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Title: Los von Rom - Eine Geschichte aus dem Leben
Author: Ohorn, Anton
Language: German
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    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original wurde in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text
    ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist
    ~so markiert~. Im Original fetter Text ist =so gekennzeichnet=.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



Los von Rom

Eine Geschichte aus dem Leben.

[Illustration: Dekoration]



    Die 1. Auflage dieser Geschichte erschien unter dem Titel »Das
    neue Dogma«, ist aber vollständig vergriffen.



    Los von Rom

    Eine Geschichte aus dem Leben

    von

    Anton Ohorn

    Illustriert von =Fritz Bergen=

    2. Auflage

    (4. bis 9. Tausend)

    [Illustration: Dekoration]

    Stuttgart

    Verlag von Carl Weber & Cie.



Alle Rechte vorbehalten.


Druck des Süddeutschen Verlags-Instituts in Stuttgart.



Vorwort zur ersten Auflage.


Wer abenteuerliche Verwicklungen, romantische Liebesbeziehungen, oder
jenen Naturalismus sucht, der die Wahrheit der Lebensverhältnisse
nur in Sumpf und Schmutz finden zu können glaubt, für den ist diese
Geschichte nicht geschrieben. Und doch macht sie gerade darauf
Anspruch, wahr zu sein und Verhältnisse zu schildern, die dem Leben
entnommen sind.

Nahezu 25 Jahre sind vergangen, seit der Glaubenssatz von der
päpstlichen Unfehlbarkeit in Rom aufgestellt wurde. Es war ein
Ereignis, welches die Gemüter der ganzen gebildeten Welt bewegte
und die Herzen der katholischen Christen mit bangen Zweifeln und
mit Schmerz erfüllte; die Verkündigung jener Lehre hat die volle
selbstherrliche Macht Roms einerseits, die Schwäche und Haltlosigkeit
kirchlich angesehener Kreise andrerseits bekundet.

Schwere Seelenkämpfe wurden damals von manchem ehrlich denkenden
Katholiken, zumal von manchem katholischen Priester durchgestritten,
und ein Bild solcher Kämpfe habe ich versucht, in diesem Werke
vorzuführen. Ich habe gemeint, daß ich nicht ganz unberufen dazu sei;
habe ich doch zum Teil an mir selbst erfahren, was ich berichte, und
was man auch immer dem Werke zum Vorwurfe machen möge, eines wird nicht
bestritten werden können, daß die Verhältnisse des katholischen Klerus,
sein Leben und Empfinden, seine Anschauungen und deren Bethätigung auf
Grund von Thatsächlichem geschildert sind. Die Gestalten der Erzählung
sind _wirkliche Typen_ und gezeichnet ohne jede Gehässigkeit.

Ich habe wiederholt beinahe mit einem Gefühl des Mitleids Werke
gelesen, zumeist aus weiblicher Feder -- denn es mag besonders in dem
Cölibat und seinen Folgen für Schriftstellerinnen ein verlockender Reiz
liegen -- welche von katholischem Priester- und Mönchsleben handeln,
und welche trotz aller Lobsprüche der mehr oder minder berufenen
Kritik von Unwahrheit in Situationen und Charakteristik strotzen.
Ueber solche Verhältnisse vermag nur der zu schreiben, der einerseits
ihre ganze erdrückende Schwere und andererseits ihre besondere und
tiefere Bedeutung eingehend kennen gelernt hat, und darin liegt,
wie ich anzunehmen wage, die Eigenart und die Berechtigung dieser
Geschichte zugleich.

Ich darf wohl hoffen, daß ich darum auch von Einsichtsvollen weder
mißverstanden, noch falsch beurteilt werde, wenn ich derselben mit
einer kleinen Abweichung das Wort, welches Lessing von seinem »Nathan«
gebraucht, voranstelle: »Wenn man mir sagt, daß ein Werk von so eigener
Tendenz nicht auch einen gewissen Wert habe, so werde ich schweigen,
aber mich nicht schämen. Ich bin mir eines Ziels bewußt, hinter dem man
auch weiter mit Ehren bleiben kann«.

            Der Verfasser.

[Illustration: Dekoration]



Vorwort zur zweiten Auflage.


Unter dem Titel »Los von Rom« geht das ursprünglich »Das neue Dogma«
genannte Werk zum zweitenmale in die Welt, um zu erzählen, wie der
Held »los von Rom« kam. Die Zustände in Oesterreich, wo dasselbe
abspielt, haben sich in den letzten Jahren bedeutsam geändert; aus der
nationalen Bewegung ist eine kirchliche hervorgewachsen, und sie hat
das Schlagwort »Los von Rom!« geschaffen, und ähnliche Verhältnisse,
wie die in der vorliegenden Geschichte geschilderten, haben Tausenden
die Augen geöffnet. Darum dürfte das Buch neuerdings wieder besonders
zeitgemäß erscheinen, und ich gebe mich, zumal eine ununterbrochene
Nachfrage nach dem seit Jahresfrist vergriffenen Werke stattfand, der
angenehmen Erwartung hin, daß es auch in seiner neuen Ausstattung und
im Schmucke seiner Bilder eine freundliche Aufnahme finden werde.

            Dr. Anton Ohorn.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Erstes Kapitel.


Feierlicher Glockenklang zog weit hinein ins Land. Blauer Himmel lag
über der Erde; auf den Feldern wiegten sich schwer die goldgelben
Aehren, reif für den Sensenschnitt, und auf den Straßen und den grünen
Wiesensteigen kamen von allen Seiten Leute im Sonntagsstaat heran nach
der kleinen, freundlichen Stadt, die im Thale lag.

Sie hatte ein altertümlich-trauliches Gesicht. Der Rest einer alten,
verwitterten Mauer drängte sich da und dort aus grünen Gartengehegen
hervor, ein dicker, schwerfälliger Kirchturm sah hoch hinaus über die
an einandergedrückten roten und grauen Dächer und über den bescheidenen
Genossen, der das kleine Kloster der Bettelmönche am letzten Ende des
Städtchens überragte.

Und die Glocke läutete noch immer mit langsamen, aber vollen und
weichen Schlägen, als ob sie gute Botschaft zu sagen hätte.

Auf der hochgelegenen Straße, von der man in die sonnige Landschaft
und auf die wandernden Menschen ringsum schauen konnte, saß bei einem
Kapellchen auf einer Steinbank ein fahrender Gesell. Der erhob sich,
als jetzt eine kleine Schar von Landleuten herankam, lüftete zum Gruße
seine Kappe, rückte sich das Ränzel zurecht auf dem Rücken und fragte:

»Mit Verlaub, da unten wird wohl heute ein besonderes Fest gefeiert?«

Der weißhaarige Bauer, welcher mit seinem Weibe dem Zug voranging,
stützte sich einen Augenblick auf seinen Weißdornstecken, sah sich
den Burschen an, und weil er ihm zu gefallen schien, sagte er im
Weiterschreiten -- denn er setzte voraus, daß der andere sich ihm
anschließen wolle:

»Des seligen Sportelschreibers _Frohwalt_ Sohn hat heute seine Primiz,
sein erstes heiliges Meßopfer. Ein solch' Fest ist seit langen Jahren
nicht mehr hier gewesen und darum kommt, wer nur immer kann, herbei,
um demselben beizuwohnen. Bei uns heißt's, man soll, wenn's notthut,
ein paar neue Schuhe auf dem Wege zerreißen, um den Segen eines
neugeweihten Priesters zu erhalten, der eine besondere Kraft hat.
Und diesmal ist's noch etwas anderes. Wir haben den alten, braven
Sportelschreiber gekannt, und von Kindesbeinen an auch seinen Sohn,
den Peter, und da wollen wir erst recht nicht fehlen am Ehrentag. Der
Vater hätt' es noch erleben müssen, denn es ist ein großer Stolz für
ein schlichtes Haus, wenn ein geistlicher Herr daraus hervorwächst
und besonders einer wie der hochwürdige Herr Pater Peter, der gar so
gescheit und fromm sein soll. Na, der Mutter und der Schwester ist auch
die Freude zu gönnen, sind brave Leute, die sich recht und schlecht
durchbringen und denen niemand etwas nachreden kann.«

Der Alte ging mit weitausgreifenden Schritten dahin, und sein Weib
trippelte hastig nebenher, hinterdrein aber kamen Kinder und Enkel,
Knecht und Magd. Die Glocke hatte jetzt ausgeklungen, und der Bauer
sprach halb zurückgewendet:

»So, nun ist das erste Läuten vorüber, und in der Kirche wird's kaum
noch Platz geben -- das kommt davon, daß bei euch jungem Volk kein
Fertigwerden ist.« Dann redete er wieder leutselig mit dem wandernden
Gesellen und frug nach seinem Handwerk und seiner Heimat, und so kamen
sie ans Städtchen.

Durch einen altertümlichen Thorbogen führte der Weg hinein in die
Gasse, und gleich zu ihrem Anfang stand zur Rechten ein kleines Haus,
einstöckig, mit vier spiegelblanken Fenstern in der Front, dessen Thür
umwunden war mit grünem Kranzwerke.

»Das ist des Sportelschreibers Haus!« sagte der Bauer, und der Geselle
hätte sich's wohl denken können, denn Kinder und neugierige Frauen
standen in der Nähe, den Ausdruck frommer, scheuer Spannung in den
Gesichtern. Er sah einen plätschernden Brunnen unter einer Statue des
heil. Johann von Nepomuk, dabei war eine Linde und eine Bank ringsum
dieselbe; da sprach er:

»Hier bleibe ich und will warten, bis der Zug nach der Kirche geht.
Gott befohlen!«

Und im Lindenschatten ließ er sich nieder neben einem Kindermädchen,
das einen kleinen Knaben auf dem Arme schaukelte, stützte das Kinn auf
den Griff seines Wanderstockes und wartete.

Im Erdgeschoß des kleinen Hauses aber war alles so blitzblank. Der Flur
war gescheuert und mit weißem Sande bestreut, und in der großen Stube
war kein Stäubchen zu sehen. Vor den Fenstern hingen weiße Vorhänge,
und auf den Brettern standen blühende Blumen, die altertümlichen
Möbel waren aufpoliert und an der Wand, der Thüre gegenüber, war ein
einfacher Altar errichtet worden. Auf der blütenweißen Tischdecke
befand sich ein Kruzifix, daneben zwei Leuchter mit brennenden Lichtern
und in zwei kleinen Vasen duftende weiße und rote Rosen.

Vor dem Altar aber stand der junge Priester, _Peter Frohwalt_, eine
jugendlich schöne Erscheinung, hochgewachsen und schlank, mit einem
frischen, von froher Erregung geröteten Antlitz, aus welchem zwei
große, schöne, blaue Augen schauten. Das blonde Haar war kurzgeschoren
und weiß schimmerte daraus die Tonsur hervor. Er trug das dunkle,
wallende Priestergewand, und um den Hals den ringsum geschlossenen
Kragen mit dem weißen Bändchen darum, das Collare. Zur Seite des Altars
standen seine Mutter und seine Schwester. Erstere war eine Frau mit
festen aber gutmütigen Zügen, in denen heute eine mühsam verhaltene
Rührung lag, angethan mit einem dunkeln, verschossenen Seidenkleide,
das wohl schon manchen Ehrentag des Hauses gesehen hatte; die Schwester
war ein hübsches, hochgewachsenes Mädchen, dem Bruder ähnlich, und
unter dem schlichten Hütchen, welches sie trug, drängten sich ein paar
prächtige blonde Zöpfe hervor. Sie mochte vielleicht ein Jahr jünger
sein als der neugeweihte Priester.

Dem Altar und den letzteren gegenüber standen um den alten Pfarrer des
Ortes gereiht ältere und jüngere Geistliche, darunter die Mönche des in
der Stadt befindlichen Kapuzinerklosters. Der Pfarrer, ein weißhaariger
Herr mit milden, freundlichen Zügen trug den goldschimmernden
Vespermantel, die andern zumeist weiße Chorhemden und darüber die Stola.

Der Pfarrer hatte seine Ansprache geendet, in welcher er den jungen
Priester beglückwünscht und begrüßt hatte. Seine Worte waren ruhig und
herzenswarm gewesen, und da er des verstorbenen Vaters des Primizianten
gedachte, weinten Mutter und Tochter in Wehmut still für sich hin. Nun
nahm der Jüngling vor dem Altare das Wort:

»~Laetatus sum in his, quae dicta sunt mihi: In domum Domine ibimus~ --
ja, erfreut bin ich darüber, daß man mir sagt: Wir wollen hingehen in
das Haus des Herrn!«

Mit diesem Ausspruch des Psalmisten hob er an, und seine anfangs
bewegte Stimme wurde ruhiger und sicherer und gewann einen weichen,
wohlthuenden Klang. Vom Elternhaus ins Gotteshaus -- welch ein schöner
Weg! Von der Stätte, von welcher er Liebe empfangen, zu jener, von
welcher aus er sie spenden wollte. -- Das war der Grundgedanke, den er
kurz und weihevoll ausführte, und dann schloß er:

»Mit reinem Herzen und mit reinen Händen will ich hintreten an den
Altar des Herrn. Wer je mich gekränkt hat in meinem Leben, dem
sei verziehen vom Grund der Seele, und wem ich wissentlich oder
unwissentlich weh gethan, der möge mir verzeihen um dieser Stunde
willen, in der Gott mich würdigt, der Wunder größtes zu vollbringen und
Brot und Wein in seines ewigen Sohnes Fleisch und Blut zu verwandeln.
Und wie ich meines toten Vaters gedenken werde bei meinem ersten
heiligen Opfer, so will ich auch für euch beten, Mutter und Schwester.
-- Der Herr hat heute Großes gethan an uns allen, gepriesen sei sein
Name -- Amen!«

Hochaufgerichtet trat der junge Mann zu der beinahe fassungslosen alten
Frau, die sich in seine umschließenden Arme schmiegte und nach der
geweihten Hand des Sohnes faßte, um sie zu küssen, was dieser jedoch
abwehrte, dann umarmte er die blühende, errötende Schwester -- durch
die kleinen Fenster aber flutete wärmer der Sonnenglanz herein und
glänzte auf den priesterlichen Gewändern, auf den Rosen um das Kruzifix
und auf dem blonden Scheitel des jungen Priesters.

Nun ordnete sich der Zug. Der alte Pfarrer und der Vorsteher des
Kapuzinerklosters nahmen den Neugeweihten in die Mitte, die andern
schlossen sich paarweise an, und den Priestern folgte Mutter und
Schwester, sowie eine Anzahl Freunde der Familie. Im Flur des Hauses
aber traten vor den Zug vier kleine, weißgekleidete Mädchen, die aus
Körbchen, welche sie am Arme trugen, Blumen und Rosenblätter auf den
Weg streuten.

Jetzt hoben die Glocken aufs neue an zu tönen -- auch jene von dem
Klösterchen klangen darein -- und langsam ging es im hellen Sonnenglanz
durch die Gassen nach der Kirche.

Das Gotteshaus war umschlossen von dem Friedhofe, und ehe noch das
Kirchenportal den Zug aufnahm, hatte der junge Priester dem Pfarrer
einige Worte zugeflüstert und dieser den kleinen Mädchen eine Weisung
erteilt. Sie bogen seitwärts ab nach dem Eingang zum Gottesacker, und
zwischen den Kreuzen und Steinmälern ging der Zug zur Verwunderung der
Neugierigen hin, bis er anhielt, wo hart am Wege auf einem schlichten
Denkmal geschrieben stand:

        Hier ruht in Gott der Sportelschreiber

        _Franz Frohwalt_.

An den grauen Stein gelehnt stand hier ein Mann mit scharfgeprägten,
verwitterten Zügen, der mit hellen Augen nach den Nahenden hinschaute
und als sie ganz nahe waren, seinen alten Filzhut abnahm, so daß die
grauen Haarsträhnen sich leicht im Winde bewegten. Sein Gewand war
einfach wie das eines schlichten Handwerkers, und in der Hand hatte er
einen kräftigen Naturstock.

»Das freut mich, daß Du zuerst Deinem toten Vater Deinen Gruß bringst
und seinen Segen holst, Peter, und das hab' ich auch nicht anders
erwartet,« sagte er mit klarer, wohltönender Stimme und reichte dem
jungen Priester die Hand, welche dieser ergriff.

»_Vetter Martin!_ Das ist lieb, daß Du da bist!«

»Bin gestern abend just wegen Dir heimgekehrt, aber das wollen wir
jetzt nicht erörtern. Bete jetzt hier dein Vaterunser, und dann geh' in
Gottes Namen in die Kirche und werde ein Priester nach seinem Herzen!«

Der seltsame Mann trat zurück unter die Leute, die sich hier
angesammelt, Peter aber neigte sich über den grauen Stein, der seines
Vaters sterbliche Reste deckte ... und man hörte einige Augenblicke
nur das klangvolle Tönen der Glocken und verhaltenes Schluchzen
ergriffener Frauen. Dann erhob sich der junge Priester, bedeckte sein
Haupt, das er entblößt hatte, mit dem Barett und sprach wieder ruhig:

»~In domum Domini ibimus!~«

Dann lenkte der Zug in das von Menschen dichtgefüllte Gotteshaus ein,
und mit dem Glockenklang mischte sich der lärmende Schall von Trompeten
und Pauken, aus deren Gewirr sich endlich in klarer Majestät die Orgel
herausarbeitete, deren Töne auch hinausdrangen in den stillen Friedhof,
wo Vetter Martin noch lange an dem Grabe Franz Frohwalts stand. Die
Kirche selbst betrat er nicht.

Drinnen hatte der Gottesdienst seinen Anfang genommen. Der Guardian der
Kapuziner hielt die Festpredigt, während welcher der Primiziant zur
Seite des Hauptaltars auf einem Faldistorium, einem rotgepolsterten
Lehnstuhle, saß, umgeben von den andern Priestern, und dann folgte die
feierliche Messe, in welcher der junge Priester, gleichfalls unter
zahlreicher Assistenz, zum ersten Male von seiner Würde Gebrauch machte.

Als er die Hostie in den Händen hielt, und das Wort sprach, durch
welches nach seinem Glauben das Wunder der Verwandlung sich vollzog:
»~Hoc est corpus meum~ -- das ist mein Leib,« als er das Knie beugte
vor der Gottheit und sich in tiefem, andachtsvollem Schweigen die
Häupter aller Anwesenden neigten, rann ihm ein Schauer durch den Leib,
und er ward erst ruhiger, als nach der Wandlung die Orgel mit weichen
Tönen wieder einsetzte und zarte, süße Frauenstimmen vom Chor herab das
»~Benedictus~« anstimmten.

Nach dem Hochamte drängte das Volk heran an das Gitter, welches den
Hochaltar gegen den andern Raum absperrte, und die Vordersten knieten
nieder. Es war die Stunde gekommen, da der Neugeweihte seinen ersten
priesterlichen Segen erteilte. Die Ersten, welche ihn empfingen, waren
seine Mutter und seine Schwester. Er legte ihnen die weißen Hände auf
die Häupter und machte mit stillem Gebete über sie das Zeichen des
Kreuzes -- desgleichen allen, die sich herandrängten.

Eine schwüle Luft erfüllte das Gotteshaus, der Schweiß rann dem jungen
Priester über das Gesicht, und er trocknete sich immer wieder mit
seinem Taschentuche ab, aber unermüdlich und mit freudigem Herzen
übte er seine Pflicht, bis niemand mehr da war, welcher seines Segens
begehrte. Es war leer geworden in der Kirche, nur seine Mutter und
Schwester saßen noch in der vordersten Bank, die Seele erfüllt von
Stolz und Glück, und warteten auf ihn. Er legte in der Sakristei die
Meßgewänder ab, dann trat er in seinem schwarzen Talar hervor, beugte
vor dem Hochaltar unter der ewigen Lampe das Knie, und nun gingen die
drei Menschen, der junge Priester in der Mitte, hinaus.

Es war um die Mittagsstunde geworden, die Gasse lag still und einsam,
und langsam schritten sie hin und schweigend. Aus den Fenstern lugte
da und dort ein Gesicht und nickte ehrfürchtig-vertraulich heraus.
Peter Frohwalt war es seltsam zumute; ihm war, als wäre er eben
erst ein anderer geworden. Er mußte daran denken, wie er als Knabe
in diesen Gassen gespielt hatte, wild und lustig, wie er in manchem
dieser kleinen Giebelhäuser bis unter das Dach hinaufgeklettert war mit
fröhlichen Genossen und manchen dummen Streich verübt hatte, von dem
die Leute doch wissen mußten, die heute demütig vor ihm auf den Knieen
gelegen, um seinen Segen gebeten und ihm die Hand geküßt hatten. Seine
Mutter aber sah ihn immer wieder von der Seite her an mit glücklichen
Augen, und bei aller Ehrfurcht vor dem geweihten Sohne hätte sie ihn
am liebsten wie in Kindertagen bei der Hand genommen und hätte ihn so
durch die stille, sonnige Gasse geführt.

So kamen sie zu dem kleinen Hause beim Thore. Die Guirlande um die
Thüre war welk geworden, wie die Blumen auf der Schwelle, aber die
Fenster blinkten freundlich, und hinter der einen Scheibe sah das
scharfgeschnittene Gesicht des »Vetter Martin« durch.

Als die drei in die Stube traten, kam er ihnen entgegen und reichte dem
jungen Priester die Hand.

»Na, Gottes Segen zum heutigen Tage, Peter, und da habe ich Dir auch
ein kleines Erinnerungszeichen gebracht!«

Er reichte dem Neugeweihten ein metallenes Kruzifix, nicht groß, aber
augenscheinlich altertümlich und wertvoll.

»Ich hab's in Brüssel aufgetrieben -- 's ist eine gute flandrische
Bildnerarbeit aus dem 16. Jahrhundert, und ich denke, es paßt für Dich
und macht Dir Freude.«

Peter Frohwalt besah zugleich mit der Mutter und Schwester das kleine
Meisterwerk, stellte es dann auf den als Altar benützten Tisch zwischen
die Rosen, und dankte dem Alten in herzlichen Worten. Der hatte sich in
einem Lehnstuhl am Fenster niedergelassen und wehrte ab:

»Laß gut sein -- ist nicht der Rede wert -- weist ja, wie ich's mit Dir
meine, auch wenn ich heute nicht bei Deiner Primiz war. Morgen, wenn
Du zum erstenmal eine stille Messe lesen wirst, komme ich, aber heute,
unter den vielen neugierigen Menschen ohne Andacht, die in die Kirche
gehen wie in eine Komödie, hätte ich mich nur geärgert. Auch daß ich
mir Deinen Segen nicht habe geben lassen, nimm mir nicht übel. Ich hab'
Dich auf meinen Armen getragen und auf meinen Knieen reiten lassen und
habe Dir manchen Klaps in aller Liebe und Freundschaft gegeben, wenn
Deine Pfoten unnötigerweise mit allem Teufelsdreck besudelt waren, und
ich kann mir nicht einreden, daß Deine Hände durch das bischen Salböl
was Besonderes geworden sind ... aber freuen thut's mich doch, daß ich
just zu Deinem Ehrentag wieder im alten Neste eingetroffen bin.«

Die Mutter sah ein wenig verstimmt drein bei den Worten des
wunderlichen Alten, der, das Kinn auf seinen derben Stock gestützt,
hinaus in die Sonne blinzelte, Peter Frohwalt aber hatte einen Sitz zu
ihm herangezogen und fragte:

»Wo bist Du denn diesmal gewesen?«

»In Belgien und in Holland -- sehr interessante Länder, mein Sohn,
mit wunderlichen alten Städten, prächtigen Kunstsammlungen und einem
fleißigen, verständigen Völkchen.«

»Und Du bist wieder zu Fuße dort gewesen?«

»Na ob -- hier ist die ganze Reisegelegenheit!« -- er deutete auf den
kräftigen, knorrigen Stock -- »das ist nun das achtzehnte Exemplar
meiner Sammlung und heißt der Holländer -- 's ist dabei ein ehrliches
deutsches Eichengewächs. Ich habe manches Hübsche mitgebracht; wenn
nur die alten Sächelchen nicht so teuer wären, oder meine Einkünfte
weiter langten. Aber komm und sieh Dir's selber an. -- Manches macht
Ihnen vielleicht auch Spaß, Frau Gevatterin« -- fügte er, zur Mutter
gewendet, bei, die ihre Augen gar nicht von dem geistlichen Sohne
abzuwenden vermochte und jetzt mit einer freundlichen Antwort einen
Blick nach der Uhr warf.

»Ach so« -- sagte der Alte, indem er sich erhob -- »es wird wohl
Essenszeit; wie wird denn das heute mit Euch?«

»Der hochwürdige Herr Pfarrer hat sich's nicht nehmen lassen, heute
die Tafel auszurichten und uns einzuladen,« sagte die Frau mit
unverkennbarem Stolze, und Peter Frohwalt fügte bei:

»Du kommst mit, Vetter Martin, der Pfarrer wird sich über den Gast
freuen -- --«

»Hm,« brummte der Alte, indem er den Kopf hin- und herwiegte und das
linke Auge zukniff, »weißt Du, heute vielleicht nicht! Der Pfarrer ist
gut und mit dem Kapuzinerguardian ist auch auszukommen, die nehmen
mir's nicht übel, wenn mir einmal der Schnabel in die Quere steht,
aber die andern, die heute da sind ... na, es könnte einen Mißton
geben, wenn meine Glocke nicht immer mit den andern zusammenklingt,
und den möcht' ich heute am wenigsten ins Pfarrhaus tragen. Darum Gott
befohlen!«

»Ich gehe ein Stückchen mit Dir, Pathe Martin,« sagte jetzt Marie --
»wir haben noch Zeit bis zur Tafel, und ich will noch einmal nach
meiner armen Freundin _Grethe Freidank_ sehen.«

»Ach, das ist das Weib des Uhrmachers; was ist's mit der?«

»Sie liegt seit vierzehn Tagen schwer am Nervenfieber und gestern abend
ist's gar nicht gut gegangen.«

»Das thut mir leid ... Die Leute können doch kaum drei Jahre
verheiratet sein, das kommt noch so mitten ins junge Glück hinein, und
Freidank ist ein braver Mensch. Sie haben wohl auch ein Kind?«

»Ja, ein herziges Mädel von zwei Jahren,« sagte Marie mit leuchtenden
Augen.

»Na, da komm!«

Der Alte faßte seinen »Holländer« fester, gab dem Priester und der
Mutter die Hand und ging. Er trat mit dem schönen, frischen Mädchen
hinaus in den Sonnenschein.

»Wie ist mir's denn, ist das Weib Freidanks nicht eine Evangelische?«
fragte er.

»Ja, er hat sie auf der Wanderschaft kennen gelernt und heimgeführt,
wie er hier das Geschäft von seinem Vater übernahm. Es hat damals
viel Gerede drüber gegeben -- du warst gerade in Ungarn -- und die
fremde, junge Frau ist mit Mißtrauen angesehen worden. Aber sie war so
freundlich und so fleißig, daß jeder ihr gut sein mußte, und an mich
hat sie sich gar sehr angeschlossen, so daß wir rechte Freundinnen
geworden sind.«

»Das freut mich, Marie!« sagte Martin mit besonderer Wärme -- »und
wenn du hinkommst, sag' auch von mir einen Gruß, und ich ließe gute
Besserung wünschen. Ich komme wohl auch selber vor, denn ich habe eine
Arbeit für Freidank! Adieu!«

Er gab dem Mädchen die Hand und bog nach der Seitengasse, an deren Ende
in einem kleinen Garten sein Haus stand.

Nach einem Viertelstündchen kehrte Marie heim mit ernstem Gesicht.

»Es geht sehr schlecht!« sprach sie -- »das ist ein trüber Tropfen in
meine heutige Freude.«

Peter Frohwalt sagte nichts. Er hatte seinen Cylinderhut ergriffen
und die schwarzen Handschuhe und streifte dieselben an; die Mutter
aber band ihre Haube sich fester, und dann gingen die drei nach dem
Pfarrhause.

Das lag so freundlich und behäbig nahe bei der Kirche. Zwei alte Linden
standen davor und beschatteten den Eingang, und zur Seite schloß sich
ein kleiner, gutgepflegter Garten an. In demselben, im Schatten von
Obstbäumen lustwandelten die geistlichen Herren, bis das festliche
Mittagessen angerichtet sein würde. Mit dem weißhaarigen Pfarrer der
Stadt ging ein Amtsbruder aus der Nachbarschaft, der erst vor einem
halben Jahre in diese Stelle gekommen war und die Verhältnisse der
Gegend noch nicht kannte. Er war ein behäbiger Herr mit wohlgenährtem,
glänzenden Gesichte, in welchem nur der unruhige Ausdruck der Augen
störte. Er frug jetzt im Gespräche:

»Sagen Sie mir doch, wer war denn eigentlich der wunderliche alte Kauz,
der auf dem Gottesacker den Primizianten anredete, dieser »Vetter«
Martin? Auf mich machte er einen Eindruck wie Ahasver, der ewige Jude.«

Der alte Pfarrer lächelte gutmütig.

»Etwas von Ahasver haftet ihm wirklich an; er ist ein ewiger Wanderer,
der schon ein gut Stück Welt gesehen und viel erfahren hat. Er ist mit
Pater Frohwalt gar nicht verwandt, aber mit dessen Vater so befreundet
gewesen, daß er als Vetter in der Familie gilt. Er ist ein prächtiges
Original, welchem man gerne manches nachsieht, denn in tiefster Seele
ist er gut. Sein Vater war ein Kaufmann hier im Orte und hat sein
Schäfchen ins Trockene gebracht. Der Sohn sollte studieren und hat's
auch mit der Theologie versucht. Aber er gab's bald auf, trieb dann
Naturwissenschaften und Altertumskunde, und als damals sein Vater
starb, kam er hierher, verkaufte das Geschäft des Alten, erwarb sich
ein kleines Häuschen in der Berggasse und fing nun an zu wandern. Er
lebt sehr bescheiden -- man sagt, daß er nur Brot und Vegetabilien
genieße -- und verwendet sein bischen Rente auf seine Reisen. Er
war schon in Rußland, Frankreich, in der Schweiz, in Ungarn, in
Schweden und Gott weiß wo -- und überall zu Fuß. Wenn er wieder einmal
heimkommt, bringt er mancherlei mit, so daß er ein richtiges kleines
Museum in seinem Häuschen hat ... wie gesagt, ein Original, aber keines
von den schlechtesten.«

Jetzt kam der Primiziant mit seinen beiden Verwandten und alle wurden
herzlich begrüßt. Nicht lange darauf konnte man zu Tische gehen. Das
Speisezimmer in der Pfarrei lag ebenerdig und nach dem Garten zu, und
es herrschte eine behagliche Ruhe darin; auch das matte, durch die
rebenumrankten Fenster aufgehaltene Licht wirkte stimmungsvoll. Der
lange Tisch war mit blendendweißem Linnen gedeckt, und zwischen den
Blumenvasen standen lang- und kurzhalsige Flaschen: Der alte Pfarrer
schien zu Ehren des jungen Priesters alles aufzubieten, was sein Haus
und seine Köchin leisten konnten.

Peter Frohwalt erhielt den Ehrenplatz an der Mitte der Tafel auf
einem bekränzten Sitze; ihm zur Rechten saß seine Mutter und neben
ihm der Pfarrer, zu seiner Linken seine Schwester, welche den
Guardian als weiteren Nachbar hatte. Es wäre nicht ohne Interesse
gewesen, diese Gesichter zu betrachten: Das jugendlich frische
Antlitz des Primizianten mit seinen leuchtenden blauen Augen, die
halb verlegen, halb glückselig dreinschauenden beiden Frauen, das
milde, sanft gerötete Gesicht des greisen Pfarrers, das von dem Kranze
schneeiger Haare freundlich umrahmt war, die energischen und doch
sympathischen Züge des Guardians, dem der lange, graumelierte Bart
auf die braune Kutte weit herabsank, die feisten Wangen und lauernden
Augen des fremden Pfarrers, einige gleichgültige Dutzendgesichter
anderer Geistlicher und am untern Ende das hagere, blasse Antlitz des
jungen Stadtkaplans, aus welchem ein Paar stechende, schwarze Augen
stark hervortraten ... das alles hatte sich in dieser Tafelrunde
zusammengefunden.

Der alte Pfarrer hatte das Tischgebet gesprochen und die Stimmung wurde
bald genug zwanglos und belebt; auch die Frauen legten die anfängliche
Scheu ab, und Marie unterhielt sich heiter mit dem gesprächigen
Kapuziner. Nur der Kaplan blieb ernst und gemessen.

Toaste waren ausgebracht worden, die Flaschen auf dem Tische leerten
sich, und der Nachmittag lief gegen den Abend zu. Da klopfte es an der
Thüre, und gleich darauf trat ein alter Mann ein und kam langsamen
Schrittes auf den Pfarrer zu. Es war der Küster. Er war seit nahezu
vierzig Jahren in seinem Amte und durfte sich deshalb auch manche
Vertraulichkeit erlauben. Darum trat er ohne weitere Anmeldung hier ein.

Der Pfarrer sah darin auch nichts Besonderes; er lehnte sich behaglich
in seinem Sitze zurück, wischte sich den Mund mit der Serviette und
fragte:

»Na, was bringen Sie denn, Hummel?«

»Hochwürden, Herr Pfarrer, die Frau vom Uhrmacher Freidank ist vor zehn
Minuten gestorben, und da wollt' ich fragen, ob ich das Totenglöckel
läuten soll -- -- weil sie doch eine Evangelische -- --.«

Das Lächeln auf den Lippen des greisen Priesters erlosch, aufrichtiges
Mitleid stand in seinen guten Augen, aber zugleich auch ein gewisser
Ausdruck ängstlicher Hilflosigkeit.

»Das ist ja sehr traurig -- das thut mir herzlich leid -- -- es war
ein so rechtschaffenes, hübsches Paar! Der arme Freidank! -- Ja, das
Sterbeglöckchen -- ja -- ja -- na, ich hätte ja eigentlich -- hm -- was
meinen Sie, Pater _Ignaz_?« Mit der letzten Frage wandte er sich an den
jungen Kaplan, der mit seinen scharfen Augen ihn fest anschaute und nun
mit wenig klangvoller, ganz ruhiger Stimme sagte:

»Davon kann doch wohl nicht die Rede sein, Herr Pfarrer; das ist eine
Ehre, die nur dem katholischen Christen zukommt, dessen Seele damit dem
Gebet der Gläubigen empfohlen wird; dem Protestanten nützt das Gebet
nicht, denn er kann des Himmels nicht teilhaft werden!«

Ein lautes Aufschluchzen unterbrach die peinliche Stille, welche diesen
Worten gefolgt war, und alle Augen wendeten sich nach Marie, welche
ihr Gesicht in den Händen barg; die Todesnachricht und nun noch dieses
harte Wort schnitten ihr in die Seele, und zwischen Schluchzen und
Weinen preßte sie heraus:

»Sie war sehr gut, und ich glaube, daß sie in den Himmel kommt!«

Ein strafender Blick aus den Augen des Kaplans, die sich mit jenen des
fremden Pfarrers seltsam und verständnisvoll kreuzten, traf sie, der
alte Stadtpfarrer aber sagte mit gepreßter Stimme: »Na ja, Hummel,
dann muß es freilich unterbleiben -- ein kleiner Unterschied zwischen
Katholiken und Evangelischen wird schon gemacht werden müssen -- na ja!«

Der alte Kirchendiener ging mit gesenktem Kopfe, ohne einen Gruß, mit
langsamen, müden Schritten hinaus ... im Speisezimmer selbst aber war
es vorbei mit der Feststimmung. Peter Frohwalt erhob sich unter dem
Vorwande, daß er an diesem Tage noch eine Stunde stiller Sammlung
für sich haben wolle und entfernte sich mit Mutter und Schwester, die
Zurückbleibenden aber waren ernst und schweigsam geworden. Endlich
sagte der Guardian:

»Daß man nicht beten soll für einen guten, braven Menschen, auch
wenn er nicht unseres Glaubens ist, geht gegen meine Meinung von der
Nächstenliebe und von der Güte Gottes; ich werde der Frau Freidank in
der Messe gedenken.«

Ein heißer Strahl zuckte über die Wange des Kaplans, er preßte
die schmalen, blutleeren Lippen aufeinander, als der alte Pfarrer
hinzufügte:

»Das will ich ebenfalls thun -- Gott gebe dem armen jungen Weibe die
ewige Ruhe!«

Der fremde Pfarrer aber mit dem vollgeröteten Gesichte sprach ernst:

»Ich habe hier die Meinung des Pater Ignaz -- es nützt solches Gedenken
nicht der ketzerischen Seele und ist eine Entweihung des heiligen
Meßopfers. Wie kann man jenen die Gnadenmittel der Kirche zuwenden
wollen, welche in böswilliger Verstocktheit dem alleinseligmachenden
Glauben fernbleiben?«

Der Kaplan nickte zustimmend und seine Augen blitzten unheimlich
scharf, als er sagte:

»Es geht auch gegen kirchliche Lehre und Ueberlieferung.«

Der Stadtpfarrer sah mit seinem gutmütigen Gesichte ängstlich drein,
aber der Guardian strich mit seinen weißen Fingern sich langsam durch
seinen wallenden Bart, schaute den jungen Priester ruhig und groß an
und erwiderte:

»Der Herr verkehrte mit dem Samariterweibe und mit den Pharisäern, und
steht nirgends zu lesen, daß er verboten hat, für eines andern Seele
zu beten. Fanatismus ist zu allen Zeiten zu nichts nütze gewesen, und
die Nächstenliebe, welche Christus mit in das oberste Gesetz für die
Menschen stellt, gilt auch für Andersgläubige; darum hat der Herr die
Geschichte erzählt vom barmherzigen Samariter.«

Nun mischten sich andere in das Gespräch und es war ziemlich laut in
dem Speisesaale der alten Pfarrei, denn die Gemüter erhitzten sich an
Wort und Wein, und es war zuletzt gut, daß die fremden Gäste aufbrechen
mußten.

Während dem war Peter Frohwalt, nachdem er daheim seinen Priestertalar
abgelegt, und einen langen schwarzen Tuchrock angezogen hatte, allein
hinausgegangen in den schönen Sommerabend. Er hatte einen einsamen
Feldweg eingeschlagen, der ihn auf einen Hügel führte, und von da sah
er herab auf die friedliche kleine Stadt im Thale mit ihren weißen
Häusern zwischen den grünen Gärten, und der tiefe Sonntagsfriede,
welcher über dem ganzen Bilde lag, stimmte auch ihn ruhig und
friedlich, so daß er, da ihm das verstorbene Weib des Uhrmachers in den
Sinn kam, ein stilles Vaterunser betete. Er war in strengen kirchlichen
Anschauungen erzogen, aber sein Herz war warm geblieben, und dem Zwange
des Herzens war er in diesem Augenblick gefolgt.

Zur selben Zeit aber befand sich seine Schwester in der Wohnung des
Uhrmachers Freidank. Sie lag in der Webergasse im Erdgeschosse eines
kleinen Hauses. Sonst war in den beiden Zimmern, von welchen das
vordere zugleich als Werkstatt diente, alles sauber und in schönster
Ordnung, aber die liebe ordnende Hand hatte in der letzten Zeit
gefehlt, und heute war sie kalt und starr geworden für immer.

Als Marie eintrat, war ihr Freidank, ein hübscher junger Mann mit
dunklem Vollbart, entgegengekommen und hatte ihr die Hand gereicht. Die
Thränen liefen ihm über die Wangen, als er mit gepreßter Stimme sagte:

»Sie wissen's wohl schon -- -- o, es ist hart, es ist bitter!«

Auch das Mädchen konnte die Thränen nicht zurückhalten.

»Ich möchte sie sehen!« sprach sie leise, und der Mann führte sie
schweigend in das geräumige Nebengemach. Die abendliche Sonne spielte
zwischen grünem Laubwerk freundlich herein, und ein leiser Schimmer
wob sich um das friedliche, schöne Antlitz des jungen toten Weibes,
das, mit einer leichten Decke verhüllt, wie schlafend in seinem Bette
ruhte. An dem Lager aber stand, hochaufgerichtet auf den Fußspitzen,
ein kleines, zweijähriges Mädchen, blond wie die Tote, und haschte mit
seinen Händchen nach der kalten, erstarrten Hand, und zupfte an der
Decke, und sagte immer wieder halblaut: »Mutterchen, Mutterchen!«

[Illustration: ... tief erschüttert traten sie an das Lager des jungen
toten Weibes ...]

Da schluchzte der Mann laut auf, Marie aber hob das Kind auf ihren Arm,
zog es an sich und sprach:

»Mutterchen schläft!«

Dann sah sie tiefergriffen auf die Leiche der Freundin und hierauf nach
dem beinahe fassungslosen Manne.

»Es ist wirklich, als ob sie schliefe -- so ruhig, so schön! Gott
tröste Sie, Herr Freidank ... er wird wissen, warum er Ihnen diese
Prüfung auferlegt. Bleiben Sie standhaft um Ihres kleinen Grethchens
willen und glauben Sie nur -- alle im Städtchen nehmen an Ihnen den
herzlichsten Anteil.«

Der Uhrmacher wischte sich mit dem Taschentuche die Thränen ab und
sagte:

»Sie sind ja so herzensgut, Fräulein Marie -- vergelt's Ihnen Gott! Ja,
getragen werden muß es freilich, wenn ich auch nicht recht weiß, wie.
Ach, meine gute, liebe Grethe!«

Marie ging hin und her in den beiden Zimmern und ordnete da und dort
ein wenig. Am Fenster blühte ein Rosenstock über und über. Sie brach
eine der schönsten Blumen und legte sie still auf die Brust der Toten,
dann sprach sie:

»Ich komme morgen früh wieder, um nach dem Kinde zu sehen.«

»Die Nachbarin Becker ist auch schon dagewesen; sie will Grethel
einstweilen zu sich hinübernehmen!« antwortete der Mann; dann reichte
er dem Mädchen, das sich zum Gehen wandte, warm die Hand und sagte
noch einmal: »Vergelt's Gott!« Marie aber vermochte nicht zu sprechen;
sie eilte mit ausbrechenden Thränen hinaus.

Die Gasse herein aber kam soeben mit glücklich leuchtendem Gesicht
ihr Bruder. Sie sah ihn kommen, aber sie wartete nicht auf ihn. Seine
Seligkeit und ihr Jammer paßten doch nicht recht zusammen, und nach den
Worten, welche heute auf der Pfarrei gefallen waren, hatte sie eine
unbestimmte Furcht, mit ihm über die Tote zu sprechen.

Als sie heimkam, läutete eben die Vesperglocke, und die Mutter saß noch
in ihrem verschossenen Seidenkleide am Fenster und betete.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Zweites Kapitel.


Am andern Morgen bereits um sieben Uhr hatten der Pfarrer, sowie Peter
Frohwalt gleichzeitig ihre Messe gelesen, der erstere am Hochaltare,
der andere an einem der Seitenaltäre. Die Kirche war nur wenig besucht.
In einer der hintersten Bänke, im Halbdunkel unter dem Chor, kniete
der Uhrmacher Freidank und hatte sein Gesicht tief herabgebeugt; er
betete für die arme Seele seines Weibes, und hatte nicht im mindesten
das Bedenken des Kaplans ~P.~ Ignaz, daß sein Gebet ein verlorenes
sein müsse. Nicht weit von ihm saß der Vetter Martin, und schaute
beinahe unverwandt nach dem jungen Priester hin, der mit dem Ausdruck
aufrichtiger Andacht seines Amtes waltete.

Auch diesmal fanden sich nach der Messe einige Frauen, die sich
den Segen des Neugeweihten erbaten, und Martin trat, ohne daran
teilzunehmen, hinaus ins Freie. Der Morgen war herrlich, und der alte
Wanderer sog tief den Atem der Natur ein. Jetzt sah er Freidank und
ging auf ihn zu, um ihm die Hand zu drücken:

»Tröste Sie Gott, mein Lieber -- und sei'n Sie ein Mann! Noch liegt der
blaue Himmel über Ihnen und die blühende Erde um Sie hier, und auf
dieser lebt Ihnen ein liebes Kind -- 's ist Ihnen viel genommen, aber
auch viel geblieben.«

Der traurige Mann nickte einige Male wehmütig mit dem Kopfe, und
wandte sich mit einem Händedrucke schweigend ab nach dem Friedhofe.
Martin ließ ihn allein -- er focht es so vielleicht am besten mit
sich selber aus. Jener aber ging zwischen den grünen Hügeln hin -- er
suchte den Totengräber, um ihn zu fragen, wo er seinem jungen Weibe
das letzte Bett machen wolle. Endlich sah er ihn im fernsten Winkel
des Gottesackers mit dem Spaten hantieren. Er ging langsam auf ihn zu,
und wie er ihn grüßte, hörte der Mann mit seiner Arbeit auf, stützte
sich leicht auf den Griff seines Werkzeuges und sah teilnehmend zu dem
andern empor.

»Für wen ist denn die Grube?« fragte Freidank.

Der Totengräber war kein besonderer Gefühlsmensch, aber es stieg ihm
doch seltsam heiß in die Kehle, als er erwiderte:

»Hier soll Ihre Frau liegen!«

Der Uhrmacher schlug die Hände zusammen und warf einen Blick hinauf
nach dem lachenden Himmel, auf welchen ihn Vetter Martin eben erst
verwiesen hatte.

»Hier, wo die Verbrecher und Selbstmörder eingescharrt werden? -- O du
lieber Gott!«

Der Totengräber zuckte mitleidig mit den Achseln: »'s ist einmal so
Vorschrift!«

»Hat der Herr Pfarrer das so angeordnet?«

»Das gerade nicht, aber das ist bei solchen Fällen immer so, und der
Herr Kaplan hat mir's heute in aller Frühe wieder eingeschärft. Reden
Sie doch einmal mit dem Pfarrer, Herr Freidank -- -- ich thät's ja
gerne anders machen, wirklich, denn mir will der Unterschied doch auch
nicht einleuchten zwischen Evangelischen und Katholischen -- unser
Herrgott muß doch für alle derselbe sein!«

»Ich will einmal hingehen, Thomas -- wartet so lange mit der Arbeit!
Das wär' ja entsetzlich, wenn sie meine gute Grethe hier einscharrten!«

Der Uhrmacher ging wiederum langsam zwischen den Gräbern hin mit
gesenktem Kopfe und wandte sich vor dem Friedhofsthore nach der Pfarrei
zu. Die alten Linden rauschten ihm freundlich und traulich entgegen,
und aus dem Garten wehte Rosenduft heraus auf die Gasse. Er ging durch
den breiten Flur die altertümliche Holztreppe empor und pochte an der
Thür des Pfarrers an. Auf das »Herein!« trat er in das freundliche,
sonnenhelle Gemach, das außerordentlich einfach ausgestattet war. Zwei
zahme Kanarienvögel hüpften, auf jedem der Fenster einer, zwischen den
Blumentöpfen hin und her, und der weißhaarige Priester, der eben sein
Frühstück eingenommen, spielte bald mit dem einen, bald mit dem anderen.

Jetzt wendete er sein mildes, gutes Gesicht dem Eintretenden zu,
und mit dem Mitleid mischte sich in seinen Zügen eine unverkennbare
Verlegenheit. Er reichte Freidank sogleich die Hand und sagte:

»Mein guter Herr Freidank, ich nehme herzlichen Anteil an Ihrem herben
Verluste. Wenn ein solches Glück so plötzlich vernichtet wird, mag man
fast geneigt sein, mit dem lieben Gott zu hadern, aber glauben Sie nur,
der Vater im Himmel weiß auch, warum er _das_ gethan hat und er wird
Ihnen seinen Trost nicht entziehen!«

»Ja, ja, Herr Pfarrer -- 's ist hart,« sprach Freidank, der den Sitz,
welchen ihm der Priester anbot, ablehnte, so daß auch dieser stehen
blieb -- »sie war ein gutes, braves Weib, und nun soll sie nicht einmal
ihre letzte Ehre haben -- das ist das Bitterste.«

»Wieso? -- Was meinen Sie?« fragte der Pfarrer einigermaßen verlegen.

»Da wird ihr Grab gemacht an der Friedhofsmauer, im verlorensten,
verrufensten Winkel, wo vor zwei Jahren der Trunkenbold, der sich
im Brunnwalde aufgehängt hatte, verscharrt worden ist ... muß das
wirklich sein, Herr Pfarrer? Sie hat ja im Leben keinem Menschen ein
Leid gethan; sie hat ihren Herrgott und ihren Nächsten rechtschaffen
geliebt, sie ist ein braves Weib und die beste Mutter gewesen« -- dem
Manne stockte die Stimme vor Schluchzen -- »und nur, weil sie eine
Evangelische ist ... _muß_ das sein, Herr Pfarrer?«

Das milde Gesicht des Priesters war bleicher geworden und seine Stimme
klang unsicher:

»Hm -- na ja, mein guter Herr Freidank ... ich habe ja Ihre liebe Frau
sehr geschätzt und habe ihrer auch heute gedacht in meinem Meßopfer,
und wenn's nach mir ginge, und ich dürfte, wie ich wollte ... aber, na
ja, da sind nun ganz bestimmte Vorschriften, von denen nicht abgewichen
werden darf, und mit denen es das hochwürdige erzbischöfliche
Konsistorium in Prag sehr genau nimmt -- -- und, wissen Sie, dann ist
der Pater Ignaz, so ein junger Geistlicher hat die Augen überall ... na
ja, kurz, mein guter Herr Freidank, ich kann's nicht ändern.«

»Und da soll sie wirklich verscharrt werden wie ein Tier, meine liebe,
arme Grethe, ohne Sang und Klang, denn die Glocken werden ja auch nicht
geläutet, neben dem erhängten Säufer und Diebe? -- das ist ja wie auf
dem Schinderanger ...«

»Na -- na, so dürfen Sie nicht sagen! s'ist ja immer noch im Friedhof,
auf dem Gottesacker, und sie schläft auch dort in des Herrn Hut ...«

»Das hoff' ich« -- sagte der schlichte Mann mit Nachdruck -- »sonst
müßt ich auch an unserm Herrgott verzweifeln; an der Nächstenliebe thu'
ich's nun beinahe. Gott befohlen, Herr Pfarrer!«

Der Geistliche wollte noch etwas sagen, aber Freidank hatte seinen Hut
ergriffen und war fortgegangen. Der greise Priester holte tief Atem;
er trat ans Fenster, aber ihm war der Sonnenschein verbittert, der über
der Erde lag, und seine Vögel lockten ihn mit Zwitschern und Flattern
umsonst zu dem unterbrochenen Spiele. Ihm war das Herz schwer geworden,
und die Seele that ihm weh. So sah er traurig dem Manne nach, der eben
unten aus der Hausthüre trat, und, den Hut tief in die Stirn gezogen,
langsam in die Gasse hineinging. Dieser wandte sich nach dem Hause
des verstorbenen Sportelschreibers, dort hatte er stets freundliche
Teilnahme gefunden, dort hoffte er auch heute auf Trost, wenn er sein
Herz entlasten würde. Daß auch dort ein Priester zu Hause sei mit den
strengen Anschauungen der Kirche, daran dachte er in dieser Stunde
nicht, denn er war nicht gewöhnt, Peter in der Heimat zu treffen. Erst
als er in die Stube trat und den jungen Geistlichen am Tische sitzen
sah, schrak er leicht zusammen, aber schon hörte er die freundliche
Begrüßung der Frauen, und erblickte auch den Vetter Martin, der wie
daheim behaglich in dem Lehnstuhl lag, seinen »Holländer« zwischen den
Knieen.

Freidank ging das Herz über -- es mußte heraus, was ihn drückte, und
schon nach den ersten Worten der anderen stieß er hervor:

»Und denken Sie nur, meine arme Grethe; mein gutes Weib, soll an der
Friedhofsmauer verscharrt werden ...«

Marie fuhr von ihrem Sitze auf und schlug die Hände in einander, und
Martin räusperte sich seltsam laut; der Uhrmacher aber konnte seinen
Schmerz und seinen Unmut nicht verhalten und gab ihm heftige Worte.

Als er endlich innehielt, sagte Peter Frohwalt ruhig:

»Ich begreife Ihre Aufregung, Herr Freidank, aber ich kann sie nicht
billigen. Was wollen Sie denn? Die Protestanten haben sich selber
losgesagt von der alten Mutterkirche und auf deren Gnadenmittel
verzichtet. Sie können nicht verlangen, daß die katholische Kirche
sie ihren Kindern gleichachte und ihnen im Leben und nach dem Tode
dieselben Ehren angedeihen lasse. Auch mußten Sie und Ihre Frau bei
Ihrer Verheiratung sich über solche Folgen klar sein, die leicht
abzuwenden waren, wenn diese in unsere Kirche übergetreten wäre. Nein,
Herr Freidank, ein Unrecht geschieht damit nicht!«

Vetter Martin hatte die Augenbrauen finster zusammengezogen; jetzt
legte er die geballte Hand schwer vor sich auf den Tisch, stand auf und
sagte:

»Und doch ist's ein Unrecht! Aber mit euch Buchstabengläubigen ist
nicht zu streiten. Du bist noch jung, und das Leben schlägt Dir
vielleicht noch die Funken jener Liebe aus der Seele, welche in jeder
Religion das wahrhaft Religiöse ist. Kommen Sie, Freidank!«

Die beiden Frauen wagten kein Wort dazu zu sagen; stumm nickte Marie
Martin und dem Uhrmacher zu, als diese nach kurzem Gruße die Stube
verließen.

Peter Frohwalt stand auf und ging mit großen Schritten durch das
Zimmer; er trug noch das Priestergewand, wie er aus der Messe gekommen
war. Sein frisches Gesicht war etwas blaß geworden, als er sprach:

»Freigeisterei und kein Ende! Das sind alles schöne Worte, für mich
jedoch bestehen die Satzungen der heiligen Kirche!«

»Aber sie sind hart!« wendete Marie schüchtern ein. Der Bruder blieb
vor ihr stehen:

»Scheinbar -- in Wirklichkeit nicht, denn selbst durch solche Maßregeln
sucht die Kirche ihre verlorenen Kinder wiederzugewinnen.«

»Kann sie dadurch nicht auch treue Kinder verlieren?«

Das Wort war dem Mädchen beinahe unbewußt entschlüpft, und die Mutter
schaute erschrocken, der junge Priester erstaunt darein; er erwiderte:

»_Treue_ Kinder gewiß nicht, denn der Gutgesinnte unterstützt sie
in ihren Bestrebungen und hilft ihre Satzungen ehren. Ich hoffe,
daß dem bei dem Begräbnis der Frau Freidank auch hier wird Ausdruck
gegeben werden. Ein guter Katholik hält sich davon fern, weil es ihm
nicht zukommt, ja sogar strafbar ist, an einem kirchlichen Akte einer
ketzerischen Genossenschaft teilzunehmen.«

Ein tiefes Schweigen folgte diesen Worten; man hörte das Ticken der
Uhr und das Summen einer Fliege am Fenster, dann klang die Stimme des
Mädchens, so seltsam fremd und klar:

»Ich werde meine Freundin zu Grabe begleiten!«

»Marie!« rief warnend und drohend der Priester; aber diese fuhr
mutvoller fort:

»Ich würde es mir als Sünde rechnen, wenn ich's nicht thäte, als
Sünde an der armen Grethe, die doch nicht dafür kann, wenn sie als
Evangelische geboren worden ist und von ihrem Glauben überzeugt war,
und als Sünde an Freidank, der mehr Trost braucht als hundert andere.
Und wenn ich eine Sünde damit thue, die wird mir Gott verzeihen, der
barmherziger ist, wie mancher seiner Diener.«

Das aufgeregte Mädchen verließ das Gemach, und Mutter und Sohn sahen
sich befremdend und fragend an.

In der Gasse aber ging Vetter Martin neben dem Uhrmacher hin; er sprach:

»Lassen Sie sich's nicht anfechten -- 's ist zuletzt ganz gleich, wo
der Mensch begraben liegt, wenn ihm nur die Liebe nachfolgt. 's ist
mancher hinter'm Zaun verscharrt worden, der hundertmal besser war als
ein anderer, dem sie die ausgemauerte Gruft mit Weihwasser überschwemmt
und ein Marmordenkmal darauf gestellt haben. Zuletzt begraben wir das,
was wir an unsern Toten geliebt haben, doch nicht in der Erde, sondern
in unseren Herzen, und ob der Leib ihres guten Weibes sich in der Mitte
oder am Ende des Friedhofs in seine Atome auflöst, das macht doch
wahrlich in der Sache keinen Unterschied, so lange ihr Bild und ihr
Gedächtnis bei Ihnen und Ihrem Kinde fortlebt. Das ist die Ansicht
eines alten Weltwanderers, der's gut mit Ihnen meint. Und nun wenden
Sie sich an den Pastor der evangelischen Gemeinde in Burgdorf -- so
hieß ein kleiner Ort in der Nähe, wo eine Zahl von Protestanten vereint
wohnte -- daß er zum Begräbnis ihres Weibes komme, und Sie sollen
sehen, daß ihr die letzten Ehren nicht ganz fehlen werden.«

Freidank fühlte sich durch die Worte Martins aufgerichtet und ruhiger,
und so schied er von ihm mit herzlichem Händedruck.

Am Mittwoch nachmittag erfolgte die Beerdigung des jungen Weibes.
Der Himmel hatte sich umwölkt, und die Luft war schwül; über den
Bergen hingen Gewitterwolken. Trotzdem hatten sich bei dem Hause des
Uhrmachers wie auf dem Kirchhofe ziemlich viele Leute eingefunden,
welche wirkliche Teilnahme, aber auch Neugier angelockt hatte. Es war
seltsam genug, daß keine Glocke klang, wie es sonst Brauch war bei
dem letzten Wege eines Erdenpilgers, und die Leute, zumal die Frauen,
äußerten darüber ihren Unmut. Kein Kreuz ging dem Zuge voran; der
schlichte Sarg mit einer schwarzen Decke verhüllt, schwankte leicht
auf den Schultern von vier Trägern, hinter ihm aber schritt Freidank
einher, der sein Kind auf dem Arme trug; es sollte seiner Mutter das
letzte Geleit geben. Die Kleine sah mit großen Augen und lächelndem
Mündchen auf die Leute, dann auf die Bahre und lehnte den blonden Kopf
an die Schulter des Vaters. Manches Weib aus dem Volke wischte sich bei
dem Anblick die Thränen aus den Augen.

Zur rechten Seite Freidanks ging der Pastor aus Burgdorf, nicht in
Amtstracht, sondern im einfachen, schwarzen Anzuge, ein noch junger
Mann mit offenen, freundlichen Zügen, zur linken schritt der Vetter
Martin einher, mit einem Kranze von blühenden Blumen in der Hand. Nun
schlossen sich eine kleine Anzahl Menschen an, unter ihnen auch Marie.

Langsam, unheimlich still bewegte sich der Zug durch die Gassen, und an
den Fenstern erschienen überall neugierige Gesichter. Auf dem Friedhofe
bog er von dem Hauptwege ab und ging an der Mauer entlang bis dahin,
wo der Totengräber die Erde ausgeschaufelt hatte; unfern der Grube
wucherten Gestrüpp und Brennesseln. Freidank biß die Zähne aufeinander,
sein Atem ging kürzer, und er drückte sein Kind fester an sich. Jetzt
war man zur Stelle. Die Bahre wurde niedergestellt, die vier Träger
übten ruhig ihr Amt und ließen den Sarg auf den Seilen niederrollen, so
daß man nichts als den schlurfenden Ton vernahm in der sonnenheißen,
regungslosen, schwülen Luft.

Jetzt trat der junge Pastor an das Kopfende des Grabes und begann zu
sprechen, und schon nach den ersten Worten kamen die auf dem Friedhof
zerstreuten Leute näher heran, und bald stand um den abgelegenen Winkel
eine zahlreiche Schar. Die Stimme des Geistlichen klang hell und mild
zugleich und nahm manchmal einen weichen, an das Herz greifenden Ton
an. Das schlug so seltsam an Ohr und Seele der Versammelten:

»Versprengtes Kind des evangelischen Glaubens, dem Du treu gewesen
bist bis an das Ende -- der Herr hat Dich in seine Hand gezeichnet und
Deinen Platz Dir bereitet dort, wo alle Guten sich zusammenfinden,
die in seinem Namen gelebt und gewirkt haben und gestorben sind. Dein
Leib aber ruht auch an diesem Plätzchen still und friedlich, und Gott
läßt auch über Deinem Hügel die Sonne scheinen und schickt den Blumen,
welche hier blühen werden, seinen Tau und Regen, sowie er dem gebeugten
Gattenherzen seinen Trost verleihen wird. Und wenn am Tage des letzten
Gerichts sein Ruf alle Schläfer weckt auf der weiten Erde und er die
Seinen sammeln wird, so bist auch Du nicht vergessen und verloren, und
wirst Deinen Mann und Dein Kind wiederfinden in den lichten Höhen, in
welchen es keine Trennung mehr giebt, und in welchen eine einzige,
ewige Liebe waltet. Und dieser Liebe befehlen wir Deine Seele und
befehlen wir uns alle, indem wir beten: Vater unser ...«

Und langsam, ergreifend -- wie man es in dieser Weise vielleicht an
dieser Stelle nie gehört -- sprach der Prediger das Gebet des Herrn
und den Segen. Dann drückte er dem Uhrmacher mit einem milden Worte
die Hand, die dieser fest umklammerte. Das Kind auf seinem Arme hatte
in diesem Augenblick die näher getretene Marie gesehen und streckte
die Händchen nach ihr aus mit lautem Rufen. Das Mädchen errötete, aber
ohne Zaudern trat es heran und nahm die Kleine an sich, während es
ein dankbarer Blick des Vaters traf. Es war eine ergreifende Gruppe:
Der bleiche Mann, der jetzt den Spaten ergriff, um seinem Weibe eine
Scholle Erde auf den Sarg zu legen und neben ihm das blühende Mädchen
mit dem lächelnden Kinde. Es konnte auch festeren Gemütern die Thränen
in die Augen treiben, zumal gerade jetzt aus dem heraufziehenden
schweren Gewölk noch ein müder Sonnenstrahl hervorbrach und die drei
Menschen beleuchtete.

Freidank trat zurück von dem gähnenden Grabe, und Marie, noch immer
Grethel auf dem Arme, beugte sich nieder, hob mit der Hand ein wenig
Erde auf und ließ sie auf den Sarg fallen, dann aber drückte sie der
Kleinen eine dunkle Rose, welche sie mitgebracht hatte, in das Händchen
und sagte:

»Wirf das hier hinein, gib's deinem Mütterchen!«

Heiß stieg es dem Mädchen in die Augen, das Kind aber ließ, noch immer
lächelnd, die Rose niedergleiten und sagte voll naiver Ueberzeugung:

»Mutterchen schläft!«

»Ja, dein Mütterchen schläft!« sprach jetzt eine ernste Stimme laut,
und an das Grab trat der Vetter Martin mit seinem Kranze in der Hand.
»Möge sie schlafen in Frieden, Amen!« fügte er hinzu und ließ den Kranz
hinabfallen, und als ob der Himmel seine Zustimmung geben wollte,
grollte jetzt dumpf und fern der erste Donner.

Bald war der Totengräber nur allein noch an dem Orte und schaufelte
die Grube zu. Freidank aber ging, begleitet von dem Pastor, seinem
Häuschen zu, und Marie mit dem Kinde, ging zur Seite des Vetters Martin
hinterdrein. Die Leute aber, die sich von dem Friedhof aus zerstreuten,
sprachen untereinander:

»Das war einmal erbaulich! -- So schön ist's nicht, wenn ein
Katholisches begraben wird; das Lateinische verstehen wir nicht, und
das Vaterunser wird auch immer so schnell hergesagt ... nein, der junge
Pastor versteht's, ans Herz zu greifen.«

Am andern Morgen aber legte manche Frauenhand einen Blumenstrauß oder
ein Kränzchen nieder auf dem Grabe in dem verlorenen Friedhofswinkel,
und als bei Zeiten der trauernde Witwer kam, fand er den Hügel schon
geschmückt. Er hatte wenig geschlafen in der Nacht, und vieles war
ihm durch den Sinn gegangen, während stundenlang ein Gewitter über
dem Städtchen hing, ab und zu ein Blitz seine Stube erhellte und der
Donner langsam verhallend grollte. Jetzt am Morgen war alles frisch,
blühend, ruhig und die Sonne schien wieder; auch in seinem Herzen
war's wunderbar still geworden. Er ging von dem Grabe seines Weibes,
auf welches er einen Strauß von Rosen niedergelegt hatte, auch diesmal
wieder nach der Pfarrei.

Der Pfarrer hatte am Fenster gestanden und ihn kommen sehen, und ihn
befiel ein leises Unbehagen; trotzdem er den Satzungen der Kirche
gemäß gehandelt hatte, empfand er doch etwas wie ein Gefühl des
Unrechts gegen den Mann, und er empfing ihn darum mit ganz besonderer
Freundlichkeit.

Auch diesmal lehnte Freidank den ihm angebotenen Sitz dankend ab.

»Was ich zu sagen habe, Herr Pfarrer, thue ich besser stehend. Ich
komme nur, um Ihnen meinen Austritt aus der katholischen Kirche
anzuzeigen.«

Der greise Priester erschrak, daß er mit der Hand nach einer Stuhllehne
faßte, und er brachte kein Wort hervor als: »Herr Freidank -- --«

»'s ist mein heiliger Ernst, Hochwürden ... es kommt mir nicht leicht
an, denn ich bin ein guter Katholik gewesen -- wenigstens glaubte
ich ein solcher zu sein -- und es wäre mir auch kein solcher Gedanke
eingefallen ...«

»Aber haben Sie denn diesen Entschluß reiflich erwogen?« fragte der
Pfarrer, der jetzt erst die Fassung wiederfand. »Sie handeln zweifellos
unter dem Eindrucke einer augenblicklichen Erregung, und da das Gesetz
eine gewisse Bedenkzeit verlangt, so hoffe ich, daß der Himmel Sie
erleuchten und stärken wird, und daß Sie der heiligen Kirche treu
bleiben, in welche Sie hineingeboren sind.«

»Ich habe alles erwogen, und in dieser Gewitternacht ist mir der Weg
klar geworden, welchen ich gehen muß, und von dem mich nichts abbringen
kann. Wenn mein armes Weib, wie der Herr Kaplan behauptet, nicht in
den Himmel kommen kann, so brauche ich auch nicht hinzugelangen; sie
ist mir im Leben brav und treu gewesen, und wenn uns der Tod auch
auseinandergerissen hat, so will ich doch, wenn ich einmal sterbe,
wieder mit ihr zusammen sein. Und wenn schon die Evangelischen einen
besonderen Himmel haben sollen, oder auch gar keinen, nun, so will
ich das Schicksal meiner lieben Grethe teilen. Wo die allgemeine
Menschenliebe fehlt, kann auch nicht der rechte Glaube sein -- die
Empfindung hab' ich, wenn ich auch nur ein schlichter Handwerker bin.
Sie sind gut, Hochwürden, das weiß ich, aber daß Sie trotzdem nicht
so dürfen, wie Ihr gutes Herz will, daß Sie mein armes Weib als eine
Ketzerin verdammen müssen, obgleich Sie wissen, wie brav und tüchtig
sie war, das ist's vor allem, was mir die Kirche verleidet, und weshalb
ich noch einmal Ihnen meinen Austritt aus derselben erkläre.«

»Aber bedenken Sie doch Ihr Seelenheil, lieber Freidank! Berauben
Sie sich nicht freiwillig der Gnadenmittel, wie sie in den heiligen
Sakramenten Ihnen geboten werden.«

»Ich befehle mich der Gnade Gottes, wie mein Weib ihr befohlen worden
ist, der auch Ihre Gnadenmittel nicht zuteil wurden. -- Lassen Sie
uns abbrechen, Herr Pfarrer, ich könnte sonst die Ruhe verlieren, die
ich mir zu diesem Schritte am Grabe meiner guten Grethe geholt habe
und könnte aufgeregt und bitter werden. Ihnen danke ich für alle Ihre
Liebe, und ich hoffe, Sie verdammen mich auch nicht um dieses Schrittes
willen.«

In den Augen des alten Pfarrers stieg ein feuchter Schimmer auf; er gab
dem schlichten Handwerker die Hand und sagte:

»Gehen Sie mit Gott, Herr Freidank, und sein heiliger Geist erleuchte
Sie! Vielleicht sagen Sie mir in vier Wochen doch noch anderen
Bescheid.«

Der Uhrmacher schüttelte langsam das Haupt und ging, der Pfarrer aber
griff nach einem Gebetbuche, das auf einem Eckbrett lag: Er wollte
beten für die Seele, welche, wie er selbst nicht mehr zweifelte, seiner
Kirche verloren ging.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Drittes Kapitel.


Die Kunde, daß Freidank »evangelisch« geworden, war bereits am andern
Tage im ganzen Städtchen verbreitet, und Peter Frohwalt hatte sie in
der Sakristei der Kirche von dem Kaplan erfahren, der einige bissige
Bemerkungen daran geknüpft hatte. Er selbst hatte alle Mühe, während
des Meßopfers seine Gedanken von dieser Sache abzulenken, aber nach
Beendigung desselben kehrte die mühsam verhaltene Erregung um so
heftiger zurück. Er machte einen Gang über den Friedhof und zum Grabe
seines Vaters, und sein Auge schweifte auch nach dem Winkel hinüber,
wo Grethe Freidank beerdigt worden war. Dort stand der Uhrmacher und
schien zu beten.

Auch das erbitterte den jungen Priester, und so kehrte er nach Hause
zurück, wo Mutter und Schwester mit dem Frühstück auf ihn warteten. Er
legte seinen Hut beiseite, und indem er die Handschuhe auszog, sprach
er:

»Wißt Ihr's schon -- Freidank will Protestant werden!«

»Das habe ich beinahe gedacht,« bemerkte Marie halblaut; der Bruder
aber sagte heftig:

»So? -- Das ist eine Erbärmlichkeit, so im Knabentrotz dem Herrn und
seiner Kirche den Rücken zu kehren und sein eigen Seelenheil von sich
zu stoßen. Die Kirche freilich verliert nichts daran, denn der Mann war
schon ein räudiges Schaf, als er das protestantische Weib heimführte,
aber es ist um das Aergernis, welches eine solche That giebt. Das ist
nicht mehr Verblendung, sondern Verstocktheit und Herzenshärte, welche,
anstatt in diesem Todesfalle die mahnende Hand des Herrn zu sehen und
ihrem Winke zu folgen, denselben verrät und verleugnet. -- Für unsere
Familie kann keine Gemeinschaft mehr bestehen mit dem Hause Freidanks,
und von Dir, Marie, erwarte ich besonders, daß Du Dich fern hältst. Es
will mir auch sonst nicht schicklich scheinen, wenn ein junges Mädchen
einem unbeweibten Manne ins Haus läuft, als hätte sie es auf ihn
abgesehen.«

In das Gesicht Mariens stieg eine heiße Röte bis unter die glänzenden
Haarflechten, und ihre Stimme bebte vor Erregung, als sie sprach:

»Ich glaub's nicht, daß es Leute giebt, die so denken, denn ich sowohl,
wie Freidank haben bei diesem Jammer anderes im Sinn. Aber wüßt' ich
auch, daß man so spricht, es könnt' mich nicht abhalten, ab und zu nach
dem Kinde zu sehen, das seine Mutter mir auf die Seele gebunden hat,
noch als ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe. Und die Kleine
hängt auch an mir. Wenn aber der Freidank evangelisch werden will, so
kann ich's wenigstens begreifen, wenn ich's auch nicht billige. Es ist,
wie ich Dir gesagt habe, daß auf solche Weise die Kirche auch treue
Kinder verlieren kann.«

Peter Frohwalt hatte sich in seinem Sitz zurückgelehnt und sah mit
großen, starren Augen seine sonst so zurückhaltende, schüchterne
Schwester an.

»So? -- Was heißt auf solche Weise? -- Weil die Kirche auf ihren
ehrwürdigen Satzungen besteht und sie nicht um der Gefühlsduselei jedes
beliebigen Thoren willen bricht, soll sie verantwortlich gemacht
werden? Auf welcher Seite ist die Treue und die Treulosigkeit? --
Das glaube ich, daß das Grab in der Friedhofsecke bei thränenseligen
Weibern ein romantisches Mitgefühl erweckt, aber das ist vorübergehend,
und ruhige Erwägung wird der Kirche zuletzt Recht geben. Das hoffe ich
auch von Dir, und darum erwarte und wünsche ich, daß Euer Verkehr mit
Freidank aufhört. Das seid Ihr mir schuldig.«

Die Röte war aus dem Antlitz des Mädchens gewichen, und sie saß mit
gefalteten Händen schweigend da, indes die Mutter sagte:

»Gewiß, Peter hat Recht, und uns kann das niemand übel nehmen. Marie
wird sich schon fügen --« bemerkte sie begütigend zu dem Sohne und goß
ihm dabei den dampfenden Kaffee in die goldgeränderte Tasse. Dann wurde
es ganz stille in der Stube, keiner der drei Menschen fand mehr ein
Wort, Marie aber fühlte, wie ihr die Thränen über die Wangen rannen,
ohne daß sie wagte, dieselben abzutrocknen.

Am Abend war sie ausgegangen, um etwas zu besorgen. Da begegnete ihr
die Nachbarin Freidanks, welche dessen kleines Mädchen auf dem Arme
trug. Das Kind schrie schon von weitem laut nach Marie, und diese
konnte nicht anders, als dasselbe an sich nehmen. Fest preßte sie sein
Köpfchen an ihre Brust, streichelte ihm die Wangen, und hörte nur mit
halbem Ohr auf das, was das Weib redete.

»Er wird doch bald wieder heiraten müssen, schon wegen dem Würmchen da.
Was soll denn aus dem Kinde werden ohne eine Mutter?« sprach die Frau
und dabei sah sie Marie so eigentümlich von der Seite an, daß diese
fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Beinahe mit hastiger
Geberde setzte sie die Kleine auf die Erde nieder und wollte mit
raschem Gruße sich entfernen, als wie aus dem Boden auftauchend, aus
dem Schatten eines nahen Baumes Freidank trat.

Sie konnte ihm nicht ausweichen, aber in ihrer Verlegenheit und
Aengstlichkeit that sie scheu und fremd, so daß der Uhrmacher beinahe
traurig sagte:

»Sie nehmen mir's wohl auch übel, daß ich evangelisch werden will?«

Da preßte sie das Wort heraus:

»Nein, Herr Freidank ... im Gegenteil, ich fühl's, daß Sie nicht anders
können, aber ... dort kommt mein Bruder -- Adieu!«

Sie huschte, hochrot vor Erregung, hastig fort; aber Peter Frohwalt
hatte sie doch bereits bemerkt. Er kam von einem Spaziergang mit dem
Kaplan zurück, und dieser sprach mit seiner trockenen, kalten Stimme:

»Ihre Schwester sollte doch kein Aergernis geben.«

»Es wird nicht wieder geschehen,« erwiderte der andere gepreßt und
unmutig, und schweigend kamen sie näher zu der Stelle, wo das Weib mit
dem Kinde stand, sowie der Uhrmacher, welcher dem davoneilenden Mädchen
betrübt nachschaute. Jetzt grüßte er die beiden jungen Geistlichen,
indem er seine Mütze abnahm, diese aber sahen zur Seite und beachteten
seinen Gruß nicht.

Als Peter Frohwalt daheim ankam, sagte er zu seiner Mutter:

»Ich will meinem Freunde schreiben, ob ich von nächster Woche an einige
Zeit bei ihm wohnen kann, bis ich vom Konsistorium meine Berufung an
eine Stelle erhalte; ich kann nicht bei Euch bleiben, weil ich mich
Mariens schämen muß.«

Das Mädchen war eben erst eingetreten und stand mit klopfendem Herzen
beim Fenster. Das Wort war zu hart, und in ihr regte sich das verletzte
weibliche Gefühl:

»Verzeih' Dir's Gott, Peter, was Du sprichst ... das ist doch, als ob
ich eine verworfene Dirne wäre! Ich habe Freidank nicht gesucht und
bin gegangen, als er kam; der Umgang mit dem Kinde aber kann nichts
Schlechtes sein, denn Christus ließ ja auch die Kinder zu sich kommen,
weil ihrer das Himmelreich ist.«

Raschen Schrittes ging sie hinaus, um in ihrem Stübchen dem gepreßten
Herzen Luft zu schaffen, Peter Frohwalt aber sagte zu seiner Mutter:

»Gieb acht auf sie und hüte sie, Mutter! Ihr Wesen gefällt mir nicht.
Sie ist störrig und halsstarrig, und ich fürchte um ihr Seelenheil.«

Die alte Frau suchte den Sohn zu beruhigen und gab ihm die besten
Versicherungen ihrer Wachsamkeit, aber Friede und Behagen war aus dem
kleinen Hause des Sportelschreibers gewichen, und als die drei Menschen
am Abend beisammen saßen, lag es über ihnen wie ein gewitterschwüler
Hauch, und nur wenige Worte gingen hin und her.

Am andern Morgen brachte der Postbote einen größeren Brief
mit auffallendem Siegel, adressiert an Peter. Er war von dem
erzbischöflichen Konsistorium und enthielt seine Ernennung zum Kaplan
in Nedamitz. Dabei war bemerkt, daß wegen unheilbarer Erkrankung des
bisherigen Inhabers dieser Stelle es wünschenswert erscheine, wenn er
dieselbe so bald als möglich antrete.

Diese Mitteilung kam unter den augenblicklichen Verhältnissen nicht
unangenehm, wenngleich der junge Priester, welcher seine theologischen
Studien mit Auszeichnung absolviert hatte, heimlich gehofft hatte, daß
man ihm in irgend einer Stadt eine Stellung geben, oder ihn gar als
Adjunkt an die theologische Fakultät berufen werde. Aber er war nicht
unmutig -- wohin der Herr ihn rief, dort wollte er gerne wirken. Auch
die Mutter hatte vielleicht anderes erwartet, aber sie äußerte sich
nicht, sondern beeilte sich nur, alles, was an Wäsche und dergleichen
in Ordnung gebracht werden mußte, schnellstens zu besorgen, so daß
schon für den übernächsten Tag die Abreise Peters festgesetzt werden
konnte.

Dieser machte seine Abschiedsbesuche, vor allem in der Pfarrei, bei
einigen bekannten Familien und endlich auch bei dem Vetter Martin. Er
empfand ein kleines Unbehagen, als er die stille Berggasse entlang
schritt, an deren Ende in einem schlichten, wenig gepflegten Garten
das Häuschen des wunderlichen alten Herrn stand. Es hatte nur ein
Erdgeschoß, welches eine kleine Küche, ein ebenso kleines Schlafzimmer
und außerdem noch drei Räume enthielt, welche mit allerhand
Kuriositäten vollgepfropft waren. Als Knabe hatte Peter immer ein
heimliches Grauen empfunden, wenn er die wegen der mit wildem Wein
dichtumwachsenen Fenster beinahe stets halbdunklen Stuben durchschritt.
Die Gerippe von Menschen und Tieren in den Ecken, alte, blutrostige
Waffenstücke, Reste aus der Pfahlbautenzeit, verstäubte Schnitzereien,
Steine und Muscheln, eine überaus reiche Stöckesammlung deren
einzelne Exemplare nach den Ländern benannt waren, auf denen sie als
Reisegefährten gedient hatten, und vieles andere mehr fand sich hier
beisammen; der Vetter Martin aber saß in seiner »Bibliothek« an einem
großen, unbemalten Eichentische, hatte einen alten, blumigen Schlafrock
an, eine seidene Mütze mit großem Schirm auf dem etwas struppigen Haare
und blies aus einer langen Pfeife behagliche Wolken. Er war eben bei
der Sektion eines toten Hamsters, den er Gott weiß wo erwischt haben
mochte, denn die Tierchen waren sehr selten in der Gegend, und ließ
sich auch gar nicht stören.

»Ih, sieh mal, Peter -- welche Ehre! Setz dich nieder, ich bin gleich
fertig. Am Hunger ist das Vieh nicht zugrunde gegangen, im Gegenteil,
eher an einer Indigestion. Und dabei futtert sich das Biest auch noch
die Backentaschen voll, daß es eine Schande ist. Ja, 's giebt unter
Mensch und Tier Exemplare, die niemals genug kriegen und anderen nichts
gönnen, weder im Leben noch im Tode. Nicht einmal eine Scholle Erde auf
dem ... Ja so ... na, was machst Du denn Gutes?«

Peter erzählte, warum er gekommen sei. Der Alte schob seine Mütze etwas
aus der Stirne, sah ihn an und sprach:

»Nedamitz! Das Nest kenne ich nicht, obwohl ich ein gut Stück Heimat
und Fremde gesehen habe, aber so viel ich weiß, liegt's bei ***, an
der Sprachgrenze. Wirst noch tschechisch lernen müssen, fürcht' ich,
aber ich hoffe auch, daß Du das Deutsche drüber nicht vergißt. Unsere
deutschen Priester können überhaupt von den tschechischen Amtsgenossen
lernen, daß sie unbeschadet ihrer Pflichten auch ihrem Volke in Liebe
zur Muttersprache und zur Väterart ein Beispiel geben sollen. Na, der
Anfang ist gut, um den Ehrgeiz im Zaum zu halten und zuletzt kannst
Du gerade in Nedamitz recht viel Gutes stiften. Dazu giebt's auch im
kleinsten Neste Gelegenheit, denn nicht, _wo_ man schafft, sondern
_wie_ man schafft, darauf kommt's an ... Aber da halte ich Dir eine
Predigt, das ist ja die umgekehrte Welt!«

»Wer Deine Erfahrungen hinter sich hat, Vetter Martin, darf auch einmal
Unsereinem eine Predigt halten!«

»Das freut mich, wenn Du das einsiehst! Das Leben bleibt die beste
Hochschule, das hab' ich erfahren, und das schleift einem Manches
ab, wovon sich die Schulweisheit nichts träumen läßt. Grau ist alle
Theorie, sagt der große Dichter, und grün des Lebens goldner Baum.
Und das Leben lehrt einem vor allem eines: Toleranz! Wer die Menschen
gesehen hat in allen Ländern und überall Gute und Böse, Gerechte und
Ungerechte, der weiß, daß es verschiedene Wege geben kann, die alle zum
Himmel führen, aber dem thut auch jede Engherzigkeit weh, besonders,
wenn sie einer übt, den man lieb hat. Du verstehst mich, Peter!«

»Ich weiß -- Du meinst die Sache mit Freidanks Weib.«

»Meine ich. Und der Mann will Protestant werden, weil er der größern
Liebe nachgeht. Da soll einer den Stein auf ihn werfen, wenn er nicht
selber ein Pharisäer ist. Erst greifen sie ihm ans Herz und zerpressen
es ihm mit kalter Härte und mit frostiger Satzung, wovon der Himmel
nichts weiß, und dann soll der Mann sie dafür lieben und die Hand ihnen
küssen. Ihr verdammt ihn -- ich hätte mich gewundert, wenn's anders
gekommen wäre. Nur wer Liebe säet, wird Liebe ernten.«

Peter saß wie auf glühenden Kohlen. Der alte Mann vor ihm, der,
während er redete, ruhig an dem Hamster herumschnitt, war von seinen
Kindestagen an ihm eine Respektsperson gewesen, die er gleich neben
seinen Vater stellte, und im Grunde wußte er gegen seine Bemerkung auch
nichts zu sagen, als daß die Kirche ihm sein Verhalten vorschreibe.

»Es giebt ein höheres Gesetz, als das Deiner Kirche, welches nur für
einen Teil der Menschen gilt -- ein Gesetz, das für alle vorhanden
ist, die über die Erde hingehen, das ist das Gesetz der allgemeinen
Bruderliebe. Sieh, ich habe in Schweden totkrank gelegen, und bin als
wildfremder Mensch und als Katholik dazu in einem protestantischen
Pfarrhaus gepflegt worden, Wochen lang, und kein Mensch hat mich nach
meinem Glauben gefragt, und wenn ich gestorben wär', so hätten sie
mich -- das glaub' ich felsenfest -- nicht im Winkel ihres Friedhofs
eingescharrt. So, jetzt bin ich fertig mit dem da« -- er schob den
kleinen Kadaver, den er entbalgt hatte, beiseite -- »und will nach
meinen Rosen sehen.«

Er erhob sich, und Peter mit ihm. Diesem war die Kehle wie zugeschnürt;
er hätte manches sagen mögen, aber es kam ihm dem alten, braven Manne
gegenüber so leer und haltlos vor, daß er unmutig beinahe an sich
selber irre ward. So ging er an seiner Seite durch das nächste Zimmer,
in dessen Ecke nahe beim Fenster ein weißes Gerippe stand. Vetter
Martin blieb einen Augenblick davor stehen und sagte humoristisch:

»Na, was meinst Du wohl, ob der einmal katholisch oder evangelisch war?«

[Illustration: Auf das in der Ecke stehende Gerippe zeigend, sagte
Vetter Martin humoristisch: »Na, was meinst Du wohl, ob der einmal
katholisch oder evangelisch war?«]

Dann schritt er weiter. Auf einem Tischchen lag ein kleines,
abgegriffenes Buch. Das nahm er in die Hand, blätterte flüchtig drin
und indem er es Peter Frohwalt reichte, sprach er:

»Das kleine Werkchen will ich Dir schenken, ich habe in mancher Stunde
Trost und Erhebung drin gefunden, vielleicht kann's auch Dir von Nutzen
sein! Der's geschrieben hat, war ein guter, edler Mensch, und das
bleibt das Beste, was man von jemandem sagen kann.«

Der junge Geistliche nahm das Bändchen und schlug den Titel auf: Es war
Schefer's »Laienbrevier«. Er dankte für die Gabe und ging mit dem Alten
hinaus in den Garten. Hier sprachen sie noch ein Weilchen über dies und
das, dann ging Peter, nachdem Vetter Martin ihm noch zugerufen hatte:

»Und Nedamitz hoffe ich auch kennen zu lernen, und es soll mich freuen,
wenn ich Dich dort recht zufrieden wiedersehe.«

Am andern Morgen früh fuhr der junge Priester mit dem Postwagen hinaus
durch das alte Thor, in dessen Nähe sein Vaterhaus stand. Vor demselben
harrten Mutter und Schwester und winkten ihm zu; der Postillon blies in
herkömmlicher Weise das Lied, das er seit fünfundzwanzig Jahren stets
bei diesem Anlasse hören ließ: »Muß i' denn zum Städtele 'naus,« und
dann rollte der schwarzgelbe Wagen auf der staubigen Straße hin, hinein
in den sonnigen Tag.

Auf der Höhe beim Kapellchen, wo am Tage der Primiz der fahrende
Handwerksbursche gesessen hatte, stand der Vetter Martin, auf seinen
»Holländer« gestützt, die Mütze mit dem breiten Schirm weit in die
Stirn hereingezogen, und rief ihm noch einmal ein »Glückauf!« nach,
dann fuhr der Wagen bergab und hinter dem Reisenden versank die kleine
Stadt.

Er war allein in dem Wagen, hatte die Fenster geöffnet und ließ die
angenehme, kühle Morgenluft hereinstreichen. An seinem Auge gingen die
freundlichen Landschaftsbilder mit all den fleißigen Menschen vorüber,
Lerchen sangen aus der Höhe nieder, und ihm wurde die Seele weit. Er
ging mit den besten Vorsätzen hinein ins Leben und in seinen Beruf.

Nach etwa zwei Stunden hielt der Wagen kurze Rast in Burgdorf. Das
war die kleine evangelische Gemeinde mitten zwischen der katholischen
Bevölkerung, die durch Gott weiß welchen Anlaß hieher verweht worden
war. Eine schmucke Kirche mit weißen Mauern und einem zierlichen
Türmchen, dessen vergoldetes Kreuz im Sonnenschein blinkte, stand
auf einer kleinen Anhöhe, unfern davon das schlichte Pfarrhaus, von
Holzfachwerk errichtet, mit spiegelnden Fenstern. An diesem fuhr der
Wagen vorüber. Im Gärtchen vor dem Hause stand der junge Pastor, und an
seinem Arme lehnte blühend und frisch sein Weib, schmuck und einfach,
und sie sahen zwischen den Rosenbüschen hin nach dem vorüberrollenden
Wagen. Zwei Kinder spielten jauchzend vor ihnen im Sande.

Peter Frohwalt wurde von seltsamen Empfindungen erfaßt, aber er wußte
sich selbst nicht volle Rechenschaft darüber zu geben. Das Familienbild
war von so friedlicher Anmut und atmete so sehr den Duft stiller,
glücklicher Häuslichkeit, daß darüber der Unmut gegen den Ketzer
zurücktrat und ein wehmütiger Neid beinahe die Oberhand gewann. Er
wollte das Gefühl abschütteln, sobald das Dorf hinter ihm lag, aber
unwillkürlich wandte er sich von einer kleinen Anhöhe aus nochmals
zurück. Der ganze Ort war so sauber und freundlich, ja er sah geradezu
wohlhabend darein, und tiefblauer Himmel lag über den grünen Gärten und
den roten Dächern, gerade so wie über dem katholischen Lande ... unser
Herrgott machte keinen Unterschied!

Beinahe hätte ihn die Wahrnehmung verstimmt, doch er besann sich, daß
geschrieben steht, daß Gott seine Sonne scheinen läßt über Gerechte
und Ungerechte. Aber seine Gedanken wollte er doch ablenken, und so
faßte er in die Tasche, in welche er noch zu guter Letzt das von
Vetter Martin erhaltene Buch gesteckt hatte. Er schlug es auf und
fand als Anhang zu dem »Laienbrevier« noch eine Anzahl später wohl
beigebundener Scheferscher Gedichte; er las:

    Nimm alle auf, schließ keinen aus. So thut
    Der Gott; drum ist er's; und so thust Du göttlich.
    Wer sich und seine Sache einzig will
    Zu starrer Herrschaft bringen, gegen den
    Erhebt sich jeder Mensch von freier Seele,
    Und ihn, den _Unduldsamen, duldet Keiner_.
    Der stützt nicht seine Macht, wer andre ausschließt,
    Der wird unmöglich in dem Menschenschwarm ...

Gern hätte er das Büchlein weggeworfen, aber die einfache Sprache, der
edle Gedankenausdruck fesselte ihn.

    Den nehmen alle an, wer alle aufnimmt.
    Wer alle aufnimmt, der erweitert sich
    Das Herz zum Himmel; und wer alle einschließt
    In sein Gemüt, sein Glück und seinen Glauben,
    Der ist der wahre Mensch, der redliche,
    Der große ...

Peter Frohwalt versank in Nachdenken und kümmerte sich nicht mehr um
die Landschaftsbilder, die an ihm vorüberzogen. Was wollte er selbst
denn sein? -- Ein wahrer, redlicher Mensch, und der Weg zu diesem Ziele
sollte eine Toleranz sein, die den Satzungen seiner Kirche nicht völlig
entsprach! Es begann in seiner Seele sich ein Zwiespalt zu regen, und
er war froh, als der Wagen in der Stadt ankam, von wo aus ihn das
Dampfroß weiter tragen sollte.

Gegen Abend langte er in seinem Bestimmungsorte an. Von der letzten
Bahnstation hatte er eine gute halbe Stunde zu gehen, aber das
Marschieren that ihm wohl, nachdem er so lange in dem heißen Waggon
gesessen hatte. Langsam schritt er durch die reifenden Felder, bis
er das Dorf Nedamitz vor sich liegen hatte. Es war ziemlich groß,
die Kirche lag am letzten Ende und ringsum dehnte sich ein welliges
Hügelland aus, auf welchem da und dort ein grüner Hopfengarten sich
zeigte. Die Gegend war ziemlich einförmig.

Bei einem rotgestrichenen Holzkreuz standen zwei Kinder, Mädchen, mit
Feldblumensträußchen in den Händen; sie knixten und sagten wie mit
einer Stimme:

»~Pochválen bud' Pán Ježiš Kristus!~«[1]

    [1] Gelobt sei Jesus Christus!

Er antwortete, da ihm Gruß und Antwort von seinem Prager Aufenthalte
her bekannt war:

»~Až na věky~.«[2]

    [2] In Ewigkeit!

Dann ging er rascher weiter; es war ihm unbehaglich, daß der
erste Gruß, den ihm die neue Heimat entgegenbrachte, nicht in den
Mutterlauten klang, und er hatte auch die unbestimmte Furcht, die
Kinder möchten ihn tschechisch anreden und ihn in die Verlegenheit
bringen, ihnen nicht antworten zu können.

Jetzt klang vom Dorfe her die Aveglocke. Das war noch ein anderer Gruß;
jetzt grüßte ihn die Stimme seiner Kirche, und andachtsvoll entblößte
er das Haupt und betete den »englischen Gruß«. Wie er durch die Gasse
des Ortes schritt, begegnete er vielfach Landsleuten, die von den
Feldern kamen oder vor den Thüren saßen. Mancher kümmerte sich gar
nicht um ihn, andere, zumal Weiber, grüßten, fast durchaus in deutscher
Sprache, und die Kinder kamen heran und küßten ihm die Hand. Er ging
langsam und empfand jetzt beinahe ein Wohlbehagen bei dem Gedanken,
hier daheim zu sein.

Nun war er bei der Pfarrei. Es war ein ansehnliches Gehöft, von einer
Mauer umgeben, durch welche ein Thor hinein führte in den Hof. Dieser
war nicht besonders sauber gehalten; Hühner und Gänse liefen umher,
aus dem Stalle blökte ein Rind, und an der Kette lag vor seiner Hütte
ein brauner, zottiger Hund. Bei dem Wassertroge schäkerte ein älterer
Knecht mit einer jungen Dirne, einer Magd, in einer ziemlich freien
Weise.

Die Beiden fuhren auseinander, als der junge Priester herankam,
der Knecht lief nach dem Stalle zu, das Mädchen aber blieb mit dem
gefüllten Wassereimer stehen und grüßte mit einem verlegenen Knixe.
Peter Frohwalt sagte:

»Treffe ich den Herrn Pfarrer zu Hause? -- Ich bin der neue Kaplan!«

Bei diesem Worte setzte die Dirne den Eimer aus der Hand und huschte,
ohne ein Wort zu erwidern, in das Haus, und er folgte ihr langsam.

Das Pfarrhaus war ein altes, einfaches, aber umfangreiches Gebäude mit
vortretendem Obergeschoß und einer um dasselbe laufenden Holzgalerie;
es machte im ganzen einen behaglichen Eindruck. Die Schwelle war
schmutzig und Peter mußte darüber wegtreten. Da erinnerte er sich, was
das Volk bei ihm zu Hause sagte bei solchen Anlässen: Man würde sich
bald ärgern.

Kaum war er in den Flur gekommen, als ihm, wohl durch die Magd gerufen,
ein Weib von etwa 50 Jahren entgegentrat, angethan wie eine Bäuerin,
mit schwarzem Mieder, und nackten, drallen Armen; eine große blumige
Schürze hatte sie umgebunden. Ihr Gesicht war einmal hübsch gewesen,
jetzt sah es groß und gerötet aus. Sie wischte sich die Rechte an dem
Schürzenzipfel ab und reichte sie dem jungen Priester, indem sie ihn in
tschechischer Sprache begrüßte.

Peter Frohwalt hatte halb widerstrebend ihr seine Hand gegeben und
sagte:

»Es thut mir leid, aber ich verstehe das Tschechische nicht!«

»Was?« rief das Weib nun deutsch -- »Sie können nicht einmal Böhmisch?
-- Ja, wie wollen Sie denn hier durchkommen? Das begreife ich nicht,
wie das Konsistorium einen Kaplan schicken kann, der kein Böhmisch
versteht!«

Sie ließ den verblüfften jungen Mann einfach stehen oder vielmehr, sie
überließ es ihm, ihr zu folgen, indem sie jetzt die Treppe emporstieg
und ihm sehr ausdrucksvoll den breiten Rücken zuwendete. Und Peter ging
hinter ihr drein. Auf dem oberen Flur riß sie nach raschem Anpochen
eine Thür auf und rief hinein:

»Da schickt das Konsistorium uns einen, der nicht Böhmisch kann!«

Drinnen wurde ein Stuhl gerückt und gleich darauf erschien auf
der Schwelle der Pfarrer. Er war in Hemdärmeln, mit einem kleinen
Seidenkäppchen auf dem grauen Kopfe, eine hagere Gestalt, deren Gesicht
im Halbdunkel nicht gut zu erkennen war.

»Seien Sie willkommen!« sagte er mit einem etwas heiser klingenden
Organ und reichte dem neuen Hausgenossen die Hand. Er zog ihn nun
in sein Zimmer, nachdem er noch in tschechischer Sprache das Weib
gefragt, ob die Wohnung für den Herrn Kaplan in Ordnung gebracht sei
und eine mürrisch-kurze Antwort erhalten hatte. Er fuhr eilig in
einen alten, langen Hausrock, indem er sich entschuldigte, daß er bei
der herrschenden Hitze es sich bequem gemacht habe. Nun konnte Peter
Frohwalt den Mann, sowie den Raum einigermaßen mustern. Der erstere
hatte trotz seiner Magerkeit ein rotes, einigermaßen gedunsenes Gesicht
mit kräftig hervortretender Nase, ein paar seltsam feucht flimmernde
Augen, und mochte ungefähr sechzig Jahre zählen.

Das Zimmer sah einfach genug aus. Zwei Tische, einer am Fenster, ein
anderer vor einem verschossenen, ehemals wohl grünen Sopha, über
dem ein großes Bild hing -- der einzige Wandschmuck -- ein braunes,
wurmstichiges Büchergestell, das bedenkliche Lücken zeigte, vier
oder fünf Holzstühle, eine Bank in der Nähe des Ofens, ein alter
Kleiderschrank und eine Kommode, die mit ihrer hellen Farbe zu den
übrigen Möbeln nicht paßte -- das war die Ausstattung des Gemaches.
Auf dem Tische bei dem Sopha aber stand ein großer Zinnkrug und
daneben ein Glas mit einem Reste Bier.

»Ich denke, Sie werden sich hier schon einrichten,« -- sagte nun der
Pfarrer, -- »es ist gerade nicht viel zu thun, wenn man es erst richtig
anfaßt. Ihrem Vorgänger hat's gut gefallen, und wir hatten recht schön
mit ihm zusammen gelebt -- da bekam er die Schwindsucht, der arme
Teufel, und ging in seine Heimat; wiederkommen wird er nicht mehr. Er
hat's verstanden, sich mit der _Barbara_, der Köchin, gut zu stellen,
die ihm manchen besondern Bissen zugesteckt hat -- na, ich habe nichts
dawider gehabt. Machen Sie nur auch, daß Sie gut Freund mit ihr werden!
Sie ist nun schon fünfundzwanzig -- -- hm, hm ... lange Zeit bei mir,
und darum nimmt sie sich auch manchmal etwas mehr heraus. Das sag' ich
Ihnen, damit Sie wissen, woran Sie bei der oder jener Gelegenheit sind.«

»Wie es scheint, nimmt sie mir's schon übel, daß ich des Tschechischen
nicht mächtig bin,« bemerkte Frohwalt, und der andere sagte mit einem
breiten Lächeln:

»Ja, eine gute Tschechin ist sie, und darum hat auch Ihr Vorgänger,
der Pater Sloczek, einen Stein bei ihr im Brette gehabt. Aber
gerade notwendig ist es nicht, daß Sie das Böhmische verstehen. Das
Dorf ist eigentlich ganz deutsch und nur die Filiale Květau ist
gemischtsprachig. Aber da genügt's, wenn ich des Böhmischen mächtig
bin. Doch jetzt will ich Sie auf Ihr Zimmer bringen und Ihr Gepäck von
der Station holen lassen, und zum Abendbrot sehen wir uns dann hier
wieder.« --

Es waren zwei mäßig große Räume, welche dem jungen Kaplan zur Wohnung
angewiesen waren, so einfach eingerichtet, wie das Zimmer des Pfarrers,
und mit weiß getünchten Wänden. Die Fenster des einen, welches als
Schlafgemach diente, gingen nach dem Hofe hinaus und über diesen hinweg
nach der Dorfgasse, diejenigen des andern schauten ins freie Land, auf
grüne Wiesen, wogende, goldschimmernde Felder, kleine Wälder, und im
Hintergrunde fern verdämmernd blaute eine Bergkette. Hier hatte Peter
Frohwalt hinausgeblickt und von seiner Zukunft geträumt. Der tiefe
Gottesfrieden ringsum, der gleichsam durch das offene Fenster mit dem
milden Abendhauche hereinzuwehen schien, that ihm wohl und wiederum
wie am Morgen dachte er daran, daß er auf diesem kleinen, stillen
Erdenflecken, wohin ihn Gott gestellt, Segen bringen wollte nach seinen
besten Kräften.

Die Dienstmagd rief ihn zum Abendbrot. Er fand den Pfarrer bereits am
Tische sitzend. Auf dem nicht mehr ganz sauberen Linnen stand Brot,
Butter, Käse, einige Eier und aufgeschnittener Schinken, dazwischen
wieder der große Zinnkrug, aus welchem der Pfarrer die Gläser füllte.
Dieser sprach nicht viel während des Essens, erst nach demselben lehnte
er sich behaglich in seinen Stuhl zurück und begann, während er seine
Pfeife stopfte, den jungen Kaplan nach seinen Familienverhältnissen zu
befragen.

Dann trat die Köchin ein und schien den Tisch abräumen zu wollen, aber
sie setzte sich auf einem Stuhle neben dem Pfarrer nieder, stemmte den
Arm vor sich hin und sagte:

»Der Waldbauer war da, aber den Pachtzins für die Wiese hat er noch
immer nicht gebracht; eine Kuh wär' ihm gestorben, und er hätt' eine
andere kaufen müssen, und da will er noch acht Wochen Frist haben --
aber das geht nicht, er ist ein verlogener Lump, und ich hab' ihm auch
gesagt, daß wir nicht länger warten können und daß wir ihn verklagen,
wenn er nicht bei acht Tagen zahlt.«

Das Weib sprach so resolut und selbstbewußt, daß Peter Frohwalt den
Pfarrer einigermaßen befremdet und erstaunt anblickte. Dieser schien
auch verlegen; er räusperte sich, trank einmal mit kräftigen Zügen sein
Glas leer und sagte dann:

»Er hat wirklich das Unglück gehabt mit der Kuh, Barbara -- wir wollen
doch nicht hart sein; er wird schon zahlen!«

»Ach was, Sie sind immer viel zu gut, und darum kommen wir zu nichts.
Na, mir soll's recht sein -- aber ich halte den Waldbauer für einen
Lumpen. Na, wie wird's denn heute abend mit einem Spiel? Kann er's
denn?«

Die letzte Frage war von einem Seitenblicke auf den Kaplan begleitet,
den sie bisher so gut wie gar nicht beachtet hatte, und der Pfarrer
geriet dabei, wie es schien, noch mehr in Verlegenheit. Er fuhr sich
mit der Hand über das Gesicht, rieb sich die Nase mit dem Zeigefinger
und sprach endlich:

»Ja, sehen Sie, Herr Kaplan, wir leben hier sehr abgeschieden und
eingezogen; Gesellschaft giebt es nicht -- wenigstens gehe ich nicht
gern ins Wirtshaus, und da haben wir denn gewöhnlich abends in der
Pfarrei zusammengesessen, ich, der Kaplan und die Barbara und haben ein
Kartenspiel gemacht. Es wär' hübsch, wenn das wieder so paßte und Sie
mitthun wollten.«

»Ich bedaure sehr, ich kann nicht Karten spielen!« sagte Frohwalt
ziemlich kühl, aber die Köchin rief: »Nicht einmal Karten spielen! Ja,
das müssen Sie lernen -- da wollen's wir gleich heute probieren!«

»Ich danke -- ich habe auch gar keine Neigung und kein Interesse für
Karten --« erwiderte der junge Priester.

»Aber, was wollen Sie denn machen, besonders an den langen
Winterabenden?« fragte der Pfarrer beinahe kläglich.

»Ich habe besondere Freude am Studium des kanonischen Rechts, sowie
an jenem der italienischen Sprache und finde in der Beschäftigung mit
beiden einen ganz besonderen Genuß.«

Einen Augenblick saßen die beiden andern stumm, mit halb geöffnetem
Munde da, als hätten sie ein Wunderding gehört, dann beschaute der
Pfarrer seinen jungen Amtsgenossen beinahe respektvoll, schob das
Seidenkäppchen weiter hinaus nach dem Wirbel und sagte:

»Aber Italienisch! -- Was wollen Sie denn damit?«

»O, es macht mir Vergnügen, italienische Werke zu lesen, und die
Sprache selbst ist an und für sich so schön!«

Der alte Priester sah ihn noch immer mit großen Augen an, während das
Weib mit dem Kopfe schüttelte und spöttisch dreinschaute; da kam die
Magd herein.

»Hochwürden, Herr Pfarrer,« sagte sie, »die Pilz-Rosalie in Květau
liegt im Sterben und Sie möchten so gut sein und sie versehen, der
Kirchendiener ist schon nach der Kirche gegangen.«

»Das paßt jetzt auch schlecht,« warf die Köchin hin, während der
Pfarrer mit einem Seufzer nach dem großen Zinnkruge blickte --
Frohwalt aber, der wohl merkte, daß der alte Herr nicht von besonderer
Berufsfreudigkeit erfüllt war, und der gleichzeitig damit die ihm wenig
erfreuliche Unterhaltung abbrechen wollte, erklärte:

»Ich will gehen, Herr Pfarrer, doch müssen Sie mir, da meine Sachen
noch nicht hier sind, Ihre Klerik borgen.«

Das Gesicht des alten Mannes leuchtete vor Vergnügen; er zog eine
kräftigere Rauchwolke aus seiner Pfeife, gab dem Kaplan dankbar die
Hand, und wenige Minuten später war Peter Frohwalt in der Kirche,
legte die geweihte Hostie in die Bursa, hing sich diese um den Hals
und schritt nun, im Amtsgewande des Pfarrers, hinter dem Küster drein,
dessen Glöcklein fast unablässig ertönte.

Die Dämmerung war eingebrochen, und das letzte Abendrot verglühte
im Westen; aus Feld und Flur stieg ein Düften, und auf Wiesenwegen
schritten die beiden hin. Wo ihnen Menschen begegneten, sanken sie auf
die Knie vor dem Leib des Herrn und neigten die Häupter, und der junge
Priester ging mit gehobener Seele.

Noch vor dem Dörfchen Květau, am Saume eines Gehölzes stand das
Häuschen, in welchem die Kranke lag, welche die letzte Wegzehrung
begehrte. Frohwalt sah in der dunklen Stube, in welcher jetzt eine
geweihte Kerze einen müden Schein verbreitete, ein steinaltes
Weiblein, dessen verwittertes Gesicht aus dem Deckbett hervorschaute
mit sterbensmüden Augen, in denen es noch einmal aufleuchtete, als der
Priester kam.

»O mein Jesus -- Sie sind wohl der neue Herr Kaplan?« fragte sie mit
leiser Stimme, und als der Gefragte es bejahte, fügte sie bei:

»Ach jetzt bin ich schon glücklich, daß Sie kommen und mir den lieben
Heiland bringen. Ich denk', mit mir geht's nimmer lang. Geh' hinaus,
Susel, -- sprach sie zu dem kleinen Mädchen, das noch in der Stube war
-- damit ich dem hochwürdigen Herrn meine Sünden sagen kann!«

Die Kleine ging zugleich mit dem Meßner, und mit einem seltsamen
Empfinden nahm Peter Frohwalt das erste Sündenbekenntnis eines Menschen
entgegen und noch dazu eines sterbenden. Das alte Weiblein hatte nicht
viel zu beichten, aber dennoch hob sich seine Seele von einem heiligen
Schauer, als er an Gottes Statt die lateinischen Worte der Vergebung
sprach. Dann reichte er der Alten den Leib des Herrn, und nun blieb er
noch eine Weile bei ihr sitzen.

»Ach, mir ist jetzt so sehr wohl,« sagte sie -- »beinahe wie in meinem
ganzen Leben nicht; es ist doch schön, wenn man mit seinem Herrgott
gut steht und ruhig an den Augenblick denken kann, da er einen
heimrufen wird. Vergelt's Gott, daß _Sie_ gekommen sind. Sehen Sie,
der Herr Pfarrer ist ein seelenguter Herr, er hat mir heimlich manchen
Guldenzettel zugesteckt, von dem die Barbara nichts weiß -- aber die
Barbara ... Gott verzeih' mir's, ich will nichts weiter sagen, nein,
nein -- der Herr Pfarrer ist eben auch ein armer sündiger Mensch, aber
Sie haben noch nicht lange die heilige Weih' erhalten, die wirkt noch
bei Ihnen, und darum freut's mich, daß Sie gekommen sind.«

Das Weib redete mit unverkennbarer Anstrengung, aber die
Geschwätzigkeit des Alters verließ sie auch jetzt nicht. Frohwalt
jedoch wünschte nicht durch müßiges Reden den Eindruck des heiligen
Abendmahls zu stören, darum erhob er sich und reichte der Alten die
Hand. Sie faßte dieselbe in ihre beiden hagern, harten Hände und sagte:

»Bewahre Ihnen der liebe Gott die Freude an Ihrem Beruf, der so schön
ist!«

Dann zog sie seine Rechte ehrerbietig an ihre welken Lippen und sank
auf das Lager zurück. Der junge Priester verließ den schwülen, dumpfen
Raum, und trat ins Freie. Die angenehme Kühle that ihm wohl, noch mehr
aber das Bewußtsein, gleich in den ersten Stunden seiner Amtsthätigkeit
einer Menschenseele Trost und Erquickung gebracht zu haben, und so
schritt er jetzt neben dem Meßner, der ihn erwartet hatte, langsam
wieder Nedamitz zu, wobei er nur mit halbem Ohr auf den geschwätzigen
Gefährten hörte, der ihn über die Verhältnisse des Kirchspiels im
allgemeinen und besondern zu unterrichten bemüht war.

Im Zimmer des Pfarrers sah er noch Licht. Er trat darum ein, um die
Klerik zurückzustellen und fand den alten Herrn auf dem grünen Sopha,
wie er mit Barbara »Mariage« spielte. Der Zinnkrug stand noch auf dem
Tische. Er hielt sich nicht auf, ihn widerte dies Bild an nach dem, was
er vor kurzem geschaut hatte, und er ging nach seinem Zimmer, wo er
seinen Koffer vorfand, welchen der Knecht von der Station geholt hatte.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Viertes Kapitel.


Der Aufenthalt im Nedamitzer Pfarrhause ward für Frohwalt eine Schule
der Prüfung und der Selbstverleugnung. Immer mehr erkannte er, daß
der Pfarrer ein schwacher Mann und ganz in den Händen der Köchin war,
welche hier völlig wie eine Hausfrau schaltete. Der Kaplan, welcher von
vornherein ihr Wohlwollen verscherzt hatte, kam dabei nicht besonders
gut weg. Seine Zimmer wurden nur mangelhaft in Ordnung gebracht, sein
Frühstück erhielt er meist kalt und in dürftigster Weise, und selbst
mittags war es vorgekommen, daß für den Pfarrer etwas Besonderes
gekocht war, während er sich mit den aufgewärmten Resten der vorigen
Mahlzeit begnügen mußte.

Frohwalt nahm alles ruhig hin; er sah manchmal den hilflosen,
entschuldigenden Blick des Pfarrers, und das genügte ihm. Dabei war
er in seinem Amte unermüdlich und nahm, soweit es anging, dem alten
Herrn die mühevollen Arbeiten gern ab; dafür hatte er wenigstens die
Genugthuung, daß ihm die Leute überall mit Achtung begegneten, was ihm
dem Pfarrer gegenüber nicht immer der Fall zu sein schien, und daß die
Kinder der Gemeinde geradezu mit Liebe an ihm hingen. Seine Erholung
waren Spaziergänge in der Umgebung, seine Freude seine Privatstudien.

So war der Sommer hingegangen, und herbstlich wehte es über die
Stoppeln und durch die Obstgärten. Die Zeit, da man überall
Kirchweihfeste feierte, war gekommen, und Peter hatte bei einem
derselben die Festpredigt zu halten. Es war in demselben Orte, aus
welchem Barbara stammte und wo sie noch Verwandte hatte. Der Pfarrer
des Kirchweihdorfes hatte seinen Wagen geschickt, um den Kaplan
abzuholen, und die Köchin hatte es für ganz selbstverständlich
angesehen, daß sie mit ihm fahren könne. Im größten Putze war sie
darum herbeigekommen, um ohne weiteres ihren Platz einzunehmen, aber
Peter erklärte, soviel er wisse, sei der Wagen für den Festprediger
geschickt worden, und ihm wäre es lieb, ihn allein benützen zu können.
Barbara glühte vor Zorn über die nach ihrer Meinung ihr angethane
Schmach, sie lärmte im Hofe der Pfarrei, so daß Peter dem Kutscher
befahl, schleunigst fortzufahren, und es wenigstens nicht mit anzusehen
brauchte, wie der verlegene alte Pfarrer alles aufbot, um sie zu
besänftigen und ihr zuletzt -- da er selbst über Pferde nicht verfügte,
-- einen Wagen von einem Bauern verschaffte, in welchem sie auch zur
Kirchweih fuhr.

Der alte Herr blieb gegen seine sonstige Gewohnheit zurück, da er
mit seinem Amtsbruder in Obernitz, wo das Fest stattfand, nicht in
besonders freundlichen Beziehungen stand; der Mann war ihm zu rigoros.

Für Peter war es ein wirklicher Feiertag gewesen; er hatte mit der
ganzen Wärme seines Herzens gepredigt, dann hatte der Gottesdienst
in würdiger Weise stattgefunden, unterstützt von einem trefflichen
Kirchenchor, und der Mittag war im Kreise älterer und jüngerer
Amtsbrüder, Dank dem feinen Takte des Gastgebers und dessen ungesuchter
Liebenswürdigkeit, lebendig und anregend zugleich gewesen, so daß
Frohwalt, der zur Rückkehr den Wagen abgelehnt hatte, mit einem
unverkennbaren Behagen dem zwei Stunden entfernten Nedamitz wieder
zuwanderte. Auf dem Dorfplatze bei der Kirche, wo einige Verkaufs- und
Schaubuden aufgestellt waren, hatte er auch Barbara gesehen, aber sie
hatte ihm, sobald sie ihn erblickte, den Rücken zugewendet.

Als er in seinem Kirchdorfe anlangte, war es Abend geworden, und
leichte Dämmerung hüllte schon das Pfarrgehöft ein, als er dasselbe
betrat. Im Zimmer des Pfarrers brannte die Lampe, und da er demselben
Grüße zu bestellen hatte, auch dieser vielleicht mit dem Abendbrote
auf ihn wartete, so ging er, ohne sich umzukleiden, dahin. Als er die
Thür öffnete, erschrak er. Auf dem Tisch stand der bekannte Zinnkrug
neben der Lampe, auf dem Boden davor, mit dem Rücken gegen das Sopha
gelehnt, lag der Pfarrer, und sein Gesicht schien bei dem zweifelhaften
Lichtschimmer bläulichrot. Er röchelte laut und unheimlich, und dem
Kaplan war's nicht zweifelhaft, daß hier ein Schlaganfall vorliege.
Hier that schnelle Hilfe not.

Er eilte darum hinaus, den Knecht zu suchen, damit dieser ihm helfe,
den schwerkranken Mann zu Bette zu bringen und einen Arzt herbeihole.
Er flog die Treppen hinab nach dem Hofe. Der zottige, braune Hund
blinzelte nach ihm und wedelte mit dem Schweife, im Stalle klirrte ein
Rind an seiner Kette; er aber eilte nach der Kammer des Knechts, die
in einem kleinen Wirtschaftsgebäude neben dem Stalle sich zu ebener
Erde befand. Hastig riß er die Thür auf und rief, indem er in den
halbdunklen Raum blickte, den Burschen beim Namen. Zwei erschrockene
Menschen fuhren auseinander, und ein Weib, das ohne Mieder, nur im
Unterrock und Hemd sich hier befand, suchte sich in einem dunkeln
Winkel zu verbergen; es war zweifellos die junge Magd.

Peter Frohwalt war sich im Augenblick gar nicht klar über den Vorgang;
er rief nur:

»Komm schnell, Jakob, den Herrn Pfarrer hat der Schlag getroffen --
hilf ihn mir ins Bett tragen und hole den Arzt!«

Dann lief er davon, und der Knecht, welcher hastig eine Jacke
überstreifte, rief der Dirne noch ein leichtfertiges Wort zu, dann
folgte er dem Kaplan. Sie betraten das Zimmer des Pfarrers, der noch
in derselben Stellung lag wie vordem, nur war das Haupt noch tiefer
gesunken und das Röcheln ähnelte mehr einem Schnarchen. Der Knecht trat
heran, betrachtete ihn, kratzte sich am Kopfe und sprach halb heiter,
halb verlegen:

»Ich denke, er ist tot? -- Hochwürden, Sie glauben, daß das ein Schlag
ist? -- Hm -- hm -- der Herr Pfarrer ist nicht krank, er ist nur -- er
hat nur ...«

Der Bursche wies nach dem großen Kruge, und Peter Frohwalt ging zu
seiner Bestürzung eine trübe Erkenntnis auf. Das also war's! --
Betrunken! Und dazu hatte er den Knecht geholt! Er schämte sich, zumal
er die Empfindung hatte, daß der Bursche mit seinem dummen Lächeln auf
dem breiten Gesichte einen solchen Anblick schon kannte. So gebot er
denn diesem zuzugreifen, gemeinsam kleideten sie den Pfarrer aus, der
sich auch jetzt nicht ermunterte, sondern nur mit halb geschlossenen
Augen unverständliche Dinge murmelte und nach Barbara verlangte, und
dann brachten sie ihn zu Bette. Nun huschte der Knecht davon, denn ihm
war es unbehaglich, wenn er daran dachte, daß ihn der Kaplan wegen der
Magd zur Rede stellen könnte; auch wartete die Dirne vielleicht auf
ihn. Frohwalt aber löschte das Licht und ging tieftraurig nach seinem
Zimmer.

Am andern Morgen schien ihm der Pfarrer auszuweichen; es mochte
doch eine Erinnerung in ihm aufdämmern, daß sein Kaplan ihn zu Bett
gebracht, aber er rührte nicht an der Sache. Auch Frohwalt that dies
nicht, aber ein anderes lag ihm auf der Seele, die Beziehung von
Knecht und Magd. Er war sich erst in schlafloser Nachtstunde über den
Vorgang in der Knechtkammer bekannt geworden und entsetzte sich über
die Unsittlichkeit unter dem geistlichen Dache. Hier mußte Abhilfe
geschafft und einer von den beiden, oder alle beide aus dem Dienste
entlassen werden.

Er brachte am Abend, als er mit dem Pfarrer allein zu Tische saß, die
Rede darauf. Der alte Mann geriet sichtlich in Verlegenheit; er sprach
nach vielem Räuspern:

»Mein lieber junger Amtsbruder, Sie fassen die Dinge etwas zu rigoros
auf. Sehen Sie, das ist auf dem Lande nicht anders und läßt sich, wenn
die Leute nicht selber die sittliche Kraft haben, nicht gut ändern.
Hier hilft kein Zureden und kein Entlassen. Wenn ich andere Dienstboten
nehme, geht es genau wieder so, weil's junge Leute sind, und alte kann
ich nicht brauchen!«

»Aber mein Gott, das ist ja entsetzlich. Das kann ja nicht sein, daß
gute Mahnung ganz umsonst sein sollte. Ich will selber einmal mit Jakob
sprechen und ihm ans Gewissen klopfen; im Pfarrhause wenigstens muß
es in sittlicher Beziehung sauber sein und von da aus muß ein gutes
Vorbild und Beispiel gegeben werden.«

Der Pfarrer wurde noch verlegener und suchte sich mit »Ja, ja -- hm,
hm« zu helfen; er war froh, als Barbara eintrat und das Gespräch damit
unterbrochen wurde.

Der Kaplan aber suchte schon in den nächsten Tagen eine Gelegenheit,
mit dem Knechte, der ihm sichtlich auswich, allein zu sein. Er
redete ihm scharf und doch warm ins Gewissen und verlangte mit
Entschiedenheit, daß er keine solche Schande über das Haus bringe,
weil er -- Frohwalt -- dann in jedem Falle auf seiner Entlassung
bestehen müsse schon im Interesse der guten Zucht und der Verhinderung
allgemeinen Aergernisses.

Der Bursche grinste ihn dummdreist an und sagte mit einem blöden
Lächeln:

»Je ja -- Hochwürden -- ich will ja die Franziska heiraten -- wir sind
eben Brautleute -- und ist alles in Ehren! Wenn Sie so sein wollen,
dann wär' über Manches zu reden -- ich spreche nicht vom Pfarrhause,
Gott behüte -- aber im Dorfe! Der untere Wirt lebt mit seiner Magd --
und da spricht niemand mehr drüber --.«

»Ich werde aber drüber sprechen! Das muß anders werden, im Hause und
im Dorf, verlaß Dich drauf, Jakob! Und richte Dich danach samt der
Franziska!«

Den jungen Priester hatte ein heiliger Zorn ergriffen, sein Gesicht
glühte, als er fortging, der Knecht aber sah ihm kopfschüttelnd mit
seinem dummen Lächeln nach.

Nun begann Frohwalt erst nach dem und jenem im Dorfe zu fragen und
erfuhr denn so manches, was in einer kirchlich gut geleiteten Gemeinde
nicht sein sollte. Das war ja ein kleines Sodom! Besonders die
Geschichte mit dem untern Wirte, die sich bestätigte und in der niemand
ein Aergernis sah. Der Mann war Witwer und die Magd ein stattliches
Weibsbild.

An dieser Stelle mußte der Hebel zuerst angesetzt werden. Wiederum
sprach Peter Frohwalt zuerst mit dem Pfarrer, der hin- und herredete
und, wie es schien, doch nicht den Mut hatte, hier vorzugehen. Es wäre
doch nichts zu machen. Man könnte ja mit Exekutivmitteln die Entfernung
des Weibsbildes durchsetzen, aber einen Zweck würde das kaum haben,
sie ginge zu einer Thür hinaus und käme bei der andern wieder herein.
Am besten wär's da, ein Auge zuzudrücken, so lebe man wenigstens in
Frieden mit den Leuten.

Damit aber mochte sich der Kaplan nicht beruhigen, und als er eines
Nachmittags den unteren Wirt behäbig vor seiner Thüre stehen sah, und
dieser ihn mit einem biedermännischen Schmunzeln beinahe vertraulich
grüßte, trat er auf ihn zu und fragte, ob er vielleicht für eine
Viertelstunde unter vier Augen mit ihm reden könne.

Der Mann war verwundert und bat ihn einzutreten. Er führte ihn nach
dem Obergeschoß des Hauses, wo die Wohnzimmer waren. Auf der Treppe
begegnete ihnen die Magd, ein blühendes, dralles Weib, das ihnen
freundlich zulachte und das der Wirt ohne jede Scheu auf den nackten
Arm tätschelte.

In der Stube angelangt und unter vier Augen hörte der Mann beinahe
verwundert, weshalb der junge Priester gekommen war. Er ließ ihn reden,
und Frohwalt wußte nicht, ob die Röte, die jenem ins Gesicht stieg,
Scham oder Unmut bedeute. Er sprach mit warmer Herzlichkeit, aber
auch nicht ohne eine gewisse Strenge, und gerade die schlug bei dem
heißblütigen Manne und angesichts der Jugend des Kaplans dem Fasse den
Boden aus.

»So?« -- polterte er. -- »Was sagen Sie mir da von Unrecht und Sünde?
Potz Element, da kehren Sie doch erst einmal in der Pfarrei aus. Herr
Kaplan, Sie sind zu jung hier am Orte und darum kann ich Ihnen nicht
allzu sehr übelnehmen, wenn Sie am verkehrten Ende anfangen. Der Herr
Pfarrer ist jetzt auch etwas älter geworden, aber vor zwanzig und zehn
Jahren noch ist's wunderlich hergegangen im Pfarrhof, und wir haben's
ihm im Dorfe gar nicht übel genommen, er ist eben auch ein Mensch, und
die Barbara war hübsch --.«

Frohwalt war bleich geworden bis in die Lippen und lehnte sich
tiefatmend in seinen Sitz zurück, ihn traf jedes Wort wie ein
Keulenschlag, und die Hände wie zur Abwehr vorgestreckt, stammelte er:
»Das kann ja nicht sein -- das ist ...«

»Eine Lüge, wollen Sie sagen, Hochwürden?« fragte der andere, ohne
jeden Hohn und völlig ruhig -- »na, da wissen Sie auch nicht, was
hier jeder weiß, daß ein Sohn von ihm in der Welt herumläuft, ein
verkommener Bursche, der ihm viel Sorgen macht und den er gar
nicht einmal verleugnet! Da giebt's nichts zu lügen und nichts zu
verheimlichen, und darum ist's besser, man rührt an solchen Sachen
nicht. Und ich hätt's auch nicht gethan, wenn Sie mir nicht so gekommen
wären, aber wie man in den Wald schreit, so hallt's heraus ...«

Der Kaplan vermochte nicht mehr zu sprechen; er ließ den Wortschwall
des anderen über sich ergehen, ihm war die Kehle wie zugeschnürt.
Zusammengebeugt, elend an Körper und Gemüt, verließ er das Haus, das er
mit solcher sittlichen Entrüstung betreten hatte, und die schöne Magd
sah ihm lächelnd von der Schwelle aus nach.

Seit jener Stunde fühlte er sich unglücklich in Nedamitz. Anfangs
hatte er daran gedacht, selbst dem Pfarrer einen Vorhalt zu machen,
aber das gab er auf, was hätte es auch nützen sollen! Er empfand mit
dem alten, schwachen Manne Verachtung und Mitleid zugleich und suchte
sich einigermaßen damit zu beruhigen, daß er sich an die Züge von
Herzensgüte hielt, die versöhnlich neben seine Schwächen traten. Die
Köchin jedoch haßte er, und mit ihr sprach er nur, was unbedingt nötig
war; Barbara aber vergalt ihm diese feindliche Stimmung mit Gleichem
und ließ ihn, wo es nur anging, empfinden, daß sie in diesem Hause das
Heft in der Hand habe.

So kam der Winter. An den langen Abenden saß Frohwalt in seiner Stube
und arbeitete. Er hatte eine größere kirchenrechtliche Abhandlung
unter der Feder, die er zu veröffentlichen gedachte, und bei dieser
Thätigkeit fand er Freude und Ruhe. Seine Pflichten erfüllte er dabei
mit größter Pünktlichkeit und nahm nach wie vor das Beschwerlichste dem
Pfarrer ab, der ihn mit unverkennbarer Zuneigung und zugleich mit einem
fast scheuen Respekt behandelte.

Es war Weihnachten erschienen, das Fest der Freude. Der junge Kaplan
hatte wenig von der letzteren gemerkt. Mutter und Schwester hatten ihn
mit kleinen Geschenken bedacht, und die hatte er am heiligen Abend vor
sich hingelegt, als er bei einsam brennender Lampe an dem vor den Ofen
gerückten Tische saß. Kein Christbaum, kein Freund -- zum ersten Male
wurde ihm in diesen Stunden wehmutsvoll zu Sinne. Er sah hinaus auf die
Dorfgasse, aus den kleinen Fenstern der Häuschen fiel der Lichtschein
und ihm war's, als höre er durch die Stille der Nacht das Jauchzen
fröhlicher Kinderstimmen. O, die Entsagung war nicht immer leicht, das
Sichselbst und sein Empfinden besiegen hart. Da fiel ihm das kleine
Buch von Vetter Martin in die Hand, das Laienbrevier, und wie er es
aufschlug, las er:

      -- -- Du gewinne Augenblicke!
    Denn hast Du jeden Augenblick besiegt,
    Hast Du das ganze Leben Dir gewonnen!
    Das ganze Leben Dir geschmückt! Dir leicht
    Die ungeheure Last der Zeit gemacht!
    So trägt ein Kind den Baum in Spänen fort!
    Das Leben ist nicht schwer dem Immer-Guten.
    Allein dem selten oder oft nur Guten
    Verwirrt es sich, wie dem verschlafenen Weber!
    Das Leben ist so leicht dem Immer-Guten!

Das Wort gab ihm eine wunderbare Ruhe und Klarheit. Den Augenblick
besiegen, immer gut sein! Darin lag ja alles, und der das sagte, der
ihm in dieser Weihnacht solchen Trost verlieh, war -- ein Protestant,
aber der Gedanke vermochte ihn heute nicht zu erregen, um so mehr, als
er manches Goldkorn schon in dem Büchlein gefunden hatte, das ihn bald
abstieß, bald wieder seltsam anzog. Mit dem Gelöbnis, stets aufs neue
danach zu streben, immer gut zu sein, ging er um Mitternacht, als die
Glocken klangen, hinüber nach der Kirche zur Mette.

Der erste Weihnachtsfeiertag brach wenig freundlich an; er brachte
kalten Wind und Schnee, und Frohwalt empfand sein ganzes Unbehagen,
als er nach dem Filialdorfe Květau hinüberwanderte, um in der dort
befindlichen Kapelle die heilige Messe zu lesen. Es war immer ein
Stündchen Wegs, und selbst auf der Straße schlechter Pfad, aber, den
Kragen seines Ueberrockes heraufgeschlagen, die Klerik hochgeschürzt,
so schritt er wacker aus.

Das kleine Gotteshaus war ganz gefüllt von Andächtigen, zu dem Klange
der bescheidenen, dünnstimmigen Orgel tönte der fromme Gesang des
Weihnachtsliedes:

    Ein Kind geboren, gar wunderschön,
    Zur Erd ist kommen aus Himmelshöhn --
        Hallelujah!

Bei dem alten Lehrer trank er nach dem Gottesdienste eine Tasse Kaffee
und hörte dessen Klage über die Feindseligkeiten zwischen den Deutschen
und den Tschechen im Dorfe, welche durch die Tagesblätter, besonders
die tschechischen, gegen einander gehetzt würden; er hätte manchmal
mit der Jugend schon seine liebe Not. Dann ging er wieder gen Nedamitz
zurück. Das Wetter war besser geworden und über dem winterlichen
Landschaftsbilde lag ein wärmerer Sonnenstrahl, so daß sein Kirchdach
recht freundlich aus der weißen Schneehülle herauslugte.

Dann saß er am Mittagstische mit dem Pfarrer beisammen. Der Gänsebraten
duftete, und in den Gläsern perlte heute goldiger Czernosecker. Der
alte Herr fühlte sich angesichts dessen besonders behaglich und heiter,
aber auch hier sollte es sich bewähren, daß »der bösen Mächte Hand
zwischen Lipp' und Kelchesrand schwebt.«

Die Köchin kam plötzlich recht eilfertig herein und hinter ihr ein Mann
aus Květau. Sie rief:

»In Květau hat's nach der Kirche eine Rauferei gegeben, und der Jiři
Pacak ist gestochen worden. Er wird wohl sterben, und da möcht' jemand
kommen und ihm das Sakrament geben. Da haben die Deutschen wieder
angefangen, die Mörderbande!«

»Ach nein« -- suchte der Bote dazwischen zu reden -- »der Jiři ist
selber Schuld gewesen, er hat ...«

Die beiden Geistlichen waren erregt aufgestanden und der Pfarrer sagte
seufzend:

»Na, da will ich doch gleich -- weil der Bursche nicht gut deutsch
kann -- --«

»Ach, das wär' noch schöner!« rief die Köchin -- »Sie werden doch nicht
bei dem Wetter -- es hatte eben wieder zu schneien angefangen -- selber
gehen? Da geht allemal der Pater Peter. Schaun's, daß Sie fortkommen«
-- wandte sie sich an den Kaplan -- »geben's dem Burschen die Oelung
und reden's dabei dem verdammten Gesindel, den Deutschen, mal ins
Gewissen! Nu ja -- auf was warten's denn noch, da essen Sie mal ein
Stückel Gans weniger!«

Im ersten Augenblick stand Frohwalt ganz verdutzt da, und der Bote aus
Květau machte ein seltsam verwundertes Gesicht; der junge Priester
erwartete, daß der Pfarrer etwas sagen würde auf solche Aeußerungen,
die noch dazu im unhöflichsten Tone gesprochen wurden, und als dies
nicht geschah, stieg ihm eine heiße Röte ins Gesicht und er sprach:

»Nun möcht' ich doch endlich wissen, ob ich vom hochwürdigsten
Konsistorium oder von der Pfarrköchin in Nedamitz angestellt bin?
-- Sie haben wohl die Güte, dieselbe darüber zu unterrichten, Herr
Pfarrer, denn ich bin der Quälerei dieses Weibes müde.«

[Illustration: Der junge Priester sprach: »Nun möchte ich doch
endlich wissen, ob ich vom hochwürdigsten Konsistorium oder von der
Pfarrersköchin angestellt bin?« (Seite 69).]

»Was -- Quälerei? -- Ich bin noch mit jedem geistlichen Herrn
drausgekommen, aber so stolz und hochnäsig hat noch keiner gethan; ich
bin 25 Jahre -- --«

»Barbara, Barbara,« rief der Pfarrer fast bittend dazwischen, Frohwalt
aber sagte:

»Ich behalte mir vor, die Antwort auf meine Frage vom Konsistorium
selbst zu erbitten! Jetzt wartet ein Sterbender -- kommen Sie!«

Und während der Pfarrer und die Köchin noch sich stumm und befremdet
anblickten, ging der junge Priester mit dem verdutzt dreinschauenden
Boten hinaus. Er eilte, nachdem er diesen zum Meßner geschickt hatte,
seine Klerik anzuziehen, und bald darauf schritt er zum zweiten Male
durch Schnee und Wind gegen Květau, diesmal mit beschleunigtem Fuße,
sodaß er in einer halben Stunde dort anlangte. Er fand, noch im
Wirtshause, wo der böse Streit stattgefunden, einen Sterbenden, um
welchen sich der herbeigerufene Arzt vergebens bemühte, und dem er nur
die letzte Oelung zu reichen vermochte.

Der Anblick des blutbefleckten, regungs- und bewußtlosen Menschen
hatte ihn tief erschüttert, mehr noch aber die Erzählung des Wirtes,
nach welcher er selbst die unschuldige Veranlassung der furchtbaren
That geworden war. Er hatte am Ende der Messe drei deutsche Vaterunser
gebetet -- der Pfarrer hatte immer noch eins oder zwei in tschechischer
Sprache eingefügt; -- da hatte der Jiři im Wirtshause, wo sich die
Bauern nach dem Gottesdienste zusammenfanden, sich darüber lustig
gemacht, und so lange auf die Deutschen gestichelt, bis der Streit
anhob, in welchem er selber zuerst das Messer gezogen hatte; ein
Deutscher hatte es ihm entwunden, und als der trotzige Bursche mit
diesem rang, glitt er aus und fiel in die noch immer offene Schneide.

Der Heimweg nach Nedamitz war für Frohwalt fürchterlich. Ihm lag es
auf der Seele, daß er sich, noch dazu in Gegenwart des fremden Boten,
im Pfarrhause von seinem Zorn hatte überwältigen lassen -- er hätte ja
auch schweigend fortgehen können, noch entsetzlicher aber war ihm dies
letzte grauenhafte Erlebnis. Er ging, einem Automaten gleich, dahin,
und seine Füße waren ihm schwer.

Als er im Pfarrhause ankam, schien der Pfarrer bereits auf ihn zu
warten. Er war in Verlegenheit und in Sorge zugleich. Die Drohung
des Kaplans mit dem Konsistorium war ihm nicht gleichgültig, da er
wußte, daß er manches auf dem Kerbholz hatte. Darum suchte er Barbaras
Ungehörigkeit zu entschuldigen, und bat ihn, die Sache nicht so ernst
zu nehmen; er habe der Köchin ins Gewissen geredet, und Aehnliches
werde ganz gewiß nicht wieder vorkommen. Frohwalt hörte nur mit halbem
Ohre hin; er sprach einige beruhigende Worte, denn der alte Herr, der
in den Händen des Weibes war, that ihm leid, und dieser ging zuletzt
gedrückt und verstimmt fort.

Zum Abendbrot kam der Kaplan nicht, sodaß die Sache selbst der Köchin
unbehaglich ward; er betete lange, aber er fand keine rechte Ruhe.
Immer sah er das bleiche, verzerrte Gesicht des erstochenen Burschen
vor sich, und erst spät begab er sich zu Bette. Doch fand er lange
keinen Schlaf. Er hörte das Heulen des Windes um das Haus, dazwischen
ab und zu das Schlagen der Uhr vom Kirchturme, und wälzte sich
fieberheiß von einer Seite nach der andern. Die Last seines Amtes lag
zum erstenmale mit erdrückender Wucht auf ihm, und er hatte keine
Menschenseele, in die er etwas davon hätte legen und der er hätte
klagen können.

Gegen Morgen war er entschlummert, und mit dem grauenden Wintertage
stand er wieder auf und ging nach der Kirche zur Messe. Dann war er
aufs neue daheim in seiner Stube -- einsam, bange und trüb. Was war das
für ein Weihnachtsfest! Hatte denn der Himmel für ihn keinen Tropfen
Freude?

Um die Mittagszeit stand er am Fenster, das nach der Dorfgasse hinsah
und schaute hinaus. Heute lag es wie eine blaue Glocke über der Welt,
und der Sonnenschein blitzte auf dem weißen Schnee. Kleine Mädchen
rollten ihn zusammen zu Klumpen, um sie zu einem ungefügen Manne
zusammenzusetzen, und neckende Knaben warfen sie dabei mit den weißen,
weichen Bällen. Und sie jauchzten und lachten, daß es dem jungen
Priester wunderlich in der Seele widerhallte. Das gab ihm einige
Heiterkeit wieder, aber es sollte noch besser werden.

Da kam am Ende der Gasse, soweit er sie überschauen konnte, ein Mann
her mit einer Pelzmütze auf dem eckigen Kopfe, um den die grauen Haare
flatterten, einen wunderlichen langen Mantel umgehangen, einen Ranzen
auf dem Rücken und in der Faust den derben Knotenstock. Das war der
Vetter Martin, wie er leibte und lebte.

In Frohwalts Gesicht stieg die Röte der Freude; er riß das Fenster auf,
und rief einen lauten Gruß hinaus, so daß die liebe Jugend erstaunt
empor sah, der alte Wanderer aber riß die Mardermütze vom Kopfe und
schwenkte sie lustig. Bald darauf stampfte er herein in die Pfarrei.

»Na, komm ich recht? -- Hab' mir Dein Nest einmal zur Winterszeit
ansehen wollen, da paßt mir's am besten! Gesegnete Feiertage!«

»Ach, Vetter Martin, Dich schickt der Himmel! Keinen Menschen könnt'
ich just so gut brauchen, als Dich!«

»Na, siehst Du wohl -- mein Ahnungsvermögen! Ja, so ein alter
Naturforscher hat eine höllisch feine Nase. Drückt Dich's irgendwo?
Herunter damit, wir wollen schon fertig werden zusammen.«

Und da saß der Alte am Ofen und streckte seine Beine weit von sich,
und hatte sich seine kurze Thonpfeife angebrannt, und Peter Frohwalt
erzählte ihm nun alles, alles: Vom Leben in der Pfarrei, von der Köchin
Barbara, von den faulen Zuständen in Haus und Gemeinde und von dem
gestrigen Morde in Květau und es that ihm wohl, sich endlich einmal
entlasten zu können.

Vetter Martin hatte ihm schweigend, manchmal mit leisem Kopfschütteln
zugehört, und sagte nun:

»Ja, mein lieber Peter, ich hab's Dir's ja vorausgesagt, daß Dich das
Leben erst noch abschleifen werde, und das thut allemal ein wenig
weh. Dein alter Pfarrer, Deine liebe Barbara, der muntere Wirt, der
verliebte Jakob und wer sonst noch sind die Wetzsteine für Dich und
zeigen Dir zugleich, daß unser Herrgott sehr wunderliche Kostgänger
hat, und daß man nicht alles mit Gesetzen und allgemeinen Regeln abthun
kann. Der liebe Gott füttert und erhält sie alle in gleicher Weise
und thut jedem ein wenig Liebe an, und zuletzt bringt er alles in den
richtigen Topf. Mach's ebenso! Deinen Pfarrer und seine Köchin will
ich mir erst näher besehen und dann Dir meine Meinung sagen, auch den
untern Wirt möcht' ich kennen lernen und sein »Aergernis«. Was aber
die Květauer Geschichte betrifft, so weiß ich nicht, warum Du Dich gar
so erregst; traurig ist sie, aber auf Deine Rechnung kann sie nicht
kommen. Du hast Deine Vaterunser gebetet, wie deine gute Mutter es Dich
gelehrt hat und in ihrer Sprache, weil Du eine andere nicht verstehst.
-- Das ist doch keine Schuld und keine Sünde, das ist doch gerade so,
wie wenn sich die Bengels darüber totstechen wollten, weil Du Dich
zufällig nicht in ein Schnupftuch mit den tschechischen Nationalfarben
geschnäuzt hast. Thu', was Du in Deinem Gewissen für gut und recht
hältst und fürs übrige laß unsern Herrgott sorgen! Basta -- das ist die
ganze Moral und die gilt für Christen, Juden, Türken und Kalmücken!«

Die Thüre öffnete sich und der Kopf des Pfarrers zeigte sich; er hatte
laut sprechen hören, und war, von Neugier geplagt, gekommen, angeblich,
um den Kaplan zu Tische abzuholen. Frohwalt stellte ihm seinen Gast
vor, und der alte Herr lud mit liebenswürdigem Eifer denselben ein, am
Mittagsmahle teilzunehmen. Vetter Martin ließ sich nicht drängen, und
so gingen die Drei nach dem Speisezimmer und der Pfarrer erteilte der
Köchin den Auftrag, noch für ein Gedeck zu sorgen.

Das Weib zeigte sich zur Verwunderung des Kaplans ganz besonders
freundlich und höflich, und die Mahlzeit verlief, zumal der Gast mit
seinen reichen Erfahrungen und seinem köstlichen Humor den Löwenanteil
an der Unterhaltung nahm, in sehr angenehmer Weise. Auch der Pfarrer
hatte sich dabei von einer so vorteilhaften Seite gezeigt, wie ihn
Frohwalt noch gar nicht kannte. Er wurde lebhaft und sogar witzig,
harmlos, heiter und liebenswürdig gesellig, und Vetter Martin mußte
versprechen, im Pfarrhofe über Nacht zu bleiben und wenigstens
noch einen Tag hier zuzubringen. Der Pfarrer hatte früher sich mit
Botanik beschäftigt, später fehlte ihm ein anregender Genosse und er
hatte die Sache liegen lassen, aber er wollte seine wohlverwahrten
Pflanzensammlungen auskramen und Martin sollte ihm einiges bestimmen
helfen.

Als dieser nach Tische mit Peter allein zusammen war, sagte er:

»Sieh' mal, Dein Pfarrer ist ein Mensch, der viel besser verbraucht
werden könnte, als es geschieht. Er ist einfach hier -- wie man sagt
-- versauert, und weil er keinen besseren Umgang fand, in die Hand
der Jungfrau Barbara gefallen. Er hat ein gutes, menschenfreundliches
Herz, und daran mußt Du Dich halten, das söhnt mit Manchem aus; seine
Schwächen mußt Du in Kauf nehmen, er ist zu alt, um sie noch abzulegen.
Deiner lieben Barbara aber mußt Du die Zähne zeigen, ordentlich ...
dann wird sie zahm. Mich behandelt sie wie ein rohes Ei, und es war
mir, als ob sie auch Dich ein- ums andere Mal achtungsvoll angesehen
hätte ... da siehst Du, wie's gut thut, wenn man zu Zeiten einmal
aufmuckt! Thue recht und scheue niemand, nicht einmal eine Pfarrköchin!
Also mein Lieber, die Leute nicht nach der allgemeinen Regel und nach
dem Kirchenrecht behandelt, sondern nach der Art, wie sie verbraucht
werden müssen! Wenn Du erst soweit gekommen bist, dann stehst Du auf
freier Höhe, von der aus Du den rechten Segen bringen kannst!«

Am Abend saß der wunderliche Gast wieder mit den beiden Priestern
zusammen, und es wurde ziemlich spät, ehe man zur Ruhe kam. Seltsamer
Weise hatte der Pfarrer an diesem Abend viel weniger getrunken als
sonst, nicht bloß, weil er sich vor dem Fremden scheute, sondern weil
er dazu kaum die Zeit fand. Er hatte seine getrockneten Pflanzen
gebracht, und ging wie in alten, schönen Tagen, wieder in der Botanik
auf; er wollte von neuem anfangen zu sammeln, und Martin versprach,
ihn auch aus der Ferne zu unterstützen.

Frohwalt hatte an diesem Abend mehr als je den Eindruck, daß er von
Vetter Martin noch Vieles lernen könne, namentlich im Umgang mit
Menschen. Und er sollte noch mehr in dieser Hinsicht erleben. Der
seltsame, sonst so unruhige Gast ließ sich sogar noch zwei Tage in
der winterlichen, stillen Dorfpfarre festhalten und wohnte auch dem
Begräbnis des in Květau erstochenen Burschen bei, das der Pfarrer
abhielt, und bei welchem zahlreiche Gendarmerie anwesend war, weil
man von der Erregung der Tschechen Unannehmlichkeiten und Störungen
fürchtete. Aber die Sache ging ziemlich ruhig ab.

Als die beiden Männer nach Nedamitz zurückgekehrt waren, fanden sie im
Pfarrhause den untern Wirt, welcher auf den Pfarrer wartete und bei
diesem das kirchliche Aufgebot mit seiner Magd bestellte. Martin war
dabei zugegen, und der Mann reichte ihm, nachdem er mit dem Pfarrer
gesprochen, treuherzig die Hand und sagte:

»Na, ist's so recht, Herr Martin?«

»Ja, mein lieber Herr Polzner, -- ich freue mich sehr drüber!«
erwiderte dieser, und das Gesicht des Wirtes strahlte vergnüglich,
als er fortging und so heiter wie selten in seinem Leben durch die
Dorfgasse schritt.

Peter Frohwalt war angenehm überrascht und erfreut über diese Kunde,
und Vetter Martin, der sie ihm zuerst hinterbracht hatte, lächelte
dabei so seltsam, daß er diesen verwundert und fragend anschaute.

»Nun ja, mein lieber Peter, ich bin gestern im untern Wirtshause
gewesen, habe ein Glas Bier getrunken und mich dabei mit dem Wirte,
den ich allein traf, unterhalten. Er schien mir ein ganz vernünftiger
und zugänglicher Mann zu sein, und da habe ich denn nach meiner
Weise ihn gefaßt. Mit der Thür ins Haus fallen darf man dabei nicht,
von Aergernis in der Gemeinde reden und dergleichen ist hier ganz
ungeschickt, man muß immer wieder sehen, aus welchem Holze der Mensch
geschnitzt ist, und wo er eine weichere Stelle hat. So sagte ich ihm:
›Sie haben ja eine prächtige, stattliche Wirtin, hübsch, jung, flink --
's ist wohl Ihre zweite Frau?‹ -- Er wurde ein bißchen verlegen, dann
druckste er so langsam mit der Wahrheit heraus. ›I, sehen Sie mal --
aber eine schönere, passendere Frau könnten Sie doch nicht finden, der
Himmel schickt Ihnen ja förmlich das Glück ins Haus -- sonst schnappt's
ein anderer weg, greifen Sie zu! -- Na, und wissen Sie, 's ist auch
wegen dem Mädel selber, das nur einmal seinen guten Ruf hat, und wenn
die Leute Ihnen nichts ins Gesicht sagen, hinterm Rücken reden sie
doch, und das arme Frauenzimmer kommt dabei am schlimmsten weg. Ich
thät' die Lästermäuler stopfen -- Sie sind der reiche untere Wirt, Sie
brauchen sich um niemanden zu kümmern -- und Sie sollen sehen, was Sie
erst gelten, wenn Sie den Trumpf ausspielen.‹ So ungefähr habe ich
ihm zugeredet, und dabei haben wir wie zwei Brüder am Tische gesessen
und miteinander getrunken und dies und das gesagt, bis er mit einem
Male seine Hand auf meine legte und sprach: ›Sie sind ein vernünftiger
Herr -- Sie haben recht -- und dann, man soll meine Johanne nicht mit
der Pfarr-Barbara in einem Atem nennen -- ich bestelle morgen mein
Aufgebot!‹ Und heute ist er dagewesen. Siehst Du, mein lieber Peter,
daß es auch ohne Kirchenrecht manchmal geht!« --

Als Vetter Martin am andern Morgen seinen Ranzen aufschnallte und
seinen »Schweizer« ergriff, hatte der Pfarrer Thränen im Auge; ihm
war's, als zöge ein lieber Verwandter fort, ein Mensch, der ihn
verstanden hatte, wie seit langem keiner.

Peter Frohwalt begleitete den Wanderer noch ein gut Stück Wegs, und als
er endlich auch mit kräftigem Handdruck von ihm schied, kehrte er mit
seltsam gehobener Stimmung in das Dorf zurück.

Es war, als ob ein guter Geist durch das Pfarrhaus gegangen wäre; der
Pfarrer war heiterer und voll Interesse für manches, was ihn vordem
gleichgültig gelassen; er begann wieder eifrig mit botanischen Studien,
und als das Frühjahr die ersten Gräser und Blumen brachte, begann er
wieder zu sammeln und zu ordnen, und dabei kam er viel seltener zu
dem vorigen übermäßigen Trinken; Frohwalt selbst war nachsichtiger
in seinem Wesen, verständiger in Behandlung der Menschen und ruhiger
geworden, und selbst bei Barbara schien entweder der Besuch Martins,
oder das entschiedene Auftreten des Kaplans zu Weihnachten gewirkt zu
haben, denn sie behandelte den letzteren höflich, ja mitunter sogar
freundlich.

Und gerade, als die Verhältnisse sich zu bessern anfingen, erhielt
Peter Frohwalt den Ruf in einen andern Wirkungskreis. Er hatte
die Abhandlung, an welcher er im Herbst bereits geschrieben,
veröffentlicht, und hatte die Freude gehabt, daß namhafte Gelehrte, so
besonders der Professor des Kirchenrechts an der Prager Hochschule,
~Dr.~ _Holbert_, sich ungemein anerkennend darüber ausgesprochen
hatten. Das hatte wohl die Aufmerksamkeit seiner geistlichen
Vorgesetzten auf ihn gelenkt; man erinnerte sich außerdem, daß er seine
sämtlichen theologischen Prüfungen mit Auszeichnung bestanden hatte,
und so bekam er eines Tags ein Schreiben, das seine Ernennung zum
Adjunkten an dem Priesterseminar in Prag enthielt: die erste Staffel
zur theologischen Professur, oder auch zum Kanonikat.

Sein Herz schlug ihm höher vor Freude, als er die Berufung las, und
da er dem Pfarrer Mitteilung machte, sagte dieser, indem er ihm Glück
wünschte:

»Dort passen Sie hin, und ich gönn's Ihnen von Herzen! Aber wenn Sie
dort sind und einmal die violette Halsbinde[3] tragen, denken Sie
nachsichtig an einen alten Landpfarrer!«

    [3] Abzeichen der Domherren.

Es klang eine schmerzliche Wehmut aus den Worten des greisen Priesters,
und verständnisvoll drückte ihm Frohwalt die Hand.

Als der Frühling seinen Einzug hielt und die Bäume in den Gärten von
Nedamitz blühten, verließ der Kaplan die Stätte seiner bisherigen
Wirksamkeit. Der Knecht -- es war nicht mehr Jakob, welcher vor kurzem
wegen Unredlichkeit entlassen worden war -- brachte sein Gepäck nach
der Station, er selbst ging, wie er zu Fuße einst gekommen, ebenso
wieder hinaus aus dem Dorfe. Der Pfarrer gab ihm das Geleit und
Barbara, die ihm noch eine gebratene Ente in seine Umhängtasche gepackt
hatte, wischte sich sogar das Auge aus mit dem Schürzenzipfel und küßte
ihm die Hand. Es geschah vielleicht aus Klugheit, nachdem sie wußte,
daß er jetzt am Sitze des allmächtigen Konsistoriums wohnen würde.

Die Leute in der Dorfgasse grüßten ihn freundlich, und er gab allen,
die ihm begegneten, die Hand; besonders die Kinder aber drängten
sich noch einmal heran, ihn mit dem Handkusse zu begrüßen. Beim
untern Wirtshaus stand der Wirt mit seinem jungen Weibe unter der
Thüre. Der Mann lüftete lustig sein grünes Sammtkäppchen und rief ihm
herzlich-freundliche Worte zu, und Peter reichte auch den Beiden seine
Rechte. Vor dem Dorfe sah er noch einmal zurück. Die erste Station
seiner Berufsthätigkeit! Der Gottesfriede, der über dem freundlichen,
blühenden Landschaftsbilde lag, ergriff ihn mächtig, und erst in dieser
Minute wurde ihm der Abschied wirklich schwer.

»Gottes Segen über alle, die hier wohnen!« sprach er halblaut, und sah
mit schimmernden Augen in das Angesicht des gleichfalls tiefbewegten
Pfarrers.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Fünftes Kapitel.


Der Uhrmacher Freidank war thatsächlich zum protestantischen Bekenntnis
übergetreten. Die Sache hatte sich in aller Stille vollzogen, und
selbst in der kleinen Stadt, wo es nicht allzuviel Gesprächsstoff
gab, wurde nicht lange darüber geredet. Das Ereignis schien sogar für
Freidank günstige Folgen zu haben. Man hatte ein gewisses Interesse
für ihn gewonnen, und die Zahl seiner Kunden mehrte sich, trotzdem
der heißblütige junge Kaplan in seinen Kreisen gegen ihn eiferte.
Ja selbst die gehässige Weise, in welcher dies geschah, blieb nicht
ohne Folgen. Zwei Familien, in welchen die Gatten verschiedenen
Glaubensbekenntnissen angehörten, traten, um solchen Vorkommnissen, wie
sie beim Tode von Freidanks Frau sich abgespielt hatten, von vornherein
die Spitze abzubrechen, ebenfalls zum Protestantismus über, und diese
Uebertritte vollzogen sich in aller Stille in dem kleinen Kirchlein von
Burgdorf.

Marie Frohwalt aber lebte Wochen lang mit sich selber in herbem
Zwiespalt. Es zog sie hin zu dem verwaisten Kinde der Freundin, und
doch fürchtete sie einerseits den Bruder, der von etwaigen Besuchen
erfahren konnte, und dann hatte sie doch eine mädchenhafte Scheu,
die sie abhielt, das von diesem bereits angedeutete Gerede der Leute
herauszufordern.

Zuletzt überwog die Liebe zu der kleinen Grethel, und Marie suchte
die Nachbarin Becker auf, und spielte auf deren Stube mit dem Kinde.
Dem Vater derselben wich sie sorgfältig aus, wenigstens konnte
niemand sagen, daß er sie allein mit ihm im Gespräche gesehen hätte.
Freidank selbst war ihr gegenüber zurückhaltend, beinahe ängstlich und
einsilbig; er verstand wohl, was in der Seele des Mädchens vorging und
wußte, daß er ihren Ruf zu schonen hatte.

Im Juli fiel der Namenstag seines verstorbenen Weibes, den er immer
durch eine freundliche Gabe gefeiert hatte. Diesmal konnte er ihr
nichts bringen, als eine Handvoll Rosen aus seinem Gärtchen von
demselben Strauche, den sie selbst bald nach ihrer Hochzeit gepflanzt
hatte. Am Morgen betrat er den Friedhof und ging, sein kleines Mädchen
an der Hand, nach dem abgelegenen Grabe an der Mauer. Das weiche
Gras machte seinen Schritt unhörbar, und so vernahm ihn auch die
jugendliche Frauengestalt nicht, die ihm den Rücken zuwendete und über
das schlichte Holzkreuz geneigt an dem wohlgepflegten Hügel stand. Erst
als er grüßte, sah sie beinahe erschrocken empor. Es war Marie, die
einen kleinen Kranz von Feldblumen -- wie die Verstorbene sie besonders
geliebt hatte -- auf dem Grabe niedergelegt hatte. Freundlich lugten
die blauen Kornblumen aus dem grünen Grase.

»Sie haben doch auch d'ran gedacht -- das ist hübsch von Ihnen,
Fräulein Marie,« sagte der Mann, während das Kind schon nach den Händen
der »guten Tante« gehascht hatte und sich daran hing.

»Vor einem Jahre hat sie noch gelebt!« antwortete fast verlegen das
blonde, hübsche Mädchen.

»Ja, aber zwei Tage später lag sie, und sollte nicht wieder aufstehen.
O dies Einsamsein ist schrecklich, und das Kind muß auch darunter
leiden. Die Frau Becker meint's ja gut, aber sie hat selber keine
Kinder gehabt und weiß nicht mit solchen umzugehen. Ich bin manchmal
so trostlos, so elend -- ach, Sie glauben's gar nicht, Fräulein Marie.
Ja, wenn Sie einmal mit Grethel wieder geredet und gespielt haben, da
lebt das Kind auf, und ich mit ihm ... aber es kommt selten. Ich weiß
ja, daß es nicht anders sein kann, die Welt hat eine zu böse Zunge, und
ich kann mir's denken, daß Sie auch jetzt wieder auf Kohlen stehen,
wenn uns jemand hier zusammen sähe, und doch ist's uns beiden hier
ein geheiligter Boden. Nun, Gott dank's Ihnen, daß Sie heute an meine
Grethe gedacht haben -- ich will Sie aber nicht aufhalten -- --«

Marie konnte sich aus ihrer Verlegenheit nicht herausfinden. Sie sprach
endlich stockend:

»Ja, Sie wissen's ja, Herr Freidank, wie lieb mir Ihr Grethel ist, und
wie ich mich immer freue, wenn ich das Kind sehe -- nicht wahr, kleine
Maus?« wandte sie sich an das Mädchen, das sich mit ganzer Zärtlichkeit
an sie schmiegte und mit den kleinen Aermchen ihren Leib umschlang.

»Adieu, Grethel!«

Sie beugte sich, noch immer verlegen und ängstlich, nieder, küßte das
Kind, und dann reichte sie dem Manne die Hand:

»Leben Sie wohl, Herr Freidank -- Sie wissen ja, wie ich's meine!«

Er nickte stumm, und wie sie nun rasch zwischen den Kreuzen hinschritt,
hinüber nach dem Grabe ihres Vaters, schaute er der schlanken Gestalt
noch einmal nach, dann hob er seine Kleine empor und drückte sie fest
an sein Herz.

Etwa drei Wochen später ging Marie gegen Abend durch die Berggasse.
Da kam der Vetter Martin ihr entgegen. Er war erst vor kurzem
wiedergekommen von einer seiner Reisen und mußte wegen eines Fußübels
unfreiwillig Rast halten in der Heimat. Er ging langsamer als sonst,
und stützte sich schwer auf seinen derben Stock. Seine Miene, die
sonst immer ungetrübt war, drückte heute eine gewisse Besorgnis aus und
er rief dem Mädchen zu:

»Soeben sagt mir der Doktor Winkler, daß Grethel Freidank Diphtheritis
habe, ein böser Fall!«

Marie fühlte, wie ihr das Blut aus den Wangen lief und wie ihr beinahe
der Herzschlag stockte.

»Na, was ist Dir denn Mädel, Du wirst ja so weiß wie Dein Sacktuch« --
sprach der Alte und humpelte hastig heran.

Marie that einen tiefen Atemzug, dann sagte sie mit gesenktem Blick und
unsicherer Stimme:

»Glaubst Du, Vetter Martin, daß ich hingehen und das Kind pflegen kann
die Nacht hindurch?«

»Na, warum denn nicht? -- Ja so! Der Mann ist ein junger Witwer,
und die Leute wären dumm genug, selbst bei Angst und Sorge noch die
ungewaschenen Mäuler dazwischen zu hängen. Na, weißt Du, wir gehen
mit einander. Ich denke, da hat's keine Gefahr, und ich wollt' auch
niemandem raten, den Schnabel weiter aufzuthun, als er verantworten
kann. Ich könnte zwar allein auch die Sache versorgen, aber eine
Frauenhand ist bei so einem kleinen Wurm allemal besser, und dann hängt
das Kind auch an Dir. Freidank wird den Kopf schon halb verloren haben,
und die alte Becker'n ist ein Schaf -- also hier hilft's nicht: Wir
thun's um Gottes Lohn. Jetzt gehen wir erst einmal zu Deiner Mutter,
damit sie Bescheid weiß und nicht erst unnötige Redensarten macht, und
dann wollen wir mal zusehen, ob wir mit vereinten Kräften das kleine
Mädel wieder gesund kriegen.«

So gingen sie beide erst nach dem alten Burgthor zu und, obgleich Frau
Frohwalt eine bedenkliche Miene machte und einige bescheidene Einwände
versuchte, Vetter Martin hatte heute seinen Tag, an dem er keinen Spaß
verstand, und da konnte er sehr unangenehm von der Leber weg reden. Es
that auch Eile not.

Als sie zu Freidank kamen, schien dieser aufzuatmen. Ihm war's, als ob
jetzt die Hilfe für sein kleines Mädchen kommen müßte, und aus tiefster
Verzweiflung ging er zur Hoffnungsfreudigkeit über.

Es war eine böse Nacht. Das fieberheiße, geängstigte Kind, das bald in
unruhigen Schlummer fiel, bald wie in Atemnot aufschreckte, hielt fast
unablässig die Hand der lieben Pflegerin in seinen glühenden Händchen,
und wenn es die furchtbare Angst überkam, dann schlang es derselben
wohl auch die zuckenden Aermchen um den Hals und suchte mit heiserer
Stimme ein Kosewort zu flüstern.

Vetter Martin war sich völlig im Klaren, daß er hier nicht mehr war,
als der Ehrenwächter, aber er bewunderte still die Hingabe und das
Geschick Mariens, und es war ihm außer Zweifel, daß das Kind sich von
keinem Menschen -- auch von seinem Vater nicht -- diese Einspritzungen
und Einpinselungen, diese Umschläge und Packungen hätte mit solcher
Geduld machen lassen wie von dem Mädchen, auf dessen Auge kein Wehen
des Schlummers kam, das unverwandt die kleine Kranke beobachtete und
mit peinlichster Sorgfalt alle Vorschriften des Arztes beobachtete.

Gegen Morgen war der Schlummer der Kleinen ruhiger, und Vetter Martin
nötigte Marie, jetzt wenigstens auch einige Stunden nach Hause zu gehen
und zu schlafen; sie ging erst, nachdem er ihr heilig versichert hatte,
daß er bei der geringsten Verschlimmerung sie augenblicklich wieder
holen lassen wolle.

Der Arzt fand das Kind viel besser, wenngleich noch nicht außer Gefahr,
und noch eine zweite Nacht saßen die Pfleger, der unruhige Vater, der
grauhaarige Vetter Martin und das vom Nachtwachen bleiche Mädchen an
dem kleinen Lager. Mit erneuter Heftigkeit schien die Krankheit in
dieser zweiten Nacht loszubrechen -- es war die Entscheidung, aber als
der Morgen in die Fenster leuchtete, begann die heiße Röte aus dem
Antlitz des Kindes zu weichen, und seine Atemzüge wurden ruhiger. Unter
solchen Anzeichen ließ Marie sich leichter bereden, heimzugehen, zumal
sie selber nach der Aufregung der letzten Stunden das Gefühl einer
tiefen Abspannung hatte. Noch einmal beugte sie mit ihrem bleichen
Gesichte sich über die schlafende Kleine und lauschte auf ihren Atem,
dann gab sie den beiden Männern die Hand, welche Freidank in tiefer
Bewegung küßte.

Das Kind genas in der That und zwar rascher, als selbst der Arzt
gehofft hatte, der diesen Erfolg unverhohlen der unendlichen Sorge
der treuen Pflegerin zuschrieb. Schon nach etwa acht Tagen konnte
die Kleine, zumal das Wetter wundersam schön war, ins Freie gebracht
werden, und langsam ging sie an der Hand des Vaters durch die Gasse.
Alle Nachbarn und Bekannten bekundeten eine freundliche Teilnahme
und sahen dem Paare nach, das seine Schritte nach dem alten Thore
hinlenkte, in dessen Nähe das Häuschen des Sportelschreibers stand.

Dort sah am Fenster zwischen den blühenden Blumen ein blonder
Mädchenkopf heraus, um gleich darauf zu verschwinden. Marie sah Grethel
zum ersten Male wieder und wollte hinauseilen, um das Kind zu begrüßen,
da stand auch schon Freidank auf der Schwelle. Sie war einigermaßen
verlegen, aber sie bat ihn, einzutreten in die Stube, in welcher die
Mutter am Tische saß, mit einer Handarbeit beschäftigt. Sie selber
nahm das Kind auf den Arm, welches sich mit größter Innigkeit an sie
anschmiegte.

Der Uhrmacher, welcher den ihm gebotenen Stuhl angenommen hatte, schien
einigermaßen in Verlegenheit zu sein, als ob ihm das rechte Wort fehle;
endlich sprach er:

»Es drängt mich, noch einmal von ganzem Herzen Fräulein Marie zu danken
für das, was sie meinem Kinde gethan hat; meine Grethel wär' heute bei
ihrer Mutter, wenn Sie nicht gewesen wären,« wandte er sich zu dem
Mädchen, welches sich wieder an dem Fenster niedergelassen hatte.

»Der liebe Gott hat geholfen, und wir wollen ihm alle dafür danken,
nicht wahr, Mäuschen?« sagte Marie zu dem Kinde, das auf ihrem Schoße
saß und mit dem Kreuzchen spielte, das auf ihrer Brust hing.

»Ja, ja, freilich der liebe Gott,« erwiderte Freidank, »aber er thut's
manchmal durch seinen Engel, und der sind Sie diesmal gewesen.«

»Ich hab's gethan, weil ich doch meiner guten Grethe versprochen hatte,
über ihr Kind zu wachen, wenn sie's selber einmal nicht mehr könnte!«

»Haben Sie das wirklich versprochen?« rief lebhafter der Uhrmacher --
»ja, wenn Sie nur auch ...«

Er wußte offenbar nicht recht, wie er sich ausdrücken sollte, und
suchte nach Worten.

»Sehen Sie, das Kind ist so verlassen, und ich auch. So kann's nicht
weiter gehen, dabei gehen wir beide zu Grunde. Die alte Becker hat ja
den guten Willen, aber sie muß doch zuerst auf ihre Wirtschaft und auf
ihre Verwandtschaft sehen, und dann ... sie versteht auch nicht mit
dem Kinde umzugehen. Nein, so kann's nicht gehen, und wenn Grethel
mir wieder krank würde, denken Sie nur, was das werden soll! Das arme
kleine Ding braucht eine Mutter ... und da dacht' ich ... ob Sie nicht,
da Sie auch meiner seligen Grethe versprochen haben ... ob Sie nicht
-- -- mein Weib werden wollten!«

Er hatte stockend, wie mit beklemmtem Atem gesprochen und endlich die
letzten Worte hastig hervorgestoßen.

Das Mädchen war errötet und hatte das Kind auf die Erde gestellt, das
sie aber nicht losließ, gleich als wüßte es, um was es sich handle;
die alte Frau am Tische jedoch hatte erschrocken und wie abwehrend
beide Hände nach dem Manne ausgestreckt, der mit bleichen Wangen und
erwartenden Augen auf seinem Stuhle saß; sie rief:

»Um Gotteswillen, Herr Freidank -- wohin denken Sie -- das kann ja
nicht sein!«

Eine scheinbar unendlich lange Pause trat ein. Es war still, auch
das Kind regte sich nicht, und man hörte nur die tiefen Atemzüge des
Mädchens am Fenster; endlich sagte Freidank:ä

»Ach Gott, ich weiß ja, was Sie meinen -- der hochwürdige Herr! Sollte
er aber denn nicht auch glauben, daß er das Glück zweier Menschen --
ich meine mich und meine Kleine -- in der Hand hat, und daß es schön
sein müßte, das Glück nicht zu zertreten? Ich bin doch kein schlechter
Mann und was ich gethan habe, mußte ich eben thun. Ach, wenn ich nur
besser zu reden verstände! Sehen Sie, Fräulein Marie, eine so heiße,
glühende Liebe, die alles vergißt, was in der Vergangenheit liegt, kann
ich Ihnen nicht entgegenbringen und meiner seligen Grethe wird immer
ein Stück meines Herzens gehören. Aber ich habe gemeint, Sie werden das
verstehen und begreifen, denn Sie haben sie ja auch lieb gehabt. Und
unser aller Liebe kommt zuletzt in dem Kinde zusammen. Ihm gönne ich
vor allem Ihre Liebe, und wenn Sie für mich nur ein wenig Zuneigung
hätten, ich wär' schon zufrieden und glücklich, wenn Grethel Sie zur
Mutter hätte. Ich will heute keine Antwort, ich bin ja mit der Thüre
ins Haus gefallen. Ueberlegen Sie sich das drei Tage, acht Tage oder
noch länger, und seien Sie nicht böse, daß ich geredet habe. Aber es
mußte jetzt sein, wo ich gesehen habe, wie Ihnen mein Kind ans Herz
gewachsen ist.«

»Ja, ja, sie ist mir ans Herz gewachsen!« sagte Marie, welche wieder
die Kleine an sich gezogen hatte, die nun ihre Wangen streichelte und
küßte, als ob sie die Worte ihres Vaters unterstützen wollte.

»Gut, Herr Freidank, lassen Sie mir Zeit ... das kommt mir zu
rasch -- --«

»Aber Marie, wozu denn Bedenkzeit? Das kann ja nicht sein!« wiederholte
beinahe angstvoll die alte Frau. »Erst müssen wir an Peter schreiben!«

»Ach seien Sie nicht hart, Frau Frohwalt,« bat der Mann, »und lassen
Sie Ihrer Tochter wenigstens den freien Willen -- ich habe ja noch
keinem Menschen Böses gethan, warum wollen Sie mir Böses thun?«

»Das will ich ja nicht, Herr Freidank, ich will nur keinen Zwiespalt in
meinem Hause, unter meinen Kindern!«

»Das wird der liebe Gott schon alles schlichten, wenn nur überall der
gute Wille ist. Für heute lassen Sie uns friedlich und freundlich
auseinander gehen, und Fräulein Marie, wenn Sie überlegen, denken Sie
immer zuerst an Ihre verstorbene Freundin und deren Kind, und dann erst
ein wenig an mich!« Marie hatte feuchte Augen, als sie dem schlichten
Manne die Hand reichte, der nun seine Kleine zu sich aufhob und langsam
dem Ausgang zuschritt. »Wenn's nicht sein kann, schreiben Sie mir's mit
einer Zeile, und wenn ich eine solche in acht Tagen nicht erhalte, dann
komme ich wieder!« sagte er noch, und Marie nickte stumm.

Als die beiden Frauen allein waren, erhob sich die Mutter; sie schlang
die Hände in einander, trat an ihre Tochter hin, sah ihr tief in die
Augen und sprach: »Marie -- Du willst ihn doch heiraten!«

»Um des Kindes willen, Mutter -- ja! Seit ich Grethel dem Tod
abgerungen habe, ist sie recht eigentlich mein geworden, und ich kann
mir nicht denken, daß sie eine andere Mutter einmal erhalten könnte.
Das habe ich so kommen sehen, als ich in der letzten Nacht am Bette der
Kleinen wachte und als mir Freidank im Gefühle der überwundenen Angst
die Hand küßte.«

»Und Peter?« fragte die Frau.

»Schreibe Du ihm, Mutter, aber so, daß Du daran denkst, daß auch _ich_
Dein Kind bin. Du wirst bessere Worte finden, als ich!«

Die beiden hielten sich stumm in den Armen, dann riß sich Marie los und
ging hinaus. Nicht lange darnach schritt sie durch die stille, heiße
Gasse. Das Herz war ihr zum Zerspringen voll; sie mußte sich jemandem
mitteilen, und der, zu welchem sie das meiste Vertrauen hatte, war der
Vetter Martin.

Sie fand ihn daheim unter seinen Schätzen, ordnend und sichtend, und da
er sie sah, kam er herzlich ihr entgegen.

»Na, solcher Glanz in meiner Hütte! Ich dächte, Du wärst recht
lange nicht bei mir gewesen, das heißt innerhalb der vier Pfähle,
denn Gartenbesuch zählt nicht. Willst wohl einmal sehen, was ich an
Kuriositäten von meiner letzten Reise mitgebracht habe?«

»Das ist's eigentlich nicht, Pathe Martin, sondern ich brauche Deinen
Rat und Deine Hilfe!«

»Steht Dir zu Diensten, soweit der Vorrat irgend reicht! Setze Dich!«

Er schob ihr einen alten Polstersitz zu und nun saßen sie in dem
kühlen, dämmerigen Gemache einander gegenüber und Marie erzählte von
dem, was sich vor kurzem begeben hatte. Als sie zu Ende war, sagte der
Alte:

»Na, ich bin schon manches gewesen in meinem Leben -- Heiratsvermittler
noch nicht; versuchen wir's auch damit! Meinen Rat und meine Hilfe!
Mein Rat ist der: Nimm ihn, wenn Dich Dein Herz dazu drängt! Ich halte
ihn für brav und tüchtig, und das bist Du auch, und wenn zwei solche
Menschen sich finden, kann's nur zum Segen sein. Das denkt -- glaube
ich -- Deine Mutter auch, aber sie traut sich's nicht zu sagen, weil er
jetzt evangelisch ist. Und das ist's wohl, wo Du meine Hilfe brauchst,
denn um die ist Dir's doch mehr zu thun, als um meinen Rat.«

Das Mädchen nickte errötend mit dem Kopfe.

»Also, mit Deinem Herzen bist Du im Klaren, und Du hast nur Angst vor
dem hochwürdigen Herrn Bruder. Daß dem die Sache gegen den Strich
geht, ist mir auch klar; aber hier giebt's nur eins, was notwendig
ist: Mut und Festigkeit. Auch Dein Herz hat sein gutes Recht, und das
mußt Du verteidigen. Auf mich kannst Du rechnen: Ich will den Stier
bei den Hörnern packen, schriftlich oder mündlich, denn ich vermute
fast, daß die Nachricht Peter hierher treiben wird, und das wäre
_mir_ wenigstens lieber: Ich schreibe nicht gerne. Es wäre traurig,
wenn die Verschiedenheit des Glaubensbekenntnisses Euch aus einander
bringen sollte, und wenn ich hier dem religiösen Uebereifer die Spitze
abbrechen kann, so weiß ich doch, warum mir unser Herrgott die linke
Hinterpfote gerade jetzt lahm gemacht hat.«

Marie dankte mit überströmenden Augen: »Ach Pathe Martin, es ist mir ja
besonders um das Kind. Heiraten _muß_ Freidank, und wenn Grethel eine
Mutter bekäme, die sie nicht lieb hätte, eine rechte Stiefmutter -- das
könnt' ich nicht ertragen.«

»Zu der Hacke wird sich schon der Stiel finden lassen, behalte nur
ruhig Blut und denke: Ehen werden im Himmel geschlossen, und wenn's
unser Herrgott so bestimmt hat, kommt ihr zusammen, auch wenn der Herr
Pater Peter seinen Segen nicht dazu giebt.«

Ruhig, beinahe freudig und glücklich, verließ das Mädchen das kleine
Haus in der Berggasse und kehrte nach Hause zurück, wo sie die Mutter
mit dem Briefe an Peter beschäftigt fand.

Schon zwei Tage später gegen Abend traf dieser in dem Heimatstädtchen
ein; er kam aus Prag, wo er seit einigen Wochen in seiner neuen
Stellung weilte. Als er eigentlich unerwartet in die Stube trat,
schraken Mutter und Schwester auf und begrüßten ihn mit verlegener
Herzlichkeit. Er selbst war von vornherein ernst, und sobald er es
sich einigermaßen bequem gemacht hatte, ging er auch geraden Wegs auf
sein Ziel los. Er sei bestürzt gewesen über die Mitteilung, welche
ihm die Mutter gemacht hätte, und hoffe, nicht zu spät zu kommen, um
eine Verlobung seiner Schwester mit einem Ketzer, einem Abtrünnigen,
hintanzuhalten.

Die alte Frau war ängstlich und befangen; sie liebte ihre beiden
Kinder; freilich hatte Peter bei ihr ein höheres Ansehen.

»Ach, ich habe ihr ja schon gesagt, und auch ihm, daß das ganz
unmöglich sei, daß wir Dir schuldig seien ...«

»Auch das, aber das ist ja nebensächlich, doch ich kann gar nicht
daran denken, daß Marie ihr Seelenheil so leichtfertig opfern will.
Du hast Dir wohl noch nicht überlegt, daß Dir Dein Beichtvater die
Sündenvergebung verweigern müßte und daß Du der Gnadenmittel der Kirche
Dich beraubtest -- --«

»Ich habe an alles gedacht« -- sprach halblaut und mit gesenktem Kopfe
das Mädchen -- »aber wenn die verstorbene Grethe evangelisch war
und dabei doch so gut und brav, wie wenige Menschen, so möchte ich
gleichfalls evangelisch werden.«

Der junge Priester sprang heftig auf. Er stieß den Stuhl zurück, auf
welchem er gesessen hatte, und in seinem Gesichte flammte es:

»Hat Dich denn der Teufel verblendet, Marie, daß Du so reden magst?
-- Das ist Dein Ernst nicht! -- Du hast die Wahl zwischen uns,
Deiner Mutter und Deinem Bruder einerseits, und zwischen Freidank
andererseits, zwischen dem Segen, den der Himmel ausdrücklich dem Kinde
verheißt, das seine Eltern ehrt, und zwischen dem Fluche, den die
Kirche auf das Haupt der Abtrünnigen schleudert. Ehe Du wählst, denke
aber auch an Deinen toten Vater, dem Du im Grabe noch eine Schande
anthun würdest, wenn Du seinen Glauben verläßt!«

Die Mutter zitterte an allen Gliedern, und sah bald eins, bald das
andere ihrer Kinder an, und aus den Wangen Mariens schien jeder
Blutstropfen gewichen zu sein. Peter Frohwalt aber stand da, wie einst
der Racheengel mit dem flammenden Schwert vor dem verlorenen Paradiese
und hob seine Stimme mit wärmerem Klange:

»Noch ist das entscheidende Wort nicht gesprochen -- o sprich's
nicht, Marie! Opfere nicht der Hölle, was dem Himmel gehört, Deine
unsterbliche Seele! Du hast sie nur einmal zu verlieren, und wenn der
unselige Bund erst geschlossen wäre, so wärest Du unrettbar verloren in
Deiner maßlosen Schuld vor dem Herrn! Und bedenke das Aergernis, das Du
Hunderten von guten Christen geben würdest -- --«

[Illustration: »Noch ist das entscheidende Wort nicht gesprochen -- o
sprich's nicht, Marie! Opfere nicht der Hölle, was dem Himmel gehört,
Deine unsterbliche Seele!« (Seite 91).]

»Ach höre auf ihn, Marie, er meint's doch so sehr gut mit Dir, thu' mir
die Freude und die Liebe, daß ich meine Kinder in Eintracht sehe und
einmal mit dem Glauben sterben kann, daß wir uns alle, gemeinsam mit
Deinem guten Vater, in _einem_ Himmel wiedersehen werden.«

Die alte Frau hing sich schluchzend an den Hals des Mädchens, das bei
diesem doppelten Ansturm beinahe die Fassung verlor -- da kam diesem
eine unerwartete Hilfe. In der Thüre stand mit einmal die alte Frau
Becker und hatte die kleine Grethel an der Hand.

»Sie haben wohl mein Klopfen nicht gehört und da bin ich so eingetreten
-- nehmen Sie's nicht übel ... ach, der geistliche Herr!«

Sie knixte einige Male und fuhr zungenfertig fort:

»Die Kleine hat ja nicht geruht, und wollte, weil wir gerade hier
vorbeikamen, durchaus zu Ihrer lieben Marie und da habe ich ihr denn
den Willen gethan. Na sehen Sie nur!«

Das Kind war ohne weiteres zu dem blonden Mädchen hingeeilt, und das
hatte es beinahe stürmisch aufgehoben, es an sich gepreßt und küßte
es jetzt wortlos, aber immer wieder. Endlich rang es sich wie ein
Schluchzen aus Mariens Brust und sie rief:

»Wir bleiben beisammen, Grethel, wir bleiben beisammen!«

Frau Becker sah verdutzt von einem zum andern, und ihr schien ein
Verständnis aufzudämmern.

»Wir haben hier wohl gestört?« fragte sie halb verlegen, halb mit
forschender Neugier.

»Nein, nein, Frau Becker« -- stieß Marie hastig hervor -- »ich habe nur
soeben meinem Bruder mitgeteilt, daß ich Freidank heiraten will!«

Jetzt stand das Mädchen wie von heißem Blute übergossen da, das Kind
noch immer fest an der Brust haltend, das alte Weib aber schlug die
Hände zusammen:

»Ach Du lieber Gott -- na, das hab' ich mir gedacht! Ach, Sie passen
auch für ihn, und besser konnt' er's gar nicht treffen, da muß der
Himmel seine Freude daran haben!«

»Schweigen Sie! Lästern Sie nicht!« rief Peter dazwischen, und zu
seiner Schwester gewendet sprach er mit bebender Stimme:

»Soll das die Antwort sein auf das, was ich Dir gesagt habe?«

»Verzeih mir, Peter, aber ich kann nicht anders!« stieß Marie hervor,
und hielt noch immer das Kind fest umklammert, das mit großen,
verwunderten Augen nach dem schwarzgekleideten Manne schaute. Jetzt
merkte auch Frau Becker, daß sie überflüssig war, außerdem drückte ihr
die Neuigkeit, die offenbar noch keiner im Städtchen wußte, das Herz ab
-- sie sagte darum:

»Komm, komm, Grethel, der Vater wird warten, und wir wollen auch nicht
stören!«

Sie langte nach der Kleinen, welche nur widerwillig den Hals Mariens
losließ, und ging nach vielen Knixen. Draußen setzte sie sich beinahe
in Trapp und rannte an der Ecke der Berggasse ziemlich unsanft an
Vetter Martin, dem sie zurief:

»Wissen Sie schon -- Marie Frohwalt wird Freidank heiraten, und der
geistliche Herr ist auch da!«

Dann sauste sie weiter, der Vetter Martin aber hielt sich einen
Monolog, indem er sich einen Augenblick auf seinen Stock stützte:

»So ist's recht! Da ist ja die Geschichte schon im Gange und bei der
Beckern auch gleich ins richtige Maul gekommen. Da steht das arme Mädel
wohl schon im ersten Sturme, und um ihretwillen will ich dem alten
Weibe den Stoß verzeihen, der mir bis auf das Zwerchfell gegangen ist.
Da gilt's sogleich die Reserven vorrücken zu lassen, damit sie mir das
Kind nicht kopfscheu machen. Vorwärts, Martin Hinkebein -- auf nach
Valencia!«

Und rascher humpelte er an seinem Stocke fort nach dem Thore zu
und betrat die Stube bei Frohwalt just zur Zeit, wo die Wogen der
Empörung seitens des jungen Priesters hoch anbrandeten gegen die
verzweiflungsvoll sich wehrende Widerstandskraft des armen Mädchens.

»Gott zum Gruße und da wären wir ja glücklich!« sagte er beim Eintreten
und reichte Peter die Hand. Verlegen nahm dieser sie an, aber er
vermochte dabei nichts zu sprechen. So herrschte ein peinliches
Schweigen in der freundlichen Stube, während die hellen Augen des alten
Mannes von einem zum anderen schweiften.

»Hier ist wohl Vehmgericht -- da komme ich, denke ich, gerade recht!«

Peter fand nun das Wort wieder:

»Ja, Vetter Martin, Du kommst recht, um eine Verirrte wieder auf den
rechten Weg bringen zu helfen. Du bist bei uns seit langen Jahren wie
an Vaters Stelle gewesen, nun sprich auch diesmal ein Wort, wie es
unser seliger Vater gesagt hätte. Marie will nämlich -- --«

»Den Uhrmacher Freidank heiraten -- weiß ich, mein lieber Peter, und
es ist mir lieb, daß Du mich an Deinen seligen Vater erinnerst. Der
war aber kein blinder Eiferer, und hielt dafür, daß jeder Mensch selig
werden könne, wenn er nur rechtschaffen an den lieben Gott glaube und
ihn und alle seine Mitmenschen lieb habe. Darum würde er auch jetzt
sagen: ›Was Gott zusammengefügt, das soll der Mensch nicht scheiden!‹«

»Aber das ist ja Gotteslästerung! Das fügt doch Gott nicht
zusammen -- --«

»Wie kannst Du das behaupten? Wenn ohne ihn kein Haar von Deinem Haupte
fällt, finden sich ohne ihn auch nicht zwei Herzen zusammen ...«

»O Vetter, Du verwechselst Fügung mit Zulassung; Gott läßt auch Mord
und Verbrechen zu -- --«

»Richtig, aber darum handelt's sich hier nicht!«

»Doch -- es ist ein Verbrechen, das Marie begehen will an ihrer Seele,
die ich kraft meines Amtes mit zu hüten und zu schützen habe.«

»Sage, Peter, aber ganz aufrichtig: Hättest Du etwas gegen die
Verbindung Deiner Schwester mit Freidank einzuwenden, wenn er nicht
evangelisch wäre?«

Der Priester zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Nein!«

»Also der Mensch ist Deiner Ueberzeugung nach brav, ehrlich, tüchtig,
und hat nur den Fehler, daß er nicht Deinem Bekenntnis angehört --«

»Und daß er ein Abtrünniger ist!«

»Na, und wer hat ihn denn dazu gemacht? Ihr mit Euern frostigen,
lieblosen Satzungen habt ihn selber hinausgedrängt aus der Kirche, und
nun wollt ihr ihm ein Verbrechen aus dem machen, was ihr im letzten
Grunde -- ihr mögt es drehen und wenden, wie ihr wollt -- selbst
verschuldet habt. Und nun soll dem armen Menschen auch alles andere
Lebensglück zertreten werden? Wenn er jetzt für sich ein braves Weib,
für sein Kindchen eine gute Mutter sucht, wollt ihr wieder mit euren
kalten Satzungen dazwischentreten? Deine Schwester will den Weg der
Nächstenliebe gehen, Du aber den Weg des Hasses -- wer handelt mehr im
Geiste Gottes, dem nicht gedient wird durch blindes Eifern?«

Das Gesicht Peter Frohwalts verzog sich beinahe schmerzlich, da er
sagte:

»Aber, Vetter Martin, das verstehst Du nicht! Du weißt nicht, was ich
meiner heiligen Kirche, und was ich mir schuldig bin!«

»Das weiß ich wohl, aber ich fürchte, daß Du es nicht weißt. Du sollst
ein Diener Gottes sein im Geiste und in der Wahrheit, das bist Du der
Kirche und Dir schuldig -- so diene dem Geiste, der ein Geist der Liebe
ist, und diene der Wahrheit und kümmere Dich nicht um den Schein. Und
wenn man Dir nachsagt, daß Deine leibliche Schwester einen Protestanten
geheiratet hat, so habe den ehrlichen Mut und sprich:

›Er ist ein braver Mann, und glaubt an denselben Gott wie ich!‹«

»Aber Marie will selber evangelisch werden!« stöhnte der junge Priester.

»Das find' ich in der Ordnung. Ich bin kein Freund von gemischten Ehen,
und was dabei herauskommt, hat sich bei Freidank bereits gezeigt. Nein,
nur keine Halbheiten! Und da nicht zu verlangen ist, daß der Uhrmacher
wieder katholisch wird, so wird sein Weib evangelisch werden -- meinst
Du, daß darum Deine Schwester eine schlechte Person wird, daß das, was
jetzt gut an ihr ist und was alle Menschen an ihr lieb haben, dadurch
mit einmal zur Scheusäligkeit verkehrt wird?«

»Und ich dulde es nicht, und werde es niemals dulden!« schrie jetzt
Peter mit Heftigkeit auf -- »und wenn sie dennoch wagt, mir und ihrer
Mutter, die mit mir empfindet, zu trotzen, so werden wir vergessen, daß
sie zu uns gehört und uns von ihr wenden für alle Zeit, und wie sie dem
Fluche der Kirche verfällt, so soll sie ...«

Die alte Frau kam bleich, mit aufgehobenen Händen an den Sohn heran,
auch Marie stand fassungslos und klammerte sich mit der Rechten an die
Lehne eines Stuhles, indes sie die Linke heftig gegen das pochende Herz
preßte; Martin aber trat ganz nahe zu dem erregten Priester und sah ihm
fest und ruhig in das gerötete Angesicht:

»Halt -- nicht weiter -- Verkünder der göttlichen Liebe! -- Ich habe
gemeint, daß Dir das Leben in Nedamitz schon eine Lehre gegeben haben
würde, daß mit Eifern und mit blinder Gehässigkeit nichts gethan ist
-- ich sehe, Du hast wenig gelernt und mußt noch in eine härtere
Schule kommen, und, will's Gott, zu guten Lehrern. Du bist nicht aus
dem Holze, aus dem man sonst Glaubenseiferer schnitzt, und aus Dir
redet nicht das Herz, sondern die Schulweisheit. Das will ich Dir
zugute halten, und darum sage ich nichts weiter als: ›Wenn Marie hier
hinausgeworfen wird aus dem Elternhause, so soll sie bei mir eine
Heimat finden; eine solche Tochter ist mir zu jeder Stunde willkommen!‹«

Aufschluchzend warf sich das Mädchen an die Brust des Alten, der ihr
liebkosend über die blonden Haare strich und in einem unendlich milden
Tone, der bei ihm fremd und deshalb gerade ergreifend war, sagte:

»Folge Deinem Herzen, mein Kind! Das ist wie Gold gewesen zu allen
Zeiten, und das kann nicht über Nacht zu wertlosem Messing werden. Wenn
sie Dich quälen, komm zu mir, noch heute, ich will Dich halten, wie
Dein seliger Vater Dich gehalten hätte -- dafür bin ich Dein Pathe!«

Er küßte sie auf die Stirn, und in dem Zimmer war es tiefstille.
Finster blickend lehnte Peter an dem Tische, und neben ihm stand die
Mutter noch immer mit gefalteten Händen. Vetter Martin aber führte
Marie langsam hinaus.

Am andern Morgen in aller Frühe verließ der junge Priester seine
Vaterstadt, ohne seine Schwester noch einmal gesehen zu haben,
die hinter dem Fenstervorhang in ihrem kleinen Stübchen versteckt
dem Postwagen nachschaute, der ihren Bruder entführte. Sie weinte
bitterlich.

Gegen Abend traf Peter Frohwalt auf dem Bahnhofe ein. Er war tief
verstimmt und sein Kopf schmerzte ihn; er hatte das Gefühl des
Unbehagens und der Unzufriedenheit und mußte sich immer wiederholen,
daß er seiner Pflicht gemäß gehandelt habe. Langsam ging er durch
die belebten Straßen der böhmischen Hauptstadt, sah den breiten,
menschenvollen »Graben« entlang und schritt durch den Pulverturm hinein
in die Zeltnergasse und nach dem Altstädter Ringe.

Nahe an der Moldau, unmittelbar bei dem Kloster der Kreuzherren mit dem
roten Stern und angesichts des Turmes, der das Portal zu der alten,
stattlichen Karlsbrücke bildet, steht die St. Klemenskirche und mit ihr
in Verbindung ist ein weitausgedehnter, mehrere Höfe umfassender Bau,
der den Jesuiten seine Entstehung verdankt. Ein Teil derselben enthielt
die Hörsäle der theologischen und der philosophischen Fakultät der
Prager Hochschule, die damals noch ausschließlich deutsch war, der nach
der Moldau zugekehrte Teil umfaßt das erzbischöfliche Priesterseminar.

Hier war Peter Frohwalt als Adjunkt der theologischen Fakultät und
als Aufseher über die Alumnen daheim. Er läutete an der Pforte; der
Pförtner öffnete und grüßte ergeben, und der Priester ging langsam,
beinahe müden Schrittes durch die gelbgetünchten Korridore, in denen
eine feuchte, kühle Luft herrschte, hin. Einzelne »Seminaristen« mit
der schwarzen Klerik und der violetten Binde um den Leib begegneten
ihm und grüßten -- im ganzen aber war es fast unheimlich still in dem
weitläufigen Gebäude.

Er betrat sein Zimmer, das einfach, aber freundlich möbliert war und
ließ sich verstimmt und ermüdet auf einem Sopha nieder. Es war noch
Zeit bis zu dem gemeinsamen Abendessen, und er nahm ein Buch zur Hand,
um den Druck, der ihm auf Kopf und Herzen zugleich lastete, wenigstens
auf einige Zeit zu vergessen.

Da pochte es. Auf sein »Ave!« trat ein Alumnus herein, ein hübscher,
etwas bleicher Jüngling, mit kurzgeschorenen, dunklen Haaren. Es war
ein junger Landsmann Peters, dem dieser schon manche Freundlichkeit
erwiesen und der sich gewöhnt hatte, sobald es not that, bei ihm Rat
und Trost zu suchen.

»Was bringen Sie mir denn, Vogel?« fragte der Adjunkt -- »Sie sehen ja
so aufgeregt aus!«

Der Alumnus war noch ein wenig näher getreten und sagte nun mit
unsicherer Stimme:

»Verzeihen Sie, Hochwürden, wenn ich Sie belästige, aber es drängt
mich, Ihnen mitzuteilen, daß ich hier im Seminar nicht bleiben kann.
Sie wissen, daß ich mich gerne dem geistlichen Stand gewidmet habe
und bereit war, manches Schwere auf mich zu nehmen, aber hier wird es
unerträglich!«

Peter Frohwalt war aufgestanden und legte dem Jüngling die Hände auf
die Schultern, indes er ihm freundlich in das gerötete Gesicht schaute.

»Was giebt's denn? -- Setzen Sie sich und erzählen Sie!«

Vogel folgte der Aufforderung und sprach, indem er sich bemühte ruhig
zu werden:

»Die Tschechen machen uns Deutschen hier das Leben zu sauer und kränken
uns durch Rücksichtslosigkeiten und Ungezogenheiten, wo es nur angeht.
Ich sitze bei den Mahlzeiten an einem Tisch mit lauter solchen, und
obwohl sie wissen, daß ich kein Wort Tschechisch verstehe, reden
sie absichtlich nur in dieser Sprache, und sehen mich dabei immer so
höhnisch und herausfordernd an, daß ich wie verkauft und verraten
bin. Will ich sprechen, so sagen sie: ~nerozumime~[4] und lachen
mir ins Gesicht. Wenn in ihrer Zeitung, der »Politik«, irgend ein
boshafter Ausfall gegen die Deutschen geschrieben steht, finde ich
ihn gewiß in der Studierstube auf meinem Platz liegen, und wo man mir
einen Schabernack, selbst der gemeinsten Art, anthun kann, geschieht
es. Dabei habe ich keinem etwas in den Weg gelegt, und den anderen
Deutschen geht es nicht besser. Einer und der andere hat sich wohl auch
schon beschwert, aber denen ist gesagt worden, sie sollten nur ganz
ruhig sein, sie wären wohl selber auch nicht ohne Schuld! Das macht
Verbitterung unter den deutschen Alumnen. Wenn man erst hier in Prag
vier Jahre lang alle Quälereien tschechischen Uebermuts ertragen und
dann die ärmlichsten Kaplanstellen in kleinen Gebirgsdörfern übernehmen
soll, während die besseren und angenehmeren Stellen selbst in deutschen
Orten den Tschechen gegeben werden, dann verliert man die Freude an
seinem Berufe. Wo bleibt denn da die christliche Liebe? Den Tschechen
geht Huß über Jesus Christus und mancher hat das Bild des Ketzers in
seinem Gebetbuche. Mir widerstrebt es, Namen zu nennen, denn ich will
nicht denunzieren, aber ich möchte nicht, daß Sie mich verurteilen,
wenn ich meinen Austritt anmelde.«

    [4] Wir verstehen nicht.

Der Adjunkt hatte den Jüngling ausreden lassen; er wußte, daß derselbe
nichts übertrieb; er war ja selbst Alumnus in diesem Hause gewesen und
hatte manche ähnliche Erfahrung gemacht. Nun sprach er:

»Mein lieber Vogel! Ich denke, das mit dem Austritt überlegen Sie sich
doch noch. Ich werde dafür sorgen, daß Sie an einen anderen Tisch
kommen und werde ein Auge haben auf die nationalen Heißsporne. Fassen
Sie die Sache auf als eine Uebung in der Geduld, welche Ihnen der
Himmel schickt, der Sie damit zur Selbstüberwindung erziehen will,
welche der schönste und größte Sieg ist.«

»Ach Gott, Hochwürden -- Geduld habe ich schon, und habe sie lange
bewiesen, aber die Unduldsamkeit der andern ist zu groß, und die
brüderliche Liebe, mit welcher einer den andern ertragen soll, fehlt
bei ihnen ganz. Und Unduldsamkeit und Lieblosigkeit ist doch das
Schlimmste, und, wenn ich mir denke, daß daraus Priester werden sollen,
dann thut mir's in der Seele weh.«

Peter wurde es bei diesen Worten seltsam zu Sinne. Wohl sprach der
Alumnus von Unduldsamkeit und Lieblosigkeit zunächst im nationalen
Sinne, aber ihm klang doch wie ein Vorwurf für ihn selbst durch und er
fühlte sich mit einmal befangen. Er suchte nach beruhigenden tröstenden
Worten für den Jüngling und war froh, als derselbe, wenigstens
einigermaßen besänftigt und mit dem Versprechen, noch weiter aushalten
zu wollen, ging.

Nun setzte er sich aufs neue auf das Sopha und lehnte sich sinnend
in die Ecke. Die tiefe Verstimmung, mit welcher er aus der Heimat
zurückgekommen, schien sich noch zu steigern. Er sah überall Haß bei
den Dienern der Kirche, Kampf, Fehde und Lieblosigkeit, und der Vetter
Martin erschien ihm den berufenen Vertretern Gottes auf Erden gegenüber
als ein wahrhaft frommer Mann, der mit aller Welt den Frieden suchte
und überall die Liebe hintrug und die Versöhnung.

Verstimmt ging er zum Abendbrot. Er hatte die Aufsicht in dem
Speisesaal und schritt langsam zwischen den Tischen hin. Bei jenem, an
welchem Vogel saß, blieb er stehen, und redete mit den tschechischen
Alumnen hier in freundlicher Weise. Ehe er weiter ging aber fragte er
mit gewinnender Sanftmut und Milde, ob es nicht anginge, daß während
des Essens deutsch gesprochen werde, damit auch Vogel am Gespräch
teilnehmen könne. Die Seminaristen senkten die Köpfe, einige sahen
ihn beinahe spöttisch an, und da er weiterschritt, hörte er, wie man
tschechisch hinter ihm drein redete: Der Fanatismus war größer als die
Liebe!

Am nächsten Mittag hatte er Vogel einen anderen Platz verschafft. --
Die Sommerferien, während welcher sich die meisten der Alumnen in ihre
Heimat begaben, so daß es in den Räumen des Seminars noch stiller,
wie gewöhnlich war, hatte Peter in Prag zugebracht. Er hatte die ihm
gegönnte Muße zu wissenschaftlichen Arbeiten benützt und bereitete sich
zur Erlangung des theologischen Doktorgrades vor. Nach acht stillen
Wochen kehrten die Seminaristen zurück, und das frisch pulsierende
Leben brachte wenigstens vorübergehend einen neuen Reiz. Auch Vogel war
gekommen und hatte Grüße von Peters Mutter und Schwester, welche dieser
mit einem einfachen Danke! entgegennahm.

Das neue Semester an der Hochschule begann, und der junge Adjunkt hatte
die Freude, für einen beurlaubten Professor eintreten und Vorträge aus
dem Kirchenrecht halten zu können; dadurch stieg er bei den Alumnen im
Ansehen, und selbst die Tschechen begegneten ihm jetzt höflicher und
bescheidener als zuvor.

Es war an einem Samstag Nachmittag. Die Seminaristen befanden sich zum
Teil in einem der Höfe und verkehrten hier gruppenweise. Auf einer Bank
in der Ecke unter einem der wenigen Sträuche saßen drei junge Leute
neben einander. Der eine war Vogel, der andere hatte das Ordenskleid
der Kapuziner, die braune, härene Kutte mit dem weißen Strick um die
Lenden gegürtet, und der Dritte, ganz in Schwarz gekleidet, trug
eigentlich gar kein geistliches Abzeichen, obgleich auch er Student
der katholischen Theologie war. Er war aus dem auf der Kleinseite
gelegenen Wendischen Seminar, in welchem zumeist aus der sächsischen
Lausitz stammende Angehörige der Bautzener Diözese Aufnahme fanden.
Er hieß _Stahl_ und war ein hübscher Mensch mit frischen Wangen und
feurigen dunklen Augen, dem das gelockte Haar gar keinen geistlichen
Anstrich gab. Der junge Kapuziner, Frater _Severin_, war eine Art
Heimatgenosse Vogels; er stammte aus einem Dorfe in der Nähe der
kleinen Stadt, in der auch Peter daheim war, und hatte den Alumnus
schon manchmal besucht; Stahl hatte sich an diesen angeschlossen, weil
er im theologischen Hörsaal zufällig neben ihn zu sitzen kam, und weil
er ein Deutscher war.

Severin spielte mit den Fingern an den Knoten seines Gürtels und sagte
mit einem tiefen Atemholen:

»Heute in drei Wochen habe ich meine Profeß, dann bin ich für immer an
die braune Kutte gebunden!«

»Es paßt Ihnen wohl nicht ganz recht?« fragte Stahl.

»Wie man's nimmt. Einerseits ist's gut, wenn man sich dem Orden für
alle Zeit verpflichtet und endgültig weiß, wie man in seinem Leben
dran ist; andererseits aber faßt einen doch ein bängliches Gefühl.
So lange man noch denken kann, daß man es jeden Tag in der Hand hat,
das Ordenskleid abzulegen, lebt man so in den Tag hinein, aber wenn
das entscheidende Gelübde abgelegt ist, und es kein Zurück mehr
giebt, fürchte ich, daß das Wort: ›Das Ordensleben ist der schwerste
Kriegsdienst,‹ erst zur vollen Wahrheit wird.«

»Du hast aber doch freiwillig Deinen Stand gewählt, Severin,« bemerkte
Vogel.

»So ganz und gar nicht. Meine Eltern sind arme Leute, und ich habe
mich auf dem Gymnasium jammervoll durchschlagen müssen, sodaß ich froh
war, als ich sechs Klassen hinter mir hatte und nun den ersten besten
Ausweg ergreifen konnte, ein Kapuziner oder Franziskaner zu werden.
Das Klösterchen in Deiner Vaterstadt hat etwas so Trauliches und
Idyllisches, daß ich als Junge mir gar nichts anderes gewünscht hatte,
als einmal drin zu wohnen, und mit einem langen Barte ehrwürdig in dem
schönen Garten desselben spazieren gehen zu können. Na, und meine
Mutter war ja glücklich darüber, daß ich die braune Kutte nahm, und sie
wäre _sehr_ unglücklich, wenn ich sie ablegte; ich darf schon der alten
Frau nicht die Freude verderben.«

»'s ist bald wie bei mir,« brummte Stahl und wippte lebhaft mit seinem
Fuße auf dem Boden, ein Beweis, wie ihn das Gespräch erregte. »Halb zog
sie ihn, halb sank er hin, da war's um ihn geschehen -- die »sie« ist
nämlich meine Stiefmutter. Mein Vater ist sehr fromm erzogen worden,
einige Verwandte von mir sind Priester, teilweise in sehr angesehenen
Stellungen, und da fand es denn meine liebe Stiefmutter im Interesse
ihrer eigenen drei Kinder sehr zweckentsprechend, daß ich Theologe
werde, und da mein Vater ihr gegenüber ein schwacher Mann ist, und
meine geistlichen Vettern auch noch in die Kohlen bliesen, so bin ich
-- der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe -- hier ins Wendische
Seminar gekommen. Lieber wär' ich Maler geworden, und ich glaube, ein
wenig Talent hätt' ich dazu. Aber ich durfte keine richtige Anleitung
bekommen, damit mich die Kunst nicht auf Irrwege bringe, und so
verschmiere ich denn jetzt, ganz meinem Genius folgend, ab und zu ein
Stück Leinwand. Vogel, ich denke Sie sind der Glücklichste von uns
Dreien?«

»Niemand ist glücklich vor seinem Ende!« sagte halb heiter, halb
elegisch der Alumnus, und Stahl bemerkte:

»Das hat wohl der selige Krösus gesagt, oder Solon, na ob der nach
seinem Ende glücklich war, darüber sind wohl die Kirchenväter auch
nicht einig ... aber was gaffen denn die da uns an, als wenn sie dafür
bezahlt hätten?«

Die letzte Wendung galt einigen Alumnen, die in die Nähe gekommen
waren, und mit unverkennbar spöttischen Gesichtern nach den drei
Freunden blickten. Jetzt sagte der eine ganz vernehmlich in deutscher
Sprache:

»Das ist die deutsche Dreifaltigkeit!«

»Ach bewahre, die deutsche Einfältigkeit!« sprach der andere und
beide lachten. Aber nur einen Augenblick, denn blitzschnell war der
heißblütige Stahl vorgesprungen und hatte dem zweiten eine schallende
Ohrfeige versetzt. Dieser schrie zornig auf und warf sich gegen den
Angreifer, Vogel und Severin traten abwehrend dazwischen, aber schon
lockte der Lärm die andern Seminaristen herbei, die im Hofe waren, und
ehe noch alle recht wußten, was geschehen war, wurde es schon recht
laut. Da stand mit einmal Peter Frohwalt, welcher die Aufsicht hatte,
zwischen den Streitenden und deren geballten Fäusten.

»Was giebt's denn?« fragte er.

»Ich habe dem Herrn da eine Maulschelle versetzt, weil er uns Deutsche
ohne jede Veranlassung beleidigt hat.«

Die Tschechen schrieen dazwischen, und der Adjunkt hatte zum ersten
Male Gelegenheit, seine volle Autorität zu zeigen.

»Es ist auf beiden Seiten gefehlt worden,« sagte er ernst, »und ich
werde veranlassen, daß auch beiderseits eine Sühne geleistet werde.
Sie, Kubik«, sagte er zu dem Tschechen, »gehen sofort hinauf, das
Weitere wird sich finden, und betreffs Ihrer Person, Herr Stahl, werde
ich mit dem Herrn Rektor des Wendischen Seminars Rücksprache nehmen!«

Die tschechischen Alumnen murrten noch da und dort halblaut, aber
als das klare Auge des jungen Priesters, der sich hoch aufgerichtet
hatte, sie scharf ansah, duckten sie scheu und schweigend nieder; Hans
Stahl aber machte dem Adjunkten eine stumme und durchaus respektvolle
Verbeugung und entfernte sich.

Zwei Tage später erhielt er von seinem Rektor eine strenge Vermahnung
wegen grober Verletzung der theologischen Sitte und des geistlichen
Anstands.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Sechstes Kapitel.


Es war ein Sonntag zu Anfang des Oktober. Der Himmel machte kein
besonders freundliches Gesicht, und der Wind peitschte einen
Regenschauer nach dem andern durch die Gassen der böhmischen
Hauptstadt. Die vielen Kirchen waren wenig besucht und ihre Hallen
sahen bei dem grauen, unfreundlichen Wetter trübe drein.

Am Pořič, wo die Straße hinabführt nach der schönen
Franz-Josefs-Brücke, steht das kleine Kloster zum heiligen Josef. Hier
sind Kapuziner daheim, und die freundliche Kirche wird von Andächtigen
besonders gern besucht, denn das Volk hat zu den bärtigen Bettelmönchen
mit ihrem schlichten Wesen von altersher eine gewisse Zuneigung.
Auch heute sind die heiligen Hallen trotz des schlechten Wetters
ziemlich gefüllt, denn die Kunde, daß ein junger Bruder seine Profeß
ablegen werde, war immerhin bekannt geworden, und so lockte neben der
Frömmigkeit auch die Neugier.

Mit gelbem, müdem Lichte flackerten die Kerzen vor dem Hochaltare,
rötlich schimmerte der Schein der ewigen Lampe, und die Orgel klang
schwertönig und stimmungsvoll. Vor den Stufen des Altars aber lag
Frater Severin in seiner braunen Kutte mit dem Angesicht zur Erde
gebeugt, während der Brüder ernster Gesang über ihn hin erklang. Dann
sang er selbst mit seltsam zitternder Stimme:

»~Suscipe me Domine secundum eloquium tuum et vivam et non confundas me
ab expectatione mea.~«[5]

    [5] Nimm mich auf, o Herr, nach Deiner Verheißung und ich werde
        leben.

Im ernsten Chor erklang die Antwort und noch zweimal mit stets erhöhter
Stimme sang der junge Professe. Dann erhob er sich und ging langsam
die Stufen des Altars hinan, vor welchem in einem Polstersessel der
Provinzial des Ordens saß. Nun verlas Severin -- und seine Stimme
war ungleich sicherer geworden als vorher, die lateinische Formel,
mit welcher er sich dem Orden und seinen ernsten Satzungen auf
Lebenszeit verband. Darauf ergriff er eine ihm dargereichte Feder und
langsam schrieb er auf der Altarsplatte selbst seinen Namen unter das
bedeutsame Schriftstück. Er zwang sich, ruhig zu scheinen, und nur an
der Blässe des Gesichts vermochten die ihm Nahestehenden die innere
Erregung zu ermessen, welche ihn ergriffen hatte.

Nun kniete er vor dem Provinzial nieder, der mit ernsten, milden Augen
ihm wie in die tiefste Seele hinabsah; er legte seine gefalteten
Hände in die Hände des greisen Priesters und sprach: »~Promitto
obedientiam!~«[6] Dann umarmte ihn der Greis und gab ihm den Bruderkuß.
Auch die andern Brüder näherten sich, und jeden begrüßte Severin in
gleicher Weise mit den Worten:

    [6] Ich gelobe Gehorsam.

»~Do tibi osculum verae et sincerae confraternitatis!~«[7]

    [7] Ich gebe Dir den Kuß wahrer und aufrichtiger Brüderlichkeit.

Dann klang die Orgel und helle, schöne Menschenstimmen sangen von dem
Chore herab. Ein freundlicher Sonnenstrahl kam wie ein tröstlicher
Himmelsbote herein durch das Fenster, und Severin durchschauerte es
wundersam, als ihn das himmlische Licht traf; es war ihm wie eine
schöne Verheißung, daß eine höhere Macht ihm das tragen helfen wollte,
was er auf sich genommen.

Niemals hatte er dem Gottesdienste in größerer Ergriffenheit
beigewohnt. Nach demselben traf er im Sprechzimmer seine Eltern. Den
beiden schlichten Leuten liefen die Thränen über die gebräunten Wangen,
und sie drückten, ohne Worte finden zu können, den Sohn an ihre Brust.
Die Mutter war besonders gerührt, und nahe daran, dem Jüngling die Hand
zu küssen, welche noch nicht einmal die Weihe empfangen hatte.

Am Abend war er wieder allein in seiner kleinen Zelle, die so eng
und einfach war mit dem harten Lager in der Ecke, und die im Winter
nicht geheizt wurde. Das war seine Welt! Er sah an sich hinab, auf
das braune, härene Gewand und den weißen geknoteten Strick, und zum
ersten Male kam ihm dieser vor wie eine Fessel, mit der man ihn
gebunden hatte. Die Brust wurde ihm eng, er suchte tiefer zu atmen und
vermochte es kaum, so daß er mit einem Rucke das Fenster aufriß und das
heiße Gesicht in den kühlenden Abendhauch hinaushielt. Aus dem trüben
Regenmorgen war ein freundlicher Tag geworden. Er sah blauen Himmel und
hörte von der Straße her das verhallende Geräusch der rollenden Räder,
und ein leises Summen, wie es das Leben der großen Stadt verursacht.
Das war die Welt, mit der er abgeschlossen hatte für immer, für die
er nicht mehr vorhanden war, und die nicht für ihn dasein durfte. Was
blieb ihm? -- -- Sein Brevier, um zu beten, seine wenigen Bücher -- es
waren meist kirchenhistorische Werke, die er mit Vorliebe studierte --
und die Musik.

Daheim in seiner Dorfkirche hatte ihm der Lehrer Unterricht im
Orgelspiel gegeben, und er hatte so schnell begriffen, daß er seinen
Meister bald erreicht hatte. In Prag hatte er sich noch vervollkommnet,
und in seinen Mußestunden war ihm die Orgel der liebste Freund
geworden. An ihr saß er manche Stunde, indes irgend ein freundlicher
Bruder, wohl auch ein Knabe, der es aus Vergnügen that, die Bälge
bearbeitete. Dann klang es durch die kleine freundliche Kirche oft so
weihevoll und schön, daß auch einer und der andere der Mönche herbeikam
und, in einen Winkel gelehnt, lauschte. Und wegen seines Orgelspiels
hatten ihn auch alle ganz besonders lieb.

An dem heutigen Tage aber trieb es ihn noch mehr als sonst, seinem
Empfinden Ausdruck zu geben in Tönen, und so ging er nach dem Chore,
nachdem er noch einen Laienbruder gebeten hatte, ihm den nötigen
Wind zu machen. Da saß er vor dem lieben Instrument und vergaß seine
Profeß und alle Welt. Die Orgelstimmen sangen so weich und so mild,
aus frommen Melodieen und volkstümlich getragenen Weisen wob sich ein
wundersamer Kranz von Tonbildern, und das dämmernde Abendlicht, das
über dem Gotteshause lag und in welchem wie ein rotglühender Punkt das
ewige Lämpchen schwankte, erhöhte den Zauber der Stimmung.

Das empfanden ganz besonders zwei Menschen, die in den hintersten
Kirchenstühlen sich niedergelassen hatten. Die Kirche war wie stets des
Sonntags geöffnet und der Orgelton hatte selbst manchen Spaziergänger
noch gelockt, daß er durch die Pforte herein kam und das Kirchlein
betrat. So waren auch diese beiden gekommen: Ein stattlicher Herr
im eleganten Promenadenanzug mit geistvollem Gesichte, das ein
graumelierter Vollbart umrahmte, und ein blühendes Mädchen im lichten
Gewande mit dunklerem Ueberwurfe. Sie hielt den feinen, zierlichen
Kopf mit den dichten braunen Flechten, die unter dem Hute reich
hervorquollen, gesenkt und lauschte mit Ohr und Seele, bis endlich die
Töne verklangen.

Nun erhoben sich die beiden und schritten dem Ausgange zu. In der Nähe
desselben lehnte ein älterer Mönch mit wallendem Barte. Er grüßte den
Herrn und dieser wandte sich zu ihm und fragte:

»Was haben Sie denn hier für einen trefflichen Orgelspieler, Herr
Guardian?«

»Das ist unser Frater Severin, der heute Profeß gemacht hat, Herr
Professor. Wir sind ein wenig stolz auf ihn.«

»Das dürfen Sie auch; hier ist Technik und Seele zugleich!« Der
Sprecher reichte dem Priester die Hand, und schritt hinter dem Mädchen
weiter, das bereits die Pforte erreichte und eben die Fingerspitzen
trotz der Handschuhe in den Weihwasserkessel tauchte. Der Herr folgte
diesem Beispiel und hörte wohl noch, wie hinter ihm drein ein junger
Mann, der mit einem Genossen gleichfalls in die Kirche gelockt war, zu
diesem sagte:

»Das ist ~Dr.~ _Holbert_, der Professor des kanonischen Rechts, mit
seiner Tochter!«

»Ein reizendes Mädchen!« erwiderte der andere -- was freilich der
Professor nicht mehr vernahm.

Dieser schritt mit seiner Begleiterin nach der Brücke zu, um nach der
Kleinseite zu gelangen. Auf dem Wege sprach das Mädchen:

»Weißt Du, Papa, um was ich Dich zu meinem demnächstigen Namenstage
bitten möchte? Ich habe ja einen Wunsch noch frei.«

Der Professor lächelte freundlich, indem er seinem Kinde den Arm bot
und fragte:

»Das wäre?«

»Laß mich das Orgelspiel erlernen. Es wird mir, da ich auf dem Klavier
leidliche Fertigkeit besitze, keine allzugroßen Schwierigkeiten machen,
und ich liebe das königliche Instrument so ungemein: Es hat Kraft und
Fülle bei Weichheit und Milde und erhebt das Herz wie kein anderes. Die
Macht der Töne voll entfesseln, in gewaltigen Fugen sie einherbrausen
lassen zu können, hätte für mich einen wundersamen Reiz.«

»Aber _Therese_, ich kann Dir doch keine Orgel in Deinem Zimmer
aufstellen lassen,« sagte, noch immer lächelnd, der stattliche Mann.
Das Mädchen aber, das sich fester an seinen Arm schmiegte, erwiderte:

»Das sagst Du doch nur im Scherz. Ich weiß, daß zur vollen Wirkung
der Orgel die Räume eines Gotteshauses gehören in Rücksicht auf die
Klangwirkung, wie bezüglich der ganzen Stimmung, aber Du kennst ja den
Pater Guardian von St. Josef gut genug, um mir die Erlaubnis auswirken
zu können, die dortige Orgel benutzen zu dürfen ...«

»Aha, der junge Virtuose hat Dir's angethan. Und Du meinst, daß
derselbe Dein Lehrmeister werden könnte?«

»Weshalb nicht, Papa?« fragte sie, aber es huschte in diesem Augenblick
doch ein leises Erröten über das liebliche Gesicht.

»Na, es fragt sich doch, ob der Pater Guardian dazu seine Erlaubnis
geben würde.«

»Dann kann's ja auch ein anderer sein, aber nicht einer, dem die bloße
Technik über alles geht; ich möchte mehr lernen als das Pedal treten
und die Register beherrschen -- --«

»Ich kenne Dich, Kind -- und wir wollen sehen, was sich thun läßt!«

Sie waren über die schöne Franz Josef-Brücke gegangen und die Höhe
hinangestiegen. Dann schritten sie über das grüne Belvedere hin und
sahen die alte königliche Stadt zu ihren Füßen liegen mit ihren hundert
Türmen und mit dem breiten Silbergürtel der Moldau. Der Abend war
für die Jahreszeit besonders mild und schön, und von den zahlreichen
Spaziergängern wurde der Professor häufig gegrüßt.

Jetzt kam Peter Frohwalt ihnen entgegen. Er war eine prächtige
Erscheinung, der vielfach die Augen auf sich zog, hoch gewachsen, mit
klarem, geistvollem Gesicht, dessen Frische noch durch den weißen
Saum des Collares um den Hals gehoben schien. Als er den Hut zog,
blieb ~Dr.~ Holbert einen Augenblick stehen. Er kannte den jungen
Geistlichen, der ihm bei seiner Ankunft in Prag einen Besuch gemacht
hatte, um ihm für die anerkennende Beurteilung seiner Schrift zu
danken. Sie wechselten heute einige freundliche Worte, der Professor
stellte Frohwalt seine Tochter vor, und dann schieden sie mit
herzlichem Händedruck, nachdem Holbert den anderen eingeladen hatte,
ihn bald einmal wieder zu besuchen.

»Ein tüchtiger Kopf!« hatte dann der Gelehrte zu Therese gesagt.
»Hoffentlich behält er in der Enge seiner Verhältnisse klaren Einblick
in das, was uns bei unsern Priestern notthut. Er wird jedenfalls noch
im Laufe des Winters den theologischen Doktorgrad erwerben und hat Zeug
dazu, eine Zierde seiner Fakultät zu werden.«

Als es anfing zu dunkeln, schritten Vater und Tochter durch die
belebten Straßen heimwärts. Schon am nächsten Tage nahm der Professor
Gelegenheit, mit dem Guardian von St. Josef Rücksprache zu halten
wegen des Wunsches seiner Tochter. Der war gern bereit, dem berühmten
Gelehrten, welcher außerdem in kirchlichen Kreisen besonders hohen
Ansehens sich erfreute, gefällig zu sein; selbstverständlich sollte
Therese die Orgel benützen dürfen nach Belieben -- nur betreffs des
Lehrmeisters --

Der alte Herr strich sich mit beiden Händen abwechselnd durch seinen
wallenden Bart.

»Ich weiß, Hochwürden, was Sie meinen,« sprach ~Dr.~ Holbert; »es
thut nicht gut, Feuer und Zunder zusammen zu bringen, aber Sie müssen
Ihren Frater Severin kennen. Für meine Tochter sage ich gut: Therese
ist lediglich erfüllt von musikalischem Interesse und wird jedes Wort
vermeiden, das nicht damit zusammenhängt, aber in Versuchung führen
möchte ich den jungen Bruder nicht -- --«

»Hm, hm -- ich halte Severin für eine ernste und tüchtige Natur, die
nicht leicht einen Schritt vom Wege weicht. Außerdem geht auch ihm die
Liebe zum Orgelspiel über alles, und ich glaube, er würde glücklich
sein, einen Schüler oder eine Schülerin zu haben. Wir wollen's
versuchen -- vorausgesetzt, daß er einverstanden ist; denn hier hört
die Forderung des Gehorsams auf -- und dabei die Vorsicht nicht außer
acht lassen. Ich will, scheinbar aus Interesse am Unterricht, ab
und zu dabei erscheinen, und wenn ich Unrat wittere, machen wir der
Sache unverzüglich ein Ende.« Severin wurde gerufen. Anfangs war er
einigermaßen verlegen, da er vernahm, um was es sich handle, aber
nicht, weil es eine junge Dame war, die in Frage kam, sondern weil er
seiner Begabung als Musiklehrer nicht genügend vertraute. Doch empfand
er Freude bei dem Gedanken, jemanden im Orgelspiel unterrichten zu
sollen, und er ging darauf ein.

Und nun kam Therese wöchentlich eine Stunde in die kleine Kirche.
Als der Guardian zum ersten Male die beiden jungen Leute einander
vorstellte, war Severin linkisch und schüchtern; er fühlte sich in der
braunen Kutte etwas unbeholfen und hätte -- er wußte selbst nicht recht
warum, den Unterricht lieber in der Laientracht erteilt. Das junge
Mädchen dagegen mit seinen feinen, sicheren Formen fand ohne weiteres
den rechten Ton: Freundlichkeit ohne Vertraulichkeit, Anmut ohne
Koketterie, klare Verständigkeit ohne Vorkehren der Ueberlegenheit in
den Umgangsformen, das war es, was der Guardian für sich selbst an ihr
rühmte, und was ihn um Severins willen mit großer Beruhigung erfüllte.

Für diesen aber waren es schöne Stunden, wie er sie in seinem Leben
bis dahin nicht gekannt hatte, wenn er, mit voller Seele bei seinem
Spiel, sah, welch' eine gelehrige Schülerin er gefunden hatte, und
wenn diese schlanken weißen Finger so kraftvoll in die Tasten griffen,
während er selbst, je nach der Stimmung, die Register zog, schien ihm
das Instrument, dem er lange genug vertraut geworden war, immer neue
Vorzüge und Schönheiten zu entwickeln.

Der Guardian war ab und zu anwesend gewesen während dieser Stunden, und
überzeugte sich mehr und mehr, daß ausschließlich die Freude an der
Musik die beiden jungen Herzen erfüllte, und so gab er sich selbst gern
dem Genusse hin, welcher in der Beobachtung lag, wie der junge Lehrer
zu geben, die Schülerin aufzunehmen verstand.

So lief der Herbst in den Winter hinein, und eines Tages erhielt Peter
ein Schreiben aus der Heimat, in welchem Freidank ihm in bescheidener
und höflicher Weise anzeigte, daß er noch vor der Adventszeit sich mit
Marie vermählen und daß die Hochzeit in der kleinen Kirche zu **dorf
in aller Stille stattfinden werde. Für den Adjunkten war es klar, daß
seine Schwester bereits Protestantin geworden war, obgleich man ihm
dies nicht mitgeteilt hatte, und der Gedanke daran ergriff ihn so
mächtig, daß er sich der Thränen nicht erwehren konnte; es war ihm, als
wäre Marie gestorben, und nach seiner Meinung war das, was sie gethan
hatte, schlimmer als der Tod. Darein mischte sich zu dem Schmerze der
Zorn; er zerriß den Brief Freidanks in kleine Stücke, die er in das
flackernde Ofenfeuer warf und mit diesem symbolischen Thun riß er
nach seiner Absicht alle Fäden entzwei, welche ihn an seine Schwester
knüpften; der ihm aufgezwungene Schwager war überhaupt nicht für ihn
vorhanden.

Er suchte seine Gedanken abzulenken und ging nach dem Krankenzimmer
des Seminars, in welchem seit einiger Zeit Vogel nicht unbedenklich an
Brustfellentzündung darniederlag. Peter Frohwalt hatte eine Zuneigung
für den Jüngling, die nicht bloß auf dem landsmännischen Verhältnis
beruhte, sondern in dem ganzen ehrlichen, frischen und berufsfreudigen
Wesen des Alumnus begründet war, und er hatte sich deshalb während der
Erkrankung seiner mit besonderer Liebe und Sorgfalt angenommen, und
war täglich wiederholt gekommen, um nach ihm zu sehen.

Diesmal traf er mit dem Arzte zusammen. ~Dr.~ Otto war ein kleiner,
lebhafter alter Herr, immer freundlich und liebenswürdig, dessen
Besuch allein schon günstig auf seine Patienten wirkte; er hatte etwas
Herzliches und Ermutigendes, und so leuchteten auch die Augen Vogels
frischer, und auf seinem jungen Gesichte lag Zuversicht der Genesung.

Der Arzt versicherte auch Frohwalt, den er mit warmem Händedruck
begrüßte, daß es nun mit der Gesundung rasch vorwärts gehen werde, und
da er sich entfernt hatte, setzte sich der Adjunkt neben dem Bette
des Kranken nieder. Es war zur Zeit kein weiterer Patient im Raume,
und Vogel konnte ganz dem Zuge seines Herzens folgen. Er ergriff in
aufwallender Freude und Dankbarkeit die Hand des Adjunkten und küßte
sie innig.

»Sie haben mir so viel Liebes und Gutes gethan, Hochwürden, wie einem
Bruder -- das vergesse ich Ihnen in meinem ganzen Leben nicht.«

Peter Frohwalt suchte den Erregten zu beruhigen, aber seiner eigenen
gedrückten Seele that die Liebe und die Dankbarkeit des Jünglings wohl.
Er verließ denselben heiterer, als er gekommen war. Aber da er langsam
durch den Korridor hinschritt, klang ihm fortwährend ein Wort in den
Ohren, eine mahnende Stimme, von der er nicht wußte, woher sie kam:

»Wer Liebe säet, wird Liebe ernten!«

Sollte er nicht doch auch in der Heimat Liebe säen, in den Herzen
seiner Schwester und Freidanks? -- Wenn ihm der Fremde so dankte, wie
würden dies erst die Seinen thun! Und wieder kam das alte Unbehagen
über ihn, als er sein Gemach betrat, und er griff nach seinen Büchern,
um über seinem Studium zu vergessen, was seine Seele quälte.

Er wurde indessen gestört durch einen Besuch, welchen er wohl kaum
erwartet hatte. An der Thüre hatte es gepocht wie mit einem zaghaften,
unsicheren Finger, und auf sein »Ave!« trat der alte Pfarrer von
Nedamitz ein. Frohwalt freute sich, ihn zu sehen, und war doch
erschrocken. Der Mann sah nicht gut aus. Sein Haar schien in der kurzen
Zeit, seit ihn der Adjunkt nicht gesehen hatte, spärlicher und bleicher
geworden zu sein, die hagere Gestalt war zusammengebeugt, und die Augen
lagen glanzlos und tief in dem fahlen Gesichte.

Peter hatte ihm sogleich einen Sitz angeboten. »Was führt Sie einmal
aus Ihrer ländlichen Idylle in die große Stadt?« frug er.

»Es ist aus mit der Idylle, Herr Adjunkt« -- sagte der alte Priester
mit einem wehmütigen Lächeln -- »ich bin abgesägt worden.«

Frohwalt sah den zusammengesunkenen Mann mit dem ungesunden Gesichte
und den schwimmenden Augen teilnahmsvoll an, und dieser fuhr fort:

»Barbara ist gestorben, ziemlich schnell und ohne lange Krankheit; der
Herr geb' ihr die ewige Ruhe; sie hat ihre Schwächen gehabt, aber sie
war ein tüchtiges Weibsbild. Und nach ihrem Tode habe ich wohl wieder
ein wenig mehr ab und zu getrunken, als gut war. Ihr Nachfolger war ein
lebenslustiger Herr, der auch etwas leisten und vertragen konnte, und
wir haben so manchmal bis in die Nacht hinein gesessen. Recht war's
ja nicht, und ich hätte auch den Verstand für uns alle beide haben
müssen. Wenn Sie in Nedamitz geblieben wären, wär's auch nicht so weit
gekommen. Ich glaube, der Gemeindevorstand hat zuletzt den Vikar auf
mich gehetzt, und da ich beim hochwürdigen Konsistorium nicht gerade
gut angeschrieben war, haben sie mich pensioniert. Die Pension -- zu
wenig zum Leben, zu viel zum Sterben -- ist erbärmlich klein, und wenn
ich auch nicht viel brauche, so ist's doch nicht zum Auskommen. Darum
komm' ich zu Ihnen, um Sie zu bitten, mir, falls Sie Gelegenheit
haben, einige Meßgelder zuzuwenden.«

Der alte Mann seufzte und wischte sich mit seinem blau- und
rotgewürfelten Taschentuche die feuchten Augen.

»Das thut mir leid, Herr Pfarrer, daß wir uns so wiedersehen,« sagte
nun der Adjunkt, den, wenn er auch in all dem Gehörten eine gerechte
Fügung erkannte, doch das Mitleid ergriffen hatte. »Ich werde mich
gerne bemühen, Ihnen etwas zuzuwenden. Vielleicht gelingt es auch,
Sie einem der Herren ~Canonici~ als Vikar zu empfehlen -- freilich
müssen Sie Ihre Lieblingsneigung, Ihre Schwäche will ich lieber sagen,
bekämpfen.«

»Mit leerem Beutel wird sich das leicht machen lassen,« sprach beinahe
bitter, mit einem Lächeln um die schlaffen, herabgezogenen Mundwinkel
der Pfarrer -- »und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie etwas thun
wollten.«

»Wissen Sie was?« sagte Frohwalt in einer augenblicklichen milden
Regung, denn wiederum klang ihm das Wort vom »Liebe säen« in der Seele
-- »ich habe heute vormittag Zeit, wir gehen gleich jetzt mit einander
zum Herrn Kanonikus Kupetz, den ich persönlich ziemlich gut kenne, und
der ein freundlicher und wohlwollender Herr ist.«

»Na, wenn Sie meinen -- ich bin zwar den Domherren immer lieber aus
dem Wege gegangen, aber wenn ich mich vorstellen soll, ist mir's doch
lieber, ich habe Sie zur Seite und Sie reden für mich.« --

Bald darauf schritten die beiden Geistlichen über die Karlsbrücke.
Es war ein herrlicher Wintertag, mild und klar, und die gelblichen
Wellen des Flusses rollten, frei von der Eisfessel, unter ihnen hin und
brachen sich an den mächtigen Strebepfeilern. Im Sonnenglanze lag der
prächtige Hradschin da mit seinem weithin gedehnten, hundertfenstrigen
Königsschlosse, mit dem stattlichen Bau des adeligen Damenstifts,
das ehedem der Palast des berühmten Hauses Rosenberg war, und mit
dem rötlichen Gemäuer des massiven Palais Lobkowitz, welches die
schwerfälligen beiden Türme des alten St. Georgklosters überragten,
über welche der mit einer unpassenden Haube versehene Turm des
herrlichen St. Veitdomes noch hinwegsah. Es war ein prächtiges Bild,
das scharf sich abgrenzte von dem klaren Winterhimmel, und das selbst
dem Pfarrer, der lange nicht in Prag gewesen, eine Aeußerung des
Wohlgefallens entlockte.

Sie schritten über den Kleinseitner Ring, an dem schönen Denkmal
des Feldmarschalls Radetzky vorüber und gingen langsam die steile
Spornergasse hinauf. Bei einem grauen, schmalbrüstigen Hause in der
Nähe der Liguorianer blieb der Pfarrer einen Augenblick stehen und
sagte: »Hier wohne ich, in dem dritten Stockwerk nach hinten hinaus --
wenn Sie mich ja einmal besuchen wollten. Ich hab's nicht geräumig und
auch nicht gerade freundlich -- die Aussicht geht auf die Dächer --
aber ein alter abgesägter Priester darf nicht viele Ansprüche machen.«

Sie gingen weiter und kamen an dem erzbischöflichen Palais vorüber
nach jener stattlichen Häuserreihe, welche sich an dem freundlichen,
mit grünen Anlagen versehenen Platze hinzieht, und die der Volkshumor
die »Gimpel- (Dompfaff-) Allee« zu nennen pflegt. Hier wohnen die
Mitglieder des fürsterzbischöflichen Domkapitels, jeder in einem
besonderen Hause.

Wieder blieb der alte Pfarrer stehen, sah zu den spiegelnden
Fensterscheiben der vornehmen Häuserfront, deren Eingangsthüren meist
mit der Mitra geschmückt waren, und sprach seufzend:

»Sehen Sie, der Herr Domprobst bezieht jährlich dreißigtausend, ein
Kanonikus etwa zwölftausend Gulden -- was machen die Herren mit dem
vielen Gelde?«

»Sie müssen bedenken, daß ihre Stellung im Interesse des Ansehens der
Kirche höhere Einkünfte verlangt.«

»Na, die Apostel haben's aber doch auch nicht gehabt!« sagte der
Pfarrer mit halb humoristischer Bitterkeit, die seinem schlaffen
Gesichte einen beinahe weinerlichen Zug verlieh.

An einem der Häuser zog Frohwalt an dem Klopfer. Ein Glockenton
erklang, und gleich darauf erschien ein junges, schmuckes Dienstmädchen
mit weißer Schürze, das, nachdem es erklärt hatte, daß der Herr
Kanonikus zu Hause sei, die beiden durch einige Zimmer bis nach einem
kleinen Salon führte, wo sie einstweilen warten sollten. Hier zeugte
alles von Eleganz und Bequemlichkeit; die ganze Wohnung war vornehm:
Polstermöbel mit reichen Ueberzügen, hohe Spiegel, Erzeugnisse der
Malerei und Bildhauerei, ausländische Pflanzen und Vögel ...

Der schlichte, alte Landpfarrer sah sich um, wie in einer fremden Welt,
und wagte nicht, sich in einen der sammtnen Fauteuils zu setzen. Das
war anders als im Nedamitzer Pfarrhause. Er seufzte halblaut und sagte
nun flüsternd zu seinem Begleiter:

»Der hier hat keine Not und keine Sorgen!«

[Illustration: Der Besuch Frohwalts mit dem alten Pfarrer beim
Kanonikus (Chorherrn) (S. 118).]

»Wer weiß?« erwiderte Frohwalt, aber als ob er Lügen gestraft werden
sollte, so klang jetzt nebenan helles Lachen von Frauenstimmen und das
Klingen von Weingläsern. Darauf folgte das Rücken eines Stuhles, und
gleich darauf kam durch die Flügelthüren der Kanonikus herein. Er war
ein kleiner, wohlbeleibter Herr mit einem geröteten Gesicht, das mit
seinem Doppelkinn, seinen hängenden Wangen und den kleinen, gutmütigen
Augen recht wohlwollend aussah. Er trug einen schwarzen Gehrock und
um den Hals das violette Collare; an der Weste waren einige Knöpfe
geöffnet -- er schien sich eben vom Frühstück erhoben zu haben.

Der Domherr war nicht unfreundlich; er forderte die beiden auf, sich
niederzulassen und hörte mit einem gewohnheitsmäßigen Lächeln um den
breiten Mund dem Adjunkten zu, der in warmen Worten ihm den Pfarrer
empfahl und anfrug, ob nicht vielleicht eine Vikarstelle erledigt sei.

Der Kanonikus ließ seine Augen auf dem Gesichte des Pfarrers ruhen; er
schien sich zu erinnern, warum dieser seines Amtes enthoben war; der
letztere wagte übrigens selbst gar nicht zu sprechen, und so entstand
eine kleine Pause. Der Herr des Hauses zog eine wertvolle Tabakdose
hervor, spielte ein wenig mit derselben, nahm darauf mit zwei Fingern
behäbig eine Prise heraus und bot das blinkende Gefäß leutselig den
beiden andern, welche dankend ablehnten. Nun erst sagte er:

»Es trifft sich gut, und ich will einmal annehmen, daß Sie der
Himmel mir schickt, Herr Pfarrer. Mein Vikar, der an meiner Stelle
das kirchliche Gebet im Dom verrichtet, wenn ich verhindert bin, ist
gestern vom Schlage gerührt worden und wird wohl nicht mehr werden. Ich
will Ihnen seine Stelle übertragen und Ihnen dieselbe Entschädigung
geben. Ich weiß, daß Sie es brauchen können. Aber« -- fügte er lächelnd
und mit erhobenem Zeigefinger bei -- »über die kleine Schwäche, -- na,
Sie wissen schon -- müssen Sie wegkommen!«

In das fahle, schlaffe Gesicht des Pfarrers war eine Röte gestiegen,
vielleicht der Freude, vielleicht der Scham, und er stammelte einige
Dankesworte. Der Kanonikus teilte ihm kurz noch das Weitere mit, und
dann verabschiedete er die beiden Besucher mit dem Bemerken, daß er den
Geburtstag seiner Schwester feiere.

Frohwalt schritt mit seinem Begleiter langsam über die weichen
Teppiche; auf dem Flur begegneten sie einer hochgewachsenen Dame in
dunklem Seidenkleide, die ihren Gruß steif herablassend erwiderte, und
wenige Augenblicke später standen Sie unter den grünen Bäumen vor dem
Hause.

Jetzt wurde der Pfarrer in der Freude seines Herzens gesprächig und
redete von vergangenen Tagen, von seiner Dankbarkeit und fragte auch
nach dem »Vetter Martin«, den er gern einmal wiedersehen möchte,
und dessen Adresse er sich ausbat. Die konnte der Adjunkt ihm nicht
geben, denn der Alte war bereits auf einer seiner Wanderungen, wie er
von Vogel erfahren hatte, und diesmal noch nicht einmal in das alte
heimatliche Winterquartier zurückgekommen.

Sie gingen langsam wieder die Spornergasse hinab, und vor dem grünen
Hause, in welchem der Pfarrer wohnte, sagte derselbe:

»Wollen Sie nicht einen Augenblick mit heraufkommen, damit Sie
wenigstens sehen, wo ich stecke.«

Frohwalt ging mit. Durch einen dunklen Flur kamen sie auf einen
schmutzigen Hof, und im Hintergebäude stiegen sie eine enge Treppe
hinauf, dumpfiger Geruch erfüllte die Räume, Kindergeschrei erscholl
aus einigen Wohnungen, und im obersten Stockwerk war die Behausung des
Pfarrers. Er öffnete die Thür und ließ seinen Besuch eintreten.

»'s ist nicht ganz wie beim Herrn Kanonikus!« sagte er mit einem Anflug
wehmütigen Humors, und der Gegensatz, den er hervorheben wollte, war
allerdings groß genug. Das Wohnzimmer, an das noch ein kleiner Alkoven
stieß, war klein, und trotz der beiden Fenster nicht hell, denn
diese gingen nach dem Hofe. Die Möbel waren beinahe ärmlich, und das
wurmstichige Kanapee mit dem geblümten Kattunüberzuge ächzte, als sich
Frohwalt darauf setzte.

»Ich habe meine Möbel verkauft,« sagte der Pfarrer; »der Transport
hätte mich zuviel gekostet, und die da thun's ja auch für mich.
Nur Einiges vom Hausgerät, das mir besonders lieb war, habe ich
mitgenommen.«

Der Blick des Adjunkten fiel eben jetzt auf den wohlbekannten Zinnkrug,
der von einem alten Schrank herabgrüßte, und er hätte gewünscht, daß
derselbe mitsamt den Möbeln in Nedamitz geblieben wäre. Er hielt sich
nicht lange auf in dem Raume; die Luft war muffig und lag ihm auf der
Brust: Es war eine Mischung von Tabaksqualm und Kohlendunst.

Er war froh, als er langsamen Schrittes unter dem klaren Winterhimmel
über die Brücke nach der Altstadt zurückkehrte. Bei dem Brückenturm
begegnete er Professor Holbert, an dessen linker Seite Hans Stahl mit
dem Ausdruck des Stolzes in dem frischen Gesichte einherschritt. Der
erstere kam auf ihn zu und sagte ihm mit einem Händedruck:

»Sie sind mir noch immer einen Besuch schuldig, Hochwürden. Wie wäre
es denn nächsten Sonntag nachmittag zu einer Tasse Kaffee? -- Meine
Tochter würde sich gleichfalls freuen.«

»Ich komme, wenn Sie gestatten, Herr Professor!«

»Schön -- also, auf Wiedersehen!«

Und der Professor schritt mit Hans Stahl weiter nach dem Franzensquai,
während der Adjunkt sich nach dem Seminar wandte.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Siebentes Kapitel.


Professor Holbert wohnte in der Zeltnergasse, nicht weit vom Pořič.
Einfache Vornehmheit zeichnete die Räume aus, welche er innehatte,
und das entsprach völlig seinem eigenen Wesen. Abhold jedem Prunk und
Schein, gerade und ehrlich in Wort und Wirken, verschmähte er das
Gehaltlose und Unechte auch in seiner Wohnung, und die geschnitzten
Möbel, die wenigen aber trefflichen Bilder, die künstlerisch
vollendeten Büsten, und die ganze Anordnung im allgemeinen zeugten von
gediegenem Geschmack und von wohnlicher Behaglichkeit zugleich, so daß
jeder Besucher sich bei ihm wohl fühlte, zumal er mit ungezwungener
Herzlichkeit und Liebenswürdigkeit empfangen wurde. Seine Gattin hatte
der Professor seit einigen Jahren verloren, und Therese mußte ihm die
Hausfrau ersetzen. Dazu besaß sie alle Fähigkeit: Klarheit des Geistes
und Umsicht, gefälligen Schliff der Umgangsformen und Sinn für alles,
was Anmut und Behagen in die Häuslichkeit zu bringen vermochte; der
Professor nannte sie den Sonnenschein seines Hauses. Und dabei war sie
noch jung, etwa neunzehn Jahre alt.

Es war der Sonntag, für welchen ~Dr.~ Holbert den Adjunkten eingeladen
hatte. Der Nachmittag war unfreundlich, Schneeschauer verfinsterten
die Gasse, und manchmal schlug der Wind sausend gegen die Fenster, daß
sie leise klirrten. Im wohlgewärmten Salon aber war es hier ungemein
traulich und behaglich. Frohwalt war gekommen, herzlich begrüßt, wie
es Brauch in diesem Hause war, und lernte zunächst noch einen Gast
kennen, einen jungen Arzt, ~Dr.~ Moritz _Haller_, einen hübschen und,
wie es schien, weltgewandten Mann mit etwas blasierten Manieren, der
behaglich, wie wenn er hier zu Hause wäre, in einem Fauteuil beim
Kamin saß, in einem bildergeschmückten Reisewerke blätterte und zu den
Bildern seine Bemerkungen machte, worin er sich auch durch die Ankunft
Frohwalts nicht stören ließ.

Diesen nahm der Professor in Beschlag, und während er sich mit ihm
über eine kirchenrechtliche Frage unterhielt, welche den Adjunkten
interessierte, plauderte der Doktor mit der Tochter des Hauses, wobei
sich manchmal seine Stimme zu halbem Flüstern dämpfte.

Gewinnend schien der letztere dem jungen Geistlichen nicht, zumal
er im Laufe des Nachmittags sich fortwährend bemühte, eine Art
geistiger und gesellschaftlicher Ueberlegenheit herauszukehren, die
er in letzterer Beziehung zweifellos, in ersterer nicht unbestritten
besaß. Der Professor wußte indes geistvoll und gewandt allen etwaigen
Unannehmlichkeiten die Spitze abzubrechen, so daß die allgemeine
Stimmung keine Trübung erfuhr.

Es hatten sich noch zwei Gäste eingefunden: Frater Severin als
Lehrer Theresens im Orgelspiel und Hans Stahl, der mit seinem weißen
Stehkragen und der koketten schwarzen Schleife, sowie mit dem ganzen
frischen und lebendigen Wesen nicht den Eindruck eines katholischen
Theologen machte. Sein Vater und der Professor waren Jugendbekannte,
und so hatte der Jüngling Eingang im Hause des Letzteren gefunden. Er
bewegte sich gesellschaftlich sicher und gewandt, mit einigermaßen
burschikosem Anstrich, der aber nichts Rohes und Verletzendes hatte,
wogegen der junge Kapuziner, dem solche Gesellschaft fremd war, sich
einigermaßen befangen fühlte.

Aber auch einem solchen Gaste wußte der Professor gerecht zu werden,
indem er die Musik ins Feld führte. Er veranlaßte Therese, sich an den
Flügel zu setzen, und unter den gewandten Fingern perlte in köstlicher
Reinheit eine Mozartsche Sonate hervor, und die Augen des jungen
Mannes begannen zu leuchten. Er hatte sich, alles andere vergessend,
zurückgelehnt in seinem Sitze, und hielt die Blicke unverwandt auf die
weißen, schlanken Mädchenhände gerichtet, welche auf den glänzenden
Tasten meisterten, und da das Stück endete, that er einen tiefen
Atemzug. ~Dr.~ Haller und Hans Stahl sprachen, der erstere in etwas
überschwänglicher Weise -- ihr Lob aus; auch Frohwalt äußerte sich in
gleichem Sinne, der junge Kapuziner aber sagte mit einem tiefen Erröten
nur:

»Ich danke Ihnen, Fräulein.«

Nun begann Therese zu singen. Sie hatte einen volltönigen, milden Alt,
der ungemein wohlthuend klang, und das schlichte Lied im Volkston
gewann dabei einen herzgewinnenden Ausdruck. Es war die Ballade von den
zwei Königskindern, die nicht zusammenkommen konnten

    -- das Wasser war viel zu tief.

~Dr.~ Haller spielte die Begleitung, gewandt und feinsinnig, Hans
Stahl aber lehnte an der Fensterbrüstung und sah mit flimmernden Augen
nach den beiden hin. Severin jedoch sank wieder tiefer in seinen Sitz
und hielt den Kopf gesenkt, als ob er träume. Seine Seele war voll
von seltsamen Empfindungen, wie er sie niemals gehabt hatte; er hätte
jauchzen und zugleich weinen mögen.

Dann sang auch Hans Stahl, der einen frischen Tenor hatte, wenig
geschult, aber klangvoll; es war das Mendelssohnssche:

    Leise zieht durch mein Gemüt,
    Liebliches Geläute -- --
    Klinge, kleines Frühlingslied,
    Kling' hinaus in's Weite!

Vor den Fenstern sang der Wintersturm, um so anmutender wirkte der
Frühlingsgruß:

    Wenn Du eine Rose schaust,
    Sag' ich laß sie grüßen!

Dann setzten sich das Mädchen mit ~Dr.~ Haller und Stahl zusammen an
den kleinen Tisch bei dem Kamin, in der Nähe des Fensters aber saßen
die drei andern. Hier wurden wissenschaftliche Fragen behandelt, und
dem jungen Kapuziner war es ein Genuß, die anderen beiden sprechen zu
hören; nur als eine kirchengeschichtliche Frage gestreift wurde, wagte
auch er einige Worte dazwischen zu werfen, die den Beweis lieferten,
daß er auf diesem Gebiete wohl daheim war.

Da es zeitig dunkelte an dem Nachmittage, waren die Gaskronen
angezündet worden, die ein freundliches Licht durch den behaglichen
Salon ausgossen und den traulichen Eindruck desselben noch erhöhten.
Leuchtender hob sich das helle Gewand des Mädchens von den dunklen
Anzügen der Herren, sowie von dem tiefblauen Sammtbezug ihres Sitzes
ab, und das Bild am Kamin war zum Malen hübsch.

Die drei jungen Leute blätterten in einer Mappe, die in
photographischen Nachbildungen Meisterwerke der Malerei enthielt.
Auch hier liebte es ~Dr.~ Haller, einen lehrhaften Ton anzuschlagen,
wie einer, der gewohnt ist, mit unantastbarer Sicherheit über
Kunstleistungen abzuurteilen. Hans Stahl hatte ab und zu eine Bemerkung
dazwischen gethan, mehr zu dem Mädchen, als zu dem Arzte, aber es klang
immer wie eine feindselige Gereiztheit in dem Tone. Die überlegene Art
des andern schien ihn offenbar zu verdrießen.

»Ja, mein lieber Herr Stahl, das verstehen Sie doch wohl nicht zu
beurteilen,« sagte jetzt der Doktor, sehr vernehmlich und nicht ohne
Geringschätzung, so daß die Drei am Fenster unwillkürlich hinhorchten.

»Meinen Sie, Herr Doktor, daß man dazu Medizin studiert haben müsse?«
entgegnete Stahl ziemlich scharf.

»Das nicht, wohl aber Kunstgeschichte und Aesthetik!« war die kühle,
überlegene Antwort.

»Das ist meine Meinung auch, aber ich fürchte, Sie sind darin nicht
weit genug gekommen.«

»Herr, solche Anzüglichkeiten verbitte ich mir!«

Therese war unruhig geworden und suchte lächelnd zu vermitteln, wobei
sie ihre Hand auf den Arm des Doktors legte, der auch sogleich, das
Unhöfliche des ganzen Vorganges erkennend, sich zu ihr wandte mit
einem Worte der Entschuldigung. Aber auch das trug so den Stempel
des Verletzenden für Stahl, daß dieser nach seiner heißblütigen Art
aufstand mit dem Worte:

»Ein Unwissender auf diesem Felde bleiben Sie aber doch!«

Jetzt hatte auch der Professor sich erhoben und rief milde und
freundlich herüber:

»Das klingt ja bitterböse. Darf man wissen, um was es sich handelt?«

~Dr.~ Haller hatte sich zu beherrschen gesucht; er sprach:

»Wir haben hier eben das Bild »Jakob und Rahel« von Giorgione
Barbarelli, von dem nach der Behauptung des jungen Theologen« -- die
Stimme des Redenden hatte hier einen spöttischen Klang -- »das Original
sich in der Dresdener Galerie befinden soll -- --«

»Ich habe es oft genug dort gesehen,« warf Stahl dazwischen.

»-- und dessen Maler nach der Meinung Herrn Stahls der älteren
venetianischen Schule angehören soll.«

»Nicht bloß nach _meiner_ Meinung -- --«

»-- während derselbe ganz zweifellos zu dem Florentiner Kreise gehört.«

»Ich bin zwar nicht allzufest in den Einzelheiten der Kunstgeschichte«
-- sprach nun der Professor, noch immer lächelnd -- »aber diesmal hat
Herr Stahl doch Recht. Giorgione da Castelfranco hat zu Anfang des 16.
Jahrhunderts in Venedig gelebt und ist dort gestorben.«

Haller wurde weiß bis in die Lippen, und seine Augen zuckten einmal
gehässig über den jungen Theologen, der hochaufgerichtet, schweigend,
aber mit dem Ausdruck eines Siegers im Antlitz dastand. Professor
Holbert erkannte das Peinliche für den Doktor, und fügte bei:

»Ein solcher Gedächtnisfehler ist verzeihlich, mein lieber Doktor,
und ein einzelner kann nicht auf allen Gebieten ausgezeichnet sein.
Herr Stahl hat diesmal sein Recht mit jugendlichem Eifer verfochten,
gönnen Sie ihm den kleinen Triumph, denn der alte Giorgione steht doch
nicht dafür, daß sich seinethalben zwei liebe Gäste erhitzen. Zuletzt
freuen wir uns doch der Werke eines Meisters alle gleich, und ob er
Florentiner oder Venetianer, das ist dabei nebensächlich. Die wahre
Kunst stammt aus göttlichen Höhen und ist überall daheim, soweit die
Erde Gottes ist. Auf sie lassen Sie uns anstoßen!«

Er hatte sein Weinglas herbeigeholt, und die Gläser klangen.

»Und nun -- daß die Kunst auch ihre versöhnliche Kraft übe, mag Therese
uns noch ein Lied singen!«

Das Mädchen ließ sich nicht weiter nötigen; sie setzte sich an das
Instrument, und indem sie sich selbst begleitete, sang sie das
ergreifend schöne, schlichte Mendelssohnsche Lied:

    Herr, zu Dir will ich mich retten,
    Wenn die Welt mich kränkt und schlägt,
    Will in Deinen Schooß mich betten,
    Wund und müd' von argen Ketten,
    Die meine schwache Seele trägt ...

Ein beinahe weihevoller Hauch ging durch die Herzen, und als die
Sängerin geendigt hatte, und eine augenblickliche Stille mehr als
lauter Beifall redete, erhob sich der junge Kapuziner und sagte
halblaut:

»Das wird mir in der Seele bleiben! Nun muß ich gehen!«

»Ich begleite Sie, Frater Severin,« rief Stahl, der gleichfalls
aufstand. Er fand mit seiner gewandten Manier einige verbindliche Worte
für Therese, die ihm, wie dem jungen Mönche die Hand zum Abschiede
reichte; die Rechte des letzteren zitterte leise in der warmen, weichen
Hand des Mädchens. Der Professor selbst begleitete seine jungen Gäste
hinaus und entließ sie mit freundlichem Worte, dann kehrte er zu den
andern zurück, welche jetzt an dem Mitteltische saßen.

»Ein junger Hitzkopf!« sagte er lächelnd mit Bezug auf Stahl -- »aber
es ist gute Rasse. Nur meine ich, er hätte besser zum Künstler,
vielleicht auch zum Soldaten gepaßt, als zum Theologen.«

Der Adjunkt bestätigte dies insofern, indem er den Vorgang im Seminar
erzählte, bei welchem der junge Theologe sein nationales Bewußtsein so
entschieden zum Ausdruck gebracht hatte.

Ueber das Gesicht Holberts zog ein leiser Schatten; er sagte:

»Das ist bezeichnend für unsere ganzen Verhältnisse. Die nationale
Erregung ist auf beiden Seiten im Steigen und dürfte noch wunderliche
Blüten treiben. Die Tschechen haben sich allmählich in einen Größenwahn
hineingelebt, der sie Anstand, Gerechtigkeit und ernstes Streben ganz
vergessen läßt. Daß der Ton ihrer Blätter sein Echo selbst unter
der jungen Priesterschaft findet, ist höchst bedauerlich, und es
kommt vielleicht bald die Zeit, da in der Prager Diözese ein Mangel
an deutschen Priestern eintritt. Und wenn erst auf deutschem
Boden tschechische Geistliche amtieren, die Huß mehr verehren als
die Apostel, und die ihre Stellung anstatt zu friedfertigem Wirken
zu nationalen Gehässigkeiten ausnützen werden, wird man seitens der
Staatsgewalt wie seitens des Konsistoriums vielleicht zu spät beklagen,
daß man nicht bei Zeiten diesem Treiben ein Ende gemacht hat. Das ist
ein unerquickliches Thema, lassen Sie uns auf einen anderen Boden
zurückkehren. Wie weit sind Sie mit Ihren Rigorosen, Herr Adjunkt?«

»Ich hoffe noch vor Ostern den Doktorgrad zu erlangen,« sagte Frohwalt.

»Das freut mich -- an Ihnen gewinnt die Hochschule und vor allem die
theologische Fakultät eine Zierde.«

Der Adjunkt suchte das Lob bescheiden abzuwehren, aber der Professor
fuhr fort:

»Ich will Ihnen keine Schmeichelei sagen, aber ich wünsche im
Interesse der Sache, daß es so werden möge. Denn die Zustände an
Ihrer Fakultät sind nicht erfreulich. Ich habe keine Ursache, mich
darüber auszuschweigen, und habe auch vor maßgebenden Persönlichkeiten
darüber gesprochen. Sie haben ja selbst erfahren, in welcher Weise
die Hörer der Theologie gedrillt werden, und wie es dabei auf leeren
Gedächtniskram in der Hauptsache hinausläuft: Gemüt und Geist bekommt
dabei herzlich wenig ab. Das sind doch wahrlich nicht frische, freie
Studenten, welche hier vor dem Katheder sitzen, sondern ganz armselige
Schuljungen in der Kutte, welche auf die Worte des Lehrers schwören.
Und wenn nur die Lehrer immer noch darnach wären! Ich schätze einige
Herren Ihrer Fakultät sehr hoch, sie haben als Männer der Wissenschaft
ihre Verdienste, aber wirklich bedeutende Gelehrte sind doch hier
eine Seltenheit. Denn während die Professoren anderer Fakultäten und
Hochschulen durch Herausgabe von Werken der Wissenschaft zu nützen
bemüht sind, zeigt die Liste unserer theologischen Fakultät im
wesentlichen -- nur Namen!«

Auf Frohwalts Gesicht stand eine hellere Röte. Er sagte mit
einigermaßen verschleierter Stimme -- die Anwesenheit Hallers schien
ihm dabei Unbehagen zu machen:

»Sie haben ja völlig recht, aber es ist nicht abzusehen, wie das sich
ändern soll.«

»So lange man nicht ein anderes System bei Berufungen einführt, weiß
ich es auch nicht. Wer als Seminarist das Rädchen des Gedächtnisses
am besten schnurren ließ, sich hübsch fügen und schmiegen konnte und
sonstige nicht gerade zu wissenschaftlicher Bedeutung notwendige
Eigenschaften besaß, so daß er es vielleicht zum Präfekten unter den
Alumnen gebracht hat, der wird, wenn er sonst gut paßt, Adjunkt, und
nun klettert er sachte an der Leiter der akademischen Würden in die
Höhe und -- wem Gott ein Amt giebt, dem giebt er auch Verstand, das ist
ja ein altes, bekanntes Sprichwort. Ein Deutscher hat übrigens seltener
das Glück, zu solcher Laufbahn zu kommen, und das spricht bereits für
Sie -- abgesehen davon, daß ich Sie aus Ihren litterarischen Arbeiten
aufrichtig hochschätze. Aber -- nehmen Sie mir meine freimütige
Aussprache nicht übel ... mir thut das Herz weh, wenn ich an diese
Verhältnisse denke ... Therese, singe uns noch ein Lied, damit wir auf
andere Gedanken kommen!«

Das Mädchen hatte schweigend dagesessen, und ~Dr.~ Haller hatte nach
seiner Gewohnheit in einem Buche geblättert; um seine Lippen lag ein
leiser Zug des Spottes. Therese erhob sich und ging an das Instrument,
und wieder klangen die Töne der weichen Altstimme mild und freundlich
durch den traulichen Raum.

Indessen waren auf der Gasse draußen Severin und Stahl langsam
gegen den Pořič hingegangen. Der Wind hatte sich gelegt, aber die
Flocken spielten dicht durch einander, so daß die Gasflammen beinahe
verschleiert erschienen und nur einen matten Schimmer ausgossen. Der
Verkehr war geringer geworden, und es herrschte in der sonst belebten
Straße ziemliche Ruhe. Hans Stahl aber sagte:

»Ein unausstehlicher Bengel, dieser Haller, mit seinem
Alles-Besser-Wissen-Wollen. Es ist geradezu empörend, wie jeder
Laffe gerade uns Theologen meint über die Achseln ansehen zu dürfen,
und dabei sind wir die erste und angesehenste Fakultät. Und wissen
Sie, Severin, was mich am meisten wurmt? -- Daß dieser aufgeblasene
Aeskulap, an dem seine hübsche Larve zweifellos das Beste ist, das
schöne Mädchen, die Therese, heiraten will. Sie können sich darauf
verlassen, ich habe beobachtet, wie er mit ihr verkehrte!«

Der junge Kapuziner war froh, daß es dunkel war, und daß sein Begleiter
die Röte nicht gewahren konnte, welche ihm in das Gesicht stieg; die
kühlen Schneeflocken, die an seine Wange flogen, thaten ihm wohl. Er
erwiderte:

»Daß er sie nehmen möchte, glaube ich wohl, aber ob auch ihrerseits das
Entgegenkommen erwidert wird -- --«

Hans Stahl pfiff halblaut durch seine Zähne.

»Lieber Frater Severin, Sie sind kein Menschenkenner oder wenigstens
kein Mädchenkenner. Der Mensch _ist_ etwas, _hat_ etwas, weiß etwas aus
sich zu machen und sieht auch wirklich nach etwas aus. Das besticht
Mädchen, selbst von viel geringeren Eigenschaften, als Therese Holbert,
aber, hol's der Henker, wenn ich nicht Theologe wäre, ich stellte dem
Burschen ein Bein, ehe es so weit käme, daß sie ihr Jawort giebt.«

Der junge Kapuziner fühlte neuerdings etwas wie ein Erschrecken und
wußte wenig zu solchen Aeußerungen zu sagen. Er war eigentlich froh,
als er an der Pforte von St. Joseph stand und hier die Glocke zog. Hans
Stahl drückte ihm warm die Hand und stapfte dann mit heraufgeschlagenem
Rockkragen auf dem beschneiten Wege durch die Zeltnergasse zurück, dem
Altmarkte und der Karlsbrücke zu. Bei der Wohnung Professor Holberts
sah er einen Augenblick hinauf zu den erleuchteten Fenstern und an
seinen Ohren klang das Lied:

    Es waren zwei Königskinder ...
    Die konnten zusammen nicht kommen ...

Severin aber hatte seine Zelle betreten; er hatte noch eine
Viertelstunde Zeit bis zum Abendessen, und so setzte er sich im Dunkeln
auf sein Bett. Das Zimmer war kalt, und obwohl er den Schnee von seiner
Kutte abgeschüttelt hatte, empfand er doch ein feuchtes Frösteln. Durch
das Fenster fiel nur ein ganz matter Schimmer, und der schien von einem
einzigen Stern zu kommen, der von hier aus zwischen grauem Gewölke
sichtbar war. Severin wußte selber nicht, warum er bei dem glänzenden
Punkte, der wie ein freundliches Auge herblinzelte, an Therese denken
mußte, und dasselbe alte Volkslied, das Hans Stahl wieder zu hören
vermeinte, klang auch ihm in der Seele:

    Sie konnten zusammen nicht kommen ...

Als die Glocke zur Abendmahlzeit rief, schrak er zusammen, als wäre
er auf unrechtem Wege ertappt worden, und langsam ging er nach dem
Refektorium. Hier war eine angenehme Wärme und trauliches Licht, ein
Behagen, das ihn stets an Winterabenden angeheimelt hatte, aber er war
schweigsamer als sonst, seine Erinnerung haftete an dem wohnlichen,
vornehmen Salon und an den Menschen, mit denen er dort verkehrt hatte.
Nach dem Abendbrot spielte er, wie es Brauch war, mit den Brüdern noch
ein Kartenspiel, aber er war zerstreut und mußte sich darob manchen
scherzhaften Vorwurf gefallen lassen. Früher als sonst ging er,
unter dem Vorwande, daß er sich abgespannt fühle von der ungewohnten
Gesellschaft, nach seiner kalten Zelle zurück. Er brannte seine Lampe
an und wollte, sich in seine Bettdecke hüllend, lesen, aber er
schweifte in seinen Gedanken immer wieder von der Kirchengeschichte ab.

Zum ersten Male in seinem Leben hatte der schlichte Mönch, der aus
ärmlichen Verhältnissen hervorgewachsen war und nichts von dem Glanz
und der gefälligen Außenseite der Welt wußte, den Schritt in diese
gesetzt, und er bezahlte das mit einer nie gekannten Unruhe. Er schloß
die Augen und sah dann sofort wieder den vornehmen Raum vor sich und
das Mädchen im hellen Gewande am Instrument, und seine Seele schien
sich in der Erinnerung noch immer festzusaugen an den Tönen der vollen,
weichen Altstimme.

Severin faltete die Hände heiß in einander und hielt zwischen ihnen
die derben Knoten seines Gürtelstricks so fest, daß es ihn beinahe
schmerzte; aber er wünschte sich körperlichen Schmerz. Immer zitterte
in seiner Brust das Lied von den zwei Königskindern mit seiner
einfachen, bestrickenden Melodie, und er suchte in seinem Gedächtnis
umsonst nach jener anderen, Mendelssohnschen Weise, die mit ihrer
frommen Innigkeit ihn so tief ergriffen hatte.

Er war aufgestanden, ging in dem kleinen Raum hin und wieder und
blieb endlich am Fenster stehen. Das Schneetreiben hatte aufgehört,
der Himmel war klar geworden, und heller noch als vordem schien der
bläuliche Stern herabzuwinken, wie ein himmlisch-tröstendes Licht.
Und in diesem Augenblicke fand der junge Mensch das Wort, welches er
gesucht hatte:

    »Herr, zu Dir will ich mich retten ...
    Will in Deinen Schooß mich betten,
    Wund und müd' von argen Ketten,
    Die meine schwache Seele trägt.«

Am liebsten wäre er jetzt nach der Orgel gegangen, aber das war nicht
möglich, und so sank er auf dem harten, rohen Betschemel vor dem
schlichten, geschnitzten Kreuzbilde auf die Kniee, senkte den Kopf tief
in die Hände und betete lange.

Dann verlöschte er die Lampe und legte sich, angethan mit seinem
Ordensgewande, nieder. Er schlief auch ein, aber in seinen Traum hinein
klangen süße Mädchenlieder. -- --

Die Orgelstunden waren im Laufe des Winters, wenn die Temperatur in der
ungeheizten Kirche gar zu niedrig erschien, wiederholt ausgefallen, und
mit einer gewissen Aufregung, wie er sie nie zuvor bei diesem Anlasse
empfunden hatte, sah Severin dem Mittwoch entgegen, ob das Wetter
wohl ein Kommen seiner Schülerin ermöglichen würde. Der Morgen brach
herrlich an, und der Tag hielt, was jener verheißen hatte. Die Stunden
selbst fanden unmittelbar nach Mittag statt, und Therese erschien auch
diesmal.

Sie trug ein mit braunem Pelzwerk verbrämtes Jäckchen über dem dunklen
Wollkleide, ein entsprechendes Pelzmützchen, unter dem ihr frisches
Gesicht mit den hellen, freundlichen Augen munter hervorlachte, und
grüßte liebenswürdig wie immer ihren jungen Lehrmeister. Dieser aber
war heute befangener als sonst, und weniger bei dem Spiele selbst als
bei seiner Schülerin, so sehr er sich auch zwang, seine Aufmerksamkeit
auf ersteres zu konzentrieren.

Sie spielte eine Variation über ein Thema von Sebastian Bach, und
dem jungen Mönche war es, als höre er dieselbe zum ersten Male,
und als sehe er auch dabei zum ersten Male diese feinen, schlanken
Finger, welche kraftvoll und gewandt die Tasten beherrschten, und die
zierlichen kleinen Füße, welche das Pedal traten. Nur wie im Traume
kam es ihm vor, daß er ab und zu einige Worte der Erläuterung spreche,
ein oder das andere Register ziehe oder selbst in die Tastatur greife.
Bei dem letzteren war es ihm geschehen, daß er die kühle, weiße Hand
berührte, und es durchzuckte ihn plötzlich wie mit einem heißeren
Empfinden.

Er stand hinter dem Mädchen, aber er heftete seine Augen nicht mehr auf
die Noten, sondern hielt sie auf das Haupt mit den weichen, braunen
Flechten gewendet, von welchen ein feiner, berückender Duft auszugehen
schien. Aus dem Pelzjäckchen hob sich anmutig der blütenweiße Hals
ab mit einem ganz feinen schwarzen Schnürchen, das seine Helle noch
mehr hervortreten ließ, die zarten Ohrmuscheln waren leicht rötlich
angehaucht, und die kleinen Perlen darin blinkten. Auf der Orgelbank
lag neben dem Mädchen ihr Mardermuff, und Severin fühlte, wie es
seine Hand nach diesem hinzog, immer mehr, bis sie auf dem kühlen
Pelzwerk lag und leise kosend darüber glitt. Er empfand ein unsägliches
Wonnegefühl dabei, und als er gar die Oeffnung des Muffes fand, wo die
Hand Theresens geruht haben mußte, war er heftiger erregt. Er sah nur
wie durch einen völligen Schleier die hüpfenden Punkte der Noten, die
weißen Finger auf den weißen Tasten, den zierlichen Kopf und beugte
sich immer mehr vor.

O, wenn er nur eine Sekunde lang dies glänzende Haar berühren -- nein,
wenn er nur mit seinen Lippen das Pelzwerk ihres Gewandes streifen
dürfte! Therese ahnte nichts von der heftigen Gemütsbewegung Severins.
Ganz versunken in ihrem künstlerischen Thun fühlte sie auch nicht den
heißen Atem, der ihr Haupt umspielte, kraftvoller faßten ihre Hände in
die Tasten, ein Meer von Tönen wogte und brauste durch die hallende,
leere Kirche und durch das Herz des jungen Mönchs ... und nun hatte er
sich niedergebeugt, und nur einen Pulsschlag lang berührte sein Mund
das Gewand des Mädchens.

[Illustration: ... und nun hatte er sich niedergebeugt, und nur einen
Pulsschlag lang berührte sein Mund das Gewand des Mädchens (S. 135).]

Es war, als stocke ihm der Herzschlag ... mit einem machtvollen Akkorde
klang die Variation aus, und Therese wandte sich um. Sie sah in ein
gerötetes Gesicht, in flimmernde Augen und hatte doch keine Ahnung, was
in dem jungen Bruder in diesem Augenblicke vorgehe; sie vermeinte, das
Musikstück habe ihn so gewaltig ergriffen. Aber sie stand auf, sah nach
ihrer Uhr, und da sie fand, daß die Zeit abgelaufen, zog sie langsam
ihre Handschuhe an und machte sich zum Fortgehen fertig.

»Nun, Sie sagen mir ja heute gar nichts über mein Spiel?« fragte sie
halb scherzend, und er zwang sich zu dem Worte:

»Es war herrlich ... ich kann Sie nichts mehr lehren!«

»O, sagen Sie nicht so! Das nächste Mal spielen Sie mir die Variationen
vor, damit ich höre, wie viel mir noch fehlt!«

»Ja, ja -- das nächste Mal!« stammelte er, indem er sie bis an die Thür
des Chors begleitete.

Keines von beiden aber hatte bemerkt, daß der Guardian während der
letzten Viertelstunde unbemerkt auf dem Chore gewesen war und sich erst
entfernt hatte, als sich Therese erhob.

Severin wankte in seine Zelle; er hatte das Bewußtsein einer ungeheuren
Schuld, die ihn fast zu erdrücken drohte. Er griff nach seinem
Brevier, und, über sein Betpult gebeugt, murmelte er die Bußpsalmen
des königlichen Sängers David, vor allem das ergreifende: ~Miserere
mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam!~ (Erbarme Dich meiner, o
Herr, nach Deiner großen Barmherzigkeit!)

Er wurde ruhiger im Gebete, aber er wußte, daß die Erkenntnis der
Schuld noch nicht ausreiche, und daß er sich demütigen müsse auch im
Bekenntnis derselben. Darum schritt er langsam, aber festen Fußes nach
der Zelle des Guardians. Der alte Priester sah ihn verwundert an, und
unter seinem milden Blicke fühlte Severin, wie er errötete; er bat, ob
er ihm beichten dürfe.

Der Guardian bejahte und ließ sich, nachdem er die Zelle von innen
verschlossen, auf einem alten Lehnstuhle am Fenster nieder; der junge
Mönch aber hatte einen Fußschemel herbeigeholt; auf diesem kniete
er zur Seite des anderen demütig nieder, und mit halblauter Stimme
berichtete er den Vorgang auf dem Chore. Als er zu Ende war, that
er einen tiefen Atemzug, dann fügte er die übliche Formel von seiner
Bereitwilligkeit, zu büßen, sowie die Bitte um Absolution bei.

Der alte Priester schien ergriffen zu sein, denn er sprach mit ungemein
milder, bewegter Stimme:

»Wohl Dir, mein Bruder, daß Du selbst den Weg gefunden hast zu
Deinem Heil, und daß Du ihn schnell gefunden hast, nachdem Du wohl
gestrauchelt, aber nicht gefallen bist. Ich habe auf Dich gewartet
in dieser Stunde, denn ich bin Zeuge gewesen von Deiner Schwachheit,
und daß Du kommst, erfüllt mein Herz mit Freude und seliger Hoffnung.
Halte fest an diesem Gesetz Deines Gewissens, laß die Sonne niemals
untergehen über einer Schuld, und Du wirst den Frieden finden, den
der Herr verheißen hat. Wer so bereut wie Du, schnell und tief, der
hat sich die Verzeihung erworben, und so absolviere auch ich Dich im
Namen des Vaters, Sohnes und heiligen Geistes. Zur Ehre Gottes aber
bete heute fünf Vaterunser mehr als gewöhnlich. Und nun noch eins: Der
Orgelunterricht soll nicht fortgesetzt werden, aber kein Mensch braucht
zu ahnen, weshalb. Ich kann Ihnen mitteilen, lieber Bruder, daß der
hochwürdige Herr Provinzial bei dem Mangel an Priestern in unserem
Orden nachgesucht hat, daß Ihre Ausweihung zum Priester bereits zum
Weihnachtsfeste erfolgen möge, und man hat der Bitte stattgegeben. Die
würdige Vorbereitung zu diesem heiligen Akte macht das Aufhören jeder
ablenkenden Nebenbeschäftigung von selbst nötig. Und nun gehen Sie mit
Gott!«

Severin küßte tiefbewegt und wortlos die Hand des Guardians und verließ
mit gesenktem Haupte, aber mit leuchtenden Augen dessen Zelle.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Achtes Kapitel.


Peter Frohwalt hatte sein letztes theologisches Rigorosum mit
Auszeichnung abgelegt und stand vor seiner Promotion zum Doktor der
Gottesgelehrtheit früher, als er selbst vermutet hatte. Der Tag, an
welchem die letztere stattfand, war für ihn ein schöner Festtag. Er
hatte seine Mutter dazu eingeladen -- seine Schwester dagegen nicht --
und die alte Frau war auch am Vorabend bereits in Prag eingetroffen
und von ihrem Sohne auf dem Bahnhofe abgeholt worden. Er brachte sie
in einem einfachen, guten Gasthause in der Nähe des Klementinums
unter. Gerne hätte er auch Vetter Martin hier gesehen, aber der Alte
kam nicht, obwohl er wieder daheim war. Er schickte nur mit der Mutter
ein Brieflein, in welchem er nach seiner ehrlichen Manier gerade
heraus erklärte: die Lieblosigkeit, mit welcher bei einem solchen
Anlasse Marie übergangen worden sei, würde ihm die Freude an der Feier
verderben.

Das war ein bitterer Tropfen für Peter Frohwalt, der ihm nun
thatsächlich Unbehagen schaffte; aber die Sache war nicht zu ändern,
und zuletzt wäre es doch mehr als seltsam gewesen, wenn der Doktorand
der Theologie eine Abtrünnige eingeladen hätte.

Am Morgen des Promotionstages fuhr er in einem Fiaker bei dem Gasthause
vor, in welchem seine Mutter wohnte, und holte die alte Frau ab, welche
aus Stolz und Ergriffenheit an diesem Vormittage nicht herauskam. Peter
Frohwalt trug über der Klerik heute einen mit Seide ausgeschlagenen
Talar, den er über den linken Arm gelegt hatte, und seine Erscheinung
war auffallend schön und vornehm, so daß, als er mit der schlichten
Frau die Stufen im Carolinum hinaufstieg, alle, die ihn sahen, ihm
nachschauten. Er führte seine Mutter in dem kleinen Saal zu einem Sitze
in der vordersten Reihe der hier befindlichen Stühle und ging in ein
Nebengemach um dort zu harren, bis er gerufen wurde.

Der Saal hatte sich beinahe völlig gefüllt, als er wieder
eintrat. Auf erhöhtem Platze saßen die Würdenträger der alten
Carl-Ferdinands-Universität um den Rektor gereiht, angethan mit den
goldenen Ketten, außerdem zahlreiche Doktoren der Theologie, die
ihr Recht auf einen Sitz in diesem Kollegium heute ausübten, und
tiefer stand der Oberpedell, sowie der Pedell der theologischen
Fakultät in ihren altertümlichen Gewändern; der erstere hielt das
Universitätsszepter, bei dem nachher der Eid geleistet werden mußte, in
der Rechten.

Die Feierlichkeit verlief in der gewohnten Weise. Peter Frohwalt neigte
das Haupt, empfing die goldene Kette und den Doktorring, und, so
geschmückt, sprach er in lateinischen wohlgesetzten Worten die übliche
Danksagung. Seine Mutter verstand nicht, was er sagte, aber der volle,
wohlklingende Ton der Stimme, die ganze Erscheinung ihres Sohnes, auf
dessen Brust das Ehrenkleinod hell aufblinkte von dem dunklen Grunde
der Klerik, hatten etwas überwältigendes, so daß sie in ihr Taschentuch
hineinschluchzte in Wonne, Seligkeit und Wehmut zugleich, denn sie
mußte in diesem Augenblicke wieder ihres verstorbenen Mannes und --
ihrer Tochter denken.

Als der Rektor und die anderen Herren vortraten, um sie zu
beglückwünschen, vermochte sie nur durch ein Neigen des Hauptes und
durch den Druck der Hand zu danken, und sie war unendlich froh, als sie
wieder mit ihrem Sohne allein in dem geschlossenen Wagen saß und durch
die belebte Straße hinfuhr.

»Es wäre doch schön gewesen, wenn Marie das hätte mit ansehen dürfen.«

Das war ihr erstes Wort, und der junge Doktor fühlte, wie sich abermals
ein Hauch des Unbehagens über seine Seele legte, als empfände er
das Bewußtsein einer Schuld. Er antwortete darauf nicht, sondern
machte seine Mutter auf einen Vorgang auf der Straße aufmerksam. Den
ganzen übrigen Tag war er mit ihr beisammen, zeigte ihr die reichen
Sehenswürdigkeiten Prags, und erst am Abend verließ er sie in ihrem
Gasthause. Er aber schritt langsam nach dem Seminar.

In der Stille seines Zimmers ließ er die Ehren des heutigen Tages
noch einmal an sich vorübergehen, und die Brust hob sich ihm von
einem freudigen Stolze. Aber mitten in dieser Stimmung trat ihm mit
einem Male wieder das Bild der Schwester vor die Seele und schien
ihn mit freundlichen Augen traurig anzublicken. Es führte ihn, ohne
daß er es wollte, zurück in die Tage seiner Jugend, da er mit ihr
zusammen geweint und gelacht in dem kleinen Hause bei dem alten Thore,
und er empfand, daß er sie im Grunde doch lieb hatte trotz dessen,
was zwischen ihm und sie getreten: Sie war ja seines Vaters, sein
Blut. Es fiel ihm ein, daß das kleine Buch vom Vetter Martin, das
»Laienbrevier«, einige Verse enthielt von der Liebe zu den Seinen, und
er holte es herbei und blätterte, bis er fand, was er suchte. Und beim
Lampenschimmer in der tiefen Stille des Seminars las er halblaut:

    Drei Dinge stehen jedwedem Menschen zu,
    Die niemand niemals ihm verkümmern darf:
    Die Gabe Gottes, daß er sei und froh sei;
    Die Hilfe seiner Lebensmitgenossen;
    Das Dritte macht ihn aber erst zum Menschen:
    Das Recht, den Gott zu ehren, und _die Seinen
    In Not und Tod zu lieben_. Ohne Liebe
    Fällt dieses große Haus der Welt zusammen,
    Ein jedes kleine Haus und jedes Herz.
    Drum ohne dies Recht muß er lieber sterben,
    Dies Recht zu üben, froh den Tod nicht scheuen.

Er las die Verse zweimal, dreimal, als ob er sie recht fest seinem
Gedächtnis einprägen wolle, und dabei überkam ihn eine freundliche
Ruhe. Mit dem Gedanken an seine Lieben schlief er ein, und so ging ihm
der schöne Tag schön zu Ende.

Am anderen Morgen reiste seine Mutter heimwärts; er hatte sie nach
dem Bahnhofe begleitet und stand mit ihr bereits auf dem Perron. Sie
drückten sich noch einmal die Hände, und jetzt erst sagte schüchtern
die alte Frau:

»Darf ich Marie nicht grüßen von Dir? -- Es braucht's ja niemand zu
erfahren. Du und ich, wir haben eine große Freude gehabt, gönne ihr
auch ein Teilchen!« Frohwalt sah einen Augenblick zur Seite, that einen
kurzen Atemzug und sprach dann, wieder der Mutter zugewendet:

»Ja, grüße sie von mir!« -- --

Der Zug brauste pfeifend, stöhnend hinaus aus dem Bahnhofe, der Adjunkt
aber ging mit leichtem Herzen und mit einer gewissen Freudigkeit heim.

Noch an demselben Vormittage fuhr er in Begleitung des Syndikus der
Universität nach dem Hradschin, um sich, wie es Brauch war, als
neugeschaffener Doktor dem Kanzler der Hochschule, dem Erzbischof,
vorzustellen.

Sie wurden, ohne im Vorzimmer lange warten zu müssen, bei dem
Kirchenfürsten vorgelassen. Der Kardinal Fürst Schwarzenberg war eine
in jeder Weise aristokratische Erscheinung, hochgewachsen und schlank,
mit einem länglichen, feinen, frischgeröteten Gesicht und klaren
Augen, und seine Persönlichkeit erschien noch vorteilhafter gehoben
durch die hochrote Soutane, welche in eine wallende Schleppe auslief;
auf dem kurzen, silbergrauen Haare lag ein kleines, gleichfalls
hochrotes Seidenkäppchen. Frohwalt war nach tiefer Verneigung zu ihm
herangetreten, und küßte die feine Rechte, der Kardinal aber sprach in
leutseligster, herablassender Weise mit ihm über seine Studien, zumal
sein Lieblingsstudium, und befragte ihn zuletzt auch nach seiner Heimat
und seinen Angehörigen.

»Ob seine Schwester verheiratet sei?«

Der junge Doktor errötete und fühlte eine Sekunde lang den Atem beengt;
er hatte die Empfindung, daß der Kirchenfürst, der ihm mit seinem
klaren Blicke tief in die Augen schaute, im nächsten Momente auch nach
seinem Schwager fragen müsse. Es geschah nicht, im Gegenteil, die
Audienz war zu Ende, aber Frohwalt war, indem er wieder nach seinem
Seminar zurückfuhr, ernst und still. Er dachte daran, wie er sich im
Grunde doch seiner Schwester schämen müsse, und beinahe reute ihn der
Gruß, welchen er der Mutter für sie aufgetragen hatte. -- --

Einige Tage später hatte sich im erzbischöflichen Palais an der
Tafel des Kirchenfürsten eine besonders erlesene Gesellschaft
zusammengefunden: Zwei Domherren, darunter Kanonikus Kupetz, einige
Professoren der theologischen Fakultät und Professor ~Dr.~ Holbert,
der sich besonderer Beliebtheit bei dem Kardinal erfreute. Kaum minder
angesehen war der gleichfalls anwesende Professor der Moraltheologie
~Dr.~ Sales Meyer. Er trug das Ordensgewand der Cisterziensermönche,
die weiße Tunik mit dem schwarzen Skapulier und der schwarzen Binde.
Sein etwas volles, gerötetes Gesicht sprach von Geist und Klarheit,
Frische und Energie, und die Augen sahen klar und scharf durch die
spiegelnden Brillengläser.

Das Gespräch hatte ein ernstes und bedeutsames Thema erfaßt. Für den
8. Dezember des laufenden Jahres, des Jahres des Heils 1869, war eine
allgemeine Kirchenversammlung nach Rom berufen worden, und die Herzen
der katholischen Christenheit waren bewegt, die der Kirchenfürsten und
der gelehrten Theologen erregt. Man war noch im Unklaren, um was es
sich handle, und der Kardinal selbst gab diesem Empfinden Ausdruck:

»Seit dreihundert Jahren hat ein solch' Ereignis nicht stattgefunden,
und es ist begreiflich, daß es unsere Gemüter erfaßt, umsomehr, als
eine besondere Veranlassung nicht erkennbar ist. Wir haben keine
Spaltung in der Kirche und keine neue Irrlehre zu bekämpfen, auch keine
großen theologischen Streitfragen, die der Entscheidung auf solchem
Wege harrten.«

»Wäre es nicht möglich, Eminenz,« -- nahm Kanonikus Kupetz das Wort
-- »daß angesichts der zersetzenden, auf Umsturz von Altar und Thron
gerichteten Bestrebungen der Sozialdemokratie oder der Freimaurer
der heilige Vater Gelegenheit nehmen wollte, durch eine großartige
Kundgebung der gesamten Kirche dem Vordringen derselben einen Damm zu
setzen?«

Der Kardinal schüttelte wie ungläubig das Haupt, und Professor Meyer
sprach mit seiner klaren, ein wenig trocken lehrhaften Stimme:

»Ich erachte das für wenig wahrscheinlich, obwohl ich die Bedeutung
eines solchen Vorganges auch in diesem Sinne nicht unterschätzen würde.
Befremdlich erscheinen muß es jedoch, daß man mit dem eigentlichen
Zweck geheimnisvoll hinter dem Berge hält -- wozu in Dingen, welche
alle Gläubigen interessieren müssen, sich in den Schleier des
Geheimnisvollen hüllen?«

»Wozu, wenn es sich um keine Streitfrage handelt, die Geister zuvor
entfesseln und durch theologische Zänkereien schon vorher die Gemüter
verbittern?« fragte der Kardinal dagegen.

Jetzt nahm Professor Holbert das Wort:

»Verzeihung, Eminenz -- aber ich bin vielleicht in der Lage, eine nicht
unwichtige Andeutung der kommenden Dinge geben zu können. Mir ist
heute früh erst eine italienische Zeitung zugegangen, ein Blatt, das
in streng kirchlichem Sinne und unter dem Einfluß des Jesuitenordens
redigiert wird, und da steht es ziemlich unverblümt zu lesen, daß es
bei dem bevorstehenden Konzil sich um nichts Geringeres handle, als dem
heiligen Vater die _Unfehlbarkeit_ zuzusprechen.«

Das Wort fuhr wie ein zündender Strahl durch den ganzen Kreis. Eine
Falte legte sich zwischen die feinen Augenbrauen des Kirchenfürsten:

»In welchem Sinne glauben Sie, daß man eine solche verkünden wolle?«

»Ich fürchte, Eminenz, in völlig persönlichem Sinne, insofern es sich
um eine der Zustimmung der Kirche nicht bedürfende Unfehlbarkeit des
Papstes in Glaubens- und Sittensachen handelt.«

»Aber, Herr Professor« -- sagte der Kirchenfürst im Tone des Vorwurfs
-- »ist es nicht unbillig, dem heiligen Vater solch' selbstsüchtige
Pläne zu unterschieben?«

»Er ist so ergeben, so milde, wie sollte er dazu kommen?« fragte der
andere Kanonikus, der Professor Holbert aber blieb völlig ruhig, und
erwiderte:

»Ich darf wohl annehmen, daß meine kirchliche Gesinnung, die mir
Herzenssache ist, in diesem Kreise genugsam bekannt ist, ebenso wie
der Freimut, mit welchem ich meine Anschauungen und Ueberzeugungen
auszusprechen gewohnt bin; mit Rücksicht auf beides bitte ich Eure
Eminenz um Verzeihung, wenn ich in einem derartigen Glaubenssatze
nur den letzten Schluß eines seit Jahren verfolgten Vorgehens
erblicken kann. Wenn ich denke, welche Fülle von Ablaßerteilungen,
Heilig- und Seligsprechungen der Papst auf Anlaß seiner Berater aus
dem Orden der Gesellschaft Jesu in den letzten Jahren vollzogen hat,
ja wie man geflissentlich sogar die Kunde von angeblich durch ihn
ausgeübten Wundern verbreitet hat, so will mich bedünken, als ob man
damit nur die Voraussetzungen geschaffen zu dem Schlusse, der nun
gezogen werden soll. Auch die Art, wie vor Jahren der Glaubenssatz
von der unbefleckten Empfängnis Mariä entstand, hat nicht bloß mir
zu denken gegeben, aber der Vorgang wird mir heute verständlicher.
Etwa 100 Bischöfe, darunter circa 80 italienische, die zusammen
nicht so viele Seelen vertreten, als Seine Eminenz, unser Herr
Kardinal-Fürsterzbischof, haben bei einem Zusammensein in Rom durch
einfachen Zuruf zu dem vom Papste vorgelegten Glaubenssatz dessen
Aufstellung als Glaubenssatz bewirkt. Wo hat man sich dabei viel um die
Kirche gekümmert?«

»Die Sache war ja immerhin anders,« nahm Professor Meyer das Wort.
»Damals wurde etwas, was der fromme Sinn des katholischen Volkes
schon lange glaubte, weil es seinem Herzensbedürfnis entsprach, zum
Glaubenssatz erhoben -- aber ein Glaubenssatz von der persönlichen
Unfehlbarkeit des heiligen Vaters wäre eine Neuerung, welche die
Gemüter verwirren müßte und schweres Unheil bringen könnte.«

»Aber, meine Herren, das ist ja Schwarzseherei! Die Sache liegt doch
einfach: Entweder die Unfehlbarkeit ist eine bereits alte Lehre, oder
wenn dies nicht nachgewiesen werden kann, kann sie nicht aufgestellt
werden,« sprach der Kardinal.

»Ja, ein Glaubenssatz kann doch nur dann für die Kirche Gültigkeit
haben, wenn die Mitglieder eines Konzils denselben einhellig oder
nahezu einhellig annehmen. Das ist aber in diesem Falle kaum zu
erwarten,« bemerkte einer der theologischen Professoren.

»Das sollte man meinen, Herr Kollege,« erwiderte ~Dr.~ Holbert, »ich
fürchte aber, daß man in Rom auch vor einer Majorisierung nicht
zurückschreckt, wenn es sich um einen fest vorbereiteten Plan handelt.«

»Aber da würden wir doch auch noch auf dem Platze sein,« meinte der
Kardinal mit einem feinen Lächeln, und ~Dr.~ Holbert senkte schweigend
den Kopf.

Den sonst so ruhigen Professor Meyer schien die Angelegenheit besonders
zu erregen:

»Ich kann noch nicht an solche Absicht glauben; es würde den
geschichtlichen Ueberlieferungen, den geschichtlichen Thatsachen ins
Gesicht schlagen und sich niemals aus Ueberlieferung und Schrift
begründen lassen. Man kann aus vielen Gründen dem katholischen Volke
nicht zumuten, daß es glaube, der Papst könne auf dem ganzen Gebiete
des Glaubens und der Sitten der höchste Lehrer, Richter und Gesetzgeber
sein, und tausend fromme und gelehrte Kirchenfürsten und Kirchenlehrer
ständen auf dem Boden des Irrtums, wenn der heilige Vater, der weder
gelehrt zu sein braucht, noch auch -- dafür spricht ja leider die
Geschichte -- immer tugendhaft, für gut befindet, eine besondere
Meinung zu haben.«

»Und wohin sollte das im Staatsleben führen« -- sprach wieder Holbert
-- »wenn der jeweilige Papst mit seiner unfehlbaren Meinung in die
Rechte der Staaten und der Völker eingreifen würde? Die Völker sind
nicht mehr wie im Mittelalter, sie sind mündig geworden und lassen
sich von Rom nicht mehr Gesetze geben, die unter Umständen der bloßen
Willkür ihre Entstehung verdanken. Heute haben wir einen milden, guten
Herrn auf dem Stuhle des heiligen Petrus, wer aber kann für seine
Nachfolger bürgen?«

»Ich glaube, meine Herren, wir regen uns unnützer Weise auf« -- sagte
der Kardinal mit der Absicht, das Gespräch, das eine unbehagliche
Wendung zu nehmen drohte, zu wechseln, und seine Gäste waren taktvoll
genug, ihn zu verstehen. -- Die Wogen der erregten Gemüter glätteten
sich, man kehrte zu harmloseren Tagesfragen zurück, und Seine Eminenz
verstand auch hier, den feinsinnigen, liebenswürdigen, vornehmen Wirt
zu machen. Unter andern kam die Rede auch auf ~Dr.~ Peter Frohwalt, der
dem Kardinal nach seiner äußeren Erscheinung wie nach seinem ganzen
Wesen einen sehr guten Eindruck gemacht hatte; er hörte mit Vergnügen,
daß auch Professor Holbert sich lobend über den jungen Adjunkten
äußerte, und sprach aus, daß er denselben im Auge behalten wollte.

Der Frühling brachte für Prag wie alljährlich das Fest des
Landesheiligen Johannes von Nepomuk, der bekanntlich als Märtyrer des
Beichtgeheimnisses in den Fluten der Moldau gestorben sein soll. Da,
wo auf der steinernen Brücke heute sein Standbild steht, ließ ihn, wie
erzählt wird, König Wenzel, der Luxemburger, in die Wellen schleudern,
aber ein Kranz von sieben hellen Sternen umleuchtete noch das Haupt
des Toten, dessen Leib nachher im Dome von St. Veit beigesetzt wurde,
dessen Gedächtnis am 16. Mai jeden Jahres festlich begangen wird. Seine
angeblich unversehrte Zunge wird in kostbarer Monstranz der Verehrung
des Volkes ausgestellt.

Auch in diesem Frühling waren Tausende nach der böhmischen Hauptstadt
gekommen, das Fest mitzufeiern, und über die Brücke nach der Höhe des
Hradschin bewegte sich eine bunte Menge, meist Landvolk, und im Dome
drängten sich Hunderte um das Grabmal des Heiligen, den massiven,
schwerfälligen Sarkophag, zu welchem 27 Zentner feinen Silbers
verwendet worden sind, und um welchen eine Anzahl Lampen ihr trauliches
Licht ausgießen. Unter ihnen stand diesmal auch der wunderliche
Heilige, Vetter Martin, der zwar Prag schon kannte, aber es bei
Gelegenheit dieses Festes auch einmal sehen wollte.

Ihm behagte dies Leben und Treiben nicht, noch weniger die
unvermeidlichen tschechisch-nationalen Kundgebungen, welche regelmäßig
mit diesem Feste verbunden werden; diese angeputzten Banderien,
diese buntscheckigen Sokolisten waren ihm nichts weniger als eine
Herzensfreude, und so stapfte er am Morgen des Festes bereits wieder
hinüber nach der Altstadt, um im Klementinum bei Peter Frohwalt
vorzusprechen.

Der war erfreut, als der Alte bei ihm eintrat.

»Das riecht ordentlich nach Theologie bei Euch, etwas muffig, als ob
schon lange kein frischer Luftzug hereingekommen wäre, so daß es sich
Unsereinem auf die Brust legt -- nimm mir's nicht übel, Peter! Ja so,
Du hast ja jetzt eine akademische Würde, und dazu will ich Dir auch
meinen Glückwunsch sagen. Ich wäre gern zur Promotion gekommen, aber
mir that's leid um Deine Schwester, das arme Wurm, das nicht einmal
thun darf, als ob es sich darüber freute -- und sie hat sich doch
gefreut mitsamt Deinem Schwager. Na, was machst Du denn auf einmal für
einen schiefen Nasenwinkel ... ja so, Dir ist etwas in die Schleimhäute
gefahren, Du kannst Freidank nicht riechen! Aber ich sage Dir, er ist
ein prächtiger Mensch und trägt Deine Schwester auf den Händen. Er
weiß, daß er doppelt an Liebe geben muß, weil er auch den Bruder zu
ersetzen hat. Herrgott, da schwatze ich, und weiß doch, daß ich Dir
kein Vergnügen damit mache -- na, wovon das Herz voll ist ... und so
weiter. Höre, das Prag ist ein unausstehliches Nest am Johannistage;
man lebt wie in einer Heringstonne, und selbst wenn man mal ausspucken
will, trifft man einen Verehrer des heiligen Nepomuk. Und wenn das
Geschmeiß nur wirklich noch wegen des Heiligen herkäme! Aber das alles
kommt zu seinem Pläsir. Nur die vielen Leierkästen! Aber jetzt rede
Du -- -- während ich mich einmal in die Sophaecke setzen und, wenn Du
nichts dagegen hast, ein Pfeifchen in Ruhe schmauchen will!«

Er hatte den Worten eigentlich die That schon vorausgeschickt,
schmunzelte behaglich und sagte:

»Sieh, das ist der erste schöne Augenblick im goldenen Prag! Also, wie
lebst Du?«

Frohwalt begann nun von seiner Tagesarbeit und von seinen Studien zu
reden, von der Hoffnung auf einen Lehrstuhl an der Hochschule, und
der Alte merkte, wie solche Aussichten auf die Zukunft ihn freudig
bewegten. Als der Adjunkt geendet, sprach er, behaglich dampfend:

»Du bist ja tüchtig und fleißig, und ich gönne Dir von Herzen, daß Du
einmal zum violetten Collare kommst, aber ein wenig Glück gehört zu dem
allem auch. Dein alter Nedamitzer Pfarrer hat auch einen guten Kern
gehabt und hat's wohl auch an Fleiß nicht fehlen lassen, aber ihm hat
das Glück gefehlt, in die richtigen Verhältnisse gekommen zu sein. Was
hörst Du von ihm?«

Frohwalt erzählte, was er wußte, und der Vetter vergaß, an seinem
Pfeifchen zu saugen.

»Hm, hm, -- also abgethan -- in's alte Eisen -- das wird er nicht lange
aushalten! Höre, Peter, das ist ein elend' Leben, wie's ihm zuteil
geworden ist. An der richtigen Stelle, in guten Händen, wäre er ein
brauchbarer Kerl geworden, aber die Theologie allein thut's nicht. Also
in der Spornergasse sitzt er mit seinem alten Zinnkrug -- da will ich
doch einmal zusehen, was er macht. Kommst Du mit?«

Frohwalt wurde einigermaßen verlegen.

»Ich bin heute mittag beim Kanonikus Kupetz eingeladen, der seinen
Namenstag feiert, darum muß ich Dich sehr um Entschuldigung bitten,
wenn ich mich nachmittags Dir nicht widmen kann. Du nimmst mir's nicht
übel -- bitte -- morgen stehe ich dafür den ganzen Tag zu Deiner
Verfügung.«

»Selbstverständlich, mein Sohn, kommt erst der Herr Kanonikus -- nein,
übelnehmen ist nicht! Da paßt mir's doppelt, wenn ich Deinen alten
Parochus wiederfinde und ihn vielleicht in die freie Natur locken kann;
denn in den Gassen ist mir's heute unheimlich. Ich begleite Dich über
die Brücke nach der Kleinseite!« -- So geschah es, und bald schritten
sie selbander durch den alten Brückenturm und bewegten sich langsam im
Gewühle der Menschen, welche heute mehr als je die Brücke belebten,
vorwärts. Vor dem Standbilde des heiligen Johannes gab es eine kleine
Stauung; der Adjunkt zog andächtig seinen Hut, Vetter Martin aber
nickte dem Heiligen vertraulich wie einem alten Bekannten zu.

Vor der Wohnung des Pfarrers trennten sie sich, nachdem Frohwalt dem
Alten einen Gruß aufgetragen hatte, und dieser stapfte nun langsam
über den unfreundlichen Hof und die Treppe im Hintergebäude empor. Er
erschrak, als er bei dem Pfarrer eintrat, über die Aermlichkeit dieser
Verhältnisse, noch mehr aber, als er den Bewohner dieses Raumes auf
seinem alten Sopha, bedeckt mit einem zerschlissenen Schlafrock, liegen
sah. Der Mann sah elend und heruntergekommen aus mit seinem fahlen
Gesicht und den breiten Säcken unter den schwimmenden Augen.

»Ach, der Vetter Martin!« rief er jetzt, sich halb emporrichtend, und
eine schnelle Röte, ob der Freude oder Verlegenheit wäre schwer zu
sagen gewesen, flog über das graue Gesicht.

»Na ja, da sind wir, Herr Pfarrer,« knurrte der Alte, halb fröhlich,
halb gerührt, und indem er mit der Rechten die Hand des andern drückte,
hielt er ihn mit der Linken davon ab, aufzustehen.

»Liegen bleiben, liegen bleiben -- Sie sind krank!«

»Ja, ich bin leidend!« seufzte der andere -- »schwere Beine, schweren
Kopf, elenden Magen, ich wollt', ich läge auf dem Nedamitzer Kirchhofe,
denn in meinem Dorfe muß es tot hübscher sein, als hier lebendig.
Nehmen Sie Platz -- das ist mir eine rechte Freude in meinem Elend!«

Martin saß schon neben ihm am Tische und sagte:

»Der alte Diogenes hat in einer Tonne gewohnt, und da war's wohl noch
unbequemer als bei Ihnen!«

»Ja, der alte Diogenes!« seufzte der Pfarrer -- »der hat's immer noch
hübscher gehabt als ein alter Priester mit seiner Hungerpension. Ich
setzte Ihnen gern irgend etwas vor, aber ich habe nichts zu Hause ...«

Das klang so traurig und ergreifend, und Martin hatte die Empfindung,
als ob der alte Herr sich schon lange nicht satt gegessen haben müßte;
er sagte:

»Na, da hatte ich mich darauf gefreut, einmal mit Ihnen Mittag essen zu
können; selbstverständlich sollten Sie mein Gast sein, denn in Nedamitz
war ich der Ihre -- aber Sie können wohl nicht ausgehen?«

»Ich bin zu elend heute, darum habe ich mir von meiner Nachbarsfrau nur
eine Wassersuppe kochen lassen -- --«

»Hm, eine Wassersuppe und heute, zum heiligen Feiertage -- --«

»Und zu meinem Namenstage obendrein!« seufzte der alte Priester und
seinem Besucher that das gute Herz weh. Er dachte daran, wie der
Kanonikus Kupetz seinen Namenstag feiern werde, und der arme Teufel
hier hätte sich an den Brosamen seines reichen Tisches satt essen
können; er fragte:

»Haben Sie denn jemanden, den Sie fortschicken können, und der Ihnen
etwas besorgt?«

»O ja, die Nachbarsfrau!«

»So -- na, dann erlauben Sie mir, daß ich mir mein Mittagessen zu Ihnen
holen lasse, mir paßt das Feiertagstreiben heute nicht!«

Dann ging er eilends hinaus, und der Pfarrer sah ihm mit verwunderten
Blicken nach. Er erhob sich indes doch, und suchte nach einem Rock und
einem alten, schmutzigen Collare, und als Vetter Martin nach kurzem
zurückkam, fand er ihn in der Sophaecke sitzend.

»Das ist nichts mit Wassersuppe für Ihren schwachen Magen -- glauben
Sie mir, Herr Pfarrer -- eine gebratene Taube ist für einen Kranken
viel besser! Ich habe mir erlaubt, eine für Sie kommen zu lassen, und
will Ihnen zu Liebe auch einmal meine vegetarischen Grundsätze beiseite
thun. Wir wollen denken, wir säßen in der Nedamitzer Pfarrei und wollen
auch den heiligen Nepomuk feiern!«

Dem Priester rannen zwei schwere Thränen über die Wangen; er streckte
wortlos dem Alten die Hand hin, dieser aber begann von der Botanik und
von seinen Reisen zu reden, bis die Nachbarsfrau mit einem großen Korbe
anrückte. Sie deckte den Tisch mit einem sauberen Linnen, und dann
begann sie auszupacken: Geflügel und Braten, Mehlspeisen und Kompott,
als ob ein halb Dutzend Menschen essen sollten, und dazwischen stellte
sie eine Flasche dunkelglutigen Vöslauers und zwei Gläser. Sie wünschte
wohl zu speisen und ging. Der Pfarrer aber saß da, wie in einem
Märchen, und atmete den Duft der Speisen ein, und vermochte noch immer
nicht zu reden.

Vetter Martin war der liebenswürdigste Wirt; er legte dem andern
vor und schenkte ihm ein, und sie stießen an auf den Namenstag. Die
Wassersuppe schien doch nicht besonders Grund gelegt zu haben, und
der alte Weltwanderer verstand auch, diese Sorte »schlechter« Mägen
zu behandeln. Der Pfarrer thaute auf; er vergaß Elend, Sorge und
Unwohlsein und erzählte von vergangenen schönen Tagen, Vetter Martin
aber feierte ein Johannisfest, wie er es sich nicht hatte träumen
lassen.

So war es um die dritte Nachmittagsstunde geworden, und der Alte
forderte den Priester zu einem kleinen Spaziergange auf; dieser aber
erklärte, daß er beim besten Willen nicht gehen könne, seine Beine
wären zu schwach, und außerdem habe ihn der gute Wein etwas angegriffen
und schläfrig gemacht. Da wollte sein Besucher nicht weiter in ihn
dringen, und nachdem er ihm versprochen hatte, am nächsten Tage
wieder zu kommen, verließ er ihn. Von dem Mahle aber war noch so viel
vorhanden, daß es wohl noch für zwei Tage für den Pfarrer ausreichen
mochte.

Es war ein herrlicher Maitag; schimmernde weiße Wölkchen zogen über
den dunkelblauen Grund des Himmels hin, und die grauen Häuser der
steil ansteigenden Spornergasse erschienen freundlich und festlich.
Trotzdem hatte Vetter Martin keine Neigung, den Berg emporzuklimmen.
Er bog unterhalb des Kleinseitener Ringes in eine Nebengasse gegen
das Augustinerkloster zu St. Thomas hin ab, ging vorüber an dem
umfangreichen Wallensteinschen Palais, der Prager Residenz des
gewaltigen Friedländers, und gelangte endlich an der Moldau entlang
zu dem neuerbauten Kettensteg, unterhalb der Franz-Josefsbrücke.
Dieser Uebergang über den Fluß war ihm neu, und das lockte ihn zum
Ueberschreiten.

So kam er nach oder Altstadt zurück, aber in diesem abgelegenen Teile
derselben war kein festliches Gewoge, hier herrschte Stille und beinahe
kleinstädtisches Behagen. Dabei fühlte sich Vetter Martin wohler, und
er schlenderte langsam weiter, bis er mit einem Male hineingeriet in
die engen Gäßchen des alten jüdischen Ghetto. Da fiel ihm ein, daß just
in dieser Zeit, da der Flieder blühte, der alte Judenfriedhof Beth
Chajim besonders stimmungsvoll und sehenswert sein müsse, und daß er
dort heute zweifellos in voller Einsamkeit das wunderlichste Fleckchen
der böhmischen Hauptstadt genießen könne Er kannte sich gut genug hier
aus und fand auch bald sein Ziel.

Am selben Nachmittage war es, daß auch Hans Stahl von der Kleinseite,
wo das Wendische Seminar sich befindet, über die Franz-Josefsbrücke
hinübergegangen war, um dem Treiben zu entgehen. Der junge Theologe,
der sonst sehr frisch und lebensfroh erschien, war seit einiger Zeit
trübsinnig geworden. Er brachte seine Gedanken nicht mehr fort von
dem lieblichen Mädchenbilde in der Zeltnergasse, und die Ballade von
den zwei Königskindern, die nicht zusammenkommen konnten, verfolgte
ihn seit jenem Sonntag-Nachmittag unaufhörlich. Wie die Motte war er
um das Licht geflattert und hatte sich die Flügel versengt, aber er
konnte trotzdem das Licht nicht meiden. Fast jeder Ausgang führte ihn
in die Nähe des Hauses des Professors Holbert, in die Zeltnergasse, und
wenn er bei solchen Streifereien Therese auch nur ab und zu flüchtig
begegnete, grüßen und ihren Gegengruß entgegennehmen konnte, so war er
höchst beglückt.

Auch heute schien er einen guten Stern zu haben. Schon hatte er die
Zeltnergasse passiert und stand auf dem Altstädter Ring vor der
berühmten astronomischen Uhr, wo eben die Apostel an den offenen
Fenstern vorbeischritten, während das Totengerippe die Stundenglocke
zog, als ob er das alles noch nie gesehen hätte. Im Grunde aber war
es weniger die Uhr, als das zahlreiche Publikum, das mit gespanntem
Interesse dem Vorgang sich zuwendete, was ihn interessierte. Dabei
hatte er gar nicht bemerkt, daß Professor Holbert mit seiner Tochter
vorübergingen, gleichfalls flüchtig nach dem alten Prager Wahrzeichen
aufschauten und sich dann nach der alten St. Niklaskirche wendeten.

Gerade als sie dort um die Ecke verschwanden, hatte er sie noch
bemerkt, und wie der vom Bogen geschnellte Pfeil eilte er ihnen nach.
Sie anzusprechen auf der Gasse hätte er wohl nicht gewagt, aber
»errötend ihren Spuren folgen« zu dürfen, schien ihm bereits ein Glück,
und sobald er beide wieder vor sich gewahrte, schritt er langsam
hinter ihnen drein, die Blicke immer auf die schlanke, elastische
Mädchengestalt gerichtet, die im hellen Frühlingskleide ungemein
anmutig aussah.

Vater und Tochter gingen Arm in Arm, im freundlichen Gespräch und
lenkten zur Verwunderung Stahls hinein in die Karpfengasse, und von da
nach dem Ghetto. Ihm war es gleichgültig, was sie dort wohl suchen
mochten, in den engen, düstern, schmutzigen Gäßchen, wo der Trödel
daheim ist, und wo gegenüberwohnende Nachbarn sich zu den Fenstern
heraus beinahe die Hände reichen können. Eine schwere, unbehagliche
Luft brütet fast immer, besonders aber während des Sommers, in diesen
Regionen, zwischen diesen engbrüstigen Häusern, die von bösen,
gehässigen Zeiten zu erzählen wissen, in denen die Christen nicht immer
die würdigere Rolle gespielt haben.

Die beiden mit ihrem lebenden Schatten hinterdrein kamen aufatmend
heraus bei dem jüdischen Rathause, dessen Uhr statt der Ziffern
hebräische Buchstaben weist, und deren Zeiger von rechts nach links
wandern, warfen einen Blick nach der altersgrauen Altneuschulsynagoge
hinüber, die schon im Jahre 590 n. Chr. erbaut worden sein soll, und
an deren dunkle, wohl nie übertünchte Wände mehr als einmal das Blut
gemordeter Juden spritzte. Professor Holbert beabsichtigte heute, da er
für eine historische Arbeit dessen bedurfte, im Archive des Rathauses
nach einem alten Dokumente zu forschen und veranlaßte seine Tochter,
ihn auf dem naheliegenden Beth Chajim zu erwarten, und so gingen sie
nach freundlichem Händedruck auseinander.

Das Herz Stahls schlug rascher, als er dies bemerkte, und sobald der
Professor sich abgewendet, folgte er mit beschleunigtem Schritte
dem Mädchen, das er auch am Eingange des alten Friedhofes ereilte
und begrüßte. Sie dankte einigermaßen überrascht, aber ohne jede
Verlegenheit und nahm auch die ihr angebotene Begleitung des jungen
Theologen, der auch heute kein geistliches Abzeichen trug, an. Den
aufdringlichen Fremdenführer, welcher seine Dienste anbot, wies Stahl
zurück mit dem Bemerken, daß er genugsam hier bekannt sei, um sich
selbst als Führer empfehlen zu können, und langsam trat das junge Paar
in einen der seltsamsten Friedhöfe ein, die es wohl überhaupt geben
mag.

_Beth Chajim_, Haus der Lebenden! Es ist eine schöne, symbolisch tiefe
Bezeichnung -- aber der Besucher fühlt, daß er in einer Stadt der
Toten ist, und noch dazu in einer uralten, mit recht unregelmäßigen
Gassen und Gäßchen, mit tausenden stiller Wohnungen, die bedeckt sind
von ebenso vielen alten, grauen, verwitterten Steinen mit hebräischen
Inschriften und alttestamentlichen Symbolen. Sie hocken neben und über
einander, sehen sich über die Schultern weg, wie um sich an einander
zu stützen, oder auch, als ob sie wunderliche alte Geschichten sich
zuraunten. Hier liegen Geschlechter über einander geschichtet, und der
Fuß berührt keinen Flecken, unter dem nicht Tote ruhen. Vom Denkmal
der Sarah Katz berichten die geschwätzigen Führer, daß es aus dem
Jahre 606 der christlichen Zeitrechnung stamme, und bei dem Grabe
des Rabbi Löw bleiben sie stehen und rühmen die Gelehrsamkeit und
Weisheit des Mannes, dessen verwitterter Leichenstein mit Eisenklammern
zusammengehalten wird und bedeckt ist von größeren und kleineren
Steinen und Scherben, wie fromme Pietät sie hier niedergelegt hat.
Unter den Symbolen findet sich häufig ein Krug, das Sinnbild des
Stammes Levi, während zwei wie zum Segen emporgehaltene Hände auf
Aarons erlauchtes Geschlecht deuten. Es ist etwas eigenes um die Kinder
dieses Stammes; sie kommen nach dem Totenacker nur, wenn sie gestorben
sind; ein Betreten bei Lebzeiten macht sie unrein. An besonderer
Stelle, dem Ephel, der eine ansehnliche Erhöhung bildet, liegen
Tausende von Kinderleichen, und Jahrhunderte haben diesen Hügel getürmt.

Was aber den seltsamen Reiz dieses Friedhofs besonders erhöht, das
sind die uralten Hollunderbüsche, die dicht an einander gedrängt,
ihre Kronen in einander verwachsen und die verwitterten Leichenmale
überdecken und umhüllen; durch ihr Gewirr führen schmale Steige
über das Gras hin, Gäßchen, enger als jene im Ghetto, und ungleich
anmutiger.

Und es war im Mai. Der Flieder blühte; seine blauen Dolden hingen dicht
gedrängt zwischen dem grünen Blattwerk, weit herab auf die grauen
Steine, und ein wundersamer, süßer Duft wob durch den Beth Chajim,
berauschend und berückend. Durch Blüten und Duft gingen zwischen
den Gräberreihen die beiden jungen Menschen hin, und es mochte ein
liebliches Bild sein, als sie nach kurzer Wanderung sich auf einer
Steinbank niederließen, im Schatten des blauen Flieders: Hans Stahl
im dunklen Anzug, das Mädchen heller gekleidet; beide Gesichter voll
Jugendfrische und Lebensdrang -- ein seltsamer Kontrast zu dem Orte, wo
sie waren!

Das ungefähr dachte auch der Vetter Martin, der ganz unfern von ihnen,
ungesehen hinter einem Strauche stand, und sich an dem hübschen
Stimmungsbilde so freute, daß er die Augen nicht davon wenden konnte.
Warum hätte er auch gehen sollen? Er hätte vielleicht das Pärchen
aufgescheucht, und Geheimnisse schienen hier nicht verhandelt zu
werden, außer solche des Herzens, und die haben zu allen Zeiten
denselben Ausdruck gefunden. Das wußte der Alte, er hatte auch einmal
von Liebe gestammelt -- es war lange her -- aber ein anderer war ihm
zuvorgekommen, ehe er die Liebste heimführen konnte, und seitdem war er
ein einsamer Wanderer geblieben.

Daran dachte er jetzt nicht; er gönnte auch dem hübschen jungen Paar
das trauliche Selbander, und wäre eigentlich erstaunt gewesen, wenn der
junge Mann nicht gesagt hätte:

»Ist das nicht herrlich hier? -- So losgelöst von der ganzen Welt zu
Zweien zu sitzen unter blühendem Fliedergesträuch und auf Minuten alles
vergessen zu können außer dem, was man zur Seite hat -- das ist ein
Augenblick, wie ich ihn längst geträumt!«

Der Alte sah zwischen dem Blattgewirr eine feine Röte in das Antlitz
des Mädchens steigen und deutete sie in seiner Weise, aber er war
wunderlich enttäuscht, als er dasselbe sagen hörte:

»Ja, es ist eigenartig schön hier; ich bin vor Jahren einmal hier
gewesen, damals blühte aber der Flieder nicht, und das giebt dem
fremdseltsamen Bilde einen besonderen Reiz.«

»Den schönsten Reiz aber erhält es durch Ihre Anwesenheit; Sie
verschönen mit Ihrer Anmut ja alles, was um Sie her ist ... o Fräulein
Therese, lassen Sie mich die wenigen Augenblicke nützen, die ein
freundliches Geschick mir gegönnt hat, Ihnen zu sagen, daß ich Sie
unaussprechlich lieb habe ...«

[Illustration: Fräulein Therese, lassen Sie mich die wenigen
Augenblicke nützen, die ein freundliches Geschick mir gegönnt hat,
Ihnen zu sagen, daß ich Sie unaussprechlich liebe (S. 158).]

Das Mädchen war wie erschrocken beiseite gerückt und sagte halb
verlegen, halb im Tone der Entrüstung:

»Aber Herr Stahl, wie können Sie als Theologe ...«

»O, Sie brauchen nur ein Wort zu sprechen, und ich bin es nicht
mehr. Ich tauge ja doch nicht für den Beruf, den man mir eigentlich
aufgezwungen hat, und wenn ich wüßte, daß Sie mich ein wenig lieb haben
könnten, Fräulein Therese ...«

»Sie versetzen mich in eine peinliche Lage, und ich bedauere
eigentlich, daß Sie diese Situation, in welche ich Ihnen vertrauensvoll
gefolgt bin, in solcher Weise ausnützen --«

Das klang so ernst, so abwehrend und bestimmt, daß der alte Lauscher
hinter dem Hollundergebüsch ein sehr verdutztes Gesicht gesehen
hätte, wenn er jetzt in einen Spiegel hätte schauen können; aber nun
verdroß ihn auch die Rolle, die er hier spielte. Ein wenig Glück
und Liebessonnenschein in zwei jungen Herzen hätte ihn gefreut, der
Mißklang verstimmte ihn, und so schlich er sachte weiter, ohne zu
hören, was Therese sonst noch dem feurigen Theologen sagte. Ihm war
-- er wußte selbst nicht warum -- das Behagen, das er an dem Orte
empfunden, vergällt, und er fühlte etwas wie Erbitterung, wobei ihm
nicht ganz klar war, ob sich dieselbe mehr gegen den jungen Mann
richtete, der eigentlich als Theologe gar nicht von solchen Dingen
zu reden hatte, oder gegen das Mädchen, das den armen Teufel, der es
vielleicht ganz gut meinte, so kurz abfahren ließ.

Er ging langsam an den grauen Steinen hin, bis ein anderes Bild ihn von
seinen Gedanken einigermaßen ablenkte. Zwischen den Hollunderbüschen
war eine grüne Lichtung, und hier kauerten einige schmutzige,
bleiche Kinder, die mit großen, dunklen Augen nach dem fremden Manne
hinstarrten, ohne sich weiter in ihrem Spiele stören zu lassen. Der
Sonnenschein fiel auf die Gruppe, über die die blauen Fliederdolden
herhingen, die Kleinen redeten mit fremdem Accent, und der Alte glaubte
sich weit weg versetzt nach fernem Südland. Langsam ging er weiter, und
unfern von sich sah er nun den jungen Theologen hineilen mit geröteten
Wangen und brennenden Augen, dem Ausgange zu.

Gegen Abend war Vetter Martin wieder nach der Altstadt zurückgegangen
und suchte den Gasthof auf, wo er Herberge genommen hatte. Es war
»zum alten Ungelt« hinter der Teynkirche, deren interessante,
architektonisch hervortretenden Türme ein besonders malerisches Gepräge
dem Altstädtischen Ring verleihen. Als er eintrat in die Gaststube,
fand er sie heute zum Johannistage besonders gefüllt, und er suchte
nach einem Platze. Nahe bei einem Fenster war ein kleiner Tisch, und
dort saß nur ein einziger Gast, in welchem Martin den jungen Theologen
vom Beth Chajim wieder erkannte. Das Interesse, welches er an demselben
nahm, ließ ihn rasch einen freien Sitz neben ihm in Beschlag nehmen.
Hans Stahl dankte nur flüchtig dem Gruße des Fremden, der dann
behaglich sein Pfeifchen hervorzog, es stopfte und anbrannte und nun
vergnüglich seine Wölkchen in die bereits brav durchräucherte Luft
paffte.

»Prächtiges Festtagswetter heute, wie?« fragte er.

»Jawohl!« stieß der andere hervor, und that einen tiefen Zug aus seinem
Glase.

»Besonders angenehm auf dem alten Judenfriedhof zu genießen,« fuhr
Vetter Martin gleichmütig fort, Hans Stahl aber schielte ihn von der
Seite mit einem seltsam fragenden Blicke an und wurde dabei rot; er
knurrte ein verlegenes: »Möglich!«

»Sie sind doch dort gewesen, wenn ich nicht ganz irre!«

»Jawohl, aber das kann Sie doch nichts kümmern!«

»Gott bewahre, junger Herr, aber darum brauchen Sie weder hitzig noch
unhöflich zu werden; ich kann doch nicht dafür, daß Sie bei der jungen
Dame kein Glück gehabt haben.«

»Teufel, Herr -- das verbitte ich mir!« brauste der Theologe auf --
»schämen Sie sich übrigens, wenn Sie gelauscht haben.«

»Habe ich -- sehr unfreiwillig, aber mit großer Teilnahme für Sie, so
daß Sie gar nicht in so undankbarer Weise mich anzufahren brauchen.«

»Ich brauche Ihre Teilnahme nicht!«

»Das glaube ich, daß das Ihre Meinung ist, und betreffs Ihrer
Liebesgeschichte mögen Sie recht haben; so etwas muß jeder mit sich
selber ausmachen, und Sie machen mir den Eindruck, als ob Sie die
Willenskraft dazu hätten. Aber etwas anderes hat mich interessiert
-- warum haben Sie auch nicht einen Platz für Ihre Eröffnungen sich
ausgesucht, der weniger dem Publikum zugänglich ist? Sehen Sie, ich bin
auch einmal Theologe gewesen, aber ich habe bei Zeiten eingesehen, daß
ich dazu nicht tauge, habe umgesattelt und fühle mich wohl dabei, und
darum habe ich für jeden Teilnahme, Rat, und wenn's geht, Hilfe, von
dem ich höre, daß er ins falsche Fahrwasser gekommen ist. Daß Sie zu
allem andern besser passen, als zum Gottesgelehrten, leuchtet mir ein.«

Hans Stahl sah den Alten beinahe verdutzt an, und seltsam umgewandelt
frug er:

»Mit wem habe ich die Ehre?«

»Sehen Sie, da schlagen Sie schon einen andern Ton an, und mir ist, als
sollten wir noch gute Freunde werden. Im übrigen heiße ich schlechtweg
Martin -- der ~Dr.~ der Theologie Peter Frohwalt pflegt mich auch
Vetter Martin zu nennen -- und bin meines Zeichens Privatgelehrter und
Weltbummler aus Vergnügen, und nun sagen Sie mir einmal ehrlich, wie
Sie mit Ihrem heißen Herzen und Ihren schönheitsbegeisterten Augen
unter die Kirchenväter geraten sind. Apropos, Sie haben ja nicht einmal
ein geistliches Abzeichen?«

Hans Stahl hatte merkwürdiges Vertrauen fast mit einmal gewonnen zu dem
wunderlichen alten Herrn mit dem verwitterten, gutmütigen Gesichte,
und er brauchte gerade an diesem Tage jemanden, dem er dies Vertrauen
schenken konnte. So that er denn allmählich sein junges Herz weit auf
und erzählte von den Verhältnissen, welche ihn auf die theologische
Laufbahn gebracht hatten, sowie zuletzt auch von der heißen Neigung,
welche ihn zur Tochter Professor Holberts erfaßt hatte. Die
Mitteilsamkeit schien ihm wohl zu thun, und auch der Alte hörte ihm,
ruhig sein Pfeifchen rauchend, zu, nickte einigemale verständnisinnig
mit dem grauen Haupte und sagte, als er schwieg:

»Da sind Sie wohl ein Sohn von dem Leinenfabrikanten Bruno Stahl in **
in der Lausitz, der früher in Görlitz lebte, und Ihre Mutter war eine
geborene Wildung aus Lauban?«

Der junge Theologe starrte einige Sekunden mit weit offenen Augen und
geöffneten Lippen den Alten an, ehe er dessen Fragen bejahte.

»I, sehen Sie doch, was man für wunderliche Geschichten erlebt!
Das ist ja, als ob mich der liebe Herrgott gerade Ihretwegen jetzt
nach Prag und ins »Alte Ungelt« geschickt hätte und nach dem alten
Judenfriedhofe. Und Ihre Geschichte ist mir interessanter als die des
Rabbi Löw und der alten Sarah Katz zusammengenommen. Wissen Sie, Ihren
Vater kenne ich, und Ihre gute Mutter habe ich gekannt mitsamt deren
Familie. Wir sind einmal im Riesengebirge mit einander gereist, haben
herrliche Tage verlebt, und Ihr Vater und ich, wir haben uns verwachsen
wie zwei gute alte Freunde, und ich bin später auch in Görlitz gewesen.
Damals hatten Sie die ersten Höschen an, und darum nehmen Sie mir's
nicht übel, wenn ich Sie heute nicht wiedererkannt habe. Mit Ihrem
Vater habe ich auch Briefe gewechselt, bis er nach ** übersiedelte,
aber ich bin ein schlechter Briefschreiber, und so ist die Sache ins
Stocken geraten. Aber nun will ich einmal das Versäumte nachholen,
und Sie sollen sehen, daß ich Sie aus dem theologischen Fangeisen
heraushole.«

»Auch das würde ich Ihnen ewig danken, lieber Herr --«

»Na, sagen Sie ruhig: Vetter Martin! Das bin ich gewöhnt, und ich habe
meine Neffen beinahe in allen Kulturstaaten sitzen, da kommt's auf
einen mehr bei meiner Erbschaft nicht an. Aber ohne Scherz: Sie sind
mir um Ihres Vaters willen wie ein lieber Verwandter, und ich helfe
Ihnen. Top! Und wenn wir Sie erst heraushaben aus dem Seminar, dann
besuchen Sie die Kunstakademie, vorausgesetzt, daß Sie Talent haben
-- ich will mir morgen einmal die Dilettantenleistungen Ihres Pinsels
ansehen -- und wenn Sie was Rechtes sind, dann gehen Sie wieder zu
Therese Holbert -- --«

»Nein, Vetter Martin,« seufzte Stahl mit kläglicher Miene -- »sie hat
mich in einer Weise abfahren lassen, daß ich fürchten muß, es sitzt
wirklich schon ein anderer im Herzen --«

»Dann lassen Sie ihn sitzen, mein Junge! Theresen giebt's noch mehr!«

»Aber nur _eine_ Therese Holbert.«

»Darüber reden wir erst in den nächsten Kapiteln. Fürs erste -- haben
Sie denn heute Urlaub, so lange auszubleiben?«

»Nein, ich habe mich eben in meinem Unmut hier festgesetzt, bereit, es
auch auf eine Ausschließung aus dem Seminar ankommen zu lassen, nur um
frei zu werden.«

»Nur ruhig' Blut, junger Freund! So geht das nicht; Sie müssen mit
Ehren abgehen. Ich begleite Sie jetzt nach Hause, erzähle Ihrem Rektor,
daß Sie einen guten Bekannten Ihres Vaters getroffen, und bitte für
Ihre Versäumnis nachträglich um seine Entschuldigung. Und dann findet
sich das Weitere!« -- --

So kam Vetter Martin an diesem Tage noch einmal nach der Kleinseite
herüber, und nachdem er im Wendischen Seminar glücklich seine Absicht
erreicht hatte, schritt er langsam und trotz des Menschengewühls auf
der Brücke doch mit einer stillen Befriedigung in der Seele wieder nach
dem »Alten Ungelt« zurück.

Am nächsten Morgen holte ihn Frohwalt beizeiten ab, und nachdem
sie zuerst im Kinskyschen Garten auf dem Smichow, der im ersten
Frühlingsschmucke ungemein freundlich war, einige Zeit zugebracht
hatten, gingen sie wieder nach der Kleinseite, um den alten Pfarrer
zu besuchen. Zuvor aber gedachte Martin, sich über die künstlerische
Befähigung Hans Stahls zu unterrichten, und während er Frohwalt nach
der Spornergasse vorausschickte, ging er nach dem Wendischen Seminar.

Der junge Theologe erwartete ihn mit einer gewissen Aufregung; er hatte
seine Zeichnungen und Malereien zusammen gesucht und legte sie nun
dem Alten vor, der, behaglich in seinem Stuhl lehnend, sie aufmerksam
betrachtete. Er besaß auch dafür einen geschulten Kennerblick, und Hans
Stahl atmete auf, als er sagte:

»Es steckt etwas drin, und in guter Schule kann aus Ihnen etwas werden.
Zum Domherrn sind Sie verdorben, Hans, aber es ist zur Seligkeit nicht
gerade notwendig, daß Sie die violette Halsbinde kriegen. Also es
bleibt dabei: Ich lege mich bei Ihrem Vater ins Mittel, wenn's notthut,
persönlich, und es wäre das erste Mal, daß ich mein Pulver umsonst
verschossen hätte, wenn er nicht zur richtigen Erkenntnis der Sachlage
gebracht werden könnte. Bis dahin treiben Sie noch ein Weilchen Ihre
Dogmatik und Moral, denn seine Pflichten muß man unter allen Umständen
thun. Jetzt Gott befohlen -- ich habe noch einen Patienten zu besuchen.«

Er ging, und bald darauf trat er bei dem alten Pfarrer ein. Der fühlte
sich heute seltsam wohler, und Vetter Martin ließ sich's nicht nehmen,
ihn sowohl als Frohwalt für diesen Tag als seine Gäste zu betrachten.
Sie aßen zusammen Mittag in einer freundlichen Restauration der
Kleinseite und nachmittags mietete der Alte, weil dem Pfarrer das
Gehen doch ein wenig sauer wurde, einen Wagen, und sie fuhren hinaus
nach dem Baumgarten, dem Lieblingsvergnügungsorte der Prager. Die
herrlichen Bäume waren freilich noch wenig belaubt, aber der Rasen
und das Strauchwerk grünte, und der Lenz hatte seine duftenden Blüten
ausgestreut über den schönen Flecken Erde, über dem ein herrlicher
blauer Himmel sich ausspannte. Der große Restaurationsgarten war sehr
besucht, die milde, warme Luft ermöglichte den Aufenthalt im Freien,
eine Militärkapelle spielte fröhliche Weisen, und als der greise Kaiser
Ferdinand der Gütige, zusammengebeugt, aber fortwährend grüßend und
nickend in seinem mit zwei Braunen bespannten Wagen vorüberfuhr, als
bei den Klängen der schönen Haydnschen Volkshymne sich alles von den
Sitzen erhob, da wurde dem alten Pfarrer die Seele weit und froh, und
er warf auf einige Stunden alles von sich, was ihn drückte und quälte.

Vetter Martin sah seine feuchtflimmernden Augen aufleuchten mit einem
fremden Glanze des Glücks und fühlte sich selber ergriffen. Er lud
den alten Herrn für den Herbst in seine Heimat ein, denn für's erste
gedachte er noch einige Zeit auf Geratewohl ins Bayernland und durch
das Fichtelgebirge, den Rhön- und Thüringerwald zu streifen -- und
jener sagte freudig zu.

Es war ein Nachmittag, mit welchem alle drei, als sie abends
heimkehrten, zufrieden waren, und als Vetter Martin mit der nächsten
Morgenfrühe aufbrach, und mit dem Ränzel auf dem Rücken und dem derben
Stocke in der Hand durch die kühlen, stillen Gassen schritt, hatte er
das Bewußtsein, hier zwei Menschen glücklich gemacht zu haben, den
Theologen Hans Stahl und den ehemaligen Pfarrer von Nedamitz.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Neuntes Kapitel.


Ueber der Altstadt Prags hingen dunkle Wetterwolken. Langsam und schwer
waren sie über die Moldau herübergekommen, und schienen sich jetzt
dicht niederzusenken über das Kloster der Kreuzherren und das alte
Klementinum. Eine drückende Schwüle brütete in den Gassen, die Leute
hasteten heimwärts, und auch der Schutzmann, welcher bei dem Denkmal
Karls IV. stand, sah sich nach einem Obdach um, sobald das Wetter
losbrechen würde. Dabei war es etwa um die zehnte Stunde vormittags.

Durch das Thor des Klementinums ging langsam mit gesenktem Kopfe ein
noch junger Mann, einfach aber gut gekleidet; es war der Uhrmacher
Freidank. Er bog hinter dem Thore nach links ab, wo der Eingang zum
Priesterseminar war, aber ehe er die Glocke zog, schien er noch einmal
mit sich zu kämpfen. Er atmete einigemale tief, hob die Hand, ließ sie
sinken und hob sie aufs neue, und als jetzt die Glocke ertönte, schrak
er zusammen.

Er trat nun in den Korridor, dessen Kühle wohlthuend berührte bei
der Gewitterhitze in den Gassen und fragte einigermaßen zaghaft den
Pförtner, ob er den Herrn ~Dr.~ Frohwalt treffen könne. Dieser
bejahte und wies ihm den Weg, und Freidank ging langsam, noch immer
mit beengter Brust, weiter, die Treppen hinan, bis vor die bezeichnete
Thür. Er pochte, und auf das »Ave!« von innen trat er ein. In demselben
Augenblicke flammte der erste Blitz des losbrechenden Gewitters nieder
und beleuchtete sein ohnehin bleiches Gesicht mit bläulichem Glanze, so
daß Peter Frohwalt zwiefach erschrak wie vor einer Geistererscheinung
und beinahe entsetzt von seinem Sitz aufsprang. Im Geroll des Donners
verklang der Gruß des Eintretenden, dem es selbst unheimlich erschien,
daß er hier bei Blitz und Donner ankam, und den das erschreckte und
dabei doch finstere Gesicht seines geistlichen Schwagers noch mehr
verschüchterte.

Frohwalt bot ihm nicht die Hand, auch nicht einen Sitz; er fragte,
nachdem das Rollen verklungen, kühl und beinahe strenge:

»Was wollen Sie von mir?«

Der andere aber drehte langsam den Hut in seinen Händen, und hob nun
sein treuherziges Auge auf; er sprach:

»Ich wäre nicht gekommen, Herr Doktor, wenn nicht Ihre Mutter und
Marie mir Mut dazu gemacht hätten, und wenn mir's nicht besonders
um die letztere zu thun wäre. Ich hatte einen Bruder, einen braven
Menschen, Herr Doktor. Er hatte das Tischlerhandwerk gelernt, und da
er eine wackere Braut hatte, hätte er gerne sich selbständig gemacht
und geheiratet. Er hatte das Zeug dazu, sich vorwärts zu bringen,
wenn er nur einmal über den Anfang hinaus war. Ich hätte ihm gerne
geholfen, aber mein kleines Kapital steckt in meinem Geschäfte, und
auf mein Häuschen kann ich nicht borgen, es ist noch verschuldet von
meinem seligen Vater her. Er fand aber einen vermögenden Mann, der
ihm achthundert Gulden vorstrecken wollte, wenn er jemanden hätte,
der für ihn Bürgschaft leiste, und die habe ich denn in Gottes Namen
übernommen. Mein Bruder heiratete nun, nachdem er Meister geworden,
und es ging recht hübsch vorwärts. Vor einigen Wochen aber hat er sich
hingelegt und ist gestorben. Jetzt verlangt der Gläubiger sein Geld.
Er ist zwar ein frommer Mann und geht jeden Tag in die Kirche, aber
der Jammer meiner Schwägerin und ihres Kindes haben ihn eben so wenig
gerührt, wie meine Bitte; er hält sich jetzt an mich und besteht auf
Zahlung, sonst will er mir mein Häuschen verkaufen lassen. Fünfhundert
Gulden, mein bischen Erspartes, will ich ihm geben, aber er will alles,
weil der Herr Kaplan ihn gegen mich hetzt -- Sie wissen ja, warum --
und die dreihundert Gulden kann ich nicht aufbringen. Und da -- wollte
ich -- bitten -- ob nicht Sie vielleicht -- mir, das heißt Ihrer
Schwester -- den fehlenden Betrag vorschießen könnten!«

Der schlichte Mann that einen tiefen Atemzug, und schaute dem jungen
Priester noch immer voll in das Gesicht. Dieser aber blickte finster
und ernst drein, als er erwiderte:

»Ich verstehe nicht, warum Sie zu _mir_ kommen? -- Was habe ich mit
Ihnen zu thun? Zwischen uns ist keine Gemeinschaft, das sollten Sie
wissen.«

»Ich komme auch nicht für mich, und ich würde es selbst ertragen, wenn
mir mein Häuschen verkauft würde, aber Marie --.«

»Sie hat freiwillig sich an Sie gebunden, sie muß Ihr Los teilen!«

In Freidanks Herzen regte sich Unmut und Bitterkeit. Aber, ob ihm auch
die Röte in die Wangen stieg ob der lieblosen Aeußerung, er bezwang
sich doch und sagte ruhig:

»Dazu ist sie auch bereit, aber ich meinte nur, wenn ihr Böses erspart
werden könnte -- gerade jetzt ... sie ist in gesegneten Umständen --
und jede Erregung, jede Sorge ...«

Frohwalt fühlte ein Unbehagen, eine Regung der Liebe rang in seiner
Seele mit dem Zorn und dem Glaubenseifer, und der letztere blieb
Sieger; er sprach:

»Ich habe Marie gebeten und beschworen, nicht Ihnen zu folgen und
ihren Glauben zu verleugnen; ich habe ihr erklärt, daß, wenn sie es
thue, keine Gemeinschaft mehr sei zwischen ihr und mir, und daß des
Himmels Gerichte sie ereilen würden. Nun kommt, was ich vorausgesehen.
Empfinden Sie nicht in all dem, was über Sie hereinbricht, die
strafende Hand des Herrn? Und ich sollte ihm in den Arm fallen wollen,
wenn er diejenigen züchtigen will, die ihn verlassen und verraten
haben?«

Der Uhrmacher hatte sich hoch aufgerichtet; das sonst so ruhige Auge
flammte, und die Wangen waren ihm heiß, als er mit bebenden Lippen
sprach:

»Verzeih' Ihnen Gott, was Sie hier reden! Das ist Herzenshärte und
Hochmut, hinter der sich Ihre Lieblosigkeit verschanzt. Ich hab' einmal
einen fremden Hund mit Lebensgefahr aus dem Wasser geholt -- bin ich
da etwa auch dem Herrn in den Arm gefallen? -- und Sie wollen Ihre
einzige Schwester und deren Kind in Not und Elend treiben. Ich beneide
Sie nicht um die Rolle, die Sie in diesem Augenblick spielen. Leben Sie
wohl, Marie und ich, wir werden tragen, was uns der Himmel schickt,
stark durch unsere Liebe, aber Ihnen wird ein Stachel bleiben von
dieser Stunde, den Sie durch tausend Vaterunser nicht wegbringen!«

Mit raschen Schritten, ehe Frohwalt noch erwidern konnte, war Freidank
hinausgegangen; er eilte durch die dunklen, dumpfigen Korridore, bis
die Pforte sich wieder hinter ihm geschlossen hatte. Der Regen rauschte
nieder, aber eine erquickende Kühle wehte den Mann an, der sie mit
tiefen, gierigen Zügen einsog, und dann, unbekümmert um die dicht
fallenden Tropfen durch die Gassen der böhmischen Hauptstadt gegen den
Bahnhof hin schritt.

Der Doktor der Theologie Peter Frohwalt aber stand eine Weile verdutzt
in der Mitte seines Zimmers; Aerger und noch ein anderes Gefühl, über
das er selbst im Unklaren war, erfüllte ihm die Seele und in tiefer
Verstimmung trat er an das Fenster. Grau und wie nebelverhüllt war
alles draußen, nur der Regen rann wie ein Schleier, und ab und zu
zuckte ein Leuchten über die Stirn des Himmels. Die Worte des einfachen
Mannes klangen im Herzen des jungen Priesters unaufhörlich nach, und
vergebens suchte sich dieser einzureden, daß er selber recht gesprochen
und gethan habe, immer wieder drängte sich etwas wie Reue zwischen
seine erkünstelten Erwägungen.

Nun ließ der Regen nach und ein heller Flecken des Himmels lugte
aus den zerrissenen grauen Wolken, Frohwalt aber mußte bei dem
blauen Schimmer an die Augen seiner Schwester denken, die feucht und
vorwurfsvoll sich nach ihm hinrichteten. Er ging mit großen Schritten
in seinem Zimmer auf und ab, unruhig, bald dies, bald jenes erfassend,
bis er von seinem Büchergestell wieder das kleine Buch nahm, das ihn
immer anzog und abstieß zugleich, das Laienbrevier; er blätterte darin
und seine Augen flogen über die Seiten, bis sie an einem Worte hängen
blieben:

    _Es muß der Mensch das Gute thun._ Das ist
    Sein Wesen, ist sein unterscheidend Merkmal
    Auf Erden hier. _Der gute Wille ist
    Des Menschen Göttlichkeit_, der freie nicht.
    Sein freier Wille liegt im Irrtum nur ...

Er warf das Buch beinahe ärgerlich zur Seite.

»Soll ich mir von Protestanten und Abtrünnigen gute Lehren geben
lassen?« murmelte er vor sich hin, aber in ihm klang doch das Wort
immer wieder nach: »Es muß der Mensch das Gute thun,« und so beschloß
er, gleichsam um mit seinem Gewissen sich abzufinden, nachmittags
den alten Pfarrer aufzusuchen, um ihm einige verfügbare Meßgelder zu
überbringen und auch mit freundlichem Worte ihm etwas Gutes zu thun.

Mit diesem guten Vorsatz ging er denn auch um die dritte
Nachmittagsstunde hinüber nach der Kleinseite. Bei dem Brückenturm der
letzteren begegnete ihm Hans Stahl, und Frohwalt hielt einen Augenblick
erstaunt auf seinem Wege an, als ihn der junge Mann grüßte. Derselbe
trug einen leichten Sommeranzug, einen Strohhut mit hellem Band, und um
den Hals hatte er eine bunte, flatternde Seidenschleife gebunden. In
seinem Blicke lag beinahe etwas Triumphierendes, ganz gewiß aber etwas
sonderbar Freudiges. Daß er nicht mehr Theologe war, war zweifellos,
und dem Adjunkten fiel ein, was Professor Holbert seinerzeit über Stahl
geäußert hatte.

Der Tag war nach dem Gewitter wieder heiter geworden, aber die Schwüle,
die neuerdings in den Gassen lag, ließ eine Wiederkehr desselben
befürchten. Frohwalt wischte sich mit dem Taschentuche den Schweiß von
der Stirn und ging langsam quer über den Kleinseitner Ring nach der
Spornergasse. Als er an die Thüre des Pfarrers kam, vernahm er die
Stimme desselben mit einer gewissen Erregung, und er überlegte, ob er
anpochen sollte.

In dem Augenblick hörte er den alten Herrn beinahe heiser vor Zorn
rufen: »Hinaus mit Dir, Du Lump!« und ein höhnisches Gelächter aus
einer rauhen Kehle war die Antwort, sowie einige in tschechischer
Sprache hervorgestoßene Worte. Der Adjunkt hatte die Empfindung, als ob
er dem Pfarrer zu Hilfe kommen müsse; er klopfte einmal kräftig an die
Thüre, und trat, ohne den Bescheid darauf abzuwarten, ein.

Der alte Priester stand am Tische, die Faust geballt auf die Platte
gestemmt, auf welcher auch hier der Zinnkrug nicht fehlte. Er hatte
die Weste aufgeknöpft, so daß das wenig reinliche Hemd hervorsah, der
Hals war entblößt, weil er, wohl der Wärme wegen, das Collare abgelegt
hatte, sein Gesicht aber war gerötet, und die feuchten, schwimmenden
Augen blitzten beinahe unheimlich. Nicht fern von ihm stand ein junger
Mensch von zwanzig und etlichen Jahren, heruntergekommen in seinem
Anzuge, und von gemeinen, unangenehmen Gesichtszügen. Er schielte
nach dem Eintretenden und dabei ging ein höhnisches, böses Zucken um
seine Mundwinkel, der alte Pfarrer aber schien zu erschrecken, als er
Frohwalt erkannte. Er dankte verlegen seinem Gruße und bat ihn, sich
niederzusetzen, dann wandte er sich noch einmal zu dem andern, -- und
sprach mit erzwungener Ruhe: »Wir sind fertig mit einander -- dort ist
die Thüre!«

[Illustration: »Wir sind fertig miteinander -- dort ist die Türe!«
sprach der alte Priester zu dem jungen verkommenen Menschen. (Seite
172).]

Der Angesprochene aber blieb stehen, und der böse Zug um den Mund und
in den Augen schien sich zu verschärfen. Er sagte jetzt in deutscher
Sprache:

»Nein, wir sind nicht fertig. Es ist wohl nicht so einfach, wenn man
einen Bastard in die Welt gesetzt hat, zu sagen: Du gehst mich nichts
an, wir sind fertig. Ich erwarte bis morgen mittag unter meiner Adresse
das Geld, oder ich gehe an das Konsistorium!«

»Geh zum Teufel oder wohin Du willst!« schrie jetzt der alte Herr und
erfaßte mit plötzlich erwachender Kraft den Burschen, schob ihn gegen
die Thüre, riß dieselbe auf und gab ihm einen Stoß, daß er hinausflog.
Während man ihn draußen ziemlich laut in tschechischer Sprache
schimpfen hörte, sank der alte Mann in die Ecke seines wurmstichigen
Sophas und fing laut und heftig an zu schluchzen. Frohwalt war tief
erschüttert; er zog seinen Stuhl dicht zu ihm heran, legte ihm die Hand
auf den Arm und sagte:

»Beruhigen Sie sich, Herr Pfarrer! -- -- Was bedeutet das um Gottes
willen?«

Der andere bemühte sich zu beherrschen; er nahm, wie um der Erregung
beizukommen, einen langen Schluck aus seinem Kruge, wischte mit dem
Handrücken sich die Thränen aus dem Gesichte und rief:

»Brauchen Sie noch eine Erklärung, nachdem Sie gehört haben, was der
Lump sprach?«

Während er, zu seinem Gast gewendet, redete, roch sein Atem unangenehm
wie nach Spirituosen, so daß sich Frohwalt halb abwendete; jener aber,
halb schreiend, halb weinend fuhr fort:

»Der Bursche ist mein Sohn, mein und Barbaras Kind -- was brauche ich's
Ihnen zu verhehlen! Die Frucht der Sünde, und womit ich gefehlt habe,
damit werde ich bestraft. Ich habe ihn ein Handwerk lernen lassen, aber
er hat nirgends gut gethan, und ein Meister nach dem andern hat ihn
fortgejagt. Er wird im Zuchthause sterben. Was habe ich nicht alles für
ihn gethan und geopfert, Geld und Ehre -- und alles umsonst!«

Er schlug die Hände vor das Gesicht und sank tiefer zusammen in seiner
Ecke. Frohwalt aber fühlte sich von Widerwillen und Mitleid zugleich
erfaßt. Er hatte den Eindruck, als hätte der alte Mann auch etwas zu
viel getrunken, und darum sprach er, vielleicht etwas herber im Tone,
als er selbst es beabsichtigt:

»Wie konnten Sie aber sich so weit vergessen mit jenem Weibe!«

Der Pfarrer sah mit dem Ausdrücke fragender Hilflosigkeit ihn an, dann
lachte er bitter auf:

»So mögen Sie wohl reden, Sie sind nicht in meiner Lage gewesen. Soll
ich Ihnen die Geschichte eines verfehlten Lebens erzählen? Sie ist
erstaunlich einfach. Ich bin armer Leute Kind, habe unter Entbehrungen
das Gymnasium besuchst und ging dann ins Seminar, weil ich sonst nicht
wußte, wohin und weil meine Eltern mich hineindrängten. Damals fing
mein Unglück an. Von der Stunde an, da ich ins Klementinum kam, hab'
ich gefühlt, daß ich nicht zum Priester tauge, aber ich habe redlich
mit mir gekämpft und gerungen und gemeint, es müsse zuletzt doch gehen
und ich müßte mit der Weltlust fertig werden können. Als ich ausgeweiht
war, kam ich in eine kleine Stadt. Da herrschte ein lebenslustiger
Geist, und mein Pfarrer war selbst ein froher Lebemann. Der nahm mich
mit an den Stammtisch, wo ich mich gewöhnte, mit ihm und andern in
die Nacht hinein zu trinken -- meine Zeche wurde gewöhnlich bezahlt
-- er führte mich in Familien ein, wo es fröhlich und ausgelassen
herging, und wo wir an Pfänderspielen mit Küssen und anderem uns
beteiligten ... und wenn ich dann in meine einsame Stube kam, wollte
es mir garnicht gefallen, und der Geist der Unzufriedenheit wurde
mächtiger als je zuvor. Ich hatte das Bedürfnis nach Liebe, nach
Familienleben und Familienglück, und wenn ich in dem Entsagenmüssen
mich recht trostlos und elend fühlte, ging ich ins Wirtshaus und trank
mich in ein Vergessen und in eine falsche Lust hinein. Wenn ich einen
einzigen Menschen gehabt hätte, der sich meiner angenommen, der mich
über meine Schwäche weggetragen hätte! Dann kam ich nach Nedamitz, erst
als Kaplan, zu einem kranken, unwirschen Pfarrer, mit dem überhaupt
nicht auszukommen war, und der sich selber unglücklich fühlte in seinem
Berufe, und dann war ich Administrator in einem Dorfe in der Egerer
Gegend. Das war meine beste Zeit, da habe ich Botanik getrieben mit dem
alten Lehrer und habe mich vom Wirtshause möglichst fern gehalten und
hatte die allerbesten Vorsätze, bis seine Nichte, die Barbara, zu ihm
kam auf einige Wochen. Da bin ich zuerst unruhig geworden, wenn ich
sie sah, dann hatte ich wieder das Gefühl, daß ich unglücklich sei in
meiner Vereinsamung und in meiner Ehelosigkeit, und ich mußte wieder
trinken, um mich zu betäuben. Aber ich wollte den Teufel austreiben
mit Beelzebub. Je mehr ich trank, desto begehrlicher wurden die Sinne
-- und damals kam ich als Pfarrer nach Nedamitz. Zu allem Unglück
starb mein Freund, der alte Lehrer, seine Nichte stand allein in der
Welt, und so nahm ich sie, unter dem Vorwand, sie sei eine Verwandte
von mir, trotzdem sie das kanonische Alter nicht hatte, zu mir als
Wirtschafterin. Nun war Feuer und Zunder beisammen, nun kam's, wie's
kommen mußte und das Unglück war fertig. Oft überfiel mich die Reue,
aber ich hatte nicht die Kraft, das Wesen, das eigentlich mein Weib
geworden, aus dem Hause zu jagen, und so suchte ich über die Seelenpein
immer wieder mit dem Trinken wegzukommen. So ist eins mit dem andern
geworden ... und heute muß ich schwer büßen.«

Peter Frohwalt saß da mit gerunzelten Brauen; er war gekommen, dem
Pfarrer etwas Gutes zu sagen und zu thun, aber er vermochte es nicht.
Er sah den Zinnkrug auf dem Tische, er roch den Atem des Mannes, der
sich eben erst durch die Begegnung mit seinem Sohne einigermaßen
ernüchtert zu haben schien, und der Zorn über den Schwächling, den
unwürdigen Priester, gewann in ihm die Oberhand. Er sprach:

»Sie können nicht verhehlen, daß Sie Ihren Schwächen zu sehr
nachgegeben haben; ohne Selbstzucht geht es nicht, und zu solcher
ist es auch jetzt nicht zu spät. Der erste Fehler war, daß Sie sich
eingedrängt haben in den Dienst des Herrn, ohne den Beruf dazu zu
haben -- --«

»In der Jugend hat man nicht die Stärke, um gegen schwere Verhältnisse
und äußeren Zwang sich aufzulehnen,« bemerkte der Pfarrer schüchtern.

»Dann gaben Ihnen die vier Jahre Ihres Aufenthalts im Seminar Anlaß zur
Selbstprüfung, und wenn Sie Ihre Schwäche nicht bezwingen konnten, zum
Austritt.«

»Aber Sie hörten ja, wie ich als Alumnus den besten Willen hatte und
mit mir fertig zu werden suchte.«

»Doch Sie erlagen den kleinsten Versuchungen. Mußten Sie denn mit Ihrem
ersten Pfarrer durch Dick und Dünn gehen? Konnten Sie, wenn Sie sich zu
schwach fühlten, nicht Ihre Versetzung nachsuchen?«

»Sollte ich den sonst gutmütigen Mann anklagen?«

»Im Dienste des Herrn giebt es solche Rücksichten nicht; er verlangt
eine volle Hingabe, einen strengen Dienst. Ich begreife, daß es Sie
bedrückt, wenn Sie auf Ihr Leben und Wirken zurückschauen, aber nehmen
Sie mir's nicht übel, wenn ich es aufrichtig und in brüderlicher
Teilnahme beklage, daß Sie die Mahnungen des Herrn auch jetzt noch
nicht verstehen. Warum werfen Sie nicht diesen abscheulichen Zinnkrug,
in welchem für Sie der böse Versucher sitzt, fort, warum fröhnen Sie
noch immer der Schwäche des Trunkes? Sie haben ein verlorenes Leben
hinter sich, aber Gebet und Enthaltsamkeit könnten Ihnen immer noch
einen gewissen Seelenfrieden erwecken; soll denn auch der Abend Ihrer
Tage ein verlorener sein?«

Der junge Priester hatte die Absicht, warm und herzlich zu sprechen,
aber er sprach hart Und streng. Der alte Pfarrer saß da, die
weitgeöffneten Augen ihm zugewendet, aus seinem Antlitz war die Röte
gewichen, und mit bläulichen Lippen stammelte er:

»Sie haben recht -- Sie haben recht -- ein verlorenes Leben!«

Frohwalt erschrak vor seinem Anblick und vor diesem Worte, und er sagte
wesentlich milder:

»Noch ist es nicht ganz zu spät! Raffen Sie sich auf, Sie haben ja
mehr Gnadenmittel als viele andere. Sie sind selbst berufen, zu binden
und zu lösen, an Gottes Statt den Sündern ihre Schuld zu vergeben
und können täglich zum Tisch des Herrn treten und den lebendigen,
persönlichen Gott in Ihren priesterlichen Händen halten; sollte ein
solches Bewußtsein Ihnen nicht die Schlacken abthun helfen, die an
Ihnen haften? Zum Gutwerden ist es für keinen zu spät. Weisen Sie dem
Burschen, der Sie aussaugt, die Thüre; wenn Sie ihm Erziehung und Lehre
haben angedeihen lassen, wie ein Vater seinem Sohne, so haben Sie alles
gethan, was er verlangen darf; was er Ihnen an Schimpf und Schande
anthut, das nehmen Sie hin als eine Buße. Und dann werfen Sie dies
dickbäuchige zinnerne Ungeheuer fort, das ich schon in Nedamitz hassen
gelernt habe!«

Der alte Mann saß jetzt ganz zusammengesunken auf seinem Sitze, nickte
gleich einer Holzpuppe mit dem Kopfe und wiederholte auch jetzt nur
tonlos:

»Ein verlorenes Leben -- ein verlorenes Leben!«

Frohwalt schied endlich von ihm in tiefer Verstimmung, und da er über
die Brücke zurückging, hingen die Wetterwolken bereits schwer wieder
herein über die Kleinseite, und der Wind wirbelte den Staub hinter ihm
drein. Er wäre aber noch erregter gewesen, wenn er den Mann hätte sehen
können, den er soeben verlassen hatte.

Der alte Priester hatte sich erhoben; mit schlotternden Knieen wankte
er durch die Stube, rang die Hände und sagte nur immer wieder: »Ein
verlorenes Leben!« Mit einmal blieb er vor dem Tische stehen, erfaßte
den Krug, welcher dort stand, mit beiden Händen, umklammerte ihn
fest und schleuderte ihn mit wütender Geberde zu Boden; dann trat er
mit den Füßen darauf herum, daß das Zinn sich verbog zu einer schier
unförmlichen Masse, die von dem Reste des Bieres benetzt war. Nun eilte
er gegen das Fenster, sah hinaus nach dem Stückchen bleigrauen Himmels,
welches er erblicken konnte, und preßte den Kopf gegen die Scheibe,
bis ein grell aufzuckender Blitz ihn zurückschreckte. Und während das
Wetter niederging, und der Donner immer aufs neue gewaltig rollte,
rannte er unstät in dem kleinen, schwülen Raume hin und her.

Das trieb er bis an den Abend, dann suchte er Papier und Schreibzeug,
setzte sich an den Tisch und begann zu schreiben. Es waren zwei Briefe,
die er noch einmal durchlas, ehe er sie in Umschläge packte und
versiegelte. Dann setzte er mit heftig zitternder Hand die Adressen
darauf, eine an seinen Sohn, die andere an den Doktor der Theologie
Peter Frohwalt.

Als auch das geschehen war, lief ein Beben wie ein Schauer durch seinen
ganzen Leib, er hatte das Gefühl heftigen Frostes, und seine Zähne
schlugen gegen einander. Er begann wieder auf und ab zu rennen, bis die
Dämmerung sich durch den kleinen Raum auszubreiten anfing. Vor seinem
Spiegel blieb er einen Augenblick stehen; es war ein bescheidenes,
trübes Glas, wie er es benutzte beim Rasieren und stand auf zwei
halbmorschen Holzfüßen über einem Kästchen, in welchem er Streichriemen
und Rasiermesser hatte. Aus dem Spiegel sah ihm ein fahles, verzerrtes
Gesicht entgegen, wie das eines Wahnsinnigen, Verzweifelnden.

»Ein verlorenes Leben!«

Er lachte gellend einmal auf, erschrak vor dem Laute und wankte von dem
Bilde fort, das sich ihm geboten. Bei einem Stuhle am Fenster kniete er
nieder, schlug die eiskalten Hände gegen das heiße Gesicht und wollte
beten, aber er konnte nicht, der Engel des Herrn hatte ihn verlassen ...

Als am andern Morgen ihm die Wirtin den Kaffee bringen wollte zur
gewohnten Zeit, und bei ihm eintrat, schrie sie laut auf und ließ
das Geschirr klirrend zur Erde fallen. In einer Blutlache neben dem
zerbrochenen Bierkruge lag der alte Mann mit dem blassen, fahlen
Gesichte, entsetzlich anzuschauen, und ein beschmutztes Rasiermesser
neben ihm; auf dem Tische aber fand man die beiden Briefe -- er hatte
sich die Kehle durchgeschnitten.

Als Frohwalt mit dem an ihn gerichteten Schreiben zugleich die
furchtbare Kunde erhielt, wich alles Blut aus seinem Antlitz, ein
Schwindel erfaßte ihn und er fürchtete ohnmächtig zu werden. Mit
zitternden Fingern riß er dann den Umschlag des Briefes ab und las mit
beengter Brust:


        Hochwürdiger Herr Doktor!

    Sie haben Recht -- es ist ein verlorenes Leben, und was
    verloren ist, ist vorbei, da hilft keine Flickarbeit mehr. Ich
    bin körperlich so elend, daß ich keine Widerstandskraft mehr
    habe gegen meine Schwächen und kein anderes Mittel mehr weiß,
    um nicht zu sündigen, als zu sterben. Den Zinnkrug habe ich
    vorher vernichtet. Verwerfen Sie mich nicht ganz und beten Sie
    ein Vaterunser für mich. Ich befehle mich der Gnade Gottes,
    auch wenn mein Leben ein verlorenes war -- er ist ja der
    Allgütige.

            ~P.~ _Schaffran_.

Der Brief entsank den Händen des Adjunkten; er selbst aber lehnte wie
gebrochen in seinem Sitze. Sein innerstes Wesen war gut, und weil er
nicht ein zorniger Eiferer von Herzen war, sondern nur seinem Berufe
eine gewisse Strenge schuldig zu sein glaubte, so brach ihn dies
Ereignis zusammen. Er dachte mit Entsetzen daran, daß es sein Wort vom
»verlorenen Leben« war, das den Unseligen zu der fürchterlichen That
getrieben hatte, und ihn faßte ein Grauen vor sich selbst. Wer hatte
ihn denn zum harten Richter bestellt über den alten, schwachen Mann,
dem Liebe und Güte not that, nicht aber strenges, kaltes Eifern? -- Auf
seiner Seele lag es wie ein Mord, den er begangen hatte, und er suchte
vergebens Ruhe im Gebete, Zerstreuung in der Arbeit. Er fand weder
Sammlung noch Frieden.

Am Nachmittage ging er bleich und verstört nach der Neustadt hinüber;
er mußte seine Seele erleichtern vor einem gewissenhaften und strengen
Beichtiger, er mußte aus einem Munde, der ihm wert war, erfahren, ob er
sich schuldig fühlen müsse, und wie er in diesem Falle zu büßen habe.
Auf dem weiten, freundlichen Karlsplatze befindet sich das Kollegium
der Väter der Gesellschaft Jesu bei der Kirche des hl. Ignazius von
Loyola. Dort zog er die Glocke und fragte nach einem der Priester. Er
traf ihn daheim und bat, ihm sein Herz ausschütten zu dürfen.

Der Jesuit, ein mittelgroßer, hagerer Mann, mit schlichtem grauen
Haar, und grauen Augen, die scharf und klar dem Adjunkten in die Seele
hinabzuschauen schienen, empfing ihn in seinem einfachen Gemache mit
ruhiger Freundlichkeit, und Frohwalt beichtete von dem alten Pfarrer,
und was er seit gestern mit demselben erlebt. Als er geendet, sagte der
Jünger Loyolas mit ruhiger Stimme:

»Sie haben sich keine Anklage zu machen, mein Bruder. Sie haben Gutes
gewollt, und das sieht der Herr allein an; jener Unselige aber war aus
der Gnade gefallen, und das Gericht des Herrn ist über ihn gekommen;
der Allerhöchste hat Sie nur zu seinem Werkzeuge gewählt.«

So sprach er noch eine Weile, wies auf Stellen aus den Kirchenvätern
hin, und that dies alles so kühl und bestimmt, so überlegen und
überzeugend, daß Frohwalt fühlte, wie er ruhiger ward.

Aber die Wirkung war nicht nachhaltig. Es war eine seltsame Fügung,
daß er, daheim angekommen, ein lateinisches Buch aufschlug und gerade
dort eine Stelle fand, wo der Jesuitenpater Laymann sagt: »Ein Doktor,
welcher befragt wird, kann einen Rat geben, nicht allein, der seiner
Meinung nach wahrscheinlich, sondern der auch seiner Meinung entgegen
ist, wenn er von andern für wahrscheinlich gehalten wird und wenn diese
Meinung, welche der seinigen entgegen ist, demjenigen, welcher ihn um
Rat frägt, günstiger und angenehmer wäre. Ja, ich sage mehr, daß es
nicht unrecht sein würde, ihm einen solchen Rat zu erteilen, wenn er
auch selbst versichert wäre, daß er allerdings falsch ist.«

Was war nach solchen Grundsätzen von den Trostworten des Jesuitenpaters
zu halten? -- Hier mußte das eigene Gewissen zuletzt der beste
Ratgeber sein, und das sprach Frohwalt nicht frei von einer gewissen
Lieblosigkeit und Härte, und das Bild des alten Pfarrers trat immer
wieder wie ein stummer Ankläger vor seine Seele.

Er hatte eine fürchterliche, qualvolle Nacht, in welcher der Schlaf ihn
floh, in welcher er an Vetter Martin dachte, der es verstanden hatte,
auch dem alten, verkommenen Priester freundliche Seiten abzugewinnen,
und dem er nicht wagen würde, mitzuteilen, wie er zu dem Pfarrer
gesprochen hatte. Und gerade der letztere Umstand ließ ihn fühlen, daß
er ein Unrecht begangen hatte, das er nicht einmal mehr gut machen
konnte. Aber eine Lehre wollte er wenigstens aus dem fürchterlichen
Vorgange ziehen. Er wollte in ähnlichen Fällen mehr dem Menschen, als
dem katholischen Priester gehorchen.

Als er nach wenigem Schlafe unerquickt am andern Morgen erwachte,
war sein erster Gang nach der böhmischen Sparkasse, wo er ein
kleines Sümmchen -- Erträgnisse seiner litterarischen Thätigkeit --
niedergelegt hatte. Er ließ sich dreihundert Gulden auszahlen. Die
packte er daheim in einen Umschlag, schrieb dazu einige Zeilen, und
schickte sie an seine Mutter. Sie sollte das Geld Freidank übergeben
unter welchem Vorwande immer, nur ihn sollte sie nicht nennen.

Als er den Brief bei der Post aufgegeben hatte, und heimging, überkam
ihn seit Stunden wieder einmal ein Gefühl innerer Ruhe; er hatte
die Empfindung, wenigstens nach einer Seite hin eine Lieblosigkeit
wieder gut gemacht zu haben, und ihm ging das schöne Gedicht Ferdinand
Freiligraths durch den Sinn:

    O lieb', so lang Du lieben kannst,
    O lieb', so lang Du lieben magst,
    Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
    Wo Du an Gräbern stehst und klagst.

    Dann weinst Du wohl und klagst Dich an,
    Doch keine Thräne heißer Reu'
    Macht eine welke Rose blüh'n,
    Erweckt ein totes Herz auf's neu.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Zehntes Kapitel.


In der kleinen schlichten Klosterzelle zu St. Josef, welche Severin
bewohnte, saß dieser im Gespräche mit dem Alumnus Vogel beisammen,
als es kurz und hastig an die Thür klopfte und Hans Stahl hereintrat.
Er trug denselben Anzug, in welchem er bereits die Aufmerksamkeit
Frohwalts auf sich gelenkt hatte, und welchen auch die beiden
Anwesenden mit Verwunderung und Staunen bemerkten.

»~Et vox in faucibus haesit~ -- und sie konnten das Maul nicht
aufthun!« rief lachend der Extheologe anstatt eines Grußes -- »na, wie
paßt mir denn die neue Kluft, he?«

Der Kapuziner fand zuerst das Wort.

»Ja, sind Sie's denn wirklich, Stahl?«

»Leibhaftig, Hochwürden -- und ich habe die Anwartschaft auf das
Sakrament der Priesterweihe, da es zur Seligkeit nicht unumgänglich
notwendig ist, aufgegeben.«

Er hatte sich in einem Stuhle niedergelassen und zog sein Zigarrenetui
hervor:

»Ist's gestattet, in dieser profanen Weise hier die fromme Luft zu
verderben?«

Severin reichte ihm ein Streichholz, und nun kam erst Vogel dazu, zu
fragen:

»Ja, sagen Sie um's Himmelswillen, wie ist das gekommen?«

»Ja, wie ist das gekommen?« -- Hans Stahl erzählte kurz und bündig,
aber mit einer gewissen Begeisterung von seinem Nothelfer. Dieser
Vetter Martin! Er hatte wirklich seine Absicht durchgesetzt, und zwar
in Person. Er hatte, anstatt nach Thüringen zu wandern, seinen Stab
mehr gegen Osten gewendet, war in die Lausitz gegangen, und eines
schönen Tags bei seinem Bekannten vom Riesengebirge eingetreten.
Und nun entfaltete er seine ganze prächtige und unwiderstehliche
Beredsamkeit und wußte selbst die fromme Frau des Hauses so geschickt
bei ihren schwachen Seiten zu fassen, daß auch sie nicht länger
widerstrebte, Hans aus dem Seminar gehen zu lassen, damit er sich der
Kunst widme; nur hatte sie den Wunsch, daß er der Kirche auch als Maler
diene und sich besonders religiöse Stoffe wähle. So war dieser frei
geworden und besuchte bereits seit zwei Tagen die Kunstakademie.

Das erzählte er mit ergötzlichem Humor und schloß:

»Trotzdem hoffe ich, daß wir Freunde bleiben, denn es ist immer hübsch,
wenn man mit den Vertretern der Kirche auf gutem Fuße steht.«

»Weiß es denn schon Professor Holbert?« fragte Severin.

»Nein, aber ich gehe noch heute zu ihm, um mich als angehenden Künstler
vorzustellen -- aber Ihr sitzt ja hier in gelehrten Studien, ich habe
wohl gestört?«

»Ja, Severin sucht mir eben aus der Kirchengeschichte den Nachweis
zu liefern, daß es gar nicht möglich sei, einen Glaubenssatz von der
Unfehlbarkeit des Papstes aufzustellen,« sagte Vogel.

»Die Geschichte mit dem neuen Konzil macht Euch wohl die Köpfe
warm?« sprach Stahl -- »da bin ich doppelt froh, daß ich aus der
Gottesgelahrtheit heraus bin, und ruhig als gläubiger Laie abwarten
kann, bis es heißen wird: ~Roma locuta est!~« (Rom hat gesprochen.)

»Das ist's eben, was es in diesem Falle nicht heißen darf. Nicht, daß
Rom gesprochen hat -- darauf kommt es nicht an -- die Kirche muß ihre
Stimme abgeben, und Kirchenfürsten und Gelehrte sind jetzt schon klar,
daß ein solcher Glaubenssatz eine Unmöglichkeit ist,« bemerkte Severin.

»Man würde aber doch von Rom aus nicht die Absicht haben, denselben
aufzustellen, wenn nicht ausreichende Gründe dazu vorhanden wären« --
erwiderte der Alumnus.

»Jesuiteneinflüsse,« brummte der Extheologe.

»Da kann Stahl recht haben,« sprach der Kapuziner, »ich kann mir nicht
helfen, ich liebe, wohl auch auf Grund meiner kirchengeschichtlichen
Studien, die Gesellschaft Jesu nicht, denn sie hat nicht immer das
Beste der Kirche erreicht, aber ich meine doch, daß sie nicht über die
Köpfe der Kirchenfürsten hinweg etwas durchsetzen kann, und in den
Kreisen der letzteren scheint keine Neigung für die Neuerung vorhanden
zu sein.«

»Professor Meyer soll wenigstens im Kollegium sich ganz entschieden
gegen die Unfehlbarkeit ausgesprochen haben, und er weiß jedenfalls,
daß er damit auch im Sinne unseres Kardinals Schwarzenberg spricht,
aber trotz alledem: Die Frage ist: Was bleibt dann übrig, wenn der
Glaubenssatz doch beschlossen wird?« sprach wieder Vogel, und Hans
Stahl brummte abermals: »Unterducken!«

»Nein, das glaube ich nicht« -- sagte Severin mit einer gewissen
Erregung -- »dann führt's zur Kirchenspaltung, denn was bis heute
nach allen Ergebnissen der Wissenschaft und Moral unmöglich ist, kann
morgen nicht als wirklich angenommen werden von Männern, die als
charakterfest gelten, und unfehlbar ist der Papst niemals gewesen, das
beweist die Kirchengeschichte häufig genug, ja gerade die Geschichte
des Jesuitenordens giebt dafür ein schlagendes Beispiel. Im Jahre 1759
hat Papst Clemens XIII. in einer Bulle die Jesuiten als die frömmsten
und uneigennützigsten Menschen hingestellt, und zehn Jahre später hat
sein Nachfolger Clemens XIV. gleichfalls in einer Bulle den Orden
aufgehoben, weil er den Frieden der Welt störe. Und beide Päpste müßten
unfehlbar gewesen sein, denn ein solcher Glaubenssatz muß rückwirkend
sein. Und was soll man antworten, wenn die Gegner der Kirche
hohnlachend hinweisen auf einen Fall wie jenen mit dem Papste Vigilius?
Die Geschichte der Päpste ist in jener älteren Zeit ohnehin nicht sehr
sauber, so daß es wahrlich nicht notthut, durch solche Neuerungen die
Aufmerksamkeit besonders darauf hinzulenken.«

»Was war's denn mit dem Papste Vigilius?« fragte Stahl; »man muß, wenn
man wohlfeil dazukommen kann, sein Wissen auch in solchen Fragen zu
bereichern suchen.«

»Er war der Nachfolger des heiligen Silverius -- --«

»Halt einmal, hier weiß ich -- glaube ich -- auch etwas!« rief
Stahl; -- »war der heilige Silverius nicht der leibliche Sohn seines
Vorgängers auf dem Stuhle Petri, des heiligen Hormisdas?«

»Jawohl. Silverius wurde auf unerwiesene Anklagen des Priesters
Vigilius hin abgesetzt und in eine öde Gegend verbannt, wo er nahezu
vor Hunger starb; sein Verleumder aber wurde sein Nachfolger. Er ließ
sich unglücklicher Weise später in theologische Streitigkeiten ein,
wobei er die Unfehlbarkeit sehr wohl hätte brauchen können, aber er
hatte sie zweifellos nicht. Denn als er gezwungen wurde, sich nochmals
vor einem Konzil zu verantworten, das in Konstantinopel stattfand,
erklärte er selbst, er habe geirrt und sei ein Werkzeug des Teufels
gewesen.«

»Na, Kinder, das genügt mir, und nun habe ich wegen der Unfehlbarkeit
keine weiteren Bedenken; Eure theologische Gelehrsamkeit aber wird mir
ungelehrtem Menschenkinde unheimlich, ich gehe!«

Hans Stahl erhob sich, legte seine Zigarre beiseite, und nach einigen
Scherzworten und einer Einladung, ihn in seinem »Atelier« zu besuchen,
ging er davon.

Die Frage wegen des Konzils und der Unfehlbarkeit des Papstes war eine
brennende geworden, und die Gemüter maßgebender Kreise waren davon
noch viel mehr erregt, als die der Alumnen. Der Kardinal Schwarzenberg
hatte wiederholt mit seinen Theologen Rücksprache gepflogen, und es war
ihm zu fester Ueberzeugung geworden, daß man den Versuch, den neuen
Glaubenssatz aufzustellen, mit allen Mitteln bekämpfen müsse, und dazu
war er auch ernstlich entschlossen. Fürs Erste hielt er Umschau nach
gelehrten Helfern, die ihn nach der ewigen Stadt begleiten sollten, und
die vielseitigen rühmenden Empfehlungen, welche er über Peter Frohwalt
gehört, richteten seine Aufmerksamkeit auch auf diesen, und so kam es,
daß der junge Doktor der Theologie und Adjunkt an der theologischen
Fakultät eines Morgens durch einen fürsterzbischöflichen Diener zu
seiner Eminenz befohlen wurde.

Einigermaßen aufgeregt folgte er der Aufforderung und fuhr nach dem
Hradschin. Der Kirchenfürst empfing ihn diesmal noch leutseliger als
das erste Mal und bot ihm einen Sitz an. Sein Auge lag einige Sekunden
mit forschender Ruhe auf dem Antlitz des jungen Priesters, und die
geistvolle Frische, die aus demselben redete, der klare Blick des
blauen Auges, das sich vor dem seinen keine Sekunde senkte, gefiel ihm;
ziemlich unvermittelt fragte er:

»Haben Sie sich bereits ein Urteil gebildet in der schwebenden Frage
der päpstlichen Unfehlbarkeit?«

»Eminenz, ich habe mich damit beschäftigt vom Standpunkte meiner
Wissenschaft, aber ich wage nicht, ein Urteil auszusprechen, bevor
nicht überlegene Männer sich geäußert haben.«

»Die Hauptsache bleibt die Redlichkeit der Forschung und der gute
Wille, der Kirche zu dienen.«

»Daß ich diese beiden besitze, glaube ich ohne Ueberhebung versichern
zu dürfen.«

»Das habe ich bei Ihnen vorausgesetzt, und ich habe Sie deshalb
rufen lassen. Man hat mir Ihre Tüchtigkeit und Ihren kirchlichen
Sinn zugleich gerühmt, und ich wünsche darum, daß Sie mich nach Rom
zum Konzil begleiten; eine geeignete Beschäftigung werde ich für Sie
finden. Sind Sie des Italienischen mächtig?«

Eine heiße Blutwelle schoß Frohwalt nach dem Kopfe, die Mitteilung kam
ihm zu unerwartet und öffnete ihm mit einmal einen weiten, herrlichen
Ausblick.

Er wußte kaum Worte zu finden; endlich stammelte er:

»Ich bin erdrückt von der Gnade und Ehre, Eminenz, und was nur immer
meine schwachen Kräfte vermögen ..., das Italienische hoffe ich bei
einiger Uebung beherrschen zu können, ich habe mich schon lange damit
beschäftigt ...«

Ein freundliches Lächeln spielte um die Lippen des Kardinals, dem die
Ueberraschung des jungen Priesters offenbar Freude machte; er sprach:

»Das ist ja schön, und ich hoffe, daß wir zum Segen unserer heiligen
Kirche nach der ewigen Stadt gehen werden. Das Weitere werden Sie noch
erfahren, auch empfehle ich Ihnen, sich mit Herrn Professor Meyer ins
Einvernehmen zu setzen, welcher mich gleichfalls begleiten wird.«

Peter Frohwalt war entlassen, aber vor dem Thore des Palastes stand er
noch eine Weile wie ein Träumer und starrte um sich. Klarer Himmel lag
über ihm, in den Bäumen der Domherrnallee rauschte es leise, und in der
Brust fühlte er wie das Klingen einer Glocke, die mit jeder Schwingung
sagte: »Nach Rom! Nach Rom!«

Eben als er langsam nach der Kleinseite hinabsteigen wollte, kam
aus der Gegend von Strahow her Professor Meyer. Der Adjunkt ging
auf ihn zu, grüßte und teilte ihm, noch immer in Erregung, mit, was
soeben geschehen war. Das glänzende, glatte Antlitz des anderen
war umspielt von einem freundlichen Lächeln; ihm war die Kunde
offenbar nicht neu, und nun gingen sie selbander langsam hinab durch
die steile Spornergasse. Frohwalt lag daran, aus dem Munde des
angesehenen Theologen eine Meinung zu hören über seine Auffassung der
Unfehlbarkeit, und mit seiner gewöhnlichen Ruhe und in schlichter,
klarer Weise sprach dieser aus, was er seinerzeit schon dem Kardinal
gegenüber geäußert hatte: Ein solcher Glaubenssatz würde zur
Beunruhigung der Gemüter beitragen und sei vom Standpunkte der Moral
wie der Kirchengeschichte schwer anfechtbar.

Beim Klementinum schieden sie von einander, und Frohwalt, noch
immer erregt von der Unfehlbarkeitsfrage, wie von der ehrenvollen
Aufforderung, schritt durch den Korridor des Seminars. Da sah er den
Alumnus Vogel, und in der Freude seines vollen Herzens, das nach
Mitteilung drängte an einen, von dem er wußte, daß er ihn lieb habe,
rief er ihn heran und sagte:

»Vogel, ich werde mit dem Herrn Kardinal nach Rom reisen zum Konzil!«

Der Seminarist sah mit einem geradezu bewundernden Blicke zu seinem
Landsmann auf, und wünschte ihm Glück zu solcher Auszeichnung. Dann
aber setzte er beinahe schüchtern hinzu:

»Meinen Sie, Herr Doktor, daß man den Glaubenssatz aufstellen wird?«

»Daran ist kaum zu denken; es widerspricht nach den berufensten
Meinungen der Lehre der Kirche, der Kirchengeschichte und dem
kanonischen Recht. Die Bischöfe, zumal die deutschen, werden niemals
zustimmen.«

Mit dieser bestimmten Versicherung verließ Frohwalt den Alumnus und
trat in sein Zimmer, wo er mit großen Schritten auf- und abging, um
einigermaßen ruhiger zu werden. Dabei überkam ihn beinahe ein Unbehagen
über den zuversichtlichen Ton, in welchem er zu Vogel gesprochen hatte,
und er beschloß, nachmittags zu Professor Holbert zu gehen, und auch
die Meinung dieses ausgezeichneten und wahrhaft kirchlich gesinnten
Mannes zu hören.

Diesen Vorsatz führte er auch aus, und sobald es das Gesetz des
Anstands gestattete, machte er sich auf nach der Zeltnergasse. Therese
empfing ihn, so heiter lächelnd, ja fast strahlend, daß ihm erst
diesmal die Schönheit des Mädchens auffiel, und sie führte ihn in das
Arbeitszimmer ihres Vaters.

Der Professor saß an seinem Schreibtische in dem weiten, freundlichen
Raume, welcher seine Bestimmung bis in die Einzelheiten hinein nicht
verleugnete. Er empfing den Adjunkten herzlich und unterbrach dessen
Entschuldigung wegen der Störung in liebenswürdigster Weise. Er
setzte sich neben ihn auf das Sopha und Frohwalt berichtete, was ihn
herführte, und bat um seine Anschauung in der schwebenden Frage.

~Dr.~ Holbert wurde ernst.

»Mein lieber Herr Doktor! Ich gönne Ihnen von Herzen, daß Sie die
ewige Stadt sehen, aber, aufrichtig gestanden, hätte ich eine andere
Veranlassung dazu gewünscht. Ich fürchte, Sie werden wenig Freuden dort
erleben, um so mehr aber Enttäuschungen. Dieses Konzil wird der Kirche
keinen Segen bringen, und was man dabei in Szene setzen will, ist
mehr als bedenklich. Sie wollen meine ehrliche Meinung, und, wenn ich
Sie recht verstehe, vor allem jene des Kirchenrechts-Lehrers. Nun, da
sage ich kurz und bündig: Ein Glaubenssatz von der Unfehlbarkeit wäre
geradezu ein Frevel. Was ist dann überhaupt noch Kirchenrecht, wenn der
Papst unfehlbar ist? Es verliert alle und jede Festigkeit, denn das
Oberhaupt der Kirche kann nach Belieben jeden durch die Ueberlieferung
geheiligten Satz desselben vernichten, _jeden_ die Kirchenzucht
betreffenden neu einführen. Er kann beliebig jede Diözeseneinteilung
aufheben, alle Benefizien beseitigen, Ehehindernisse nach Gutdünken
schaffen und verwerfen, jedes Recht des einzelnen Bischofs aufheben,
nach Belieben eingreifen in die heiligsten Verhältnisse der Ehe, der
Kindererziehung, in die Ausübung der Sakramente, so daß man ohne
weiteres behaupten darf, daß es unter einem solchen Glaubenssatze
in der Kirche überhaupt kein eigentliches Recht mehr gebe, sondern
eine Herrschaft der reinen Politik. Wohin das führen sollte, ist
ersichtlich. Dem Papste gegenüber gäbe es kein Recht eines Bischofs
oder Erzbischofs mehr, derselbe urteilte in allem ganz wie es ihm
beliebte, und wehe dem Kirchenfürsten, der nun nicht ganz mehr so
tanzen wollte, wie von Rom aus gepfiffen würde. Lüge, Verleumdung und
Angeberei gerade gegen die besten, ehrenwertesten Bischöfe käme an
die Tagesordnung, die schmutzigste, ultramontane Presse, sobald sie
nur dem Papste zu schmeicheln verstünde, wäre oben auf ... ach, und
in dogmatischer Hinsicht selbst -- welch ein trostloser Gedanke für
das gläubige Gemüt, daß es unter diesem neuen Glaubenssatze überhaupt
feste Glaubenslehren nicht mehr gäbe. Bis jetzt wußte der gläubige
Katholik -- und das konnte ihm eine schöne Beruhigung gewähren -- daß
nur das gelehrt werden dürfe, was aus der Bibel und den Kirchenvätern
als immerwährender Glaube in der Kirche vorhanden war, und nun sollte
auf das Gebot des Papstes hin alles Beliebige zum Glaubenssatze gemacht
werden können?«

»Aber so weit würde das doch nicht gehen -- von allem Beliebigen könnte
doch wohl nicht die Rede sein,« wendete Frohwalt etwas zaghaft ein.

»Und weshalb nicht? Warum sollte der Papst nicht die konstitutionelle
Staatsverfassung, die Parität und anderes von seinem Stuhle aus
als ketzerisch erklären? Betrachten Sie doch den Syllabus und die
Encyklika, und bedenken Sie, daß, wenn der Papst für unfehlbar erklärt
wird, auch alle seine Erlasse, von Anfang seiner Regierung an unfehlbar
und darum unabänderlich sein müssen. Ich weiß nicht, welchen Standpunkt
Sie einnehmen, ich bin duldsam auch gegen Andersgläubige und sehe
gerade darin das Wesen des wahren Christentums; ich würde mich, falls
die Unfehlbarkeit zum Glaubenssatze würde, trotz meiner kirchlichen
Gesinnungen als unter dem Banne betrachten müssen, denn Nummer siebzehn
des Syllabus erklärt es für einen Irrtum, daß man hoffen dürfe, daß
auch Andersgläubige die ewige Seligkeit erlangen können. Ich habe einen
lieben Freund, seine Frau ist protestantisch -- ein prächtiges Weib --
und ich sollte annehmen müssen, daß der Mann alle Hoffnung darauf, daß
seine Frau die ewige Seligkeit erlange, aufgeben müsse? -- Das ist nach
meiner innersten Ueberzeugung Gotteslästerung! Sie kennen ja auch den
Syllabus, und ich glaube, es genügt dieser Hinweis.«

Frohwalt wurde es einigermaßen unbehaglich. Er schätzte ~Dr.~ Holbert
ganz außerordentlich, und empfand beinahe etwas wie Beschämung, als er
diesen von Duldung reden hörte. Er hatte nicht den Mut, einzugestehen,
daß er gerade den erwähnten Passus des Syllabus ganz besonders hoch
gehalten und geradezu bethätigt hatte. Er zwang sich beinahe zu der
Frage:

»Und welchen Zweck sollte man mit dem neuen Glaubenssatze eigentlich
anstreben?«

»Aber, mein lieber Herr Doktor, das ist ja sonnenklar; man will die
unbeschränkte kirchliche Macht damit feststellen.«

»Sollte man nicht einfach bemüht sein, das in den Augen der Welt
einigermaßen erschütterte Ansehen der Kirche wieder herzustellen?«

~Dr.~ Holbert zuckte die Achseln.

»Ich zweifle nicht, daß man dies als Beweggrund betonen wird, um
die Sache unverfänglicher erscheinen zu lassen. Sehen wir aber
genauer zu, wo das Ansehen der Kirche am meisten gesunken ist, so
zeigt es sich, daß es da geschah, wo man es am stärksten betonte,
in den strengkatholischen Staaten, in welchen eine unbeschränkte
Regierungsgewalt mit dem Jesuitismus Hand in Hand gegangen ist.
Und wohin das jesuitische Erziehungssystem geführt hat, ist den
sachlich Urteilenden nicht unklar. Eine Fülle von Aeußerlichkeiten in
Wissenschaft und religiösem Wandel ist dabei zu Tage gekommen. Prüfen
Sie doch die Jesuitenzöglinge auf ihre Gründlichkeit und vor allem auf
ihre wissenschaftliche Unbefangenheit, und Sie werden Wunder erleben.
Ich weiß es aus Erfahrung. Die ganze Erziehung arbeitet lediglich nach
der Schablone, und wie die Wissenschaft nur rein äußerlich angeeignet
wird, so ist es auch mit dem Glauben. Auf beiden Gebieten ist darum
eine bedauerliche, aber geflissentlich großgezogene Unselbständigkeit
vorhanden. Das können Sie bei jeder Mission sehen. Die Leute sind wie
weiches Wachs in den Händen der Jesuitenprediger, drängen sich zu
den Beichtstühlen, zerfließen in Thränen, und im nächsten Augenblick
begehen sie die alte Sünde wieder, um am andern Tage wieder scheinbar
reuevoll vor dem Missionar auf die Kniee zu fallen. Glauben Sie mir,
die Sittenlosigkeit, die ohne Zweifel zumal in den romanischen Ländern
vorhanden ist, ist die Folge der durch dieses System großgezogenen
rein äußerlichen Werkheiligkeit, bei welcher der Mensch noch überdies
in ununterbrochener Angst lebt, daß er nur nicht eines der Gebote
übertrete. Und darin sehen deshalb Tausende ihre ganze religiöse,
kirchliche Lebensaufgabe, während ihr Gottesdienst ein Lippengebet,
ihre Buße die mindest einmalige jährliche Beichte ist, und das genügt,
wenn sie im übrigen nur das Ansehen der Kirche, richtiger das des
Pfarrers, Bischofs und so weiter gebührend anerkennen und sich vor ihm
demütig beugen.«

»Sie malen mit düsteren Farben, Herr Professor.«

»Ich male nach der Natur, mein lieber Herr Doktor, und ich wollte,
ich könnte etwas Freundlicheres auf der Palette haben. Ihnen scheint
es düster, weil Sie -- und Sie dürfen mir die Aeußerung nicht übel
nehmen -- infolge Ihrer ganzen theologischen Erziehung nicht unbefangen
sind, ich aber lasse mich nicht beeinflussen von irgend welchem
Standesvorurteil, und dabei finde ich bei größtem Wohlwollen für die
Kirche und ihre Priester, bei treuester Anhänglichkeit an dieselbe, die
Gebrechen leichter heraus.«

»Sie sind also kein Freund des Jesuitenordens?«

»Ich kann mich für ihn und seine Grundsätze nicht erwärmen. Sie
beurteilen ihn nach den Vertretern, welche Sie hier persönlich kennen
gelernt haben und nach dem Umgang mit ihnen, und ich gebe Ihnen
gern zu, daß man mit einem ~P.~ Klinkowström und andern sehr gut
verkehren kann. Die Predigten des Erwähnten sind zudem geistvolle
Feuilletons, die aber, wenn Sie ganz ehrlich sein wollen, zwar angenehm
unterhalten, auch eine geistige Anregung bieten -- erbauen, in tiefster
Seele erfassen, hinausheben über das Zeitliche können sie nicht --
vielleicht sollen sie es auch nicht, denn man hat Rücksicht zu nehmen
auf das Publikum, und dies vergißt der Jesuitismus nie. Doch um auf
unsern eigentlichen Gesprächsstoff und den Zusammenhang mit diesem
zurückzukommen: Meinen Sie, daß Papst Pius IX. jemals von selbst auf
den Gedanken gekommen wäre, die Unfehlbarkeit zum Glaubenssatz erheben
zu lassen, wenn nicht die Jesuiten ihn darauf gebracht hätten? --
Sie sind es, die den schwachen Greis völlig in der Hand haben, und
es ist zuletzt nicht die Macht des päpstlichen Stuhles, sondern ihre
eigene, wofür sie arbeiten. Und das ist für mich gleichfalls ein Grund,
mich gegen den neuen Glaubenssatz auszusprechen. Ich werde das um so
entschiedener thun, als ich mir darauf hin die Jesuitenmoral etwas
genauer angesehen habe und mich nicht überzeugen kann, daß dieselbe
der Welt oder der Kirche zum Segen sei. Sehen Sie hier -- diese
Auszüge!«

Der Professor nahm eine Anzahl einzelner Blätter von seinem
Schreibtische.

»Wollen Sie das Wesentliche ihrer Grundsätze? Das ist die Lehre vom
Probabilismus und: der Zweck heiligt die Mittel. Ihnen wird man stets
vorgehalten haben, daß das Letztere eine Erfindung der Feinde des
Ordens sei, daß trotz aller Aufforderungen und Preisaussetzungen noch
niemand diesen Ausspruch habe einem Jesuiten nachweisen können, aber
auch das ist echt jesuitisch. Gefallen ist dieses Wort in so offener
Weise vielleicht niemals, aber die Thatsache, daß ihre Moral darauf
hinausläuft, ist nicht wegzuleugnen. Oder ist es etwas anderes,
wenn selbst die ärgsten Laster je nach den Umständen nicht bloß
entschuldigt, sondern sogar gebilligt werden von ihren Schriftstellern?
Ich habe hier die Schriften eines Vasquez, Perez de Lara, Suarez,
Gomez, Veracruz, Dias, Dealkozer und vieler anderer, und Sie können
mir glauben, daß ich sie vorurteilsfrei und gewissenhaft studiert
habe, und was ich fand, hat mich traurig und zornig zugleich gemacht.
Sehen Sie, ich greife auf Geratewohl in meine Zettel. Hier der Pater
Kaspar Hurtado sagt ~de sub. pecc. diff.~ 9: ›Einer, der eine Pfründe
besitzt, kann ohne eine Todsünde den Tod desjenigen wünschen, welcher
eine Leibrente auf diese Pfründe hat; auch kann ein Sohn den Tod seines
Vaters wünschen und sich erfreuen, wenn derselbe erfolgt, jedoch nur
um des zu erhaltenden Genusses willen, nicht wegen eines persönlichen
Hasses.‹ Was sagen Sie dazu? -- Und hier, bei Sanchez und Filutius:
›Man darf auch eine Unwahrheit beschwören, wenn man einen geistlichen
Vorbehalt macht, das heißt, das Entgegengesetzte bei sich denkt.‹
-- Ist das nicht: Der Zweck heiligt das Mittel? -- Hier Eskobar im
Kapitel über den Diebstahl: ›Frauen, welche am Spiele Freude haben,
dürfen ihren Männern das Geld dazu entwenden.‹ -- Hier, Sanchez in
seiner Moraltheologie, 2. Buch, Kap. 89, billigt den Zweikampf, und bei
derselben Materie sagt Navarrus, man dürfe einen Feind, der uns durch
einen Prozeß unseres Gutes berauben will, sogar heimlicherweise töten.
Auch Eskobar behauptet, seinen Feind zu töten, sei kein Verrat, selbst
wenn es hinterrücks geschehe, ja selbst dann nicht, wenn man sich mit
ihm ausgesöhnt und versprochen habe, seinem Leben nicht nachzustellen
-- vorausgesetzt, daß keine sehr enge Freundschaft bestehe. -- Hier,
Eskobar: ›Versprechen verpflichten zu nichts, wenn man, während man sie
macht, sich vornimmt, sie nicht zu halten.‹ Hier der Pater Valentia
im dritten Bande, Seite 2039: ›Wenn man ein zeitliches Gut für ein
geistliches giebt, nämlich Geld für ein Benefizium oder eine Pfründe,
so ist das eine augenscheinliche Simonie. Wenn man es aber giebt als
ein Mittel, um den Willen desjenigen, der sie zu vergeben hat, zu
bewegen, daß er dieselbe uns giebt, so ist dies keine Simonie, obwohl
derjenige, der sie vergiebt, das Geld als sein vornehmstes Augenmerk
betrachtet und erwartet.‹ Dasselbe findet sich bei dem Jesuiten
Tanner im 3. Bande, Seite 1519. Heißt das nicht: Der Zweck heiligt
das Mittel? -- Ich will Ihnen nicht mehr Proben vorlegen, auch nicht
von der Probabilitätslehre, nach der man unter mehreren Meinungen
derjenigen zu folgen berechtigt ist, welche einem am besten gefällt,
auch wenn eine andere wahrscheinlicher ist. Hier habe ich die Belege
bei dem Jesuiten Emanuel Sa, im ~aphorismo de dubiis p. 183~, bei ~P.~
Filutius aus Rom in ~Mor. Quaest tr. 21, cap. 4, no. 128~, bei Sanchez
und vielen anderen. -- Aber verzeihen Sie: ich halte Ihnen hier eine
Vorlesung über Jesuiten und Jesuitenmoral -- das kommt davon, wenn
man in einer Materie arbeitet, auch wenn sie wenig erquicklich ist --
aber es soll mir lieb sein, wenn Sie aus alledem erkennen, wie sehr es
nötig ist, angesichts des Konzils und der neuen Lehre auf der Hut zu
sein vor einer Ueberrumpelung, denn nicht im Vatikan, sondern bei dem
Jesuitengeneral laufen die letzten Fäden der gegenwärtigen Bewegung
zusammen.«

Frohwalt hatte mit steigender Erregung den im ruhigsten Tone gehaltenen
Auseinandersetzungen gelauscht, und fand auch nun, nachdem Professor
Holbert schwieg, nicht gleich das geeignete Wort. Endlich sagte er:

»Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Mitteilungen, wenn ich auch gestehen
muß, daß sie eine Umwälzung in mehr als einer Hinsicht in mir
zu bewirken geeignet sind. Das alles kommt mir zu plötzlich, zu
überwältigend, das muß ich mit mir verarbeiten, und Sie verzeihen,
wenn ich betreffs der Jesuiten nicht sogleich volle Zustimmung und das
richtige Wort finden kann. Betreffs der Unfehlbarkeit aber bin ich
durch Ihre Darlegung befestigt worden in der Meinung, welche ich bisher
besessen, und ich weiß nun, daß ich ruhig nach Rom gehen werde, um
so mehr, als ich auch nach den Aeußerungen des Herrn Professor Meyer
die Zuversicht habe, daß Seine Eminenz und zweifellos auch andere
Kirchenfürsten niemals einem solchen Glaubenssatz zustimmen werden.«

Holbert zuckte leicht mit den Achseln:

»Hoffen Sie nicht zu viel, mein lieber Freund! Wir wollen den Himmel
bitten, daß er Unheil abwende von unserer heiligen Kirche und wollen
selbst fest bleiben bei ihrer alten, guten Lehre, geschehe auch, was
wolle!«

»Ja, Herr Professor, das wollen wir!« sagte Frohwalt warm und herzlich,
und die beiden Männer legten einen Augenblick schweigend Hand in Hand.

»Und nun kommen Sie zu einer Tasse Kaffee, Therese wird sich freuen ...«

»Entschuldigen Sie mich heute, Herr Professor, mir ist die Seele zu
voll, ich muß einige Stunden für mich allein sein!«

»Ich verstehe Sie und darf Sie nicht zurückhalten!«

Noch einmal reichten sie sich die Hände, dann ging der Adjunkt. Als
er in das Vorzimmer kam, stürzte aus dem Salon Hans Stahl in höchster
Erregung an ihm vorüber, ohne Gruß und Wort. Langsam folgte er ihm die
Treppen hinab; auf der Straße aber konnte er keine Spur mehr entdecken
von dem Extheologen. Er kümmerte sich um denselben auch nicht weiter,
sondern schritt durch die Hibernergasse hinaus gegen die Bastei, und
dort ging er mit gesenktem Haupte, nach innerer Ruhe ringend.

Durch seine Seele fegte es wie ein Gewittersturm, und zwei Dinge
vor allem waren es, die ihn mächtig bewegten, zwei Worte, die wie
zündende Blitze ihn durchzuckt hatten. Das eine war das, was Holbert
von der Duldung gesprochen hatte, das andere dessen Ansichten über den
Jesuitenorden. Hätte ein anderer solche Aeußerungen gethan, so würde
Frohwalt von heiligem Zorn erfüllt worden sein, aus diesem verehrten
Munde aber hatten sie ein gewaltiges Gewicht. Der Professor galt bei
allen nicht bloß als ein durchaus charakterfester Ehrenmann, sondern
auch als das Muster eines wahrhaft religiös gesinnten Mannes; seine
Worte waren darum auch seine Ueberzeugung und ein Mann von seiner
Bedeutung sprach eine solche nicht aus, ohne sie zuvor in seiner
Seele fest und sicher begründet zu haben. Es mußte doch etwas an der
Forderung der Duldung sein, wie sie dieser herrliche Mann in derselben
Weise wie der Vetter Martin betonte; sie mußte menschenwürdig und edel
und mit dem innersten Kerne des Christentums im Einklang sein. Das gab
ihm zu denken.

Noch mehr aber das andere. Er war durch seine Studie und seine
Erziehung im Seminar gewöhnt worden, die Jesuiten als die edelsten
und mutigsten Vorkämpfer der katholischen Kirche zu betrachten; er
hatte darum in eigenen Gewissensnöten gerade bei ihren Beichtstühlen
Rat und Trost gesucht, aber er mußte sich in dieser Stunde gestehen,
daß er, als er zum letzten Male nach dem Tode des alten Pfarrers bei
St. Ignaz auf dem Karlsplatze gewesen, unbefriedigt und wenig erhoben
von dannen ging, ja daß er daheim gerade durch einen jesuitischen
Ausspruch betreff des Probabilismus schwankend und unsicher geworden
war. Was er heute von der Moral der Jesuiten auf Grund unanfechtbarer
Belege -- und an deren Echtheit war bei dem Charakter Holberts nicht zu
zweifeln -- erfahren hatte, ließ ihn sein ganzes eigenes theologisches
Wissen höchst unsicher und einseitig erscheinen. Warum wurden von den
Moraltheologen derartige Lehren verheimlicht, beziehungsweise nicht
verurteilt? Lag in dem Orden wirklich eine solche Macht, daß man nicht
den ehrlichen Mut fand, seitens der kirchlichen Gelehrten gegen ihn
vorzugehen, oder hatte derselbe wirklich die höchste Gewalt in der
Kirche, so daß er daran denken konnte, auch das Papsttum zu seinem
Werkzeug zu machen?

Wie dem auch war, Frohwalt fühlte, daß sich in seinem Geistesleben eine
Wandlung zu vollziehen anfing, aber er wußte auch, daß dieser Vorgang
noch Stunden schwerer Kämpfe im Gefolge haben werde. Wenig beruhigt kam
er gegen Abend heim, und bis tief in die Nacht brannte an seinem Tisch
die Lampe.

Auch Hans Stahl fand an diesem Abend keine Ruhe. Er war am Nachmittage
mit pochendem Herzen zu Professor Holbert gegangen, und in der stillen
Hoffnung, nachdem er der Theologie untreu geworden, auf Therese einen
günstigen Eindruck zu machen. Er nahm es als ein gutes Vorzeichen, als
das Mädchen ihn empfing, und, da ihr Vater zur Zeit mit Frohwalt in
seiner Studierstube war, ihn nach dem freundlichen Salon führte. Eine
kleine Befangenheit, welche sie bei seinem Anblick in Erinnerung an den
Vorgang im Beth Chajim erfaßt hatte, überwand sie mit der Sicherheit
der Weltdame rasch genug, und so kam sie ihm wie immer entgegen, und
als ob jene Stunde nie zwischen ihnen gewesen wäre.

Gerade das ermutigte Hans Stahl. Sie hatte ihm ihre Verwunderung
ausgesprochen über seine äußere Erscheinung und nun erzählte er ihr mit
einer gewissen freudigen Erregung von der Wandlung, welche in seinen
Verhältnissen eingetreten war. Dann fuhr er, beim Anblick des schönen
Mädchens wärmer werdend, fort: »Ich habe den Drang, mit ganzer Kraft
mich der Kunst zu widmen, und wage zu behaupten, daß ich nicht der
schlechteste ihrer Jünger sein werde, wenn ich die schönste Hoffnung
hegen darf, meinen jungen Lorbeer einst zu Ihren Füßen niederlegen zu
dürfen.«

Theresens Antlitz überflog eine Röte; der Jüngling aber schien dieselbe
zu mißdeuten, und so faßte er nach ihrer Hand, und hielt sie fest,
obwohl das Mädchen sie ihm zu entziehen strebte, und dabei stammelte er
mit stockendem Atem:

»Sie wissen, wie unendlich lieb ich Sie habe, daß Sie die Sonne meines
Lebens, das Licht meines Schaffens sind, daß ein Wort von Ihnen mich
selig und elend macht. Heute darf ich mit mehr Recht von meiner Liebe
reden als damals -- o Therese, lassen Sie einen Schimmer des Glückes
auf mich fallen, in Ihnen lebt mir ja alles, was mir das Dasein
begehrenswert macht -- --«

Das Mädchen war aufgesprungen und hielt wie abwehrend die Hände gegen
Stahl ausgestreckt; jetzt unterbrach sie den heißen Fluß seiner Rede:

»O mein Gott, Herr Stahl, ich darf Sie ja nicht anhören, sprechen Sie
nicht weiter! Ich will Ihnen sagen, daß Sie mir lieb und wert sind,
daß ..., aber weshalb davon sprechen, ich muß Ihnen Mut und Hoffen
rauben, wenn Sie es wirklich auf mich gesetzt hatten -- ich bin so gut
wie verlobt mit ~Dr.~ Haller, und unsere Beziehung wird in den nächsten
Tagen veröffentlicht!«

Hans Stahl fühlte, wie alles Blut aus seinem Antlitz wich, wie er, von
einem Schwindel erfaßt, zurücktaumelte auf seinem Sitze, dann schlug
er beide Hände vor die Augen, aber ein Wort fand die gequälte junge
Seele nicht. Therese wurde von tiefem Mitgefühl erfaßt; sie legte ihre
Hand leicht auf seinen Arm, die Wahrheit und Tiefe seines Empfindens
erschütterte sie:

»Fassen Sie sich, Hans ... wir wollen recht gute Freunde bleiben!«

»Ein Bettelbrot!« preßte er hervor, dann stieß er beinahe heftig die
Hand des Mädchens von seinem Arme hinweg, sprang auf und eilte hastig,
ohne Gruß, davon.

Er war lange in den Straßen hin- und hergelaufen, ehe er heimging in
die freundliche Stube, welche er in der Eisengasse bewohnte. Er hatte
eine Leinwand auf der Staffelei beim Fenster; die stieß er hinab und
trat mit dem Fuße hinein, ihm war die Kunst und beinahe sein Leben
verleidet. Mit seinem Schmerz über den Verlust der Geliebten mischte
sich aber der Zorn gegen den glücklichen Nebenbuhler, und dieser begann
zuletzt bei ihm zu überwiegen. Er haßte diesen ~Dr.~ Haller, so lang er
ihn kannte, er hatte die Empfindung, als könne derselbe Therese niemals
wirklich glücklich machen, und immer mehr lebte er sich in den Gedanken
hinein, daß er sie auch nicht besitzen dürfe.

Seinem etwas phantastischen Wesen erschien es in dieser Stunde als
das Richtigste, seinen Nebenbuhler herauszufordern und zwar gleich zu
einem Pistolenduell über das Taschentuch. Ihm war es ganz gleichgültig
in seiner jetzigen Stimmung, wenn er dabei zu Grunde ging, wenn nur
auch der Verhaßte nicht die Braut heimführte. So kam es, daß er nach
manchem Erwägen noch in der Nacht sich hinsetzte und thatsächlich eine
Herausforderung an ~Dr.~ Haller schrieb, die er auch noch zur selben
Stunde hinabtrug nach dem nächsten Briefkasten. Er schlief erst gegen
Morgen ein und hatte die wunderlichsten und zugleich beängstigende
Träume, so daß er wie in Schweiß gebadet erwachte.

Doch bereute er am Morgen nicht, was er gethan hatte und sah mit
Spannung der Antwort ~Dr.~ Hallers entgegen. Sie traf bereits gegen
Abend bei ihm ein: ein Dienstmann hatte sie überbracht und lautete:

    »Mein Herr Stahl! Ihre Stilübung ist mir zugegangen und ich
    glaube nicht, daß Sie bei ruhiger Erwägung mir zumuten werden,
    dieselbe ernst zu nehmen. Ich habe sie darum auch nicht dem
    Staatsanwalt, sondern dem Papierkorb übergeben und erachte
    damit die Sache für erledigt.

            Ergebenst

            ~Dr.~ Haller.«

Stahl war außer sich über den kalten Hohn des verhaßten Menschen, den
er mit Wollust hätte erschlagen, erschießen, erwürgen mögen. Er war
auch nicht geneigt, diese geringschätzige Behandlung ruhig hinzunehmen;
er sah vielmehr darin einen Ausfluß von Feigheit und gedachte, seinen
Gegner, wenn Worte nichts vermochten, durch die That zu überzeugen, daß
seine »Stilübung« ernst zu nehmen sei. Den ganzen Tag rannte er ruhelos
durch die Gassen und erwog einen Plan um den andern, ohne zu einem
Entschlusse kommen zu können. Anfangs hatte er daran gedacht, ~Dr.~
Haller in seiner Wohnung aufzusuchen und ihn thätlich anzugreifen, doch
verwarf er das aus mehr als einem Grunde; am allerliebsten wäre er ihm
im Hause Holberts, in Gegenwart Theresens an die Kehle gesprungen, aber
das war ja thöricht.

So hatte er sich den Tag über ziellos herumgetrieben und war immer in
die Nähe der Zeltnergasse gekommen, wohin ihn sein Herz zog und der
Haß zugleich, denn er vermutete, daß Haller mindestens gegen Abend zu
seiner Braut gehen werde.

Darin hatte er sich auch nicht getäuscht. Er sah den Verhaßten in der
neunten Abendstunde vom Altstädter Ringe herankommen, ein überlegenes
Lächeln um die Lippen, mit einem kleinen Stöckchen spielend, und in
Stahls Seele bäumte sich der Haß auf. Die Straße war belebt, einen
Angriff, welcher hier erfolgte, mußte jener als schwere Beleidigung
empfinden ...

[Illustration: Mit dem Rufe: »Elender Feigling« versetzte Hans Stahl
dem ~Dr.~ Haller einen Schlag ins Gesicht. (S. 202).]

Der junge Mann verlor bei diesem Gedanken alle Selbstbeherrschung;
in dem Augenblicke, da Haller in das Haus Holberts eintreten wollte,
sprang er gegen diesen vor, und mit dem Rufe: »Elender Feigling!«
versetzte er ihm einen Schlag ins Gesicht, daß der Getroffene
zurücktaumelte, aber im nächsten Moment auch schon seinen Angreifer
erfaßt hatte und ihm zurief:

»Unreife Jungen müssen das Stäbchen spüren!« Dann schlug er mit seinem
Stocke auf ihn ein, während Stahl mit den Fäusten um sich hieb.

Das spielte nur einige Sekunden. Die Leute waren stehen geblieben, ihre
Entrüstung wendete sich gegen den Angreifer, und ehe noch der nächste
Schutzmann herbeikam, war Hans Stahl bereits von einigen kräftigen
Händen erfaßt und festgehalten worden, während Haller ihm noch einen
derben Hieb mit seinem Stöckchen versetzte. Der Geschlagene war
sprachlos vor Wut, der Doktor aber rief dem Sicherheits-Wachmann zu:

»Nehmen Sie diesen Burschen fest, der mich gröblich angefallen hat.
Mein Name ist ~Dr.~ Haller -- das Weitere werde ich selbst veranlassen.«

Er wandte sich nach der Thür des Hauses, in welchem Professor Holbert
wohnte, Hans Stahl aber ließ sich willenlos, elend bis in die tiefste
Seele hinein, von dem Schutzmann hinwegführen. Er hatte mit der
Empfindung, jetzt erst Therese für immer verloren zu haben, auch noch
die andere, daß er sich in Prag unmöglich gemacht und die eben erst neu
eingeschlagene Laufbahn sich selbst verdorben habe.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Elftes Kapitel.


Zu Beginn des Herbstes fand die Hochzeit Theresens mit ~Dr.~ Haller
statt und zwar auf besondern Wunsch der Braut in der freundlichen
Kirche bei den Kapuzinern zu St. Josef, und ~P.~ Severin war es,
welcher die Trauung vollzog. Als Professor Holbert dem Guardian diese
Bitte Theresens vortrug, war der würdige alte Herr einigermaßen in
Verlegenheit gekommen, aber da sein junger Ordensbruder ihm seine
einstige Herzensbedrängnis in der Beichte anvertraut hatte, mochte er
darüber nicht sprechen, sondern erklärte, daß er die Entschließung
darüber ~P.~ Severin selbst überlassen müsse.

Zu seiner Verwunderung nahm dieser den Wunsch scheinbar völlig ruhig
auf, und erklärte sich bereit, denselben zu erfüllen; er fügte seinem
milden, freundlichen Ordensvorgesetzten gegenüber bei, er betrachte
auch das als eine Buße, welche ihm der Himmel auferlegen wolle.

So fuhren am festgesetzten Tage eine Anzahl Kutschen vor dem Thore
des Klösterchens vor und zwischen der gaffenden Menge hindurch führte
~Dr.~ Haller, dessen äußere Erscheinung heute besonders vorteilhaft
aussah, die liebliche Braut, die in ihrem weißen Gewande, mit dem
Myrtenkränzlein im Haare einer anmutigen, frischen Blüte vergleichbar
war.

Hinter ihnen schritt Professor Holbert mit der Mutter des Bräutigams
am Arme und die andern Gäste, eine kleine, aber vornehme und
auserlesene Schar.

Das Kirchlein hatte sich zur Feier besonders geschmückt, und
weihevoller Orgelklang kam dem Brautpaare entgegen, das auf
rotsammtenen Kissen auf der untersten Stufe des Altars niederkniete.
Jetzt erschien aus der Sakristei der junge Priester. Er allein sollte
die heilige Handlung vornehmen, ohne jede Assistenz, so hatte es
Therese gewünscht, und Professor Holbert war mit der Einfachheit in
jeder Hinsicht völlig einverstanden. Die Angehörigen des Bräutigams
hätten freilich mehr Aufsehen gewünscht.

Severin war so blaß, wie wohl nie im Leben; sein wallender dunkler
Bart ließ die Blässe noch mehr hervortreten, und seine Augen hatten
einen müden Schimmer. Niemand ahnte, was in der Seele des jungen
Priesters vorging, welchen furchtbaren Kampf er kämpfte und welche
Selbstüberwindung er übte.

Gerade in diesen Augenblicken, da Therese, umwoben von dem ganzen
jungfräulichen Liebreiz, in dem weißen, duftigen Gewande vor ihm
kniete, das liebliche Haupt demutsvoll und fromm nach ihm emporgehoben,
ging durch seine Seele ein unsagbares Gefühl heißen Schmerzes. O, die
Entsagung verlangt von ihren Märtyrern fürchterlich harte Opfer! Das
Herz des jungen Priesters zuckte und er konnte es nicht hindern, daß
ihm davon auch die Hände bebten, als er sie wie zum Segen auf die
mit der Stola umwundenen Hände des jungen Paares legte und dann über
ihre Häupter hielt, und da er das Wort sprach, welches diesen Bund
unauflöslich verknüpfen sollte, da meinte er, sein Herzschlag müsse
stocken, und die Worte kamen heiser, hervorgepreßt von seinen Lippen.

Nun war es vorbei. Er wandte sich nach dem Altare zurück, hielt sich
daran fest mit zitternden Fingern, und dann erst schritt er langsam,
müde, wie ein gebrochener Mann, nach der Sakristei, um das Meßgewand
anzulegen. Er mußte sich doch einige Augenblicke niedersetzen --
er fühlte, daß er sich zu viel zugetraut hatte. -- Dann erst ging
er wieder zum Altare zurück, um die Messe für die Neuvermählten zu
zelebrieren. Mit solcher Inbrunst hatte er vielleicht niemals noch das
lateinische Meßgebet gesprochen, mit heißerer Andacht nie den Leib
des Herrn in den Händen gehalten; er fühlte sich wie ein Sünder, und
dennoch wie ein Sieger.

»~Ite, missa est!~« sprach er zum Volke gewendet; sein Blick streifte
noch einmal die Lichtgestalt der jungen Braut, dann war das Schlimmste
überwunden, aber er wußte kaum, wie er nach seiner Zelle gekommen war.

Hier warf er sich auf sein hartes Lager, schlug beide Hände vor das
Gesicht und schluchzte in sein Kissen hinein; ihm war zum Sterben weh.
»Der Menschheit ganzer Jammer« erfaßte ihn, niemals würde ihm ein Glück
scheinen, das ihm, dem Entsagenden, als das höchste und herrlichste
dünkte, das Glück, ein geliebtes Wesen am Herzen halten, in ihm
aufgehen zu dürfen in Leid und Lust.

Plötzlich riß er sich empor, wild und zornig, mit den Händen faßte
er nach den Knoten seines Gürtelstricks, er hätte sich am liebsten
gegeißelt, um in qualvoller Selbstpeinigung zu vergessen, und da dies
nicht wohl anging, sank er auf den Betschemel nieder, schlug das Haupt
gegen dessen Kante, und so lag er vor dem schlichten Kreuzbilde lange
auf den Knieen. Dann erhob er sich und ging zu dem Guardian. Er bat
denselben, ihn fortzugeben in ein kleines, armes Klösterchen, wo es
am meisten Entbehrung, Demütigung und Mühe gebe, ihn verlange nach
Einsamkeit und Thätigkeit. Der alte, würdige Priester verstand ihn. Er
sprach:

»Gott segne Sie, lieber Bruder, Sie sind auf dem rechten Wege, und der
Herr wird Ihnen in dem Kampfe, welchen Sie so tapfer kämpfen, nicht den
Sieg vorenthalten. Ich werde bei dem ~P.~ Provinzial Ihre Versetzung
beantragen.«

Er drückte ihm herzlich die Hand; Severin ging, und schon acht Tage
später befand er sich auf dem Wege nach der kleinen, freundlichen
Landstadt, in welcher Peter Frohwalt daheim war. Als er den ihm
wohlbekannten Ort unter sich liegen sah, als das rote Dach des
Kapuzinerklösterchens mit dem kleinen Turme ihm zu winken schien, ging
ihm die Seele auf; die Brust wurde ihm weit; er breitete die Arme aus,
und mit rascheren Schritten ging er zu Thal.

Im Garten bei dem Kloster war Obsternte. Schwer von Aepfeln und
Birnen beugten sich die Zweige, die wenigen Mönche aber, die hier
lebten, waren, breitrandige Basthüte auf den Häuptern, beschäftigt,
den Gottessegen zu bergen. Der eine stand auf der Leiter, ein zweiter
hatte eine Schürze über sein Ordenskleid gebunden, und las auf,
was herabfiel, und selbst der treffliche Guardian hielt einen fast
gefüllten Korb am Arme. Als Severin bei ihnen eintrat mit seinem
»Gelobt sei Jesus Christus!« und sie den Ordensbruder erkannten, ließen
sie alles stehen und liegen. Der von der Leiter kam herab, und der
Guardian umarmte und küßte ihn. Da ward es Severin unendlich wohl zu
Mute, und alles, was sonst noch auf Erden war, versank hinter ihm wie
ein Traum.

Ja, hier war es ungleich schöner, als in Prag. Kein Lärm und Geräusch
störte die liebliche Idylle, und wenn er des Morgens das Fenster
seiner Zelle öffnete und hinaussah ins freie, weite Land, das im
Herbstsonnenglanz sich hindehnte, bis wo fern die blauende Hügelkette
den Blick begrenzte, dann war er so ruhig und wunschlos, so glücklich
in seiner Entsagung und Armut.

So vergingen ihm einige Wochen. Da geschah es, daß er eines Morgens,
während er bei der Messe sich an dem Altar umwendete, in einem der
vordersten Kirchenbänke eine Frauengestalt gewahrte, bei deren Anblick
ihm alles Blut aus den Wangen wich. Es war kein Zweifel, daß es Therese
war. Auch sie sah halb erstaunt, halb erfreut nach ihm hin, als er
beim Segnen sich noch einmal umwendete, und in ihren Augen stand etwas
wie ein stiller Gruß. Und da er nach dem Gottesdienste wie ein Träumer
aus der Kirche heraustrat, um über den Hof hinweg nach dem Klösterchen
selbst zu gehen, da trat sie ihm mit freundlichem Gruß entgegen und
reichte ihm die Hand.

Er folgte dem Drange des Augenblicks, als er das feine, behandschuhte
Händchen zwischen seine beiden Hände nahm, durch welche ein leises
Zittern der Erregung lief, und mit nicht ganz sicherer Stimme fragte
er, während seine Augen seltsam schimmerten:

»Wie kommen Sie hierher, Frau Doktor?«

»Ei, das wissen Sie nicht? Mein Mann hat sich seit drei Tagen als
praktischer Arzt hier niedergelassen, und ich fühle mich in dieser
ländlichen Umgebung ungemein wohl. Doppelt freut es mich, Sie hier
zu wissen, und ich hoffe, daß Sie ab und zu uns besuchen werden. Wir
wohnen neben der Mutter des Herrn ~Dr.~ Frohwalt.«

Severin stammelte etwas wie ein Dankeswort für die freundliche
Einladung, dann ging er, während die junge Frau ihm einigermaßen
befremdet nachblickte. In seiner Zelle angekommen, trat er ans Fenster.
Wie ein Schleier lag es über dem Landschaftsbilde, das ihn bisher
entzückt hatte, und wie ein Druck beschwerte es ihm die Brust. Er that
einen tiefen Atemzug, dann sprach er mit Festigkeit halblaut:

»Herr, Du suchst mich heim! Sei es! Du willst, ich soll kämpfen, und
ich will mich nicht Deiner Prüfung entziehen. Nur, guter Gott, lege mir
nicht mehr auf, als ich tragen kann.«

Von diesem Tage an war Severin noch eifriger als bisher in aller
Arbeit. Er war ein trefflicher Prediger, unermüdlich im Beichtstuhl
und schaffte dabei in Haus und Garten trotz einem Laienbruder, so daß
die andern Brüder in stiller Verwunderung ihn beobachteten und in ihm
ein Musterbild eines Mönches sahen. Dabei war er stets heiter und
gefällig, nahm jedem an Mühe ab, so viel er vermochte, und als einer
der Brüder erkrankt war, pflegte er ihn mit peinlicher Sorgfalt Tag und
Nacht.

So rang Severin mit sich selbst. --

Der Herbst schritt weiter vor, und man sprach überall von dem
Zusammentritt des Konzils. In jenen Tagen kam Peter Frohwalt noch
einmal heim, um, ehe er nach Rom ging, seine Mutter zu besuchen. Als er
am Abend unvermutet bei ihr eintraf, fand er hier Therese Haller und
seine Schwester, die ein winziges Kindlein, einen munter schauenden
Knaben, in einem Steckkissen auf dem Arme trug.

Die Frauen waren, jede nach ihrer Weise, erregt, als sie ihn sahen; er
nicht minder. Daß Therese in seiner Heimat war, wußte er allerdings,
daß sie ab und zu seine Mutter besuchte, war ihm gleichfalls bekannt,
und in diesem Augenblicke war ihm letzteres doppelt erfreulich,
weil es ihn über das Peinliche der Begegnung mit seiner Schwester
hinwegbrachte. So begrüßte er zuerst die Mutter mit Gruß und Kuß,
und sie schloß froh und stolz die Arme um den stattlichen Sohn; dann
reichte er Therese die Hand, welche sagte:

»Sehen Sie, wie wunderlich die Menschen sich zusammenfinden, Ihre liebe
Mutter, Herr Doktor, läßt mich erst hier mich wohl fühlen, und ich
komme in allen meinen Nöten als unerfahrene junge Frau zu ihr und bin
glücklich, daß sie mich ein wenig als Töchterchen ansehen will. Und
auch mit Marie habe ich mich auf freundschaftlichen Fuß gestellt. Und
sehen Sie nur, was für einen kleinen, prächtigen Neffen Sie haben!«

Marie war schüchtern beiseite getreten, als sei sie eine Fremde,
die kein Recht habe, hier zu sein; bei diesen Worten aber überflog
ihre Wangen eine liebliche Röte, und verschämt blickte sie auf den
schlafenden Säugling auf ihrem Arme nieder. Noch heißer aber ward das
Rot, das sich bis unter die blonden Stirnhaare verlief, als ihr Bruder
zu ihr herantrat, ihr die Hand hinreichte, sich über das Kind beugte
und mild und freundlich sagte:

»Grüß Gott, Marie, und er segne Dir Deinen Kleinen!« Das übermannte das
junge Weib, so daß ihr die Thränen hell über die Wangen rannen und daß
sie die Hand des Bruders an die Lippen ziehen wollte; dieser wehrte
jedoch ab.

Therese erkannte mit feinem Taktgefühl, daß sie nicht bleiben dürfe,
und so ging sie mit herzlichem Gruße, nicht ohne Frohwalt um seinen
Besuch gebeten zu haben. Als sich die Thür hinter ihr geschlossen
hatte, stammelte Marie:

»Ach, wie bist Du gut, Peter! Lohn' Dir's Gott tausendmal.«

Der junge Doktor geriet einigermaßen in Verlegenheit, er wußte nicht,
ob er solchen Dank annehmen dürfe, aber er sprach milde, wie vorhin:

»Ich will an nichts anderes denken, als daß Du meine Schwester bist --
von Deinem Manne aber wollen wir nicht sprechen!«

Ein Schatten lief über das hübsche Antlitz Mariens, und schüchtern
sagte sie:

»Und doch hätte er Dir so gerne gedankt!«

»Wofür?«

»Ach, Du willst Dich nicht dazu bekennen, aber wir wissen es doch, auch
wenn es die Mutter in Abrede stellt; jene dreihundert Gulden ...«

Das Gesicht Frohwalts wurde finsterer:

»Ich weiß nicht, wovon die Rede ist! ... Mutter, wie steht's mit Eurer
Obsternte? Ist mein alter Apfelbaum wieder brav gewesen?«

Die alte Frau wurde redselig. Sie freute sich unendlich, daß ihr Sohn
milder gegen seine Schwester war und bot nun alles auf, was sie nur
irgend ihm vorsetzen konnte. So saßen die drei mit dem schlummernden
Kinde beisammen, bis es anfing zu dämmern und Marie gehen mußte. Peter
reichte ihr wiederum die Hand und sie huschte hinaus.

Nun fragte er die Mutter nach Diesem und Jenem. Was der Vetter Martin
mache?

Der sei seit kurzem daheim und einigermaßen verdrießlich, weil
sein Bein ihm immer wieder beim weiteren Wandern Störungen mache.
Gegenwärtig ordne und katalogisiere er seine Sammlungen, aber vor
Einbruch des Winters denke er doch noch einmal auszumarschieren.

Auch nach ~Dr.~ Haller erkundigte sich Frohwalt und die alte Frau
machte ein einigermaßen bedenkliches Gesicht.

»Er ist das herzige Frauchen nicht wert. Ich bin zweimal bei ihr
gewesen und habe gesehen, daß er sie mindestens nicht ganz höflich
behandelt; das eine Mal machte er mir den Eindruck, als sei er
betrunken. Sie läßt sich nichts merken, aber ich habe sie hier bei mir
schon mit verweinten Augen gesehen.«

»Das ist schlimm und sollte mir leid thun um Therese. Wie schätzt man
ihn als Arzt?«

»Gar nicht; er hat zwei böse Fehlkuren gemacht, und seitdem hat er wohl
wenig zu thun; sie müssen in der Hauptsache vom Eigenen leben.« -- --

Der Abend verging, und Frohwalt fühlte, als er am Abend sich in dem
freundlichen Giebelstübchen in seinem Bette streckte, ein wohliges
Behagen. Daheim bei der Mutter war es doch am schönsten, und daß er der
Schwester Liebe gezeigt hatte, trug auch dazu bei, ihn in angenehme
Stimmung zu versetzen. Am andern Morgen blieb er, obwohl er munter war,
noch liegen. Die Stille im Haus und im Städtchen that ihm wohl und
heimelte ihn an, und wenn er ab und zu den leisen Schritt der alten
Frau hörte, welche wohl lauschen mochte, ob er bereits wach sei, um ihm
den Morgenkaffee ganz frisch zu bereiten, so drückte er die Augen zu
und lag ganz still und träumte sich zurück in vergangene Tage.

Als er zum letzten Male hier gewesen war, war er beinahe im Zorn und
heißen Unmut geschieden; diesmal wollte er das gutmachen, denn seine
Schwester konnte trotz alledem, was geschehen war, nicht schlecht
sein, wenn Therese sie ihrer Freundschaft wert hielt. So lachte ihm
das Städtchen noch einmal so freundlich entgegen, als er seine Besuche
machte. Acht Tage Urlaub hatte er sich erbeten, ehe er nach der ewigen
Stadt gehen wollte auf längere Zeit, und er hatte das Bedürfnis, wie
wenn er vor einem großen Lebensabschnitt stünde, noch einmal die Stätte
und die Menschen zu sehen, mit denen er daheim bekannt und erwachsen
war.

Er machte zuvörderst seinen Besuch auf der Pfarre; der alte, liebe
Pfarrer empfing ihn herzlich und gütig; er freute sich, ihn so
in Ehren und Ansehen zu wissen, und vermied dabei, über seine
Familienbeziehungen zu sprechen, weil er ihn von früher her kannte. Als
die Rede auf das Konzil kam, sagte er:

»Glauben Sie, daß man die Unfehlbarkeit zum Glaubenssatze erheben wird?«

»Ich hoffe zu Gott, daß es nicht geschieht,« erwiderte Frohwalt --
»und hege diese Zuversicht um so mehr, als die eben jetzt in Fulda
versammelten deutschen Kirchenfürsten an die Katholiken Deutschlands in
diesen Tagen eine Ansprache erlassen haben, die kurz betonte: Man solle
ruhig sein und Gott vertrauen; es werde keine neue Lehre aufgestellt
werden.«

Der alte Priester schüttelte das weiße Haupt:

»Ich bin ein einfacher Landpfarrer und rühme mich keiner theologischen
Gelehrsamkeit, aber ich meine, es hätte richtiger gesagt werden
müssen: die Unfehlbarkeit ist keine neue Lehre oder: sie wird nicht
aufgestellt werden. -- Na, ich füge mich allem: Wenn der Herr
Kardinal-Fürst-Erzbischof sie als Glaubenslehre annimmt, thue ich es
auch, selbst wenn ich es für keinen Segen halten könnte. Ich bin ein
alter Mann und möchte keine äußere und innere Unruhe haben.«

Frohwalt ging einigermaßen verstimmt von dannen und suchte, da es der
Anstand einmal verlangte, den Kaplan auf. Der war verbittert nach allen
Beziehungen. Er schwur auf die Unfehlbarkeit des Papstes und beklagte
es, daß man daran überhaupt noch zweifeln könne; für ihn brauche es
kaum noch einen ausgesprochenen Lehrsatz: der Papst als Statthalter und
Stellvertreter Christi auf Erden müsse unfehlbar sein. Frohwalt hielt
es nicht der Mühe wert, mit dem Eiferer, der nicht ernst zu nehmen war,
über die Sache sich zu unterhalten, und jener sprang auf anderes über.
Er beklagte die allzu große Duldung des Pfarrers, der es zuzuschreiben
wäre, daß der Protestantismus in der Stadt an Boden gewinne; seit
Freidanks Uebertritt bestehe bereits eine kleine ketzerische Gemeinde
hier, und er beklage besonders tief, daß die Schwester eines
katholischen Priesters dazu gehöre.

»Hier hat meine Macht eine Grenze, Hochwürden,« sagte ihm Frohwalt,
»und ich bin nicht im Stande, meine Schwester bedingungslos zu
verdammen, wenn ich auch niemals ihren Schritt billigen werde. Ob die
Duldung des alten Herrn das Anwachsen des Protestantismus allein zu
verantworten hat, möchte ich dahingestellt sein lassen, denn sie ist
auch nicht die Veranlassung zum Abfall Freidanks gewesen.«

Der Kaplan sah den Sprecher mit verwunderten und beinahe zornigen Augen
an; seine Aeußerungen waren von solchem finstern Glaubenseifer und so
bitterer Gehässigkeit gegen die Andersgläubigen erfüllt, daß Frohwalt
davor einen gelinden Schauer empfand. Nein, das war kein Jünger des
Herrn! Man durfte die evangelische Sekte bekämpfen, ihre Anhänger
bannen, aber man durfte sie nicht wie einen Abschaum der Menschheit
behandeln. So war Marie nicht, wie dieser Pater Ignaz die Evangelischen
schilderte!

Er war froh, als er die Pfarrei im Rücken hatte, dort herrschte ein
unbehaglicher, finsterer Geist, und wehe dem Städtchen, wenn der
Kaplan hier jemals Pfarrer werden sollte. Es drängte ihn, zum Vetter
Martin zu gehen, mit dessen Anschauungen er zwar auch nicht durchaus
einverstanden war, der aber mit einem warmen, guten Herzen durch
die Welt ging, niemandem wehe that und Freude verbreitete, wo er
nur konnte. Er dachte an jenen Nachmittag in Prag, an dem der alte
Nedamitzer Pfarrer vielleicht zum letzten Mal einen Hauch des Glückes
empfunden hatte, das ihm verschafft war durch Vetter Martin, während er
selbst mit seiner zornigen Härte, mit seiner kalten Moral vielleicht
den alten Priester in Verzweiflung und Tod gebracht hatte. Er fühlte,
daß er um deswillen schon manches gut zu machen hatte.

Vetter Martin war nicht allein; Frohwalt fand zu seinem Staunen bei ihm
keinen anderen als Hans Stahl, der in »der Bibliothek« bei dem Alten
saß mit einem recht zerknirschten Gesichte, in welches nun beim Anblick
des neuen Besuchers ein unverkennbarer Zug von Verlegenheit trat. Der
alte Herr war aufgestanden und begrüßte den Adjunkten freundlich:

»I, sieh mal, das ist hübsch, daß Du vor Deiner Romfahrt erst noch
einmal nach Hause kommst und sogar bei mir vorsprichst, obwohl Du Dir
denken kannst, daß ich auf die Unfehlbarkeit nicht gut zu sprechen bin.«

Hans Stahl wollte sich entfernen, Martin aber hielt ihn zurück:

»Bleiben Sie nur da -- Sie kennen sich ja Beide -- und ich vermute, daß
der Doktor Frohwalt auch weiß, was Ihnen in Prag passiert ist.«

»Ich entsinne mich, von der unliebsamen Geschichte gehört zu haben,
daß man Sie wegen öffentlicher Ruhestörung und Herausforderung zum
Zweikampf zu Gefängnishaft verurteilt hatte,« sprach Frohwalt ziemlich
kühl; Hans Stahl aber saß da wie ein armer Sünder. Dem Vetter Martin
that der frische Junge leid, und er sagte:

»Na, die Geschichte ist vorbei, und er ist Dank der Verwendung des
Professors Holbert ziemlich glimpflich weggekommen, aber nun sitzt das
Unglückswurm hier und bläst mir seine Trübsal vor. Da hat das Herz und
der junge Hitzkopf Ihnen eben einen dummen Streich gespielt, lieber
Hans, und was Sie sich eingebrockt haben, müssen Sie ausessen. Ich
hatte nämlich -- wandte sich der alte Herr zu Frohwalt -- bei seinem
Vater durchgesetzt, daß er die Theologie mit der Malerei vertauschen
dürfe, und wir hatten beide die schönsten Hoffnungen, daß er einmal
ein kleiner Raffael werde, da passiert die Geschichte. Und nun will
der Vater nichts mehr von der Künstlerlaufbahn wissen, sie mache zu
Ausschreitungen geneigt und was dergleichen mehr ist; er soll ins
Geschäft eintreten und Kaufmann werden. Viel Talent scheinen Sie mir
dazu nicht zu haben, aber es ist nichts dagegen zu machen, und mein
Rat, den Sie haben wollen und weshalb Sie eigens hierher gereist sind,
ist der: Sie folgen fürs erste Ihrem Vater, bemühen sich, möglichst
tüchtig in seinem Kontor zu sein, und malen nur des Sonntags zu Ihrem
Vergnügen. Na, Kopf hoch, die Sache ist doch nicht so schlimm, und
wenn's wirklich bei allem guten Willen gar nicht geht, so können Sie
auf mich zählen.«

Hans Stahl nickte noch immer recht trübselig mit dem Kopfe, dankte
schön für den guten Rat und den erhaltenen Trost und ging.

»Er ist ein Windhund!« sagte Frohwalt hinter ihm.

»Aber nicht die schlechteste Rasse,« erwiderte der Alte; »den geb' ich
nicht auf, und wär' alles vielleicht besser geworden, wenn er nicht mit
der Theologie erst kopfscheu geworden wäre ...«

Der »Windhund« aber schlich draußen recht langsam durch die Gassen des
Städtchens; er befand sich im Zustande moralischen Katzenjammers. Er
sah sich bereits im Kontor seines Vaters auf dem Drehstuhl, trockene
Geschäftsbriefe abschreibend und unerquickliche Zahlen schreibend, und
in seiner Seele tauchten mitunter die abenteuerlichsten Gedanken auf.
So ging er langsam fürbaß, ohne aufzublicken, bis ihn mit einmal eine
Stimme aus seinem Sinnen weckte:

»Guten Tag, Herr Stahl, was führt Sie hierher?«

Der Angeredete schrak beinahe zusammen, blickte auf, und sah vor sich
einen jungen Kapuziner stehen:

»Pater Severin! Sind Sie nicht mehr in Prag?«

Die Hände lagen fest in einander, und Hans Stahl schüttelte wie mit
einem Ruck alles ab, was ihn quälte und bedrängte; er war wieder der
Alte, der das Leben mit Humor und Drang nach frischem Genusse erfaßt.

»Das ist ja wunderhübsch daß ich Ihnen auf dieser Scholle begegne, in
diesem kleinen, lieblichen Neste. Ich suche nämlich Menschen, und Sie
sind wirklich der zweite, welchen ich hier finde. Dafür werden Sie mich
auch heute nicht mehr los. Haben Sie Ihren Nachmittag frei?«

»Ich muß allerdings in einer unaufschiebbaren Sache nach Oberdorf zu
meinen Eltern, aber wenn Sie mich dahin begleiten wollen, soll's mich
freuen; es ist ein Weg von etwa fünfviertel Stunden.«

»Wenn ich Ihnen nicht lästig bin -- --«

»Gott bewahre --«

»Abgemacht! Ich gehe jetzt, um für meinen Leib eine Atzung zu suchen,
und bin nach Tische bei Ihnen -- mich gelüstet's, wieder einmal einige
Minuten in einer Mönchszelle zu sitzen.«

So gingen sie für's Erste auseinander, aber nachmittags stellte sich
Hans Stahl pünktlich in dem Klösterchen ein. Er fand Severin im Garten
zwischen blühenden Georginen und Astern hinschweifend, aber dieser
führte ihn sogleich nach seinem kleinen, aber freundlichen Gelaß. Stahl
setzte sich auf den Stuhl beim Fenster und ließ seinen Blick die
kühlen, weißgetünchten Wände entlang schweifen; dann sprach er:

»Wissen Sie, Ihre Zelle ist noch weitaus gemütlicher, als eine solche
im Prager k. k. Landesgericht.«

»Das können Sie unmöglich beurteilen,« sagte lächelnd der Kapuziner,
aber sein Besucher erwiderte:

»Na, ich dächte doch! Oder sollten Sie nichts davon ahnen, daß
Sie einen entlassenen Sträfling beherbergen, der eben erst wieder
die Fittiche dehnt ... na, erschrecken Sie nicht so, Mann Gottes;
erschlagen hab' ich keinen, aber nahe dran war ich. Also sie wissen
wirklich nichts? Na, Gott sei Dank, daß es noch solche Menschen giebt,
das verleiht mir ordentlich ein Selbstbewußtsein. Dafür will ich Ihnen
auch eine Generalbeichte ablegen und hoffe, daß Sie mich absolvieren.«

Und nun erzählte er ehrlich die Geschichte seiner Liebe und seines
Hasses, und beachtete es gar nicht, wie einmal, da er von der ersteren
redete, ein fahler Schein über das Antlitz des jungen Mönches lief,
und wie seine Brust sich einmal rascher hob zu einem unbezwinglichen
Seufzer.

»So, nun wissen Sie alles, Sie Glücklicher, der keine solchen
Anfechtungen hat und nicht daran zu denken braucht, wie man einen
Nebenbuhler beseitigt!«

Severin nickte einigemale unbewußt mit dem Haupte und das Lächeln, das
über sein Gesicht ging, erinnerte an müdes Abendlicht der scheidenden
Sonne.

»Ja, ja ... aber sagen Sie, haben Sie denn wirklich Therese Holbert so
lieb gehabt?«

»_Gehabt?_ Freund, ich habe sie noch lieb und werde sie in alle
Ewigkeit so lieb haben, ob Sie mir's glauben oder nicht!«

Der junge Kapuziner mochte das wohl glauben, denn die Worte klangen
ihm in der eigenen Seele nach, und es wurde ihm in diesem Augenblicke
wieder so schmerzlich zu Sinne, wie nur jemals in seinem jungen Leben.
Aber er sah an seinem härenen braunen Gewande hinab, dann in das
Gesicht des prächtigen, blühenden Burschen vor ihm, der gleichfalls
entsagen mußte, und sprach:

»Wissen Sie denn, daß ~Dr.~ Haller hier als praktischer Arzt lebt?«

»Hier?«

Stahl sprang heftig von seinem Sitze.

»Hier? -- Und Therese ist auch hier?«

»Gewiß, ich habe sie beide ehelich verbunden!«

»_Sie?_ -- Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut, das ist ja ein Akt
einer höllischen Boshaftigkeit, den Sie auch einem andern hätten
überlassen können.«

Severin lächelte wiederum müde -- wie gern er das einem andern
überlassen hätte!

»Natürlich haben Sie die Verbindung so dauerhaft als möglich gemacht.
Herr Gott, hätten Sie denn nicht einen geistlichen Vorbehalt einfügen
können, so daß Therese eines schönen Tages, wenn Sie unglücklich wird
-- und ich sage Ihnen, sie wird's -- wieder frei werden könnte! --
Aber thun Sie mir den Gefallen, führen Sie mich an dem Hause vorüber,
in welchem sie wohnt; ich will ja sie selbst nicht schauen, nur ihre
Fenster. Und jetzt lassen Sie uns gehen, mir wird's mit einmal zu enge
hier in Ihren vier Wänden!«

Sie brachen auf und gingen langsam, schweigend, jeder mit seinen
eigenen Gedanken beschäftigt, durch die stillen Gassen. In der Nähe des
alten Thores, in anmutiger Lage, stand ein freundliches Haus; hinter
den spiegelnden Fenstern und vor den weißen Gardinen standen blühende
Blumen. Hier zeigte Severin empor und Stahl verstand ihn. Seine Augen
flammten heller auf, sie bohrten sich unverwandt gegen die spiegelnden
Scheiben, als wollten sie hindurch schauen, ob sie nicht dahinter
einem lieben, geliebten Antlitz begegneten, aber alles war vergebens.
Severins Atem ging rascher, aber seine Augen hafteten am Boden, und
er hob sie erst wieder frei, als er mit seinem Begleiter das alte Thor
passiert hatte und auf der Straße hin schritt, die langsam die Höhe
hinan lenkte.

Es war ein schöner Herbsttag; das Laub an den Obstbäumen, sowie jenes
in dem aus der Niederung hergrüßenden Walde färbte sich und die Luft
war durchsichtig klar, so daß nach allen Seiten hin freundliche
Landschaftsbilder sich aufthaten. In Hans Stahl erwachte der Künstler,
so daß er einigermaßen das andere vergaß, und langsam ausschreitend in
seiner gewohnten, harmlos heiteren Weise plauderte.

So langten sie endlich in dem hoch und hübsch gelegenen Oberdorf an.
Severin lud den Gefährten ein, ihn zu seinen Eltern zu begleiten;
dieser aber wollte bei Erörterung einer Familienangelegenheit -- und
daß es sich um eine solche handle, wußte er aus den Mitteilungen des
jungen Mönchs -- nicht stören. Er gedachte nach dem Gasthause zu
gehen, dessen freundlicher und hochgelegener Garten einladend von fern
ihm winkte, und dort auf Severin zu warten, um mit ihm den Rückweg
anzutreten, und so that er auch trotz allen Zuredens des andern.

Er betrat den Garten und war erstaunt, einen derartigen auf dem Dorfe
zu finden. Hier waren nicht bloß alte Bäume, Kastanien und Linden, von
denen erstere freilich schon einigermaßen entlaubt waren, sondern auch
schöne Blumenbeete im Schmuck des Herbstes, ein kleiner Springbrunnen,
der seinen silbernen Strahl klingend in ein von Goldfischen belebtes
Bassin fallen ließ, und einige hübsche Lauben. Er setzte sich in der
Nähe eines Gebüsches nieder, das den Blick auf den Eingang einerseits,
den Auslug in das Land andererseits freigab, ihn selbst aber den
Blicken anderer Gäste beinahe völlig entzog und bestellte sich einen
guten Trunk.

Es war still, so daß man das Fallen eines welken Blattes vernehmen
konnte, aber schon nach wenigen Sekunden ward die Ruhe unterbrochen
durch ein nicht zu verkennendes Geräusch -- das Aufschlagen von
Kartenblättern auf einem Tische, und Stahl lugte durch das Buschwerk
und bemerkte auch jetzt unfern von sich an einem Tische drei Herren,
die sich am Spiel ergötzten, und -- wie einige geleerte Weinflaschen
zeigten -- auch einen guten Tropfen nicht verschmähten. Von zweien sah
er die Gesichter, die gerötet schienen vor Erregung oder von Wein, der
Dritte aber kehrte ihm den Rücken zu, und doch schrak Stahl bei seinem
Anblick zusammen: Das konnte kein anderer als Haller sein.

Als der Wirt kam, ihm das Verlangte zu überbringen, frug er diesen nach
den Herren, und der erwiderte halblaut und in redseliger Manier:

»Der mit dem runden Hut und der roten Nase ist der Baron Nedam, der
eine halbe Stunde von hier ein Gut hat, der andere, der die Karten
hält, ist ein Ziegeleibesitzer, ein reicher Herr, und der Dritte ist
der ~Dr.~ Haller aus der Stadt, ein junger Lebemann, der eine sehr
hübsche Frau haben soll, aber mir scheint, sich wenig um sie kümmert.
Die drei können etwas leisten im Trunk, und das Spiel geht auch
manchmal höher als es soll -- aber darüber will ich nicht reden -- --«

Einer von den Dreien schlug an seine leere Flasche, und der Wirt sprang
auf:

»Schon wieder leer -- entschuldigen Sie!«

Stahl saß da mit brennenden, lauernden Augen wie ein Raubtier, und
hätte sich am liebsten vorgestürzt gegen den Verhaßten; der Tropfen in
seinem Glase schmeckte ihm bitter, aber er hätte jetzt nicht fortgehen
mögen um alles in der Welt.

Er hörte Haller sprechen -- frivol und zotenhaft, und die andern
lachten, während der Horcher die Zähne gegeneinander preßte, er sah ihn
trinken, richtiger, ein Glas um das andere hinunterstürzen, und dabei
zog er immer aufs neue die Börse -- er spielte offenbar mit Verlust.

»Ja -- Glück in der Liebe, Herr Doktor!« lachte der Ziegeleibesitzer.
-- »Ich dächte, wir hörten für heute auf, Ihr Frauchen wird
schelten, wenn Sie so spät zu Tische kommen, Sie sind ja noch in den
Flitterwochen!«

»Ach, das hat sich ausgeflittert -- und unter dem Pantoffel stehe ich
nicht,« lallte Haller -- »überdies müßt Ihr mir Revanche geben, nachdem
Ihr mich ausgezogen habt.«

»Das nächste Mal, lieber Haller,« sprach der Baron.

»Nein, heute, heute -- das wäre mir eine feine Art,« schrie der Doktor.

Jetzt trat der Wirt mit einem kleinen Mädchen zu dem Tisch heran und
sagte:

»Mit Verlaub, Herr Doktor, die Kleine sucht Sie, der Müller im
Malschthal hat sich mit der Sense arg am Bein verletzt, ob Sie nicht
kommen wollten, es blutet sehr.«

»Bindet die Geschichte zu! Der Müller kann schon ein wenig Blut lassen,
ich hab' jetzt keine Zeit, komme später -- vorwärts, ihr Herrn!«

»Na, Doktor, ich dächte doch, Sie sähen nach dem Manne; wenn die Leute
erst schicken, muß es schlimm sein!«

»Ach, davon verstehen Sie den Teufel! Wer giebt Karten?«

»Ich spiele heute nicht mehr!« sagte der andere.

»Das ist Bauernmanier!« schrie Haller, der Baron aber erwiderte kalt:

»Werden Sie erst nüchtern, ehe Sie mit anständigen Leuten weiter
verkehren!«

Er erhob sich, auch der Doktor sprang auf, schlug auf den Tisch, daß
die Weinflaschen klirrten und klangen und brüllte:

»Von Euerm Anstand ist wenig zu lernen, Ihr Landdragoner, Ihr
Bauernfänger -- --«

Der Ziegeleibesitzer lachte; der Baron aber, welcher gleichfalls sehr
betrunken war, verlor den Rest seiner Ruhe:

»Sie sind ein betrunkener Lump; Sie gehören zu Ihren Patienten und zu
Ihrem Weibe, aber die Einen bringen Sie um, und das Andere sind Sie
nicht wert!«

[Illustration: ~Dr.~ Haller ergriff die Flasche und schleuderte sie
nach dem Kopfe des Barons ... (S. 221).]

Haller ergriff seine Flasche und schleuderte sie nach dem Kopfe des
Barons, welcher geschickt auswich und dann dem Wirte sagte:

»Huber, laßt Euren Hausknecht kommen und den Menschen hinauswerfen --
sonst setze ich keinen Fuß mehr zu Euch!«

»Ach, Herr Doktor, wollen Sie nicht nach dem Malschthalmüller sehen
-- bitte, lieber Herr Doktor,« sagte der Wirt flehend und in höchster
Verlegenheit; der Doktor aber, welcher sich jetzt gegen den Baron
stürzen wollte, brach bei dem Stuhle lallend zusammen.

Verächtlich drehte sich sein Gegner um, zu dem Wirte sagte er:
»Laßt das Schw... liegen, bis der Rausch vorüber ist« -- und zu dem
Ziegelbrenner: »Kommen Sie, Lederer!« Die beiden bezahlten ihre Zeche
und entfernten sich, den Trunkenen aber hob der Wirt auf eine Bank und
lehnte ihn in eine Ecke -- er schien dessen Zustand bereits zu kennen;
dort lallte dieser noch einige unverständliche Worte, dann sank ihm das
Haupt auf die Brust.

Hans Stahl schüttelte es vor Ekel und Wut; er konnte es kaum erwarten,
bis Severin kam. Mit dem früh hereinbrechenden Herbstabend erschien
er, und er erschrak beinahe über das Aussehen Stahls. Der faßte mit
seiner feuchten kalten Hand nach der Rechten des Mönchs und führte ihn
schweigend vor den Trunkenen. Der lag da, den Kopf zurückgebeugt auf
die Lehne der Holzbank, das Gesicht fahl, die Haare wirr in die Stirn
hängend, mit stumpfem, blödem Ausdruck.

»Das ist der Mann von Therese Holbert! Kommen Sie, Severin, damit ich
die Bestie nicht im Schlafe erwürge; ich kämpfe schon lange genug mit
mir!«

Er zog den Kapuziner mit sich fort; schweigend gingen sie durch den
Abend, der seinen Schleier über das Thal auszubreiten begann, und als
sie das Städtlein unter sich liegen sahen, schimmerten schon einzelne
Lichter herauf. Da sie bei Hallers Wohnung wieder vorüberkamen, blickte
Stahl empor, seine Linke preßte er heftig gegen das Herz, und Severin
hörte ihn murmeln: »Armes junges Weib!«

Er ging mit dem Kapuziner bis an das Klösterchen; hier beim Abschied
ergriff er dessen Hand und hielt sie fest:

»Severin -- das unselige junge Weib hat hier keinen Freund, sehen Sie
zu, was Sie ihr an Trost geben können! Sie kennen sie ja auch und
wissen, daß sie Besseres wert war, als an diesen Menschen geschmiedet
zu werden. Machen Sie's wieder gut, daß Sie die Beiden zusammengegeben
haben. Und nun versprechen Sie mir, daß Sie mir schreiben wollen, wenn
das Vieh ihr auch nur ein Haar krümmt -- ich komme und wenn ich auf dem
Sirius wär', und wenn ich ihn zum zweiten Male angreife, kommt er nicht
lebendig davon!«

Den jungen Mönch überlief ein Schauer.

»Versprechen Sie mir's!«

»Ich werde ihr beizustehen suchen, wenn's notthut -- und sollt' es mein
Herzblut kosten!« sprach Severin, und seine Stimme zitterte, sowie
seine Hand.

Stahl ließ diese plötzlich los; er sah dem jungen Mönche in das bleiche
Gesicht, in die verschleierten Augen -- und wie er ihn so anschaute
beim blassen Mondlicht, das sich auf seine Züge legte und ihm den
zuckenden Mund zeigte, da erschrak er beinahe.

»Severin, auch Sie lieben Therese ...«

»Verzeih' mir's Gott!« stammelte der Mönch.

»Severin!« schrie Stahl auf -- und dann hielten sich die Beiden einen
Augenblick fest umschlungen -- sie wußten, daß sie verbündet waren
durch ihre Entsagung.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Zwölftes Kapitel.


Rom!

Es liegt ein seltsamer Zauber um die sieben Hügel, der das Herz
ergreift, und die Seele erhebt. Stadt der Cäsaren, die den Vollglanz
einer alten, bis in die fernsten Zeiten nachwirkenden Kultur schaute,
um deren gewaltige Trümmerreste und Gräbermale der Hauch einer großen
Geschichte wittert -- Stadt, in der die Kunst des Mittelalters
ihre wunderbaren Tempel und Paläste baute, in der die größten
Genien unvergänglich schufen, so daß das schönheitsdürstende Gemüt
andachtsvoll zu ihren Schöpfungen wallt, und junge Künstlergeschlechter
sich Begeisterung trinken an dem ewig frischen Brunnen -- Stadt, in
welcher der glaubensstarke Katholik den Mittelpunkt religiösen Lebens
sieht, wo der Statthalter Gottes auf Erden thront in seiner Majestät
und Würde, und von welcher Segen Und Fluch ausgegangen ist Jahrhunderte
hindurch über Völker und Könige -- ewige Stadt, dir giebt es keine
vergleichbar!

Wer auf dich niederschaut von der Höhe des Monte Pincio, dem prägt sich
dein Bild unverwischbar in die Seele, und er braucht nicht aus der
Fontana Trevi getrunken zu haben, um die ewige Sehnsucht nach dir im
Herzen zu tragen. Wer aus dem Grün der Laubengänge des alten »~collis
hortorum~« auf die Terrasse hinaustritt an einem schönen Abend, wenn
es belebt wird in den Schattengängen, und wenn leise verhallend die
Musik der Militärkapelle von der Passeggiata herklingt, der hat die
Stadt in ihrem ganzen Reize und bei voller Stimmung unter sich. Ueber
die Piazza del Popolo hinweg schweift der Blick hinüber auf das andere
Ufer des Flusses, dessen Gewässer hier nicht sichtbar wird, nach dem
herrlichen Juwel der Papststadt, der gewaltigen Kuppel von St. Peter,
die machtvoll hinausragt über die von Grün umwobenen Paläste und
Bauwerke des Vatikans, während mehr zur Linken das massive Bauwerk der
alten ~Moles Hadriani~, der Engelsburg, sich erhebt, deren ehernes
Engelsbild vom letzten Sonnenschein übergossen wird. Und das trunkene
Auge schweift weiter bis an die blauende Hügelkette, welche den
Horizont begrenzt und deren Cypressen- und Pinienwäldchen sich deutlich
von letzterem abheben.

Und wenn Du hineinschaust in die Stadt am linken Ufer des Flusses,
da will der Anblick Dich fast verwirren und betäuben. Es ist eine
erdrückende Fülle von Häusern, dazwischen ragende Paläste und zahllose
Türme und Kuppeln, wie heiliger Sinn und weltliche Kunst sie neben
einander gebaut haben. Und Gegenwart und Vergangenheit so nahe an
einander gerückt! Ueber Kirchen und Gassen, über die Bauwerke und
Gärten des königlichen Quirinals schweift das Auge suchend weiter gegen
Süden, wo auf dem alten Capitol hinter dem Kloster Aracoeli sich die
Trümmerreste der Cäsarenzeit erheben und vor dem Palazzo Caffarelli die
Säule Marc Aurels auf der Piazza Colonna sichtbar wird.

Die Sonne war gesunken und vom Pincio herab nach der Piazza del Popolo
schritt langsam ein behäbiger Herr in der Mitte der fünfziger Jahre.
Er trug einen langen, dunklen Rock, auf dem Haupte einen breitrandigen
Hut, wie ein Abbate, und an den kräftigen Beinen violettseidene
Strümpfe. Die Füße staken in Schuhen, deren Silberschnallen hell
blinkten. Es war ein kirchlicher Würdenträger, das sah man an
der ganzen Erscheinung. Das glattrasierte Gesicht, das infolge des
kurzgeschorenen Haares noch voller erschien, hatte ein gutmütiges
Gepräge, und die kleinen dunklen Augen, welche unter den dicken Lidern
lagen, schauten recht verständig in die Welt.

Der Mann kannte das Bild der ewigen Stadt vom Monte Pincio aus
genugsam, war er ja ein Kind Roms, und doch ging er immer wieder hinauf
in die herrlichen Gärten der Villa Medici und konnte nicht scheiden,
ohne von der Terrasse noch einmal herabgeschaut zu haben auf seine
geliebte Stadt. Der Abend war ungewöhnlich warm und der geistliche
Herr nahm den breitrandigen Hut ab und wischte sich mit einem seidenen
Taschentuche im Weiterschreiten die Stirne. Er schritt langsam vorüber
an dem Obelisk, den Kaiser Augustus einst aus Heliopolis gebracht und
Papst Sixtus V. hier aufgestellt hatte und bog dann in die schnurgerade
lange Via di Ripetta ein. Bei San Agostino wandte er sich nach rechts
in das Gewirr kleiner Gassen und Gäßchen, die jetzt minder belebt waren
und schlug augenscheinlich die Richtung nach der Via del Governo ein.

Die Leute, welchen er begegnete, grüßten ihn vielfach sehr ehrfürchtig,
und ein ehrsamer Handwerker, der neben einem Fremden vor seiner
Hausthür stand, sagte zu diesem, als der Priester mit den violetten
Strümpfen vorüber gegangen:

»Das ist der Monsignore _Parelli_, der das prächtige Haus in der Via
del Governo hat; ein braver und reicher Herr, der auch bei mir arbeiten
läßt. Er ist auch immer mit mir zufrieden gewesen, und ich hoffe,
Signore, daß Sie es auch sein werden. Ja, er ist Bischof.«

»Bischof?« fragte der andere -- -- »wohl ~in partibus~?«

»Was ist das?« fragte der Handwerker.

»Nun, ich meine, er hat keine eigentliche Diözese zu verwalten, sondern
führt den Titel von einem Gebiete, das zur Zeit noch in den Händen von
Ungläubigen ist, deshalb ~in partibus infidelium~.«

»Da mögen Sie recht haben -- ich habe seine Unterschrift gesehen, da
stand Bischof ~i. p.~ von Mikrun. Mikrun ist meines Wissens nicht in
Italien.«

»Das liegt vielleicht in Asien oder Afrika. -- Nun, Gott befohlen,
Meister!«

»~Felice notte Signore!~«

Der Fremde ging und sah den Bischof noch eine kleine Weile unfern vor
sich hinwandern, dann entschwand er ihm um eine Ecke. Der Bischof war
in eine schmale Via eingebogen und ging immer langsamen Schrittes
weiter. Die Dämmerung war langsam in die Gassen gesunken, da bemerkte
er in einem Winkel, der von einem Hausvorsprung gebildet wurde, eine
zusammengekauerte Gestalt und hörte ein Schluchzen.

Er trat näher und sah einen etwa dreizehn- bis vierzehnjährigen Jungen.
Die nackten braunen Beine hatte er an den Leib gezogen, seine Kleidung
bestand aus verschlissenen Kniehosen und einer schäbigen Sammtjacke,
auf dem Kopfe trug er weit zurück geschoben einen zerknitterten alten
Filzhut, unter welchem dunkle Locken hervorquollen; die gebräunten
Hände aber lagen über dem Gesicht.

»Was fehlt dir, mein Junge?« fragte der Prälat, indem er teilnahmsvoll
näher trat, und der Bursche ließ die Hände sinken und blickte auf. Er
hatte ein prächtiges Gesicht mit dunklen, großen Augen, die er nun
ehrlich und befangen auf den vornehmen Priester heftete. Dann sprang er
auf und sagte:

»Ich habe heute noch nichts gegessen -- ach, Monsignore, haben Sie
keine Arbeit für mich?«

Den Bischof ergriff Mitleid mit dem Burschen, dessen Worte so
ungeschminkt klangen, und der nun, ohne Unterwürfigkeit zu zeigen,
oder wie es sonst vielleicht geschehen wäre, ohne nach seiner Hand zu
fassen, um sie zu küssen, vor ihm stand; er sagte darum:

»Komm mit mir, ich will Dir zu essen und zu arbeiten geben!«

Da leuchteten die dunklen Augen des Burschen auf, er stammelte einige
abgerissene Dankesworte und ging nun neben dem Prälaten her, der ihn
nach seinen Familienverhältnissen befragte. Der Knabe antwortete
bescheiden, aber mit ruhiger Sicherheit. Er hieß _Sisto Brenta_ und
war der Sohn armer Leute in der Campagna. Sein Vater war schon lange
tot, die Mutter vor zwei Tagen begraben worden. Verwandte, die ihn
aufnähmen, hatte er nicht, und so war er in die große Stadt gegangen.
Er bettelte nicht um Brot, sondern um irgend eine Arbeit, aber den
ganzen Tag hatte er sich in den Gassen herumgetrieben, war von Haus zu
Haus gegangen, aber er fand nicht, was er suchte. Nun war er hungernd
und verzweifelnd in einem Winkel zusammengesunken, wo er auch hatte
übernachten wollen. Den heiligen Sixtus, seinen Patron, hatte er noch
angerufen, dann aber war der Jammer über ihn gekommen, und so hatte ihn
Parelli gefunden.

Das erzählte Sisto, und der Prälat hatte mit unverkennbarem Wohlwollen
die schlichten Mitteilungen angehört, und war während derselben mit
seinem jungen Begleiter auf eine breite, belebte Straße gekommen. Vor
einem großen Gebäude stand er still und sagte:

»Hier sind wir zu Hause, komm!«

Der Knabe starrte ihn verwundert mit seinen großen Augen an, dann
folgte er ihm nach wie ein Hund. Ueber teppichbelegte Treppen,
zwischen Marmorsäulen stiegen sie empor nach der Beletage, wo ein
galonnierter Diener respektvoll den Bischof grüßte und mit Befremden
den Betteljungen ansah, der hinter ihm dreinschritt. Durch einige
prachtvoll eingerichtete Gemächer mit Bildsäulen und Gemälden waren
sie gegangen, in welchen der barfüßige Bursche aus der Campagna mit
großen, staunenden Augen flüchtige Umschau hielt, als ihnen aus einem
Seitengemache eine Dame in dunklem Seidengewande entgegentrat und
befremdet nach dem Begleiter des Prälaten schaute. Sie mochte ungefähr
vierzig Jahre alt sein, und war stolz und schön.

»Signora _Lucia_, der Bursche hat Hunger und sucht Arbeit! Haben Sie
die Güte, sich seiner anzunehmen und ihm für heute zunächst ein Obdach
zu schaffen, morgen wollen wir sehen, was wir weiter mit ihm anfangen,«
sprach Parelli.

Um den schönen Mund der Dame zuckte es einigermaßen spöttisch, da sie
erwiderte:

»Da hat wohl Ihr gutes Herz wieder zu laut geredet. Nun, ich will
den Burschen Giovanni übergeben, daß er vor allem ihn sich reinigen
läßt -- --«

»Nein, nein -- vor allem muß er zu essen bekommen, er hungert heute den
ganzen Tag!«

»Das hat er Ihnen wohl gesagt?«

Aus den Augen des Knaben blitzte es beinahe zornig.

»Ich lüge nicht!« sagte er beinahe heftig, und dann duckte er wie
erschrocken vor dem Worte zusammen und sprach bittend zu dem Prälaten
gewendet: »Verzeihung, Monsignore!«

Dieser hatte die Glocke gezogen, und als der Diener fast unmittelbar
darnach eintrat, übergab er ihm den Knaben und band ihm auf die Seele,
in bester Weise für Nahrung und Obdach zu sorgen. Da küßte ihm der
braune Junge die Hand, sah ihn noch einmal an mit einem unbeschreiblich
tiefen Blick des Dankes, und dann folgte er dem Diener.

»Ich hoffe, daß der Bursche mit seinem frechen Wesen sich nicht etwa
hier einnistet,« sagte nun die Dame, und Parelli, der einigermaßen
verlegen schien, sprach freundlich, indem er begütigend seinen Arm
leicht um ihre Taille legte:

»Aber, teure Lucia, wenn der Junge Unterstützung braucht und ihrer
wert ist ... Ich denke, daß ihn der Himmel mir in den Weg geführt hat.
Lassen wir ihn erst einmal einige Tage hier, und sehen wir zu, wie er
sich anstellt -- Du hast doch sonst ein so gutes Herz!«

Sie lächelte seltsam und schwieg; dann schritten sie gemeinsam nach
dem Speisezimmer, wo bereits der Tisch gedeckt war und wo sie zusammen
Platz nahmen an demselben. Die Dame war ja -- und die Diener wußten es
nicht anders -- eine ziemlich nahe Verwandte des Prälaten und hatte das
Recht, an seinem Tische zu sitzen und in seinem Hause zu repräsentieren.

Am andern Morgen dachte Parelli sogleich seines Schützlings und
erkundigte sich nach demselben. Sisto hatte im Fluge sich bereits
die Gunst der Dienerschaft gewonnen durch freiwillige und geschickte
Hilfeleistungen und durch sein ganzes munteres Wesen. Giovanni, der
Kammerdiener, hatte ihm einen besseren Anzug verschafft, und als er
so, mit sauberem Hemd unter der blauen Tuchjacke, mit bunten Strümpfen
und Schuhen vor den Prälaten hintrat, war dieser erstaunt über den
bildhübschen Burschen, der ihm ehrfurchtsvoll und dankbar die Hand
küßte, und er fragte ihn:

»Willst Du bei mir bleiben, Sisto?«

In den prächtigen Augen des jungen Campagnolen leuchtete es auf in
glücklichem Glanze:

»Oh, gnädigster Herr -- Euch gehört mein Leben!« stammelte er. »Braucht
mich, zu was Ihr wollt; was ich nicht kann, werde ich lernen, ich will
ja nur arbeiten, und möcht' es am liebsten für Euch!«

»Nun gut, so magst du zuerst dem Gärtner helfen, und wenn es
Besorgungen giebt, sollst Du mein Läufer sein!«

Der Knabe nickte wortlos und aus seinen Augen stahlen sich einige
Thränen, welche auf die Hand des Prälaten niederfielen, als er sie
abermals küßte.

So war der Hirtenjunge aus der Campagna in das glänzende Haus des
Bischofs gekommen, und hatte hier nur einen Menschen, der ihm
nicht wohlwollte -- Signora Lucia. Sie wußte sich selbst nicht
Rechenschaft zu geben, weshalb ihr der Bursche nicht gefiel vom ersten
Augenblick an, da sie ihn gesehen hatte, und das Empfinden schien
auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Sisto wich der Dame möglichst aus,
zeigte sich aber auch ihr gegenüber dienstfertig, wenngleich ohne
Unterwürfigkeit. Der Prälat hätte ihn halten dürfen wie seinen Sklaven,
wenn aber Signora Lucia ihm eine Weisung in scharf befehlendem Tone
gab, schoß ihm eine heiße Blutwelle durch das braune Gesicht, ein Blitz
des Trotzes zuckte durch die Augen, er biß wohl auch die weißen Zähne
zusammen, aber er gehorchte.

Parelli gewann den Burschen täglich lieber, der hundert kleine Künste
verstand, mit prächtiger Stimme die Volkslieder der Campagna sang,
den Dudelsack mit wahrer Virtuosität spielte, und dem neben der
Lebenslust auch die Treue und Liebe zu seinem Herrn aus den Blicken
leuchtete. Bald durfte Sisto auch ungerufen bei ihm erscheinen, und
er fand eine gewisse Freude daran, den ungebildeten Jungen in Diesem
und Jenem zu unterrichten, zumal die Sorge für seine Diözese ihm viel
freie Zeit ließ. All das aber machte den Jungen bei Signora Lucia nur
noch verhaßter; man hätte an eine Art Eifersucht beider Dame glauben
können, und das erschien besonders begreiflich, da sie trotz ihres
großen Einflusses auf den Prälaten diesen doch nicht dazu zu bewegen
vermochte, daß er den Jungen aus dem Hause gab. Sisto war ihm anfangs
lieb geworden, wie eine Art von Spielzeug für müßige Stunden, später
aber fand er in dem aufgeweckten treuen Burschen mehr.

Auch Giovanni, der Kammerdiener, hätte Grund zur Eifersucht haben
können, wenn er nicht einerseits Sisto wirklich lieb gehabt, und
andererseits sich nicht gefreut hätte über die mannigfache Entlastung,
die er in seinem ohnehin nicht schweren Dienst durch den Burschen
erfuhr, und Giovanni war sehr bequem. So überließ er das Reinigen des
Arbeitszimmers seines Herrn gern dem jungen Gehilfen, und saß in der
für sich gewonnenen Zeit entweder in einem Schaukelstuhl oder in der
Küche bei der munteren Marietta, dem Küchenmädchen.

Nach Art der Landbevölkerung um Rom war Sisto fromm und bekreuzte sich
nicht nur vor jedem Heiligenbild, sondern hatte auch eine demütige
Verehrung für die unmittelbaren Diener der Kirche, die Priester, und
wenn er in dem Papste selbst die Verkörperung der Heiligkeit erblickte,
so ging ein Abglanz von derselben nach seiner Meinung auch auf jeden
über, der die heiligen Weihen empfangen hatte. Darum war ihm auch der
Bischof von Mikrun eine hoch über der gewöhnlichen Menschheit stehende
Persönlichkeit, zumal sein kindlicher und pietätvoller Sinn keine
Schwächen an ihm fand oder mindestens nicht an solche glauben mochte.

Eine ähnliche unterwürfige Verehrung brachte er auch den zahlreichen
geistlichen Besuchern entgegen, welche in das vornehme und gastfreie
Haus des Prälaten kamen, und mancher von jenen fand wiederum sein
Wohlgefallen an dem hübschen, demütig-frommen Jungen. Nur bei einem
machte Sisto eine Ausnahme, und dieser war der Jesuitenpater _Felice_.
Er war lang und hager mit einem blassen, scharfgeschnittenen Gesicht
und einem Paar stahlgrauer, scharfblickender Augen. Wenn er mit seinem
langsamen, fast lautlosen Schritt kam, verbarg sich der Knabe, wenn es
irgendwie anging, denn der dunkelgekleidete Mann mit dem breitrandigen
Hute war ihm beinahe unheimlich, trotzdem er ihm nie etwas gethan, im
Gegenteil immer freundlich mit ihm war.

Felice erschien sich der besonderen Gunst von Signora Lucia zu
erfreuen, die sich gern mit ihm unterhielt, deren Beichtiger er auch
war, so daß er infolgedessen wohl öfter als andere im Hause Parellis
verkehrte.

Das Unbehagen, welches Sisto beim Anblick des Jesuiten empfand, hatte
sich besonders gesteigert, seit er eines Morgens Gelegenheit gehabt
hatte, einen Teil eines Gesprächs anzuhören, das er zwar nicht recht
verstand, das ihm aber doch den Eindruck machte, als ob Felice einen
unheimlichen Zwang auf den Bischof ausübe. Er hatte im Garten hinter
einem Boskett gearbeitet, und die beiden Priester, welche zwischen den
grünen Gehegen dahingeschritten waren, blieben in unmittelbarer Nähe
derselben stehen, unbekümmert um den Knaben, welchen sie vielleicht
auch gar nicht bemerkt hatten.

»Ich halte einen solchen Glaubenssatz für bedenklich und zweifle auch,
ob er angenommen wird!« sagte der Prälat.

»Aber von einem Bedenken kann doch keine Rede sein!« -- klang halblaut,
aber bestimmt und scharf die Stimme des anderen -- »das Ansehen der
Kirche verlangt gerade in unseren Tagen eine derartige Stellung des
heiligen Vaters; und weshalb sollte man an der Annahme zweifeln?«

»Weil es bekannt ist, daß die deutschen Bischöfe dagegen sind.«

»Und was thut das? Bei der Abstimmung bleiben sie in der Minorität. Der
Kirchenstaat allein zählt hundertdreiundvierzig Bischöfe.«

»Aber sie haben keine christlichen Seelen hinter sich.«

»Darauf kommt's nicht an. Die bischöfliche Gewalt und die bischöflichen
Rechte sind für alle gleich, und Eure Bischöflichen Gnaden dürfen nicht
vergessen, daß die Vorarbeiten hier in Rom gemacht werden, ebenso die
Geschäftsordnung.«

»Das will eben mir nicht ganz gefallen. Die Art und Weise, wie die
Arbeiten der vorbereitenden Kommission geheim gehalten werden, und
daß die Mitglieder bei Strafe der Ausschließung aus der Kirche
niemandem etwas davon mitteilen dürfen, ist der Kirche Christi nicht
ganz würdig. Christus selbst und die Apostel kannten keine solche
Geheimthuerei.«

»Es ziemt sich nicht, gegen die weise Einsicht des heiligen Vaters zu
remonstrieren. Wer ein guter Katholik, ein treuer Anhänger des Stuhles
des heiligen Petrus ist, weiß, wie er sich zu verhalten hat, und
Eure Bischöflichen Gnaden sind Seiner Heiligkeit zu besonderem Danke
verpflichtet, man hofft, daß Sie das nicht vergessen werden!«

Die Stimme des Paters hatte bei aller Geschmeidigkeit einen beinahe
strengen Ton angenommen, und Sisto, welcher durch das Laubwerk des
Bosketts schaute, sah aus seinen Augen einen fast feindseligen Strahl
gegen seinen Herrn und Gönner blitzen, so daß sich ihm unwillkürlich
die Hand ballte. Die beiden Männer gingen weiter, und der Knabe,
welcher ihnen nachblickte, schauderte zusammen, wie er die hohe, hagere
Gestalt des Jesuiten sich über den Bischof beugen sah, wie wenn eine
dämonische Gewalt übermächtig in dessen Leben und Wollen eingriffe.

Seitdem war es Sisto beinahe unheimlich, wenn Felice im Hause erschien.

Das war wieder eines Vormittags der Fall. Parelli war nicht daheim,
als er kam, aber er fühlte sich hier völlig zu Hause, und die Diener,
welche wußten, welches Ansehen er bei der Signora hatte, meldeten
dieser sein Kommen. Er hatte indes das Bibliothekzimmer betreten und
schritt mit seinen leichten, unhörbaren Schritten in demselben auf
und nieder, und blieb nur stehen, um da und dort eines der Bilder zu
betrachten, welche an den Wandpfeilern und in der Nähe der Fenster
hingen und den Kunstsinn und feinen Geschmack des Besitzers bekundeten.
Den Jesuiten fesselte besonders ein wunderhübsches, echtes Gemälde von
Claude Lorrain mit tanzenden Mädchen, prächtigen, duftenden Gestalten
im Waldesgrün, und eine ganz ausgezeichnete Kopie von Morettos
»Herodias«.

Vor der letzteren stand er noch, als die Signora, noch immer in dunkler
Seide, hereinrauschte. Sie begrüßte den Gast mit einer gewissen
Vertraulichkeit, und dieser sagte:

»Wissen Sie, daß diese Herodias Ihnen ähnlich sieht?«

»Monsignore hat das auch behauptet, ich verwahre mich dagegen.«

»Gewiß -- Sie würden nicht den Kopf eines Heiligen abzuschlagen
begehren, aber dafür richten Sie Unheil an in anderen Köpfen.«

Die Signora lächelte bei der nicht gerade feinen Schmeichelei, und bot
dann dem Besucher einen Sitz mit dem Bemerken, daß der Prälat bald
aus der Kirche S. Jesu zurückkehren müsse, wo er den Gottesdienst
zelebriere.

»Es ist mir lieb, daß ich Sie allein treffe, meine Freundin,«
sagte Felice, »und daß ich Ihnen sagen kann, daß Sie allen Einfluß
aufzubieten haben, daß der Bischof sich nicht gegen den Glaubenssatz
stellt und so sich unangenehmen Folgen aussetzt. Er ist etwas
freisinnig angekränkelt und wir haben schon lange ein Auge auf
ihn, aber wir sind duldsam, so lange er nicht ein selbständiges,
der heiligen Vereinigung unseres Ordens und dem päpstlichen Stuhle
widerstrebendes Verhalten zeigt. Wir lassen einem jeden seine
Privatanschauung und mischen uns auch nicht in seine privaten
Beziehungen« -- er hob bei diesen Worten bedeutsam die Augenbrauen --
»so lange er ein unbedingt gehorsamer Sohn der Kirche ist. Auf seine
Zustimmung zu dem neuen Glaubenssatz wird mit solcher Sicherheit
gerechnet, wie auf die Stimmen der anderen italienischen Bischöfe, die
nicht erst zu prüfen und zu erwägen, sondern einfach abzustimmen haben.
Wenn ich das Ihnen sage, so wissen Sie, warum es geschieht, Signora.«

Frau Lucia senkte mit einem leichten Erröten auf dem immer noch schönen
Gesichte das Haupt und sagte:

»Sie und Ihr hochwürdiger Orden dürfen immer auf mich zählen, und so
lange ich in diesem Hause Einfluß habe -- --«

In diesem Augenblicke klirrte es im Nebenzimmer, dem Arbeitsgemache
des Prälaten, als ob etwas herabgefallen und zerschmettert worden
wäre. Beide sprangen auf und eilten, in der Meinung, Parelli sei
zurückgekommen, dahin. Als sie die Thür öffneten, sahen sie einen
seltsamen Anblick. Unweit vom Eingang bei der Bibliothek lag auf dem
Boden eine immerhin wertvolle Vase, die auf einer Säule gestanden
hatte, zertrümmert auf dem Fußboden und dabei stand Sisto, dem alles
Blut aus den Wangen gewichen schien, mit gefalteten Händen und
weitgeöffneten, auf die Scherben gerichteten Augen.

»O Signora,« stammelte er, als er Lucias ansichtig wurde, diese aber
stürzte wild und zornig auf ihn zu.

»Du hast gelauscht, verdammter Spitzbube!« kreischte sie, und dann
erfaßte sie den Knaben mit der Linken bei seinen dunklen Locken und
während sie ihn hin- und herzerrte, schlug sie ihn in das Gesicht.
Es war nur ein einziger Schlag, und ihm folgte ein Aufschrei, so
grauenhaft und entsetzlich, daß das Weib und der Jesuit gleichzeitig
davor zurückfuhren: das war Schmerz, trostloser Jammer und
leidenschaftliche Wut zugleich. Vor ihnen aber stand Sisto und sah mit
unheimlich großen und unheimlich funkelnden Augen nach Lucia; indes
sich seine Hände schmerzhaft ballten, zog ihm eine Art Krampf die
Oberlippe empor, so daß die blanken, weißen, fest aufeinandergebissenen
Zähne zwischen den roten Lippen hindurchschimmerten, und der Körper
beugte sich vor wie zum Sprunge. Die ganze Erscheinung hatte etwas
von einem jungen, zu höchster Wut gereizten Raubtier, das sich eben
mordgierig auf seinen Gegner werfen will.

Pater Felice war wieder vorgesprungen, aber sein Dazwischentreten hätte
wohl wenig gefruchtet, wenn nicht eben jetzt Parelli erschienen und
laut und bestürzt gefragt hätte:

»Was bedeutet das?«

Beim Klange seiner Stimme durchlief den Körper des Knaben ein Zittern,
die geballten Fäuste lösten sich, die Spannung in seinem ganzen Wesen
hörte plötzlich auf, und mit heiß hervorquellenden Thränen stürzte er
zu den Füßen des Prälaten nieder:

»O, Monsignore, -- ich habe die Vase zerschlagen beim Abstäuben --
schlagt mich -- stoßt mich mit Füßen -- von Euch will ich alles dulden,
aber _sie_ soll mich nicht schlagen, ein Weib nicht -- das ertrage ich
nicht!«

Und wieder schüttelte es den jungen Körper wie im Fieberfrost, so daß
Parelli mitleidig auf ihn niederschaute und freundlich sprach:

»Steh auf, Sisto -- Du sollst gar nicht geschlagen werden!«

»Aber _sie hat_ mich geschlagen, ins Gesicht geschlagen!« schrie er
wieder auf und nun war ihm die Röte ins Antlitz wiedergekehrt und die
Augen blitzten.

»Er verdient Strafe nicht nur wegen des Schadens, nein, weil er ein
Horcher ist, und das ist unverschämt,« sagte kalt die Signora, der
Knabe aber rief leidenschaftlich:

»Beim heilgen Sixtus, ich habe nicht gehorcht!«

»Und er ist wie ein zorniges Tier, vor dem man sich fürchten muß, und
darum muß er aus dem Hause,« sprach das Weib leidenschaftlicher, und
Parelli geriet bei diesem Tone sichtlich in Verlegenheit. Da nahm
Felice das Wort:

»Ihr seid zu heftig gewesen, Signora, und vergeßt, daß der Knabe ein
Wildling ist, der erzogen werden muß. Wenn er hier fortgejagt wird,
wißt Ihr nicht, in welche Hand er fällt, und wie sein Seelenheil
gefährdet werden kann. Hier ist er in gesicherter und guter Hand, und
Ihr könnt an ihm ein gottgefälliges Werk thun!«

Sisto horchte hoch auf; er sah mit großen, verwunderten Augen nach dem
Sprecher und dann nach seinem Herrn. Dieser aber sagte:

»Steh auf, Sisto, und bitte die Signora um Verzeihung für Deine
Wildheit, die Du Dir abgewöhnen mußt und dann bleiben wir wieder die
Alten.«

Der Knabe atmete einigemale hastig, dann sprang er, blutrot im
Gesichte, auf, trat mit gesenkten Augen an Lucia heran und sprach
halblaut, mit gepreßter Stimme:

»Vergebt mir, Signora, wenn ich Euch erschreckt habe, bitte!«

Sie sah ihn halb zornig, halb triumphierend von oben her an, und sprach
dann:

»Wenn zwei so hochwürdige Herren Dich unterstützen, will ich's
vergessen, ich hoffe aber, daß ich nicht wieder Veranlassung habe, über
Dich zu klagen!«

Das klang kühl und hochmütig, und Sisto fühlte auch, wie ihn fröstelte
bei den Worten. Nun atmete er tief auf, ging zu dem Prälaten, drückte
einen langen, heißen Kuß auf dessen Rechte und legte dieselbe dann an
seine Brust, während er mit Augen voll unsäglicher Liebe und Hingabe zu
ihm aufschaute, so daß dieser gerührt und ergriffen, ihm wie segnend
die Hand auf die dunklen Locken legte und dann milde und freundlich
sagte:

»So -- jetzt bringe hier die Scherben fort!«

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Dreizehntes Kapitel.


In der Nähe der Piazza Colonna steht ein kleines, freundliches Haus mit
seinem Gärtchen, in welchem dicht und wirr Taxus und Lorbeer wuchert
und dunkle Pinien hinwegschauen über die nicht hohe Mauer. Es gehörte
der Witwe eines wenig bekannten Bildhauers, und die unteren Räume,
die zum Teil als Atelier eingerichtet waren, bewohnte zur Zeit ein
deutscher Maler, Heinrich Quandt, mit seinem jungen Frauchen.

Es war noch früh am Morgen; hell blinkte der Sonnenschein durch die
Fenster, und das Paar saß am Frühstückstische. Es war eine prächtige
deutsche Erscheinung, die in ihrem ganzen Wesen mit dem blondlockigen
Haarwuchs und den lebhaften, leuchtenden Augen den Künstler nicht
verleugnete, und die Frau paßte zu ihm wie eine liebliche Ergänzung.
Sie hatte braune, sammtweiche Augen, dunkles Haar um die weiße Stirn
und sah so kernfrisch und heiter drein, daß es ein prächtiges Bild bot,
die beiden in dem ziemlich einfach eingerichteten Raume sitzen zu sehen.

Sie waren aus den sogenannten Flitterwochen lange heraus und nun
das vierte Jahr verheiratet, und er hatte seinen Schatz schon immer
einmal nach Rom führen wollen, aber immer mußte es verschoben werden.
In diesem Herbste machte er ernst und gedachte das Angenehme mit dem
Nützlichen zu verbinden: Sein Frauchen sollte die ewige Stadt sehen,
und er gedachte einige Studien zu machen.

Er hatte sie auf seinen Schoß gezogen und hielt sie mit dem linken Arm
umschlungen, und sie lehnte sich leicht an ihn, indes er plauderte:

»Ist Dir's denn nicht wie ein Traum, Fritzel -- er pflegte Friederike
so abzukürzen -- daß wir hier in Rom beisammen sitzen und während der
Herbst daheim alles entblättert und in graue Nebelschleier hüllt,
hinaussehen nach einem tiefblauen Himmel und eine Fülle grünender
Gärten in der Nähe haben? Das ist ja heute ein köstlicher Tag und
herrliches Wetter und geeignetere Stimmung, Dich mit Deinem blühenden
Leben zwischen den Ruinen des alten Rom herumzugeleiten, kann es nicht
geben. Ist Dir's recht, wenn wir heute gleich dem Forum und was drum
und dran hängt, unsern Besuch machen?«

»Ich lasse mich von Dir führen, und wo Du bei mir bist, ist's hübsch;
aber Du darfst Deinem dummen Weibchen nicht übelnehmen, wenn es ab und
zu einmal eine ungeschickte Frage thut und auf die gütige Nachsicht
seines Führers sündigt!«

»Gott bewahre, Schätzchen; frage nur nicht mehr, als ich beantworten
kann. Also mache Dich fertig, das Heute gehört den alten Göttern und
den Cäsaren, und morgen fangen wir an, das Atelier einzurichten.«

Er küßte sie auf die braunen, lieben Augen und schob sie sanft von
sich, und schon kurze Zeit später schritt das Pärchen, Arm in Arm, quer
über den Corso, durch dessen glänzende Häuserreihen die junge Frau
erstaunt die Augen gleiten ließ, und durch die Via de Muratte, bis sie
vor der herrlichen Fontana di Trevi stehen blieben.

Erstaunt, mit glänzenden Augen schaute Friederike zu dem gewaltigen
marmornen Meergott auf, der auf seinem von Seepferden gezogenen
Muschelwagen thront, während unter seinem von Tritonen geführten
Gespann die Wasserfluten spielend hervorbrechen zwischen Klippen und
Blöcken, und sich in das weite Becken ergießen, aus dessen ruhigem
Spiegel das Bild des blauen Himmels schaut.

»Das ist der Quell, aus dem man nicht trinken darf, wenn nicht seine
Wassernymphe uns mit allgewaltiger Sehnsucht hieher zurücklocken soll,
Fritzel.«

Die junge Frau lehnte sich inniger auf den Arm des Gatten.

»Du hast wohl daraus getrunken, Heinrich?«

»Gott bewahre, und wenn auch, mich lockt keine Wassernymphe, seitdem
ich Dich kenne.«

Dann schritten sie weiter, zwei glückliche Menschen, schön, schlank,
träumerisch -- echte Deutsche, daran blieb den braunen Römern und
Römerinnen, an denen sie vorüberkamen, kein Zweifel. Heinrich Quandt
kannte sich hier gut aus. Er lenkte nach dem Platz des Kapitols. An der
Rückseite des Senatorenpalastes führte er seine Gattin nach dem alten
Tabularium, und von seinem offenen Thorbogen aus ließ er sie einen
Blick thun über die in Trümmer gesunkene Herrlichkeit des alten Rom.
Da lag das Forum Romanum mit all den Resten einer großen vergangenen
Zeit, und schweigend, an einander gelehnt, schauten sie beide darüber
hin. Derselbe Sonnenschein, der einst hier den Volksversammlungen
geleuchtet, der die Festzüge auf der »heiligen Straße« zum Kapitol
heranziehen sah, bei dessen Glanz von der menschenumwogten Bühne her
kühne Redner zum Volke sprachen, welche auf den Bauten Julius Cäsars
und den Tempeln und Triumphthoren der Kaiser flimmerte, er schien
ihnen jetzt noch eben so mild und warm, und die beiden träumerischen
Kinder des Nordens sahen mit ihrer lebhaften Phantasie die Ruinen sich
beleben von den Bildern der Geschichte, die ihnen hier erst anfingen
verständlich zu werden.

Endlich gingen sie weiter -- für diesmal sollte es nur ein
flüchtiges Wandern sein -- vorüber an dem in mehr als einer
Beziehung bedeutenden Triumphbogen des Septimus Severus, über dessen
Travertin-Unterbau sich schöne Marmorsäulen erheben, zwischen welchen
drei Durchgänge hinführen; sie betrachteten darnach die schönen weißen,
kannelierten Marmorsäulen des Vespasiantempels, sowie die Reste des
auf Granitsäulen sich erhebenden Saturntempels, die Basilika Julia,
den Dioskurentempel, und der Künstler konnte es sich nicht versagen,
wenigstens einen Blick in die S. Lukas-Akademie zu thun, und seinem
Weibe einige besonders schöne Reliefs von Canova und Thorwaldsen zu
zeigen, sowie im Salone di Raffaeli sie auf einen seiner Lieblinge:
Lukas malt die Madonna und Raffael sieht ihm zu -- aufmerksam zu machen.

Sie war so dankbar, so verständnisvoll und glücklich bei seinen
Erläuterungen, daß er gar nicht hätte aufhören wollen, sie von einem
Schönen zum andern zu geleiten, aber er wußte sich zu beherrschen -- es
durfte nicht zu viel werden, damit keine Uebersättigung eintrete, und
so mahnte er daran, endlich auch an den Leib und seine Bedürfnisse zu
denken, und sie wandten sich wieder dem neuern Rom zu, um irgend ein
Speisehaus aufzusuchen. Quandt war eine Erinnerung an ein solches mit
Garten geblieben, das nicht weit von Aracoeli lag, aber er wußte es
doch nicht wieder zu finden und hielt eben Umschau, wen er wohl fragen
könnte, als sein Blick auf einmal auf einer Erscheinung haften blieb,
so plötzlich, so gebannt, daß er auch den Arm seiner Frau fester an
sich zog und mit dem Finger ihr Auge nach jener Richtung lenkte.

Ein gebräunter, armselig aber bunt gekleideter Junge von etwa zwölf
Jahren mit nackten Beinen kauerte auf einer Schwelle und sah mit
leuchtenden Blicken zu einem andern auf, der zu ihm redete und dabei
ein kleines Aeffchen, das ihm auf die Schulter geklettert war,
und dessen Fesselkettchen der erstere in der braunen Hand hielt,
liebkoste. Der andere aber war etwa vierzehnjährig und trug einen
braunen, hübschen Tuchanzug, wie vermögender Leute Kinder, ein spitzes
Filzhütchen auf den dunklen Locken und hatte ein prächtiges Gesicht,
als ob er aus dem Rahmen eines Bildes von Murillo herausgeschnitten
wäre, und dieser andere war Sisto Brenta.

Das Ganze aber bot ein Genrebildchen von köstlichem Reiz für das
Malerauge, und Heinrich Quandt, der jetzt sogar den Arm Friederikens
freiließ, trat, einem schnellen Antriebe folgend, an die Gruppe heran.

»Du willst ihm wohl sein Aeffchen abkaufen?« fragte er Sisto. Dieser
sah einen Augenblick groß und ernst den Fremden an, dann zog er höflich
sein Hütchen und sprach:

»Nein, Signor -- den würde Beppo auch nicht hergeben, denn er muß mit
ihm sein Brot verdienen. Aber wir sind aus einem Dorfe und ich freue
mich, daß ich ihn getroffen habe. Es geht ihm schlecht, dem armen Beppo
und seinem Piccolo -- nicht wahr?«

Und Sisto streichelte das Aeffchen, welches ihn zu kennen schien und
sich die Liebkosung gern gefallen ließ.

»Hört, Ihr Beide könntet mir eine Freude machen, und ich würde mich
gern dankbar dafür bezeigen. Ich bin Maler und möchte Euch malen, so
wie Ihr hier seid; wollt Ihr morgen zu mir kommen?«

[Illustration: Ich bin Maler und möchte Euch malen, so wie Ihr hier
seid; wollt Ihr morgen zu mir kommen? (S. 242).]

»Darf Piccolo mit?« fragte schüchtern Beppo, und Heinrich Quandt
erwiderte:

»Freilich, um Deinen Piccolo ist mir's gerade so zu thun, wie um Dich
selber; also, willst Du kommen?«

»Ja Herr, gerne, wenn ich weiß, wohin.«

Der Maler nannte ihm seine Adresse und wandte sich dann an Sisto, an
dessen prächtigem Kopfe ihm ganz besonders gelegen war. Er wußte nicht
recht, wie er diesem beikommen sollte, denn sein feiner Anzug führte
ihn einigermaßen irre.

»Und wie ist's mit Dir -- mit Euch,« verbesserte er sich, »kleiner
Signor?«

»O ich bin kein Signor, ich bin so arm wie Beppo, und wenn ich eine
bessere Jacke habe, so verdanke ich sie dem guten Monsignore Parelli,
der mich als Diener in sein Haus genommen hat. Wenn er erlaubt, daß ich
zu Euch komme, Signor, so thue ich's gerne.«

»Wie, der Bischof Parelli ist Dein Herr? Derselbe, welcher in der Via
di Governo wohnt? Den kenne ich, und er mich auch. Hier, nimm diese
Karte mit und erzähle ihm meinen Wunsch, dann läßt er Dich gewiß
kommen. Sag' ihm auch, daß ich nicht versäumen würde, ihm meinen Besuch
zu machen. Also morgen, ihr Burschen - auf Wiedersehen!«

Heinrich Quandt drückte Beppo auf Abschlag ein Geldstück in die Hand,
erkundigte sich dann nach dem Speisehause, welches er suchte, und ging
mit Friederike weiter.

Am andern Vormittage stellte sich Beppo mit seinem Aeffchen pünktlich
ein, während Sisto auf sich warten ließ. Endlich kam er, aber nicht
allein, sondern der Prälat begleitete ihn. Quandt war erstaunt
und erfreut über den Besuch und nahm Gelegenheit, auch seine Frau
vorzustellen. Parelli mit seinen liebenswürdigen, gewandten Manieren
wußte rasch die anfängliche Befangenheit Friederikens zu verscheuchen,
erzählte, wie er vor Jahren bereits den jungen deutschen Maler kennen
und schätzen gelernt habe und auch ein gutes Bild von ihm besitze. Er
freue sich, die alte Bekanntschaft erneuern, beziehentlich erweitern zu
dürfen und erklärte es als selbstverständlich, daß er das neue Gemälde,
die beiden Knaben, zu erwerben wünsche. Damit Quandt seine Modelle
gesichert habe, wollte er Beppo überdies, so lange der Maler seiner
bedurfte, Aufnahme bei sich gewähren, eine Mitteilung, die auch den
beiden jungen Landsleuten große Freude bereitete.

So war alles in schöner Ordnung. Der Maler begann sein Bild mit Lust
und Behagen, doch gönnte er sich dabei auch jene Muße, die er für sein
Frauchen brauchte, damit sich dasselbe nicht langweile, und Beppo zumal
war mit dem langsamen Fortschritt der Malerei sehr einverstanden, weil
er während desselben so gute Tage hatte, wie niemals zuvor. Im Hause
des Prälaten ging es ihm vortrefflich, und auch Piccolo konnte sich
nicht beklagen, da er mit seinem lustigen Wesen bald der Liebling der
Diener geworden war. Sie trieben im Hofe des Palais manche Kurzweil
mit ihm, bis eines Tages Frau Lucia darauf aufmerksam wurde, und jetzt
überhaupt erst erfuhr, daß noch ein zweiter kleiner Campagnole das
Asylrecht des Hauses erhalten hatte.

Sie machte auch diesmal dem Prälaten Vorwürfe, aber der entgegnete
lächelnd:

»Nur auf einige Tage, Lucia -- und er stört Dich ja nicht, der arme
Teufel!«

Sie murmelte einige unwirsche Worte und damit war die Sache abgethan.

Es war an einem Nachmittage und der Prälat war ausgegangen. Giovanni
der Kammerdiener hatte diese Gelegenheit benutzt, um einen Besuch zu
machen, und das andere Dienstpersonal hatte sich in dem schattigen Hofe
um Beppo und seinen Affen eingefunden, und dieser gab nun eine höchlich
belustigende Extravorstellung, bei welcher auch Sisto, angeregt durch
seinen Kameraden, mitwirkte, indem er den Dudelsack blies, welchen
ein Stalljunge verschafft hatte. Signora Lucia, deren Zimmer nach
einer andern Seite hin lagen, konnte kaum sich gestört fühlen, und so
überließen sich alle Beteiligten rückhaltlos dem Vergnügen.

Da erschien eine neue Persönlichkeit. Man wußte nicht recht, wo sie
hergekommen war, aber sie war eben mit einem Male da, mitten in der
lustigen Gesellschaft, die ihn beinahe verdutzt anschaute. Er war ein
vierschrötiger Bauer, seinem Anzuge nach aus dem Neapolitanischen, und
er lachte über die Späße des Aeffchens so lustig und laut, als ob er
ein volles Recht hätte, hier zu sein.

Da stellte ihn der Koch, welcher dem Range nach in diesem Kreise am
meisten dazu berufen schien, zur Rede, und fragte, was er denn wolle?

»Ja so« -- lachte der Angeredete breit und grinsend, so daß eine
Reihe blanker Zähne aus dem mit großen Bartstoppeln bedeckten Munde
hervorglänzten -- »ich will hier einen Besuch machen!«

Jetzt sah erst Beppo, der mit seinem Piccolo beschäftigt gewesen war,
auf, und gleichzeitig flog ein Strahl des Erkennens durch sein Auge.

»Vetter Gaetano!« rief er laut, und eilte auf den Mann zu.

»Ih, sieh einmal, das ist der kleine Beppo aus Castel S. Pietro! Ei,
Beppo, kleine Kröte, wie kommst Du hierher?«

»O, ich suche mein Brot zu verdienen in Rom mit dem Piccolo da!«

»Ja, ja -- und ich will auch mein Brot verdienen. Was macht denn Dein
Vater, der Vetter Grisante?«

»Ach, der ist tot!«

»Tot! -- das ist eine schlechte Sache! Hm, ich hätt' ihn gern noch
einmal besucht, da ich just in der Nähe bin -- aber wenn er tot ist
-- -- heda, ihr Leute! Ich halte es mit den Lebenden -- könnt Ihr mir
sagen, ob ich hier in dem Hause Frau Lucia Vergani finde?«

Die Domestiken sahen den vierschrötigen Bauer erstaunt und beinahe
entrüstet an, dann warfen sie sich gegenseitig fragende Blicke zu, und
endlich sagte einer:

»Ich glaube, so heißt die Signora.«

»Eh -- es kann gar kein Irrtum sein! Das Haus gehört doch dem
Monsignore Parelli?«

Er drehte sich um und schickte sich an, nach der Freitreppe zu gehen,
aber einer der Bedienten trat ihm in den Weg:

»Hoho, Freund -- so schnell geht das nicht! Erst müssen wir Euch
melden!«

»Melden? Hahaha, mich? Na meinethalben, meldet mich: Gaetano Vergani
aus der Chiana di Sorrento! Sie wird sich freuen, mich wiederzusehen,
das dürft Ihr glauben, Sie wird sich freuen! Hahaha!«

Der alte Bursche war offenbar nicht ganz nüchtern, und die Diener
hatten Bedenken, ihn zu der Dame zu führen.

Der Koch aber sprach:

»Laßt ihn Sisto anmelden! Die Signora kann ihn ja nach Belieben
empfangen oder abweisen!«

Und so geschah's, und während Beppo unten im Hofe erzählte, daß Gaetano
ein weitläufiger Vetter sei, den er mit seinem Vater vor zwei Jahren
im Neapolitanischen besucht hatte, wo er ein kleines Gütchen besaß,
stieg der Bauer mit seinem jungen Begleiter die breite Treppe hinauf,
über deren Marmor ein bunter Teppich lief, und er sah sich überall mit
neugierigen großen Augen um.

»Hm, ich meine, sie wohnt hier recht hübsch, hübscher als wir bei
Sorrent.«

»Dafür ist sie auch die Verwandte des hochwürdigsten Herrn Bischofs!«
sagte Sisto.

Der Bauer pfiff durch die Zähne, blieb einen Augenblick stehen, legte
den Zeigefinger an die Nase, und sagte:

»Aha, Verwandte! Auf die Art wäre ich wohl auch mit dem hochwürdigsten
Herrn Bischof verwandt; das ist mir neu, aber sehr schmeichelhaft!«

Der Knabe wurde verblüfft durch diese Aeußerung:

»Wieso denn?« stotterte er beinahe verlegen.

»Na, weil ich der Bruder von Eurer Signora bin.«

Sisto traute seinen Ohren kaum; er hielt sich an der Ballustrade fest,
und sah mit offenem Munde den vierschrötigen Menschen an.

»Ah, nun kriegst Du Achtung vor mir, kleine Kröte -- jetzt mach'
aber auch, daß ich die Dame zu sehen bekomme, ich vergehe sonst vor
Sehnsucht!«

Er lachte roh auf und stieg dann weiter, und Sisto ging langsam
hinterdrein.

Im Vorzimmer der Signora hieß er den Bauern warten; er selbst pochte an
die Thüre und trat erst nach erhaltener Erlaubnis ein. Lucia hatte, wie
immer außerordentlich elegant gekleidet, auf einem Ruhebette gelegen
und in einem Bande mit Bildern geblättert; sie sah nun gelangweilt und
augenscheinlich verdrießlich nach dem Knaben.

»Verzeiht, Signora,« -- sagte dieser -- »es ist ein Mann da, ein Bauer
aus der Chiana di Sorrento, welcher Euch zu sprechen wünscht; er heißt
Gaetano Vergani.«

Das schöne Weib fuhr aus seiner bequemen Lage auf und starrte
erblassend nach Sisto; aber sie wußte sich zu beherrschen und sprach
mit kaum merklicher Erregung der Stimme:

»Ich kenne den Mann nicht; hat er gesagt, was er wünscht?«

»Nein, Signora; aber er erklärt, er sei Euer Bruder!«

Lucia stand wie ein vom Bogen geschnellter Pfeil neben dem Knaben und
faßte ihn hart an beiden Schultern an:

»Und Du glaubst doch solche Thorheit nicht? -- Das muß ein Verrückter,
ein Wahnsinniger sein! Warum hat man den Menschen ins Haus gelassen,
war denn niemand zur Stelle, der ihn hinauswarf?«

Die Stimme des Weibes war kreischend und drang bis in das Vorgemach an
das Ohr des Bauern. Diesem behagte das Warten überhaupt nicht, und die
Worte, die er vernahm, regten ihn auf, so daß er jetzt ohne weiteres
die Thür öffnete und eintrat.

Aus den Wangen Lucias war alles Blut gewichen; sie taumelte und mußte
sich an der nächsten Sessellehne festhalten; der Mensch aber lachte roh:

»Das Wiedersehen greift Dich wohl zu sehr an? Nun, nun, ich wollte Dich
nicht erschrecken, will auch gar nicht lange bleiben.«

Sisto huschte bei diesen Worten hinaus; er fühlte, daß er überflüssig
sei, und nun erst, nachdem die Signora sah, daß der Junge verschwunden
sei und nachdem sie sich durch den Augenschein überzeugt hatte, daß
er auch nicht im Vorzimmer horche, wandte sie sich, noch immer nach
Fassung ringend, zu dem Manne:

»Unseliger, was führt Dich her? -- Habe ich Dir nicht jedes Vierteljahr
geschickt, was ich Dir versprochen?«

»Ja, ja, schöne Lucia -- und beim Teufel, Du bist schön -- aber wie
es so geht, ich habe Unglück gehabt und sie wollen mir das Häuschen
verkaufen. Schreiben kann ich nicht, und so muß ich selber kommen, um
Dir's zu sagen. Du mußt helfen, Du hast's ja -- Du wohnst hier wie eine
Fürstin --«

»Ich habe gar nichts,« stöhnte das Weib, das jetzt beinahe fassungslos
auf einen Stuhl gesunken war und die Hände krampfhaft in einander
verschlang.

»Aber _er_ hat,« sagte der Bauer mit frechem Ton, »und was ihm gehört,
gehört auch Dir. Wenn Du mir nicht helfen kannst, wende ich mich an ihn
selber!«

»Um der Madonna willen, Gaetano! ... Sprich, wie viel brauchst Du?«

»Dreihundert Scudi.«[8]

    [8] 1200 Mark.

»Und Du meinst, daß ich sie habe?«

»Aber Du kannst sie schaffen.«

»Bis wann?«

»Sogleich. Meinst Du, daß ich mich so lange in Rom aufhalten kann, bis
es Dir passen wird?«

»Ich schicke Dir das Geld zu -- aber geh' jetzt!«

»Daß ich ein Narr wäre. Da könnte ich lange warten und müßte zuletzt
meinen Weg noch einmal machen.«

»Aber woher nehmen?« stöhnte das Weib in Verzweiflung. »Und der Prälat
kann jeden Augenblick kommen -- er darf Dich nicht antreffen, er darf
auch nicht erfahren, daß Du hier warst ...«

»Um so besser, so beeile Dich!«

Er ließ sich breit und roh in einen der Polstersessel fallen, und seine
gierigen Augen schweiften die Wände entlang, indes das Weib noch immer
mit gerungenen Händen vor ihm stand.

»Gaetano, ich bitte Dich, gehe!«

»Nein!«

Da atmete Lucia tief auf.

»So warte hier.«

Sie eilte hinaus, ihr Gewand rauschte auf dem Teppich, und ging in die
Zimmer des Prälaten. Sie wußte, daß er in einem Fache des Sekretärs
in seinem Arbeitszimmer Geld habe, auch daß er damit ziemlich sorglos
umging und nicht sehr zu zählen pflegte, da er ein bedeutendes
Privatvermögen besaß. Aber ihr schlug das Herz, so daß es ihr beinahe
die Kehle zusammenzog und ihre Hände waren eiskalt und feucht, und
obwohl die weichen Teppiche ihre Schritte unhörbar machten, schlich sie
doch auf den Zehen -- sie wußte, daß sie einen Diebstahl begehen wollte.

Als sie vor dem Sekretär stand, überkam sie eine Ohnmachtsanwandlung,
aber mit übermenschlicher Kraft zwang sie sich, stark zu sein; sie sah
um sich, als ob sie sich vergewissern wollte, ob sie niemand sähe, dann
öffnete sie das Fach und sah eine Anzahl Rollen darin liegen. Sie wog
sie in der Hand -- dem Gewichte nach mußte es Gold sein, dann faßte sie
eine derselben fester, ließ sie rasch in ihre Tasche gleiten, schob das
Fach zu und eilte, wie von Furien gejagt, davon. Todbleich kam sie bei
Gaetano an.

»Da -- nimm!«

Der Bauer griff zu, sah das Geschenk flüchtig an, und las auf
demselben: 400 neapolitanische Dukaten[9]. Ein breites Grinsen ging
über sein rohes Gesicht.

    [9] 1 neap. Dukaten -- 3,40 Mark.

»Das genügt. Ich danke. Aber nun kannst Du mir auch noch einen Kuß
geben, Lucia ... Du bist noch schöner geworden, als Du damals warst ...
Die Tölpel mögen mich für Deinen Bruder halten ... unter vier Augen ...«

Er näherte sich lüstern mit funkelnden Augen dem schönen Weibe, aber
das stieß ihn zurück und sagte heiser:

»Rühre mich nicht an!«

»Schade, daß Du so stolz geworden ... einmal war ich Dir gut genug --
und was soll ich denn Deinem Kinde sagen? ...«

»Schweig, um der Heiligen willen und geh!«

»Ja, ja!« sprach er, da er ihr angstverzerrtes Gesicht schaute, »und
vergiß nicht zum nächsten Vierteljahr!«

Er stolperte hinaus, Lucia aber sank in einen Sitz und schlug die
zitternden Hände vor das Gesicht.

Der Bauer ging langsam, mit der Rechten mit der Geldrolle in seiner
Tasche spielend, durch das Vorzimmer und auf dem Flur traf er Sisto.

»Ah, mein Junge, meine Schwester ist gut« -- sagte er, eine Hand voll
Goldstücke hervorziehend, von denen er dem Knaben eins reichte. Der
aber weigerte sich, es anzunehmen, und in demselben Augenblicke rief
ihn auch die Stimme der Signora.

Er eilte in ihr Gemach und fand sie noch immer sehr erregt, so sehr sie
sich auch bemühte, ruhig zu erscheinen. Sie empfing ihn ziemlich streng:

»Der Mann, welcher eben gegangen, ist mein Bruder nicht, Sisto --
verstehst Du mich? -- Er ist ein ferner Verwandter von Monsignore, von
welchem dieser nicht belästigt zu werden wünscht, und Du wirst Dich
hüten, ihm etwas zu sagen, daß er hier gewesen sei. Das mögen auch die
anderen wissen, denen er etwa den Unsinn, daß ich seine Schwester sei,
vorgeschwätzt hat. Dafür sorge, und wehe dem, der gegen diese Anweisung
handelt. Geh!«

Der Knabe ging, aber er fühlte mit seinem naiven Sinne heraus, daß hier
im Hause nicht alles in Ordnung sein müsse, und das war ihm unbehaglich.

Einige Tage später war er im Arbeitszimmer des Prälaten und hatte
diesem eine Meldung zu machen. Parelli schien verstimmt und suchte
in den Schubläden und Fächern seines Sekretärs, murmelte auch
unverständliche Worte vor sich hin, bis er sich zu dem Knaben wandte
und ihn scharf anblickend, fragte:

»Sisto, hast Du von meinem Schreibtisch etwas fortgenommen?«

Der Junge sah mit seinen großen, treuen Augen zu seinem Herrn auf und
sagte einfach:

»Nein, gnädiger Herr!«

»Mir fehlen -- mir fehlt -- hm ... mir fehlt etwas!«

»Was ist's, Monsignore? Vielleicht ist's verlegt worden?«

»Nein, nein -- aber, es ist gut, Du kannst gehen!«

Mit schnellen Schritten ging der Prälat im Gemache auf und nieder:

»Ich kann das Geld nicht ausgegeben haben, es lag gewiß hier ... Sisto
hat es nicht, unmöglich! Wenn er mit solchen Augen lügen könnte, müßten
selbst Engel zu stehlen imstande sein. Giovanni ist mir ganz treu und
sicher; er nimmt keine Stecknadel; wer könnte sonst noch? -- Lucia?
Pah, wozu? Ich erfülle alle ihre Bedürfnisse ... sollte ich mich doch
irren und die kleine Summe zu Tognola u. Co. gegeben haben? -- Ich muß
vorsichtiger mit meinem Gelde sein, und darf niemanden in Versuchung
führen.«

Nach diesem Selbstgespräch schloß er den Sekretär, zog den Schlüssel ab
und ging bald darauf aus. Er beschloß, Quandt aufzusuchen und zu sehen,
wie weit er mit seinem Bilde gekommen war.

Dieser beeilte sich, wie erwähnt, nicht allzu sehr. Seinen beiden
Modellen that dies nicht leid; sie kamen nur zu gern in das Atelier des
deutschen Malers, wo es manchen Leckerbissen, und, was mindestens Sisto
noch lieber war, manches freundliche Wort gab. Frau Friederike war in
den prächtigen Jungen geradezu vernarrt. Sein treuherziges, offenes
Wesen, sein frisches, schönes Gesicht mit den dunklen Locken und den
blitzenden Augen hatten es der jungen, kinderlosen Frau angethan,
und Sisto selbst fühlte sich bald in der freundlichen Behausung des
deutschen Malers heimisch, mehr noch als im Palais des Prälaten, wo er
sich doch bei aller Güte seines Herrn fremd vorkam.

Auch die Kunst fesselte ihn an Heinrich Quandt. Der Junge hatte eine
schönheitsfrohe Seele, jenes feine, angeborene Kunstverständnis, wie
man es in Italien auch bei ganz schlichten Leuten trifft, und wenn
der Maler an seiner Staffelei ruhte, trat er manchmal leise hinter
denselben und schaute über dessen Schulter nach dem Bilde, aus welchem
ihm sein Ebenbild entgegenblickte.

»Gefällt Dir's, Sisto,« frug ihn einmal Quandt.

»Sehr, Herr -- ich wollte, ich könnte das auch machen!«

»Hast Du denn niemals eine Beschäftigung getrieben?«

»Nein, Herr; die Ziegen habe ich gehütet und dabei den Dudelsack
gespielt.«

»Aber Lesen und Schreiben hast Du gelernt?«

»Ja, Herr, bei dem Pfarrer von Subiaco.«

»Möchtest Du denn nicht ein Gewerbe erlernen?«

»Eins wohl, Herr, die Bildschnitzerei. Ich habe das auch schon
versucht ...«

»Weiß Monsignore davon?«

»Nein, Herr!«

»Dann will ich mit ihm reden.«

Der Knabe errötete und stammelte:

»Ach, das würde mich sehr glücklich machen, Signore.«

An demselben Tage, an welchem dies Gespräch stattfand, war der Prälat
nach dem Atelier gekommen. Er freute sich an dem Bilde, das er schon
als sein Eigentum betrachtete und rühmte namentlich den Kopf Sistos,
der sich mit lebensvoller Schönheit von der Leinwand abhob. Da benützte
der Maler die Gelegenheit, Parelli den Wunsch des Knaben vorzutragen,
und dieser zeigte sich sogleich geneigt, demselben entgegenzukommen.

»Ich habe auch schon gedacht, daß der Junge etwas anderes werden soll,
als ein Bedienter, und wir wollen sehen, ob er Talent hat; es soll
mich freuen. Aber wissen Sie, warum ich eigentlich heute komme? Ich
wollte Sie und Ihr Frauchen einladen, morgen mit mir in die Campagna
zu fahren, nach Tivoli; Frau Friederike muß ja hier in Ihrem Atelier
verkümmern. Was meinen Sie?«

»Sie sind zu freundlich, Monsignore ... aber wenn Sie gestatten, rufe
ich meine Frau, damit Sie selbst ihre Freude sehen können. O, sie ist
wie ein Kind, und so leicht glücklich zu machen!«

Schon nach wenigen Augenblicken eilte Friederike herein, die lieblichen
Wangen rot übergossen. Ihre Blicke sagten, daß sie schon wußte,
um was es sich handle, und der Prälat war entzückt, als er solche
unmittelbare, reine Freude sah. So ward alles für den anderen Morgen
verabredet, und zur bestimmten Stunde hielt der bequeme und vornehme
Wagen des Bischofs vor der Thüre des kleinen Hauses. Friederike setzte
sich zu seiner Rechten, Quandt, ihr gegenübersitzend, hatte die
besondere Freude, immerwährend ihr glückliches, rosiges Gesicht, ihre
schönen, schimmernden braunen Augen zu sehen und war so doppelt froh.

Der Morgen war außerordentlich schön, etwas kühl, aber von wunderbarer
Klarheit, und wie eine Glocke von Azur wölbte sich der Himmel über
der ewigen Stadt, deren Gassen noch schweigend lagen. Durch die Porta
San Lorenzo ging es hinaus und die alte Via Tiburtina entlang. Durch
einen felsigen Engpaß zwängt sich die Straße hinab nach dem Teverone,
und dann rollte der Wagen auf dem Lavaboden fort, hinein in die
Campagna. Weithin dehnt sich ihr müdes Flachland, nur da und dort von
einer Hügelwelle gefurcht. Vergebens sucht das Auge nach freundlichen
Baumgruppen und grünen Gärten -- und doch liegt ein eigentümlicher Reiz
über der Landschaft.

Eine Poesie der Schwermut redet aus dieser öden Ebene, die um so
ergreifender wird bei dem Gedanken, daß unfern die Blutwelle einer
modernen Kultur lebensvoll in den Adern einer Weltstadt pulsiert,
eine unausgesprochene Klage, wie das Leid des Weltgeistes, webt in
dieser weichen, träumerischen Luft, und die da und dort auftauchenden
und vom Horizont sich klar abhebenden Bauwerke reden alle eine für
den Historiker und den Kunstfreund allein verständliche Sprache. Von
seiner Höhe herab schaut San Angelo -- das alte Corniculum -- und
fernher winkt das Kloster und Kastell von Monticelli, bis endlich in
der Nähe von Castel Arcione das Bild der Landschaft freundlicher wird
und der Wagen zwischen graugrünen Oliven und dunklen Steineichen über
den antiken Brückenbogen der Ponte Lucano hinwegrollt, jenseits deren
sich das Grabmal der Gens Plautia, ähnlich dem berühmten der Cäcilia
Metella, erhebt.

Nun gebot der Prälat den Fahrweg einzuschlagen zur alten Villa
Hadrians, des kunstsinnigen Römerkaisers, die mit ihren umfänglichen
Trümmerresten aus rotem Backstein ungemein malerisch sich abhebt von
dem wild und dichtverwachsenen Gebüsch, über das mit ihrem ernsten
Grün Cypressen und Pinien emporragen, während Lorbeer und Feige mit
freundlich heller Färbung sich dazwischen zwängen.

Heinrich Quandt kannte das prächtige Landschaftsbild, und dennoch war
er aufs neue entzückt, und machte auf seine Einzelheiten auch seine
Begleiter aufmerksam. In der alten Kaiservilla übernahm der Prälat
die Führung als ein kundiger und zugleich feinsinniger Cicerone. Er
verstand es, vor dem Geiste der beiden andern aus den Ruinen das
glänzende Haus des Imperators wieder aufleben zu lassen mit seinem
Theater und seinem Nymphäum, von dem der cypressenbeschattete Weg
nach der Poikile und den anstoßenden Räumen des Sprechsaals und des
Notatoriums führt. Zuhöchst aber lag der eigentliche Kaiserpalast mit
seinen säulengetragenen Prunksälen und Bäderresten. Und wie um dem
ernst und trübe stimmenden Bilde einer versunkenen Herrlichkeit das
Gepräge friedlichen Behagens zu verleihen, grünt auch hier um die
Trümmerreste der Oelbaum, und der Weinstock umschlingt sie mit seinen
grünen, beweglichen Ranken und Reben.

Die drei Reisenden fuhren nun nach der Ponte Lucano zurück und von da
auf der neuen Straße langsam empor nach der freundlichen Stadt, die
mit ihren weißen Mauern aus dem Grün hervorlugt, traulich und anmutig,
indes um ihren Fuß die Wasserfälle des Anio brausen und rauschen. Das
alte Tibur -- das heutige Tivoli -- ist reich an Schönheit, und die
Patrizier der Kaiserzeit, die hier ihre Villen bauten, haben es ebenso
gewußt, wie die modernen Künstler, welche hierher wallfahren.

Ueber die Piazza fuhr der Wagen, bis dahin, wo in der Nähe der
Aniobrücke der Vicolo della Sibilla zu dem Gasthofe »La Sibilla«
emporleitet. Hier hielten die Reisenden Rast, da wo hoch über dem
linken Flußufer der schöne Tempel sich erhebt mit seiner runden
Säulenhalle, der wie ein Asyl des Friedens über dem Brausen und
Schäumen der Wasser steht. Freundliche Kranzgewinde zieren den Fries,
und an den Umlaufdecken sind Kassettonen mit Rosetten. Aber das Auge
wendet sich doch auch hier der gewaltigen, elementar schaffenden
Natur zu. Zur Linken stürzen die Wasser des Anio von einer Höhe von
etwa 100 Metern mit wildem Tosen hinab über die Uferwand in die
schaumverschleierte Schlucht -- ein herrlicher und erhebender Anblick!

Der Prälat wußte zu erzählen, wie im Jahre 1826 der Anio zornig über
seine Ufer getreten sei und einen Teil von Tivoli in wildem Ansturm
in den Abgrund gerissen habe. Beim Sibillentempel waren auf dem
Felsvorsprunge noch Trümmer aus jener Katastrophe zu sehen. Damals
wurde dem Flusse Gewalt angethan, und er mußte sich demütigen vor
menschlicher Kraft und Kunst und seinen Weg nehmen durch zwei Gänge,
die durch den Berg Catillo getrieben waren. Hierher ward der Anio im
Jahre 1834 geleitet, und in Gegenwart des Papstes Gregor XVI. brausten
die gestauten Wasser zum ersten Male über die Felswand hinab.

In der Nähe des Tempels, in einer herrlichen Umgebung, hatten sich die
Reisenden einen Platz gesucht, um ein Mahl einzunehmen. Unfern von
ihnen an einem Tische aber saß einsam ein junger Mann, dessen Collare
den Priester verriet. Er war hochgewachsen und schlank, mit frischem,
gerötetem Gesicht und klaren blauen Augen. Als ihn der Maler bemerkte,
sprach er:

»Das ist ein Deutscher -- und es will mir eigentlich nicht gefallen,
daß ein Landsmann hier bei dieser Schönheitsfülle, die zur Aussprache
lockt, vereinsamt sitzt. Gestatten Sie Monsignore, daß ich ihn
anspreche, und, wenn er genießbar erscheint, ihn zu uns bringe?«

»Ganz gewiß, lieber Quandt!« erwiderte der Prälat, und der andere
stand auch gleich darauf vor dem Tische. Einige Worte, gegenseitig
gewechselt, genügten dem erfahrenen Maler, um seinen Mann zu
beurteilen, und so führte er ihn gleich darauf am Arme heran und
stellte ihn vor:

»Herr ~Dr. theol.~ _Frohwalt_ aus Prag.«

Parelli entfaltete dem jungen Priester gegenüber seine ganze
Liebenswürdigkeit.

»Sie sind gewiß anläßlich des Konzils nach Rom gekommen.«

»Jawohl, ich gehöre zu dem geistlichen Gefolge Seiner Eminenz des
Prager Fürsterzbischofes.«

»Der Kardinal Schwarzenberg. Ach, ein ausgezeichneter Herr, ein feiner,
vornehmer Herr ... nun, ich freue mich, Sie kennen zu lernen, und Sie
verbinden uns, wenn Sie sich uns anschließen.«

»Ich bin für die gütige Aufforderung um so dankbarer, als ich
eigentlich von meinen Reisegefährten treulos verlassen erscheine. Ich
hatte heute morgen mit zwei jungen Franzosen, welche ich zufällig traf,
einen Wagen gemietet für den ganzen Tag. Während der Fahrt zeigte sich,
daß wir nach unsern ganzen religiösen und sittlichen Anschauungen
nicht zusammen paßten, und als ich ausstieg, um die Villa Adriana zu
besuchen, fuhren sie weiter, und wir wollten uns hier in ›La Sibilla‹
zusammenfinden. Sie sind nicht da und, wenn sich der Wirt, bei welchem
ich mich erkundigte, nicht getäuscht hat, sind sie weiter gefahren nach
Subiaco und haben mich hier zurückgelassen.«

»Ein Gewinn für uns,« sprach Parelli verbindlich, »und ich freue mich,
Ihnen zur Rückfahrt nach Rom noch einen Platz in meinem Wagen anbieten
zu können.«

»Den ich mit größtem Dank annehme, Monsignore.«

Nun wurde das Gespräch allgemeiner und heiter, und man fand immer
mehr gegenseitiges Gefallen an einander. Da ließ sich nahe bei ihnen
an einem Tische ein vierschrötiger Mensch nieder, seiner Kleidung und
seinen Manieren nach ein Bauer. Breit und behäbig stemmte er sich auf
seine Ellenbogen und sah ziemlich unverschämt nach dem Prälaten und
seinen Begleitern, die sich nicht weiter um ihn kümmerten.

Als ein Kellner zu ihm herantrat, bestellte er die teuersten Gerichte
und den besten Wein, und erregte dadurch zweifellos das Mißtrauen
des Anfragenden. Er sah zu demselben mit einem schiefen Blick aus
zusammengekniffenen Augen empor und sagte laut, daß man es weit hören
konnte:

»Glaubt Ihr, weil ich den Bauernkittel trage, daß ich kein Geld im
Sacke habe? Es gelüstet mich auch einmal, wie Herrenleute zu leben --
und ich kann's. Ja, mein Schwager ist auch ein Monsignore, so gut wie
der da drüben ... mein Schwager nämlich, bei dem mein -- na ... meine
Schwester lebt. Hier ist ein neapolitanischer Dukaten und da noch einer
und noch einer -- das wird wohl reichen -- he?«

Er warf die Goldstücke auf den Tisch, daß sie klangen und sah mit rohem
Lachen bald den Kellner, bald die ihm nahesitzenden Gäste an. Parelli
aber war bleich geworden. Er erschrak, er wußte selbst nicht weshalb,
bei den Worten des rohen Burschen -- er dachte an Signora Lucia, und
dann auch an das Gold, das ihm abhanden gekommen war: Es war dieselbe
Münzsorte, mit welcher dort der Bauer um sich warf. Ihm war, als müsse
er nach einem Zusammenhange suchen, aber er scheute das Aufsehen und
mochte nicht an Dingen rühren, die ihm bedenklich werden konnten. Aber
mit seinem Behagen war es vorüber, und mit ängstlicher Hast drängte er
zum Aufbruch, zum Besuch der Wasserfälle.

Man folgte ihm, und da sie bei dem Bauer vorüberschritten, hob dieser
eben sein Glas mit funkelndem Weine, hielt es ihnen entgegen und rief:

»Auf Euer Wohl und auf meine Gesundheit!«

Parelli errötete vor Unwillen, aber er ging ruhig weiter und hinter
ihm und seinen Begleitern verklang das rohe Lachen des ungeschliffenen
Burschen.

Sie stiegen nun abwärts zu den Kalkfelsen und gingen stromaufwärts zur
Grotta della Sirene, wo ihnen ein Strahl des Falles entgegenrauschte,
in dessen aufstäubenden Wasseratomen sich die schrägfallende Sonne
brach und damit einen Regenbogenglanz über das Bild goß. Und wie sie
weiter wanderten, wechselten die Bilder, aber überall war Anmut und
Schönheit ihre Begleiterin, bis man von der Terrasse des Belvedere
fast alle die Herrlichkeiten der sprühenden, blinkenden Cascatelle vor
sich hatte. Hier rauschte und brandete der große Wasserfall in seiner
Majestät niederwärts, und alle die kleineren Fälle dienten ihm mit
ihren malerischen Einzelheiten zur köstlichen Folie.

Von da aus gingen sie, um nicht umkehren zu müssen, geradeaus weiter.
Bei dem Kirchlein ~S. Maria di Quintiliolo~ mußten sie anhalten.
Eine Prozession mit wehenden Fahnen kam herbeigezogen. Ein Kreuz
wurde vorangetragen von einem jungen Mönche; ihm folgten eine Anzahl
Ordensleute und dann Männer, Weiber und Kinder, singend und betend. Es
war ein malerischer Anblick, aber erhebend oder andachtsvoll wirkte
er nicht. Der Prälat zog vor dem Kruzifix seinen breitrandigen Hut,
Frohwalt und Quandt thaten desgleichen, indes die junge Frau erstaunt,
mit großen, verwunderten Augen, welche deutlich bekundeten, daß ihr
der Anblick neu war, den lebhaften, singenden Zug an sich vorübergehen
ließ. Als der letzte, ein zerlumpter Campagnole mit langem, grauem
Bart, offenbar ein Bettler, kam, warf ihm der Prälat eine Münze in den
abgezogenen, schäbigen Filzhut und fragte:

»Warum veranstaltet man diese Prozession nach ~S. Maria di
Quintiliolo~?«

»Wir bitten, daß die Madonna die Väter des Konzils erleuchten möge,
damit sie die Unfehlbarkeit des heiligen Vaters annehmen.«

Damit humpelte der Alte weiter; die Reisegefährten aber wandten sich
schweigend ab und schritten zwischen den alten, knorrigen Olivenbäumen
abwärts gegen die Ponte dell' Aquoria, wo ihr Wagen wartete.

Jeder von den drei Männern aber hatte seine eigenen Gedanken, und
die Rückfahrt nach der ewigen Stadt war im Grunde minder heiter,
als die Fahrt am Morgen, nur Frau Friederike besaß ihre unbefangene
Fröhlichkeit und suchte mit ihrem Plaudern eine freundlichere Stimmung
herbeizuführen. Frohwalt saß ihr gegenüber. Er schaute auf den roten
plaudernden Mund und in die hellen braunen Augen, die so sonnig
lachten, und als ihm beim Abschiede die junge Frau die Hand reichte und
die Hoffnung aussprach, ihn bald einmal als ihren Gast zu sehen, sagte
er so lebhaft und rasch zu, daß er darüber unwillkürlich errötete.

Auch Monsignore Parelli hatte ihn freundlich und herzlich zu einem
Besuche eingeladen. Und so ging er in träumerisch-angenehmer Stimmung
über die Ponte di Ripetta hinüber an das andere Tiberufer, wo in ewiger
Majestät der Dom des heiligen Petrus ragt und wo er seine Wohnung hatte.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Vierzehntes Kapitel.


Das Konzil war feierlich in einem Seitenschiffe von St. Peter
eröffnet worden, und das Aussehen von Rom nahm von da ab eine noch
mehr kirchliche Färbung an. Die Zahl der geistlichen Würdenträger,
welche sich an dem Sitze des Papsttums eingefunden hatten, war eine
ungewöhnlich große -- siebenhundertfünfzig Bischöfe fast aus allen
Teilen der Welt waren zusammengekommen zu jenem außerordentlichen
kirchlichen Ereignis, und zumal um den Vatikan und seine Umgebung sah
man Tag aus, Tag ein die mehr oder minder vornehmen Wagen hinrollen, in
welchen die Väter der Kirche zum Konzil oder von demselben fuhren. Seit
langer Zeit war der Glanz und die Herrlichkeit des päpstlichen Stuhles
nicht so zu Tage getreten.

Wenn aber seitens der Macher des neuen Glaubenssatzes und seitens der
unbedingten Anhänger der Unfehlbarkeit geglaubt worden war, daß der
Schimmer der päpstlichen Heiligkeit, der Atem Roms allein schon genügen
werde, die versammelten Väter leicht zur Annahme der Neuerung zu
bewegen, so hatte man sich einem Irrtum hingegeben. Schon in einer der
ersten Sitzungen war Kardinal Schwarzenberg aufgetreten und hatte dem
Konzil einige Wünsche vorgelegt, welche die Jesuiten und ihre Freunde
nicht erwartet hatten, die ihnen nicht bloß unbequem waren, sondern
ihnen sogar einige Bedenken erweckten.

Der erste dieser Wünsche war, daß man, schon aus Klugheitsrücksichten
nicht unnötiger Weise die Zahl der Glaubenssätze vermehren möge. Man
sollte nicht vergessen, daß, zumal in Deutschland, wo Katholiken und
Protestanten neben und durcheinander wohnten, jeder neue Glaubenssatz
mehr zur Verwirrung als zur Beruhigung der Gemüter beitrage.

Das klang wie ein deutlicher Widerspruch und er ging von einem
Kirchenfürsten aus, welchen man um seiner Abkunft, wie um seiner
Stellung willen immerhin zu berücksichtigen hatte. Die Hoffnung, welche
sich die Jesuitenpartei gemacht hatte, daß man den in Frage stehenden
Glaubenssatz durch einstimmigen Zuruf annehmen werde, wie vordem jenen
von der unbefleckten Empfängnis Mariä, erwies sich trügerisch, und man
sah sich umsomehr zu einem andern Vorgehen genötigt, als auch noch
mancher andere streitbare und tüchtige Herr in Rom eingezogen war, der
nicht ohne weiteres die Waffen streckte.

Es war an einem Spätnachmittage, als sich in der Wohnung des Kardinals
Schwarzenberg die deutschen und österreichischen Bischöfe zu einer
Besprechung eingefunden hatten. In dem geräumigen, vornehmen Saale
saßen sie an einem langen Tische, Männer, unter welchen mancher sich
durch hervorragendes Wissen und durch Geist auszeichnete. Es herrschte
einerseits eine gedrückte, andererseits eine gereizte Stimmung. Der
Prager Kardinal hatte das Wort und sagte mit seiner klaren, ruhigen
Stimme:

»Meine hochwürdigsten Amtsbrüder! Sie wissen, weshalb ich Sie hierher
gebeten habe. Es ist Ihnen nicht unbekannt, daß in dem Kreise der
italienischen, spanischen und orientalischen Bischöfe ein Schriftstück
die Runde macht, in welchem Seine Heiligkeit gebeten wird, ein Dekret
wegen der Unfehlbarkeit einbringen zu lassen. Was dies bezwecken soll,
ist klar. Aus der Mitte der Kirche heraus soll der Glaubenssatz
scheinbar begehrt werden, wie etwas, was immer in derselben vorhanden
war. Die Zahl der Unterschriften wird zweifellos eine überwältigend
große, so daß man dem heiligen Vater ohne weiteres die Ueberzeugung
beibringen kann, daß dieser Glaubenssatz der sehnliche Wunsch der
ganzen Christenheit ist, und doch ist in unserm Kreise vielleicht
keiner, der nicht nach bestem Wissen und Gewissen sich gegen denselben
sträubte. Sollen wir diesen Vorgang sich ruhig vollziehen lassen? Was
ist Ihre Meinung?«

Der Erzbischof von München-Freising nahm das Wort:

»Ich beklage es tief, daß in solchem Falle die Mehrheit den Ausschlag
geben soll. Der ganze Kirchenstaat hat nicht so viele Seelen, als
meine Diözese, und doch ist er durch hundertdreiundvierzig Bischöfe
vertreten. Rechnen wir dazu etwa hundert Bischöfe ~in partibus~ und
circa zweihundert Titularbischöfe, die in Italien so dicht sitzen,
wie bei uns die Pfarrer, so ist ersichtlich, daß wir dagegen nicht
aufkommen, falls nicht andere Grundsätze bei der Abstimmung maßgebend
werden. Deutschland hat nur vierzehn Stimmen -- ein geradezu
schreiendes Mißverhältnis -- und darum ist es notwendig, mit doppelter
Kraft einzutreten für unsere Ueberzeugung, und unter Darlegung der
Verhältnisse, daß die Zahl der christkatholischen Seelen, welche hinter
uns steht, Ausschlag gebend sein müsse, gleichfalls ein Bittgesuch
an den Papst zu richten, es möge die Unfehlbarkeit nicht eingebracht
werden.«

Einzelne Stimmen drückten ihren Beifall aus, Bischof Hefele von
Rottenburg aber wiegte bedenklich das Haupt. Er gehörte zu den
gelehrtesten Kirchenfürsten, die aus Deutschland nach Rom gegangen
waren und erfreute sich eines gewissen Einflusses bei seinen
Amtsbrüdern Er sprach nun:

»Meine hochwürdigsten Brüder! Mir ist es klar, daß jenes Vorgehen
nichts anderes als eine Falle ist, welche man uns legt. Man sucht uns
geradezu herauszulocken, der Frage der Unfehlbarkeit, und sei es auch
als Gegner, nahezutreten, denn für die Freunde derselben handelt es
sich darum, sie in irgend einer Weise aufs Tapet zu bringen, um eine
Abstimmung herbeizuführen, welche aus den eben angegebenen Gründen zu
einer Annahme durch Stimmenmehrheit führen muß. Ich verspreche mir von
einem Vorgehen, wie es eben vorgeschlagen wurde, keinen rechten Erfolg,
und kann allerdings auch nicht verhehlen, daß ich keinen bessern Rat
weiß, zumal die ganzen Verhältnisse hier niederdrückend und verstimmend
wirken müssen. Vielleicht wäre durch eine persönliche Einwirkung bei
Seiner Heiligkeit mehr zu erreichen.«

»Nichts!« brauste der heftigere Stroßmayr auf -- »wir werden überhaupt
in der unwürdigsten Weise behandelt, und davon muß doch der heilige
Vater Kenntnis haben. Was ist das für eine Geschäftsordnung, welche uns
hier aufgezwungen wird? -- Der Papst ernennt nicht nur die Präsidenten
und Sekretäre der Versammlung, sondern auch die Kommissionen für die
Vorlagen und für die Prüfung der eingebrachten Anträge. Wer von uns
einen Antrag stellt, muß zuletzt gewärtig sein, daß, wenn er Seiner
Heiligkeit nicht genehm ist, er einfach in den Papierkorb geworfen
wird. Oder ist es nicht ein müßiges Spiel, wenn bei einer Vorlage
Abänderungen vorgeschlagen werden, daß die Sache an die Kommission
zurückgeht, welche nun beliebig damit verfahren, eventuell die Vorlage
unverändert wieder einbringen kann, welche nach der Geschäftsordnung
nun die Versammlung annehmen _muß_, da eine weitere Besprechung,
beziehungsweise Aenderung ausgeschlossen ist. Was ist das ferner
für eine Maßregel, daß die stenographischen Aufzeichnungen der
Konzilsverhandlungen von einer päpstlichen Kommission beliebig geändert
werden, daß man einfach wegstreicht, was den Herren nicht paßt, oder
einem das Wort im Munde umdreht? Wir sind ja hier unfreier wie die
Kinder. Kein Antragsteller darf in der Kommission erscheinen, wie es
doch beim ~Concilium Tridentinum~ gestattet war; hier ist es geradezu
verboten, die Tridentinische Geschäftsordnung nachzuschlagen und zu
vergleichen. Ja, versuchen Sie es, meine Brüder, diese Geschäftsordnung
aus einer Bibliothek zu entlehnen, Sie werden erfahren, daß dies
verboten sei. Solche Dinge sind der Kirche und des Papsttums unwürdig.«

Der kühne Sprecher hörte ein Murmeln, das ebenso Entrüstung als
Zustimmung ausdrücken konnte, und die Hand zur Faust geballt, wie
im Kampfestrotz, saß er da und schaute um sich. Die Stille, welche
eingetreten war, unterbrach die Stimme des Rottenburger Bischofs:

»Daß wir hier im höchsten Grade unfrei sind, dafür möchte auch ich
einen Beleg bringen. Ich habe die Absicht, durch einen ganz besonderen
Fall aus der Kirchengeschichte zu zeigen, daß es unmöglich ist, die
Unfehlbarkeit zum Glaubenssatz zu erheben. Ich meine Papst Honorius.
Sie wissen ja, meine lieben Amtsbrüder, daß er die Meinung hatte, daß
in Christo nicht zwei Willen, ein göttlicher und ein menschlicher,
sondern nur ein göttlicher vorhanden gewesen sei. Wegen dieser Ketzerei
haben einige nachfolgende Päpste ihn noch nach dem Tode in den Bann
gethan und verflucht. Nun, entweder hatten diese Päpste recht, und dann
kann Honorius nicht unfehlbar gewesen sein, oder er war unfehlbar,
und dann müssen die anderen gefehlt haben. Beide Parteien können
unmöglich unfehlbar gewesen sein. Das habe ich in einer Schrift zu
Nutz und Frommen der Konzilsväter drucken lassen wollen, und das ist
mir in Rom einfach unmöglich gemacht durch die Bestimmung daß ohne
päpstliche Genehmigung hier nichts erscheinen dürfe. Ich habe nun nach
Neapel schreiben müssen, um dort den Druck besorgen zu lassen. Ist das
Freiheit und Selbständigkeit, sind das würdige Zustände?«

»Wir schweifen ab, meine hochwürdigsten Brüder« -- nahm Kardinal
Schwarzenberg das Wort -- »und ich möchte, daß wir, anstatt uns in
Klagen zu ergehen, uns klar würden, was geschehen soll.«

Einer der Kirchenfürsten beantragte, auf Grund der Darlegungen des
Münchener Erzbischofs ein Bittgesuch an den heiligen Vater zu richten,
daß man von Aufstellung der Unfehlbarkeit absehen möge, und dieser
Antrag wurde denn auch angenommen. Nur betreff der Begründung war man
nicht ganz einig. Ein kleiner Teil der Anwesenden wünschte, daß man
geradezu hervorhebe, es sei eine falsche, weder nach Kirchenrecht,
noch nach Kirchengeschichte zu rechtfertigende Lehre -- und solche
Ehrlichkeit wäre das allein richtige, vielleicht auch das wirksamste
gewesen; die Mehrzahl aber suchte mit einer gewissen Aengstlichkeit
den Unwillen des Papstes zu vermeiden; sie wollten, daß man lediglich
Klugheitsgründe betone, zumal die unangenehmen Verwicklungen, die aus
einem solchen Glaubenssatz für die Beziehung von Kirche und Staat sich
ergeben könnten, und daß man, um der Ehrerbietung gegen den heiligen
Stuhl in jeder Weise Ausdruck zu geben, dem Papste die weitgehendsten
Zugeständnisse machen möge.

Diese Meinung drang auch zuletzt durch, und die Jesuitenpartei hatte
erreicht, was sie wünschte.

In der Umgebung des Kardinals Schwarzenberg waren diese Verhandlungen
und ihre Ergebnisse nicht unbekannt, und sie wirkten auf Peter
Frohwalt niederdrückend und verstimmend. Er war mit ehrlichem Sinne
und redlicher Ueberzeugung nach Rom gekommen, in der festen Hoffnung,
hier nicht bloß die Herrlichkeit der Kirche in ihrer ganzen Größe und
Reinheit zu schauen, sondern auch eine unbestechliche Einmütigkeit
und Festigkeit unter den Vätern des Konzils zu finden gegenüber einer
Sache, die nach seiner und der Meinung der Besten geradezu verwerflich
war. Nun sah er hier rücksichtsloses Vergewaltigen auf der einen, eine
schwächliche Verzagtheit auf der anderen Seite. Daß die deutschen und
österreichischen Bischöfe einer ehrlichen und mutigen Erklärung aus
dem Wege gingen und sich hinter rein äußerliche Gründe verschanzten,
erfüllte ihn, dessen sittliches Bewußtsein allzeit kräftig gewesen, mit
größter Bitterkeit. Ihm kam die ganze Sache vor, wie wenn jemand einer
Verführung zum Bösen nicht aus sittlichen Gründen Widerstand leistet,
sondern weil es unangenehme Folgen oder üble Nachreden nach sich
ziehen könnte. Ihm war es klar, daß der Widerstand gegen den geplanten
Glaubenssatz durch ein solches Vorgehen sich seiner edelsten und darum
wirksamsten Kraft beraubt habe.

In solcher Stimmung war es ihm Bedürfnis, ein Asyl aufsuchen zu können,
wo man diese brennende Frage so gut wie gar nicht erörterte, wo
reine, freie Heiterkeit mit mildem Strahle eine anmutige Häuslichkeit
erhellte, und wo ihm selbst, wenigstens vorübergehend, das bedrückte
Herz wieder leichter wurde.

Das war bei dem Maler Heinrich Quandt. Das Bild von den beiden
Campagnolen-Jungen war vollendet und voll prächtiger, lebensvoller
Frische, so daß der Prälat es aus freien Stücken mit einem ungewöhnlich
hohen Preise bezahlt hatte, und der Künstler beabsichtigte nun,
angeregt durch den Anblick in Tivoli, eine Bittprozession zu
S. Maria zu malen, welche ihm Gelegenheit gab, die mannigfachen
Typen des italienischen Volkes und zugleich seinen stimmungsvollen
landschaftlichen Hintergrund anzubringen.

An einem trüben, unbehaglichen Tage war Frohwalt gegen Abend wieder
bei dem Maler gewesen. Dieser und seine Frau hatten sich gewöhnt, ihn
wie einen lieben Freund zu betrachten, und so luden sie ihn denn ein,
das Abendbrot bei ihnen einzunehmen. Er folgte gern, und so saßen
die drei Menschen in dem freundlichen Zimmer beisammen, welches an
das Atelier grenzte. Der Raum war einfach, aber er zeigte überall in
der Ausstattung, sowie in der Anordnung Geschmack. Die Witwe des
Bildhauers, welcher das Häuschen gehörte, und die sich mit drei kleinen
Stuben behalf, hatte manche Erinnerung an ihren verstorbenen Mann
gerade hier aufgestellt, und Heinrich Quandt hatte gleichfalls mit
verschiedenem zur Ausschmückung beigetragen, so daß das Zimmer wie ein
trauliches Nestchen erschien. Am meisten aber ward es verschönt durch
den Geist, welcher hier waltete.

Frohwalt mußte wiederholt an die anmutige Häuslichkeit Professor
Holberts denken, aber hier gefiel es ihm beinahe noch besser. Es ging
von der jungen, lebensfrohen Frau ein bebender, sonniger Schimmer aus,
der den Raum, und alles, was in ihm war, freundlich verklärte, und vor
dem die bösen Geister des Unmuts und der Verstimmung weichen mußten.

Es war köstlich, wie die drei Menschen an dem rundlichen Tische
beisammen saßen, und beim Schein der antiken Bronzelampe, die
Häupter nahe an einander geneigt, sich in das Anschauen der Entwürfe
vertieften, welche der Maler in einer Mappe herbeigebracht hatte und
die er nun in köstlicher Weise erläuterte. Es waren Erinnerungen
aus seinem Leben, welche an diese Skizzen sich knüpften, und die er
freimütig, ungesucht, und oft von prächtigem Humor durchwoben, darbot.
Dazu gab das junge Weib, das sich mitunter wärmer und inniger an den
Gatten schmiegte, ab und zu eine schalkhafte Bemerkung, aus der aber
beinahe immer ihr liebeerfülltes Herz redete, und Frohwalt hatte
bei dem Anblick dieses sonnigen, stimmungsvollen Familienlebens gar
seltsame Empfindungen. Es mußte doch etwas Herrliches darum sein, wenn
zwei Menschen, so mit einander verbunden, durch's Leben gingen -- eins
in ihrem Lieben, Hoffen und Glauben!

Heinrich Quandt hatte wieder ein neues Blatt aufgeschlagen, und aus
dem Auge Friederikens leuchtete ein wärmerer Strahl erst über die
reizende farbige Skizze hin, und dann nach dem Angesicht ihres
Mannes. Das Bildchen aber stellte ein schlichtes, mit Holzfachwerk
erbautes Haus mit breitem Giebel dar, der halbverdeckt erschien durch
eine mächtige, breitästige Linde. Im Hintergrunde schaute über grüne
Gartengehege ein Kirchturm heraus. Im geöffneten Giebelfenster waren
die Oberkörper zweier Menschen sichtbar, der eines alten Herrn mit
grauem Haar und unendlich milden, gütigen Zügen, und jener einer Frau,
die wenig jünger sein mochte. Vor dem Hause aber fütterte ein junges,
hochgewachsenes Mädchen mit kindlichen, frischen Zügen die lustig um
sie sich drängenden Hühner und die vom Schlage herbeigeflatterten
Tauben, während ein anderes Mädchen auf der schlichten Holzbank unter
dem Lindenbaum saß und lächelnd nach der Schwester hinüberschaute.

»Das sind Sie --!« sagte Frohwalt, einen vergleichenden Blick nach der
jungen Frau werfend, und sie nickte mit leisem Erröten.

»Das freut mich, daß Sie es finden -- Fritzel hat stets behauptet, ihr
Gesicht wäre das einzige an dem Bilde, was nicht gut wäre, und zur
Strafe dafür lasse ich dasselbe in der Mappe liegen, anstatt es unter
Glas und Rahmen in ihrem Zimmer aufzuhängen. Ja, das ist das Heim von
meinem Schatz; hier sehen Vater und Mutter in Sonnabend-Feststimmung
zum Fenster heraus und Schwester Trudchen füttert ihre Lieblinge.
Schade, daß man nicht das Läuten der Abendglocken vernehmen kann, aber
da hört unsere Kunst auf.«

»Ja, es ist ein allerliebstes Bildchen,« versicherte Frohwalt -- »eine
anmutige friedensvolle Stimmung weht aus demselben, so daß man wünschen
möchte, hier gleichfalls daheim zu sein.«

»Und doch wäre es Ihnen vielleicht nicht so ganz behaglich,
Verehrtester, nehmen Sie mir's nicht übel -- -- denn es ist ein
_protestantisches Pfarrhaus_!«

Der Adjunkt fühlte, wie er einen Moment lang die Farbe wechselte: die
Hand, mit welcher er die Skizze gefaßt hatte, sank auf den Tisch, indem
Quandt, der wohl über das Unbehagen der Situation rascher hinwegführen
wollte, dasselbe vielleicht auch nicht einmal bemerkte, sagte:

»Ja, ich habe mir mein Fritzel aus dem Erzgebirge und wirklich und
wahrhaftig aus einer protestantischen Landpfarre geholt, obwohl ich
selber ein ganz guter Katholik zu sein glaube. Aber die böse Liebe,
Herr Doktor -- ja, die richtet manches Schlimme an!«

Frohwalt versuchte, einigermaßen verlegen, zu lächeln, der Maler aber
fuhr weiter fort:

»Wir haben uns aber, wie Sie vielleicht selbst herausfinden, trotzdem
wir nun schon über vier Jahre zusammengespannt sind, recht gut in
einander gefunden, und ich denke, Sie lassen es mein Weibchen nicht
entgelten, daß sie nicht unseres Glaubens ist ... sie ist im übrigen
wirklich lieb und gut und brav.«

Er nahm sein bräunäugiges Schätzchen beim Kopfe und gab der errötenden
einen Kuß, dann fuhr er gesprächig fort:

»Ja, ich habe sie kennen gelernt, als sie in Dresden bei Verwandten
sich aufhielt, und sie that anfangs recht scheu, als ob sie
mich gar nicht sehen und nicht ausstehen könnte; aber bei einem
gemeinschaftlichen Ausflug in die sächsische Schweiz, im Uttenwalder
Grunde, bin ich vom Gegenteil überzeugt worden in unwiderleglicher
Weise, und nun habe ich den Sturm auf das Pfarrhaus im Gebirge
unternommen. Dem Papa war's ja nicht ganz recht, daß ich katholisch und
ein Maler noch obendrein war, aber sehen Sie, lieber Doktor, er ist ein
zu prächtiger Mensch! Die Güte, Herzlichkeit und Menschenfreundlichkeit
selber! ›Sei's denn, wenn Ihr Euch lieb habt,‹ sprach er, ›und der
Herrgott gebe seinen Segen dazu. Nur eins bitte ich und wünsche, daß
mein Kind nicht seinem evangelischen Bekenntnis untreu wird und daß
es nicht um deswillen Bedrängnisse zu erleiden habe‹; das hab' ich
versprochen, und redlich gehalten -- nicht wahr Fritzel? -- und wir
sind wie brave, gute Kameraden neben einander hergegangen, und haben,
wenn auch in andern Kirchen, so doch zu demselben himmlischen Vater,
eins für das andere gebetet. Ach, das liebe Pfarrhaus! Das ist uns
beiden so ans Herz gewachsen, daß wir uns schon nach dem nächsten
Sommer sehnen, wo wir einige Wochen wieder dort zubringen wollen.«

Friederike sah mit leuchtendem Gesichte den Gatten an und hielt seine
Hand in der ihren, Peter Frohwalt aber war es wunderlich zu Mute,
und als der Maler jetzt schwieg, wußte er kaum, was er sagen sollte.
Er suchte hinter einigen allgemeinen Redensarten, mit welchen er
sich über das Angenehme eines solchen Landaufenthaltes bei lieben
Angehörigen aussprach, über die Verlegenheit, in welche er geraten war,
hinwegzukommen, und hielt sich auch nicht mehr lange in dem gastlichen
Hause Quandts auf.

Er fühlte sich verstimmt auf dem Heimwege und konnte auch in seinem
Gemache nicht das innere Gleichgewicht finden. Wie sollte er sich
fürder zu dem Maler und seiner Frau stellen? -- Sollte er seinen
Verkehr bei ihnen ganz aufgeben? -- Nach seinen bisherigen Grundsätzen
hätte er es thun müssen. Er dachte an Freidank und sein erstes Weib,
die protestantische Grethe, die man in seiner Heimat im Friedhofswinkel
begraben hatte, und die doch so brav und gut gewesen sein sollte, und
ihr Bild schwamm mit jenem Friederikens ihm in eins zusammen. Er mochte
es aber nicht denken, daß man auch diese einmal zwischen Selbstmörder
und Vagabunden betten könnte, und es war ihm, als wäre an Grethe
Freidank seinerzeit ein schweres Unrecht verübt worden. Er versetzte
sich im Geiste in das Empfinden seines jetzigen Schwagers, und er
fühlte, wie er auch gegen diesen milder gestimmt wurde.

Auch an Professor Holbert mußte er denken und an das, was derselbe von
der protestantischen Gattin eines seiner Freunde gesagt hatte: daß er
trotz des Syllabus nicht glauben könne, daß ihr die Seligkeit versagt
sein solle. Auch er hätte betreff Friederikens das nicht glauben
mögen, und er zweifelte, ebenso wie Holbert, an der Richtigkeit jener
päpstlichen Verfügung. Wenn er aber das Weib Quandts nicht verurteilen
und verwerfen konnte, trotzdem er es erst kurze Zeit kannte, warum
wollte er härter gegen die eigene Schwester sein, deren gutes, liebes,
treues Wesen ihm seit seinen Jugendtagen so vertraut war?

Zuletzt war's ihm eine feste und beschlossene Sache, daß er in
derselben herzlichen und freundlichen Weise wie bisher mit Quandts
weiter verkehren wolle, und was ihn darin besonders bestärkte, war der
Umstand, daß auch der Prälat Parelli, obwohl auch dieser zweifellos von
dem evangelischen Bekenntnis Friederikens wußte, in liebenswürdigster
Weise den Umgang mit dem Hause des deutschen Malers pflegte.

Wenige Tage nach dem Besuche bei Quandt war Frohwalt übrigens bei
Parelli geladen -- im engsten Kreise, wie es in der Einladung lautete,
und er stand nicht an, derselben Folge zu leisten.

Er kannte diese prunkvollen Gemächer bereits, in denen Reichtum und
Geschmack sich vereinigt hatten, aber wenn auch das Auge hier sich
freute und die Phantasie sich angeregt fühlte, es fehlte doch jenes
stimmungsvolle Behagen, wie im schlichten, deutschen Malerheim.

Auch die Tafel war reich besetzt und in jeder Weise trefflich, und
Frohwalt hatte Gelegenheit, einige ihm ganz fremde ausgezeichnete
Weinsorten kennen zu lernen, so daß für einen Feinschmecker an diesem
Tische kaum etwas zu wünschen übrig gewesen wäre.

Seltsamer Weise aber mußte der deutsche Priester trotz des vielfach
hervortretenden Gegensatzes an den Nedamitzer Pfarrer und sein
ländliches Haus denken. Der Zinnkrug von dort war hier verwandelt in
spiegelnde geschliffene Weinkaraffen, und an die Stelle Barbaras trat
hier ein Weib in Seide, Flitterstaat und Juwelenschmuck.

»Signora Lucia Vergani, meine Cousine, die liebenswürdige Anstandsdame
meines Hauses!« hatte der Prälat die in jeder Weise vornehm auftretende
Frau vorgestellt, die mit dem verbindlichen Lächeln der Hausfrau den
jungen Priester begrüßte und ihm den Platz zu ihrer Rechten anbot,
während links von ihr der Jesuitenpater Felice saß. So waren sie nun zu
Viert am Tisch, und die Unterhaltung war eine lebhafte und geistvolle
-- -- aber Frohwalt konnte über ein unbehagliches Empfinden nicht
hinwegkommen. Die kalten, klaren Augen des Jesuiten störten ihn eben
so sehr, wie das ganze Wesen des geputzten Weibes, das ihm wie eine
reichgeschmückte Lüge vorkam ... Barbara in Seide!

Er that vielleicht dem Prälaten unrecht. Parelli benahm sich ja in
jeder Weise untadelhaft, dabei ungemein liebenswürdig, daheim auf dem
Gebiete der Kunst, und wenn er auch den Speisen und dem Weine sehr
ausgiebig zusprach, so machte er doch nicht den Eindruck des Unmäßigen.
Sein Körper schien just so viel zu gebrauchen, als er genoß. Trotz
alledem schien Frohwalt unsichtbarer Weise der alte Nedamitzer Pfarrer
mit am Tische zu sitzen und ihn traurig anzublicken, als ob er sagen
wollte: »Sieh, Du hast mich verurteilt, und ich habe doch auch nichts
anderes gethan!«

So kam es, daß es ihm gar nicht recht schmecken wollte, und daß er
manchmal nur mit halbem Ohr auf das horchte, was das üppige, schöne
Weib an seiner Seite zu ihm sprach. Und als es ihm gar erst schien,
als ob er einen begehrlichen Blick aufgefangen hätte, der über ihn
hinglitt, da überkam ihn ein Widerwille, und er wurde noch wortkarger.

Felice zeigte sich ihm gegenüber von sicherem weltmännischem Wesen,
aber von einer so kalten, klugen Ueberlegenheit, daß ihm bangte vor
dem Manne, und wenn er sah, wie er mit seinem hagern Leibe sich über
den kleinen Prälaten herbeugte, überkam ihn ein Empfinden, ähnlich
jenem, welches Sisto hatte, als er damals die Beiden im Garten an
sich vorübergehen sah. Ihm fiel alles ein, was Professor Holbert von
Jesuiten und Jesuitenmoral zu ihm gesprochen, und trotz der beinahe zu
großen Freundlichkeit Felices war er ihm gegenüber zurückhaltend, so
daß derselbe äußerte:

»Sie verleugnen Ihren mehr nordländischen Charakter nicht, Herr Doktor
-- kühl und zurückhaltend! Das beobachten wir an fast allen deutschen
Herren und Seine Eminenz, Ihr Herr Kardinal-Fürsterzbischof ist bei all
seinen trefflichen Eigenschaften Ihnen darin ähnlich.«

Nach Tische zog die Signora Frohwalt wieder ins Gespräch und wünschte
ihm, gleich wie mit dem Stolze der Hausfrau, die ganze Herrlichkeit
dieses Hauses zu zeigen. Wenn er nicht unhöflich sein wollte, mußte
er ihr folgen, während die beiden anderen sich für eine Weile in das
Arbeitszimmer des Prälaten zurückzogen.

Lucia hatte manches von Parelli gelernt und ein gewisses äußerliches
Kunstverständnis sich angeeignet. Dabei war ihr Benehmen ungezwungen.

Sie nahm ohne weiteres den Arm ihres Begleiters und stützte sich auf
denselben, so daß es Frohwalt seltsam durchrieselte. So war er noch an
keines Weibes Seite gegangen. Der Arm war voll und weich und warm, und
es umwehte ihn wie ein sinnlicher Zauber. Dazu redete aus den dunklen
Augen der Signora ein begehrliches, heißes Feuer, so daß er fühlte,
wie auch ihm die Röte in die Wangen stieg. Das Weib schien seine
Befangenheit zu bemerken, und das bereitete ihr offenbar Behagen und
Befriedigung, so daß sie ihn mit Wort und Blick immer mehr umstrickte.

Sie sprach von den einzelnen Kunstgegenständen, wie sie zerstreut
in den prunkvollen Gemächern standen und wußte geschickt verhüllte
Beziehungen herauszufinden und anzudeuten: Der blonde Deutsche schien
es der schönen, heißblütigen Südländerin angethan zu haben. In den
Räumen herrschte eine weiche, duftatmende Atmosphäre, die von den
üppigen Polstermöbeln, den nackten Marmorbildern in den Nischen,
und von den Gemälden in den breiten Goldrahmen auszugehen schien,
denn Frohwalt merkte bald, daß die letzteren nur zum kleinsten Teile
religiöse Stoffe behandelten. Auf den meisten glänzten blitzende
Frauenaugen, blinkten weiße entblößte Schultern und Busen, war das
lachende, verführerische Leben dargestellt. Er redete sich ein, sie
befänden sich hier ausschließlich ihres Kunstwertes wegen, und Lucia
schien ihn in dieser Meinung zu bestärken.

Dabei blieb sie gerade vor den bestrickendsten am längsten stehen,
sah ihm, während sie sprach, immer heißer und tiefer in die Augen
und drängte sich wohl auch enger an ihn, so daß er durch das leichte
Seidengewand das Pochen ihres Herzens fühlte.

Er kam sich vor wie Tannhäuser im Venusberge, er fühlte, wie eine
seltsame, nie gekannte und doch beinahe wohlige Schwäche ihn lähmte,
und wie er beinahe willenlos sich von seiner Begleiterin fortziehen
ließ.

In einem kleinen, lauschigen Gemach mit dunklen Möbeln, das nur matt
erhellt war, ließ sie auf einem kleinen Sopha sich nieder und zog ihn
an ihre Seite.

»Hier ruhen wir einen Augenblick -- denn hier ist das schönste Bild,
welches Monsignore besitzt.«

Es war ein in großem Stil gehaltenes Werk in dunklem Rahmen, welches
gegenüber dem Sitze an der Wand hing: Potiphars Weib.

Die schöne, heißbegehrende Egypterin lag mit halb erhobenem Leibe auf
purpurdunklem Pfühle. Das nilgrüne, duftig-durchsichtige Gewand war
von dem Oberkörper herabgesunken, wie aus einem matten, gelblichen
Schleier, der wenig genug verhüllte, schimmerte die königliche
Büste, der Kopf war von wundersamer, berückender Schönheit mit seinen
glutendunklen Augen, mit dem blauschwarzen, leicht gewellten Haar, das
sich um die weiße Stirn ringelte und die vollen, schönen, nackten Arme
streckte sie begehrend aus nach dem nicht sichtbaren Joseph.

Frohwalt hatte nie ein solches Bild gesehen. Sein Atem ging schneller
und kürzer, seine Augen hafteten fest auf dem entzückenden Weibe, und
wie Faust vor dem Zauberspiegel der Hexenküche, so kam auch ihm wie ein
zuckender Blitz der Gedanke: »Ist's möglich, ist das Weib so schön?«

Da fühlte er mit einem Male den heißen Hauch der Italienerin näher an
seinem Gesichte, er sah die lodernden, dunklen Augen fast dicht vor
den seinen, rote Lippen schienen ihm entgegenzuzittern, und bebend vor
Erregung, eigentümlich tiefförmig und weich, rang sich das Wort von
ihnen:

»Sagen Sie -- war Joseph nicht ein Thor?«

Das Wort gab ihm seine fast verlorene Besinnung zurück; er wollte
aufschreien: Potiphar! aber er bezwang sich, sprang von seinem Sitze
auf, atmete einmal tief und sagte dann mit merkwürdiger Festigkeit:

»O nein, Signora, er war ein Held! ... Aber wollen wir nicht Monsignore
aufsuchen?«

Das Blut war dem schönen, üppigen Weibe zurückgetreten aus den
Wangen, mit fahlem Gesicht, in dem die dunklen Augen noch leuchtender
sprühten, sah sie dem stattlichen jungen Manne nach, der jetzt langsam,
unbekümmert um sie, dem Ausgang des Gemaches zuschritt, und die kleinen
Hände vor Unmut, Zorn und Scham geballt, ging sie ihm nach. --

[Illustration: ... Die Hände vor Unmut, Zorn und Scham geballt, sah sie
dem stattlichen jungen Manne nach ... (S. 276.)]

Bald darauf verabschiedete sich Frohwalt von dem Prälaten und dem
Jesuiten. Der erstere entließ ihn mit herzlicher Freundlichkeit und lud
ihn zuvorkommend ein, seinen Besuch bald zu wiederholen, der andere
aber sah ihn mit seinem kalten, klaren Blick so forschend an, als
wollte er in seiner Seele lesen, und da der junge Priester gegangen,
sprach er zu Parelli:

»Seltsame Menschen, diese Deutschen! Ehrlich, aber wenig klug,
starrköpfig, aber ohne große Ziele, schwärmerisch für Ideale
begeistert, aber feige in der Wahl ihrer Mittel.«

»Aber ein Volk mit einer starken Zukunft, gründlich in seinem Wissen,
kühn in seinem Wollen, kraftvoll in seinem Können,« erwiderte der
Prälat.

Peter Frohwalt aber war in mächtiger, schwer bekämpfter Erregung
fortgegangen. Was für ein Odem wehte durch dieses glänzende Haus eines
hohen kirchlichen Würdenträgers? Wie die verkörperte Sünde ging das
schöne, buhlerische Weib darin hin und her, wie die Herrin des Hauses,
und wohl auch wie die des Hausherrn. Wenn das am grünen Holze war, was
Wunder, wenn es sich auch an dem dürren fand? -- Wenn das im Palaste
des Prälaten sein konnte, warum nicht auch in der armen Landpfarre zu
Nedamitz? Und jene Barbara war vielleicht noch um ein gutes Teil besser
als diese Signora Lucia Vergani.

Er nahm sich vor, niemals mehr die Schwelle dieses Hauses zu
überschreiten. Welch ein reiner Geist lebte dagegen in dem schlichten,
anmutigen Heim des deutschen Malers, dessen Weib doch eine »Ketzerin«
war, eine nach seinen bisherigen strengen Begriffen Verworfene und vom
Himmel Ausgeschlossene. Nein, von solcher Satzung konnte der Allgütige
nichts wissen, die ewige Liebe konnte sie nicht billigen, und wenn
ein Papst einen solchen Grundsatz verkündet hatte, so war es schon um
deswillen unmöglich, daß er unfehlbar sein könne.

Peter Frohwalt fühlte, daß an diesem Tage eine Erschütterung durch
seine Seele, durch sein ganzes bisheriges Glauben und Empfinden
gegangen war, und daß der Widerwille, den er gegen den Protestantismus
empfunden, in seinem Herzen schmolz wie der Schnee vor dem hellen
warmen Frühlingsstrahl. Und wie nach dem Besuche bei Quandt mußte er
auch heute wieder mit wärmerer Zuneigung seiner Schwester, und mit
versöhnlicher Milde seines Schwagers gedenken.

Und als ob der Himmel selbst ein solches Erinnern unterstützen wollte,
fand Frohwalt, als er heimkam, einen Brief vor von Vetter Martin. Ein
Gruß aus der Heimat! Wie mit einem Schlage war die ganze Erregung, mit
der er das Haus des Prälaten verlassen hatte, in ihm verwischt, hinter
ihm versank alles andere, und von freundlichem Licht umwoben stand das
kleine Landstädtchen im westlichen Böhmen vor ihm, und alles, was er
dort lieb hatte. In solcher Stimmung öffnete er das Schreiben und las:


        »Mein lieber Peter!

    Ich habe allezeit etwas auf Ehrlichkeit und Geradheit gehalten,
    darum kann ich Dir auch nicht verhehlen, daß Du diese Epistel
    in erster Reihe dem Umstande verdankst, daß ich Langeweile
    habe. Draußen schneit es, wovon Ihr in Rom keine Ahnung habt,
    aber das könnte mich nicht abhalten, mich irgendwo in einer
    zur Zeit lieblicheren Gegend unseres Planeten herumzutreiben,
    wenn mir nicht wieder einmal meine linke Hinterpfote den Dienst
    versagte. So habe ich mir denn das Vergnügen gemacht, mein
    ganzes Museum einmal zu ordnen und zu katalogisieren und finde
    nun zu meiner eigenen Verwunderung, daß es nicht weniger als
    achthundertzweiundvierzig Nummern umfaßt, darunter manches
    Hübsche. Ich hoffe, daß mir's der Himmel vergönnt, die tausend
    voll zu machen. Seit drei Tagen bin ich mit der Arbeit fertig,
    habe die erste Freude an der Sache ohne weiteren Schaden an
    meiner Gesundheit verwunden, bin aber auch lahm gelegt in des
    Wortes vollster Bedeutung. Darum ergreife ich die Feder, wie
    mein Alter -- Gott hab' ihn selig -- immer seine Briefe an
    mich anfing, um ein wenig mit Dir zu plaudern. Es thut Dir
    vielleicht auch gut, wenn Du einmal, anstatt mit den Vätern
    des allgemeinen Konzils, mit dem alten Vetter Martin eine
    Viertelstunde umgehst, der zwar weder selbst unfehlbar ist,
    noch einen andern, und wenn's der Papst wäre, dafür halten
    kann, der aber darum hoffentlich noch nicht als Ketzer von
    Dir angesehen wird, sintemal Ihr den neuen Glaubenssatz noch
    nicht fertig gekriegt habt. Es wäre überhaupt -- in Klammern
    gesprochen -- besser, wenn das Ei, welches die Jesuiten gelegt
    haben, vom Konzil nicht ausgebrütet würde. Das ist aber so
    meine Privatmeinung, die Dir und dem Kardinal Schwarzenberg
    sehr gleichgültig sein wird, weshalb Du sie auch diesem gar
    nicht zu sagen brauchst.

    Aber reden wir lieber von angenehmeren Sachen! Deine Mutter ist
    wohlauf und freut sich über jeden Brief aus Rom. Ich glaube,
    sie hält Dich jetzt in der Siebenhügelstadt für den wichtigsten
    Mann nach dem Papste und meint, daß das ganze Konzil ohne Dich
    Essig wäre. Ich gönne ihr diese Freude, um so mehr, als sie
    mir dafür die andere macht, daß sie Deine Episteln immer mich
    zuerst lesen läßt, woraus Du ersehen kannst, daß ich in Deinen
    römischen Verhältnissen mich auskenne, wie in meinem Rucksack
    und daß ich Dich ohne Cicerone finden werde, wenn ich nach Rom
    komme. Und das habe ich mir vorgenommen. Ich muß mir so ein
    Konzil in der Nähe ansehen, denn ich glaube, ich erlebe kein
    zweites. Das wäre zwar kein Unglück, weder für mich, noch für
    die Welt, aber da ich meine Einkünfte ebenso gut in der ewigen
    Stadt, wie hier in dem entlegenen böhmischen Winkel verzehren
    kann, so ...

    Aber weiter im Texte. Deine Schwester blüht wie eine Rose in
    Glück und Gesundheit, und ich habe -- unter uns gesagt -- den
    Eindruck, als ob ihr weder die Ehe, noch der Protestantismus
    geschadet hätte. Und erst ihr kleiner Junge, Dein Neffe, mein
    Pathchen Martin Peter. Potz Respekt vor dem Bengel. Schade, daß
    _der_ nicht beim Konzil sein kann; ein Organ hat er wie ein
    Kirchenvater und dazu mehr Unschuld, als alle zusammengenommen.
    Da sagst Du nun: »Was dem alten Manne für dumme Witze
    passieren?« Na ja, aber ich meine nur, weil er ein kleiner
    Protestant und für den ewigen Höllenpfuhl vorherbestimmt ist,
    daß das arme Kerlchen weniger Sünden auf dem Gewissen hat, als
    irgend ein Konzilsvater, dem doch die ewige Seligkeit verbürgt
    ist, wenn er ein gehorsamer Sohn der Kirche ist, und nicht
    weiter muckt, wenn es heißt: ~Roma locuta est~ -- Rom hat
    gesprochen!

    Aber hier komme ich ins Schwatzen und auf ein Thema, das Dich
    möglicherweise veranlaßt, mit meiner Epistel Deinen Ofen zu
    heizen, wenn Du einen hast, was in Rom nicht immer der Fall
    sein soll. Wenn Du keinen hast, betrachte ich das als ein gutes
    Omen, das mich veranlaßt, wenigstens flüchtig auch Deines
    Schwagers Freidank zu gedenken, der zu den fleißigsten und
    bravsten Menschen gehört, die ich jemals kennen gelernt habe
    ... und, Peter, das will viel sagen. Der alte Pfarrer hat nach
    wie vor seine Uhren bei ihm reparieren lassen. Das ist aber nun
    vorbei, denn dem alten, braven Herrn ist selber die Lebensuhr
    stehen geblieben.

    Ganz plötzlich. Eines Morgens, vor etwa vierzehn Tagen lag er
    früh tot im Bette und lächelte. Es war ein großes Begräbnis,
    und da hat sich erst die Liebe gezeigt, die die Leute zu ihm
    hatten und da hat sich auch erst herausgestellt, was er unter
    der Hand Gutes gethan. Ich sage Dir, Peter, aus allen Winkeln
    kroch die Armut und die Lahmen und Presthaften hervor und
    humpelten hinter dem Sarge drein und schluchzten, wie wenn sie
    zu seiner Familie gehörten. Und ich glaube, der Mann war nicht
    gut angeschrieben beim hochwürdigen Konsistorium, er war -- wie
    man sagte -- aus der alten Schule Kaiser Josefs II., aber ich
    hatte den Eindruck, daß _die_ Schule nicht schlecht war und bin
    seitdem noch stolzer, daß ich ihr auch angehöre.

    Der neue Pfarrer gehört nicht dazu. Der Pater Ignaz ist,
    soviel wir hören, dazu bestimmt, und ich fürchte sehr, daß
    es jetzt mit dem lieben Frieden zwischen Katholischen und
    Evangelischen hier vollends vorbei ist. Mir kann's persönlich
    gleich sein, wer hier die frommen Schäflein zu weiden hat, aber
    ich wollte doch, sie hätten den Pater Ignaz lieber irgendwo
    in Hinterindien oder in einer sonstigen gesegneten Gegend zum
    Erzbischof, als gerade hier zum Pfarrer gemacht.

    Noch eins, was Dich vielleicht interessiert. Du hast ja die
    Tochter von Professor Holbert gekannt, die hier an ~Dr.~
    Haller verheiratet ist. Das ist eine Märtyrerin, die Ihr
    gleich beim jetzigen Konzil bei lebendigem Leibe heilig
    sprechen könnt! Wie diese zwei Menschen zusammenkommen konnten,
    das ist mir ein Rätsel der Seelenlehre, das ich mit meiner
    Alten-Junggesellen-Weisheit nicht klar kriegen kann. Der
    Mann verdiente bei den Botokuden als Leibarzt irgend einer
    schwarzen Menschenfresser-Majestät zu existieren und wäre
    vielleicht für eine solche zu einem Abendbrot noch leidlich
    genießbar. Hier hat er abgewirtschaftet. Ihm fehlt zum Arzte
    sehr viel, und zum anständigen Menschen nahezu alles, und ich
    kann manchmal, wenn ich ihn in einer besonders »geistvollen«
    (ich meine weingeistvollen) Phase erblicke, der Versuchung
    kaum widerstehen, zu erproben, ob mein Knotenstock oder sein
    Schädel mehr Festigkeit haben -- 's ist mir aber immer wieder
    um meinen Stock leid. Das arme junge Weib! Er soll sie sogar
    mißhandeln, angeblich, weil sie nicht soviel Mitgift brachte,
    als er vermutete, und Deine Mutter weiß von verweinten Augen
    zu erzählen, aber sie klagt niemandem und ist immer so _sehr_
    freundlich! Herr Gott, wenn mein Hans Stahl davon Witterung
    erhält!

    Ein hübscher Mann dagegen ist der Kapuzinerpater Severin. Er
    und der Guardian machen einem das Klösterchen lieb, und ich
    gehe nur zu ihnen in die Kirche, habe auch mit dem Guardian
    schon botanisiert. Da muß ich wieder an Deinen guten Nedamitzer
    Alten denken. Ich hätte ihm gerne noch ein paar frohe Tage
    unter meinem Zeltdache bereitet ... es hat nicht sein sollen.
    Möge er ruhen in Frieden! Ich glaube doch trotz allem, daß ich
    ihn im Himmel wiederfinde, vorausgesetzt, daß der Herrgott mich
    alten Sünder selbst einläßt. Na, wissentlich hab' ich niemandem
    Böses gethan -- vielleicht ist das mein Passierschein.

    Nun, mein lieber Konzilsvater, soll's aber gut sein. Bleibt
    nur fest und thut nichts, was gegen die Ueberzeugung ist ...
    das hofft die Christenheit, und sie glaubt ein Recht dazu zu
    haben! Nun muß ich meine Hinterpfote schmieren, damit ich bald
    ausmarschieren kann.

    Auf Wiedersehen in Rom, und herzlichen Gruß vom

            Vetter Martin.«

Der Brief that wohl, wie ein frischer Trunk aus klarem, gutem Born;
manches, was Frohwalt vordem darin vielleicht unbehaglich gewesen,
erschien ihm jetzt so wahr und gesund, daß er bei seinem Abendmahle
heiter und ruhig war und nach der Aufregung des Nachmittags einen
friedlichen Schlaf fand, der ihn im Traum in seine Heimat trug.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Fünfzehntes Kapitel.


Wochen waren vergangen. Der Unfehlbarkeitsbrei brodelte noch immer
unfertig im Topfe des Konzils, und der Papst, welchem seine Umgebung
vorgespiegelt haben mochte, daß die Sache glatt und schnell abgewickelt
sein würde, wurde ungeduldig. So suchte die Jesuitenpartei nach
einem Mittel, die Angelegenheit zu beschleunigen und glaubte ein
solches gefunden zu haben in der Aenderung der als zu freisinnig sich
erweisenden bisherigen Geschäftsordnung. Man rechnete dabei vor allem
auf die für den Glaubenssatz unbedingt zur Verfügung stehenden Stimmen
und glaubte auf das hin etwas wagen zu dürfen, was einem Gewaltakte
täuschend ähnlich sah.

So wurde durch die neue Geschäftsordnung verfügt, daß sowohl die
Versammlung, als auch der Präsident das Recht haben sollte, jede
Debatte abzuschneiden und eine Abstimmung herbeizuführen. Wenn man
erwägt, daß die Präsidenten und das gesamte Direktorium vom Papste
ernannt wurden, und daß überdies die Mehrheit der Versammlung
bedingungslos alles anzunehmen bereit war, so erhellt daraus, welchen
Wert alle ferneren Beratungen noch haben konnten. Dazu kam die weitere
Bestimmung der neuen Geschäftsordnung, daß alle Beschlüsse mit
_einfacher_ Stimmenmehrheit gefaßt werden konnten. Der Zufall einer
einzigen Stimme sollte Ausschlag gebend sein für einen so ungeheuer
wichtigen Beschluß, welcher tief in das Leben der Kirche eingriff.

Ein solches Vorgehen rief unter einem Teil der Konzilsväter eine
heftige Bewegung hervor, und wiederum waren es die deutschen und
österreichischen Bischöfe, denen sich auch französische und ungarische
anschlossen, welche keinen Augenblick die gefährliche Bedeutung der
neuen Geschäftsordnung verkannten.

Auch im Hause des Kardinals Schwarzenberg zitterte diese Erregung nach.
Professor Meyer, der sonst außerordentlich ruhig blieb, erörterte mit
Schärfe und klarer Gewissenhaftigkeit die Sachlage, und ~Dr.~ Frohwalt,
welchem die ganzen unwürdigen Vorgänge genügend bekannt waren, fühlte
sich immer mehr erschüttert in seinen Anschauungen, die er von der
ewigen Stadt und ihrem kirchlichen Leben gehabt hatte. Mehr als einmal
dachte er des Gesprächs mit Professor Holbert, und mit eigenen Augen
sah er nun, welche gefährliche Macht der Jesuitismus in den Händen
hatte, eine Macht, der gegenüber der offene, ehrliche Mut der besser
denkenden Kirchenväter immer mehr ins Wanken kam.

Auch diesmal kamen sie über halbe Maßregeln nicht hinaus. Wohl machten
etwa hundert Kirchenfürsten eine Eingabe an den Papst, in welcher sie
gegen die neue Geschäftsordnung sich wendeten mit der Erklärung, daß
infolge derselben dem Konzil vorgeworfen werden könnte, daß es der
Allgemeinheit, der Wahrheit und der Freiheit entbehre.

Nur vorgeworfen werden _könnte_! Hier fehlte das eigentlich richtige,
das mutig durchgreifende, entschieden protestierende Wort, und so war
es nicht verwunderlich, wenn solche Eingaben erfolglos blieben, und
wenn die jesuitischen Ratgeber des Papstes sich ins Fäustchen lachten.

Frohwalt war mit dem Jesuitenpater Felice zusammengetroffen, und
dieser hatte mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit sich an den jungen
deutschen Theologen angeschlossen. Im Gespräch aber hatte er mit
einem beinahe spöttischen Lächeln um den schmalen Mund sich über
die Bemühungen der deutschen Bischöfe geäußert, dem heiligen Stuhle
Widerstand zu leisten und hatte mit humoristischer, aber unverkennbar
höhnischer Wendung darauf hingewiesen, wie die Konzilsväter Rom nicht
eher verlassen würden, bevor nicht das neue Dogma fertig sei. Der
römische Sommer werde ihre Bedenken schon schmelzen helfen.

Frohwalt war der kalt lächelnde Mann mit den scharfen Augen niemals
mehr widerwärtig gewesen, und er fühlte sich von seiner Freundlichkeit
abgestoßen. Die Frage, weshalb er das Haus des Prälaten Parelli nicht
mehr besuche, und ob er vielleicht die schönen Augen der Signora
fürchte, empörte den jungen Priester, und er war nahe daran, mit
heftiger Deutlichkeit dem Jesuiten den wahren Grund dafür anzugeben.
Aber er bezwang sich und schützte irgend einen gleichgültigen Grund vor.

An Parellis Haus und die Verhältnisse in demselben sollte er aber bald
in noch weniger angenehmer Weise erinnert werden.

Es war an einem Sonntag. Sisto, welcher ein kleines Stübchen im
Erdgeschoß des Hauses des Prälaten inne hatte, neben der Wohnung
Giovannis, hatte den ganzen Nachmittag an seinem Fenster gesessen
und an einer Buchsbaumfigur geschnitzt, welche er schon seit einiger
Zeit in der Arbeit hatte. Der Junge besaß ein ganz außerordentliches
Geschick, und der Meister, bei welchem er sich in der Lehre befand,
hatte sich wiederholt dem Prälaten gegenüber ungemein lobend
ausgesprochen. Sisto hatte beschlossen, seinem Wohlthäter heimlich
eine kleine Freude und Ueberraschung zu bereiten, und niemand
sollte davon wissen. Es war eine ganz köstliche Phantasiefigur, an
welcher er schnitzte, eine Art Satyr, welcher auf der Schulter ein
reblaubumwundenes Fäßchen trug, das als Lämpchenhalter verwendet werden
konnte.

An diesem Sonntage wollte der Knabe mit seiner Arbeit zu Ende
kommen, und als es dämmerte, war er in der That so weit, daß er mit
Befriedigung auf das vollendete Werk schauen konnte. Er freute sich
daran, noch mehr aber darüber, das kunstvolle Lämpchen heimlich in
das Schlafgemach des Prälaten zu stellen und ihn so besonders zu
überraschen.

Sisto war in seinem Plane ganz aufgeregt und konnte kaum erwarten,
bis er nach der Abendmahlzeit sich würde in das betreffende Zimmer
schleichen können. Er hatte sich schon vordem ein kleines Glasgefäß
verschafft, welches in das geschnitzte Fäßchen paßte, es mit Oel
gefüllt und mit einem Docht versehen, auch probiert, wie das Lämpchen
brannte und sich beim Schimmer des kleinen Lichtchens erst recht an
seiner hübschen Arbeit gefreut.

Als er nun meinte, daß der Prälat mit der Signora -- Gäste waren heute
ausnahmsweise nicht anwesend -- noch bei Tische sitzen werde, schlich
er leise und mit pochendem Herzen, als ob er irgend etwas Schlimmes
vorhätte, die kleine Dienertreppe hinauf nach dem Obergeschoß. Er
kannte, da ihn der Prälat ganz ungehindert überall verkehren ließ,
die Lage der Zimmer, sowie ihre Verbindung unter einander ganz genau.
Er wußte auch, daß das Schlafzimmer zwei Zugänge hatte, deren einer
durch die Salons und das Arbeitszimmer führte, während der andere fast
unmittelbar vom Flur aus zu erreichen war.

Er hatte das Lämpchen angezündet, hielt die Hand vor das kleine Licht,
damit es ihm nicht erlösche und trat nun, durch ein Dienerzimmer und
ein Vorzimmer geräuschlos hinschreitend, an die Thür des Schlafgemachs.
Er spähte durch das Schlüsselloch und fand, daß alles finster war; sein
Plan wurde offenbar begünstigt, und so faßte er, während seine Linke
die Lampe trug, mit der Rechten den Drücker, der leicht und unmerklich
nachgab, und einen Augenblick später stand er im Rahmen des Eingangs.
Aber dieser Augenblick ließ ihn beinahe zu Stein erstarren.

Das unselige Lämpchen beleuchtete ein Bild, vor dem der Knabe sich
entsetzte. In dem Gemache stand an der einen Wand ein geschnitztes
breites Bett mit einem seidenen Baldachin darüber und vor demselben
ein Divan, der mit einem schönen Pantherfelle bedeckt war. Auf diesem
aber saßen in heißer Umschließung Parelli und Lucia, letztere in weißem
Négligé mit nackten, vollen Armen. Aus dem dunklen Rahmen des Zimmers
trat gerade diese Gruppe, beleuchtet durch das flimmernde Licht, in
müden aber deutlichen Umrissen hervor, und auch die beiden Menschen
saßen im ersten Momente bei der unerwarteten Ueberraschung wie erstarrt.

[Illustration: Das Lämpchen beleuchtete ein Bild, vor dem der Knabe
sich entsetzte. -- (S. 287.)]

Dann folgte ein zweifacher lauter Aufschrei. Den einen stieß die
Signora aus, welche hastig aufsprang und ihre Arme von dem Nacken des
Mannes löste, den andern Sisto, der gleichzeitig seine Lampe fallen
ließ und wie von bösen Geistern gejagt, hinausstürzte. Dunkelheit lag
wieder auf dem üppig ausgestatteten Raume, Dunkelheit breitete sich aus
auch in dem kleinen Hofstübchen des armen Jungen, der wie von Entsetzen
geschüttelt, mit klappernden Zähnen, sich angekleidet auf seinem Lager
hin- und herwarf und den Schlaf nicht finden konnte.

Ihm war zu Mute, als ob ihm ein verehrtes Heiligtum entweiht, als ob
ihm eine Gottheit in den Staub getreten worden wäre. Der arme Knabe
hatte mit seinem frommen, anhänglich treuen Wesen in dem Prälaten
die Verkörperung der Gottähnlichkeit gesehen, er hatte mit einer
unendlichen Verehrung, beinahe mit Anbetung zu ihm aufgeschaut, wie zu
einem Heiligen ... und nun war er so furchtbar enttäuscht. Er hätte
aufschreien und weinen mögen in seinen entsetzlichen Schmerzen, die
ihm das junge, in seinem Vertrauen so enttäuschte Herz bereitete, denn
er fühlte, daß er trotz allem noch den Prälaten liebte; das Weib aber
haßte er von dieser Stunde an tödlich.

Der Knabe hatte eine qualvolle Nacht. Stunde ging langsam um Stunde,
aber so sehr die bange, heiße Schlaflosigkeit ihn quälte, so sehnte er
doch nicht den Morgen herbei, denn er wußte nicht, was der neue Tag
ihm bringen würde, und wie er vor die Augen seines Wohlthäters treten
sollte.

Aber die Zeit kümmert sich nicht um Leid und Lust, nicht um Sehnsucht
und Zagen eines Menschenherzens; mit gleichmäßigem Fuße schreitet sie
ihren ewigen Weg durch Glück und Unglück. Und die Sonne Roms ging an
jenem Morgen mit wundersamer Herrlichkeit auf am blauen Himmel der
Tiberstadt und lachte über den Palästen und blinkte hinein in das
Stübchen des armen Jungen, der mit verhärmten Wangen und verweinten
Augen, ein Bild des Jammers, in einem Winkel kauerte, wie ein Hund, der
gewärtig ist, mit der Peitsche hinausgetrieben zu werden aus dem Orte,
wo er friedlichen und freundlichen Unterschlupf gefunden hatte.

Aber Sisto dachte nicht an sich; er dachte an den Herrn, den er liebte
und dessen Seelenheil ihm in seiner naiven Frömmigkeit am Herzen lag. O
wenn er ihn freimachen könnte aus den Fesseln des buhlerischen Weibes,
wenn er wieder gläubig, vertrauend und verehrend zu ihm aufschauen
dürfte wie zu einem echten, rechten Hirten der Christenheit! Er hatte
im Gebete gerungen und vor allem seinen Schutzheiligen angefleht, der
einst ein frommer Papst gewesen und ein Stellvertreter Christi auf
Erden, und nun war durch seine Seele wie ein heller Blitzstrahl ein
leuchtender Gedanke geflogen. Vielleicht stand sein Heiliger ihm bei,
wenn er ihn ausführte.

Er hatte den Prälaten zurückkehren sehen aus der Kirche, und bei
dem Gedanken, daß er trotz der Sünde des gestrigen Abends die Messe
zelebriert und den Leib des Herrn in Brot- und Weingestalt genossen
haben könnte, schauderte er zusammen: Das war nicht möglich -- es
wäre ein Gottesraub gewesen. Er suchte sich den Gedanken auszureden,
während er langsam die kleine Treppe hinaufstieg, die er am vorigen
Abend mit freudig klopfendem Herzen gekommen war.

Er wußte, daß Parelli allein frühstückte und zwar in einem kleinen
Gemache, das unmittelbar an sein Arbeitszimmer stieß. Auf der Treppe
begegnete Sisto seinem Freunde, dem Kammerdiener, der ihm beinahe
bestürzt in das blasse, überwachte Gesicht schaute, in welchem die
dunklen Augen heute größer und glänzender zu sein schienen. Er frug den
Knaben, ob er krank sei; dieser aber verneinte es lebhaft und that die
Gegenfrage, ob er Monsignore jetzt allein antreffe.

Giovanni bestätigte dies und schon nach wenigen Augenblicken trat
Sisto, nachdem er zuvor durch Klopfen Einlaß begehrt, bei dem Prälaten
ein. Als dieser den Knaben sah, fuhr er beinahe erschrocken auf;
sein Gesicht rötete sich, und Sisto begann einen Augenblick sich vor
einem Ausbruch des Zornes zu fürchten. Aber ehe noch Parelli ein Wort
finden konnte, hatte sich der braune Junge schon vor ihm auf die Knie
niedergerworfen und hob die gefalteten Hände zu ihm empor:

»O gnädigster Herr, seien Sie nicht böse! Ich habe Ihnen eine Freude
machen und Sie mit dem kleinen Schnitzwerk überraschen wollen ... ich
konnte ja nicht wissen ... ich wäre niemals gekommen, und es wäre auch
besser für mich gewesen. O gnädigster Herr --« und hier brach Sisto in
lautes Schluchzen aus, das den jungen Körper so sehr erschütterte, daß
der Knabe nur mit Anstrengung die Worte hervorstoßen konnte »-- ach
verzeihen Sie mir, aber ich kann nicht anders, weil ich Sie zu lieb
habe, entlassen Sie die Signora, die Sie unglücklich macht im Leben
und im Sterben, die Ihnen die Seele vergiftet und die ewige Seligkeit
raubt! O mein Gott, was rede ich da vor Ihnen, dem hohen geistlichen
Herrn! Aber beim heiligen Sistus, ich kann nicht anders, ich muß Sie
anflehen, weil es mir sonst das Herz sprengen müßte. O, Signora Lucia
ist _nicht_ verwandt mit Ihnen, schicken Sie sie fort, und ich will auf
den Knieen vor Ihnen liegen, wie vor den lieben Heiligen, o schicken
Sie sie fort!«

Der Prälat war tief erschüttert von dem ungeheuchelten Seelenschmerze
des Knaben; er war aufgestanden und stand da mit bleichem Gesichte,
gelehnt an den Rand des Tisches. Er sagte mild, mit bewegter Stimme:

»Steh auf, Sisto! Ich will vergessen, daß Du durch Dein Eindringen in
mein Gemach zu solcher Stunde ungebührlich gehandelt hast, und daß
Deine Liebe zu mir Dich auch jetzt ungebührlich reden läßt.« Auch
dem Knaben wich die Röte, welche, während er sprach, seine Wangen
übergossen hatte, wieder aus dem Antlitz, und ohne sich zu erheben,
stammelte er:

»Und das Weib? -- Und die Signora?«

»Das verstehst Du nicht, Knabe, und darüber kann ich mit Dir nicht
sprechen,« sagte Parelli ernst, beinahe strenge.

Sisto stand auf. Er sprach kein Wort mehr, die braunen Hände vor das
Gesicht geschlagen, stürzte er hinaus, eilte die Treppe hinab nach
seinem Stübchen, und hier warf er seine Kleider, die der Prälat ihm
gekauft, von sich, suchte den verschlissenen Anzug, in welchem er ins
Haus gekommen war, kleidete sich hastig darein, machte dann noch ein
kleines Bündelchen zusammen von dem, was er mit Recht sein nennen
konnte, und machte sich so wie zu einer Flucht fertig. In ihm stand
es fest, daß er nicht hierbleiben konnte, er hätte das Weib erwürgen,
vergiften, erdolchen müssen!

Er gab acht, daß ihn niemand bemerken konnte, und dann huschte er
schnell durch das Thor hinaus auf die Straße. Noch einen scheuen Blick
warf er nach dem hohen, prächtigen Hause, dann lief er von dannen. Er
wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. Zu dem Meister, der ihn
in der Holzbildhauerei unterrichtete, zu gehen, schämte er sich in
seinem Anzuge; er hätte nicht gewußt, was er ihm mitteilen sollte über
den Grund der Veränderung, die mit ihm geschehen war, und fürchtete
Mißdeutungen. Auch zu Quandt wagte er sich aus dem gleichen Grunde
nicht, und so stand er in dem weiten, glänzenden Rom wie damals, als er
bettelarm in einem Winkel kauerte, weinend und hungernd.

Da fiel ihm der junge deutsche Priester ein, welchen er einigemale im
Hause Parellis, sowie bei Quandt gesehen hatte.

Das frische Antlitz, das klare Auge, die wohlwollende Güte ~Dr.~
Frohwalts hatten auf den Knaben schon lange einen besonders guten
Eindruck gemacht, so daß er stets mit gewissem Vertrauen zu ihm
emporblickte. Und da er jetzt, in dieser unglückseligen Stunde jemanden
brauchte, dem er, wie einem Beichtvater, alles erzählen konnte, was
seine junge Seele schmerzlich zusammenzog, so beschloß er, Frohwalt
aufzusuchen.

Er war bei dem Gedanken ruhiger geworden und schritt langsam über die
Ponte San Angelo nach dem andern Tiberufer, wo ihm in massiver Majestät
die Engelsburg entgegenragte. Sisto kannte die Wohnung des deutschen
Priesters, denn er hatte denselben schon einmal im Auftrage des
Prälaten aufgesucht, und zu seiner Freude fand er ihn daheim.

Frohwalt sah verwundert, ja beinahe betroffen auf den Knaben in seinem
schäbigen Anzuge, und auch Sisto stand einige Augenblicke verlegen und
mit schimmernden Augen vor ihm. --

»Was ist's? Und warum kommst Du _so_ zu mir?« fragte endlich der
Priester in freundlichem Tone, und der Knabe faßte nach seiner Hand und
küßte sie inbrünstig.

»Ach, verzeihen Sie mir, hochwürdiger Herr! Aber ich muß zu Ihnen
kommen, Sie sind der Einzige, zu welchem ich Vertrauen habe.«

Frohwalt suchte den aufgeregten Jungen zu beruhigen. Er zog ihn neben
sich auf den Divan, legte ihm freundlich die Hand auf die Schulter,
und so, sich leicht an den Priester anschmiegend, die Augen gesenkt,
berichtete Sisto alles, was seit gestern abend gewesen war. Er schloß:

»Und da konnte ich nicht anders, hochwürdiger Herr! Ich mußte das Haus
verlassen und wenn ich auch betteln muß. Ich will keine Hilfe von
Ihnen, Sie sollen mir nur sagen, ob ich recht gethan habe oder nicht,
denn Gott weiß, ich wollte nicht undankbar sein!«

Frohwalt war tief erschüttert von den schlichten, wahrheitsvollen und
doch so leidenschaftlich erregten Worten des Knaben. Er sah wie in
einen Abgrund, in welchen kein Licht fallen konnte. Das Haus eines
Kirchenfürsten, aus welchem die guten Geister wichen und worin die
geputzte Sünde zurückblieb!

O, das war schlimmer als im Pfarrhause in Nedamitz! Aber was sollte er
dem Knaben sagen? Was sollte überhaupt mit diesem geschehen?

Dieser sah ihn mit seinen großen dunklen Augen so treuherzig und
vertrauend an, daß er, einem jähen Antrieb folgend, seine Hand ergriff
und sagte:

»Du hast recht gethan, Sisto!«

Da küßte ihm der Knabe aufs neue die Hände, Frohwalt aber fuhr fort:

»Indes so ohne weiteres solltest Du doch nicht fortlaufen. Der Prälat
wird sich um Dich ängstigen und er muß wissen, wo Du bist. Ich werde
mit ihm sprechen -- --«

»Sie wollen ihm sagen, daß ich Ihnen erzählt ...«

»Sei ruhig -- ich werde das Richtige zu finden suchen. Aber mit Dir
will ich zuvor zu Herrn Quandt gehen, ob er sich Deiner annehmen kann,
denn ich selber kann Dich leider nicht bei mir haben.«

»Und auch Herrn Quandt wollen Sie sagen --?«

»Nein, Sisto -- ich werde den Prälaten nicht bloßstellen.«

Die Augen dies Jungen leuchteten dankbar und freudig auf bei der
Aussicht, zu dem deutschen Maler zu kommen, in dessen Häuslichkeit
er sich allezeit besonders wohl gefühlt hatte. Aber in seinem
jetzigen Anzuge sollte er nicht dahingehen, und Frohwalt ließ einen
Wagen kommen, in welchem er mit seinem Schützling erst bei einem
Kleiderhändler vorfuhr, wo er ihm ein einfaches aber kleidsames Gewand
kaufte, das er sofort anlegen mußte.

»Das schenk' ich Dir, Sisto, und Du brauchst mir nicht dafür zu danken;
bleibe nur immer so brav und ehrlich wie bisher -- das ist der beste
Dank!« sprach der Priester, und dann fuhr er mit dem freudig bewegten
Knaben weiter, bis sie vor dem Häuschen hielten, welches Quandt
bewohnte.

Sie trafen den Maler und Friederike, die eben ausgehen wollten, an der
Treppe.

»Das ist gut, daß Sie uns gerade noch erwischen; wir wollten den
schönen Vormittag zu einem Spaziergang benutzen, vielleicht schließen
sie sich uns an? -- Aber, Sie sehen ja so feierlich ernst drein mitsamt
meinem jungen Modell, das schon wieder in einem neuen Futteral steckt
... wir haben doch heute nicht heimlich Geburtstag, Fritzel?«

So rief lachend der Maler, seine Frau aber hatte schon den Jungen an
der Hand und führte ihn die Treppe wieder hinauf.

»Schenken Sie uns nur eine Viertelstunde, verehrter Freund« -- sagte
Frohwalt -- »es handelt sich um Sisto!«

»Sie thun ja so ernst, als ob der Junge entweder ein Staatsverbrechen
begangen habe oder zum Konzilsvater vorgeschlagen worden sei --
Verzeihung! Das war ein dummer Scherz, aber unsereinem läuft manchmal
die Zunge fort. Da sehen Sie nur meine Frau mit dem Bengel -- das ist
doch zum Eifersüchtigwerden!«

Sie waren wieder oben angekommen, und saßen in dem freundlichem
behaglichen Zimmerchen neben dem Atelier, und Friederike hatte Sisto
bereits einige süße Näschereien vorgesetzt.

»Und jetzt schießen Sie los!« sprach der Maler.

»Nun denn, kurz und bündig! Sisto kann nicht im Hause des Prälaten
bleiben -- die Schuld liegt an der Signora --«

»Wo ist das Weib?« murmelte Quandt.

»Nähere Einzelheiten möchte ich nicht anführen, sie regen nur den
Jungen auf; lassen Sie sich mit der Versicherung genügen, daß seines
Bleibens bei Monsignore Parelli nicht sein kann. Nun hängt er in der
Luft -- ich kann ihn leider Gottes nicht bei mir behalten, das erlauben
mir die Verhältnisse nicht, und da wollte ich, zumal Sisto zu Ihnen
und Frau Friederike so großes Vertrauen hat, anfragen, ob Sie nicht
wenigstens für die Zeit Ihres Aufenthalts in Rom sich seiner annehmen
und ihm Unterkunft gewähren wollten. Wir halten wohl Umschau, was
weiter mit ihm werden soll.«

»Na, da brauchts wohl keinen Familienrat -- he, Fritzel?«

»Wir haben keine Kinder, Heinrich -- und da ist's doch, als ob uns der
Himmel selber ...«

»Na, er kommt freilich schon etwas sehr ausgewachsen an, der Junge ...
aber um so besser, da braucht man sich nicht mit den Zahnkrankheiten zu
ängstigen! Also, wir wollen uns den Fall überlegen. Sisto, willst Du
bei uns bleiben?«

Der Knabe errötete bis unter die dunklen Stirnlocken, und die Augen
leuchteten. Er stammelte unverständliche Worte, aber Friederike zog ihn
an sich und küßte ihn.

»Na, da haben Sie das Siegel auf dem Pakt -- was wollen Sie denn noch
mehr? -- Ich glaube, jetzt werde ich kürzer gehalten, und darum bin ich
für eine Probezeit!« sagte der Maler lächelnd; dann zog er sein Weib
und den Jungen zugleich an sich und küßte beide. -- --

Frohwalt ging in wundersam gehobener Stimmung aus dem kleinen
Hause. Die sonnige Heiterkeit, die selbstlose Menschenliebe, welche
hier waltete, that ihm außerordentlich wohl. Aber je näher er der
Wohnung Parellis kam, desto mehr schwand dieses Behagen aus seiner
Seele, und mit pochendem Herzen, fast als hätte er eine Schuld auf
sich geladen, trat er durch das Portal und frug den Portier, ob der
Prälat daheim sei. Als dies bejaht wurde, ging er langsam die breite,
glänzende Marmortreppe empor. Auf derselben begegnete ihm der Jesuit
Felice. Mit vordringlicher Freundlichkeit hielt er den anderen auf.
Frohwalt aber wurde bei dem Gedanken, daß der Pater, welcher hier
so häufig verkehrte, doch auch Kenntnis von den Verhältnissen des
Hauses haben mußte, dieselben stillschweigend hingehen ließ und so
heimlich billigte, von einem Widerwillen gegen den Mann erfaßt, den
er kaum verhehlen konnte. »Der Zweck heiligt die Mittel!« Das mußte
er unwillkürlich in diesem Augenblicke denken, und er mußte sich
zusammennehmen, um nicht unhöflich zu erscheinen.

»Wissen Sie schon, daß der Betteljunge, den Seine bischöflichen Gnaden
so wohlwollend aufgenommen, ohne ein Wort des Dankes davongelaufen ist?
Monsignore ist außerordentlich aufgeregt darüber und in Sorge um den
gottlosen Burschen.«

»Ich hoffe, ihn beruhigen zu können,« sagte Frohwalt kühl; »ich weiß,
wo der Knabe ist und kann versichern, daß er sich in guten Händen
befindet.«

»Aber ein Undankbarer bleibt er doch!«

»Vielleicht haben Sie doch nicht ganz recht, Hochwürden,« sagte
Frohwalt mit leichtem Achselzucken, »und ich bin überzeugt, daß Seine
bischöflichen Gnaden von meiner Mitteilung befriedigt sein werden.«

Er verneigte sich vor dem Jesuiten, und ging weiter, um durch den im
Vorzimmer Parellis weilenden Kammerdiener sich anmelden zu lassen.
Der Prälat empfing ihn in seinem Arbeitszimmer, freundlich und
entgegenkommend wie immer, und fragte, was ihm die Freude mache, den
langvermißten Gast wieder einmal bei sich zu sehen.

Als Frohwalt von Sisto berichtete, wie er zu ihm gekommen sei in seinem
elenden Bettleranzuge, aufgeregt und erschüttert bis in die tiefste
Seele, lehnte sich Parelli erbleichend in seinen Sitz zurück. Er schloß
die Augen und fragte beinahe flüsternd:

»Hat er Ihnen gesagt, weshalb er von mir fortgegangen ist?«

»Er hat es mir anvertraut wie unter dem Siegel der Beichte, und es ist
geborgen in meinem und seinem Herzen. Der Junge ist brav und tüchtig
und hat ein großes Herz, Monsignore ... Sie haben einen guten Engel aus
Ihrem Hause vertrieben!«

Parelli wurde noch bleicher; er atmete tief, und einige Sekunden lang
herrschte eine peinliche Stille in dem prunkvollen Raume. Dann sprach
er:

»Und was soll mit ihm werden?«

»Herr Quandt und dessen Frau haben sich seiner zunächst angenommen bis
auf Weiteres.«

»Ich werde einen Betrag für seine weitere Ausbildung Herrn Quandt zur
Verfügung stellen.«

»Ich vermute, daß derselbe diesen ablehnen wird. Er ist, soviel ich
weiß, nicht unvermögend und kinderlos. Ich komme auch nicht darum,
sondern lediglich, um Eure bischöfliche Gnaden über das Schicksal des
Knaben zu beruhigen.«

»Ich danke Ihnen!« sagte Parelli tonlos -- »und kann ich gar nichts
thun?«

»Monsignore, Sisto wird jeden Tag für Sie beten ... wenn sein Gebet
nicht vergebens wäre, so wäre dies das Herrlichste, was er erringen
könnte,« sprach Frohwalt mit bewegter Stimme.

Der Prälat verstummte; er neigte langsam das Haupt, tief, bis auf
die Brust herab, und so verließ ihn der junge Priester nach kurzem,
höflichem Gruße. Und da er die Marmortreppe wieder hinabschritt, dachte
er abermals an das schlichte Pfarrhaus in Nedamitz und an den alten
Pfarrer mit seinem guten, schwachen Herzen, und es that ihm abermals
leid, daß er ihn in jener letzten Stunde ihres Beisammenseins so hart
angefaßt hatte.

Rom zeigte ihm Manches in anderem Lichte, als er es in der Heimat
gesehen hatte.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Sechzehntes Kapitel.


Auf der Straße, die von Marino gegen das schön gelegene Frascati führt,
schritt ein Wanderer, ein bejahrter Mann in einfachem Gewande, eine
leichte Mütze auf dem Kopfe und einen kräftigen Stock in der Hand. Er
sah mit hellen Augen in die Welt und ging gemächlich seines Weges,
wobei ihn der Ranzen auf seinem Rücken gar nicht zu beeinträchtigen
schien.

Es war der Vetter Martin.

Daheim hatte es ihn, seit es mit seinem Fuße besser ging, nicht mehr
gelitten, und als noch der Winter über den deutschen Fluren lag und nur
ab und zu ein milderer Märzhauch den kommenden Frühling ahnen ließ, war
er aufgebrochen nach dem Süden. Dort mußte es ganz besonders schön und
angenehm sein, und Italien war schon lange das Ziel seiner Sehnsucht
gewesen. In seinen jungen Tagen hatte er Seumes »Spaziergang nach
Syrakus« gelesen, und die Eindrücke jenes Buches wurden ihm bei seinem
Wandern wieder lebendig, denn in ihm steckte manches, was mit dem alten
»Spaziergänger« verwandt war.

Er hatte sich Zeit gelassen und gerastet, wo es ihm just gefiel, nur
als er näher an die ewige Stadt kam, hatte ihn eine gewisse Unruhe
erfaßt und seinen Fuß beschleunigt. So war er an diesem gesegneten
Märztage im Albanergebirge eingetroffen. Er hatte vom Monte Cavo, dem
alten ~Mons Albanus~, hinausgeblickt in die weite Ebene, durch welche
der Tiber seine spiegelnden Fluten gleiten läßt, und hatte über den
Sabiner- und Etruskerbergen den leuchtenden Gürtel des Mittelländischen
Meeres blinken sehen, während unter ihm aus dem Grün der Oliven-
und Steineichen, der Pinien und Reben, das freundliche Albano, das
malerisch über dem kristallklaren Spiegel des Albanersees liegende
Marino, das anmutige Castel Gandolfo, der Sommersitz des Papstes,
emporschauten, und ferner her wie ein weißer leuchtender Häuserstreifen
die Siebenhügelstadt selbst grüßte.

Das Herz war dem alten Manne weit geworden bei diesem Anblick, und alle
Welt hätte er ans Herz drücken mögen. Die Vergangenheit wurde auch ihm
hier lebendig, wie tausend anderen, welche diese Straßen wanderten, wo
über den Trümmerresten alter Tempel und der Landhäuser berühmter Männer
eine neuere Zeit ihre Kirchen und Klöster gebaut hat.

Was war doch diese Campagna für ein seltsames Gebiet! Dies Gefilde,
mit Trümmern und Gräbern bedeckt, die über dem braunen, goldtönigen
Boden sich erheben, der überwuchert wird von Ginster und Thymian, von
Heidekraut und Binsen, zwischen denen einsame alte Bäume -- Cypressen
und Pinien -- traurig und seltsam stimmungsvoll emporragen. Und als
Staffage diese braunen Hirten in flockigen Schafspelzen, wie sie unter
ihren Schafen und Ziegen stehen, den langen Stock unter die Achsel
gestemmt und träumend hineinschauend in die melancholische Landschaft,
während der zottige weiße Hund die Tiere zusammenhält -- und die
weidenden Heerden silbergrauer Rinder, welche die weitgeschweiften
Hörner wiegen und mit traurigem Glockenton durch die stille Campagna
läuten! Und um das ganze Bild der Rahmen der blauen Berge, um die ein
verhaltener, fein sich abtönender Duft schwebt!

Vetter Martin fand es begreiflich, warum es die deutschen Maler hierher
zog, und er hätte gewünscht, selbst etwas von der Kunst zu verstehen,
um wenigstens den einen oder den andern Eindruck festhalten zu können.
Er dachte an Hans Stahl, und wünschte, den lebendigen Burschen bei sich
zu haben, der jetzt wohl daheim im Kontor des Vaters seufzend auf dem
Drehstuhl saß. Es war schade um den Jungen.

Der Alte war nach den Ruinen von Tuskulum gelangt, wo einst die
vornehmsten Römer ihre Landsitze gebaut hatten, unter ihnen auch
Cicero. An den Ueberresten des Theaters vorbei schritt er auf dem
vulkanischen Boden hinauf nach der alten Burg, von wo aus ein
herrlicher Blick ins alte Latium geboten sein mußte. Und in der That,
wo der Bergrücken ziemlich schroff abfällt, that sich ein wundersam
schönes Landschaftsbild auf. Hier aber saß auf einem Steinblock ein
blonder Mann mit breitrandigem Hute unter einem aufgespannten Schirm
und skizzierte in seinem Buche, während eine junge hübsche Frau, im
hellen Gewande, mit leichtem Sonnenschirm hinter ihm stand, und mit den
leuchtenden braunen Augen über seine Schulter weg bald auf das Bild,
welches unter seiner Künstlerhand sich gestaltete, bald auf jenes, das
da sonnenvoll sich weit ins Land dehnte, schaute.

»Guten Tag!« grüßte der alte Weltfahrer in deutscher Sprache, als ob
das gar nicht anders sein könnte, und die beiden anderen blickten nach
ihm her und erwiderten wie aus einem Munde:

»Guten Tag!«

Und damit war die Bekanntschaft gemacht zwischen dem Maler Heinrich
Quandt und seiner munteren jungen Frau einerseits und zwischen Jakob
Martin, »Naturforscher und Naturbummler«, andererseits, und beide
Teile schienen ungemein viel Gefallen an einander zu finden. Der Maler
hatte trotz des Widerspruchs des Alten seine Gerätschaften eingepackt
und erklärte, fertig zu sein; er ließ es sich nun nicht nehmen, dem
anderen das Landschaftsbild, dessen entzückender Reiz Vetter Martin die
Seele schwellte, klar zu machen.

»Dort rechts liegt Camaldoli, Tivoli, dann Monticelli, dahinter die
lieben blauen Sabinerberge und in der Ferne der Soracte; links sind die
Cimini-Berge und die Albanerhöhen, von denen Sie wohl herkommen.«

»Ja, auf dem Rocca di Papa und dem Monte Cavo habe ich gestanden.
O, ich habe manches anmutige Erdenfleckchen gesehen, aber einen so
seltsamen Zauber haben wenige auf mich ausgeübt. Lassen Sie mich's
schweigend aufnehmen, dann trag' ich's in der Seele mit fort!«

Der alte Mann hielt sich die Hand über die Augen, und schaute stumm und
unverwandt hinein ins alte Latinergebiet, und die beiden andern störten
ihn nicht in seiner Naturandacht; Friederike stützte sich nur fester
auf den Arm des Gatten und schmiegte sich inniger an ihn. Nun drehte
sich Martin um.

»Jetzt aber will ich nach Frascati und auch für mein sterblich Teil
sorgen; ich hoffe, es giebt etwas Anständiges zu essen und zu trinken.«

»Wenn Sie uns mitnehmen, schließen wir uns Ihnen zu gleichem Zwecke an,
und überdies würden Sie uns eine Freude machen, wenn Sie in unserem
Wagen mit nach Rom führen.«

»Das nehme ich an, denn Sie gefallen mir, Herr Quandt mitsamt Ihrem
Frauchen und mit guten Menschen kann man nicht lange genug beisammen
sein. Das nehme ich als gutes Vorzeichen für meinen Einzug in Rom.
Also: frisch auf nach Frascati!«

Der Maler schien den Weg genau zu kennen; er schlug den schönsten ein,
der über Cappucini und vorüber an der prächtigen Villa Ruffinella, die
auf der Stätte, wo einst Cicero sein Tuskulum hatte, Lucian Bonaparte
sich erworben hatte, und die gegenwärtig wohl dem König von Italien
gehört. Dies Frascati ist eine Villenstadt, in welcher überall aus
herrlichen Gärten die schönsten und stilvollsten Bauten hervorlugen,
von deren Loggien und Terrassen sich entzückende Fernsichten bieten
über die Campagna und in die blauen Sabinerberge.

Auf dem Wege plauderte der Alte in seiner gewohnten, gemütlichen Weise:

»Daß der erste Römer, welchem ich begegne, ein Deutscher sein würde,
hätt' ich mir doch nicht träumen lassen. Also aus Dresden sind Sie?
-- Um so besser, da sind wir ja eigentlich gute Freunde als Sachsen
und Oesterreicher, noch vom Jahre 66 her. Es war eine garstige Zeit,
Herr, und die Preußen mitsamt ihrem Bismarck haben mir schwer im Magen
gelegen. Aber _der_ Teil ist gut bei mir, und darum hab' ich's verdaut
und sage: 's ist vielleicht auch gut gewesen, und Bismarck -- alle
Hochachtung!«

»Ich fürchte fast, daß uns im katholischen Oesterreich das Jahr 70 noch
Schlechteres bringt, als 66. Und das wird hier zusammengebraut, in Rom
-- ich meine den neuen Glaubenssatz. Ich weiß nicht, wie Sie zu der
Sache stehen --«

»Ich bin Katholik, aber ich beklage mit Ihnen diese
Jesuitenmachenschaften, und meine Frau ist eigentlich gleichgültig bei
der Sache -- sie ist Protestantin,« sagte Quandt ernst.

»So? -- Na, dann verstehen wir uns um so besser. Ich habe noch eine
kleine Hoffnung; die österreichischen und deutschen Bischöfe, sagt
man, wollen von dem neuen Glaubenssatz nichts wissen, und leisten
Widerstand. Das möcht' ich mir einige Tage hier in der Nähe ansehen,
das heißt, soweit das möglich ist. Eine kleine Fühlung mit dem Konzil
hab' ich durch meinen Paten -- er nennt mich zwar immer Vetter --
der auch hier ist im Gefolge des Prager Erzbischofs, ~Dr.~ Peter
Frohwalt -- --«

»Frohwalt?« schrie der Maler -- »das ist ja ein guter Freund von uns,
der vielfach in unserem Hause verkehrt -- nicht wahr, Fritzel?«

»Na, da bleibt doch die Weltgeschichte stehen« -- rief der Alte --
»was? Mein Peter Frohwalt verkehrt bei Ihnen, und er weiß, daß Ihre
Frau evangelisch ist?«

»Jawohl!«

»Das ist mir eine große Zeitung, und Sie wissen gar nicht, wie mich
das freut! Aber auf diese Weise sind wir ja einander noch viel näher
gekommen. Und das Wunder hat die kleine Frau da zu Wege gebracht?
Hören Sie, unsere Bekanntschaft ist noch sehr jung, aber nach dieser
Mitteilung müssen Sie gleich nach den Erzengeln kommen, Frau Quandt --
dafür kenne ich meinen Peter.«

»Ja, und ich schätze meine Fritzel auch wie meinen Erzengel!« sagte
lachend der Maler und legte leicht den Arm um die Taille des jungen
Weibes.

So kamen sie nach Frascati. Im freundlichen Garten einer Schenke
hielten sie Einkehr, fröhliche Leute, die auf dem kurzen Wege völlig
Freunde geworden waren, und bald saßen sie an einem Tische bei einem
einfachen Mahle und stießen mit dem trefflichen Weine von Frascati an.

Neben ihnen, am nächsten Tische, saßen zwei Männer beim Würfelspiel.
Sie waren sehr lebhaft nach Art der Südländer, und die dunklen Augen in
den braunen Gesichtern funkelten. Der Eine war ein stämmiger Bursche
in ländlicher Tracht, und wie der Maler das weinrote, gedunsene
Gesicht sah, kam es ihm bekannt vor, doch wußte er nicht gleich, wo er
demselben begegnet war.

Jetzt stieß der Mann einen lauten Fluch aus, fuhr in die Tasche und
warf klingend ein Goldstück auf den Tisch.

»Das ist der letzte! Ein neapolitanischer Dukaten -- und wenn er weg
ist, geh' ich zu meinem Schwager und hole mir mehr! Wirf!«

Jetzt wußte Quandt, mit wem er es zu thun hatte; das war der rohe
Bursche, dem er in Tivoli begegnet war, als er in Gesellschaft Parellis
und Frohwalts dort gewesen war, und der Mensch gewann für ihn einiges
Interesse; auch Vetter Martin hielt den Blick nach ihm hingewendet. Die
Würfel klapperten und fielen -- einmal, zweimal.

»~Maledetto!~ Schuft!« schrie der Bauer, und sprang mit lodernden Augen
auf. »Du spielst falsch -- her mit meinem Gelde!«

Der andere hatte das kleine Goldstück erfaßt, und sie rangen darum,
nur zwei Sekunden. Da blitzte in der Hand des Neapolitaners eine
blanke Klinge. Die beiden Deutschen sprangen gleichzeitig auf, aus der
Schenke, um deren offene Fenster die Weinranken spielten, kreischten
Weiberstimmen ... und einen Augenblick später taumelte der unselige
Gewinner zurück, hielt sich mit der einen Hand an der Tischplatte und
preßte die andere gegen die Brust, und über diese rann ein heißer roter
Strahl Der Angreifer aber schien jetzt erst in noch größere Wut zu
geraten und wollte sich von neuem auf sein Opfer stürzen. Da packte ihn
eine kraftvolle Faust von rückwärts, und eine starke Hand hielt ihm die
erhobene Rechte mit dem blutbefleckten Messer fest, während sich die
Person des Malers vor den Angegriffenen warf.

»Ich halte die Bestie schon,« rief Martin -- »holen Sie Stricke, daß
wir ihn binden!«

Der trunkene Bauer wehrte sich aus allen Kräften, aber Vetter Martin
hatte durch die Abhärtung auf seinen Reisen eine Muskelstärke, die man
ihm nicht zutraute; er hielt den andern wie in eisernen Klammern und
rief noch einmal nach Stricken. Nun kamen der Wirt und seine Weibsleute
herbeigelaufen; die letzteren nahmen sich des Verwundeten an, der
ziemlich gut weggekommen zu sein schien, denn er schimpfte laut gegen
den Angreifer, nannte ihn Dieb, Räuber, Mörder, Falschmünzer ... und
was ihm eben noch an wenig schmeichelhaften Bezeichnungen beifiel. Die
Männer aber banden dem Neapolitaner die geballten Fäuste zusammen,
trotzdem er mit den Füßen um sich stieß, und seine Gegner anspie,
und dann fesselten sie ihn an einen Baum, wo er mit lautem Gebrüll
Neugierige lockte, die sich vor der Schenke sammelten.

Es war eine widerwärtige Szene. Das empfand besonders Friederike,
die sich zu entfernen wünschte. Der Wirt suchte die Deutschen
zurückzuhalten, bis der Bürgermeister gekommen wäre, der das Protokoll
aufzunehmen hatte, und um Weiterungen zu vermeiden, blieben sie; aber
sie gingen in die Schenke hinein, ohne freilich auch hier dem wüsten
Schreien sich entziehen zu können. Endlich kam der Beamte, mit ihm
ein päpstlicher Gendarm. Der Mann war höflich und zuvorkommend, aber
ziemlich weitläufig in seinen Aufnahmen, und Vetter Martin wie Quandt
fürchteten, daß die Geschichte ihnen noch weitere Scherereien machen
werde.

Endlich konnten sie sich entfernen und ihren Wagen aufsuchen, und
einigermaßen verstimmt bestiegen sie denselben und fuhren gegen Rom.
Hart hinter Frascati begegneten sie dem Gendarmen, der den gefesselten
Bauer vor sich hertrieb. Derselbe warf ihnen grollende Blicke zu und
entfesselte eine Flut von Schimpfwörtern, bis sein Begleiter ihn mit
dem Flintenkolben zwischen die Rippen stieß. Der Wagen aber rollte
rasch davon.

Die im Abendlicht rötlich schimmernde Campagna mit ihrem
unverwüstlichen Zauber regte die Reisenden wieder freundlicher an,
und ehe sie noch in die ewige Stadt einfuhren, war es beschlossene
Sache, daß Vetter Martin mit Quandts zusammenwohnen müsse -- die
Bildhauerwitwe würde schon für ein Unterkommen Rat schaffen -- und
daß man am nächsten Tage, beziehungsweise am Abende dem Doktor der
Theologie Peter Frohwalt eine ganz besondere Ueberraschung bereiten
wolle.

Derselbe erhielt denn auch für diesen Abend eine dringende Einladung,
die er unter keinen Umständen ablehnen dürfe, und so kam er ziemlich
neugierig schon am Nachmittage an. Als er in die wohlbekannte trauliche
Stube eintrat, blieb er wie erstarrt stehen, der Vetter Martin aber
stand mit lachendem Gesichte vom Tische auf und rief:

»Na, was sagst Du dazu, Peter? -- Herrgott! Da steht er wie weiland
Lots Weib nach der Versalzung -- komm zu Dir, Doktor der Theologie und
Adjunkt, ich bin's leibhaftig!«

Und nun umarmte er den jungen Priester, der tiefbewegt die Begrüßung
erwiderte, und dann saßen sie um den Tisch beisammen, die beiden
Deutschböhmen, die Malersleute und der braune Sisto, der hier wie zu
Hause war, und der Alte lachte:

»Ja, sieh -- ich habe doch ein wunderliches Glück, Peter. Da läuft mir
schon vor den Thoren Roms die Liebenswürdigkeit selber entgegen, und
wenn Du Dir über die Situation recht klar sein wirst, wirst Du sehen,
daß ich auch hier schon wieder der Vetter Martin bin, und mich ganz als
solcher fühle, 's ist mir, als hätten wir uns alle schon lange gekannt,
und als wäre ich speziell nach Rom gekommen, um gerade diesen Kreis
aufzusuchen. Herrgott im Himmel, Du hast doch überall gute Menschen --
man muß nur das Glück haben, sie zu finden!«

Der Alte war ganz in seinem prächtigsten Fahrwasser, aber er hatte
nicht viel Geduld zum Sitzen, und so machte er selber nach einiger Zeit
den Vorschlag, noch einen Spaziergang zu unternehmen. Das Wetter war
überaus schön, und Quandt schlug eine Promenade nach dem Monte Picio
vor, was Vetter Martin mit besonderer Freude annahm.

Die vier Menschen -- Sisto war daheim geblieben -- schritten langsam
den glänzenden Corso entlang, auf welchem es von Menschen wimmelte, und
über welchen zahlreiche vornehme Wagen hinrollten. Ueberall Pracht,
Glanz und Lebenslust! Es war, als ströme ganz Rom heute zur Porta del
Popolo hinaus nach jenen wunderbar schönen Gartenanlagen, die in ihrer
Art beinahe einzig sind.

Ueber begrünte Flächen schweift der Blick und haftet hier an
herrlichen, mächtigen Steineichen, dort an malerischen Gruppen von
Pinien und Cypressen, zwischen denen weiße Marmorbilder hervorlugen,
während Fontänen ihre Silberstrahlen spielen lassen und künstlerisch
geschaffene Sitze zum Ruhen einladen. Auf der breiten Fahrstraße rollen
unablässig die goldglitzernden Equipagen; geputzte Damen winken heraus
und erwidern die ihnen dargebrachten Grüße, und um eine riesige Palme
gereiht steht das Musikkorps der päpstlichen Zuaven und läßt glutvolle,
feurige Weisen ertönen.

Vetter Martin hatte manches gesehen in der Welt und das »~nil mirari~«
-- über nichts sich zu wundern -- war ihm zum Grundsatz geworden,
aber hier ward er demselben doch beinahe untreu. Er wußte auch kaum,
wohin er seine Aufmerksamkeit am meisten wenden sollte, ob hinab
nach der Stadt, die im Abendsonnenglanze wie ein Märchenbild sich
ausbreitete, ob auf die bunte, wogende Menge, unter welcher zahlreiche
Kirchenfürsten sich befanden, die eigentlich das meiste Interesse
beanspruchen durften.

Frohwalt kannte sie fast alle, und er machte Vetter Martin auf die
bedeutendsten derselben aufmerksam. Da ging der geistvolle Pariser
Erzbischof Dupanloup mit dem durch seinen weißen Talar auffallenden
Patriarchen von Jerusalem, dort die prächtige, feurig blickende
Gestalt des schönen spanischen Bischofs von Urgel mit dem Erzbischof
von Mecheln, dann der Generalvikar der Prämonstratenser-Chorherren
mit Manning, dem Erzbischof von Westminster, die schlanke, vornehme
Erscheinung des Kardinals von Schwarzenberg mit dem österreichischen
Gesandten Graf Trautmannsdorf, und viele andere, unter welchen
besonders die aus dem fernen Oriente gekommenen Konzilsväter auffielen.
Die Römer selbst hatten sich an diese Gäste gewöhnt, Bischöfe und
Cardinäle waren ihnen nichts Absonderliches, aber die zahlreichen
Fremden aus aller Herren Länder, die auf dem Pincio promenierten,
blieben immer aufs neue stehen, um ihnen nachzublicken.

Vetter Martin war ernster geworden. Er hatte, während das Quandtsche
Ehepaar voran schritt, seinen Arm in jenen Frohwalts gelegt und sagte:

»Die Herrlichkeit der streitenden Kirche! Sie sehen zumeist recht
Ehrfurcht gebietend aus, diese geistlichen Herren, und man sollte
meinen, sie müßten viel Geist und echten Christenglauben vorstellen
... was hältst Du vom Konzil? Was hält man in der Umgebung des Prager
Erzbischofs davon?« fragte er plötzlich ziemlich unvermittelt.

Frohwalts Miene wurde leicht beschattet; er dämpfte die Stimme
einigermaßen, als er erwiderte:

»Vetter Martin, ich kann nicht anders, als zu sagen: Ich bin
enttäuscht -- wir alle sind enttäuscht. Selbst wir, in unmittelbarer
Nähe der Verhandlungen und in unmittelbarem Umgang mit einem der
hervorragendsten Konzilsmitglieder, erfahren wenig genug von dem,
was in dem Konzilssaal vorgeht, und schon dies Geheimnisvolle ist
unbehaglich und macht einen beinahe beängstigenden Eindruck. Von jeder
Sitzung ist in der »Civilta Cattolica« zu lesen: Die Väter kamen
um neun Uhr zusammen; darauf zelebrierte der Bischof X die heilige
Messe, der Kardinal Y verlas die vorgeschriebenen Gebete, und darauf
sprachen so und so viele Väter über die Vorlage. Um 1 Uhr wurde die
Sitzung geschlossen! So steht es mit peinlicher Genauigkeit in dem
päpstlichen Leibblatte zu lesen, und mehr erfährt die Christenheit
nicht. Was aber sonst noch über Verfügungen der Geschäftsordnung
bekannt wird, ist wenig Vertrauen erweckend. Man war bereits so weit,
daß man die Väter mundtot machen wollte durch eine Bestimmung, wonach
dieselben ihre Bedenken gegen die Vorlagen schriftlich zur Einsicht
für die Konzilsmitglieder im Sekretariat niederlegen sollten, in
der Aula selbst aber sollte nicht mehr darüber gesprochen, sondern
nur abgestimmt werden. Die Unermüdlichkeit des kroatischen Bischofs
Stroßmayr, sowie dessen rücksichtslose Energie hat den Plan der
Konzilsleitung vereitelt und es wird nun wie vordem mündlich weiter
verhandelt. Ach, Vetter Martin -- ich wollte, ich wäre nicht hierher
gekommen und müßte dies alles in der Nähe ansehen ... mir thut manchmal
das Herz weh. Gott weiß es, wie ehrlich ich es mit unserer heiligen
Kirche meine -- hier aber verliert man Glauben und Vertrauen, und mich
erfassen mitunter böse Beängstigungen, als wollte man mich gewaltsam
hinausdrängen aus dem Heiligtum meines alten Glaubens. Ich bin so froh,
daß ich Dich hier habe, und daß ich mich wenigstens darüber aussprechen
kann, wie mir's ums Herze ist.«

»Na, na ... die Sache wird wohl nicht so heiß gegessen werden, wie
sie gekocht wird. Die deutschen und sonstigen Bischöfe, welche die
Gegnerschaft bilden, werden doch den Mut nicht verlieren und sich nicht
etwas aufzwingen lassen, was gegen ihre Ueberzeugung und gegen die
althergebrachte Lehre der Kirche ist!«

»Und wenn sie doch sich beugen?« fragte Frohwalt und sah mit besorgtem
Blicke dem alten Manne ins Gesicht.

»Dann muß jeder ehrliche Katholik für sich allein den Weg seiner
Ueberzeugung gehen, Peter! ... Aber das kann und wird nicht sein, daß
Leute wie Stroßmayr, Dupanloup, Schwarzenberg ihre Ueberzeugung, für
die sie bisher so mannhaft einstehen, wie ein altes Hemd behandeln und
wegwerfen, das müßte ja zu einer Umwälzung in der Kirche führen, wie
sie noch nicht dagewesen wäre!«

»Du kennst nicht die Gewalt, welche in dem Papsttum liegt, Vetter
Martin, und nicht den persönlichen Zauber, welchen die Erscheinung des
Stellvertreters Christi auf Erden ausübt. Vor ihm beugen sich -- --«

In diesem Augenblicke drehte sich Quandt, der vor ihnen ging, um
und wies mit ausgestreckter Rechten nach einem glänzenden, von Gold
strotzenden Reiter, der auf dem Fahrwege dahergesprengt kam. Unter die
lustwandelnde Menge kam eine wunderliche Bewegung. Alles drängte näher
an die Straße heran, die Wagen, die auf derselben fuhren, lenkten an
den Rand herüber, so daß die Mitte frei ward, und blieben stehen, und
von Mund zu Mund lief das Wort: ~Il Papa!~

»Seine Heiligkeit kommt!« rief auch der Maler, und zog seine Frau nahe
heran an die Straße und die beiden andern folgten.

Und nun erschien, nur wenige hundert Schritte hinter dem Vorreiter, der
Wagen des Papstes, blitzend von Gold, und langsam rollte er daher. Die
Musik war von der großen Palme herübergetreten an die Seite der Straße
und spielte Gounods päpstliche Jubiläumshymne, und durch die angestaute
Menge scholl der Ruf:

»~Evviva il Papa!~«

[Illustration: Der Diener öffnete den Schlag und der Papst stieg aus.
Hunderte drängten sich heran ... (S. 310.)]

Beinahe unmittelbar vor unsern Freunden hielt der Galawagen, sowie
die beiden andern, welche ihm folgten. Der Diener öffnete den Schlag
und Pius der Neunte stieg aus. Eine schöne, edle Erscheinung, mit
einem freundlichen Greisenantlitz voll Hoheit und Milde, dem man es
nicht angesehen hätte, daß hinter dieser Stirne der Gedanke an die
Unfehlbarkeit sich breit mache. Er trug auf dem Haupte den großen roten
Kardinalshut mit goldenen Schnüren, und ein weißes, faltiges Gewand.
Ihm zur Seite schritt der Kardinal Antonelli und andere hervorragende
kirchliche Würdenträger, und ihr Zug bewegte sich langsam vorwärts.
Von allen Seiten aber drängte es sich dichter heran, und besonders die
Damen suchten das Kleid des Oberhirten der Christenheit zu berühren
oder dessen besonderen Segen zu erlangen. So wogte es unmittelbar
hinter ihm her von Hunderten, ja von Tausenden, die sich an seine
Schritte hefteten, während sich immer aufs neue wieder seine Hand
erhob und den Segen spendete. Da und dort lag wohl auch einer auf den
Knieen wie vor den Heiligen, und dazu brauste immer aufs neue das
»~Viva il Papa!~«

Quandt hatte Friederike wie ein Kind auf den Arm genommen und
emporgehoben, und so sah diese noch eine Weile im verglimmenden
Abendsonnenschein den roten Kardinalshut, Vetter Martin aber wendete
sich zu Frohwalt und sprach, wie im Anschluß an das, was dieser vordem
gesagt hatte:

»Ja, Du magst recht haben, Peter ... Sie werden sich beugen!«

Die Volkswoge strömte wieder zurück. Der Spaziergang des Papstes,
welcher keine Erholung war, war beendet; dichter drängte sich noch
einmal die Menge um den glänzenden Wagen, ehe dieser von dannen rollte.
Martin aber sah in diesem Augenblicke nicht mehr den Papst, sondern
jenseits des Fahrwegs in dem dichtgedrängten Menschenwalle ein Gesicht,
das ihn jetzt ungleich mehr zu interessieren schien, und in das »~Viva
il Papa!~« hinein schrie er ziemlich laut: »Hans Stahl!«

Verwundert sah ihn Frohwalt an; der Alte deutete mit dem Finger, eine
Sekunde lang war es auch dem jungen Priester, als sehe er das lustige
Gesicht des ehemaligen wendischen Seminaristen, aber dann war es auch
schon in der Flut verschwunden.

»Das ist ja gar nicht möglich!« sagte Peter, als sie einigermaßen
wieder in Bewegung kamen.

»Da wette ich mein ganzes Museum gegen ein Gericht muffiger Makkaroni,
wenn das nicht mein geliebter Windhund war. Das weiß der Himmel, wie
_der_ hierher kommt. Aus alter theologischer Neigung sucht _der_ das
Konzil nicht auf, und daß ihn seines Vaters Leinengeschäft hierher
entsendet hat, will mir nicht einleuchten. Hier stehe ich vor einem
Rätsel!«

»Na, Vetter Martin, das nenne ich Glück,« sagte jetzt Quandt -- »den
ersten Tag hier und schon den Papst gesehen!«

»Das hab' ich gar nicht anders gedacht,« erwiderte der Alte -- »das
Merkwürdigste immer zuerst: Pius der Neunte und Hans Stahl!«

Langsam schritten sie weiter durch die aufs neue bewegte Menge, und als
die Schatten des Abends kamen, wanderten sie durch den glänzenden Corso
wieder heimwärts. --

Meister Quandt und Friederike ließen es sich nicht nehmen, dem alten
Herrn die Sehenswürdigkeiten der ewigen Stadt in eingehender Weise
zu zeigen, und wenn es Frohwalt irgend möglich war, so beteiligte er
sich gern an diesen Spaziergängen und Vetter Martin fühlte sich in Rom
trotz der Konzilsverhandlungen sehr behaglich. Aus der Heimat hatte
er mancherlei erzählt, was sich in der Hauptsache mit seinem Briefe
deckte, nur betreff der Familie Haller schienen seitdem die Schatten
noch düsterer geworden zu sein: Therese litt mit der Geduld und der
stummen Ergebung einer Märtyrerin.

Gerade die Erinnerung an sie ließ Vetter Martin immer wieder
lebhafter auch an Hans Stahl denken, und so oft er jetzt die ewige
Stadt durchschweifte, teilte er seine Aufmerksamkeit zwischen deren
Sehenswürdigkeiten und den Menschen, die ihm begegneten. Aber sein
Suchen schien vergebens; entweder hatten ihn seine Augen auf dem Monte
Pincio doch getäuscht, oder der junge Lausitzer war wieder verschwunden.

Rom feierte in jenen Tagen das Fest der Lämmerweihe. Die Nonnen des
Klosters in der Via Torre de' specchi am Capitol haben seit langer
Zeit alljährlich die beiden Lämmer in Verwahrung und Pflege, welche
bestimmt sind, am Osterfeste vom Papste und einigen besonders geladenen
Kardinälen verspeist zu werden, und aus deren Fellen Pallien (Krägen)
für die höchsten Kirchenfürsten gewebt werden.

Diese Lämmer werden an einem Frühlingstag in der Kirche der heiligen
Agnes vor der Porta Pia nach altem Brauche von einem Kardinal für ihre
Bestimmung eingeweiht, und die lebensfrohen Römer verbinden damit ein
Volksfest. Der ganze Vorgang erhielt in diesem Jahre eine besondere
Bedeutung und seinen außergewöhnlichen Glanz durch die Anwesenheit
zahlreicher Prälaten, und der Himmel that zur Verschönerung des Festes
sein Möglichstes: Er lachte rein und tiefblau über der alten Basilika
St. Agnese und über den tausend Menschen, welche sich in derselben und
um dieselbe herum drängten.

Unsere vier Freunde fehlten nicht, und da sie bei Zeiten sich dazu
gehalten hatten, hatten sie noch Plätze in der Kirche gefunden und
schauten nun, wie viele andere, auf Bänken und Stühlen stehend, dem
kirchlichen Schauspiele zu. Auf dem Hauptaltare, unter einer von
vier dunklen, mit Blumen bekränzten Säulen getragenen Kuppel stand,
schimmernd von Kerzenglanz, das Bild der heiligen Agnes, zur Hälfte
ein schönes antikes Statuenbruchstück aus Alabaster, dem Kopf und
Hals von Goldbronze angesetzt wurden, und vor demselben liegen auf
reichgeschmückten Kissen die beiden Osterlämmer, mit blendend weißem
Vließ, geputzt mit roten Seidenbändern, die Füße zusammengebunden, und
sehen mit den gutmütig-blöden Augen den vornehmen Priester in der roten
Kardinalssoutane an, der, umgeben von zahlreichen Assistenten, nun mit
Salböl und Weihwasser den feierlichen Akt an ihnen vollzieht.

Nach der Festlichkeit aber stürmte das Volk mit seiner ganzen südlichen
Lebendigkeit und Lustigkeit in die zahlreichen, ringsum liegenden
Weinschenken, und beim Becherklang schallte fröhliches Lachen und
Singen, während die Nonnen mit ihren Lämmlein wieder nach der Stadt
zurückfuhren.

Unsere Freunde waren auseinander geraten. Der Maler, der sein Frauchen
fest am Arme gehalten hatte, hatte sich endlich nach vergeblichem
Suchen mit ihr nach einem der Weingärten gerettet, Martin aber und
Frohwalt hatten eine andere aufgesucht, denn den Alten plagte der
Durst. Es war alles schon besetzt, als sie in den freundlichen Garten
traten, und schon wollten sie ihren Stab weiter setzen, als der Alte
mit einmal seinen Begleiter bei der Hand faßte und mit der Rechten nach
einem entlegenen Tischchen deutete.

Und dort saß Hans Stahl, wie er leibte und lebte. Vetter Martin brach
sich beinahe stürmisch Bahn, als könnte ihm sein junger Freund zum
zweiten Male entwischen, und schon von weitem rief er ihn beim Namen.

Der Extheologe schrak auf, und da er den Rufenden erkannte, huschte
eine heiße Röte ihm über das Gesicht, und er sprang empor:

»Vetter Martin!«

»Ja wohl -- ~adsum~! Da sind wir, der Doktor Frohwalt auch -- -- ich
bin schon seit einigen Tagen hinter Ihnen her wie ein Polizeispion ...
wie zum Henker kommen Sie denn in die Stadt des Konzils?«

Das alles sagte der Alte während des Begrüßens und Händedrückens, und
er plauderte weiter:

»Aber erst ein paar Sitze und dann etwas Ordentliches zu trinken -- das
Weitere wird sich finden, lieber Neffe! Sie da -- Signora, Signorina,
Signoretta, Madonna ... hol's der Kuckuck -- da läuft sie hin -- Hans,
Sie haben mehr Verständnis mit den Weibsleuten umzugehen, sehen Sie
mal zu, ob Sie mit Ihrer Liebenswürdigkeit von der schwarzbezopften
Hebe etwas erwischen, worauf zwei Menschen sitzen können, und einen
vernünftigen Tropfen -- sonst verdurste ich Ihnen unter den Augen, eh'
Sie noch Ihre zweifellos interessante Romfahrt erzählen können!«

Und Hans Stahl schien wirklich hier Verbindungen zu haben, er schaffte,
was gebraucht wurde, und bald saß man eng aber nicht ungemütlich am
Tische neben lustig schwatzenden Römern und glutäugigen Römerinnen,
und der Jüngling berichtete, wie es schien, freilich nicht mit
besonderem Behagen.

»Ach lieber Vetter Martin, verehrter Herr Doktor -- ich, und im
Comptoir sitzen! Das war eine grauenhafte Zeit, an die ich mein
Lebtag denken will. Und ich habe -- Gott weiß es -- dabei den
allerbesten Willen gehabt, aber ich bin vor lauter Zahlen und
trockener Geschäftskorrespondenz beinahe dumm geworden und war mehr
als einmal daran, davonzulaufen. Da hab' ich erst so recht gespürt,
daß wir zusammen gehören, ich und die Kunst, aber wie ich auch meinen
Vater anflehte, mich wieder malen zu lassen, er wollte nichts mehr
wissen. Ich hab' dann geschwiegen, aber ich wär' verblutet daran. Da
schickt mich mein Vater nach Dresden, um einen Ausstand von etwas
über zweitausend Mark einzukassieren. O wie gerne ich nach Elbflorenz
ging! Ich machte mein Geschäft ab und dann war mein erster Weg in die
Galerie. Und wie ich hier stand unter all den Herrlichkeiten und wie
die Seele bald weit wurde, bald wieder sich zusammenzog, da traf ich
einen Freund aus der Prager Malerschule. Der ging nach Rom, wohin er an
einen Meister empfohlen war, und da war's um mich geschehen. Ich weiß,
daß ich Unrecht that, aber ich ging mit, das Geld meines Vaters in der
Tasche ...«

»Nanu!« brummte der Alte und Frohwalt rief: »Aber Herr Stahl!«

»Verurteilen Sie mich nicht! Ich habe meinem Vater alles geschrieben;
ich habe ihm erklärt, ich könnte nicht wieder nach Hause kommen, er
solle mir das Geld lassen, ich verlange keinen Pfennig jemals mehr von
ihm, und wenn ich drüber verhungern müßte, aber ins Geschäft käme ich
lebendig nicht wieder zurück.«

»Na, und was schrieb der Alte?« fragte Martin einigermaßen erregt.

Hans Stahl seufzte:

»Ich sollte thun, was ich nicht lassen könnte -- aber zwischen uns wär'
es aus. Verfolgen würde er mich nicht wegen Unterschlagung, das wäre er
sich und seinem Namen schuldig, aber in sein Haus sollt' ich auch nicht
mehr kommen. O Vetter Martin -- das war hart, und ich kann's auch nicht
recht verwinden ...«

»Haben Sie denn auch bedacht, was Sie gethan haben?« fragte Frohwalt
ernst und strafend.

»Sachte, sachte, mein lieber Peter!« beschwichtigte Martin -- »hier
hilft kein Vorwurf und keine Schelte. Schön und recht war's nicht,
Hans, was Sie gemacht haben, aber der Topf ist einmal zerbrochen, und
Sie müssen zusehen, wie er wieder zu flicken ist. Von Ihren zweitausend
Mark können Sie auch nicht ewig leben, Freund Leichtfuß ... und haben
Sie denn überlegt, was dann geschehen soll, wenn die Moneten bis auf
den letzten Obolus verpulvert sind?«

Stahl machte ein trübseliges Gesicht und ließ den Kopf hängen.

»'s ist wohl schon bald auf der Neige, he? -- Ja, sagen Sie mir um's
Himmels willen, was treiben Sie denn eigentlich hier, und wie denken
Sie sich denn die spätere Sachlage? Sie glauben doch nicht, daß Sie
sich hier in vier Wochen zu einem Raphael auswachsen werden, he?« --

»Ich arbeite im Atelier meines Freundes und habe schon einige leichtere
Sachen kopiert, auch zwei davon -- freilich billig genug -- verkauft!«

Vetter Martin zog die Augenbrauen in die Höhe, was ebenso Verwunderung
als Unmut ausdrücken konnte.

»I potztausend, Hans Stahl ... jetzt wird mir's unheimlich; entweder
sind Sie ein Genie oder ein trostloser Sudler, aber in jedem Falle
gefällt mir Ihre Beschäftigung nicht recht. Haben Sie denn eine
regelrechte Unterweisung in der Kunst bei einem vernünftigen Meister?«

»Eigentlich nicht,« stotterte Hans.

»So -- dann können Sie ja über kurz oder lang, wenn's mit dem Kopieren
nicht geht, die Wände tünchen, das heißt sich ja wohl auch Malerei
... na, danken Sie unserm Herrgott, daß ich Sie entdeckt habe, Sie
Unglückswurm. Wenn ich Sie nicht für einen grundguten Kerl hielte, und
Ihnen nach meinem unmaßgeblichen Urteil ein bischen Talent zutraute,
ließe ich Sie in der Patsche sitzen, und um Ihren Vater haben Sie's ja
eigentlich auch nicht verdient, daß ich, ohne Ihnen eine rechtschaffene
Maulschelle appliziert zu haben, wieder Vorspann leisten will ...
aber ich will's als eine Fügung des Himmels ansehen, daß ich Sie just
hier gefunden und noch dazu an dem Feste, wo man auch mit den Lämmern
und Schafen besonders liebenswürdig umgeht. Also fürs Erste soll mir
ein guter Freund und Fachmann sagen, was von Ihrem Talente und Ihren
bisherigen Pinselübungen zu halten ist, und wenn die Sache so ist, wie
ich hoffe, dann will ich Ihren Vater in Angriff nehmen, nicht etwa daß
er Ihnen zur Belohnung Ihres Wohlverhaltens einen Jahresgehalt von
zweitausend Thalern aussetzt, sondern daß er die Dummheit vergißt, die
Sie gemacht haben, und daß er sich daran gewöhnt, einen Künstler in der
Familie zu haben. Punktum, und darauf trinken wir.«

Hans Stahl drückte in überströmender Dankbarkeit dem Alten die Hand,
und auch Peter Frohwalt fand, daß der Vetter auch diese Geschichte beim
rechten Ende anzufassen wisse. Er stieß fröhlich mit den beiden anderen
an.

Noch an demselben Tage aber führte Vetter Martin seinen jungen Freund
in der Familie Heinrich Quandts ein.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Siebzehntes Kapitel.


Gaetano Vergani, der neapolitanische Bauer, der in Frascati
festgenommen worden war, drehte und wendete sich wie ein Aal, um der
Justiz ein Schnippchen zu schlagen. Zwar der Gebrauch des Messers und
die Verwundung seines Genossen, der übrigens nicht gefährlich verletzt
war, war nicht wegzuleugnen, und Quandt sowohl, wie der Vetter Martin
hatten in die Geschichte, die ihnen unangenehmen Verkehr mit der
römischen Behörde brachte, ihre Ausschlag gehenden Zeugnisse abgelegt,
aber betreffs des im Weitern festgestellten Thatbestandes, daß der
Gefangene schon seit längerer Zeit mit neapolitanischen Dukaten um sich
werfe, über deren Erwerb er zunächst jede Auskunft verweigerte, schien
dieser die Sache ziemlich leicht zu nehmen.

Er verlangte, als man ihn auch in dieser Hinsicht mit Strafe bedrohte,
daß man ihm eine Unterredung mit dem Prälaten Parelli verschaffe, der
wohl im Stande sein würde, ihn von jeder diesbezüglichen Anklage zu
entlasten, denn aus dessen Hause stamme das Geld und gestohlen habe er
es nicht.

Da er mit Hartnäckigkeit auf dieser Forderung bestand, und unverschämt
genug war, zu behaupten, der Bischof von Mikrun würde seine etwaige
Bestrafung in dieser Sache an dem betreffenden Richter zu ahnden
wissen, und da andererseits Parelli eine hochangesehene Persönlichkeit
war, so wurde diesem von dem Ansinnen des Burschen Mitteilung gemacht,
beziehentlich angefragt, ob man ihm denselben zuführen dürfe.

Der Prälat fühlte bei diesem Ansinnen -- er wußte selbst nicht recht
weshalb -- ein gewisses Unbehagen, aber der Name des Menschen, auch
die Erwähnung der neapolitanischen Dukaten veranlaßten ihn, sich
bereit zu erklären, ihn zu sehen. So wurde eines Morgens Gaetano
Vergani gefesselt in das Haus Parellis gebracht, begleitet von einem
päpstlichen Gendarmen.

Als er das Zimmer durchschritt, welches nach dem Arbeitsgemache des
Prälaten führte, begegnete ihm Signora Lucia, welche von diesen
Vorgängen nichts wußte, da Parelli in seiner Zuneigung zu ihr jede
Unannehmlichkeit ihr ersparen wollte. Beim Anblicke des Burschen, der
mit gebundenen Händen eintrat, wich ihr alles Blut aus den Wangen, und
sie heftete die geisterhaften großen Augen nach ihm hin. Gaetano sah
sie mit einem frechen Blicke und mit einem höhnischen Lächeln an und
sagte halblaut:

»Ich empfehle mich Ihrem Wohlwollen und Ihrer Fürsprache, Signora.«

Der Gendarm versetzte ihm einen Stoß, und während das Weib in dem
dunklen Seidengewande wie gebrochen durch die eine Thür verschwand,
führte der Mann des Gesetzes seinen Begleiter durch die andere vor den
Prälaten.

Auch Parelli war bleich, als er den Menschen mit seinem rohen Gesicht
sah, an den er sich in diesem Augenblicke von Tivoli her deutlich
erinnerte; seine frechen Reden von damals kamen ihm ins Gedächtnis,
obgleich derselbe anscheinend tief demütig vor ihm stand; er gebot dem
Gendarmen, ihn mit dem andern allein zu lassen, da es sich vielleicht
um eine Beichte handle.

Sobald sich der Bursche mit dem Prälaten allein sah, veränderte sich
seine ganze Haltung. Er richtete sich auf, warf den Kopf beinahe
trotzig in den Nacken und schaute Parelli mit frechem Hohne an, so
daß es diesem immer unheimlicher wurde. Endlich, nach einer kurzen,
peinlichen Pause zwang er sich zu der Frage:

»Du hast mit mir zu sprechen verlangt; was willst Du?«

Der Bauer räusperte sich sehr vernehmlich und sagte:

»Eh, Monsignore -- da haben sie mich wegen einer kleinen Dummheit
festgenommen, weil ich einen, der falsche Würfel hatte, mit meinem
Messer zu sehr gekitzelt habe, und dann machen sie mir den Vorwurf, ich
hätte Geld gestohlen, neapolitanische Dukaten, und das ist nicht wahr.
Das Geld habe ich erhalten von Signora Lucia -- es waren wohlgezählte
vierhundert Stück -- ich habe aber gemeint, ich wollte sie nicht
nennen, es könnte ihr oder auch Euch selbst unangenehm sein -- he?«

Der Prälat saß zurückgelehnt in seinem Polstersitze und that einen
tiefen Atemzug.

»Von Signora Lucia hast Du das Geld erhalten? Warum? Zu welchem Zwecke?«

»Eh, Monsignore ... das ist eine heikle Geschichte, und wenn ich sie
Euch mitteile, hoffe ich, daß Ihr vor Gericht dafür die vierhundert
Neapolitaner auf Euch nehmt, mir auch sonst ein günstiges Urteil
verschafft und noch einmal vierhundert Dukaten drauflegen werdet ...«

»Unverschämter!« brauste Parelli auf; der Mann mit den gebundenen
Händen aber trat ihm einen Schritt näher und grinste höhnisch:

»Sprecht nicht so laut, gnädiger Herr -- der Gendarm draußen könnte an
der Thüre horchen und der braucht nichts zu hören von dem, was wir hier
verhandeln!«

Der Prälat sank, starr über diese Frechheit des Burschen, der seine
rauhe Stimme zum Flüstern dämpfte, in seinen Sitz zurück, der andere
aber fuhr fort:

»Ich hätt's mit dem Weibe allein abmachen können, wie das erste Mal,
aber Ihr habt ja an der Sache auch ein Interesse, und müßt wünschen,
daß ich sie nicht an die große Glocke bringe ...«

»Welche Sache?« stammelte Parelli erbleichend.

»Eh, Monsignore ... Ihr sagt doch aller Welt, daß Signora Lucia eine
sehr nahe Verwandte von Euch sei -- ich könnte überall etwas anderes
beweisen ...«

»Und was denn?« fragte der Prälat mit bebenden Lippen.

Der Bauer fühlte, daß er den bleichen Mann vor sich in seiner Gewalt
habe; er weidete sich einige Sekunden an der Angst desselben, dann trat
er ganz nahe an den Polstersessel heran, beugte sich über Parelli und
sagte, indem er ihm fest und wie mit dem bannenden Blick einer bösen
Schlange ins Gesicht sah:

»Daß sie mein Weib ist! -- Wie gefällt Euch das, Monsignore? He?«

Der Prälat war aufgesprungen und einige Schritte zurückgetreten; er
rief halblaut:

»Du lügst, Bursche ... das ist ein Erpressungsversuch.«

»Das Zweite mag sein -- das Erste nicht! In Foligno habt Ihr sie
kennen gelernt. Da waren wir schon zehn Jahre verheiratet und hatten
einander überdrüssig, weil wir kaum zu leben hatten. Darum gingen
wir auseinander, ich als Knecht in die Chiana di Sorrento, sie nach
Foligno als Blumenhändlerin. Und sie war hübsch, ich kann's Euch
nicht verdenken, daß sie Euch gefiel. Ihr brauchtet jemanden für Euer
einsames Haus, und nahmt sie zu Euch, und habt sie in Sammt und Seide
gesteckt, und sie erzählte Euch, sie sei eine Waise und stehe allein
da in der Welt. Aber ich habe sie zu finden gewußt und sie hat mein
Schweigen erkauft mit einem kleinen jährlichen Sümmchen. Dafür hab' ich
mir ein bescheidenes Weingut erworben bei Sorrento und hause dort mit
einem alten Weibe, das nichts von meiner Vergangenheit und von Lucia
weiß. Und dorthin kam sie, als sie im Begriffe war, Euch einen Sohn zu
schenken und lebte wieder unter meinem Dache, und auch Euer Kind ist
bei mir. Ihr vermeint, jener Gaetano Vergani sei der Bruder Lucias,
nein, Monsignore, er ist der rechtmäßige Gatte, und Ihr habt zu allem
andern noch einen Ehebruch auf dem Gewissen ... wie gefällt Euch das?
He?«

Parelli hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und stöhnte; er rang
nach Atem, nach Fassung. Was er hier hörte, traf ihn wie Keulenschläge,
und das Bewußtsein einer furchtbaren Schuld lastete erdrückend
auf seiner Seele. Er sank wieder auf seinen Sitz zurück, wie ein
gebrochener, elender Mann, der rohe Bursche aber fragte frech:

»Eh, Monsignore -- wie steht es mit den Dukaten? Und meint Ihr nicht,
daß ich wegen der Messerstecherei frei kommen könnte? Etwas wenigstens,
hoffe ich, werdet Ihr mir herunterhandeln ... Denn wenn Ihr's nicht
thut, dann muß ich der Welt doch erzählen, in welcher Verwandtschaft
wir beide stehen, und das, denke ich, ist Euch nicht lieb!«

Der Prälat ließ die Hände sinken; sein Antlitz war noch blaß, aber es
stand ein fester Entschluß auf demselben geschrieben. Er sprach leise,
aber bestimmt:

»Ich habe schweres Unrecht auf der Seele -- aber Du und Dein Weib, Ihr
seid Schurken! Mir ekelt's vor Euch! Glaube nicht, Elender, daß Du mich
mit Deinen Drohungen schrecken kannst; ich bin bereit, wenn es sein
muß, für meine Schuld zu büßen, und am Stuhle des heiligen Petrus giebt
es Verzeihung auch für den schwersten Sünder. Darum hoffe nicht, mir
gegenüber ein Erpressungssystem ins Leben zu rufen, Du könntest Dich
furchtbar täuschen. Die vierhundert Dukaten nehme ich auf mich, die
Strafe für den Messerstich, welchen Du Deinem Genossen beigebracht,
wirst Du unweigerlich tragen, und wenn Du sie überstanden hast,
dann zahle ich Dir und Deinem Weibe je 500 Scudi ein für alle Mal.
Unterfangt Ihr Euch, mich jemals wieder zu belästigen, so werde ich
selbst Euer Ankläger -- komme, was da wolle. So, jetzt sind wir fertig!«

Der Bauer stand ziemlich verblüfft da, Parelli aber rief den Gendarmen
und gebot ihm, den Gefangenen wieder fortzuführen; er würde selbst dem
Gerichte die weiteren Mitteilungen zugehen lassen.

Als der Bursche hinaus war, brach der Prälat aufs neue zusammen unter
seiner Schuld, und mit gerungenen Händen fiel er vor dem Kreuzbilde
nieder, das auf einem reichgeschnitzten Betpulte stand. Hier lag er
noch, als sich die Thüre leise öffnete und Lucia hereintrat. Sie war
todbleich, ihr Gang war schleppend, und da sie Parelli im Gebete sah,
hielt sie fast erschrocken den Schritt an. Da wendete er sich um. In
sein Antlitz schoß eine dunkle Röte; er sprang empor, seine Hände
ballten sich, die Adern auf der breiten Stirne schwollen ihm an, und
das Weib in dem schleppenden, dunklen Seidengewande stürzte vor ihm
nieder und beugte die Stirne bis zur Erde, als ob sie ihm die Füße
küssen wollte.

Der Prälat rang nach Selbstbeherrschung und er bezwang gewaltsam seine
Stimme, so daß sie halblaut, aber tief grollend klang:

»Hinweg von mir, Elende!«

»Verzeihung -- o Verzeihung!« stöhnte das Weib, noch immer mit dem
Antlitz auf dem Teppich liegend.

[Illustration: »Verzeihung!« -- stöhnte das Weib ... (S. 323.)]

»Ja wohl, Verzeihung -- der Himmel mag uns verzeihen, Dir und mir ...
aber aus muß es sein zwischen uns für alle Zeit. Geh in die Einsamkeit
und büße, wenn Du kannst, geh mit Deinem Manne, wenn er Dich noch mag,
mich aber befreie von Deiner Gegenwart, denn von Dir geht ein Hauch der
Sünde aus. Du wirst morgen noch mein Haus verlassen! Behalte alles, was
Du je von mir empfangen, aber laß Dich nie wieder sehen vor mir -- Du
hast mich belogen, betrogen, bestohlen! Hier nimm diese kleine Summe
noch« -- er war zum Schreibtische geeilt, schloß ihn mit fieberhafter
Hast auf und reichte ihr eine Rolle mit Goldstücken -- »es ist das
Letzte! Für unsern Sohn werde ich weiter sorgen.«

Das Weib wand sich auf den Knieen, aber es streckte die Hand nicht aus
nach dem Gelde.

»Stoß mich nicht fort zu dem Elenden, der sich meinen Gatten nennt!«
wimmerte sie.

Parelli warf die Rolle mit Goldstücken vor sie hin, daß sie sich
öffnete und die Münzen herausrollten, dann wandte er sich schweigend
und verachtungsvoll ab und verließ das Gemach.

Einige Augenblicke sah ihm Lucia nach, regungslos wie ein Steinbild,
dann blitzte es in den dunklen Augen auf wie im Zorn, mit hastigen
Händen raffte sie die zerstreuten Goldstücke zusammen, erhob sich und
eilte hinaus. In den beiden prächtigen Gemächern, welche sie bewohnte,
raffte sie zusammen, was sie an Schmuck und Wertgegenständen besaß und
legte es in einen Handkoffer, dann ließ sie durch einen Diener einen
Reisekorb herbeischaffen, welchen sie mit Wäsche und Kleidern bis an
den Rand füllte.

Am andern Morgen ließ sie einen Wagen kommen, der sie nach dem Bahnhofe
bringen sollte. Als sie, ohne Parelli noch einmal gesehen zu haben,
langsam und gleich einer Fürstin, wie sie es in früheren Tagen gewöhnt
war, die Treppen hinabstieg, ließ sie ihre Blicke noch einmal über all
die Herrlichkeit schweifen, welche sie verließ, aber sie hatte ihr
Auge und ihre Miene völlig in der Gewalt. Der Diener, welcher ihren
Handkoffer trug, hatte, trotzdem er wiederholt einen beobachtenden
Blick nach ihr gewendet, keine Ahnung von dem, was in der Brust des
geputzten Weibes vorging.

Da kam eben der Jesuitenpater Felice. Er sah sie erstaunt an und fragte:

»Sie verreisen, Signora?«

»Ja wohl, Hochwürden.«

»Auf lange Zeit?«

»Auf Nimmerwiederkehr!« flüsterte sie zischend, und in diesem einen
Worte brach ihre mühsam verhaltene Erregung durch.

»Aber was bedeutet das, Signora?« frug der Jesuit beinahe bestürzt.

»Fragen Sie Monsignore!« stieß sie noch hervor, dann rauschte sie an
ihm vorüber und gleich darauf hörte er das Rollen des Wagens. Mit dem
immer gleichen, kalten Gesicht stieg der Pater die Treppe empor und
ließ durch Giovanni sich bei dem Prälaten melden.

Dieser sah ihm ziemlich finster entgegen und bot ihm einen Sitz, dann
fragte er mit kühler Höflichkeit nach seinem Begehren.

Felice kam in Angelegenheiten des Konzils. Der Jesuitenorden hatte für
die widerspenstigen Bischöfe, welche sich der neuen Geschäftsordnung,
namentlich der Forderung, daß mit einfacher Mehrheit entschieden werden
solle, nicht gutwillig fügen mochten, eine Falle zurecht gelegt und
bearbeitete seine Anhänger in dem Sinne, wie diese Falle Verwendung
finden sollte. Parelli glaubte man bei seiner Gutmütigkeit sicher zu
haben, ihn konnte man wohl auch etwas tiefer in die Karten sehen lassen.

Aber Felice hatte keinen glücklichen Tag getroffen, das Gewissen des
Prälaten hatte einmal angefangen, sich zu regen, er fühlte den starken
Trieb, recht zu thun und damit seine Schuld wegen Lucia einigermaßen
zu erleichtern, und so hörte er mit Unmut dem Jesuiten zu, der ihm
auseinandersetzte, wie man zu den Dekreten betreff der Unfehlbarkeit
eine Art Einleitung den Konzilsvätern vorlegen wolle, in welcher es
auf eine besonders scharfe Verurteilung des Protestantismus abgesehen
sei. Man erwarte nach der ganzen Fassung einen Widerspruch der
nichtitalienischen Bischöfe, ja man wünsche sogar einen solchen und
würde es auch nicht ungern sehen, wenn selbst eine Anzahl für den
Glaubenssatz gewonnener Kirchenfürsten sich in diesem Falle jenen
anschlössen. Dadurch würde einerseits der Vorwurf hinfällig, daß die
italienischen Bischöfe einfach alles annehmen, was ihnen vorgelegt
würde und fürs zweite hätte man die widerstrebenden Bischöfe dazu
gebracht, etwas mit einfacher Mehrheit zu entscheiden, und der von
ihnen angefochtene Grundsatz der Geschäftsordnung hätte damit durch sie
selbst Genehmigung erhalten.

»Mag die Beleidigung des Protestantismus auch hintertrieben werden,
wenn sie nur die verhaßte neue Geschäftsordnung auf diese Weise
annehmen!« schloß Felice, und um die schmalen Lippen ging ein leichtes
Zucken, wie ein Lächeln.

Die Brauen Parellis hatten sich zusammengezogen. Jetzt sah er den
Jesuiten durchdringend an und sprach mit unverkennbarem, bitterem Hohne:

»Der Zweck heiligt die Mittel! ... Ich will ehrlich zu Ihnen sprechen,
Hochwürden, denn ich bin in einer Stimmung, in der ich nicht anders
kann, und wenn ich für meine Meinung und Ueberzeugung der schwersten
Strafe verfiele. Ja, ich werde gegen einen solchen Angriff gegen den
Protestantismus stimmen, aber nicht um das Spiel, das mit dieser
Abstimmung getrieben werden soll, zu unterstützen, sondern aus
innerster Ueberzeugung, denn ich kenne Protestanten, die himmelhoch
stehen über Katholiken und katholischen Priestern, und von denen wir
allzusammen lernen können, was in jeder Religion das wahrhaft Religiöse
ist ... im übrigen aber lassen Sie mich meine Wege von heute ab gehen
auch in der Frage der Unfehlbarkeit. Die Mittel, welche angewendet
werden, um sie durchzusetzen, die heimlichen Wege, welche man geht,
um eine ehrliche, gesinnungstüchtige Gegnerschaft zu bekämpfen, sind
unwürdig und ich schäme mich, wenn ich mit dafür haftbar gemacht
werden solle. Ich werde, wenn es zur Abstimmung kommt, nicht nach
der Vorschrift des Jesuitenordens, sondern nach meiner Ueberzeugung
stimmen -- komme was da wolle!«

Felice sah den Prälaten groß und mit starren Augen an, als stehe er
vor einem Rätsel, das selbst ihm, dem vielgewandten und kalten Manne
unverständlich war; endlich sagte er:

»Bischöfliche Gnaden, ich höre mit Bedauern solche Worte, die aus einer
augenblicklichen Erregung kommen, welche ich nicht ernst nehmen möchte.
Ich merke daraus nur das Eine, daß Ihr guter Engel von Ihnen gegangen
ist.«

Parelli sah ihn mit gehobenem Haupte und fest an:

»Meinen Sie damit das Weib, welches ich aus meinem Hause gejagt habe?
-- Haben Sie wirklich den Mut, als ihr Beichtvater, der doch von allem
gewußt haben muß, diese Elende so zu nennen? Ihnen brauche ich meine
Sünde und Schande nicht erst zu erzählen, Sie haben darum gewußt, Sie
_müssen_ darum gewußt haben, und doch haben Sie uns beide hinleben
lassen in Schuld und Verbrechen ohne ein mahnendes und strafendes Wort?
-- Durch das Weib haben Sie den Einfluß auf mich sich gesichert ... wie
nennen Sie ein solches Verhalten? -- O, mich widert das alles an --
ach, wenn Sie wüßten, wie sehr es mich anwidert. In unserer heiligen
Kirche ist vieles schlecht geworden und gerade durch die Schuld
derjenigen, die über ihre Reinheit und sittliche Würde am meisten zu
wachen berufen waren. -- Ich kann nicht anders büßen für meinen Anteil,
als indem ich redlich streben will, das Verderbte an mir und anderen
zu bessern, und daß ich allezeit den geraden Weg gehe, auf welchem die
beiden Sterne der Gottesliebe und der wahren Nächstenliebe leuchten.
Dazu aber kann ich Ihrer Leitung entbehren, und da Sie mir immer nur
aufs neue die Erinnerung an meine Sünde und an die Zeit meiner Schmach
in mir wachrufen müßten, so ist es wohl besser, wenn wir uns so wenig
als möglich begegnen; es kann ja auch Ihnen nur angenehm sein!«

Das blasse Gesicht des Jesuiten war noch um einen Schein fahler
geworden, aber er beherrschte sich auch jetzt.

»Ich habe gehört und nicht gehört, Monsignore. Sie sind in Aufregung
und ich bin nicht so lieblos, Sie darum für alles, was Sie eben gesagt
haben, verantwortlich zu machen. Sie sollen über meine Zudringlichkeit
nicht zu klagen haben, aber vergessen Sie auch nicht die Pflichten, die
der heilige Stuhl berechtigt ist, von Ihnen erfüllt zu sehen. Es ist
nicht gut, gegen den Stachel zu lecken, Herr Bischof von Mikrun!«

Er verneigte sich mit spöttischer Höflichkeit tief vor dem Prälaten
und ging; Parelli aber atmete jetzt tief auf, dann trat er an das
Fenster, öffnete es, als ob er eine andere, reinere Luft einlassen
müsse, und nun ging er mit großen Schritten in dem Gemache auf und ab.
Er hatte ein Gefühl des Wohlbehagens, wie er es seit langer Zeit nicht
empfunden, das Gefühl der Befreiung von einem moralischen Drucke, der
in gar mancher Stunde schwer auf ihm gelegen, am schwersten aber wohl
damals, als der braune Junge aus der Campagna vor ihm auf den Knieen
gelegen und mit gefalteten Händen ihn angefleht hatte, das Weib zu
entlassen, das Felice die Frechheit besaß, seinen guten Engel zu nennen.

So hatte der junge deutsche Priester damals Sisto genannt, und er hatte
mehr Recht. Die beiden Gestalten, der dunkellockige Knabe und Peter
Frohwalt traten vor seine Seele, die nach der Berührung mit dem Reinen
und Guten sich sehnte, und einem raschen Antriebe folgend, beschloß er,
vor beiden sich zu rechtfertigen.

Er ließ seinen Wagen vorfahren und begab sich, da an diesem Tage keine
Konzilssitzung stattfand, nach der Wohnung des jungen Priesters,
welchen er auch daheim antraf, und der ihn erstaunt, aber mit
gebührender Höflichkeit begrüßte.

»Wissen Sie, warum ich komme?« fragte der Prälat. »Ich habe das
Bedürfnis, mein Gewissen zu entlasten, und bitte, Ihnen beichten zu
dürfen.«

Frohwalt geriet beinahe in Verlegenheit.

»Verzeihung, bischöfliche Gnaden, aber ich besitze für Rom keine
Berechtigung zur Ausspendung des Beichtsakramentes.«

»Ach so ... das ist wieder die gewohnte Gründlichkeit und
Gewissenhaftigkeit der deutschen Theologen. Sie haben freilich durch
die Priesterweihe auch das Recht, zu binden und zu lösen erhalten, und
jeder bedrängte Mensch, den sein Vertrauen zu Ihnen zieht, sollte kraft
dessen auch von Ihnen von seinen Sünden freigesprochen werden können,
aber ich weiß, daß sich formale Bestimmungen auch hier dazwischen
drängen. Nun gut ... haben Sie auch in Rom nicht das Recht, mich von
Sünden zu lösen, so darf ich doch mein Bekenntnis vor Ihnen ablegen.
Sie haben einst mit ruhigem und doch so eindringlichem Worte an meinem
Gewissen gerüttelt, daß es mich drängt, jetzt, da ich die Kraft der
inneren Erneuerung gefunden habe, zuerst zu Ihnen zu kommen.«

Und nun erzählte er ruhig und klar die Vorgänge des gestrigen Tages und
was damit zusammenhing; er schloß:

»Endlich bitte ich Sie um Eines: Ich habe den Drang, daß auch der
Knabe, der einstens um mein Seelenheil vor mir auf den Knieen gelegen,
erfahre, daß sein Gebet durch die Gnade des Himmels erhört sei, und
habe die Sehnsucht; ihn wieder in meiner Nähe zu wissen. Thun Sie mir
die Liebe, Sisto aufzusuchen, und bringen Sie ihn mir wieder ... ich
habe erst in diesen Tagen empfunden, was mir der Knabe war.«

Frohwalt war von dem Gehörten tief ergriffen.

»Und habe ich auch keine formale Berechtigung, Ihnen Sünden zu
vergeben, der Himmel und Ihr eigenes Herz werden Sie von Ihrer Schuld
lossprechen -- ich aber, das glauben Sie, bin unendlich glücklich, daß
es so gekommen ist. Ich suche heute noch Sisto auf, und wenn es irgend
möglich ist, führe ich Ihnen den Knaben zu. Quandts kehren ja doch
bald nach der Heimat zurück und ich glaube nicht, daß sie die Absicht
haben, Sisto mit sich zu nehmen.«

»Ich danke Ihnen im voraus für alle Liebe, die Sie mir thun, und ich
will bemüht sein, mich ihrer wert zu machen.«

Parelli hatte sich wieder entfernt und Frohwalt war es zu Mute, als
beschere ihm der Himmel die erste glückliche Stunde in Rom. Er wollte
auch nicht zaudern mit der ihm gewordenen Mission, aber eben, da er
sich auf den Weg zu machen gedachte, trat der Vetter Martin bei ihm ein.

»Lieber Peter -- das ist hübsch, daß ich Dich erwische -- denn ich
komme, um Dir meinen Abschiedsbesuch zu machen. Du weißt, daß ich
der Mann der plötzlichen Entschlüsse bin. In Rom ist mir der Boden
etwas heiß geworden unter den Füßen und Eure Konzilsverhandlungen
sind das Langweiligste, was für die katholische Christenheit erdacht
werden konnte -- ich fürchte freilich, daß sie mit einem unangenehmen
Knalleffekt abschließen. Also kurz und gut: Ich breche morgen früh auf
gegen Neapel. ~Vedi Napoli poi more!~ Auf meiner Rückreise komme ich
noch einmal nach der ewigen Stadt, und ich vermute, daß ich Dich noch
finden werde. Meine Geschäfte hier sind in der Hauptsache erledigt.
Mein Lausitzer Windhund, von dem sein Alter durchaus nichts mehr wissen
will, ist bei Quandt untergebracht, und arbeitet in dessen Atelier
auf Tod und Leben. Quandt hat ihm ein schönes Talent zugesprochen und
wird ihn, wenn er mit seiner Frau Rom verläßt, an einen andern Maler
empfehlen. Ich denke, wir schleppen den armen Teufel durch. Auch
Quandts sind die prächtigsten Menschen auf Gottes Erdboden ... Nun Gott
befohlen, mein lieber Peter -- ich habe noch Einiges rasch zu besorgen
-- und halte mir die Ohren steif wegen der Unfehlbarkeit!«

Noch ein kräftiger Kuß, dann ging der Alte und bald nach ihm verließ
Frohwalt das Haus.

Der Himmel war trübe geworden und es begann zu regnen, als er durch
die Straßen schritt. Diesem Umstande vielleicht hatte er es zu danken,
daß er Quandts daheim antraf.

Der Maler und Friederike empfingen ihn mit gewohnter Herzlichkeit und
der Erstere rief:

»Hat unser alter Wandervogel schon Abschied genommen? Das kam ja mit
einer merkwürdigen Plötzlichkeit über ihn, und ist für uns beinahe
vorbedeutungsvoll geworden, denn sehen Sie, wir stehen gleichfalls
auf dem Sprunge. Meine Schwiegereltern schreiben uns einen Brief, der
Frühling rühre sich heuer schon im Sachsenlande, und die Schwalben
kämen aus dem Süden, ob wir denn nicht das gute Beispiel nachahmen
wollten. Das ist meinem Schatz so ins Herz gefahren, daß sie mit einmal
alle Lust an Rom verloren hat, und ich bin ein so überaus folgsamer
Gatte -- was will ich thun? -- Nächste Woche packen wir ein!«

»Das bedaure ich herzlich um meinetwillen,« sagte Frohwalt, »denn Sie
wissen nicht, wie viel ich mit Ihnen verliere. Ich habe meine schönsten
Stunden in Rom bei Ihnen verlebt, das vergesse ich Ihnen nicht ...«

»Der Himmel hat uns hoffentlich nicht das letzte Mal zusammengeführt,«
sprach Friederike herzlich und Quandt fiel ein:

»Und wir wollen uns nicht heute schon das Herz schwer machen! Wir
sehen uns noch hier, und Dresden liegt doch auch nicht auf dem Monde
oder irgend einem unerreichbaren Planeten. Aber jetzt wollen wir uns
gemütlich zusammensetzen ...«

Als sie saßen, berichtete Frohwalt, weshalb er eigentlich kam. Parelli,
der nun ganz allein stehe, denn die Signora habe sein Haus verlassen,
sehne sich nach Sisto und wünsche, ihn wieder bei sich zu haben.
Daß die Zukunft des Knaben damit für alle Zeit gesichert wäre, sei
selbstverständlich, und angesichts ihrer bevorstehenden Abreise sei es
ihnen vielleicht lieb, denselben wieder in guten Händen zu wissen ...

»Aber haben Sie denn gemeint, daß wir ihn hier lassen wollten?« fragte
Friederike beinahe bestürzt, und überrascht sah sie den Priester an.

»Ja, mein Fritzel hat sich eingebildet, der Himmel hätte ihr den
Bengel extra zur Belohnung ihrer guten Sitten und ihres braven Herzens
beschert, und ich fürchte sehr, daß wir dem Prälaten den Besitz Sistos
streitig machen. Aber es handelt sich in erster Reihe um diesen selber,
und wenn er auch nicht mündig ist, so hat er doch das Recht der freien
Entschließung.«

Quandt stand auf, und rief in dem Atelier nach dem Knaben, und in
wenigen Augenblicken erschien er.

»Er hat Herrn Stahl Gesellschaft geleistet, der an seinem Gesichte
seinen ersten Porträtversuch macht ... komm her, Sisto!«

Der Junge trat nahe zu dem Maler, der ihn zwischen seine Kniee zog,
und, indem er ihm mit einer gewissen Bewegung in das frische Gesicht
schaute, sprach:

»Denke Dir, mein lieber Sisto, Monsignore Parelli will Dich wieder in
sein Haus haben --«

»Die Signora ist fort für immer,« -- fügte Frohwalt ein, und die Augen
des Knaben leuchteten auf.

»O, sie ist fort -- da ist alles gut!« sagte er.

»Und Du willst also zu ihm zurückkehren?« fragte Quandt.

Da flog ein Schatten über die Züge des Jungen, und er senkte schweigend
den Kopf.

Da sprach Frau Friederike:

»Macht ihm nicht bange! Er soll nicht denken, daß er zu dem Prälaten
zurückkehren muß, weil wir etwa ihn nicht mehr haben wollten. Ach,
warum ich mich nun nicht besser italienisch ausdrücken kann! -- Jetzt,
Heinrich, sag' Du's ihm klar und vernünftig, daß er unser Kind sein
und bleiben soll, wenn's ihm bei uns gefällt und daß wir ihn mit in die
Heimat nehmen und adoptieren, und ...«

Die junge Frau war lebhaft geworden und saß mit geröteten Wangen da,
indes Sisto ihr die glänzenden Augen voll zuwendete. Quandt sah sie
lächelnd an:

»Na, ja, ja, Kind -- laß mich nur machen! -- Also, mein Junge, wir
müssen jetzt bald in unsere Heimat -- das ist weit weg, und die Leute
reden dort eine andere Sprache und alles sieht ein wenig anders aus,
und im Winter schneit's und friert's, und es wachsen keine Citronen und
Orangen ...«

»Aber Heinrich ...«

»So sei doch ruhig, Fritzel, der Junge muß doch erst die Schattenseiten
kennen! -- Aber, mein lieber Sisto, es giebt auch gute Menschen dort,
wie der geistliche Herr da, meine Frau und ich, und wenn Du nicht
wieder zu Monsignore willst, und uns lieber hast, so sollst Du bei uns
bleiben, und ich will Dein Vater sein -- --«

»Und ich Deine Mutter, Sisto -- willst Du?«

Da rang es sich wie ein Jauchzen und Schluchzen zugleich aus der Brust
des Knaben, und er warf sich mit ausgebreiteten Armen an das Herz der
jungen Frau.

»Na seht Ihr, wie ich mit meinem bischen Italienisch die Sache klar
bekommen habe. Sisto, Junge -- komm her, ich will auch meine Hälfte
haben von Dir!« rief der Maler, und nachdem er seinem Liebesbedürfnis
Genüge gethan, suchte er seine Rührung unter Scherzworten zu verbergen.
Er führte den Knaben wieder seiner Frau zu und sagte:

»Hier übergebe ich ihn Dir in aller Form Rechtens, und hoffe, daß Du
ihn zu meiner Freude erziehen wirst; und nun laß einmal sehen, wie
Dir die Mutterrolle zu Gesicht steht! -- Was? Sehr gut! Nicht, Herr
Doktor? -- Sie sind Zeuge der Adoption und können dem guten Prälaten
mitteilen, daß wir als echtes und rechtes Ehepaar einen Jungen viel
besser brauchen können, als ein Cölibatär, und katholisch soll er auch
bleiben: die Söhne folgen der Religion des Vaters.«

Frohwalt stand in tiefer Ergriffenheit; er kam sich im Grunde
recht überflüssig vor bei dieser Familienszene, und doch konnte er
nicht gehen. Es ging ihm in wenig Augenblicken vieles durch den
Sinn. Wie hätte er sich noch vor nicht langer Zeit entsetzt und
für das Seelenheil des Knaben gebangt bei dem Gedanken, daß ein
protestantisches Weib ihn wie ihr eigenes Kind halten und erziehen
würde ... und heute war ihm das so selbstverständlich, und er wußte und
fühlte es gut, daß Sisto nirgends besser aufgehoben sein könne. Aus den
beiden Menschen, die hier um den fremden Knaben sich bemühten, sprach
eine solche Fülle echter Liebe, daß er selbst mächtig davon erfaßt
wurde, zumal diese Liebe so ungesucht und unmittelbar aus dem Herzen
kam.

»O, Ihr lieben, guten Menschen!« sprach er vor Rührung übermannt, und
mehr vermochte er nicht hervorzubringen, aber mit überströmenden Augen
reichte er dem Maler und seiner Frau die Hand.

Heinrich Quandt verzog sein gutmütiges Gesicht in die seltsamsten
und wunderlichsten Falten, so daß man nicht im Klaren war, ob er
im nächsten Augenblicke auflachen oder aufschluchzen werde; er riß
fast gewaltsam seine Hand aus der des Priesters und eilte nach dem
Atelier, um Hans Stahl herbeizuholen. Als er mit dem jungen Lausitzer
eintrat, der ziemlich verblüfft dreinschaute, rief er: »Hans, lassen
Sie in diesem feierlichen Augenblicke Pinsel und Palette, und bilden
Sie sich etwas darauf ein, daß Sie der Erste sind, welchem Heinrich
Quandt und Frau hierdurch die ergebene Mitteilung machen, daß ihnen
Gott am heutigen Tage einen gesunden, kräftigen Jungen geschenkt hat.
Da steht er: Sisto Quandt-Brenta! Klingt famos. Und nun, Fritzel, sieh
einmal zu, ob Du von unserer Gastfreundin etwas anständig Trinkbares
auftreiben kannst.«

Hans Stahl war der Mensch, der sich in die Sachlage fand, und als der
Falerner auf dem Tische stand, brachte er den ersten Toast aus auf den
»Neugeborenen«, in welchem der gute alte Studentenhumor wieder zum
Durchbruch kam.

Und mit seinen Worten fanden auch die anderen sich wieder in eine
ruhige Stimmung, aber Quandt sagte:

»Hans, Sie sind ein prächtiges Individuum, und verdienten gleich als
Zwilling mitadoptiert zu werden. Hei, da kommt mir ein prächtiger
Gedanke! Lieber Doktor Frohwalt, wie wär's, wenn wir hier den Prälaten
als Adoptivvater gewinnen könnten! Das wäre ja gleich ein Ersatz für
Sisto. Ich habe zwar unsern Hans meinem Freunde und Berufsgenossen
Paolo Grotti hier auf die Seele gebunden, und bei ihm kann er etwas
lernen in Colorit und Pinselführung -- 's ist auch ein prächtiger
Mensch im übrigen -- aber wenn Monsignore Parelli noch seine Huld
unserm Landsmanne zuwendete ... hören Sie, Frohwalt, ich glaube, Sie
finden ihn in der Laune, reden Sie mal ein Wort mit ihm! Er soll sich
ansehen, was Hans Stahl leistet, und wenn ihn nicht schon Sistos Kopf,
der jetzt von der Leinwand heruntersieht, besticht, so könnt Ihr mich
einen Sudler nennen!«

Frohwalt versprach, in diesem Sinne zu handeln, und Hans Stahl fühlte
sich angesichts einer sorglosen Zukunft in heiterster Stimmung.

Als der junge Priester fortging -- Sisto hatte ihm die Hand geküßt und
den Prälaten um Verzeihung bitten lassen, daß er nicht zu ihm komme
-- war es draußen wieder Sonnenschein geworden, und Sonnenschein lag
auch in seiner Seele. Vor ihm wurde angesichts der in dem kleinen Hause
waltenden Liebe ein Wort lebendig aus dem »Laienbrevier«, das ihn zwar
nicht nach Rom begleitet hatte, mit dem er aber -- oft gegen seine
Absicht -- immer vertrauter geworden war wie mit einem lieben Freunde.

    »Was Du dem andern thust, das thust Du Dir.
    Denn er ist -- Du! Wir sind von einem Geiste,
    Wie überall das Licht vom Licht. Wir sind
    Von einem Leib, von einem Teig wie Brote.
    Du thust das Gute Dir zu gut ...«

So war es und so muß es sein! Alles Gute, das wir thun, kommt uns zu
gut, und erfüllt unser Herz mit Freudigkeit. Und diese Freudigkeit
empfand Frohwalt noch, als er am Nachmittage nach dem Hause des
Prälaten ging. Erst als er die breiten Treppen hinanstieg, überkam ihn
ein leises Schmerzgefühl bei dem Gedanken, daß er dem einsamen Manne in
seinem großen, prächtigen Hause den Knaben, an dem seine Seele hing,
nicht mitbringe.

Als er Parelli von der Szene im Hause Quandts erzählte, senkte dieser
die Stirn und sagte leise:

»Ich hab's gewußt! -- Auch das ist eine Sühne.«

Nun berichtete der junge Priester aber von dem andern Schützling des
deutschen Malers, und das Auge des Prälaten begann freundlich zu
leuchten.

»Ich danke Ihnen für diese Mitteilung, und seien Sie überzeugt, daß ich
auch darin einen Fingerzeig des Himmels sehe. Ich komme morgen zu Herrn
Quandt!«

Er verabschiedete sich herzlich von Frohwalt.

Er hielt Wort. Am nächsten Vormittage erschien er bei dem deutschen
Maler. Beim Eintritt in das Atelier sah er mit einem Blick Sisto, wie
er leibte und lebte, und sein Gesicht, das noch ein zweites Mal von der
Leinwand wie aus einem Spiegel herschaute. Als ihn der Knabe erblickte,
sprang er auf und eilte auf ihn zu. Stürmisch griff er nach den Händen
Parellis, küßte sie und stammelte dazu beinahe leidenschaftlich:

»O Verzeihung, Verzeihung, Monsignore -- ich kann nicht anders!«

Der Prälat legte leise seine Rechte auf das dunkellockige Haupt und
sprach begütigend:

»Beruhige Dich, mein Sisto! Ich bin Dir nicht böse -- Gott segne Dich!«

Dann begrüßte er Quandt:

»Ich wünsche Ihnen und Ihrem Frauchen Glück zu dem braven, prächtigen
Sohne, und wenn Sie mich als einen Seitenverwandten desselben gelten
lassen wollten, würde ich mich freuen. Das ist Herr Stahl?«

Hans hatte sich erhoben, und Parelli trat an seine Staffelei. Das Bild
Sistos zeigte lebensvolle Frische, und an dem Talente des jungen Malers
konnte kein Zweifel sein. Der Prälat schien sich ganz in die Züge des
Knaben zu vertiefen, und über sein Gesicht huschte dabei ein Schatten
der Wehmut. Es war ganz still in dem Raume, und Stahl hielt den Atem
an, bis jener sich umwandte und freundlich sagte:

[Illustration: »Das Bild müssen Sie mir überlassen!« sagte Parelli zu
dem jungen Maler. (S. 337.)]

»Dies Bild müssen Sie mir überlassen! Sie selbst aber bitte ich,
während der Zeit Ihres Aufenthalts in Rom mein Gast zu sein -- ich
hoffe, Sie gehen nicht eher, bis aus dem Jünger ein Meister geworden
ist.«

Stahl, welcher des Italienischen beinahe garnicht mächtig war, fand
keine Worte, aber seine Hand zitterte vor Erregung, als er sie in die
dargebotene Rechte des Prälaten legte.

»Das walte Gott!« sagte leise der Maler, indem er seinen Arm um Sistos
Hals schlang und den Jungen an sich zog.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Achtzehntes Kapitel.


Die Uhren der ewigen Stadt verkündeten die achte Morgenstunde. Rom
begann langsam sich den Schlaf aus den Augen zu reiben, und ob es
auch, zumal in den größern und glänzenden Straßen, in den Häusern der
vornehmen Viertel noch recht still war, der Pulsschlag der Großstadt
wurde doch überall vernehmlich. Auf den Plätzen sammelt sich müßiges
Campagnolenvolk, um zu warten, ob man es zu irgend einer Arbeit
dingen werde. Es sind prächtige Gestalten unter diesen lungernden
Bauern, die in ihren verschlissenen, zerfetzten aber bunten Anzügen
da und dort lehnen, gelangweilt in die Welt hinein schauen, oder in
kleinen Gruppen auf dem Erdboden liegen, und mit leidenschaftlicher
Erregung das geliebte Morra spielen. Kleine Wagen mit den täglichen
Lebensbedürfnissen und den Erzeugnissen des Gartenbaus rollen langsam
daher, und ihre Besitzer lassen ihre gewohnten eintönigen Rufe
erschallen, welche zum Kaufen einladen sollen, während ihre Lasttiere
dazwischen schreien, als wollten sie ihr Vergnügen über den neuen
Morgen ausdrücken, vielleicht auch ihre Klage über die neue Plackerei.
Die niedlichen Blumenverkäuferinnen richten ihre Verkaufsstände her,
zumal in den Fremdenquartieren, und auf der Treppe, die nach dem
spanischen Platze herabführt, haben sich zahlreiche Modelle eingefunden
und warten auf die Künstler, die sich hier ein Stelldichein geben.

Auf der Piazza di Spagna selbst wird es lebendiger. Auch die vornehmen
Hôtels und die prächtigen Paläste öffnen die schlaftrunkenen
Augen, goldglitzernde Wagen fahren da und dort vor und warten, mit
den reichgallonierten Dienern auf dem Bocke, und die bummelnden
Campagnolen, das fahrende Volk und alle, die es bemerken, wissen, daß
heute Konzilssitzung ist, und daß diese prächtigen Karossen einige
besonders vornehme und reiche Väter nach der Peterskirche fahren werden.

Das Schauspiel ist nicht mehr neu und deshalb die Neugier keine
besonders brennende. Endlich erscheint da und dort in einem Portale
eine Gestalt in rot- oder violettseidenem Talar -- je nachdem es
sich um einen Cardinal oder Bischof handelt -- und neben ihr oder
hinterdrein kommt ein geistlicher Begleiter ... und bald darauf rasselt
der Wagen, dessen Radspeichen im Morgensonnenschein aufblitzen, die
vornehme Via dei Condotti entlang nach der Engelsbrücke zu.

Hier ist es belebter. Von fünf Straßen rollen sie aus dem Innern der
Tiberstadt heran, die Wagen mit den Vätern des Konzils. Da kommen
von der Richtung des Palazzo Borghese her die Mietswagen der minder
begüterten Herren, die in ihren violetten Talaren im Fond lehnen,
die breitrandigen Hüte auf den Häuptern und blinkende Kreuze auf der
Brust, und langsamer trotten dazwischen die gewöhnlichen Droschken, die
~vetture pubbliche~, in welchen zwei, wohl auch drei der geistlichen
Oberhirten Platz genommen haben, und die Leute schließen aus der
Verschiedenheit der Gefährte auf Bedeutung und Vermögen der Herren.

In den Droschken sitzen zumeist die aus dem fernen Osten gekommenen
Bischöfe, die mit voller Gleichgültigkeit und unentwegter Würde auf
den Gesichtern, die bald von tiefschwarzen, bald von schneeweißen,
wallenden Bärten umrahmt sind, auf die Leute herabsehen, ab und zu ihre
Dose hervorziehen, sie dem Nachbar reichen, und dann mit nachlässigem
Behagen das duftende Labsal zur Nase führen.

Langsam fahren die Wagen, nur zwei, höchstens drei neben einander, über
die Engelsbrücke hinüber nach dem vatikanischen Rom, und auf dem St.
Petersplatze finden sich alle zusammen. Die Sonne Roms beleuchtet hier
ein großartig schönes Bild. Vor der gewaltigsten aller Kirchen, deren
einzig schöne Kuppel, das mächtigste herrlichste Denkmal des großen
Michelangelo, in den tiefblauen Aether hinaufragt, breiten sich die
Säulenhallen Berninis aus, und in den drei bedeckten Gängen, welche
von den prächtigen Travertinsäulen gebildet werden, lustwandeln noch
einzelne Konzilsväter. Rechts und links von dem Obelisken, den Sixtus
V. aufstellen ließ, und der schon manche wunderlichen Dinge an sich
vorübergehen sah, steigen glitzernde Wasserstrahlen und fallen tönend
und klingend in die schönen achteckigen Schalen zurück.

Und daß neben dem Großen das Kleine, neben dem Heiligen das Weltliche
nicht fehle, haben auf dem Petersplatze erfinderische Köpfe Trinkhallen
errichtet, aus welchen ein köstlicher Kaffeeduft hervordringt, während
Tabakhändler in kleinen Buden ihre trefflichen Waren anpreisen.
Sie kennen die frommen Herren aus dem Oriente und haben ihnen ihre
Bedürfnisse abgelauscht. Und diese Söhne einer fremden Sonne nehmen es
nicht genau mit den Forderungen der üblichen Sitte und sind sinnlichen
Lockungen, soweit sie nicht unerlaubt sind, nicht unzugänglich.
Da stehen Bischöfe aus Syrien, Armenien, Bulgarien in dem kleinen
Laden und schlürfen ihre Tasse Mokka formlos und ungezwungen, und
um den Tabakshändler finden sich Maroniten, Chaldäer und andere
ein, prüfen die Waren, und versorgen sich damit, um während der
Konzilsverhandlungen eine Herzstärkung und dann daheim eine Tröstung zu
haben für die entbehrten Genüsse der orientalischen Heimat.

Die abendländischen Kirchenfürsten sind ihrer Würde sich mehr bewußt.
Sie wandeln noch einige Zeit mit ernster Würde in den Säulenhallen
hin und her, und wie beim Turmbau zu Babel vermag man auch hier alle
Sprachen zu vernehmen. Im elegantesten Französisch unterhalten sich
einige Herren mit geistvollen, bartlosen Gesichtern, von anderer
Seite mischt sich mit dem wohlklingenden Neugriechisch das steife,
breite Englisch, und neben dem vokalreichen Spanisch erklingen die
konsonantenreichen slavischen Idiome. Und wenn sich all das Fremde
unter einander verständlich machen will, dann wird auch die alte
Sprache wieder lebendig, die einst an den Tiberufern erklang ...
und doch wiederum nicht dieselbe Sprache, denn wenn ein alter Römer
vom Capitol herüber oder von der Moles Hadriani herankäme, er würde
entsetzt sein über das, was sich mitunter hier als Latein ausgiebt.

Die Zeit für den Beginn der Sitzung ist gekommen.

Ueber die schöne Traventin-Freitreppe flutet langsam der
seidenglänzende Strom hinauf und hinein in jene herrliche Vorhalle,
deren großartige Perspektive und prachtvolle Deckenornamentik würdig
auf das Gotteshaus selbst vorbereiten; aber von den Konzilsvätern
kümmert sich keiner mehr um diesen Anblick; ihre Gemüter sind zumal
heute mächtig erregt in der Vorahnung, daß es eine bewegte Sitzung
geben werde. Um den streitbaren Bischof Stroßmayr geschart kommen die
österreichischen und deutschen Bischöfe, und manches blitzende Auge
eines italienischen Kirchenfürsten betrachtet den kühnen kroatischen
Prälaten mit unverhohlener Gehässigkeit. Wenn er nicht wäre, könnte man
viel rascher zum Ziele kommen.

In dem gewaltigsten Dome der Christenheit fehlt es niemals an
Andächtigen, sowie an Neugierigen. Auch heute sind sie zahlreich hier
und lassen den geistlichen Hofstaat des Papstes an sich vorübergehen.

Da wo unter der Riesenkuppel, die in wundersamer, ergreifender
Großartigkeit, ein herrliches Pantheon, in der Luft zu schweben
scheint, sich der Hauptaltar mit dem unförmigen Tabernakel Berninis
erhebt, hat sich die Menge am zahlreichsten eingefunden. Hier ist
das Heiligste im Heiligen, das Grab des ersten »Statthalters Christi
auf Erden,« vor welchem der Lichtglanz von 89 vergoldeten Lampen die
»Konfession« von Carlo Maderno Tag und Nacht beleuchtet. Hier ist
überall der matte Glanz des Marmors untermischt mit dem helleren
Blinken des Metalls und mit dem kunstvollen Schmuck alter Mosaike.

Und wie die Kirchenfürsten hier langsam, ehrwürdig und würdevoll
herankommen, da geht ein Fragen und ein Raunen durch den Kreis der
Neugierigen und der Frommen, und die Namen der Kardinäle und Bischöfe
laufen von Mund zu Mund. Diese selbst aber wenden sich nach rechts, wo
in einem Querschiff der Versammlungsraum für das Konzil in einer weder
besonders bequemen, noch hervorragend schönen Weise hergerichtet worden
ist. Eine zu dem besonderen Zweck errichtete große hölzerne Pforte
schließt den Konzilssaal ab gegen die Kirche. Die Holzwand ist mit
einem Marmormuster angestrichen worden, auf welchem die Himmelskönigin
gemalt ist, zu deren beiden Seiten die Apostelfürsten niederschauen
auf die Vertreter der kirchlichen Rangordnung, wie sie jetzt an
den wachehaltenden Schweizern, die ihre Hellebarden präsentieren,
vorüberschreiten.

Enger drängen sich vor dem Eingang die Neugierigen heran, um zu sehen,
wie da drin sich die kreisrund sich erhebenden, grüngepolsterten Sitze
allmählich füllen, bis auch die letzten der Kirchenväter eingetreten
sind. Dann wird die Pforte geschlossen, und die ernsten, stattlichen
Gestalten der Schweizer drängen die Horcher noch um einige Schritte
zurück, damit die Christenheit auch nicht das geringste vernähme von
dem, was hier innen zu ihrem Heile verhandelt wird.

Tief und volltönig erklang nun der Gesang eines lateinischen Hymnus,
dann folgten Gebete und dazwischen der Ton des Glöckleins, der den
Außenstehenden verkündete, daß der Meßgottesdienst in der geschlossenen
Halle fortschreite, und sobald das Zeichen erscholl, daß sich eben
jetzt in den Händen des zelebrierenden Bischofs das Wunder der
Verwandlung vollzog, sanken die Gläubigen auch diesseits der hölzernen
Thüre auf die Kniee nieder und flehten den Beistand des heiligen
Geistes an für die Beratungen der frommen Väter.

Und an diesem Tage hätte derselbe besonders Veranlassung gehabt, in der
Mitte des Konzils zu sein.

Die Falle, von welcher Felice vor Parelli gesprochen hatte, sollte
aufgestellt werden. Von der Rednertribüne herab eiferte ein Kardinal
über die Verderblichkeit des Protestantismus. Das Gewand des
Kirchenfürsten schillerte in hellem Purpur, aber sein Gesicht nicht
minder. Was er vortrug, war ein wohlgesetztes Machwerk, das von einer
Kommission ausgearbeitet war und den Stempel jenes Geistes trug, in
welchem der Jesuit Felice sich geäußert hatte.

Mit fanatisch leuchtenden Augen saßen die einen, mit würdevoller
Gleichgültigkeit nickten die Häupter der andern Zustimmung, nur
auf den Sitzen des deutschen, österreichischen, französischen und
amerikanischen Episkopats rückten einige unruhig hin und her; man
sah auf Dupanloup, den geistvollen französischen Erzbischof, der mit
großen, klaren Augen nach dem Vortragenden schaute, und bei dem nur
ein leiser Zug der Bitterkeit um den feinen Mund den Unmut verriet,
den er empfand. In das frischgerötete, edle Gesicht des Cardinals
Schwarzenberg war eine noch lebhaftere Färbung gestiegen. Ernst,
beinahe finster, sah der Erzbischof von München-Freising drein und
wechselte einen verständnisvollen Blick mit seinem landsmännischen
Amts- und Gesinnungsgenossen, dem Bischof von Augsburg, die
meisten Blicke aber richteten sich auf Bischof Stroßmayr, dessen
scharfgeprägte Züge von verhaltenem Kampfesmute zeugten und dessen
Hände sich unruhig bewegten, als vermöge er sich kaum zu beherrschen.

Sobald der vortragende Cardinal geendet, sah man ihn sich erheben,
und gleich darauf klang seine Stimme laut und vernehmlich, so daß sie
hinausscholl bis in die Kirche selbst, und die Eingeweihten wußten,
daß er das Wort ergriffen habe. Er war der gewaltigste Redner des
Konzils, geistvoll und gelehrt, schlagfertig und ehrlich, gewandt und
klug, und beherrschte die lateinische Sprache mit einer Sicherheit
und Eleganz, als ob sie ihm angeboren wäre. Man sah, wie die Augen
der päpstlichen Partei sich finster zusammenzogen, und wie die
Gegnerschaft sich fester in die Sitze drückte, als überkäme sie ein
Gefühl der Sicherheit angesichts der Thatkraft des Mannes, der jetzt
das Wort ergriff. Neidlos hatten Schwarzenberg und die geistvollen
Führer der französischen Kirche, Dupanloup und Maret, ihm die Palme
der Führerschaft der Widerstandspartei überlassen, und der slavische
Bischof war's, der als der Gefürchtetste und der Geehrteste zugleich
angesehen werden muß.

»Mit Vergunst, ihr hochwürdigsten Väter!« begann er. »Harte Worte haben
an unser Ohr geschlagen und fast will es mir scheinen, als ob sie
an diesem Orte besser nicht gesprochen worden wären. Ich beklage es
tief und aufrichtig, daß von der Kirche desjenigen Apostels, welcher
dem Herrn am nächsten stand und der ein lebendiger Zeuge seiner
allumfassenden Liebe war, Worte in die Welt ausgehen sollen, welche von
dieser Liebe nichts wissen, und wenn ich bedenke, daß das Direktorium
dieser hochwürdigsten Versammlung mit Vorbedacht diese Angelegenheit
hier zur Erwägung und zum Beschlusse vortragen konnte, vermag ich
-- so hart es auch klingt -- den Vorwurf der Lieblosigkeit nicht zu
unterdrücken. Diese Lieblosigkeit muß aber um so größer erscheinen
angesichts der bedauernswerten Unkenntnis der Geschichte -- oder soll
ich sagen angesichts der absichtlichen Verkennung der geschichtlichen
Thatsachen? Man muß der Wahrheit Zeugnis geben, auch wenn sie uns
nicht behaglich ist, und wenn man dazu den Mut nicht finden kann, darf
man sie wenigstens nicht absichtlich entstellen. Welche Thatsachen
aber können zum Beweise vorgebracht werden für die Behauptung, daß
der Protestantismus alle Uebel der Zeit verschuldet und den drohenden
Glaubensbankerott auf dem Gewissen habe? Hier sitzen eine gute
Anzahl ehrwürdiger Väter, in deren Diözesen Protestanten friedlich,
ehrlich und brav neben Katholiken leben ... sollen sie, sollen wir,
die berufenen Hüter des Friedens, durch solche Beschlüsse, wie die
angestrebten, die Brandfackel in die Gaue werfen, in denen wir das Wort
der Liebe zu verkünden gesetzt sind? Und meine ehrwürdigen Väter, soll
ich Ihnen Protestanten nennen, die gegen Umsturz und Unglauben sich
erhoben, gegen Revolution und Sittenverderbnis gekämpft haben? Soll ich
Ihnen Namen anführen, denen gegenüber selbst der Eifer des Ordens Jesu
erbleicht, vor deren edler Thätigkeit im Dienste der Menschheit wir
selbst in schweigender Achtung uns neigen müssen? ...«

Schon einige Male hatten Zwischenrufe aus den Reihen zumal der
italienischen Bischöfe den kühnen Redner unterbrochen, vereinzeltes
Murren war vernehmbar geworden, jetzt aber brandete es auf wie in
einem erregten Meere. Eine Anzahl Väter sprang von den Sitzen auf,
andere suchten zu beschwichtigen, Rufe ertönten, welche dem Redner
den Schluß seiner Rede aufdringen wollten, Stroßmayr aber schien an
solche Szenen gewöhnt zu sein; er schaute einige Augenblicke schweigend
in die Versammlung, seine Augen blitzten klar und fest, und nachdem
einigermaßen die Ruhe wieder hergestellt worden war, nahm er das Wort
von neuem.

»Ich weiß nicht, meine ehrwürdigen Brüder, ob durch eine solche Weise
der Behandlung der aufgeworfenen Fragen die Würde des Konzils gewahrt
und das Ansehen des Einzelnen gefördert werden kann, ich weiß nur,
daß auch ein solcher Eingriff in das Recht, hier seine Meinung ehrlich
aussprechen zu dürfen, mich nicht abhalten wird, dies zu thun. Oder
soll dieser Vorgang kennzeichnend sein für die Handhabung der neuen
Geschäftsordnung, mit welcher man uns unangenehm überraschen möchte?
Und das ist ein Punkt, über welchen ich an dieser Stelle gleichfalls
mich nicht auszuschweigen vermag, um so mehr, als ich weiß, daß ich
im Sinne und nach der Meinung einer großen Zahl meiner hochwürdigen
Amtsbrüder spreche. Der Schwerpunkt dieser neuen Geschäftsordnung
liegt darin, daß eine einfache Mehrheit entscheiden soll über die
wichtigsten Fragen der Kirche. In _jeder_ andern parlamentarischen
Körperschaft wird die Annahme selbst unwesentlicher Gesetze davon
abhängig gemacht, daß eine relativ größere Mehrheit dafür stimmt, und
wo es sich um das Seelenheil von Millionen von Katholiken handelt,
soll der Zufall einer einzigen Stimme den Ausschlag geben dürfen? Man
kann doch nicht in einem solchen Falle das Walten des heiligen Geistes
annehmen, der bei 700 Bischöfen und Prälaten gerade 351 erleuchtet und
349 die Erleuchtung versagt! Eine solche Annahme wäre doch frivol, ja
gotteslästerlich. Freilich ist es bei den Mitteln, die man anwendet
und bei der Zusammensetzung dieser hochwürdigsten Versammlung außer
Zweifel, daß man für die Vorlagen eine Mehrheit von mehr als einer
Stimme erreichen werde. Auch hier handelt es sich um den Grundsatz,
nach welchem vorgegangen wird, und die Einführung dieses Grundsatzes
würde einen beklagenswerten Mißbrauch der Gewalt bedeuten, welche die
in Rom herrschende Partei und das nicht aus freier Wahl des Konzils
hervorgegangene Direktorium ausübt, und gegen einen solchen lege ich im
Namen Vieler Widerspruch ein ...«

Aufs neue erhob sich ein Sturm der Empörung, laute Zurufe für und wider
erschollen, aber machtvoll durch das Getöse klang die Stimme des kühnen
Sprechers:

»Der heutige Antrag soll die Probe machen auf die neue
Geschäftsordnung, man möchte uns heute schon verlocken, mit einfacher
Stimmenmehrheit die Kundgebung gegen die Protestanten zu verwerfen,
aber wir sind auf der Hut. Mit solchen Mitteln wird man uns nicht
zwingen, man wird damit noch weniger die Gewissen der katholischen Welt
vergewaltigen können ...«

Weiter kam er nicht. Der Lärm wurde betäubend. Das war keine
Versammlung von ehrwürdigen Kirchenvätern, das war ein wüstes Chaos
von zornig erregten Parteimännern. Nur wenige saßen; überall war man
von den Sitzen aufgesprungen, viele hatten ihre Plätze verlassen,
man schrie einander zu, man überschrie aber auch vor allen den
kroatischen Bischof, und als dieser trotz alledem auf das Wort nicht
verzichten wollte, da nahm die leidenschaftliche südliche Erregung
selbst bedrohliche Formen an. Es erklangen Worte, die nicht bloß die
Heiligkeit des Ortes verletzten, sondern auch die Würde des Sprechers,
und mit blitzenden Augen, ja mit geballten Händen drang man gegen ihn
vor, als wolle man ihn thatsächlich insultieren.

Der wüste Lärm klang vernehmbar hinaus auch vor die Pforte des
Konzilssaals. Neugierige und Fromme sahen sich erstaunt an, über
manches Gesicht flog ein mühsam verhaltenes Lächeln des Spottes, auf
manchem dagegen stand etwas von der Erregung geschrieben, die jenseits
der Pforte die Gemüter bewegte. Zahlreiche Kutscher und Diener der
Prälaten harrten hier auf ihre Herren. Auch sie hatten ihre Meinung
über das, was da drinnen vorgehen mochte.

»Sie schlagen und raufen sich!« rief halblaut ein derber galonnierter
Rosselenker, und die Behauptung schien nach dem, was man vernehmen
konnte, die Wahrheit für sich zu haben.

»Laßt uns hineindringen -- -- wir wollen unsern Herren helfen -- wir
wollen sie retten ...«

Das raunte und rief durcheinander wie der Widerhall aus der
Konzilshalle, und die Schweizer vor derselben kreuzten die Hellebarden
und stemmten sich dem Andrang entgegen. Da verklang der Lärm hinter der
Pforte, und auch vor derselben begannen die Gemüter sich zu beruhigen.

Früher als sonst aber schloß diesmal die Sitzung. Mit roten Gesichtern,
vielfach mit vor Erregung leuchtenden Blicken kamen die Väter aus
dem Dome des heiligen Petrus. Von der Anwesenheit des heiligen
Geistes in der eben abgehaltenen Sitzung war auch jetzt nicht viel zu
bemerken. Gruppenweise, mitunter dicht geschart, schritten sie über
den Petersplatz hin in eifrigen, erregten Gesprächen. Um Stroßmayr,
den Helden des Tages, drängten sich die andern hervorragenden
Persönlichkeiten, der französische Bischof Mathieu, der Erzbischof
Moreno von Valladolid und andere spanische Bischöfe, sowie eine größere
Zahl deutscher Kirchenfürsten. Finstern Blickes schritt der Erzbischof
Manning von Westminster neben dem Erzbischof Deschamps von Mecheln
daher, umgeben von den eifrigsten Vertretern der Unfehlbarkeit, in
Gruppen haben sich die Orientalen zusammengefunden, die fast alle auf
Seite der römischen Kurie stehen, und die Vorgänge der vergangenen
Stunde bilden überall den Gesprächsstoff.

»Man wird nicht wagen, diese Einleitung zu den päpstlichen Dekreten ein
zweites Mal vor das Konzil zu bringen,« äußerte ein deutscher Bischof.

»Wenigstens nicht mehr in dieser Form, und wenn sie gereinigt und
verbessert zur Abstimmung gebracht werden sollte, liegt wohl kein Grund
vor, sie zu verwerfen, und wir werden der Welt doch den Beweis der
moralischen Einstimmigkeit einer Kirchenversammlung geben,« fügte ein
anderer in der Begleitschaft Stroßmayrs hinzu, dieser aber wandte sich
nach dem Sprecher und sagte:

»Seien wir nicht vertrauensselig, lieber Amtsbruder, ich habe, um mich
kriegerisch auszudrücken, mich daran gewöhnt, in Rom im Harnisch zu
schlafen, und es wäre gut, wenn das andere auch thäten.«

Der kroatische Bischof schritt auf seinen Wagen zu, aber ehe
er ihn erreichte, trat ihm Parelli in den Weg. Mit der ganzen
Liebenswürdigkeit, die ihm zu Gebote stand, reichte er ihm die Hand:

»Ich freue mich der Ehrlichkeit und des Mutes, die Sie zeigen,
hochwürdigster Bruder, und es drängt mich, Sie zu versichern, daß ich
aus voller Seele Ihre Ueberzeugung teile und bereit bin, für dieselbe
einzustehen.«

Verwundert sah ihn der andere an.

»Sie? Ein italienischer Prälat! Sie wagen, mir angesichts der Kurie
Ihre Zustimmung auszusprechen? Wissen Sie, was Sie heraufbeschwören?«

Parelli lächelte:

»Das ist nebensächlich. Ich habe gesprochen und meine Seele bewahrt.
Gott sei mit Ihnen!«

»Und mit Ihrem Geiste!«

Einen Augenblick lagen die Hände der beiden Männer in einander, und
ihre Blicke begegneten sich. Dann verschob sich das Bild wieder; andere
Gruppen drängten heran, auch Parelli fühlte, wie man ihn vorwurfsvoll
ansah, aber er schritt, freundlich nach allen Seiten grüßend, langsam
über den weiten Platz, und der Sonnenschein, der denselben erfüllte,
schien ihm in die Seele zu leuchten.

Immer schwüler wurden die Tage. Die Fremden begannen Rom zu verlassen
-- auch Quandt war mit den Seinen in die Heimat zurückgekehrt -- und
den Konzilsvätern wurde es zwiefach ungemütlich in der ewigen Stadt.
Erschlaffung sank ihnen bleischwer in die Glieder, denn gar viele von
ihnen waren den italienischen Sommer nicht gewöhnt, Erschlaffung sank
ihnen aber auch lastend und lähmend in die Seelen, denn gar Manches war
wieder seit jener bewegten Sitzung geschehen, das auch die Besten und
Stärksten mit trüber Ahnung erfüllte.

Es war ein trauriger und aussichtsloser Kampf, welchen Ehrlichkeit
und gründliches Wissen gegen römische Schlauheit und Willkür
zu führen hatte, und die Kurie ging in demselben mit äußerster
Rücksichtslosigkeit vor. Die durch Stroßmayrs Energie vereitelte
»Einleitung« wurde »verbessert« wieder vor das Konzil gebracht,
verbessert in dem Sinne, daß man die Schläge gegen den Protestantismus
wegließ, dafür aber den Zusatz anhängte, daß man dem Papst gehorchen
müsse, auch wenn er etwas verwerfe, was nicht gerade kirchenfeindlich
oder ketzerisch sei.

Diese »Verbesserung« war viel schlimmer als die vorherige Fassung,
und in ihr lag bereits der ganze Glaubenssatz von der Unfehlbarkeit.
Es wurde hin- und hergeredet, und zuletzt ward die bedenkliche
»Einleitung« samt dem Zusatz angenommen. Einen besseren Erfolg konnte
sich die päpstliche Partei nicht wünschen, und nachdem einmal dieser
errungen war, konnte auch die Debatte über den neuen Glaubenssatz
selbst anheben. Welch' warme, ergreifende, aus dem Herzen quellende
Beredsamkeit ward nun noch einmal aufgeboten, um die Annahme des
Glaubenssatzes zu verhindern! Die edelsten, besten, gelehrtesten
Männer, welche die katholische Kirche besaß, traten dagegen auf,
manch einer mit blutendem Herzen, denn sie ahnten ja den Ausgang
und fürchteten den Schaden, welcher damit ihrem Glauben und seinen
Anhängern bereitet werden mußte. Aber auch der Trost, seine Meinung
äußern zu dürfen, sollte den Konzilsvätern nicht unbeschränkt bleiben.

Es war am 3. Juni, als der Cardinal Schwarzenberg in besonders heftiger
Erregung um die Mittagsstunde heimkehrte. Auf der edlen, hohen Stirn
lagen Falten des Unmuts, und die sonst so klaren Augen zuckten unruhig.
Er kam mit Professor Meyer, dessen sonst so gleichmäßig ruhiges
Gesicht ebenfalls von Erregung zeugte, und da er Frohwalt in einem
Zimmer antraf, in welchem derselbe eben mit einer schriftlichen Arbeit
beschäftigt war, blieb er vor diesem stehen und sagte:

»Mein lieber Doktor, das ganze Kirchenrecht kommt ins Wanken; ich
fürchte, Ihre Studien und Kenntnisse haben nur noch geschichtlichen und
nicht praktischen Wert. Hier in Rom wird nachgerade ein Kirchenrecht
geübt, das kein Recht ist!«

Er brach ab und preßte die Lippen gegen einander, als habe er schon
zu viel gesagt, dann ging er mit flüchtigem Gruße mit Professor Meyer
weiter. Nach einem halben Stündchen kam der letztere aus dem Gemache
des Kirchenfürsten. Er ließ sich neben Frohwalt auf einem Sitze nieder,
und seufzte:

»Man wird zuletzt irre an allem! Es ist empörend, wie man hier mit den
angesehensten Kirchenfürsten umspringt. Denken Sie, lieber Kollege, es
waren noch fünfzig Redner eingeschrieben betreff des Dogmas, und das
Präsidium erklärte heute mit einem Male: Die Debatten sind geschlossen.
Eine ärgere Gewaltmaßregel läßt sich kaum mehr denken. Was haben wir
deutschen Priester für eine erhabene Vorstellung gehabt von einer
Kirchenversammlung, und welche entsetzliche Enttäuschung wird uns hier
bereitet!«

Das glatte, freundliche Gesicht senkte sich tiefer auf die Brust, und
die Finger griffen nervös herum an der schwarzen Binde, welche Tunika
und Skapulier gürtete. So erregt hatte Frohwalt niemals den trefflichen
Mann gesehen, aber auch durch seine Seele zog das Gefühl maßloser
Bitterkeit. Er sprach halblaut:

»O, ich wollte auch, ich wäre nie nach Rom gekommen.«

»Dann kommt Rom zu uns -- das ist ein und dasselbe.«

»Und werden sich die widerstrebenden Kirchenfürsten bei diesem
Gewaltakte beruhigen?«

»Sie haben sich bisher noch bei jedem beruhigen lassen. Man wird
zweifellos beraten, was nun geschehen soll und einen halben Beschluß
fassen, der einfach unbeachtet bleibt, wie jede Aeußerung der
Entrüstung, die bisher zu Tage getreten ist. Ich glaube, daß sich noch
heute eine Anzahl der Prälaten hier einfinden.«

Das war auch wirklich der Fall. Im Laufe des Nachmittags fuhr Dupanloup
vor, dann der Münchener Erzbischof, zahlreiche deutsche Bischöfe, und
bei sengender Sonnenglut saßen sie beisammen in eifriger Beratung.

Der Unmut fand hier manches scharfe Wort. Allen war es klar, daß hier
überhaupt von einem rechtmäßigen und allgemeinen Konzil nicht mehr die
Rede sei, und einzelne Kühnere machten den Vorschlag, Rom ohne weiteres
zu verlassen, und so die eigene Ehre und die Ehre der einzelnen
Diözesen zu retten. Dann müsse man aber Urlaub vom heiligen Vater
erbitten, gaben andere zu bedenken, und daß ein solcher jetzt bewilligt
werden sollte, das war nicht anzunehmen. Man wollte wohl gerade durch
die täglich anwachsende Sonnenglut, die den Aufenthalt in Rom beinahe
unerträglich machte, die Väter müde und nachgiebig werden lassen. Auch
die Bedenklichkeit und Zaghaftigkeit fehlte nicht in diesem Kreise,
welche immer wieder zu Vorsicht und Leisetreterei mahnte.

Unmutig hatte Cardinal Schwarzenberg die verschiedenen Meinungen
angehört:

»Geschehen muß etwas, meine hochwürdigsten Amtsbrüder, wenn wir uns
nicht vor unsern Diözesanen schämen sollen. Eines ist unzweifelhaft:
Wir stehen unmittelbar vor der Abstimmung, und wie sie fallen wird, ist
nicht zweifelhaft. Sollen wir aber einen Glaubenssatz annehmen, der nur
von einer zweifelhaften Mehrheit als solcher anerkannt wird?«

»Uebereilen wir nichts,« sprach einer der französischen Bischöfe.
»Lassen wir ruhig die Abstimmung sich vollziehen, wir haben dann
wenigstens ein klares Bild über die Sachlage gewonnen, und wenn die
Annahme nicht nahezu einstimmig erfolgt, so erheben wir Widerspruch!«

»Aber endlich ganz entschieden! Ich wollte, wir legten Widerspruch ein,
ehe die Abstimmung oder gar die Verkündigung erfolgt, denn, heißt es
einmal: Rom hat gesprochen, dann giebt es überhaupt keinen Widerspruch
mehr!« ließ sich Stroßmayr vernehmen.

»Gut, warten wir ab -- aber gehen wir dann auch entschieden vor, um das
Aeußerste zu vermeiden!«

Das war zuletzt die überwiegende Meinung, und mit diesem Beschlusse
gingen die Herren mit den roten und violetten Talaren auseinander.

Peter Frohwalt stand am Fenster, als die glänzenden, prächtigen
Equipagen unten von dannen rollten mit den behaglich in den Polstern
lehnenden Prälaten, und in seinem Herzen lag eine unendliche
Bitterkeit. Alles äußerlich, alles Schein -- innen Haltlosigkeit
und Kraftlosigkeit, das war das allgemeine Bild, das erschien ihm
als der Zustand der ganzen Kirche, und ihm, dem ehrlichen, treuen,
überzeugungsfesten Katholiken fiel es wie Schuppen von den Augen, und
er sah wie in einem Traume, was im Laufe der Jahrhunderte aus der
Kirche Christi geworden war. Hier in Rom war Petrus, der einst ein
armer Fischer war, für seinen Glauben gestorben, ein bedürfnisloser
Mann, der seine Ruhestatt im Gefängnis hatte, und hier strebte sein in
Prachtpalästen wohnender Nachfolger nach dem Nimbus der Göttlichkeit,
und lebte, umgeben von Glanz und Herrlichkeit. In jenen alten Tagen
aber hatte neben der Einfachheit die Wahrheit in der Kirche gewohnt,
jetzt herrschte hier Weltklugheit und Schein.

Es war seltsam, daß Frohwalt in dieser Stunde Martin Luthers denken
mußte, des schlichten Augustiners, der einst nach Rom gegangen war
mit voller, freudiger Seele, um den Statthalter Christi und die wahre
Herrlichkeit der Kirche zu schauen, und der mit blutendem Herzen
heimwärts ging ob der fürchterlichen Enttäuschung, die ihm bereitet
worden war und die ihn eine Erneuerung der Kirche im Sinne der alten
Einfachheit und Kraft herbeisehnen ließ, ohne daß er noch daran dachte,
daß er selbst zum Werkzeuge dieser Erneuerung berufen sein sollte.

Peter Frohwalt war gelehrt worden, den Augustiner von Wittenberg
zu hassen, und er hatte das redlich und mit der ganzen Glut des
fanatischen Katholiken gethan, und wie er heute an ihn dachte, war
dieser Haß wie mit einem Male aus seiner Seele herausgewischt und die
Gestalt des Reformators wollte ihm beinahe groß und achtunggebietend
erscheinen. Und solch Empfinden mußte sich ihm in Rom aufdrängen!

Er wurde unruhig, erregt, er hatte das Bewußtsein, daß solch ein Denken
Sünde sei, und doch auch wieder ein anderes, das ihn freisprach. O, wie
vermißte er in dieser Stunde einen Menschen wie Quandt oder wie den
Vetter Martin! Daß auch der Alte nicht wiederkam!

Und Tag um Tag verging, der eine unbehaglicher als der andere, und
für den 13. Juli war die erste Abstimmung über den neuen Glaubenssatz
festgesetzt worden. Zwei Tage zuvor traf Martin in Rom ein. Sein
erster Gang war zu Quandts gewesen, und dieser war vergeblich, sein
zweiter war zu Frohwalt. Der junge Priester hatte ihn umarmt mit der
Herzlichkeit eines Sohnes, und schon aus diesem Empfange schloß der
Alte auf Manches.

»Es hat länger gedauert mit meiner Wiederkunft, als ich dachte,«
sagte er, nachdem er sich niedergelassen und nach seiner Gewohnheit
sein kurzes Pfeifchen in Brand gesetzt hatte -- »aber wie das eben
Unsereinem geht! Also Neapel habe ich gesehen, und schön war's, Peter!
Das muß man wirklich geschaut haben vor seinem Sterben. Auch im alten
Pompeji bin ich gewesen, und man hat recht wunderliche Empfindungen,
besonders wenn man mit leidlich lebhafter Phantasie diese Reste sich
vervollständigt und im Geiste der Vorzeit ausbaut. Aber in Neapel ist
der Geist des alten Seume über mich gekommen und ließ mir keine Ruhe;
ich mußte weiter nach dem Süden und mußte auch meinen Spaziergang nach
Syrakus haben. Und aus der Stadt, in der einst zu Dionys dem Tyrannen
Möros, den Dolch im Gewande, schlich, komme ich geradenwegs zurück. Es
ist derweilen etwas heiß geworden, und, wie mir scheint, spürt Ihr hier
in Rom die Schwüle ganz besonders. Wie? -- Du machst mir gar kein recht
glückliches Gesicht, Peter, und es ist mir so zu Mute, als ob ich Dir
gerade zurecht gekommen wäre, um Dir die Seele zu erleichtern. Das ist
mein Schicksal, daß ich ein Beichtvater geworden bin, ohne die Weihen
dazu erhalten zu haben, und es ist, als ob die verlassene Theologie
sich an mir dadurch rächen wollte. Aber da ist sie im Irrtum, wenn sie
meint, mir dabei einen Tort anzuthun. Mir ist nichts lieber, als wenn
ich Herzen erleichtern kann. Also, mein lieber Doktor Peter -- schieße
los!«

»Ja, mein guter Vetter Martin -- gerade Dich habe ich hergesehnt,
und seit Du mir in Nedamitz aufgetaucht warst, an jenem traurigen
Weihnachtsfeste, habe ich Dich niemals wieder so freudig begrüßt. Hier
liegen die Dinge zum Verzweifeln. Dies Konzil ...«

»Ach Du lieber Gott -- da werde ich wohl nicht helfen können,« seufzte
der Alte komisch -- »für die Jesuiten ist es ein Lustspiel, für die
Protestanten und andere ähnliche ein Schauspiel, und für gute, ehrliche
Katholiken ein Trauerspiel. Du gehörst zu den letzteren, und da Du die
Sache sozusagen aus der Proszeniumsloge ansehen kannst, begreife ich's,
daß Du besonders davon ergriffen wirst. Ich kann mir aber nicht helfen.
Ich meine, es ist gut so für Dich, und wenn ich die richtige Empfindung
habe, so hat dies Konzil Dir schon manche Schlacken abgeschliffen, die
an Deiner gesunden Menschennatur sich gebildet hatten und ihr garnicht
zum Vorteil gereichten. Aber da rede wieder ich -- anstatt daß Du
jetzt das Wort hast -- das Alter macht geschwätzig!«

Und nun that Frohwalt sein Herz weit auf. Alle die Fülle von
Enttäuschungen, welche Rom ihm gebracht in betreff der kirchlichen
Einrichtungen im allgemeinen und geistlicher Persönlichkeiten im
besonderen, betreff der Personenverherrlichung und des glänzenden
Scheinwesens schilderte er ohne Bitterkeit, aber so klar und scharf,
daß Vetter Martin voll Staunen den jungen Mann ansah, der mit solcher
Sachlichkeit und mit solcher getreuen Ehrlichkeit die Verhältnisse
erfaßte.

»Und wenn, wie nicht mehr zu zweifeln ist, durch eine einfache
Stimmenmehrheit dieser neue, unerhörte Glaubenssatz angenommen wird, so
kann nur eine Kirchenspaltung die Folge sein, und ich bete, daß aus ihr
der Nutzen für alle Guten erwachse, daß eine abermalige Erneuerung der
Kirche im Sinne der alten Einfachheit und Wahrheit erfolgen möge. Mein
Weg ist mir dabei vorgezeichnet und ich glaube, ich werde ihn leicht
gehen können, wenn Männer wie der Cardinal Schwarzenberg und Professor
Meyer mir voranschreiten,« schloß Frohwalt.

»Wenn!« sagte Martin und wiegte ernst das graue Haupt.

»Du glaubst doch nicht, daß sie gegen ihre katholische Ueberzeugung ...«

»Ich glaube in dieser Beziehung nur den Thatsachen. Warten wir sie
ab! Und zuletzt kommt es bei jedem immer nur auf seine persönliche
Festigkeit an, und daß die ihm nicht verloren geht, wenn er andere, die
er für fest gehalten hat, ins Wanken kommen sieht. In der Hauptsache
ist mir's lieb, daß Dir die Augen in Rom aufgegangen sind, und daß Du
unter anderem auch darüber Klarheit hast, daß in dem protestantischen
Weibe Heinrich Quandts ein Reichtum von echter Religiosität und Liebe
lebt, und daß sie trotz aller unfehlbaren päpstlichen Dekrete eine
größere Garantie besitzt für die ewige Seligkeit, als selbst mancher
Papst seligen, beziehungsweise unseligen Angedenkens haben durfte. --
Uebrigens, was weißt Du Neues von Quandt? Und was hörst Du von Hans
Stahl?«

Damit war das Gespräch auf ein ruhigeres Gebiet gekommen.

Am 13. Juli war der Petersplatz mehr belebt als sonst; so sehr das
Interesse der Römer am Konzil im allgemeinen erloschen war, die
Abstimmung in der Frage des neuen Glaubenssatzes war immerhin der
wesentliche Punkt in der Geschichte dieser Kirchenversammlung, zumal
bei der zwiespältigen Stimmung der Teilnehmer an derselben. Um die
Mittagszeit, da die Sitzungen zu Ende zu gehen pflegten, ward es am
lebendigsten in der Kirche sowohl, wie außerhalb derselben, und es war
bereits bekannt, daß, abgesehen davon, daß verschiedene Kirchenfürsten
Rom schon verlassen hatten, andere sich von der heutigen Sitzung fern
gehalten hatten.

Auch Vetter Martin und Frohwalt gingen in den herrlichen Säulenhallen
hin und her und harrten auf den für sie nicht zweifelhaften Ausgang;
Martin war darüber ziemlich gleichgültig, der junge Priester dagegen
erregt. Nun kamen die ersten der Konzilsväter aus dem Portale des
Domes, näher drängten Neugierige heran, man wagte sogar, sich an
diesen und jenen mit einer Frage zu wenden. Immer lebhafter drängte es
nun durcheinander von seidenen Talaren und großen runden Hüten, die
vielfach mit einer buntfarbigen Feder geschmückt waren. Zwischen ihnen
huschten Angehörige des niederen Klerus, Mönche und Weltpriester hin,
und auch die Gestalt des Jesuitenpaters Felice tauchte auf.

Er bemerkte Frohwalt, und mit einem seltsamen, beinahe schadenfrohen
Aufleuchten der sonst so kühlen Augen trat er an ihn heran:

»Wissen Sie schien das Ergebnis der Abstimmung, Hochwürden? -- Nein? --
Nun, von etwa 600 Vätern haben 70 gefehlt, 88 haben mit ~non placet~
(Nein) gestimmt, 62 mit ~placet juxta modum~ (Ja, unter Vorbehalt), die
andern 380 haben den Glaubenssatz angenommen. Ein schönes Ergebnis ...
Dank dem heiligen Geiste!«

[Illustration: Der Jesuitenpater trat an Dr. Frohwalt heran und sagte:
»Wissen Sie schon die Abstimmung?« ... (S. 358.)]

Er stieß die Worte beinahe triumphierend hervor, dann eilte er weiter.
Frohwalt wollte sprechen und sich gegen Martin äußern, da sah er ganz
nahe Parelli vorübergehen -- richtiger vorüberschwanken, gestützt auf
den Arm eines jüngeren Geistlichen. Von einer raschen Erregung erfaßt,
trat Frohwalt auf ihn zu und fragte teilnehmend:

»Bischöfliche Gnaden sind unwohl?«

Der Prälat sah auf; über sein Gesicht huschte ein müdes Lächeln, und er
reichte dem jungen Deutschen die Hand:

»Es hat mich zu sehr angegriffen, Herr Doktor -- aber ich habe meine
Pflicht gethan und mit Nein gestimmt. Beten Sie für mich!«

Er schwankte, bleich und müde, weiter und Frohwalt sah ihm tief
ergriffen nach, bis er ihm aus dem Gesichte entschwand. Martin war ihm
nachgekommen und stand nun neben ihm.

»Ein Trauerspiel für uns, wie ich Dir gesagt habe, Peter: Siebzig
Feige, die sich überhaupt nicht mehr getrauen, eine Meinung zu haben,
zweiundsechzig Unentschiedene, die so gut wie gar nicht zählen,
und achtundachtzig, die ehrlich genug sind, sich bis heute noch zu
wehren. Dort neben mir hat eben einer mitgeteilt, daß am 18. Juli die
feierliche Schlußabstimmung erfolgt ... wieviele meinst Du werden von
den achtundachtzig noch fest bleiben?«

Die beiden Männer gingen langsam weiter und Martin begleitete Frohwalt
nach seiner Wohnung zu dem Kardinal Schwarzenberg. Hier war alles in
Aufregung. Seine Eminenz war bereits zurückgekehrt aus der Sitzung,
blaß und ernst, und hatte Weisung gegeben, sofort alles zur Abreise
aus Rom bereit zu machen. Eine allgemeine Bewegung ging durch Gefolge
und Dienerschaft, und diese Bewegung im Hause wurde noch vermehrt
durch das Kommen und Gehen von zahlreichen Kirchenfürsten, die mit
dem Cardinal, der wenigstens äußerlich als Führer der Gegenpartei
galt, beraten wollten, was nun noch geschehen sollte. Trotz dieser
Regsamkeit aber lag es lastend, gewitterschwül auf dem Hause, und alle
Gemüter waren erfüllt von Unruhe und Bangigkeit. Man hatte bis zum
untersten Bedienten das Gefühl, daß etwas Unnatürliches, Gewaltsames,
Verhängnisvolles geschehen sei, vor dem man aus unheimlichem, innerem
Antriebe sich zur Flucht rüste.

Und an demselben sowie am nächsten Tage machten sich außer dem Cardinal
noch mehr als 50 Kirchenfürsten fertig zur Abreise; es waren meist
Deutsche, welche die Schlußabstimmung und die Veröffentlichung des
Glaubenssatzes nicht abwarten wollten, zumal öffentlich bekannt gegeben
war, daß diejenigen, welche am 18. Juli etwa noch auf ihrem Widerspruch
verharren würden, vor dem heiligen Vater selbst zur Unterwerfung
aufgefordert werden sollten. Und das nannte man freie Ueberzeugung und
freie Meinungsäußerung!

Manch einer von den geistlichen Würdenträgern war trotzdem geneigt,
in dem Widerspruch zu verharren, aber die meisten hatten angesichts
der erwähnten Drohung den Mut verloren -- sie fühlten sich nicht
stark genug, vor dem Stellvertreter Gottes ihr ~non placet~ (Nein) zu
wiederholen, und bei solcher Uneinigkeit in der Gegnerschaft war es
besser, dieser letzten Versuchung auszuweichen.

In der Wohnung des Cardinals Schwarzenberg saßen eine Anzahl
Kirchenfürsten noch am Abend in ernster Beratung: sie hatten ihre
theologischen Beiräte hinzugezogen, und auch Peter Frohwalt nahm
nebst Professor Meyer an derselben Teil. Endlich war der Wortlaut
eines Schreibens an den heiligen Vater festgesetzt, in welchem die
Unterzeichneten erklärten, daß sie bei ihrem »Nein« beharren müßten,
da sich seit dem Tage, da sie zum ersten Male als Gegner der neuen
Lehre aufgetreten seien, nichts ereignet habe, was eine Aenderung ihrer
Ansicht hätte herbeiführen können, im Gegenteil seien sie in dieser
immer aufs neue bestärkt worden.

Mit fester Hand setzte Cardinal Schwarzenberg seinen Namen unter das
Schriftstück, ihm folgte der Vertreter des bayerischen Episkopats, der
Erzbischof von München-Freising.

In tiefer Nacht suchte Frohwalt sein Lager mit einem Gefühle der
Beruhigung, denn er setzte sein volles Vertrauen in die Aufrichtigkeit
und Festigkeit dieser Erklärung und gelobte sich selbst, bei der
erkannten Wahrheit unter allen Umständen auszuharren. Und noch
ein anderer Gedanke erfüllte ihn, die Freude wieder in die Heimat
zurückzukommen, seine Mutter wieder zu sehen, und seiner Schwester ...
vielleicht auch seinem Schwager die Hand zu drücken, denn die Sehnsucht
stimmte ihn weich und versöhnlich.

Der nächste Morgen war trübe und der junge Priester ging daran, seine
letzten Besuche zu machen. Zunächst wollte er den Vetter Martin zu
finden trachten, der diesmal wieder bei der Bildhauerwitwe wohnte,
wo ehedem Quandts gehaust hatten. Er traf ihn auch zu Hause, und der
Alte lächelte seltsam, als Frohwalt von der plötzlichen Abreise des
Cardinals erzählte.

»Hm ... ich fürchte, ~Pio Nono~ hat einen langen Arm und wird die
Herren auch außerhalb Rom zu finden wissen. Das ist der Anfang vom
Ende -- wohl mir, daß ich kein Bischof geworden bin. Deshalb kann ich
auch mit ruhigem Gewissen noch in Rom bleiben und auf eigene Faust im
Widerstande verharren. Man wird zwar gegenwärtig hier im eigenen Fett
geschmort, ein Vorgang, der bei meiner Leibesbeschaffenheit übrigens
einige Schwierigkeiten hat, aber mein Eintrittsgeld für die Komödie
habe ich einmal bezahlt, und darum will ich mir den Schlußakt auch noch
ansehen. So etwas ist doch in der ganzen Weltgeschichte noch nicht
dagewesen. Dir wünsche ich glückliche Reise, und grüße mir die alte
Heimat und alles, was drum und dran hängt.«

Der Alte begleitete ihn noch zu Parelli, von dem sich Frohwalt
ebenfalls zu verabschieden gedachte, während Martin seinen »Lausitzer
Windhund« aufsuchen wollte. Hans Stahl war ungemein fleißig und
arbeitete mit einer Energie, welche ihm kaum jemand zugetraut hätte,
für ihn war Rom in mehr als einer Hinsicht eine treffliche Schule,
und Vetter Martin hatte schon bei einem früheren Besuche ihm seine
Freude geäußert über die sichtbaren Fortschritte in seinem Schaffen.
Heute war der junge Mann nicht daheim, und auch Parelli war nicht zu
sprechen. Frohwalt erfuhr, daß er nach der gestrigen Konzilssitzung
schwer erkrankt sei, und nach Aussage des Arztes sehr bedenklich am
Nervenfieber darniederliege.

Traurig und still gingen die beiden Landsleute neben einander her,
wieder der Wohnung des jungen Priesters zu. Endlich sagte Martin:

»Ich glaube, Dein Prälat ist ein durch und durch braver Mann -- er hat
den größten Mut bewiesen -- schade um ihn!«

»Du fürchtest, daß er sterben wird?«

»Ich weiß nicht, ob der Tod für ihn das Schlimmste wäre. Er wäre in
seiner Pflicht und in seiner ehrlichen Ueberzeugung gestorben, und
dafür würde ihm nach meiner schlechten Meinung im Himmel manches
gutgeschrieben werden. Wenn er mit dem Leben davonkommt, muß er sich
beugen oder man wird ihn aus der Kirche ausstoßen.«

Mit großem, bestürztem Blick sah Frohwalt den Alten an:

»Du meinst, daß man ...«

»Das ist so gewiß, mein lieber Peter, daß ich mich nur wundere, wenn Du
anderer Ansicht sein solltest. Man wird auch Deinen Cardinal-Erzbischof
ausstoßen, wenn er sich nicht duckt, ebenso gut wie den Doktor der
Theologie Peter Frohwalt.«

Der junge Priester war ganz bleich geworden, aber er faßte jetzt warm
die Hand des Alten:

»Weißt Du, was Martin Luther auf dem Reichstage in Worms gesagt hat? --
Hier stehe ich, Gott helfe mir, ich kann nicht anders!«

»Amen!« fügte Vetter Martin hinzu, und schweigend gingen sie
weiter. -- --

Am nächsten Morgen fuhr Frohwalt fort aus der ewigen Stadt. Sonnenglut
lag über der weiten Campagna, und mit träumerischem Blicke schaute der
junge Priester darüber hin ... es kam ihm feucht in die Augen, und er
wußte selbst nicht warum.

Auf einer kleinen Station, wo der Zug kurz anhielt, sah er zwei
Menschen aussteigen, die sich lachend umschlangen und feldein gingen.
Sie wandten sich noch einmal um nach dem Zuge, und er erkannte die
Gesichter: Es war der Bauer Geatano Vergani -- augenscheinlich
betrunken -- und sein Weib, Signora Lucia, aber ohne Sammet und Seide:
das würdige Paar schien sich wiedergefunden zu haben. Frohwalt widerte
das Bild an, und er blickte nach der anderen Seite. --

Am 18. Juli aber entfaltete das Papsttum den ganzen reichen Glanz,
der ihm zu Gebote stand. Die Herrlichkeit des Statthalters Christi
auf Erden hatte auch niemals Veranlassung gehabt, so prunkhaft in die
Erscheinung zu treten als diesmal, die der göttliche Schimmer der
Unfehlbarkeit zum ersten Male öffentlich die dreifache Papstkrone
umleuchten sollte.

Im Petersdome flammten die Kerzen, und zogen duftende Weihrauchsäulen
durch die Hallen. Im höchsten Ornate hatten sich die Bischöfe
eingefunden und sich um Pius IX. geschart, der, auf seinem Thronsessel
sitzend, der letzten Generalkongregation beiwohnte und die letzte
Abstimmung kontrollierte.

Von den nahezu fünfhundert Bischöfen, welche zugegen waren, wagte
auch nicht ein einziger, gegen das neue Dogma zu stimmen. Und nun
konnte der Hofstaat des Papstes in seiner ganzen Pracht ausziehen,
und in feierlichster Weise unter den glanzvollsten Ceremonien wurde
es der Stadt und dem Weltkreis verkündet, daß der heilige Geist den
Sinn der Kirchenväter erleuchtet, und daß sie mit Einhelligkeit dem
Stellvertreter Christi auf Erden die Unfehlbarkeit zuerkannt hatten.

Jauchzend drängte sich das Volk auf dem Petersplatze; der für Glanz
und äußeren Schein empfängliche Sinn der Römer war bestrickt von all
der Herrlichkeit, und brausend erscholl aus tausend und abertausend
Kehlen das »~Viva il papa!~« Dazwischen dröhnten in mächtigen Salven
die Kanonen der Engelsburg und die Sonne flimmerte auf der Fülle von
Gold und bunter Seide, auf den prachtvollen Gewändern kirchlicher
Würdenträger, auf den strahlenden Uniformen der päpstlichen Nobelgarde
und auf den vor Lust leuchtenden Gesichtern der Menge.

Vetter Martin fehlte nicht. Mit einem seltsamen Lächeln sah er das
großartige Schauspiel an, als mit einmal das Gesicht Hans Stahls in der
Menge auftauchte. Der Alte arbeitete sich vorwärts und erreichte auch
glücklich seinen jungen Freund.

»Na, Hans, was sagen Sie als Mensch, Maler und Katholik zu dem Bilde?«

»Ich? O Vetter Martin!«

Er wollte weiter sprechen, aber mit einem Male erstickten Thränen seine
Stimme.

»Oho, Junge, was ist Ihnen denn? Na, seit wann sind Sie denn so nervös?
-- Zum Flennen ist doch die Geschichte nicht!«

»O nein -- aber -- er ist heute früh gestorben!« stotterte Stahl.

»Wer?«

»Parelli.«

Der Alte faßte die Hand des andern.

»Gerade heute. Das ist beinahe wunderbar. Er ist vielleicht der
einzige, der als Sieger mit seiner Ueberzeugung zu Grabe gegangen ist.
Gnad' ihm Gott! Kommen Sie, Hans -- Sie haben recht -- das kann einem
das Interesse an dieser Komödie nehmen!«

Die zwei Deutschen drängten sich lautlos durch die lärmende Menge und
wandten sich nach der Engelsbrücke zu. Noch donnerten die Kanonen von
der Moles Hadriani, als ihnen ein deutscher Maler, welcher Hans kannte,
entgegenkam, aufgeregt und mit funkelnden Augen.

»Wissen Sie das Neueste, Stahl? -- _Frankreich hat an Deutschland den
Krieg erklärt!_ -- Es geht los! Hurrah!«

Da fiel es wie ein Alpdruck von dem Herzen des jungen Lausitzers und so
laut er konnte, schrie auch er: »Hurrah!«

Das klang wie ein Aufjauchzen aus einer vollen Seele, und er warf sich
an die Brust des Alten:

    »Wenn meines Volks Trompeten klingen,
    Muß ich zurück ins Vaterland!«

»Morgen reise ich heim, Vetter Martin!«

»Und ich fahre mit! Die Eisenbahn soll auch einmal etwas an mir
verdienen!« sagte der Alte. »Gott mit den deutschen Waffen!«

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Neunzehntes Kapitel.


Die milde Sonne eines schönen Augusttages leuchtete über der kleinen
Landstadt in Böhmen, in welcher Peter Frohwalts Wiege gestanden hatte.
Es war vormittags und in den Gassen war es still bis auf das Rufen
spielender Kinder und das verhallende Geräusch, welches da und dort
aus einer Werkstatt kam. Hier merkte man es nicht, daß vor kurzem ein
bedeutsames Kapitel der Weltgeschichte draußen am Rheine seinen Anfang
genommen hatte, und auch das, was in Rom geschehen war, schien zunächst
nicht die Gemüter zu beunruhigen.

Von der Berggasse her kam behäbig und langsam der Vetter Martin; er sah
prächtig aus mit seinem gebräunten Gesicht, aus dem die klugen, hellen
Augen freundlich in die Welt lachten, und auch seine »Hinterflosse«
schien ihm keine Unannehmlichkeiten weiter zu bereiten, denn sein
Gang war sicher, seine Haltung gerade. Man sah es ihm an, daß er sich
freute, wieder in dem lieben, kleinen Neste zu sein, das auf ihn wie
auf eine besondere Charakterfigur ein Recht hatte, stolz zu sein, und
alles schien ihn zu interessieren, ob hier ein Haus neu angetüncht,
dort ein Zaun repariert oder ein Gartenhaus errichtet war, und wo er
Menschen sah, rief er kräftig seinen »Guten Morgen« über die Gasse
und in die Fenster hinein und sorgte so dafür, daß man noch an diesem
Vormittage im ganzen Städtchen erfahre, daß der »Vetter Martin« wieder
eingetroffen sei.

Er war erst am Abend zuvor gekommen. Getreu seinem Grundsatze, nichts
halb zu thun, war er mit Hans Stahl bis in dessen Heimat gefahren und
hatte ihn selbst seinen Eltern zugeführt. Diese, zumal der Vater,
hatten sehr erstaunte und eigentlich zürnende Augen gemacht, aber
gerade darum war der Alte mitgekommen, um ihnen zu sagen, daß sie
eigentlich unserm Herrgott dafür danken müßten, daß er ihnen einen
so prächtigen Jungen gegeben habe. Das mit den zweitausend Mark
sei freilich eine Dummheit gewesen, aber man müsse es als Lehrgeld
betrachten in der Schule des Lebens, im übrigen aber habe sich Hans als
Mensch wie als Künstler so tüchtig ausgewachsen, daß er -- der Vetter
Martin -- jede weitere Bürgschaft für ihn übernähme. Außerdem aber
stelle er sich jetzt in den Dienst des Vaterlandes, und dazu brauche
er den Segen von Vater und Mutter ... und kurz und gut, der Alte hatte
die Freude, daß sie alle einander in den Armen lagen, und daß er
selber noch einige Tage bleiben mußte, nachdem Hans bereits zum Heere
abgegangen war.

Auch das mochte wohl mit dazu beitragen, seinem guten alten Gesichte
heute jene sonnige Heiterkeit zu geben, die wie ein Widerschein des
Lichtes war, das vom Himmel herab die Erde vergoldete. Jetzt machte er
seine Besuche, und der erste derselben galt Frohwalts Mutter.

Das kleine Haus am Thore sah so sauber und blitzblank aus, als ob
es ein Fest feiere, und Martin war auch nicht wenig verwundert, als
er beim Eintritt in die Stube seinen jungen Freund Peter hier mit
Mutter und Schwester beisammen fand. Auch dieser war gestern abend
eingetroffen, um einige Tage in der Heimat zuzubringen, und seine
Ankunft schien besonders die alte Frau, welche seit einiger Zeit
kränkelte, neu zu beleben, denn sie saß mit geröteten Wangen und hellen
Augen da und schaute glückselig den jungen Priester an, dessen schöne
Züge die Sonne des Südens gebräunt hatte.

Auch Marie schien glücklich zu sein über den Bruder. Sie war als
Frau noch hübscher geworden, und man merkte ihr an, daß sie es nicht
bereute, ihrem Herzen gefolgt zu sein; auch das lachende Kind in ihrem
Schoße, das ohne Furcht nach dem unbekannten »Onkel« hinschaute, war
eine Bürgschaft dafür.

»Na, so ist's recht!« rief Martin -- »da sind wir ja alle glücklich
wieder beisammen. Was? -- Bei Muttern ist es doch noch schöner
als in Rom, und mir kommt unser kleines Nest jetzt noch einmal so
behaglich vor. _Die_ Hitze war schon nicht mehr angenehm. Und Marie
hat's natürlich schon gestern abend gewußt, daß unser Konzilsvater
eingetroffen ist und hat ihren kleinen Peter heute herausgeputzt -- --
nein, wie so ein Kerlchen heranwächst -- und so verständig sieht er
drein, als ob er gleich etwas ungeheuer Vernünftiges von sich geben
wollte. Also und Ihnen, Frau Gevatter, war der Besuch die beste
Medizin, das merkt man Ihnen an. Na, eine Tasse Kaffee trinke ich noch
mit zur Feier des Tages, wenn Ihr sie gerade übrig habt!«

Und dann saß er in dem alten, gepolsterten Stuhle, in welchem der
selige Papa Frohwalt immer ausgeruht hatte, und streckte sich, nachdem
er allen die Hände gereicht, mit Behagen aus.

»Da fehlen bloß noch Quandts und Hans Stahl ... dann sind wir alle
wieder beisammen!« sagte er.

»Quandts sitzen in Ehrenberg bei seinen Schwiegereltern und er hat mir
schon seinen Gruß von dort zugehen lassen mit der Mitteilung, daß Sisto
bei einem trefflichen Dresdener Meister Bildhauer untergebracht ist
und sich in Elbflorenz wohl befindet!« bemerkte Frohwalt. »Er war so
entschieden besser aufgehoben, als bei Monsignore Parelli.«

»Jawohl« -- sagte der Alte und ein Schatten huschte über sein Gesicht
-- »besonders da der Monsignore gestorben ist.«

»Wie? -- Also doch?« fragte der junge Priester.

»Ja, gerade am 18. Juli, dem Tage der Generalkongregation und des
Schlußakts der großen Komödie in Rom.«

»Das ist eine wunderbare Fügung des Himmels!«

»Wunderbar und schön zugleich!« sprach Martin ernst, und einen
Augenblick blieben alle stille. Dann begann der Alte von Hans Stahl zu
erzählen, der jetzt bereits gegen den Erbfeind Deutschlands zu Felde
lag, und durch eine begreifliche Ideenverbindung kam er auf Therese
Haller.

Da verdüsterten sich die Gesichter der beiden Frauen, und sie sahen
sich seltsam und einige Sekunden schweigend an, dann sprach Marie
halblaut und gedrückt:

»Man kann nicht viel davon reden, aber es ist ein großes Leid, das sie
trägt. Sie klagt nicht, gegen niemanden, ich glaube auch gegen ihren
Vater nicht, aber die blassen Wangen und die müden Augen erzählen
traurige Geschichten. Patienten hat ~Dr.~ Haller in der Stadt selbst
nicht, und da reitet er jeden Morgen über Land und kommt oft erst in
tiefer Nacht wieder. Ob er Kranke besucht, ist sehr ungewiß, aber
bekannt ist, daß er viel trinkt und spielt, und er ist schon manchmal
am Morgen gefunden worden ... ach, man sagt's nicht gern. Und was sich
im Hause mitunter abspielen mag, das erfährt niemand. Ihn selbst hat
man schon heftig reden hören bis auf die Gasse, aber sie scheint zu
schweigen.«

Der Alte wiegte den grauen Kopf und Frohwalt senkte die Stirne. Der
erstere dachte an jenen Maitag auf dem alten Beth Chajim und an den
prächtigen Jungen, der zur Entsagung gezwungen ward, und der andere
war mit seinen Gedanken bei Professor Holbert und bei der Erinnerung
daran, wie dieser sein einziges Kind liebte. Das Gespräch wollte gar
nicht mehr recht in Fluß kommen. Da pochte es, und auf das Herein!
erschien eine Frau von schlichtbürgerlichem Wesen, deren Gesicht eine
besondere Erregung zeigte. Sie war eine Freundin der Hausfrau und
wurde von dieser herzlich begrüßt. Als sie Peter bemerkte, schien sie
einigermaßen verlegen zu werden, und es war beinahe, als ob sie sich
wieder entfernen wolle. Aber Martin, der hier wie daheim war, und sie
gleichfalls gut kannte, rief:

»Hier ist noch Platz, Frau Franke -- und Kaffee können Sie doch nicht
mehr kriegen, da habe ich den letzten weggetrunken! Setzen Sie sich
einmal her -- wir haben lange nicht neben einander gesessen und dann
schütten Sie Ihr Herz aus, denn daß Sie darum gekommen sind, sehe ich
Ihnen an!«

»Ach freilich, Du lieber Gott« -- sagte die Frau -- »und so was ist mir
auch noch gar nicht passiert! Aber ich weiß nicht, ob ich -- --«

Sie hielt mit einem bezeichnenden Blicke auf Peter inne.

»Ach, vor dem geistlichen Herrn brauchen Sie keine Furcht zu haben; der
weiß schon lange, daß Sie einen protestantischen Mann geheiratet haben
und trotzdem eine kreuzbrave Frau und gute Katholikin sind.«

Der Frau liefen die Thränen über die Wangen und sie setzte sich nieder.

»Ach, ich muß mir's auch von der Seele herunterreden, und 's ist
vielleicht gut, wenn der hochwürdige Herr das weiß und sagen kann, ob
so etwas recht ist.«

Die Aufgeregte mußte erst ein wenig von den andern beruhigt werden, ehe
sie fortzufahren vermochte.

»Mein Sohn wird doch in diesen Tagen heiraten. Er ist evangelisch
wie der Vater und nimmt auch eine Evangelische aus Burgdorf. Daß ich
als Mutter der Trauung beiwohnen will, auch wenn sie nicht in einer
katholischen Kirche stattfindet, ist doch, denke ich, keine Sünde,
und unser Herrgott wird's einem katholischen Mutterherzen nicht übel
nehmen. Aber ich wollte doch vorher beichten und eine Beruhigung haben
und so bin ich heute früh vor der Messe bei unserm Herrn Pfarrer
gewesen. Der aber war sehr streng und ernst und hat mir's verboten, der
Trauung beizuwohnen, und weil ich ihm gesagt habe, das könnt' ich ihm
nicht versprechen, 's wär' mein einziger Sohn, und wär' so brav, und
ich könnt' ihm das nicht anthun und an seinem Ehrentage fehlen, da hat
er mir die Sündenvergebung verweigert. Ich habe gemeint, ich muß in die
Erde sinken, wie ich aus dem Beichtstuhl heraustrat und mir's war, als
ob alle Leute mich ansähen, als ständ' es an meiner Stirn geschrieben,
daß ich eine so große Sünderin sei, der man nicht einmal die Absolution
erteilen konnte. Ich hätte doch nicht in der Kirche bleiben können,
denn ich hätte ja nicht kommunizieren dürfen, und dann hätten's erst
recht alle Leute gewußt, wie es mit mir steht ... und da habe ich auch
noch gelogen und habe ein paar Bekannten gesagt, mir wäre recht übel
und ich müßte fortgehen. Freilich war's auch wieder nicht gelogen, denn
übel war mir's auch. Mein Mann ist außer sich über die Sache -- ach Du
lieber Gott, und ich weiß nun nicht, was ich machen soll.«

Das Weib schwieg und sah beinahe ängstlich nach Peter Frohwalt hin, als
ob es gerade von ihm eine Meinung erwarte. Auch Vetter Martin, dem man
es ansah, daß ihn innerlich der Unmut erfaßt hatte, schaute schweigend
seinen jungen Freund an. Dieser rang offenbar mit sich selbst; eine
wärmere Röte huschte über sein Gesicht und nach einem Augenblicke des
Schweigens sprach er ruhig und milde:

»Meine liebe Frau Franke -- gehen Sie in Gottes Namen zur Trauung Ihres
Sohnes, denn die Stimme des Mutterherzens ist hier auch Gottes Stimme!«

»Für das Wort danke ich Ihnen tausendmal, Hochwürden,« sagte das Weib
schluchzend und lachend zugleich, in demselben Augenblicke aber fühlte
Peter seine Hände von rechts und links erfaßt und warm gedrückt. Auf
der einen Seite besorgte das der Vetter Martin und nickte dazu mit dem
Kopfe, wie zu etwas ganz Selbstverständlichem, und von der anderen
Seite war es Marie, die in überwallendem Gefühl die Hand des Bruders an
ihre Lippen zog.

Dem aber ward es mit einem Male wie zu enge in der Stube; er stand auf
und ging hin und her. Auch seine Schwester hatte sich erhoben und sagte:

»Ich muß nun nach Hause gehen, meine Wirtschaft wartet auf mich!«

»Ich gehe mit Dir!« sprach Frohwalt und griff nach seinem Hute.

Vetter Martin hatte gleichfalls die Absicht gehabt, sich zu entfernen;
als er das Wort hörte, sah er ganz eigentümlich drein, setzte sich
fester in seinem Stuhle zurück und wandte sich mit einer Frage an
Frau Franke, welche wohl den Zweck haben sollte, auch diese von der
Begleitung der beiden Geschwister abzuhalten. So gingen diese mit
einander fort und traten auf die Gasse in den hellen Sonnenschein.

Sie waren lange nicht so nebeneinander hergeschritten und aus manchem
Fenster sah man ihnen verwundert beinahe nach. Ueber ihnen selbst lag
eine gewisse Befangenheit, aber durch die Seele der jungen Frau ging
trotz alledem ein Glücksgefühl.

Endlich begann der Priester zu sprechen, beinahe alltägliche Dinge, und
so kamen sie bis an das Haus des Uhrmachers.

Hier blieb Marie stehen, als ob sie glaubte, ihr Bruder werde sich nun
von ihr verabschieden. Anstatt dessen aber sagte dieser:

»Ich möchte doch auch einmal sehen, wie Du Dich eingerichtet hast, und
was Dein Mann macht.«

Eine heiße Röte flog über Mariens Wangen, und mit leuchtenden,
liebeerfüllten Augen sah sie zu ihm auf; sie sprach nur das eine Wort:
»Komm!« aber darin lag ihre ganze aufjauchzende Seele.

Sie traten ein in das freundliche, ungemein saubere Zimmer, und
Freidank kam ihnen entgegen. Als er den Schwager sah, erschrak er
beinahe, aber Marie, die ihm den Kleinen, der die Händchen verlangend
nach ihm ausstreckte, entgegenhielt, sagte:

»Peter wollte sehen, was Du machst!«

In dem Gesichte des Uhrmachers stand eine tiefe Bewegung geschrieben;
er wagte nicht, selbst die Hand auszustrecken, aber als ihm der
Priester seine Rechte reichte, ergriff er sie und hielt sie einige
Augenblicke schweigend fest, Frohwalt aber bemühte sich, so unbefangen
als möglich zu erscheinen; er berührte nichts von der Vergangenheit,
sprach seine Freude aus über den anmutigen, friedlichen Eindruck der
ganzen kleinen Häuslichkeit, ja er nahm auch das Kind auf den Arm, das
sich gar nicht vor ihm zu fürchten schien, und nach kurzem Aufenthalte
entfernte er sich wieder. In dem kleinen Hause aber ließ er einen
Hauch der Freude zurück, dessen er sich bewußt war und der ihn selbst
beglückte.

Er hatte bei diesem Besuche an Quandt und Frau Friederike denken müssen.

Wie er nun, auf der Gasse hinschreitend, gegen die Kirche herankam,
begegnete ihm der Vetter Martin; er kam auf ihn zu, und drückte ihm die
Hand mit den Worten:

»Du hast heute mehr als einen Menschen glücklich gemacht; Gott vergelt'
Dir's!«

Dann ging der Alte ohne Aufenthalt weiter, Frohwalt aber wendete sich
nach dem Pfarrhause, um dem Pfarrer Ignaz seinen Besuch zu machen, wie
es schon die Höflichkeit erforderte. Er traf denselben daheim und er
empfing ihn mit gemessener Freundlichkeit.

»Sie bringen uns also den neuen Glaubenssatz aus Rom mit!« sagte er
nach den ersten allgemeinen Begrüßungen.

»Ich bringe es nicht, Herr Pfarrer, denn ich habe mich so wenig wie
mancher Kirchenfürst überzeugen können, daß es zum Segen für die Kirche
sein wird,« erwiderte Peter ernst.

»Aber es ist in der Generalkongregation vom 18. Juli einstimmig
angenommen worden, und ich halte es für einen Segen, daß der
Statthalter Christi auf Erden mit einer Gewalt ausgerüstet worden ist,
die mit seiner Würde notwendig verbunden sein muß.«

»Darüber könnte man eben verschiedener Meinung sein, aber es wäre
mir lieb, mich nicht darüber äußern zu müssen, nachdem ich in Rom
nur zuviel solcher Verhandlungen habe anhören und mitmachen müssen.
-- Lassen Sie mich lieber fragen, wie es Ihnen geht, und wie die
kirchlichen Verhältnisse hier im Orte sind.«

Der Pfarrer machte ein beinahe finsteres Gesicht.

»Mir persönlich geht es körperlich gut -- als Seelsorger aber habe ich
manchen Aerger, besonders durch das Ueberhandnehmen dieses ketzerischen
Protestantismus. Ich beklage noch immer tief, daß Ihre Schwester so
böses Beispiel gegeben hat. Seit ich hier als Pfarrer amtiere, sind ein
Dutzend Familien vom Glauben abgefallen.«

»Und haben Sie niemals über die eigentliche Veranlassung dieser
Erscheinung sich klar zu werden versucht?«

»Der Zug der Zeit! Aufklärung und Gottlosigkeit an allen Enden, Mangel
an Sittlichkeit und wahrer Frömmigkeit ...«

»Und Unduldsamkeit!« fiel Frohwalt ernst ein. »Ist Ihnen nicht klar
geworden -- verzeihen Sie mir meine Offenheit -- daß Sie selbst in
dieser Hinsicht zu weit gehen?«

»Wieso?«

»Nun, ich habe heute erst erfahren, daß Sie Frau Franke die
Sündenvergebung verweigerten, weil sie der Trauung ihres Sohnes in der
evangelischen Kirche beiwohnen will.«

»Ich habe gethan, was meine priesterliche Pflicht ist!«

»Und wissen Sie, was Sie damit erzielen? -- Daß die Frau, welche,
wie ich weiß, sehr fromm und religiös ist, sich dem evangelischen
Bekenntnis zuwenden wird, dem ihr Mann und ihr Sohn angehören. Und das
konnte in diesem Falle vermieden werden!«

»Das muß ich bestreiten!« sagte der Pfarrer heftig.

»Nun, was meinen Sie wohl? -- Sollten Sie nicht wissen, daß auch
unser Kaiser, daß andere katholische regierende Fürsten ähnlichen
evangelischen Gottesdiensten beiwohnten, und daß es wohl noch
keinem ihrer Beichtiger eingefallen sein dürfte, ihnen darum die
Sündenvergebung zu verweigern?«

»Das sind andere Verhältnisse -- staatliche Gründe -- politische
Beziehungen -- --«

»Nach welchem Grundsatze machen Sie denn einen Unterschied? Wir
haben nicht Katholiken erster und zweiter Klasse; vor Gott und in
der Kirche sind alle gleich, und wenn man erst anfängt, solche
Unterschiede aufzustellen, ist es um die Würde der Kirche, um die
innere Wahrheit ihrer Einrichtungen geschehen. Außerdem glaube ich
etwas von Kirchenrecht zu verstehen und weiß, daß besonders in Gegenden
mit konfessionell gemischter Bevölkerung eine duldsamere Behandlung
geradezu empfohlen wird. Was an den Protestantismus hier verloren
gegangen ist, haben die Vertreter der katholischen Kirche auf dem
Gewissen.«

»Sie haben vordem, glaube ich, andere Anschauungen gehabt.«

»Das spricht nicht für deren Richtigkeit; ich habe in Rom gar
wunderliche Erfahrungen gemacht -- --«

»Das scheint mir auch,« sagte der Pfarrer mit leisem Hohn, »und es soll
mich nicht wundern, Sie demnächst mit Ihren vom Glauben abgefallenen
Verwandten Arm in Arm zu sehen.«

»Wenigstens hätten Sie mich heute im Hause meines Schwagers finden
können,« erwiderte Frohwalt ruhig; »seit ich Protestanten kennen
gelernt habe, in denen das wahre Christentum sich abspiegelt, scheue
ich mich auch nicht, zu glauben, daß auch ihnen der Himmel offen ist,
und mit ihnen umzugehen.«

Pater Ignaz schlug entsetzt die Hände zusammen.

»Aber das ist ja Ketzerei!«

»Die ich in Rom gelernt habe.« -- --

Die beiden Männer trennten sich, ohne sich die Hand zu reichen, und
Frohwalt trat in den Sonnenschein hinaus mit dem Vorsatze, die Pfarrei
nicht mehr zu betreten, solange der Fanatismus hier seine Heimstatt
hatte.

Die Sonne desselben Augustmorgens hatte auch in die Fenster der Wohnung
des ~Dr.~ Haller hineingeleuchtet. Dieselbe gab überall Zeugnis von
bestem Geschmack, einfacher Vornehmheit und einer verständnisvoll
waltenden Frauenhand. Die Zeit der Sprechstunde, welche auf der Thüre
von neun bis zehn Uhr festgesetzt war, war gekommen, in dem Wartezimmer
flimmerte der Sonnenglanz auf den polierten Stühlen und der türkischen
Decke, die auf dem Tische lag, aber der Raum war leer. Patienten,
welche gekommen wären, würden aber auch den jungen Arzt nicht in
seinem Sprechzimmer gefunden haben, sondern noch im Schlafzimmer. Er
war, wie gewöhnlich, spät in der Nacht heimgekommen und holte nun am
Morgen erst das Versäumte nach, was er um so leichter thun konnte, als
er schon seit längster Zeit keine Patienten mehr im Städtchen selbst
fand. Seine ersten unglücklichen Kuren hatten von ihm abgeschreckt,
und mit dem Mißtrauen in seine ärztliche Kunst mischte sich außerdem
bei den gewöhnlichen Bürgersleuten eine Abneigung gegen das kühle,
vornehm-dünkelhafte Wesen des Doktors.

So suchte er wenigstens den Schein zu wahren, als habe er eine
ausgedehnte Landpraxis, und man sah ihn jeden Vormittag auf seinem
Fuchs hinausreiten zum Städtchen, und wenn die Bürgersleute in der
Nacht durch Hufschlag aus dem ersten oder auch schon aus dem zweiten
Schlaf geweckt wurden, wußten sie, daß ~Dr.~ Haller jetzt heimkehrte.
An zahlreiche Patienten auf dem Lande glaubte aber trotzdem niemand,
und man erzählte an den Biertischen der Spießbürger, sowie in den
Weiberstuben seltsame Geschichten, wie er seine Zeit verbringe.

In der Oeffentlichkeit sprach man nicht davon, denn er gehörte zu den
Vornehmsten im Städtchen, und die beste Gesellschaft verkehrte mit
ihm, zumal er für einen trefflichen Unterhalter von feinen Manieren
galt; besonders aber sahen die jüngeren, vermögenderen Elemente in ihm
beinahe das Muster eines Lebemannes.

Am besten wußte freilich sein junges Weib, wie es mit seiner Praxis und
mit seiner ganzen Lebensweise stand, und sie hatte oft genug in der
heimlichen Einsamkeit ihres Zimmers bittere Thränen darüber geweint.
Nach außen aber suchte sie ihren Jammer -- trotzdem die blassen Wangen
eine beredte Sprache redeten -- zu verbergen, und es war rührend,
wie sie darin dem Vogel Strauß gleich, von dem man sagt, daß er bei
größter Not und Angst den Kopf unter den Flügeln verberge im Glauben,
daß man ihn selbst mit seiner Sorge nicht sehe. Wohl hatte sie schon
in seiner Bräutigamszeit manches bemerkt, was ihr nicht gefallen
wollte, ein gewisses herrisches Wesen, einen Hang zu sinnlichen
Genüssen, aber sie hatte gehofft, daß die Liebe ihm die Ecken seines
Charakters abschleifen und das Unebene ausgleichen würde. Sie hatte
ja so unendlich viel Vertrauen gehabt zu der Gewalt ihres Herzens
und auch zu dem Herzen ihres Verlobten, und hatte diesen auch gegen
den scharfsichtigen Vater verteidigt, der mitunter sehr zutreffende
Bemerkungen gemacht hatte, der aber nicht seinem Kinde bei der Wahl
eines Lebensgefährten in den Weg treten wollte, zumal er hoffte, daß
die einfachen Verhältnisse der kleinen Landstadt und das liebe, sonnige
Wesen seiner Tochter einen günstigen Einfluß üben würden.

Das alles waren getäuschte Erwartungen. Haller hatte einen leidlich
guten Anlauf genommen, aber die ersten Mißerfolge und das damit
zusammenhängende Gefühl der Beschämung, die er zu verbergen bemüht
war, dann der Müßiggang, zu welchem er sich verurteilt sah und die
Gesellschaft, in welche er bei seinen ländlichen Ausflügen geriet ...
das alles zusammengenommen war ihm verderblich, und auch die Liebe
seines Weibes konnte ihn nicht halten auf der schiefen Ebene, auf der
es ihn hinunterzog.

Therese wußte, daß er keine Patienten auf dem Lande besuchte; er hatte
dort keine, so wenig wie in der Stadt; sie wußte, daß er spielte und
trank, und sie hatte ihn oft wacher erwartet in tiefer Nacht, und mit
Entsetzen bemerkt, daß er betrunken heimkam. Wenn er sie dann sah mit
ihrem bleichen, verwachten Gesicht, überfiel es ihn anfangs wie Scham,
aber da sie ihm keine Vorwürfe machte, sondern ihn nur stumm mit den
großen, fragenden Augen anschaute, deren Blick er nicht zu ertragen
vermochte, wurde er allmählich in solchen Fällen gereizt und zornig und
sprach harte Worte, so daß sie es vorzog, nicht mehr auf ihn zu harren.
Aber sie lag schlaflos im Bette, und hörte ihn heimkommen und regte
sich nicht, auch wenn es ihr das Herz zusammenzog; und wenn sie ihn
tief atmen hörte, dann schluchzte sie hinein in ihr Kissen.

Ihr Vater hatte sie besucht, ihm fiel ihr Aussehen auf, sowie das Wesen
ihres Gatten, aber sie wich seinen Fragen aus und wußte ihn trotz
ihres blutenden Herzens zu beruhigen. Und doch konnte es nicht so
weiter gehen! Haller war nicht unvermögend, aber da er nichts verdiente
und vom Baren zu leben begann, fingen auch die Vermögensverhältnisse
an, beängstigend zu werden; ihr eigenes mütterliches Erbgut war ihr
sicher geschrieben, aber die Interessen davon reichten gerade für den
Haushalt, und wenn Haller wie sie fürchtete, anfing Schulden zu machen,
so wurde auch diese Hilfsquelle in Mitleidenschaft gezogen, und es
drohte das Schlimmste.

Auch diese Nacht war er erst gegen Morgen heimgekommen, und das
bleiche, junge Weib, das am Fenster saß und nach dem kleinen Garten
hinausblickte, der so freundlich im Schmucke der letzten Sommerblüten
unter ihr lag, wußte auch, _wie_ er gekommen war. Sie fand darüber
keine Thränen mehr, aber sie wollte sich ein Herz fassen und mit ihrem
Gatten reden mit dem Aufgebot all ihrer Liebe. So saß sie regungslos
und lauschte auf jedes Geräusch im anstoßenden Schlafzimmer, das ihr
verkündete, daß er erwacht sei. Mehrmals war sie auf den Zehen an die
Thür geschlichen und immer wieder zurückgekehrt zu ihrem Sitze. Jetzt
hörte sie ein sehr vernehmliches Räuspern, und wieder sprang sie auf.

Haller war in der That erwacht. Er sah mit glanzlosen Augen umher
und griff mit den Händen nach der schmerzenden Stirn. Dann warf er
gähnend einen Blick hinüber nach der Uhr und sank wieder zurück. In
diesem Momente trat Therese ein. Sie war allerliebst in dem hellen
Morgenanzuge mit dem freundlichen Gesichte, über welchem jetzt ein
feiner, rosiger Hauch, halb der Verlegenheit, halb der Verschämtheit
lag, und wie Haller sie bemerkte, leuchtete sein Blick eine Sekunde
lang auf.

»Ach, das ist hübsch, Schätzchen, daß Du mir einmal einen Morgengruß
bringst. Komm her, gieb mir einen Kuß ... Du bist ja ganz wunderhübsch.«

Er zog die Nähertretende zu sich heran, und sie ließ sich willig
küssen, dann aber wehrte sie sich sanft gegen seine Umschlingung:

»Laß mich, Paul ... mir ist's nicht zum Kosen und Küssen ... Du weißt,
daß mir das Herz schwer ist!«

»Und mir der Kopf!« lachte er wüst -- »da passen wir zusammen.«

»Ich muß mit Dir sprechen -- und es ist schlimm genug, daß ich keine
andere Stunde dafür finden kann ...« sprach das junge Weib mit
beklemmtem Atem.

»Ah -- eine Gardinenpredigt -- --«

»Spotte nicht, Paul! Mir blutet das Herz!«

Er begann unruhig und ärgerlich zu werden.

»Ich weiß Alles, was Du sagen willst -- --«

»Vielleicht doch nicht!« entgegnete sie sanft. »Du weißt, wie ich Dich
lieb gehabt -- --«

»Gehabt!« unterbrach er sie beinahe höhnisch.

»Und wie ich noch immer an Dir hänge, trotzdem Du mir so oft bitter weh
thust. Aber keinen Vorwurf will ich Dir machen, nur eine Bitte laß mich
an Dich richten! Sieh, hier gehen wir zu Grunde, Du und ich, Du an der
Berufslosigkeit und ich an dem Jammer, den ich um Dich empfinde. Was
nützt Beschönigen und Versteckenspielen? Wir haben hier durch einen
unglücklichen Anfang den Boden unter den Füßen verloren, und der ist
nicht wieder zu gewinnen. Aber wir müssen doch nicht hier leben. Was
bindet uns denn an diese Scholle? Laß uns fortziehen nach einem Orte,
wo uns niemand kennt -- ich gehe mit Dir und wenn es nach dem ärmsten,
ödesten Erdenfleckchen wäre, nur raffe Dich auf, beginne ein thätiges
Leben und werde wieder so, daß Du selbst und andere Dich achten können!
Es ist ja wie ein Hohn, das leere Wartezimmer, und wie ein bitterer
Spott klingt es, wenn Du von Deiner Landpraxis sprichst, und dabei
verlieren wir neben der Freude am Dasein, neben dem Frieden des Hauses,
neben dem Glück unserer Liebe auch allgemach die Mittel zu unserem
Leben. Ermanne Dich, Paul! Lieber Paul, ich bitte Dich!«

Das junge Weib stand mit erglühenden Wangen, mit gefalteten Händen
vor ihm voll rührender Schönheit, aber sie rührte nur seine Sinne. In
seinen Augen leuchtete es begehrlich und er streckte wieder die Hände
nach ihr:

»Ach laß jetzt die Dummheiten, und komm und küsse mich!«

Therese aber wich einige Schritte zurück und flehte mit innigem,
angstvollem Tone:

»Paul -- gieb mir Antwort! Höre mich, Paul -- -- es muß ein Ende nehmen
-- -- o Gott!«

Und nun brachen ihr die Thränen aus den Augen, und aufschluchzend
schlug sie die Hände vor das Gesicht. Da erfaßte ihn der Unmut:

»Was soll mir denn das Geschwätz? -- Bin ich etwa ein Lump, der sich
verstecken muß? -- Brauche ich denn für diese Kleinstädter überhaupt
Tränkchen und Salben zu verschreiben? -- Warum soll ich denn nicht
meinen Neigungen leben und dem Vergnügen? -- Und denkst Du denn, wenn
ich irgendwo anders mich niederlasse, daß mir die Philister von hier
aus nicht nachschreien werden, ich sei ein Kurpfuscher und dergleichen
Dummheiten mehr? -- Ich habe die Lust verloren an dieser ganzen
traurigen Wissenschaft, die auch nicht eine einzige wirkliche Krankheit
des inneren Menschen heilen kann. Wer das Glück hat, bei seinen
Versuchen von der Natur unterstützt zu werden, dem läuft die Menge zu,
und wem das Glück fehlt, der verliert seine Patienten. Hol der Teufel
dies ganze Glücksspiel -- da ist mir das andere mit den zweiunddreißig
Blättern noch lieber ... und kurz und gut, mir gefällt es hier und ich
bleibe hier, und Du sei nicht dumm und weine Dir Deine hübschen Augen
nicht häßlich -- Du bist hier die schönste Frau im Städtchen, wer weiß,
ob das anderwärts wieder der Fall wäre.«

Die Worte klangen sinnlos, frivol, und dem jungen Weibe zog sich
schmerzhaft die Brust zusammen. Sie sah den Gatten mit einem unendlich
traurigen Blicke an und sprach:

»Paul, Du weißt ja nicht, was Du redest. Wie magst Du Deinen Beruf,
einen der segensvollsten, wenn er mit Lust und Liebe geübt wird, so mit
Füßen treten? Fühlest Du denn nicht, wie solche Worte Dich und mich
entwürdigen? Es kann ja Dein Ernst nicht sein, was Dir aus dem Munde
geht! Du kannst doch nicht daran denken, in Deinen Jahren bloß dem
Müßiggang zu leben? Du willst doch nicht die Verachtung aller Guten auf
Dich lenken? -- Paul, ich beschwöre Dich ... laß uns fortziehen von
hier, wo wir den rechten Boden unter den Füßen verloren haben ...«

Jetzt brauste er auf:

»Was gehen mich denn Deine Stockphilister an, die ihre Schnäbel an
jedem wetzen, der nicht so lebt, wie sie selber? -- Gerade ihnen zum
Trotze bleibe ich und lebe ich, wie ich will, denn was aus Dir redet,
das ist der dumme Klatsch, den Du hörst bei Deinen Frohwalts und
Freidanks ... warum gehst Du auch nicht mit Besseren um?«

»Niemand hat mir ein Wort darüber gesagt, nur mein eigenes Herz drängt
mich -- --«

»Ach Herz! -- Herz ist das Pumpwerk im tierischen Körper -- was Ihr
Weiber Herz nennt!«

Er lachte roh, so daß sie erbleichend ihn ansah, und plötzlich ein
seltsames Gefühl hatte. Ihr war, als sei in diesem Augenblicke ein Riß
durch ihre Seele gegangen, als wäre sie aus einem Traume erwacht, in
welchem sie diesen Mann geliebt hatte. Sie richtete sich hoch auf und
sprach:

»Verzeih mir's Gott -- aber ich fange selbst an, Dich zu verachten!«

Das Wort hatte eine seltsame Wirkung auf ihn. So lange sein Weib
flehend, bittend, in ihrer demütigen, rührenden Schönheit vor ihm
stand, war es ihm eine Lust, sie -- die seine Liebkosungen abwehrte --
zu quälen, weil er ein Uebergewicht und eine Herrschaft über sie zu
haben glaubte, die ihm durch ihre Liebe gesichert schien -- dies Wort
aber ließ ihn erkennen, daß er seine Macht überschätzt habe, und das
versetzte ihn in Erregung und Zorn. Er raffte sich auf und seine Augen
und seine Hände suchten nach irgend einem Gegenstande, welchen er nach
Therese schleudern könnte, während sein blasses, übernächtiges Gesicht
sich dunkelrot färbte.

In diesem Augenblicke pochte es an der Thür. Die junge Frau ging hinaus
und das im Nebenzimmer befindliche Dienstmädchen überbrachte ihr eine
Karte mit dem Namen Ferdinand von Sorb und meldete, daß ein Herr den
Herrn Doktor zu sprechen wünsche, aber nicht als Patient, wie er
hinzugefügt habe.

Therese hatte den Namen wohl gehört, aber sein Träger war ihr
unbekannt, und sie begab sich nach dem Salon, wohin das Mädchen
denselben geführt hatte. Hier traf sie einen noch jungen Mann mit
etwas verlebten Zügen, der zwar einigermaßen verlegen schien, als sie
eintrat, aber doch mit weltmännischer Gewandtheit seine Entschuldigung
vorbrachte. Er fragte an, ob er nicht Herrn ~Dr.~ Haller selbst
sprechen könne, da seine Angelegenheit keinen Aufschub dulde.

Therese wußte nicht, warum sie vor dem Manne ein unverkennbares
Unbehagen empfand, und mit einem Gefühl der Beschämung, das sie hatte
bei dem Gedanken, daß Herr von Sorb das Unwahre ihrer Worte erkennen
müsse, sagte sie mit erzwungener Ruhe:

»Mein Mann fühlte sich unwohl und hat das Bett noch nicht verlassen,
ich werde ihn jedoch von Ihrer Anwesenheit und Ihrem Wunsche
verständigen und bitte indes, sich zu gedulden!«

Sie entfernte sich und atmete jenseits der Thüre einmal tief auf, dann
ging sie zagend nach dem Schlafzimmer zurück und rief die Worte hinein:

»Ein Herr von Sorb wünscht Dich dringend zu sprechen«!«

Sie hatte ihren Gatten nicht angesehen und war zurückgetreten, ohne
seine Erwiderung abzuwarten, aber es war ihr doch, als höre sie ein
Fluchwort und zugleich ein Geräusch, als ob er sich rasch erhebe. In
der That war Haller bei dem Namen erschrocken und erbleicht. Er fuhr
von seinem Lager, kleidete sich rasch und oberflächlich an, fuhr in
seinen Schlafrock und begab sich nach dem Salon.

Der Wartende stand bei seinem Kommen auf und sah ihn mit einem
seltsamen Lächeln an; sie reichten sich nicht die Hände, obwohl sie im
übrigen bekannt genug schienen.

»Da Sie nicht zu mir kommen, muß ich mich bei Ihnen einfinden,« sagte
Herr von Sorb; »ich darf Sie wohl daran erinnern, daß heute der 14.
ist, und daß ich am 10. bereits eine Zahlung von Ihnen zu erwarten
hatte. Ich würde Sie auch heute noch nicht wegen dieser Ehrenschuld
belästigen, aber ich habe gleichfalls meine Verpflichtungen und bin als
Edelmann gewohnt, denselben pünktlich nachzukommen.«

Es klang etwas Hochmütiges, Verletzendes aus den Worten, das Haller
sehr wohl empfand, das ihn erbitterte und worauf er doch nicht so
erwidern konnte, wie er es gern gethan hätte. Er fuhr sich mit der
Hand über die Stirn, wie um die wirren Haare hinauszustreichen, in
Wirklichkeit aber um sich den kalten Schweiß abzuwischen welcher ihm
ausbrach.

»Verzeihen Sie, Herr von Sorb, wenn ich den Termin versäumt habe,
ohne mich auch nur zu entschuldigen; es war gewiß ein unabsichtliches
Versehen, aber gerade weil ich nicht daran gedacht, habe ich auch
vergessen, die kleine Summe flüssig zu machen. Geben Sie mir noch zwei
Tage Frist, ich habe das Geld nicht augenblicklich zur Hand ...«

»Das ist unangenehm, sehr unangenehm, denn ich muß morgen selbst eine
Zahlung leisten, wobei ich zuversichtlich auf Ihre Pünktlichkeit
gerechnet hatte. Sie können doch nicht wünschen, daß ich Ihretwillen
mich bloßstelle ... ich bin Edelmann ...«

Gerade das wiederholte Betonen dieses Moments war so verletzend für
Haller; als ob der Mann vor ihm mehr Ehre besessen hätte, als er
selber. Er war nichts mehr als ein gewerbsmäßiger Spieler, dessen
Adelsdiplom vielleicht noch dazu recht fadenscheinig war, aber es galt
um jeden Preis, die Demütigung hinunterzuschlucken.

»Nun gut -- Verehrtester -- ich schaffe Ihnen bis morgen Mittag das
Geld ... solange müssen Sie durchaus noch Geduld haben -- ich kann's
doch nicht im Augenblick aus den Fingern saugen, und seiner Frau
erzählt man auch nicht gern derartige Verlegenheiten.«

»Sei's denn ... aber dann rechne ich auch bestimmt auf Zahlung, Herr
Doktor. Also morgen auf Wiedersehen!«

Herr von Sorb entfernte sich mit ziemlich hochmütigem Gruße, Haller
aber ballte hinter ihm die Fäuste und sah finster drein. Er hatte sich
tief zurückgelegt in den Fauteuil, von dessen dunkler Sammtlehne sein
bleiches Gesicht sich scharf abhob und stierte vor sich hin.

Es waren 1200 Gulden, die er an den andern verspielt hatte, und er
wußte nicht, woher er sie bezahlen sollte. Er hatte sie in der That
nicht vorrätig, aber er wußte auch nicht, woher er sie flüssig machen
sollte. Seine eigenen Mittel waren erschöpft, denn seine Lebensweise
und fast immerwährendes Unglück im Spiel hatten in kurzer Zeit große
Lücken gemacht, seines Weibes Heiratsgut war festgelegt, und er fand
gerade nach der heutigen Szene nicht den Mut, sich ihr zu offenbaren.
Davon hielt ihn wohl auch sein finsterer Trotz ab, der einen Grundzug
seines harten, dünkelvoll unbeugsamen Wesens bildete.

Und doch mußte das Geld geschafft werden. Er zermarterte seinen
schmerzenden Kopf und ließ an seinem Geiste alle seine sogenannten
Freunde vorübergehen, ohne daß er bei einem derselben einen
Hoffnungsstrahl erkannte. Zuletzt kam er, wie fast alle Spieler, wieder
zu dem zweifelhaften Hilfsmittel zurück, das Glück zu versuchen mit dem
letzten Reste seines baren Geldes. Es waren noch ungefähr fünfhundert
Gulden, die er zum Teil erst am Abend vorher gewonnen hatte ... auf
sie setzte er sein Hoffen. Mit beinahe nervöser Hast erfaßte er den
Gedanken, heute nach einer benachbarten größeren Stadt zu reiten, wo
Pferdemarkt abgehalten wurde; dort fanden sich Offiziere, vermögende
Landedelleute, Rittergutsbesitzer, reiche Roßhändler ein, und er
wußte, daß dort hoch gespielt wurde. Dahin gedachte er sich zu begeben.

Er machte sich rasch fertig. Ein Frühstück nahm er nicht ein, auch von
Therese verabschiedete er sich nicht. Schon nach einer halben Stunde
ritt er fort auf seine »Landpraxis«, wie er die Leute glauben machen
wollte. Auch sein Weib sah ihn hinter den herabgelassenen Gardinen, wie
er mit dem blassen finsteren Gesichte vorübertrabte, ohne einen Blick
nach den Fenstern heraufzuwerfen, etwas vornübergebeugt, als ob er
über Unangenehmes sinne. Sie war es gewohnt, ihn um diese Zeit reiten
zu sehen, auch war er manchmal schon gegangen, ohne ihr ein kurzes
Abschiedswort zu sagen, heute aber überkam sie, nachdem der Hufschlag
verhallt war, ein unsägliches Gefühl des Verlassenseins, der Bangigkeit
und Schwermut, ein Gefühl eines maßlosen Jammers; sie ging in ihr
kleines, freundliches Zimmer, und aufschluchzend sank sie in einen
Sessel.

Haller aber ritt anfangs langsam die Straße entlang, die gegen Burgdorf
aufstieg. Auf der Hochebene jedoch gab er dem Pferde den Sporn und
jagte rasch dahin, seinem Ziele zu. Um die Mittagszeit kam er in
der Stadt an und suchte sogleich das Hôtel auf, in welchem er seine
Gesellschaft zu finden hoffte. Er hatte sich auch nicht getäuscht:
Bekannte Lebemänner aus der ganzen Umgegend hatten sich in einem
besonderen Zimmer zusammengefunden, und er ward von den meisten in
beinahe vertraulicher Weise begrüßt.

Man war eben dabei gewesen, sich zu Tische zu setzen, als er kam, und
da ihn der Hunger plagte, hatte er rasch seinen Platz eingenommen. Die
trefflichen Speisen, der ausgezeichnete Wein, die ganze laute, lärmende
Gesellschaft übten bald ihren Einfluß, und als erst die Champagnerkorke
knallten, da ward er von ausgelassener, beinahe übertriebener
Lustigkeit und stürzte Glas um Glas des prickelnden Schaumweins hinab.
Dabei konnte er augenscheinlich die Zeit nicht erwarten, bis man daran
ging, den Tisch für das Hazardspiel herzurichten. Der Wirt kannte seine
Gäste, und obwohl solches Thun gesetzlich verpönt war, leistete er
demselben doch Vorschub, denn er kam dabei nicht zu kurz.

Das kleine Speisezimmer lag in dem ersten Stockwerk nach dem Garten
hinaus, welcher der Familie des Wirtes ausschließlich gehörte und um
diese Zeit von niemandem besucht war, und wenn man auch da und dort
von dem Spielklub munkelte, der besonders zu Marktzeiten sich hier
zusammenfand, so hatte doch die Behörde niemals Notiz genommen von
solchen Gerüchten, und die Beteiligten konnten ganz sicher sein.

So saßen sie auch heute wieder beisammen schon am hellen Nachmittage,
und das Spiel war im besten Gange. Haller beteiligte sich an demselben
mit wechselndem Erfolge, ohne durchgreifenden Gewinn oder Verlust. So
ging es, bis der Abend hereindämmerte. Die Lichter wurden angezündet,
und da dem Weine ausgiebig zugesprochen worden war, sah man manches
besonders erhitzte und glühende Antlitz und leidenschaftlich funkelnde
Augen. Haller hatte nach seiner Gewohnheit stark und schwere Weine
getrunken, aber seine Gesichtsfarbe war fahl; Schweiß stand ihm auf der
Stirne.

Es war, als ob mit den flammenden, flackernden Lichtern sein Unstern
aufgegangen wäre, und was sein Unbehagen ganz besonders steigerte,
war, daß gerade jetzt auch Herr von Sorb ankam und sich mit
außerordentlicher Kaltblütigkeit am Spiele beteiligte. Dem Doktor
schien es dabei, als ob jener manchmal wie mit spöttischem Lächeln
ihn streife, als ob er seine Gedanken erriete, und so wurde er immer
erregter und zugleich immer unsicherer, so daß auch die Aufmerksamkeit
der andern sich gerade ihm immer mehr zuwendete.

Jetzt setzte er sein letztes Geld auf eine Karte. Seine Augen
flimmerten, seine Hände, die auf der Tischplatte lagen, bebten
wahrnehmbar -- einige Augenblicke später hatte er verloren.

»Wer kauft mein Pferd?« fragte er mit heiserer Stimme, und einige der
Umstehenden lachten, weil sie meinten, er rede im Scherz, einer aber
rief:

»Was soll die Mähre kosten?«

»Sechshundert Gulden!« stieß Haller hervor.

»Ach, Thorheit, um vierhundert nehme ich sie.«

»Gegen sofortige Zahlung.«

»Topp! -- Hier ist das Geld.«

Der Handel war flott gemacht worden, ohne daß die andern sich
viel darum kümmerten, und gleich darauf warf Haller wieder einen
Hundertguldensschein hin. Aber das Glück wollte sich nicht zwingen
lassen, auch nicht um den Preis des treuen Tieres. Kalter Schweiß trat
auf die Stirn des Mannes, zumal er den forschenden Blick Ferdinands von
Sorb fühlte. Er vermochte den Bann dieser Augen nicht zu ertragen und
rief ihm zu:

»Sehen Sie mich nicht immerfort an, Sie bringen mir Unglück!«

Der so rauh Angesprochene lächelte kühl und spöttisch und wandte
Haller schweigend und wie verächtlich den Rücken. Dieser fühlte sich
dadurch noch mehr verletzt und gedemütigt, aber er zwang sich zur
Selbstbeherrschung, und spielte weiter. Nach einer halben Stunde war
das Geld, das er für sein Pferd erhalten hatte, verschwunden.

Mit stieren Blicken starrte er um sich, trank dann mit wilder Hast sein
Glas leer, und griff plötzlich nach seiner Uhr, die er samt der Kette
aus der Tasche riß und auf den Tisch schleuderte. Es war eine schöne
und wertvolle Ankeruhr mit doppeltem goldenen Deckel. »Wer kauft sie
oder leiht mir darauf zweihundert Gulden?«

Die ganze Szene machte einen unendlich widerwärtigen Eindruck, und
das empfanden selbst einige der Anwesenden, trotzdem die Geister des
Weines bei allen mehr oder minder ihre Wirkung übten.

[Illustration: »Aber wir haben doch hier keine Leihanstalt!« bemerkte
scharf einer der Offiziere ... (S. 388.)]

»Aber wir haben doch hier keine Trödelbude oder Leihanstalt!« bemerkte
endlich kalt und scharf einer der Offiziere, und nach diesem Worte
wurde es unheimlich still in dem Gemache. Die Lichter schienen trüber
und düsterer zu brennen, die Luft zum Ersticken schwül und schwer
zu werden. Alle Augen wandten sich nach Haller und dieser fand kein
Wort der Erwiderung. Er hatte das Gefühl, daß er kein Recht habe,
weiter hier zu sein; aus allen Blicken schien Verachtung zu reden,
und so erhob er sich, todbleich, schlotternd, mit zusammengebissenen
Zähnen und feuchter Stirn. Er raffte seine Uhr an sich und schwankte
schweigend hinaus. In der Nähe der Thüre hörte er wie im Traum die
Stimme des Herrn von Sorb:

»Vergessen Sie nicht -- morgen Mittag!«

Einige Augenblicke später stand er im Freien. Er wußte nicht, wie er
die Treppe herabgekommen war, und um ihn schien alles zu schwanken,
so daß er mehrmals mit den Händen hastig in die Luft griff, als suche
er nach einer Stütze. Die Kühle des Abends berührte ihn angenehm,
und barhäuptig, wie er war, schritt er durch die stillen nächtlichen
Gassen, hinaus auf die freie Straße, und ging weiter, immer weiter. Wie
lange er so gegangen war, darüber gab er sich keine Rechenschaft.

Der Himmel hatte sich mit trüben Wolken behangen, und ein feiner Regen
begann niederzugehen, als er durch ein kleines Dorf kam. Das lag still
und schlafend; nur ein Hund, der den späten Wanderer spürte, bellte
heiser. Haller fühlte sich müde und elend, körperlich und seelisch.
Aber sein Kopf war so wüst, daß er gar nichts zu denken vermochte,
nur das eine Gefühl hatte er, daß er mit der Verachtung der Menschen
belastet sei.

So kam er an die Schenke. Ein mattes Licht fiel durch die Fenster auf
die Straße, und er gedachte einzutreten, denn die Schwäche begann ihn
zu überwältigen. Die niedrige Stube war voll Tabaksqualm. In der Nähe
des Ofens saßen drei Bauern, jüngere Burschen, und spielten Karten; auf
der Ofenbank lag der Wirt. Er erhob sich langsam bei Hallers Eintritt,
und auch die Drei sahen sich nach dem barhäuptigen Herrn um, der wie
eine Gespenstererscheinung auftauchte. »Bringt mir Salzbrot und ein
Glas Branntwein!« sagte dieser mit heiserer Stimme, indem er sich
an einem Tische niederließ, und jetzt betrachteten ihn die Burschen
beinahe frech und zudringlich.

Er aß und trank mit Gier und hörte zwischendurch mit halbem Ohre die
spöttischen Bemerkungen der rohen Gesellen.

»Ein Schnapsbruder im Frack!« sagte der eine.

»Das arme L...r kann vielleicht kein Bier bezahlen!« lachte der andere.

Haller griff mechanisch in die Tasche seiner Beinkleider; wo sonst sein
Portemonnaie war; er fand es nicht. Offenbar hatte er es am Morgen
gar nicht zu sich gesteckt und das Geld, welches er verspielt hatte,
war alles gewesen, was er bei sich trug. Ein Zittern durchlief seinen
Körper bei dem Gedanken, hier nicht bezahlen zu können, und krampfhaft
suchte er in allen übrigen Taschen. In der Brusttasche fühlte er etwas
Hartes, Kaltes -- -- er erschrak: Es war der Lauf des kleinen Pistols,
welches er auf seinen nächtlichen Ritten als Schutzwaffe bei sich zu
führen pflegte.

Er aß langsamer, und die Bissen quollen ihm im Munde besonders unter
den spöttischen Blicken seiner Beobachter, die ganz zu spielen
aufgehört hatten und ihre Zeche bezahlten.

Jetzt sagte der Wirt:

»Nun wird zugemacht! Wegen einem Salzbrot und Schnaps kann ich nicht
die ganze Nacht durch sitzen bleiben.«

Das fuhr Haller durch die Seele. In sein Gesicht stieg eine flutende
Röte der Scham, und er sagte stockend:

»Ich habe mein Geld verloren -- ich muß meine Uhr als Pfand --«

Er legte den goldenen Chronometer zagend auf den Tisch. Mißtrauisch sah
der Wirt bald diesen, bald ihn selbst an, dann wog er das Wertstück
in der Hand und sagte verächtlich: »Talmi? -- He? -- Na, ich will's
behalten!«

Der Unselige erhob sich. Er widersprach nicht, sondern wankte, den
letzten Bissen noch im Munde, hinaus, und hörte den Wirt hinter sich
sagen:

»Ein versoffener Lump!«

Das rohe Gelächter der Burschen in der Dorfgasse hallte ihm nach,
dann ward es still. Am Himmel waren wieder einzelne Sterne sichtbar
geworden, aber sie waren ihm keine trostvollen Lichter, und langsam,
verzweiflungsvoll ging er die Straße weiter. Selbst die rüden Gesellen
verlachten und verachteten ihn ... er kam sich vor wie ein Geächteter,
von aller Welt Ausgestoßener, und wenn er an sein Weib dachte, klang
ihm ihr Wort im Ohr: »Ich fange selbst an, Dich zu verachten.« Wie
konnte er sich vor ihr wieder sehen lassen nach dieser furchtbaren
Nacht? Wo war sein Pferd? Wo war sein letztes Geld? Und was that er,
wenn morgen Ferdinand von Sorb auf Bezahlung seiner »Ehrenschuld«
bestand? Und dieser würde darauf bestehen, zumal er ihn erst heute roh
beleidigt hatte.

Die Straße senkte sich nieder in einen Hohlweg. Zu beiden Seiten
war finsterer Fichtenwald und ließ den milden Sternenschimmer
nicht hindurch, der Weg selbst war dunkel und unheimlich, und in
den Baumkronen raunte und rauschte es seltsam. Da überkam ihn die
Verzweiflung, und am Straßengraben setzte er sich nieder und begann mit
dem Kolben der kleinen Waffe in seiner Tasche mechanisch zu spielen.
Nach einer Weile scholl schriller Eulenruf durch die Nacht und wenige
Augenblicke später ein kurzer, scharfer Knall -- -- dann war die
Nacht wieder ruhig wie zuvor, und nur die Bäume raunten und rauschten
weiter. -- --

Und am andern Morgen lachte die Sonne wieder hell und heiter über der
kleinen Landstadt. Therese hatte kein Auge geschlossen. Stunde um
Stunde hatte sie gelauscht, ob sie nicht Hufschlag höre, aber die Zeit
verrann, die Nacht war vorüber, und ihr Gatte kehrte nicht heim. So
sehr sie an solche Sachen gewöhnt war, so überkam sie doch heute eine
seltsame Angst. Sie dachte an den Auftritt von gestern, und es war
ihr, als habe sie ihm ein hartes Wort zu viel gesagt, das sie bereuen
müßte. Unruhevoll schritt sie durch die Zimmer, bald dieses, bald
jenes Fenster öffnend, um hinauszuhorchen, aber vergebens, das Leben
der kleinen Stadt hatte lange schon begonnen, die Glocken hatten zur
Frühmesse gerufen, ihr Dienstmädchen hatte den Kaffeetisch bereitet,
aber das junge, bleiche, müde und von Schlaflosigkeit schier erschöpfte
Weib fand nicht die Ruhe, ihr Frühstück einzunehmen.

So gingen noch mehr als zwei Stunden hin. Ihre Angst steigerte sich,
ihr Herz klopfte erregt ... sie ertrug es nicht mehr, sich niemandem
mitteilen zu können. Aber zu wem sollte sie sich wenden? Wem hätte sie
die gequälte Seele aufthun und Trost von ihm erbitten können? Ihren
Jammer hatte sie ja vor aller Augen gehütet, und selbst dem Priester in
der Beichte hatte sie nichts gesagt von ihrem häuslichen Elend. Aber
heute mußte sie sprechen, sie mußte wissen, ob sie selbst gestern ein
zu hartes Wort gesprochen habe. Da dachte sie an den Kapuziner Severin.
Er war ihr stets wie ein Freund entgegengekommen mit so zarter, schöner
Teilnahme, und er war als Priester musterhaft. Ihm wollte sie beichten,
von ihm Rat und Trost begehren in ihren furchtbaren Nöten, in der
entsetzlichen Ungewißheit dieser Stunden.

Rasch kleidete sie sich an, und auf einem Umwege, der sie nicht durch
die Gassen führte, begab sie sich nach dem kleinen Kloster.

Pater Severin ging nahezu um dieselbe Zeit im Klostergarten hin und
wider, sein Brevier in der Hand. Er sah ernst, aber nicht leidend aus,
und mit ruhigen Augen schaute er empor nach dem Himmel, und hinein in
das Laubgewirr der Obstbäume, aus dessen Grün da und dort der reiche
Segen der Früchte blinkte. Da vernahm er einen Schritt, und da er sich
umsah, bemerkte er den »Vetter Martin«, der langsam herankam. Der
junge Kapuziner eilte ihm entgegen. Auch er freute sich an dem Wesen
des wackern alten Herrn und begrüßte ihn freudig, nachdem er ihn lange
genug nicht gesehen hatte. Dieser aber rief:

»Briefe von Hans Stahl! Eben eingetroffen! Hier schreibt er mir:

»Lieber Vetter Martin! Nur wenig, wie es im Feld und auf dem Tornister
möglich ist. Habe gestern mitgekämpft in der Schlacht bei Wörth und
werde diese Stunden, die ersten im Feuer, nicht vergessen. Ich fühle
erst jetzt, daß ich ein anderer Kerl geworden bin -- Gott helfe mir,
wenn ich's jemals vergäße! Ich bin heil und gesund und kampfesfreudig
wie nur einer. Wir haben gestern Preußen, Bayern, Württemberger
Schulter an Schulter gefochten; es giebt kein Nord- und Süddeutschland
mehr, das soll der Franzmann spüren. Gott mit Ihnen und mit uns!
Tausend Grüße! Ihr Hans Stahl!«

»Was? -- Ist das nicht ein infam prächtiger Bengel? Wenn ich ihn hier
hätte, für _die_ Zeilen müßt' ich ihn einmal küssen, obgleich ich für
gewöhnlich keine sentimentalen Anwandlungen habe. -- Aber hier ist eine
Beilage mit Ihrer Adresse; viel wird auch nicht drin stehen!«

Pater Severin öffnete den Umschlag und fand in der That nur die wenigen
Zeilen:

»Das Neueste von mir erfahren Sie durch Vetter Martin. Wie geht
es Therese? Schreiben Sie mir von ihr und wachen Sie über sie! Mit
herzlichem Gruße der Ihrige.« -- Dann folgte eine Adresse.

Der Kapuziner reichte seinem Begleiter schweigend das Blättchen; dieser
las und sagte:

»Der arme Junge! Das kann er nicht verwinden, aber da können wir alle
beide nicht helfen. Was wollen Sie ihm schreiben?«

Severin zuckte die Achseln und erwiderte wehmütig:

»Ich weiß nur, was das Volk spricht, und das möchte ich ihm nicht
mitteilen; es ist nicht verbürgt, und wenn es wäre, so könnte er nicht
helfen, so wenig wie ich. ›Wachen Sie über sie!‹ Ich weiß nicht, wie er
sich das denkt. Ich habe ja nicht einmal ein Recht zu einem Worte des
Trostes für sie, so lange sie es nicht begehrt.«

»'s ist richtig, und für ihn ist's besser, wenn er nichts Schlechtes
hört. Er braucht seinen Mut und seine gesunde Frische jetzt doppelt,
und wenn er denken kann, es geht ihr gut oder mindestens erträglich, so
vergißt er sie zuletzt am leichtesten, und das muß doch einmal sein.«

Ein leiser Seufzer hob die Brust des Mönches ... er wußte, daß man
Therese nicht so leicht vergaß!

Das Gespräch aber wendete sich mehr dem großen Ereignis der Zeit, dem
Kriege, zu, und die beiden wanderten langsam unter den Bäumen auf und
nieder, bis die Glocke läutete.

»Ich muß zur Messe -- verzeihen Sie!« sagte nun Severin, und der
Alte entfernte sich mit einem Worte der Entschuldigung, während der
Kapuziner langsam nach dem Kirchlein ging. Da kam ihm ein Laienbruder
entgegen mit der Mitteilung, daß eine Dame ihm zu beichten wünsche.
Das war nichts Außergewöhnliches und er begab sich ruhig nach dem
Beichtstuhl, in welchem er erwartet wurde: Dort kniete eine junge Frau
im dunklen Gewande, und als er näher kam, fühlte er, wie sein Herz
heftiger anfing zu schlagen und wie ein Zittern ihn erfaßte; er hatte
Therese Haller erkannt.

Sie aber preßte die weiße Stirne gegen das Holzgitter, das sie von
seinem Sitze trennte, und begann leise, zaghaft zu sprechen, indes
er das Haupt neigte und seine Hände krampfhaft in einander schlang.
Das war nicht eine Beichte, wie sie sonst üblich war mit Beobachtung
der vorgeschriebenen Einleitungsworte ... es war auch nicht ein
Sündenbekenntnis, sondern ein banges Stammeln einer gequälten Seele,
eine Geschichte von dem Märtyrertum eines stillen, verschwiegenen
Frauenherzens, das in seiner Angst und in seinem Jammer sich in den
Schutz der Kirche flüchtet, und nicht Sündenvergebung, sondern Trost
und Rat erfleht.

Jetzt erst erkannte Severin mit sehenden Augen die ganze Größe des
Elends, dem das junge Weib preisgegeben war, und sein Herz zog sich
schmerzlich zusammen. Daß sie auch ihm gerade all das erzählen
mußte, der sein Herzblut gegeben hätte, um sie glücklich zu machen,
und der nun gar nichts thun konnte, ja kaum recht wußte, was er ihr
sagen sollte. Ihm war gewiß noch elender zu Mute, als der Armen, die
zu seinen Füßen kniete, und nun, nachdem sie ihm erzählt von ihrem
gestrigen Versuch, den Gatten sich zurückzugewinnen und von dem letzten
Worte, das sie gesprochen und das sie in ihrem feinfühligen Wesen heute
beinahe als zu hart bereute, schweigend harrte, was er ihr verkünden
werde.

Der Mönch atmete tiefer, er sandte ein heißes Stoßgebet zum Himmel und
dann begann er zu sprechen, warm, herzlich, ruhig. Ihm war selbst,
als ob aus ihm ein anderer, Höherer rede; ihm schien, als ob er noch
niemals in seinem Leben so die rechten Worte gefunden habe, mit denen
er sein Beichtkind hinwies auf Gottes Vaterhuld, die niemandem mehr
auferlege, als er tragen könne, und wie seine Allmacht auch Mittel
finden werde, ihrem Leid ein Ende zu bereiten. Für ihr Verhalten gegen
ihren Gatten am gestrigen Tage sprach er sie frei von aller Schuld und
Verantwortung; sie habe nur gethan, was ihre Pflicht und ihr Recht war.

Es läutete bereits zum andern Male zum Meßgottesdienst, aber er
unterbrach sich nicht, und als er endlich schloß, und das Zeichen
des Kreuzes über Therese machte, da war ihm die Brust so frei und
gehoben, er fühlte, daß er des Priesters schönste, weihevollste Pflicht
getreulich erfüllt habe, und ihn überraschte und verwirrte es nicht,
als sein Beichtkind sich über seine Hand neigte und sie mit heißen
Lippen küßte.

Getröstet und erhoben war die junge Frau aus dem kleinen Kirchlein
heimwärts gegangen, und sie fühlte sich ungleich ruhiger als vorher,
trotzdem ihr Gatte noch immer nicht zurückgekehrt war.

Es kam die Mittagszeit und um dieselbe Herr von Sorb. Therese empfing
ihn mit kühler Höflichkeit, und er sprach sich verwundert aus, als
er hörte, daß er ~Dr.~ Haller nicht antreffe; er schien beinahe
mißtrauisch gegenüber der Mitteilung zu sein und äußerte:

»Er verließ doch gestern bei Zeiten R...« -- er nannte den Namen der
Stadt, wo am Abend vorher gespielt worden war -- »freilich zu Fuße,
denn sein Pferd hatte er verkauft. Ich werde mir gestatten, morgen
wieder vorzusprechen, gnädige Frau ...«

Damit ging er und sinnend trat Therese an das Fenster. Ihr Gatte hatte
sein Pferd verkauft -- sie fühlte, was damit gesagt war; er hatte sich
auch wohl geschämt, ohne Pferd am hellen Tage heimzukommen und werde
die Nacht abwarten. In ihre Seele kam wieder ein Hauch von bitterer
Bangigkeit ... und aufs neue gingen die Stunden, bis endlich der
Nachmittag die furchtbare Kunde brachte.

Ein Fuhrmann hatte am Morgen den Toten gefunden am Straßenrand, gelehnt
an eine alte Fichte, wie einen Schlafenden. In der Stirn war eine
kleine, runde, schwarz gerandete Oeffnung, die Schußwaffe lag neben
ihm. Der Fuhrmann war, von Entsetzen erfüllt, ins nächste Dorf gefahren
und hatte dort Mitteilung gemacht, dann war der Gemeindevorstand mit
einem zufällig anwesenden Arzte hinausgeeilt, und der letztere hatte
festgestellt, daß der Erschossene der ~Dr.~ Haller aus ... sei, und daß
hier zweifellos ein Selbstmord vorliege. Das übliche Protokoll wurde
aufgenommen, und dann die Leiche auf einen Wagen geladen, mit einer
alten Decke zugedeckt und nach dem Städtchen gefahren, wo seine Frau
lebte. Und hier war sie nachmittags angekommen.

Sie fuhr vorüber an dem Kapuzinerklösterchen, eben als Severin aus
der Pforte trat. Der Fuhrmann grüßte ihn, und da ihn die furchtbare
Nachricht drückte, erzählte er sie dem jungen Mönche. Dieser erbleichte
und verlor einige Augenblicke die Fassung, dann aber dachte er des
armen jungen Weibes.

»Weiß seine Frau bereits davon?« fragte er.

»Es ist ein Herr vom Gericht vorausgefahren, um sie vorzubereiten,«
sagte der Mann.

»Fahren Sie ganz langsam, ich will vorausgehen!«

Damit eilte Severin so schnell er konnte von dannen, die schwere,
braune Kutte aufraffend, damit sie ihn nicht hindere beim Ausschreiten.
Bebenden Herzens lief er die Treppe hinan in dem freundlichen Hause,
ein weinendes Dienstmädchen kam ihm entgegen, und gleich darauf stand
er vor Therese.

Sie war marmorbleich, aber Thränen schien sie nicht gefunden zu haben.
Die großen dunklen Augen lagen tief in dem weißen Gesichte und hatten
einen seltsamen Glanz. Als sie ihren jungen Beichtiger erkannte, eilte
sie ihm entgegen ... sie wollte sprechen, aber sie vermochte es nicht,
und wortlos, wie ein Kind an das Herz des Vaters, sank sie an seine
Brust und nun erst konnte sie weinen.

Was der junge Kapuziner in diesem Augenblicke empfand, war
unbeschreiblich; eine Flut der mannigfaltigsten Empfindungen durchtobte
ihn: Schmerz, Mitleid, Jammer, Lust und Glück waren da zugleich. Da
hielt er sie an seinem Herzen und in seinem Arme; er fühlte das Beben
ihres Leibes, das Wehen ihres Atems ... und doch, kein Hauch der
Sinnlichkeit überkam ihn, nur etwas wie das Bewußtsein eines stillen,
unsäglichen, kurzen Glücks. In Sekunden durchlebte er unendlich viel.
Aber hier galt es Kraft und Fassung.

»Gott sei mit Ihnen! Mehr kann ich in dieser Stunde Ihnen nicht sagen,
seine Wege aber sind unerforschlich und weise. Er weiß, warum er
es zuließ, daß dieses Eheband, das er durch meine Hand knüpfte, so
plötzlich und gerade _so_ zerrissen wurde. Ihm möge er gnädig sein, und
Ihnen wird er seinen Frieden wieder schenken, der Ihnen so lange schon
gefehlt hat. Seien Sie getrost -- noch haben Sie Ihren guten Vater und
Ihre Freunde!«

Er sprach ohne jedes salbungsvolle Pathos, schlicht und herzlich, und
das junge Weib hob die überströmenden Augen nach ihm auf und reichte
ihm die Hand.

»O, ich danke Ihnen! Mein Vater wird bestürzt sein, und es thut mir so
leid um ihn ... bitte, telegraphieren sie ihm in meinem Namen, wie Sie
es für gut halten!«

»Gern, aber nun nehmen Sie mit Fassung auch das Härteste auf sich:
Nehmen Sie den Verschiedenen noch einmal auf, denn er kommt eben an.«

Auf der Straße knirschte der Wagen: Erwachsene und Kinder, die von der
Begebenheit gehört, liefen hinterher und sammelten sich vor der Thüre.
Dann trugen einige Männer den in die alte Decke gehüllten Leib herauf,
und Severin trat ihnen entgegen.

»Hierher!« gebot er mit halblauter Stimme, und sie schafften ihn nach
dem Sprechzimmer und betteten ihn auf dem Sopha, und schaudernd sah
ihm der Mönch in das bleiche Angesicht: Er war wohl der Erste, der, an
seiner Seite stehend, für ihn ein stilles Gebet sprach. Dann ging er
zu Therese, die ihn gefaßt empfing und den Toten zu sehen wünschte. Er
führte sie hinüber nach dem Gemache, aber noch einmal mußte sich hier
das bleiche, zitternde Weib auf seinen Arm stützen.

»Sie dürfen nicht hier bleiben, so lange er da ist. Ich bringe Sie zu
Frau Frohwalt hinüber, und für alles Weitere lassen Sie mich Sorge
tragen,« sprach er, und sie folgte ihm schweigend und ohne Widerstreben.

Die furchtbare Kunde war ungemein schnell durch das Städtchen gelaufen,
und es fehlte nicht an zahlreichen Beweisen der herzlichsten Teilnahme
für Therese. Schon am andern Tage kam Professor Holbert und führte sein
Kind wieder hinüber in ihre Wohnung. Er hatte die Ruhe und Festigkeit
des echten Mannes, und seine Anwesenheit wirkte wunderbar beruhigend
auf Therese. Der Tote aber lag aufgebahrt im Sprechzimmer.

Auch der Pfarrer war gekommen, um der Witwe seine Teilnahme
auszudrücken und ihr die Versicherung zu geben, daß man den Selbstmord
Hallers seitens der Kirche als eine That des Wahnsinns auffasse und
ihm darum ein feierliches Begräbnis nicht versagen werde. Therese
dankte kühl und müde für diese Versicherung: Es war ihr ja tröstlich,
zu wissen, daß der Mann, an dem ihr Herz gehangen, nicht einfach,
wie es sonst bei Selbstmördern Brauch und wie es vor kurzem erst bei
einem armen Teufel im Städtchen geschehen war, ohne Sang und Klang
eingescharrt werden sollte.

Als man am Begräbnistage den Sarg schloß, und sie zum letzten Male
ihrem Gatten ins Antlitz schaute, empfand sie seltsamer Weise keinen
Schmerz; ihr war, als sei auch in ihrer Seele etwas gestorben, was sie
vordem für Liebe gehalten hatte. Sie folgte langsam ihrem Vater, der
sie nach einem andern Gemache führte und schweigend an der Hand hielt,
als von der Gasse her der eintönige Gesang des Kirchenchors und die
Trauermusik erklang. Dann begannen die Glocken zu läuten.

Professor Holbert und seine Tochter folgten dem Sarge nicht, und es
war in mehr als einer Beziehung besser. Sie brauchten dann auch nichts
zu hören von dem gärenden Unmut der Leute, die in den Gassen standen,
und als der in silberverbrämtem Trauerornate herschreitende Pfarrer
vorüberkam, deutlich genug sich äußerten über das »zweierlei Maß« in
der Kirche.

Am andern Morgen klebten am Gotteshause wie an der Pfarrei große
Zettel, die es noch schärfer geißelten, daß der vornehme Selbstmörder
mit allen Ehren beerdigt worden sei und geradezu drohten, man werde
ihn wieder ausscharren und nach dem Winkel werfen, wohin die Armen
kämen, wenn sie unserm Herrgott vorgriffen. Pater Ignaz war darüber im
höchsten Grade ärgerlich, zumal auch Frohwalt, als er in der Sakristei
mit ihm am nächsten Morgen zusammentraf, ihm kühl und ruhig bemerkte:

»Frau Franke will wirklich evangelisch werden, da sie das zweifache Maß
in der Kirche nicht begreift.«

An demselben Abend schrieb Pater Severin an Hans Stahl einen
ausführlichen Brief, und am nächsten Morgen reiste Professor Holbert
mit seiner Tochter nach Prag. Er hatte sein Kind wieder ganz für sich
gewonnen.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Zwanzigstes Kapitel.


Die Alumnen des fürsterzbischöflichen Seminars in Prag waren aus den
Ferien wieder zurückgekehrt, und mit ihnen kam der Geist des Unfriedens
und der Gehässigkeit wieder in das große, finstere Jesuitengebäude
neben der St. Klemenskirche. Die nationalen Gegensätze hatten sich
indessen noch mehr zugespitzt unter dem Einflusse der deutschen Siege.
Wie eine seltsame Heldensage war die Geschichte des Tages von Sedan
und der Zusammenbruch der Kaiserherrlichkeit Napoleons III. durch die
Lande gegangen, und die Deutschen in Oesterreich vergaßen den seit 1866
in ihren Herzen noch immer nagenden Groll über dem stolzen Bewußtsein,
daß es die Waffen der Stammesbrüder waren, welche den alten welschen
Uebermut so tief demütigten und zuletzt auch Oesterreich eine Rache
schafften für das Jahr 1859 und seine Verluste. Die Tschechen aber
verbitterte das deutsche Kriegsglück nur noch mehr. Ihre Teilnahme
wandte sich in auffälliger, gehässig herausfordernder Weise den
Franzosen zu, sie suchten die Siege der Deutschen, die einmal nicht
ungeschehen zu machen waren, zu verkleinern, und wo sie die Gewalt
und das numerische Uebergewicht hatten, äußerte sich dies mitunter in
geradezu roher Weise.

Die Bewegung welche in der ganzen Stadt, ja wohl im ganzen Böhmerlande
bemerkbar war, zitterte auch im Seminar zu Prag nach. In den
gemeinsamen Schlafsälen der Alumnen, in den Gängen und Höfen fiel
manches scharfe Wort, das von nationaler Erbitterung redete, und für
die gegenseitige Anfeindung schienen alle Mittel recht.

Der Seminarist Vogel, der um seines ruhigen, ernsten Wesens willen
sich ein gewisses Ansehen erworben hatte, der aber auch sein deutsches
Bewußtsein niemals preisgab, sondern dasselbe gerade damals im Kreise
von Stammesgenossen entschieden betonte, galt als Hauptvertreter
des Deutschtums und erfreute sich deshalb des besonderen Hasses der
nationalen Gegner. Er kümmerte sich darum wenig, ging ruhig und ehrlich
seinen Weg weiter und vermied es in jeder Art, irgendwie die andere
Partei herauszufordern. Freilich konnte auch er das Dichterwort nicht
Lügen strafen:

    Es kann der Beste nicht im Frieden leben,
    Wenn es dem schlimmen Nachbar nicht gefällt --

und an einem Nachmittage sollte er die Wahrheit desselben ganz
besonders empfinden. Er war mit einigen Freunden nach Gewohnheit in
dem Hofe auf- und abgeschritten, und die aus Frankreich immer neu
eintreffenden Siegeskunden bildeten den naheliegenden Gesprächsstoff.
Es mochte sein, daß sie dabei etwas lebhafter wurden, ohne jede
herausfordernde Absicht, aber tschechische Alumnen, die sie schon lange
beobachteten, schienen doch eine solche zu wittern und fühlten sich
zweifellos durch den nationalen Gesprächsstoff verletzt. Sie mischten
sich darum -- diesmal sogar in deutscher Sprache -- in die Unterhaltung
und suchten hämisch die deutschen Siege zu verkleinern. Vogel fühlte
keine Neigung, sich in einen müßigen Streit einzulassen und bemühte
sich immer wieder, der Erregung die Spitze abzubrechen und das Gespräch
auf einen anderen Stoff hinüberzulenken. Dabei aber war er ganz und gar
nicht glücklich. Er war mit einem etwas gewagten Sprunge auf die neue
Glaubenslehre von der Unfehlbarkeit gekommen, sowie darauf, daß die
Gläubigen bereits zu Anfang September von den Kanzeln herab nicht bloß
die Verkündigung desselben, sondern auch die Forderung der Unterwerfung
unter dasselbe vorgetragen erhielten.

»Da hättet Ihr's wohl auch lieber gesehen, wenn die deutschen Bischöfe
einen Sieg über den heiligen Vater davongetragen hätten, anstatt daß
sie zu Kreuze gekrochen sind?« fragte höhnisch ein langer, hagerer
Mensch in mangelhaftem Deutsch.

»Das sind wohl nicht die ganz richtigen Ausdrücke,« bemerkte Vogel
ruhig -- »und was wir lieber gesehen hätten oder nicht, darauf kommt
es nicht an, aber was bisher geschehen ist, kann nicht der letzte
Abschnitt sein in der Geschichte dieses Glaubenssatzes.«

»Nein, der letzte wird sein, daß man Euch hinausjagt aus dem Seminar,
denn Ihr habt jetzt eure Köpfe so voll von deutschem Großmannsdünkel,
daß Ihr glaubt, Ihr braucht auch dem Papste nicht mehr zu gehorchen.«

»Man hat uns ebenso wie Euch gelehrt, daß man Gott mehr gehorchen müsse
als den Menschen!«

»Hört die deutsche Spitzfindigkeit! Als ob der Papst ein beliebiger
Mensch wäre!« rief einer, und ein anderer sagte:

»Wissen Sie denn, Vogel, daß Sie eigentlich mit Ihren Ansichten gar
nicht mehr in das Kleid passen, das Sie tragen?« und ein dritter fügte
bei:

»Und daß Sie sich von der Kirche füttern lassen, obgleich Sie ihr den
Gehorsam weigern? Sie sagen's ja offen, daß Sie die neue Glaubenslehre
nicht annehmen, so seien Sie doch auch so ehrlich und verlassen Sie das
Seminar!«

In Vogels Gesicht stieg eine Röte des Unwillens und des Zorns:

»Noch haben andere bessere Männer, die derselben Ansicht sind wie ich,
sich nicht bewogen gefühlt, darum das geistliche Gewand abzulegen -- --«

»Ah, Frohwalt!« schrie es.

»Nein, nicht nur Herr ~Dr.~ Frohwalt, auch Professor Meyer und ...«

Man ließ ihn nicht weiter reden:

»Meyer hat zur Unterwerfung aufgefordert und hat sich gefügt --
Frohwalt wird sich auch fügen ... Der ist ein deutscher Dickkopf ...
Dann wird er exkommuniziert ... Nicht schade um ihn ...«

So klang es erregt durcheinander, und die erbitterten jungen Leute
standen in einem dichten Knäuel zusammen, welchen Vogel mit einem Male
durchbrach mit dem Rufe:

»Platz da! Von meiner Ehrlichkeit sollt Ihr die Probe haben, und das
Recht, einen Deutschen einen Heuchler zu schimpfen, gebe ich Euch noch
lange nicht!«

[Illustration: Vogel rief: »Platz da! Von meiner deutschen Ehrlichkeit
sollt Ihr die Probe haben!« (S. 403.)]

Er eilte mit großen Schritten dem Hause zu. Hinter ihm schwirrte und
summte es her von Fragen und Rufen in beiden Sprachen, er kümmerte sich
nicht weiter darum, sondern ging jetzt die Treppen hinan, um Frohwalt
aufzusuchen.

Auch diesem schufen die Zeitverhältnisse Unruhe und Pein. Was
der Vetter Martin in Rom bereits vorausgesagt hatte, daß die
widerstrebenden Bischöfe sich zuletzt doch dem neuen Glaubenssatze, den
sie nach bestem Wissen und Gewissen bekämpft hatten, fügen würden, war
eingetroffen. Es war geradezu traurig, anzusehen, wie manch einer sich
drehte und wendete, um sich wegen seiner Nachgiebigkeit vor sich und
seinen Diözesanen zu entschuldigen. Nichts, auch nicht das Geringste,
war geschehen, was vom Standpunkte der Wissenschaft und der Moral
eine andere Auffassung der Unfehlbarkeit als vordem oder gar eine
Berechtigung derselben dargeboten hätte, und doch brachte der sonst so
tüchtige Rottenburger Bischof Hefele das Opfer seiner Ueberzeugung,
weil es ihm zu thun war »um die Einheit der Kirche«; der Bischof von
Trier verschanzte sich jetzt hinter den heiligen Geist, der in der
Frage des Glaubenssatzes zuletzt die Entscheidung und damit den Sieg
über menschliche Meinung und menschlichen Irrtum herbeigeführt habe,
der Erzbischof von München-Freising forderte von den gelehrten und
frömmsten Männern, deren Rat und Ansehen ihm bis dahin alles gegolten,
unbedingte Unterwerfung und drohte mit der Ausschließung aus der
Kirche, der Bischof von Mainz drehte und wendete sich in geschraubten
Redensarten, welche zwar die ganze innere Hilflosigkeit und Schwäche
bekundeten, aber doch darauf hinausliefen, daß man sich fügen müsse,
nachdem die Kirche gesprochen, und der Erzbischof von Prag, »der Führer
der Opposition« hatte von allen Kanzeln herab den neuen Glaubenssatz
verkünden lassen als ein von der ganzen Kirche geheiligtes Gesetz.

Durch die Seele Frohwalts ging ein bitterer, banger Zwiespalt. Sollte
er einfach dem Beispiele folgen, das von den Kirchenfürsten gegeben
war, und die Verantwortung dafür, daß er gegen sein Gewissen, seine
Erkenntnis und seine heiligste Ueberzeugung handle, auf sie abladen?
Das war wohl das Wohlfeilste und Naheliegendste, und tausend und
abertausend Priester würden es thun, wie es Professor Meyer und andere
bereits gethan hatten. Oder sollte er den Mut haben, die verderbliche
und bedenkliche Neuerung auch jetzt noch zu verwerfen, und damit auch
alle weiteren Folgen auf sich nehmen?

Bis jetzt hatte man ihm noch nicht zugemutet, sich klar und bündig
darüber zu äußern; man nahm wohl seitens seiner Vorgesetzten als
selbstverständlich an, daß er keinen weiteren Widerstand gegen
den Glaubenssatz ausübe, und vermied es geradezu, mit ihm darüber
zu sprechen, weil man ein solches Gespräch unter den obwaltenden
Verhältnissen als peinlich erkennen mußte. Er konnte also mit einem
entsprechenden geistigen Vorbehalt seine priesterlichen Pflichten
weiter üben, so lange man nicht von selbst ihn zwang, Farbe zu bekennen
und ihn nicht von denselben entband. Freilich war auch das nicht ganz
ehrlich. Sein Rechtsbewußtsein verlangte, daß er, zumal als Lehrer der
jungen Priesterschaft, auch unumwunden keine Täuschung darüber obwalten
lasse, wie er zu der neuen Lehre stehe, und wie er sie aus allen
Gründen, die bisher dagegen gesprochen, auch jetzt noch verwerfe. So
hatten es andere mutige Männer, wie der Stiftsprobst Döllinger und der
Professor Friedrich in München, die Professoren Reinkens, Reusch u. a.
gehalten, denen er seine Achtung nicht zu versagen vermochte.

Aber wenn man ihn exkommunizierte, aus der Kirche und aus seinem Amte
ausstieß, -- was dann? Was sollte er in der Welt beginnen? Welchen
Beruf ergreifen? -- Und wie würde das seine Mutter treffen! Das war
ihm der bängste, schmerzlichste Gedanke. Sollte er die Ruhe und das
Glück der alten Frau, das gerade in ihm und seiner Stellung begründet
war, so mit einem Schlage vernichten, und noch dazu jetzt, da bei
ihrer anhaltenden Kränklichkeit ihr Leben durch eine solche Thatsache
gefährdet werden konnte? Langsamen Schrittes, gesenkten Hauptes ging
er auf und nieder in seinem freundlichen Gemache -- da pochte es, und
gleich darauf trat der Alumnus Vogel ein.

»Verzeihen Sie, Herr Doktor, wenn ich in einer ernsten Angelegenheit
Ihren Rat erbitte, aber ich weiß nicht, an wen ich mich mit mehr
Vertrauen wenden möchte,« begann der junge Mann, sobald er den ihm
angebotenen Sitz eingenommen hatte.

»Sie wissen, daß ich Ihnen gern in jeder Weise behilflich bin,«
erwiderte Frohwalt schlicht und herzlich, aber nicht ohne eine leise
Befangenheit, denn ihn überkam eine Ahnung dessen, was sein junger
Landsmann wollte.

»Ich darf Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen, und will mich
kurz fassen. Es betrifft den Glaubenssatz von der Unfehlbarkeit. Wir
sind gelehrt worden, daß er den alten Satzungen der Kirche zuwider,
gegen Ueberlieferung, Kirchengeschichte und Kirchenrecht sei, und das
hat gegolten bis vor wenigen Wochen. Seitdem ist er aber als Lehre
der Kirche offen hingestellt und die Katholiken sind zur Anerkennung
aufgefordert worden. Es widerstrebt jedoch meinem innersten Wesen,
etwas, was bis vor kurzem als unrecht angesehen wurde, heute, ohne daß
ich über die Gründe Klarheit gewinnen kann, auf einmal wie durch einen
Gewaltakt als Recht hingestellt zu sehen, und so wollte ich Sie bitten,
mir zu sagen, ob ich ein Unrecht begehe, wenn ich die Anerkennung
verweigere?«

Frohwalt senkte seinen Blick vor dem klaren Auge des jungen Mannes, der
mit dieser Frage an seine eigene Seele klopfte, und er fand nicht im
Augenblicke die Antwort; eine kleine Pause trat ein, ehe er erwiderte:

»Mein junger Freund, Sie wenden sich in einer Angelegenheit an mich,
die nicht nur Ihr Gemüt bewegt, sondern deren Beantwortung ich mir
selbst bereits vorgelegt habe. Was jetzt in der Kirche geschieht, ist
wohl geeignet, die Herzen zu verwirren, und ich weiß nicht, ob es nicht
richtig wäre, erst noch eine gewisse Klärung abzuwarten, denn es will
mir dünken, als ob das letzte Wort in dieser Sache noch immer nicht
gesprochen sei.«

»Sie meinen, Herr Doktor, daß ein Teil der Kirchenfürsten ihre frühere
Anschauung wieder aufnehmen und vertreten könnte?«

Frohwalt geriet in Verlegenheit.

»Das meine ich nicht, lieber Vogel. Die Bischöfe haben sich einhellig
unterworfen, daran ist nicht zu zweifeln, aber der Widerstand, welcher
von ganz hervorragenden Theologen und hochangesehenen christlichen
Laien erhoben wird, ist etwas, worüber man doch nicht zur Tagesordnung
ohne weiteres übergehen kann. Es ist kaum glaublich, daß man so kurzer
Hand mit der Ausschließung gegen sie vorgehen wird.«

»Man wird ihnen vielleicht eine gewisse Bedenkzeit geben und dann
wird man auch vor dem letzten Schritte nicht zurückschrecken. Doch
darum handelt es sich für mich nicht. Ich möchte wissen, wie ich mich
zu verhalten habe. Ich bin ja nur ein bescheidenes Glied der Kirche,
und meine Meinung und mein Thun wiegt in der Allgemeinheit nichts,
aber ich möchte nicht vor mir selber erröten müssen, ich möchte mich
selbst achten können, und darum bitte ich Sie inständig: Sagen Sie mir
aufrichtig, ob Sie mit Ihrem christlichen Sinn, mit Ihrem Rechtsgefühl
im Stande sind, sich der Forderung Roms zu unterwerfen?«

Frohwalt that einen tiefen Atemzug. Hier galt es die erste Probe
seines Mutes, und er war sich klar darüber, dieselbe würde Folgen
haben müssen. Hier half auch kein Versteckenspielen und Ausweichen,
der Alumnus vor ihm, der ihm sein Herz seit langer Zeit erschlossen,
hatte das Recht auf eine gerade, ehrliche Antwort, und so antwortete er
bestimmt und fest:

»Nein!«

»Dann erlauben Sie mir nur noch eine Frage. Sie sind Priester, haben
die heiligen Weihen, und da Sie auf dem Boden der letzteren stehen, auf
Grund deren Sie Ihre unvertilgbare Würde erhalten haben, so dürfen Sie
abwarten, was man Ihnen thun werde, und darin liegt wohl mehr Mut, als
mancher vielleicht glauben mag. Ich soll diese Weihe erst erhalten mit
der Verpflichtung auf die neue Glaubenslehre und es hängt von mir ab,
ob ich als ein Heuchler das Priesteramt übernehme oder vorher ehrlich
erkläre, daß meine katholische Ueberzeugung mich die neue Lehre nicht
anerkennen läßt. Würden Sie -- o verzeihen Sie mir die seltsame Frage
-- wenn Sie Alumnus und an meiner Stelle wären, dies Gewand noch weiter
tragen?«

Frohwalt fühlte, wie eine heiße Röte ihm in die Wangen stieg; er
empfand den unausgesprochenen Vorwurf, der in den Worten des Jünglings
lag, die ihm geradezu den Weg zu zeigen schienen, den auch er gehen
mußte, wenn er ehrlich sein wollte, aber Vogel sah ihn an, bang an
seinem Munde hängend, und so sprach er mit gedämpfter Stimme:

»Ich würde es nicht mehr tragen!«

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor! Ihr Wort soll mir gelten, und ich gehe
von hier zum Herrn Seminardirektor, um ihm meinen Austritt anzuzeigen.
Es thut mir leid um meine guten Eltern, die gern einen Priester aus mir
gemacht hätten, aber sie sind einsichtsvoll genug, um mir keinen Zwang
anzuthun. Ich danke Ihnen!«

»Gehen Sie mit Gott, Vogel -- Sie sind ein tüchtiger, ehrlicher
Mensch, und der Himmel wird Sie nicht verlassen. Bewahren Sie mir ein
freundliches Gedenken!«

»Für immer!« sagte der junge Mann herzlich, und drückte warm die ihm
gebotene Hand, und wenige Augenblicke später war Frohwalt allein,
erregter und unruhiger als zuvor. Gab es denn für ihn noch etwas
anderes, als der Jüngling gethan? War es für ihn nicht Pflicht,
gleichviel ob man ihn darum fragte oder nicht, zu erklären, daß sein
Gewissen ihm nicht gestatte, sich der willkürlich geschaffenen Neuerung
zu unterwerfen? War er denn nicht bereits ausgeschlossen, auch wenn es
nicht geradezu ausgesprochen war? Hatte er denn noch ein Recht, die
Messe zu lesen, die Sünden zu vergeben und die andern Sakramente zu
spenden?

Der Seminarist war zu ihm gekommen, um vertrauensvoll sich seinen
Rat zu erbitten, und er war für sich selbst so ratlos, so bange und
unschlüssig. An wen sollte er sich wenden in seiner Bedrängnis? Von den
angesehenen Priestern und den Lehrern der Hochschule gab es, nachdem
auch Meyer sich willig gefügt hatte, keinen, der ihm nicht den Rat
gegeben haben würde, sich der Forderung der Kirche zu unterwerfen ...
dann hatte man ja Ruhe und konnte auf Ehre und Anerkennung rechnen und
sich im schlimmsten Falle, wenn das Gewissen sich rührte, beruhigen
mit dem Worte der Schrift, daß Gehorsam besser sei als Opfer. Nur
eine Persönlichkeit tauchte noch vor seiner Seele auf, die stark und
vorurteilslos genug schien, auf jede Gefahr hin den Weg der eigenen
Ueberzeugung zu wandeln und auch einem andern Gleichgesinnten als
Stütze dienen zu können, und diese war Professor Holbert.

Zu ihm beschloß Frohwalt am nächsten Morgen zu gehen, und dieser
Gedanke gab ihm einigermaßen Ruhe und Fassung wieder. In dieser
Stimmung fiel ihm seit langem einmal das »Laienbrevier« in die Hände,
und er blätterte darin, ohne Bestimmtes zu suchen, und ließ seine Augen
da und dort über einzelne Abschnitte schweifen, bis sie an der Stelle
haften blieben:

    Nimm Thorheit nicht für Weisheit an, _nicht Trug
    Für Wahrheit_! Nie begnüge Dich, o Mensch,
    Wo und wie lange Dir noch eins gebricht;
    _Frei, kühn tritt auf_ und ford're stark das Gute!

Es war ihm, als höre er den Vetter Martin reden, so schlicht und
bündig, treuherzig und gerade. Ja, der Alte, der ihm das Büchlein von
Leopold Schefer einst gegeben, war wohl ein Geistesverwandter des alten
Dichters und hatte damals gewußt, was er that. Er wollte mit diesem
Werkchen immer unsichtbar bei Peter Frohwalt sein, ihn seinen Geist
fühlen lassen, und ihm ein Mahn- und Warnwort in ernster, bewegter
Stunde durch den Mund seines Lieblingspoeten zurufen. Ja, wenn er den
Vetter Martin um Rat fragte, so würde der ihn vielleicht an jene Stunde
in Rom erinnern, da Frohwalt mit einem gewissen Selbstbewußtsein das
Wort Martin Luthers vom Wormser Reichstage gesprochen hatte. Jetzt
gelte es, auch dafür einzustehen, wenn er sich nicht vor dem braven
Alten schämen wollte.

Mit dem Gedanken an diesen begab er sich zur Ruhe und schlief tief und
gut bis an den Morgen.

Als er am Vormittage nach der Zeltnergasse kam zu Professor Holbert,
empfing ihn Therese im Trauergewande, aber freundlich und herzlich.
Sie bedauerte, daß er ihren Vater nicht anträfe, welcher vor einer
Stunde bereits zu Seiner Eminenz dem Cardinal-Erzbischof beschieden
worden sei, und bat Frohwalt, zu warten, da er bald zurückkehren
müsse. Dieser blieb, und so saß er wieder einmal in dem freundlichen
Salon, wo er damals mit Stahl, Severin und Haller zusammengewesen, und
er mußte die Gedanken, welche ihn erfaßten, gewaltsam zurückdrängen.
Mit keiner Silbe wurde des Unseligen gedacht, um so mehr aber sprach
Therese von Frohwalts Mutter und Schwester, die ihr beide so lieb und
wert geworden waren, sowie von seinem Schwager, dem Uhrmacher Freidank,
dessen biederes, schlichtes und bescheidenes Wesen ihr in freundlicher
Erinnerung war, und sie berichtete von ihm manchen kleinen Zug aus
seiner Häuslichkeit und von seinem wahrhaft religiösen Wesen, daß es
Frohwalt beinahe mit leiser Beschämung empfand, daß diese Fremde mehr
und Besseres von seinen eigenen Verwandten wußte, als er selbst.

Indessen befand sich Holbert bei dem Cardinal Schwarzenberg. Dieser
hatte den angesehenen Gelehrten mit jener vornehmen Freundlichkeit
empfangen, die ihn im gesellschaftlichen Umgange auszeichnete, und das
ganze Beisammensein hatte nicht den Charakter einer Audienz, sondern
den eines ungezwungenen Gedankenaustausches, bei welchem der Professor
bald genug die herrschende Stellung gewann.

Die beiden Männer befanden sich im Arbeitszimmer des Kirchenfürsten und
saßen sich hier gegenüber. Das sonst so klare Auge des Cardinals war
heute einigermaßen unruhig, und die Finger der feinen Hand spielten
nervös auf der Lehne seines Sessels. Es war ihm ein gewisses Unbehagen
anzumerken angesichts des bevorstehenden Gesprächs. Er hatte nach der
Begrüßung sofort begonnen:

»Sie vermuten wohl, Herr Professor, weshalb ich Sie zu mir bitten ließ.«

Holbert verneigte sich stumm.

»Ich habe zu meinem aufrichtigen Bedauern vernommen, daß Sie, auch
nachdem der Glaubenssatz von der Unfehlbarkeit von der Kirche allgemein
angenommen worden ist, den Kampf gegen denselben fortsetzen.«

»Eminenz, ich thue nur, wozu mich meine katholische Ueberzeugung und
meine Pflicht als Lehrer des Kirchenrechts nötigen.«

»Ich meine, die höchste Pflicht ist jene gegen die Kirche; sie hat
entschieden, wir Katholiken haben zu gehorchen.«

»Verzeihung, Eminenz, aber es gab noch vor kurzem eine Zeit, da
deutsche Kirchenfürsten ihre höchste Pflicht darin fanden, eine
unbillige und gefährliche Neuerung zu bekämpfen, und seitdem hat sich
nichts in der Begründung der neuen Lehre, wohl aber manches in den
Anschauungen der geistlichen Oberhäupter geändert.«

Die Wangen des Cardinals röteten sich, und eine Sekunde lang senkte
er den Blick vor dem durchdringend klaren Auge, welches ernst auf ihm
ruhte; seine Stimme klang leiser, verschleiert, als er sagte:

»Was ich gethan habe, dafür bin ich nur Gott und Seiner Heiligkeit
Rechenschaft schuldig, und da will ich's verantworten.«

»Ich meine doch auch Ihren Diözesanen, Eminenz, die in Verwirrung sind
durch den Zwiespalt der früheren und der heutigen Anschauung.«

»Sie verkennen die Verhältnisse, Herr Professor. Meine und der meisten
meiner Amtsbrüder Widerstand galt nicht dem neuen Glaubenssatze;
als wir uns darüber äußerten und aus Klugheitsgründen die
Unfehlbarkeitslehre bekämpften, traten wir nicht gegen die Kirche
auf, sondern gegen eine zunächst nur als Meinung hingestellte Sache.
Heute ist das anders. Der heilige Geist hat in der Schlußkongregation
entschieden, die Unfehlbarkeit ist Glaubenssatz geworden, und ich und
andere Kirchenfürsten haben gegen die fertige Lehre kein Recht mehr
anzukämpfen.«

Ein beinahe schmerzliches Lächeln umzog den Mund Holberts:

»Wollen Eure Eminenz mir huldvollst gestatten, daß ich unumwunden und
ehrlich mich äußern darf?«

Der Cardinal nickte und lehnte sich schweigend tiefer in seinen Sessel;
der Professor aber sprach:

»Ich will nicht daran erinnern, daß nach der Abstimmung vom 13.
Juli, in welcher die Mehrheit der in Rom versammelten Kirchenfürsten
den neuen Glaubenssatz bereits als solchen angenommen hatte und der
Meinungsaustausch darüber zu Ende war, eine große Zahl von deutschen
und österreichischen Konzilsvätern, wie die hochwürdigsten Erzbischöfe
und Bischöfe Ketteler, Krementz, Hefele, Rauscher, Fürstenberg,
Förster, Deinlein und auch Eure Eminenz selbst die offizielle
Erklärung dem römischen Stuhl gaben, daß sie nach wie vor Gegner
der Unfehlbarkeit bleiben müßten, weil sie keinen Grund zu finden
vermöchten, der ihnen eine andere Ueberzeugung beibringen könnte -- ich
gestatte mir, nur daran zu gemahnen, daß auch nach dem 18. Juli noch
ein Teil der deutschen Kirchenfürsten und Theologen den Glaubenssatz
verwarfen, dessen Zustandekommen auch vom kirchenrechtlichen
Standpunkte schwer anfechtbar erscheint; ich gestatte mir, daran zu
erinnern, wie einer der gelehrtesten und geistvollsten Kirchenväter,
der hochwürdigste Bischof von Rottenburg, wiederholt in Briefen nach
dem 18. Juli den neuen Glaubenssatz verurteilt hat, wie, abgesehen
von anderen auch Eure Eminenz bei allen wahrhaft gesinnungstüchtigen
Katholiken den Glauben zunächst noch fortleben ließen, daß in Ihrer
Diözese keine verderbliche und verwerfliche Neuerung, der Sie in
innerster Seele selbst nicht zuzustimmen vermögen, verkündet werden
würde. Da kam die Reihe der Enttäuschungen, und sie waren bei
einzelnen Kirchenfürsten ganz besonders hart. Der Erzbischof von
München-Freising, welcher sich über Einzelheiten der neuen Konstitution
bei seiner Rückkehr aus Rom erst von dem gelehrten Stiftspropst
Döllinger unterweisen lassen mußte, hat denselben Döllinger seither aus
der Kirche ausgeschlossen, und der Erzbischof von Köln vermochte den
gelehrten und glaubensfesten Theologen von Bonn zu sagen: ›Wenn der
Papst und ich übereinkommen, können Sie gar nichts einwenden, Sie sind
dann nicht verantwortlich.‹ Das Herz blutet mir und tausend anderen,
Eminenz, wenn wir die fadenscheinigen und unhaltbaren Beweggründe
hören, mit denen eine Anzahl Kirchenfürsten ihre Ueberzeugung nicht
bloß aufgeben, sondern die Gemüter der ihrer Obhut anvertrauten
Christen zu vergewaltigen bemüht sind. Und daß Eure Eminenz nun
gleichfalls der erkannten und so lange tapfer verteidigten Wahrheit
untreu werden, das ist für mich das Allerbitterste. Verzeihung, wenn
mir das Herz mit dem Munde durchgeht! Was aus mir redet, ist die
Verehrung vor dem Kirchenfürsten, der mir allezeit besonders hoch
und wert gegolten, ist die Treue und die Liebe, mit welcher ich an
meinem alten katholischen Bekenntnis hänge, ist der Schmerz, der mich
erfüllt, wenn ich das Beste und Edelste ins Wanken kommen sehe. Es ist
soweit gekommen, daß unsere obersten Hirten nicht mehr den Mut haben,
ihren eigentlichen Glauben zu bekennen, und das wird mit Notwendigkeit
dazu führen, daß Religion und Kirchenherrschaft zuletzt als Eines
angesehen werden. Und wenn das am grünen Holze geschieht, was soll am
dürren werden? Woher soll die Priesterschaft den Mut gewinnen, fest zu
bleiben in der Meinung, die man vordem ihnen als die einzig richtige
hingestellt hat und die nun mit einem Male falsch sein soll? Unrecht
kann nicht im Handumdrehen zum Rechte werden durch ein einfaches
Machtwort. Das hieße, eine Art Faustrecht in der Kirche aufstellen,
welches freilich die Schwachen erdrücken, der Sache der Kirche aber
nichts nützen würde. Es ist ganz sicher, daß tausende von Priestern
jetzt einfach sich ducken, teils weil sie denken, daß es zwecklos ist,
wenn der Einzelne, der Untergebene, Widerstand leistet, teils, weil
sie nicht wissen, was aus ihnen werden soll, wenn sie eventuell vom
Amte entsetzt oder aus der Kirche ausgeschlossen werden: Es ist für
sie eine Brotfrage. O wenn nur eine Anzahl Bischöfe den Mut besäße,
auch jetzt noch in dem berechtigten Widerstande zu verharren, es wäre
nicht möglich, daß Millionen Christen einfach von Rom aus vergewaltigt
würden. Und darum ist meine schlichte, ehrliche Meinung, daß auch Eure
Eminenz nicht bloß das Recht hätten, gegen den neuen Glaubenssatz
anzukämpfen -- sondern noch etwas mehr!«

Cardinal Schwarzenberg hatte mehrmals tiefer geatmet bei den kühnen
Worten, und hatte ab und zu die blitzenden Augen, das von warmer
Empfindung gerötete Antlitz des Professors gestreift; jetzt, da dieser
schwieg und ihn erwartungsvoll ansah, sprach er:

»Ich habe Sie ruhig sprechen lassen, und gebe Ihnen gern zu, daß Sie
mir manche bittere Wahrheit gesagt haben. Ich kann mich auch nicht
darauf einlassen, mit Ihnen darüber zu verhandeln, ich kann nur sagen,
daß ich an die bedenklichen Folgen, welche der Glaubenssatz Ihrer
Meinung nach haben soll, nicht glauben kann. Es wird in der Kirche
nicht anders werden als bisher, nur das Ansehen des Stellvertreters
Christi auf Erden hat gewonnen, und das kann uns nicht schaden.«

»Verzeihung, Eminenz, wenn ich auch darüber mich noch zu hören bitte.
Ich habe die Erklärung der einzelnen Kapitel der neuen Konstitution bei
mir. Gestatten mir Eure Eminenz gnädigst, betreff des dritten Kapitels
den Passus zu zitieren.« -- Holbert suchte rasch in dem Hefte, das er
aus der Brusttasche zog und las:

»Wer daher sagt, der römische Papst habe lediglich das Amt
der Aufsicht oder Führung, nicht aber die volle und höchste
Jurisdiktionsgewalt über die ganze Kirche, nicht nur in Sachen des
Glaubens und der Sitten, sondern auch in Sachen, welche die Disziplin
und die Regierung der über die ganze Erde verbreiteten Kirche
betreffen; oder derselbe besitze nur den bedeutenderen Anteil, nicht
die ganze Fülle dieser höchsten Gewalt; oder diese seine Gewalt sei
keine ordentliche und unmittelbare, sei es nicht über alle und jegliche
Kirchen, oder über alle und jegliche Hirten und Gläubigen: der sei im
Banne!«

»Nun, Eminenz -- das ist doch klar und deutlich gesprochen und heißt,
der Papst hat die volle und höchste Gewalt in Glauben, Sitten,
Disziplin und Kirchenverwaltung. Und diese Gewalt wird bezeichnet als
eine ~ordinaria et immediata~, eine regelmäßige und unmittelbare, und
demnach ist der Papst überhaupt der _alleinige Bischof der gesamten
Kirche_. Ich bitte Euer Eminenz, die Tragweite dieses Gedankens zu
erwägen. Was ist dadurch der einzelne Bischof oder Erzbischof mehr
oder anderes als eine Puppe, die am Draht bewegt wird, wenn der Papst
in jeder Diözese, zu jeder Stunde, nach freiem Belieben Pfarreien
und Präbenden geben und nehmen, die Diözesangrenzen nach Willkür
verschieben, die Diözesanvorschriften nach Gutdünken verändern, den
Bischof selbst nach Belieben des Amtes entsetzen, das Kirchenvermögen
zu seinen persönlichen Zwecken verwenden und vieles andere thun kann,
was die schlimmsten Folgen nach sich ziehen könnte? Wir sind so weit
gekommen, daß wir nicht mehr in der Lage sein sollen, unsere Bischöfe
als vom heiligen Geiste eingesetzt ansehen zu können, da sie nur
noch Geschäftsträger und Vikare des Papstes sind, der ihm mißliebige
Personen beseitigen und sie ohne weiteres durch gefügige und unter
Umständen selbst verworfene Persönlichkeiten ersetzen kann ...«

»Sie malen zu schwarz; so weit wird es nicht kommen, Herr Professor,«
rief der Kirchenfürst erregt, Holbert aber entgegnete:

»Vielleicht nicht so bald, aber die Kirchengeschichte weiß von sehr
verschiedenartigen Stellvertretern Christi zu erzählen, und Gott gnade
der Kirche, wenn unter der Herrschaft des neuen Glaubenssatzes ein
Papst die dreifache Krone trüge, dem es beikäme, in unwürdiger Weise
seine Gewalt zu mißbrauchen.«

»Wir leben nicht mehr im Mittelalter, Herr Professor ... und darum
kann ich mich noch nicht überzeugen, daß der Schaden, welcher durch
gehorsame Annahme der neuen Glaubenslehre möglicherweise erwüchse,
größer wäre, als jener, der bestimmt einträte, wenn wir in dem
Widerstande verharrten.«

»Und welcher Schaden ist das, wenn ich mir die unterthänige Frage
gestatten darf, Eminenz?«

»Daß wir zu einer Kirchenspaltung kommen müßten.«

»Und meinen Eminenz, daß eine solche überhaupt zu vermeiden ist?
-- Ich glaube, sie hat sich bereits vollzogen und wird bald noch
schärfer zu Tage treten. Eine Anzahl geistig hervorragender und durch
Festigkeit und Gläubigkeit ausgezeichneter Katholiken sind sich völlig
klar darüber, daß die Kirche, welche diese ~constitutio dogmatica de
Ecclesia Christi~ annimmt, nicht mehr die katholische Kirche ist,
welche vor dem 18. Juli und seit 1800 Jahren bestand, und diese neue
katholische Kirche ist verkörpert in dem römischen Bischof.«

»Wie« -- fuhr der Kirchenfürst beinahe entsetzt auf -- »demnach halten
Sie uns, mich und die Bischöfe, welche den Glaubenssatz annehmen, für
Abtrünnige?«

»Ich kann nicht anders, Eminenz, denn wer zu der _römisch-päpstlichen_
Kirche sich zählt, die seit dem 18. Juli über dem Satze der
Unfehlbarkeit errichtet ist, gehört nicht mehr zu der _alten
katholischen, apostolischen_ Kirche.«

Der Cardinal war aufgestanden und stand mit erbleichten Wangen vor dem
kühnen Manne, der ihn fest ansah; dann sprach er mit leise bebender
Stimme:

»Ich will dies Wort nicht gehört haben ... ich müßte die Ausschließung
über Sie verhängen -- und das sollte mir leid thun.«

Holberts Wimper zuckte nicht, als er dem Kirchenfürsten ruhig
entgegnete:

»Ich möchte mit dem Marquis Posa, dem Philipp II. mit seinem
Ketzergericht drohte, fragen: ›Wirklich? Sollt' es das?‹ -- Ich muß es
Eurer Eminenz überlassen, zu thun, was Sie für Ihre Pflicht ansehen,
ich aber werde unter allen Umständen den Weg meiner Ueberzeugung gehen.
Was mich einzig leitet, ist die Wahrheit und das Recht, sowie das
Bewußtsein, daß nicht _ich_ es bin, der seinen Glauben gewechselt hat.«

Den Kirchenfürsten schien eine Rührung zu übermannen:

»Wenn Sie wenigstens diese Anschauungen verschließen wollten in Ihrer
Seele ... ich könnte ...«

»Eminenz, das ist Ihr Ernst nicht, daß Sie meinen, ich könnte ein
Heuchler sein! Ich werde mein Amt niederlegen an dieser Hochschule,
aber ich werde mich nicht mundtot machen lassen, wo es die beste,
heiligste Sache gilt. Ich bitte, mich zu entlassen, Eminenz ... ich
vermöchte sonst vielleicht nicht mehr meine Ruhe zu bewahren ...«

Der Cardinal winkte schweigend mit der Hand, und hochaufgerichtet
verließ der Professor nach ehrerbietigem Gruße das Gemach.

Als er nach seiner Wohnung zurückkehrte -- er hatte sich vom Hradschin
herab eines Wagens bedient -- leuchtete sein Gesicht wie von innerer
Freudigkeit, und so trat er Frohwalt entgegen.

»Wollen Sie mir noch Ihre Hand geben? Ich bin so gut wie aus der Kirche
ausgeschlossen,« sagte er ruhig.

Der junge Priester lächelte schmerzlich, aber er streckte seine Rechte
aus und drückte jene des anderen fest und herzlich.

»Ich glaube, ich habe Sie verstanden, lieber Freund!« sprach Holbert
mild, »und wenn ich recht ahne, führt Sie dasselbe zu mir, was mich
veranlaßt hat, vor den Cardinal zu treten. Kommen Sie! Liebes Kind, Du
läßt uns wohl allein!«

Therese war bereits im Begriffe gewesen, sich zu entfernen; sie empfahl
sich nun mit Herzlichkeit, und gleich darauf saßen die beiden Männer
vertraulich Seite an Seite. Und nun öffnete Frohwalt dem Professor
sein ganzes Herz, den Einblick in den bittern Kampf, welchen er
kämpfte zwischen der Ueberzeugung und der Forderung des Gehorsams
gegen die Kirche; er verhehlte ihm nicht die Zweifel, die ihm noch
manchmal kamen, ob es nicht doch ein Unrecht sei, in dem Widerstande
zu verharren, wenn alle Kirchenfürsten sich beugten, und verschwieg
auch nicht die Besorgnis, was mit ihm werden solle, wenn er vom Amte
enthoben würde.

Holbert hatte ihn ruhig aussprechen lassen. Als er schwieg, sah er ihm
mit milder Freundlichkeit ins Gesicht und sprach:

»Ich habe diese Stunde kommen sehen, mein lieber Freund, weil ich seit
langem Sie als eine im innersten Kerne tüchtige und wahre Natur kenne
und schätze, und ich bin überzeugt, daß Sie auch ohne mich den einzig
wahren Weg in diesem Wirrsal finden und ihn gehen würden. Was gegen
den neuen Glaubenssatz gesprochen hat und heute noch ebenso dagegen
spricht, wissen Sie so gut wie ich. Daß sich aber unsere Kirchenfürsten
und Theologen jetzt schweigend unterwerfen, ist kein Beispiel, das zur
Nachahmung verpflichtet. Im Gegenteil, wenn Tausende feige werden,
gewinnt der Mut des Einzelnen erst an Wert und Gewicht. Der neue
Glaubenssatz stellt die ausschließliche, rücksichtslose Herrschaft des
Papstes über Fürsten und Völker als eine Lehre der Kirche hin. Das kann
kein wahrer Katholik, das kann überhaupt kein vernünftig und klar
Denkender annehmen; wer aber diese Lehre vom 18. Juli als Glaubenssatz
äußerlich annimmt und glaubt, oder gar, wer sie bloß äußerlich annimmt
und nicht glaubt, der verliert allen Anspruch auf die Achtung der
andern, sowie auf seine Selbstachtung, denn er belügt sich und andere
und ist ein Heuchler. So und nicht anders liegt die Sache, und zum
Heuchler haben Sie so wenig das Zeug wie ich. Darum thun Sie mit Gott,
was Ihrem Wesen entspricht, und geben Sie der Wahrheit die Ehre;
was daraus folgt, das überlassen Sie dem Himmel, er wird Sie nicht
verlassen, und bei Ihren Kenntnissen und Ihrem Charakter brauchen Sie
nicht um die Zukunft bange zu sein.«

Wiederum drückte Frohwalt warm und innig die Hand des andern:

»Ich danke Ihnen herzlich, Herr Professor, für Ihre Anerkennung
meines Wesens und Charakters, sowie für Ihre freundschaftlichen Worte
überhaupt, und Sie dürfen überzeugt sein, daß ich nichts thun werde,
dessen ich mich vor Ihnen und vor mir selbst schämen müßte. Doch
gestatten Sie mir noch eine Frage: Wie denken Sie sich das Verhältnis
derer, die um ihres Mutes willen hinausgedrängt werden aus der Kirche?«

»Eigentlich ist diese Ausdrucksweise nicht die richtige, denn wir,
Sie, ich und alle, die gleich uns denken, stehen auf dem alten,
einzig wahren Boden der Kirche, aus welcher alle jene sich selbst
ausscheiden, die diese Neuerung als Glaubenssatz annehmen. Und was
mit uns geschehen soll? Nun, wir Katholiken, welche der alten,
staatsrechtlich anerkannten katholischen Kirche treu bleiben und an ihr
festhalten wollen, wir werden den Staat angehen um seinen Schutz und
ihn um Durchführung unserer im Staatsgesetze von selbst anerkannten
kirchlichen Rechte bitten. Es handelt sich doch nur darum, daß wir
alten, echten Katholiken in unserem Rechte als katholische Priester
und Laien nach der anerkannten Lehre und Verfassung der Katholiken
leben zu können, geschützt werden; wir bitten um Schutz für die
treuen Priester und Pfarrer, die etwa durch Vergewaltigung vertrieben
worden sind, um Schutz für die Vornahme aller kirchlichen Akte durch
dieselben, welche nach den Gesetzen staatliche Bedeutung haben,
wie Taufe, Eheschließung und Begräbnis, um Schutz für öffentliche
Religionsübung und für Religionsunterricht in der bisher anerkannten
Lehre und Aehnliches.«

»Und meinen Sie, daß der Staat darauf eingehen werde?«

»Das glaube ich allerdings, und wenn man auch in Oesterreich, dem Hort
des Katholizismus, anfänglich vielleicht Schwierigkeiten macht, so wird
in Deutschland der Boden für das gute Alte zuerst bereitet werden und
Oesterreich wird sich demselben nicht verschließen können.«

»Das würde allerdings zu einer Spaltung führen von Alt- und
Neukatholizismus.«

»Das wird es, und die Spaltung ist bereits da, aber die Altkatholiken
haben sich dabei keine Schuld zuzumessen.«

Frohwalt erhob sich, ihn erfaßte mit einmal eine ganz besondere
Erregung.

»Wie es sich auch gestalte, ich bleibe bei der erkannten Wahrheit, und
werde nicht länger auch nur den Schein fortleben lassen, als beugte
ich mich, oder als fehlte mir der Mut des wahren Bekenntnisses. Ihrer
Freundschaft halte ich mich versichert.«

»Für alle Zeit!« entgegnete Holbert warm, und mit einem innigen
Händedrucke schieden die beiden Männer.

Raschen Schrittes ging Frohwalt durch die Straßen nach dem Seminar;
er wollte auch keine Stunde länger zögern und unmittelbar zu seinem
Vorgesetzten, dem Direktor, sich begeben, um ihm mitzuteilen, daß es
gegen sein Gewissen sei, die neue Lehre anzuerkennen und daß er bereit
sei, alle Folgen dafür zu tragen.

Der Himmel aber schien ihm seinen Schritt noch erleichtern zu wollen.
Um seine Mutter war ihm dabei besonders leid gewesen, die für das,
was in ihm vorging, kein volles Verständnis würde gewinnen können,
und die, nur nach dem Aeußern urteilend, entsetzt sein würde über
eine Ausschließung des Sohnes aus der nach ihrer schlichten Meinung
alleinseligmachenden römischen Kirchengemeinschaft. Das sollte der
alten Frau erspart bleiben.

Unter dem Thore des Klementinums traf Frohwalt den Telegraphenboten,
der ihm eine Depesche überreichte. Er erbrach sie hastig und las:

    »Mutter sehr schwach. Komme so bald als möglich.

            _Marie._«

Da war keine Zeit, um anderes zu erörtern. Wohl ging er zu dem
Seminardirektor, aber nur, um sich einen sofortigen Urlaub zu erbitten,
und noch in der Nacht traf er in der Heimat ein.

Das kleine Städtchen lag in tiefem Schlummer, als er mit dem Wagen,
den er auf der letzten Station gemietet, durch das alte Thor einfuhr.
Mit der Hast der geängstigten Liebe betrat er das freundliche, traute
Heimatshaus, zu dessen Fenster ein müder Lichtglanz herausschimmerte.
Er wußte, daß hinter jenen Scheiben die alte Frau lag, die sich wohl
zum letzten Male nach dem Sohne sehnte, und sein Herz schlug ihm mit
einmal bange zum Zerspringen.

Er trat ein in das Stübchen und der Lichtschimmer zeigte ihm die
Gesichter des Uhrmachers Freidank und seines Weibes, die rechts und
links von dem Lager saßen, auf welchem Frau Frohwalt gebettet lag.

Die Kranke hatte in all ihrer Schwäche, in ihrer halben Bewußtlosigkeit
doch das Rollen des Wagens gehört und versucht, sich zu erheben.
Aber die Schwäche übermannte sie, so daß sie mit geschlossenen Augen
zurücksank, doch mit einem Lächeln um die Lippen. Mit wenigen
Schritten war der Sohn bei dem Bette der Mutter, und als ob die alte
Frau seine Nähe empfände, öffnete sie wieder die Augen, weit und hell,
und mit aufflackernder Kraft streckte sie dem Geliebten die Arme
entgegen.

Frohwalt aber war niedergesunken an dem Lager und küßte die welken,
erkaltenden Hände, die seinen Lippen sich entzogen und sich jetzt
liebkosend auf sein Haupt legten; der Mund der Kranken aber flüsterte:

»Gott sei Dank, daß ich Dich noch einmal sehe, nun sterb' ich gerne.
Du wirst für mich beten ... ich geh' zum Vater. Und habe Marie lieb
und Freidank -- -- er hat mich gepflegt und gehalten, wie ein Sohn ...
hörst Du, Peter?«

Dieser erhob sich und streckte seinem Schwager die Arme entgegen, und
stumm hielten sich die beiden Männer umschlungen, während Marie mit
gefalteten Händen daneben stand, und die Augen der Kranken seltsam hell
glänzten.

»Dank -- Dank!« flüsterte sie wieder -- »und nun ... schlafen ...
schlafen ...«

Frohwalt zog rasch auch die Schwester an sein Herz und küßte sie, dann
aber setzte er sich an das Lager der alten Frau und hielt ihre Rechte
in seinen Händen. Und so schlief sie, ruhig lächelnd, immer leiser
atmend, bis mit dem Morgen kein Hauch mehr die Brust hob.

Als der erste Sonnenstrahl in das Fenster fiel, standen die Drei um
die bleiche Tote her, und Frohwalt betete in ergreifender Andacht
ein Vaterunser, und machte über die erkaltende Stirn das Zeichen des
Kreuzes. Die geweihte Kerze, welche angezündet worden war, wurde
verlöscht, und der junge Priester sagte:

»Freidank, meine Mutter hat Sie ihren Sohn genannt ... lassen Sie uns
Brüder sein! Ich weiß, daß ich an Ihnen gut zu machen habe!«

Der Uhrmacher hatte trotz der Trauer Augen, die von innerem Glück
leuchteten; er zog sein leise weinendes Weib an sich und sprach:

»Nein, wir sind nicht schlechte Menschen, und unser Glaube ist auch ein
guter Glaube. Darum hoffen wir auch, einmal mit der lieben Toten hier
wieder vereint zu werden.«

»Das hoffe ich auch,« sagte Frohwalt ... »und nun laßt uns eine Stunde
ruhen, ehe wir an die weiteren Pflichten für unsere Mutter denken.«

Drei Tage später wurde die alte Frau begraben unter allgemeiner
Beteiligung des ganzen Städtchens. Hinter dem Sarge ging zwischen
dem Gatten und dem Bruder Marie, unmittelbar hinter dem Pfarrer,
~P.~ Ignaz; der sah finster und mürrisch drein, und als auf dem
Gottesacker auch die beiden evangelischen Leidtragenden ihre Schaufel
Erde hinunterrollen ließen auf den schlichten Sarg, war es ihm, als
müsse er sie hinwegstoßen von der geweihten Scholle, aber das ernste
Auge Frohwalts, das auf ihm ruhte, schien ihn einzuschüchtern: Seit
der Beerdigung Hallers hatte er nicht mehr völlig jene Energie des
Fanatismus wie vorher.

Als am andern Morgen die Seelenmessen für die Verstorbene in der
Kirche gelesen wurden, hatten sich auf Veranlassung Frohwalts Freidank
und seine Frau wiederum eingefunden, aber sie saßen ganz hinten im
Halbdunkel unter dem Chor und beteten dort still für das Seelenheil
der Heimgegangenen, während Frohwalt selbst mit dem trauerfarbigen
Meßgewande angethan am Hauptaltare den Totengottesdienst abhielt. Die
Messe, welche er für seine Mutter darbrachte, sollte die letzte sein,
welche er in seinem Leben las, und andachtsvoller hatte er wohl auch
selten eine celebriert.

[Illustration: Dekoration]



[Illustration: Dekoration]

Einundzwanzigstes Kapitel.


Der Frühling des Jahres 1871 war gekommen. Das gewaltige Kriegsspiel
in Frankreich hatte sein Ende erreicht, mit Blut und Eisen
war die Einigung Deutschlands vollzogen und die alte deutsche
Kaiserherrlichkeit wieder erneut worden. Ueber tausend Heldengräbern im
welschen Land grünte und blühte es, und wie ein echter Friedensherold
zog der junge Lenz durch die Welt. Auch in dem kleinen Landstädtchen in
Böhmen hatte er seinen Einzug gehalten und hatte die Bäume in Vetter
Martins Garten mit seiner ganzen blühenden Herrlichkeit überschüttet.
Darunter ging an einem besonders schönen Morgen der alte Herr langsam
auf und nieder: Der Wandertrieb begann sich zu regen, und in seiner
Seele erwog er verschiedene Pläne. Er wäre schon lange wieder in der
weiten Welt gewesen, wenn er nicht um Peter Frohwalts willen daheim
geblieben wäre, denn der junge Priester befand sich seit etwa einem
halben Jahre in seiner Vaterstadt, ohne zunächst noch recht zu wissen,
was mit ihm werden solle.

Er hatte seinem Gewissen gemäß sogleich nach dem Tode der Mutter seine
Stellung zu dem neuen Glaubenssatze ehrlich vor seinen Vorgesetzten
ausgesprochen, die sich vergebens bemühten, ihn zur Annahme der
päpstlichen Unfehlbarkeit zu bewegen. Aber man liebte und achtete ihn,
vielleicht gerade wegen seines ehrlichen Mutes, und wollte nicht mit
den strengsten Mitteln gegen ihn vorgehen; darum ward er von seinem
Amte und allen priesterlichen Thätigkeiten vorübergehend enthoben und
ihm eine halbjährige Frist gestellt, nach deren Ablauf er erklären
solle, ob er geneigt sei, sich zu unterwerfen.

Er wollte und konnte diese Zeit nicht in Prag zubringen, und darum
begab er sich nach der Heimat, obwohl er wußte, daß der kleinliche
Klatsch sich hier an seine Fersen heften und daß vor allem Pater Ignaz
alles thun werde, um ihn in hämischer Weise zu verunglimpfen. Aber das
konnte ihn nicht anfechten. Er hatte die beste Stütze in seinem guten
Bewußtsein und eine andere, ganz vortreffliche in dem Vetter Martin,
der sein ganzes Verhalten in dieser Sache völlig billigte und in
gewisser Hinsicht sein Schicksal teilte, indem er sich auch als einen
nicht mehr vollgültigen Katholiken ansah.

Frohwalt wohnte im elterlichen Hause, welches von Freidank, der sein
kleines Besitztum veräußert hatte, bezogen worden war, und da er auf
jeden Anteil an dem väterlichen Erbe zu gunsten der Schwester und
ihres Kindes verzichtet hatte, ließen es sich der Uhrmacher und seine
Frau nicht nehmen, ihn auf das Beste zu pflegen. So hatte er jetzt im
täglichen Verkehr erst recht Gelegenheit, das ganze prächtige Wesen,
die schlichte Herzlichkeit und die wahre Frömmigkeit seines Schwagers
zu beobachten. Er sah unmittelbar vor sich das Bild einer anmutigen,
auf den schönsten sittlichen Grundlagen ruhenden Häuslichkeit, mit
welcher ganz sichtbarlich auch der Segen des Himmels verbunden war,
und manchmal wollte es ihn beinahe wie Rührung erfassen, wenn er Zeuge
war, wie Freidank und seine Schwester ihre Kinder beten lehrten für
Tote und Lebende, auch für ihn. Er dachte beinahe nicht mehr daran, daß
es »Evangelische« waren, mit denen er verkehrte, und aus deren kleinem
Kreise ein schöner Hauch echten und duldsamen Christentums ihn anwehte:
Nein, eine kirchliche Lehre, die solche Bekenner hat, ist keine
ketzerische, gotteslästerliche und verwerfliche -- das war ihm völlig
klar.

Um nicht müßig zu sein, beschäftigte er sich mit historischen und
kirchenrechtlichen Studien, schrieb Aufsätze für verschiedene
angesehene Blätter, die ihn mit ihrem Honorar in den Stand setzten,
nicht ausschließlich auf Kosten seiner Verwandten leben zu müssen, und
beschäftigte sich auch mit einem größeren wissenschaftlichen Werke,
wobei ihn Professor Holbert in eingehender Weise unterstützte.

Außer mit Vetter Martin verkehrte er sonst beinahe mit niemandem
im Städtchen; bei diesem aber sprach er täglich ein Stündchen
wenigstens vor, oder machte wohl auch ab und zu mit ihm einen längeren
Spaziergang, und eben, weil der Alte wußte, was er ihm just in dieser
Zeit war, hatte er sein Wandergelüst unterdrückt, aber Sonnenschein und
Frühlingsluft, blauer Himmel und blühende Welt hatten es ihm einmal
angethan und zogen ihn auch jetzt mächtiger als je ins Weite.

Er schob seine Mütze bald hinaus aus der Stirn, bald zog er sie herein,
er schnupperte förmlich nach der Lenzesluft und that immer wieder ein
paar tiefere Atemzüge ... da kam der Postbote an den Gartenzaun und
reichte einen Brief herüber. Martin kannte die Handschrift, er war von
Heinrich Quandt; darum öffnete er das Schreiben mit Behagen und las:


        »Alter lieber Freund und Wandervogel!

    Da sitze ich seit drei Tagen mit Fritzel auf meinem oder
    richtiger meiner Schwiegereltern Landsitz und freue mich an
    den Blüten, die der Frühling auch im Erzgebirge hervorgelockt
    hat, und denke mir, wie hübsch es wäre, Sie einmal hier zu
    haben auf ein paar Tage. Wir haben seit Rom nicht viel von
    einander gehört, was aber nur beweist, daß wir alle beide
    saumselige Briefschreiber sind, im Herzen aber haben wir uns
    wohl gegenseitig bewahrt -- ich wenigstens kann für meinen
    Teil gutstehen. Wandern müssen Sie doch einmal, wie ich Sie
    kenne, also holen Sie frisch den Knotenstock und brechen Sie
    auf ins Erzgebirge -- so schön und blütenfrisch bekommen sie's
    nicht gleich wieder zu sehen. Und noch eins will ich Ihnen
    verraten. Hier in Ehrenberg sitzt noch einer, der vor Sehnsucht
    nach seinem Vetter Martin bald vergeht -- das ist unser Held
    Stahl. Der arme Teufel hat -- wie Ihnen ja bekannt ist -- stark
    Blut lassen müssen fürs liebe Vaterland. Der linke Arm liegt
    noch in der Binde und wird wohl nicht mehr ganz dienstfähig
    werden, aber die Wunde, die ihm der Granatsplitter in die Brust
    gerissen, ist ziemlich verheilt. Er selbst ist frisch und
    lebenslustig, und Fritzel, die den lieben Genesenden eigentlich
    hierhergelockt hat, geht mit ihm um, daß ich auf den Ritter des
    eisernen Kreuzes -- und das ist er, wie Sie vielleicht nicht
    wissen -- mitunter beinahe eifersüchtig werde. Was macht Herr
    ~Dr.~ Frohwalt? -- -- Es waren doch hübsche Tage damals in Rom,
    und wir sähen ihn fürs Leben gern auch einmal wieder. Wenn Sie
    Gelegenheit haben, grüßen Sie ihn herzlich von uns. Aber daß
    ich das Interessanteste nicht vergesse. Denken Sie, der gute
    Prälat Parelli hat in seinem Testamente seine Schützlinge nicht
    vergessen, und vor kurzem ist auf dem gehörigen Instanzenwege
    die Nachricht eingetroffen, daß er sowohl Sisto als Hans Stahl
    je 5000 Scudi (d. i. 20000 Mark) zu ihrer künstlerischen
    Ausbildung übermacht habe. Er hat doch ein prächtiges Herz
    gehabt, dieser Monsignore. Hans Stahls weitere Künstlerlaufbahn
    war zwar durch die Versöhnung mit seinem Vater gesichert,
    aber der Zuschuß ist nicht zu verachten, und für Sisto soll
    er nutzbringend bis zu seiner Großjährigkeit angelegt werden.
    Der Junge macht übrigens wunderbare Fortschritte und seinen
    »Eltern« große Freude. Am liebsten hätte ihn Fritzel mit
    hier -- aber das geht denn doch nicht, er darf nicht so ohne
    weiteres von seinem Meister weggenommen werden, bei dem er
    trefflich aufgehoben ist. Der Junge spricht schon ein ganz
    niedliches Deutsch und wächst sich, wie ich mit Vaterstolz
    sagen kann, zu einem wahren Adonis aus, der den Dresdner
    Mädchen einmal gefährlich werden kann.

    Doch genug! Vieles andere mündlich -- denn daß Sie nun doch
    kommen, zumal ich Stahl gern mit Ihnen überraschen möchte,
    nehme ich fest und entschieden an. Also auf Wiedersehen in
    Ehrenberg! Mit vielen Grüßen auch von Fritzel

            Ihr alter treuer Freund Heinrich Quandt.«

Vetter Martin faltete das Schreiben zusammen, und war nahe daran, einen
Luftsprung zu machen vor Vergnügen, aber er besann sich, daß er sich
in seinem Garten so gut wie auf offener Straße befand, und so begnügte
er sich, ein paar Mal kräftig mit den Fingern zu schnalzen und im
Weitergehen vor sich hinzubrummen:

»Was doch für wunderliche Dinge auf diesem Planeten passieren! Mein
Lausitzer Windhund ist Ritter geworden und erbt ein kleines Vermögen
-- das ist doch, um sich in die Nase zu beißen! Aber es steckt was in
dem Bengel, das habe ich herausgewittert, schon als ich ihn zum ersten
Male unter den toten Juden sein Süßholz raspeln hörte ... Freilich! Wo
werde ich denn jetzt hier sitzen bleiben können, das ist ja der reine
Fingerzeig des Himmels, und -- holla, das ist das Allerhübscheste!
-- Peter Frohwalt muß mit, das ist _meine_ Ueberraschung! -- Ach,
Hochwürden, das trifft sich gut, Nachrichten von Hans Stahl!«

Martin hatte am Gartenzaune den Kapuzinerpater Severin vorübergehen
sehen und eilte ihm entgegen. Der junge Mönch war auf den Anruf einen
Augenblick stehen geblieben, und über sein bleiches Gesicht flog eine
Röte, als er durch das Gitterthor eintrat, und dem alten Herrn die Hand
reichte.

Severin war seit dem Tode Hallers einigermaßen verändert; sein Aussehen
war leidend, und die Blässe seiner Wangen trat im Gegensatze zu dem
dunklen Vollbart noch mehr hervor, aber was ihn eigentlich quälte,
wußte niemand. Seit er Therese in jener furchtbaren Stunde einen
Augenblick an seinem Herzen und in seinem Arme gefühlt hatte, hatte
es ihn wie mit verzehrender Unruhe erfaßt, und schwerer als zuvor rang
er mit sich selbst. Sie war ja wieder frei und er ahnte es, Hans Stahl
werde sie nun gewinnen, er aber werde zum zweiten Male entsagen, und
diesmal fiel es ihm schwerer als zuvor.

Der Alte teilte ihm mit, was er von dem jungen Lausitzer erfahren
hatte, und daß er ihn aufsuchen wolle, und um die Lippen des Kapuziners
flog ein beinahe schmerzliches Lächeln, da er sagte:

»Ich gönne ihm alles von Herzen! Er hat viel Glück: Ruhm, Reichtum und
... was er sonst wünscht, wird ihm zuteil -- --«

»Ach, Sie meinen Therese Haller?«

»Ich habe ihm seinerzeit geschrieben von dem Vorkommnis, durch welches
Frau Haller Witwe wurde, und seine Antwort aus dem Feldlager war wie
ein Aufjubeln des Herzens, voll Siegeszuversicht.«

»Na, wenn's der Himmel fügt, so sollte mich auch das für ihn freuen!«
sprach Martin, und wehmütig nickte der junge Mönch dazu.

Dann gingen die zwei unter den blühenden Bäumen hin und redeten noch
Manches von dem gemeinsamen Freunde. Eben als Severin sich entfernen
wollte, kam aber Peter Frohwalt. Auch er war blaß, aber seine Augen
schauten hell und friedlich drein; er trug nicht mehr das Abzeichen des
Priesters, das Collare, um den Hals.

»So ist's recht,« -- rief ihm Martin entgegen -- »Drei gehören zu einem
Kollegium! Auch für Dich habe ich interessante Nachrichten.«

»Und Sie gehen, da ich komme,« sagte Frohwalt freundlich zu dem
Kapuziner -- »ich kann es Ihnen nicht übel nehmen!«

Das Gesicht Severins rötete sich plötzlich:

»Womit habe ich es verdient, Herr Doktor, daß Sie mir so wehe thun?
-- Ich weiß, was Sie sagen wollen mit Ihren Worten, aber glauben Sie
mir, daß ich mich nicht scheue, mit Ihnen zu verkehren, sondern im
Gegenteil, es stets und unter allen Umständen für eine Ehre ansehe, in
Ihrer Gesellschaft sein zu dürfen.«

»Auch wenn vielleicht nächsten Sonntag schon der Herr Pfarrer
triumphierend von der Kanzel herab meine Ausschließung aus der Kirche
verkündet?«

»Oho,« -- rief Martin -- »so weit ist's doch noch nicht?«

»Doch,« entgegnete Frohwalt mit ruhigem Lächeln; »die Bedenkzeit, die
man mir für meine mögliche Unterwerfung gelassen hat, ist vorüber, und
ich habe eben jetzt meine bündige Erklärung nach Prag abgehen lassen,
daß ich meine ehrliche Ueberzeugung unter keinen Umständen opfern
werde, folge daraus was immer!«

»Das ist brav, und darauf darfst Du stolz sein, Peter!« sagte der
Alte, indem er kraftvoll dem jungen Manne die Hand drückte, zur
selben Zeit aber hatte auch Severin diesem seine Rechte schweigend
entgegengestreckt, und verwundert sah ihn Frohwalt an.

»Ja, ja, Herr Doktor, 's ist mir voller Ernst,« sagte der Kapuziner
wehmütig -- »ich verstehe Sie völlig, aber verachten Sie mich nicht,
wenn ich Ihrem Wege nicht folgen kann. Sie sind ein Adler, ich bin
ein Sperling. Für Ihren reichen Geist steht die ganze Welt offen, ich
würde zu Grunde gehen, wenn ich nicht den schützenden Hafen meines
Klösterchens hätte. Was sollte ich anfangen, wenn ich heute die
braune Kutte auszöge ... und meine Eltern würden verzweifeln. Darum
schweige ich und bücke mich, und überlasse es denen, die mein Gewissen
belasten, auch einen Teil der Verantwortung dafür vor Gott zu tragen.
Mein Gelübde heischt Gehorsam. Mir geht es wie Tausenden, denen der
Mut fehlt, weil sie weder das Vermögen, noch die geistigen Mittel
haben, sich gegen die Gewalt auflehnen zu können. Seien Sie mir darum
nicht böse. Und grüßen Sie Hans Stahl, Herr Martin ... er soll recht
glücklich werden.«

Zusammengebeugt, wie ein gebrochener, müder Mensch, wankte Severin
fort, und die beiden anderen sahen ihm bewegt nach.

»Wie sagt der Bruder Martin im »Götz«?« sprach endlich der Alte; --
»das Gefühl seines Standes frißt ihm das Herz.«

»Schade um ihn!« fügte Frohwalt mit aufrichtigem Bedauern bei.

Jetzt kam Martin auf seinen Brief zu sprechen; er ließ seinen Besuch
ihn lesen und dann bemerkte er:

»Und weißt Du was, Peter? -- Wir schnüren unsere Ränzchen und
marschieren morgen ab, geradewegs nach dem Erzgebirge und nach dem
kleinen Neste, wo unsere römischen Freunde hausen. Hier wird der Boden
ohnedies etwas zu warm für Dich werden, denn daß Dein Freund, der
Pfarrer, kräftig einheizt, darauf kannst Du Dich verlassen. Und mir
juckt's schon den ganzen Morgen so wunderlich in den Beinen, daß ich
zum Städtele hinaus _muß_. Also, wie steht's?«

»Ja, lieber Vetter Martin -- zum Reisen gehört Geld!«

»Das haben wir, Peter! Wie Fürsten reisen wir freilich nicht, eher wie
fahrende Schüler, aber das ist bei weitem vergnüglicher, und dafür
reichen meine Mittel für uns zwei sehr anständig aus. Was mein ist, ist
Dein -- das ist doch selbstverständlich, und wenn Du etwa eine andere
Meinung haben solltest, so sprich sie aus, aber sei gewärtig, daß ich
Dich aus meinem Besitztum hinauswerfe und jede diplomatische Beziehung
zu Dir abbreche.«

»Na gut denn, Du lieber, närrischer Vetter, -- und wenn Du mit einem
aus der Kirche Ausgeschlossenen Dich zu wandern getraust ohne Schaden
für Dein leibliches und seelisches Heil -- --«

»Sei ganz ruhig, Peter! Wenn sie erst Dich herausthun aus der Kirche,
dann können sie's bei mir gleich mit besorgen, das will ich dem Pfarrer
schriftlich geben!«

»Dann ist's recht -- und morgen wandern wir!«

»Topp!« sagte Martin, und unbekümmert um die Nähe der Gasse schleuderte
er seine Mütze hoch in die Luft und fing sie wieder auf, wie ein
lustiger Knabe, für den die Ferien gekommen sind, und dem eine goldene
Zeit der Freiheit winkt.

Am andern Morgen, als es noch recht ruhig war im Städtchen, aber der
Sonnenschein schon über den Dächern lachte, zogen zwei Wanderer zum
Thore hinaus. Ueber ihnen blauer, weitgespannter Himmel, unter ihnen
noch leicht wogender Nebel, und wo sie gingen zur Rechten und zur
Linken ein Glänzen und Blühen. Die ersten Lerchen stiegen empor in die
klare Luft, aufjauchzend aus den kleinen Kehlen, und die Brust wurde
den Beiden weit und froh, so daß sie erst eine gute Weile schweigend
ausschritten, bis der Vetter Martin endlich sein Morgenpfeifchen
anzündete, und nun begann er redselig zu werden.

So kamen sie nach Burgdorf, der kleinen evangelischen Gemeinde, und
das Dorf machte im Morgensonnenschein einen besonders freundlichen und
sauberen Eindruck.

Als sie an dem schlichten Pfarrhause vorüberkamen, in dessen Gärtchen
alles in frischer Blüte stand, sahen sie den jungen Pfarrer mit
seiner Frau unter den Bäumen auf- und abschreiten, und Frohwalt
erinnerte sich, dies Bild beinahe ebenso schon früher einmal gesehen
zu haben. Heute sah er es mit ganz anderen Augen an: Jeder Hauch von
Feindseligkeit war aus seinem Herzen geschwunden, und er empfand eine
Art reiner Freude über diese trauliche Häuslichkeit und das freundliche
Familienleben in diesem Pfarrhause, das einen bedeutsamen Gegensatz
bildete zu dem, was er in Nedamitz und im Hause Parellis in Rom
geschaut und erlebt hatte.

Die beiden Wanderer ließen sich Zeit und genossen die Schönheit
der Gotteswelt in vollen Zügen; Frohwalt aber schien es, als ob er
nie so sonnige, herrliche Tage durchlebt hätte, und wenn er gemeint
hatte, Vetter Martin völlig zu kennen, so wurde er jetzt eines Besseren
belehrt, denn auf der Wanderung gab sich der Alte erst ganz, wie er
war, mit seinem reichsten Humor, mit seinen wärmsten Empfindungen, mit
seinem für alles Schöne und Gute empfänglichen Herzen.

An einem Nachmittage trafen sie in Ehrenberg ein. Es war ein ziemlich
großes, freundliches Dorf, das im Grün der Gärten in einer Thalsenkung
des Erzgebirges lag. Die Gegend schien fruchtbar und wohlhabend,
und war von landschaftlicher Anmut, wie der Gegensatz von grünem,
flußdurchzogenem Thal und in der Ferne blauenden Bergen sie bot.
Der Kirchturm war für unsere Freunde der Wegweiser; in der Nähe des
Gotteshauses mußte sich die Pfarrei befinden.

Und sie täuschten sich nicht. Ein Knabe hatte sie zurecht gewiesen, und
so traten sie in den Pfarrhof ein. Hier aber war es Frohwalt, als sehe
er jenes freundliche Bild in Wirklichkeit vor sich, das er in Quandts
Skizzenmappe in Rom erblickt hatte. Da war das alte, breitbehäbige Haus
von Holzfachwerk mit dem der Straße zugewendeten stattlichen Giebel und
davor die prächtige Linde mit ihrem jungen, noch nicht voll entfalteten
Grün. Auf der Holzbank darunter aber saßen der Maler mit seiner Frau
und mit Hans Stahl, und sahen zu, wie ein prächtiges, blühendes Mädchen
die lustig um sie flatternden Tauben fütterte.

Aber die Ankömmlinge hatten nicht Zeit, das Bild zu genießen mit seiner
traulichen Anmut, denn Heinrich Quandt hatte sie schon gesehen.

[Illustration: »Der Vetter Martin! Doktor Frohwalt!« klang es, dann
eilten die drei von der Linde her ... (S. 433.)]

»Der Vetter Martin! Doktor Frohwalt!« klang es, dann eilten die drei
von der Linde her, und das junge Mädchen ließ die goldenen Weizenkörner
achtlos aus der Schürze rollen unter das durch die Bewegung der
Menschen gleichfalls erregtere Taubenvolk. Dann fanden sich die Hände
im warmen, herzlichen Drucke, und Begrüßungsworte gingen hin und her.
Martin aber hielt seinen »Lausitzer Windhund« wie einen Sohn in den
Armen, und sah ihm dann ins Gesicht:

»Potz Respekt, Herr Ritter des eisernen Kreuzes!« sagte er bewegt, und
dann fuhr er liebkosend über den verwundeten Arm, der noch in der Binde
lag.

Heinrich Quandt aber rief dem Mädchen zu: »Trudchen, komm her!« und
zum Giebelfenster hinauf: »Papa, Mama, unsere römischen Freunde sind
gekommen!«

Aus dem Fenster beugte sich einen Augenblick ein von weißschimmernden
Haaren umwobenes freundliches Gesicht und eine sonore Stimme rief:

»Herzlich willkommen! Wir sind gleich bei Euch!«

Und eben als die andern in den breiten Flur des Hauses traten, kamen
der Pfarrer und seine Frau die Treppe herab, ein hübsches, altes
Paar, dem Herzlichkeit und Gutmütigkeit aus den Augen leuchtete. Sie
begrüßten die beiden Ankömmlinge wie gute alte Bekannte, und schon
nach kurzem saßen sie alle beisammen um den Tisch bei einem Imbiß,
der von der geistlichen Hausfrau schnell bereitet worden war, und
bei Gesprächen, die alte Erinnerungen rasch neu belebten, aber auch
bekundeten, wie man im Pfarrhause zu Ehrenberg über alles, was mit
Rom zusammenhing, auf das Beste unterrichtet war und für alles die
herzlichste Teilnahme zeigte.

Als Martin und Frohwalt am Abend das Gasthaus aufsuchen wollten, geriet
der Pfarrer geradezu in liebenswürdigen Zorn:

»Davon kann doch nicht die Rede sein! Wir haben übergenug Platz in
unserem alten, gemütlichen Hause und Gott Lob auch genug zu essen und
zu trinken, und wir denken doch nicht, daß Sie hierhergekommen sind,
um uns zu kränken? Was müßten denn meine Kirchkinder sagen, wenn ihr
Pfarrer seine Freunde im Gasthofe unterbringen ließe!«

Da fiel sein Blick auf Frohwalt, und er wurde ernster, als er beifügte:

»Herr Doktor, _Ihnen_ darf ich keinen, auch keinen freundschaftlichen
Zwang anthun ...«

»Ich verstehe Sie, Herr Pfarrer,« sagte der Angeredete lächelnd, --
»aber ich bin in der Lage, ganz meinem Herzen folgen zu dürfen, und
wenn Sie mich hier behalten, bleibe ich!«

Herzlich drückte der alte evangelische Geistliche ihm die Hand, und die
Sache war abgemacht.

Frohwalt war erstaunt über den feinen Takt, welcher in diesem Hause
herrschte, und wie man alles vermied, was nach der Meinung der
Pfarrerfamilie ihm peinlich oder unangenehm sein könnte. Auch von dem
Konzil war nicht die Rede, ebensowenig wie von seiner Stellung zu der
Unfehlbarkeit, bis er am zweitnächsten Tage selbst darauf, wie auch auf
seine Ausschließung aus der römischen Kirche zu sprechen kam.

Der Pfarrer schien überrascht, aber, so nahe auch nun der Gedanke oder
die Versuchung dazu gewesen wäre, er hielt sich völlig fern von einem
Anpreisen seines eigenen Glaubens und sprach mit Frohwalt über die
Sache in einer nicht bloß völlig objektiven, sondern auch sehr klaren
und kenntnisvollen Weise, so daß dieser vor dem Wissen wie vor dem
Charakter des alten Herrn immer neue Achtung bekam.

Es war Sonntag. Die Glocke rief zur Kirche, und Vetter Martin, der mit
Stahl und Frohwalt im Garten hin- und widerging, sagte:

»Ich dächte, wir hörten den Pfarrer predigen. Gottes Wort kann uns
nichts schaden, und ich denke, der alte Herr wird nichts Unrechtes
reden. Du, Peter, bist überhaupt an nichts mehr gebunden, und Hans
und ich wollen es schon mit unserem katholischen Gewissen ausmachen,
wenn wir einmal ein evangelisches Gotteshaus besuchen. 's ist bei mir
überdies nicht das erste Mal.«

So gingen sie mit einander. Niemals noch hatte Frohwalt eine
protestantische Kirche betreten, und darum wohl ergriff ihn eine
seltsame Befangenheit. Aber bald schwand dieselbe vor der würdigen
Einfachheit, welche hier herrschte. Der einzige, schlichte Altar,
nur mit einem schönen Kreuzbilde geziert, zu dessen Seiten zwischen
frischen Blütenzweigen die Kerzen brannten, die weißgetünchten Wände,
hell beschienen von der durch die hohen Fenster einfallenden Sonne,
die Emporen mit dem alten, gefälligen Schnitzwerke, die hölzerne
Kanzel, auf welche von der Kirche aus die Treppe emporführte, und
das kleine Orgelchor mit den blinkenden Pfeifenreihen ... das alles
stimmte so ruhig und drängte, da der Blick nicht abgelenkt wurde durch
überflüssigen Schmuck, zahlreiche Bildwerke und Statuen, zu innerer
Sammlung.

Die Orgel setzte ein, und der gemeinsame Gesang der zahlreich
Versammelten erklang weihevoll wie ein Beten. Die Worte des alten
Liedes von Paul Gerhardt: »Befiehl Du Deine Wege« muteten Frohwalt
seltsam an; es war, als ob der alte evangelische Dichter sie just für
ihn verfaßt hätte, und es drängte ihn, bei der dritten Strophe selbst
mit einzustimmen, so daß das Auge Vetter Martins ihn ganz verwundert
streifte.

Mit Aufmerksamkeit folgte er der Liturgie, mit noch größerer aber
der Predigt des alten Pfarrers. Die Worte klangen so herzlich und
ungesucht, sie paßten sich dem Verständnis und Empfindungsleben der
schlichten Zuhörer völlig an, und sie wurden mit einer so natürlichen
Wärme gesprochen, daß Frohwalt sich am Ende derselben tief ergriffen
fühlte. Ja, das war eine evangelische Predigt ... und er hätte ihr
tausende von katholischen Zuhörern gewünscht. Da war nichts gesagt
worden, was er nicht auch empfand, und was er von seinem Standpunkte
aus nicht auch hätte sagen dürfen.

An die Predigt schloß sich der Beichtgottesdienst, und wie in
einem frommen Banne hörte er das allgemeine Sündenbekenntnis und
die Absolutionsworte des greisen, würdigen Mannes, er hörte mit
andächtigem Staunen die nun folgende Liturgie des Abendmahls, die
alles Wesentliche enthielt wie die katholische Messe, ja genau mit
denselben Worten, nur daß sie schlicht und schön in der Muttersprache
erklangen, allen verständlich und allen erbaulich. Dann schritten sie
langsam heran an den Altar, Männer und Frauen, Jünglinge und Jungfrauen
und empfingen Brot und Wein, ehrfürchtig sich verneigend, und mit dem
schönen, dreifachen Segen des Priesters schloß der Gottesdienst.

Das kleine Kirchlein war schon leer geworden, als Frohwalt erst mit
seinen zwei Begleitern es verließ. Vor dem Thore stand er still und
faßte die Hand Martins, der ihn schweigend beobachtet hatte und sagte:

»Das ist ein wahrer Gottesdienst! Gemahnt es nicht an die ältesten
Zeiten der Kirche, da man nichts wußte von Prunk und Glanz der
Aeußerlichkeiten, und da die Christen still und schön ihr schlichtes
Liebesmahl gemeinsam genossen? Solche weihevolle Andacht habe ich
niemals empfunden, als in dieser evangelischen Dorfkirche!«

Er konnte es sich nicht versagen, das auch dem alten Pfarrer gegenüber
auszusprechen, der ruhig und freundlich erwiderte:

»Sie sind nicht der erste Katholik, welcher diese Empfindung hat; bei
manchem ist sie freilich bedingt durch den Reiz des Neuen, bei Ihnen,
glaube ich, ist sie tiefer, weil Sie mit Ernst nach dem Wahren suchen.
Der liebe Gott erleuchte Sie auf Ihrem Wege!«

Er ging auf ein anderes Gespräch über, und gerade das berührte Frohwalt
ungemein wohlthuend.

Am nächsten Morgen brach der Vetter Martin auf; bei solchem
Frühlingswetter hatte er nirgends lange Ruhe, und es drängte ihn
hinaus in die Welt. Er wollte diesmal Elsaß und Lothringen besuchen,
die wiedergewonnenen Kinder der Mutter Germania. Quandt mit seiner
Frau, Hans Stahl mit Trudchen und Frohwalt gaben ihm ein Stück weit
das Geleite. Mit letzterem ging der Alte einige Schritte den anderen
voraus, und als es beinahe ans Abschiednehmen kam, sagte er:

»Ich weiß Dich hier in guten Händen, Peter; drum kann ich
ausmarschieren, und wenn ich wiederkomme, hat sich in Dir, wie ich
bestimmt hoffe, manches völlig ausgeklärt, was jetzt noch schwankend
ist. Ich meine aber, Du bist auf dem besten Wege, erst recht ein
brauchbares Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden.
Konfessionslos kannst Du nicht bleiben, der Altkatholizismus ist noch
unfertig ... werde evangelisch, wie Deine Schwester ist! Werde ein
Priester wie unser alter Gastfreund, ein Leiter, Führer und Vorbild
Deiner Gemeinde. Das ist mein ehrlicher Rat, und es soll mich freuen,
Peter, Dich einmal auf Deiner evangelischen Pfarre und in Deinem
Hausstande besuchen zu können. Und dann nimmst Du mich auch in Deine
Kirchengemeinde auf. Punktum! Und jetzt gehen wir auseinander!«

Der Alte wandte sich nach den übrigen um und schwenkte lustig seinen
Stock. Sie kamen rascher herbei, und es folgte der herzlichste, rasche
Abschied. Viel dabei herumzureden, war nicht Martins Art. Nach kurzer
Weile wanderte er weiter, mit großen Schritten, noch zweimal sich
umblickend nach den wehenden Tüchern und winkenden Händen, dann gingen
die Zurückbleibenden langsam wieder dem freundlichen Dorfe zu, dessen
Kirchturm ihnen friedlich entgegenwinkte.

Quandt und Fritzel gingen mit Hans Stahl voran, Frohwalt folgte mit
Trudchen nach. Unbefangen hatte er bisher mit dem heitern, schönen
Mädchen verkehrt, in dieser Stunde aber überkam ihn zum ersten Male
eine gewisse Befangenheit: Ein Wort des Alten klang ihm in der Seele
nach, wenn er in die hellen, frischen, braunen Augen schaute, und auf
den plaudernden roten Mund. Sie merkte seine schweigsame Art und sagte:

»Der Abschied vom Vetter Martin hat Sie ja ganz still gemacht!«

»Ja, er ist mir sehr lieb, der alte Mann, und ich sehe ihn immer mit
heimlicher Wehmut scheiden.«

»Er erinnert mich in manchem an meinen Vater!«

»Sie haben recht. Beide haben dieselbe milde Art, die gleiche
Duldsamkeit und die nie versiegende, von sonnigem Humor verklärte
Herzenswärme.«

Das Mädchen sah ihn mit aufleuchtenden Augen an. »Es freut mich, daß
Sie schon nach so kurzer Zeit meinen Vater so beurteilen --«

Und nun ging ihr das kindliche Herz auf, und sie begann von ihren
Eltern zu erzählen, und dem stillen Zuhörer ward es dabei wärmer in
der Seele. Diese Kindesliebe hatte etwas unendlich Anmutiges und
Wohlthuendes, und das Mädchen gewann in seinen Augen ganz besonderen
Wert und Reiz.

Von diesem Tage an schloß sich Frohwalt mehr als bisher an den
alten Pfarrer an und verkehrte manche Stunde mit ihm in ernsteren
Gesprächen. Er selbst lenkte die Rede dabei auf religiöse Fragen,
und ihn überraschte die ruhige Klarheit, die edle Milde, mit welcher
der Pfarrer solche behandelte. So gewann er einen Einblick in das
evangelische Bekenntnis und fühlte sich seltsam davon angezogen. Es
lag in demselben ein schöner, gesunder, wahrhaft religiöser Kern,
ein tiefbegründetes, sittliches Bewußtsein, ein Ablehnen des äußeren
Scheins, eine Verklärung des deutschen Wesens, so daß es ihm jetzt erst
verständlich ward, wie die Reformation auf deutschem Boden erwachsen,
und wie ein einfacher Sohn des deutschen Volkes sie ins Leben rufen
konnte.

Und die Worte, welche er von dem Pfarrer hörte, erhielten ihre schönste
Bestätigung in den Verhältnissen in dem Pfarrhause selbst. Hier
herrschte ein wundersamer Geist des Friedens und der Menschenliebe,
von hier aus ging Trost und Rat in die bedrängten Herzen der
Gemeindeglieder, und dabei wetteiferten die weiblichen Glieder der
Familie mit dem Oberhaupte. Die Pfarrerin war in jeder Weise des Gatten
wert. Sie besaß eine vortreffliche Bildung des Verstandes und des
Herzens, und war mit ihrem freundlichen, teilnahmsvollen Wesen wie der
gute Geist des Hauses.

Was waren das für herrliche Stunden, welche Frohwalt in diesem Kreise
verlebte, zumal des Abends, wenn die Familie enger an einander rückte
und jeder gab und empfing, und sich an beidem still erfreute. Da setzte
sich wohl die Pfarrerin ans Klavier, und die beiden Töchter sangen,
Trudchen mit schöner, sympathischer Sopranstimme und Friederike mit
klangvollem Alt, während der Hausherr mit dem Seidenkäppchen auf dem
ehrwürdigen Haupte behaglich in seinem Lehnstuhl saß und seine lange
Pfeife schmauchte. Dann erzählte Hans Stahl von den ruhmvollen Tagen,
die er mit durchgestritten, oder Quandts und Frohwalt ergingen sich in
römischen Erinnerungen, bis der Pfarrer zuletzt einen kurzen Abendsegen
sprach, der das Haus und alle seine Bewohner dem Schutze Gottes
empfahl, dann begab man sich zur Ruhe, und tiefer Friede lag über dem
Pfarrhause und dem ganzen freundlichen Dorfe.

Frohwalt lebte hier wie in einem Zauberbann, und manchmal war es ihm,
als träume er und müsse das Erwachen fürchten. Besonders fühlte er das,
wenn er sich mit Trudchen unterhielt. Er hatte sich bisher, getreu den
Vorschriften seines Berufs, wenig um das weibliche Geschlecht gekümmert
und kannte von demselben aus näherem Umgang nur Mutter und Schwester.
Dann hatte er besondere Wertschätzung für Friederike gewonnen, und
da Trudchen der Schwester in jeder Weise ähnlich war, so übertrug er
dies Empfinden gleich von vornherein auf sie. Und sie kam ihm mit
ungesuchter Herzlichkeit und Natürlichkeit entgegen, als ob er ihr
gar kein Fremder wäre, und gab sich in Wort und Wesen mit so heiterer
Anmut, daß der Umgang mit ihr für Frohwalt beinahe ein Bedürfnis
wurde, und er an jedem Morgen sich zumeist darauf freute, ihr frisches,
liebes Gesicht wiederzusehen.

Ueber die Bedeutung solchen Empfindens war er sich selbst nicht klar;
um so klarer aber schienen andere sich darüber zu sein, und Quandts,
sowie Hans Stahl ließen die beiden, so oft es unverfänglich geschehen
konnte, ungestört mit einander verkehren, aber um des Malers Lippen
flog ein gutmütig schönes Lächeln in solchen Augenblicken, und den Arm
seines Weibchens wärmer an sich ziehend, flüsterte er wohl:

»O rühret, rühret nicht daran!«

So mochten etwa drei Wochen vergangen sein. Der junge Lausitzer, der
seinen Arm beinahe mehr aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit in der
Binde trug, gedachte in seine Heimat abzureisen, und auch Frohwalt
schien es an der Zeit, die Gastfreundschaft des lieben Pfarrhauses
nicht länger in Anspruch zu nehmen. Er hatte mehrmals schon davon
gesprochen, zu gehen, aber immer wieder gern sich halten lassen.

Da war er eines Vormittags -- Friederike und Gertrud hatten daheim zu
schaffen, und Quandt malte -- mit Stahl allein durch das Dorf gegangen.
Als sie an dem stattlichen Gasthofe vorüberkamen, hatte der letztere
einen Blick in den Garten desselben geworfen und plötzlich schrie er
auf:

»Professor Holbert!«

Dann eilte er durch die Hinterthüre ein. Frohwalt, der ihm beinahe
mechanisch folgte, sah jetzt in der That auch den Professor an einem
der einfachen Holztische sitzen und neben ihm Therese. In wenigen
Augenblicken waren die vier Menschen bei einander und reichten sich
herzlich die Hände, und Fragen gingen lebhaft hin und her.

Holbert hatte mit seiner Tochter, um den unerquicklichen Prager
Verhältnissen sich auf einige Zeit wenigstens zu entziehen, eine kleine
Reise gemacht, die beide meist zu Fuß zurücklegten. So waren sie nach
Ehrenberg gekommen und gedachten hier Mittagsrast zu halten. Ihre
Freude, Frohwalt und Stahl hier zu finden, war aufrichtig und groß,
und besonders angenehm überrascht waren sie über den letzteren, dessen
Gesicht in diesem Augenblicke wie von innerer Verklärung aufleuchtete,
und den sie herzlich beglückwünschten zu seinen Heldenthaten und seinen
ehrenvollen Erfolgen in Krieg und Frieden. Als Therese ihm dabei die
Hand reichte, hielt er sie eine Sekunde lang fest, und sah ihr dabei so
seltsam in die Augen, daß sie errötend die Blicke senkte.

Um der Freunde willen gedachten Holberts den Nachmittag über hier zu
bleiben und gemeinsam mit ihnen einen nahen Berg zu ersteigen, der
eine schöne Fernsicht bot. Die Pfarrersfamilie war feinfühlig genug,
sich daran nicht zu beteiligen, und so wanderten die vier langsam die
bewaldete Höhe hinan, unter leise rauschenden Föhren hin. Frohwalt und
der Professor schritten voran, Hans Stahl und Therese folgten.

»Ist Ihnen der im Mai von München aus von Döllinger erlassene Aufruf an
die deutschen Katholiken zu Gesicht gekommen?« fragte Holbert seinen
Begleiter.

»Nein. Um was handelt es sich darin?«

»Nun, Döllinger betont in Uebereinstimmung mit einer Anzahl
gesinnungstüchtiger, gläubiger Männer, daß auf dem Boden der Treue
gegen den alten katholischen Glauben eine Erneuerung kirchlicher
Zustände durch einträchtige Arbeit von Klerus und Laien herbeigeführt
und als letztes Ziel christlicher Entwicklung die Vereinigung der jetzt
getrennten christlichen Glaubensgenossenschaften angestrebt werden
soll. Wahrlich ein edles und würdiges Programm, bei welchem, wie ich
annehmen zu dürfen glaube, wohl auch auf Ihre Mitwirkung zu rechnen
ist.«

»Zürnen Sir mir nicht, Herr Professor, wenn ich sagen möchte: ›Die
Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.‹ -- Ich habe
hier reichlich Gelegenheit gehabt, über religiöse und kirchliche
Verhältnisse nachzudenken, und darum finde ich zwar die Bestrebungen
des Altkatholizismus schön und würdig, aber seine letzten Ziele
scheinen mir weder völlig klar, noch vor allem erreichbar.«

»Es kommt nur auf den guten Willen der Beteiligten und auf die
allgemeine Unterstützung an.«

»Und gerade an der letzteren wird es, fürchte ich, fehlen, weil man in
die Ausführbarkeit des Programms kein volles Vertrauen gewinnt. Eine
Umwandlung der kirchlichen Zustände! Sie ist oft versucht worden von
Kirchenversammlungen aus, aber umsonst!«

»Weil man stets mit der römischen Kurie als einem besonderen Faktor
rechnete, der sich angestrebten Aenderungen verschloß oder gar
widersetzte. Für uns Altkatholiken aber ist auch die altkirchliche
Verfassung maßgebend, nach welcher alle Bischöfe gleich und
gleichberechtigt sind mit dem römischen, der nur der Erste unter
Gleichen ist.«

»Sie streben also den Ausbau des bischöflichen Systems an? Aber woher
nimmt der Altkatholizismus seine Bischöfe? Wer soll sie weihen? Denn
die bloße Ernennung könnte doch nicht genügen, in ihnen die Nachfolger
der Apostel zu sehen?«

»Gewiß nicht. Aber wir haben ja bereits eine altkatholische Kirche,
die seit dem siebten Jahrhundert in den Niederlanden besteht, und seit
Anfang des vorigen Jahrhunderts erneuert wurde, die römisch-katholische
Kirche der bischöflichen Klerisei. Sie steht unter dem Erzbischof von
Utrecht und den Bischöfen von Deventer und Haarlem, und bestreitet,
wie wir, die päpstliche Unfehlbarkeit. Durch ihre Bischöfe wird durch
Handauflegung die bischöfliche Weihe rechtmäßig auch auf unsern
Oberhirten übertragen werden.«

»Auch das sind Aeußerlichkeiten, denen ich keinen zu hohen Wert
beilegen möchte. Der Altkatholizismus hat die Absicht, die alte
katholische _Kirche_ wieder herzustellen, und darin liegt nach
meinem Ermessen eine Halbheit, die nicht zum Ziele führen kann. Das
Hinarbeiten auf ein bloß _kirchliches_ Christentum kann nicht das
Letzte und Höchste sein, sondern die religiös-sittliche Ausgestaltung
desselben müßte angestrebt werden, zu welcher die auf den Grundlagen
des Humanismus sich erhebende Reformation den Anlauf genommen
hat. Wir brauchen, möchte ich beinahe sagen, eine Art staatliches
Christentum, ein weltlich sittliches Christentum, wodurch das
Wesen des Protestantismus sich kennzeichnet im Gegensatz zu dem
Katholizismus, der das Wesen des Christentums nur in der _kirchlichen_
Form dargestellt wissen will. Alle Bestrebungen der Zeit im Geiste
des wahren Christentums aufzufassen, dasselbe in ihnen fruchtbringend
werden zu lassen, das wäre eine Aufgabe für den Altkatholizismus, aber
gerade der Erfüllung desselben setzt das Festhalten an kirchlichen
Aeußerlichkeiten Schranken.«

»Ich höre das protestantische Pfarrhaus aus Ihnen sprechen, lieber
Freund!« sagte lächelnd der Professor.

»Es mag etwas Wahres an dem Worte sein, aber andererseits muß ich
betonen, daß ich niemals einen Mann mit milderem Sinne und mit
geringerer Absicht, Glaubensgenossen zu gewinnen, kennen gelernt habe,
als den alten Pfarrer von Ehrenberg.«

»Aber scheint Ihnen nicht wenigstens das letzte Ziel des
Altkatholizismus groß und der Bemühungen der Besten wert? Die wirkliche
Wiederherstellung der katholischen Kirche, in der nur ein Hirt und eine
Heerde ist, die Wiedervereinigung von allen, die sich Christen nennen,
ist das Erhabenste, was sich denken läßt.«

»Gewiß, Herr Professor -- aber leider unerreichbar. Ein Zurückgehen
auf die allerälteste christliche Zeit, ein Wiedererwecken der
altkirchlichen Lehre würde stets auf Widersprüche stoßen und statt
der Einigung noch schärferen Zwiespalt erwecken. Wohl weiß ich, daß
Döllinger in bester Absicht einen Unterschied machen will zwischen
Glaubenssatz und Meinung -- aber wer soll feststellen, was als
Glaubenssatz zu gelten hat? Als Glaubenssatz für _alle_ Christen?
Als Glaubenssatz, der auch einhellig angenommen würde? Aus jedem
Glaubenssatz würde ein neuer Zwiespalt erwachsen, wie es bisher stets
der Fall gewesen ist.«

Sie waren, indem sie dies Gespräch fortsetzten, auf der freien Höhe
angekommen. Unter ihnen lag im Sonnenglanze das schöne blühende Land
mit freundlichen kleinen Städtchen und Dörfern, mit dem blinkenden
Silberbande eines Flüßchens, umrahmt gegen Süden von einem Kranze
höherer Berge und dem Kamme des Gebirges. Einige Augenblicke standen
sie schweigend, dann sagte Holbert:

»Ich sehe aus allem, wie es um Sie steht, lieber Freund, und wohin
Ihre Ueberzeugung Sie führt. Ich achte Sie darum nicht minder, und
ich denke, daß wir die Alten bleiben. Im innersten Wesen stimmen wir
doch überein. Sie wie ich streben die sittliche Wiedererneuerung der
menschlichen Gesellschaft an. Das ist ein großes und edles Ziel, und
der Wege dazu giebt es mannigfache. Uns allen aber leuchtet dazu
dieselbe Sonne und es blaut uns derselbe Himmel, und derselbe ewige
Vater giebt allen seinen Kindern, die ehrlich der erkannten Wahrheit
nachstreben, seinen Segen. Möge er auch uns nicht fehlen!«

Mit wärmstem Drucke fanden sich die Hände der beiden Männer, die
schweigend sich dabei in die Augen sahen. Sie wußten, was sie einander
geworden waren und bleiben wollten.

Langsamer war indes das zweite Paar hinterher gekommen. Ueber Stahl,
sowie über Therese lag anfangs eine gewisse Befangenheit, und die
junge Frau suchte darüber hinwegzukommen, indem sie ihren Begleiter
nach seinen künstlerischen Erfolgen, seinen Arbeiten und Bestrebungen
fragte. Er erzählte ihr davon, begeistert, mit leuchtenden Blicken,
dann blieb er mit einem Male stehen, so daß auch sie den Schritt
anhalten mußte. Ringsum war schweigender Wald, durch welchen die
Sonnenstrahlen zuckten, die beiden Männer vor ihnen waren verschwunden
hinter den Föhrenstämmen, ein Vogel huschte scheu durch das Gezweige
... da sagte er mit einmal mit bebender Stimme:

»Denken Sie noch an den Beth Chajim, und was mein junges, thörichtes
Herz unter den blühenden Fliedersträuchen damals bewegte?«

Es schien, als wolle sie abwehren, aber die Geberde mißlang, und die
Röte, welche ihr in die Wangen trat, strafte sie Lügen. Kühn gemacht
dadurch, fuhr er fort:

»Ich bin seitdem ein anderer geworden. Ich bin durch eine ernste Schule
gegangen, ich habe geblutet für eine heilige Sache, und ich fühle
es, daß ich eine Zukunft habe ... wenn mir der Sonnenschein, an den
ich geglaubt und gehofft habe, seit ich Sie kenne, nicht untergeht.
Damals in Prag mußte ich schweigen -- heute darf ich reden. Therese,
ich brauche es Ihnen nicht zu sagen, daß ich Sie heute noch ebenso
lieb habe, ja noch mehr, denn Sie haben gelitten, und daß mein ganzes
Wesen und Denken nur aufgeht in Ihnen. Sie sind frei, wie ich es bin,
und wenn sie glücklich _machen_ wollen, so sollen Sie auch glücklich
_sein_, das gelobe ich Ihnen bei allem, was uns heilig ist!«

Therese war in heftiger Erregung, ihre Brust atmete lebhaft, sie
rang nach Worten, und ohne sie finden zu können, ging sie einige
Schritte vorwärts. Stahl aber war stehen geblieben; er sah ihr beinahe
enttäuscht, traurig, nach und nur ihr Name entrang sich seinen Lippen,
aber mit einem so unendlich traurigen und doch so liebeerfüllten
Klange, daß sie stehen blieb und ihn ansah.

»Dringen Sie heute ... noch jetzt nicht in mich ... Hans -- es kommt
mir zu überraschend ... ich weiß ja nicht, ob ich noch auf ein Glück
rechnen darf ...«

Er hatte nur das eine Wort gehört, das ihm Alles verriet, und
aufjauchzend rief er noch einmal ihren Namen, und streckte ihr die
ausgebreiteten Arme entgegen.

Sie trat wieder näher an ihn heran, und reichte ihm die beiden Hände:

»Noch nicht, Hans ... lassen Sie mir noch Zeit ...«

Da ergriff er die Hände und küßte sie abwechselnd, bald die Rechte,
bald die Linke, trotz des Handschuhes, so daß ein leises Lächeln um
ihre Lippen spielte.

»Ungestümer!«

Dabei drückte sie auch seine Hände warm und herzlich, und sagte:

»Kommen Sie, Hans, wir wollen vernünftig sein!«

»Wie lange noch, Du Liebe, Herrliche?«

Sie legte ihm die Hand auf den Mund und ihren Arm in den seinen. Und
wie sie leicht sich an ihn schmiegte, da ging ein seliger Schauer
durch sein Herz, so daß er keine Worte finden konnte, und schweigend
schritten sie selbander den Berg hinan. Ehe sie aber hinaustraten auf
die Lichtung auf dem Gipfel, flüsterte er mit unendlicher Innigkeit:

»O sage nur ein einzigmal Du!«

Und mit holdem Erröten flüsterte sie das kleine, süße, inhaltvolle
Wort, und fester zog er ihren Arm an sich --

So kamen sie heran zu den beiden Männern ...

Als Frohwalt an diesem Abende in das Pfarrhaus zurückkehrte, geschah
es mit dem festen Vorsatz, dem Pfarrer anzuzeigen, daß er zum
evangelischen Bekenntnis übertreten wolle. Das Gespräch mit Holbert
hatte ihm die Ueberzeugung beigebracht, daß der Altkatholizismus ihn
niemals ganz befriedigen könne.

Mit ruhiger Freude hatte der Pfarrer diesen Entschluß gehört und seinem
Gastfreunde schweigend die Hand gereicht. Dann aber hatte er nach
seines Herzens Drang mit ihm gesprochen, und als Frohwalt aus seinem
Gemache trat, war seine Seele wundersam erhoben.

Da sah er Trudchen im Flur stehen.

Er eilte auf sie zu mit einer freudigen Erregung und sprach:

»Fräulein Gertrud, soeben habe ich Ihrem Vater mitgeteilt, daß ich
Ihrem Glauben beitreten und ein evangelischer Priester werden will in
seinem Geiste!«

Das Gesicht des hübschen Mädchens wurde von hoher Röte übergossen, und
sie reichte ihm die Hand.

»O wie mich das freut! Wie mich das freut!«

Mehr vermochte sie nicht zu sagen; aber wie sie so dastand im milden
Lichte des Abends, das durch das Flurfenster herein fiel, erschien sie
ihm lieblicher als jemals, und er fragte mit unsicherer Stimme:

»Und warum freut Sie das so, Gertrud?«

Sie vermochte nicht zu antworten. Mit einem leisen, seligen
Aufschluchzen lehnte sie sich an seine Brust und schlang die Arme um
seinen Nacken.

[Illustration: Dekoration]



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
    Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Die Abbildungen
    wurden an die zugehörige Textstelle verschoben.





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