte er
mir, nachdem er den Kasten aufgeschlossen, ein viel gebrauchtes und
abgenütztes Brillenfutteral ein, in welchem eine Brille klapperte.

In der Konditorei drüben fand ich die Dame dann bei einer Zeitung
sitzend.

Ich näherte mich ihr. Sie hatte ihr Lorgnon schnell bei der Hand, und
es kam mir vor, als habe sie mich erstaunlicherweise erkannt; und doch
war sie ein wenig sprachlos, denn wir kannten uns ja gar nicht. Aber
die Hausmeisterin mußte ihr erzählt haben, daß ich ihr Taschentuch
aufgehoben hatte.

»Können Sie denn meinen Brief schon haben?« fragte sie. Bin ich denn
stundenlang hier gesessen und weiß es gar nicht? setzten ihre unruhigen
Augen hinzu.

»Nein, Ihren Brief habe ich nicht bekommen. Aber ich habe Ihr
Brillenfutteral, das ich Ihnen hier bringe.«

»Um Gottes willen, wo habe ich das wieder liegen lassen?« stieß sie
gequält hervor und sank auf einen Stuhl.

»Im Briefkasten lag es,« sagte ich und zwang mich, ein möglichst
harmloses Gesicht zu machen.

Sie begriff sofort, und mit jenem Ruck, den es ihr immer gab, wenn eine
blitzartige Erkenntnis über sie kam, griff sie nach ihrer Manteltasche
und tastete darin nach dem Brief, den ich knistern hörte.

Ohne aber den Brief aus der Tasche zu ziehen, bat sie mich, Platz
zu nehmen, und berichtete mir, sie habe mir geschrieben und für das
Taschentuch gedankt und zugleich um Entschuldigung gebeten, daß sie
einen harten Ausdruck gegen mich gebraucht habe. Das Wort »unverschämt«
sei ihr aber entfahren, weil sie mich für jenen Herrn gehalten habe,
der ihr unverschämterweise einen Rosenstrauß am Eingang des Cafés
angeboten. Sie hätte im Brief dazugesetzt, daß sie sich persönlich
entschuldigen wollte, wenn wir uns einmal begegnen würden.

Dann erzählte sie mir seufzend, daß ihre Kurzsichtigkeit und ihre
Zerstreutheit ihr schon viel Schabernack gespielt habe.

Das wußte ich schon. Wir sprachen dann von etwas anderem, von Musik,
von Tagesangelegenheiten, und waren nach einer Weile wie alte Bekannte
geworden.

Die Konditorei hatte noch ein kleines Nebenzimmer, in welchem an einer
Säule ein Springbrunnen plätscherte, um den Wassergläser standen, die
zum Kaffee gereicht wurden.

Der Springbrunnen störte mich ein wenig mit seinem plätschernden Laut,
der so einförmig wie ein Regenfall war. Es fiel mir auf, daß während
unseres Gespräches die kurzsichtige Dame öfters leicht bekümmert zur
Seite horchte, und dann sprach sie vom schlechten Wetter der letzten
Tage.

Ich hielt das für eine Eigenart von ihr und dachte, sie leide
vielleicht bei schlechtem Wetter an Gliederreißen oder etwas Ähnlichem.

Nach einer Weile stand ich auf und verabschiedete mich von ihr. Sie
sagte, daß sie das Wetter erst abwarten wollte.

Ich glaubte, sie fühle ein heraufziehendes Gewitter kommen und fürchte
sich zu Hause allein zu sein.

Ich ging, und als ich nach ein paar Stunden wieder am Laden vorüberkam
-- es war inzwischen kein Unwetter gewesen, schöner stiller Himmel und
Sommerabend voll Sterne und Klarheit --, da stand der Konditor unter
der Türe und blinzelte mir mit den Augen zu und sagte:

»Ihre Dame ist eben erst fortgegangen!«

»Welche Dame?« fragte ich ganz in Gedanken und erstaunt.

»Nun, die Kurzsichtige, die im Hause neben Ihnen wohnt. Sie hat beim
Geräusch von meinem Springbrunnen geglaubt, daß es regnet, und hat
Kaffee getrunken und Chokolade getrunken und Limonade getrunken und
alle Zeitungen gelesen, weil sie bei dem trostlosen Regenabend, wie sie
sagte, nicht zu Hause sitzen wollte, und weil sie ein Kleid anhatte,
von dem sie behauptete, daß es von den Regentropfen Flecken bekommen
könnte. Dann hat sie gegessen und getrunken und gelesen. Endlich
hat sie einen meiner Gehilfen zu sich gerufen und hat ihn zu ihrer
Hausmeisterin hinübergeschickt und hat sich ihren Schirm holen lassen.
Die Frau konnte gar nicht begreifen, warum das gnädige Fräulein bei dem
schönen klaren Abend einen Schirm nötig habe. Wir waren ebenfalls sehr
erstaunt, bis die Dame beim Fortgehen zur Ladentür kam und verwundert
entdeckte, daß kein Tropfen Regen fiel. Dann ist sie aber ganz wütend
über sich selbst fortgerannt, und war wahrscheinlich ärgerlich,
daß sie den schönen Abend im Laden verbracht und den plätschernden
Springbrunnen für einen Regen gehalten hatte.«

Sie lebte das Leben auf ihre eigene Weise. Und als ich sie einmal
befragte, ob sie sich nicht fürchte, überfahren zu werden, wenn sie so
in Gedanken sei, sagte sie: »Nein, ich habe meinen eigenen Gott, dessen
Schutz ich mich immer empfehle.«

»Was ist das für ein Gott?« fragte ich.

»Der Gott der Idioten,« sagte sie schmunzelnd und kicherte ein feines
Lachen, das ihr sehr gut stand.

Unter anderem war ihr auch einmal passiert, daß sie nach einem
Mittagessen in einem Restaurant beim Fortgehen einen großen silbernen
Löffel senkrecht vor sich hergetragen. Und als der Kellner sie
aufmerksam gemacht, daß sie ja einen silbernen Löffel mitnähme, war
sie zu Tod erschrocken gewesen, denn sie hatte geglaubt, sie halte den
silbernen Griff ihres Sonnenschirms in der Hand.

Als ich sie dann zum letztenmal sah, es war an einem Hochsommerabend,
da ich von einem Ausflug heimradelte, begegnete sie mir in unserer
Straße. Sie schien sehr in Hast zu sein, als wenn sich wieder etwas
ereignet hätte, was sie kopflos machte.

Ich ließ meine Fahrradklingel trillern, vielleicht etwas heftiger als
sonst, da ich die Dame zum Aufschauen zwingen wollte, um sie grüßen zu
können. Aber mein Schrecken war groß. Kaum, daß meine Glocke schrillte,
lag die junge Dame flach auf der Erde wie umgeklappt, als wenn ein
unsichtbares Fahrrad über sie fortgeradelt wäre.

Ich sprang ab und half ihr auf und entschuldigte mich, sie erschreckt
zu haben.

Sie war tief in Gedanken gewesen, sagte sie, und das laute Klingeln
schien ihr so nah, daß sie sich geduckt hatte, ausgeglitten und
gefallen war mit dem Gefühl, sie sei überfahren worden.

Nachdem sie sich aufgerichtet und ein wenig erholt hatte, erklärte sie
mir, sie wäre so schreckhaft, weil oben bei ihr ein betrunkener Mensch
auf der Treppe läge. Sie wolle morgen aufs Land reisen und habe ihren
Koffer gepackt, und sie würde erst im Herbst in die Stadt zurückkehren.
Sie fürchtete, der Betrunkene sei vielleicht ein Einbrecher gewesen,
der sie bestohlen habe. Sie habe die Hausmeisterin rufen wollen, diese
sei aber nicht zu Hause gewesen, und nun wäre sie fortgerannt, um an
der nächsten Straßenecke einen Polizisten zu holen, denn jener liege
quer über den Treppenabsatz, und sie getraue sich nicht, über ihn
hinwegzusteigen.

Ich erbot mich mit ihr hinaufzugehen, um den Betrunkenen aufzuwecken
und fortzuweisen.

Sie dankte mir, und wir gingen in ihr Haus, und atemlos horchend
stiegen wir zusammen hinauf.

In dem Stockwerk, das unter ihrer Wohnung lag, sagte ich, sie solle
warten. Mit meinem Stock tüchtig aufstampfend, um den unverschämten
Eindringling zu stören, ging ich allein höher.

Nichts regte sich in der Dämmerung des Treppenhauses. Auf dem
Treppenabsatz stand in der Ecke ein gepackter Korbkoffer und quer
bei der Treppe, in einen Plaidriemen eingeschnallt, lag ein langer
zusammengerollter Reiseschal. Diesen muß die Kurzsichtige für einen
Menschen gehalten haben.

Ich rief ins Treppenhaus hinunter, und die Dame kam scheu und
vorsichtig heraufgestiegen und wollte es mir nicht glauben, daß kein
Mensch da wäre und daß nur ihr zusammengerollter Reiseschal sie
erschreckt hätte. Sie behauptete, der Mensch wäre fortgelaufen.

Ich sah es ihr an, wie sie sich schämte, es sich selbst einzugestehen,
daß sie wieder getäuscht worden sei. Ich fragte, ob sie den Menschen
durch ihr Lorgnon gesehen hätte. Nein, sie hatte ihr Lorgnon vergessen,
wollte aber trotzdem nicht zugeben, daß sie den Reiseschal für einen
Menschen angesehen hatte. Dann bat sie mich, da ich mal oben war, einen
Augenblick bei ihr einzutreten.

Drinnen in den Zimmern war alles in größter Unordnung. Wie buntes
Gemüse lagen die Dinge durcheinander, und sie entschuldigte sich,
daß sie mit dem Packen noch nicht fertig sei. Ich mußte zwischen
verschiedenen Gegenständen in einer Ecke des Sofas Platz nehmen.

Dann ging sie in die Küche, wo die Terrier eingeschlossen waren, die
ihr sehr zugetan schienen. Sie konnte aber den Knoten der Schnur, die
an die Türklinke angebunden war, nicht aufmachen, und so ging ich hinzu
und half ihr.

Mein Blick fiel zufällig, während ich den Knoten löste, auf
einen Kohlenkasten, der da stand, und ich wurde von ein paar
seltsam blauen Papieren, die dort lagen, angezogen. Es schienen
zerknitterte Geldscheine zu sein. Ich hob dann auch wirklich ein
paar Hundertmarkscheine auf, die, wie sich herausstellte, das ganze
Reisegeld der Dame waren. Das Geld hatte sie vorher erst von der Bank
geholt. In der Meinung, es seien alte blaue Briefumschläge, hatte sie
die Geldscheine in der Hast des Packens fortgeworfen, während sie den
leeren Briefumschlag sorgfältig in ihre Handtasche gesteckt hatte.

Nun begann sie vor Schrecken zu weinen, und wie zu ihrer Entschuldigung
sagte sie:

»Jemand hat mir nicht nur mein Herz, sondern auch meinen Kopf
gestohlen.«

Später, als sie mir sehr schön auf ihrer Violine vorgespielt hatte,
sagte ich ihr, sie müsse mir das Bild dessen zeigen, der sie dem Gott
der Idioten ausgeliefert habe.

Sie zeigte mir das Bild eines jungen Kapellmeisters, der außer einem
großen Haarbüschel, der ihm in die Stirn hing, nichts besonderes zu
bieten schien. Und ich war sicher, daß auch hier, in der Liebe zu dem
Musikanten, ihre Kurzsichtigkeit ihr einen Streich spielte. Sicher
liebte sie mehr die unklare Vorstellung, die sie sich von dem Menschen
machte, als das klare Bild des Mannes selbst, das sie niemals sehen
konnte.

Ich war eifersüchtig auf diesen Haarmenschen, das fühlte ich, und
ich fühlte auch, wie leicht es sein würde, diesen Nebenbuhler zu
verdrängen, der, wie mir schien, seine Rolle im Herzen der jungen Dame
bereits ausgespielt hatte. Ich tat, wozu mich mein Herz drängte, und
warb von dieser Stunde an um jenes Mädchen. Ich folgte ihr nach aufs
Land, wo sie den Sommer verbrachte, und im nächsten Winter besuchte ich
in Berlin mit ihr Konzerte und Vergnügungen.

Nachdem wir glückliche Monate verlebt hatten, in denen ich ihre
Kurzsichtigkeit und Zerstreutheit zuerst als eine belustigende
Lebenswürze genossen hatte, wurde ich allmählich von dem Doppelleben,
das sie führte, nervös, denn es war auf die Dauer unheimlich, wieviel
Zeit und Lebenskraft sie aufwenden mußte, um die Abenteuer zu
überstehen, die ihr ihre Zerstreutheit und Kurzsichtigkeit bereiteten.
Und Tage reichten oft nicht aus, gut zu machen, was sie in Sekunden der
Zerstreutheit harmlos sich und anderen angetan hatte.

Sie ging später auf Konzertreisen, und wir schrieben uns immer
seltener. Ohne daß wir uns Vorwürfe machten, fühlten wir beide, daß die
Zeit unserer Innigkeit vorüber war. Die junge Dame fand viele Verehrer,
denn sie war liebreizend und von heiterer Gemütsart und wurde nicht
einmal verstimmt, wenn sie an ihre Kurzsichtigkeit und Zerstreutheit
erinnert wurde. --

Nun stand sie dort, nicht weit von mir, im Schnee und suchte den
Kometen, der im Westen stand, mit ihrem Opernglas im Osten. Und ich
hielt ihre beiden Terrier, die zitternd zu meinen Füßen saßen, an
meinem Spazierstock, den sie für einen Baumast gehalten hatte, fest.

Bald aber bemerkte ich, daß meine Freundin ihr Opernglas gar nicht mehr
zum Himmel richtete, sondern daß sie den Hügelabhang hinuntersah, wo
immer noch einzelne Menschen bergauf stiegen.

Während ihre Augen noch suchten, trat die dunkle Gestalt eines jungen
Mannes an ihre Seite. Er hielt einen Schneeballen in der Hand. Er
schien sie zu begrüßen und schien der zu sein, den sie mit ihrem
Opernglas im Himmel und auf Erden gesucht hatte. Er streckte ihr den
Schneeballen hin, den sie in ihrer Kurzsichtigkeit für seine Hand
hielt, worüber er laut auflachte. Worauf sie den Schneeballen nahm und
ihm denselben vertraulich an die Brust warf.

Da zog ich meinen Stock vom Baum zurück und streifte den Riemen, an
denen die Hunde gebunden waren, vom Spazierstock ab und sagte zu den
beiden Tieren: »Lauft!«

Die munteren Tiere verstanden mich sofort und sprangen kläffend zu
ihrer Herrin. Ich ging indessen langsam zu einer Bank, wo ich mich
niedersetzte.

Von der Kurzsichtigen hörte ich einen Ausruf des Erstaunens. Sie
glaubte, die Hunde hätten den Baumast abgebrochen.

Der junge Mann lachte und rief laut: »Das glaube ich niemals. Du wirst
die Hunde an die Luft angebunden haben.«

Ich hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige geben mögen, da er so
respektlos zu ihr sprach. Aber ich sagte mir, er wird wahrscheinlich
mit ihr schon hundert ähnliche Fälle erlebt haben und hatte das Recht
zum Lachen.

Nun hörte ich, wie die junge Dame sagte, sie wolle den Baumast ansehen.
Er könne sich überzeugen. Der Ast müsse abgebrochen sein.

Ich sah, wie sie zum Baum ging und dort in die Luft fühlte, wo mein
Stock gewesen. Aber da war in ihrer Handhöhe weder oben noch unten
irgendein Zweig am Stamm. In doppelter Menschenhöhe erst setzten die
Zweige der Tanne an.

Sie sah sprachlos am Baum empor und begriff jetzt erst, daß sie sich
getäuscht haben müsse.

»Aber es war doch ein daumendicker Ast da,« hörte ich sie versichern.

»Was du gesehen und gefühlt hast, braucht noch lange nicht ein Ast
gewesen zu sein,« höhnte der junge Mann.

»Es war ein Ast. Ich habe das Holz gefühlt. Wo ich bin, ist die Welt
immer verhext,« erklärte sie zuletzt. »Denke dir, was mir gestern
wieder passiert ist!«

Sie kamen beide im Sprechen näher zur Bank, auf der ich mit
hochgeschlagenem Mantelkragen und mit in die Stirn gezogener Pelzmütze
saß und in den Himmel starrte. Ich brauchte bei ihrer Kurzsichtigkeit
nicht zu fürchten, daß sie mich erkennen würde. Sie ließ sich in der
Mitte der Bank nieder, kaum eine Handbreite von mir weg, während ihr
Begleiter sich neben sie setzte.

»Gestern abend, als du nicht kamst, wollte ich mir die Zeit vertreiben,
und da ich Appetit auf einen Pfannkuchen hatte und ich seit Ewigkeit
keinen selbstgebackenen Pfannkuchen gegessen habe, ging ich aus, um
alles zum Backen Nötige einzukaufen. Ich kaufte die Sachen gleich
in allernächster Nachbarschaft, Milch, Mehl und Eier. Unterwegs kam
ich an einem Postkartenstand vorbei, wo in kleinen offenen Kasten
Ansichtspostkarten geschlichtet lagen. Ich bücke mich mit Milchflasche,
Mehltüte und Eiertüte und gehe langsam an dem Kasten entlang und
betrachte mir die Postkarten. Plötzlich höre ich einen glucksenden Laut
und sehe, daß die letzten Tropfen meiner Milchflasche auslaufen. Ich
hatte beim Entlanggehen an dem Kasten meinen ganzen Milchvorrat über
die verschiedenen Serienfächer des Ansichtskartenverkaufes gegossen,
denn der Kork hatte sich von der Flasche gelöst. Ich war außer mir vor
Schrecken und rannte davon.

In meiner Aufregung presse ich aber unterwegs die Mehltüte und das
Eierpaket fest an mich, um sie ja nicht zu verlieren. Bei meiner
Haustür angekommen, scheint mir die Mehltüte unverhältnismäßig dünn
geworden zu sein. Ich ahne nichts Gutes und bemerke auch zugleich
hinter mir eine weiße Mehlfährte, die von der Postkartenhandlung bis
zu meiner Haustüre führte. Die Tüte war geplatzt, und das Mehl war
ausgelaufen. Ich warf die leere Tüte in den Rinnstein. Als ich oben in
meinem Zimmer die Eiertüte öffnete, war nur noch eine gelbe Brühe und
zerbrochene Eierschalen im Papier. Verzweifelt habe ich mich aufs Sofa
gesetzt, habe gehungert und geweint und endlich musiziert.«

Diese letzten Worte sprach die Kurzsichtige zu mir, denn sie hatte
wahrscheinlich vergessen, auf welcher Seite der Bank ihr Begleiter
saß. Dann nahm sie ihr Lorgnon, und ich dachte schon, sie wolle sich
klar machen, daß sie nach der falschen Seite hinsprach. Aber nein.
Sie betrachtete meinen Stock, griff mit der Hand danach, immer noch
meinend, daß ich ihr Begleiter sei und rief jubelnd:

»Da hast du ja den Baumast in der Hand! O, du Falscher, du hast ihn
heimlich abgebrochen, damit ich glauben sollte, ich hätte mich geirrt.«

»Entschuldigen Sie, das ist mein Stock,« erwiderte ich ruhig und stand
auf.

Ich wußte, sie hatte meine Stimme erkannt, denn es wurde grabstill
neben mir. Da rief der junge Mann, der während der ganzen Zeit mit dem
Opernglas den Himmel abgesucht hatte, laut:

»Ich habe den Kometen gefunden!«

Ich hörte noch wie sie tief aufatmete und doppelsinnig sagte: »Ich habe
auch einen entdeckt, trotz meiner Kurzsichtigkeit, aber er ging so
schnell, wie er einmal kam.«



Das Iguanodon


In einem überheißen August kam ich über die Alpen durch Tirol an den
Gardasee.

Ehe man in Torbole oder Riva aussteigt hat der Zug hinter Mori ein
ungeheueres, von einem vorzeitlichen Bergsturz verwüstetes Gesteintal
durchklettert, darin ein grüner sterbender Seetümpel liegt. Dort an den
zackigen Steinblöcken, die um den Tümpel liegen und zu Tausenden das
Tal füllen, lebt auch noch im Sonnenschweigen vor deinem inneren Ohr
das Gekrach und Gedröhn jener furchtbaren Minuten auf, als hier einst
in grauester Vergangenheit ein Berg den anderen erschlagen wollte. Man
glaubt, ein wahnwitziger Fluch sei damals ausgestoßen worden und habe
rundum die Steine und die Bergwände in Bewegung gesetzt.

Die Legende erzählt, daß sich Dante hier den Eingang zur Hölle
vorgestellt hätte, den er in der Göttlichen Komödie schildert. Wie
ungeheuerliche, versteinerte Qualen, wie ein himmelragender steinerner
Dornenkranz starrt das spitzige, verwitterte Gebirge, von Wolken
umraucht, im Norden des Gardasees in den Himmel. Es sieht aus, als
wären höllische Blitze und höllische Erdbeben die Baumeister dieser
Bergungetüme gewesen.

Während im Süden der Gardasee sich in breiter sonniger Fläche dem
heiteren Himmel Italiens und unendlicher Fruchtbarkeit entgegenstreckt,
ragen im Norden die kahlen Alpenketten wie Ambosse der Götter in den
Himmel, und es ist, als würden dort furchtbare Schicksale geschmiedet.

Freunde hatten mir geraten, in Torbole zu wohnen, wo viele Österreicher
im Sommer baden, und wo am See ein lustiges Leben herrscht. Andere
hatten mir das stillere Malcesine empfohlen, das am Fuß einer Burg bei
schönen Gärten liegt.

Ich kannte den Gardasee noch nicht, und nachdem ich mir die beiden Orte
angesehen, war mir der eine zu lebhaft, der andere zu langweilig schön.
Und eines Morgens ließ ich mich von einem Schiffer auf die Seefläche
segeln, um hier zwischen Himmel und Wasser zu überlegen und Entschlüsse
zu fassen, wo ich bleiben wollte.

Ich hatte an diesem Morgen zuerst den Ponalewasserfall besucht, der
unweit Riva, zwischen zwei Felsen eingeklemmt, aus Himmelhöhe gegen
den See niederstürzt. Da kam mir der Gedanke, daß ich auf dem Weg
nach Malcesine, auf der anderen Seeseite am Tag vorher, einen Ort
hatte liegen gesehen, am Fuß senkrechter Felsenwände, und daß mir dort
die schönen Reihen der weißen Pfeiler von Zitronengärten von weitem
aufgefallen waren. Diese sahen in der Ferne aus wie die marmornen
Tasten einer riesigen Orgel, und eine weihevolle Festlichkeit lag
über diesen Hunderten von Säulen, die da, regelmäßig gereiht, die
Felsenabhänge schmückten. Eine hübsche Kirche mit freistehendem
Glockenstuhl und eine Schar dichtgedrängter hellgelber und rosenroter
Häuser um einen kleinen Hafen, in welchem winzige italienische
Motorboote lagen, waren mir noch gut in Erinnerung. Den Ort selbst
hatte ich von meinen Bekannten nie nennen hören, und ich hatte ihn auch
im Reisehandbuch übersehen. Ich bedeutete nun den Fischer, mich dorthin
zu fahren.

Jeder, der in Riva einmal übernachtet hat oder in Torbole am Gardasee,
weiß, daß ihn dort nachts, wenn die ersten Sterne heraufziehen, ein
seltsames Blitzlicht in Erstaunen setzte, das wie ein Wetterleuchten
weit draußen mitten in der Seefläche auftaucht und bis in die Fenster
des Hotels hereinleuchtet und auch kalkweiß über die Gesichter derer
hinstreicht, die am Seeufer im Dunkeln einen Abendweg machen.

Der Lichtstrahl sticht Nacht um Nacht an den beiden Seiten der
Felsenwände hoch, die den See einschließen, und zeichnet für Sekunden
scharf jeden Olivenbaum, jeden Ziegel der einsamsten Hütte am
Felsengehäng und haut, wie ein weißes Schwert zertrennend, einen
weißen Keil in die Finsternis. Ich mußte immer an das Flammenschwert
denken, das den Eingang zum Paradies bewacht, wenn dieser Lichtstrahl
unermüdlich Wasser und Gebirge bestrich in allen Stunden der Nacht.

Ich erfuhr dann, daß jenes spukhafte Licht von den Scheinwerfern der
kleinen italienischen Wachtschiffe kam, die dort, wo die Grenze von
Italien quer über den See geht, in jeder Nacht hin und her fuhren, die
Bergscheide und das Wasser nach Schmugglern abzuleuchten. Denn Tabak
und Zucker wurden gern zur Nachtzeit von Österreich nach Italien über
die Grenze geschleppt.

Die Station dieser Nachtboote befand sich in jenem kleinen Ort, zu dem
ich wollte, den die Dampfschiffe nur kurz bei der Rundfahrt um den See
berühren, den nur manchmal einige Segelboote von Riva aus besuchen,
und in dem sich noch kein Fremdengetriebe breit machte. Hart bei jenem
Ort, ehe man um einen Felsenabhang segelte, zog sich, an Zitronengärten
vorbei, die italienische Grenze hin.

Dieses berichtete mir der Schiffer während der Segelfahrt und nannte
mir den Namen des Ortes, der Limone heißt, dahin er mich jetzt bringen
sollte.

In der Seemitte packte plötzlich einer jener Sturmwinde unser Boot,
die dort jählings ohne Vorboten einsetzen und den Segelnden gefährlich
werden können.

Wir flogen in dem kleinen Kahn vor dem Stoßwind her, und der See begann
zu knirschen; schäumende Wasserwalzen rollten schneller, als das Boot
fliehen konnte, an uns vorbei; Seile und Segel ächzten und schienen
zerreißen zu wollen. Der See lebte ungeheuerlich. Seine Wellen schienen
eine wandernde Tierherde zu sein, die sich durcheinanderschob, und
alle Wellentiere schienen nach einer Richtung fortzustürzen.

Knapp, ehe der Sturm seine Höhe erreichte, jagten wir mit dem Boot in
das kleine Hafenviereck von Limone ein.

Der Wind klirrte und fegte draußen über das Wasser. Aber hier in der
Bucht war es windstill, schwül und dunstig. Die Riesenmauern des
Berghintergrundes hielten jeden Windatem ab, und die Zitronen konnten
hier gut reifen, wie Eier in einem Brutkasten. Das dachte ich, als ich
den Fuß ans Land setzte.

Land kann man zu dem Erdstreifchen dort nicht gut sagen, denn es ist
nur spärlich Raum zwischen dem Felsengetürm eines ungeschlachten Berges
und der Seefläche. Die einzige größere Gasse, die der Ort hat, ist so
eng, daß sich die Leute von Haus zu Haus die Hände reichen können.

Es war Mittag, und ich begegnete nur einigen Marinesoldaten der
Zollflottille. Die Handwerker arbeiteten, ohne aufzuschauen, unter
ihren Türen. Ein Esel schrie an einer Straßenecke, und die hohe
Bergwand drückte beengend die Luft in den Gassen zusammen, in denen es
nach Fischen und Olivenöl roch.

Der Schiffer führte mich zum einzigen Gasthaus, das ein schmuckes altes
Herrenhaus war und in einem Blumengarten gegen den See hin lag.

In der Weltverlorenheit dieses italienischen Nestes fühlte ich mich
wohl. Es war nichts banal Schönes hier. Aber etwas Geheimnisvolles,
das mich schon aus der Ferne an diesen Ort gelockt hatte, tat mir
auch jetzt wohl. Es schien mich hier etwas zu erwarten, vielleicht
ein ungeheurer Schrecken, mit darauffolgendem süßem Aufatmen.
Jedenfalls spürte ich ein neugieriges und angenehmes Gruseln an diesem
totenstillen Flecken, wo keine Fremdenschwärme, keine Gasthäuser das
Dasein kindisch machten.

Es war mir zumute, wie wenn man nach langen eintönigen heißen Tagen
ein Gewitter nahen fühlt, das mit seiner großen elektrischen Spannung
die Welt auf den Kopf stellen, Totes lebendig machen und Leben in Tod
verwandeln kann.

Ich lese gern in der feurigen Schrift der Blitze. Wenn sie ihre großen
Aussprüche auf das sonst so leere Blatt des Himmels schreiben, so ist
mir, als läse ich in den Augen alter Propheten, und Schrecken und
Erschütterungen, die sie über der Alltagswelt verbreiten, machen mich
fruchtbar. Gewitter stärken mein Herz.

Und unsichtbare Seelengewitter schienen hier in dem stillbrütenden,
der Welt unbekannten kleinen Ort auf den Fremden zu lauern. Vom
Augenblick an, da ich mich entschloß, durch den Schiffer, der mich
hergesegelt, meinen Koffer aus Torbole holen zu lassen und hier in
Limone zu bleiben, kam ich mir wie ein gewaltiger Unglücksucher vor.
Wie einer, der in eine unterirdische Tropfsteinhöhle eingedrungen ist,
die nur wenige vor ihm betreten haben, und die ihn in ein unheimliches
Labyrinth lockt.

Zwei Dinge, die ich liebe, waren es, die mich bestimmten, in Limone zu
bleiben. Das erste war meine Vorliebe für den Duft von Zitronen und
Zitronenblüten, das zweite meine Sehnsucht nach brütender Wärme.

Von diesen beiden Genüssen wurde ich reichlich hier gesättigt. Aber ich
erwartete mehr als nur Gefühlsbefriedigungen. Ich weiß, daß aus Hitze
und Duft Gebilde im Menschenhirn entstehen, wie aus den verschiedenen
Elektrizitäten zweier Wolken die Blitze.

Auch war es mir wunderbar, jetzt an dem Ort zu sein, von dem nachts das
große flammende Schwert des Scheinwerfers auf den See hinausgesendet
wurde. Hier im Hafen lagen die kleinen Eisenboote, die die Seewache
hatten von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Und ich fühlte mich
wohl dabei, daß ich mich nicht mehr zu dem Lichtschein, der mich in
Torbole nachts immer aufschauen gemacht und in die Ferne gelockt hatte,
hinsehnen mußte. Ich war jetzt dort, wo das nächtliche Feuer geboren
wurde.

Der Wirt des Gasthauses, der zugleich Bürgermeister war, hatte ein
langes Tiergesicht, und sein Körper war so sonderbar gebaut, daß er,
wenn er vor mir stand, aussah, als stünde er bis zu den Knien im
Erdboden.

Er war noch jung, einige dreißig Jahre alt, sah aber müde aus wie
jene grauen nickenden Esel, die lange schweigen und plötzlich
ohrenbetäubende Schreie ausstoßen können. Dieser Mann war aber sonst
ein angenehmer, höflicher und sorgsamer Wirt und arbeitete tagsüber
in seinem gutgepflegten Garten, in welchem Oleanderbäume, Bambus,
Geranienbüsche, Rosen und Myrten zu Seiten eines langen beschatteten
Weinlaubenweges standen. In diesem grün überwölbten Weg hingen dicke
dunkle Trauben, und am Ende lag dicht vor der weißen Steinschwelle und
den weißen Steinpfosten der Gartentür das blaue Wasser des Sees wie ein
abgrundtiefer Himmel.

An der einen Seite des Gartens war eine überlaubte Spielbahn, wo
nachmittags die italienischen Soldaten, Sizilianer, Neapolitaner,
Genuesen, schwarzhaarige und braunhäutige Kerle, zwischen Vesper und
Abendläuten mit viel Lachen und Witz ihr Boccia spielten.

Die Küche des Gasthauses war bescheiden, der Wein gut und feurig.
Mein steingepflastertes Zimmer, sauber und geräumig, sah nach dem See
und dem Berg Monte Alto. Die Tageszeiten in Limone wurden nicht bloß
durch das viele Läuten der Kirche eingeteilt, sondern auch von dem
dreimaligen Vorüberfahren der großen Passagierdampfer, die täglich die
Rundreise um den See machten.

Unter einem großen japanischen Mispelbaum im Garten bei der Haustreppe
nahm ich meine Mahlzeiten ein. Und hier spielten sich auch die Szenen
jenes inneren Gewitters ab, das ich beim Betreten jenes schwülen, scheu
versteckten Ortes vorausgeahnt hatte.

Nach dem Mittagessen am Tage meiner Ankunft, nachdem ich auf meinem
neuen Zimmer ausgeruht hatte, schlenderte ich in der Abenddämmerung
durch den Ort. Als ich aus dem Garten auf die Straße trete, höre ich
ein Gekicher, und an meiner Seite vorüber läuft ein zwergartiger
Mann mit gewaltigen langen Armen, großem, höckerigem Kopf, wie ein
Orangutang anzusehen, in eine Seitengasse hinein.

Ein paar Frauenzimmer, die vor einer Haustüre auf niedrigen Hockern
kauerten, rieben sich mit der Handfläche Mund und Wangen ab und
deuteten mir mit ihren Augen an, daß der Zwergmensch sie beide
unversehens eben umarmt und geküßt hatte. Die eine, die Ältere, drohte
hinter ihm her mit ihrem Holzpantoffel, die andere hatte noch seine
Mütze in der Hand, die sie ihm wahrscheinlich vom Kopf gerissen hatte,
und sie schleuderte die Kappe dem Fortstürmenden mit einem kreischenden
Zuruf nach.

Ich war verblüfft über die Häßlichkeit des Zwerggeschöpfes, das sich so
männlich und so kindlich zu gleicher Zeit gebärden konnte, und das sich
jetzt aus der Ferne umschaute, seine Mütze an sich riß und den Frauen
die Zunge herausstreckte.

Ein wenig weiter fort begegnete ich einem kleinen verwachsenen Weib,
das einen melonengroßen Kopf hatte. Die Frau reichte mir nicht bis zur
Hüfte. Einen Krug trug sie in der Hand, den sie kaum schleppen konnte.

Überall sah ich ähnliche Wesen. Neben den gut gewachsenen Gestalten
unter den Ladentüren und in den Werkstätten stand oder saß oder
schabernakte ein koboldartiges Zwergwesen. Es schien mir, als sei jede
Familie mit solch einem Geschenk der Hölle belastet.

Ich war bei meinem Weg durch die Gasse an alten eisernen kleinen Türen
vorübergekommen. Die waren nur eine rostige Masse. Das verwitterte
Eisen schälte sich wie die Rinde von Bäumen. Über die Türschlösser und
Angeln und über das Gitter des Guckloches hingen verfilzte Spinnweben.
Ganze Familien von großen Kreuzspinnen hausten da seit Jahrhunderten
ungestört. Auch waren da ebenso zugesponnene und mit rostigen Gittern
versehene, alte, erblindete Fenstervierecke. An die grauen Mauern dort
waren mit Rötelstift und Kohle unflätige, brünstige Bilder mit ein
paar Linien hingezeichnet, Bilder, wie sie nur in den Hirnen dieser
ungebändigten und verwilderten Krüppelgestalten entstehen konnten.

Als ich in der Abenddämmerung vor den Ort hinaus unter alte Olivenbäume
kam, die dort in verrenkten Stellungen, verkrümmt und verwachsen, in
Scharen mit ihrem graunebeligen dünnen Laubwerk in den Bergfeldern
stehen, war mir, als seien die Zwerggeschöpfe der Stadt aus jenen
ungestalten gespenstigen Olivenstämmen geboren worden.

Als in der Dämmerung ein Esel, auf dem ein Weib und ein Knabe saßen,
mit humpelndem Gang in dem unheimlichen Olivenhain, darin sich
kein Blatt rührte, auftauchte, schauderte mich, weil ich in diesem
zusammengepackten Tier- und Menschenhaufen wieder neue Verkrüppelungen
zu sehen glaubte.

Unter dem schleierartigen dünnen Laubgewebe der Oliven, deren Zweige
sich nicht wiegen, durch die der blasse Abendhimmel fein zerkritzelt
zur Erde sieht, hatte ich das Gefühl, als ob ein Netz von unheimlichen
Erregungen -- das mich hier in Limone bald umgeben sollte -- schon nah
über mir hing.

Ich konnte nach kurzer Zeit in dem Hain nicht mehr weitergehen. Das
stille Grauen in mir nahm so überhand, daß es mich forttrieb aus dem
Kreise der grimassenreißenden Baumstämme, die umherstanden, gespalten
und zerschlitzt, dreibeinig und zehnbeinig, mehr Tieren als Bäumen
ähnlich.

Ich wollte lieber zu den krüppligen Menschen des Ortes zurückkehren,
als hier länger bei den hölzernen Urvätern der Krüppel zu weilen, die
trocken und herzlos wie halbtote Greise, in sich versunken und in sich
gekrümmt, den Weg begleiteten, der Schar aller Mühseligkeiten ähnlich,
die einem lang Lebenden begegnen können.

Zurückgekommen zum eisernen Gitter des Gasthausgartens sah ich
gegenüber unter der trüben Petroleumlaterne, die als Straßenbeleuchtung
an einer Hausecke hing, in einem kahlen Ladengelaß wieder einen
Zwerg mit einem Stock stehen. Der Stock war ein Stück größer als
der Zwerg, und es war doch nur ein gewöhnlicher Spazierstock. Mit
diesem Stock deutete der Krüppel wichtig und sich höflich verneigend
auf einen Tisch, an den er kaum mit der Nase hinaufreichen konnte.
Dort lagen, sorgfältig nebeneinander gereiht, einzelne Birnen, große
dicke Kochbirnen, die wir in Deutschland Katzenköpfe nennen. An
der Tischkante stand eine brennende, flackernde Kerze, die in einem
Zinnleuchter stak.

Der Laden war ganz kahl. Ich hatte beim Fortgehen vor einer Stunde
diesen Fruchtverkäufer noch nicht bemerkt. Es schien mir, als habe
er seinen Verkaufsstand eben erst eingerichtet, vielleicht weil er
gehört hatte, daß ein Fremder ins Gasthaus eingezogen war, was ihn
unternehmungslustig gemacht haben mochte.

Ein paar Schritte weiter bei einem Schuhmacher kauerte jener Zwerg, der
vorhin die Weiber geküßt hatte; er glotzte in die beleuchtete Glaskugel
des Schusters, bei deren grellem Blendlicht der Meister und seine
Gesellen, auf dem Straßenpflaster hockend, arbeiteten.

Die Gassen hinter den beleuchteten Köpfen verschwanden in Gewinkel und
Finsternis, manchmal geteilt von kleinen Lichtscheinen, die aus Türen
oder Fensterluken auf das Pflaster fielen.

Auf der Mauer beim Gartentor meines Gasthauses hockten zwei
andere Zwerge, die mich schweigend und argwöhnisch, wie zwei
aneinanderhängende Affen, von der Mauerhöhe herunter beobachteten.

Ich war verblüfft über die Unzahl von Mißgeburten und auch ermüdet
von den neuen Reiseeindrücken, so daß ich schweigend vorüberging und
nur mit einem Kopfnicken die lauten feierlichen Grüße der Krüppel
beantwortete.

Als ich dann in den Garten eingetreten war und mich zum Abendessen
unter den Mispelbaum setzen wollte, unter eine wenig leuchtende
Petroleumlampe, die in den Zweigen des Baumes hing, kam der Wirt zu
mir und sagte mir, morgen würde das Zimmer neben dem meinigen besetzt.
Er habe eben mit dem Abenddampfschiff einen Brief von einer Russin
erhalten, die schon voriges Jahr den Herbst hier verbracht hatte. Die
Dame habe zugleich geschrieben, daß ihr das Portemonnaie unterwegs
gestohlen worden sei, und der Wirt hatte ihr noch mit dem selben
Nachtschiff Geld nach Desenzano geschickt, wo sie übernachten wollte.

Ich dachte sofort an eine Nihilistin, denn einer wohlhabenden
Russin konnte es wohl kaum einfallen, dieses weltentlegene Ufernest
aufzusuchen und hier einen Herbst zuzubringen; aber später hörte ich,
daß die Dame die Gattin eines Generals war.

Am nächsten Tag saß ich gegen Mittag auf dem Steinbalkon, der gegen den
Garten hin vor dem Eßzimmer lag, unter dem sich die Küchenhalle befand.
Ich schrieb Briefe und saß ohne Hut, und die Mittagssonne brannte auf
meinem Kopf.

Als ich mich später in dem Speisesaal, dessen Decke mit bunten
mittelalterlichen Malereien, Wappen und Blumen bemalt war, zu Tisch
setzte, sah ich vor der Glastüre, die auf den Korridor führte, eine
kleine ältere Dame stehen, die, während sie einen Schleier um ihren
Kopf band, zwischen den Vorhängen an der Glasscheibe hindurchblinzelte.
Dann trat sie ein, und der Wirt folgte ihr und stellte sie als die
russische Dame vor.

Die Generalin hatte kleine, lebhafte, etwas belustigt zwinkernde Augen
und machte viele kleine Bewegungen, die ihr etwas rührend Kindliches
gaben. Als sie sich vor ihren Teller gesetzt hatte, begann sie sogleich
mit mir eine lebhafte Unterhaltung und erzählte vom Comosee, von dem
sie eben kam, und vom italienischen Dichter Fogazzaro, den sie dort in
seiner Villa besucht hatte.

Sie forderte blindlings Interesse von mir, weil sie sich für Fogazzaro
und den Comosee interessierte. Aber mein Kopf schmerzte mich. Er
wurde schwer, als wollte er anschwellen wie ein Zwergenkopf, und ich
fühlte bald, daß ich beim barhäuptigen Sitzen in der Mittagsonne einen
Sonnenstich bekommen hatte.

Es wurde mir grau und weiß vor den Augen, und das ganze Zimmer mit der
buntbemalten Decke und dem rotsteinernen Fußboden kreiselte um mich,
als wäre es eine russische Schaukel.

Ich wollte vom Tisch aufstehen, aber ich fühlte, daß ich umfallen
würde. Während die Russin immer weiter sprach und mir nichts anmerkte,
wartete ich still ab, bis ich mich wieder so stark fühlen würde, daß
ich mein Zimmer ohne Hilfe erreichen konnte. Ich sagte dann der Dame
im Fortgehen, daß ich glaubte, ich sei von einem Sonnenstich unwohl
geworden.

Ich legte mich auf mein Bett und ließ mir Eis bringen. Mir war bei
jeder Bewegung sehr übel. Zugleich begann mich ein heftiges Fieber zu
schütteln.

Nach einer Weile klopfte es an meiner Tür, und die Russin brachte mir
ein großes Senfpflaster, das sollte ich auf meinen Rücken legen.
Während sie noch im Zimmer war, klopfte es wieder, und ich hörte die
Stimme einer jungen Dame, die draußen mit dem Dienstmädchen sprach.
Sie sagte, sie hätte im Hotel in Torbole im Fremdenbuch meinen Namen
gelesen, und es war ihr gesagt worden, daß ich nach Limone gezogen sei.
Ich erkannte die Stimme einer jungen Bekannten, die ich seit einem
Jahre nicht gesehen hatte. Die Neuangekommene wollte, daß ich ihr
Limone zeigen sollte.

Ich ließ ihr sagen, daß ich halb im Sterben läge, und sie möchte
entweder meinen Tod oder meine Genesung abwarten.

Sie ließ mir darauf zur Antwort geben, daß sie einige Tage im gleichen
Gasthaus in Limone wohnen bliebe.

Den Sonnenstich im Kopf, ein Senfpflaster auf dem Rücken, einen
Eisumschlag auf der Stirn und einen Herzchock in der Brust,
hervorgebracht durch das bevorstehende Wiedersehen mit einem seltsamen,
reizend schönen Mädchen, an das ich lange nicht mehr gedacht hatte,
-- so lag ich auf meinem Bett und mußte mich gedulden, bis die
Sonne untergegangen war und in der kühleren Abendluft, bei den weit
geöffneten Fenstern, der Blutandrang zum Gehirn schwächer wurde, und
ich mich allmählich wieder gesund werden fühlte.

Ulrike, die junge Dame, die mich so plötzlich besuchte, war Studentin
der Chemie, und ich kannte sie aus Freiburg, wo sie studierte. Sie war
eine jener schönen rothaarigen Frauen, die jetzt in Deutschland so
selten werden. Sie hatte jene milchweiße Hautfarbe, mit leichtem rosa
Hauch, die wie eine sanfte Kamelienblüte unter blauem Himmel leuchtet.

Aber es ging nicht die Kühle der Blüte von diesem schönen Geschöpf
aus. Das leuchtende Milchfleisch ihrer Wangen und ihres Nackens neben
dem dumpfroten Haar war von einer leuchtenden Lüsternheit verklärt.
Man hätte das junge Mädchen nie unverschleiert gehen lassen dürfen, da
ihre Reize so stark waren, daß ihr Gesicht, ihre Hände und ihr Nacken
beinahe schamlos wirkten, wie enthüllte Blößen.

Im Mittelalter wurden solche verwirrend schöne Frauen den
Folterknechten als Hexen hingegeben, und die Männerfäuste schlugen mit
Wollust Wunden in dieses allzu aufreizende Frauenfleisch.

So war Ulrike, die hier plötzlich auftauchte in jener Luft, in der
ich seit Stunden das Herannahen ereignisschwangerer Augenblicke
vorausgefühlt hatte.

»Was suchen Sie hier?« fragte ich sie hundertmal in meinem Herzen,
während meine Tür geschlossen war und ich den Besuch noch nicht gesehen
hatte. Und Ulrikes Geist antwortete mir: »Ich suche Unruhe, Fieber. Ich
suche, wenn es nicht Glück sein kann, Unglück, Vernichtung, wie du, wie
ihr alle.«

Als ich dann, des Fragens müde, erschöpft eingeschlafen war, weckten
mich Mandolinenmusik und italienischer Gesang aus dem Garten.

Ich stand auf. Es war Nacht geworden. Es mußte neun oder zehn Uhr
sein. Ich fühlte mich ganz gesund. Draußen auf dem See suchte der
Scheinwerfer des Wachbootes die Berge ab und schoß ab und zu in den
Garten unten, wie ein Eindringling, zwischen die Bäume, und mir war,
als müßte es jedesmal einen schrillen Laut in den Blättern geben,
wenn der Lichtpfeil durch das schlafende Laub schoß, das dann wie
Metallschlacken hell und dunkel aufglänzte.

Wahrscheinlich hatte Ulrike schon den ganzen Ort zu Freunden. Während
der paar Stunden, in denen ich schlief, und in denen die Russin, die
fließend italienisch sprach, sie spazieren führte, hatte sie, das
wußte ich gewiß, blendender als jener Lichtstrahl, der da ruckweise vom
See in den Garten fegte, schon alle Männer des Ortes geblendet.

Als ich im großen steinernen Treppenhause von meinem Zimmer in den
unteren Stock hinabstieg, schallte mir einzig Ulrikes Stimme entgegen.
Sie hielt einen Vortrag über Politik, über die Notwendigkeit, daß
Italien zu Deutschland aufschaue, da es von Deutschland viel zu lernen
hätte.

Sie sagte in ihrer unverfrorenen norddeutschen Art, daß die Italiener
lügen, betrügen, daß sie falsch seien und faul, kurz, sie sagte alle
diese ungerechten Aussprüche, die unwissende Deutsche immer schnell
bereit haben, wenn über Italien geredet wird.

Ulrike erlaubte sich, da sie immer nur anbetenden Männeraugen
begegnete, alles das in die Luft zu schreien, was man bei einigem
Überlegen taktvoll zu verschweigen hat. Aber wahrscheinlich reizte es
sie, daß alle Männer Honig aus ihrer Schönheit sogen, und sie wollte
Widersprüche erwecken. Denn da ihr Gesicht Süße austeilte, wollte ihre
Seele Bitternisse in die Seelen der anderen träufeln, damit nicht das
Leben um sie vor lauter Anbetung verstummte.

Ich stand im halbdämmerigen Hausflur und beobachtete durch die
offenstehende Haustüre die Gesellschaft im tiefer gelegenen Garten,
die dort an einem länglichen Tisch unter dem Mispelbaum saß, mit der
Hängelampe über den Köpfen und vom weißen Tischtuch beleuchtet.

An der Spitze des Tisches saß wie eine immer bewegte, surrende, graue
Spindel die silberhaarige Generalin, in Mäntel, Schals und Reisedecken
eingemummt; und nur ihr kleines, blasses Gesicht mit dem einen
geschlossenen Auge und mit dem andern zwinkernden Auge sah belustigt
und mit sich selbst vergnügt von einem zum andern.

Neben ihr an der Tischecke auf einem Stuhl, den sie hintüber hin und
her bewegte, schaukelte mit übereinandergeschlagenen Beinen Ulrike und
hielt sich dabei mit der einen Hand an der Lehne des Stuhles der Russin
fest.

An derselben Längsseite des Tisches, nicht weit von ihr, saßen zwei
junge Männer. Der eine war ein blasser italienischer Student, auf
seine Art ebenso schön wie Ulrike. Er war aber eine jener altmodisch
schmachtenden Jünglingsschönheiten, wie man sie bei jungen Heiligen
auf glasgemalten italienischen Kirchenbildern des zwölften und
dreizehnten Jahrhunderts findet. Ein elastischer Jünglingskörper, von
einem schwärmerischen Geist wie von einer blauen Flamme durchwallt.
An ihm war nichts von der durch Sport und Gedankenzucht straffen
Jungemännerschönheit, die jetzt im nördlichen Europa den altmodischen,
altchristlichen Schönheitstypus verdrängt.

Es war rührend zu sehen, wie der junge, schwarzgekleidete, schmale
Mensch jetzt eben ein Lied zu singen anhob, einen gewöhnlichen
italienischen Gassenhauer, den er sicher noch nie in anständiger
Gesellschaft gesungen hatte, und den er mit einer einfältigen Andacht
vortrug, als handele es sich um eine Heldensage. Und dies alles nur
deshalb, weil Ulrike den jungen Mann bereits entgeistert hatte. In
seinem Herzen sang er sicher ein hohes Lied festlicher Liebesanbetung
vor ihr. Davon trug sein Gesicht den andächtigen Ausdruck. Aber sein
Mund mußte einen Gassenhauer hinsingen, weil die ungeduldige Ulrike nur
Straßenkunst hören wollte.

Neben dem jetzt singenden Studenten spielte ein anderer junger Mann
eine Mandoline, die er auf dem einen Knie hielt, bei der er tief
gebückt saß, und deren Saiten er so innig zärtlich zupfte, als wären
sie aus dem verführerischen roten Haar der jungen Deutschen gesponnen.
Denn Ulrike machte sein alltägliches, reizloses Gesicht blutrot
aufleuchten, wenn er zufällig beim Mandolinenspiel zu ihr hinübersah.

Der Spieler hatte grobe Hände, die tagsüber in einem Drogenladen
im Ort, der ihm gehörte, Leinöl und Petroleum in Krüge füllte und
Farbstoffe auf einer Wagschale wog, wovon seine Nägelränder noch
bläulich, rötlich und gelblich schimmerten. Er schlug trotz aller
Innigkeit grob und derb die Saiten. Er war nicht viel älter als der
Student, aber er tat laut erzählend sich etwas darauf zugut, bereister
zu sein als jener, und er versuchte, aus Notwehr gegen Ulrikes
auffallendes verführerisches Frauenfleisch, sich mit einer Grobheit zu
panzern, die ihn kaltblütig erscheinen lassen sollte.

Ich hatte gehört, wie er vorhin, kurz ehe das Lied anhob, Ulrike ins
Gesicht gesagt hatte, er hasse alle Österreicher, und er gab an,
daß jene die Eigenschaften hätten, die die Deutschen den Italienern
zuschieben.

Ulrike war keine Österreicherin. Darum hörte sie auf seinen Haß gar
nicht hin, sondern forderte ein neues Lied. Sie wußte wahrscheinlich
auch, daß ihre weiße Hand, die sich an die Stuhllehne der Russin hielt,
aufmerksam, ebenso wie ihr Nacken, von einem Zolloffizier beobachtet
wurde, der hinter ihr an einem kleinen, runden gedeckten Tisch saß, wo
er zu Abend gespeist hatte, und wo er jetzt seinen Kaffee trank, mit
einer Zeitung rasselte und seine Zigarette rauchte.

Vor dem Offizier brannte ein Windlicht auf dem Tisch, sein Lichtkreis
traf noch Ulrikes roten Haarknoten und ihren weißen Nacken, dessen
Biegung sich dem Offizier hinhielt, als wollte dieser Nacken
gestreichelt und geküßt werden.

Am Stamm des Mispelbaumes lehnte der junge Wirt mit seinem langen,
schmalen Tiergesicht. Seine Augen schienen ganz verblödet zu sein vom
langen Hinstieren auf Ulrike. Er stand dort ziemlich unbemerkt im
Schatten und war nur von den Knien abwärts beleuchtet.

Über ihm im weiten Geäst des schlangenartig geformten Baumes kauerten
die Hauskatzen. Es hockten dort drei, vier Katzen und Kater wie
buckelige Auswüchse auf den glatten, ausgestreckten Ästen, und
manchmal jagte ein Tier das andere, und sie flohen höher in die dunkle
Laubkrone. Dann sah Ulrike hinauf und rief: »Miau«. Gleich standen die
Katzen still und kauerten sich nieder, denn der Katzenlaut, den das
junge Mädchen rief, war verblüffend naturgetreu.

Von meinem erhöhten Standpunkt im Hausflur sah ich auch ein Stück vom
Gittertor neben der Gartenmauer, und dort kauerten, aufgereiht wie
Kürbisse zum Trocknen, die mumienhaften, großgesichtigen Köpfe jener
Zwerge, denen ich vorher auf der Straße begegnet war.

Die Zwerge entdeckte ich aber erst, als der Scheinwerfer vom See für
Augenblicke seinen Lichtstrahl in die Gartentiefe hereinwarf.

Daß hier ein Unglück wucherte und in irgendeiner Gestalt aufstehen
würde, fühlte ich an der seltsamen Gruppierung der Menschen, der Tiere
und der Dinge, die alle von dem magnetischen Wesen Ulrikes angezogen
waren. Die Spannung und die Unsicherheit, die diese junge Dame um sich
verbreitete, machte, daß alles, was im Garten anwesend war, wie auf
einer dünnen Eisfläche lebte, die jeden Augenblick irgendwo einbrechen
und irgendeinem der Anwesenden tödlich verhängnisvoll werden konnte.
Aber sie schienen alle das Unglück begierig zu suchen.

Ich trat jetzt vom Haus hinaus auf die Treppe, die zum Garten
hinunterführte. Bei meinem Schritt sah ich niemand als Ulrike an.
Aber sie schien sich nicht klarmachen zu können, von welcher Seite
das Geräusch der Schritte kam, und so sah sie zuerst unwillkürlich
nach dem Gartentor und der Gartenmauer. Im selben Augenblick erhellte
ein neuer Lichtstrahl des Scheinwerfers die Köpfe der ungeheuerlichen
Mißgestalten der Zwerge, die dort lauschten.

Ulrike schnellt empor, läuft von ihrem Stuhl fort und schlägt unter der
Mauer ein fröhliches und fast kindliches Gelächter auf, aber wendet
den Kopf nach mir, und nachdem sie den Zwergen ein spöttisches »Guten
Abend« zugerufen, kommt sie zu mir gelaufen und begrüßt mich in ihrer
sprudelnden Sprechweise.

»Welchen abenteuerlichen Ort haben Sie da aufgesucht!« rief sie mir
zu. »Welch ein Talent Sie haben, schauerliche Szenerien zu entdecken!«
Und mit einer Geste, mit einer stummen, aber höhnenden Geste, deutet
sie über den andächtig singenden Studenten, über den Baum, in dem die
Katzen sprangen, und nach dem Gartentor, wo jetzt die Zwerge im Dunkel
beieinander hockten, und auf den Scheinwerfer, der jetzt hoch im Himmel
den Monte Alto grell aufhellte.

Sie hatte recht. Wo sang man sonst Gassenhauer wie Kirchenlieder,
während Katzen in den Bäumen buhlten, Zwergköpfe auf der Mauer wuchsen
und dazu ein irrsinnig wandernder Lichtstrahl aus dem Dunkel Berge vom
Himmel fallen ließ.

An diesem Abend geschah nichts weiter, er war nur der Auftakt für die
nächsten Ereignisse. Der Student lud, als er und sein Freund, der
Drogenhändler, aufbrachen, Ulrike und mich zum nächsten Morgen in
den Weingarten seines Freundes ein, wo beide täglich mit Leimruten
Singvögel einfingen, da die Zeit des Durchzuges der nordischen
Singvögel war. Aber auch der Zolloffizier ließ uns durch den Wirt
sagen, wenn wir das Scheinwerferboot nachts besuchen wollten, sollten
wir es ihn wissen lassen.

Die Zwerge aber stießen kreischende Pfiffe aus und riefen zur
Verabschiedung Ulrike ein geheultes »Guten Abend« zu.

Ulrike war müde und zog sich schon bald auf ihr Zimmer zurück, nachdem
wir nur noch ein wenig geplaudert hatten. Ich blieb bei der Russin
sitzen, die aus ihren Schals und Mänteln wie aus einer gepolsterten
Loge hervorsah, von der aus sie den Anfang eines Dramas gespannt
verfolgte.

»Sie ist für die Männer, was der Baldrian für die Katzen ist«, sagte
die Russin, als Ulrike gegangen war. Sie wiegte sich in ihren Decken.
»Welch eine Sippe hat sich hier zusammengefunden! Wo ich hinkomme, ist
aber auch immer etwas Unheimliches los. So war es immer, so lange ich
lebe. Zwar brechen durch mich nicht Ereignisse herein. Aber ich habe
eine im Blut liegende Witterung für aufregende Zeiten, Menschen und
Gegenden, und werde wahrscheinlich unsichtbar angezogen von Zuständen,
bei denen eine gewisse Spannung in der Luft liegt.

Als Sie heute bei Tisch so blaß wurden und den Sonnenstich fühlten,
dachte ich bei mir: Da bist du ja gerade recht gekommen, um gleich
ein Unglück vorzufinden und helfen zu können. In den meisten Fällen
aber kann ich nicht helfen. Da muß ich nur Zuschauer sein und muß froh
sein, wenn ich nicht selbst dabei den Kopf verliere. Denn sehen Sie,
einen leichten Schlaganfall habe ich schon einmal gehabt. Den erhielt
ich infolge eines Schreckens, als ich Mann, Kind und Vermögen in einem
Augenblick verlor.«

Und dann erzählte die russische Dame mir ihr Leben. Sie stammte von
deutschen Eltern, war aber in Rußland geboren und hatte einen Russen
geheiratet. Ihr Mann war Leutnant, als sie Hochzeit machten. Aber sie
waren nur wenige Wochen vermählt gewesen, da brach der Krimkrieg aus,
und die junge Frau wußte, daß ihr Mann fort von ihrer Seite in den
Krieg und vielleicht in den Tod ziehen mußte.

Sie machte sich auf, besuchte seinen General und bat ihn, daß sie als
Krankenschwester dem Regiment ihres Mannes folgen dürfte. Das wurde ihr
gewährt.

Ihren Mann, der in den Schlachten war, sah sie natürlich nur selten,
und wenn sie mit den anderen Rotekreuzschwestern nach den Kämpfen die
Verwundeten in den Feldern aufsuchte, dann zitterte ihr Herz jedesmal,
wenn sie einem am Boden Liegenden den Kopf umwendete und das Gesicht zu
sehen suchte, denn sie vermeinte immer, ihren Mann zu finden.

Und eines Tages wurde sie auch zu ihm gerufen. Er lag verwundet in
einem Schanzgraben. Nur sein Bursche war bei ihm. Die junge Frau
brachte wochenlang in dem Schanzloch zu und hütete und pflegte ihren
Mann.

Von dieser Kriegszeit her, die sie bei Blut, Grausen und Ängsten auf
schmerzdurchkreischten Schlachtfeldern durchgemacht hatte, war ihr ein
schwaches Herz geblieben.

Nach vielen Jahren, als sie schon einen großen Sohn, einen
hübschen Knaben hatte, traf sie aber ein viel schlimmeres Weh, als
jener Krieg ihr antun konnte. Ihr Knabe wurde am Meer von einer
Dampferlandungsbrücke durch eine Sturmwelle ins Wasser gerissen, und
ihr Mann sprang rasch entschlossen hinter seinem Kinde her, um es zu
retten. Aber das Meer gab sie nicht mehr zurück. Beide ertranken.
Außerdem hatte der General gerade an diesem Tage seine Wertpapiere,
die er auf eine Bank bringen sollte, in der Brusttasche. So waren der
Russin in einer Sekunde Mann, Sohn und Vermögen entrissen worden.

Seit jener Zeit beobachtete sie, daß sie einen Instinkt für Unglück
hatte.

Als sie zum erstenmal zum italienischen Schriftsteller Fogazzaro kam,
war diesem eben sein Kind ertrunken. Als sie vor Jahren zum erstenmal
an den Gardasee kam, geschah dort das größte Unglück, das der See je
erlebt hatte. Durch Platzen des Dampfkessels eines Vergnügungsdampfers
verloren Hunderte von Menschen ihr Leben. Und so wußte sie noch viele
Fälle zu berichten. Und sie war gar nicht verwundert, als ich heute den
Sonnenstich erlitt. Sie hatte immer eine ganze Hausapotheke bei sich,
da sie ja die Begleiterin hundertfacher Unglücke gewesen war.

»Es ist besser,« sagte ich ihr, »wenn Ulrike bald wieder abreist. Der
junge Student ist schon ganz blaß verliebt in sie und sieht krank aus,
als ob er in ihrer Nähe ein betäubendes Gas eingeatmet hätte. Und
die andern, der Offizier und der Drogist, stolpern über ihre eigenen
Beine vor Verwirrtheit, wenn sie sich vor der schönen Ulrike verbeugen
sollen. Sie wird auch noch die Zwerge und die Katzen in sich vernarrt
machen, die Berge werden umfallen wollen, um zu ihr zu kommen, und der
See wird wandern wollen, um ihr nachzulaufen.«

»Daran ist nichts zu ändern,« sagte die Russin. »Es kann sogar sein,
daß wir auch Schaden nehmen dabei. Denn wo ein Unglückswirbel einsetzt,
reißt er auch Fernstehende um. Heute, als Sie schliefen und oben in
Ihrem Zimmer krank lagen, spielte Ulrike Boccia hier im Garten mit den
italienischen Zollsoldaten. Die Männer bekamen fast eine Schlägerei,
denn jeder wollte ihr zuerst den Ball zureichen dürfen. Und auf der
Straße, als Ulrike einem Zwerg eine Zigarette schenkte, entriß der
andere Zwerg dem ersten das Geschenk und verbarg die Zigarette an
seinem Herzen. Der Beraubte zog dann sein Taschenmesser und wollte auf
den Rivalen losstechen. Der aber zog auch ein Messer und stach wieder
zurück. Und wenn die Soldaten die beiden Krüppel nicht getrennt hätten,
würden sie sich in Stücke zerschnitten haben. Ich bin gespannt, wie es
morgen wird«, setzte die Russin hinzu. »Der Wirt, der Bürgermeister,
hat mir heute schon gesagt, er wolle sich eine deutsche Grammatik
anschaffen, damit er Fräulein Ulrike schreiben könne, wenn sie wieder
in Deutschland sein würde. Und im Winter wollte er dann eine Reise
nach Deutschland machen. Alle sind in Ulrike vernarrt wie die Fliegen
in ein Stück Zucker. Sie hat wie ein roter Blitz hier in den Ort
eingeschlagen.«

       *       *       *       *       *

Am nächsten Morgen früh, als die Wiesen am See und ihre gelben
Dotterblumen noch taufeucht waren, stand ich am Fenster, kurz nachdem
das erste Dampfschiff getutet hatte. Da hörte ich, daß im Garten unten
Neuangekommene nach Zimmern fragten. Es war jetzt Anfang September, und
der Wirt hier hatte im September doch einige immer wiederkehrende Gäste
in seinem Hause, denn der Herbst ist die Jahreszeit, in der auch jeder
entlegenste Winkel des Gardasees von Naturschwärmern aufgesucht wird.

Als ich mich rasiert hatte, sah ich wieder vom Fenster hinunter in den
Garten, und da saß eine seltsame Gesellschaft um einen Tisch auf dem
weiten Steinbalkon, auf dem ich mir gestern den Sonnenstich geholt
hatte. Zwei Vettern des Wirtes, die ein paar hübsche Fischerburschen
waren, hatten ein Ehepaar an einen Tisch geleitet. Sie setzten sich
soeben alle nieder. Ein älterer Mann von fünfzig Jahren und eine
dreißigjährige Frau.

Der Mann schien nicht ganz bei Verstand zu sein. Ich sah ihm zu,
wie er Dutzende von Chenilleäffchen verschiedener Größen aus einer
Handtasche auspackte und zu gleicher Zeit kleine Bändchen und Fähnchen.
Und nun begannen die Burschen, die Frau und der Mann, die Affenpuppen
mit Bändern zu schmücken, und alle vier spielten kindisch mit ihnen
und kitzelten sich gegenseitig am Gesicht und am Hals mit den Äffchen.
Dabei hatte der Mann ein katholisches Traktätchen, eine gedruckte
Zeitschrift, neben sich liegen, in welcher Heilige abgebildet waren,
aus welcher er gern ab und zu Erbauungsgebete vorlas.

Ich hatte bereits von Annunziata, dem Dienstmädchen, gehört, daß ein
ganz verrücktes Ehepaar erwartet würde. Das Mädchen war nicht sehr
erbaut von seiner Ankunft, denn die Frau, sagte sie, wäre verliebt
in die beiden Fischerburschen, denen sie im Winter, und überhaupt
vom Tag ihrer Abreise an bis zu ihrer Wiederkunft, fast täglich die
zärtlichsten Briefe schriebe. Aber Annunziata selbst liebte den einen
Burschen und fand es abscheulich, daß, so lange das Ehepaar im Gasthaus
wohnte, sie auf ihre Liebe verzichten sollte.

Ich hatte in meinem Leben vorher nie etwas Widerlicheres gesehen, als
diesen mageren, bebrillten, greisenhaften, kichernden Mann und seine
schwammige, übel aufgeputzte Frau. Sie lehnte mit ihrem Kinn auf ihrem
üppigen Busen, der in eine Seidenbluse eingespannt war, und er grinste
über seine schmale Hakennase und über die Brillenränder zu den Burschen
hin, wenn seine Frau die Burschen mit den Chenilleäffchen hinter die
offenen Hemdkragen kitzelte.

Der eine Bursche hielt einen Leierkasten unter dem Arm, in welchen
Platten eingelegt wurden, und auf dem man wahrscheinlich bald Musik
machen wollte.

Der Wirt hatte mir erzählt, das Ehepaar habe eine Seidenblumenfabrik in
Norddeutschland.

Ich sah mit einem Blick: wenn der Leierkasten spielen und die
Chenilleaffen tanzen würden, wenn die Zwerge, die Marinesoldaten,
der Student, der Drogist, der Zolloffizier sich untereinander Duelle
wünschen und die Russin wie eine Unke neues Unglück prophezeien würde,
wäre meines Bleibens hier nicht lange, und ich würde bald von diesem
Ort fortflüchten müssen. Das wäre vielleicht das einzige Unglück, das
mir passieren könnte. Denn ich hatte ein keimendes Abenteuer im Herzen,
von dem ich mich nicht gern eher getrennt hätte, als bis es erlebt war.

Das Haus, in welchem sich der Gasthof befand, war halbiert. Der vorige
Besitzer hatte das Anwesen in zwei Hälften verkaufen müssen. In der
Mitte waren durch das Haus, durch die Prunksäle, Wände durchgezogen
worden. Dahinter in der zweiten Hälfte hauste jetzt der einzige
Briefträger des Ortes mit einer Unzahl von Kindern. Auf dem Balkon aber
hielt seine älteste Tochter, eine bleiche Italienerin, jeden Morgen
Nähstunden ab für ihre jüngeren Geschwister und ihre Freundinnen. Im
Saal, neben meinem Zimmer, wo, dem Schall nach zu urteilen, sich kein
einziges Möbelstück befand als ein alter Flügel, ließ der Briefträger
den ganzen Tag seine Hände galoppieren und braute Melodien, zu denen
die Geister aller Komponisten Europas zitiert wurden.

Niemals war mir vorher ein so entsetzlich musikalischer Briefträger
begegnet. Er hatte nur dreimal am Tage, wenn die Dampfschiffe kamen,
Post auszutragen, und diese Botengänge waren nur kurz; da die Gassen
des kleinen Ortes kurz waren und die Leute hier nur wenig mit der
Außenwelt in Verbindung standen, so blieb ihm viel Zeit zum rasenden
Spiel.

Die Frau des Briefträgers war bei der Geburt des letzten Kindes
gestorben, und die zwanzigjährige Tochter mußte die zwölf jüngeren
Geschwister erziehen. Der Vater aber wies, so sagte man, jedem Freier,
der, angelockt von der Madonnenschönheit der Zwanzigjährigen, sich über
die Schwelle wagen wollte, brüsk die Tür.

»Sie hat Pflichten,« rief er jedem mit italienischem Pathos zu,
»Pflichten gegen ihren Vater und ihre zwölf Schwestern, und ich erwürge
den mit meinen zehn Fingern, der es wagen sollte, meine Tochter diesen
ihren Pflichten abspenstig zu machen.«

Er selbst aber schien keine anderen Pflichten für seine Familie zu
fühlen als die, das mutterlose leere Haus mit seinem Klaviergetöse
anzufüllen. Er kam sich gewiß wie ein Ritter der Musik vor. Die adligen
Räume, die er zufällig, mit seiner ganzen Ärmlichkeit, bewohnen mußte,
schienen es ihm angetan zu haben. Die altitalienischen Wappen an den
Decken, die griechischen Götter, die dort auf abendroten Wolken saßen,
grell hingemalt in Perspektiven an den Deckenkalk, so daß der arme
Briefträger kein ruhiges Dach über seinem Schädel hatte, der gemalte
Regenbogen über seinem Kopf, auf dem die neun Musen samt Apollo saßen
und ihre wohlgeformten nackten Beine über den alten Klavierkasten
herunterhängen ließen, -- das alles schien den Mann in Ekstasen zu
versetzen, die ihn fähig machten, stundenlang bei Trillern und Läufen
am Tastenwerk auszuhalten. Dazwischen stieß er gegen seine Kinder
Flüche und Drohungen aus, die von Blut und Mordgedanken trieften.

Ich hörte täglich den Musiklärm und seine fluchende Stimme nah
wie durch eine Papierwand. Im Treppenhaus war eine verriegelte
Verbindungstür zwischen den zwei Haushälften. Diese stand einmal
zufällig offen, und ich hatte einen Augenblick im Vorübergehen den
schrecklich bunten Apollosaal für einige Sekunden bewundern können.

Die Tochter des Musikgespenstes grüßte öfters mit einem leisen Lächeln
im Gesicht zu mir herüber, wenn ich ans Fenster trat, indessen ihr
Vater drinnen fluchte oder musizierte. Dieser Gruß war, als wollte sie
um Vergebung bitten für den unaufhörlichen Lärm, an dem sie sich doch
schuldlos fühlte.

Ich hatte mir den Spaß gemacht und manchmal den Kindern drüben in
Stanniol gewickelte Schokoladestückchen zugeworfen. Nun kannten sie
mich alle und sahen erwartungsvoll nach mir, wie kleine Vögel, die man
vom Fenster aus füttert.

Am letzten Nachmittag war ich der ältesten Tochter begegnet, am
Seeufer, das hart vor dem Garten lag. Sie stand bei den Weibern,
die dort am Wasser knieten und wuschen, und sie hatte einige ihrer
Geschwister um sich und nähte wie immer, -- sie nähte auch, während
sie spazieren ging. Aber mit den Weibern am Ufer Wäsche waschen, das
durfte sie nicht. Das wäre zu erniedrigend gewesen für die Tochter des
wichtigen Staatsbeamten, für den sich der Briefträger hielt.

Bei dieser Begegnung war mir der Gedanke gekommen, das schöne Geschöpf
zu fragen, ob sie nicht in der Mondnacht mit mir eine kleine Kahnfahrt
auf dem See machen wollte. Aber der Wind rauschte in den großen
Silberpappeln am Ufer, und ich hätte laut schreien müssen, um diese
Frage zu stellen, und die waschenden Weiber hätten dann ihre Köpfe
gewendet und große Augen gemacht. Darum unterdrückte ich den Wunsch,
der auch nicht heftig genug war, um sich gegen alle Widerstände
durchzusetzen.

Aber heute abend, wenn Ulrike auf das Scheinwerferboot gehen würde, vom
Zolloffizier eingeladen und vom singenden Studenten und dem die Gitarre
spielenden Drogisten begleitet, dann wollte ich, dem Briefträger zum
Trotz, das schöne Mädchen zu einer Nacht- und Nebelfahrt auffordern.

Während ich noch dieses träumte, erschien unten im Garten Ulrikes
roter Kopf und stand gegen den blauen See wie eine große dunkelrote
Geranienblüte. Sie beschattete mit den immer lebendigen Fingern ihre
Augen, sah zu mir herauf und rief mir zu, sie sei fertig angekleidet,
um mit mir in jenen Weingarten der Italiener zu gehen, wo die Leimruten
für den Vogelfang aufgestellt wären.

Jetzt im Morgen schien mir Ulrike nicht mehr wie der Brennpunkt alles
Lebenden zu sein. Wohl stand sie rotleuchtend im Garten, aber ihr
helles Gesicht und ihre Hände blitzten kühl und blank wie die Seewellen
draußen. Und es fiel mir auf, daß ihre Schönheit, beim starken
Tageslicht besehen, beim frischen Morgenwellenschlag des Sees, unterm
unendlichen silberblauen Morgenhimmel, bei dem die mächtigen Berge
wie alte tausendjährige Propheten saßen, eigentlich nicht mehr Kraft
ausstrahlte als die silberne Flaumfeder einer Seemöwe, die zwischen ihr
und mir jetzt eben in der Gartenluft vorüberschwebte.

Freilich, gestern in der Rembrandtbeleuchtung des nächtlichen Gartens,
wo die Welt rundum schwarz ausgelöscht war, lebte ihr weißes Fleisch
magnetisch im Kreis der Männer. Und heute Abend, das wußte ich, würde
es wieder mit gleicher Kraft seine Anziehung ausstrahlen. Der Tag aber
wollte Gegenwart, lebende Wirklichkeit. Die Nacht nur ist wie von
Vergangenheit ausgefüllt, und alle Dinge wachsen dann in Jahrtausende
zurück, machen eine Rückentwickelung durch, vergrößern sich im Finstern
und nehmen Gestalten der Urzeit an, Gestalten vorsündflutlicher,
ausgestorbener Geschlechter. Es ist, als würden dann in der Finsternis
jene Formen wieder lebendig, von denen wir Menschen nur Ahnungen aus
den Gesteinschichten bekommen, wenn wir die Abdrücke versunkener
Riesengeschlechter, gigantischer Farren und gigantischer Amphibien
finden, -- Gestalten, von denen wir kaum feststellen können, ob sie
dem Luft-, dem Erd- oder dem Wasserreich angehörten.

Von solch ungewissen, grauenhaften Ungeheuern schien mir der Garten
gestern Abend angefüllt gewesen zu sein. Jeder war da im Dunkeln
über sich hinausgewachsen, die Menschen, die Zwerge, die Musik, die
Lampe, der Mispelbaum, die Katzen und die vom Scheinwerfer ruckweise
belichtete Seelandschaft.

Harmlos war das alles jetzt am Morgen, und der Morgen selbst unschuldig
wie ein Ei, das eine Henne ins Stroh fallen ließ, unschuldig wie die
Milch der Kühe, unschuldig klar wie frisches Wasser in einem Glas, und
ich atmete jetzt auf und verbannte im hellen Morgen die Schrecken, die
ich gestern Nacht gefürchtet, leicht von mir, wie man den Rauch einer
Zigarette rasch von sich bläst.

Ulrike und ich hatten nicht weit zu gehen, keine fünf Minuten vom
Gasthaus durch die höckerige Straße, die dort anstieg und sich hinaus
in den Olivenhain verlor. Dort hinter den Mauern, die am Ende der
Häuser noch eine Weile den Weg einengten, lagen alte Weingärten.
Hier und da war eine Pforte oder eine Nische mit einem verstaubten
Madonnenbild in den Mauern; und an den Mauerflächen huschten graublaue
winzige Eidechsen hin. Verschlungene Feigenbäume streckten ihre
Fünffingerblätter aus und ließen schwarzblaue Früchte reifen. Niemand
begegnete uns als spielende Kinder und ein paar meckernde Ziegen, und
weißer wirbelnder Staub flog am Wege hinter uns her.

Auch hier waren am Morgen keine Gespenster mehr am Wege, und als uns
einer der orangutangähnlichen Zwerge einholte, der für uns den Klöppel
am Gartentor anschlug, in das wir eintreten sollten, da sah auch der
arme verwachsene Kerl dürftig und unschädlich aus wie ein humpelnder
Hase, schreckhaft und ängstlich.

Ulrike stellte sich etwas wunderbar Lustiges unter dem Vogelfang vor.
Sie dachte, man fängt die Vögel mit der Hand wie Schmetterlinge von
den Blumen. Und sie dachte, es müßte ein so hübsches Geschäft sein wie
Gärtnerei oder Mandolinenspiel.

Drinnen aber im Weingarten stockte uns beiden der Atem. Mit etwas
bleichen, übernächtigen Gesichtern fanden wir dort den Studenten und
den Drogisten bei ihrer Henkerarbeit.

Am Ende des Gartens, der zum See abfiel, lag eine Wiese, und dort
in einem Mauerwinkel, auf einer breiten Böschung, saß der Student,
nur mit Hose und Hemd bekleidet wie ein Cowboy. Die Andacht und
der Schmelz, mit dem er gestern Abend gesungen, waren aus seinem
Gesicht wie fortgeblasen. Er war nur voll Eifer beim mörderischen
Vogelfang, durchdrungen vom Ernst eines Sachkenners. Man durfte nicht
laut sprechen, man durfte nicht laut auftreten. Man mußte wie bei
Wegelagerern im Hinterhalt lauern.

Zwischen den nächsten Büschen waren lange, dünne Ruten gesteckt. Die
waren mit klebrigem Leim bestrichen, der nicht trocknete.

In seinem Mauerwinkel lugte der Student durch eine Art Schießscharte
nach seinen Ruten und pfiff ab und zu auf einer kleinen silbernen
Vogelpfeife. Die gab einen leisen zwitschernden Laut. Der Lockruf wurde
manchesmal von einem Baum oder aus den Büschen beantwortet.

An einigen Rutenspitzen waren auch ein paar winzige Vögelchen
angebunden. Die flatterten und versuchten vergeblich, sich loszumachen.
Die in der Luft vorüberziehenden Vögel glaubten, von jenen käme das
Gezwitscher, und ab und zu kam ein Vöglein vom nächsten Baum oder aus
der Luft herbei und setzte sich auf eine der Leimruten, um zu erfragen,
warum die Flatternden nicht fortfliegen wollten, und warum sie riefen.

Bald aber mußte der Neugierige dann seine Freiheit lassen. Sein
Brustflaum klebte an der Rute fest, ebenso seine feinen Krallen.
Allmählich hafteten auch seine Flügel, mit denen er um sich schlug, an
dem Klebstoff der Rute. Und wie eine Fliege im Sirup, so quälte sich
der kleine Vogel vergebens loszukommen. Andere flogen dann auf das
jammernde Gepieps der Kameraden herbei. Auch sie blieben haften. Und
die Ruten schaukelten unter dem Gezappel der jämmerlich verstörten und
zu Tode geängstigten Tierchen heftig in der Luft hin und her. Und immer
neue kamen neugierig und hilfsbereit und umflatterten mitleidig die
piepsenden Gefangenen, die sich trotz aller Anstrengung nicht von den
Leimruten befreien konnten.

Das gestern so andächtige Auge des schmächtigen Studenten glitzerte
jetzt wie ein Wieselauge, und auch sein Rücken bewegte sich unruhig und
lauernd, wenn er durch die Mauerscharte spähte. Ab und zu flüsterte er
uns die sich steigernde Zahl der an den Leimruten zappelnden Opfer zu.

»Vier, sieben, zehn, hui, -- vierzehn!« stieß er begierig hervor.
Dann sprang er plötzlich aus seinem Versteck, war mit drei, vier
Sätzen bei den Ruten, griff mit langen Armen und großen Händen in
die Luft über die Büsche und pflückte die Vögel von den Ruten ab. Er
stopfte die Vögel in seine Tasche, wo sie, vom Leim besudelt, alle
aneinanderklebten und bald nur noch ermattet zuckten. Dann stellte der
junge Mann schleunigst mit frischem Leim angestrichene Ruten in die
Büsche. Es geschah geschäftig und blitzartig, als wäre jede Minute
seiner Handlung kostbar für die Weltgeschichte.

Nachdem er wieder zu uns in das Versteck zurückgekehrt war, holte
er Stück um Stück der Vögel aus seiner Tasche und zerdrückte jedem
zappelnden Tierchen zwischen seinem Daumen und dem Zeigefinger das
Köpfchen. Dann warf er den blutenden Vogelbalg zu dem Beutehaufen
ins Gras, wo bereits dreißig bis fünfzig Stück, die er in diesen
Morgenstunden gefangen, als tote Klumpen beieinander lagen.

Ulrike wurde blaß und wendete sich ab. Aber der Student grinste und
sagte achselzuckend: »Das ist Jagd.« Aber es war mir, wie er grinste,
als wäre sein Gesicht schwarz wie das eines menschenfressenden Negers
geworden. Schwarz vor Schuld, Scham und Verlegenheit, -- so sah ich ihn
für einen Augenblick vor meinem inneren Auge.

Über unseren Köpfen waren hier bei der Mauer Stangen auf
Backsteinpfeiler gelegt. Sie trugen ein Rebengewirr, durch dessen Laub
die Sonne grün leuchtete. Und große Trauben, goldgelbe und dunkelblaue,
hingen darin zum Greifen nah.

Trotzdem der italienische Student die Verstimmung deutlich merkte, die
sein grauenhafter Jagdsport in unseren deutschen Gemütern anrichtete,
bewahrte er seine südlich lässige Höflichkeit und lud uns ein, von
den Trauben zu pflücken. Und der Zwerg, der dabei stand, kletterte
behend an einem Pfeiler hoch und riß ein paar Trauben ab, die er uns
hinreichte.

Mir aber saß noch das Herz im Hals von der Vogelmetzelei, die ich hier
gesehen hatte, hier im harmlosen blauen Morgen, den die Wiesenblumen
und das Vogelgezirp schmücken sollten, und wo man unter den laubigen
Traubengängen keine Verräter und Mörder der Morgenunschuld vermuten
konnte.

Ich mochte keine Traube anrühren, und auch Ulrike legte die ihr
zugereichte Traube, ganz beklommen dankend, neben sich ins Gras.

Sie sagte mir leise, sie wolle gehen. Der Student verstand es und
sagte, er wolle uns noch in den Weingarten führen, wo sein Freund viele
Netze aufgespannt hätte und die Vögel in einer anderen Weise einfinge
als er.

Im Garten droben nahm uns dann der Drogist in Empfang. Er führte uns
durch die dichten Laubengänge, in denen hohe Rebenstöcke standen, die
an Drähten ausgebreitet wuchsen und hohe Korridore bildeten. In diesen
Gängen, an den Traubenwänden entlang, waren große haardünne Netze
aufgespannt. In ihnen verfingen sich die kleinen Vögel im Durchfliegen.
Sie zappelten hier in den Maschen wie die anderen vorhin an den
Leimruten. Aber das Erschütterndste hier waren nicht die Netze, es war
nicht die Fangart, sondern die Lockweise. Es waren da eine Reihe Käfige
an der Wand. In denen hielt sich der Drogist geblendete Nachtigallen.
Den Nachtigallen, die er gefangen hatte, hatte er die Augen
ausgestochen, damit sie in ewiger Finsternis besser singen sollten.
Die armen Tiere waren also doppelt gefangen, doppelt geängstigt, und
ihre Klagen wurden doppelt schmelzend, doppelt sehnsüchtig.

»Das haben Sie getan?« fragte Ulrike unbefangen, aber zugleich blieb
sie wie erstarrt vor einer blinden Nachtigall stehen. Sie konnte es
noch gar nicht begreifen, daß es schändliche Wirklichkeit war, was
sie sah. Und der Drogist grinste. Aber er hatte eine seltsame Art,
über die Köpfe der Menschen fortzusprechen. Was er nicht hören wollte,
übersprach er. Nur sein Blut, das ihm leicht zu Kopf stieg, zeigte, daß
er gehört hatte.

Auch mir grauste es jetzt vor diesem Garten, der da am See hinter
hohen Mauern eingeschlossen wie eine große Mördergrube lag. Von außen
hätte man der harmlosen Mauer nicht ansehen können, daß dahinter die
freiesten Geschöpfe der Erde, die kleinen, dem Menschenherzen so
wohlgefälligen Nachtigallen und andere Singvögel, lebenslängliche
Folterqualen und Tausende von ihnen einen gräßlichen Tod erleiden
mußten.

Also dieses war das Grauen, dachte ich, als ich mit Ulrike den Garten
verlassen hatte, das ich durch die Mauern gefühlt habe, als ich am
ersten Abend durch den kleinen, brütend schwülen Ort hinaus zu den
grimassenschneidenden Olivenhainen am Bergabhang gewandert war.

»Ich will keine Musik mehr von diesen beiden hören und kein Lied«,
sagte Ulrike ganz erschüttert. »Pfui! Wenn ich das gestern abend gewußt
hätte, daß die beiden solche Scheusale sind!«

»Sie werden aber heute abend doch mit den jungen Leuten auf das
Scheinwerferboot gehen und über den See kreuzen, wozu Sie gestern abend
der Offizier eingeladen hat.«

»Nein, nein,« rief sie heftig. »Ich habe den beiden eben gesagt,
sie sollten lieber elende Schmuggler werden. Denn besser als die
Vogeltöterei ist dann doch das Schmuggeln. Sie haben natürlich
verstanden, daß ich sie nicht mehr sehen will, und wurden beide blaß
und rot.«

Im Gasthaus mußte ich ein kräftiges Glas Wein trinken, um die Übelkeit
herunterzuspülen und das Grauen, das mich befiel, wenn ich an die
Vogelfänger zurückdachte.

Ulrike, in ihrer lebhaften Art, sagte, sie hätte am liebsten beiden die
Augen eigenhändig ausgestochen und die Frevler lebenslänglich mit den
Leimruten gepeitscht.

Der Tag wurde dann sehr heiß. Die Russin, Ulrike und ich saßen im
Garten umher oder im kühlen Speisesaal, lesend oder schreibend. Nach
dem Mittagessen war die Glut aufs höchste gestiegen, und der See
draußen leuchtete mit seinen Lichtflammen brennend in die Zimmer
herein. Nirgends war Schutz vor der Hitze.

Die Damen hatten sich zum Schlafen zurückgezogen. Ich lag in einer
Hängematte unter dem Mispelbaum, und mir schwand bald das Bewußtsein,
aber Schlaf war es nicht, denn ich wachte und erlebte Seltsames dabei.

Die Hitze betäubte meinen Verstand, aber meine Augen und Ohren wurden
unendlich wach und hatten ein Gesicht, das kein Traum war.

Ich schaute durch den Laubengang hindurch hinaus auf die
lichtüberrieselte Seefläche, und dort sah ich ein Tier aufsteigen. Das
hatte den Kopf einer Eidechse, den Hals einer Giraffe, den Bauch einer
watschelnden Ente und den langen Schweif eines Krokodils.

Mitten im See hob es sich, grüngrau, wie aus tausendjährigem Schlamm
geboren. Seine Haut hatte menschenkopfgroße Warzen.

Das Tier nickte mit seinem langen Hals wie ein Vogel Strauß. Das
glitzernde Wasser rieselte in Bächlein an ihm nieder, und Büschel von
großen Seepflanzen wuchsen dem Tier auf dem Rücken. Es sah aus, als
habe es jahrhundertelang in der Seetiefe geschlafen und richtete sich
jetzt auf, um Umschau zu halten, ehe es weiterschlief.

Ich erinnerte mich, ich hatte dieses Tier in einer lebensgroßen
Nachahmung aus Stein im Zoologischen Garten in Berlin, an der
Freitreppe zum Aquariumhaus gesehen, und wußte auch, daß auf einer
Tafel darunter »Iguanodon« stand, und »seit zwanzig Millionen Jahren
auf der Erde ausgestorben«. Es war eines jener vorsündflutlichen Tiere,
an die ich gestern abend gedacht hatte, als Ulrike den Garten verhexte
mit ihrer über alle menschlichen Begriffe starken Anziehungskraft, die
die Zwerge, die Katzen und alle Männer entzündete. Vor meinem inneren
Blick war Ulrike da in ein Fabelwesen verwandelt worden, für das man
keine gewohnten Maßstäbe findet. Und nun sah ich am hellen, heißen
Nachmittag ein Iguanodon seinen zwanzig Millionen Jahre langen Schlaf
unterbrechen und mitten im See aufsteigen und Rundschau nach den Ufern
halten, als wollte sich die langhalsige Gestalt mit einem ebenbürtigen
Feinde messen, der es heraufgerufen und zum Zweikampf herausgefordert
hätte.

Und seltsam, -- ich erkannte plötzlich die Berge, die sonst Erde und
Stein waren, auf dem anderen Seeufer und über meinen Häuptern und
hinter den Hausdächern des am Berg hinaufkletternden Ortes nicht
mehr. Diese einzelnen Berge schienen die Stümpfe von Urweltbäumen zu
sein, deren jeder ein paar Meilen im Durchmesser maß. Und gegen diese
riesigen Baumstümpfe wirkte das haushohe Iguanodon wie eine winzige
Ameise. Die vorsündflutliche Welt, in der der Mensch weniger als ein
Infusionstierchen in einem Tropfen Wasser war, erschreckte mich nicht;
sie stand schrecklich schön im Sonnenschein vor mir. Und auch als das
Iguanodon eine pfeilartige weiße Zunge, wie eine lange dünne Röhre,
ausstreckte, die es langsam anwachsen ließ, erschrak ich noch nicht.
Erst als die Zunge wie ein dünner Sauger die Ufer, die Berge und
endlich die einzelnen Häuserflächen, die nach dem Wasser sahen, von der
Mitte des Sees aus abtastete, da packte mich ein panischer Schrecken.
Denn der weiße Strahl der Zunge zog sich, wenn er ein Haus berührt
hatte, wie ein langer Schneckenfühler wieder zu dem Tier zurück.

Mit einem Male hörte ich Geschrei, ein Angstgezirp, ähnlich dem, das
die zappelnden Vögel an den Leimruten im Morgen gezirpt hatten. Ich sah
mit Entsetzen, daß die Zunge des vorsündflutlichen Tieres jedesmal,
wenn sie ein Haus berührte, ein Fenster oder einen Laden eindrückte und
sich einen Menschen aus den Zimmern holte, und der Geraubte verschwand
angeklebt mit der eingezogenen Zunge im Schnabelrachen des Tieres.

Das Iguanodon, das ich hier sah, war wohl zwanzigmal größer als die
Abbildung, die ich einmal in Stein, von einem Bildhauer gearbeitet, in
Berlin gesehen hatte. Den Menschen, den die Riesenbestie verschluckte,
sah man im langen dünnen Tierhals nicht hinabgleiten, denn der
Hautbehang des Halses schien fest und dick zu sein wie Panzerplatten.

Mein Grauen wuchs. Jetzt stürzten unter der Gartentür vom See her
in den Garten herein die Weiber, die am Ufer gewaschen hatten, und
viel Volk ihnen nach, das vor der Zunge des Tieres flüchtete. Ich
fühlte aber, daß ich mich mit den Fußspitzen und meinen Armen in dem
Maschennetz der Hängematte verwickelt hatte, so daß ich mich nicht
zur Flucht aufrichten konnte. Nur meinen Kopf konnte ich hin und her
bewegen.

Ich sah, wie auf den Lärm im Garten der Wirt, die russische Generalin,
das heute morgen angekommene Ehepaar und die zwei Fischerknaben,
letztere mit den Chenilleaffen und der Drehorgel bepackt, aus dem Hause
kamen und nach der Kellertür strömten, die der Wirt öffnete, und wohin
alles, was im Garten war, dem Wirt nachdrängte, der dann, als alle in
den Keller geflohen waren, behutsam die Kellertür von innen schloß. Ich
hörte, wie der Wirt zuriegelte, und wie die Leute drinnen erst alle
durcheinanderschwatzten, und wie es dann atemlos still wurde und sie
alle zu horchen schienen. Jetzt war die Zunge des Tieres, glänzend weiß
wie der Lichtstrahl eines Scheinwerfers und pfeifend über die Krone des
Baumes, unter dem ich in der Hängematte gefesselt lag, auf das Gasthaus
zugeschossen und hatte die Glastür im Speisesaal eingedrückt, deren
Scherben laut klingend auf den steingepflasterten Fußboden fielen.

Alle Leute im Keller waren in Sicherheit. Auch die Tochter des
Briefträgers war vorhin mit den Menschen dort hinuntergeflüchtet, und
ich staunte nachträglich noch, wie furchtlos sie eigentlich gewesen
war. Das junge Ding schien nur vom Strom der Flüchtlinge mitgerissen
worden zu sein. Denn sie nähte, während sie in den Keller stieg, ruhig
an ihrer Arbeit weiter.

Nur Ulrike hatte ich nicht aus dem Haus fliehen sehen. Aber ich wußte
doch, daß sie in ihrem Zimmer oben war und Siesta hielt. Plötzlich zog
sich die Tierzunge, die dünne, tastende und saugende Zungenspitze des
Iguanodons, vom Hause zurück und schnellte wie eine zurückgeworfene
Leimrute hoch in die Luft, gleichsam, als sei das vorsündflutliche Tier
draußen im See tief erschreckt worden.

Mich schüttelten Frost und Kälte. Wie leicht konnte die Zunge jetzt
pfeilschnell durch das Geäst des Baumes wieder zurückschießen und mich
aus der Hängematte ziehen!

Da aber hörte ich, daß sich ein Fenster im Zimmer Ulrikes öffnete,
und ich wollte dem schönen Mädchen zurufen, sie solle fliehen und
sich verbergen, als ich sah, wie ein eben solcher Tierkopf, nur viel
kleiner als der des Ungeheuers auf dem See draußen, sich aus dem
Fenster reckte. Sein Hals wuchs und stand wie eine lange ungeheure
Fahnenstange aus der Fensteröffnung. Seine Zunge schoß aus dem Rachen
und züngelte lebhaft. Aber statt der Warzen hatte dieses neue Tier
rote lockige Haarbüschel an seinem Giraffenhals, Haare, so rot wie
Ulrikes Haar. Zugleich aber sah ich, daß die Zunge, die dieses Tier
ausstreckte, keine lange Saugröhre war, sondern daß elektrische
Flammen, elektrische Strahlenbündel, die viel schneller und viel
gewaltiger waren als die Zunge des anderen Tieres, weit auf den See
hinaussprühten und furchtbare Schläge ins Wasser austeilten. Und wo
dieses Tieres Elektrizität hinschlug, schien der See bis in die Tiefe
zu kochen.

Das Iguanodon draußen in der Seemitte hatte seine Zunge eingezogen,
legte seinen Hals flach wie einen schwimmenden Baumstamm aufs
Wasser, und es schien mir, als überlege es, ob es den Kampf mit der
Nebenbuhlerin am Ufer aufnehmen, oder ob es wieder versinken sollte in
sein jahrtausendealtes Wassergrab.

Plötzlich aber dröhnte die Erde. Der Baum, an dem meine Hängematte
hing, zitterte und schüttelte sich, als wenn ihn ein Schauder
durchführe. Zwischen den hohen vorweltlichen Baumstümpfen, die die
Höhe des Monte Alto hatten, flog eine Herde blutfarbener Drachen auf.
Die hatten mächtige Fledermausflügel aus roten Häuten. Der Himmel
verfinsterte sich blutrot. Und die Drachen zeigten gelbe Bäuche und
grünliche Brüste, hinter denen ich einen dunkelblauen Herzwulst pochen
sah.

Im See aber tauchte lautlos das Iguanodon unter. Auch das Tier im Hause
hörte auf, Blitze zu werfen, und zog seinen langen Hals in das Fenster
zurück und verschwand. Die roten Drachen aber füllten die ganze Luft
und wurden zu Millionen Drachen.

Ich sah eine Weile noch den Sonnenschein, der die vielen ausgespannten
Drachenflügel rot durchleuchtete. Und von dieser Röte wurde auch der
Baumstamm, unter dem ich lag, rot beschienen und ebenso Äste und
Blätter. Der rote Stamm sah wie die blutige Gurgelröhre aus, die man
einem mächtigen Tier ausgenommen hat. Und der Baum begann zu sprechen,
und seine Äste begannen sich im Wind zu ballen wie Fäuste, und sie
wuchsen und schlugen an die verschlossene Kellertüre, dahinter sich die
Menschen des Hauses geflüchtet hatten. Und der Baum schrie zuletzt
auf, und ich verstand jedes Wort, und mich schauderte, als er mich in
der Hängematte hin und her schleuderte. Des Baumes Stimme aber rief:

»So lange ihr Menschengezücht euch höher dünkt und gewaltiger als das
Höhenreich und das Unterreich, so lange sollt ihr keinen Frieden haben,
da ihr keinen Frieden geben wollt. Ihr sollt nicht sicher sein in euren
Häusern, nicht sicher in euren Betten, nicht sicher unter uns Bäumen.
Wir werden immer wieder zu euch hereinbrechen, wir aus dem Unterreich
und aus dem Höhenreich, deren Leben ihr erloschen glaubt. Und ihr
werdet kämpfen müssen, so lange ihr Kampf wollt. Die roten Drachen, sie
werden über euch geschickt, sie werden euch immer wieder besiegen, auch
wenn eure Kämpfer elektrisches Feuer speien. Die roten Drachen, die aus
dem Urblut aufstiegen, aus dem auch ihr gezeugt wurdet, sie sind es,
die euch züchtigen sollen.«

Nachdem der Baum also dröhnend gesprochen hatte, wurde es still. Die
rote Dunkelheit, die die Landschaft und alles um mich entrückt hatte,
wich allmählich, und es wurde hell wie vorher. Der erhitzte Garten im
Nachmittagslicht, voll blühender roter Nelken und roter Geranien,
lag am See, trocken und scharf beleuchtet. Niemand sprach. Nichts
Ungewöhnliches war zu sehen. Im Hause schien noch alles zu schlafen.
Gerade vor mir an der Gartenmauer reckten sich einige blaugrüne,
tierähnliche Kakteenstauden. Auf den fleischigen, gepanzerten Pflanzen
sonnten sich grünschillernde Fliegen, und neben ihnen züngelte eine
kleine Eidechse.

Meine Füße waren ein wenig in der Hängematte verwickelt. Ich konnte
aber doch leicht aufstehen, ging zum Tisch und setzte mich in einen
Strohsessel im Schatten des Hauses und dachte über das sonderbare
vorsündflutliche Gesicht nach, das ich zwischen Wachen und Träumen eben
erlebt hatte.

Später kamen die Damen zur Kaffeestunde aus ihren Zimmern in den
Garten, und wie wir da zusammen unter dem Mispelbaum saßen, wollte ich
ihnen mein Traumgesicht beschreiben. Aber als ich den Mund zum Sprechen
öffnen wollte, tauchten mir ganz andere Bilder auf. Ein innerer Wille
zwang mich, ganz andere Worte zu sprechen als die, die ich hätte sagen
wollen. Es war von jenem Gesicht her eine unerklärliche Angst in mir
geblieben, die mir ergab, daß ich neuen Schrecken, der sich hier
entwickeln konnte, dadurch im voraus Einhalt tun könnte, daß ich die
Zukunft den Damen so schilderte, als wäre sie bereits Ereignis gewesen.

Und ich erzählte:

»Vorhin war es Nacht hier im Garten und draußen auf dem See. Die Lampe
unterm Mispelbaum brannte, und auf Ihrem Stuhl hier saßen Sie, gnädige
Frau« -- und ich verneigte mich leicht gegen die russische Dame.
»Zu Ihren Füßen lagerten alle Katzen des Hauses, graue und schwarze
nebeneinander, scheinbar schlafend, aber eigentlich mit Ihnen in die
Dunkelheit horchend. Um den Tisch herum saßen alle Zwerge des Ortes.
Der eine Zwerg hatte eine Kappe voll Birnen vor sich liegen, der andere
Zwerg seine Kappe voll Trauben, der dritte seine Kappe voll getöteter
Singvögel. Die anderen Zwerge, die neben Ihnen saßen, hatten leere
Kappen, aber sie warteten, so schien es mir, jeder einen unbewachten
Augenblick ab, um aus den drei gefüllten Kappen etwas zu stehlen.
Aber die drei Zwerge mit den gefüllten Kappen horchten mit Ihnen
und den Katzen gegen den See hin, wo eben nach dem Abendläuten das
Scheinwerferboot tutete, das dann das kleine Hafenbassin von Limone
verließ und seine Nachtwache an dem Ufer entlang antrat.«

Die um den Tisch Sitzenden mußten angestrengt horchen, da tief im
Hause, in einem der letzten Zimmer, der Drehorgelkasten gespielt wurde.
Der am Morgen angekommene alte Herr spielte das kreischende Instrument,
während seine Frau mit den beiden Fischerbuben schlurchend über den
Steinboden tanzte.

»Ich selbst befand mich auf dem See in einem Nachen und ruderte. Am
Ende des Bootes saß die schöne Tochter des Briefträgers. Sie hatte den
neuen Vollmond vor sich auf dem Schoß liegen wie ein Stück Weißzeug.
Der Mond war entzweigerissen, und sie nähte mit einer großen goldenen
Nadel seine Risse zusammen.

Alles Unnatürliche in meinem Traum war so selbstverständlich, wie wir
jetzt hiersitzen und Kaffee trinken. Ich konnte überall zu gleicher
Zeit sein, im Garten, im Haus, im Kahn und auf dem Scheinwerferboot«,
erzählte ich weiter.

»Auf dem Zollboot, das wie ein langer schmaler Walfisch aus Eisen,
nur wenig erhöht, über die Wasserfläche hinschoß, sah ich, umgeben
von Zolloffizieren und Matrosen, Ulrike stehen. Es unterhielt sie
besonders, einem Manne zuzusehen, der den Scheinwerfer handhabte.
Vom Boot war über dem Wasser nichts zu sehen als nur ein kleiner
Schornstein, der Lichtapparat des Scheinwerfers und ein dünnes
Eisengeländer, das um das längliche Verdeck lief. In der Form einer
Zigarre, und einem Wasserkäfer ähnlich, eilte das Boot auf der
Seefläche hin und kreuzte pfeilartig von Ufer zu Ufer. Die Offiziere
rauchten Zigaretten und freuten sich über Ulrike und über ihr
rotleuchtendes Haar, das in der Nacht noch stark mit seiner Feuerfarbe
lockte.

Plötzlich kam Bewegung unter die Matrosen. Ein Offizier neben dem
Scheinwerfermann gab leise Befehle, und alle andern Offiziere drängten
sich zu ihm heran, und jeder sah durch ein neben dem Scheinwerfer
angebrachtes Fernrohr eifrig und lebhaft erregt hinauf ans Ufer.

Man hatte Schmuggler entdeckt. Ich aber wußte, da ich auch zugleich
oben auf dem Berg sein konnte, daß die vom Fernrohr entdeckten
Gestalten im weißen Lichtstrahl des Scheinwerfers dort oben
keine Schmuggler waren, sondern der Student und der Drogist, die
der Aufforderung Ulrikes nachgekommen waren und die Schmuggler
spielten, nur um die Abendfahrt für Ulrike auf dem Scheinwerferboot
unterhaltender zu machen.

Die Offiziere aber sagten Ulrike nicht, daß sie Schmuggler entdeckt
hätten. Einer bot ihr den Arm und führte sie auf den Wink der andern
in die Kajüte, wo er ihr einen Spiegel zeigte, in welchem man nicht
sich, sondern sein vorsündflutliches Urbild sehen konnte. Ulrike lachte
herzlich, als sie sich in dem Spiegelglas als eine Art Iguanodon
erkannte.

Im selben Augenblick hörte Ulrike ein Tuten, und es wurden Befehle
durch ein Sprachrohr an die Bergwand hinauf zu den Schmugglern gerufen:
›Stillgestanden! Oder wir geben Feuer!‹

Ulrike wandte sich vom Spiegel ab und zeigte dem Offizier ihr schönes
Mädchengesicht und sagte:

›Ihr werdet doch nicht auf den Studenten und auf den Drogisten
schießen, die nur zum Spaß die Schmuggler machen?‹

Im selben Augenblick krachten aber fünf Schüsse knapp hintereinander
aus einem Maschinengewehr, das am Kiel des Bootes angeschraubt war.
Vom Berg hörte man ein Niederrasseln von Steinen. Nach ein paar
Augenblicken rauschte das Seewasser vom Fall zweier Körper schäumend
auf.

›Ihr habt zwei Menschen getötet,‹ schrie Ulrike.

Die Schüsse aber in der Nacht wurden zu hundert Echos in den Bergen.
Und in den Häusern von Limone erhellten sich viele Fenster. Viele Leute
kamen aufgestört mit Lichtern und Laternen an den Strand, und viele
Frauen warfen sich am Wasser händeringend auf den Boden und riefen:
›Man hat uns unsere Männer getötet!‹ Denn diese waren Schmuggler und
befanden sich in dieser Nacht auf den Paßwegen mit Waren beladen, die
sie im Finstern über die Grenze schleppen sollten.

Zugleich rannte der Briefträger kreischend am Ufer entlang und schrie:
›Meine Tochter ist verschwunden! Mit diesen meinen Händen werde ich den
erwürgen, der sie entführt hat.‹

In der allgemeinen Aufregung gellte noch die Stimme Annunziatas, des
Dienstmädchens im Gasthause. Die rief einem alten Herrn, der sie
schüttelte, ins Gesicht:

›Jawohl, ich habe dem Mann die Frau vergiftet, weil sie immer mit
meinem Geliebten tanzt und nicht genug an einem Mann und einem
Geliebten hat, sondern einen Mann und zwei Geliebte haben will.‹

Der Wirt des Gasthauses aber verwandelte sich in einen Esel, stand an
einer Straßenecke auf vier gespreizten Beinen und wehklagte in die
Nacht.

Im Garten starrte die Generalin, die bei den Katzen und den Zwergen
saß, wie entgeistert nach der Haustüre des Gasthofes, wo der alte Mann
herauswankte, der den Drehorgelkasten gespielt hatte, und dessen Frau
tot war. In ihm erkannte die Generalin plötzlich ihren vor Jahren
ins Meer gestürzten Gemahl, dem damals im Schreck, als sein Sohn
ertrank, das Erinnerungsvermögen geschwunden war, der sich aus dem
Meer gerettet hatte, aber nicht mehr wußte, wer er war, und der damals
nach Deutschland gereist war, eine künstliche Blumenfabrik gekauft und
wieder geheiratet hatte.

Jetzt stürzte dieser Mann wie die andern nach dem Strand, wo ein
allgemeines Geschrei und Gerufe durch die Nacht hallte.

Die Generalin erlitt vom Erkennungsschreck einen Schlaganfall. Sie sank
einseitig gelähmt vom Stuhl. Die Katzen im Garten flohen alle in den
offenen Keller, und auch die Zwerge erschraken und liefen hinter den
Katzen in das Kellerversteck. Dort balgten sie sich um die Birnen, die
Trauben und die toten Vögel.

Birnen und Trauben schmatzend und tote Vögel zerkauend, kamen die
Zwerge nach einer Weile aus dem Keller vorsichtig hervorgekrochen. Sie
zupften die umgefallene Generalin am Ohr und an der Nase und schleiften
sie, mutig geworden, weil sie sich nicht rührte, am Mantel und an den
Schalzipfeln den Garten hinunter an den See, wo sie sie unter Gekicher
von der Landungsbrücke ins Wasser stießen.

Die Tochter des Briefträgers im Kahn hatte die Risse im Mond
zusammengenäht und gab die Mondscheibe frei, die aus ihrem Schoß fort
an den Himmel hinaufschwebte, wo sie im Zenit stehen blieb, und wo sie
nun die Seelandschaft mit ihrem Licht wieder verklärend beleuchtete.
Das Mädchen selbst aber sprang aus dem Boot, nachdem sie zu mir noch
gesagt hatte: ›Mein Vater ruft mich. Er darf mich nicht bei Ihnen
finden. Dann sind Sie des Todes.‹ Dann war sie leicht über das Wasser
fortgelaufen, als wäre der See eine Glasplatte, und sie kam heil an das
Ufer, wo sie ihrem Hause zueilte.

Ich aber wollte nicht mehr nach Limone zurück. Ich hatte genug von
dem abenteuerlichen Aufenthalt und wollte noch in der Nacht nach
Torbole rudern. Da glitt das Scheinwerferschiff an mir vorbei, und mit
dem verzweifelten Schrei: ›Nehmen Sie mich auf!‹ sprang Ulrike vom
Boot herunter zu mir in den Kahn. Dann ruderte ich aus Leibeskräften
und schloß die Augen und ruderte, nur von dem Gedanken der Flucht
angetrieben.

Ulrike aber hing mir an meinem Halse während ich ruderte, und die junge
Dame flehte mich an, sie zu ihrem Bräutigam nach Freiburg zu rudern, da
sie gewiß nie mehr einen anderen Mann ansehen wollte als ihn und kein
Unglück mehr suchen wollte, sondern das Glück der Ehe, soweit das einem
Iguanodon möglich sei.«

Also hatte ich gefabelt.

Ulrike, die längst ein Taschentuch vor den Mund gehalten und öfters
während meiner Erzählung wiehernd aufgelacht hatte, stöhnte jetzt:

»Uff, uff, Sie haben recht. Ich werde heute noch nach Freiburg
abreisen, um nicht all das Unglück anzustiften, das Sie mit solcher
Wollust auf den Kaffeetisch malen. Es ist nur so schade, daß ich
allein reisen soll, und daß ich Sie beide in dem stimmungsvollen
Weltwinkel hier zurücklassen soll, während ich vor meiner
Iguanodonseele fliehen muß.«

»Daß Sie mich aber auf so schreckliche Weise umbringen lassen! Ich
soll im Wasser umkommen, nachdem ich meinen ertrunken geglaubten Mann
wiedergesehen habe! Was habe ich Ihnen getan, daß Sie mir ein so
fürchterliches Schicksal ausdenken?« rief die Generalin, ihr Unglück
genießend, aus.

»Sie haben nichts getan, als daß Sie sich immer in Ihrem Innersten
dramatische Schicksale gewünscht haben. Sie dramatisieren mit Ihrer
Sehnsucht zum Unglück Ihr eigenes Schicksal, da Sie Angst haben, daß es
sich sonst friedlich wie ein Idyll entwickeln könnte,« antwortete ich
ihr.

»O, Sie haben eine sonderbare Art,« sagte die Russin, »einem
Aufklärungen über sich selbst beizubringen. Sie nehmen einem Unglücke
vorweg, die man das Recht hatte, zu erwarten,« fügte sie beinahe
schmollend hinzu.

»Ich habe nichts anderes hier erwartet,« rief Ulrike jetzt, gleichfalls
schmollend. »Sie glauben, daß wir alle an Sonnenstichen leiden,
und Sie legen uns eine Eiskompresse aufs Herz. Dafür bin ich Ihnen
eigentlich doch dankbar. Sie leuchten wie ein Scheinwerfer in uns
hinein und erzählen uns dann Märchen, die Sie in uns gesehen haben, wie
ein Großpapa seinen Enkeln Gruseln macht. Und recht belehrende Märchen
sind das, das muß ich sagen.«

Die Russin ereiferte sich aber und meinte:

»Jedenfalls ist die Gewitterstimmung hier zerstört. Ich bin dagegen,
daß man die Menschen von ihren Handlungen, die sie tun müßten,
durch solch haarsträubenden Anschauungsunterricht vom blinden
Leidenschaftsweg abschreckt. Jetzt wird Ulrike sicherlich nicht heute
Abend mit dem Offizier auf das Scheinwerferboot gehen wollen. Der
Student und der Drogist sind durch Tod abgeschafft. Ich finde, der
Erzähler solcher Märchen müßte jetzt wenigstens neue Menschen und neue
Ereignisse herbeischaffen. Denn damit, daß eine erzählte Geschichte aus
ist, ist doch nicht das Leben der Zuhörer aus. Wir leben weiter und
wollen erleben.«

»Hier kommt schon neues Leben,« rief Ulrike.

Mit dem Wirt traten zum Gartentor zwei fremde Herren in den Garten
herein. Sie trugen kleine Handtaschen, und der Wirt stellte uns die
Herren im Vorübergehen als zwei italienische Ärzte vor, die für einige
Wochen hier bleiben sollten, und die soeben erst mit dem Dampfschiff
angekommen wären.

Wir hörten nur noch, wie die Herren zum Wirt sagten, sie wollten nur
rasch ihre Hände waschen, und dann die Wiese aufsuchen und den Platz
bezeichnen, wo die Krankenzelte aufgeschlagen werden sollten.

»Ja, ist denn eine Epidemie ausgebrochen?« rief die Generalin, mit
ihrem einen Auge belustigt zwinkernd, und richtete sich aufgeräumt aus
ihren Schals und Mänteln empor.

Die Herren waren aber schon mit dem Wirt ins Haus getreten und hatten
beim Geräusch der Schritte die Frage überhört.

Wir sahen einander verwundert an. Ich erinnerte mich, in der Zeitung
gelesen zu haben, daß in Venedig Cholerafälle vorgekommen seien. Aber
ich verschwieg es, um die Damen nicht zu erschrecken.

Jetzt kam Annunziata, das Dienstmädchen. Sie hatte am Gartentor dem
Briefträger die Post abgenommen und brachte uns Zeitungen und Briefe.
Dabei sagte sie geheimnisvoll:

»Die Dame, die heute morgen angekommen ist, ist sehr krank. Der Wirt
hat gesagt, die Krankheit könne Cholera sein.«

»Da haben wir es, das Unglück,« rief die Russin begeistert aus. »Ich
packe sofort meine Koffer.«

Ulrike und ich lachten, und Ulrike sagte:

»Jetzt bekomme ich es, wie ich es gewollt habe. Jetzt werden alle
mit mir abreisen. Wie froh ich bin, daß sich doch etwas Allgemeines
ereignet, und daß meine Abreise nicht allein das Tagesereignis sein
muß.«

Ich hatte inzwischen rasch die neue Zeitung aufgeschlagen und las,
daß verschiedene Cholerafälle in Venedig und auch am Gardasee
gemeldet waren. Ich schlug dann den Damen vor, zusammen noch einen
letzten Abschiedsspaziergang nach den Wiesen zu machen, was die
Damen auch gerne taten. Draußen vor dem Ort, in der Nähe eines alten
Pestfriedhofes, der jetzt wie ein harmloser Rosengarten zwischen
prächtig düsteren Zypressen lag, trafen wir die beiden Ärzte, die
den Arbeitern zusahen, welche dort ein großes vitriolgrünes Zelt
errichteten.

Bei der Farbe des Zeltes mußte ich an das Haus des vorsündflutlichen
Tieres denken, das sich in meinem Traum aus dem See gereckt hatte
und mit seiner Zunge in die Häuser eingedrungen war, aus denen es die
Menschen einzeln herausgezogen hatte, um sie zu verschlingen. Bald
würden hier Tragbahren ankommen. Bald würden die Häuser des kleinen
Ortes einzelne ihrer Bewohner als Opfer der Cholera in dieses Zelt dem
unerbittlichen Choleragespenst hingeben müssen.

Während wir noch dastanden, wurde schon auf einer verhüllten Bahre die
erste Kranke aus dem Gasthaus, in dem wir wohnten, gebracht, die Dame,
die mit ihrem Mann heute morgen aus Venedig angekommen war. Der Wirt
mit seinem demütigen Eselsgesicht stand neben mir und stöhnte laut und
hörbar, denn er wußte, jetzt würden seine Gäste fortziehen und alle
Bewohner des Ortes sein Haus meiden. Und wer wußte es denn, ob nicht
er und alle, die hier standen, bereits vom geheimnisvollen Choleratod
gezeichnet waren?

Es war aber gar nicht mehr so leicht, dem Ort des Schreckens zu
entfliehen. Die Dampfschiffe weigerten sich, in Limone anzulegen, und
das Schiff, das die Ärzte gebracht hatte, war das letzte gewesen, das
die Landungsbrücke berühren wollte.

In der Nacht, als der Mond, von einer dünnen Wolke in zwei Teile
geteilt, über dem See und dem Monte Alto hing, stießen geheimnisvoll
zwei Boote bei der Gartentüre des Gasthauses ab. In dem einen saß ich
und ruderte Ulrike und unsere Koffer, da wir uns keinem Bootsmann
vertrauen wollten. Im anderen Boot saßen die russische Generalin und
der Mann der vor zwei Stunden gestorbenen Frau, der eine heillose
Angst hatte und nicht einmal die Beerdigung seines toten Weibes hatte
abwarten wollen. Dieses Boot ruderten die beiden Fischerknaben, da es
schwer und mit den großen Koffern der Generalin beladen war.

Während der ganzen Nacht ruderten die Boote lautlos Seite an Seite, und
als wir die Bucht von Limone verlassen hatten, war in der Dunkelheit
nichts mehr von diesem Ort bei uns als der säuerliche Duft der
Zitronenfrüchte, der uns aus den Säulengärten in der milden Nacht über
das Wasser noch nachkam, lockend und verführerisch, wie ein lebendes
Wesen, das auf den Wellen wandern kann, ohne zu versinken.

Aber der Scheinwerfer des Wachtbootes, der sonst die Nacht so unruhig
machte, war in der Mondhelle, in welcher keiner zu schmuggeln wagte,
auf der anderen Seite des Sees tätig, und er streifte drüben mit seinem
weißen Strahl die vom Mondschatten verdunkelten Bergwände ab.

Als wir einige Zeit gerudert hatten, riefen die Fischerknaben vom
anderen Boot mir zu:

»Jetzt sind wir über die Grenze gekommen. Jetzt sind wir auf
österreichischem Seegebiet.«

»Jetzt sind wir bald in Freiburg,« lachte Ulrike. Sie war im Geist
längst nicht mehr auf dem See, sondern weit über den Alpen bei ihrem
Bräutigam.

Ich aber war froh, daß wir dem Abenteuerherd entrannen, den ich vom
ersten Augenblick an, als ich im Sturmwind in das kleine Wasserbassin
von Limone hineingefegt worden war, beim Betreten des Landes mit allen
Sinnen gewittert hatte.

Aber die Russin meinte, Abenteuerherde müsse es überall geben, denn
sonst wäre das Leben eine Einöde. Und sie suchte begierig nach neuem
Unglück.



Notizen des Bearbeiters:

gesperrter Text markiert durch _ ... _

Das Verzeichnis "sämtlicher Bücher von Max Dauthendey", das auf der
zweiten Seite angekündigt wird, befindet sich nicht in den zu
bearbeitenden Seiten.

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.





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