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Title: Gertrud
Author: Hesse, Hermann
Language: German
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produced from images generously made available by The
Internet Archive)



Anmerkungen zur Transkription:

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                                Gertrud

                                 Roman

                                  von

                             Hermann Hesse

                            [Illustration]

                      München, bei Albert Langen
                                 1910

                             Elfte Auflage



                           Copyright 1910 by

                         Albert Langen, Munich



Wenn ich, von außen her, über mein Leben weg schaue, sieht es nicht
besonders glücklich aus. Doch darf ich es noch weniger unglücklich
heißen, trotz aller Irrtümer. Es ist am Ende auch ganz töricht, so nach
Glück und Unglück zu fragen, denn mir scheint, die unglücklichsten
Tage meines Lebens gäbe ich schwerer hin als alle heiteren. Wenn es in
einem Menschenleben darauf ankommt, das Unabwendbare mit Bewußtsein
hinzunehmen, das Gute und Üble recht auszukosten und sich neben dem
äußeren ein inneres, eigentlicheres, nicht zufälliges Schicksal zu
erobern, so war mein Leben nicht arm und nicht schlecht. Ist das äußere
Schicksal über mich hingegangen wie über alle, unabwendbar und von
Göttern verhängt, so ist mein inneres Geschick doch mein eigenes Werk
gewesen, dessen Süße oder Bitterkeit mir zukommt und für das ich die
Verantwortung allein auf mich zu nehmen denke.

Manchmal in früheren Jahren habe ich gewünscht, ein Dichter zu sein.
Wäre ich einer, so widerstünde ich der Lockung nicht, meinem Leben bis
in die zarten Schatten der Kinderzeit und bis zu den lieben, zärtlich
gehüteten Quellen meiner frühesten Erinnerungen nachzugehen. So aber
ist mir dieser Besitz allzu lieb und heilig, als daß ich ihn mir etwa
selber verderben möchte. Von meiner Kindheit ist nur zu sagen, daß sie
schön und heiter war; man ließ mir die Freiheit, meine Neigungen und
Gaben selber zu entdecken, mir meine innigsten Freuden und Schmerzen
selber zu schaffen und die Zukunft nicht als eine fremde Macht von
oben, sondern als die Hoffnung und den Erwerb meiner eigenen Kräfte
anzusehen. So ging ich unberührt durch die Schulen, als ein unbeliebter
und wenig begabter, doch ruhiger Schüler, den man am Ende gewähren
ließ, da er keine starken Einflüsse zu dulden schien.

Etwa von meinem sechsten oder siebenten Jahr an begriff ich, daß von
allen unsichtbaren Mächten die Musik mich am stärksten zu fassen und
zu regieren bestimmt sei. Von da an hatte ich meine eigene Welt, meine
Zuflucht und meinen Himmel, den mir niemand nehmen oder schmälern
konnte und den ich mit niemand zu teilen begehrte. Ich war Musiker,
obwohl ich vor meinem zwölften Jahre kein Instrument spielen lernte
und nicht daran dachte, später mein Brot mit Musikmachen verdienen zu
wollen.

Dabei ist es seither geblieben, ohne daß etwas Wesentliches sich
geändert hat, und darum erscheint mir beim Rückblick mein Leben nicht
bunt und vielgestaltig, sondern von Anfang an auf einen Grundton
gestimmt und auf einen einzigen Stern gestellt. Mochte es sonst wohl
oder übel gehen, mein innerstes Leben blieb unverändert. Ich mochte
lange Zeiten auf fremden Wassern treiben, kein Notenheft und kein
Instrument anrühren, eine Melodie lag mir doch zu jeder Stunde im Blut
und auf den Lippen, ein Takt und Rhythmus im Atemholen und Leben. So
begierig ich auf manchen anderen Wegen nach Erlösung, nach Vergessen
und Befreiung suchte, so sehr ich nach Gott, nach Erkenntnis und
Frieden dürstete, gefunden habe ich das alles immer nur in der Musik.
Es brauchte nicht Beethoven oder Bach zu sein: -- daß überhaupt Musik
in der Welt ist, daß ein Mensch zuzeiten bis ins Herz von Takten
bewegt und von Harmonien durchflutet werden kann, das hat für mich
immer wieder einen tiefen Trost und eine Rechtfertigung alles Lebens
bedeutet. O Musik! Eine Melodie fällt dir ein, du singst sie ohne
Stimme, nur innerlich, durchtränkst dein Wesen mit ihr, sie nimmt von
allen deinen Kräften und Bewegungen Besitz -- und für die Augenblicke,
die sie in dir lebt, löscht sie alles Zufällige, Böse, Rohe, Traurige
in dir aus, läßt die Welt mitklingen, macht das Schwere leicht und das
Starre beflügelt! Das alles kann die Melodie eines Volksliedes tun!
Und erst die Harmonie! Schon jeder wohllautende Zusammenklang rein
gestimmter Töne, etwa in einem Geläut, sättigt das Gemüt mit Anmut
und Genuß, und steigert sich mit jedem hinzuklingenden Ton, und kann
zuweilen das Herz entzünden und vor Wonne zittern machen, wie keine
andere Wollust es vermag.

Von allen Vorstellungen reiner Seligkeit, die sich Völker und
Dichter erträumt haben, schien mir immer die höchste und innigste
jene vom Erlauschen der Sphärenharmonie. Daran haben meine tiefsten
und goldensten Träume gestreift -- einen Herzschlag lang den Bau
des Weltalls und die Gesamtheit alles Lebens in ihrer geheimen,
eingeborenen Harmonie tönen zu hören. Ach, und wie kann denn das Leben
so wirr und verstimmt und verlogen sein, wie kann nur Lüge, Bosheit,
Neid und Haß unter Menschen sein, da doch jedes kleinste Lied und jede
bescheidenste Musik so deutlich predigt, daß Reinheit, Harmonie und
brüderliches Spiel klargestimmter Töne den Himmel öffnet! Und wie mag
ich selber schelten und zürnen, da ich selber, mit allem guten Willen,
aus meinem Leben kein Lied und keine reine Musik habe machen können!
Im Innersten spüre ich wohl den unabweislichen Mahner, das dürstende
Verlangen nach einem reinen, wohlgefälligen, in sich seligen Tönen und
Verklingen; meine Tage aber sind voll Zufall und Mißklang, und wohin
ich mich wende und wo ich poche, es tönt mir nirgends lauter und klar
zurück.

Nichts mehr davon, ich will erzählen. Wenn ich mich nun besinne, für
wen ich diese Blätter beschreibe, wer eigentlich so viel Macht über
mich hat, daß er Bekenntnisse von mir fordern und meine Einsamkeit
durchbrechen kann, so muß ich einen lieben Frauennamen sagen, der mir
nicht nur ein großes Stück Erleben und Schicksal umfaßt, sondern wohl
auch als Stern und hohes Sinnbild über allem stehen mag.

       *       *       *       *       *

Erst während der letzten Schuljahre, als alle meine Kameraden von
ihren künftigen Berufen zu reden begannen, fing auch ich an hierüber
nachzudenken. Die Musik zu meinem Beruf und Erwerb zu machen, lag
mir eigentlich fern; doch konnte ich mir keinen andern Beruf denken,
der mir Freude gemacht hätte. Ich hatte gegen den Handel oder andre
Gewerbe, die mein Vater mir vorschlug, keinen Widerwillen, sie waren
mir nur gleichgültig. Aber da meine Kameraden so stolz auf die von
ihnen gewählten Berufe taten, vielleicht auch eine Stimme in mir dafür
eintrat, schien es mir doch gut und richtig, das zu meinem Beruf zu
machen, was ohnehin meine Gedanken ausfüllte und mir allein rechte
Freude machte. Es kam mir zustatten, daß ich seit meinem zwölften Jahr
das Violinspielen begonnen und unter einem guten Lehrer etwas Rechtes
gelernt hatte. So sehr nun mein Vater sich wehrte und davor bangte,
seinen einzigen Sohn die ungewisse Laufbahn eines Künstlers einschlagen
zu sehen, gerade an seinem Widerstand wuchs mein Wille, und der Lehrer,
der mich gern hatte, trat für meinen Wunsch nach Kräften ein. Am Ende
gab mein Vater nach, es wurde mir nur zur Prüfung meiner Ausdauer und
in der Hoffnung auf eine Sinnesänderung noch ein Schuljahr zudiktiert,
das ich mit leidlicher Geduld absaß und währenddessen ich meines
Begehrens nur sicherer wurde.

Während dieses letzten Schuljahres verliebte ich mich zum erstenmal,
in ein hübsches junges Fräulein unsrer Bekanntschaft. Ohne sie viel
zu sehen und auch ohne dies stark zu begehren, genoß und durchlitt
ich die süßen Bewegungen der ersten Liebe wie in einem Traume. Und in
dieser Zeit, da ich den ganzen Tag ebensosehr an meine Musik wie an
meine Liebe dachte und nachts vor herrlicher Erregung nicht schlafen
konnte, hielt ich zum erstenmal mit Bewußtsein Melodien fest, die mir
einfielen, zwei kleine Lieder, und versuchte sie aufzuschreiben. Das
erfüllte mich mit einem schamhaften, doch durchdringenden Vergnügen,
über dem ich meine spielerische Liebesnot fast ganz vergaß. Inzwischen
hörte ich, daß meine Geliebte Singstunden nehme, und war sehr begierig,
sie einmal singen zu hören. Nach Monaten ward mein Wunsch erfüllt, bei
einer Abendgesellschaft im Haus meiner Eltern. Das hübsche Mädchen ward
aufgefordert zu singen, wehrte sich heftig und mußte am Ende doch, und
ich wartete darauf mit einer ungeheuren Spannung. Ein Herr begleitete
an unsrem kleinen schmalen Klavierchen, er spielte ein paar Takte und
sie begann. Ach, sie sang schlecht, traurig schlecht, und noch während
sie sang, verwandelte sich meine Bestürzung und Qual zu Mitleid und
dann zu Humor, und künftig war ich dieser Verliebtheit ledig.

Ich war ein geduldiger und nicht gerade unfleißiger, aber kein guter
Schüler, und im letzten Jahr gab ich mir vollends wenig Mühe mehr.
Daran war nicht Trägheit und auch nicht meine Verliebtheit schuld,
sondern ein Zustand jünglinghafter Träumerei und Gleichgültigkeit,
eine Dumpfheit der Sinne und des Kopfes, die nur zuweilen plötzlich
und heftig unterbrochen ward, wenn eine von den wunderbaren Stunden
verfrühter schöpferischer Lust mich wie in Äther hüllte. Dann fühlte
ich mich von einer überklaren, kristallnen Luft umgeben, in der kein
Träumen und Vegetieren möglich war, wo alle Sinne sich geschärft
und wachsam auf die Lauer legten. Was in diesen Stunden entstand,
war wenig, vielleicht zehn Melodien und einige Anfänge harmonischer
Gestaltungen; aber die Luft dieser Stunden vergaß ich nimmer, diese
überklare fast kalte Luft und diese gespannte Zusammenfassung der
Gedanken, um einer Melodie die rechte, einzige, nicht mehr zufällige
Bewegung und Lösung zu geben. Zufrieden war ich mit diesen kleinen
Leistungen nicht und hielt sie nie für etwas Gültiges und Gutes, aber
das wurde mir klar, daß in meinem Leben nichts so begehrenswert und
wichtig sein werde wie die Wiederkehr solcher Stunden der Klarheit und
des Schaffens.

Daneben kannte ich auch Tage des Schwärmens, wo ich auf der Geige
phantasierte und den Rausch flüchtiger Einfälle und farbiger Stimmungen
genoß. Nur wußte ich bald, daß das kein Schaffen war, sondern ein
Spielen und Schwelgen, vor dem ich mich zu hüten habe. Ich merkte,
daß es ein andres Ding ist seinen Träumen nachzugehen und berauschte
Stunden auszukosten, als unerbittlich und klar mit den Geheimnissen
der Form wie mit Feinden zu ringen. Und ich merkte schon damals
etwas davon, daß ein rechtes Schaffen einsam macht und etwas von uns
verlangt, was wir dem Behagen des Lebens abbrechen müssen.

Endlich war ich frei, hatte die Schule hinter mir, den Eltern Lebewohl
gesagt und ein neues Leben als Schüler des Konservatoriums in der
Hauptstadt begonnen. Ich tat dies mit großen Erwartungen und war
überzeugt gewesen, ich würde in der Musikschule ein guter Schüler sein.
Zu meinem peinlichen Erstaunen kam es aber anders. Ich hatte Mühe dem
Unterricht überall zu folgen, fand in Klavierunterricht, den ich jetzt
nehmen mußte, nur eine große Plage und sah bald mein ganzes Studium wie
einen unersteiglichen Berg vor mir liegen. Wohl war ich nicht gesonnen
nachzugeben, doch war ich enttäuscht und befangen. Ich sah jetzt, daß
ich bei aller Bescheidenheit mich doch für eine Art von Genie gehalten
und die Mühen und Schwierigkeiten des Weges zur Kunst bedenklich
unterschätzt hatte. Dazu ward mir das Komponieren gründlich entleidet,
da ich jetzt bei der geringsten Aufgabe nur Berge von Schwierigkeiten
und Regeln sah, meinem Gefühl durchaus mißtrauen lernte und nicht
mehr wußte, ob überhaupt ein Funke von eigener Kraft in mir sei. So
beschied ich mich, wurde klein und traurig, ich tat meine Arbeit wenig
anders als ich die in einem Kontor oder in einer andern Schule getan
hätte, fleißig und freudlos. Klagen durfte ich nicht, am wenigsten in
meinen Briefen nach Hause, sondern ging den begonnenen Weg in stiller
Enttäuschung weiter und nahm mir vor, wenigstens ein ordentlicher
Geiger zu werden. Ich übte und übte, steckte Grobheiten und Spott der
Lehrer ein, sah manche andere, denen ich es nicht zugetraut hätte,
leicht vorwärtskommen und Lob ernten, und steckte meine Ziele immer
niedriger. Denn auch mit dem Geigen stand und ging es nicht so, daß
ich darauf hätte stolz sein können und etwa an ein Virtuosentum denken
dürfen. Es sah ganz so aus, als könne aus mir bei gutem Fleiß zur Not
ein brauchbarer Handwerker werden, der in irgendeinem kleinen Orchester
seine bescheidene Geige ohne Schande und ohne Ehre spielt und dafür
sein Brot bekommt.

So war diese Zeit, die ich so sehr ersehnt und von der ich mir alles
versprochen hatte, die einzige in meinem Leben, in der ich vom Geist
der Musik verlassen freudlose Wege ging und Tage ohne Klang und Takt
dahinlebte. Wo ich Genuß, Erhebung, Glanz und Schönheit gesucht hatte,
fand ich nur Forderungen, Regeln, Pflichten, Schwierigkeiten und
Gefahren. Fiel mir etwas Musikalisches ein, so war es entweder banal
und hundertmal dagewesen, oder es stand sichtlich mit allen Gesetzen
der Kunst in Widerspruch und konnte also nichts wert sein. Da packte
ich alle großen Gedanken und Hoffnungen ein. Ich war einer von den
Tausenden, die mit jugendlicher Frechheit zur Kunst gekommen sind und
deren Kraft versagt, wenn es Ernst werden soll.

Dieser Zustand dauerte wohl etwa drei Jahre. Ich war nun über zwanzig
Jahre alt, hatte offenbar meinen Beruf verfehlt und ging den begonnenen
Weg nur aus Scham und Pflichtgefühl weiter. Ich wußte nichts mehr von
Musik, nur noch von Fingerübungen, schweren Aufgaben, Widersprüchen in
der Harmonielehre, drückenden Klavierlektionen bei einem spöttischen
Lehrer, der in allen meinen Bemühungen nur eine Zeitvergeudung sah.

Wäre das alte Ideal nicht doch noch heimlich in mir lebendig gewesen,
so hätte ich es in diesen Jahren recht gut haben können. Ich war frei
und hatte Freunde, war ein hübscher und blühender junger Mensch, ein
Sohn wohlhabender Eltern. Für Augenblicke genoß ich alles das, es gab
vergnügte Tage, Liebeleien, Zechereien, Ferienfahrten. Aber es war mir
nicht möglich mich dabei zu trösten, meine Pflicht in Kürze abzutun und
vor allem meiner jungen Tage froh zu werden. Ohne daß ich davon wußte,
blickte mein Heimweh doch noch in allen unbewachten Stunden nach dem
untergegangenen Stern der Künstlerschaft aus, es war mir unmöglich die
Enttäuschung zu vergessen und zu betäuben. Nur einmal gelang es mir
gründlich.

Es war der törichtste Tag meiner törichten Jugend. Ich lief damals
einer Schülerin des berühmten Gesanglehrers H. nach. Ihr schien es
ähnlich zu gehen wie mir, sie war mit großen Hoffnungen gekommen, hatte
strenge Lehrer gefunden, war die Arbeit nicht gewohnt und glaubte
schließlich sogar ihre Stimme zu verlieren. Sie legte sich auf die
leichte Seite, flirtete mit uns Kollegen und wußte uns alle toll zu
machen, wozu freilich nicht gar viel gehörte. Sie hatte die feurige,
lebhaft farbige Schönheit, die bald verblüht.

Diese schöne Liddy nahm mich mit ihrer naiven Koketterie immer wieder
gefangen, wenn ich sie sah. Ich war nie lange Zeit in sie verliebt,
ich vergaß sie oft völlig, aber wenn ich bei ihr war, schlug jedesmal
die Verliebtheit wieder über mir zusammen. Sie spielte mit mir wie mit
andern, reizte uns, genoß ihre Macht und war selber dabei nur mit der
neugierigen Sinnlichkeit ihrer Jugend beteiligt. Sie war sehr schön,
aber nur wenn sie sprach und in Bewegung war, wenn sie mit ihrer warmen
tiefen Stimme lachte, wenn sie tanzte oder sich an der Eifersucht ihrer
Liebhaber ergötzte. So oft ich von einer Gesellschaft heimkam, in der
ich sie gesehen hatte, lachte ich mich selber aus und bewies mir, daß
ein Mensch von meiner Art unmöglich diese gefällige Lebenskünstlerin
im Ernst lieben könne. Manchmal aber gelang es ihr wieder, mich durch
eine Geste, durch ein geflüstertes warmes Wort so zu erregen, daß ich
die halbe Nacht heiß und wild in der Nähe ihrer Wohnung unterwegs blieb.

Ich hatte damals eine kurze Periode der Wildheit und eines halb
erzwungenen Übermutes. Nach Tagen der Niedergeschlagenheit und
dumpfen Stille forderte meine Jugend stürmisch Bewegung und Rausch,
und ich ging dann mit einigen gleichaltrigen Kameraden Lustbarkeiten
und Streichen nach. Wir galten für lebenslustige, ausgelassene, ja
gefährliche Tumultuanten, was bei mir nicht zutraf, und genossen
bei Liddy und ihrem kleinen Kreise einen zweifelhaften, doch süßen
Heldenruhm. Wie viel von diesem Treiben echte Jugendlust und wieviel
gewollte Betäubung war, kann ich heute nimmer entscheiden, da ich jenen
Zuständen und aller äußerlichen Jugendlichkeit längst völlig entwachsen
bin. Wenn ein Zuviel dabei war, so habe ich es gebüßt.

An einem Wintertage, da kein Unterricht war, zogen wir miteinander
vor die Stadt hinaus, acht oder zehn junge Leute, darunter Liddy mit
drei Freundinnen. Wir hatten Rodelschlitten mit, deren Benützung
damals noch für ein Kindervergnügen galt, und suchten in der
bergigen Umgebung der Stadt die Straßen und Wiesenhänge nach guten
Schlittenbahnen ab. Ich erinnere mich des Tages genau, es war mäßig
kalt, zuweilen kam die Sonne für Viertelstunden hervor, die kräftige
Luft roch herrlich nach Schnee. Die Mädchen standen mit ihren farbigen
Kleidern und Tüchern prächtig im weißen Grunde, die herbe Luft war
berauschend und die heftige Bewegung in dieser Frische eine Lust. Unsre
kleine Gesellschaft war in fröhlichster Laune, Ulknamen und Hänseleien
flogen hin und wider, wurden durch Schneeballen beantwortet und führten
zu kleinen Kriegen, bis wir alle heiß und voll Schnee dastanden und
eine Weile veratmen mußten, ehe wir von neuem begannen. Es wurde eine
große Schneeburg gebaut, belagert und erstürmt, dazwischen fuhren wir
da und dort einmal einen kleinen Wiesenabhang auf unseren Schlitten
hinunter.

Um Mittag, als wir alle von dem Gestürme grimmig hungrig geworden
waren, suchten und fanden wir ein Dorf und ein gutes Wirtshaus, ließen
sieden und braten, bemächtigten uns des Klavieres, sangen, schrien,
bestellten Wein und Grog. Das Essen kam und wurde festlich begangen,
der gute Wein floß reichlich, danach begehrten die Mädchen Kaffee,
während wir die Liköre versuchten. Es war ein Geschrei und Festlärm
in der kleinen Stube, daß uns allen die Köpfe rauchten. Ich war immer
in Liddys Nähe, die mich heute in gnädiger Laune durch besondre Gunst
auszeichnete. Sie blühte in dieser Luft voll Lustbarkeit und Rausch
gar prächtig auf, ließ ihre hübschen Augen blitzen und duldete manche
halb kühn, halb ängstlich gewagte Zärtlichkeit. Ein Pfänderspiel wurde
begonnen, wobei die Pfänder am Klavier durch Nachahmung irgendeines
unsrer Lehrer eingelöst werden mußten, manche aber auch durch Küsse,
deren Zahl und Beschaffenheit genau beobachtet wurde.

Als wir glühend und lärmend das Haus verließen und den Heimweg
antraten, war es noch früh am Nachmittag, doch begann es schon ein
wenig zu dämmern. Wieder tollten wir wie ausgelassene Kinder durch
den Schnee, ohne Eile durch den leis herankommenden Abend nach der
Stadt zurückkehrend. Es gelang mir, an Liddys Seite zu bleiben, zu
deren Ritter ich mich nun aufwarf, nicht ohne Widerspruch der andern.
Ich zog sie streckenweise auf meinem Schlitten und schützte sie nach
Kräften vor den immer wieder versuchten Angriffen mit Schneeballen.
Schließlich ließ man uns gewähren, jedes der Mädchen fand seinen
Genossen, und nur zwei ledig gebliebene Herrlein zogen neckend und
kriegslustig nebenher. Ich war nie so erregt und toll verliebt
gewesen wie in jenen Stunden, Liddy hatte meinen Arm genommen und
duldete es, daß ich sie im Gehen leise an mich zog. Dabei plauderte
sie bald geschwätzig in den Abend hinein, bald schwieg sie glücklich
und, wie mir schien, verheißungsvoll an meiner Seite. Ich brannte
und war entschlossen, diese Gelegenheit nach Kräften zu benützen,
zumindest aber diesen traulich zärtlichen Zustand so lange als möglich
festzuhalten. Es hatte auch niemand etwas dagegen, als ich kurz vor
der Stadt noch einen Umweg vorschlug und in einen schönen Höhenweg
einbog, der steil über dem Tale im Halbkreis hinlief, reich an weiten
Aussichten auf das Flußtal und die Stadt, die schon mit blitzenden
Laternenreihen und tausend roten Lichtern aus der Tiefe glänzte.

Liddy hing noch immer an meinem Arm und ließ mich reden, nahm meine
glühenden Überschwänglichkeiten lachend hin und schien doch selber tief
erregt zu sein. Als ich sie aber mit leiser Gewalt an mich zog und
küssen wollte, machte sie sich los und sprang beiseite.

»Schauen Sie«, rief sie aufatmend, »die Wiese da hinunter müssen wir
schlitteln! Oder haben Sie Angst, Sie Held?«

Ich schaute hinunter und war erstaunt, denn der Abhang war so jäh, daß
mir wirklich einen Augenblick vor dieser frechen Fahrt graute.

»Das geht nicht«, sagte ich leichthin, »es ist schon viel zu dunkel.«

Sofort fiel sie mit Spott und Entrüstung über mich her, nannte mich
einen Hasenfuß und verschwor sich, den Hang allein hinab zu fahren,
wenn ich zu feig sei mitzukommen.

»Umwerfen werden wir natürlich«, meinte sie lachend, »aber das ist ja
doch das Lustigste bei der ganzen Fahrerei.«

Da sie mich so reizte, kam mir ein Einfall.

»Liddy«, sagte ich leise, »wir fahren. Wenn wir umwerfen, dürfen Sie
mich mit Schnee einreiben, aber wenn wir glatt hinunterkommen, will ich
auch meinen Lohn haben.«

Sie lachte nur und setzte sich auf den Schlitten. Ich sah ihr in die
Augen, die glühten warm und lustig, da nahm ich ganz vorn Platz, hieß
sie sich an mich klammern und fuhr ab. Ich spürte wie sie mich umfaßte,
ihre Hände auf meiner Brust kreuzend, und ich wollte ihr noch etwas
zurufen, konnte aber nicht mehr. Die Steile war so jäh, daß ich das
Gefühl hatte in die leere Luft zu stürzen. Sofort suchte ich mit beiden
Sohlen den Boden, um anzuhalten oder doch umzuwerfen, denn plötzlich
war mir eine Todesangst um Liddy ins Herz gefahren. Es war jedoch zu
spät. Der Schlitten sauste unaufhaltsam bergab, ich fühlte nur einen
kalten beißenden Schwall aufgewühlten Schneestaubes im Gesicht, dann
hörte ich Liddy angstvoll schreien, dann nichts mehr. Ein ungeheurer
Hieb wie von einem Schmiedehammer traf meinen Kopf, irgendwo tat es mir
schneidend weh. Das letzte Gefühl, das ich hatte, war das der Kälte.

Mit dieser kurzen flotten Schlittenfahrt habe ich meine Jugendlust und
Torheit gebüßt. Nachher war mit vielem andrem auch meine Liebe zu Liddy
ganz verflogen.

Dem Tumult und ängstlichen Getriebe, das auf den Unfall folgte, war ich
enthoben. Für die andern war es eine peinliche Stunde. Sie hörten Liddy
schreien, lachten und neckten von oben herab in die Dunkelheit hinein,
erkannten endlich, daß etwas Böses geschehen sei, stiegen mühsam herab
und brauchten eine Weile, bis sie aus dem Rausch und Übermut heraus
zur Überlegung kamen. Liddy war bleich und halb ohnmächtig, jedoch
durchaus unverletzt, nur ihre Handschuhe waren zerrissen und ihre
feinen weißen Hände etwas zerschunden und blutig. Mich trugen sie für
tot hinweg. Den Apfel- oder Birnbaum, an dem der Schlitten und meine
Knochen zerschellt waren, habe ich später vergeblich wieder zu finden
versucht.

Man dachte, ich sei einer Gehirnerschütterung erlegen, doch stand es
nicht so schlimm. Kopf und Gehirn waren zwar mitgenommen und es dauerte
sehr lange, bis ich im Spital wieder zur Besinnung kam, aber die Wunde
heilte und das Gehirn ruhte sich aus. Dagegen wollte das mehrfach
gebrochene linke Bein nicht wieder ganz in Ordnung kommen. Ich bin
seither ein Krüppel, der nur hinken, nicht mehr schreiten oder gar
laufen und tanzen kann. Damit war meiner Jugend unversehens ein Weg
in stillere Lande gewiesen, den ich nicht ohne Scham und Widerstreben
einschlug. Aber ich schlug ihn doch ein, und manchmal scheint es
mir, als möchte ich jene abendliche Schlittenfahrt und ihre Folgen
keineswegs in meinem Leben missen.

Freilich denke ich dabei weniger an das zerbrochene Bein als an die
andern Folgen jenes Unfalls, die weit freundlicher und freudiger
waren. War es das Unglück selbst mit seinem Schrecken und Blick in
das Dunkel oder war es das lange Liegen und monatelange Stillsein und
Besinnen, die Kur tat mir gut.

Der Beginn jener langen Liegezeit, etwa die erste Woche, ist ganz aus
meiner Erinnerung verschwunden. Ich war viel bewußtlos und auch nach
dem endgültigen Erwachen geschwächt und gleichgültig. Meine Mutter
war gekommen und saß alle Tage getreulich im Spital an meinem Bett.
Wenn ich sie ansah und ein paar Worte mit ihr sprach, schien sie
freundlich und fast heiter, obwohl sie, wie ich später erfuhr, Angst um
mich hatte, und zwar nicht um mein Leben, sondern um meinen Verstand.
Zuweilen plauderten wir in dem stillen, hellen Krankenzimmerchen
lange miteinander. Doch war unser Verhältnis nie sehr innig gewesen;
ich hatte stets mehr zum Vater gehalten. Nun war sie vom Mitleid und
ich von Dankbarkeit erweicht und zur Versöhnung gestimmt, wir waren
aber beide allzulange an ein gegenseitiges Zuwarten und lässiges
Geltenlassen gewöhnt, als daß nun die erwachende Herzlichkeit den Weg
in unsre Worte hätte finden mögen. Wir sahen einander zufrieden an und
ließen die Dinge unbesprochen. Sie war wieder meine Mutter, da sie
mich krank liegen hatte und pflegen konnte; und ich sah sie wieder mit
Knabengefühlen an und vergaß einstweilen alles andere. Später freilich
kehrte das alte Verhältnis wieder und wir vermieden es von diesem
Krankenlager viel zu reden, da es uns beide verlegen machte.

Allmählich begann ich meine Lage zu übersehen, und da ich die
Fieberzeit überwunden hatte und ruhig schien, machte der Arzt nicht
länger ein Geheimnis daraus, daß mir wohl für immer ein Andenken an
diesen Sturz bleiben werde. Ich sah meine Jugend, die ich noch kaum mit
einigem Bewußtsein genossen hatte, empfindlich beschnitten und verarmt
und hatte alle Zeit, mich mit dieser Sache abzufinden, denn das Liegen
dauerte noch wohl ein Vierteljahr.

Ich suchte denn auch eifrig in Gedanken meine Lage zu fassen und mir
ein Bild der Zukunft zu machen, doch kam ich damit nicht weit. Viel
Denken war noch nichts für mich, ich ermüdete immer bald und sank
in ein ausruhendes Hinträumen, womit mich die Natur vor Angst und
Verzweiflung bewahrte und mir die Ruhe zur Heilung erzwang. Immerhin
plagte mich mein Unglück manche Stunde und halbe Nacht, ohne daß ich
einen nennenswerten Trost hätte erdenken können.

Da war es in einer Nacht, daß ich nach wenigen Stunden leichten
Schlummers erwachte. Mir schien, ich habe etwas Gutes geträumt, und
ich strebte mich dessen wieder zu erinnern, doch vergebens. Es war
mir merkwürdig wohl und frei zumute, als habe ich alles Unangenehme
überwunden und hinter mir. Und wie ich lag und sann und leise Ströme
der Genesung und Erlösung um mich fühlte, trat mir eine Melodie auf die
Lippen, fast lautlos, die summte ich weiter und hörte nimmer auf, und
unversehens schaute mich wie ein enthüllter Stern die Musik wieder an,
der ich so lange fremd gewesen war, und mein Herz schlug ihren Takt,
und mein ganzes Wesen blühte auf und atmete neue reine Lüfte. Es kam
mir nicht zum Bewußtsein, es war nur da und durchdrang mich still, als
sängen leise Chöre von fern zu mir herein.

In diesem innig frischen Gefühl schlief ich wieder ein. Am Morgen war
ich froh und unbedrückt wie lang nicht mehr. Die Mutter merkte es und
fragte, was mich freue. Da besann ich mich, und nach einer Weile sagte
ich ihr, ich habe so lang nimmer an meine Geige gedacht, die sei mir
nun wieder eingefallen und ich freue mich auf sie.

»Du wirst aber noch lang nicht wieder spielen dürfen«, sagte sie etwas
ängstlich.

»Das schadet nichts, und wenn ich auch gar nimmer spielen könnte.«

Sie verstand mich nicht und ich konnte es ihr nicht erklären. Aber
sie merkte, daß es mir besser gehe und daß kein Feind hinter dieser
grundlosen Fröhlichkeit laure. Nach einigen Tagen fing sie vorsichtig
wieder davon an.

»Du, wie ist das nun eigentlich mit deiner Musik? Wir haben fast
geglaubt, sie sei dir verleidet, und der Vater hat mit deinen Lehrern
gesprochen. Wir wollen dir ja nicht dreinreden, am wenigsten jetzt
-- -- aber wir meinen, wenn du dich getäuscht hättest und es lieber
aufgeben möchtest, so solltest du es tun und nicht aus Trotz oder Scham
dabeibleiben. Was meinst du?«

Da fiel mir diese ganze Zeit der Entfremdung und Enttäuschung wieder
ein. Ich versuchte der Mutter zu erzählen, wie es mir gegangen war, und
sie schien es zu begreifen. Nun aber, meinte ich, sei ich meiner Sache
wieder sicherer geworden und jedenfalls wolle ich nicht so davonlaufen,
sondern erst zu Ende studieren. Dabei blieb es einstweilen. Im Grunde
meiner Seele, wohin die Frau nicht blicken konnte, war lauter Musik. Ob
es nun mit dem Geigen glückte oder nicht, ich hörte wieder die Welt wie
ein gutes Kunstwerk klingen und wußte, es sei außerhalb der Musik kein
Heil für mich. Erlaubte mein Zustand das Geigen nimmer, so mußte ich
darauf verzichten, vielleicht mußte ich einen andern Beruf suchen und
etwa Kaufmann werden; aber das alles war nicht allzu wichtig, ich würde
als Kaufmann oder was sonst nicht weniger Musik empfinden und in Musik
leben und atmen. Ich würde wieder komponieren! Es war nicht, wie ich
meiner Mutter gesagt hatte, das Geigen, worauf ich mich freute, sondern
es war das Musikmachen, das Schaffen, nach dem mir die Hände zitterten.
Schon fühlte ich zu manchen Zeiten wieder die lauteren Schwingungen
klarer Lüfte, die gespannte Kühle der Gedanken, wie früher in meinen
besten Stunden, und fühlte auch, daß daneben ein lahmes Bein und andre
Übel von geringer Bedeutung seien.

Von da an war ich Sieger, und so oft auch seither meine Wünsche ins
Land der Gesundheit und Jugendlust hinüberliefen, und so oft ich mit
Bitterkeit und zorniger Scham mein Krüppeltum haßte und verfluchte, es
ging mir dieses Leid doch nimmer so leicht über die Kraft; es war etwas
da, zu trösten und zu verklären.

Ab und zu kam mein Vater hergereist, die Mutter und mich zu besuchen,
und eines Tages, da es mir längst erträglich ging, nahm er sie wieder
mit sich nach Hause. Die ersten Tage fühlte ich mich etwas vereinsamt,
schämte mich auch, daß ich mit der Mutter zu wenig herzlich gesprochen
hatte und zu wenig auf ihre Gedanken und Sorgen eingegangen war. Doch
füllte mich jenes andere Gefühl zu sehr aus, als daß diese Gedanken
über wohlgemeinte Spielereien und Rührungen hinaus geraten wären.

Nun kam unerwartet jemand mich zu besuchen, der sich während der
Anwesenheit meiner Mutter nicht herbeigewagt hatte. Das war Liddy. Ich
war sehr erstaunt sie zu sehen. Es fiel mir im ersten Augenblick gar
nicht ein, wie nah ich ihr vor kurzem gestanden und wie sehr ich in sie
verliebt gewesen war. Sie kam in großer Verlegenheit, die sie schlecht
verbarg, hatte sich vor meiner Mutter und sogar vor dem Gericht
gefürchtet, da sie sich an meinem Unglück schuldig wußte, und begriff
nur langsam, daß die Sache nicht so schlimm war und sie im Grunde gar
nichts angehe. Nun atmete sie auf, doch war eine leise Enttäuschung
nicht zu verkennen. Das Mädchen hatte, bei allem bösen Gewissen, doch
im Grund ihres guten Weiberherzens sich an der ganzen Geschichte, an so
viel ergreifendem und rührendem Unglück, innigst erlabt. Sie brauchte
sogar mehrmals das Wort »tragisch«, worüber ich kaum das Lachen
verhalten konnte. Überhaupt war sie nicht darauf gefaßt gewesen, mich
so munter und so wenig in Respekt vor meinem Unglück zu finden. Sie
hatte im Sinn gehabt, mich um Verzeihung zu bitten, deren Gewährung
mir als Verliebtem eine gewaltige Genugtuung schaffen müsse, und sich
auf Grund dieser rührenden Szene meines Herzens von neuem siegreich zu
bemächtigen.

Nun war es dem törichten Kinde zwar keine kleine Erleichterung, mich
so vergnügt und sich selbst aller Schuld und Anklage ledig zu finden.
Sie wurde aber dieser Erleichterung nicht froh, sondern je mehr ihr
Gewissen sich beruhigte und ihre mitgebrachte Angst verflog, desto
stiller und kühler sah ich sie werden. Es beleidigte sie nachträglich
doch nicht wenig, daß ich ihren Anteil an der Sache so gering anschlug,
ja vergessen zu haben schien, daß ich die Rührung und Abbitte im Keim
unterdrückt und sie um die ganze schöne Szene gebracht hatte. Daß ich
vollends gar nicht mehr in sie verliebt war, merkte sie trotz meiner
großen Höflichkeit sehr wohl, und das war das Schlimmste. Mochte ich
Arme und Beine verloren haben, ich war doch immer ein Anbeter gewesen,
den sie zwar nicht geliebt und nie beglückt, an dessen Schmachten sie
aber, je elender er war, desto größere Genugtuung gefunden hätte.
Nun war es damit nichts, wie sie sehr deutlich merkte, und ich sah
auf ihrem hübschen Gesicht die Wärme und Teilnahme der mitleidigen
Krankenbesucherin mehr und mehr erlöschen und erkühlen. Schließlich
ging sie nach einem phrasenhaften Abschied und kam nie wieder, obwohl
sie es heilig versprochen hatte.

So peinlich es mir war und so sehr es mir wider das Selbstgefühl ging,
meine frühere Verliebtheit so ins Kleine und Lächerliche gefallen zu
sehen, so tat der Besuch mir doch wohl. Ich war sehr verwundert, das
schöne begehrte Fräulein zum erstenmal ohne Leidenschaft und Brille
zu sehen und wahrzunehmen, daß ich sie gar nicht gekannt habe. Hätte
man mir die Puppe gezeigt, die ich als Dreijähriger umarmt und geliebt
hatte, so hätte mich die Entfremdung und Änderung des Gefühls nicht
mehr verwundern können als hier, wo ich ein vor Wochen noch heiß
begehrtes Mädchen als eine völlig Fremde vor mir sah.

Von den Kameraden, die auf jenem Sonntagsausflug im Winter dabei
gewesen waren, besuchten zwei mich einigemal, doch fanden wir wenig
miteinander zu reden und ich bemerkte ihr Aufatmen wohl, als es mir
besser ging und ich sie bat, mir keine Opfer mehr zu bringen. Später
trafen wir einander nicht mehr. Es war merkwürdig und machte mir einen
wehmütig sonderbaren Eindruck: alles fiel von mir ab, ward fremd und
ging mir verloren, was in diesen Jünglingsjahren zu meinem Leben gehört
hatte. Ich sah plötzlich, wie falsch und traurig ich diese ganze Zeit
gelebt hatte, da nun Liebe, Freunde, Gewohnheiten und Freuden dieser
Jahre von mir abfielen wie schlechte Kleider, sich ohne Schmerz von mir
trennten, so daß es nur zu verwundern blieb, wie ich es bei ihnen so
lang habe aushalten können oder sie bei mir.

Dagegen überraschte mich ein andrer Besuch, an den ich nie gedacht
hätte. Es kam eines Tages mein Klavierlehrer, der strenge und
spöttische Herr. Er behielt den Stock in der Hand und die Handschuhe
an den Händen, sprach in seinem gewohnten herben, fast bissigen Ton,
nannte jene böse Schlittenfahrt eine »Weiberkutschiererei« und schien
mir, dem Ton seiner Worte nach, das erlebte Pech durchaus zu gönnen.
Trotzdem war es merkwürdig, daß er sich eingefunden hatte, und es
zeigte sich denn auch, obwohl er den Ton nicht änderte, daß er nicht
in böser Absicht gekommen war, sondern um mir zu sagen, er halte mich
trotz meiner Schwerfälligkeit für einen leidlichen Schüler, sein
Kollege, der Violinlehrer, sei derselben Meinung, und sie hofften also,
ich komme bald gesund wieder und mache ihnen Freude. Obwohl diese
Rede, die fast wie eine Abbitte für frühere rüde Behandlung aussah,
durchaus im selben bitter scharfen Tone wie alles Frühere vorgetragen
ward, klang sie mir doch wie eine Liebeserklärung. Ich streckte dem
unbeliebten Lehrer dankbar die Hand hin, und um ihm Vertrauen zu
zeigen, versuchte ich ihm klarzumachen, wie es mir diese Jahre her
gegangen sei und wie jetzt mein altes Herzensverhältnis zur Musik
wieder aufzuleben beginne.

Der Professor schüttelte den Kopf und pfiff vor Hohn, als er fragte:
»Aha, Sie wollen Komponist werden?«

»Womöglich«, sagte ich bedrückt.

»Ja, da wünsche ich Glück. Ich hatte gedacht, Sie würden jetzt
vielleicht mit neuem Eifer ans Üben gehen, aber als Komponist haben Sie
das freilich nicht nötig.«

»O, so ist es nicht gemeint.«

»Ja wie denn? Wissen Sie, wenn ein Musikschüler faul ist und nicht
recht arbeiten mag, dann legt er sich immer aufs Komponieren. Das kann
jeder, und ein Genie ist ja bekanntlich auch jeder.«

»So meine ich's wirklich nicht. Soll ich denn Klavierspieler werden?«

»Nein, lieber Herr, dazu würde es Ihnen doch nicht reichen. Aber
anständig geigen lernen könnten Sie schon noch.«

»Nun, das will ich auch.«

»Hoffentlich ist's Ihnen Ernst. Möchte mich nicht länger aufhalten.
Gute Besserung, Herr, und auf Wiedersehen!«

Damit ging er davon und ließ mich erstaunt zurück. Ich hatte an die
Rückkehr zu den Studien noch wenig gedacht. Nun fürchtete ich doch,
es möchte wieder schwer und mißlich gehen und am Ende alles wieder
werden wie es vorher gewesen war. Doch hielten solche Gedanken nicht
lange Stand, und es zeigte sich auch, daß der Besuch des mürrischen
Professors wirklich gut gemeint und ein Zeichen redlichen Wohlwollens
war.

Nach meiner Genesung sollte ich eine Erholungsreise machen, doch zog
ich vor, damit bis zu den großen Ferien zu warten und lieber jetzt
gleich wieder ins Zeug zu gehen. Da empfand ich zum erstenmal, wie
erstaunlich eine Ruhezeit, namentlich eine unfreiwillige, wirken
kann. Ich begann meine Stunden und Übungen mit Mißtrauen, aber alles
ging besser als zuvor. Allerdings sah ich jetzt auch deutlich, daß
nie ein Virtuose aus mir werden würde; doch tat diese Erkenntnis mir
bei meinem jetzigen Zustande nicht weh. Im übrigen ging es gut, und
namentlich hatte sich in der langen Pause das unheimliche Gestrüpp der
Musiktheorie, der Harmonie- und Kompositionslehre in einen durchaus
zugänglichen, heiteren Garten verwandelt. Ich fühlte, daß die Einfälle
und Versuche meiner guten Stunden nicht mehr außerhalb aller Regeln
und Gesetze lagen, daß innerhalb des strengen Schülergehorsams ein
schmaler, doch deutlich erkennbarer Weg zur Freiheit führe. Wohl gab
es noch Stunden und Tage und Nächte, da alles wie ein Stachelzaun vor
mir lag und ich mit wundem Gehirn mich an Widersprüchen und Lücken
abquälte; aber die Verzweiflung kam nicht wieder, und der schmale Pfad
wurde deutlicher und gangbarer vor meinen Augen.

Am Schlusse des Semesters sagte mir zu meiner Überraschung unser
Theorielehrer bei der Verabschiedung vor den Ferien: »Sie sind der
einzige Schüler dies Jahr, der wirklich etwas von Musik zu verstehen
scheint. Wenn Sie einmal etwas komponiert haben, würde ich's gerne
ansehen.«

Mit diesem tröstlichen Wort im Ohr reiste ich in die Ferien ab. Ich
war längere Zeit nicht mehr zu Hause gewesen, nun trat während der
Bahnfahrt die Heimat wieder vor mein Herz, verlangte meine Liebe und
rief die Flut halbverlorener Erinnerungen an Kinderzeiten und erste
Jünglingsjahre herauf. Am Bahnhof der Heimatstadt empfing mich der
Vater und wir fuhren in einer Droschke nach Hause. Doch trieb es mich
gleich am andern Morgen hinaus, einen Gang durch die alten Straßen
zu tun. Da umfing mich zum erstenmal die Trauer um meine verlorene
aufrechte Jugend. Es war mir eine Qual, mit meinem gekrümmten und
steifen Bein am Stock durch diese Gassen zu hinken, wo jede Ecke an
Knabenspiele und untergegangene Freuden erinnerte. Ich kam schwermütig
nach Hause zurück, und wen ich sah und wessen Stimme ich hörte und
woran ich dachte, alles mahnte mich bitter an früher und an mein
Krüppeltum. Dabei litt ich darunter, daß meine Mutter offenbar mit
meiner Berufswahl weniger als je einverstanden war, obgleich sie das
nicht deutlich sagte. Einen Musiker, der schlankbeinig als Virtuos oder
schneidiger Dirigent sich zeigen konnte, hätte sie etwa noch gelten
lassen; wie aber ein Halblahmer mit mäßigen Zeugnissen und scheuem
Wesen als Geiger sich weiterbringen wolle, war ihr unverständlich.
In diesen Gedanken wurde sie von einer alten Freundin und entfernten
Verwandten unterstützt, der mein Vater einmal das Haus verboten hatte,
was sie ihm mit bitterem Haß vergalt, ohne freilich wegzubleiben,
denn sie kam während der Kontorstunden des Vaters häufig zu meiner
Mutter. Sie mochte mich, mit dem sie seit meinen Knabenjahren kaum
ein Wort gewechselt hatte, nicht leiden und sah in meiner Berufswahl
ein bedauerliches Zeichen von Entartung, in meinem Unglück aber eine
offensichtliche Strafe und Mahnung der Vorsehung.

Um mir eine Freude zu machen, hatte mein Vater es vorbereitet, daß
ich zum Solospielen in einem Konzert des städtischen Musikvereins
aufgefordert wurde. Aber ich konnte nicht, ich lehnte ab und zog
mich tagelang in meine kleine Stube zurück, in der ich schon als
Knabe gewohnt hatte. Besonders quälte mich das ewige Gefragtwerden
und Redestehenmüssen, so daß ich gar nimmer ausging. Dabei ertappte
ich mich dabei, daß ich aus dem Fenster dem Leben der Straße, den
Schulkindern und vor allem den jungen Mädchen mit unglücklichem Neide
nachsah.

Wie durfte ich denn hoffen, dachte ich, je wieder einem Mädchen Liebe
zeigen zu können! Ich würde immer nebendraußen stehen, wie beim Tanzen,
und zusehen müssen und den Mädchen nicht für voll gelten, und wenn
je eine freundlich mit mir wäre, so würde es Mitleid sein! Ach, das
Bemitleidetwerden hatte ich schon satt bis zum Ekel.

Unter diesen Umständen konnte meines Bleibens daheim nicht sein. Auch
die Eltern litten unter meiner reizbaren Schwermut nicht wenig und
redeten kaum dagegen, als ich mir die Erlaubnis erbat, gleich jetzt die
längst geplante Reise anzutreten, die der Vater mir versprochen hatte.
Es hat auch später noch mein Gebrechen mir zu schaffen gemacht und mir
Wünsche und Hoffnungen zerstört, an denen mein Herz hing; aber so heiß
und quälend habe ich meine Schwäche und Verunstaltung wohl nie mehr
empfunden wie damals, wo der Anblick jedes gesunden jungen Mannes und
jeder hübschen Frauengestalt mich demütigte und mir wehtat. Wie ich
mich langsam an den Stock und das Hinken gewöhnt hatte, bis es mich
kaum mehr störte, so mußte ich mich mit den Jahren daran gewöhnen,
meines Schadens ohne Bitterkeit bewußt zu bleiben und ihn mit Ergebung
oder Humor zu tragen.

Zum Glück konnte ich allein reisen und bedurfte keiner besonderen
Wartung mehr; jede Begleitung wäre mir zuwider gewesen und hätte meine
innere Heilung gestört. Mir ward schon leichter, als ich im Zuge saß
und niemand mehr mich auffällig und mitleidig betrachtete. Ich fuhr
ohne Pausen Tag und Nacht, in einem wahren Fluchtgefühl, und atmete
tief auf, als ich am zweiten Abend durch trübe Fenster spitze hohe
Berge erblickte. Mit dem Dunkelwerden erreichte ich die letzte Station,
ging müde und froh durch dunkle Gassen eines Graubündner Städtchens dem
ersten Gasthause zu und schlief nach einem Becher tiefroten Weines mir
in zehn Stunden die Reisemüdigkeit und schon auch einen guten Teil der
mitgebrachten Bedrängnis vom Halse.

Am Morgen stieg ich in die kleine Bergbahn, die durch enge Täler an
weißen schäumenden Bächen hin bergeinwärts führte, und dann an einem
kleinen einsamen Bahnhöflein in einen Wagen, und um Mittag war ich
droben in einem der höchstgelegenen Dörfer des Landes.

Im einzigen kleinen Gasthaus des stillen armen Dorfes wohnte ich nun,
zeitweise als einziger Gast, bis in den Herbst hinein. Ich hatte im
Sinn gehabt, hier eine kleine Weile auszuruhen und dann weiter durch
die Schweiz zu reisen, ein Stück Welt und Fremde zu sehen. Es ging aber
in jener Höhe ein Wind und wehte eine Luft voll herber Klarheit und
Größe, die ich nimmer verlassen mochte. Die eine Seite des Hochtales
war mit Tannenwald bewachsen, fast bis zur Höhe, die andere Lehne
war felsig kahl. Hier brachte ich meine Tage zu, im sonnenbraunen
Gestein oder an einem der kraftvollen wilden Bäche, deren Lied bei
Nacht durchs ganze Dorf tönte. In den ersten Tagen genoß ich die
Einsamkeit wie einen kühlen Heiltrank, niemand sah mir nach, niemand
zeigte mir Neugierde oder Mitleid, ich war frei und allein wie ein
Vogel in der Höhe und vergaß bald meinen Schmerz und mein kränkliches
Neidgefühl. Zuweilen tat es mir leid, daß ich nicht weit in die Berge
gehen, unbekannte Täler und Alpen besuchen, gefährliche Wege steigen
konnte. Doch war mir im Grunde herrlich wohl, nach den Erlebnissen und
Erregungen der vergangenen Monate umfing mich die Stille der Einsamkeit
wie eine sichere Burg, ich fand die gestörte Seelenruhe wieder und
lernte mich in meine körperliche Schwäche wenn nicht mit Heiterkeit, so
doch mit Resignation finden.

Die Wochen dort oben sind beinahe die schönsten in meinem Leben
gewesen. Ich atmete die reine helle Luft, trank das eisige Wasser
der Bäche, sah an den steilen Hängen die Ziegenherden grasen, von
schwarzhaarigen, träumerisch stillen Hirten bewacht, hörte zuweilen
Stürme durchs Tal gehen, sah Nebeln und Gewölk aus ungewohnter Nähe
ins Gesicht. In Steinspalten beobachtete ich die kleine, zarte,
farbenkräftige Blumenwelt und die vielen herrlichen Moose, und
an klaren Tagen stieg ich gern eine Stunde bergan, bis ich über
die jenseitige Höhe hinweg die fernen rein gezeichneten Spitzen
hoher Berge mit blauen Schatten und selig leuchtenden, silbernen
Schneefeldern sehen konnte. An einer Stelle des Fußpfades, wo von einer
armen kleinen Quelle her ihn ein dünnes Wassergerinsel feucht erhielt,
fand ich an jedem hellen Tag einen Schwarm von Hunderten kleiner blauer
Schmetterlinge trinkend sitzen, die kaum vor meinen Schritten auswichen
und mich, wenn ich sie aufstörte, mit einem winzigen, seidenzarten
Flügelgesumme umtaumelten. Seit ich sie kannte, ging ich diesen Weg
nur an sonnigen Tagen, und jedesmal war die dichte blaue Schar da, und
jedesmal war es ein Feiertag.

Besinne ich mich genauer, so war allerdings jene Zeit nicht ganz
so vollkommen blau und sonnig und feiertäglich, wie sie mir im
Gedächtnis steht. Es gab nicht nur Nebeltage und Regentage, sogar
Schnee und Kälte, es gab auch in mir Unwetter und böse Tage. Ich war
das Alleinsein nicht gewohnt, und als das erste Ausruhen und Schwelgen
vorüber war, sah mich zuweilen das Leid, dem ich entronnen, plötzlich
wieder aus schrecklicher Nähe an. Manchen kalten Abend saß ich in
meiner winzigen Stube, die Reisedecke auf den Knien, müde und wehrlos
törichten Gedanken hingegeben. Alles was das junge Blut begehrt und
hofft, Feste und tanzende Fröhlichkeit, Frauenliebe und Abenteuer,
Triumph der Kraft und der Liebe, das lag drüben am andern Ufer, für
immer von mir abgetrennt und für immer unerreichbar. Sogar jene trotzig
ausgelassene Zeit einer halb erzwungenen Lustigkeit, deren Ende mein
Sturz im Schlitten gewesen war, erschien in meiner Erinnerung dann
schön und paradiesisch gefärbt als ein verlorenes Land der Freude,
deren Nachhall mir nur noch von ferne her mit verklingendem bacchischem
Taumel herüberklang. Und wenn zuweilen nachts die Stürme gingen, wenn
das kalte stetige Geräusch der stürzenden Gewässer vom leidenschaftlich
wehklagenden Rauschen des zerwühlten Tannenwaldes übertönt wurde
oder im Dachgebälk des gebrechlichen Hauses die tausend unerklärten
Geräusche der schlaflosen Sommernacht laut wurden, dann lag ich in
hoffnungslosen heißen Träumen von Leben und Liebessturm, wütend und
Gott lästernd, und kam mir als ein ärmlicher Dichter und Träumer vor,
dessen schönster Traum doch nur ein dünnes Seifenblasenschillern ist,
während tausend andere rings in der Welt, ihrer Jugendkräfte froh,
jubelnde Hände nach allen Kronen des Lebens ausstreckten.

Wie ich jedoch die heilige Schönheit der Berge und alles, was meine
Sinne täglich genossen, nur durch einen Schleier zu mir herblicken
und nur aus einer seltsamen Ferne zu mir reden fühlte, so trat auch
zwischen mich und jenes oft so wild ausbrechende Leid ein Schleier
und eine leise Fremdheit, und bald war es so weit, daß ich beides,
den Glanz der Tage und den Jammer der Nächte, wie Stimmen von außen
vernahm, denen ich mit unverletztem Herzen zuhören konnte. Ich sah
und fühlte mich selbst als einen Himmel mit ziehendem Gewölk, als
ein Feld voll kämpfender Scharen, und ob es Lust und Genuß oder Leid
und Schwermut war, es tönte beides klarer und verständlicher, löste
sich aus meiner Seele und trat mich von außen an, in Harmonien und
Tonreihen, die ich wie im Schlafe vernahm und die ohne mein Wollen von
mir Besitz ergriffen.

Es war in einer Abendstille bei der Heimkehr aus den Felsen, als ich
das alles zum erstenmal deutlich empfand, und als ich daran grübelte
und mir selber ein Rätsel war, fiel es mir unversehens ein, was das
alles bedeute, und daß es die Wiederkehr jener fremden, entrückten
Stunden sei, die ich in frühern Jahren ahnungsweise vorgekostet hatte.
Und mit dieser Erinnerung kam jene herrliche Klarheit wieder, die fast
gläserne Helligkeit und Durchsichtigkeit der Gefühle, deren jedes ohne
Maske dastand und deren keines mehr Schmerz oder Glück hieß, sondern
nur Kraft und Klang und Strom bedeutete. Aus dem Treiben, Schillern und
Kämpfen meiner gesteigerten Empfindungen war Musik geworden.

Nun sah ich an meinen hellen Tagen die Sonne und den Wald, die braunen
Felsen und die fernen silbernen Berge mit doppeltem Gefühl von Glück
und Schönheit und Empfängnis, und ich fühlte in den dunklen Stunden
mein krankes Herz mit doppelter Glut sich dehnen und empören, und ich
unterschied nicht mehr Genuß und Weh, sondern eines war dem andern
gleich, und beides tat weh, und beides war köstlich. Und während es mir
innen wohl oder weh erging, stand meine Kraft doch in Ruhe darüber,
schaute zu und erkannte das Helle und Dunkle als geschwisterlich
zusammengehörend, das Leid und den Frieden als Takte und Kräfte und
Teile derselben großen Musik.

Ich konnte diese Musik nicht aufschreiben, sie war mir selber noch
fremd und ihre Grenzen mir unbekannt. Aber ich konnte sie hören, ich
konnte die Welt in mir als Vollkommenheit empfinden. Und etwas konnte
ich auch festhalten, einen kleinen Teil und Widerklang, verkleinert und
übersetzt. Daran dachte ich und sog ich nun tagelang und fand, daß es
mit zwei Geigen auszudrücken war, und fing, wie ein junger Vogel das
Fliegen wagt, in aller Unschuld an meine erste Sonate aufzuschreiben.

Als ich den ersten Satz eines Morgens in meiner Kammer auf der
Geige spielte, fühlte ich wohl die Schwäche und Unfertigkeit und
Unsicherheit, aber es lief mir doch jeder Takt wie ein Schauer übers
Herz. Ich wußte nicht, ob diese Musik gut war; ich wußte aber, daß es
meine eigene Musik war, in mir erlebt und geboren und nirgends vorher
gehört.

Unten in der Gaststube saß, unbeweglich und weiß wie ein Eiszapfen,
jahraus, jahrein der Vater des Wirts, ein Mann von mehr als achtzig
Jahren, der nie ein Wort sprach und nur aus ruhigen Augen sorgsam um
sich blickte. Es war ein Geheimnis, ob der feierlich Schweigende im
Besitz übermenschlicher Weisheit und Seelenstille sei oder ob die
Geisteskräfte ihn verlassen hatten. Zu diesem Greise stieg ich an jenem
Morgen hinab, meine Geige unter dem Arm, denn ich hatte bemerkt, daß
er meinem Spiel und jeder Musik immer mit Aufmerksamkeit zuhörte. Da
ich ihn allein fand, stellte ich mich vor ihm auf, stimmte die Violine
und spielte ihm meinen ersten Satz vor. Der uralte Mann hielt seine
stillen Augen, deren Weißes gelblich und deren Lidränder rot waren,
auf mich gerichtet und hörte zu, und wenn ich an jene Musik denke, so
sehe ich auch den Alten wieder und sein regungslos steinernes Gesicht,
aus dem die ruhigen Augen mich betrachten. Als ich fertig war, nickte
ich ihm zu, er blinzelte listig und schien alles zu begreifen, seine
gelblichen Augen erwiderten meinen Blick, dann wandte er sie ab, ließ
den Kopf ein wenig sinken und erlosch wieder zu seiner alten Starre.

Früh begann der Herbst in jener Höhe und als ich eines Morgens
abreiste, lag dicker Nebel und fiel in staubzarten Tropfen sprühend
ein kalter Regen. Ich nahm aber die Sonne der guten Tage und außer der
dankbaren Erinnerung auch einen frohen Mut für meine nächsten Wege mit.



Während meines letzten Semesters am Konservatorium lernte ich den
Sänger Muoth kennen, der in der Stadt einen gewissen ehrenvollen Ruf
besaß. Er war vor vier Jahren mit seinen Studien fertig und sogleich
an der Hofoper angestellt worden, wo er zwar einstweilen noch mit
mittleren Rollen auftrat und neben beliebten älteren Kollegen nicht
recht zu Glanze kam, aber bei vielen für einen zukünftigen Stern galt,
den der nächste Schritt zum Ruhm führen müsse. Mir war er von der
Bühne her aus einigen Rollen bekannt und hatte mir immer einen starken
Eindruck gemacht, wennschon keinen reinen.

Unsere Bekanntschaft entstand so. Ich hatte nach meiner Rückkehr zur
Schule jenem Lehrer, der mir so freundliche Teilnahme gezeigt hatte,
meine Violinsonate und zwei von mir komponierte Lieder gebracht. Er
versprach, die Arbeiten durchzusehen und mir seine Meinung darüber zu
sagen. Nun dauerte es lange, bis er es tat, und ich konnte ihm eine
gewisse Verlegenheit anmerken, so oft ich ihm inzwischen begegnete.
Endlich rief er mich eines Tages zu sich und gab mir meine Noten zurück.

»Da sind Ihre Arbeiten wieder«, sagte er etwas befangen. »Hoffentlich
haben Sie sich nicht gar zu große Hoffnungen gemacht! Es ist etwas
daran, ohne Zweifel, und es kann etwas aus Ihnen werden. Aber offen
gesagt, ich hatte Sie schon für reifer und ruhiger gehalten, überhaupt
Ihrer Natur nicht so viel Leidenschaft zugetraut. Ich hatte etwas
Stilleres und Gefälligeres erwartet, was technisch sicherer wäre und
was sich technisch beurteilen ließe. Nun ist aber Ihre Arbeit technisch
mißglückt, so daß ich wenig dazu sagen kann, und ist dafür ein kecker
Versuch, den ich nicht bewerten kann, aber als Ihr Lehrer nicht loben
möchte. Sie haben weniger und mehr gegeben, als ich erwartet hatte, und
mich damit in Verlegenheit gebracht. Ich bin zu sehr Schulmeister, um
die Stilsünden übersehen zu können, und ob sie durch die Originalität
aufgewogen werden, mag ich erst recht nicht entscheiden. Ich will also
warten, bis ich wieder etwas von Ihnen sehe, und wünsche Glück dazu.
Weiterkomponieren werden Sie ja doch, soviel habe ich gemerkt.«

Damit war ich abgezogen und hatte nicht gewußt, was mit dem Bescheid
anfangen, der keiner war. Mir hatte es geschienen, man müsse einer
Arbeit ohne weiteres ansehen, ob sie aus Spielerei und zum Zeitvertreib
oder ob sie aus Bedürfnis und aus dem Herzen entstanden sei. Ich legte
die Noten weg und nahm mir vor, das alles einstweilen zu vergessen, um
in diesen letzten Lernmonaten recht fleißig zu sein.

Da war ich einmal von einer Familie eingeladen, wo viel Musik getrieben
wurde und wo ich, als bei Bekannten meiner Eltern, ein- oder zweimal
im Jahr meinen Besuch zu machen pflegte. Es war ein Gesellschaftsabend
wie alle, nur daß ein paar Berühmtheiten von der Oper dabei waren, die
ich vom Sehen alle kannte. Auch der Sänger Muoth war da, der mich von
allen am meisten interessierte, und ich sah ihn zum erstenmal so nahe.
Er war groß und schön, ein imponierender dunkler Mann mit sichern und
vielleicht schon etwas verwöhnten Manieren, man sah ihm an, daß er den
Frauen gefiel. Doch sah er, von den Gebärden abgesehen, weder stolz
noch vergnügt aus, sondern hatte in Blick und Mienen viel Suchendes und
Unbefriedigtes. Als ich ihm vorgestellt wurde, grüßte er mit einem
kurzen steifen Kompliment, ohne mit mir zu sprechen. Nach einer Weile
kam er aber plötzlich zu mir her und sagte: »Heißen Sie nicht Kuhn?
-- Dann kenne ich Sie schon ein wenig. Der Professor S. hat mir Ihre
Arbeiten gezeigt. Sie dürfen es ihm nicht übel nehmen, er ist nicht
indiskret. Aber ich kam gerade dazu, und weil ein Lied dabei war, sah
ich mirs mit seiner Erlaubnis an.«

Ich war erstaunt und verlegen. »Warum sprechen Sie davon?« fragte ich.
»Es hat dem Professor nicht gefallen, glaube ich.«

»Tut Ihnen das weh? Nun, mir hat das Lied sehr gefallen; ich könnte es
singen, wenn ich nur die Begleitung hätte. Die möchte ich mir von Ihnen
erbitten.«

»Es hat Ihnen gefallen? Ja, kann man es denn singen?«

»Das kann man schon, freilich nicht in jedem Konzert. Ich möchte es
aber gern für mich haben, für den Hausbrauch.«

»Ich will es Ihnen abschreiben. Aber warum wollen Sie es haben?«

»Weil es mich interessiert. Es ist ja wirklich Musik, das Lied, das
wissen Sie doch selber!«

Er sah mich an und mich plagte seine Art, Leute anzusehen. Er blickte
mir ganz gerade ins Gesicht, völlig unbekümmert studierend, und seine
Augen waren voll Neugierde.

»Sie sind jünger als ich gedacht hätte. Sie müssen doch schon viel
Schmerz erfahren haben.«

»Ja,« sagte ich, »aber ich kann nicht davon sprechen.«

»Das sollen Sie auch nicht, ich will Sie doch nicht ausfragen.«

Sein Blick verwirrte mich, auch war er eine Art von Berühmtheit und
ich noch ein Schüler, so daß ich mich nur schwach und schüchtern
zur Wehr setzen konnte, obgleich mir seine Art zu fragen gar nicht
gefiel. Hochmütig war er nicht, aber irgendwie verletzte er mir das
Schamgefühl, ohne daß ich mehr als leise abwehren konnte, denn es kam
doch auch kein rechter Widerwille in mir auf. Ich hatte das Gefühl, er
sei unglücklich und habe eine ungewollt gewaltsame Art die Menschen
anzufassen, als wolle er ihnen etwas entreißen, was ihn trösten könne.
Sein dunkel forschendes Auge war so frech wie traurig, und sein Gesicht
viel älter als er sein konnte.

Bald darauf, während mir seine Anrede noch die Gedanken beschäftigte,
sah ich ihn höflich und lustig mit einer Tochter des Hauses plaudern,
die ihm entzückt zuhörte und ihn wie ein Meerwunder anschaute.

Ich lebte seit meinem Ungeschick so einsam, daß diese Begegnung mir
noch tagelang nachklang und mich störte. Ich war meiner selbst nicht
sicher genug, um den überlegenen Mann nicht zu fürchten, und doch zu
einsam und bedürftig, um nicht von seiner Annäherung geschmeichelt zu
sein. Schließlich dachte ich, er habe mich und seine Laune von jenem
Abend vergessen. Da erschien er zu meiner Verwirrung in meiner Wohnung.

Das war an einem Dezemberabend, schon bei voller Dunkelheit. Der Sänger
klopfte an und trat herein, als sei nichts Merkwürdiges an seinem
Besuch, und sprang sogleich, ohne alle Einleitungen und Höflichkeiten,
mitten in das Gespräch. Ich mußte ihm das Lied geben, und da er mein
Mietklavier im Zimmer sah, wollte er es sogleich singen. Ich mußte
hinsitzen und begleiten, und so hörte ich zum erstenmal mein Lied
richtig gesungen. Es war traurig und ergriff mich wider meinen Willen,
denn er sang es nicht sängermäßig, sondern leise und wie für sich
allein. Der Text, den ich im vorigen Jahr in einer Zeitschrift gelesen
und mir abgeschrieben hatte, hieß so:

  Daß bei jedem Föhn
  Vom Berg die Lawine rollt
  Mit Sausen und Todesgetön,
  Hat das Gott gewollt?

  Daß ich ohne Gruß
  Durch der Menschen Land
  Fremd wandern muß,
  Kommt das von Gottes Hand?

  Sieht Er in Herzensnot
  Und Qual mich schweben?
  Ach, Gott ist tot!
  -- Und ich soll leben?

Wie ich's ihn singen hörte, begriff ich, daß das Lied ihm gefallen
hatte.

Wir waren eine kleine Weile still, dann fragte ich ihn, ob er mir nicht
Fehler sagen und Korrekturen vorschlagen könne.

Muoth sah mich mit seinem dunklen, starren Blick an und schüttelte den
Kopf.

»Da ist nichts zu korrigieren,« sagte er. »Ich weiß nicht, ob die
Komposition gut ist, ich verstehe davon gar nichts. Es ist Erlebnis
und Herz in dem Lied, und weil ich selber nicht dichte und nicht
komponiere, freut es mich, wenn ich einmal etwas finde, das mir wie
eigen vorkommt und das ich mir selber vorsingen mag.«

»Der Text ist aber nicht von mir,« warf ich ein.

»Nicht? Nun, einerlei, der Text ist auch Nebensache. Sie müssen ihn
doch erlebt haben, sonst hätten Sie das nicht komponiert.«

Ich bot ihm nun die Abschrift an, die ich schon seit Tagen bereit
hatte. Er nahm die Blätter an sich, rollte sie ein und zwängte sie in
die Manteltasche.

»Kommen Sie auch einmal zu mir, wenn Sie mögen,« sagte er und gab mir
die Hand. »Sie leben einsam, das will ich Ihnen nicht verderben. Aber
hie und da sieht man doch gern einem anständigen Menschen ins Gesicht.«

Da er fortging, blieb sein letztes Wort und Lächeln bei mir zurück, es
klang mit dem Lied zusammen, das er gesungen hatte, und mit allem was
ich bis jetzt von dem Mann wußte. Und je länger ich das alles bei mir
trug und betrachtete, desto deutlicher wurde es, und am Ende verstand
ich diesen Menschen. Ich verstand warum er zu mir gekommen war, warum
mein Lied ihm gefiel, warum er so fast unbescheiden in mich drang und
mir halb scheu, halb frech erschienen war. Er litt, er trug einen
schweren Schmerz, und er war von Einsamkeit ausgehungert wie ein Wolf.
Dieser Leidende hatte es mit dem Stolz und dem Alleinsein versucht
und es nicht ausgehalten, er lag auf der Lauer nach Menschen, nach
einem guten Blick und einem Hauch von Verständnis, und war bereit sich
wegzuwerfen dafür. So dachte ich es mir damals.

Mein Gefühl gegen Heinrich Muoth war nicht klar. Ich spürte wohl sein
Verlangen und seine Not, doch hatte ich Furcht vor ihm als einem
überlegenen und grausamen Menschen, der mich verbrauchen und liegen
lassen könnte. Ich war zu jung und hatte zu wenig Menschliches erlebt,
um das zu verstehen und zu billigen, wie er sich gleichsam nackt hingab
und kaum die Scham des Schmerzes zu kennen schien. Doch sah ich auch,
daß hier ein glühender und inniger Mensch litt und verlassen war. Es
fielen mir ungesucht die Gerüchte ein, die ich über Muoth gehört hatte,
undeutliches ängstliches Schülergerede, dessen eigentlicher Inhalt
mir verloren gegangen war, dessen Farbe und Ton aber mein Gedächtnis
wohl bewahrt hatte. Man erzählte von ihm tolle Frauengeschichten und
Abenteuer, und ohne daß mir das einzelne erinnerlich gewesen wäre,
glaubte ich doch noch irgend etwas Blutiges zu wissen, als sei er in
die Geschichte eines Mordes oder Selbstmordes verwickelt gewesen.

Als ich bald darauf meine Scheu bezwang und einen Kameraden darüber
fragte, zeigte sich die Sache harmloser als sie mir erschienen war.
Muoth hatte, wie es hieß, ein Liebesverhältnis mit einer jungen
Dame aus der guten Gesellschaft unterhalten, und diese hatte sich
allerdings vor zwei Jahren das Leben genommen, doch ohne daß man
von einer Verwicklung des Sängers in diese Geschichte mehr als in
vorsichtigen Andeutungen zu reden wagen durfte. Vermutlich hatte meine
eigene Phantasie, durch die Begegnung mit dem eigenartigen und mir
leise unheimlichen Menschen erregt, jenen Duft von Schrecken um ihn
geschaffen. Doch mußte er immerhin mit jener Liebe Böses erlebt haben.

Ich hatte nicht den Mut, zu ihm zu gehen. Wohl konnte ich mir
nicht verbergen, daß Heinrich Muoth ein leidender und vielleicht
verzweifelnder Mensch sei, der nach mir griffe und begehre, und
manchmal schien mir, ich müsse dem Ruf folgen und wäre ein Schelm,
wenn ich es nicht täte. Dennoch ging ich nicht hin, ein anderes Gefühl
hinderte mich. Was Muoth bei mir suchte, konnte ich ihm nicht geben,
ich war ein ganz anderer Mensch als er, und wenn ich auch in mancher
Hinsicht einsam und nicht recht verstanden unter den Leuten stand, wenn
ich auch vielleicht anders war als jedermann, durch Schicksal und
durch Veranlagung von den meisten getrennt, so wollte ich doch davon
kein Aufhebens machen. Mochte der Sänger ein dämonischer Mensch sein,
ich war keiner, und mich hielt ein inneres Bedürfnis vom Auffallenden
und Besonderen ab. Ich hatte eine Abneigung und einen Widerwillen gegen
Muoths heftige Gebärde, er war ein Mann der Bühne und der Abenteuer,
schien mir, und vielleicht dazu bestimmt, ein tragisches und weithin
sichtbares Schicksal zu leben. Ich hingegen wollte in der Stille
bleiben, mir standen Gebärden und kühne Worte nicht an, ich war zur
Resignation bestimmt. So rätselte ich hin und wieder, im Bedürfnis nach
Beruhigung. Es hatte ein Mensch an meine Türe geklopft, der mir leid
tat und den ich vielleicht gerechterweise über mich stellen mußte, aber
ich wollte Ruhe haben und ihn nicht einlassen. Eifrig warf ich mich auf
die Arbeit und ward die plagende Vorstellung nicht los, es stehe hinter
mir einer, der nach mir greife.

Da ich nicht kam, nahm Muoth die Sache wieder selber in die Hand.
Ich erhielt ein Brieflein von ihm, das war in großen stolzen Zügen
geschrieben und lautete:

»Lieber Herr! Am elften Januar pflege ich mit einigen Freunden meinen
Geburtstag zu feiern. Darf ich Sie dazu einladen? Schön wäre es, wenn
wir bei diesem Anlaß Ihre Violinsonate hören könnten. Was meinen Sie
dazu? Haben Sie einen Kollegen, mit dem Sie sie spielen können, oder
soll ich Ihnen jemand schicken? Stefan Kranzl wäre bereit. Sie würden
eine Freude machen Ihrem

                                                       Heinrich Muoth.«

Das hatte ich nicht erwartet. Ich sollte meine Musik, um die noch
niemand wußte, vor Kennern spielen, und ich sollte mit Kranzl zusammen
geigen! Beschämt und dankbar sagte ich zu und wurde schon nach zwei
Tagen von Kranzl aufgefordert, ihm die Noten zu schicken. Und wieder
nach ein paar Tagen lud er mich ein. Der beliebte Geiger war noch jung,
ein Mann vom Virtuosenzuschnitt, sehr schmal und schlank und blaß.

»So,« sagte er gleich bei meinem Eintreten, »Sie sind also der Freund
von Muoth. Ja, da wollen wir gleich anfangen. Wenn wir aufpassen,
wird's nach zwei-, dreimal schon gehen.«

Damit setzte er mir einen Stuhl hin, legte mir die zweite Geigenstimme
vor, markierte den Takt und fing an, mit seinem leichten empfindlichen
Strich, daß ich daneben ganz zusammensank.

»Nur nit so schüchtern!« rief er mir zu, ohne das Spiel zu
unterbrechen, und wir spielten das Ganze durch.

»So, es geht ja?« sagte er. »Schad, daß Sie keine bessere Geigen haben.
Tut aber nichts. Das Allegro nehmen wir dann aber ein bissel schneller,
daß man's nit für einen Trauermarsch anschaut. Los!«

Und da spielte ich nun neben dem Virtuosen ganz zutraulich meine Noten
herunter, meine einfache Geige klang mit seiner kostbaren zusammen als
müsse es so sein, und ich war erstaunt, den apart aussehenden Herrn so
zwanglos, ja naiv zu finden. Als ich warm geworden und etwas zu Mut
gekommen war, fragte ich ihn zögernd nach seinem Urteil über meine
Komposition.

»Da müssen's ein' andern fragen, lieber Herr, ich versteh' nit viel
davon. Ein bissel sonderbar ist's schon, aber des haben die Leut ja
gern. Wann's dem Muoth gefallt, können's sich schon was einbilden, der
frißt nit alles.«

Er gab mir Ratschläge wegen des Spiels und zeigte mir einige Stellen,
denen Änderungen nottaten. Dann wurde auf morgen eine weitere Probe
verabredet und ich konnte gehen.

Es war mir ein Trost, diesen Geigenmann so einfach und bieder zu
finden. Wenn der zu Muoths Freunden gehörte, konnte ich dort zur Not
auch bestehen. Freilich war er ein fertiger Künstler und ich ein
Anfänger ohne große Aussichten. Leid tat mir nur, daß niemand sich
offen über meine Arbeit äußern wollte. Das härteste Urteil wäre mir
lieber gewesen als diese gutmütigen Sprüche, die nichts sagten.

Es war in jenen Tagen bitter kalt, man konnte es kaum erheizen. Meine
Kameraden liefen eifrig Schlittschuh, es jährte sich seit unserem
Ausflug mit Liddy. Für mich war das keine gute Zeit und ich freute mich
auf den Abend bei Muoth, ohne mir sonst viel davon zu versprechen, nur
weil ich so lang keine Freunde und keine Fröhlichkeit mehr gesehen
hatte. In der Nacht vor dem elften Januar erwachte ich an einem
ungewohnten Geräusch und einer fast erschreckenden Wärme der Luft. Ich
stand auf und ging ans Fenster, verwundert, daß es nimmer kalt war. Da
war plötzlich der Südwind gekommen, es wehte gewaltig feucht und lau,
in der Höhe schob der Sturm große schwerfällige Wolkenzüge vor sich
über den Himmel, an dem in schmalen Lücken einzelne Sterne sonderbar
groß und blendend strahlten. Die Dächer hatten schon schwarze Flecken,
und am Morgen, als ich ausging, war aller Schnee vergangen. Die Straßen
und Gesichter sahen seltsam verändert aus und über allem schwamm ein
verfrühter Hauch von Frühling.

Ich ging an jenem Tage in einem leisen fieberhaften Rausch umher, teils
wegen des Südwindes und der gärenden Luft, teils in großer Erregung und
Erwartung des Abends. Oftmals nahm ich meine Sonate vor und spielte
Stücke daraus, und warf sie wieder weg. Bald fand ich sie wahrhaft
schön und hatte meine stolze Freude an ihr, bald kam sie mir plötzlich
kleinlich, zerrissen und unklar vor. Ich hätte diese Aufregung und
Bangigkeit nicht lange ertragen. Schließlich wußte ich nimmer, ob ich
mich auf den herankommenden Abend freue oder fürchte.

Er kam dennoch, ich zog den Gehrock an, nahm meinen Geigenkasten
mit und suchte Muoths Wohnung auf. Weit in der Vorstadt in einer
unbekannten und unbegangenen Straße fand ich in der Dunkelheit mit
Mühe das Haus, es lag allein in einem großen Garten, der verfallen und
ungepflegt erschien, hinter der unverschlossenen Gartentür fiel ein
großer Hund mich an, der von einem Fenster her zurückgepfiffen wurde
und murrend mich zum Eingang begleitete. Hier empfing mich eine alte
kleine Frau mit ängstlichen Augen, nahm mir den Mantel ab und führte
mich durch einen hell erleuchteten Korridor hinein.

Der Geigenspieler Kranzl wohnte sehr nobel, und ich hatte erwartet, es
auch bei Muoth, der für reich galt, ziemlich glänzend zu finden. Nun
sah ich zwar große weite Räume, viel zu groß für einen Junggesellen,
der wenig zu Hause ist, sonst aber alles sehr einfach, oder eigentlich
nicht einfach, sondern zufällig und ungeordnet. Die Möbel waren zum
Teil alt und schienen zum Hause zu gehören, dazwischen standen neue
Sachen, wahllos gekauft und ohne Sorgfalt aufgestellt. Glänzend war nur
die Beleuchtung. Es brannte kein Gas, statt dessen eine große Menge
weißer Kerzen in einfachen, schönen Zinnleuchtern, im Hauptraume auch
eine Art Kronleuchter, ein schlichter Messingring mit vielen Kerzen
besteckt. Hier stand als Hauptstück ein sehr schöner Flügel.

In dem Zimmer, in das ich geführt wurde, standen einige Herren im
Gespräch beisammen. Ich stellte meinen Kasten ab und grüßte, einige
nickten und wandten sich wieder zueinander, ich stand fremd da. Nun
kam Kranzl, der bei ihnen war und mich nicht gleich beachtet hatte,
zu mir, gab mir die Hand, stellte mich seinen Bekannten vor und sagte:
»Das ist unser neuer Geiger. Haben's auch die Geigen mitbracht?« Dann
rief er ins Nebenzimmer hinüber: »Du, Muoth, der mit der Sonaten ist
da.«

Jetzt kam Heinrich Muoth herein, begrüßte mich sehr freundlich und
nahm mich mit ins Flügelzimmer, wo es festlich und warm aussah und
eine schöne Frau im weißen Kleid mir ein Glas Sherry einschenkte. Es
war eine Schauspielerin vom Hoftheater, übrigens sah ich zu meinem
Erstaunen sonst keinen Kollegen des Hausherrn eingeladen, auch war sie
die einzige Dame.

Als ich mein Gläschen halb in Verlegenheit, halb in unwillkürlichem
Wärmebedürfnis nach dem feuchten Nachtgang rasch ausgetrunken hatte,
schenkte sie mir wieder ein und ließ meine Abwehr nicht gelten. »Nehmen
Sie nur, es kann nichts schaden. Wir kriegen nämlich erst nach der
Musik etwas zu essen. Sie haben doch die Geige mitgebracht, und die
Sonate?«

Ich gab spröde Antwort und war befangen, wußte auch nicht, in welchem
Verhältnis sie zu Muoth stehe. Sie schien die Hausfrau zu machen und
war übrigens eine Augenweide, wie ich denn auch in der Folge meinen
neuen Freund stets nur mit exemplarisch schönen Frauen Umgang pflegen
sah.

Indessen sammelten sich alle im Musikzimmer, Muoth stellte ein
Notenpult auf, man setzte sich, und bald war ich mit Kranzl mitten in
der Musik. Ich spielte, ohne es zu fühlen, es kam mir miserabel vor,
und nur wie jagendes Wetterleuchten überflog mich zwischenein je und
je für Sekunden das Bewußtsein, daß ich hier mit Kranzl spiele, und
daß das der zag erwartete große Abend sei, und daß da eine kleine
Gesellschaft von Kennern und verwöhnten Musikern sitze, denen wir
meine Sonate vorspielten. Erst während des Rondo begann ich zu hören,
daß Kranzl herrlich spielte, doch war ich immer noch so befangen und
außerhalb der Musik, daß ich ununterbrochen an anderes dachte und
mir plötzlich einfiel, daß ich Muoth noch gar nicht zum Geburtstag
gratuliert habe.

Nun war die Sonate ausgespielt, die schöne Dame erhob sich, gab mir und
Kranzl die Hand und öffnete die Tür zu einem kleineren Zimmer, wo uns
ein gedeckter Tisch mit Blumen und Weinflaschen erwartete.

»Endlich!« rief einer von den Herren, »ich bin schier verhungert.«

Die Dame meinte: »Sie sind doch ein Scheusal. Was soll der Komponist
denken?«

»Welcher Komponist, ist er denn da?«

Sie zeigte auf mich. »Da sitzt er.«

Er sah mich an und lachte. »Das hättet ihr mir auch vorher sagen
können. Übrigens, die Musik war recht schön. Nur, wenn man Hunger hat
--.«

Wir begannen zu essen, und kaum war die Suppe weg und der weiße Wein
eingeschenkt, da tat Kranzl einen Trinkspruch auf den Hausherrn und
dessen Geburtstag. Muoth erhob sich gleich nach dem Anstoßen: »Lieber
Kranzl, wenn du gedacht hast, ich würde jetzt eine Rede auf dich
halten, hast du dich getäuscht. Wir wollen überhaupt keine Reden mehr
halten, ich bitte drum. Die einzige, die vielleicht nötig ist, nehme
ich hiermit auf mich. Ich danke unserem jungen Freund für seine Sonate,
die ich famos finde. Vielleicht wird unser Kranzl einmal froh sein,
wenn er Sachen von ihm zu spielen kriegt, was er übrigens nur tun soll,
denn er hat die Sonate wirklich kapiert. Ich trinke auf den Komponisten
und auf gute Freundschaft mit ihm.«

Man stieß an, lachte, zog mich ein wenig auf, und bald kam eine von
gutem Wein erhöhte Tafelfröhlichkeit zustande, der ich mich erlöst
hingab. Ich war lange nimmer auf diese Weise vergnügt und entlastet
gewesen, eigentlich seit einem Jahre nicht mehr. Jetzt tat mir
Gelächter und Wein, Gläsergeläut, Stimmenwirrnis und der Anblick einer
schönen fröhlichen Frau verschüttete Tore zur Freude auf und ich glitt
weich hinüber in die losgebundene Heiterkeit leichter und lebhafter
Gespräche und lachender Mienen.

Früh stand man von der Tafel auf und kehrte ins Musikzimmer zurück,
wo sich das Gelage mit Wein und Zigarren in alle Ecken verteilte.
Ein stiller Herr, der wenig geredet hatte und dessen Namen ich nicht
wußte, kam zu mir und sagte mir freundliche Worte über die Sonate,
die ich ganz vergessen hatte. Dann zog mich die Schauspielerin ins
Gespräch, und zu uns setzte sich Muoth. Wir tranken abermals auf gute
Freundschaft, und plötzlich sagte er, funkelnd mit seinen düster
lachenden Augen: »Ich weiß jetzt Ihre Geschichte.« Und zu der Schönen:
»Er hat sich beim Rodeln die Knochen gebrochen, einem hübschen Mädel
zulieb.« Und wieder zu mir: »Das ist schön. Im Augenblick, wo die Liebe
am schönsten ist und noch keinen Fleck hat, kopfüber den Berg hinunter.
Das ist schon ein gesundes Bein wert.« Lachend leerte er sein Glas und
sah alsofort wieder dunkel und grübelnd aus, als er sagte: »Wie sind
Sie zum Komponieren gekommen?«

Ich erzählte, von den Knabenzeiten her, wie es mir mit der Musik
gegangen war, und erzählte vom vergangenen Sommer, von meiner Flucht in
die Berge und von dem Lied und der Sonate.

»Ja,« sagte er langsam. »Aber warum macht Ihnen das nun Freude? Man
kann einen Schmerz doch nicht aufs Papier schreiben und damit los sein.«

»Das will ich auch nicht,« meinte ich. »Ich möchte gar nichts hergeben
und los sein als die Schwäche und Unfreiheit. Ich möchte empfinden,
daß der Schmerz und die Freude aus der gleichen Quelle kommen und
Bewegungen derselben Kraft und Takte derselben Musik sind, jedes schön
und notwendig.«

»Mann,« rief er heftig, »Sie haben doch ein Bein verloren! Können Sie
denn das über der Musik vergessen?«

»Nein, warum? Anders machen kann ich es doch nimmer.«

»Und macht Sie das nicht verzweifelt?«

»Es freut mich nicht, das können Sie glauben, aber ich hoffe, zum
Verzweifeln bringt es mich nimmer.«

»Dann sind Sie glücklich. Ich gäbe zwar kein Bein her um so ein Glück.
Also so ist das mit Ihrer Musik? Sieh, Marion, das ist der Zauber der
Kunst, von dem so viel in Büchern steht.«

Zornig rief ich ihn an: »Reden Sie doch nicht so! Sie selber singen
doch auch nicht bloß um Ihre Gage, sondern haben eine Freude und einen
Trost daran! Warum verspotten Sie mich und sich selber? Ich finde das
roh.«

»Still, still!« machte Marion, »sonst wird er bös.«

Muoth sah mich an. »Ich werde nicht böse. Er hat ja ganz recht. Aber
das mit dem Bein kann nicht so schlimm sein, sonst würde Sie das
Musikmachen nicht drüber trösten. Sie sind ein zufriedener Mensch,
denen kann passieren was will und sie bleiben doch zufrieden. Aber ich
habe nicht daran geglaubt.«

Und er sprang auf, ganz zornig. »Und es ist auch nicht wahr! Sie
haben ja das Lawinenlied komponiert, das ist kein Trost und keine
Zufriedenheit, sondern Verzweiflung. Hören Sie!«

Er war plötzlich am Flügel, es wurde stiller im Zimmer. Er fing zu
spielen an, verwirrte sich, ließ dann die Einleitung weg und sang das
Lied. Er sang es jetzt anders als damals bei mir und ich konnte sehen,
daß er es seither manchmal vorgehabt habe. Auch sang er diesmal mit
voller Stimme, mit seinem hohen Bariton, den ich von der Bühne kannte
und dessen Kraft und strömende Leidenschaft die ungeklärte Härte seines
Gesangs vergessen machte.

»Das hat dieser Mann, wie er sagt, rein zum Vergnügen geschrieben,
er weiß nichts von Verzweiflung und ist mit seinem Los unendlich
zufrieden!« rief er und zeigte auf mich, und ich hatte Tränen der Scham
und des Zorns in den Augen, sah alles in Schleiern wanken und stand
auf, um ein Ende zu machen und fortzugehen.

Da hielt mich eine feine, doch kräftige Hand, und drückte mich in den
Sessel zurück, und strich mir leise und zärtlich über das Haar, daß
mich feine heiße Wellen bespülten, daß ich die Augen schloß und die
Tränen verbiß. Aufschauend sah ich alsdann Heinrich Muoth vor mir
stehen, die andern schienen meine Bewegung und die ganze Szene nicht
beachtet zu haben, sie tranken Wein und lachten durcheinander.

»Sie Kind!« sagte Muoth leise. »Wenn man solche Lieder geschrieben
hat, ist man doch über so etwas hinaus. Aber es tut mir leid. Da hat
man einen Menschen gern, und kaum ist man mit ihm zusammen, so fängt
man Händel mit ihm an.«

»Es ist gut,« sagte ich befangen. »Aber ich möchte jetzt heimgehen, das
Schönste von heute haben wir doch gehabt.«

»Gut, ich will Sie nicht nötigen. Wir andern betrinken uns jetzt noch,
denke ich. Dann seien Sie so gut und nehmen Sie die Marion mit heim,
gelt? Sie wohnt am innern Graben, das ist für Sie kein Umweg.«

Die schöne Frau sah ihn einen Augenblick prüfend an. »Ja, wollen Sie?«
sagte sie dann zu mir, und ich stand auf. Wir nahmen nur von Muoth
Abschied, im Vorzimmer half uns ein Lohndiener in die Mäntel, dann
erschien verschlafen auch die kleine Alte und leuchtete mit einer
großen Laterne durch den Garten zur Pforte. Der Wind ging immer noch
weich und laulich, trieb lange schwarze Wolkenzüge dahin und wühlte in
kahlen Baumkronen.

Ich wagte nicht, der Marion den Arm zu geben, sie aber hängte ungefragt
bei mir ein, sog die Nachtluft mit zurückgeworfenem Kopfe ein und sah
dann aus solcher Höhe fragend und vertraulich auf mich herab. Mir war,
ich fühle immer noch ihre leichte Hand auf meinen Haaren, sie ging
langsam und schien mich führen zu wollen.

»Dort stehen Droschken,« sagte ich, denn es war mir peinlich, daß sie
sich meinem lahmen Schritt anbequemen sollte, und ich litt darunter,
neben der warmen, kraftvoll schlanken Frau einher zu hinken.

»Nein,« meinte sie, »wir wollen noch eine Straße weit gehen.« Und
sie gab sich Mühe, recht langsam zu gehen, und wenn es nur auf mein
Verlangen angekommen wäre, ich hätte sie noch enger an mich gezogen.
So aber zerriß mich Qual und Zorn, ich machte ihren Arm aus meinem
los, und als sie mich erstaunt ansah, sagte ich: »Es geht nicht gut
so, ich muß allein gehen, verzeihen Sie.« Und sie ging sorgsam und
mitleidig neben mir, und mir fehlte nichts als ein aufrechter Gang und
das Bewußtsein der körperlichen Sicherheit, so hätte ich von allem,
was ich tat und sagte, das Gegenteil gesagt und getan. Ich wurde still
und schroff, es war nicht anders zu machen, sonst hätte ich wieder
Tränen in die Augen bekommen und mich danach gesehnt, ihre Hand auf
meinem Kopf zu fühlen. Am liebsten wäre ich in die nächste Seitengasse
entflohen. Ich wollte nicht, daß sie langsam ging, daß sie mich
schonte, daß sie Mitleid mit mir hatte.

»Sind Sie ihm böse?« fing sie schließlich an.

»Nein. Es war dumm von mir. Ich kannte ihn ja noch kaum.«

»Er tut mir leid, wenn er so ist. Er hat Tage, wo man ihn fürchten muß.«

»Sie auch?«

»Ich am meisten. Dabei tut er niemand weher als sich selber. Er haßt
sich manchmal.«

»Ach, er macht sich interessant!«

»Was sagen Sie?« rief sie erschrocken.

»Daß er ein Komödiant ist. Was braucht er sich und andere zu
verhöhnen? Was braucht er die Erlebnisse und Geheimnisse eines Fremden
hervorzuziehen und lächerlich zu machen, das Lästermaul!«

Mein Zorn von vorher kehrte mir im Reden wieder, ich war gewillt den
Mann zu beschimpfen und herabzuziehen, der mir weh getan hatte und den
ich leider beneidete. Auch war meine Achtung vor der Dame gesunken,
da sie ihn in Schutz nahm und sich offen vor mir zu ihm bekannte.
War es nicht schon schlimm, daß sie es auf sich genommen hatte, bei
diesem weinfrohen Junggesellenabend die einzige Frau zu sein? In diesen
Dingen war ich wenig Freiheit gewöhnt, und da ich mich schämte, nach
dieser schönen Frau trotzdem Sehnsucht zu haben, fing ich in meiner
Hitze lieber Streit an als daß ich länger ihr Mitleid spürte. Mochte
sie mich roh finden und mir davonlaufen, es war mir besser als daß sie
bei mir blieb und freundlich war.

Sie legte mir aber die Hand auf den Arm. »Halt,« rief sie warm, daß
ihre Stimme mir trotz allem ins Herz ging, »reden Sie nicht weiter! Was
tun Sie denn? Sie sind durch zwei Worte von Muoth verletzt, weil Sie
nicht geschickt oder mutig genug waren sie zu parieren, und jetzt, wo
Sie fort sind, fallen Sie vor mir mit häßlichen Worten über ihn her!
Ich sollte gehen und Sie allein lassen.«

»Bitte. Ich habe nur gesagt, was ich meine.«

»Lügen Sie doch nicht! Sie sind seiner Einladung gefolgt, Sie haben
bei ihm musiziert, Sie haben gesehen wie er Ihre Musik liebt, und
haben sich darüber gefreut und daran aufgerichtet, und jetzt, wo Sie
ärgerlich sind und ein Wort von ihm nicht ertragen können, fangen Sie
zu schimpfen an. Das dürfen Sie nicht, und ich will es dem Wein zu gut
halten.«

Mir schien, sie merkte plötzlich wie es mit mir stand und daß nicht der
Wein mich plagte; sie änderte ihren Ton, ohne daß ich den mindesten
Versuch einer Rechtfertigung gemacht hatte. Ich war wehrlos.

»Sie kennen Muoth noch nicht,« fuhr sie fort. »Haben Sie ihn denn nicht
singen hören? So ist er, gewalttätig und grausam, aber am meisten gegen
sich selber. Er ist ein armer, stürmender Mensch, der lauter Kräfte
und keine Ziele hat. In jedem Augenblick möchte er die ganze Welt
austrinken und was er hat und was er tut, ist immer nur ein Tropfen. Er
trinkt und ist nie betrunken, er hat Frauen und ist nie glücklich, er
singt so herrlich und will doch kein Künstler sein. Er hat jemand lieb
und tut ihm weh, er stellt sich als verachte er alle Zufriedenen, aber
es ist Haß gegen ihn selber, weil er nicht zufrieden sein kann. So ist
er. Und Ihnen hat er Freundlichkeit gezeigt, so gut er es eben kann.«

Ich schwieg hartnäckig.

»Sie brauchen ihn vielleicht nicht,« fing sie nochmals an, »Sie haben
andere Freunde. Aber wenn wir jemand sehen, der leidet und im Leiden
ungebärdig ist, so sollen wir ihn schonen und ihm etwas zu gut halten.«

Ja, dachte ich, das sollte man, und allmählich, wie das Gehen in der
Nacht mich kühlte, lag zwar die eigene Wunde noch offen und rief nach
Hilfe, aber mehr und mehr mußte ich den Worten der Marion und meinen
Dummheiten von heut abend nachdenken, mich als einen traurigen Hund
erkennen und in der Stille Abbitte tun. Es ergriff mich, da der Weinmut
verflogen war, eine unangenehme Rührung, mit der ich abwehrend kämpfte,
ohne mehr viel zu der schönen Frau zu sagen, die nun selber erregt und
ungewissen Herzens neben mir durch die halbdunkeln Straßen lief, wo da
und dort in der toten, schwarzen Fläche plötzlich ein Laternenspiegel
aus dem nassen Boden aufblickte. Ich dachte daran, daß ich meine Geige
bei Muoth hatte liegen lassen; und zwischenein erwachte ich wieder
zum Erstaunen und Schrecken über alles. Da war diesen Abend so vieles
anders geworden. Dieser Heinrich Muoth, und der Violinist Kranzl, und
wieder die herrliche Marion, die Königinnen spielte, die waren alle
von ihren Sockeln herabgestiegen. An ihrem olympischen Tische saßen
nicht Götter und Selige, sondern arme Menschen, der eine klein und
komisch, der andere bedrückt und eitel, Muoth elend und fieberhaft in
törichter Selbstquälerei, die hohe Frau klein und arm als Geliebte
eines stürmenden Genießers ohne Heiterkeit, dabei still und gütig
und des Leidens kundig. Ich selber schien mir verändert, war nicht
mehr ein einfacher Mensch, sondern war allen verwandt, hatte an jedem
brüderliche und an jedem feindliche Züge gesehen, konnte hier nicht
lieben und dort nicht verabscheuen, sondern schämte mich meines wenigen
Verstehens und spürte zum erstenmal in meiner leichten Jugend so
deutlich, daß man durchs Leben und durch die Menschen nicht so einfach
gehen könne, da mit Haß und da mit Liebe, da mit Verehrung und dort
mit Verachtung, sondern daß alles durcheinander und beieinander wohne,
kaum getrennt und in Augenblicken kaum unterscheidbar. Ich sah die Frau
an, die an meiner Seite ging und nun auch ganz still geworden war, als
fände sie im Herzen nun doch auch manches anders beschaffen, als sie es
gemeint und gesagt hatte.

Am Ende kamen wir vor ihr Haus, sie streckte mir die Hand her, die ich
leise nahm und küßte. »Schlafen Sie gut!« sagte sie freundlich, aber
ohne Lächeln.

Das tat ich auch, ich kam nach Hause und ins Bett, ich weiß nicht wie,
und schlief sofort und schlief noch ein ungewohntes Stück in den
Morgen hinein. Dann stand ich auf wie das Männlein aus der Schachtel,
machte meine Turnübung, wusch mich und griff nach den Kleidern; und
erst wie ich am Stuhl den Gehrock hängen sah und meinen Geigenkasten
vermißte, fiel mir gestern wieder ein. Ich war indes ausgeschlafen und
anderen Sinnes als in der Nacht, und konnte an die Gedanken der Nacht
nicht anknüpfen; es blieb mir nur die Erinnerung an sonderbar kleine,
nur nach innen wirksame Erlebnisse, und ein Erstaunen darüber, daß ich
nun doch unverwandelt und derselbe wie immer dastand.

Ich wollte arbeiten, aber meine Geige war nicht da. So ging ich
aus, anfangs noch unentschlossen, dann entschieden in der gestrigen
Richtung, und kam an Muoths Wohnung. Schon vom Gartentor aus hörte ich
ihn singen, der Hund fiel mich an und ward von der alten Frau, die
schnell herauskam, mit Mühe zurückgeführt. Mich ließ sie eintreten, ich
sagte ihr, ich wolle nur meine Geige holen und den Herrn nicht stören.
Im Vorzimmer stand mein Geigenkasten und die Geige lag darin, auch die
Noten waren dazugelegt. Das mußte Muoth getan haben, er hatte an mich
gedacht. Nebenan sang er laut, ich hörte ihn weich wie auf Filzsohlen
hin und wieder gehen, zuweilen Töne am Flügel anschlagend. Seine Stimme
klang frisch und hell, beherrschter als ich sie oft auf der Bühne
gehört hatte, er sang eine mir unbekannte Rolle, wiederholte häufig und
ging rasch im Zimmer auf und ab.

Ich hatte meine Sachen an mich genommen und wollte gehen. Ich war ruhig
und fühlte mich von der Erinnerung an gestern kaum berührt. Doch war
ich neugierig, ihn zu sehen, ob auch er sich verändert habe, und trat
näher, und ohne es ganz zu wollen, hatte ich auf einmal den Türgriff in
der Hand, und hatte darauf gedrückt, und stand in der offenen Türe.

Muoth drehte sich im Singen um. Er war im Hemde, in einem sehr langen
weißen feinen Hemd, und sah frisch aus, als habe er eben gebadet. Ich
erschrak nun, zu spät, daß ich ihn so überrascht habe. Er schien jedoch
weder verwundert, daß ich ohne Klopfen eingetreten war, noch schien er
zu wissen, daß er keine Kleider anhatte. Als wäre alles wie es sein
müsse, bot er mir die Hand und fragte: »Haben Sie schon gefrühstückt?«
Dann, da ich ja gesagt hatte, nahm er am Flügel Platz.

»Die Rolle soll ich singen! Da hören Sie die Arie! Das ist ein Gemüse!
Wird in der königlichen Hofoper aufgeführt, mit Büttner und der Duelli!
Aber das interessiert Sie nicht, und mich eigentlich auch nicht. Wie
geht's denn? Haben Sie ausgeruht? Sie haben kaput ausgesehen, als Sie
gestern gingen. Und bös waren Sie mir auch. Nun ja. Wir wollen die
Dummheiten nicht gleich wieder anfangen.«

Und gleich darauf, ohne daß ich etwas dazwischen sagen konnte: »Wissen
Sie, der Kranzl ist ein Langweiler. Er will Ihre Sonate nicht spielen.«

»Er hat sie doch gestern gespielt.«

»Im Konzert, meine ich. Ich wollte sie ihm aufhängen, aber er mag
nicht. Es wäre gut gewesen, wenn sie nächsten Winter in so eine Matinee
gekommen wäre. Der Kranzl ist nicht so dumm, wissen Sie, aber faul. Er
spielt immerzu diese polakischen Musiken von insky und owsky, was Neues
lernt er nicht gern.«

»Ich glaube nicht,« fing ich nun an, »daß die Sonate in ein Konzert
paßt, das habe ich mir auch nie eingebildet. Sie ist technisch noch gar
nicht sauber.«

»Das ist doch Wurst! Ihr mit Eurem Künstlergewissen! Wir sind doch
keine Schulmeister, und es werden ohne Zweifel schlechtere Sachen
gespielt, gerade von Kranzl. Aber ich weiß was anderes. Das Lied müssen
Sie mir geben, und machen Sie doch bald noch mehr! Ich gehe im Frühjahr
hier weg, ich habe gekündigt, und mache lange Ferien. In der Zeit
möchte ich ein paar Konzerte geben, aber was Neues, nicht mit Schubert
und Wolf und Löwe und dem, was man alle Abend hört, sondern neue und
unbekannte Sachen, ein paar wenigstens, solche wie das Lawinenlied. Was
meinen Sie?«

Für mich war die Aussicht, meine Lieder von Muoth öffentlich gesungen
zu sehen, ein Tor in die Zukunft, durch dessen Spalt ich lauter
Herrlichkeiten sah. Eben deswegen wollte ich vorsichtig sein und weder
Muoths Freundlichkeit mißbrauchen noch mich ihm allzusehr verpflichten.
Es schien mir, er wolle mich gar zu gewaltsam an sich ziehen, blenden
und vielleicht irgendwie vergewaltigen. Darum ging ich kaum darauf ein.

»Ich will sehen,« sagte ich. »Sie sind sehr gütig mit mir, das sehe
ich, aber ich kann nichts versprechen. Ich bin am Ende meiner Studien
und muß jetzt an gute Zeugnisse denken. Ob ich einmal als Komponist
auftreten kann, ist ungewiß, einstweilen bin ich Geiger und muß sehen,
wie ich beizeiten zu einer Stellung komme.«

»Ach ja, das alles können Sie ja tun. Darum kann Ihnen doch einmal
wieder ein solches Lied einfallen, das Sie mir dann geben, nicht?«

»Ja, das wohl. Ich weiß freilich nicht, warum Sie sich meiner so
annehmen.«

»Haben Sie Angst vor mir? Mir gefällt einfach Ihre Musik, ich möchte
Sachen von Ihnen singen und verspreche mir davon etwas, es ist reiner
Eigennutz.«

»Wohl, aber warum reden Sie so mit mir, so wie gestern meine ich?«

»Ach, sind Sie noch beleidigt? Was habe ich denn eigentlich gesagt?
Ich weiß es rein nimmer. Jedenfalls wollte ich Sie nicht schlecht
behandeln, wie ich es scheints getan habe. Sie können sich ja wehren!
Es redet und ist jeder, wie er ist und sein muß, und man muß einander
gelten lassen.«

»Das meine ich auch, aber Sie tun das Gegenteil, Sie reizen mich und
lassen nichts gelten, was ich sage. Sie ziehen das, woran ich selber
ungern denke und was mein Geheimnis ist, hervor und werfen es mir hin,
wie einen Vorwurf. Sie spotten sogar über mein steifes Bein!«

Heinrich Muoth sagte langsam: »Ja, ja, ja. Die Leute sind eben
verschieden. Den einen macht es wild, wenn man Wahrheiten sagt, und der
andere kann keine Phrasen vertragen. Sie hat es geärgert, daß ich Sie
nicht wie einen Intendanten behandle, und mich hat es geärgert, daß Sie
sich vor mir versteckten und mir die Sprüche über den Trost der Kunst
anhängen wollten.«

»Das war gemeint wie ich es sagte; ich bin nur nicht gewohnt über diese
Sachen zu reden. Und über das andere *will* ich eben nicht reden. Wie
es in mir aussieht und ob ich traurig bin oder verzweifelt, und wie
mein Bein mir vorkommt und meine Krüppelschaft, das will ich für mich
behalten und mir von niemand herausdrohen und herausspotten lassen.«

Er stand auf.

»Ich habe ja noch gar nichts an, ich will das schnell besorgen. Sie
sind ein anständiger Mensch, das bin ich leider nicht. Wir wollen
darüber nimmer so viel reden. Haben Sie denn gar nichts davon gemerkt,
daß ich Sie gern habe? Warten Sie ein wenig, setzen Sie sich ans
Klavier, bis ich angezogen bin. Singen Sie nicht? -- Nicht? Nun, es
dauert nur sechs Minuten.«

Wirklich kam er sehr bald angekleidet aus dem Nebenzimmer zurück.

»Jetzt gehen wir in die Stadt und essen miteinander,« sagte er
behaglich. Er fragte nicht, ob es mir auch passe, er sagte: »Wir
gehen,« und wir gingen. Denn so empfindlich seine Art mich ärgerte, sie
imponierte mir doch, er war der Stärkere. Daneben zeigte er im Gespräch
und Benehmen eine launenhafte Kindlichkeit, die oft entzückend war und
ganz mit ihm versöhnte.

Von da an sah ich Muoth oft, er sandte mir häufig Billette für die
Oper, bat mich manchmal bei ihm zu geigen, und wenn mir nicht alles an
ihm gefiel, so ließ er sich doch auch von mir nicht wenig gefallen.
Es entstand eine Freundschaft, damals meine einzige, und ich begann
mich beinahe auf die Zeit zu fürchten, wo er nicht mehr da sein würde.
Er hatte wirklich gekündigt und ließ sich, trotz einiger Bemühungen
und Zugeständnisse, nicht halten. Zuweilen deutete er an, er werde im
Herbst vielleicht einen Ruf an eine große Bühne haben, doch blieb das
vorläufig unbesprochen. Inzwischen kam der Frühling heran.

Eines Tages fand ich mich zum letzten Herrenabend bei Muoth ein, wir
stießen auf Wiedersehen und Zukunft an, es war diesmal keine Frau
dabei. Muoth begleitete uns in der Morgenfrühe an die Gartenpforte,
winkte uns nach und kehrte fröstelnd im Morgennebel in seine schon halb
ausgeräumte Wohnung zurück, von dem springenden und bellenden Hunde
begleitet. Mir aber schien ein Stück Leben und Erfahrung nun abgetan;
ich glaubte Muoth genug zu kennen, um sicher zu sein, daß er uns alle
bald vergessen werde, und erst jetzt fühlte ich ganz klar und unbeirrt,
daß ich den dunklen, launischen, herrischen Mann doch richtig lieb
hatte.

Indessen kam auch für mich der Abschied. Ich tat meine letzten Gänge
nach Orten und Menschen, die ich in gutem Gedächtnis zu behalten
gesonnen war, ich ging auch noch einmal auf den Höhenweg hinauf und
schaute den Hang hinunter, den ich ohnehin nicht vergessen hätte.

Und ich reiste ab, nach Hause, einer unbekannten und wahrscheinlich
langweiligen Zukunft entgegen. Eine Stellung hatte ich nicht,
selbständig Konzerte geben konnte ich nicht, in der Heimat erwarteten
mich nur, zu meinem Schrecken, einige Schüler, denen ich Violinstunden
geben sollte. Wohl erwarteten mich auch die Eltern, und sie waren reich
genug, daß ich ohne Sorgen sein konnte, auch fein und gütig genug, daß
sie mich nicht drängten und fragten, was nun aus mir werden solle. Aber
daß ich es hier nicht lange aushalten würde, wußte ich von Anfang an.

Von den zehn Monaten, in denen ich nun zu Hause saß, drei Schülern
Stunden gab und trotz allem gar nicht unglücklich war, weiß ich nichts
zu erzählen. Es lebten auch hier Menschen, es geschah auch hier täglich
irgend etwas, aber mein Verhältnis zu alle dem bestand nur in einer
freundlich höflichen Gleichgültigkeit. Nichts ging mir ans Herz, nichts
nahm mich mit. Dagegen lebte ich in aller Stille, entrückte seltsame
Stunden der Musik, wo mein ganzes Leben erstarrt und mir entfremdet
schien und nur ein Hunger nach Musik übrig blieb, der mich während
der Violinstunden oft unerträglich peinigte und gewiß zu einem bösen
Lehrer machte. Nachher aber, wenn meine Pflicht getan war, oder ich
mit List und Lüge mich um meine Stunden gedrückt hatte, sank ich tief
in herrlich unwirkliche Träume, baute nachtwandlerisch an kühnen
Tongebäuden, trieb freche Türme in die Lüfte, wölbte tiefschattende
Kuppeln und ließ spielende Ornamente leicht und genußvoll wie
Seifenblasen steigen.

Während ich in einer Betäubung und Fremdheit herumging, die meine
früheren Bekannten vertrieb und meinen Eltern Sorge machte, ging
noch weit heftiger und reicher als vor einem Jahr in den Bergen
der verschüttete Born in mir wieder auf; die Früchte verträumter,
verarbeiteter, scheinbar verlorener Jahre, unsichtbar gereift, fielen
still und sachte, eine um die andere, und hatten Duft und Glanz und
umgaben mich mit einem fast schmerzlichen Reichtum, den ich nur zögernd
und mit Mißtrauen an mich nahm. Es begann mit einem Liede, dem folgte
eine Geigenphantasie, der folgte ein Streichquartett, und als in
wenigen Monaten noch einige Lieder und manche Entwürfe zu symphonischen
Sachen dazugekommen waren, empfand ich das alles nur als einen Anfang
und Versuch, und im Herzen dachte ich an eine große Symphonie, in
den frechsten Stunden auch schon an eine Oper! Zwischenein schrieb
ich von Zeit zu Zeit demütige Briefe an Kapellmeister und Theater,
legte die Empfehlungen meiner Lehrer bei und brachte mich bescheiden
für die nächste bessere Geigerstelle in Erinnerung, die frei werde.
Es kamen dann kurze höfliche Antworten, die mit »sehr geehrter Herr«
begannen, manchmal auch keine, aber eine Anstellung kam nicht. Dann
war ich einen Tag oder zwei klein und kroch zusammen, gab sorgfältigen
Unterricht und schrieb neue demütige Briefe. Allein gleich darauf fiel
mir wieder ein, daß ich noch einen Kopf voll Musik aufzuschreiben
habe, und kaum hatte ich wieder begonnen, so sanken die Briefe und die
Theater und Orchester, die Kapellmeister und sehr geehrten Herren auf
Nichtmehrsehen hinab und ich fand mich allein, vollauf beschäftigt und
begnügt.

Nun, das sind Erinnerungen, die man nicht erzählen kann, wie die
meisten. Was ein Mensch für sich ist und erlebt, wie er wird und wächst
und krankt und stirbt, das alles ist unerzählbar. Das Leben arbeitender
Menschen ist langweilig, interessant sind die Lebensführungen und
Schicksale der Taugenichtse. So reich mir jene Zeit im Gedächtnis
liegt, ich kann nichts über sie sagen, denn ich stand außerhalb des
menschlichen und geselligen Lebens. Nur einmal kam ich für Augenblicke
wieder einem Menschen nahe, den ich nicht vergessen darf. Das war der
Präzeptor Lohe.

Ich ging einmal, schon im Spätherbst, spazieren. Es war im Süden der
Stadt ein bescheidenes Villenviertel entstanden, wo keine reichen
Leute wohnten, sondern kleine Sparer und Rentenverzehrer kleine
wohlfeile Häuslein mit einfachen Gärten bewohnten. Ein geschickter
junger Baumeister hatte hier viel Hübsches gebaut, was ich mir nun auch
einmal ansehen wollte.

Es war ein warmer Nachmittag, da und dort wurden späte Nußbäume
geleert, die Gärten und kleinen neuen Häuser lagen fröhlich in der
Sonne. Die hübschen einfachen Bauten gefielen mir, ich beschaute sie
mit dem oberflächlich behaglichen Interesse, das junge Leute für so
etwas haben, welchen der Gedanke an Haus und Heim und Familie, Rast und
Feierabend noch im Weiten liegt. Die friedliche Gartenstraße machte
einen lieben, behaglichen Eindruck, ich spazierte langsam dahin, und im
Gehen verfiel ich darauf, die Namen der Hausbesitzer auf den kleinen
blanken Messingschildchen an den Gartentoren zu lesen.

Auf einem dieser Schildchen stand »Konrad Lohe«, und im Lesen wollte
der Name mir bekannt vorkommen. Ich blieb stehen und besann mich,
und es fiel mir ein, daß einer meiner Lehrer in der Lateinschule so
geheißen hatte. Und für Sekunden stieg die alte Zeit herauf, sah
mich verwundert an und wälzte auf flüchtiger Welle einen Schwarm
von Gesichtern herauf, von Lehrern und Kameraden, Spitznamen und
Geschichten. Und während ich stand und auf das Messingtäfelein sah
und lächelte, erhob sich hinterm nächsten Johannisbeerstrauch, wo er
gebückt gearbeitet hatte, ein Mann, trat dicht heran und sah mir ins
Gesicht.

»Wollen Sie zu mir?« fragte er, und es war Lohe, der Präzeptor Lohe,
den wir Lohengrin geheißen hatten.

»Eigentlich nicht,« sagte ich und zog den Hut. »Ich wußte nicht, daß
Sie hier wohnen. Ich bin einmal Ihr Schüler gewesen.«

Er blickte schärfer, sah an mir hinab bis zum Stock, besann sich und
nannte dann meinen Namen. Er hatte mich nicht am Gesicht erkannt,
sondern am steifen Bein, da er natürlich von meinem Unfall wußte. Nun
ließ er mich eintreten.

Er war in Hemdärmeln und hatte eine grüne Gartenschürze vorgebunden,
er schien gar nicht älter geworden und sah prächtig blühend aus. Wir
schritten in dem kleinen sauberen Garten hin und her, dann führte er
mich an eine offene Veranda, wo wir uns setzten.

»Ja, ich hätte Sie nimmer gekannt,« sagte er aufrichtig. »Hoffentlich
haben Sie mich in guter Erinnerung von früher her.«

»Nicht ganz,« sagte ich lächelnd. »Sie haben mich einmal für etwas
bestraft, was ich nicht getan hatte, und haben meine Beteuerungen für
Lügen erklärt. Es war in der vierten Klasse.«

Bekümmert schaute er auf. »Das dürfen Sie mir nimmer übel nehmen, es
tut mir auch leid. Lehrern passiert es beim besten Willen immer wieder,
daß etwas nicht stimmt, und eine Ungerechtigkeit ist bald angerichtet.
Ich weiß schlimmere Fälle. Zum Teil deswegen bin ich denn auch
gegangen.«

»So, sind Sie nimmer im Amt?«

»Schon lang nicht mehr. Ich wurde krank, und als ich wieder geheilt
war, hatten sich meine Ansichten so sehr geändert, daß ich den Abschied
nahm. Ich hatte mir Mühe gegeben, ein guter Lehrer zu sein, aber ich
war keiner, dazu muß man geboren sein. So gab ich es auf, und seither
ist mir wohl.«

Das konnte man ihm ansehen. Ich fragte weiter, doch wollte er nun meine
Geschichte hören, die bald erzählt war. Daß ich Musiker geworden sei,
gefiel ihm nicht ganz, dagegen hatte er für mein Pech ein freundliches
und zartes Mitleid, das mir nicht wehtat. Vorsichtig suchte er zu
erforschen, wie es mir gelinge mich zu trösten und war von meinen
halb ausweichenden Antworten nicht befriedigt. Unter geheimnisvollen
Gebärden gab er zögernd und doch ungeduldig mit schüchternen
Umschweifen kund, er wisse einen Trost, eine vollkommene Weisheit, die
jedem ernstlich Suchenden offen stehe.

»Ich weiß schon,« sagte ich, »Sie meinen die Bibel.«

Herr Lohe lächelte schlau. »Die Bibel ist gut, sie ist ein Weg zum
Wissen. Aber sie ist nicht das Wissen selbst.«

»Und wo ist das, das Wissen selbst?«

»Das werden Sie leicht finden, wenn Sie wollen. Ich gebe Ihnen etwas
zum Lesen mit, das gibt Ihnen die Elemente. Haben Sie schon von der
Lehre vom Karma gehört?«

»Vom Karma? Nein, was ist das?«

»Das werden Sie sehen, warten Sie!« Er lief weg und blieb eine Weile
aus, während ich erstaunt in ungewisser Erwartung saß und in den Garten
hinunter sah, wo Zwergobstbäume in tadellosen Reihen standen. Bald kam
Lohe wieder gelaufen. Strahlend sah er mich an und streckte mir ein
Büchlein entgegen, das trug inmitten einer geheimnisvollen Linienkunst
die Aufschrift: »Theosophischer Katechismus für Anfänger«.

»Nehmen Sie das mit!« bat er. »Sie können es behalten, und wenn Sie
weiter studieren wollen, kann ich Ihnen noch mehr leihen. Das hier ist
nur zur Einführung. Ich verdanke dieser Lehre alles. Ich bin durch sie
gesund geworden an Leib und Seele, und hoffe es wird auch Ihnen so
gehen.«

Ich nahm das kleine Buch hin und steckte es ein. Der Mann begleitete
mich durch den Garten zur Straße hinab, nahm freundlich Abschied
und bat mich bald wieder zu kommen. Ich sah ihm ins Gesicht, das
war gut und froh, und mir schien, es könne nicht schaden den Weg zu
solchem Glück einmal zu versuchen. So ging ich heim, das Büchlein
in der Tasche, neugierig auf die ersten Schritte dieses Pfades zur
Glückseligkeit.

Doch beschritt ich ihn erst nach einigen Tagen. Bei der Heimkehr
zogen die Noten mich wieder heftig an sich, ich stürzte mich darein
und schwamm in Musik, schrieb und spielte, bis der Sturm für diesmal
verrauscht war und ich ernüchtert ins Tagesleben zurückkehrte. Da
empfand ich alsbald das Bedürfnis, die neue Lehre zu studieren, und
setzte mich hinter das kleine Buch, das ich bald erschöpfen zu können
glaubte.

Es ging aber nicht so leicht. Das kleine Büchlein schwoll mir unter den
Händen und zeigte sich am Ende unüberwindlich. Es begann mit einer
hübschen und anziehenden Einleitung über die vielen Wege zur Weisheit,
deren jeder seine Geltung habe, und über die theosophische Brüderschaft
derer, die in Freiheit nach Wissen und innerer Vollkommenheit
streben wollen, denen jeder Glaube heilig und jeder Pfad zum Lichte
willkommen ist. Alsdann kam eine Kosmogonie, die ich nicht verstand,
eine Einteilung der Welt in verschiedene »Ebenen« und der Geschichte
in merkwürdige, mir unbekannte Zeitalter, wobei auch das versunkene
Land Atlantis eine Rolle spielte. Ich ließ dieses einstweilen auf
sich beruhen und machte mich an die anderen Kapitel, wo die Lehre
von der Wiedergeburt dargestellt war, die ich besser verstand. Doch
wurde mir nicht recht klar, ob das alles eine Mythologie und poetische
Fabel, oder wörtliche Wahrheit zu sein begehre. Es schien das letztere
der Fall zu sein, was mir nicht eingehen wollte. Nun kam die Lehre
vom Karma. Sie zeigte sich mir als eine religiöse Verehrung des
Kausalitätsgesetzes, die mir nicht übel gefiel. Und so ging es weiter.
Ich sah bald gar wohl ein, daß diese ganze Lehre nur für den ein Trost
und ein Schatz sein könne, der sie möglichst wörtlich und tatsächlich
hinnehme und innig glaube. Wem sie, wie mir, ein zum Teil schönes, zum
Teil krauses Sinnbild, der Versuch einer mythologischen Welterklärung
war, der konnte zwar von ihr lernen und ihr Achtung gönnen, nicht aber
Leben und Kraft von ihr haben. Man konnte vielleicht Theosoph sein mit
Geist und Würde, aber jener endgültige Trost winkte nur denen, die
es ohne viel Geist in einfältigem Glauben waren. Das war einstweilen
nichts für mich.

Doch ging ich noch mehrmals zu dem Präzeptor hin, der vor zwölf Jahren
mich und sich mit dem Griechischen geplagt hatte und nun auf so andere
Weise, und doch ebenso erfolglos, mein Lehrer und Führer zu sein
strebte. Freunde wurden wir nicht, aber ich kam gerne zu ihm, er war
einige Zeit hindurch der einzige Mensch, mit dem ich über wichtige
Fragen meines Lebens redete. Dabei machte ich zwar die Erfahrung, daß
dieses Reden keinen Wert hat und im besten Fall zu gescheiten Sprüchen
führt; doch war mir dieser gläubige Mann, den Kirche und Wissenschaft
kühl gelassen hatten und der nun in der späteren Hälfte des Lebens im
naiven Glauben an eine merkwürdig ausgeklügelte Lehre den Frieden und
die Herrlichkeit der Religion erlebte, rührend und beinahe ehrwürdig.

Mir ist, bei allem Bemühen, dieser Weg bis heute unzugänglich
geblieben, und ich habe zu frommen und in irgend einem Glauben
befestigten und befriedigten Menschen eine bewundernde Hinneigung, die
sie mir nicht erwidern können.



Während der kurzen Zeit meiner Besuche bei dem frommen Theosophen
und Obstzüchter erhielt ich eines Tags eine kleine Geldanweisung,
deren Herkunft mir dunkel war. Abgesandt war sie von einem bekannten
norddeutschen Konzertagenten, mit dem ich jedoch niemals zu tun gehabt
hatte. Auf meine Frage ward mir die Antwort, der Betrag sei im Auftrag
des Herrn Heinrich Muoth angewiesen und stelle mein Honorar dafür vor,
daß Muoth in sechs Konzerten ein von mir komponiertes Lied gesungen
habe.

Nun schrieb ich an Muoth, dankte ihm und bat um Bericht. Vor allem
hätte ich gern gewußt, wie mein Lied in den Konzerten aufgenommen
worden war. Von Muoths Konzertreise hatte ich wohl gehört und ein- oder
zweimal Zeitungsnotizen gelesen, von meinem Lied war aber da nicht die
Rede gewesen. Ich berichtete in meinem Brief mit der Ausführlichkeit
des Einsamen von meinem Leben und von meiner Arbeit, legte auch eines
der neuen Lieder bei. Dann wartete ich zwei, drei, vier Wochen auf
Antwort, und dann, da sie ausblieb, vergaß ich die ganze Sache wieder.
Immer noch schrieb ich fast alle Tage an meiner Musik, die mir wie im
Traume quoll. In den Pausen aber war ich schlaff und unzufrieden, das
Stundengeben fiel mir furchtbar schwer, ich fühlte, daß ich es nimmer
lang aushalten werde.

Es war mir daher wie die Erlösung aus einem Bann, als endlich doch ein
Brief von Muoth kam. Er schrieb:

Lieber Herr Kuhn! Ich bin kein Briefschreiber, darum ließ ich Ihren
Brief liegen, auf den ich nichts Rechtes zu antworten wußte. Jetzt
aber kann ich mit wirklichen Vorschlägen kommen. Ich bin jetzt am
Opernhaus hier in R. angestellt und es wäre schön, wenn Sie auch
kämen. Sie könnten fürs erste als zweiter Geiger bei uns unterkommen,
der Kapellmeister ist ein vernünftiger und freier Mann, wenn auch ein
Grobian. Wahrscheinlich findet sich auch Gelegenheit, bald etwas von
Ihnen hier zu spielen, wir haben gute Kammermusik. Wegen der Lieder
wäre auch einiges zu sagen, unter anderem ist ein Verleger da, der sie
haben will. Aber das Schreiben ist so langweilig, kommen Sie selber!
Aber schnell, und telegraphieren Sie wegen der Stelle, es hat Eile.

                                                             Ihr Muoth.

Da war ich plötzlich aus meiner Einsiedelei und Nutzlosigkeit gerissen
und trieb wieder im Strom des Lebens, hatte Hoffnungen und Sorgen,
bangte und freute mich. Es gab nichts, was mich hielt, und meine Eltern
waren froh, mich auf die Bahn kommen und einen ersten entschiedenen
Schritt ins Leben tun zu sehen. Ich telegraphierte unverweilt, und drei
Tage später war ich schon in R. und bei Muoth.

Ich war in einem Hotel abgestiegen, hatte ihn besuchen wollen und nicht
gefunden. Nun kam er in den Gasthof und stand unvermutet vor mir. Er
gab mir die Hand, fragte nach nichts und erzählte nichts und teilte
meine Erregung nicht im mindesten. Er war gewohnt, sich treiben zu
lassen und immer nur den gegenwärtigen Augenblick ernst zu nehmen und
auszuleben. Er ließ mir kaum Zeit, mich umzukleiden, und brachte mich
zum Kapellmeister Rößler.

»Das ist Herr Kuhn,« sagte er.

Rößler nickte kurz. »Freut mich. Was wünschen Sie?«

»Nun,« rief Muoth, »das ist der Geiger.«

Der Kapellmeister sah mich erstaunt an, wandte sich wieder zu dem
Sänger und meinte grob: »Davon haben Sie mir nichts gesagt, daß der
Herr lahm ist. Ich muß Leute mit geraden Gliedern haben.«

Mir stieg das Blut ins Gesicht, aber Muoth blieb ruhig. Er lachte nur.
»Soll er denn tanzen, Rößler? Ich meinte, er solle geigen. Wenn er das
nicht kann, so müssen wir ihn wieder schicken. Aber das wollen wir doch
zuerst probieren.«

»Also meinetwegen, Leute. Herr Kuhn, kommen Sie morgen früh zu mir, so
nach neune! Hier in die Wohnung. Sind Sie bös, wegen dem Fuß? Ja, das
hätt' mir der Muoth auch vorher sagen können. Na, wir werden sehen. Auf
Wiederschauen.«

Im Weggehen machte ich Muoth Vorwürfe deswegen. Er zuckte die Achseln
und meinte, wenn er gleich anfangs von meinem Gebrechen gesprochen
hätte, würde der Kapellmeister schwerlich zugestimmt haben; nun aber
sei ich einmal da und, wenn Rößler halbwegs mit mir zufrieden sei,
werde ich ihn bald von besseren Seiten kennen lernen.

»Aber wie haben Sie mich überhaupt empfehlen können,« fragte ich, »Sie
wissen ja gar nicht, ob ich was kann.«

»Ja, das ist Ihre Sache. Ich dachte mir, es werde schon gehen, und es
wird auch. Sie sind ein so bescheidenes Kaninchen, daß Sie es nie zu
etwas bringen würden, wenn man Ihnen nicht zuzeiten einen Stoß gäbe.
Das war einer, nun taumeln Sie weiter! Angst brauchen Sie nicht zu
haben. Ihr Vorgänger hat nicht viel getaugt.«

Wir brachten den Abend in seiner Wohnung zu. Auch hier hatte er einige
Zimmer weit draußen gemietet, in Gärten und Stille, und sein gewaltiger
Hund sprang ihm entgegen, und kaum saßen wir und wurden warm, so ging
die Glocke und es kam eine sehr schöne, hoch gewachsene Dame und
leistete uns Gesellschaft. Es war dieselbe Atmosphäre wie damals, und
seine Geliebte war wieder eine tadelfreie, fürstliche Figur. Er schien
die schönen Frauen mit großer Selbstverständlichkeit zu verbrauchen,
und ich sah diese neue mit Teilnahme und mit der Befangenheit an,
die ich in der Nähe von liebefähigen Frauen stets empfand und die
wohl nicht ohne Neid war, da ich mit meinem lahmen Beine immer noch
hoffnungslos und ungeliebt einherging.

Wie früher ward auch diesmal bei Muoth gut und viel getrunken, er
tyrannisierte uns mit seiner gewalttätigen, heimlich schwülen
Lustigkeit, und riß uns doch hin. Er sang wundervoll, und er sang auch
ein Lied von mir, und wir drei befreundeten uns, wurden warm und kamen
uns nahe, sahen einander in unverhüllte Augen und blieben beisammen,
solange die Wärme in uns brannte. Die große Frau, die Lotte hieß, zog
mich mit sanfter Freundlichkeit an. Es war nun nicht mehr das erstemal,
daß eine schöne und liebende Frau mir mit Mitleid und merkwürdigem
Vertrauen entgegenkam, und es tat mir auch diesmal so wohl wie weh,
doch kannte ich diese Melodie nun schon ein wenig und nahm sie nicht zu
ernsthaft. Es ist mir noch manchmal begegnet, daß eine verliebte Frau
mich besonderer Freundschaft würdigte. Sie hielten mich alle wie der
Liebe so der Eifersucht für unfähig, dazu kam das leidige Mitleid, und
so vertrauten sie mir in halb mütterlicher Freundschaft.

Leider hatte ich in solchen Verhältnissen noch keine Übung und konnte
einem Liebesglück noch nicht aus der Nähe zusehen, ohne ein wenig an
mich selber zu denken, und daß ich eigentlich auch gerne einmal so
etwas erlebt hätte. Das beschnitt mir die Freude einigermaßen, doch
war es ein guter Abend bei der hingegebenen schönen Frau und dem
dunkelglühenden, kraftvollen und schroffen Manne, der mich lieb hatte
und für mich sorgte und mir doch seine Liebe nicht anders zeigen konnte
als er sie den Frauen zeigte, gewalttätig und launisch.

Als wir mit dem letzten Becher vor dem Abschied anstießen, nickte er
mir zu und sagte: »Eigentlich sollte ich Ihnen jetzt Brüderschaft
anbieten, gelt? Ich täte es auch gern. Aber wir wollen es lassen, es
geht auch so. Früher, wissen Sie, hab ich jedem, der mir gefiel, gleich
du gesagt, aber das tut nicht gut, am wenigsten unter Kollegen. Ich
habe noch mit allen Händel gekriegt.«

Diesmal hatte ich nicht das bittersüße Glück, die Geliebte meines
Freundes nach Hause begleiten zu dürfen, sie blieb da, und es war mir
lieber so. Die Reise, der Besuch beim Kapellmeister, die Spannung auf
morgen, der neue Verkehr mit Muoth, alles hatte mir gut getan. Ich sah
erst jetzt, wie vergessen und verblödet und menschenfremd ich während
des langen, einsam verwarteten Jahres geworden war, und fühlte mich mit
Behagen und wohliger Spannung endlich wieder erregt und tätig unter
Menschen, der Welt wieder angehörig.

Zeitig am nächsten Morgen fand ich mich beim Kapellmeister Rößler
ein. Ich fand ihn im Schlafrock und unfrisiert, doch hieß er mich
willkommen und forderte mich, freundlicher als gestern, zum Spielen
auf, indem er mir geschriebene Noten vorlegte und sich ans Klavier
setzte. Ich spielte möglichst tapfer, doch machte mir das Lesen der
schlecht geschriebenen Noten einige Mühe. Als wir fertig waren, legte
er schweigend ein anderes Blatt auf, das ich ohne Begleitung spielen
sollte, und dann ein drittes.

»Es ist gut«, sagte er. »An das Notenlesen müssen Sie sich noch mehr
gewöhnen, sie sind nicht immer wie gestochen. Kommen Sie heut abend ins
Theater, ich mache Platz, dann können Sie ihre Stimme neben dem anderen
spielen, der den Platz einstweilen zur Not versah. Es wird ein wenig
eng hergehen. Sehen Sie sich die Noten vorher gut an, Probe ist heut
keine. Ich gebe Ihnen einen Zettel mit, damit gehen Sie nach elf Uhr
ins Theater und holen sich die Noten.«

Ich wußte noch nicht recht, wo ich dran sei, sah aber, daß dieser Mann
das Fragen nicht liebe, und ging. Im Theater wollte niemand von den
Noten wissen und mich hören, ich war an das Getriebe dort noch nicht
gewöhnt und kam aus der Fassung. Dann sandte ich einen Eilboten an
Muoth, er kam, und sogleich ging alles prächtig. Und am Abend spielte
ich zum erstenmal im Theater, wo ich mich vom Kapellmeister scharf
beobachtet sah. Andern Tages erhielt ich die Anstellung.

So wunderlich ist der Mensch, daß ich mitten im neuen Leben und
erfüllten Wünschen manchmal merkwürdig von einem flüchtigen, nur leise
und unter Schleiern empfundenen Heimweh nach Einsamkeit, ja Langeweile
und Leere der Tage befallen wurde. Dann erschien mir die vergangene
Zeit in der Heimatstadt, deren trister Ereignislosigkeit ich so dankbar
entronnen war, wie etwas Ersehnenswertes, namentlich aber dachte ich an
die Wochen im Gebirge vor zwei Jahren mit wahrem Heimweh. Ich glaubte
zu fühlen, daß ich nicht zu Wohlergehen und Glück bestimmt sei, sondern
zu Schwäche und Unterliegen im Leben, und daß ohne diese Schatten und
Opfer mir der Quell des Schaffens trüber und ärmer fließen müsse.
Wirklich war zunächst von stillen Stunden und von schöpferischer Arbeit
keine Rede. Und während es mir wohl ging und ich ein reiches Leben
führte, meinte ich in der Tiefe immer den verschütteten Born leise
rauschen und klagen zu hören.

Das Geigen im Orchester machte mir Freude, ich saß viel über Partituren
und tastete mit Verlangen vorwärts in diese Welt hinein. Langsam lernte
ich, was ich nur theoretisch und aus der Ferne gekannt hatte, die Art
und Farbe und Bedeutung der einzelnen Instrumente von unten herauf
verstehen, sah und studierte daneben die Bühnenmusik und hoffte immer
ernsthafter auf die Zeit, wo ich mich an eine eigene Oper würde wagen
dürfen.

Mein vertrauter Umgang mit Muoth, der eine der ersten und ehrenvollsten
Stellen an der Oper einnahm, brachte mir das Ganze rasch näher und
nützte mir viel. Bei meinesgleichen aber, bei den Kollegen vom
Orchester, schadete mir das sehr, es kam nicht zu dem freundschaftlich
offenen Verhältnis, zu dem ich gewillt war. Nur unser erster Geiger,
ein Steiermärker namens Teiser, kam mir entgegen und wurde mein Freund.
Er war wohl zehn Jahre älter als ich, ein schlichter offener Mann
mit einem feinen, zarten, leicht errötenden Gesicht und erstaunlich
musikalisch, namentlich von einem unglaublich zarten und scharfen
Gehör. Er war einer von denen, die in ihrer Kunst Genüge finden,
ohne selber eine Rolle spielen zu wollen. Er war kein Virtuos und hat
auch nie komponiert, er spielte zufrieden seine Geige und hatte seine
Herzensfreude daran, das Handwerk im Grunde zu kennen. Jede Ouvertüre
kannte er wie kaum ein Dirigent durch und durch, und wo eine Finesse
und Glanzstelle kam, wo der Einsatz eines Instrumentes schön und
originell hervorleuchtete, da strahlte er und genoß es wie niemand im
ganzen Hause. Er spielte fast alle Instrumente, so daß ich täglich von
ihm lernen und ihn fragen konnte.

Monatelang sprachen wir kein Wort miteinander als vom Handwerk, aber
ich hatte ihn lieb und er sah, daß ich mit Ernst dabei war, etwas zu
lernen, so entstand ein unberedetes Einvernehmen, dem nicht viel mehr
zur Freundschaft fehlte. Da erzählte ich ihm schließlich von meiner
Violinsonate und bat ihn, sie einmal mit mir zu spielen. Er sagte
freundlich zu und kam am bestimmten Tag in meine Wohnung. Da hatte ich,
um ihm eine Freude zu machen, einen Wein aus seiner Heimat besorgt, von
dem tranken wir ein Glas, dann legte ich die Noten auf und wir fingen
an. Er spielte vorzüglich vom Blatt, aber plötzlich hörte er auf und
ließ den Bogen sinken.

»Sie, Kuhn,« sagte er, »das ist ja eine verdammt schöne Musik. Die
spiel' ich nicht so herunter, die wird zuerst studiert. Ich nehme sie
mit heim. Darf ich?«

Ja, und als er wiederkam, spielten wir die Sonate durch, zweimal, und
als das fertig war, schlug er mir auf die Schulter und rief: »Sie
Duckmäuser, Sie! Da tun Sie immer wie ein kleiner Bub, und heimlich
machen Sie solche Sachen! Ich will ja nicht viel sagen, ich bin kein
Professor, aber sakrisch schön ist's!«

Das war das erstemal, daß jemand meine Arbeit lobte, zu dem ich
wirklich Vertrauen hatte. Ich zeigte ihm alles, auch die Lieder, die
gerade im Druck waren und bald darauf erschienen. Aber daß ich so kühn
war, an eine Oper zu denken, wagte ich ihm doch nicht zu sagen.

In dieser guten Zeit erschreckte mich ein kleines Erlebnis, das ich
nimmer vergessen konnte. Bei Muoth, zu dem ich häufig kam, hatte ich
die schöne Lotte seit einiger Zeit nicht mehr angetroffen, mir aber
keine Gedanken darüber gemacht, denn in seine Liebesgeschichten mochte
ich mich nicht mischen, sie am liebsten gar nicht kennen. Darum hatte
ich nie nach ihr gefragt, und er sprach mit mir ohnehin nie von diesen
Sachen.

Nun saß ich eines Nachmittags in meiner Stube und studierte eine
Partitur. Am Fenster lag meine schwarze Katze im Sonnenschein und
schlief, es war im ganzen Hause still. Da ging draußen die Türe, jemand
kam herein, ward von der Wirtin begrüßt und aufgehalten, machte sich
los und kam auf meine Türe zu, an der auch sofort gepocht wurde. Ich
ging hin und machte auf, da kam eine große, elegante Frauensperson mit
verschleiertem Gesicht herein und schloß die Türe hinter sich. Sie
tat ein paar Schritte ins Zimmer, holte tief Atem und nahm endlich
den Schleier ab. Ich erkannte Lotte. Sie sah erregt aus und ich ahnte
gleich, warum sie gekommen sei. Auf meine Bitte setzte sie sich, sie
hatte mir die Hand gegeben, aber noch kein Wort gesagt. Da sie meine
Befangenheit merkte, schien sie erleichtert, als habe sie gefürchtet,
ich möchte sie gleich wieder fortschicken.

»Ist es wegen Heinrich Muoth?« fragte ich endlich.

Sie nickte. »Haben Sie etwas gewußt?«

»Ich weiß nichts, ich dachte es mir nur.«

Sie sah mir ins Gesicht, wie ein Kranker dem Arzt, schwieg und zog
langsam die Handschuhe aus. Plötzlich stand sie auf, legte mir beide
Hände auf die Schultern und starrte mich aus großen Augen an.

»Was soll ich tun? Er ist nie zu Haus, er schreibt mir nimmer, er macht
nicht einmal meine Briefe auf! Seit drei Wochen hab ich ihn nimmer
sprechen können. Gestern war ich dort, ich weiß, daß er daheim war,
aber er hat nicht aufgemacht. Nicht einmal dem Hund hat er gepfiffen,
er hat mir das Kleid zerrissen, der will mich auch schon nimmer kennen.«

»Haben Sie denn Streit mit ihm gehabt?« fragte ich, um nicht gar so
stumm dabei zu sitzen.

Sie lachte. »Streit? Ach, Streit haben wir genug gehabt, von Anfang an!
An das war ich schon gewöhnt. Nein, in der letzten Zeit ist er sogar
höflich gewesen, es wollte mir gleich nicht gefallen. Einmal war er
nicht da, wenn er mich bestellt hatte; einmal meldete er sich an und
kam nicht. Schließlich sagte er auf einmal Sie zu mir! Ach, wenn er
mich lieber wieder geschlagen hätte!«

Ich erschrak heftig. »Geschlagen...?«

Wieder lachte sie. »Wissen Sie das nicht? O, er hat mich oft
geschlagen, aber jetzt schon lang nicht mehr. Er ist höflich geworden,
er hat Sie zu mir gesagt, und jetzt kennt er mich nimmer. Er hat eine
andere, glaube ich. Darum bin ich gekommen. Sagen Sie mirs, ich bitte!
Hat er eine andere? Sie wissen es! Sie müssen es wissen!«

Ehe ich abwehren konnte, hatte sie meine beiden Hände gefaßt. Ich war
wie erstarrt, und so sehr ich abzulehnen und die ganze Szene zu kürzen
wünschte, war ich doch fast froh, daß sie mich gar nicht zu Worte
kommen ließ, denn ich hätte nicht gewußt, was sagen.

Sie, in Hoffnung und Jammer, war zufrieden, daß ich sie anhörte, und
bat und erzählte und klagte mit ausbrechender Leidenschaft. Ich aber
sah ihr immerzu in das tränenvolle, reife, schöne Gesicht und konnte
nichts anderes denken als: »Er hat sie geschlagen!« Ich meinte seine
Faust zu sehen, und mir graute vor ihm und vor ihr, die nach Schlägen
und Verachtung und Abweisung keinen andern Gedanken und Wunsch zu haben
schien als den Weg zu ihm und zu den alten Demütigungen zurückzufinden.

Endlich versiegte die Flut, Lotte redete langsamer, schien befangen und
der Situation bewußt zu werden, und verstummte. Zugleich ließ sie meine
Hände los.

»Er hat keine andere,« sagte ich leise, »wenigstens weiß ich nichts
davon und glaube es nicht.«

Sie schaute mich dankbar an.

»Aber helfen kann ich Ihnen nicht,« fuhr ich fort. »Ich rede nie mit
ihm über solche Sachen.«

Wir waren beide eine Weile still. Ich mußte an Marion denken, an die
schöne Marion und an jenen Abend, da ich mit ihr durch die Föhnluft
gegangen war, an ihrem Arm, und sie sich so tapfer zu ihrem Geliebten
bekannt hatte. Hatte er die auch geschlagen? Und lief auch die ihm noch
nach?

»Warum sind Sie denn zu mir gekommen?« fragte ich.

»Ich weiß nicht, ich mußte doch etwas tun. Glauben Sie nicht, daß er
noch an mich denkt? Sie sind ein guter Mensch, Sie helfen mir! Sie
könnten es doch versuchen, ihn einmal fragen, einmal von mir reden....«

»Nein, das kann ich nicht. Wenn er Sie noch liebt, wird er von selber
wieder zu Ihnen kommen. Und wenn nicht, dann -- --.«

»Was dann?«

»Dann sollten Sie ihn eben laufen lassen, er verdient es nicht, daß Sie
sich so weit demütigen.«

Da lächelte sie plötzlich.

»O, Sie! Was wissen Sie von der Liebe!«

Sie hat recht, dachte ich, aber es tat mir doch weh. Wenn schon die
Liebe nicht zu mir kommen wollte, wenn ich schon nebendraußen stand,
warum sollte ich den Vertrauten und Helfer machen bei anderen? Ich
hatte Mitleid mit der Frau, aber ich verachtete sie noch mehr. Wenn das
die Liebe war, Grausamkeit hier und Erniedrigung dort, dann ließ sich
ohne Liebe besser leben.

»Ich will nicht streiten,« sagte ich kühl. »Ich verstehe diese Art von
Liebe nicht.«

Lotte band ihren Schleier wieder um.

»Ja, ich gehe schon.«

Nun tat sie mir wieder leid, doch mochte ich die törichte Szene nicht
von vorn anfangen lassen, darum schwieg ich und öffnete ihr die Tür,
auf die sie zuschritt. Ich begleitete sie, an der neugierigen Wirtin
vorbei, bis zur Treppe; da verbeugte ich mich, und sie ging, ohne mehr
etwas zu sagen oder mich anzusehen.

Traurig sah ich ihr nach und ward den Anblick lange Zeit nicht los.
War ich wirklich ein ganz anderer Mensch als diese alle, als Marion,
als Lotte, als Muoth? War das wirklich die Liebe? Ich sah sie alle,
diese Menschen der Leidenschaft, wie von Stürmen getrieben taumeln und
ins Ungewisse wehen, den Mann von Verlangen heute, von Überdruß morgen
gepeinigt, düster liebend und brutal abbrechend, keiner Neigung sicher
und keiner Liebe froh, und die Frauen hingerissen, Beleidigung, Schläge
tragend, endlich verstoßen und doch an ihm hängend, von Eifersucht und
verschmähter Liebe entwürdigt, hundetreu. An jenem Tage geschah es seit
sehr langer Zeit zum erstenmal, daß ich weinte. Ich weinte unwillige,
zornige Tränen um diese Menschen, um meinen Freund Muoth, um das Leben
und die Liebe, und stillere, heimliche Tränen um mich selber, der ich
zwischen alle dem lebte, wie auf einem andern Sterne, der das Leben
nicht begriff, der nach Liebe verschmachtete und sie doch fürchten
mußte.

Zu Heinrich Muoth ging ich lange nicht mehr. Er feierte in jener Zeit
Triumphe als Wagnersänger und begann für einen »Stern« zu gelten.
Zugleich trat auch ich bescheidentlich an die Öffentlichkeit. Es
erschienen meine Lieder im Druck und fanden freundliche Aufnahme, und
zwei meiner Sachen für Kammermusik wurden in Konzerten aufgeführt. Es
war noch eine stille, ermunternde Anerkennung unter Freunden, die
Kritik hielt sich abwartend still oder ließ mich zunächst als einen
Anfänger schonend gelten.

Ich war viel mit dem Geiger Teiser zusammen, er hatte mich gern und
lobte meine Arbeiten in kameradschaftlicher Freude, prophezeite mir
große Erfolge und war immer bereit, mit mir zu musizieren. Dennoch
fehlte mir etwas. Es zog mich zu Muoth, doch mied ich ihn immer noch.
Von Lotte hörte ich nichts mehr. Warum war ich nicht zufrieden? Ich
schalt mich selber, daß ich bei dem treuen, prächtigen Teiser nicht
mein Genügen fand. Aber auch bei ihm fehlte mir etwas. Er war mir zu
heiter, zu sonnig, zu sehr zufrieden, er schien keine Abgründe zu
kennen. Auf Muoth war er nicht gut zu sprechen. Manchmal im Theater,
wenn Muoth sang, sah er mich an und flüsterte: »Da, wie der wieder
pfuscht! Das ist schon ein ganz Verwöhnter! Mozart singt er keinen, er
weiß warum.« Ich mußte ihm recht geben, und tat es doch nicht mit dem
Herzen, ich hing an Muoth, und mochte ihn doch nicht verteidigen. Muoth
hatte etwas, was Teiser nicht hatte und nicht kannte und was mich mit
ihm verband. Das war das ewige Begehren, die Sehnsucht und Ungenüge.
Die trieben mich zu Studium und Arbeit, die ließen mich nach Menschen
greifen, die mir entglitten, gerade wie Muoth, den dieselbe Ungenüge
auf andere Weise stachelte und peinigte. Musik würde ich immer machen,
das wußte ich, aber mich verlangte danach, auch einmal aus Glück
und Überfluß und ungebrochener Freude zu schaffen, statt immer aus
Sehnsucht und Mangel des Herzens. Ach, warum wurde ich nicht durch das
glücklich, was ich zu eigen hatte, durch meine Musik? Und warum wurde
Muoth es nicht durch das, was er besaß, durch seine wilde Lebenskraft
und seine Frauen?

Teiser war glücklich, ihn quälte kein Verlangen nach Unerreichbarem.
Er hatte seine zarte, selbstlose Freude an der Kunst, von der er
nicht mehr verlangte, als sie ihm gab, und außerhalb der Kunst war er
noch genügsamer, da brauchte er nur ein paar freundliche Menschen,
gelegentlich ein gutes Glas Wein und an freien Tagen einen Ausflug
in die Landschaft, denn er war ein Wanderer und Luftfreund. Wenn an
der Lehre der Theosophen etwas war, dann mußte dieser Mann schon
nahezu ein Vollendeter sein, so gut war sein Wesen und so wenig ließ
er Leidenschaft und Unzufriedenheit in sein Herz kommen. Dennoch
wünschte ich, wenn ich es auch vielleicht mir vorsagte, nicht zu sein
wie er. Ich wollte kein andrer sein, ich wollte in meiner Haut bleiben,
die mir doch oft zu eng war. Ich begann Macht in mir zu spüren, seit
meine Arbeiten leise zu wirken anfingen, und ich war schon im Begriff,
stolz zu werden. Irgendeine Brücke zu den Menschen mußte ich finden,
ich mußte auf irgendeine Weise mit ihnen leben können, ohne stets
der Unterliegende zu sein. Gab es nun keinen andern Weg, so führte
vielleicht doch meine Musik dahin. Wenn sie mich nicht lieben wollten,
so würden sie mein Werk lieben müssen.

Solche törichte Gedanken ward ich nicht los. Und doch war ich bereit,
mich hinzugeben und zum Opfer zu bringen, wenn nur jemand mich wollte,
wenn nur jemand mich wirklich verstünde. War nicht Musik das geheime
Gesetz der Welt, gingen nicht die Erden und Sterne harmonisch im
Reigen? Und ich sollte allein bleiben und die Menschen nicht finden,
deren Wesen mit meinem rein und schön zusammenklang?

Ein Jahr war mir in der fremden Stadt vergangen. Außer mit Muoth,
Teiser und unserm Kapellmeister Rößler hatte ich zu Anfang sehr
wenig Umgang gehabt, in letzter Zeit aber war ich in eine größere
Geselligkeit hineingeraten, die mir nicht lieb und nicht leid war.
Durch die Aufführung meiner Stücke für Kammermusik war ich mit den
Musikern der Stadt auch außerhalb des Theaters bekanntgeworden, ich
trug jetzt die leichte, angenehme Bürde eines sachte ansetzenden Ruhmes
im kleinen Kreise, ich merkte, daß man mich kannte und beobachtete.
Von allem Ruhm ist das der süßeste, der noch nicht auf große Erfolge
blickt, noch keinen Neid erregen kann, noch nicht absondert. Man
geht umher mit dem Gefühl, da und dort betrachtet, genannt, gelobt
zu werden, man begegnet freundlichen Gesichtern, sieht Anerkannte
wohlwollend nicken und Jüngere mit Achtung grüßen, und immer trägt man
das heimliche Gefühl, daß das Beste noch komme, wie es ja aller Jugend
geht, bis sie sieht, das Beste liegt schon dahinten. Beeinträchtigt
wurde mein Wohlgefühl am meisten dadurch, daß ich immer etwas Mitleid
in der Anerkennung fühlte. Oft kam es mir sogar vor, man schone mich
und sei so freundlich, weil ich eben ein armer Kerl und Krüppel sei,
dem man gern etwas Tröstliches gönne.

Nach einem Konzert, in dem ein Geigenduo von mir gespielt worden war,
machte ich die Bekanntschaft des reichen Fabrikanten Imthor, der für
einen eifrigen Musikfreund und Gönner junger Talente galt. Es war ein
ziemlich kleiner, ruhiger Mann mit grau werdenden Haaren, dem man weder
seinen Reichtum noch sein inniges Verhältnis zur Kunst ansah. Aus dem,
was er mir sagte, konnte ich aber wohl merken, wie viel er von Musik
verstand; er lobte nicht in den Tag hinein, sondern gab einen ruhigen,
sachverständigen Beifall, der mehr wert war. Er erzählte mir, was ich
von andrer Seite längst wußte, daß in seinem Hause manchen Abend Musik
gemacht werde, alte und neue. Er lud mich ein, und sagte zum Schluß:
»Ihre Lieder liegen auch bei uns, wir haben sie gern. Auch meine
Tochter wird sich freuen.«

Noch ehe ich dazu kam, ihm einen Besuch zu machen, erhielt ich eine
Einladung. Herr Imthor bat um die Erlaubnis, mein Trio in Es-Dur in
seinem Hause aufführen zu lassen. Ein Geiger und Cellist, tüchtige
Dilettanten, stünden zur Verfügung, und die erste Geige sei mir
vorbehalten, falls ich Lust hätte, mitzuspielen. Ich wußte, daß Imthor
die Berufsmusiker, die bei ihm spielten, stets sehr gut honoriere.
Das hätte ich ungern angenommen, und doch wußte ich nicht, wie die
Einladung gemeint sei. Schließlich nahm ich doch an, die beiden
Mitspieler fanden sich bei mir ein und holten ihre Stimmen, wir hatten
einige Proben. Inzwischen machte ich meinen Besuch bei Imthor, traf
aber niemand an. So kam der bestimmte Abend.

Imthor war Witwer, er wohnte in einem der alten, einfach stattlichen
Bürgerhäuser, einem der wenigen, die noch mitten in der großgewordenen
Stadt ihre alten Gärten unverkürzt um sich hatten. Vom Garten sah ich
wenig, als ich abends kam, nur eine kurze Allee von hohen Platanen,
deren Stämme im Laternenlicht die hellen Flecken zeigten, und
dazwischen ein paar alte, dunkelgewordene Steinbilder. Hinter den
großen Bäumen lag bescheiden das alte, breit und nieder gebaute Haus,
in dem von der Eingangstür weg durch die Korridore, Treppen und alle
Räume hindurch die Wände dicht voll alter Bilder hingen, Mengen von
Familienbildnissen und schwarzgewordenen Landschaften, altmodische
Veduten und Tierstücke. Ich kam gleichzeitig mit andern Gästen an, wir
wurden von einer Hausdame empfangen und eingeführt.

Die Gesellschaft war nicht gar groß, doch drängte sie sich in den
mäßigen Räumen etwas eng, bis die Türen zum Musikraum geöffnet wurden.
Hier war es weit und alles sah neu aus, der Flügel, die Notenschränke,
die Lampen, die Stühle, nur die Bilder an den Wänden waren auch hier
alle alt.

Meine Mitspieler waren schon da, wir stellten unsre Pulte auf, schauten
nach den Lichtern und begannen zu stimmen. Da ging zuhinterst im
Saal eine Türe und es kam durch den erst halb erleuchteten Raum eine
hellgekleidete Dame geschritten. Die beiden Herren begrüßten sie mit
Auszeichnung, ich sah, daß es die Tochter Imthors sei. Sie sah mich
einen Augenblick fragend an, dann bot sie mir, ehe ich noch vorgestellt
war, die Hand und sagte: »Ich kenne Sie schon, Sie sind Herr Kuhn?
Willkommen!«

Das schöne Mädchen hatte mir gleich bei ihrem Eintritt Eindruck
gemacht, nun klang ihre Stimme so hell und gut, daß ich die dargebotene
Hand herzhaft drückte und dem Fräulein vergnügt in die Augen sah, die
mich lieb und freundschaftlich begrüßten.

»Ich freu' mich auf das Trio,« sagte sie lächelnd, als habe sie mich so
erwartet, wie ich nun war, und sei befriedigt.

»Ich auch,« sagte ich, ohne zu wissen, was ich sage, und sah sie
wieder an, und sie nickte. Dann ging sie weiter und aus dem Saal, und
ich sah ihr nach. Bald darauf kam sie wieder, an der Hand ihres Vaters,
und hinter ihnen die Gesellschaft. Wir drei saßen schon an den Pulten
und waren bereit. Die Leute nahmen Platz, einige Bekannte nickten mir
zu, der Hausherr gab mir die Hand, und als alle saßen, erloschen die
elektrischen Lichter und brannten nur die hohen Kerzen über unsern
Noten weiter.

Ich hatte meine Musik beinahe vergessen. Ich suchte hinten im Saal das
Fräulein Gertrud, das an ein Büchergestell gelehnt in der Dämmerung
saß. Ihr dunkelblondes Haar sah beinahe schwarz aus, ihre Augen sah ich
nicht. Nun zählte ich leise den Takt, und nickte, und wir stimmten mit
breitem Strich das Andante an.

Jetzt während des Spielens ward mir wohl und innig, ich wiegte mich im
Takte mit und schwebte frei im Zusammenklang der Tonströme, die mir
alle völlig neu und wie in diesem Augenblick erfunden vorkamen. Meine
Gedanken an die Musik und meine Gedanken an Gertrud Imthor flossen
rein und ohne Störung zusammen, ich zog meinen Geigenbogen und gab mit
den Augen meine Anweisungen, schön und stetig floß die Musik dahin
und nahm mich mit, einen goldenen Weg zu Gertrud hin, die ich nicht
mehr sehen konnte, und jetzt auch gar nicht mehr zu sehen begehrte.
Ich gab ihr meine Musik und meinen Atem, meine Gedanken und meinen
Herzschlag hin, wie sich ein Morgenwanderer dem lichten Blau und
klaren Wiesenglanz der Frühe hingibt, ungefragt und ohne sich selbst
zu verlieren. Zugleich mit dem Wohlgefühl und wachsenden Schwall der
Töne trug und erhob mich ein verwundertes Glück darüber, daß ich nun
so plötzlich wisse, was Liebe sei. Es war kein neues Gefühl, nur eine
Klärung und Entschleierung uralter Ahnungen, Rückkehr in ein altes
Vaterland.

Der erste Satz war zu Ende; ich gönnte nur eine Minute Pause. Leise
klang das Stimmen der Saiten in mildem Durcheinander, über gespannte
und zunickende Gesichter hinweg konnte ich einen Augenblick den
dunkelblonden Kopf sehen, die zarte, helle Stirn und den hellroten
strengen Mund, dann klopfte ich sacht auf mein Pult und wir strichen
den zweiten Satz, der sich wohl hören lassen darf. Die Spieler wurden
warm, die ansteigende Sehnsucht des Liedes hob unruhige Schwingen,
kreiste in unbefriedigten Flügen empor, suchte und verlor sich in
klagender Bangigkeit. Tief und warm übernahm das Cello die Melodie,
hob sie stark und dringlich heraus, trug sie verklingend in die neue,
dunklere Tonart hinüber und löste sie verzweifelnd im halb zornigen
Basse auf.

Dieser zweite Satz war meine Beichte, ein Bekenntnis meiner Sehnsucht
und meines Unbefriedigtseins. Der dritte sollte die Erlösung und
Erfüllung sein. Ich wußte aber seit diesem Abend, daß er nichts
war, und ich spielte ihn sorglos hin als eine Sache, die hinter mir
lag. Denn ich meinte jetzt genau zu wissen, wie die Befreiung hätte
klingen sollen, wie aus dem stürmenden Stimmenbrausen der Glanz und
Friede brechen müsse, Licht aus schwerem Gewölk. Das alles war in
meinem dritten Satze nicht, er war nur ein linderndes Auflösen der
angewachsenen Dissonanzen und ein Versuch, die alte Grundmelodie ein
wenig zu läutern und zu steigern. Von dem, was in mir selber jetzt
glänzte und sang, war kein Ton und kein Strahl darin, und ich wunderte
mich, daß niemand es merkte.

Mein Trio war aus. Ich nickte den Spielern zu und legte meine Violine
weg. Die Lichter flammten wieder auf, die Gesellschaft kam in
Bewegung, manche kamen mit den gewohnten Artigkeiten, Lobsprüchen und
Kritiken zu mir, um sich als Kenner auszuweisen. Den Hauptmangel der
Arbeit warf keiner mir vor.

Man verteilte sich in mehrere Zimmer, es gab Thee, Wein und Gebäck,
im Herrenzimmer wurde geraucht. Eine Stunde verging und noch eine. Da
geschah es endlich, von mir kaum mehr erwartet, daß Gertrud bei mir
stand und mir die Hand gab.

»Hat es Ihnen gefallen?« fragte ich.

»Ja, es war schön,« sagte sie nickend. Ich sah aber, daß sie mehr
wußte. Darum sagte ich: »Sie meinen den zweiten Satz. Das andere ist ja
nichts.«

Da schaute sie mir wieder neugierig in die Augen, mit einer gütigen
Klugheit wie eine reife Frau und sagte ganz fein: »Sie wissen es also
selber. Der erste Satz, nicht wahr, ist gute Musik. Der zweite wird
groß und weit und verlangt vom dritten zu viel. Man hat es Ihnen auch
beim Spielen angesehen, wo Sie wirklich drin waren und wo nicht.«

Mir war es lieb, zu hören, daß ihre klaren guten Augen mich betrachtet
hatten, ohne daß ich es wußte. Und ich dachte schon an diesem ersten
Abend unserer Bekanntschaft, es müßte gut und selig sein, ein
ganzes Leben unter dem Blick dieser schönen und aufrichtigen Augen
hinzubringen, und es müßte dann unmöglich sein, jemals Schlechtes zu
tun oder zu denken. Und von jenem Abend an wußte ich, daß irgendwo
meinem Verlangen nach Einheit und zartester Harmonie Stillung zu finden
wäre, und daß jemand auf der Erde lebe, auf dessen Blick und Stimme
jeder Puls und jeder Atemzug in mir rein und innig Antwort gab.

Auch sie spürte unverweilt in mir den freundschaftlich reinen
Widerklang ihres Wesens und hatte von der ersten Stunde an das ruhige
Vertrauen, sich mir eröffnen und unverstellt zeigen zu können und
weder Mißverständnis noch Vertrauensbruch fürchten zu müssen. Sie
war mir sogleich nah befreundet, wie es in solcher Schnelle und
Selbstverständlichkeit nur jungen und wenig verdorbenen Menschen
möglich ist. Bis dahin war ich zwar schon je und je verliebt gewesen,
doch stets -- und namentlich seit meiner Entstellung -- mit einem
scheuen, begehrlichen und unsicheren Gefühl. Nun war statt der
Verliebtheit die Liebe gekommen und mir schien, es sei ein feiner
grauer Schleier von meinen Augen gefallen und die Welt liege für mich
im ursprünglich göttlichen Lichte da, wie sie vor Kindern, und wie sie
vor den Augen unsrer Paradiesträume liegt.

Gertrud war damals kaum über zwanzig Jahre alt, schlank und gesund wie
ein junger feiner Baum, und war aus dem Kram und Schwindel des üblichen
Jungmädchentums unberührt hervorgegangen, ihrem eigenen noblen Wesen
folgend wie eine sicher schreitende Melodie. Mir war im Herzen wohl,
daß ich ein solches Geschöpf in der unvollkommenen Welt lebendig wußte,
und ich konnte nicht daran denken, sie etwa einzufangen und für mich
allein wegzunehmen. Ich war froh, an ihrer schönen Jugend ein wenig
teilhaben zu dürfen und mich von Anfang an unter ihren guten Freunden
zu wissen.

In der Nacht nach diesem Abend schlief ich lange nicht ein. Es plagte
mich aber kein Fieber und keine Unruhe, sondern ich wachte und suchte
den Schlaf nicht, weil ich meinen Frühling gekommen und mein Herz
nach langen, sehnlichen Irrfahrten und Winterzeiten auf dem rechten
Wege wußte. In meine Stube floß blasser Nachtschimmer; alle Ziele des
Lebens und der Kunst lagen klar und nahe, wie föhnhelle Höhen, ich
spürte den oft so ganz verlorenen Klang und geheimen Takt meines
Lebens lückenlos, bis in die sagenhaften Kinderjahre zurück. Und wenn
ich diese traumhafte Klarheit und gedrängte Fülle des Gefühls halten
und verdichten und mit Namen nennen wollte, so nannte ich den Namen
Gertrud. Mit ihm schlief ich ein, schon gegen den Morgen, und stand
beim Tagen frisch und erquickt wieder auf, wie nach einem langen,
langen Schlaf.

Da fielen die mißmutigen Gedanken der letzten Zeit, und auch die
hochmütigen, mir ein und ich sah, woran es mir gefehlt hatte. Heute
quälte und verstimmte und ärgerte mich nichts mehr, ich hatte wieder
die große Harmonie im Ohr und träumte wieder meinen Jugendtraum vom
Zusammenklang der Sphären. Ich tat wieder meine Schritte und Gedanken
und Atemzüge nach einer geheimen Melodie, das Leben hatte wieder einen
Sinn und die Ferne war morgengolden. Niemand bemerkte die Veränderung,
es stand mir keiner nah genug. Nur Teiser, das Kind, stieß mich bei
der Probe im Theater lustig an und sagte: »Sie haben gut geschlafen
heut nacht, gelt?« Ich besann mich, womit ich ihn erfreuen könnte, und
fragte in der nächsten Pause: »Teiser, wo gehen Sie diesen Sommer hin?«
Da lachte er verschämt und wurde rot wie eine Braut, die man nach dem
Hochzeitstage fragt, und meinte: »Lieber Gott, bis dahin ist's noch
lang! Aber schauen Sie, da drin hab ich schon die Karten.« Er schlug
auf seine Brusttasche. »Diesmal gehts vom Bodensee aus: Rheintal,
Fürstentum Liechtenstein, Chur, Albula, Oberengadin, Maloja, Bergell,
Comersee. Den Rückweg weiß ich noch nicht.«

Er hob die Geige wieder und blitzte mich noch schnell mit List und
Wonne aus seinen graublauen Kinderaugen an, die nie etwas vom Schmutz
und vom Leid der Welt gesehen zu haben schienen. Und ich fühlte
mich ihm verbrüdert, und wie er sich auf seine große, wochenlange
Fußwanderung freute, auf die Freiheit und den sorglosen Umgang mit
Sonne, Luft und Erde, so freute ich mich von neuem auf alle Wege meines
Lebens, die wie in einer jungen nagelneuen Sonne vor mir lagen und die
ich aufrecht mit hellen Augen und reinem Herzen zu gehen gesonnen war.

Heute, wenn ich dahin zurückdenke, liegt es alles schon ferngeworden
und weit auf der Morgenseite, aber etwas vom damaligen Licht ist noch
jetzt auf meinen Wegen, wennschon es nimmer so jung und lachend glänzt,
und heut wie damals ist es mein Trost und tut es mir in bedrückten
Stunden wohl und nimmt den Staub von meiner Seele, wenn ich mir den
Namen Gertrud vorsage und an sie denke, wie sie damals mir im Musiksaal
ihres Alten entgegenkam, leicht wie ein Vogel und zutraulich wie ein
Freund.

Nun ging ich auch wieder zu Muoth, den ich seit jener peinlichen
Beichte der schönen Lotte möglichst vermieden hatte. Er hatte es
bemerkt und war, wie ich wußte, zu stolz und auch zu gleichgültig,
sich um mich zu bemühen. So waren wir seit Monaten nicht mehr allein
beisammen gewesen. Jetzt, da ich voll neuen Vertrauens zum Leben und
voll guter Absichten war, schien es mir vor allem notwendig, mich dem
vernachlässigten Freund wieder zu nähern. Den Anlaß dazu gab mir ein
neues Lied, das ich gesetzt hatte; ich beschloß, es ihm zu widmen. Es
war dem Lawinenlied ähnlich, das er gern hatte, und der Text hieß:

  Ich habe meine Kerzen ausgelöscht;
  Zum offenen Fenster strömt die Nacht herein,
  Umarmt mich sanft und läßt mich ihren Freund
  Und ihren Bruder sein.

  Wir beide sind am selben Heimweh krank;
  Wir senden ahnungsvolle Träume aus
  Und reden flüsternd von der alten Zeit
  In unsres Vaters Haus.

Ich machte eine saubere Abschrift und schrieb darüber: »Meinem Freunde
Heinrich Muoth gewidmet.«

Damit ging ich zu ihm, zu einer Zeit, wo ich ihn sicher zu Hause wußte.
Richtig klang mir sein Singen entgegen, er schritt in den stattlichen
Zimmern seiner Wohnung auf und ab und übte. Er empfing mich gelassen.

»Schau, der Herr Kuhn! Ich dachte schon, Sie kämen gar nimmer.«

»Doch,« sagte ich, »da bin ich. Wie gehts?«

»Immer gleich. Nett, daß Sie sich wieder einmal zu mir wagen.«

»Ja, ich war in der letzten Zeit untreu....«

»Sogar sehr deutlich. Ich weiß auch warum.«

»Das glaube ich kaum.«

»Ich weiß es. Die Lotte ist einmal bei Ihnen gewesen, nicht?«

»Ja, ich wollte nicht davon reden.«

»Ist auch nicht nötig. Also da sind Sie wieder.«

»Und habe etwas mitgebracht.«

Ich gab ihm die Noten.

»O, ein neues Lied! Das ist recht, ich hatte schon Angst für Sie, Sie
möchten in der langweiligen Streichmusik stecken bleiben. Und da steht
ja eine Widmung! Für mich? Ist es Ihr Ernst?«

Ich wunderte mich, daß es ihn so zu freuen schien, ich hatte eher einen
Scherz über die Dedikation erwartet.

»Gewiß freut mich das,« sagte er aufrichtig. »Es freut mich immer, wenn
anständige Menschen mich gelten lassen, und bei Ihnen besonders. Ich
hatte Sie im Stillen schon auf die Totenliste gesetzt.«

»Führen Sie solche Listen?«

»O ja, wenn man so viele Freunde hat, oder gehabt hat, wie ich... Es
gäbe einen schönen Katalog. Die moralischen habe ich immer am höchsten
geschätzt, und g'rade die kneifen mir alle aus. Unter Lumpen findet
man jeden Tag Freunde, aber unter Idealisten und Normalbürgern hält es
schwer, wenn man anrüchig ist. Sie sind zurzeit beinah der einzige. Und
wie es geht -- was man am schwersten haben kann, hat man am liebsten.
Geht es Ihnen nicht auch so? Mir ist immer nur an Freunden gelegen,
statt dessen laufen mir bloß Weiber zu.«

»Daran sind Sie zum Teil selber schuld, Herr Muoth.«

»Warum denn?«

»Sie behandeln alle Leute gern so wie Sie die Weiber behandeln. Bei
Freunden geht das nicht, darum laufen sie Ihnen draus. Sie sind ein
Egoist.«

»Gott sei Dank, bin ich das. Übrigens Sie nicht minder. Als die
furchtbare Lotte Ihnen ihr Leid klagte, da haben Sie ihr keineswegs
geholfen. Sie haben auch nicht den Anlaß benützt, mich zu bekehren,
wofür ich dankbar bin. Sie haben vor der Affäre ein Grausen gespürt und
sind weggeblieben.«

»Nun, da bin ich wieder. Sie haben recht, ich hätte mich der Lotte
annehmen sollen. Aber ich verstehe mich auf diese Sachen nicht. Sie hat
mich selber ausgelacht und mir gesagt, von der Liebe verstünde ich gar
nichts.«

»Nun, dann halten Sie sich brav an die Freundschaft! Es ist auch ein
schönes Feld. Und jetzt sitzen Sie her und spielen Sie die Begleitung,
wir wollen das Lied einmal studieren. Ach, wissen Sie noch, Ihr erstes
damals? Sie sind ja allmählich ein berühmter Herr, scheint mir.«

»Es geht an, neben Ihnen jedenfalls komme ich nie auf.«

»Dummes Zeug. Sie sind ein Komponist, ein Schöpfer, ein kleiner
Herrgott. Was geht Sie der Ruhm an? Unsereiner muß pressieren, wenn
er zu etwas kommen will. Wir Sänger und Seiltänzer haben es wie die
Weiber, wir müssen das Fell zu Markt bringen solang es schön glatt
ist. Ruhm, soviel es geben will, und Geld und Weiber und Champagner!
Photographien in den Zeitschriften, Lorbeerkränze! Denn siehe,
wenn ich heute den Ekel kriege, oder es braucht bloß eine kleine
Lungenentzündung zu sein, so bin ich morgen erledigt, und mit dem Ruhm
und Lorbeer und dem ganzen Betrieb hat es gepfiffen.«

»Nun, Sie können es abwarten.«

»Ach, wissen Sie, im Grund bin ich verdammt neugierig auf das
Altwerden. Es ist ein Schwindel mit der Jugend, ein richtiger Zeitungs-
und Lesebuchschwindel! Die schönste Zeit des Lebens! Hat sich was, alte
Leute machen mir immer einen viel zufriedenern Eindruck. Die Jugend ist
die schwerste Zeit im Leben. Zum Beispiel Selbstmorde kommen in höheren
Jahren fast gar nie vor.«

Ich begann zu spielen und er wandte sich zu dem Lied, faßte rasch die
Melodie und gab mir an einer Stelle, wo sie bedeutungsvoll von Moll in
Dur zurücklenkte, einen anerkennenden Stoß mit dem Ellbogen.

Abends fand ich zu Hause, wie ich gefürchtet hatte, ein Kuvert
von Herrn Imthor, das ein paar freundliche Worte und ein mehr als
anständiges Honorar enthielt. Ich sandte das Geld zurück und schrieb
dazu, ich sei wohlhabend genug, auch zöge ich es vor, in seinem Hause
als Freund verkehren zu dürfen. Als ich ihn wieder sah, lud er mich
ein, bald wieder zu kommen und sagte: »Ich dachte mir schon, daß es
so gehen werde. Gertrud meinte, ich dürfe Ihnen nichts schicken, aber
versuchen wollte ich's doch.«

Von da an war ich im Hause Imthor ein sehr häufiger Gast. Ich übernahm
bei vielen Hauskonzerten die erste Geige, ich brachte alle neue Musik,
eigene und fremde, dorthin, und die meisten meiner kleineren Arbeiten
wurden nun zuerst dort aufgeführt.

An einem Nachmittag im Frühling fand ich Gertrud allein mit einer
Freundin zu Hause. Es regnete und ich war auf der Vortreppe
ausgeglitten, nun wollte sie mich nicht wieder fortlassen. Wir sprachen
von Musik und es geschah fast ungewollt, daß ich zu erzählen anfing und
namentlich von der Graubündener Zeit sprach, in der ich meine ersten
Lieder komponiert hatte. Dann ward ich verlegen und wußte nicht, ob es
richtig gewesen sei, vor diesem Mädchen zu beichten. Da sagte Gertrud
beinah zaghaft: »Ich muß Ihnen etwas bekennen, was Sie mir nicht übel
nehmen dürfen. Ich habe zwei von Ihren Liedern für mich umgeschrieben
und gelernt.«

»Ja, singen Sie denn?« rief ich überrascht. Zugleich fiel mir
komischerweise das Erlebnis mit meiner allerersten Jugendliebe ein, wie
ich sie so schlecht hatte singen hören.

Gertrud lächelte vergnügt und nickte: »O ja, ich singe, wenn auch nur
für mich und ein paar Freunde. Ich will Ihnen die Lieder singen, wenn
Sie begleiten wollen.«

Wir gingen zum Flügel und sie gab mir die Noten, zierlich von ihrer
feinen Frauenhand umgeschrieben. Leise begann ich mit der Begleitung,
um sie recht gut zu hören. Und sie sang das Lied, und dann das
zweite, und ich saß und horchte und hörte meine Musik verwandelt
und verzaubert. Sie sang mit einer hohen, vogelleichten, köstlich
schwebenden Stimme, und es war das Schönste, was ich in meinem Leben
gehört habe. In mich aber drang die Stimme, wie der Südsturm in ein
beschneites Tal, und jeder Ton zog eine Hülle von meinem Herzen, und
während ich selig war und zu schweben meinte, mußte ich kämpfen und
mich hart machen, denn die Tränen standen mir in den Augen und wollten
mir die Noten verlöschen.

Wohl hatte ich gemeint zu wissen, was Liebe sei, und war mir damit
weise vorgekommen, hatte getröstet aus neuen Augen in die Welt
geschaut und einen näheren und tieferen Anteil an allem Leben
gefühlt. Nun war es anders, nun war es nicht mehr Klarheit, Trost und
Heiterkeit, sondern Sturm und Flamme, nun warf mein Herz sich jauchzend
und zitternd weg, wollte nichts mehr vom Leben wissen und nur in seiner
Flamme verbrennen. Wenn jetzt mich einer gefragt hätte, was denn die
Liebe sei, da hätte ich es wohl zu wissen geglaubt und hätte es sagen
können, und es hätte dunkel und lodernd geklungen.

Indessen schwang sich hoch darüber Gertruds leichte, selige Stimme,
schien mir heiter zuzurufen und nur meine Freude zu wollen, und flog
doch in fernen Höhen mir davon, unerreichbar und fast fremd. Ach, ich
wußte nun, wie es stand. Sie mochte singen, sie mochte freundlich
sein, sie mochte es gut mit mir meinen, das alles war nicht, was ich
begehrte. Wenn sie nicht ganz und für immer mir zu eigen wurde, mir
allein, dann war mein Leben vergebens und alles Gute und Zarte und
Eigenste in mir hatte keinen Sinn.

Nun fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter, erschrak und wandte
mich um, und sah in ihr Gesicht. Die hellen Augen waren ernst und nur
langsam, da ich sie anstarrte, fing sie an zart zu lächeln und zu
erröten.

Ich konnte nur Danke sagen. Sie wußte nicht, was mit mir war, sie
fühlte nur und verstand, daß ich ergriffen war, und fand schonend einen
Weg zur vorigen Heiterkeit und Freiheit des Plauderns zurück. Dann ging
ich bald.

Ich ging nicht nach Hause, und ich wußte nicht, ob es noch regnete. Ich
ging an meinem Stock durch die Straßen, doch war es kein Gehen und die
Straßen waren keine Straßen, ich fuhr auf Sturmwolken durch flatternde,
brausende Himmel, ich redete mit dem Sturm und war selbst der Sturm,
und ich hörte aus unendlicher Ferne herüber etwas Betörendes klingen,
das war eine helle, hohe, vogelleicht schwebende Frauenstimme, und sie
schien ganz rein von menschlichen Gedanken und Stürmen, und schien doch
im Kern alle wilde Süßigkeit der Leidenschaft zu haben.

Den Abend saß ich ohne Licht in meinem Zimmer. Als ich es nicht mehr
aushielt, es war schon spät, ging ich zu Muoth hinaus, fand aber seine
Fenster dunkel und kehrte wieder um. Lange lief ich in der Nacht umher
und fand mich endlich müde, aus Träumen erwachend, vor dem Imthor'schen
Garten. Da rauschten die alten Bäume feierlich um das verborgene Haus,
von dem kein Ton und Strahl herüber drang, und zwischen den Wolken
kamen und verschwanden hier und dort schwachglänzende Sterne.

Ich wartete einige Tage, ehe ich wieder zu Gertrud zu gehen wagte. In
dieser Zeit kam ein Schreiben von jenem Dichter, dessen Lieder ich
komponiert hatte. Seit zwei Jahren waren wir in einer losen Verbindung,
es kamen je und je merkwürdige Briefe von ihm, ich schickte ihm meine
Arbeiten und er mir seine Gedichte. Nun schrieb er:

»Werter Herr! Sie haben länger nichts von mir gehört. Ich war fleißig.
Seit ich Ihre Musik habe und verstehe, hat mir immer ein Text für Sie
vorgeschwebt, wollte aber nicht heraus. Jetzt ist er da, so gut wie
fertig, und es ist ein Operntext, und Sie müssen ihn komponieren. --
Sie können kein sehr glücklicher Mensch sein, das steht in Ihrer Musik.
Von mir will ich nicht reden; aber da ist ein Text für Sie. Da uns doch
sonst nichts Erfreuliches blüht, wollen wir den Leuten ein paar hübsche
Sachen vorspielen, bei denen den Dickhäutern für Augenblicke klar wird,
daß das Leben nicht bloß eine Oberfläche hat. Denn da wir doch mit
uns selber nichts Rechtes anzufangen wissen, plagt es uns, die unnütze
Kraft andere spüren zu lassen.

                                                           Ihr Hans H.«

Das fiel wie ein Funke in mein Pulver. Ich schrieb um den Text und war
so ungeduldig, daß ich den Brief wieder zerriß und telegraphierte. Nach
einer Woche kam das Manuskript, ein kleines glühendes Liebesspiel in
Versen, noch mit Lücken, aber für mich einstweilen genug. Ich las und
ging mit den Versen im Kopf umher, und sang sie und geigte sie bei Tag
und Nacht, und bald lief ich zu Gertrud.

»Sie müssen mir helfen,« rief ich. »Ich mache eine Oper. Da sind drei
Stücke, für Ihre Stimme gesetzt. Wollen Sie sie ansehen? Und mir dann
einmal singen?«

Sie freute sich, ließ sich erzählen, blätterte in den Noten und
versprach, sie bald zu lernen. Es kam eine glühende, übervolle Zeit;
trunken von Liebe und Musik ging ich einher, zu nichts andrem tauglich,
und Gertrud war die einzige, die mein Geheimnis wußte. Ich brachte ihr
Noten, die sie lernte und mir sang, ich fragte sie, spielte ihr alles
vor, und sie glühte mit mir, studierte und sang, riet und half, und
hatte an dem Geheimnis und an dem entstehenden Werk, das uns beiden
gehörte, ihre blühende Lust. Keine Andeutung, kein Vorschlag, den sie
nicht sofort verstand und aufnahm, schließlich begann sie selber, mit
ihrer feinen Schrift, mir beim Abschreiben und Umschreiben zu helfen.
Im Theater hatte ich Krankenurlaub genommen.

Es kam zwischen Gertrud und mir keine Verlegenheit auf, wir trieben
im selben Strom, arbeiteten am selben Werk, es war für sie wie für
mich ein Aufblühen reifgewordener Jugendkräfte, ein Glück und Zauber,
in dem meine Leidenschaft ungesehen mitbrannte. Sie unterschied nicht
zwischen meinem Werk und mir, sie liebte uns und war unser, und auch
für mich war Liebe und Arbeit, Musik und Leben nicht mehr zu trennen.
Manchmal sah ich das schöne Mädchen erstaunt und bewundernd an, und sie
erwiderte meinen Blick, und wenn ich kam oder ging, drückte sie mir die
Hand wärmer und stärker als ich ihre zu drücken wagte. Und wenn ich in
diesen lauen Frühlingstagen durch den Garten her kam und das alte Haus
betrat, wußte ich nicht, war es mein Werk oder meine Liebe, was mich
trieb und erhob.

Solche Zeiten dauern nicht lange. Es ging schon gegen das Ende und
meine Flamme flackerte wieder ungeteilt in blinden Liebeswünschen,
da saß ich an ihrem Flügel und sie sang den letzten Akt meiner Oper,
deren Sopranrolle fertig war. Sie sang so wunderbar, und ich dachte
dieser glühenden Tage, deren Glanz ich schon erblassen fühlte, während
Gertrud noch auf ihrer Höhe schwebte, und ich fühlte unabwendbar andere
und kühlere Tage kommen. Da lächelte sie mir zu und neigte sich zu mir
herab, der Noten wegen, und bemerkte die Trauer in meinem Blick, und
sah mich fragend an. Ich schwieg und stand auf und nahm ihr Gesicht
vorsichtig in beide Hände, küßte ihre Stirn und ihren Mund und setzte
mich wieder. Sie ließ alles still und fast feierlich geschehen, ohne
Befremdung und Unwillen, und da sie Tränen in meinen Augen sah, strich
sie mir mit ihrer leichten, lichten Hand beruhigend über Haar und Stirn
und Schulter.

Dann spielte ich weiter, und sie sang, und der Kuß und diese
merkwürdige Stunde blieb unbesprochen, doch unvergessen zwischen uns,
als unser letztes Geheimnis.

Denn das andre konnte nicht lange mehr zwischen uns bleiben; die Oper
brauchte nun andre Mitwisser und Helfer. Der erste mußte Muoth sein,
denn an ihn hatte ich bei der Hauptrolle gedacht, deren Ungestüm und
bittere Leidenschaft ganz seinem Gesang und ganz seinem Wesen verwandt
waren. Nur zögerte ich noch eine kleine Zeit. Noch war mein Werk ein
Bündnis zwischen mir und Gertrud, gehörte ihr und mir, schuf uns Sorge
und Lust, war ein Garten, von dem niemand wußte, oder ein Schiff, auf
dem wir beide allein das große Meer befuhren.

Sie fragte selbst danach, als sie fühlte und merkte, daß sie mir nimmer
weiter helfen konnte.

»Wer singt die große Rolle?« fragte sie.

»Heinrich Muoth.«

Sie schien erstaunt. »O,« sagte sie, »ist das Ernst? Ich hab ihn nicht
gern.«

»Er ist mein Freund, Fräulein Gertrud. Und die Rolle paßt für ihn.«

»Ja.«

Nun war schon ein Fremder dazwischen.



Indessen hatte ich nicht an Muoths Ferien und Reiselust gedacht. Er
freute sich über meinen Opernplan und versprach alle Hilfe, war aber
schon in Reiseplänen und konnte mir nur versprechen, bis zum Herbst
seine Rolle durchzunehmen. Ich schrieb sie ihm ab, soweit sie schon
fertig war. Er nahm sie mit und ließ nach seiner Gewohnheit in all den
Monaten nichts von sich hören.

So war eine Frist für uns gewonnen. Zwischen Gertrud und mir bestand
nun eine gute Kameradschaft. Ich glaube, sie wußte seit jener Stunde
am Klavier genau, was in mir vorging, doch sagte sie nie ein Wort und
war um nichts anders gegen mich. Sie liebte nicht nur meine Musik, sie
hatte mich selber gern und fühlte wie ich, daß zwischen uns beiden
ein natürlicher Einklang war, daß jeder von uns des andern Wesen
gefühlsmäßig verstand und billigte. So ging sie neben mir in Eintracht
und Freundschaft, doch ohne Leidenschaft. Zuzeiten genügte mir das und
ich lebte stille, dankbare Tage in ihrer Nähe. Doch immer kam bald die
Leidenschaft dazwischen, dann war mir jede ihrer Freundlichkeiten nur
ein Almosen und ich empfand mit Qualen, daß die Stürme des Liebhabens
und Begehrens, die mich erschütterten, ihr fremd und unlieb waren. Oft
täuschte ich mich gewaltsam und suchte mir vorzureden, sie sei eben
eine gleichmäßige und heiter stille Natur. Doch wußte mein Gefühl,
daß das falsch sei, und kannte Gertrud genug, um zu wissen, daß auch
ihr die Liebe Sturm und Gefahren bringen müsse. Oft habe ich darüber
nachgedacht, und ich glaube, wenn ich sie damals bestürmt und bekriegt
und mit allen Kräften an mich gezogen hätte, sie wäre mir gefolgt und
für immer mit mir gegangen. So aber mißtraute ich ihrer Heiterkeit,
und was sie mir von Zärtlichkeit und feiner Zuneigung zeigte, schob
ich auf das fatale Mitleid. Ich konnte den Gedanken nicht los werden,
daß sie mit einem andern, gesunden und äußerlich schönen Manne, wenn
sie ihn so gern hatte wie mich, nicht so lange in dieser ruhigen
Freundschaftlichkeit hätte verharren können. Da waren wieder die
Stunden nicht selten, in denen ich meine Musik und alles, was in mir
lebte, für ein gerades Bein und ein flottes Wesen hingegeben hätte.

Um jene Zeit kam Teiser mir wieder näher. Er war mir unentbehrlich
für die Arbeit, und so war er der nächste, der mein Geheimnis erfuhr
und Text und Plan meiner Oper kennen lernte. Bedächtig nahm er alles
an sich, um es zu Hause zu studieren. Dann aber kam er, und sein
blondbärtiges Kindergesicht war rot vor Vergnügen und Musikleidenschaft.

»Das wird was, Ihre Oper!« rief er erregt. »Die Ouvertüre dazu spür ich
schon in den Fingern! Jetzt gehn wir und trinken einen guten Schoppen,
Sie Manderl, und wenns nicht unbescheiden wär', würd' ich sagen, wir
trinken Brüderschaft. Aber es soll nicht aufgenötigt sein.«

Das nahm ich gerne an und es wurde ein froher Abend daraus. Teiser
nahm mich zum erstenmal in seine Wohnung mit. Er hatte vor kurzem eine
Schwester zu sich genommen, die nach dem Tod der Mutter alleingeblieben
war, und wußte nicht genug zu rühmen, wie wohlig ihm nach langen
Junggesellenjahren im neuen Haushalt sei. Die Schwester war ein
schlichtes, vergnügtes, harmloses Mädchen mit denselben hellen,
kindlichen, freudig guten Augen, wie ihr Bruder sie hatte, und hieß
Brigitte. Sie brachte uns Kuchen und hellgrünen Österreicher Wein, dazu
das Kästlein mit den langen Virginiazigarren. Da tranken wir das erste
Glas auf ihr Wohl und das zweite auf gute Brüderschaft, und während wir
Kuchen aßen, Wein tranken und rauchten, fuhr der gute Teiser in seiner
Herzensfreude hin und wieder durchs Zimmerlein, saß bald am Klavier,
bald mit der Guitarre im Arm auf dem Kanapee, bald mit der Geige auf
der Tischecke, spielte was ihm Schönes durch den Kopf ging, sang und
ließ seine frohen Augen glänzen, und alles mir und meiner Oper zu
Ehren. Es zeigte sich, daß die Schwester dasselbe Blut habe und nicht
minder auf Mozart schwöre; Arien aus der Zauberflöte und Stücke aus
dem Don Giovanni funkelten durch die kleine Wohnung, von Gespräch und
Gläserklirren unterbrochen, von der Geige, dem Klavier, der Guitarre
oder auch nur vom Pfeifen des Bruders tadellos rein und richtig
begleitet.

Für die kurze Sommerspielzeit war ich noch als Orchestergeiger
verpflichtet, hatte aber auf den Herbst um meine Entlassung gebeten, da
ich alsdann alle Zeit und Lust für meine Arbeit zu brauchen dachte.
Der Kapellmeister, den mein Gehen ärgerte, behandelte mich zu guter
Letzt mit ausgesuchter Grobheit, die mir aber Teiser brav parieren und
belachen half.

Mit diesem Treuen arbeitete ich die Instrumentierung meiner Opernmusik
aus, und so andächtig er meine Gedanken gelten ließ, so unerbittlich
legte er den Finger auf alle Verstöße in der Orchesterbehandlung.
Oft geriet er in hellen Zorn und kanzelte mich ab, wie ein derber
Dirigent, bis ich eine zweifelhafte Stelle, in die ich verliebt und
verbissen war, ausstrich und änderte. Und immer war er mit Beispielen
zur Hand, wenn ich zweifelte und ungewiß war. Wo ich etwas Mißlungenes
durchsetzen oder eine Kühnheit nicht wagen wollte, kam er mit
Partituren angelaufen und wies mir nach, wie das der Mozart oder der
Lortzing gemacht habe, und daß mein Zögern eine Feigheit oder mein
Beharren eine »Kuhdummheit« sei. Wir brüllten einander an, kriegten und
tobten, und wenn es in Teisers Wohnung geschah, so hörte die Brigitte
andächtig zu, kam und ging mit Wein und Zigarren und strich manches
zerknüllte Notenblatt mitleidig und sorgfältig wieder glatt. Der Liebe
zu ihrem Bruder kam ihre Bewunderung für mich gleich, ich war für sie
ein Maestro. An jedem Sonntag mußte ich zum Essen zu Teisers kommen,
und nach Tische ging es, wenn nur ein blauer Fleck am Himmel war, mit
der Straßenbahn hinaus. Da spazierten wir über die Hügel und durch
Wälder, plauderten und sangen, und die Geschwister ließen ungebeten
immer wieder ihre heimischen Jodler steigen.

Dabei kamen wir einmal zum Imbiß in ein Dorfwirtshaus, wo uns aus weit
offenen Fenstern eine ländliche Tanzmusik entgegenjubelte, und als wir
gegessen hatten und beim Apfelmost ausruhend im Garten saßen, schlich
die Brigitte bald zum Hause hinüber und hinein, und als wir es merkten
und nach ihr ausschauten, sahen wir sie am Fenster vorbei tanzen,
frisch und sprühend wie ein Sommermorgen. Als sie wiederkam, drohte ihr
Teiser mit dem Finger und meinte, sie hätte ihn wohl auch auffordern
dürfen. Da wurde sie rot und verlegen, winkte ihm abwehrend zu und sah
mich an.

»Was ist denn?« fragte ihr Bruder.

»Laß doch,« meinte sie nur, aber zufällig sah ich, wie sie ihn mit dem
Blick auf mich aufmerksam machte, und Teiser sagte, »Ach so«.

Ich sagte nichts, doch war es mir wunderlich, sie darüber verlegen zu
sehen, daß sie in meiner Gegenwart getanzt hatte. Es fiel mir erst
jetzt ein, daß wohl auch ihre Spaziergänge rascher und weiter und
anders gegangen wären ohne meine hemmende Gesellschaft, und ich schloß
mich von da an ihren Sonntagsausflügen nur selten mehr an.

Gertrud hatte, als wir mit dem Durchsingen der Sopranrolle soweit
fertig waren, wohl bemerkt, daß es mir schwer fiel, auf die häufigen
Besuche bei ihr und das vertrauliche Beisammensein am Klavier zu
verzichten, und daß ich mich doch scheute, Vorwände für dessen
Fortsetzung zu erfinden. Da überraschte sie mich mit dem Vorschlag, sie
regelmäßig beim Singen zu begleiten, und ich kam nun zwei-, dreimal in
der Woche am Nachmittag in ihr Haus. Der Alte sah ihre Freundschaft
mit mir gerne; ohnehin ließ er sie, die schon früh die Mutter verloren
hatte und dem Haus als Dame vorstand, in allem gewähren.

Der Garten stand in voller Frühsommerpracht, überall waren Blumen und
sangen Vögel um das stille Haus, und wenn ich von der Straße in den
Garten trat und an den dunklen, alten Steinbildern der Allee vorüber
mich dem grünumwachsenen Hause näherte, war es mir jedesmal wie der
Eintritt in ein Heiligtum, wohin Stimmen und Dinge der Welt nur leise
und gemildert dringen konnten. Da sangen vor den Fenstern im blühenden
Gebüsch die Bienen, Sonne und leichte Laubschatten fielen ins Zimmer,
und ich saß am Flügel und hörte Gertrud singen, horchte ihrer Stimme
nach, die sich leicht emporschwang und im mühelosen Schweben wiegte,
und wenn wir nach einem Lied einander ansahen und lächelten, so war es
einig und vertraulich, wie zwischen Geschwistern. Da meinte ich manches
Mal, jetzt brauche ich nur die Hand auszustrecken und mein Glück leise
zu fassen, um es für immer zu haben, und tat es doch nie, denn ich
wollte warten, bis auch sie einmal Verlangen und Sehnsucht zeige.
Gertrud aber schien in reiner Zufriedenheit zu atmen und nichts anders
zu wünschen, ja mir kam es oft vor, als bäte sie mich, dieses stille
Einvernehmen nicht zu erschüttern und unsern Frühling nicht zu stören.

War ich darüber enttäuscht, so tröstete es mich zu fühlen, wie innig
sie in meiner Musik lebte, wie sie mich verstand und darüber stolz war.

Das dauerte bis zum Juni, dann reiste Gertrud mit ihrem Vater in die
Berge, ich blieb zurück, und wenn ich an ihrem Hause vorüberging, lag
es leer hinter seinen Platanen, und die Pforte war geschlossen. Da fing
die Pein wieder an, wuchs und verfolgte mich tief in die Nächte hinein.

Da kam ich abends, fast immer mit Noten in der Tasche, zu den
Teisers, nahm an ihrem heiter genügsamen Leben teil, trank von ihrem
österreichischen Wein und spielte Mozart mit ihnen. Dann ging ich durch
die milden Nächte heim, sah in den Anlagen die Liebespaare spazieren,
legte mich zu Hause müd aufs Bett und fand doch keinen Schlaf. Es
war mir jetzt unbegreiflich, wie ich so brüderlich mit Gertrud hatte
umgehen können, daß ich nie den Bann gebrochen, sie an mich gezogen
und bestürmt und erobert hatte. Ich sah sie, in ihrem hellblauen oder
grauen Kleid, munter oder ernsthaft, ich hörte ihre Stimme und begriff
nimmer, daß ich sie jemals hatte hören können, ohne in Glut und Werbung
auszubrechen. Berauscht und fiebernd stand ich auf, machte Licht und
warf mich auf die Arbeit, ließ Menschenstimmen und Instrumente werben
und flehen und drohen, wiederholte das Lied der Sehnsucht in neuen,
fiebernden Melodien. Oft aber blieb mir diese Tröstung aus, dann
lag ich glühend und wild in grimmiger Schlaflosigkeit, sagte wirr
und sinnlos ihren Namen Gertrud, Gertrud vor mich hin, warf Trost
und Hoffnung weg und gab mich verzweifelnd der grauenhaften Ohnmacht
des Begehrens hin. Ich rief Gott an und fragte ihn, warum er mich so
geschaffen, warum er mich verstümmelt und mir statt des Glückes, das
jeder Ärmste habe, nichts gegeben habe, als den grausamen Trost, in
Tönen zu wühlen und das Unerreichbare in wesenlosen Tonphantasien immer
wieder vor mein Begehren hinzumalen.

Bei Tage gelang es mir besser, meiner Leidenschaft Herr zu werden. Da
biß ich auf die Zähne, saß vom frühesten Morgen an bei der Arbeit,
erzwang Ruhe durch lange Gänge, und Ermunterung durch kalte Sturzbäder,
und abends floh ich vor den Schatten der heraufdrohenden Nacht in
die heitere Nähe der Geschwister Teiser, wo mir für Stunden Ruhe und
manchmal beinahe Behagen kam. Teiser merkte wohl, daß ich litt und
krank war, doch schrieb er es der Arbeit zu und riet mir Schonung,
obwohl er selber flammend dabei war und im Grunde meine Oper ebenso
erregt und ungeduldig wachsen sah, wie ich selbst. Manchmal holte
ich ihn auch ab, um ihn allein zu haben, und brachte den Abend mit
ihm in einem kühlen Wirtsgarten zu, wo jedoch die Liebespaare und das
Nachtblau, die Lampions und Feuerwerke und der Duft von Begehrlichkeit,
den die Sommerabende der Städter immer haben, mir nicht wohl tat.

Völlig schlimm wurde es, als auch Teiser abreiste, um mit Brigitte die
Ferien im Gebirge zu verwandern. Er lud mich zum Mitkommen ein, und
es war ihm Ernst, so sehr ich mit meiner Unbeweglichkeit ihm die Lust
zerstört hätte; aber ich konnte nicht annehmen. Zwei Wochen blieb ich
allein in der Stadt, schlaflos und aufgerieben, und die Arbeit gedieh
nicht mehr.

Da schickte mir Gertrud eine kleine Schachtel voll Alpenrosen aus einem
Dorf im Wallis, und als ich ihre Handschrift sah und die bräunlichen,
welken Blumen auspackte, fiel es wie ein Blick aus ihren lieben Augen
auf mich und ich schämte mich meiner Wildheit und meines Mißtrauens.
Ich sah ein, daß es besser sei, sie wisse von meinem Zustand, und
am nächsten Morgen schrieb ich ihr einen kurzen Brief. Da erzählte
ich halb scherzhaft, daß ich nimmer schlafen könne, und daß es vor
Sehnsucht nach ihr geschehe, und daß ich ihre Freundschaft nicht mehr
annehmen könne, da es bei mir Liebe sei. Im Schreiben überfiel es mich
wieder, und der Brief, der ruhig und fast scherzend begonnen hatte,
ward zum Schlusse heftig und heiß.

Die Post brachte beinah jeden Tag Grüße und Ansichtskarten von den
Geschwistern Teiser, die nicht ahnen konnten, daß ihre Karten und
Brieflein mir jedesmal eine Enttäuschung brachten, da ich andere Post
von anderer Hand erwartete.

Endlich kam sie doch, ein graues Kuvert mit Gertruds leichter, heiterer
Schrift, und innen ein Brief.

Lieber Freund! Ihr Brief bringt mich in Verlegenheit. Ich sehe, daß
Sie leiden und schwere Zeit haben, sonst müßte ich schelten, daß Sie
mich so überfallen. Sie wissen, wie gern ich Sie habe; aber mir ist
mein jetziger Zustand lieb, ich habe noch kein Verlangen ihn zu ändern.
Wenn ich Gefahr sähe, Sie zu verlieren, würde ich alles tun, Sie mir zu
halten. Aber auf ihren heißen Brief kann ich nicht antworten. Haben Sie
Geduld, lassen Sie es zwischen uns, wie es war, bis wir uns wiedersehen
und miteinander reden können. Dann wird alles leichter sein. In
Freundschaft Ihre Gertrud.

Damit war wenig anders geworden, und doch tat der Brief mir wohl. Es
war doch ein Gruß von ihr, sie duldete doch und ließ es geschehen, daß
ich um sie warb, sie hatte mich nicht abgewiesen. Auch brachte ihr
Brief mir etwas von ihrem Wesen mit, etwas von ihrer beinahe kühlen
Klarheit, und statt des Bildes, das meine Sehnsucht von ihr geschaffen
hatte, stand wieder sie selber vor meinen Gedanken. Ihr Blick forderte
Vertrauen von mir, ich spürte ihre Nähe und sogleich erhob sich Scham
und Stolz in mir, half mir das verzehrende Schmachten besiegen und die
brennenden Wünsche niederhalten. Nicht getröstet, doch gestärkt und
wehrhafter hielt ich mich aufrecht. Ich quartierte mich mit meiner
Arbeit im Wirtshaus eines Dorfes ein, zwei Stunden von der Stadt. Da
saß ich viel in einer schattigen, schon verblühten Fliederlaube und
dachte nach, und wunderte mich über mein Leben. Wie ging ich einsam
und fremd meinen Weg, ungewiß wohin! Und nirgends hatte ich Wurzeln
geschlagen und Heimatrecht erworben. Mit den Eltern stand ich nur in
äußerlichem Verkehr, mit höflichen Briefen; meinen Beruf hatte ich
verlassen, um gefährlichen Schöpferphantasien nachzugehen, die mich
doch nicht sättigten. Meine Freunde kannten mich nicht, Gertrud war der
einzige Mensch, mit dem ich ein volles Verstehen und eine vollkommene
Gemeinschaft hätte haben können. Und meine Arbeit, das, wofür ich doch
lebte und was meinem Leben Sinn geben sollte, wie war das ein Jagen
nach Schatten, ein Bauen von Lufthäusern! Konnte das wirklich einen
Sinn haben und eines Menschen Leben rechtfertigen und ausfüllen, das
Hintürmen von Tonreihen und erregte Spielen mit Gebilden, die im besten
Fall einmal anderen Menschen eine Stunde angenehm zubringen halfen?

Dennoch arbeitete ich wieder leidlich fleißig und kam innerlich in
diesem Sommer vollends mit der Oper zustande, wenn auch außen noch
viel fehlte und erst das Wenigste aufgeschrieben war. Manchmal kam
ich wieder in helle Freude und dachte mit Hochmut mir aus, wie mein
Werk Macht über Menschen gewinnen würde, wie Sänger und Musikanten,
Kapellmeister und Chöre Vollstrecker meines Willens sein müßten, und
wie er auf Tausende wirken werde. Zu andern Zeiten kam es mir beinahe
unheimlich und gespenstisch vor, daß alle diese Bewegungen und diese
Macht ausgehen sollten von den ohnmächtigen Träumen und Phantasien
eines armen, einsamen Menschen, den alle bemitleideten. Zuweilen verlor
ich auch den Mut und wollte finden, meine Arbeit könne unmöglich je
aufgeführt werden, es sei alles falsch und übertrieben. Doch war das
selten, im Grunde war ich vom Leben und von der Kraft meiner Arbeit
überzeugt. Sie war auch ehrlich und glühend, sie war erlebt und hatte
Blut in den Adern, und wenn ich sie auch heute nicht mehr hören mag
und ganz andere Noten schreibe, so ist doch in jener Oper meine ganze
Jugend, und wenn manche Takte daraus mir wieder begegnen, so ist es mir
nicht anders, als wehe ein lauer Frühlingssturm aus verlassenen Tälern
der Jugend und der Leidenschaft herüber. Und wenn ich denke, daß ihre
ganze Glut und Macht über die Herzen aus Schwäche und Entbehrung und
Sehnsucht geboren ist, so weiß ich nicht mehr, ob mir mein ganzes Leben
in jener Zeit, und auch noch das jetzige, lieb oder leid sein soll.

Der Sommer ging zur Neige, in einer finstern Nacht mit wilden,
leidenschaftlich schluchzenden Regengüssen schrieb ich die Ouvertüre zu
Ende, und am Morgen war der Regen kühl und mild, der Himmel glatt grau
und der Garten herbstlich geworden. Ich packte meine Sachen zusammen
und fuhr in die Stadt zurück.

Von allen meinen Bekannten war nur Teiser mit seiner Schwester schon
zurückgekehrt. Sie sahen beide bergbraun und blühend aus, hatten auf
ihren Touren erstaunlich viel erlebt und waren doch voll Teilnahme und
Spannung, zu sehen, wie es mit der Oper stehe. Wir nahmen die Ouvertüre
durch, und es war mir selber nahezu feierlich, als Teiser mir die Hand
auf die Schulter legte und zu seiner Schwester sagte: »Brigitt', schau
den an, das ist ein großer Musiker!«

Gertruds Ankunft erwartete ich trotz aller Sehnsucht und Erregung doch
mit Vertrauen. Ich konnte ihr ein schönes Stück Arbeit zeigen und
wußte, sie lebe mit und verstehe und genieße alles wie ihr Eigenes.
Am meisten war ich auf Heinrich Muoth gespannt, dessen Hilfe mir
unentbehrlich war und von dem ich seit Monaten kein Wort gehört hatte.

Endlich erschien er, noch vor Gertruds Rückkehr, und trat eines Morgens
in mein Zimmer. Lange sah er mir ins Gesicht.

»Sie sehen scheußlich aus,« sagte er kopfschüttelnd. »Na, wenn man
solche Sachen schreibt!«

»Haben Sie die Rolle angesehen?«

»Angesehen? Ich kann sie auswendig und werde sie singen, sobald Sie
wollen. Das ist ja eine verfluchte Musik!«

»Meinen Sie?«

»Sie werden sehen. Jetzt haben Sie Ihre schönste Zeit gehabt, warten
Sie nur! Mit der Dachkammerberühmtheit ist es vorbei, sobald die Oper
gespielt wird. Nun, das ist Ihre Sache. Wann wollen wir singen? Ein
paar Anmerkungen hätte ich immerhin zu machen. Wie weit sind Sie mit
dem Ganzen?«

Ich zeigte ihm, was zu zeigen war, und er nahm mich gleich mit in
seine Wohnung. Da hörte ich ihn zum erstenmal diese Rolle singen, bei
der ich durch meine eigene Leidenschaft hindurch immer an ihn gedacht
hatte, und fühlte die Macht meiner Musik und seiner Stimme. Erst
jetzt konnte ich in Gedanken das Ganze auf der Bühne vor mir sehen,
erst jetzt schlug meine eigene Flamme mir entgegen und ließ mich ihre
Wärme fühlen, gehörte nimmer mir und war nimmer mein Werk, sondern
hatte eignes Leben und wirkte als eine fremde Macht auf mich. Zum
erstenmal fühlte ich diese Loslösung eines Werkes vom Schöpfer, an die
ich bis dahin nicht recht geglaubt hatte. Mein Werk begann dazustehen
und sich zu regen und Leben zu zeigen, eben noch hatte ich es in der
Hand gehabt, und schon jetzt war es nimmer mein, war es wie ein Kind
dem Vater entwachsen, lebte und übte Macht auf eigne Faust, sah mich
aus fremden Augen selbständig an und trug doch meinen Namen und mein
Zeichen an der Stirn geschrieben. Dieselbe zwiespältige, ja manchmal
erschreckende Empfindung habe ich später bei den Aufführungen gehabt.

Muoth hatte die Rolle gut geübt, und was er geändert zu sehen begehrte,
konnte ich ihm wohl zugestehen. Nun fragte er neugierig nach der
Sopranrolle, die er nur halb kannte, und wollte wissen, ob sie mir
schon von einer Sängerin durchgesungen worden sei. Ich mußte ihm nun,
zum erstenmal, von Gertrud sprechen, und es gelang mir, es ruhig und
unauffällig zu tun. Dem Namen nach kannte er sie wohl, hatte aber nie
im Hause Imthor verkehrt und war erstaunt, zu hören, daß Gertrud die
Rolle studiert habe und singen könne.

»Dann muß sie eine gute Stimme haben,« meinte er anerkennend, »sehr
hoch und leicht. Wollen Sie mich dort einmal einführen?«

»Ich hätte ohnehin darum gebeten. Ich möchte Sie ein paarmal mit
Fräulein Imthor singen hören, es werden Korrekturen nötig sein. Sobald
die Herrschaften wieder in der Stadt sind, will ich sie darum bitten.«

»Eigentlich sind Sie doch ein Glückspilz, Kuhn. Und für die
Orchestermusik haben Sie den Teiser als Helfer. Sie werden sehen, das
Stück schlägt ein.«

Ich sagte nichts, ich hatte für später und für das Schicksal meiner
Oper noch keine Gedanken frei, erst mußte sie fertig sein. Doch seit
ich ihn hatte singen hören, glaubte auch ich an die Kraft meiner Arbeit.

Teiser, dem ich davon erzählte, sagte grimmig: »Ich glaub's schon. Der
Muoth hat ja eine Heidenkraft. Wenn er nur nicht so ein Pfuscher wär'.
Dem ist es nie um die Musik zu tun, immer nur um sich selber. Er ist
ein Draufgänger, überall.«

An dem Tage, da ich durch den herbstlichen Garten beim schon sachte
beginnenden Blätterfall das Imthorsche Haus aufsuchte, um die endlich
zurückgekehrte Gertrud zu besuchen, schlug mir das Herz beklommen.
Sie aber, schöner und aufrechter und ein wenig bräunlich geworden,
kam mir lächelnd entgegen, gab mir die Hand und tat mit ihrer lieben
Stimme und ihrem hellen Blick und ihrer ganzen noblen, freien Art mir
sogleich wieder den alten Zauber an, daß ich beglückt meine Sorgen und
Begierden beiseite tat und froh war, wieder in ihrer heilenden Nähe zu
sein. Sie ließ mich gewähren, und da ich den Weg nicht fand, auf meinen
Brief und mein Anliegen zu reden zu kommen, schwieg auch sie von alle
dem und gab mit keiner Gebärde kund, daß unsere Kameradschaft getrübt
oder gefährdet sei. Sie suchte nicht sich mir zu entziehen, sie war
wieder häufig mit mir allein, indem sie darauf vertraute, ich werde
ihren Willen achten und meine Werbung nicht wiederholen, ehe sie selbst
mich dazu ermuntere. Wir nahmen unverweilt alles durch, was ich in
diesen Monaten gearbeitet hatte, und ich erzählte ihr, daß Muoth seine
Rolle habe und lobe. Ich bat um Erlaubnis, ihn mitzubringen, da es mir
unentbehrlich war, beide Hauptrollen mit ihnen gemeinsam durchzunehmen,
und sie gab ihre Einwilligung.

»Sehr gern tue ich's nicht,« sagte sie, »das wissen Sie ja. Ich
singe sonst nie vor Fremden, und vor Herrn Muoth ist es mir doppelt
peinlich. Nicht nur, weil er ein berühmter Sänger ist. Er hat etwas,
was ich fürchte, wenigstens auf der Bühne. Nun, wir werden sehen, es
wird doch gehen.«

Ich wagte nicht, meinen Freund in Schutz zu nehmen und zu rühmen, um
sie nicht noch scheuer zu machen. Ich war überzeugt, sie würde nach dem
ersten Versuch gern mit ihm weiter singen.

Einige Tage später kam ich mit Muoth in einem Wagen gefahren, wir
wurden erwartet und vom Hausherrn empfangen, der von großer Höflichkeit
und Kühle war. Gegen meine häufigen Besuche und meine Vertrautheit
mit Gertrud hatte er nicht das mindeste, er würde gelacht haben,
wenn jemand ihn darauf gewiesen hätte. Aber daß nun Muoth dazu kam,
gefiel ihm wenig. Dieser war sehr elegant und korrekt, und die Imthors
schienen beide angenehm von ihm enttäuscht zu sein. Der als gewalttätig
und hochmütig verschrieene Sänger konnte vortreffliche Manieren zeigen,
auch war er nicht eitel und im Gespräch bestimmt, doch bescheiden.

»Wollen wir singen?« fragte Gertrud nach einiger Weile, und wir
standen auf, um ins Musikzimmer hinüber zu gehen. Ich setzte mich an
den Flügel, skizzierte Vorspiel und Szene, gab Erklärungen und bat
schließlich Gertrud zu beginnen. Sie tat es unfrei und vorsichtig,
mit halber Stimme. Muoth dagegen, als an ihn die Reihe kam, sang ohne
Zögern und Schonung mit voller Stimme, riß uns beide mit und brachte
uns schnell mitten hinein, so daß auch Gertrud nun sich hergab. Muoth,
der in guten Häusern die Damen sehr gemessen zu behandeln pflegte,
ward erst jetzt auf sie aufmerksam, folgte ihrem Gesang mit Teilnahme
und sprach ihr in herzlichen, nicht übertreibenden, kollegialen Worten
seine Bewunderung aus.

Von da an war alle Befangenheit verschwunden, die Musik befreundete
uns und machte uns einmütig. Und mein Werk, das immer noch in schlecht
verbundenen Stücken halbtot dalag, wuchs mir immer mehr und inniger
zusammen. Ich wußte jetzt, daß die Hauptsache daran getan und nichts
wesentliches mehr daran zu verderben war, und es schien mir gut. Ich
verbarg meine Freude nicht und dankte meinen beiden Freunden mit
Bewegung. Festlich froh gingen wir aus dem Hause, und Heinrich Muoth
führte mich zu einem improvisierten Festmahl in sein Gasthaus. Da tat
er beim Champagner, was er nie hatte tun wollen, er nannte mich Du und
blieb dabei, und ich freute mich und ließ es gelten.

»Da sind wir vergnügt und feiern«, lachte er, »und eigentlich haben
wir recht, daß wir's im voraus tun, da ist es am schönsten. Nachher
sieht es anders aus. Du läufst jetzt in den Theaterglanz hinein, Junge,
und wir wollen darauf anstoßen, daß er dich nicht kaput macht wie die
meisten.«

Noch eine Zeitlang behielt Gertrud ihre Scheu vor Muoth und ward ihm
gegenüber nur beim Singen frei und harmlos. Er war sehr zurückhaltend
und rücksichtsvoll, und allmählich sah ihn Gertrud gerne kommen und
lud ihn, gerade wie mich, jedesmal mit unbefangener Freundlichkeit zum
Wiederkommen ein. Die Stunden, in denen wir drei allein zusammen waren,
wurden selten. Die Rollen waren durchgesungen und durchbesprochen, auch
hatte bei Imthors die winterliche Geselligkeit mit den regelmäßigen
Musikabenden wieder begonnen, an denen nun auch Muoth häufig erschien,
doch ohne dabei mitzuwirken.

Manchmal meinte ich wahrzunehmen, daß Gertrud mir fremder zu werden
anfange, daß sie sich etwas von mir zurückziehe; doch strafte ich mich
für solche Gedanken stets und schämte mich meines Mißtrauens. Ich sah
Gertrud als Dame eines geselligen Hauses sehr in Anspruch genommen und
hatte oft meine Freude daran, sie inmitten der Gäste so schlank und
fürstlich und doch anmutig gehen und walten zu sehen.

Für mich vergingen die Wochen schnell. Ich saß an der Arbeit, die ich
während des Winters möglichst zu vollenden dachte, hatte Zusammenkünfte
mit Teiser, Abende bei ihm und seiner Schwester, dazu allerlei
Briefwechsel und Erlebnisse, denn es wurden da und dort meine Lieder
gesungen und in Berlin alles, was ich für Streichmusik komponiert
hatte, aufgeführt. Es kamen Anfragen und Zeitungskritiken, und
plötzlich schien auch schon jedermann zu wissen, daß ich an einer Oper
arbeite, obwohl ich selber außer Gertrud, den Teisers und Muoth niemand
ein Wort davon gesagt hatte. Nun, jetzt war es einerlei, und im Grunde
freuten mich diese Zeichen des Erfolges, es schien nun endlich und doch
früh genug ein offener Weg vor mir zu liegen.

Zu Hause bei den Eltern war ich ein ganzes Jahr nimmer gewesen. Nun
fuhr ich zu Weihnachten hin. Ich fand die Mutter liebevoll, doch in
der alten Befangenheit, die zwischen uns bestand, und die bei mir
eine Furcht vor Nichtverstandenwerden, bei ihr ein Unglaube an meinen
Künstlerberuf und ein Mißtrauen gegen die Ernsthaftigkeit meiner
Bestrebungen war. Nun sprach sie lebhaft von dem, was sie über mich
gehört und gelesen hatte, doch mehr um mir damit eine Freude zu machen
als aus Überzeugung, denn im Grunde mißtraute sie diesen scheinbaren
Erfolgen ebenso wie meiner ganzen Kunst. Sie war nicht ohne Freude an
Musik, hatte früher auch etwas gesungen, doch war immerhin ein Musikant
in ihren Augen etwas Armseliges, auch konnte sie meine Musik, von der
sie einiges gehört hatte, nicht verstehen oder billigen.

Der Vater hatte mehr Glauben. Als Kaufmann dachte er vor allem an mein
äußeres Fortkommen, und obwohl er mich stets ohne Murren reichlich
unterstützt und seit meinem Austritt aus dem Orchester sogar meinen
ganzen Unterhalt wieder bestritten hatte, sah er es doch gerne, daß ich
zu verdienen begann und Aussicht hatte, einmal vom eigenen Erwerb leben
zu können, was er auch bei vorhandenem Reichtum für die notwendige
Grundlage einer ehrenhaften Existenz ansah. Übrigens fand ich ihn im
Bett liegend, er war gerade am Tage vor meiner Ankunft gefallen und
hatte sich am Fuß verletzt.

Ich traf ihn geneigt zu leicht philosophierenden Gesprächen, kam ihm
näher als je und hatte meine Freude an seiner bewährten praktischen
Lebensweisheit. Ich konnte ihm manche meiner Leiden klagen, was ich
früher aus Scham nie getan hatte. Dabei fiel ein Ausspruch Muoths mir
ein, den ich meinem Vater wiederholte. Muoth hatte einmal gesagt,
allerdings nicht im Ernste, er halte die Jugend für die schwerste
Zeit im Leben und finde, alte Leute seien meistens viel heiterer
und zufriedener als junge. Mein Vater lachte dazu und meinte dann
nachdenklich: »Wir Alten sagen natürlich das Gegenteil. Aber dein
Freund hat doch etwas von der Wahrheit gefühlt. Ich glaube, man kann
im Leben eine ganz genaue Grenze ziehen zwischen Jugend und Alter. Die
Jugend hört auf mit dem Egoismus, das Alter beginnt mit dem Leben für
andere. Ich meine es so: junge Leute haben viel Genuß und viel Leiden
von ihrem Leben, weil sie es nur für sich allein leben. Da ist jeder
Wunsch und Einfall wichtig, da wird jede Freude ausgekostet, aber auch
jedes Leid, und mancher, der seine Wünsche nicht erfüllbar sieht,
wirft gleich das ganze Leben weg. Das ist jugendlich. Für die meisten
Menschen aber kommt eine Zeit, wo das anders wird, wo sie mehr für
andere leben, keineswegs aus Tugend, sondern ganz natürlich. Bei den
meisten bringt es die Familie. Man denkt weniger an sich selber und
seine Wünsche, wenn man Kinder hat. Andere verlieren den Egoismus an
ein Amt, an die Politik, an die Kunst oder Wissenschaft. Die Jugend
will spielen, das Alter arbeiten. Es heiratet keiner, damit er Kinder
kriege, aber wenn er Kinder kriegt, so ändern sie ihn, und schließlich
sieht er, daß alles doch nur für sie geschehen ist. Das hängt damit
zusammen, daß die Jugend zwar gern vom Tode redet, aber doch nie an ihn
denkt. Bei den Alten ist es umgekehrt. Die Jungen glauben ewig zu leben
und können darum alle Wünsche und Gedanken auf sich selber stellen. Die
Alten haben schon gemerkt, daß irgendwo ein Ende ist und daß alles, was
einer für sich allein hat und tut, am Ende in ein Loch fällt und für
nichts war. Darum braucht er eine andere Ewigkeit und den Glauben, er
arbeite nicht blos für die Würmer. Dafür sind Frau und Kind, Geschäft
und Amt und Vaterland, damit man wisse, für wen denn das tägliche
Schinden und Plagen geschehe. Und darin hat dein Freund ganz recht:
man ist zufriedener, wenn man für andere, als wenn man für sich allein
lebt. Nur sollten die Alten nicht gar so sehr ein Heldentum draus
machen, was es nicht ist. Auch werden aus den eifrigsten Jungen die
besten Alten und nicht aus denen, die schon auf Schulen wie Großväter
tun.«

Ich blieb eine Woche zu Hause und saß viel am Bett meines Vaters, der
kein geduldiger Kranker und freilich außer der kleinen Verletzung
am Fuß bei bester Kraft und Gesundheit war. Ich gestand ihm mein
Bedauern darüber, daß ich ihm nicht schon früher gerecht geworden und
nahegekommen sei, doch meinte er, das sei gegenseitig, und es werde
unsrer künftigen Freundschaft besser bekommen, als wenn wir vorzeitige
Versuche des Verstehens aneinander gemacht hätten, welche selten
gelängen. Vorsichtig und freundlich erkundigte er sich danach, wie es
mir mit den Frauen gegangen sei. Von Gertrud mochte ich nichts sagen,
meine übrige Beichte war sehr einfach.

»Tröste dich!« sagte mein Vater lächelnd. »Du hast das Zeug zu einem
recht guten Ehemann, das merken gescheite Frauen bald. Nur einer ganz
armen darfst du nicht glauben, die könnte dein Geld meinen. Und wenn du
die nicht findest, die du dir denkst und gern hättest, so ist auch noch
nicht alles verloren. Die Liebe zwischen jungen Leuten und die in einer
langen Ehe ist nicht dieselbe. In der Jugend denkt jedes an sich und
sorgt für sich. Aber wenn einmal ein Hausstand da ist, gibt es anderes
zu sorgen. Mir ist es auch so gegangen, du darfst es wohl wissen. Ich
war in deine Mama sehr verliebt, und es war eine rechte Liebesheirat.
Das dauerte aber nur ein Jahr oder zwei, dann hörte die Verliebtheit
auf und war bald bis auf den letzten Rest verbraucht, und wir standen
da und wußten nicht recht, was miteinander anfangen. Da kamen gerade
die Kinder, deine beiden älteren Geschwister, die ja früh gestorben
sind, und wir hatten für die zu sorgen. Darüber wurden unsere Ansprüche
aneinander kleiner, die Fremdheit hörte wieder auf, und auf einmal war
die Liebe wieder da, freilich nicht die alte, sondern eine ganz andere.
Und die hat seither gehalten, ohne viel Flicken zu brauchen, mehr als
dreißig Jahre. Es geht nicht allen Liebesheiraten so gut, sogar sehr
wenigen.«

Mir war nun allerdings mit diesen Anschauungen nicht gedient, doch
tat das neue, freundschaftliche Verhältnis zu meinem Vater mir wohl
und machte mir die Heimat wieder lieb, die mir in den letzten Jahren
beinahe gleichgültig geworden war. Als ich wieder abreiste, bereute ich
den Besuch nicht und beschloß, künftig in besserer Verbindung mit den
Alten zu bleiben.

Arbeit und Reisen zur Aufführung meiner Streichmusik hielten mich eine
Weile vom Besuch des Imthorschen Hauses ab. Als ich wiederkam, fand
ich Muoth, der früher nur in meiner Begleitung hingegangen war, dort
unter den meistgeladenen Gästen. Der alte Imthor trat ihm noch immer
kühl und leicht ablehnend gegenüber, Gertrud aber schien gut Freund
mit ihm geworden zu sein. Mir war das lieb, ich wußte keinen Grund
zur Eifersucht und war überzeugt, daß zwei so ungleiche Menschen wie
Muoth und Gertrud wohl einander interessieren und anziehen, nicht
aber befriedigen und lieben könnten. So sah ich es ohne Mißtrauen,
wenn er mit ihr sang und sie beide ihre schönen Stimmen vermischten.
Sie sahen gut aus, beide große, hohe, aufrechte Menschen, er dunkel
und ernst, sie hell und heiter. Neuerdings kam es mir allerdings
zuweilen vor, als habe ihre alte angeborene Heiterkeit einige Mühe,
sich zu behaupten, und sei manchmal müde und verschattet. Sie sah mich
nicht selten ernsthaft und prüfend an, mit einer Neugierde und einem
Interesse, wie bedrückte und geängstigte Menschen einander ansehen; und
wenn ich ihr dann zunickte und mit einem fröhlichen Blick antwortete,
spannte sie die Züge so langsam und angestrengt zum Lächeln, daß es mir
weh tat.

Doch machte ich solche Beobachtungen nur ganz selten, zu anderen
Zeiten sah Gertrud so heiter und strahlend aus wie je, so daß ich
jene Beobachtungen für Einbildungen hielt oder einem vorübergehenden
Unwohlsein zuschrieb. Nur einmal war ich ernstlich erschrocken. Sie
saß, während einer der Hausfreunde Beethoven spielte, im Halbdunkel
zurückgelehnt und mußte glauben, ganz unbeobachtet zu sein. Vorher,
beim hellen Licht zwischen den Gästen beim Empfang, war sie immer
klar und heiter anzusehen gewesen. Nun aber, in sich zurückgezogen
und offenbar von der Musik unberührt, ließ sie ihr Gesicht gehen und
bekam einen Ausdruck von Müdigkeit, Angst und Scheu wie ein verhetztes,
ratlos gewordenes Kind. Es dauerte mehrere Minuten, und als ich das
sah, wollte mir das Herz stillstehen. Sie litt und hatte Kummer, schon
das war schlimm, und daß sie auch vor mir die Fröhliche spielte und
auch mir alles verbarg, machte mich ängstlich. Sobald das Spiel zu Ende
war, suchte ich ihre Nähe, setzte mich zu ihr und fing ein harmloses
Gespräch an. Ich sprach davon, daß es für sie ein unruhiger Winter sei,
und daß auch ich dabei entbehre, doch sagte ich alles leichthin in
scherzendem Tone. Schließlich erinnerte ich an die Zeit im Frühjahr,
da wir die Anfänge meiner Oper miteinander gespielt und gesungen und
besprochen hatten.

Da sagte sie: »Ja, das ist eine schöne Zeit gewesen.« Mehr nicht,
aber es war doch ein Geständnis, denn sie sagte es mit ungewollter
Ernsthaftigkeit. Ich aber las daraus Hoffnung für mich und war ihr im
Herzen dankbar.

Gar gerne hätte ich ihr meine Frage vom Sommer wiederholt. Die
Veränderung in ihrem Wesen, die Befangenheit und unsichere Scheu,
die sie gerade vor mir zuweilen zeigte, glaubte ich doch bei aller
Bescheidenheit als günstige Anzeichen für mich hinnehmen zu dürfen. Es
war mir rührend zu sehen, wie ihr Mädchenstolz krank zu liegen und sich
hart zu wehren schien. Doch wagte ich nichts zu sagen, sie tat mir
leid in ihrer Unsicherheit, und mein stilles Versprechen glaubte ich
auch halten zu müssen. Ich habe nie gewußt mit Frauen umzugehen; ich
machte den umgekehrten Fehler wie Heinrich Muoth: ich ging mit Frauen
um wie mit Freunden.

Da ich auf die Dauer meine Wahrnehmungen nicht für Täuschungen halten
konnte und Gertruds veränderte Art doch nur halb verstand, hielt ich
mich zurück, ließ meine Besuche etwas seltener werden und vermied
intime Gespräche mit ihr. Ich wollte sie schonen und nicht noch scheuer
machen und ängstigen, da sie doch zu leiden und in sich uneins zu sein
schien. Sie merkte es, wie ich glaube, und sah meine Zurückhaltung
nicht ungern. Ich hoffte, es werde mit dem Ende des Winters und der
lebhaften Geselligkeit wieder eine stille, schöne Zeit für uns beide
kommen, bis dahin wollte ich warten. Oft aber tat mir das schöne
Mädchen bitter leid, und wider meinen Willen ward ich selber allmählich
unruhig und fühlte etwas Schlimmes in der Luft.

Der Februar kam, ich wünschte sehnlich das Frühjahr her und litt unklar
unter der Spannung dieses Zustandes. Auch Muoth ließ sich wenig bei
mir sehen, allerdings hatte er einen angestrengten Winter an der Oper
und war in der Wahl zwischen zwei ehrenvollen Berufungen an große
Theater, die ihm neuestens zugekommen waren. Eine Geliebte schien er
nicht mehr zu haben, wenigstens hatte ich seit seinem Bruch mit Lotte
keine Frau mehr bei ihm gesehen. Kürzlich hatten wir seinen Geburtstag
gefeiert, seither hatte ich ihn nicht gesehen.

Nun trieb mich ein Bedürfnis zu ihm, ich begann unter der Veränderung
meiner Beziehungen zu Gertrud, unter Überarbeitung und Wintermüdigkeit
zu leiden und suchte ihn auf, um wieder einmal zu plaudern. Er setzte
mir einen Sherry vor und erzählte von der Bühne, war übrigens müde und
zerstreut und merkwürdig milde. Ich hörte zu, schaute im Zimmer umher
und wollte eben fragen, ob er wieder bei Imthors gewesen sei. Da sah
ich, bei einem gleichgültigen Blick über den Tisch, ein Kuvert mit
Gertruds Handschrift liegen. Noch ehe ich darüber nachdenken konnte,
stieg schon Schrecken und Bitterkeit in mir auf. Es konnte ja eine
Einladung, eine einfache Höflichkeit sein, doch glaubte ich daran
nicht, so gern ich es getan hätte.

Es gelang mir, ruhig zu bleiben, und bald ging ich fort. Und wider
meinen Willen wußte ich schon alles. Es konnte eine Einladung, eine
Kleinigkeit, ein Zufall sein -- ich wußte aber, daß es das nicht war.
Ich sah auf einmal alles und begriff alles, was in der letzten Zeit
gewesen und geschehen war. Wohl nahm ich mir vor, zu prüfen und zu
warten, doch waren alle diese Gedanken nur Vorwände und Ausflüchte, im
Grunde saß der Pfeil und schwärte im Blut, und als ich nach Hause kam
und in meiner Stube saß, wich langsam die Betäubung einer furchtbaren
Klarheit, die mich eisig durchfloß und mir zu fühlen gab, daß nun mein
Leben zerstört und mein Glauben und Hoffen vernichtet war.

Mehrere Tage kam ich weder zu Tränen noch zu Schmerzen. Ohne zu
denken, hatte ich beschlossen, nicht weiter zu leben. Vielmehr hatte
der Lebenswille in mir sich niedergelegt und schien verschwunden. Ich
bedachte das Sterben wie ein Geschäft, das unweigerlich getan werden
muß und bei dem man sich nicht besinnt, ob es angenehm ist oder nicht.

Zu den Dingen, die ich zuvor besorgen mußte und besorgte, gehörte vor
allem ein Besuch bei Gertrud, um -- gewissermaßen der Ordnung wegen
-- die für mein Gefühl entbehrliche Bestätigung zu holen. Ich hätte
sie von Muoth haben können; aber obwohl er weniger schuldig schien als
Gertrud, brachte ich es nicht über mich zu ihm zu gehen. Ich ging zu
Gertrud, traf sie nicht, kam anderen Tages wieder und unterhielt mich
ein paar Minuten mit ihr und ihrem Vater, bis dieser uns allein ließ,
da er glaubte, wir wollten musizieren.

Nun stand sie mir allein gegenüber und ich sah sie neugierig noch
einmal an, die leicht verwandelt, doch nicht minder schön als jemals
war.

»Verzeihen Sie mir, Gertrud,« sagte ich fest, »daß ich Sie noch einmal
quälen muß. Ich habe Ihnen im Sommer einen Brief geschrieben -- kann
ich auf den jetzt Antwort haben? Ich muß verreisen, vielleicht für
lange, sonst hätte ich gewartet, bis Sie selber...«

Da sie bleich wurde und mich verwundet ansah, half ich ihr und sprach
weiter: »Nicht wahr, Sie müssen nein sagen? Ich habe es mir gedacht.
Ich möchte nur Gewißheit haben.«

Sie nickte traurig.

»Ist es Heinrich?« fragte ich.

Und sie nickte wieder, und plötzlich erschrak sie und faßte meine Hand.

»Verzeihen Sie mir! Und tun Sie ihm nichts!«

»Das habe ich nicht im Sinn, seien Sie ruhig,« sagte ich und mußte
lächeln, denn mir fiel die Marion ein und die Lotte, die auch so
ängstlich an ihm hingen, und die er geschlagen hatte. Vielleicht würde
er auch Gertrud schlagen, und ihre ganze herrliche Hoheit und ihr
ganzes vertrauensvolles Wesen zerstören.

»Gertrud,« fing ich noch einmal an, »besinnen Sie sich noch! Nicht
meinetwegen, ich weiß schon, wie es steht! Aber Muoth wird Sie nicht
glücklich machen. Adieu, Gertrud.«

Meine Kälte und Klarheit war unerschüttert geblieben. Erst jetzt, als
Gertrud mich so anredete und jenen Ton hatte, den ich von Lotte her
kannte, und als sie mich nun ganz krank ansah und sagte: »Gehen Sie
nicht so, das verdiene ich nicht von Ihnen!«, da brach mir das Herz und
ich hatte Mühe, mich zu halten.

Ich gab ihr die Hand und sagte: »Ich will Ihnen nicht wehtun. Ich will
auch Heinrich nicht schaden. Aber warten Sie noch, lassen Sie ihm noch
nicht Gewalt über sich! Er zerstört alle, die er lieb hat.«

Sie schüttelte den Kopf und ließ meine Hand los.

»Adieu!« sagte sie leise. »Ich bin ja nicht schuld. Denken Sie gut an
mich, und auch an Heinrich!«

Es war fertig. Ich ging nach Hause zurück und fuhr fort, meine
Angelegenheit wie ein Geschäft zu besorgen. Wohl würgte mich dazwischen
das Weh und blutete mir das Herz, doch sah ich wie von ferne zu und
hatte keine Gedanken dafür frei. Es war einerlei, ob es mir in den
Tagen oder Stunden, die ich übrig hatte, wohl oder übel ging. Ich
ordnete die Mengen von Notenblättern, auf denen meine halbfertige Oper
stand, und schrieb einen Brief an Teiser dazu, damit das Werk womöglich
erhalten werde. Daneben besann ich mich angestrengt darüber, wie ich
sterben sollte. Ich hätte gern meine Eltern geschont, doch fand ich
keine Todesart aus, die das ermöglicht hätte. Schließlich lag daran
auch nicht so viel; ich beschloß es mit dem Revolver zu tun. Alle
diese Fragen tauchten nur schattenhaft und unwirklich vor mir auf.
Fest stand nur die Erkenntnis, daß ich nicht mehr leben dürfe; denn
schon empfand ich ahnend hinter der eisigen Hülle meines Entschlusses
die Schrecklichkeit des Lebens, das mir geblieben wäre. Es schaute
mich aus leeren Augen scheußlich an, und war unendlich viel häßlicher
und furchtbarer als die dunkle, ziemlich gleichgültige Vorstellung des
Sterbens.

Am zweiten Tage nach Mittag war ich mit meinen Besorgungen fertig. Ich
wollte noch einen Gang durch die Stadt machen, ich mußte der Bibliothek
noch ein paar Bücher zurückbringen. Es war mir beruhigend zu wissen,
daß ich am Abend nimmer leben werde. Ich hatte die Empfindung eines
Verunglückten, der in halber Narkose liegt und der nicht den Schmerz
selbst, wohl aber eine Vorahnung grauenhafter Qualen fühlt. Nun hofft
er nur, er möge vollends in Bewußtlosigkeit versinken, ehe der geahnte
Schmerz wirklich ausbräche. So war mir zu Mute. Ich litt weniger unter
einem wirklichen Schmerz als unter der peinigenden Furcht, ich möchte
nochmals zum Bewußtsein kommen und dann den ganzen Becher ausleeren
müssen, den der gerufene Tod mir abnehmen sollte. Darum tat ich meinen
Gang in Eile, besorgte mein Geschäft und lief stracks zurück. Einen
kleinen Umweg machte ich nur, um nicht an Gertruds Hause vorübergehen
zu müssen. Denn ich ahnte, ohne es ausdenken zu können, daß vielleicht
beim Anblick des Hauses mich die unerträgliche Qual, vor der ich auf
der Flucht war, überfallen und niederwerfen möchte.

So kam ich zum Haus, in dem ich wohnte, aufatmend zurück, öffnete das
Tor und stieg unverweilt die Treppe hinan, in der Seele erleichtert.
Wenn jetzt noch das Weh hinter mir war und die Krallen nach mir
ausstreckte, wenn jetzt irgendwo in mir der entsetzliche Schmerz zu
wühlen begänne, ich hatte nur noch Schritte und Sekunden zwischen mir
und der Befreiung.

Ein Mann in Uniform kam die Treppe herab mir entgegen. Ich wich aus
und eilte, mich an ihm vorbeizudrängen, voller Furcht, ich möchte
aufgehalten werden. Da griff er an die Mütze und nannte meinen Namen.
Taumelnd sah ich ihn an. Die Anrede, der Aufenthalt, die Erfüllung
meiner Befürchtung fuhr mir durch die Glieder und es überkam mich
plötzlich eine Todesmüdigkeit, als müsse ich niedersinken und habe
keine Hoffnung, die paar Schritte noch zu tun und mein Zimmer zu
erreichen.

Indessen starrte ich den fremden Mann gepeinigt an, und da die
Erschlaffung mich übernahm, setzte ich mich auf eine Treppenstufe
nieder. Er fragte, ob ich krank sei, ich schüttelte den Kopf. Dabei
hielt er immer etwas in der Hand, was er mir anbot und was ich nicht
nehmen wollte, bis er es mir fast mit Gewalt in die Hand drückte. Ich
winkte ab und sagte: »Ich will nicht.«

Er rief nach der Wirtin, die war nicht da. Da faßte er mich unter den
Armen, um mich hinaufzubringen, und sobald ich sah, daß kein Entrinnen
war und er mich nicht allein lassen würde, fühlte ich wieder Macht über
mich, stand auf und ging voran in mein Zimmer, wohin er mir folgte. Da
er mich, wie mir schien, mit Mißtrauen betrachtete, deutete ich auf
mein lahmes Bein und tat, als schmerze es mich, und er glaubte es. Ich
suchte meinen Geldbeutel und gab ihm eine Mark, er dankte und drückte
mir endgültig das Ding in die Hand, das ich nicht hatte annehmen wollen
und das ein Telegramm war.

Erschöpft stand ich am Tische und besann mich. Nun hatte man mich doch
aufgehalten, hatte meinen Bann durchbrochen. Was lag da? Ein Telegramm.
Von wem? Einerlei, es ging mich nichts an. Es war eine Rohheit, mir
jetzt Telegramme zu bringen. Nun hatte ich alles besorgt, und im
letzten Augenblicke schickt mir noch jemand ein Telegramm. Ich sah mich
um, ein Brief lag auch auf dem Tisch.

Den Brief steckte ich in die Tasche, er focht mich nicht an. Aber das
Telegramm quälte mich, es hatte sich in meine Gedanken eingehängt und
meine Kreise gestört. Ich saß ihm gegenüber und sah es liegen, und ich
besann mich, ob ich es lesen sollte oder nicht. Natürlich war es ein
Angriff auf meine Freiheit, daran zweifelte ich nicht. Irgend jemand
wollte versuchen, mich zu stören. Man mißgönnte mir die Flucht, man
wollte, daß ich mein Leid ausfresse und durchkoste, daß kein Biß und
kein Stich und kein Krampf mir erspart werde.

Warum mir das Telegramm so zu schaffen machte, weiß ich nicht. Lange
saß ich am Tische und wagte es nicht zu öffnen, im Gefühl, es berge
eine Macht, mich wieder zurückzuziehen und mich zum Ertragen des
Unerträglichen zu zwingen, dem ich entrinnen wollte. Als ich es
endlich doch öffnete, zitterte es mir in der Hand und ich entzifferte
nur langsam, als müsse ich aus einer ungewohnten fremden Sprache
übersetzen, den Inhalt. Der hieß: »Vater sterbend. Bitte sofort kommen.
Mama.«

Allmählich begriff ich, was es bedeute. Gestern noch hatte ich an
meine Eltern gedacht und bedauert, ihnen weh tun zu müssen, doch
war es nur eine oberflächliche Erwägung gewesen. Nun erhoben sie
Widerspruch, rissen mich zurück, machten ihr Recht geltend. Sogleich
fielen mir die Gespräche ein, die ich an Weihnachten mit meinem Vater
geführt hatte. Junge Leute, hatte er gesagt, können in ihrem Egoismus
und Unabhängigkeitsgefühl dazu kommen, eines ungestillten Wunsches
wegen das Leben wegzuwerfen; wer aber sein Leben mit anderen Leben
verbunden wisse, den könnten die eigenen Begierden nicht mehr soweit
führen. Und da hing auch ich an einem solchen Bande! Mein Vater lag
sterbend, die Mutter war allein bei ihm, sie rief mich. Sein Sterben
und ihre Not griff mir im Augenblick noch nicht ans Herz, ich glaubte
schlimmere Leiden zu kennen; aber daß es nicht angehe, ihnen jetzt
noch mein eigenes Bündel hinzuwerfen, ihre Bitte nicht zu hören, ihnen
davonzulaufen, das sah ich wohl ein.

Am Abend stand ich reisefertig auf dem Bahnhof, tat willenlos und
doch gewissenhaft das Notwendige, nahm die Karte, strich Geld ein,
das mir zurückgegeben wurde, stellte mich am Perron auf und stieg in
einen Wagen. Da setzte ich mich in die Ecke, einer langen Nachtreise
gewärtig. Ein junger Mensch stieg ein, sah sich um, grüßte und setzte
sich mir gegenüber. Er fragte etwas, ich sah ihn nur an, nichts denkend
und wünschend als daß er mich allein lassen möge. Er hustete und stand
auf, nahm seine Tasche aus gelbem Leder und suchte einen anderen Platz.

Der Zug fuhr durch die Nacht, blind in blödsinnigem Eifer, genau so
dumpf und gewissenhaft wie ich, als ob etwas zu versäumen oder etwas zu
retten wäre. Nach Stunden, als ich in die Tasche griff, fiel mir der
Brief in die Hand. Auch der ist noch da, dachte ich, und machte ihn auf.

Da schrieb mein Verleger über Konzerte und Honorare, und teilte mir
mit, es stehe gut und gehe vorwärts, ein großer Kritiker in München
habe über mich geschrieben, er gratuliere dazu. Dabei lag der
Ausschnitt aus einer Zeitschrift, ein Artikel mit meinem Namen als
Titel, und ein langes Getöne vom Stand der heutigen Musik und von
Wagner und von Brahms, und dann eine Kritik meiner Streichmusik, und
meiner Lieder, und ein reichliches Lob und Glückauf; und während ich
die kleinen schwarzen Buchstaben las, ward mir allmählich klar, daß das
mir gelte, daß da die Welt und der Ruhm mir die Hand herüberstrecke. Da
mußte ich einen Augenblick lachen.

Aber der Brief und der Artikel hatte mir die Binde vor den Augen
gelockert, und unvermutet sah ich in die Welt zurück und sah mich nicht
ausgelöscht und zurückgesunken, sondern mitten darin und dazugehörend.
Ich mußte leben, ich mußte es mir gefallen lassen. Wie war das möglich?
Ach, nun stieg alles herauf, was seit fünf Tagen war und was ich nur
dumpf gefühlt, und dem ich zu entgehen gedacht hatte, und es war alles
ekelhaft, bitter und schmählich. Es war alles ein Todesurteil, und ich
hatte es nicht vollzogen, ich mußte es unvollzogen lassen.

Ich hörte den Zug knattern, ich öffnete das Fenster und sah dunkle
Gegenden geduckt dahinstreichen, traurige kahle Bäume mit schwarzem
Geäst, und Höfe unter großen Dächern, und ferne Hügel. Das alles schien
ungern zu existieren, schien Leid und Widerwillen zu atmen. Man konnte
es schön finden, mir aber kam es nur traurig vor. Das Lied fiel mir
ein: »Hat das Gott gewollt?«

So sehr ich versuchte, die Bäume und Felder und Dächer draußen zu
betrachten, so eifrig ich auf den Takt der Räder horchte, so heftig
ich mich in Gedanken an alles klammerte, was irgend fern war und woran
sich ohne Verzweiflung denken ließ, es war nicht lange möglich. Auch
an den Vater konnte ich kaum denken, er sank hinab und mit Bäumen
und Nachtgelände zusammen in Vergessenheit, und wider meinen Willen
und mein Bemühen kehrten meine Gedanken dahin zurück, wo sie nicht
sein durften. Da lag ein Garten mit alten Bäumen, und darin ein
Haus, am Eingang Palmen und an allen Wänden alte, dunkle Gemälde,
und ich trat ein und stieg die Treppe hinan, an allen alten Bildern
vorüber, und niemand sah mich, ich ging als ein Schatten hindurch.
Da war eine schlanke Dame, die wandte mir den Rücken zu, ein Haupt
mit dunkelblondem Haar. Ich sah sie beide, sie und ihn, die sich
umschlungen hielten, und ich sah meinen Freund Heinrich Muoth lächeln,
so schwermütig und grausam, wie er es manchmal tat, als wisse er schon,
daß er auch diese Blonde mißbrauchen und mißhandeln werde, und als sei
dagegen nichts zu machen. Es war töricht und hatte keinen Sinn, daß
diesem Armen und Verderber die schönsten Frauen zufielen, und daß bei
mir alle Liebe und alles Wohlmeinen vergeblich blieb. Es war töricht
und hatte keinen Sinn, aber es war so.

Aus einer Art von Schlaf oder Bewußtlosigkeit erwachend, sah ich vor
dem Fenster Morgengrau und fahle Himmelshelle. Ich streckte erstarrte
Glieder, fühlte Nüchternheit und Bangen und sah nun die Dinge trüb und
verdrossen vor mir liegen. Zunächst war jetzt an den Vater und an die
Mutter zu denken.

Es war noch grau und morgenfrüh, da sah ich die Brücken und Häuser der
Heimatstadt sich nähern. Im Gestank und Geschrei des Bahnhofs befiel
mich Müdigkeit und Widerwillen so stark, daß ich kaum aussteigen
mochte; dann nahm ich mein leichtes Gepäck und stieg in den nächsten
Wagen, der fuhr über glatten Asphalt, und hernach über leichtgefrorene
Erde und über dröhnendes Pflaster und hielt vor dem breiten Tor unsres
Hauses, das ich nie geschlossen gesehen hatte.

Jetzt aber war es geschlossen, und als ich, verwirrt und erschrocken,
die Glocke zog, kam niemand und keine Antwort. Ich blickte am Hause
hinauf und war wie in einem unangenehmen, närrischen Traum, wo alles
verschlossen ist und man über Dächer steigen muß. Der Kutscher schaute
verwundert zu und wartete. Ich ging beklommen zu der andern Türe,
die ich nur selten und seit Jahren nie mehr durchschritten hatte.
Die war offen, und dahinter war meines Vaters Kontor, und als ich
eintrat, saßen da in grauen Röcken wie immer, still und staubig, die
Bureauherren, die standen bei meinem Eintritt auf und grüßten, denn ich
war der Erbe. Der Buchhalter Klemm, der nicht anders aussah als vor
zwanzig Jahren, machte seinen Bückling und sah mich traurig fragend an.

»Warum ist vorn geschlossen?« fragte ich.

»Es ist niemand da.«

»Wo ist denn mein Vater?«

»Im Spital, und die Gnädige auch.«

»Lebt er noch?«

»Er hat heut' morgen noch gelebt, man wartet aber -- --«

»Ja. Was ist es denn?«

»Wie? Ach so, es ist immer noch der Fuß. Er war falsch behandelt,
sagen wir alle. Auf einmal kamen Schmerzen, der Herr hat
schrecklich geschrieen. Da wurde er ins Spital gebracht. Jetzt
ist es Blutvergiftung. Um zwei Uhr dreißig haben wir Ihnen gestern
depeschiert.«

»Ja, danke. Nun lassen Sie mir schnell ein Butterbrot und ein Glas Wein
bringen, und einen Wagen, bitte.«

Man lief und flüsterte, und es wurde wieder still, dann gab mir jemand
einen Teller und ein Glas, ich aß Brot und trank Wein, ich stieg in
einen Wagen, ein Pferd schnob, und bald stand ich an der Spitalpforte,
wo Schwestern mit weißen Hauben und Wärter mit blaugestreiften
Leinenanzügen durch den Korridor liefen. Man nahm mich an der Hand und
zog mich in ein Zimmer, aufschauend sah ich meine Mutter in Tränen
nicken und in einem eisernen, niedern Bett meinen Vater liegen,
verändert und klein, und sein kurzer, grauer Bart stand sonderbar in
die Luft.

Er lebte noch, er machte die Augen auf und erkannte mich trotz des
Fiebers.

»Immer noch Musik machen?« sagte er leise, und Stimme und Blick
war ebenso gütig wie spöttisch. Er blinkte mir zu mit einer müden,
ironischen Weisheit, die nichts mehr zu sagen hat, und mir war, er
schaue mir ins Herz und sehe und wisse alles.

»Vater,« sagte ich. Aber er lächelte nur, blickte noch einmal halb
spöttisch, doch mit schon zerstreutem Blick, und schloß die Augen
wieder.

»Wie siehst du aus!« sagte die Mutter, als sie mich umarmte. »Hat es
dich so mitgenommen?«

Ich konnte nichts sagen, gleich darauf kam ein junger Arzt, und bald
hinter ihm ein alter, der Sterbende bekam Morphium und tat die klugen
Augen, die jetzt so überlegen und allwissend schauen konnten, nicht
mehr auf. Wir saßen bei ihm und sahen ihn liegen, und sahen ihn
ruhigwerden und sein Gesicht verändern, und warteten auf sein Ende.
Er lebte noch manche Stunde dahin und starb am späten Nachmittag. Ich
empfand nichts mehr, als dumpfes Leid und tiefe Müdigkeit, saß mit
heißen, trockenen Augen und schlief gegen Abend am Totenbette sitzend
ein.



Daß das Leben schwer zu leben ist, hatte ich auch früher schon zuzeiten
dunkel empfunden. Nun hatte ich neue Ursache zu grübeln. Bis heute ist
mir das Gefühl des Widerspruchs nie mehr verloren gegangen, das in
jener Erkenntnis wurzelt. Denn mein Leben ist arm und mühsam gewesen,
und scheint doch andern, und manchmal mir selber, reich und herrlich.
Mir erscheint das Menschenleben wie eine tiefe, traurige Nacht, die
nicht zu ertragen wäre, wenn nicht da und dort Blitze flammten, deren
plötzliche Helle so tröstlich und wunderbar ist, daß ihre Sekunden die
Jahre des Dunkels auslöschen und rechtfertigen können.

Das Dunkel, die trostlose Finsternis, das ist der schreckliche
Kreislauf des täglichen Lebens. Wozu steht man am Morgen auf,
ißt, trinkt, legt sich abermals wieder hin? Das Kind, der Wilde,
der gesunde, junge Mensch, das Tier leidet unter diesem Kreislauf
gleichgültiger Dinge und Tätigkeiten nicht. Wer nicht am Denken
leidet, den freut das Aufstehen am Morgen, und das Essen und Trinken,
der findet Genüge darin und will es nicht anders. Wem aber diese
Selbstverständlichkeit verloren ging, der sucht im Lauf der Tage
begierig und wachsam nach den Augenblicken wahren Lebens, deren
Aufblitzen beglückt und das Gefühl der Zeit samt allen Gedanken
an Sinn und Ziel des Ganzen auslöscht. Man kann diese Augenblicke
die schöpferischen nennen, weil es scheint, daß sie das Gefühl der
Vereinigung mit dem Schöpfer bringen, weil man in ihnen alles, auch
das sonst Zufällige, als gewollt empfindet. Es ist dasselbe, was
die Mystiker die Vereinigung mit Gott nennen. Vielleicht ist es das
überhelle Licht dieser Augenblicke, das alle übrigen so finster
erscheinen läßt, vielleicht kommt es von der befreiten, zauberhaften
Leichtigkeit und Schwebewonne jener Augenblicke, daß das übrige Leben
so schwer und klebend und niederziehend empfunden wird. Ich weiß es
nicht, ich habe es im Denken und Philosophieren nicht weit gebracht.
Doch weiß ich: wenn es eine Seligkeit gibt und ein Paradies, so muß
es eine ungestörte Dauer solcher Augenblicke sein; und wenn man diese
Seligkeit durch Leid und Läuterung im Schmerz erlangen kann, so ist
kein Leid und Schmerz so groß, daß man sie fliehen sollte.

Einige Tage nach dem Begräbnis meines Vaters -- ich ging noch in
Betäubung und geistiger Erschlaffung umher -- geriet ich auf einem
ziellosen Spaziergang in eine vorstädtische Gartenstraße. Die kleinen,
hübschen Häuser weckten eine halbklare Erinnerung in mir, der ich
grübelnd nachging, bis ich Garten und Haus meines alten Lehrers
erkannte, der mich vor einigen Jahren zum Glauben der Theosophen hatte
bekehren wollen. Ich ging hinein, der Mann kam mir entgegen, erkannte
mich und führte mich freundlich in sein Zimmer, wo um Bücher und
Blumentöpfe ein leichter behaglicher Duft von Tabakrauch wehte.

»Wie geht es Ihnen?« fragte Herr Lohe. »Ach, Sie haben ja Ihren Vater
verloren! Sie sehen auch bekümmert aus. Ist es Ihnen so nahe gegangen?«

»Nein,« sagte ich. »Der Tod meines Vaters hätte mir weher getan,
wenn ich ihm noch fremd gewesen wäre. Ich habe mich aber bei meinem
letzten Besuch mit ihm befreundet und bin das peinliche Schuldgefühl
losgeworden, das man gegen gute Eltern hat, solange man mehr Liebe von
ihnen nimmt, als man geben kann.«

»Das freut mich.«

»Wie steht es denn mit Ihrer Theosophie? Ich würde gern etwas von Ihnen
hören, weil es mir schlecht geht.«

»Wo fehlt es Ihnen denn?«

»An allem. Ich kann nicht leben und nicht sterben. Ich finde das Ganze
falsch und dumm.«

Herr Lohe verzog sein gutes, zufriedenes Gärtnergesicht schmerzlich.
Ich muß gestehen, eben dieses gute, etwas feistliche Gesicht hatte mich
verstimmt, auch erwartete ich keineswegs von ihm und seiner Weisheit
irgend einen Trost. Ich wollte ihn nur reden hören, seine Weisheit
als machtlos erweisen und ihn für sein Glücklichsein und seinen
optimistischen Glauben strafen. Ich war nicht freundlich gewillt, nicht
gegen ihn und gegen niemand.

Aber der Mann war durchaus nicht so selbstgefällig und in sein Dogma
verschanzt, wie ich gedacht hatte. Er sah mir liebreich ins Gesicht,
mit aufrichtigem Kummer, und schüttelte melancholisch den blonden Kopf.

»Sie sind krank, lieber Herr,« sagte er entschieden. »Vielleicht ist es
nur körperlich, dann ist bald geholfen. Dann müssen Sie aufs Land, hart
arbeiten und kein Fleisch essen. Aber ich glaube, es sitzt anderswo.
Sie sind gemütskrank.«

»Glauben Sie?«

»Ja. Sie haben eine Krankheit, die leider Mode ist und der man jeden
Tag bei intelligenteren Menschen begegnet. Die Ärzte wissen natürlich
nichts davon. Es ist mit moral insanity verwandt und könnte auch
Individualismus oder eingebildete Einsamkeit genannt werden. Die
modernen Bücher sind voll davon. Es hat sich bei Ihnen die Einbildung
eingeschlichen, Sie seien vereinsamt, kein Mensch gehe Sie etwas an und
kein Mensch verstehe Sie. Ist es nicht so?«

»Ungefähr, ja,« gab ich verwundert zu.

»Sehen Sie. Für den, der die Krankheit einmal hat, genügen ein
paar Enttäuschungen, um ihn glauben zu machen, es gebe zwischen
ihm und andern Menschen überhaupt keine Beziehungen, höchstens
Mißverständnisse, und es wandle eigentlich jeder Mensch in absoluter
Einsamkeit, könne sich den andern nie recht verständlich machen und
nichts mit ihnen teilen und gemeinsam haben. Es kommt auch vor, daß
solche Kranke hochmütig werden und alle andern Gesunden, die einander
noch verstehen und lieben können, für Heerdenvieh halten. Wenn diese
Krankheit allgemein würde, müßte die Menschheit aussterben. Aber sie
ist nur in Mitteleuropa und nur in den höheren Ständen zu treffen.
Bei jungen Leuten ist sie heilbar, sie gehört sogar schon zu den
unumgänglichen Entwicklungskrankheiten der Jugend.«

Sein leicht ironisch klingender Dozententon ärgerte mich ein wenig. Da
er mich nicht lächeln und keine Miene zu meiner Verteidigung machen
sah, kehrte der kummervoll gütige Ausdruck in seinem Gesicht wieder.

»Verzeihen Sie,« sagte er freundlich. »Sie haben die Krankheit
selber, nicht die beliebte Karikatur davon. Aber es gibt wirklich ein
Heilmittel. Es ist Einbildung, daß es keine Brücke zwischen Ich und
Du gäbe, daß jeder einsam und unverstanden einhergehe. Im Gegenteil,
das, was die Menschen gemeinsam haben, ist viel mehr und wichtiger,
als was jeder einzelne für sich hat und wodurch er sich von andern
unterscheidet.«

»Das ist möglich,« sagte ich. »Aber was soll es mir nützen, das zu
wissen? Ich bin kein Philosoph, und mein Leiden besteht nicht darin,
daß ich die Wahrheit nicht finden kann. Ich möchte kein Weiser und
Denker werden, sondern einfach ein wenig zufriedener und leichter leben
können.«

»Nun, versuchen Sie es! Sie sollen keine Bücher studieren und keine
Theorien treiben. Aber an einen Arzt müssen Sie glauben, solange Sie
krank sind. Wollen Sie das tun?«

»Probieren will ich es gerne.«

»Gut. Wenn Sie nun körperlich krank wären und der Arzt würde Ihnen
raten, Bäder zu nehmen oder Medizin zu trinken oder ans Meer zu gehen,
so würden Sie vielleicht nicht begreifen, warum das oder das Mittel
helfen soll, aber Sie würden es einmal probieren und folgen. Machen
Sie es nun ebenso mit dem, was ich Ihnen rate! Lernen Sie einmal eine
Zeitlang mehr an andere, als an sich selber denken! Es ist der einzige
Weg zur Heilung.«

»Wie soll ich das aber machen? Es denkt doch jeder zuerst an sich
selber.«

»Das müssen Sie überwinden. Sie müssen zu einer gewissen
Gleichgültigkeit gegen Ihr eigenes Wohlsein kommen. Sie müssen denken
lernen: was liegt an mir! Dazu hilft nur ein Mittel: Sie müssen irgend
jemand so lieben lernen, daß sein Wohl Ihnen wichtiger ist, als Ihr
eigenes. Ich meine aber nicht, daß Sie sich verlieben sollen! Das wäre
das Gegenteil!«

»Ich verstehe. Aber bei wem soll ich das denn probieren?«

»Fangen Sie in der Nähe an, bei Freunden, bei Ihren Verwandten. Da ist
Ihre Mutter. Sie hat viel verloren, sie ist jetzt einsam und braucht
Trost. Sorgen Sie für sie, halten Sie zu ihr und versuchen Sie, ihr
etwas wert zu sein!«

»Wir verstehen einander nicht recht, meine Mutter und ich. Es wird
schwer gehen.«

»Ja, wenn Ihr guter Wille nicht weiter reicht, wird es freilich nicht
gehen! Das alte Lied vom Unverstandensein! Sie sollen nicht immer daran
denken, daß der oder der Sie nicht ganz versteht, Ihnen vielleicht
nicht ganz gerecht wird! Sie sollen selbst erst einmal versuchen,
andere zu verstehen, andern Freude zu machen, andern gerecht zu werden!
Tun Sie das, und fangen Sie bei Ihrer Mutter an! -- Sehen Sie, Sie
müssen sich vorsagen: Das Leben freut mich doch nicht, so oder so,
warum soll ich's also nicht einmal auf diese Art versuchen! Sie haben
die Liebe zum eigenen Leben verloren, so schonen Sie es nicht, legen
Sie sich eine Last auf, verzichten Sie auf das bißchen Bequemlichkeit!«

»Ich werde es versuchen. Sie haben recht, es ist ja einerlei, was ich
tue; warum soll ich nicht das tun, was Sie raten?«

Was mich an seinen Worten ergriff und in Erstaunen setzte, war ihre
Übereinstimmung mit dem, was mein Vater mir beim letzten Zusammensein
als Lebensweisheit dargetan hatte: Leben für andere, sich selber nicht
so ernst nehmen! Die Lehre widersprach meinem Gefühl unmittelbar, sie
schmeckte auch ein wenig nach Katechismus und Konfirmandenunterricht,
an welche ich, wie jeder gesunde junge Mensch, mit Abscheu und
Verachtung dachte. Aber schließlich handelte es sich ja nicht um
Meinungen und Weltanschauungen, sondern um einen ganz praktischen
Versuch, das schwere Leben erträglich zu machen. Ich wollte ihn machen.

Verwundert sah ich dem Manne in die Augen, den ich nie recht ernst
genommen hatte und jetzt als Ratgeber, ja als Arzt gelten ließ. Aber er
schien wirklich etwas von jener Liebe zu haben, die er mir empfahl. Er
schien mein Leiden zu teilen und mir ehrlich Gutes zu wünschen. Ohnehin
hatte mein Gefühl mir schon gesagt, daß ich eine gewaltsame Kur nötig
habe, um wieder leben und atmen zu können wie andere. Ich hatte an eine
lange Bergeinsamkeit oder an ein wildes Arbeiten gedacht, nun wollte
ich aber lieber meinem Ratgeber folgen, da meine Erfahrung und Weisheit
doch am Ende war.

Als ich meiner Mutter eröffnete, ich gedenke, sie nicht allein zu
lassen, sondern hoffe, sie werde zu mir ziehen und mein Leben teilen,
da schüttelte sie traurig den Kopf.

»Was denkst du!« wehrte sie ab. »Das geht nicht so einfach. Ich habe
meine alten Gewohnheiten und kann nimmer neu anfangen, und du brauchst
Freiheit und darfst dich nicht mit mir beladen.«

»Wir können es ja einmal versuchen,« schlug ich vor. »Vielleicht geht
es leichter, als du meinst.«

Fürs Erste hatte ich genug zu tun, um vom Grübeln und Verzweifeln
abgehalten zu sein. Da stand ein Haus und war ein ausgedehntes Geschäft
mit Guthaben und mit Schulden, da waren Bücher und Rechnungen, war Geld
ausgeliehen und Geld aufgenommen, und es war die Frage, was aus dem
allen werden solle. Ich war natürlich von Anfang an entschlossen, alles
zu verkaufen, doch ging das nicht so rasch, auch hing die Mutter an dem
alten Hause, und das Testament meines Vaters wollte auch erfüllt sein,
mit allerlei Haken und Schwierigkeiten. Der Buchhalter und ein Notar
mußten helfen, die Tage und Wochen gingen mit Besprechungen hin, mit
Briefwechseln um Geld und Schulden, mit Plänen und Enttäuschungen. Ich
kannte mich bald in allen diesen Rechnungen und amtlichen Formularen
nicht mehr aus, gab dem Notar noch einen Rechtsanwalt bei und überließ
ihnen die Entwirrung.

Darüber kam meine Mutter nicht selten zu kurz. Ich gab mir Mühe, ihr
diese Zeit leichter zu machen, ich hielt ihr alle Geschäfte vom Halse,
ich las ihr vor und fuhr mit ihr spazieren. Zuweilen fiel es mir
schwer, nicht auszureißen und alles liegen zu lassen, doch hielt das
Schamgefühl und eine gewisse Neugierde, wie es gehen werde, mich zurück.

Meine Mutter dachte an nichts als an den Verstorbenen, doch zeigte
sich ihre Trauer in lauter kleinen, frauenhaften, mir fremden und oft
kleinlich scheinenden Zügen. Anfangs mußte ich bei Tische an des Vaters
Platz sitzen, dann fand sie, ich passe doch nicht dahin, und der Platz
mußte leer bleiben. Manchmal konnte ich ihr nicht genug vom Vater
sprechen, dann wieder ward sie still und sah mich leidend an, sobald
ich ihn nur nannte. Am meisten fehlte mir die Musik. Ich hätte viel
darum gegeben, einmal eine Stunde geigen zu können, aber das durfte ich
erst nach vielen Wochen wieder, und auch dann seufzte sie und fühlte
einen Verstoß darin. Auf meine unfrohen Bemühungen, ihr mein Wesen und
Leben näher zu bringen und ihre Freundschaft zu gewinnen, ging sie
nicht ein.

Da litt ich oft und wollte es aufgeben, doch bezwang ich mich immer
wieder und gewöhnte mich an diese Tage ohne Resonanz. Mein eigenes
Leben lag brach und tot, nur selten klang das Gewesene dunkel herüber,
wenn ich im Traum die Stimme Gertruds hörte oder in einer leeren Stunde
mir ungewollt Melodien aus meiner Oper einfielen. Als ich nach R.
reiste, um meine Wohnung dort aufzugeben und meine Sachen einzupacken,
schien alles dortige mir um Jahre entfernt. Ich besuchte nur Teiser,
der mir treulich beistand. Nach Gertrud wagte ich nicht zu fragen.

Gegen das zurückhaltend resignierte Benehmen meiner Mutter, das
mich auf die Dauer allzusehr bedrückte, mußte ich allmählich einen
regelrechten, versteckten Kampf beginnen. Bat ich sie offen, mir zu
sagen, was sie wünsche und worin sie etwa mit mir unzufrieden sei, so
streichelte sie traurig lächelnd meine Hand und sagte: »Laß nur, Kind!
Ich bin eben eine alte Frau.« So begann ich denn auf eigene Faust zu
forschen, wobei ich auch Fragen an den Buchhalter und die Dienstboten
nicht verschmähte.

Da fand sich denn allerlei. Die Hauptsache war die: meine Mutter hatte
in der Stadt eine einzige nahe Verwandte und Freundin, eine Cousine,
die ein altes Fräulein war und wenig Umgang pflegte, mit meiner Mutter
aber sehr enge Freundschaft unterhielt. Dieses Fräulein Schwiebel hatte
schon meinen Vater gar nicht geliebt, gegen mich aber einen richtigen
Widerwillen, so daß sie neuerdings nicht mehr ins Haus kam. Meine
Mutter hatte ihr früher versprochen, sie zu sich zu nehmen, falls
sie den Vater überlebe, und diese Hoffnung schien ihr mein Dableiben
zu vereiteln. Als ich das allmählich erkundet hatte, machte ich denn
der alten Dame einen Besuch und gab mir Mühe, mich ihr angenehm zu
machen. Das Spiel mit Wunderlichkeiten und kleinen Intriguen war mir
neu und machte mir beinahe Vergnügen. Es gelang mir, das Fräulein
wieder in unser Haus zu bringen, und ich merkte, daß die Mutter mir
dafür dankbar war. Allerdings taten sich die beiden nun zusammen,
den von mir gewünschten Verkauf des alten Hauses zu hintertreiben,
was ihnen wirklich gelang. Nun ging das Streben des Fräuleins dahin,
meine Stelle im Hause einzunehmen und zu dem längst ersehnten warmen
Altensitz zu gelangen, den ich ihr noch versperrte. Es wäre Raum genug
für sie und mich gewesen, allein sie wollte keinen Hausherrn neben sich
und weigerte sich, zu uns zu ziehen. Dagegen kam sie fleißig gelaufen,
machte sich der Freundin in manchen kleinen Dingen unentbehrlich,
behandelte mich diplomatisch wie eine gefährliche Großmacht und
bemächtigte sich der Stellung einer Ratgeberin im Haushalt, die ich ihr
nicht streitig machen konnte.

Meine arme Mutter ergriff weder ihre noch meine Partei. Sie war müde
und litt tief unter der Veränderung ihres Lebens. Wie sehr der Vater
ihr fehlte, merkte ich erst allmählich. Einmal traf ich sie beim Gang
durch ein Zimmer, in dem ich sie nicht vermuten konnte, an einem
Kleiderschrank beschäftigt. Sie erschrak über mein Dazukommen und
ich ging rasch weiter, doch sah ich wohl, daß sie die Kleider des
Verstorbenen musterte, und nachher hatte sie rote Augen.

Als der Sommer kam, begann ein neuer Kampf. Ich wollte durchaus
mit meiner Mutter verreisen, wir konnten beide eine Erholung wohl
brauchen, ich hoffte dabei, sie zu ermuntern und mehr Einfluß auf sie
zu gewinnen. Sie zeigte wenig Lust zum Reisen, widersprach mir jedoch
kaum; desto eifriger trat Fräulein Schwiebel dafür ein, daß die Mutter
dableibe und ich allein reise. Doch wollte ich hierin keineswegs
nachgeben, ich versprach mir von der Reise viel. Es begann mir in dem
alten Hause mit der armen, unruhig gewordenen und leidenden Mutter
unheimlich zu werden; draußen hoffte ich der Mutter besser helfen und
meine eigenen Gedanken und Launen besser beherrschen zu können.

So setzte ich es durch, daß wir gegen Ende des Juni abreisten. Wir
fuhren in kleinen Tagreisen, sahen Konstanz und Zürich und fuhren
über den Brünig dem Berner Oberland entgegen. Meine Mutter hielt sich
still und müde, ließ die Reise über sich ergehen und sah unglücklich
aus. In Interlaken begann sie zu klagen, sie schlafe nicht mehr, doch
beredete ich sie, noch mit nach Grindelwald zu gehen, wo ich für sie
und mich auf Ruhe hoffte. Auf dieser törichten, unendlichen, freudlosen
Reise sah ich die Unmöglichkeit, dem eigenen Elend zu entrinnen
und davonzulaufen, wohl ein. Da lagen die schönen, grünen Seen und
spiegelten alte, prächtige Städte, da stiegen die Berge weiß und blau
und strahlten blaugrüne Gletscher im Sonnenlicht. Wir beide aber gingen
still und unerfreut an allem vorbei, schämten uns vor allem, waren von
allem nur bedrückt und ermüdet. Wir machten unsere Spaziergänge, sahen
an den Bergen empor, atmeten die leichte, süße Luft und hörten die
Kuhglocken auf den Matten läuten, und wir sagten: »Das ist schön!« und
wagten nicht, uns dabei in die Augen zu sehen.

Eine Woche hielten wir es in Grindelwald aus. Da sagte meine Mutter
eines Morgens: »Du, es hat keinen Zweck, wir wollen umkehren. Ich
möchte gern wieder einmal eine Nacht schlafen können. Und wenn ich
krank werden und sterben soll, will ich's zu Hause tun.«

Da packte ich schweigend unsere Koffer ein, gab ihr im Stillen recht
und fuhr mit ihr, schneller als wir hergekommen waren, den ganzen Weg
zurück. Doch hatte ich nicht das Gefühl, in eine Heimat zurückzukehren,
sondern in ein Gefängnis, und auch die Mutter zeigte nur eine leise
Befriedigung.

Und am Abend des Heimkehrtages sagte ich zu ihr: »Was meinst du dazu,
wenn ich allein verreise? Ich würde wieder nach R. fahren. Sieh, ich
bliebe gern bei dir, wenn ich irgend einen Nutzen darin sähe. Aber wir
sind beide krank und freudlos und stecken einander nur immer wieder an.
Nimm du deine Freundin ins Haus, die kann dich besser trösten als ich.«

Nach ihrer Gewohnheit nahm sie meine Hand und streichelte sie leise.
Sie nickte dazu und sah mich mit Lächeln an, und das Lächeln sagte
deutlich: »Ja, geh nur!«

Mit allen meinen Bemühungen und guten Vorsätzen hatte ich nichts
erreicht, als sie und mich ein paar Monate lang zu quälen und sie mir
noch viel mehr zu entfremden. Es hatte, trotz des Zusammenlebens, jedes
von uns sein Bündel allein getragen und nicht mit dem andern geteilt,
und jedes war nur tiefer in sein Leid und seine Krankheit versunken.
Meine Versuche waren fruchtlos geblieben und ich konnte nichts Besseres
tun als gehen und dem Fräulein Schniebel das Feld räumen.

Das tat ich denn auch in Bälde, und da ich keinen anderen Ort wußte,
ging ich nach R. zurück. Bei der Abreise kam mir zum Bewußtsein,
daß ich nun keine Heimat mehr habe. Die Stadt, in der ich geboren
war und die Kinderjahre gelebt und meinen Vater begraben hatte,
ging mich nichts mehr an, hatte nichts von mir zu fordern und mir
nichts zu geben, als Erinnerungen. Ich sagte es dem Herrn Lohe beim
Abschiednehmen nicht, aber sein Rezept hatte nicht geholfen.

Zufällig stand in R. meine alte Wohnung noch leer. Es war mir wie
ein Zeichen, daß es nutzlos sei, den Zusammenhang mit dem Gewesenen
abbrechen und sich vor dem eigenen Schicksal flüchten zu wollen. Ich
lebte wieder in demselben Hause und Zimmer, in derselben Stadt, packte
meine Geige und meine Arbeit wieder aus und fand alles wie es gewesen
war, nur daß Muoth nach München gegangen und Gertrud seine Braut
geworden war.

Ich nahm die Stücke meiner Oper in die Hände, als wären es die Trümmer
meines früheren Lebens, aus denen ich nun noch etwas zu machen
versuchen wollte. Doch regte sich die Musik nur langsam wieder in
meiner erstarrten Seele und erwachte erst, als der Dichter aller meiner
Texte mir ein neues Lied schickte. Es kam in einer Zeit, da ich am
Abend nicht selten die alte Unruhe in mir spürte und mit Scham und
tausend Irrlichtern im Herzen um den Garten des Imthorschen Hauses
strich, und es hieß:

  Der Föhn schreit jede Nacht,
  Sein feuchter Flügel flattert schwer,
  Brachvögel taumeln durch die Luft;
  Nun schläft nichts mehr,
  Nun ist das ganze Land erwacht.
  Der Frühling ruft.

  In diesen Nächten schlaf ich nicht.
  Mein Herz wird jung,
  Aus blauen Tiefen der Erinnerung
  Steigt meiner Jugend heißes Glück,
  Schaut mir so nahe ins Gesicht,
  Erschrickt, und flieht zurück.

  Bleib still, bleib still, mein Herz!
  Ob auch im Blute eng und schwer
  Die Leidenschaft sich rührt
  Und dich die alten Wege führt --
  Nicht jugendwärts
  Gehn deine Wege mehr.

Diese Verse gingen mir ins Herz und erweckten Klang und Leben wieder.
Aufgelöst und schmerzlich glühend floß mir die lang verhaltene und
betrogene Pein in Takte und Töne, von dem Liede weg fand ich den
verlorenen Faden der Oper wieder und wühlte mich nach so langer Öde
wieder tief in den fiebernden Rausch hinströmenden Ergusses bis zu der
freien Höhe des Gefühls, wo Schmerz und Wonne nicht mehr voneinander
unterschieden sind und alle Glut und Kraft der Seele sich ungeteilt in
einer einzigen steilen Flamme empordrängt.

Am Tage, an dem ich das neue Lied aufgeschrieben und Teiser gezeigt
hatte, ging ich abends durch eine Kastanienallee heimwärts, ganz von
heraufschwellender Kraft zu neuer Arbeit erfüllt. Noch sahen mich die
vergangenen Monate wie aus Maskenaugen in ihrer trostlosen Leere an.
Nun schlug mein Herz begehrlich rasch und wollte nicht mehr begreifen,
warum es seinem Leide habe entrinnen wollen. Gertruds Bild erhob sich
klar und herrlich aus dem Staube und ich sah ihm wieder unerschrocken
in die hellen Augen und öffnete mein Herz allen Schmerzen weit.
Ach, es war besser um sie zu leiden und den Stachel tiefer in die
Wunde zu drücken, als fern von ihr und fern von meinem wahren Leben
gespensterhafte Zeiten hinzudämmern! Zwischen den dunklen vollen
Wipfeln der breiten Kastanien hing schwarzblau der Himmel und war
voll von Sternen, die schwebten alle ernst und golden und strahlten
unbekümmert in die Weiten. So taten die Sterne, und die Bäume trugen
ihre Knospen und Blüten und Narben frei zur Schau, und mochte es ihnen
Lust oder Weh bedeuten, sie gaben sich dem großen Lebenswillen hin.
Die Eintagsfliegen schwärmten taumelnd dem Tod entgegen, jedes Leben
hatte seinen Glanz und seine Schönheit und ich schaute einen Augenblick
hinein und verstand es und hieß es gut, und hieß auch mein Leben und
meine Leiden gut.

Im Laufe des Herbstes wurde meine Oper fertig. In dieser Zeit begegnete
mir in einem Konzert Herr Imthor. Er begrüßte mich herzlich und etwas
verwundert, da er nichts von meinem Aufenthalt in der Stadt wußte. Er
hatte nur gehört, mein Vater sei gestorben und ich lebe seither in
meiner Heimat.

»Und wie geht es Fräulein Gertrud?« fragte ich möglichst ruhig.

»O, Sie sollten selber kommen und danach sehen. Anfang November soll
ihre Hochzeit sein, da rechnen wir ohnehin bestimmt auf Sie.«

»Danke, Herr Imthor. Und was hören Sie von Muoth?«

»Er ist wohl. Sie wissen, ich bin mit der Heirat nicht recht
einverstanden. Ich hätte Sie schon lang gerne einmal über Herrn Muoth
befragt. Soweit ich ihn kenne, darf ich nicht über ihn klagen. Aber ich
hörte so mancherlei über ihn: er soll ja viel mit Frauen zu tun gehabt
haben. Können Sie mir darüber etwas sagen?«

»Nein, Herr Imthor. Es hätte ja auch keinen Zweck. Ihre Tochter wird
auf Gerüchte hin sich schwerlich anders entschließen. Herr Muoth ist
mein Freund und ich gönne es ihm, wenn er sein Glück findet.«

»Ja, ja. Sieht man Sie bald wieder einmal bei uns?«

»Ich denke wohl. Auf Wiedersehen, Herr Imthor.«

Es war noch nicht lange her, da hätte ich alles getan, um die
Verbindung der beiden zu hindern, nicht aus Neid oder Hoffnung, Gertrud
könnte sich doch noch mir selber zuneigen, sondern weil ich überzeugt
war und vorauszufühlen meinte, daß es den beiden nicht gut gehen werde,
weil ich an Muoths selbstquälerische Art von Melancholie, an seine
Reizbarkeit und Gertruds Zartheit dachte und weil mir Marion und Lotte
noch so wohl im Gedächtnis waren.

Jetzt dachte ich anders. Eine Erschütterung meines ganzen Lebens, ein
halbes Jahr innerer Einsamkeit und das bewußte Abschiednehmen von
der Jugend hatten mich verändert. Ich war jetzt der Meinung, es sei
töricht und gefährlich, seine Hand nach anderer Menschen Schicksal
auszustrecken, auch hatte ich keine Ursache meine Hand für geschickt
und mich für einen Helfer und Menschenkenner zu halten, nachdem meine
Versuche in dieser Richtung alle mißglückt waren und mich bitter
beschämt hatten. Auch jetzt noch zweifle ich stark an der Fähigkeit
des Menschen, sein Leben und das von anderen irgend bewußt zu bilden
und zu formen. Man kann Geld erwerben, auch Ehren und Orden, aber
Glück oder Unglück erwirbt man nicht, nicht für sich und nicht für
andere. Man kann nur hinnehmen, was kommt, und man kann es freilich
auf gar verschiedene Weisen hinnehmen. Was mich anging, so wollte ich
keine gewaltsamen Versuche mehr machen, mein Leben auf die Sonnenseite
hinüber zu spielen, sondern das mir Bestimmte annehmen und nach
Vermögen tragen und zum Guten wenden.

Ist nun auch das Leben von solchen Meditationen unabhängig und geht
über sie hinweg, so hinterlassen ehrlich gemeinte Entschlüsse und
Gedanken doch einen Frieden in der Seele, und helfen das Unabänderliche
tragen. Wenigstens nahm mich, wie es mir nachträglich scheinen
will, seit meiner Ergebung und seit meiner Erkenntnis von der
Gleichgültigkeit meines persönlichen Ergehens das Leben in sanftere
Hände.

Daß das, was man mit allem Wollen und Mühen nicht erreichen kann,
manchmal unerwartet von selber kommt, erfuhr ich bald darauf an meiner
Mutter. Ich schrieb ihr jeden Monat und war seit einiger Zeit ohne
Antwort von ihr geblieben. Wäre es ihr schlecht gegangen, so hätte ich
es erfahren, darum dachte ich wenig an sie und schrieb meine Briefe
weiter, kurze Berichte über mein Ergehen, denen ich jedesmal auch
freundliche Grüße an Fräulein Schniebel beifügte.

Diese Grüße nun wurden neuerdings nicht mehr ausgerichtet. Den
beiden Frauen war es allzuwohl ergangen und sie hatten die Erfüllung
ihrer Wünsche nicht ertragen. Namentlich war dem Fräulein die gute
Zeit in die Krone gestiegen. Sie war sofort nach meinem Abgang mit
Triumph an der Stätte ihres Sieges eingezogen und hatte ihre Wohnung
in unserem Hause aufgeschlagen. Da hauste sie nun bei ihrer alten
Freundin und Cousine und empfand es als ein durch lange dürftige Jahre
wohlverdientes Glück, als Mitherrin in einem stattlichen Hauswesen
sich wärmen und brüsten zu dürfen. Nicht daß sie kostbare Gewohnheiten
angenommen und sich auf das Geuden gelegt hätte -- dazu war sie
allzulange in gedrückten Verhältnissen und halber Armut gewesen. Sie
trug weder feinere Kleider, noch schlief sie auf anderem Linnen;
vielmehr begann sie das Hausen und Sparen nun erst recht, da es sich
lohnte und etwas zum Sparen da war. Aber worauf sie nicht verzichten
wollte, das war Macht und Einfluß. Die beiden Mägde mußten ihr nicht
minder gehorchen als meiner Mutter, auch gegen Dienstleute, Handwerker,
Briefträger wußte sie herrschaftlich aufzutreten. Und allmählich, da
ja Leidenschaften nicht durch Erfüllungen zu löschen sind, dehnte sie
ihre Herrschlust auch auf Dinge aus, in denen meine Mutter weniger
bereitwillig nachgeben konnte. Sie wollte die Besuche, die meine Mutter
bekam, ebenso auf sich selbst bezogen wissen und nicht leiden, daß
jene einen empfing, ohne sie dabei zu haben. Sie wollte die Briefe,
namentlich die von mir, nicht auszugsweise mitgeteilt erhalten, sondern
selber lesen. Und schließlich entdeckte sie, daß im Hause meiner Mutter
manches gar nicht so gehalten und besorgt und regiert wurde, wie sie
es richtig fand. Vor allem schien ihr die Bewachung der Dienstboten
nicht streng genug. War eine Magd des Abends außer Hause, unterhielt
sich eine andere zu lange mit dem Briefträger, bat die Köchin um
einen freien Sonntag, so rügte sie die Nachgiebigkeit meiner Mutter
aufs Strengste und hielt ihr lange Reden über die richtige Führung
eines Hauswesens. Ferner tat es ihr bitter weh, zu sehen, wie oft und
gröblich die Regeln der Sparsamkeit verletzt wurden. Da wurden schon
wieder Kohlen ins Haus geführt, da standen zu viele Eier auf der
Abrechnung der Köchin! Sie trat mit Ernst und Eifer dagegen auf, und
hier nahm die Veruneinigung der Freundinnen ihren Anfang.

Nämlich das Bisherige hatte meine Mutter sich gerne gefallen lassen,
wenn sie auch nicht mit allem einverstanden und in manchen Dingen
von der Freundin, deren Verhältnis zu ihr sie sich anders mochte
gedacht haben, enttäuscht war. Jetzt dagegen, wo alte und ehrwürdig
gewordene Gewohnheiten des Hauses in Gefahr kamen, wo ihre tägliche
Bequemlichkeit und der Hausfriede zu leiden begann, konnte sie
ihre Einwendungen nicht zurückhalten und machte sich wehrhaft,
worin sie freilich der Freundin es nicht gleichtun konnte. Es gab
Auseinandersetzungen und kleine freundschaftliche Zankereien, und als
die Köchin den Dienst aufsagte und von meiner Mutter nur mit Mühe und
vielen Versprechungen, ja fast Abbitten gehalten werden konnte, begann
die Machtfrage im Hause zu einem wirklichen Kriege zu führen.

Das Fräulein Schniebel, stolz auf ihre Kenntnisse, ihre Erfahrungen,
ihre Sparsamkeit und wirtschaftlichen Tugenden, konnte nicht einsehen,
daß man ihr für alle diese Qualitäten keinen Dank wisse und fühlte
sich so sehr im guten Recht, daß sie mit einer Kritik der bisherigen
Wirtschaftsführung, einem Tadel für die Hausfrauenkunst meiner Mutter
und einer mitleidigen Verachtung für die Gebräuche und Eigenheiten
des ganzen Hauses nicht mehr hinterm Berge hielt. Nun berief sich die
Hausfrau auf meinen Vater, unter dessen Leitung und nach dessen Art es
so viele Jahre lang im Hause gut gegangen war. Er hatte Kleinlichkeit
und ängstliche Sparsamkeit nicht geduldet, er hatte den Dienstboten
Freiheit und Rechte gegönnt, er hatte Mägdegezänk und Verdrossenheit
gehaßt. Als aber meine Mutter sich auf ihn berief, an dem sie früher
wohl auch gelegentlich zu kritisieren gehabt hatte, der aber seit
seinem Tode ihr zum Heiligen geworden war, da konnte Fräulein Schniebel
nicht schweigen und erinnerte spitzig daran, wie sie schon längst ihre
Meinung über den Seligen gehabt und geäußert habe, und meinte, es sei
jetzt wohl an der Zeit, in dem Schlendrian einzuhalten und Vernunft
walten zu lassen. Sie habe ja aus Schonung für ihre Freundin nicht an
das Andenken des Verewigten rühren wollen; da diese aber selber sich
auf ihn beziehe, müsse sie gestehen, daß allerdings der alte Herr an
manchen Übelständen im Hause schuld sei, daß sie aber nicht einsehe,
warum das nun, da sie freie Hand hätten, weiter so bleiben solle.

Das war für meine Mutter ein Schlag ins Gesicht, den sie der Kusine
nicht vergaß. Früher war es ihr ein Bedürfnis und ein Genuß gewesen,
hie und da im Gespräch mit dieser Vertrauten etwa zu klagen und ihrem
Hausherrn einiges am Zeug zu flicken; jetzt aber ertrug sie nicht
den mindesten Schatten auf seinem verklärten Bilde und begann die
beginnende Revolution im Hause nicht nur als störend, sondern vor allem
als eine Versündigung an dem Seligen zu empfinden.

So war es gegangen, ohne daß ich davon erfuhr. Als jetzt zum erstenmal
ein Brief meiner Mutter diesen Unfrieden im Vogelkäfig andeutete, wenn
auch noch schonend und vorsichtig, machte die Sache mich lachen. Ich
ließ in meinem nächsten Schreiben die Grüße an die Jungfer weg, ging
aber nicht auf die Andeutungen ein und dachte, die Frauen möchten
besser ohne mich fertig werden. Auch kam anderes dazwischen, das mich
weit mehr beschäftigte.

Es war Oktober geworden und der Gedanke an Gertruds bevorstehende
Hochzeit ließ mich nicht mehr los. Ich hatte ihr Haus nicht wieder
besucht und sie selber nicht wieder gesehen. Nach der Hochzeit,
wenn sie fort wäre, dachte ich den Verkehr mit ihrem Vater wieder
aufzunehmen. Auch hoffte ich, es werde sich zwischen ihr und mir
mit der Zeit wieder ein gutes, vertrauliches Verhältnis herstellen,
wir waren einander schon zu nahe gewesen, um einfach das Gewesene
ausstreichen zu können. Nur jetzt hatte ich noch nicht den Mut zu einer
Begegnung, welcher sie, wie ich sie kannte, nicht ausgewichen wäre.

Da pochte es eines Tages auf eine wohlbekannte Art an meiner Türe.
Ahnungsvoll und verwirrt sprang ich auf und öffnete, und da stand
Heinrich Muoth und streckte mir die Hand entgegen.

»Muoth!« rief ich und hielt die Hand fest, und ich konnte nicht in
seine Augen sehen, ohne daß alles in mir aufwachte und wehe tat. Ich
sah wieder den Brief auf seinem Tische liegen, den Brief mit Gertruds
Handschrift, und sah mich wieder von ihr Abschied nehmen und den Tod
wählen. Da stand er nun und blickte mich forschend an. Er sah etwas
gemagert aus, doch schön und stolz wie je.

»Ich hatte dich nicht erwartet,« sagte ich leise.

»So? Daß du zu Gertrud nicht mehr gekommen bist, weiß ich schon.
Meinetwegen -- lassen wir das alles unbesprochen! Ich bin da um zu
sehen, wie du lebst und was deine Arbeit macht. Was ist denn mit der
Oper!«

»Die ist fertig. Aber zuerst: Wie geht es Gertrud?«

»Gut. Wir haben ja bald Hochzeit.«

»Ich weiß.«

»Ja. Besuchst du sie nicht bald einmal?«

»Später, doch. Ich will sehen, ob sie es auch gut bei dir hat.«

»Hm...«

»Heinrich, verzeih, aber ich muß manchmal an die Lotte denken, die du
schlecht gehalten und geschlagen hast.«

»Laß die Lotte! Es geschah ihr recht. Es bekommt kein Weib Schläge, das
keine haben will.«

»Nun ja. Also die Oper. Ich weiß noch gar nicht, wo ich sie zuerst
einreichen soll. Es müßte eine gute Bühne sein, aber ob die das Ding
nehmen wird?«

»Sie wird schon. Ich wollte darüber mit dir sprechen. Bring sie nach
München! Angenommen wird sie wahrscheinlich, man interessiert sich für
dich, und im Notfall stehe ich dafür ein. Ich möchte sehr gern, daß
kein anderer meine Rolle vor mir singt.«

Damit war mir gedient. Ich sagte gern zu und versprach, bald für
Abschriften zu sorgen. Wir besprachen Einzelheiten und sprachen
verlegen weiter, als sei es uns todeswichtig, und doch wollten wir
nichts als die Zeit hinbringen und vor der Kluft, die sich zwischen uns
aufgetan hatte, die Augen schließen.

Muoth brach den Bann zuerst.

»Du,« sagte er, »weißt du noch, wie du mich damals zu den Imthors
mitgenommen hast? Es ist ein Jahr her.«

»Ich weiß noch,« sagte ich, »und du brauchst mich nicht zu erinnern,
du. Geh lieber!«

»Nein, Freund. Also du erinnerst dich noch. Nun, wenn du damals schon
das Mädchen lieb gehabt hast, warum hast du nicht ein Wort zu mir
gesagt? Warum hast du nicht gesagt: Laß sie in Ruh, laß sie mir! Es
wäre genug gewesen, ich hätte auch eine Andeutung verstanden.«

»Das durfte ich nicht.«

»Durftest du nicht? Warum nicht? Wer hieß dich zusehen und den Mund
halten, bis es zu spät war?«

»Ich konnte ja nicht wissen, ob sie mich lieb habe. Und auch dann --
wenn du ihr lieber bist, kann ich doch nichts machen.«

»Du bist ein Kind! Sie wäre mit dir vielleicht glücklicher geworden!
Es hat doch jeder das Recht, sich eine Frau zu erobern. Und wenn du
mir gleich anfangs ein Wort gesagt hättest, einen kleinen Wink gegeben
hättest, ich wäre weggeblieben. Nachher war's natürlich zu spät.«

Mir war diese Unterredung peinlich.

»Ich denke anders darüber,« sagte ich, »und du kannst ja zufrieden
sein, nicht? Also laß mich in Ruhe! Sag ihr einen Gruß und ich würde
Euch dann in München besuchen.«

»Zur Hochzeit magst du nicht kommen?«

»Nein, Muoth, das wäre geschmacklos. Aber -- laßt Ihr Euch kirchlich
trauen?«

»Natürlich, im Münster.«

»Das ist mir lieb. Ich habe etwas für die Gelegenheit zurecht gelegt,
ein Orgelvorspiel. Keine Sorge, es ist ganz kurz.«

»Du bist ein lieber Kerl! Hol's der Teufel, daß ich mit dir so Pech
habe!«

»Ich denke, du solltest Glück sagen, Muoth.«

»Na, wir wollen nicht streiten. Ich muß jetzt gehen, es werden noch
Sachen gekauft und weiß Gott was. Die Oper schickst du bald, nicht
wahr? Schick sie an mich, dann bring ich sie unserem Alten selber. Ja,
und eh' ich Hochzeit mache, sollten wir zwei doch noch einmal einen
Abend für uns haben. Vielleicht morgen? -- Gut, auf Wiedersehen!«

Da war ich wieder im alten Kreise und brachte die Nacht in hundertmal
gedachten Gedanken und hundertmal gekosteten Leiden hin. Am nächsten
Tage ging ich zu einem mir bekannten Organisten und bat ihn, für die
Muothsche Hochzeit mein Vorspiel zu übernehmen. Nachmittags ging ich
mit Teiser zum letztenmal meine Ouvertüre durch. Und am Abend fand ich
mich in Heinrichs Gasthof ein.

Da fand ich ein Zimmer mit einem Kaminfeuer und Kerzenlicht für uns
bereitet, einen weißgedeckten Tisch mit Blumen und Silbergeschirr, und
Muoth wartete schon auf mich.

»So, Junge,« rief er, »nun wollen wir Abschied feiern, mehr für mich
als für dich. Gertrud läßt dich grüßen, wir wollen heut ihre Gesundheit
trinken.«

Wir schenkten unsere Gläser voll und tranken schweigend aus.

»So, und jetzt wollen wir nur noch an uns selber denken. Die Jugend
will zur Neige gehen, Lieber, spürst du's nicht auch? Sie soll ja das
schönste am Leben sein. Ich hoffe, es sei ein Schwindel wie alle diese
beliebten Sprüche. Das Beste muß doch erst kommen, sonst war das Ganze
nicht recht der Mühe wert. Wenn deine Oper gespielt wird, reden wir
weiter darüber.«

Wir aßen behaglich und tranken einen schweren Rheinwein dazu, nachher
legten wir uns mit Zigarren und Champagner in den tiefen Ecksesseln
zurück und es kam mir und ihm für eine Stunde die alte Zeit herauf,
die redselige Lust am Plänebauen und Plaudern, wir blickten einander
sorglos nachdenklich in aufrichtige Augen und waren miteinander
zufrieden. Heinrich war in solchen Stunden gütiger und zarter als
sonst, er kannte die Flüchtigkeit solcher Lust genau und hielt sie,
so lange die Stimmung lebendig bleiben wollte, behutsam in schonenden
Händen fest. Leise und lächelnd sprach er von München, erzählte kleine
Bühnengeschichten und übte seine alte feine Kunst, Menschen und
Verhältnisse in kurzen klaren Worten zu zeichnen.

Als er so seinen Dirigenten, seinen Schwiegervater und andere spielend
und scharf, doch ohne Bosheit charakterisiert hatte, trank ich ihm zu
und fragte: »Nun, und was sagst du zu mir? Hast du für Leute meiner Art
auch so eine Formel?«

»O ja,« nickte er gelassen und richtete die dunklen Augen auf mich. »Du
bist in allem der Typus des Künstlers. Ein Künstler ist ja nicht, wie
die Philister meinen, ein fideler Herr, der aus lauter Übermut hie und
da Kunstwerke hinschmeißt, sondern leider meistens ein armer Tropf, der
an einem unnützen Reichtum erstickt und darum was von sich geben muß.
Es ist nichts mit der Sage vom glücklichen Künstler, das ist lauter
Philistergeschwätz. Der fidele Mozart hat sich mit Champagner aufrecht
gehalten und dafür Mangel an Brot gelitten, und warum Beethoven sich
nicht in jungen Jahren schon das Leben genommen, sondern statt dessen
diese herrlichen Sachen geschrieben hat, das weiß kein Mensch. Ein
anständiger Künstler hat im Leben unglücklich zu sein. Wenn er Hunger
hat und seinen Sack aufmacht, so sind immer bloß Perlen drin!«

»Ja, wenn man ein bißchen Freude und Wärme und Anteil am Leben begehrt,
da helfen einem ein Dutzend Opern und Trios und solche Sachen freilich
nicht viel.«

»Ich glaub's. So eine Stunde beim Wein mit einem Freund, wenn man einen
hat, und ein gutmütiges Plaudern über dies merkwürdige Leben, das ist
eigentlich das Beste, was man haben kann. Es muß schon so sein und
wir müssen froh sein, daß wir das doch haben. Wie lange schafft ein
armer Teufel an einer schönen Rakete, und die Freude dran dauert dann
keine Minute! So muß man auch Freude und Seelenruhe und gutes Gewissen
sparen, damit es hie und da zu einer hübschen Stunde reicht. Prosit,
Freund!«

Ich war mit seiner Philosophie im Grunde gar nicht einverstanden,
doch was lag daran? Mir war wohl, einen solchen Abend mit dem Freunde
zu erleben, den ich verlieren zu müssen gefürchtet hatte und der
auch so mir nicht mehr sicher war, und ich grüßte nachdenklich in
die vergangene Zeit hinüber, die noch so nahe lag und doch schon
meine Jugend umschloß, deren Leichtsinn und Harmlosigkeit mir nicht
wiederkommen konnte.

Beizeiten machten wir ein Ende und Muoth erbot sich, noch mit mir bis
zu meinem Hause zu gehen. Doch hieß ich ihn bleiben. Ich wußte, daß er
nicht gern mit mir auf der Straße ging, mein langsames Hinken störte
ihn und machte ihn verdrießlich. Er konnte keine Opfer bringen, und
solche kleine sind ja oft die schwersten.

Mein kleines Orgelstück freute mich. Es war eine Art von Präludium und
für mich eine Loslösung vom Alten, ein Dank und Glückwunsch an die
Brautleute und ein Nachhall der guten Freundschaftszeiten mit ihr und
mit ihm.

Am Tage der Hochzeit fand ich mich zeitig in der Kirche ein und sah der
Feier versteckt von der Orgel herab zu. Als der Organist mein Stücklein
spielte, sah Gertrud herauf und nickte ihrem Bräutigam zu. Ich hatte
sie diese ganze Zeit nicht mehr gesehen, sie sah im weißen Kleide noch
größer und schlanker aus und ging anmutig ernst den geschmückten
schmalen Pfad zum Altar, an der Seite des stolzen, ungebeugt
schreitenden Mannes. Es hätte weniger gut und prächtig ausgesehen, wenn
an seiner Stelle ich schiefer Krüppel diesen feierlichen Weg gegangen
wäre.



Es war schon dafür gesorgt, daß ich an die Hochzeit meiner Freunde
nicht lange denken und meine Betrachtungen und Wünsche und
Selbstquälereien nicht diesen Weg nehmen lassen konnte.

An meine Mutter hatte ich in diesen Tagen wenig gedacht. Ich wußte
zwar aus ihrem letzten Briefe, daß es um Behaglichkeit und Frieden in
ihrem Hause nicht glänzend bestellt sei, doch hatte ich weder Grund
noch Lust, mich in den Streit der beiden Damen zu mischen, sondern ließ
ihn mit einiger Schadenfreude als eine Tatsache bestehen, zu welcher
mein Urteil entbehrlich war. Seither hatte ich geschrieben, ohne
Antwort bekommen zu haben, und hatte mit dem Besorgen und Durchsehen
der Abschriften für meine Oper genug zu tun, als daß ich mir über das
Fräulein Schniebel Gedanken hätte machen können.

Da kam ein Brief von meiner Mama, der mich schon durch seinen ganz
ungewohnt großen Umfang in Erstaunen setzte. Er war eine peinliche
Anklageschrift gegen ihre Hausgenossin, aus der ich alle ihre
Vergehungen wider den Haus- und Seelenfrieden meiner guten Mutter genau
erfuhr. Es fiel ihr schwer, mir das zu schreiben, und sie tat es mit
Würde und Vorsicht, allein es war ein klares Geständnis der Täuschung,
in der sie betreffs ihrer alten Freundin und Base gelebt hatte. Meine
Mutter gab nicht nur meiner und meines seligen Vaters Abneigung gegen
Demoiselle Schniebel durchaus recht, sie war sogar jetzt bereit, das
Haus zu verkaufen, falls ich das noch wünsche, und ihren Wohnort zu
wechseln, und alles nur, um der Schniebel zu entrinnen.

»Es wäre vielleicht gut, wenn Du selber herkämest. Nämlich Lucie weiß
schon, wie ich denke und was ich plane, sie ist darin sehr spürig; aber
wir stehen zu gespannt miteinander, als daß ich ihr in der rechten
Form das Nötige sagen könnte. Meine Andeutungen, daß ich lieber wieder
allein im Hause wäre und daß sie entbehrlich sei, will sie nicht
verstehen, und offenen Streit will ich nicht haben. Ich weiß, sie würde
keifen und sich auf die Hinterbeine stellen, wenn ich sie direkt zum
Gehen auffordern wollte. Da ist es besser, Du kommst und bringst das
in Ordnung. Ich will keinen Skandal haben, und sie soll nicht zu kurz
kommen, aber es muß ihr deutlich und bestimmt gesagt werden.«

Ich wäre auch bereit gewesen, den Drachen zu erschlagen, wenn Mama es
verlangt hätte. Mit großem Vergnügen machte ich mich reisefertig und
fuhr nach Hause. Dort merkte ich freilich gleich beim Eintritt in unser
altes Haus, daß ein neuer Geist darin herrsche. Namentlich die große
behagliche Wohnstube hatte ein grämliches, unfreudiges, gedrücktes und
ärmliches Aussehen bekommen, alles sah mühsam bewacht und geschont
aus, und auf dem alten soliden Fußboden lagen sogenannte »Läufer«,
lange Trauerstreifen aus billigem und häßlichem Stoff, um die Diele zu
schonen und am Aufwaschen zu sparen. Das alte Tafelklavier, das seit
Jahren unbenutzt im Salon stand, war gleichfalls mit einer solchen
Schonhülle bekleidet, und obwohl die Mutter zu meiner Ankunft Tee und
Gebäck bereit und alles ein wenig nett gemacht hatte, roch es doch nach
altjüngferlicher Kümmerlichkeit und Naphtalin so unverwischbar, daß ich
gleich beim Empfang die Mutter anlächelte und die Nase rümpfte, was sie
sofort verstand.

Kaum saß ich im Stuhl, so kam der Drache herein, trabte über die
Läufer auf mich zu und ließ sich Ehre erweisen, was ich tat, ohne zu
sparen. Ich fragte eingehend nach ihrem Befinden und entschuldigte das
alte Haus, das vielleicht nicht jede Bequemlichkeit biete, an die sie
gewöhnt sei. Sehr über meine Mutter hinwegsprechend nahm sie die Rolle
der Hausfrau an sich, schaute nach dem Tee, erwiderte meine Höflichkeit
eifrigst und schien zwar geschmeichelt, noch mehr aber beängstigt
und mißtrauisch gemacht durch meine übertriebene Freundlichkeit. Sie
witterte Verrat, war aber genötigt, auf die angenehme Tonart einzugehen
und selber ihren ganzen Vorrat von etwas antiquierten Artigkeiten
auszubreiten. Unter lauter Ergebenheit und Hochachtung sahen wir die
Nacht herankommen, wünschten einander herzlich den besten Schlaf und
trennten uns wie Diplomaten der alten Schule. Doch glaube ich, der
Kobold habe trotz des Zuckerbrots in jener Nacht wenig geschlafen,
während ich befriedigt ausruhte und meine arme Mutter vielleicht nach
manchen in Ärger und Betrübnis hingebrachten Nächten zum erstenmal
wieder mit ungeschmälerten Hausfrauengefühlen im eigenen Hause
einschlief.

Beim Frühstück am andern Morgen begann dasselbe zierliche Spiel. Meine
Mutter, die abends nur still und gespannt zugehört hatte, nahm jetzt
mit Vergnügen selber Teil, und wir behandelten die Schniebel mit einer
Artigkeit und Zartheit, die sie sehr ins Enge trieb, ja traurig machte,
denn sie ahnte wohl, daß meiner Mutter diese Töne nicht vom Herzen
kämen. Beinahe hätte mir das alte Mädchen leid getan, wie sie ängstlich
wurde und sich klein zu machen strebte, alles lobte und gut hieß;
allein ich dachte an die entlassene Stubenmagd, an die unzufrieden
aussehende Köchin, die nur der Mutter zuliebe noch geblieben war, ich
dachte an das eingenähte Klavier und den ganzen trübsinnig kleinlichen
Geruch in meinem ehemals fröhlichen Vaterhaus, und blieb hart.

Nach Tische bat ich meine Mutter, sich etwas zu legen, und blieb mit
der Base allein.

»Pflegen Sie etwa nach Tisch zu schlafen?« fragte ich höflich. »Dann
möchte ich Sie nicht stören. Ich hätte etwas mit Ihnen zu reden, doch
eilt es ja nicht so sehr.«

»O bitte, ich schlafe nie am Tage. So alt bin ich ja gottlob noch
nicht. Ich stehe ganz zu Diensten.«

»Danke sehr, gnädiges Fräulein. Ich wollte Ihnen Dank sagen für die
Freundlichkeiten, die Sie meiner Mama erwiesen haben. Sie hätte es
sonst doch sehr einsam gehabt in dem leeren Haus. Nun, jetzt wird das
ja anders.«

»Wie?« rief sie aufspringend. »Was wird anders?«

»Wissen Sie es noch nicht? Mama hat sich entschlossen, endlich meinen
alten Wunsch zu erfüllen und zu mir zu ziehen. Da können wir das Haus
natürlich nicht leer stehen lassen. So wird es denn wohl bald zum
Verkauf kommen.«

Das Fräulein starrte mich fassungslos an.

»Ja, es tut mir auch leid,« fuhr ich bedauernd fort. »Nun, für Sie war
diese Zeit immerhin anstrengend. Sie haben sich des ganzen Hauses so
freundlich und sorglich angenommen, daß ich nicht genug danken kann.«

»Aber ich, was soll -- -- -- wohin soll ich -- --«

»Nun, das wird sich ja finden. Sie müssen sich eben wieder eine Wohnung
suchen, es eilt natürlich nicht so sehr. Sie werden sich selber freuen,
es wieder stiller zu haben.«

Sie war aufgestanden. Ihr Ton war noch höflich, aber bedenklich scharf.

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll,« rief sie erbittert. »Ihre
Mutter, Herr, hat mir versprochen, mich hier wohnen zu lassen. Es war
eine feste Abmachung; und jetzt, wo ich mich des Hauses angenommen
und Ihrer Mutter in allem geholfen habe, jetzt setzt man mich auf die
Straße!«

Sie begann zu schluchzen und wollte fortlaufen. Doch hielt ich sie an
ihrer mageren Hand zurück und setzte sie wieder in ihren Sessel.

»So schlimm ist es nicht,« sagte ich lächelnd. »Daß meine Mutter von
hier wegziehen will, ändert eben die Verhältnisse ein wenig. Übrigens
ist der Verkauf des Hauses nicht von ihr beschlossen, sondern von mir,
denn ich bin der Besitzer. Daß Sie sich beim Aussuchen einer neuen
Wohnung nicht beschränken und die Sorge dafür ihr überlassen, setzt
meine Mutter voraus. Sie haben es dann bequemer als bisher, und sind
doch noch gewissermaßen ihr Gast.«

Es kamen nun die erwarteten Einwände, der Stolz, das Weinen, das mit
Bitten abwechselnde Großtun, und am Ende merkte die Schmollende, daß
hier Nachgeben das Klügste sei. Doch zog sie sich auf dieses hin in
ihr Zimmer zurück und ließ sich auch zum Kaffee nicht sehen. Meine
Mutter meinte, wir sollten ihr diesen aufs Zimmer schicken, doch wollte
ich nach all der Höflichkeit auch meine Rache haben und ließ Fräulein
Schniebel in ihrem Trotz verharren bis zum Abend, wo sie denn still und
grämlich, doch pünktlich zur Mahlzeit erschien.

»Ich muß leider schon morgen wieder nach R. fahren,« sagte ich während
des Abendessens. »Solltest du mich aber brauchen, Mama, so kann ich ja
immer schnell herfahren.«

Ich sah dabei nicht meine Mutter, sondern ihre Cousine an, und sie
merkte, wie es gemeint sei. Mein Abschied von ihr war kurz und
meinerseits beinahe herzlich.

»Kind,« sagte meine Mutter nachher, »du hast es gut gemacht, und ich
muß dir danken. Willst du mir nicht etwas aus deiner Oper vorspielen?«

Dazu kam es nun nicht, aber es war ein Ring durchbrochen, und zwischen
der alten Frau und mir begann es zu tagen. Das war das Beste an der
Sache. Sie hatte jetzt Vertrauen zu mir, und ich freute mich darauf,
bald mit ihr ein kleines Hauswesen zu eröffnen und aus der langen
Heimatlosigkeit herauszukommen. Ich reiste befriedigt ab, hinterließ
schöne Grüße an das alte Fräulein und begann nach meiner Rückkehr schon
da und dort einzukehren, wo hübsche kleine Wohnungen zu vermieten
standen. Dabei half mir Teiser, und meistens war auch seine Schwester
mit, und beide freuten sich mit mir und hofften auf ein erfreuliches
Zusammenleben der beiden kleinen Familien.

Inzwischen war meine Oper nach München gegangen. Nach zwei Monaten,
kurz vor der Ankunft meiner Mutter, schrieb mir Muoth, sie sei
angenommen, könne aber in dieser Spielzeit nicht mehr einstudiert
werden. Doch werde sie im Beginn des nächsten Winters aufgeführt
werden. So hatte ich der Mutter eine gute Nachricht, und Teiser
veranstaltete ein Fest mit Freudentänzen, als er es hörte.

Meine Mutter weinte beim Einzug in unsere hübsche Gartenwohnung und
meinte, es sei nicht gut, im Alter noch auf fremden Boden verpflanzt zu
werden. Ich aber fand es sehr gut, und die Teisers auch, und Brigitte
half und ging meiner Mutter zur Hand, daß es eine Freude war. Das
Mädchen hatte wenig Bekannte in der Stadt und war oft, während ihr
Bruder im Theater war, einsam zu Hause gesessen, was ihr allerdings
nicht anzusehen war. Nun kam sie viel zu uns und half nicht nur beim
Einräumen und Eingewöhnen, sondern half auch mir und der Mutter den
schwierigen Weg in ein freundlich stilles Zusammenleben hinein zu
finden. Sie wußte es der alten Frau zu erklären, wenn ich Ruhe brauchte
und allein sein mußte, sie war dann zur Hand und sprang für mich ein,
und mir deutete sie manche Bedürfnisse und Wünsche meiner Mutter an,
die ich nie erraten und die Mutter mir nie mitgeteilt hätte. So gab es
bald eine kleine Heimat und einen Heimatfrieden bei uns, anders und
bescheidener als ich mir vormals mein Heim vorgestellt hatte, doch gut
und schön genug für einen, der es selber nicht weiter gebracht hatte
als ich.

Jetzt lernte meine Mutter auch meine Musik kennen. Sie hieß nicht alles
gut und schwieg zu dem meisten, aber sie sah und glaubte, daß es nicht
Zeitvertreib und Spielerei, sondern Arbeit und Ernst war, und fand
überhaupt zu ihrem Erstaunen unser Musikantenleben, das sie sich stark
seiltänzerhaft vorgestellt hatte, kaum viel weniger bürgerlich-fleißig
als das, das der selige Papa etwa geführt hatte. Von ihm konnten wir
nun auch besser reden und allmählich hörte ich tausend Geschichten von
ihm und von ihr, von den Großeltern und von meiner eignen Kinderzeit.
Die Vergangenheit und Familie ward mir lieb und interessant, ich fühlte
mich nicht mehr außerhalb des Kreises. Dagegen lernte die Mutter
mich gewähren zu lassen und Vertrauen zu mir zu haben, auch wenn ich
in Arbeitszeiten mich einschloß oder reizbar war. Sie hatte es bei
meinem Vater sehr gut gehabt, desto härter war ihre Prüfung in den
Schniebelschen Zeiten gewesen; jetzt faßte sie wieder Vertrauen und
hörte allmählich auf von ihrem Altwerden und Vereinsamen zu reden.

In all diesem Behagen und bescheidenen Glück sank das Leidgefühl und
Ungenügen unter, in dem ich lang gelebt hatte. Es sank aber nicht ins
Bodenlose, sondern ruhte tief und unverloren in meiner Seele, sah
mich in mancher Nacht fragend an und behielt sein Recht. Je ferner
das Vergangene zurückgesunken schien, desto klarer stieg mir das Bild
meiner Liebe und meines Leides herauf, blieb bei mir und war mein
stiller Mahner.

Manchmal schon hatte ich gemeint zu wissen, was Liebe sei. Schon in
Jünglingszeiten, da ich betört um die hübsche leichte Liddy schwärmte,
hatte ich Liebe zu kennen gemeint. Dann wieder als ich Gertrud zuerst
sah und fühlte, daß sie die Antwort auf meine Fragen und der Trost
für meine dunklen Wünsche sei. Dann wieder, als die Pein begann und
aus der Freundschaft und Klarheit Leidenschaft und Dunkel wurde, und
schließlich, als sie mir verloren war. Aber die Liebe blieb und war
immer bei mir, und ich wußte, daß ich niemals mehr einer Frau mit
Begierde folgen und nach dem Kuß eines Frauenmundes verlangen konnte,
seit ich Gertrud im Herzen hatte.

Ihr Vater, den ich zuweilen besuchte, schien jetzt von meinem
Verhältnis zu ihr zu wissen. Er bat sich das Präludium aus, das ich zu
ihrer Hochzeit gemacht hatte, und zeigte mir ein stilles Wohlwollen.
Er mochte fühlen, wie gern ich von ihr hörte und wie ungern ich doch
fragte, und er teilte mir viel aus ihren Briefen mit. Darin war auch
von mir häufig die Rede, namentlich von meiner Oper. Sie schrieb, daß
für die Sopranrolle eine gute Sängerin gefunden sei und wie sie sich
freue, das ihr schon so vertraute Werk endlich ganz zu hören. Sie
freute sich auch darüber, daß ich meine Mutter bei mir habe. Was sie
über Muoth schrieb, weiß ich nicht.

Mein Leben lief ruhig hin, die Ströme der Tiefe drangen nicht mehr
nach oben. Ich arbeitete an einer Messe und hatte ein Oratorium im
Kopf, für das mir der Text noch fehlte. Wenn ich genötigt war, an die
Oper zu denken, war es mir eine fremde Welt. Meine Musik ging neue
Wege, sie wurde einfacher und kühler, sie wollte trösten und nicht
erregen.

In dieser Zeit waren die Geschwister Teiser mir viel wert. Wir sahen
uns beinahe täglich, wir lasen, musizierten, spazierten miteinander,
hatten Feste und Ausflüge gemeinsam. Nur im Sommer, da ich die rüstigen
Wandersleute nicht beschweren wollte, trennten wir uns für einige
Wochen. Die Teisers wanderten wieder im Tirol und Vorarlberg umher und
schickten kleine Schachteln mit Edelweiß; ich aber hatte die Mutter zu
ihren Verwandten in Norddeutschland gebracht, wo sie schon seit Jahren
eingeladen war, und hatte mich an die Nordsee gesetzt. Da hörte ich Tag
und Nacht das alte Lied des Meeres und ging in der herben, frischen
Seeluft meinen Gedanken und Melodien nach. Von hier aus fand ich zum
erstenmal das Herz, an Gertrud nach München zu schreiben -- nicht an
die Frau Muoth, sondern an meine Freundin Gertrud, der ich von meiner
Musik und meinen Träumen erzählte. Vielleicht freut es sie, dachte
ich, und vielleicht kann ihr auch ein Trost und ein Freundesgruß nicht
schaden. Denn wider mein eigenes Herz mußte ich meinem Freunde Muoth
mißtrauen und immer um Gertrud in einer leisen Sorge sein. Ich kannte
ihn zu gut, den eigenwilligen Melancholiker, der gewohnt war, seinen
Launen zu leben und nirgends ein Opfer zu bringen, den dunkle Triebe
hinrissen und leiteten und der in nachdenklichen Stunden seinem eigenen
Leben zusah wie einem Trauerspiel. Wenn das wirklich eine Krankheit
war, das Einsamsein und Nichtverstandenwerden, wie es der gute Herr
Lohe mir dargestellt hatte, so litt Muoth an dieser Krankheit mehr als
irgend jemand.

Doch hörte ich nichts von ihm, Briefe schrieb er nicht. Auch Gertrud
antwortete mir nur mit einem kurzen Dank und der Aufforderung, zeitig
im Herbst nach München zu kommen, wo man gleich mit dem Anfang der
Spielzeit mit dem Einstudieren meiner Oper fortfahren werde.

Anfangs September, als wir alle wieder in der Stadt und im gewohnten
Leben waren, kamen wir einen Abend in meiner Wohnung zusammen, um
meine Arbeit vom Sommer durchzusehen. Die Hauptsache war ein kleines
lyrisches Stück für zwei Geigen und Klavier. Das spielten wir.
Brigitte Teiser saß am Klavier, ich konnte über mein Blatt hinweg
ihren Kopf mit dem schweren Kranz von blonden Zöpfen sehen, deren
Ränder im Kerzenlicht golden flammten. Ihr Bruder stand neben ihr und
spielte die erste Geige. Es war eine einfache, liedartige Musik, leise
klagend und sommerabendlich verklingend, nicht froh noch traurig,
sondern in verlorener Abendstimmung schwebend wie eine verglühende
Wolke nach Sonnenuntergang. Das Stücklein gefiel den Teisers und
besonders Brigitte. Sie pflegte mir selten etwas über meine Musik zu
sagen, sondern sich in einer Art von mädchenhafter Ehrfurcht still
zu verhalten und mich nur bewundernd anzusehen, denn sie hielt mich
für einen großen Meister. Heut faßte sie sich ein Herz und gab ihr
besonderes Gefallen kund. Sie glänzte mich aus ihren hellblauen Augen
innig an und nickte, daß das Licht auf ihren blonden Zöpfen tanzte. Sie
war sehr hübsch, beinahe eine Schönheit.

Um ihr eine Freude zu machen, nahm ich ihre Klavierstimme, schrieb mit
dem Bleistift über die Noten eine Widmung »an meine Freundin Brigitte
Teiser« und gab ihr die Noten zurück.

»Das soll jetzt immer über dem kleinen Lied stehen,« sagte ich galant
und machte ein Kompliment. Sie las die Widmung langsam rotwerdend,
streckte mir die kleine, kräftige Hand hin und hatte plötzlich die
Augen voll Tränen.

»Ist's auch Ihr Ernst?« fragte sie leise.

»Es wird schon sein,« lachte ich. »Und ich finde, das Stücklein paßt
ganz gut zu Ihnen, Fräulein Brigitte.«

Ihr Blick, der noch voll Tränen war, setzte mich in Erstaunen, so ernst
und frauenhaft war er. Doch achtete ich nicht weiter darauf, Teiser
legte jetzt seine Geige weg und meine Mutter, die seine Bedürfnisse
schon kannte, schenkte den Wein in die Gläser. Das Gespräch wurde
lebhaft, wir stritten über eine neue Operette, die vor einigen Wochen
aufgeführt worden war, und der kleine Vorfall mit Brigitte fiel mir
erst spät am Abend, als die beiden Abschied nahmen und sie mir seltsam
unruhig in die Augen sah, wieder ein.

In München begann man unterdessen mein Werk einzustudieren. Da die eine
Hauptrolle bei Muoth in den besten Händen war und Gertrud auch die
Sopransängerin gelobt hatte, wurde mir das Orchester und die Chöre zur
Hauptsache. Ich ließ meine Mutter in der Obhut der Freunde und fuhr
nach München.

Am Morgen nach meiner Ankunft fuhr ich durch die schönen, breiten
Straßen nach Schwabing und zu dem still gelegenen Hause, wo Muoth
wohnte. Die Oper hatte ich völlig vergessen, ich dachte nur an ihn und
an Gertrud und wie ich sie finden würde. Der Wagen hielt an einer fast
ländlichen Nebenstraße vor einem kleinen Hause, das in herbstlichen
Bäumen stand, gelbe Ahornblätter lagen zu beiden Seiten des Weges in
Haufen gefegt. Beklommen trat ich ein, das Haus machte einen behaglich
herrschaftlichen Eindruck, ein Diener nahm mir den Mantel ab.

In dem großen Zimmer, in das ich geführt wurde, erkannte ich zwei
von den großen, alten Malereien aus dem Hause Imthor, die hierher
mitgekommen waren. An einer andern Wand hing ein neues Bildnis Muoths,
in München gemalt, und während ich es ansah, kam Gertrud herein.

Mir schlug das Herz, als ich ihr nach so langer Zeit in die Augen sah.
Sie lächelte aus einem veränderten, strenger und reifer gewordenen
Frauengesicht, doch in der alten Freundschaft, und gab mir herzlich die
Hand.

»Geht es gut?« sagte sie freundlich. »Sie sind älter geworden, aber Sie
sehen gut aus. Wir haben Sie schon lang erwartet.«

Sie fragte nach allen Freunden, nach ihrem Vater, nach meiner Mutter,
und wie sie warm wurde und die erste Scheu vergaß, sah ich sie ganz
so wie früher. Unversehens verflog meine Befangenheit und ich sprach
mit ihr als mit einer guten Freundin, erzählte vom Sommer am Meer, von
meiner Arbeit, von Teisers und schließlich sogar von dem armen Fräulein
Schniebel.

»Nun,« rief sie, »und jetzt wird Ihre Oper gespielt! Sie werden sich
freuen.«

»Ja,« sagte ich, »aber am meisten freue ich mich doch darauf, Sie
wieder einmal singen zu hören.«

Sie nickte mir zu. »Darauf freu ich mich auch. Ich singe viel, aber
fast nur für mich allein. Wir wollen alle Ihre Lieder singen, sie
liegen immer zur Hand und werden bei mir nicht staubig. Bleiben Sie zu
Tische da, mein Mann muß bald kommen und kann Sie dann nachmittags zum
Dirigenten begleiten.«

Wir gingen nun in das Musikzimmer, ich setzte mich ans Klavier und
da sang sie meine Lieder von damals, daß ich still wurde und Mühe
hatte, heiter zu bleiben. Ihre Stimme war reifer und fester geworden,
aber sie flog noch so leicht und mühelos wie sonst und ging mir mit
der Erinnerung an die besten Tage meines Lebens zum Herzen, daß ich
wie verzaubert über den Tasten saß, und leise die alten Noten spielte
und für Augenblicke mit geschlossenen Augen lauschend Jetzt und Einst
nicht mehr zu unterscheiden vermochte. Gehörte sie nicht zu mir und zu
meinem Leben? Waren wir nicht einander nahe wie Geschwister und eng
Befreundete? Freilich, mit Muoth hatte sie anders gesungen!

Plaudernd saßen wir noch eine Weile, froh und ohne daß wir einander
viel zu sagen hatten, denn wir spürten, daß es zwischen uns keiner
Auseinandersetzung bedurfte. Wie es ihr gehe und wie es zwischen ihr
und ihrem Manne stehe, darüber dachte ich jetzt nicht nach, das würde
ich später selber sehen können. Jedenfalls war sie nicht von ihrer
Bahn gewichen und ihrem Wesen nicht untreu geworden, und wenn es ihr
nicht gut ging und sie zu tragen hatte, so trug sie es nobel und
unverbittert.

Nach einer Stunde kam Heinrich, der schon von meinem Hiersein gehört
hatte. Er begann sofort von der Oper zu sprechen, die jedermann
wichtiger zu sein schien als mir selber. Ich fragte, wie es ihm in
München gefalle und gehe.

»Wie überall,« sagte er ernsthaft. »Das Publikum hat mich nicht gern,
weil es spürt, daß ich mir auch aus ihm nichts mache. Ich werde selten
gleich beim ersten Auftreten freundlich aufgenommen; ich muß jedesmal
die Leute erst fassen und mitreißen. So habe ich Erfolge, ohne beliebt
zu sein. Manchmal singe ich freilich auch miserabel, das muß ich selber
sagen. Nun, deine Oper wird ein Erfolg, darauf kannst du rechnen, für
dich und mich. Heute gehen wir zum Dirigenten, morgen laden wir die
Sopransängerin, und wen du sonst haben willst, ein. Morgen früh ist
auch eine Orchesterprobe. Ich glaube, du wirst zufrieden sein.«

Bei Tische konnte ich beobachten, daß er gegen Gertrud außerordentlich
höflich war, was mir gar nicht gefiel. Und so blieb es die ganze Zeit,
solange ich in München war und die beiden täglich sah. Sie waren ein
wundervolles Paar schöner Menschen und machten Eindruck, wohin sie
kamen. Doch war es zwischen ihnen kühl, und ich dachte mir, daß nur
Gertruds Stärke und innere Überlegenheit ihn vermöge, diese Kühle so
in Höflichkeit und würdige Form zu verwandeln. Sie schien aus ihrer
Leidenschaft für den schönen Mann noch nicht lange erwacht zu sein
und noch auf die Wiederkehr der verloren gegangenen Innigkeit zu
hoffen. Jedenfalls war sie es, die auch ihn zur guten Form nötigte.
Sie war zu vornehm und gut, um selbst vor Freunden die Enttäuschte
und Unverstandene zu spielen und ihr geheimes Leiden irgend jemand
zu zeigen, wenn sie es auch mir nicht verbergen konnte. Doch hätte
sie auch von mir keinen Blick und keine Gebärde des Verstehens oder
Mitleids ertragen, wir sprachen und taten durchaus als wäre ihre Ehe
ohne Trübung.

Wie lange sich dieser Zustand würde erhalten lassen, war freilich
zweifelhaft und hing ganz von Muoth ab, dessen Unberechenbarkeit ich
hier zum erstenmal von einer Frau gebändigt sah. Mir taten beide leid,
doch war ich nicht sehr verwundert, die Dinge so zu finden. Die beiden
hatten ihre Leidenschaft gehabt und genossen, nun mochten sie entweder
Entsagung lernen und die gute Zeit in wehmütiger Erinnerung tragen,
oder den Weg zu einem neuen Glück und einer neuen Liebe finden.
Vielleicht würde ein Kind sie wieder zusammenführen, nicht mehr in
den verlassenen Paradiesgarten der Liebesglut zurück, wohl aber zu
einem neuen, guten Willen, gemeinsam zu leben und sich ineinander zu
schicken. Dazu hatte Gertrud die Kraft und die innere Heiterkeit, das
wußte ich. Ob auch Heinrich sie finden würde, darüber mochte ich mir
keine Gedanken machen. So leid sie mir taten, daß der große, schöne
Sturm ihrer ersten Glut und Freude aneinander schon vorüber war, so
freute mich doch die gute Haltung beider, die immer noch nicht nur vor
den Leuten, sondern auch voreinander ihre Schönheit und Würde bewahrt
hatten.

Die Einladung, in Muoths Hause zu wohnen, mochte ich indessen nicht
annehmen, und er ließ mir meinen Willen. Ich war täglich dort und es
tat mir wohl zu sehen, daß Gertrud mich gerne kommen sah und sich am
Plaudern und Musizieren mit mir freute, so daß ich nicht allein der
Nehmende war.

Die Aufführung der Oper sollte nun bestimmt im Dezember stattfinden.
Ich blieb zwei Wochen da, nahm an allen Orchesterproben Teil, mußte da
und dort streichen und anpassen, sah aber das Werk in guten Händen.
Es war mir wunderlich, die Sänger und Sängerinnen, die Geiger und
Flötisten, Kapellmeister und Chor mit meiner Arbeit beschäftigt zu
sehen, die mir selber fremd geworden war und ein Leben atmete, das
nicht mehr meines war.

»Warte nur,« sagte Heinrich Muoth zuweilen, »jetzt bekommst du bald
die verfluchte Luft der Öffentlichkeit zu atmen. Fast möchte ich dir
wünschen, es möchte keinen Erfolg geben. Denn dann hast du die Meute
hinter dir, du wirst dann bald mit Locken und Autographen handeln
können und sehen, wie geschmackvoll und liebenswürdig die Anbetung der
Herde ist. Von deinem lahmen Bein spricht schon jetzt jedermann. So
etwas macht populär!«

Nach den notwendigsten Proben und Versuchen reiste ich wieder ab, um
erst einige Tage vor der Aufführung wieder zu kommen. Teiser fand kein
Ende mit Fragen über die Aufführung, er dachte an hundert Einzelheiten
im Orchester, die ich kaum beachtet hatte, und sah der Sache mit
größerer Aufregung und Unruhe entgegen als ich selber. Als ich ihn
einlud, samt seiner Schwester der Aufführung beizuwohnen, tat er einen
Freudensprung. Dagegen wollte meine Mutter die Winterreise und die
Aufregungen nicht teilen, und mir war es nicht unlieb. Allmählich
spürte ich die Spannung doch und brauchte abends ein Glas Rotwein, um
einschlafen zu können.

Es wurde früh Winter und unser Häuschen lag tief eingeschneit in
seinem Garten, als eines Morgens die Geschwister Teiser mich im Wagen
abholten. Die Mutter winkte vom Fenster nach, der Wagen fuhr ab und
Teiser sang aus seinem dicken Halstuche heraus ein Reiselied. Auf
der ganzen langen Eisenbahnfahrt war er wie ein Knabe, der in die
Weihnachtsferien fährt, und die hübsche Brigitte glühte in stillerem
Vergnügen mit. Ich war froh, ihre Gesellschaft zu haben, denn meine
Ruhe war nun dahin und ich ging den Ereignissen der nächsten Tage wie
ein Verurteilter entgegen.

Das merkte auch Muoth sofort, der uns am Bahnhof erwartete. »Du hast
Lampenfieber, Junge,« lachte er vergnügt. »Gott sei Dank dafür! Du bist
eben doch ein Musiker und kein Philosoph.«

Damit schien er recht zu haben, denn meine Erregung hielt bis zur
Aufführung an und ich habe in jenen Nächten nicht geschlafen. Von uns
allen war nur Muoth ruhig. Teiser brannte vor Unruhe, er kam zu jeder
Probe und fand kein Ende mit Kritisieren. Geduckt und lauernd saß er in
den Proben neben mir, schlug an heiklen Stellen den Takt laut mit der
Faust, lobte oder schüttelte den Kopf.

»Da fehlt ja eine Flöte!« rief er gleich bei der ersten Orchesterprobe
so laut, daß der Dirigent unwillig herüberschaute.

»Die haben wir streichen müssen,« sagte ich lächelnd.

»Die Flöte? Gestrichen? Ja warum denn? So eine Viecherei! Paß auf, die
verdudeln dir deine ganze Ouvertüre.«

Ich mußte lachen und ihn mit Gewalt zurückhalten, so wild ging er ins
Zeug. Aber bei seiner Lieblingsstelle in der Ouvertüre, wo Bratschen
und Celli einsetzten, lehnte er mit geschlossenen Augen zurück, drückte
meine Hand krampfhaft und flüsterte nachher beschämt: »Ja, das hat mir
fast nasse Augen gemacht. Sakrisch fein ist's.«

Die Sopranrolle hatte ich noch nicht singen hören. Nun war es mir
merkwürdig und wehmütig, sie zum erstenmal von einer fremden Stimme
zu vernehmen. Die Sängerin machte es gut und ich sagte ihr sogleich
meinen Dank, aber im Herzen dachte ich an die Nachmittage, da Gertrud
diese Worte gesungen hatte, und hatte ein Gefühl uneingestandenen
traurigen Mißbehagens, wie wenn man ein liebes Besitztum weggegeben hat
und nun zum erstenmal in fremden Händen sieht.

Gertrud sah ich in diesen Tagen wenig, sie beobachtete mein Fieber
lächelnd und ließ mich in Ruhe. Ich hatte mit den Teisers einen Besuch
bei ihr gemacht, da hatte sie Brigitte, die zu der schönen, vornehmen
Frau bewundernd aufsah, mit heiterer Zärtlichkeit aufgenommen. Seither
schwärmte das Mädchen für die schöne Frau und sang ihr Lob, in das auch
der Bruder einstimmte.

An die beiden Tage vor der Aufführung kann ich mich nicht mehr genau
erinnern, es war alles in mir durcheinander geraten. Dazu kamen andere
Aufregungen, ein Sänger wurde heiser, ein anderer war beleidigt, keine
größere Rolle zu haben, und benahm sich bei den letzten Proben sehr
übel, der Dirigent wurde immer gemessener und kälter, je mehr ich noch
zu sagen hatte. Muoth stand mir gelegentlich bei, lächelte seelenruhig
zu dem Tumult und war mir in dieser Lage mehr wert als der gute Teiser,
der wie ein Feuerteufel hin und wider fuhr und überall zu mäkeln
hatte. Brigitte sah mich ehrfurchtsvoll, doch auch mit einigem Bedauern
an, wenn wir in ruhigen Stunden gedrückt und ziemlich schweigsam im
Hotel beisammen saßen.

Nun, die Tage vergingen und es kam der Abend der Aufführung. Während
sich das Haus füllte, stand ich hinter der Bühne, ohne doch mehr
das Geringste tun oder raten zu können. Schließlich hielt ich mich
zu Muoth, der schon im Kostüm war und in einem Stübchen oder Winkel
abseits des Lärmens langsam eine halbe Flasche Champagner leerte.

»Willst du ein Glas?« fragte er teilnehmend.

»Nein,« sagte ich. »Regt dich denn das nicht auf?«

»Was? Der Spektakel draußen? Das ist immer so.«

»Ich meine den Sekt.«

»O nein, der macht mich ruhig. Ein Glas oder zwei nehme ich immer, wenn
ich etwas leisten will. Aber jetzt geh, es wird Zeit.«

Ich wurde von einem Diener in eine Loge gebracht, wo ich schon Gertrud
und beide Teisers sowie einen hohen Herrn von der Theaterleitung
antraf, der lächelnd grüßte.

Gleich darauf hörten wir das zweite Glockenzeichen. Gertrud schaute
mich freundlich an und nickte mir zu. Teiser, der hinter mir saß,
ergriff meinen Arm und kniff mich verzweifelt. Das Haus wurde dunkel
und aus der Tiefe stieg feierlich meine Ouvertüre zu mir herauf. Jetzt
wurde ich ruhiger.

Und jetzt erhob sich und erklang vor mir wohlbekannt und doch fremd
mein Werk, das meiner nimmer bedurfte und sein eigenes Leben hatte.
Lust und Mühe der vergangenen Tage, Hoffnungen und schlaflose Nächte,
Leidenschaft und Sehnsucht jener Zeit standen losgelöst und verkleidet
mir gegenüber, die Erregungen heimlicher Stunden klangen frei und
werbend in das Haus an tausend fremde Herzen. Muoth kam und hob mit
geschonter Kraft an, wuchs und gab sich her und sang mit seiner
dunklen, unwilligen Glut, und die Sängerin gab Antwort in hohen,
schwebenden, lichten Tönen. Da kam eine Stelle, die hatte ich noch
genau so im Ohr, wie ich sie von Gertrud einmal gehört hatte, und sie
war eine Huldigung für sie und ein leises Bekenntnis meiner Liebe
gewesen. Ich wandte den Blick und sah ihr in die stillen, reinen Augen,
die mich verstanden und freundlich grüßten, und in einem Augenblick
fühlte ich den ganzen Sinn meiner Jugend wie den feinen Duft einer
reifen Frucht mich berühren.

Von da an war ich ruhig und sah und hörte zu wie ein Gast. Beifall
klang herauf, die Sänger und Sängerinnen erschienen am Vorhang und
verneigten sich, Muoth wurde häufig gerufen und lächelte kühl ins
erleuchtete Haus hinab. Man drang auch in mich, daß ich mich zeigen
solle; doch war ich allzu benommen und hatte auch keine Lust, aus
meiner angenehmen Verborgenheit hervorzuhinken.

Teiser hingegen lachte wie eine Morgensonne, umarmte mich und
schüttelte auch dem hohen Herrn von der Theaterleitung unverlangt beide
Hände.

Das Bankett war bereit und hätte uns auch nach einem Mißerfolg
erwartet. Wir fuhren in Wagen hin, Gertrud mit ihrem Mann, ich mit
den Teisers. Auf der kurzen Fahrt begann Brigitte, die noch kein Wort
gesagt hatte, plötzlich zu weinen. Sie wehrte sich anfangs und wollte
widerstehen, hielt aber dann die Hände vors Gesicht und ließ die
Tränen laufen. Ich mochte nichts sagen und war verwundert, daß Teiser
gleichfalls schwieg und keine Frage an sie tat. Er legte nur den Arm um
sie und brummte wohlwollend und tröstend, wie man ein Kind beruhigt.

Als nachher das Händeschütteln und die Glückwünsche und Trinksprüche
kamen, blinzte Muoth mich sarkastisch an. Man fragte angelegentlich
nach meiner nächsten Arbeit und war enttäuscht als ich sagte, es sei
ein Oratorium. Dann stieß man auf meine nächste Oper an, die aber bis
heute nicht geschrieben ist.

Erst sehr spät in der Nacht, als wir uns losgemacht hatten und schlafen
gingen, konnte ich Teiser fragen, was seiner Schwester fehle und warum
sie geweint habe. Sie selber war längst zu Bett gegangen. Mein Freund
sah mich prüfend und etwas verwundert an, schüttelte den Kopf und
pfiff, bis ich meine Frage wiederholte.

»Du bist doch ein Huhn, ein blindes,« sagte er dann vorwurfsvoll. »Hast
du denn nie was gemerkt?«

»Nein,« sagte ich mit aufsteigender Ahnung der Wahrheit.

»Nun, ich darf es schon sagen. Das Mädel hat dich gern gehabt, schon
lang. Natürlich, sie hat mirs nie gesagt, so wenig wie dir, aber
gemerkt hab ich's und, offen gestanden, gefreut hätte mich's, wenn's
was geworden wär.«

»O weh!« sagte ich, aufrichtig traurig. »Aber was war nun das heut
abend?«

»Daß sie geheult hat? Du bist doch ein Kind! Ja meinst, wir hätten
nichts gesehen?«

»Was denn?«

»Lieber Gott! Du brauchst mir ja nichts davon zu sagen und es ist
recht, daß du's nie getan hast; aber dann hättest du auch die Frau
Muoth nicht so anschauen sollen. Jetzt wissen wir's eben.«

Ich bat ihn nicht, mein Geheimnis zu schonen, ich war seiner sicher.
Leise legte er mir seine Hand auf die Schulter.

»Ich kann mir jetzt auch allerlei denken, Freundl, was du in diesen
Jahren geschluckt und uns verschwiegen hast. Es ist mir früher auch
einmal ähnlich gegangen. Wir wollen jetzt brav zusammenhalten und
schöne Musik machen, gelt? Und schauen, daß das Mädel sich tröstet. Da,
gib mir die Hand, schön ist's gewesen! Und auf Wiedersehen daheim! Ich
fahr' mit dem Mädel morgen in der Frühe.«

Damit trennten wir uns, doch kam er nach wenigen Augenblicken noch
einmal zurückgelaufen und sagte eindringlich: »Du, bei der nächsten
Aufführung muß aber die Flöte wieder rein, gelt?«

So endete der Freudentag, und jeder von uns lag noch lange erregt in
Gedanken wach. Ich dachte an Brigitte. Die war nun alle diese Zeit in
meiner Nähe gewesen und ich hatte nichts als gute Kameradschaft mit
ihr gehabt und haben wollen, gerade wie Gertrud mit mir, und als sie
meine Liebe zu der andern erraten hatte, war es für sie dasselbe wie es
damals für mich gewesen war, als ich den Brief bei Muoth entdeckte und
den Revolver lud. Und so traurig es mich machte, mußte ich doch darüber
lächeln.

Die Tage, die ich noch in München blieb, brachte ich zumeist bei Muoths
hin. Es war kein Zusammensein mehr wie jene ersten Nachmittage, da
wir drei zuerst miteinander gespielt und gesungen hatten; aber es gab
doch im Nachglanz der Aufführung ein wortloses, gemeinsames Denken an
jene Zeit und ein gelegentliches Aufleuchten auch zwischen ihm und
Gertrud. Als ich Abschied genommen hatte, sah ich von draußen noch
eine Weile auf das stille Haus in den winterlichen Bäumen, hoffte dort
noch manchmal einzukehren und hätte gern mein bißchen Zufriedenheit
und Glück hingegeben, um den beiden drinnen von neuem und für immer
zueinander zu helfen.



Nach der Heimkehr empfing mich, wie Heinrich mir vorausgesagt hatte,
der Ruf des Erfolges mit vielen unangenehmen und zum Teil lächerlichen
Folgen. Die Geschäfte waren leicht abzuwälzen, indem ich die Oper einem
Agenten überließ. Aber es kamen auch Besuche, Zeitungsleute, Verleger,
törichte Briefe, und es dauerte einige Zeit, bis ich mich an die
kleinen Lasten eines rasch bekannt gewordenen Namens gewöhnte und mich
von der ersten Enttäuschung erholte. Die Menschen machen ihre Rechte
an einen bekannt gewordenen Namen auf merkwürdige Art geltend, da ist
kein Unterschied zwischen Wunderkind, Komponist, Dichter, Raubmörder.
Der eine will sein Bild haben, der andere seine Handschrift, der
dritte bettelt um Geld, jeder junge Kollege schickt seine Arbeiten
ein, schmeichelt gewaltig und bittet um ein Urteil, und antwortet man
nicht oder sagt man seine Meinung, so wird derselbe Verehrer plötzlich
bitter, grob und rachsüchtig. Die Zeitschriften wollen das Bild des
Mannes abdrucken, die Zeitungen erzählen von seinem Leben, seiner
Herkunft, seinem Aussehen. Schulkameraden bringen sich in Erinnerung
und entfernte Verwandte wollen schon vor Jahren gesagt haben, daß ihr
Vetter noch einmal berühmt werde.

Unter den Briefen dieser Art, die mich in Verlegenheit und Bedrängnis
brachten, war auch einer von Fräulein Schniebel, der uns belustigte,
und einer von jemand, an den ich lange nimmer gedacht hatte. Es war die
hübsche Liddy, die mir schrieb, jedoch ohne unserer Schlittenfahrt zu
erwähnen, sondern ganz im Tone einer alten treuen Freundin. Sie hatte
einen Musiklehrer in ihrer Heimat geheiratet und gab mir ihre Adresse,
damit ich recht bald alle meine Kompositionen mit einer hübschen
Widmung an sie schicken könne. Sie legte ihr Bildnis bei, das jedoch
die wohlbekannten Züge gealtert und vergröbert zeigte, und ich gab ihr
möglichst freundlich Antwort.

Doch gehören diese kleinen Dinge zum Untergesunkenen, das keine Spuren
läßt. Auch die guten und herrlichen Früchte meines Erfolges, die
Bekanntschaft mit edlen und feinen Menschen, die die Musik im Herzen
und nicht nur im Munde haben, gehören nicht zu meinem eigentlichen
Leben, das nach wie vor in der Stille blieb und sich seither wenig mehr
verändert hat. Es bleibt mir nur übrig zu erzählen, welche Wendung das
Schicksal meiner nächsten Freunde genommen hat.

Der alte Herr Imthor sah nicht mehr so viel Gesellschaft wie früher,
als Gertrud dagewesen war. Aber es gab in seinem Hause zwischen
den vielen Bildern alle drei Wochen einen Abend mit auserwählter
Kammermusik, den ich regelmäßig besuchte. Ich brachte zuweilen
auch Teiser dahin mit. Doch hielt Imthor darauf, daß ich ihn auch
sonst besuche. So kam ich manchmal früh am Abend, das war seine
Lieblingsstunde, zu ihm in sein einfaches Schreibzimmer, wo ein Bild
von Gertrud hing, und da es allmählich zwischen dem alten Herrn und mir
zu einem äußerlich kühlen, doch haltbaren Verständnis und Redebedürfnis
gekommen war, kam unser Gespräch nicht selten auf das, was uns beide
im Herzen am meisten beschäftigte. Ich mußte von München erzählen
und verschwieg nicht, welchen Eindruck ich vom Verhältnis der Gatten
bekommen hatte. Er nickte dazu.

»Es kann wohl noch alles gut werden«, sagte er seufzend, »aber wir
können nichts dazu tun. Ich freue mich auf den Sommer, da habe ich das
Kind zwei Monate für mich. In München besuche ich sie selten und nicht
gerne, sie hält sich auch so tapfer, daß ich sie nicht stören und weich
machen darf.«

Gertruds Briefe brachten nichts Neues. Als sie aber in der Zeit um
Ostern zu Besuch beim Alten war und auch uns in unserem Häuschen
besuchte, sah sie mager und gespannt aus, und so sehr sie mit uns
freundlich war und sich zu verstecken suchte, sahen wir doch oft in
ihren ernst gewordenen Augen eine ungewohnte Hoffnungslosigkeit stehen.
Ich mußte ihr meine neue Musik spielen, aber als ich sie bat uns etwas
zu singen, schüttelte sie den Kopf und sah mich abwehrend an.

»Ein andermal wieder«, sagte sie unsicher.

Wir sahen alle, daß es ihr nicht gut ging, und ihr Vater gestand mir
nachher, er habe ihr vorgeschlagen, ganz bei ihm zu bleiben, doch habe
sie es nicht angenommen.

»Sie liebt ihn«, sagte ich.

Er zuckte die Achseln und sah mich bekümmert an. »Ach, ich weiß nicht.
Wer will sich in dem Elend noch auskennen! Aber sie hat gesagt, es sei
seinetwegen, daß sie bei ihm bleibe, er sei so zerstört und unglücklich
und brauche sie mehr als er selber wisse. Ihr sage er nichts, aber es
stehe ihm im Gesicht geschrieben.«

Dann senkte der Alte die Stimme und sagte ganz leise und beschämt: »Sie
meint, er trinke.«

»Ein wenig hat er das immer getan«, sagte ich tröstend, »aber ich
habe ihn nie betrunken gesehen. Er hält auf sich. Er ist ein nervöser
Mensch, der sich nicht in der Zucht hat, aber an seinem Wesen selber
vielleicht mehr leidet als er andre leiden macht.«

Wie furchtbar die beiden schönen, herrlichen Menschen in der Stille
litten, wußten wir alle nicht. Ich glaube nicht, daß sie jemals
aufgehört haben einander zu lieben. Aber im Grunde ihres Wesens
gehörten sie nicht zusammen, sie fanden sich nur in Erregung und im
Glanz gesteigerter Stunden. Das heiter ernste Hinnehmen des Lebens,
das beruhigte Atmen in der Klarheit des eigenen Wesens hatte Muoth nie
gekannt, und Gertrud konnte sein Stürmen und Brüten, sein Fallen und
Wiederaufstehen, seinen ewigen Durst nach Selbstvergessen und Rausch
nur dulden und bemitleiden, nicht ändern und nicht mitleben. So liebten
sie einander und kamen doch nie ganz zusammen, und während er seine
stille Hoffnung betrogen sah, durch Gertrud zu Frieden und Genügen
zu kommen, mußte sie sehen und leiden, daß ihr Wille und ihr Opfer
vergebens war, und daß auch sie ihn nicht trösten und vor sich selbst
retten konnte. So war ihnen beiden der geheime Traum und sehnlichste
Wunsch zerstört, sie konnten nur mit Opfern und Schonung beisammen
bleiben, und es war tapfer, daß sie es taten.

Ich sah Heinrich erst im Sommer wieder, als er Gertrud zu ihrem Vater
brachte. Da war er mit ihr und mit mir zart und behutsam, wie ich
ihn nie gesehen hatte, und ich merkte wohl, wie er sie zu verlieren
fürchtete, und ich fühlte auch, daß er den Verlust nicht ertragen
würde. Sie aber war müde und verlangte nichts als Ruhe und stille Tage,
um sich wiederzufinden und wieder Kraft und Gleichmut zu gewinnen.
Wir brachten einen lauen Abend bei uns im Garten zu. Da saß Gertrud
zwischen meiner Mutter und Brigitte, deren Hand sie hielt, Heinrich
ging leise zwischen den Rosen hin und wider und ich spielte mit Teiser
auf der Terrasse eine Geigensonate. Wie da Gertrud stille ruhte und
den Frieden der Stunde atmete, und wie Brigitte verehrend sich an
die schöne leidende Frau schmiegte, und wie Muoth geneigt mit leisen
Schritten draußen im Schatten ging und horchte, das ist mir als ein
unverlierbares Bild in der Seele geblieben. Nachher sagte Heinrich
leise scherzend, aber mit traurigen Augen zu mir: »Wie da die drei
Frauen beieinander sitzen! Und glücklich sieht von allen dreien nur
deine Mutter aus. Wir wollen sehen, daß wir auch so alt werden.«

Dann reisten wir auseinander, Muoth allein nach Bayreuth, Gertrud
mit ihrem Vater in die Berge, die Teisers nach Steiermark und ich
mit meiner Mutter wieder an die Nordsee. Da ging ich oft am Strande
und hörte dem Meere zu und dachte nicht anders als ich es vor Jahren
in der ersten Jugend getan hatte, mit Verwunderung und Grauen an die
traurig närrischen Wirrnisse des Lebens, daß Liebe vergebens sein kann,
und daß Menschen, die es gut miteinander meinen, doch einer am andern
vorbei ihr Schicksal leben, jeder sein eigenes, unbegreifliches, und
wie jeder den andern helfen und nahe sein möchte und nicht kann, wie in
sinnlosen trüben Angstträumen. Und ich dachte oft auch wieder an Muoths
Worte über Jugend und Alter und war neugierig, ob auch mir einmal das
Leben einfach und klar werden würde. Meine Mutter lächelte dazu, wenn
ich im Gespräch daran rührte, und sah wirklich zufrieden aus. Und sie
erinnerte mich zu meiner Beschämung an meinen Freund Teiser, der noch
nicht alt war und doch alt genug, um seinen Teil erfahren zu haben, und
der als ein Kind mit einer Mozartmelodie auf den Lippen unbeschwert
dahin lebte. Es lag nicht am Alter, das sah ich wohl, und vielleicht
war unser Leid und Nichtwissen doch nur jene Krankheit, von der mir
einst Herr Lohe gesprochen hatte. Oder war auch dieser Weise eben ein
Kind wie Teiser?

Allein so oder so, mein Denken und Brüten änderte nichts. Wenn mir
Musik die Seele bewegte, dann verstand ich ohne Worte doch alles,
fühlte in der Tiefe alles Lebens reine Harmonien und glaubte zu wissen,
daß ein Sinn und schönes Gesetz in allem Geschehen verborgen sei. Wenn
es auch eine Täuschung war, ich lebte doch darin und war darin beglückt.

Vielleicht wäre es besser gewesen, Gertrud hätte sich für den Sommer
nicht von ihrem Mann getrennt. Sie begann zwar sich zu erholen und sah
wirklich im Herbst, als ich sie nach der Reise wiedersah, gesünder
und widerstandsfähiger aus. Aber die Hoffnungen, die wir auf diese
Kräftigung bauten, waren Täuschungen.

Gertrud hatte es nun einige Monate bei ihrem Vater gut gehabt, sie
hatte ihrem Bedürfnis nach Ruhe nachgeben können und sich diesem
stillen Zustand ohne tägliche Kämpfe aufatmend überlassen, wie sich ein
Ermüdeter dem Schlaf überläßt, sobald man ihn liegen läßt. Es zeigte
sich aber jetzt, daß sie tiefer erschöpft war als wir geglaubt und als
sie selber gewußt hatte. Denn jetzt, wo Muoth sie bald wieder abholen
sollte, verfiel sie in mutlose Angst, verlor den Schlaf und bat ihren
Vater flehentlich, sie noch einige Zeit bei sich zu behalten.

Natürlich war Imthor zwar etwas erschreckt, da er hatte glauben
müssen, sie freue sich darauf mit neuer Kraft und neuem Willen zu
Muoth zurückzukehren; doch widersprach er nicht und legte ihr sogar
vorsichtig den Gedanken an eine vorläufige längere Trennung als
Einleitung zu einer späteren Scheidung nahe. Allein dagegen wehrte sie
sich mit großer Erregung.

»Ich liebe ihn doch!« rief sie heftig, »und will ihm niemals untreu
werden. Es ist nur so schwer, mit ihm zu leben! Ich will nur noch ein
wenig Ruhe haben, ein paar Monate vielleicht, bis ich wieder besseren
Mut habe.«

Der alte Imthor suchte sie zu beruhigen und hatte selber gar nichts
dagegen, sein Kind noch eine Weile behalten zu dürfen. Er schrieb an
Muoth, Gertrud sei noch leidend und wünsche noch einige Zeit zu Hause
zu bleiben. Leider nahm dieser die Nachricht nicht leicht. In ihm war
während der Trennungszeit die Sehnsucht nach seiner Frau überstark
geworden, er hatte sich auf sie gefreut und war voll guter Vorsätze,
sie wieder ganz zu gewinnen und zu eigen zu bekommen.

Nun traf ihn Imthors Brief als eine schwere Enttäuschung. Er
schrieb sogleich leidenschaftlich zurück, voll Argwohn gegen den
Schwiegervater. Er glaubte, dieser habe gegen ihn gearbeitet, da er die
Trennung der Ehe wünsche, und verlangte eine sofortige Zusammenkunft
mit Gertrud, auf deren Wiedergewinnung er sicher hoffte. Der Alte
kam mit dem Briefe zu mir und wir überlegten lange, was zu tun sei.
Es schien uns beiden richtig, daß eine Zusammenkunft der Gatten im
Augenblick vermieden werde, da Gertrud offenbar jetzt keine Stürme
ertragen konnte. Imthor war voll Besorgnis und bat mich, selber zu
Muoth zu reisen und ihm zuzureden, er möge Gertrud für eine Weile in
Ruhe lassen. Ich weiß jetzt, daß ich das hätte tun sollen. Damals hatte
ich Bedenken und hielt es für gefährlich, meinen Freund wissen zu
lassen, daß ich der Vertraute seines Schwiegervaters und mit Dingen
seines Lebens bekannt sei, in die er mich nicht selber hatte einweihen
wollen. Ich weigerte mich denn und es blieb bei einem Brief des Alten,
der natürlich nichts besserte.

Vielmehr kam Muoth, ohne sich anzumelden, selber hergereist und
erschreckte uns alle durch die kaum gezügelte Leidenschaft seiner Liebe
und seines Argwohns. Gertrud, die von dem kurzen Briefwechsel nichts
wußte, war von dem Besuch des noch nicht Erwarteten und von seiner
fast zornigen Erregung völlig überrascht und benommen. Es gab einen
peinlichen Auftritt, von dem ich wenig erfahren konnte. Ich weiß nur:
Muoth drang in Gertrud, sie möge mit ihm nach München zurückkehren.
Sie erklärte sich bereit zu folgen, wenn es nicht anders sein könne,
bat aber, sie noch länger bei ihrem Vater zu lassen, sie sei müde und
brauche noch Ruhe. Nun warf er ihr vor, sie wolle sich ihm entziehen
und sei vom Vater aufgestiftet, wurde bei ihren sanften Erklärungen
noch mißtrauischer und war in seinem Anfall von Zorn und Bitterkeit so
töricht, ihr kurzerhand die Rückkehr zu ihm zu befehlen. Darauf empörte
sich ihr Stolz, sie blieb ruhig, weigerte sich aber, ihn weiter
anzuhören und erklärte nun auf alle Fälle hier zu bleiben. Auf diese
Szene war am nächsten Morgen eine Art von Versöhnung gefolgt und Muoth
hatte, beschämt und reuig, nun alle ihre Wünsche gebilligt. Dann war er
wieder abgereist, ohne bei mir vorgesprochen zu haben.

Als ich das hörte, erschrak ich und sah das Übel kommen, das ich von
Anfang an gefürchtet hatte. Auf den häßlichen und törichten Auftritt
hin, dachte ich mir, mochte es nun lange dauern, bis sie die Heiterkeit
und den Mut zur Rückkehr wiederfinden würde. Und er war inzwischen in
Gefahr, zu verwildern und ihr trotz aller Sehnsucht noch fremder zu
werden. Er würde, allein in dem Hause, in dem er eine Weile glücklich
gewesen war, es nicht lange aushalten, er würde verzweifeln, trinken,
vielleicht wieder andere Frauen nehmen, die ihm ohnehin nachliefen.

Indessen blieb es still, er schrieb an Gertrud und bat nochmals
um Verzeihung, sie gab ihm Antwort und mahnte voll Mitleid und
Freundlichkeit zur Geduld. Ich sah sie um diese Zeit wenig. Zuweilen
machte ich den Versuch, sie zum Singen zu bewegen, sie schüttelte aber
stets den Kopf. Doch traf ich sie mehrmals am Flügel.

Es war mir merkwürdig und unheimlich, die schöne stolze Frau, die ich
immer voll Kraft und Heiterkeit und innerer Ruhe gesehen hatte, nun
scheu und im Kern ihres Empfindens erschüttert zu finden. Manchmal kam
sie zu meiner Mutter, fragte freundlich nach unsrem Ergehen, saß neben
der alten Frau eine kleine Weile auf dem grauen Divan und versuchte zu
plaudern, und ich hörte mit brechendem Herzen zu und sah, wie sie Mühe
hatte, ein Lächeln aufzubringen. Der Schein wurde aufrecht erhalten,
als wisse weder ich noch irgend jemand von ihrem Leid oder als hielten
wir es nur für Nervosität und äußere Schwäche. So vermochte ich kaum
ihr in die Augen zu blicken, in denen der uneingestandene Jammer, von
dem ich nichts wissen sollte, so deutlich geschrieben stand. Und wir
sprachen und lebten und gingen aneinander vorbei, als wäre alles wie
immer, und schämten uns doch vor einander und wichen einander aus! und
mitten in dieser traurigen Wirrnis des Fühlens packte mich hie und da
mit plötzlicher Fieberglut die Vorstellung, daß ihr Herz ihrem Manne
nicht mehr gehöre und frei sei, und daß es nun an mir sei, sie nicht
abermals verloren gehen zu lassen, sondern sie für mich zu gewinnen
und vor allem Sturm und Leide an meinem Herzen zu bergen. Dann schloß
ich mich ein, spielte die heiße werbende Musik meiner Oper, die ich
plötzlich wieder liebte und verstand, lag glühende Nächte verlangend
und dürstend und litt alle lächelnd überwundene Qual der Jugend und
unerfüllbaren Begehrens noch einmal und nicht minder schwer als damals,
da ich zuerst für sie gebrannt und ihr jenen einzigen, unvergessenen
Kuß gegeben hatte. Der loderte mir wieder auf den Lippen und sengte die
Ruhe und Entsagung von Jahren in Stunden zu Asche.

Nur in Gertruds Gegenwart sank die Flamme in sich zusammen. Selbst
wenn ich töricht und unedel genug gewesen wäre, meinem Verlangen zu
folgen und ohne Rücksicht auf ihren Mann, der mein Freund war, um ihr
Herz zu werben, ich hätte unter den Blicken dieser leidenden, zarten,
eigensinnig in ihren Schmerz verbissenen Frau mich schämen müssen, ihr
anders als mit Mitleid und vorsichtiger Schonung entgegen zu kommen.
Auch wurde sie, je mehr sie litt und vielleicht an Hoffnung verlor,
desto stolzer und unnahbarer. Sie trug ihre hohe Gestalt und den
feinen, dunkelblonden Kopf so steil und nobel wie nie und erlaubte
keinem von uns durch die leiseste Geberde ihr nahe zu treten und
tragen zu helfen.

Diese langen schweigsamen Wochen sind vielleicht die schwersten in
meinem Leben gewesen. Hier Gertrud, mir nahe und doch unerreichbar, und
kein Weg zu ihr, die allein bleiben wollte; dort Brigitte, von deren
Liebe zu mir ich wußte und mit der nach längerem Vermeiden langsam
wieder ein erträglicher Umgang sich anspann; und zwischen uns allen
meine alte Mutter, die uns leiden sah und alles ahnte und sich nichts
zu sagen getraute, da ich selber hartnäckig schwieg und es nicht über
mich vermochte, ein Wort von meinem Zustande zu sagen. Das schlimmste
war aber dieses tödliche Zusehenmüssen, die hilflose Überzeugung, daß
meine nächsten Freunde sich zugrunde richteten, ohne daß ich nur merken
lassen durfte, ich wisse darum.

Am schwersten schien Gertruds Vater zu leiden. Seit ich ihn vor Jahren
als einen klugen, strammen, stillheiteren alten Herrn hatte kennen
lernen, war er älter geworden, anders geworden, sprach leiser und
unruhiger, machte keine Scherze mehr und sah sorgenvoll und elend aus.
Ich ging eines Tages im November zu ihm, mehr um Neues zu hören und
selber Hoffnung zu schöpfen, als ihm tröstliche Gesellschaft zu leisten.

Er empfing mich in seiner Schreibstube, gab mir eine von seinen
kostbaren Zigarren und begann die Unterhaltung in einem höflich
leichten Ton, der ihm Mühe machte und den er bald fallen ließ. Mit
betrübtem Lächeln sah er mich an und sagte: »Sie wollen fragen, wie
es geht? Schlecht, lieber Herr, schlecht. Das Kind hat wohl mehr
getragen als wir wissen, sonst fände sie sich besser zurecht. Ich bin
entschieden für eine Scheidung, aber sie will nichts davon hören. Sie
liebt ihn, wenigstens sagt sie es, und hat doch Furcht vor ihm! Das ist
nicht gut. Sie ist krank, das Kind, sie macht die Augen zu, will nichts
mehr sehen und meint, es müsse schon besser werden, wenn man nur warte
und sie in Ruhe lasse. Das ist ja nervös, natürlich, aber sie scheint
doch tiefer krank zu sein. Denken Sie, sie fürchtet manchmal sogar,
ihr Mann möchte sie mißhandeln, wenn sie wieder zu ihm ginge! Und doch
meint sie ihn zu lieben.«

Er schien sie nicht zu verstehen und sah den Dingen hilflos zu. Mir war
ihr Leiden wohl begreiflich, als ein Kampf zwischen Liebe und Stolz.
Sie fürchtete nicht, von ihm geschlagen zu werden; sie fürchtete,
ihn nicht mehr achten zu können, und in ihrem ängstlichen Warten
hoffte sie wieder Kraft zu finden. Sie hatte ihn beherrscht und im
Bann gehalten, sich dabei aber so erschöpft, daß sie ihrer Kraft dazu
nicht mehr traute; das war ihre Krankheit. Nun sehnte sie sich nach
ihm und fürchtete doch ihn ganz zu verlieren, wenn ein neuer Versuch
des Zusammenlebens nicht gelänge. Ich sah nun deutlich, wie unnütz und
verblendet meine frechen Liebesphantasien gewesen waren; Gertrud liebte
ihren Mann und würde nie mit einem andern gehen.

Der alte Imthor vermied es, über Muoth zu sprechen, da er mich ihm
befreundet wußte. Aber er haßte ihn und konnte nicht begreifen, wie
er Gertrud habe betören können, er dachte an ihn wie an einen bösen
Zauberer, der Unschuldige einfängt und nimmer hergibt. Nun, die
Leidenschaft ist immer ein Rätsel und unerklärbar, und leider ist es
gewiß, daß das Leben seine schönsten Kinder nicht schont und daß häufig
die herrlichsten Menschen gerade das lieben müssen, was sie zugrunde
richtet.

In dieser Trübe traf mich ein kurzer Brief von Muoth wie eine Erlösung.
Er schrieb: »Lieber Kuhn! Deine Oper wird ja jetzt überall gespielt,
vielleicht besser als hier. Es wäre trotzdem hübsch, wenn Du wieder
einmal kämest, zum Beispiel nächste Woche, wo ich Deine Rolle zweimal
singe. Du weißt, meine Frau ist krank und ich bin allein hier. Du
würdest also ungeniert bei mir wohnen. Bring aber niemand mit! Herzlich
Dein Muoth.«

Er schrieb so selten Briefe und so gar nie unnötige, daß ich sofort
entschlossen war zu reisen. Er mußte mich nötig haben. Einen Augenblick
hatte ich den Gedanken, es Gertrud mitzuteilen. Vielleicht war das die
rechte Gelegenheit den Bann zu brechen, vielleicht würde sie mir einen
Brief oder ein gutes Wort für ihn mitgeben, vielleicht ihn herbitten,
vielleicht sogar selber mitkommen. Es war nur ein Einfall, und ich
führte ihn nicht aus. Ich besuchte nur ihren Vater vor der Abreise.

Es war ein schlechter, nasser und stürmischer Spätherbst, von München
aus sah man zuweilen für eine Stunde die nahen Berge im jungen Schnee
liegen, die Stadt war trüb und verregnet. Ich fuhr sogleich nach Muoths
Hause. Da war alles wie vor einem Jahre, derselbe Diener, dieselben
Räume, dieselbe Stellung der Möbel, nur sah alles unbewohnt und leer
aus, auch fehlten die Blumen, für welche Gertrud sonst gesorgt hatte.
Muoth war nicht da, der Diener führte mich in mein Zimmer und half
mir auspacken; ich kleidete mich um und ging, da der Hausherr noch
ausblieb, in das Musikzimmer hinab, wo ich hinter den Doppelfenstern
die Bäume brausen hörte und Zeit hatte, an Vergangenes zu denken. Je
länger ich saß und die Bilder anschaute und in Büchern herumblätterte,
desto trauriger ward mir ums Herz, als sei diesem Hause nicht mehr
zu helfen. Unwillig setzte ich mich an den Flügel, um die nutzlosen
Gedanken los zu werden, und ich spielte mein Hochzeitspräludium, als
könne ich damit das gewesene Gute zurückrufen.

Endlich hörte ich rasche, schwere Tritte nebenan und Heinrich Muoth kam
herein. Er bot mir die Hand und sah mich ermüdet an.

»Verzeih,« sagte er, »ich hatte im Theater zu tun. Du weißt ja, ich
singe heut abend. Wir wollen jetzt essen, nicht?«

Er ging voran und ich fand ihn verändert, er war zerstreut und
gleichgültig, sprach nur vom Theater und schien kein andres Gespräch
zu wünschen. Erst nach Tische, als wir schweigsam und beinahe verlegen
in den gelben Rohrsesseln einander gegenüber saßen, fing er unerwartet
an: »Das ist schön von dir, daß du gekommen bist! Ich will mich auch
heut abend extra anstrengen.«

»Danke,« sagte ich. »Du siehst nicht gut aus.«

»Meinst du? Nun, wir wollen schon vergnügt sein. Ich bin ja
Strohwitwer, weißt du.«

»Ja.«

Er blickte zur Seite.

»Du weißt nichts von Gertrud?«

»Nichts besonderes. Sie ist eben immer noch nervös und schläft nicht
gut --«

»Ja, lassen wir's! Sie ist ja bei euch in guten Händen.«

Er stand auf und ging durchs Zimmer. Es schien, als ob er noch etwas
sagen wolle, er sah mich prüfend und, wie es mir vorkam, mißtrauisch an.

Dann lachte er und ließ es ungesagt.

»Die Lotte ist auch wieder aufgetaucht,« begann er von neuem.

»Die Lotte?«

»Ja, die damals bei dir war und mich verklagt hat. Sie ist hier und
verheiratet, und es scheint, sie interessiert sich noch für mich. Sie
war da und hat einen richtigen Besuch gemacht.«

Er sah mich wieder listig an und lachte, als er mich erschrecken sah.

»Hast du sie empfangen?« fragte ich zögernd.

»Ah, du traust es mir zu! Nein, Werter, ich habe sie fortschicken
lassen. Aber verzeih, ich rede dummes Zeug. Ich bin so verdammt müde,
und abends muß ich singen. Wenn du erlaubst, lege ich mich drüben für
eine Stunde hin und schlafe.«

»Gut, Heinrich, ruh dich aus, ich fahre ein wenig in die Stadt. Willst
du mir einen Wagen kommen lassen?«

Ich mochte nicht wieder stumm in diesem Hause sitzen und dem Wind in
den Bäumen zuhören. Ich fuhr in die Stadt, ohne Ziel, und geriet in die
alte Pinakothek. Dort schaute ich eine halbe Stunde lang bei dem trüben
grauen Licht die alten Bilder an, dann wurde geschlossen und ich wußte
nichts Besseres, als in einem Café die Zeitungen zu lesen und durch die
hohen Scheiben auf die verregnete Straße zu schauen. Ich nahm mir vor,
um jeden Preis diese Kühle zu durchbrechen und aufrichtig mit Heinrich
zu reden.

Aber als ich zurückkehrte, fand ich ihn lächelnd und wohlgelaunt.

»Es hat nur am Schlaf gefehlt,« sagte er munter. »Jetzt bin ich wieder
ganz frisch. Du mußt mir etwas spielen, gelt? Das Präludium, wenn du so
gut sein willst.«

Erfreut und erstaunt, ihn so rasch verändert zu sehen, tat ich ihm den
Willen, und nach dem Spielen plauderte er wie früher, mit Ironie und
leiser Skepsis, ließ seine Laune farbig spielen und gewann mein Herz
wieder ganz. Die erste Zeit unserer Freundschaft fiel mir ein, und als
wir abends das Haus verließen, schaute ich mich unwillkürlich um und
fragte: »Du hast keine Hunde mehr?«

»Nein. -- Gertrud mochte sie nicht.«

Wir fuhren nun schweigend ins Theater. Ich begrüßte den Kapellmeister
und ließ mir einen Platz anweisen. Wieder hörte ich die wohlbekannte
Musik, doch war alles anders als das letztemal. Ich saß allein in
meiner Loge, Gertrud war fort, und der da unten spielte und sang,
war auch ein anderer. Er sang mit Leidenschaft und Gewalt, das
Publikum schien ihn in dieser Rolle zu lieben und ging von Anfang an
lebhaft mit. Mir aber schien sein Feuer übertrieben und seine Stimme
gesteigert, beinahe roh. In der ersten Pause ging ich hinab und suchte
ihn auf. Da saß er wieder in seiner Kammer und trank Champagner, und
bei den paar Worten, die wir wechselten, waren seine Augen unstet,
wie die eines Angetrunkenen. Ich suchte nachher, während Muoth sich
umkleidete, den Kapellmeister auf.

»Sagen Sie,« bat ich ihn, »ist Muoth krank? Mir scheint, er hat sich
mit Champagner aufrecht gehalten. Sie wissen, er ist mein Freund.«

Der Mann sah mich zweifelnd an.

»Ob er krank ist, weiß ich nicht. Aber daß er sich kaput macht, ist ja
klar. Er ist manchmal fast betrunken auf die Bühne gekommen, und wenn
er einmal nicht trinkt, spielt er schlecht und singt miserabel. Er hat
schon früher immer vor dem Auftreten ein Glas Sekt genommen, aber jetzt
tut er's nicht unter einer ganzen Flasche. Wenn Sie ihm raten wollen --
-- es wird aber wenig zu machen sein. Der Muoth macht sich mit Gewalt
kaput.«

Muoth holte mich ab und wir nahmen im nächsten Wirtshaus ein
Abendessen. Er war wieder, wie am Mittag, abgespannt und unzugänglich,
trank ohne Maß von dem dunklen Rotwein, da er sonst nicht schlafen
könne, und sah aus, als wolle er um jeden Preis vergessen, daß es auf
der Welt noch andere Dinge als seine Müdigkeit und sein Schlafbedürfnis
gäbe.

Unterwegs im Wagen erwachte er für einen Augenblick, lachte mich an und
rief: »Junge, wenn ich nimmer da bin, kannst du deine Oper einsalzen,
die Rolle kann außer mir niemand singen.«

Andern Tages stand er spät auf und war dann müde und erschlafft, mit
unsicheren Augen und grauem Gesicht. Nach seinem Frühstück nahm ich ihn
vor und redete in ihn ein.

»Du bringst dich um,« sagte ich betrübt und unmutig. »Du machst dich
mit Champagner frisch und mußt es nachher natürlich büßen. Ich kann mir
denken, warum du es tust, und ich würde nichts dagegen sagen, wenn du
nicht eine Frau hättest. Der bist du schuldig, daß du dich außen und
innen sauber und tapfer hältst.«

»So?« lächelte er schwach und scheinbar durch meinen Eifer belustigt.
»Und was ist denn sie mir schuldig? Hält sie sich denn tapfer?
Sie sitzt beim Papa und läßt mich allein. Warum soll ich mich
zusammennehmen, wenn sie es nicht tut? Die Leute wissen ja schon, daß
es nichts mehr zwischen uns ist, und du weißt es auch. Nebenher soll
ich auch noch singen und den Leuten den Hanswurst machen, das geht
nicht aus dem Leeren und aus dem Ekel heraus, den ich an allem habe, an
der Kunst am meisten.«

»Du mußt trotzdem anders anfangen, Muoth! Wenn du noch glücklich dabei
wärst! Aber es geht dir ja miserabel. Wenn dir das Singen zu viel wird,
so nimm Urlaub, den kriegst du sofort; du hast ja auch das Geld, um
das du singst, gar nicht nötig. Geh in die Berge, oder ans Meer, oder
irgendwohin, und werde wieder gesund! Und laß doch das dumme Trinken!
Es ist nicht bloß dumm, es ist feig, das weißt du wohl.«

Er lächelte nur. »Gut,« sagte er kühl. »So geh doch du einmal und tanz
einen Walzer! Es würde dir gut tun, glaub mir! Denk doch nicht immer an
dein dummes Bein, das ist nur Einbildung!«

»Laß doch,« rief ich ungehalten. »Du weißt genau, daß das etwas anderes
ist. Ich würde sehr gern tanzen, wenn ich könnte, aber ich kann nicht.
Du aber könntest recht gut dich zusammennehmen und gescheiter sein. Das
Trinken mußt Du unbedingt lassen!«

»Unbedingt! Lieber Kuhn, ich möchte fast lachen. Ich kann so wenig
anders werden und das Trinken lassen als du tanzen kannst. Ich muß
bei dem bleiben, was mich noch notdürftig bei Leben und Laune erhält,
verstehst du? Trinker pflegen bekehrt zu werden, wenn sie bei der
Heilsarmee oder irgendwo etwas finden, was sie noch besser und
dauernder befriedigt. Es hat für mich so etwas gegeben, das sind die
Frauen gewesen. Mit andern Frauen kann ich mich nimmer einlassen, seit
die meine mein war und mich verlassen hat, also -- --«

»Sie hat dich nicht verlassen! Sie kommt wieder. Sie ist nur krank.«

»Das meinst du, und das meint sie selber, ich weiß. Aber sie kommt
nicht zurück. Wenn ein Schiff versinken soll, pflegen vorher die Ratten
es zu verlassen. Sie wissen wahrscheinlich auch nicht, daß das Schiff
kaput geht. Sie fühlen sich nur von einem unangenehmen Schauder berührt
und laufen fort, gewiß mit der guten Absicht, bald wiederzukommen.«

»Ach rede nicht so! Du bist schon oft am Leben verzweifelt und es ist
doch wieder gegangen.«

»Richtig. Es ist gegangen, weil ich einen Trost oder eine Betäubung
fand. Einmal war es eine Frau, einmal ein lieber Freund -- ja, du
hast mir den Dienst auch schon getan! -- ein andermal die Musik oder
das Klatschen im Theater. Nun, und jetzt freuen eben diese Sachen mich
nimmer, und darum trinke ich. Ich könnte nicht singen ohne ein paar
Gläser vorher, aber ich kann auch nicht denken und reden und leben
und mich erträglich fühlen -- ohne ein paar Gläser vorher. Und jetzt
kurz -- das Predigen mußt du lassen, so gut es dir steht. Es war schon
einmal so, vor zwölf Jahren ungefähr. Da hat mir auch einer gepredigt
und nicht nachgelassen, es war wegen eines Mädels, und zufällig war's
mein bester Freund -- --«

»Und dann?«

»Dann hat er mich genötigt, ihn hinauszuwerfen, und dann hatte ich
lange keinen Freund mehr, eigentlich bis du dann kamst.«

»Das ist deutlich.«

»Gelt?« sagte er milde. »Du hast nun die Wahl. Aber ich will dir sagen,
es wäre nicht schön, wenn du mir jetzt auch drausliefest. Ich habe dich
gern, du, und ich habe mir ausgedacht, daß du auch eine Freude haben
sollst.«

»So. Was denn?«

»Sieh, du hast ja meine Frau gern -- oder wenigstens gern gehabt, und
ich hab sie auch gern, sogar sehr. Nun wollen wir heut abend ein Fest
geben, nur für dich und mich, zu ihren Ehren. Nämlich, es ist ein Grund
dazu vorhanden. Ich habe sie malen lassen, sie mußte im Frühjahr immer
zu dem Maler hingehen, ich war oft dabei. Dann reiste sie fort, das
Bild war fast fertig. Der Maler wollte sie noch einmal sitzen haben,
aber jetzt habe ich das Warten satt bekommen und das Bild bestellt, wie
es halt ist. Das ist vor einer Woche gewesen, und jetzt ist ein Rahmen
drum und das Bild ist gestern ins Haus gekommen. Ich hätte dir's gleich
gezeigt, aber es ist besser, daß das festlich geschieht. Freilich, ohne
einigen Champagner wird es nicht gut gehen, wie soll ich sonst vergnügt
werden! Ist dir's recht?«

Ich fühlte hinter seinem Scherzen Rührung, ja Tränen verborgen und
stimmte munter ein, obwohl mir nicht so zumute war. Unser Fest zu Ehren
der Frau, die ihm so ganz verloren schien, wie sie es mir wirklich war,
wurde vorbereitet.

»Kannst du dich noch an ihre Blumen erinnern?« fragte er mich. »Ich
verstehe von Blumen nichts und weiß nicht, wie sie heißen. Sie hatte
immer solche weiß und gelbe, und auch rote. Weißt du nimmer?«

»Ja, einige weiß ich noch. Warum?«

»Du mußt sie kaufen. Laß einen Wagen kommen, ich muß ohnehin auch in
die Stadt. Wir wollen es so machen, wie wenn sie da wäre.«

So fiel ihm noch manches ein, woran ich sah, wie tief und unablässig
er an Gertrud gedacht hatte. Es tat mir wohl und weh, es zu merken.
Ihretwegen hielt er keine Hunde mehr und lebte einsam, der sonst nie
lang ohne Frauen hatte sein können. Er hatte ihr Bild bestellt, er
hieß mich ihre Blumen kaufen! Das war als nehme er eine Maske ab und
ich sähe hinter den harten selbstsüchtigen Zügen ein Kindergesicht
versteckt.

»Aber,« wandte ich noch ein, »wir sollten das Bild doch lieber jetzt
ansehen oder am Nachmittag. Bilder muß man doch bei Tageslicht sehen.«

»Ach was, du kannst es ja morgen noch lang genug anschauen. Es ist ja
hoffentlich eine gute Malerei, aber im Grund ist uns das doch ganz
einerlei, wir wollen doch bloß sie sehen.«

Nach Tische fuhren wir in die Stadt und kauften ein, vor allem die
Blumen, einen großen Strauß Chrysanthemen, einen Korb Rosen und ein
paar Büsche weißen Flieder. Dabei fiel es ihm ein, auch eine große
Sendung Blumen an Gertrud nach R. schicken zu lassen.

»Es ist doch etwas Schönes um Blumen,« sagte er nachdenklich. »Ich
begreife, daß Gertrud sie gern hat. Sie gefallen mir auch, nur kann ich
keine Sorgfalt für so etwas aufbringen. Wenn keine Frau danach sah, war
es bei mir immer unordentlich und nicht recht behaglich.«

Am Abend fand ich im Musikzimmer das neue Bild aufgestellt und mit
einem Seidentuche verhängt. Wir hatten festlich getafelt und Muoth
begehrte nun zuerst das Hochzeitspräludium zu hören. Nachdem ich es
gespielt hatte, enthüllte er das Bild, und wir standen eine Weile
schweigend davor. Gertrud war in einem hellen sommerlichen Kleide
gemalt, in ganzer Figur, und blickte uns aus den klaren Augen
vertraulich an, und es dauerte eine Zeit, ehe wir einander ansehen und
die Hände geben konnten. Muoth schenkte zwei Gläser voll Rheinwein,
nickte dem Bilde zu, und wir tranken auf sie, an die wir beide dachten.
Dann nahm er das Bild sorglich in die Arme und trug es hinaus.

Ich bat ihn, etwas zu singen, doch wollte er nicht.

»Weißt du noch,« sagte er lächelnd, »wie wir damals vor meiner Hochzeit
einen Abend beieinander saßen? Jetzt bin ich ja wieder Junggesell und
wir wollen noch einmal versuchen, mit den Gläsern zu läuten und ein
bißchen vergnügt zu sein. Dein Teiser sollte dabei sein, der versteht
sich auf die Fröhlichkeit besser als ich und du. Du mußt ihn schön
grüßen, wenn du wieder heimkommst. Er kann mich ja nicht leiden, aber
trotzdem -- --.«

Mit der vorsichtigen, gehaltenen Heiterkeit, mit der er immer seine
guten Stunden gekostet hatte, begann er zu plaudern und mich an
Vergangenes zu erinnern, und ich war erstaunt, wie alles, auch Kleines
und Zufälliges, was ich bei ihm längst vergessen glaubte, unverloren
in seiner Erinnerung lebte. Auch den allerersten Abend, den ich bei
ihm und Marion mit Kranzl und den andern zugebracht hatte, und unsern
damaligen Streit hatte er nicht vergessen. Nur von Gertrud sprach
er nicht; die Zeit, seit der sie zwischen uns getreten war, ließ er
unberührt, und mir war es lieb.

Ich freute mich über diese unerwartet schönen Stunden, ließ ihn auch
dem guten Wein reichlich zusprechen, ohne ihn zu mahnen. Ich wußte, wie
selten solche Stimmungen bei ihm waren, wie er sie selber hütete und
hegte, wenn sie einmal kamen, und sie kamen freilich nie ohne Wein. Ich
wußte auch, daß das nicht lange dauern konnte, daß er morgen wieder
verdrossen und unzugänglich sein werde; dennoch kam auch in mir eine
herzliche Wärme und beinahe fröhliche Stimmung auf, indessen ich seinen
gescheiten, nachdenklichen, wenn auch widerspruchsvollen Betrachtungen
zuhörte. Dabei warf er mir zuweilen einen seiner schönen Blicke zu,
die er nur in solchen Stunden hatte und die wie die Blicke eines eben
Erwachenden mitten aus einem Traum zu kommen schienen.

Einmal, als er schwieg und sann, begann ich ihm zu erzählen, was mein
Theosoph mir über die Krankheit des Einsamseins gesagt hatte.

»So?« sagte er gutmütig. »Und du hast es natürlich geglaubt? Du hättest
überhaupt Theolog werden sollen.«

»Warum? Es kann doch was daran sein.«

»Natürlich. Die gescheiten Herren weisen immer von Zeit zu Zeit nach,
daß alles nur Einbildung sei. Weißt du, ich habe früher oft solche
Bücher gelesen, und ich kann dir sagen, es ist nichts damit, absolut
nichts. Alles, was diese Philosophen schreiben, ist nur eine Spielerei,
vielleicht trösten sie sich selber damit. Der eine erfindet den
Individualismus, weil er seine Zeitgenossen nicht leiden mag, und der
andere den Sozialismus, weil er es allein nicht aushält. Es kann ja
sein, daß unser Einsamkeitsgefühl eine Krankheit ist. Nur wird damit
nichts anders. Das Nachtwandeln ist auch eine Krankheit, deswegen
steht so ein Kerl doch tatsächlich in der Dachrinne, und wenn man ihn
anschreit, bricht er das Genick.«

»Nun, das ist doch etwas anderes.«

»Meinetwegen, ich will nicht recht haben. Ich meine nur, mit der
Weisheit kommt man zu nichts. Es gibt nur zwei Weisheiten, alles
zwischen drin ist Geschwätz.«

»Was für zwei Weisheiten meinst du?«

»Nun, entweder ist die Welt schlecht und lumpig, wie es die Buddhisten
und Christen sagen. Dann muß man sich kasteien, auf alles verzichten,
und ich glaube, man kann dabei ganz zufrieden werden. Asketen haben
kein so schweres Leben, wie man meint. Oder aber ist die Welt und das
Leben gut und recht, dann kann man nur eben mitmachen und nachher
ruhig sterben, weil es dann fertig ist..«

»Und an was glaubst du selber?«

»Das muß man niemand fragen. Die meisten Leute glauben beides, je
nachdem das Wetter ist und sie gesund sind und Geld im Sack haben oder
nicht. Und die, die wirklich glauben, leben nicht danach. So ist es bei
mir auch. Ich glaube nämlich wie Buddha, daß das Leben nichts wert ist.
Aber ich lebe doch, wie es meinen Sinnen wohl tut und wie wenn die die
Hauptsache wären. Wenn es nur vergnüglicher wäre!«

Es war noch nicht spät, als wir ein Ende machten. Als wir durch das
Nebenzimmer gingen, wo nur eine einsame elektrische Lampe glühte,
hielt Muoth mich am Arm zurück, entzündete alle Lichter und nahm den
Vorhang von Gertruds Bild, das da lehnte. Wir blickten noch einmal
in das liebe, klare Gesicht, dann deckte er das Tuch darüber und
löschte. Er begleitete mich in mein Zimmer und legte mir noch ein paar
Zeitschriften auf den Tisch, falls ich lesen wolle. Dann gab er mir die
Hand und sagte leise: »Gute Nacht, Lieber!«

Ich ging zu Bett und lag noch eine halbe Stunde wach, in Gedanken an
ihn. Es hatte mich gerührt und beschämt zu hören, wie treulich er
sich aller kleinen Erlebnisse unserer Freundschaft erinnerte. Er, dem
es schwer fiel Freundschaft zu zeigen, hing an denen, die er liebte,
inniger als ich gedacht hatte.

Danach schlief ich ein und träumte durcheinander von Muoth, von meiner
Oper und vom Herrn Lohe. Als ich erwachte, war es noch Nacht. Ich war
an einem Schrecken erwacht, der nichts mit meinen Träumen zu tun hatte,
sah mattgrau das bleiche Viereck des Fensters dämmern und fühlte eine
quälende Beklemmung, richtete mich im Bette auf und versuchte vollends
wach und klar zu werden.

Da geschahen rasche, kräftige Schläge an meine Tür, ich sprang auf und
öffnete, es war kalt und ich hatte noch kein Licht gemacht. Draußen
stand der Diener, nur notdürftig angekleidet, und starrte mich aus
erschreckten, dummen Augen ängstlich an.

»Kommen Sie!« flüsterte er keuchend. »Kommen Sie! Es ist ein Unglück
geschehen.«

Ich zog nur einen Schlafrock an, der eben da hing, und folgte dem
jungen Manne die Treppe hinab. Er öffnete eine Türe, trat zurück
und ließ mich eintreten. Da stand auf einem kleinen Rohrtische
ein Leuchter, in dem drei dicke Kerzen brannten, und daneben ein
zerwühltes Bett, und darin sah ich, auf dem Gesichte liegend, meinen
Freund Muoth.

»Wir müssen ihn umdrehen,« sagte ich leise.

Der Diener traute sich nicht recht heran.

»Der Arzt muß gleich kommen,« sagte er stotternd.

Aber ich zwang ihn anzufassen und wir wendeten den Liegenden um, und
ich sah meinem Freunde in das Gesicht, das war weiß und verzogen, und
sein Hemd war voll Blut, und als wir ihn legten und wieder zudeckten,
zuckte sein Mund ganz leicht, und die Augen hatten keinen Blick mehr.

Der Diener fing jetzt eifrig an zu erzählen, aber ich wollte
nichts wissen. Als der Arzt kam, war Muoth schon tot. In der Frühe
telegraphierte ich an Imthor, dann kehrte ich in das stille Haus
zurück, saß am Bett des Toten, hörte den Wind draußen in den Bäumen
gehen und wußte erst jetzt genau, wie lieb ich diesen armen Menschen
gehabt hatte. Bedauern konnte ich ihn nicht, sein Sterben war leichter
gewesen als sein Leben.

Am Abend stand ich am Bahnhof und sah den alten Imthor aus dem Zuge
steigen, und hinter ihm eine hohe, schwarz gekleidete Frau, und führte
sie hinaus zu dem Toten, der nun angekleidet und aufgebahrt lag,
zwischen den Blumen von gestern. Da bückte sich Gertrud und küßte ihn
auf den blassen Mund.

Als wir an seinem Grabe standen, sah ich eine hübsche, große Frau mit
verweintem Gesicht, die Rosen in den Händen hatte und allein stand,
und als ich neugierig hinschaute, war es Lotte. Sie nickte mir zu,
und ich lächelte. Gertrud aber hatte nicht geweint, sie schaute aus
einem bleichen schmalen Gesicht überwach und streng vor sich in den
leisen Regen, der im Wind versprühte, und hielt sich gerade wie ein
junger Baum, als stünde sie auf unerschütterten Wurzeln. Es war aber
nur Notwehr, und zwei Tage später, als sie zu Hause Muoths Blumen
auspackte, die unterdessen angekommen waren, brach sie zusammen und
blieb eine lange Zeit für uns alle unsichtbar.



Auch in mir kam die Betrübnis erst spät zu ihrem Recht. Und wie es
immer geht, es fielen mir unzählige Gelegenheiten ein, bei denen ich
meinem toten Freunde Unrecht getan hatte. Nun, das Schlimmste hatte er
sich selber angetan, und nicht erst mit seinem Tode. Ich dachte viel
über diese Dinge nach und konnte nicht finden, daß in diesem Schicksal
etwas unklar und unbegreiflich wäre, doch war alles darin grausam und
höhnisch. Es war mit meinem eigenen Leben nicht anders, und mit dem
Leben Gertruds und Vieler. Das Schicksal war nicht gut, das Leben war
launisch und grausam, es gab in der Natur keine Güte und Vernunft.
Aber es gibt Güte und Vernunft in uns, in uns Menschen, mit denen der
Zufall spielt, und wir können stärker sein als die Natur und als das
Schicksal, sei es auch nur für Stunden. Und wir können einander nahe
sein, wenn es not tut, und einander in verstehende Augen sehen, und
können einander lieben und einander zum Trost leben.

Und manchmal, wenn die finstere Tiefe schweigt, können wir noch mehr.
Da können wir für Augenblicke Götter sein, befehlende Hände ausstrecken
und Dinge schaffen, die vordem nicht waren und die, wenn sie geschaffen
sind, ohne uns weiter leben. Wir können aus Tönen und aus Worten und
aus andern gebrechlichen wertlosen Dingen Spielwerke erbauen, Weisen
und Lieder voll Sinn und Trost und Güte, schöner und unvergänglicher
als die grellen Spiele des Zufalls und Schicksals. Wir können Gott im
Herzen tragen, und zu Zeiten, wenn wir seiner innig voll sind, kann
er aus unsern Augen und aus unsern Worten schauen und auch zu andern
reden, die ihn nicht kennen oder kennen wollen. Wir können unser Herz
dem Leben nicht entziehen, aber wir können es so bilden und lehren,
daß es dem Zufall überlegen ist und auch dem Schmerzlichen ungebrochen
zuschauen kann.

So habe ich in den Jahren, seit Heinrich Muoth begraben ist, ihn mir
tausendmal wieder lebendig gemacht und klüger und liebreicher mit ihm
reden können als je im Leben. Und ich sah, als die Zeit da war, meine
alte Mutter sich legen und sterben, und sah auch die schöne, lustige
Brigitte Teiser sterben, die nach Jahren des Wartens und Verheilens
einen Musiker geheiratet und das erste Kindbett nicht überlebt hat.

Gertrud hat ihren Schmerz überwunden, der sie damals überfiel, da
unsre Blumen als Gruß und Werbung eines Toten zu ihr kamen. Ich rede
nicht oft mit ihr darüber, obwohl ich sie jeden Tag sehe. Aber ich
glaube, sie blickt in ihren Frühling wie in ein fernes, in ehemaligen
Reisetagen gesehenes Tal zurück und nicht wie in einen verlorenen
Garten Eden. Sie hat ihre Kraft und Heiterkeit wiedergefunden, sie
singt auch wieder. Doch hat sie seit dem kalten Kuß auf des Toten
Lippen keinen Mann wieder geküßt. Einmal, zweimal im Gang der Jahre, da
ihr Wesen gesundet war und in der alten herben Blüte duftete, gingen
meine Gedanken den alten verbotenen Weg ihr nach und dachten: warum
nicht? Heimlich wußte ich aber die Antwort schon, und daß an meinem und
ihrem Leben nichts mehr zu korrigieren war. Sie ist mein Freund, und
wenn ich nach unruhig einsamen Zeiten aus meiner Stille hervortrete und
ein Lied oder eine Sonate habe, gehört es zuerst uns beiden. Muoth hat
recht gehabt, man ist beim Altwerden zufriedener als in der Jugendzeit,
die ich darum nicht schmähen will, denn sie klingt mir dennoch in allen
Träumen wie ein herrliches Lied herüber, und klingt heute reiner und
lauterer gestimmt, als da sie noch Wirklichkeit gewesen ist.


                                 Ende.



                  Druck von Hesse & Becker in Leipzig
  Papier von Bohnenberger & Cie., Papierfabrik Niefern bei Pforzheim
         Einbände von E. A. Enders, Großbuchbinderei, Leipzig





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