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Title: Die fünf Waldstädte - Ein Buch für Menschen, die jung sind
Author: Keller, Paul
Language: German
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Anmerkungen zur Transkription


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Die fünf Waldstädte

[Illustration]



    Die fünf Waldstädte

    Ein Buch für Menschen, die jung sind

    von

    Paul Keller

    Mit Bildern von G. Holstein und
    Reinhold Pfaehler von Othegraven

    32. bis 42. Auflage.

    [Illustration]

    Bergstadtverlag Wilh. Gottl. Korn
    Breslau

    Leipzig      Wien



Inhalt


                                                            Seite
    Die fünf Waldstädte Ameisenfeld -- Eichenhofen --
    Der Geistergrund -- Heinrichsburg -- Die heilige Stadt      5

    Der kleine General                                         53

    Der Schatz in der Waldmühle                                63

    Der angebundene Kirchturm                                 101

    Das Abenteuer auf der Themse                              111

    Die Ferienkolonisten                                      123

    Gedeon                                                    133

    Hotel Laubhaus                                            157

    Mein Roß und ich                                          167

    Die Räuber aus dem Riesengebirge                          177



    Alle Rechte,
    insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
    ~Copyright 1915 by~
    Bergstadtverlag Wilh. Gottl. Korn, Breslau.



Die fünf Waldstädte.


Von den fünf Waldstädten will ich erzählen, in
denen ich als Kind oft glücklich gewesen bin.

Wir waren ihrer drei: meine beiden Freunde
Ludwig, Heinrich und ich. Als Ludwig in jungen
Jahren starb, waren Heinrich und ich die fast
unumschränkten Herren der fünf Waldstädte.

Da war in der Gegend zwischen Frankreich und
Rußland ein Wald, der war so groß, daß ein
lahmer Mann an die dreiviertel Stunden brauchte,
ehe er um ihn herum war. In diesem Walde lagen
die fünf Waldstädte: Ameisenfeld, Eichenhofen,
Geistergrund, Heinrichsburg und die heilige Stadt.
Alle fünf Städte waren von seltener Pracht und
Herrlichkeit, und es gab Wunder über Wunder in
ihnen zu sehen, obwohl gar keine großen, steinernen
Häuser in ihnen standen und unsere Städte
nach Meinung dummer Knechte und alberner
Mägde nur »ganz gewöhnlicher Busch« waren.
Wir aber wußten sicher, daß es Städte waren,
und Heinrichs Mutter wußte es auch. An allen
Frühlings- und Sommertagen, aber auch zur
wilden Sturmzeit im Herbst reiste ich mit
meinem Freunde durch das Gebiet der fünf
Städte, und wenn einer etwas Neues entdeckte,
dann war er glücklich, es unserer »lieben Fee«
zu sagen. Das war Heinrichs schöne Mutter.
Die ging oft mit uns durch die fünf Waldstädte,
und was wir selbst nicht sahen und fanden, das
sah sie und fand sie und zeigte es uns. Sie erzählte
und sang Lieder vom heiligen, deutschen
Wald und machte ihn uns lieb und vertraut.

       *       *       *       *       *

Da war also zunächst die Stadt


Ameisenfeld.

Sie war 90 Quadratmeter groß und hatte nach
der letzten Volkszählung 567319 Einwohner.
Deshalb zählte sich Ameisenfeld mit Recht zu den
Großstädten. Die Bewohner von Ameisenfeld
waren berühmt durch ihren Fleiß und ihre Betriebsamkeit.
Sie beschäftigten sich damit, sich zu
ernähren und Eier zu legen. In ihren freien
Stunden prügelten sie sich. Ob dieser Eigenschaften
galten die Ameisenfelder im ganzen Lande nicht
nur als sehr fleißig, sondern auch als sehr intelligent.
Man erzählte sogar, daß ein großer Prophet
unter ihnen erstanden sei, der folgende tiefsinnigen
Lehren aufgestellt hatte:

»Wenn dir ein Hölzlein zu schwer zu tragen ist,
nimm dir jemand zu Hilfe!«

[Illustration]

»Wenn dir eine Blattlaus süßen Saft gibt,
der dir sehr wohlschmeckt, dann beiße sie nicht tot.«

»Wenn dir jemand irgendwie nicht paßt, so
bespritze ihn mit einem ätzenden Saft, damit er
schnell Reißaus nehme.«

Das waren die Grundsätze, nach denen die
Ameisenfelder fortan lebten. --

Es geschah aber, daß eines Tages ein Igel durch
das Stadttor von Ameisenfeld, das durch die
Blätter einer großen Schwarzwurz gebildet wurde,
einzog und Quartier begehrte. Der Bürgermeister
der Stadt ließ sich schnell von seinen
sieben Stadträten die Fühler abputzen und ging
dem großen Gaste entgegen. Als er ihn sah,
knickte er vor lauter Ehrfurcht mit allen sechs
Beinen vor ihm ein: und sagte:

»Hoher Herr, dir unsere Gefühle ob deines Einzugs
in unsere Stadt auch nur annähernd zu
schildern, geht leider über meine Kraft. Was
uns vor allem bewegt, ist tiefe Beschämung.
Denn siehe, Ameisenfeld ist nur eine Fabrikstadt.
Unsere Straßen sind bestreut mit dem Schutt der
Arbeit. Anlagen haben wir keine, außer einer
Distelplantage und einem kleinen Gundermannwäldchen.
In deren Schatten würdest du dich
nicht wohlfühlen. Und es fehlt uns leider auch
an einem geeigneten Palast für dich.«

Der Igel zog die Stirn in Falten und sagte:

»Ich bin ein Forschungsreisender. Ehe ich
nicht Ameisenfeld in- und auswendig kenne, kann
ich nicht weiterziehen. Vor allen Dingen will ich
hier einen wissenschaftlichen Vortrag halten.«

Der Bürgermeister legte über dieses Anerbieten
eine gezwungene Freude an den Tag und ließ den
Vortrag für abends 6 Uhr ansagen. Da kein Eintrittsgeld
erhoben wurde, erschien die ganze
Stadt. Der Igel hub nun an zu reden von
den schweren Gefahren, die dem Ameisenvolke
drohten. In Südamerika lebe ein Tier, das trotz
seines schlichten Namens ~Myrmecophaga jubata~
doch eine scheußliche Bestie sei. Es habe einen
spitzen Rüssel und eine ellenlange, mit Leim
bedeckte Zunge. Den Rüssel und die Zunge
stecke es nun in die Ameisenhäuser und fange und
morde, was es nur erwischen könne. Wenn man
dagegen ihn, den Igel, betrachte, müsse man einsehen,
daß er weder eine spitze Schnauze noch eine
klebrige Zunge habe.

Die Ameisenfelder hatten der Erzählung
zitternd zugehört. Als der Igel geendet hatte,
brachte der Bürgermeister ein Hoch auf ihn aus,
wobei er sich auf den Rücken legte, damit er bei
dem Hoch alle sechs Beine in die Höhe strecken
konnte. Der Igel nickte befriedigt und sagte:
wenn sich also die Ameisenfelder über seine Ankunft
so freuten, so wolle er gern das Opfer bringen
und etwas bei ihnen bleiben.

Darauf aber erhob sich ein kecker Ameisenjüngling,
welcher sagte:

»Was geht uns das Tier aus Südamerika an,
wo doch unsere Waldstadt gar nicht in Südamerika
liegt?«

Der Igel zog seine Stirnrunzeln bis zur Nase
herab und rief:

»Habt ihr je solchen Unverstand gehört? Kann
sich nicht alle Tage ein ~Myrmecophaga jubata~ auf
einem Schiff ohne Paß einschmuggeln und zu uns
kommen? Sind nicht auf solche Weise alle ausländischen
Tiere zu uns gekommen?«

Die Menge nickte Beifall, sah voll Mißbilligung
auf den naseweisen Ameisling, und der Bürgermeister
meinte: »Er muß streng bestraft werden!«

»Das muß er!« nickte der Igel, »und um mich
euch gefällig zu erweisen, werde ich ihn hinrichten!«

Darauf fraß der Igel den Ameisenjüngling.
Wie von ungefähr erwischte er auch noch dreißig
Verwandte des Jünglings, die in dessen Nähe
standen.

Darüber erschrak das Volk; der Bürgermeister
aber zwinkerte ihm beruhigend zu: über so einen
kleinen Fehlgriff eines großen Herrn dürfe man
keinen Lärm machen.

So blieb der Igel in Ameisenfeld, bis sich das
Volk allgemach um 90 Prozent vermindert hatte.
Da endlich versammelte der Bürgermeister eines
Nachts heimlich die wenigen Überlebenden, und
sie beschlossen, gemeinsam über den mörderischen
Igel herzufallen und ihn zu töten.

Mit dem Heldenmute, der den Ameisenfeldern
eigen und der im ganzen Lande berühmt ist, zogen
sie aus.

Sie fanden den Igel tot. Er hatte sich den
Magen überfressen und war an Ameisensäurevergiftung
gestorben.

Der Bürgermeister atmete auf, trat auf seine
Leiche und hielt eine Rede:

»Bürger, da liegt unser Feind! Tot! Er hat
unserer Macht nicht zu widerstehen vermocht. An
der starken inneren Kraft der Ameisenfelder ist
er zugrunde gegangen. Der Ruhm unserer Stadt
ist und bleibt unsterblich!«

Das Volk trampelte mit allen sechs Beinen
Beifall und winkte mit den Fühlern.

Darauf wurde ein großes Freudenfest gehalten.
Alle Bürger zogen auf die grüne Alm, die in der
Nähe von Ameisenfeld war. Dort wurde die
große Fingerhutglocke geläutet. Dann wurden die
Blattläuse gemolken. Alles Volk trank sich ein
Räuschlein an, und schließlich sprach man mit
einer gewissen Liebe und Achtung von dem Igel,
dem allein dieses fröhliche Fest zu verdanken war.


Eichenhofen.

Der große Baum, der Eichenhofen seinen
Namen gab, war so schön und gewaltig, daß mein
Freund Heinrich behauptete, das sei dieselbe Eiche,
die Bonifacius einst bei den alten Hessen umgehauen
habe. Ich glaubte dies eine Zeitlang,
dann aber kam mir der Gedanke, unsere Eiche
werde vielleicht doch nur der Sohn von jener berühmten
Donarseiche sein. »Nein,« sagte Heinrich,
»Sohn ist viel zu jung; wenn sie es nicht selbst ist,
dann ist sie ihr Vater!«

Dabei blieb es, und das war nun historisch.

Eine grimmige Feindschaft hegten wir gegen
vier Waldarbeiter, die einst, um uns zu verspotten,
sich die Hände reichten und einen gemütlichen
Tanz um unsere Eiche ausführten, wo wir doch
bestimmt festgestellt hatten, daß der Baum von
sieben Männern nicht zu umspannen sei. Wir
setzten uns über das höchst ärgerliche Vorkommnis
nur dadurch hinweg, daß wir uns sagten, die
Arbeiter seien betrunken gewesen und darum
»gelte« ihr Tanz nicht.

Eichenhofen war rings von Brombeer- und
Himbeerhecken eingefaßt; auch viele wilde Rosen
blühten an seinen Grenzen. Da dachten wir oft
an Dornröschens Schloß, und jeder brach gern
und kühn durch die Dornenhecke, zumal zur Spätsommerzeit,
wenn die Beeren reiften. --

Die »Traumstadt« nannten wir Eichenhofen
auch manchmal. Da gab es einen Moosplatz,
auf dem die Käferlein stolzierten und eitel ihre
funkelnden Röcke zeigten, eine Rosenstraße, wo
unter lauter lieblichen Heckenröslein sich das Volk
der haftenden Bienen und der sammetröckigen,
vornehmen Hummeln tummelte, eine Hirschstraße,
die tief ins Dunkel des Waldes ging und auf der
wir einmal zu seinem und unserem Schrecken
dem König des Waldes begegneten.

[Illustration]

In Eichenhofen ersann ich mein erstes Märlein,
dort klangen die ersten Verse in meiner Seele.
Ich erfand eine Geschichte von dem Brünnlein,
dessen Wasser im Mondschein zu goldgelbem Wein
wird, von dem die Gnomen ihr Schöpplein
trinken, und wenn Heinrich und ich fortan aus
dem Brünnlein tranken, sahen wir uns oft an
und sagten: es schmeckt wirklich wie Wein. Ich
konnte das um so eher sagen, als ich damals noch
nie einen richtigen Tropfen Wein getrunken hatte.

Einmal, als ich ein Gedicht gemacht hatte, das
ich Heinrichs Mutter, unserer »Fee«, vorlas, küßte
sie mich auf die Stirn, flocht einen Eichenkranz,
setzte ihn mir auf den Kopf und sagte: »Gott
segne dich!« Da war es wirklich, als ob ein tiefer
Segenstrom von dem grünen Kranz aus durch
meine Seele ränne; ich stand ganz still da und
ging dann bald nach Hause. Dort hängte ich
das Kränzlein über mein Bett, rund um das
kleine Kreuz herum, das dort war, und wenn ich
fortan mein Abendgebet sprach und den Kranz sah,
betete ich immer einen Satz mit: »Lieber Gott,
laß mich ein Dichter werden.« Ich sprach aber
die Worte nie aus, ich dachte sie nur; ich schämte
mich, sie zu sprechen.

Heinrich war mein treuer Freund. Er neidete
mir meinen Kranz nicht; aber er sehnte sich danach,
auch einen zu erhalten. Er bekam ihn erst,
als er sich ihn verdient hatte. Ehrlich verdient!
Er hatte ein kleines Mädchen mit Gefahr
seines eigenen Lebens aus dem Wasser gezogen.
Damals hatte die Fee wohl ihren glücklichsten
Tag, als sie ihrem Jungen den Eichenkranz
flocht. --

Sonst war es mit unserer Tapferkeit nicht
übermäßig gut bestellt; ja, es gab Fälle, wo wir
eine traurige Rolle spielten.

Einmal machten wir einen schauerlichen Fund.
Wir entdeckten im Dorngestrüpp die Leiche eines
Eichkätzchens. Erschüttert betrachteten wir das
herrliche Tier, seufzten laut und lange und zergrübelten
uns die Köpfe, was seinem jungen,
lustigen Leben ein so jähes Ende bereitet haben
könne.

»Vielleicht hat es der Marder gefressen,« sagte
Heinrich tiefsinnig.

»Oder eine Eule hat es fortgeschleppt,« meinte
ich bedächtig.

Darauf war eine Pause. Plötzlich machte ich
ein spöttisches Gesicht und sagte: »Wie kann es
dein Marder gefressen haben, wenn es doch noch
hier liegt?« Worauf sich Heinrich höhnisch an die
Stirn tippte und sprach: »Kann es wohl deine
Eule weggetragen haben, wenn es noch hier
liegt?«

So machten wir uns gegenseitig unsere Überlegenheit
klar, und einer ärgerte sich über die
Dummheit des anderen. Endlich glaubte ich es zu
haben: »Es ist jedenfalls fehlgetreten, heruntergestürzt
und hat den Hals gebrochen.«

»Nein,« sagte Heinrich, »der Hals ist noch ganz.
Es hat gewiß einen giftigen Pilz gefressen.«

Da schrie ich: »Nein, siehst du, es ist totgeschossen!«

Das Eichkätzchen war wirklich erschossen; wir
sahen nun deutlich die Schußwunde.

Heinrich erbleichte.

»Das ist ein Wilddieb gewesen,« sagte er.

Ich sah ihn an, nickte mit dem Kopfe und rannte
ohne weiteres davon. Und er rannte hinterher.
Wir rannten so lange, bis wir in der Nähe von
Feldarbeitern waren, und blieben dann mutig
stehen.

»Wir müssen den Mörder fangen,« sagte
Heinrich ganz laut.

»Ja, wir müssen ihn fangen,« rief ich und ballte
die Faust. Daran beschlossen wir, zum Förster zu
gehen und ihm die verbrecherische Tat zu melden.
Wir rieten, wo der Förster zu dieser Stunde sein
könne, und fanden die größte Wahrscheinlichkeit
schließlich darin, daß er in der Schenke sei. Und
so war es auch. Er hörte unseren fast atemlosen
Bericht an und machte ein bitterernstes Gesicht.

»Der Wilddieb muß augenblicklich gefangen
werden,« meinte er zornig, spielte mit zwei
anderen Männern noch eine halbe Stunde lang
Karten und ging dann mit uns.

Ganz in der Nähe hatte Heinrich seine Vogelflinte
und ich meine Armbrust aufbewahrt. Diese
Waffen holten wir, nahmen sie schußbereit unter
den Arm und folgten dem Förster, der sagte,
nun sei ihm vor dem Wilddieb weiter nicht bange.

Ich für meinen Teil gestehe, daß ich diese
lobende Anerkennung meiner Männlichkeit und
Tapferkeit nur mit gemischten Gefühlen aufnahm.
Eine Armbrust einem mörderischen
Wilddieb gegenüber ist immer so eine eigene
Sache. Man muß aufs Auge oder vielleicht
auch auf die Schläfe zielen, wenn man einen
Erfolg haben will. Aber ich war nun einmal
eine Person, auf die sich der Förster in seinem
schweren Beruf verließ, und so wollte ich in der
Stunde der Gefahr nicht kneifen.

Wir durchsuchten den ganzen Busch. Ein paarmal
entdeckten wir Fußspuren, den Wilddieb aber
fanden wir nicht. Von Minute zu Minute wuchs
unser Mut, und in großer Tollkühnheit riefen
wir laut, er solle nur zum Vorschein kommen, der
elende, feige Kerl. Er kam nicht, und schließlich
sagte der Förster: »Wahrscheinlich ist der Wilddieb
mal auf einen Augenblick weggegangen. So'n
Mann hat ja auch mal was anderes vor.«

Das bedauerten wir sehr, und wir verachteten
den Wilddieb, der nicht auf seinem Posten geblieben
war. Der Förster machte den Vorschlag,
wir könnten ja unterdes das Eichhorn beerdigen.
Darauf gingen wir mit Freuden ein. Das tote
Tierchen wurde in eine Erdgrube gelegt, und wir
drei standen mit feierlichen Angesichtern an seinem
Grabe. Der Förster befahl mir, mit meiner Armbrust
den Trauersalut zu schießen. Darauf schoß
ich meinen Rohrpfeil über das Grab hinweg, und
der Förster machte mit seinem Munde »Plaff!«
dazu. Das veranlaßte mich, ihn scharf anzusehen,
ob er die ganze Sache auch ernst nehme.

Er nahm sie aber sehr ernst. Mit geradezu
verbissenem Gesicht stand er da, und mit dumpfer
Stimme sprach er:

»Heinrich, halte eine Leichenrede! Aber vergiß
das ›Amen!‹ nicht.« Heinrich und ich waren beide
ausgezeichnete Redner. So war es kein Wunder,
daß Heinrich, ohne sich's erst lange zu überlegen,
folgende schöne Rede hielt:

»Liebes Eichhörnchen, du bist leider tot. Von
wegen eines Schuftes! Er hat jetzt gerade etwas
anderes zu tun, sonst täten wir ihn erschießen.
Liebes Eichhörnchen, du warst das schönste Tier
auf der ganzen Welt. Du hast so niedliche Pfoten.
Jedes Jahr zu Weihnachten werde ich dir drei
große, vergoldete Nüsse in dein Grab stecken.
Amen.«

Der Förster drückte die Augen zu, dann wies
er auf mich.

»Jetzt halte du eine Leichenrede!«

Ich hustete, bis ich rot wurde, dann sagte ich:

»Liebes Eichhörnchen, du bist leider tot. Von
wegen eines Schuftes!«

»Du leierst ja wieder dasselbe her!« fuhr mir
der Förster dazwischen. Ich sagte verlegen, es
komme schon noch, hustete noch einmal lange und
inbrünstig und sagte dann: »Liebes Eichhörnchen,
du warst das allernützlichste Tier. Hoch auf der
Eiche hast du dein Haus gehabt, und es hatte immer
die Tür dort, wo kein Wind ging. Und, und
im Winter hast du geschlafen. Und, und du
konntest so fix turnen. Und du hattest einen
schönen Schwanz und vier schöne, weiße Nagezähne.
Amen.«

Nun hustete der Förster, stützte sich auf seine
Büchse und sprach:

»Jetzt werde ich eine Leichenrede halten!«

»Liebes Eichhörnchen, du warst also sozusagen
das allerschönste und allernützlichste Tier. Wenn
ein Vogelnest auf der Eiche war, dann bist du
gleich fix angeturnt gekommen. Da hast du mit
deinen niedlichen Pfoten die Eierchen genommen
und hast sie ausgesoffen. Und dann, liebes Eichhörnchen,
wenn kleine Vögelchen im Neste waren,
dann hast du sie mit deinen schönen, weißen
Nagezähnen zerbissen und gefressen. Wenn ein
Baum im Frühjahr frische Sprossen trieb, hast
du sie hübsch zierlich abgenagt, du liebes Eichhörnchen,
du! Und darum ist ein ›Wilddieb‹ gekommen
und hat dich tot geschossen, du Rabenvieh,
du Kanaille! Und der Wilddieb war ich selbst,
und ich habe das alles gemacht, um mal zwei
Schafsköpfen eine Lehre zu geben. Amen.«

Damit machte er Kehrt und stapfte davon.

Heinrich und ich standen mit offenen Mäulern
da. Ich fand zuerst die Sprache wieder und sagte:
»Das ist eine Gemeinheit.« Heinrich aber meinte:
»Er hat was von zwei Schafsköpfen gesagt!«

»Damit sind wir gemeint,« sagte ich zornig.
»Und er hat das Eichhörnchen selbst erschossen.«

Heinrichs Stirn zog sich in Falten.

»Wenn ich mal unser Gut erbe,« sagte er, »setze
ich ihn ab.«

»Das tue aber bestimmt,« rief ich, »er hat es
verdient!«

Von fernher scholl das fröhliche Lachen des
Försters.


Der Geistergrund.

Der Geistergrund war der einzige Ort im Gebiet
der fünf Waldstädte, von dem die Leute im Dorfe
etwas Genaueres wußten. Während so ein
Bauer achtlos durch Ameisenfeld stapfte und
dort nicht einmal den Bürgermeister kannte,
während er an der tausendjährigen Donarseiche
dumm und achtlos vorüberging, ja selbst nach
den Herrlichkeiten von Heinrichsburg kaum hinüberschielte,
ging sein träges Herz sofort rascher,
wenn er in die Nähe von Geistergrund kam.

Was spielten auch dort für schauerliche Geschichten
an dem dunklen Moor und dem Graben mit dem
schwarzen Wasser, Geschichten, die Hunderte von
Jahren alt waren und an den Winterabenden
beim flackernden Kienspanfeuer erzählt wurden,
bis alle Wangen rot und alle Herzen bange waren.

Da war die Geschichte von der Bäuerin, die
ihren Mann umgebracht hatte, indem sie ihm ein
Mahl von giftigen Pilzen bereitete. Noch am
gleichen Tage kam die schwere Übeltat ans
Tageslicht, und am anderen Morgen errichtete
die Obrigkeit einen Galgen und hängte die
Bäuerin auf. Aber ihr Leichnam verschwand, und
auch der Leichnam des Mannes verschwand, und
lange Zeit wußte niemand, wohin beide gekommen
seien, bis eine Frau im Geistergrund
einen großen giftigen Pilz sah, der den Hut vor
ihr abnahm und sagte: »Erbarme dich meiner,
erbarme dich meiner!« Als die Frau sich vor
Schreck nicht rühren konnte, kam eine Schlange
gekrochen und wickelte sich dem Pilz ums Bein.
Und die Schlange sprach: »Ich fresse den Pilz;
ich fresse den häßlichen, geizigen Pilz!« Sie
funkelte dabei mit den Augen.

Da ist die Frau schreiend davongelaufen und
hat im Dorfe alles erzählt, und es hat sich lange
Zeit niemand an den Geistergrund herangewagt.

Als aber einmal der Schuster Humpel erzählte,
er habe nun die beiden auch gesehen, nur hätte
diesmal der Pilz die Schlange gefressen, glaubte
ihm niemand; denn die Leute waren sehr aufgeklärt,
und Humpel war oft betrunken. -- -- --

Da war die andere Geschichte von dem Müller
Eisert. Der war in der Zeit, da der alte Fritz
Krieg führte, ins Lager der Russen übergegangen
und war ein so schlechter Kerl geworden, daß er
gegen seinen eigenen König kämpfte. Eisert besiegte
auch den alten Fritz in der Schlacht bei
Cunnersdorf und zog dann mit seinen Russen als
ein prahlender Kriegsheld bis vor sein Heimatsdorf.
Dort ließ er Kanonen auffahren und alles
zusammenschießen und in Brand stecken. Dann
ritt er auf einem pechschwarzen Roß durch das
brennende Dorf und verhöhnte die Leute und
zwang sie: »Gnädiger Herr!« und »Euer Wohlgeboren!«
zu ihm zu sagen. Für diese Missetat
wurde er bestraft. Als er wieder fortritt, begann
auf dem Turme die Glocke zu läuten. Den Turm
und die Kirche hatten die Russen, weil sie Christen
sind, verschont.

O, wie drang der Ton der Heimatglocke dem
argen Sünder so anklagend ins Ohr! Sie dröhnte
ihm in die Seele wie Posaunenton des jüngsten
Gerichts und versetzte sein Herz in eine ganz
schreckliche Angst. Und plötzlich wandte sich das
Roß, jagte zurück auf das Dorf zu, warf den
bösen Mann am Eingang des Dorfes auf die
Erde und galoppierte ganz allein in die finstere
Nacht hinaus.

Der Müller schlich sich an den Turm, um zu
sehen, wer da so schrecklich an der Glocke zöge.
Da sah er, daß niemand in dem Turm war, daß
die Glocke ganz von selber läutete. Darüber wurde
er ganz unsinnig vor Angst. Schreiend und
winselnd lief er um das Dorf herum, fand auf
dem Wege einen Strick und erhängte sich in der
Verzweiflung seines Herzens im Geistergrund, wie
sich Judas erhängte, als er den Herrn Jesus verraten
hatte.

Jetzt noch stand die Weide im Geistergrund, an
der der Verräter sein elendes Leben selbst beendet
hatte. -- --

Das waren unfreundliche Geschichten. Und
da war noch eine Geschichte, von der wir Kinder
etwas gehört hatten, ohne sie recht zu verstehen.
Und eben, weil ich sie nicht verstand,
machte ich ein Gedicht darüber. Das Gedicht
aber war so:


Das Mädchen.

Weil sie so schwer gesündigt hat,
Da wurd' sie in den Sumpf gesenkt,
Nun wohnt sie in der Geisterstadt,
Wo niemand ihrer denkt.
Sie hatte ein so weißes Kleid,
Doch einen schwarzen Fleck darauf;
Da steht sie um die Sternenzeit
Oft aus dem Modergrabe auf
Und wäscht mit heißer Tränen Flut
Sich aus dem Kleid den schwarzen Fleck;
Paßt auf, Ihr Leute, Gott ist gut:
Das Kleid wird weiß, der Fleck geht weg!

Das war das Gedicht, für das mir unsere gute
Fee drüben in Eichenhofen den Kranz schenkte. --

Es gab Zeiten, wo Heinrich und ich uns sehr
vor dem Geistergrund fürchteten. Um die
Dämmerzeit wären wir nicht hingegangen, und
auch wenn die Nebelmänner zwischen den Erlen
hin- und herkrochen, wagten wir uns nicht in diese
Gegend. Heinrich machte sogar einmal den Vorschlag,
den Geistergrund abzusetzen. Was ihm
nicht paßte, wollte er immer »absetzen«: den
Förster, den Geistergrund, die Kreuzottern und
die lateinische Grammatik. Es ist aber leider alles
bestehen geblieben.

Unsere Fee hatte im allgemeinen nichts dagegen,
wenn wir uns mal etwas fürchteten. Wenn
wir sie fragten, ob es Räuber gebe, sagte sie »Ja!«,
und wenn wir wissen wollten, ob wohl die
Räuber je in unsere Gegend kommen könnten,
sagte sie auch »Ja«! Dann bekamen wir allemal
knallrote Backen, und unsere Stimmen wurden
weniger krähend, als sie sonst waren. --

[Illustration]

Einmal, als wir mit dem Förster zufällig
wieder auf freundschaftlichem Fuße lebten, hätten
wir ihm gar zu gern eine zahme Dohle abgebettelt,
die er in seinem Forsthause hielt. Er
machte eine geheimnisvolle Miene und sagte:

»Die kann ich euch nicht geben. Die ist ein ganz
seltsamer Vogel. Ich habe sie auf der Judasweide
gefangen. Dort hatte sie ihr Nest. Und sie ist
eine verwunschene Prinzessin.«

Wir Jungen versuchten, ein ungläubiges Gelächter
anzuschlagen, aber es klang ganz meckrig,
und wir sahen mit Unbehagen auf den Vogel,
der plötzlich auf uns zukam, so daß wir
einige Schritte zurückwichen. Die Dohle funkelte
uns mit ihren Äuglein an, schlug mit den beschnittenen
Flügeln und schrie: »Beatrice!
Beatrice!«

Da sagten wir schnell: »Guten Abend« und
gingen davon. Der Förster kam uns nach.

»Ich sehe es ja ein, daß ihr die Dohle durchaus
haben wollt,« sagte er; »aber es würde euch nichts
nützen, wenn ich sie euch schenkte, denn sie würde
euch trotz ihrer beschnittenen Flügel entwischen.
Wollt ihr die Dohle haben und behalten, so müßt
ihr in die Judasweide abends in der Dämmerung
einen Nagel einschlagen. Einer muß den Nagel
halten, der andere muß hämmern.«

Darauf sagten wir, wir hätten es uns überlegt:
eigentlich wüßten wir gar nicht recht, was
wir mit einer Dohle anfangen sollten. Er, der
Förster, brauche eigentlich einen solchen Vogel
viel notwendiger als wir.

Der Förster spuckte auf den Boden, uns gerade
dicht vor die Zehen, und sagte: »Wenn ich nicht
wüßte, was ihr für mutige und kluge Kerle seid,
würde ich denken, ihr fürchtet euch. Aber damit
habt ihr recht, daß ich den Vogel notwendig
brauche.«

»Wozu brauchst du ihn denn?« fragte ich neugierig.

»Zum Geschichtenerzählen.«

»Zum Geschichtenerzählen? Ei, wieso?«

»Hm. Wenn ich abends müde aus dem Walde
komme, ziehe ich mir die Stiefel aus, sperre die
Hunde aus der Stube hinaus, setze mich in den
Lehnstuhl und dann sag' ich zu der Dohle:
Beatrice, leg' los!«

»Und -- und dann legt sie los?«

»Legt sie los! Jawohl! Sie erzählt famos.
Aber leider bloß lauter Räuber-, Gespenster- und
Indianergeschichten. Andere weiß sie nicht. Alles
zum Gruseln.«

Räuber-, Gespenster- und Indianergeschichten!
Das hielten Heinrich und ich damals für das
Schönste auf der ganzen Welt. Wir hatten uns
heimlich solche Bücher geliehen und einige davon
gelesen, bis es die Fee erfuhr und uns sagte:
sie hätte uns nicht mehr lieb, wenn wir so etwas
wieder täten, denn solche Geschichten seien schlecht
und dumm und erlogen. Da hatten wir es aus
Liebe zur Fee unterlassen. Aber wenn wir nun
eine Dohle hätten, die so etwas erzählen könnte,
das wäre doch etwas anderes, denn eine Dohle
ist doch kein Buch. Und man käme dann auf
ehrliche Weise zu interessanten Geschichten.

»Ja,« sagte der Förster, »meine Großmutter
hört auch mit zu.« Des Försters Großmutter
war 92 Jahre alt.

»Borg' uns einen Hammer und einen Nagel!«
rief Heinrich; »wir gehen jetzt gleich zur Judasweide!
Nimm deine Büchse und deinen Hirschfänger
und geh mit.«

»Wäre noch besser,« meinte der Förster; »allein
müßt ihr gehen, und morgen abend ist die richtige
Zeit; morgen ist Neumond.« --

Der nächste Abend war trübe und regnerisch.
Den ganzen Tag hatten Heinrich und ich in schrecklicher
Aufregung zugebracht. Kein Essen hatte
uns geschmeckt, kein Spiel hatte uns gefallen und
die Fee hatte uns ein paarmal ganz eigentümlich
forschend angesehen. Schwache Augenblicke kamen,
wo uns die ganze Sache leid wurde; aber dann
dachten wir an die verzauberte Dohle, die Räubergeschichten
erzählen konnte, und ein Fieberschauer
von Glück, einen solch wundersamen Vogel
besitzen, packte uns.

Am späten Nachmittag holten wir aus dem
Handwerkskasten einen Hammer und einen starken
Nagel heraus und verbargen beides unter dem
welken, abgefallenen Laub eines Kastanienbaumes.

[Illustration]

Als die ersten Lichter angezündet wurden,
schauten wir uns starr in die Augen. Unter
Heinrichs Wimpern blitzte eine Träne. Aber ich
-- ich hätte für schöne Geschichten mein Leben
hingegeben und faßte ihn an der Hand.

»Soll ich allein gehen?« fragte ich.

»Nein, ich lass' dich nicht allein gehen,« sagte er.

Er war immer ein treuer Freund. Er borgte
mir sogar seine Flinte.

So schlichen wir uns aus dem Hof hinaus und
gingen über die Felder. Der Wind jagte grauweiße
Wolkenfetzen über den Himmel, und es
regnete sacht. Wir kamen nach Ameisenfeld. Die
ganze Stadt schlief. Wir gingen an der Wotanseiche
vorbei. Sie stöhnte leise im Winde. Durch
die Brombeerhecken brachen wir. Heinrich trug
den Hammer; ich hatte den Nagel in der Hand
wie einen spitzen Dolch. Manchmal war es mir,
als ob er glühend heiß sei.

Wir sprachen beide kein Wort, denn das hatte
uns der Förster eingeschärft. Aber das Schweigen
machte unsere Herzen noch beklommener.

Nun tauchte der Geistergrund auf. Die niederen
Erlen und Weiden zogen sich am schwarzen
Graben entlang, eine hohe Ulme ragte über sie
hinweg. Unter ihr sollten der Pilz und die
Schlange gesehen worden sein. Und links von ihr,
ein Stückchen vom Bachrande weg, war die
Judasweide.

Ich schloß die Augen. Wie ein Wirbel war es
in meinem Kopf. Rote Ringe sah ich tanzen, ein
brennendes Dorf sah ich, durch das auf schwarzem
Roß der tolle Müller ritt. Dicker Schweiß rann
mir unterm Hut hervor. Aber vorwärts ging es,
immer vorwärts, zuletzt im Trab. Fest hielt ich
den Nagel in der Hand. Heinrich strauchelte und
fiel hin. Der Hammer entglitt ihm. Er hob ihn
auf und packte mich fest am Arm. Unsere Herzen
schlugen in rasender Schnelligkeit. Wir gingen
immer noch vorwärts.

Da -- erst sah ich's -- dann sah's Heinrich --
dann fielen wir auf die Knie --

Aus dem Erlengebüsch trat eine weiße Frau.

Die Frau aus dem Moor -- die Frau, die ihr
Kleid wäscht --

Wir schrieen laut um Hilfe.

       *       *       *       *       *

Es war nicht die Frau aus dem Moor. Es
war Heinrichs Mutter. Es war unsere Fee.

»Was wolltet ihr machen?« fragte sie freundlich.
Da gestanden wir alles.

Sie zürnte uns nicht; sie strich uns beiden über
die Köpfe.

»Nun, habt keine Angst; es passiert euch nichts,
ich bin ja bei euch!«

Ja, nun wußten wir: es konnte uns nichts
passieren, da sie bei uns war. Heinrich schlang
den Arm um seine Mutter und küßte sie zweimal,
und dann nahm ich sie um den Hals und küßte sie
dreimal.

Wir schritten ein paarmal an dem Graben auf
und ab, ganz friedlich, als ob wir spazieren
gingen, und nachdem wir etwa zehnmal ganz tief
und erleichternd aufgeseufzt hatten, fühlten wir,
daß unsere Herzen ruhiger wurden.

»Hat euch der Förster gerade um die jetzige
Stunde bestellt?« fragte die Fee.

»Jawohl, später als 6 Uhr dürfe es nicht sein,
hat er gesagt.«

»So wollen wir einmal hinübergehen in den
Geistergrund,« meinte sie. Wir gingen ruhig und
ohne Angst mit ihr über den schmalen Steg, der
über den schwarzen Graben führte. Sie hielt uns
an den Händen und sagte:

»Nun seht, wie still es hier ist, ebenso still wie
überall im Walde.«

Dann gingen wir schweigend weiter. Über dem
moorigen Grund wuchs dichtes, weiches Moos,
und wir gingen ganz unhörbar. Einmal blieb
die Fee stehen und sagte leise:

»Wenn euch etwas Seltsames oder Schreckliches
auffällt, so erschreckt nicht oder schreit nicht; denn
es ist ganz gewiß nichts wirklich Schreckliches.«

Da faßten wir großen Mut. Plötzlich aber
blieben wir doch in jähem Schreck stehen.

Unter der hohen Ulme war der Pilz, ein schrecklich
großer, blutroter Pilz, und unter dem Pilze
lag eine Frau. Heinrich begann zu weinen, ich
begann zu schlucken, die Fee aber faßte fest unsere
Hände und rief ganz laut und ruhig: »Du Pilz
und du Pilzweib, kommt einmal beide her!«

Da schnellte plötzlich der verhexte Pilz hoch in
die Höhe, das Weib richtete sich auf, und eine
tiefe Stimme sagte:

»O jemine, die gnädige Frau!«

»Komm nur mal näher!« befahl die Fee.

Unsere Herzen schlugen; aber es war jetzt mehr
Neugierde als Angst.

Der Pilz und die Frau wandelten ganz langsam
auf uns zu. Und plötzlich brach Heinrich in
ein lautes Gelächter aus, und ich lachte unter
Tränen mit.

Vor uns stand der Herr Förster. Er hatte sich
die Kleider seiner zweiundneunzigjährigen Großmutter
angezogen, und der Pilz war der riesengroße
und brennend rote Regenschirm der alten
Frau, der die Verwunderung der ganzen Gemeinde
bildete, wenn die Alte noch einmal zur
Kirche gehumpelt kam.

»Gnädige Frau -- gnädige Frau --« stammelte
der Förster.

Er sah greulich aus. Der weite blumige Rock
war ihm viel zu kurz, so daß seine groben
Stiefel zum Vorschein kamen, das altmodische
Leibchen war ihm viel zu schmal, so daß man seine
Weste sah, und die alte Schleifenhaube saß ihm
ganz windschief auf seinem struppigen Kopf. Den
roten Schirm hatte er nun zugeklappt und quetschte
ihn wie ein brennendes dickes Gebund in höchster
Verlegenheit unter den Arm.

[Illustration]

Die Fee blickte halb streng und halb lächelnd
auf den sonderbaren Geist und sagte:

»Schämen Sie sich denn nicht, Förster, solche
Faxen zu machen? Denken Sie nicht daran,
was den Kindern vor Schreck passieren kann?«

Die Pilzbäuerin raffte in tödlicher Scham an
ihrem Kleid herum.

»Gnädige Frau, weil halt -- weil halt die beiden
solche Schlingel sind.«

»Es gibt viele Schlingel auf der Welt, große
und kleine,« sagte die Fee.

Der Förster kraute sich die Schleifenhaube.

»Nun werd' ich wohl gar meine Stellung verlieren,«
sagte der trostlose Hüter des Waldes.
Die Fee lächelte milde.

»Etwas werden Sie schon verlieren: Sie werden
den Jungen zur Strafe Ihre Dohle schenken!«

»Können sie kriegen, können sie kriegen!« schrie
da das Zauberweib voll Entzücken und haschte
nach der Hand der guten Fee, die sich abwenden
mußte, weil es wohl mit ihrer Fassung vorbei
war.

»Gnädige Frau,« sagte der Förster, »wenn es
erlaubt ist, möcht' ich mich aus dieser sehr fatalen
Begebenheit empfehlen.«

»Gehen Sie nur, gehen Sie nur!« sagte sie und
blieb immer mit dem Gesicht abgewandt.

Da machte er eine Verneigung, wobei ihm der
geblümte Rock bis über die Kniekehlen emporrutschte,
und dann ging er davon. Als er an den
Bach kam, wollte er, wie er's gewöhnt war, hinüberspringen;
aber die Feiertagszier seiner
Großmutter wickelte sich um seine Beine und
er plumpste dicht am Rande in die Flut. Das war
für uns Kinder der glänzendste Spaß. Gleich
darauf pudelte er sich ans Ufer und jagte in
fliegendem Gewande und mit flatternden Haubenschleifen
davon. --

Die Dohle haben wir bekommen; da sie aber
tagaus, tagein nichts anderes zu erzählen wußte
als: »Beatrice! Beatrice!«, wurde sie uns langweilig.


Heinrichsburg.

Die Stadt lag auf einer Insel, die ringsum von
dem Wasser eines Stromes umgeben war. Wenn
ein starker Regen fiel, wurde dieser Strom so tief,
daß wir uns die Hosen aufstreifen mußten, um
ihn durchwaten zu können. In trockenen Zeitläuften
blies der Wind den Staub vom Flußgrunde
bis in unsere Stadt. Wir warfen uns
dann platt auf die Erde und redeten vom Samum.

Die Insel war mehrere Steinwürfe lang und
fast eben so breit. Ihr Gebiet umfaßte die Hohkönigsburg,
die Stadt selbst, das Felsengebirge,
einen Kriegs- und einen Handelshafen, ein Jagdschloß,
eine Meierei und eine Hundehütte. In
der Stadt gab es ein Rathaus, eine katholische,
evangelische, jüdische und heidnische Kirche, ein
Museum, ein Hotel, sehr viele Geschäfts- und
Wohnhäuser und einen Reichstag.

Die größten Gebäude waren die Hohkönigsburg,
das Hotel und die Hundehütte. Die Burg war im
19. Jahrhundert vom Zimmermann Schadel erbaut,
und der Bau hatte über 70 Mark verschlungen.
Dafür war er aber auch prächtig und stattlich.
Die Burg umfaßt nur den Thronsaal; für
mindere Räume war kein Platz. Eine stolze Fahne
wehte vom Dache, und an der Pforte zeigten zwei
angeklebte Bilder grimmiger Löwen, von denen
der eine ein Tiger war, daß hier im Schloß Macht
und Größe wohne und jeder ein Kind des Todes
sei, der sich den hier herrschenden Gewalten widersetze.
Bei Regenwetter wurden sämtliche Hauptteile
der Stadt mit Wachsleinwand überdeckt.

Das Hotel hatte früher dem Pächter einer
Kirschenallee gehört, der darin sein Wächteramt
ausgeübt hatte. Kinder unter vier Jahren konnten
erhobenen Hauptes durch seine Pforten schreiten,
und auch wir brauchten uns nicht sonderlich zu
bücken, wenn wir eintraten. Es hieß »Hotel
Bristol« und trug an seiner Front viele Schilder,
als: »Zivile Preise«, »Warme und kalte Speisen zu
jeder Jahreszeit«, »Eintritt verboten!« und was
etwa sonst noch an ein gutes Hotel an Anschlägen
gehört.

Der einzige ständig bewohnte Raum von
Heinrichsburg war die Hundehütte. Hier hauste
Pluto, der Wachhund. Er war von strengem
Charakter, aber gutem Appetit, deswegen geriet
er in Verlegenheit, wenn ihm einer, den er
eigentlich bekämpfen sollte, einen Knochen anbot.
Auf diese Weise hat Pluto es leider nicht verhütet,
daß uns eines Nachts das Hotel gestohlen
wurde. Er stand am Morgen nach der Unglücksnacht
mit albernem Gesicht auf der leeren Baustelle,
wedelte verlegen mit dem Schwanze und
bellte nach dem Ufer hin, wie einer bellt, der kein
gutes Gewissen hat. Den Bestechungsknochen
hatte er an einer leicht kenntlichen Stelle verscharrt.

[Illustration]

Bei der letzten Volkszählung in Heinrichsburg
wurde Plutos Flohbestand in Fell und Hütte auf
zusammen 250 Stück lebend angegeben. Natürlich
nur schätzungsweise, wie es bei wilden Stämmen
immer geschieht. All dieses Kleinvolk hielt Pluto
in guter Zucht; Übergriffe ahndete er mit scharfer
Kralle.

Pluto war sehr vielseitig von Beruf: des Nachts
mußte er wachen, am Tage zog er als prächtig aufgeschirrtes
Roß den Triumphwagen des Königs,
Sonntags trat er in der Stierkampfarena mit
grimmem Mute als Bulle auf, und oft spielte er
im Felsengebirge den Drachen oder fing in der
Stadt Mäuse, welche sehr lästig waren, weil sie
uns bereits die Rathaustreppe und einen Nachtwächter
aufgefressen hatten. Nur als Delphin
hatte Pluto kein Talent; denn allemal, wenn wir
auf seinem Rücken durch die Fluten des Stromes
ziehen wollten, warf er uns ab, sprang ans Ufer
und schüttelte sein Fell, was kein Delphin tun
darf.

Das Felsengebirge war ein Steilgebirge von
durchaus alpinem Charakter. Seine größte Erhebung,
die Adlerkoppe, hatte eine relative Höhe
von 2500 Zentimetern; sie war im Winter mit
»ewigem Schnee« bedeckt und fiel steil zum Flusse
ab, von dessen Seite her sie nur von den geübtesten
Bergsteigern mit Nagelschuhen, Eispickel
und nach vorangegangener Anseilung zu
erreichen war. Ein prächtiger Aussichtsturm von
30 Zentimeter Höhe krönte ihren stolzen Gipfel,
und wer sich auf die Erde legte und über diesen
Aussichtsturm hinweg in die Ferne sah, genoß
die herrlichsten Landschaftsbilder. Dicht unter
ihm das wildzerklüftete Gebirge, an dessen Fuß
der Strom mit seinen weißen Segelbooten und
seinem Spiritusdampfer brandete, dann die
Stadt, die »wie eine Spielzeugschachtel« ausgebreitet
lag, die trotzige Hohkönigsburg, die dunkel
aufragende Hundehütte, der weite Wald und das
grüne Wiesenland bis weit hinaus an den Horizont
in das Gebiet von Geistergrund und
Ameisenfeld.

Wie ich inzwischen auch herumgekommen bin
in fremden Landen und Erdteilen: die Aussicht
von der Adlerkoppe bei Heinrichsburg ist die einzige,
die ich in dem Reisebuch meines Lebens mit
drei Sternen bezeichnen mag.

Der Abstieg von der Adlerkoppe nach der Stadt
bot nur mäßige Schwierigkeiten und war ohne
Lebensgefahr zu bewerkstelligen. Er führte an
einer grünen Alm vorüber, auf der eine Herde
buntgescheckter Kühe weidete und ein Hirtenbub
vor seinem Alpenhäuslein saß und lieblich auf
einer Schalmei spielte. Nur eine drohende Kuppe
ragte noch auf. Dort legte ein kühner Alpenjäger
eben auf eine Gemse an. Wenn man sich die
hohlen Hände als Fernglas vor die Augen hielt,
konnte man die aufregende Szene so oft beobachten,
wie man vorbeikam.

Etwa in halber Höhe des Gebirges war der
»Gebirgsbahnhof« angelegt. Er hatte einen sehr
schmuck eingerichteten Wartesaal, eine Wegeschranke
und eine Telegraphenstange ohne Draht.
Der Zug bestand aus einer Lokomotive und drei
allerliebsten Aussichtswagen. Die Passagiere
waren immer dieselben: ein Engländer, ein Professor
mit einer Botanisiertrommel und eine
Köchin mit einem Korb am Arm, die jedenfalls
auf der Höhe nach Suppengemüse gesucht hatte.
Wenn nun auch der Zug nicht übermäßig besetzt
war, so war es doch herrlich anzusehen, wenn er
in die Tiefe fuhr. Er machte die kühnsten Kurven,
setzte über Viadukte, die über schauerliche Abgründe
gespannt waren, raste durch pechdunkle
Tunnel, durchbrauste die Ebene und fuhr endlich
donnernd in den Bahnhof von Heinrichsburg ein,
wo es sich bei dem Kommando: »Alles aussteigen!«
ärgerlicherweise meist herausstellte, daß
der Professor, der Engländer und die Köchin auf
der raschen Fahrt von den Sitzen gepurzelt waren
und auf dem Fußboden lagen. Ein Eisenbahnunfall
wurde trotzdem, wie auf allen Gebirgsbahnen,
nie bekannt.

O, und die Stadt Heinrichsburg selbst! Fürwahr,
ein Fremdling hätte sich in ihrem Gewirr
von Straßen und Plätzen rettungslos verlaufen.
Auf dem Marktplatz stand das Rathaus; da
guckte der Bürgermeister den ganzen Tag zum
Fenster heraus. In der katholischen Kirche war
beständig Hochzeit, in der evangelischen immer
Kindtaufen. Im Judentempel saßen tagaus, tagein
drei Männer mit Zylinderhüten auf dem
Kopf, und in der heidnischen Kirche schlachtete ein
Priester, namens Mohammed, ständig ein Kind.
Das Museum umfaßte vier Bilder und zwei
Statuen, der Reichstag war immer geschlossen.
Wir haben ihn, da wir nichts Rechtes mit ihm
anzufangen wußten, später in eine »Aktien-Brauerei«
umgewandelt.

Die Pracht der Auslagen, die sich die Geschäftshäuser
leisteten, war erstaunlich. Allein der
Fleischerladen mit seinen feuerroten Schinken und
brennend braunen Würsten war ein kleines
Weltwunder. Majestät sprach nebst hohem Gefolge
täglich persönlich in diesem Geschäfte vor,
dessen Warenbestand immer pünktlich erneuert
wurde.

Heinrichsburg war eine werktätige Stadt: da
saß der Schuster vor seinem Haus und zog den
Pechdraht, da hieb in seiner dunklen Höhle der
Schmied auf den Amboß, da saß der Weber am
Webstuhl. Lastwagen fuhren die Straße entlang
oder hielten vor dem Wirtshaus; der Postillon
saß hoch auf dem Bock und blies sein lustiges
Signal. Alle Handwerker waren vertreten, und
wo ein Gewerbe fehlte, da wurde zu Weihnachten
oder zum Geburtstag Seiner Majestät König
Heinrichs I. Abhilfe geschafft.

Nur eine Schule gab es in Heinrichsburg nicht.
Majestät meinten, das sei nicht lustig und verderbe
den Spaß. Dafür marschierten glänzende Soldaten
auf den Straßen, und die Musikkapelle zog
den ganzen Tag mit Tiradebumdieh durch die
glückliche Stadt.

Merkwürdig war der Denkmälerbestand von
Heinrichsburg. Von historischen Größen hatten
Kaiser Wilhelm, Blücher, Zieten und der alte
Fritz je ein Monument. Dann hatte Majestät
selbst ein Denkmal, ebenso seine erlauchten
Eltern: Rittergutsbesitzer Gerhardt und Frau.
Diese Denkmäler bestanden aus Photographien,
die in Steinpyramiden eingemauert waren. Bei
Regenwetter wurden Zigarrenschachteln als
Schutzdecke darüber gestülpt. Dann aber waren
in Standbildern noch verewigt Robinson Crusoe
und der »Pfadfinder«. Diese Denkmäler waren
aus Holz, von Sr. Majestät selbst entworfen und
modelliert. Sie wurden bei Regenwetter nicht
zugedeckt; denn sie waren »abgehärtet«. Bei festlichen
Gelegenheiten wurden sämtliche Denkmäler
illuminiert.

Im Gerichtsgefängnis saßen Napoleon und der
Räuberhauptmann Schinderhannes.

[Illustration]

Herrlich war es draußen am Hafen. Oft lagen
wir da am Ufer und sahen auf die weite, unübersehbare
Wasserfläche und sprachen kein Wort.
Wenn ein Schiff seine weißen Segel blähte und
langsam von dannen fuhr, dann sahen wir ihm
nach, dann schaute unsere junge Seele weit hinaus
bis in die fernen Länder, nach denen das Schiff
fuhr, zu fremdartigen Menschen, die in Zelten
auf ewig grünen, ewig weiten Wiesen wohnten
und andere Blumen und andere Sterne sahen als
wir. Und all die tausend Gefahren, die das Schiff
haben würde in Scylla und Charybdis, bei Seeräubern
und Meerungeheuern, erwogen wir und
kämpften alle Not selbst durch und waren dabei,
wenn das siegreiche Schiff eines Tages doch stolz
und sicher in den Hafen fuhr.

Manchmal kam unsere gute »Fee«, die Schutzgöttin
unseres Insellandes, zu uns herüber.
Dann feuerten unsere Strandkanonen Salut, die
Ehrenwache stand am Ufer, die ganze Militärkapelle
war aufgestellt, und von allen öffentlichen
und vielen privaten Häusern wehten Fahnen.
Der König ging der »Schutzgöttin« entgegen und
küßte ihr die Hand, und sie ging mit freundlichen
Augen durch unsere Stadt, und wo es an etwas
fehlte, das sah ihr gütiger Blick und ergänzte alsbald
ihre geschickte, freigebige Hand.

Nur Pluto war an solchen Feiertagen eingesperrt.
Wurde er losgelassen, so fuhr er in einer
unsinnigen Freude durchs ganze Land, riß die
Stadt um und brachte den Zug zum Entgleisen.

O, es war schön in Heinrichsburg! Die größten
Ehren habe ich dort genossen: ich war Großwesir
und Stierkämpfer, Hofdichter und Scharfrichter,
Hotelportier und Mitregent. Ich habe die Straßen
ausgebessert und das Gesetzbuch verfaßt, ich war
Dachdecker und Theaterdirektor, Seeräuber und
Staatsanwalt. Selbst die Frau Königin bin ich
gewesen; da hatte ich lange gelbe Locken und ein
weißes Kleid mit einem Goldgürtel und ein
Taschentuch, mit einer Krone gezeichnet. Am
liebsten war ich Leuchtturm. Dann trug ich eine
Laterne auf dem Kopf und ließ ihr Licht nach
allen Seiten spielen, bis die Schiffe, die in Wetter
und Not draußen waren, glücklich den Hafen erreicht
hatten.

       *       *       *       *       *

Unsere gute Fee! Wenn ich jetzt, da ich lange,
lange schon ein Mann geworden bin, manchmal
träumend die Augen schließe, sehe ich ein weites
Gelände vor mir, dadurch ein schmaler Weg führt.
Es ist der Weg, den ich durch mein Leben gegangen
bin. Grüne Wälder, aber auch öde Schutthalden
sind an seiner Seite, und es fehlt nicht an
Denksteinen, und mancher der Denksteine ist ein
Marterl. Wenn ich nun so sitze und träume,
ziehen Hunderte und Tausende von Menschen an
meiner Seele vorüber. Ihnen allen bin ich einmal
begegnet, bin ein Stücklein mit ihnen gewandert.
Aber die meisten schauen mich so fremd an,
als hätte ich sie nie gesehen: alle die, die mir
gleichgültig waren und alle die, die mir einmal
wehe taten. Sie hat mein Herz vergessen. Die
aber, die mir etwas Liebes, Gutes erwiesen,
reichen mir alle die Hand, und ihre Stimme klingt
mir wie die eines Freundes von gestern.

Und wenn sie kommt, die gute Fee meiner
Kinderzeit, schlägt mir auch heute noch das Herz
in Liebe für sie; ich hasche nach ihrer weißen Hand
und küsse die Hand und lege sie auf meine Stirn.
Dann wehen ihre blonden Haare im Wind, und
ihre Augen sind schön und lieb wie in alten
Tagen. Und sie nimmt meine Seele mit sich und
führt sie in


die heilige Stadt.

Da stand ein kleiner Tempel. In dem Tempel
war eine Figur des Heilands, die war so weiß
wie Schnee. Vor dem Heiland stand ein Knabe,
und über der Gruppe waren in goldenen Lettern
zwei Sprüche in die Wand geschrieben:

»Dieses Kind wird der Größte sein im Himmelreich!«

und:

»Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so
werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen!«

Der Knabe aber, der vor dem Heiland stand,
war Heinrichs Bruder Ludwig, der frühzeitig aus
dem Leben geschieden war.

Als Ludwig starb, war ein solches Herzeleid
auch über uns Kinder gekommen, daß ich mit
Heinrich nach der Insel ging, um unsere schöne
Stadt Heinrichsburg niederzureißen.

»Wenn Ludwig nicht mehr bei uns ist,« sagten
wir zueinander, »so macht uns die Stadt keine
Freude mehr.«

Wir stiegen in bitteren Schmerzen auf die
Adlerkoppe. Noch einmal schaute ich über den
Aussichtsturm hinaus ins weite Land, dann löste
ich ihn aus der Erde und nahm ihn unter den
Arm. Heinrich packte den Bahnhof in seine Mütze,
und eben wollten wir den Alpenjäger und die
Gemse von der Felskuppe holen, als Heinrichs
Mutter uns nachkam. Ihr Gesicht war weiß, und
sie ging ganz langsam; aber sie lächelte doch, als
sie uns über die Köpfe strich und sprach:

»Laßt nur eure Stadt stehen; Ludwig hat jetzt
eine viel schönere Stadt als ihr!«

Da nahm Heinrich den Bahnhof wieder aus
der Mütze, und ich trug den Turm wieder auf den
Berg, richtete ihn dort auf und überzeugte mich,
daß die Aussicht über ihn hinweg wieder ganz
herrlich schön sei.

Dann gingen wir drei nach Hause. Wir
sprachen nicht. Es war gegen Abend, und der erste
Stern tauchte auf am Himmel. Da holte Heinrich
tief Atem und fragte mit stockender Stimme:

»Was für eine Stadt hat Ludwig?«

Die Mutter zog ihn an sich und sagte:

»Der liebe Gott kann ihm eine Stadt aufbauen
aus lauter Gold.«

»Und hat er auch einen Berg und einen Turm
darauf?« fragte ich beklommen.

»Er steht auf einem Berg, der höher ist als
alle Berge, und er kann von da über die ganze
Welt sehen.«

»Bis Berlin zum Kaiser?« fragte Heinrich
verwundert.

»Bis Berlin zum Kaiser,« sagte die Mutter,
»und -- bis zu uns dreien.«

»Sieht er uns jetzt gehen?«

»Ja, ich glaube, er sieht uns gehen.«

Da blies der Abendwind übers Feld, und ich
fror.

       *       *       *       *       *

»Dieser ist der Größte im Himmelreich!«

Der goldene Spruch stand über Ludwigs
Marmorbild, das vor dem Heiland stand. Mit
scheuer Ehrfurcht dachten wir an den Spielkameraden,
der mit einem Kranz weißer Rosen
um die Stirn in jenes ferne Land gewandert
und nun dort ein Fürst und Herrscher war. Da
habe ich oft auf der Adlerkoppe neben dem Aussichtsturm
gelegen und hinaufgeschaut in das
ewige blaue Land und im tiefsten Herzen gewünscht,
daß ich auch einmal den Weg finden
möge dorthin.

[Illustration]

Oft pilgerten wir nach der heiligen Stadt. Ja,
selbst der Förster kam manchmal mit; er stand
dann ganz still und hielt seinen grünen Hut in
der Hand. Meist war unsere gute Fee mit uns
dort. Ich habe sie nie weinen sehen um ihr
totes Kind. Ein ruhiges Leuchten war immer
in ihren Augen. Und sie ging mit uns aus der
heiligen Stadt freundlich nach Heinrichsburg,
nach Ameisenfeld und zu der Donarseiche, und
sprach mit friedlicher, fröhlicher Seele mit uns
von allen wichtigen Dingen, die im Walde zu
sehen waren.

Sie war selbst wie die Kinder, und darum hatte
sie schon hier auf Erden ein Himmelreich im
Herzen.

Meinem Freunde Heinrich und mir aber ist
durch unser ganzes Leben der goldene Spruch
aus der Heiligen Stadt nachgegangen:

»Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so
werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen!«

[Illustration]

Der kleine General.


Die Szene spielt am Weihnachtsabend in einem vornehm
ausgestatteten Zimmer. Der kleine Hans liegt schwer krank
im Bette. Die Mutter wacht bei ihm. Im Nebenzimmer
steht der Christbaum. Eine rote Lampe verbreitet ein traumhaftes
Licht. Auf dem Nachttischchen stehen zwölf Bleisoldaten.

=Hans= (richtet sich matt auf):

Mutter, ich möchte den Christbaum noch einmal
sehen.

=Die Mutter=:

Wird dich nicht wieder das viele Licht stören,
Hans?

=Hans=:

Ach, nein ... ich möchte ihn sehen. Zünde
doch die Lichter noch einmal an, Mutter ... ja?

=Die Mutter=:

Gewiß, mein Kind, wie du willst ...

Sie geht ins Nebenzimmer und zündet die Weihnachtskerzen
an. Es wird lichter im Gemach. Hans schaut mit großen,
fiebernden Augen der Mutter zu. Die Mutter kommt zurück.

=Die Mutter=:

Gefällt dir der Baum, mein Goldjunge?

=Hans=:

Er ist schön ... er ist sehr schön! ... Es ist
wohl viel Marzipan dran? ... Ich kann keines
essen ... es schmeckt mir bitter ... Aber die
Krone und der Engel! -- -- -- -- Ach, Mutter,
mir tun die Augen weh ... lösch die Lichter
aus ... bitte, bitte, lösch die Lichter wieder aus!

Die Mutter geht seufzend ins Nebenzimmer zurück und löscht
die Weihnachtslichter aus.

=Hans=:

Ach, ist das schade! Die schönen, funkelnden
Lichter! ... Nun ist er ganz finster, der
Baum ...

=Die Mutter= (zurückkommend):

Ist es so gut?

=Hans=:

Ja, es ist gut so ... Ich freu' mich so über die
Soldatensachen, Mutter.

=Die Mutter=:

Mein lieber Junge!

=Hans=:

Bring mir doch den Säbel und den Helm!
Und einen Spiegel ... ja? Ich will mich gern
sehen ...

=Die Mutter=:

Ja, ich hole sie! (Pause.) So, mein guter Hans,
hier sind die Sachen!

=Hans=:

Stütz' mir den Rücken, ja ... ich will mich
setzen, daß ich den Helm aufsetzen kann ...
So ... ah, es geht schwer ... und jetzt ... jetzt
den Säbel ... halt' mich fest, Mutter, fest ...
ja so! ... Und jetzt noch den Spiegel ... Oh,
oh, ... wie seh ich denn aus? ... Das bin ich
doch nicht! Das ist ja ein ganz ... altes ...
häßliches Gesicht!

=Die Mutter= (mit unterdrücktem Schluchzen):

Du wirst bald besser aussehen, lieber Hans!

=Hans= (mit tiefem, schmerzlichem Erstaunen):

Bin ich das wirklich?!

=Die Mutter= (tröstend):

Sieh doch den Helm ... er steht dir so schön ...
mein kleiner, lieber Held ...

=Hans=:

Oh ... ich sehe aus ... wie der Tod ...

=Die Mutter= (läßt den Spiegel fallen):

Hans! ... Sprich nicht so, Hans ... das
darfst du nicht ... das ist böse von dir ...
entsetzlich böse ...

=Hans= (sinkt erschöpft zurück; ganz leise und matt):

Ich will nicht böse sein ... ich will gut sein ...
und ich will auch nicht gern ... zum Tode ...
ich möchte bei dir bleiben, Mutter ... bei dir ist's
so schön ...

(Die Mutter setzt sich langsam am Bette nieder. Lange Pause.)

=Hans=:

Ich glaube ... daß ich heute sterben soll ...

=Die Mutter=:

Du sollst ja nicht so sprechen ... du wirst nicht
sterben, Hans ... ich laß dich ja nicht sterben ...
ganz bestimmt nicht ... ich verspreche es dir ...
du weißt, ich halte immer, was ich verspreche ...
ich lasse dich nicht sterben, mein Junge, mein
Junge!

=Hans= (langsam):

Aber der Vater ist ja auch gestorben und der
Großvater auch.

=Die Mutter=:

Sie waren älter als du, aber so ein Knabe
stirbt nicht, nein, der stirbt nicht!

=Hans=:

Setz' dich auf den Stuhl, Mutter ... erzähl'
mir vom Großvater ... wie es war, ehe er
starb, ja?

=Die Mutter=:

Nein, nein, heute nicht, ein anderes Mal will
ich dir's erzählen ...

=Hans=:

Heute, Mutter, heute! ... Wo gehst du
hin? ...

=Die Mutter=:

Die Anna soll nach dem Arzt; ich warte schon
so ...

=Hans=:

Er hat Einbescherung zu Hause; laß ihn, er
hat jetzt nicht Zeit für mich.

=Die Mutter=:

Ich will doch schicken, ich komme gleich
wieder ... Der Arzt kommt bestimmt ...

(Sie geht hinaus.)

=Hans= (schaut ihr scheu nach, dann wendet er sich
an die Bleisoldaten):

Paßt auf, ihr blauen Jungen, paßt auf ... ich
will euch was sagen ... Ich bin euer General ...
Seht ihr meinen Degen und meinen Helm? ...
Ich kommandier' euch! ... Jawohl! ... Und
wenn der Tod kommt ... dann wollen wir mit
ihm kämpfen ... tapfer, ihr Jungen ... er ...
er darf uns nicht unterkriegen ... er nicht ...
wir ihn ... wir müssen ihn unterkriegen ...
Hört ihr? ... Versteht ihr? ... Wir ihn! ...
Mein Großvater, der ist auch mit 12 Mann ...
den Hügel hinauf ... gegen viele Franzosen ...
bumm, schossen sie, bumm, bumm ... sechse
fielen ... eine Kugel ... eine ganz kleine, blaue
Kugel ... flog auch meinem Großvater in den
Leib ... er machte sich nichts draus ... nein,
gar nichts daraus aus der kleinen Kugel ... er
stürmte weiter ... und erst, als er die Fahne
hatte ... da ... da ... tat er sterben ... So,
so müssen auch wir ... tapfer, ihr Soldaten,
tapfer ... (er sinkt gänzlich erschöpft zurück).

=Die Mutter= (zurückkommend):

Da, Hans, bin ich wieder. Du liegst so still.
Soll ich dir die Geschichte vom Großvater aus dem
Kriege erzählen?

=Hans= (halb im Fiebertraum):

Nein, ich weiß sie; ich weiß sie gut ... Stell'
meine Soldaten zurecht ... so mit den Flinten
auf das Fenster zu! ... Dort herein wird er
kommen ... ja, gewiß, dort zum Fenster herein
kommt er! ...

=Die Mutter= (angstvoll):

Wer denn? Wer soll denn kommen? Das
Fenster ist fest zu.

=Hans=:

Er kommt! Er kommt durch! Er kriecht durchs
Glas! Es ist der Feind ... ja, der Tod ... der
ist der Feind ...

[Illustration]

=Die Mutter=:

O Gott, o Gott, wenn doch der Arzt ...
Fürchte dich doch nicht, Hans, es kommt niemand,
es kann niemand herein, ich stelle mich vor das
Fenster ...

=Hans= (mit der Hand schlenkernd):

Nein, weg, Mutter, weg! Ich muß ihn gleich
sehen, wenn er kommt ... ich muß aufpassen,
ich bin ja der General ... Die Soldaten ...
sieh mal die Soldaten, Mutter, sie wachsen ...
sie werden groß ... groß wie die Riesen ...
sie haben richtige Flinten ... o, er soll nur kommen
... gib meinen Degen ... weg, Mutter,
weg vom Fenster ... wenn die Soldaten auf
ihn schießen ... treffen sie dich! ...

=Die Mutter= (reicht ihm in höchster Angst die Medizin):

Trinke, Hans, trinke!

=Hans=:

Ich will nicht! ... Halt, doch ... ein Schluck
ist gut ... Aah so! ... Gib den Soldaten auch ...
aber geh nicht mehr zum Fenster ... Wenn er
kommt, legen wir gleich los ... Achtung, ihr
Soldaten ...

(Die Mutter hält Hansens Kopf, unausgesetzt wirre, qualvolle
Gebetsworte murmelnd, der Kranke hält den fiebernden Blick
lauernd nach dem Fenster gerichtet.)

=Hans= (jäh aufschreiend):

Da ist er ... da ist er ... der schwarze
König! ... Der Tod! ... Oh ... oh, er schießt.
Oh, er hat mich getroffen ... in die Brust ... mit
einer Kugel ... Ich mach mir nichts draus ...
Drauf, ihr Soldaten ... drauf ... schießen,
stechen, hauen! ... Mein Säbel ... wart' ...
ich bring dich um ... ich zerschlag dir den schwarzen
Kopf ... ich ... jetzt ... jetzt hat er mich ...
jetzt hab ich ihn ... laßt uns ... helft nicht ...
ich nehm ihn allein ... ich brech ihm den Hals ...
ich siege ... o du ... du schlechter Feind ... du
hast meinen Vater ... meinen Großvater ...
wart ... dein Hals, dein Blut ... ich reiß dir
das Herz heraus ... ich hab's ... ich hab' dein
Herz ... es hat Großvaters Blut getrunken
-- -- -- -- Er ... er ... er ist tot ...
der Tod ist tot! ... Der Tod ist tot ...

(Er fällt mit geschlossenen Augen zurück.)

=Die Mutter=:

Gott im Himmel, erbarme dich! Hans! Hans!
Hans! (Schreiend:) Doktor! Doktor! Hilfe! Mein
Sohn stirbt! Hilfe! O Gott ... Hilfe! Zu
Hilfe ...

       *       *       *       *       *

Einige Stunden später. Gegen Morgen.

=Der Arzt=:

Wollen Sie nicht ruhen, gnädige Frau?

=Die Mutter=:

Wie könnte ich heute ruhen?

=Der Arzt= (beugt sich über Hans):

Er schläft gut ... ich glaube bestimmt, nun
ist er gerettet! Sein Lebensmut, sein Lebenstrotz
haben ihn die schlimme Stunde überstehen lassen.

=Die Mutter= (schlicht, aber mit großer, stiller Freude):

Er hat den Tod besiegt!

Die Frau sinkt langsam am Bette auf die Knie. Draußen
beginnen die ersten Weihnachtsglocken zu läuten. Aus dem
Nebenzimmer dringt Tannenduft. Die Bleisoldaten stehen
am Lager ihres siegreichen, heldenhaften Generals und präsentieren
ihre Gewehre.

[Illustration]



[Illustration]

Der Schatz in der Waldmühle.


Andreas, der Waldmüller, ging im Großgarten
um den starken Apfelbaum im Kreis herum,
immer im Kreis herum. Dabei hielt er die Hände
auf dem Rücken gefaltet, preßte die Lippen zu
einem Spalt zusammen und bezeigte überhaupt
eine ernste Haltung. Nach einiger Zeit kam
der Mühlknecht Jakoble heraus, ging neugierig
auf den Müller zu und fragte:

»Meister, warum geht Ihr denn immerfort so
im Kreise herum?«

Ohne ein Wort zu sagen, holte der Müller aus
und hieb dem Jakoble eine gewaltige Ohrfeige
herunter. Da stellte sich Jakoble erschrocken beiseite,
rieb sich die Backe und sagte bei sich selbst:
»Es scheint, er will mir's nicht verraten, warum
er so im Kreise herumgeht.« Und er schlich in die
Mühle zurück und war ob des Vorfalls sehr betrübt.

Der Müller ging noch oft seine Runde; aber
endlich blieb er stehen, seufzte tief und sprach:
»Tausend und einmal! Und ganz schweigsam!
Diesmal, wenn ich mich nicht verzählt habe, wird
es endlich glücken.«

Dann setzte er sich unter den Baum ins Gras.
Rundum blühten die herrlichen Löwenzahnblumen,
und der Gartengrund war schön wie ein Königsmantel
mit lauter Orden und bunten Knöpfen.
Die Mailuft trug Tau und Blütenstaub auf ihren
weichen Flügeln, und die Wassermühle sang ihr
surrendes, friedliches Lied.

Des Müllers Gedanken gingen weit zurück in
seinem Leben, zu dem Tage, da seine Frau begraben
wurde, zu dem anderen, da sein einziges
Kind, die Trudel, geboren wurde, schließlich über
Soldatenzeit und dumme Jungenstreiche weiter
zurück bis zu dem Tage der eigenen Geburt. Da
hatte sein Vater zu seiner Mutter gesagt:
»Johanna, wir sind arme Leute. Die Bauern
sind geizig und unsere Mühle ist verschuldet; was
fangen wir nun mit diesem Büblein an?« Die
Müllerin hatte gesagt: »Zunächst wollen wir es
Andreas taufen, das ist ein schöner und kräftiger
Name, und dann wollen wir unsere reiche Base
Dorette zu Gevatter bitten, die wird dem Jungen
ein gutes Patengeschenk geben.«

Als nun der Tag der Taufe kam, erhielt das
Büblein zwar den schönen und kräftigen Namen
Andreas, das reiche Patengeschenk aber erhielt es
nicht, wenigstens nicht in blanken Talern, wie
es die Müllerleute erhofft hatten. Tante Dorette
brachte nur ein winziges Holzkästlein, darin ein
blanker Kupferdreier lag, und sprach:

»Dieses Kästlein müßt ihr in eurem Garten vergraben.
Alsdann muß der Vater über dieselbe
Stelle, wo der Kasten liegt, einen Apfelkern
stecken. So wie der Baum wächst, so wird der
Kasten und die Zahl der Dreier wachsen, und an
dem Tage, wo das Bäumchen veredelt wird,
werden sich alle Kupferdreier in Golddukaten umwandeln.
Wenn dann der Kasten reif zum Heben
ist, wird auf dem Apfelbaum ein Glöcklein läuten.
Inzwischen müßt ihr fleißig und sparsam sein,
dürft keinen Schnaps trinken und alle Wochen nur
dreimal Fleisch essen. Auch muß das Büblein, sobald
es größer geworden ist, immer an seinem
Geburtstag tausend und einmal um den Baum
herumgehen, darf aber dabei kein Wort sprechen.«

Der Müller hatte ein wenig geseufzt über das
sonderbare und umständliche Geschenk, dann aber
hatte er das Kästchen vergraben und das Körnlein
gesteckt. Als aber die Base Dorette fort war, hatte
er sich arg hinter den Ohren gekratzt, denn seine
Frau hatte den grauen Steinkrug, in dem der
Schnaps war, mit einer Axt zerschlagen. Damit,
meinte der Müller, sei eine schöne Quelle des
Trostes und der Labsal in der Mühle versiegt.
Die Frau hielt auch fortan auf großen Fleiß und
Sparsamkeit, und es kam nie öfter als dreimal in
der Woche ein Fleischgericht auf den Tisch.

So hob sich der Wohlstand der Müllerleute. Das
Bäumchen wuchs von Jahr zu Jahr, und als es
der Müller mit eigener Hand veredelte, zitterte
er. Sein Bub stand neben ihm und behauptete,
ein feines Klingen vernommen zu haben.

»Das ist,« belehrte ihn sein Vater, »wie das
Kupfer in das Gold umgesprungen ist.«

Die Zeit verging. Tante Dorette, Vater
und Mutter starben, der Bub wurde groß, wurde
selbst Müller, wurde fünfzig Jahre alt. Ein
Glöcklein aber läutete auf dem Baum niemals.

       *       *       *       *       *

Als der Müller jetzt noch so da saß und von
seinem lang ausbleibendem Reichtum träumte,
trat Reinhard, der Müllerbursch, in den Garten.
Er war ein so schöner Bursch, daß er sicher ein
Prinz gewesen wäre, wenn er einen König zum
Vater gehabt hätte. Heute stak Reinhard nicht
in seiner staubigen Müllertracht, sondern war
sonntäglich gekleidet und hatte einen runden Hut
mit einer Feder auf dem Kopf. Der Müller schaute
ihn verwundert an und fragte:

»Wie bist du denn so herausgeputzt; ist es bei
dir heut Sonntag?«

»Herr Meister,« sagte der Jüngling, indem er
einen kleinen Kratzfuß machte, »bei mir ist heute
der allergrößte Festtag. Denn nicht bloß, daß Ihr
den Geburtstag habt, es ist auch heute der Tag
gekommen, wo ich mir ein Herz fasse, Euch zu
bitten, daß Ihr mir Eure herzliebe Trudel zur
Ehefrau gebt.«

Der Müller schaute den Burschen erst einige
Augenblicke schweigend an; dann sagte er ohne
weitere Umschweife: »Reinhard, du bist verrückt!«

Diese Worte klangen dem Freiersmann gar
nicht wie liebliche Musik in den Ohren, und er
machte ein betrübtes Gesicht. Der Müller stand
auf, reckte sich und sagte:

»Die Trudel soll's besser haben als ich. Sie soll
nicht ihr Leben lang in diesem dunklen Waldwinkel
sitzen. Der sollen bald schönere Tage
kommen.«

»Ach, du lieber Gott,« seufzte der Bursche, »wie
sollen ihr bessere Tage kommen, wenn Ihr mir
sie nicht zur Frau gebt? Sie wird sich eben so
sehr darum zu Tode grämen wie ich.«

Gegen solche Krankheit würde schon noch ein
Kraut gewachsen sein, meinte der Müller, und da
Reinhard grade so schön angezogen sei, habe er,
der Meister, nichts dagegen, wenn der Bursch sein
Ränzel nähme und über alle sieben Berge davonzöge.
So -- und damit basta.

Darauf ging der Müller aus dem Garten. Als
er an das Türchen kam, trat ihm Jakoble in den
Weg und fragte gutmütig und neugierig:

»Meister, was habt Ihr denn so böse mit dem
Reinhard gesprochen?«

Der Müller langte ihm eine Ohrfeige herunter
und ließ ihn stehen. Da rieb sich Jakoble die
Backe und meinte bei sich: »Er will mir nicht verraten,
was er mit dem Reinhard gesprochen hat.
Also werde ich den Reinhard selbst fragen.«

Und er fragte ihn und erfuhr das ganze Elend
und Herzeleid.

       *       *       *       *       *

Als es gegen Abend war und die müde Sonne
sich gegen die Waldberge senkte, wanderte der
junge Müllerbursch in die Fremde. Die Trudel
gab ihm ein Stück das Geleit und weinte, und
der Jakoble ging mit und weinte aus Freundschaft
auch.

Es war so traurig im Walde. Die Vögel saßen
am Wege und sangen: »Lebe wohl! Lebe wohl!«
und die Bäume schüttelten die Köpfe, und ein
Reh sah mit großen Augen aus dem Gebüsch, als
wollte es verwundert fragen: »Ja, wo geht Ihr
denn hin?«

Langsam gingen die drei; jeder Schritt wurde
ihnen schwer, der Sand knirschte, und die alte
Mühle sang im Tal.

Als die drei an den Kreuzweg kamen, mußte
geschieden sein. Das Mädchen hatte den beiden
Burschen von dem Aberglauben des Vaters erzählt
und was er sich für törichte Hoffnungen
mache auf einen großen Schatz, der gewiß nicht
da sei. Und es schloß mit vielen Tränen:

»Wenn ich nun sterbe, so mag mich der Vater
in einen Sarg legen und unter dem Apfelbaum
begraben, dann hat er dort in einem Kasten seinen
Schatz liegen.«

Bei diesen traurigen und kläglichen Worten fing
auch Reinhard heftig an zu weinen. Das Jakoble
aber zählte plötzlich mit Eifer die Knöpfe an seinem
Anzuge ab und sprach immer dazu: »Mit ihr!
Mit ihm! Mit ihr! Mit ihm!« Endlich rief er
freudig aus:

»Reinhard, ich muß mit dir in die Fremde
ziehen, denn erstens habe ich es an den Knöpfen
abgezählt, und zweitens ist es auch wegen der
vielen Ohrfeigen.«

Es wurde noch ein bißchen verhandelt und dann
wurde beschlossen, daß Jakoble den Reinhard begleiten
sollte auf der Reise in die weite Welt.
Jakoble machte ein feierliches Gesicht bei diesem
Beschluß, so feierlich, daß ihm die Ohren weit
abstanden und die Kopfhaut hin- und herrutschte.
Dann sprach er in väterlichem Tone:

»Trudelchen, weine nicht mehr. Denn wir
bleiben dir treu, und in drei Jahren und drei
Tagen kommen wir wieder.«

Darauf küßte Reinhard das Mädchen auf den
Mund, und dann schieden sie voneinander, und
dann ging die Sonne unter.

       *       *       *       *       *

Reinhard und Jakoble wanderten miteinander
in der Abenddämmerung dahin. Oftmals seufzte
Reinhard tief und schmerzlich und sprach: »Ach,
Jakoble, wenn du nicht da wärst, was sollte ich
wohl anfangen?«

Da nickte Jakoble und erwiderte: »Ja, ja, was
sollten wir wohl anfangen, wenn ich nicht da
wäre!«

Es wurde finster, und die beiden wußten nicht,
wohin sie kommen würden. Wenn man aber in
der Welt nicht weiß, wohin man kommen wird,
kommt man meist in eine Schenke.

So kamen auch die beiden in ein Straßengasthaus,
wo es hoch herging. Bauern saßen drin
und Fuhrleute, von denen manche so reich waren,
daß sie zwei Pferde besaßen.

Was aber die Hauptsache war: in dem Gasthaus
war ein Zauberkünstler anwesend. Er trug ein
grün- und schwarzkariertes Gewand und auf dem
Kopfe einen zinnoberroten Fez. Er stammte aus
Hinterindien und hieß Kiutschitsufilutschi. Sein
Vater war ein heidnischer Oberpriester und seine
Mutter eine malaiische Göttertochter. Das alles
hatte Kiutschitsufilutschi selbst gesagt. Als Reinhard
und Jakoble eintraten, hörten sie den
Zauberkünstler eben sagen:

»Jawoll, meine Herr'n, dat is nich so einfach
wie Schnapstrinken. Diese Attraktion habe ick
mal 'n Kaiser von Fedschir vorgemacht. Der wollte
mir dabehalten und mir an seine Tochter verehelichen,
und ick sollte mal da in der Jejend
Kaiser werden, aber ick habe gesagt: Nee,
Majestät, habe ick gesagt, is nich zu machen!
Ick will man lieber wieder rüber nach Europa.«

Nach diesen Worten zog Kiutschitsufilutschi
einem Bauern aus der roten dicken Nase
wohl an die hundert Dukaten. Die Dukaten
warf er in die Luft, wo sie spurlos verschwanden.
Jakoble vergaß vor lauter Erstaunen eine Viertelstunde
lang den Mund zuzumachen und hatte
überhaupt einen so merkwürdigen Gesichtsausdruck,
daß ihn Reinhard nach einiger Zeit
anstieß und sagte:

»Jakoble, tu mir den Gefallen und putz dir
wenigstens die Nase!«

Ehe Jakoble diesen Wunsch erfüllen konnte,
stürzte der Zauberkünstler auf ihn zu und steckte
ihm eine Schlange in den Mund. Jakoble verschluckte
sich und war krebsrot vor Angst und Aufregung.

Dann fing der Zauberkünstler an, Abendbrot
zu speisen. Die Bauern spendeten ihm einen
mächtigen Krug Bier, und Kiutschitsufilutschi aß
dazu einen Frosch, einen Spazierstock, ein Bierglas
und ein Hufeisen. Endlich zündete er sich
eine Zigarre an und blies statt Rauchringel
Schweinsblasen in die Luft.

[Illustration]

Jakoble nahm Reißaus. Reinhard fand ihn
draußen vor der Tür, wimmernd vor Angst. Er
beruhigte Jakoble und nahm ihn mit in die
Schlafkammer. Dort fanden die beiden trotz
ihrer müden Glieder lange nicht den erwünschten
Schlummer. Den einen plagte die Sehnsucht im
Herzen, den andern die Schlange im Magen.
Und sie stöhnten und seufzten, denn wer schlafen
will, dem müssen Herz und Magen in Sanftmut
gewiegt sein.

Als es Mitternacht war und der Wind draußen
lauter pfiff und in den Sparren des Holzwerks
klapperte, öffnete sich die Tür, und Kiutschitsufilutschi
trat ein. Jakoble tat einen Schrei und
versuchte, an der Wand hochzuklettern, auch Reinhard
richtete sich erschrocken auf. Aber der hinterindische
Zauberer beschwichtigte die beiden und
sagte:

»Haben Sie man keene Angst, meine Herr'n;
ick will hier bloß 'n bißchen mit schlafen.«

Darauf ließ er sich seufzend neben den beiden
nieder und nahm den Fez vom Kopfe. Der Mond
schien durch die Dachluke und bestrahlte seine
phantastischen Kleider. Ein schwerer Gram tat
sich auf dem Gesicht des fremden Magiers kund,
und endlich fuhr er drohend mit den Armen zur
Höhe und sagte grollend:

»60 Pfennige, und das ist allens! Solche Duckmäuser!«

Es stellte sich heraus, daß der Hinterindier
von den Bauern und Fuhrleuten für seine glänzenden
Darbietungen nur vorbenannte Summe
Geldes geerntet hatte. So war auch er ruhelos
und ohne Schlummer, denn außer dem Herzen
und dem Magen muß sich auch der Geldbeutel
sicher und befriedigt fühlen, ehe der holde Schlaf
auf die Wimpern eines irdischen Wanderers
sinkt.

Jakoble, der etwas Mut gefaßt hatte, meinte
schüchtern, der Zauberer könne sich doch die Goldstücke
aus jeder Nase ziehen; worauf ihn Kiutschitsufilutschi
halb mitleidig und halb zärtlich anblickte
und zur Antwort gab:

»Können Sie mir vielleicht 'ne Mark pumpen?«

O ja, das könne er wohl, sagte Jakoble eifrig,
fischte in seiner Hosentasche herum und übergab
dem Zauberer eine Mark. Dieser war dankbar
und machte gerührt Brüderschaft mit Jakoble,
worauf alle drei sehr munter und aufgeräumt
wurden.

Der Zauberer erklärte, er heiße »künstlerisch«
Kiutschitsufilutschi und stamme »künstlerisch«
von einem Oberpriester und einer Göttertochter
ab. Sein »bürgerlicher« Name aber sei Heinrich
Bimske, und seine »bürgerlichen Eltern« seien
ehrsame Bäckersleute aus Rixdorf bei Berlin.
Ursprünglich habe er das schöne und reinliche Gewerbe
eines Barbiers betrieben, aber dann sei die
höhere Magie über ihn gekommen; er sei weit
in der Welt herum, von Kottbus bis Salzwedel
habe er alle bedeutenden Orte bereist. Aber nun
sei er wandermüde, und wenn es ihm je gelänge,
zwei bis drei Taler Reisegeld zu erübrigen, wolle
er zu seinen Eltern zurückkehren und nebst einem
neuen Lebenswandel ein eigenes Barbiergeschäft
anfangen.

Wie es nun so ist: heimatloses Wandervolk
lernt sich rasch kennen, wird rasch vertraut und
verbündet sich leicht miteinander gegen die
tückischen Mächte des Lebens, die ihm bedrohlicher
sind als jenen, die in festen Häusern wohnen und
am gedeckten Tische sitzen. So war es auch hier.
Während der ganze Kretscham schlief und der
Mond draußen auf der stillen Landstraße vergebens
nach einem Wanderer, ja nach einem
wachenden Vogel suchte, saßen die drei Gesellen
in der Dachkammer beisammen und tauschten ihre
Lebensschicksale aus. Reinhard erzählte von
seiner Trudel, dem Müller, dem geheimnisvollen
Schatz unter dem Apfelbaum und seiner Ausweisung
und traurigen Fahrt in die weite Ferne.
Die Gedanken flogen hin und her, und als der
Hahn krähte, war ein kühner Plan gefaßt, und
nun konnten die drei erst recht nicht schlafen: denn
will ein Mensch Schlummer finden, darf er keine
Pläne fassen.

       *       *       *       *       *

»Begraben unter dem Baume
Liegt mein ganzes Gut,
Hatte ein liebes Mädel,
War wie Milch und Blut;
Was ich auch je im Leben
Erwerben und sparen wollt',
Gäb für den Schatz unterm Baume
All mein Silber und Gold.«

Dieses traurige Lied sang die Trudel in der
Waldmühle nun täglich am Morgen und am
Abend. Wenn es der Müller hörte, war ihm
nicht wohl dabei, denn außer dem Gelde liebte er
am meisten sein Kind. Aber er glaubte, mit der
Zeit würde das Mädel seine »Mucken« schon verlieren,
und alles würde gut und schön sein, wenn
erst einmal ein Glöcklein auf dem Baum erschien
und läutete.

Sonst auch hatte der Müller verschiedene Verdrießlichkeiten.
Der neue Knecht, den er für das
Jakoble eingestellt und dem er gleich in der ersten
halben Stunde probeweise eine Ohrfeige gegeben
hatte, hatte ihm zwei Ohrfeigen dafür zurückgegeben.
So etwas ist kränkend für einen Mann,
der auf Ansehen hält, ist ebenso sehr gegen die
Achtung wie gegen das Wohlbefinden eines Hausherrn.

Und dazu das blasse Mädel mit seinem traurigen
Lied!

So kam es, daß der Müller einmal bis spät in
die Nacht munter war und auch dann noch nicht
in den dicken Federbetten lag, als die Uhr schon
auf halb zehn Uhr zeigte. Wie er nun so sorgenvoll
und still am Tische saß, spitzte er plötzlich die
Ohren und machte Augen wie ein Luchs; er tat
sogar etwas, was er noch nie in seinem Leben
getan hatte -- -- er öffnete das Fenster.

Und nun hörte er es deutlich!

Unten im Garten, auf dem Apfelbaum, läutete
ein Glöcklein. Silbern klar schallte sein Stimmlein
durch die Nacht: Müller, die Zeit ist erfüllt,
Müller, der Schatz ist reif!

Erbleichen konnte der Müller nicht; dafür war
sein Gesicht zu rot; aber blaßrosa wurden seine
Wangen, und der Schreck schüttelte seine Glieder,
wie der Wind einen Eichbaum schüttelt.

Das Glöcklein läutete, läutete immerzu. Da
ging der Müller zögernden Fußes hinaus in den
Hof, suchte einen Spaten und rief sein Kind herbei.

»Trudelchen,« sagte er leise, »hörst du es
läuten? Die Zeit ist erfüllt. Der Schatz ist reif.
Komm mit mir, wir wollen ihn heben.«

»Ach, was nützen mich alle Schätze der Welt,«
sagte das Mädchen. Aber es ging mit dem Vater.
Die Nacht war dunkel; große, schwarze Wolkenberge
ragten in den Himmel, und der Wind flog
von der Erde zu den dunklen Bergen hinauf; er
zog um ihre Gipfel und zerwühlte ihre Abgründe.
Dann löste es sich los von den Bergen wie große
Adlervögel, die aufgescheucht waren und mit
zuckenden Schwingen über den Himmel zogen.

Das Glöcklein war verstummt. Es hing an
dem untersten Ast des Apfelbaumes, und eine
weiße Schnur war an ihm befestigt. Der Müller
und sein Kind gingen auf den Zehenspitzen zu dem
Baume hin. In des Müllers Auge flackerte die
Geldgier, in des Mädchens Augen war die alte
Trauer, und in beiden wohnte die Furcht.

Ächzend setzte sich der Müller schließlich unter
den Apfelbaum. Ein wenig verpusten, erst ein
wenig verpusten.

So war nun der große Augenblick gekommen,
auf den seine Eltern gehofft, nach dem er selbst
von frühester Jugend an ausgeschaut hatte. Erfüllt
war seine Sehnsucht, der ganze goldene
Segen des Reichtums war nahe und gewiß.

»Trudel, du wirst dir einen Fürsten heiraten
oder gar einen Offizier,« sagte er traumhaft glücklich
vor sich lächelnd. Das Mädchen schüttelte
den Kopf.

»Der Reinhard ist kein Fürst und kein Offizier,«
sagte es in seiner großen Treue.

»Wird alles anders, alles anders! Nur ein
wenig verpusten!«

Da kam aus der Erde ein starkes Klopfen. Der
Müller sprang auf; er glaubte, es komme ein Erdbeben.
Zweimal holte er noch tief Atem, dann
sagte er:

»Rasch machen, rasch, damit die glückliche Zeit
nicht vergeht! Auch ist es hier sehr unheimlich.
Hörtest du das Poltern in der Erde?«

Und er stieß den Spaten ins Gartenland und
geriet augenblicklich auf einen Widerstand, der
sich als ein starkes Brett herausstellte.

»Die Kiste, Trudel, die Kiste!«

Es war wirklich der Deckel einer Kiste, den der
Müller in rascher, aufgeregter Arbeit bloßlegte.
Dieser Deckel hatte über ein Meter im Geviert.
Es war eine Riesenkiste, und der Müller sagte in
schwerster Beklemmung:

»Trudelchen, wenn sie voll puren Goldes ist,
müssen es an die tausend Taler sein!«

[Illustration]

Auf einmal hob sich der Deckel der Kiste von
selbst -- der Müller und die Trudel wichen erschrocken
zurück -- der Kistendeckel wurde beiseite
geschleudert -- und wie aus einem Grabe heraus
erstand eine Gestalt und ragte mit dem halben
Körper aus der Erde.

Es war Reinhard.

»Müller,« rief er mit feierlicher Stimme, »wisse
und glaube: ich bin der Schatz, der dir und deiner
Mühle und deiner Trudel bestimmt ist. Höhere
Mächte haben mich hier eingegraben; jetzt bin ich
Euch verliehen und Euer eigen.«

Das Trudelchen hatte erst ein bißchen erschrocken
aufgequiekt, aber dann stand es eins, zwei, drei
neben Reinhard in der Kiste und rief immerfort:

»Ja, ja, ja, so ist es, so ist es, so ist es!«

Und plötzlich kam etwas aus dem Zaungebüsch
dahergerannt, und ob es auch geisterhaft aussah,
wie es so daherhuschte, erwies es sich doch bei
näherer Betrachtung als das Jakoble, und das
rief:

»Ja, das ist der geheimnisvolle Schatz! Ich
weiß es und kann es bezeugen.«

Um das Schmerzliche ganz kurz zu sagen: den
Müller erfaßte eine Riesenwut. Er prügelte zuerst
das Jakoble windelweich, dann stürzte er sich auf
Reinhard, und er brüllte so laut, daß alle Leute
in der Mühle zusammenliefen. Denen erklärte
er nun in japsenden Sätzen, mit einer Stimme,
die vor Wut schrill wurde und sich überschlug: er
sei genarrt, sei betrogen, sei von Spitzbuben geprellt;
sein kostbarer Schatz, der unter dem Apfelbaum
gelegen, sei ausgegraben, sei von diesen
Dieben und Räubern gestohlen, und sie müßten
nun alle, alle an den Galgen.

In der Nähe wohnte ein doppelter Sicherheitsmann,
der zu gleicher Zeit Bahnwärter und
Polizist war. Dieser Mann wurde herbeigeholt,
Reinhard und Jakoble wurden überwältigt, es
wurden ihnen Hände und Füße gebunden, wie es
Räubern geziemt, und ihnen dann befohlen, mit
dem Sicherheitsmann nach dem Amtsgefängnis
zu marschieren. Zwecks Ausführung dieses
Polizeibefehls mußten den Gefangenen die Füße
wieder freigegeben werden.

Die Trudel weinte so laut, daß der ganze Hof
und Garten aufwachte, die Vögel zu zwitschern,
die Kühe zu brummen begannen und der Hahn
zu krähen anfing.

       *       *       *       *       *

Eberhard Schleifle, der Bahnwärter und Polizist,
beförderte durch die dunkle Nacht seine beiden
Gefangenen zum Gerichtsgefängnis, das zwei
Stunden von der Waldmühle entfernt war. Er
trug als Waffe einen Spieß, der so schwer war
wie weiland der Spieß Goliaths: sein Schaft war
wie ein Weberbaum. Da nun Eberhard Schleifle
den ganzen Tag schwere Bahnwärterdienste getan
hatte, indem er fünf Eisenbahnzüge an sich hatte
vorüberfahren sehen, so war er müde und gab dem
Jakoble seinen Amtsspieß zu tragen. Zu diesem
Zweck band er ihm die Hände los. Auch den Reinhard
befreite Schleifle von den Handfesseln, weil
sie ihn in dem Augenblick behinderten, als alle
drei gemeinschaftlich eine Prise Tabak schnupfen
wollten. Als die drei nun auf solche Weise ans
Gefängnis kamen, war dieses geschlossen. Es ist
auch nicht mehr als recht und billig, daß Gefängnisse
des Nachts geschlossen sind. Der Polizist kehrte
also mit seinen Gefangenen in ein Gasthaus
ein, wo eben eine Hochzeit gehalten wurde, und
gedachte da den Morgen abzuwarten. Er und
Jakoble tanzten mit den Brautjungfern, Reinhard
aber hielt sich traurig beiseite, denn er dachte
an die Trudel. Am nächsten Morgen wurde er
mit Jakoble eingekerkert. Die Zelle war so eng,
daß Reinhard seufzte und sprach: »Hier hat man
fast so wenig Luft wie in der Kiste, als sich der
Müller grade oben auf das Luftloch gesetzt hatte;
denn da wäre ich fast erstickt und mußte gewaltig
anklopfen.«

       *       *       *       *       *

Ach, du schwere Zeit! In der Waldmühle
schlug die Uhr keine gute Stunde mehr. Der
Müller ging in verbissener Wut umher; die Trudel
weinte sich die Augen rot, wenn sie daran dachte,
wie Reinhard und Jakoble von dem barbarischen
Eberhard Schleifle so roh davongeführt worden
waren.

Nun war es damals wie immer im Mai: es war
kalt. Die Eisheiligen hatten sehr strenge Herrschaft
aufgetan, und der Müller saß eines Abends
am Ofen und fror. Es war um die Dämmerstunde,
und alle Leute waren in den Ställen beschäftigt.
Der Müller war allein.

Da tat sich die Tür auf, und ein fremder Mann
trat ein, der war in einen schwarzen Mantel gehüllt
und hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen.
Er grüßte nicht und stellte sich dem erstaunten
und erschrockenen Müller ganz nahe gegenüber.
Und er tat seinen Mund auf und sprach ohne jede
weitere Einleitung:

»Müller! Müller! Gold ist Wind!«

Damit griff er dem Müller, der ganz verblüfft
dasaß, an die Nase, zog ihm eine Menge Dukaten
heraus und warf das blinkende Gold in die Luft,
wo es spurlos verschwand. Dann sprach der
Fremde weiter:

»Müller! Müller! Gold ist Wasser.«

Und er griff aus der Luft die Dukaten zurück,
ließ sie am Herdfeuer auf seiner flachen Hand
glänzen und steckte sie darauf in den Mund, worauf
er einen Strahl Wasser auf den Fußboden
spuckte, lachte und weitersprach:

»Wenn nun Gold Wind und Wasser ist, müssen
alle Wind- und Wassermüller im Lande reich
werden.«

Dem Müller standen die Haare zu Berge, und
er vermochte es nicht, ein Wörtlein zu sagen.
Der Fremde aber sagte:

»Auch in der Erde liegt Gold.« Er bückte sich
darauf nach dem schwarzen Estrich der ungedielten
Stube und hob da viele Getreidekörner auf, die
zuvor dort nicht gelegen hatten. Er zeigte dem
Müller die Körnlein, und sie wurden zu Goldmünzen.

»Wenn nun,« sprach der Fremde mit ernster
Stimme, »Wasser und Wind und Erde Gold sind,
warum hängst du so sehr am geprägten Golde?
Wisse, es ist nicht gleich, ob du sagst: ›Wind ist
Gold‹ oder ob du sagst: ›Gold ist Wind.‹ Es ist
ganz etwas anderes, es ist das Entgegengesetzte.
Verstehst du das?«

Der Müller schüttelte den Kopf; in diesem
Augenblick hätte er überhaupt nichts verstanden.

[Illustration]

Der Fremdling nahm nun den Hut ab und
strich sich durch die Haare. Da zischten und blitzten
Flammen daraus; auch begann die Nase des unheimlichen
Gastes in grellem Lichte zu leuchten.
Zwei große Augen richteten sich auf den zitternden
Müller, und der Fremde sprach:

»Den wahren Schatz hast du verschleudert; den
Mann, der dir aus Wind und Wasser und Erde
Gold gemacht hätte, hast du verjagt, und als ihn
dir die höheren Mächte zurückbrachten, hast du
ihn einem abscheulich verrohten Kerkermeister
übergeben. Wenn du ihn nicht freimachst und ihn
nicht deiner Trudel vermählst, so wird all dein
Hab und Gut zerrinnen, so bist du über Jahr und
Tag ein Bettler. Bedenke das wohl. Ich sage
es, ich, der große Zauberer Kiutschitsufilutschi.«

Und der Zauberer griff mit der rechten Hand
eine kleine Trommel, mit der linken einen
Schläger aus der Luft, schlug einen kurzen,
dumpfen Wirbel, öffnete seinen Mund und spie
Rauch und Flammen aus, warf Trommel und
Schläger durchs geschlossene Fenster hinaus, nahm
eine große Wurst vom Tisch, die sich zusehends in
eine Schlange verwandelte und ihm in den Halskragen
kroch, verwandelte ein Stück Speck, das
dalag, in eine Maus, die in seine Rocktasche
schlüpfte, und verschwand knarrend durch die Tür.

Den Müller schwitzte und fror in dem gleichen
Augenblick. Lange saß er fassungslos da, dann
schrie er um Hilfe. Das Trudelchen kam gesprungen
und war außer sich vor freudigem Schreck,
als ihr der Vater keuchend sagte:

»Trudelchen, zieh dir eine Jacke an; wir müssen
augenblicklich den Reinhard aufsuchen, und du
mußt ihn heiraten! Es ist etwas Schreckliches
geschehen: du mußt jetzt den Reinhard heiraten,
oder ich werde ein Bettler.«

O, wie flink hatte das Trudelchen die Jacke an
und das Tuch über den Kopf gebunden! Die
beiden machten sich nun auf und gingen zu Herrn
Schleifle, der eben vor der Tür seines Bahnwärterhauses
damit beschäftigt war, sich mittels
eines Steines auf der Schiene Haselnüsse aufzuklopfen.

Er hielt in seiner Arbeit inne und sah die beiden
erwartungsvoll an.

»Schleifle,« sprach der Müller, und man hörte
ihm an, daß ihm das Reden schwer wurde,
»Schleifle, du bist ein Mann der Gerichtsbarkeit.
Du hast den Reinhard eingesperrt und mußt nun
sehen, daß du ihn wieder herausbekommst, denn
mein Trudelchen muß ihn heiraten.«

Herr Schleifle war sehr erstaunt, und indem er
einige Haselnußschalen von der Schiene putzte,
dachte er bei sich: Ei, ei, seht an, das Mädel hat
den Alten herumgekriegt; nun soll es ihn aber
auch was kosten! Er schob also seine Amtsmütze
aufs linke Ohr und sagte:

»Reinbringen ist leicht; rauskriegen ist schwer!
Reinhard sitzt da drin im Namen des Gesetzes;
ich kann ihn nicht begnadigen.«

Der Müller griff in die Hosentasche und ließ
von ungefähr einen blanken Taler sehen, aber
Schleifle, der schnell im stillen ausrechnete, drei
Taler seien mehr als einer, meinte:

»Die Obrigkeit sieht nicht aufs Geld. Reinhard
ist nun einmal ein Räuber und muß dafür
brummen.«

In diesem Augenblick kam ein Zug angesaust.

Herr Schleifle, der dieses Ereignis nicht vermutet
hatte, sprang beiseite und stand stramm,
in der einen Hand den Stein, in der anderen die
Haselnußtüte. Auch als der Zug fort war, blieb
Herr Schleifle fest und meinte, die Geschichte mit
Reinhard sei ein schwerer juristischer Fall und
er könne da vorläufig nichts tun.

Mit diesem Bescheid mußten sich die beiden
begnügen, und der Müller ging verdrossen mit
dem weinenden Trudelchen heim. Was sollte nun
werden? Der unheimliche Fremde, der so unerhörten
Zauber ausüben konnte, hatte gedroht,
der Müller würde zum Bettler werden, wenn der
Reinhard die Trudel nicht heiratete. Und Schleifle
war als Beamter wie von Stahl und Eisen. Was
sollte nun werden?!

Eine schwermütige Nacht brach an. Das Trudelchen
war schluchzend nach seiner Schlafkammer
gegangen; der Müller saß allein und hörte den
Nachtwächter die zehnte Stunde tuten. Die Zukunft
lag erschreckend und trostlos vor ihm. Wie
der Fremdling Trommel und Schlägel durchs
geschlossene Fenster geschleudert hatte, so würde
all Müllers Geld und Gut auf die Gasse fliegen,
er mochte es verschließen und bewachen, wie er
wollte. Und wie sich Müllers schöne Wurst und
sein saftiges Stück Speck in eine Schlange und eine
Maus verwandelt hatten, so würde all seine Habe
der Geier holen. Wer kam gegen Zauber an?

Wie nun der Ärmste noch in so schweren Gedanken
dasaß, hörte er plötzlich vom Garten her
wieder das silberhelle Klingen des Glöckleins.
Mit drei Sätzen war der Müller im Hof, ergriff
den Spaten und eilte nach dem Garten. O, wenn
der Reinhard wieder unter dem Baume in der
Erde steckte, welch ein Glück!

Der Müller stieß den Spaten in den Rasen,
hob die Schollen ab, grub, grub um den ganzen
Baum herum, und fand schließlich ein Kästlein,
das zwar nicht ganz klein war, aber sich doch bequem
in den Händen tragen ließ.

Wie betäubt stand der Müller mit dem Kasten
da, stand wohl länger als fünf Minuten still,
ehe er die Kraft fand, mit dem Schatz nach der
Stube zu gehen.

Dort öffnete er den Kasten und stieß einen
jubelnden Schrei aus.

Gold! Gold! Gold! Pures, eitles, blinkendes
Gold! Flimmernde Stücke ohne Zahl! Der
Müller schloß die Augen, nahm drei, nahm zehn
Münzen, nahm beide Hände voll und lachte und
schluchzte und verschluckte sich und bekam einen
Krampfhusten vor lauter Freude.

Zehnmal wühlte er die Hände in den goldenen
Segen. Das war ein Reichtum ohne Maß. Auch
Diamanten, Rubinen und schimmernde Smaragdsteine
waren unter den Münzen, und manch einer
von den Edelsteinen war so groß wie ein Taubenei.

Der Müller brach in Tränen aus. Er war
reich, reich wie kein Mensch der Welt, reicher als
der Kaiser, reicher als der Sultan, reicher selbst
als Herr von Pritzewitz, der drei Rittergüter besaß!
Nun war alles gut und herrlich, nun konnte
sich sein Trudelchen goldene Schuhe und silberne
Schürzen kaufen, und jeder Jackenknopf sollte
ein Demant sein. Und den Reinhard wollte er
loskaufen, den Reinhard --

Hm! Halt! Halt! Hm! Vorsicht! Immer sachte!

Man brauchte nichts zu voreilig zu tun, man
konnte es sich überlegen. Wer war er jetzt, der
Müller, wer war die Trudel, und wer war der
arme Reinhard? Unerhört wäre es, wenn ein
Müllerbursch eine Prinzessin heiratete, die die
Erbin solcher Güter war, die einen Fürsten oder
gar einen Offizier bekommen könnte. Müller
übereil' dich nicht! Wenn das Mädel das hier
sieht, diese Pracht, diesen märchenhaften Reichtum,
dann wird sie schon von selbst vernünftig werden.
Der Zauberer? Der Zauberer mit seiner Prophezeiung?
Wo ist seine Prophezeiung? Wenn
er der Teufel gewesen ist, muß er ein sehr dummer
Teufel gewesen sein. Ist das der Rückgang von
Müllers Wohlstand? Kann soviel Geld und
Reichtum überhaupt je zu Ende gehen? Unsinn!
Müller, sei fest, jetzt kann dir kein böser Geist mehr
was anhaben. Halloh, nun mußte noch alles
anders, ganz anders kommen, mußte so kommen,
wie es der Müller wünschte. -- --

Es klopfte ans Fenster. Der Müller erschrak
und schloß den Kasten. Draußen an den Scheiben
wurde das rote, umfangreiche Riechorgan Herrn
Schleifles sichtbar. Der Müller ging in den Hof
hinaus.

»Was willst du?«

Herr Schleifle machte eine hoheitsvolle Amtsmiene.

»Müller,« sagte er, »ich hab mir's überlegt und
die Gesetzbücher nachgeschlagen. Ich könnte den
Reinhard doch vielleicht freikriegen. Aber es ist
ein schwieriger Fall. Und Spesen wird's machen,
viel Spesen.«

Der Müller sah Herrn Schleifle hochmütig an.

»Ich brauch' dich nicht mehr, Schleifle. Es ist
anders gekommen. Meinetwegen kann nun der
Reinhard solange im Gefängnis sitzen, wie ihm und
den Herren Richtern beliebt. Nicht einen Pfennig
gebe ich für ihn her.«

Damit schlug er dem verdutzten Gerichtsmann
die Tür vor der Nase zu und ging nach der Stube
zurück. Dort wartete er, bis er sich völlig unbeobachtet
wußte, und öffnete dann wieder sein
Schatzkästlein.

Da starrten seine Augen -- -- da stieß er einen
Schrei aus, der durch die ganze Mühle gellte, und
fiel schwer zu Boden. -- -- --

Das Trudelchen fand ihren Vater vor einem
geöffneten Kästlein, in dem nichts war als ein
paar Scherben, ein paar Kieselsteine, ein Bündelchen
dürres Gras und ein Häufchen Asche.

       *       *       *       *       *

Vierzehn Tage lang lag der Müller krank, dann
stand er auf, tat Geld in seinen Beutel und
wanderte nach dem Amtsgericht. Dort fragte er
nach Reinhard. Er hörte, daß Reinhard und Jakoble
inzwischen nach der Stadt hineingeschafft und dort
von dem Gericht freigegeben worden wären, da
keine Schuld an ihnen gefunden worden sei.

Der Müller wanderte nach der Stadt und fragte
nach Reinhard und Jakoble. Sie waren auf und
davon; niemand wußte wohin.

Da ging der Müller aus der Stadt hinaus,
setzte sich auf einen Wiesenrain und schluchzte zum
Steinerbarmen. Nun wußte er, daß sein Glück
dahin war, wußte, wie grausam sich die Prophezeiung
des fremden Zauberers erfüllen
würde. Eine ingrimmige Reue erfaßte den
Müller. Wie hatte er sein Glück verscherzt! Nun
mußte er ein Bettler werden, wenn er Reinhard
nicht fand und nicht Schuld und Strafe von sich
und seiner Mühle abwandte. Suchen mußte er
den Reinhard, suchen, und wenn ihm die Füße
bluteten.

       *       *       *       *       *

Jahrelang wanderte der Müller durchs ganze
Land. In allen Herbergen, auf allen Straßen
fragte er nach Reinhard und Jakoble. Er fand sie
nicht. Oft glaubte er, eine Spur zu haben, doch
er verlor sie immer bald wieder. Oft auch beschloß
er heimzukehren; aber er fürchtete sich. Vielleicht
war inzwischen seine Mühle abgebrannt, seine
Trudel gestorben; vielleicht war auch sein Besitztum
verpfändet und sein Kind davongetrieben
worden in die weite Welt. Das hätte er nicht
ertragen; viel lieber wollte er suchend durch die
ganze Welt irren, um am Ende doch noch, wenn
er seine Schuld gesühnt hatte, Reinhard zu finden
und für sich und sein Kind das Glück zurückzugewinnen.

So wurde der Müller wirklich ein Bettler.

       *       *       *       *       *

Nach Jahren, als seine Haare und sein Bart
lang und grau geworden waren, kam er in eine
Stadt und setzte sich müde auf eine Bank, die
unter einer großen Linde war. Ihm gegenüber
war ein schmuckes, ansehnliches Haus, davor hing
ein blinkendes Becken, wie es die Barbiere als
Aushängeschild haben. Über der Tür stand:
Heinrich Bimske, Frisier- und Rasiersalon. Im
Fenster, an der Tür und an den Wänden waren
große Plakate, darauf stand in fetten Lettern zu
lesen: »Bimskes Universalsalbe!« »Bimskes unfehlbares
Haarwasser!« »Bimskes wohlriechende
Mundpastillen!« »Bimskes weltbekanntes Zahnschmerzmittel!«
Und so waren noch viele Schilder
und eines in roten Buchstaben lautete: »Alles
eigene Erfindung«! Auch wurden »Wahrsagen«,
»Hühneraugentod« und eine wunderbare
»Wünschelrute« angezeigt.

Nach einiger Zeit trat ein gelenkes Männlein
aus dem Laden, kam auf den Müller zu und sagte:

»He, Herr Nachbar, Ihr seid wohl hier fremd?
Wollt Ihr Euch vielleicht Kopf- und Barthaar
scheren, Schröpfköpfe setzen oder wahrsagen lassen?
Alles schmerzlos und konkurrenzlos billig! Erste
Firma am Platz.«

Der Müller schüttelte den Kopf; aber dann
fragte er schüchtern, was wohl das Wahrsagen
koste.

»Von 25 Pfennig an aufwärts!« erwiderte das
Männlein flink; »kommt ganz auf die Qualität
an, mein Lieber. Aber da ich sehe, Ihr wollt nicht
viel ausgeben, und da jetzt gerade stille Geschäftszeit
ist, kommt nur mit! Fünfzehn Pfennig wird
Euch für einen klaren Blick in die Zukunft nicht
zu viel sein.«

Der Müller kramte in seinen Taschen, brachte
fünfzehn Pfennige Kupfergeld zusammen und
ging mit dem Barbier in eine Stube, wo es recht
kunterbunt aussah von allerhand geheimnisvollen
Dingen, als da sind: Totenköpfe, Eulen, Phiolen,
und Siedekessel, seltsame Waffen, Urnen, alte
Bücher. Vor allem aber fiel dem Müller ein
Kästchen auf, das auf das Haar jenem Kästchen
ähnlich war, das er einst unter dem Apfelbaum
daheim ausgegraben und das ihm erst so viel
Glück und dann so viel Kummer und Herzeleid
gebracht hatte.

»Was möchtet Ihr nun wissen?« fragte der
Wahrsager.

Der Müller seufzte und erzählte seine ganze
Geschichte, vor allem, wie er nun seit Jahren Land
aus, Land ein den Reinhard suche, der ihm allein
sein Glück und seine Ruhe wiedergeben könne.

Während dieser Erzählung rückte der Wahrsager
unruhig hin und her, kratzte sich auf dem
Kopf und wurde abwechselnd blaß und rot. Als
der Müller geendet hatte, wandte sich der Barbier
ab und sagte:

»Ja -- hem -- das tut mir leid -- ja hem --
das hätte ich nicht gedacht -- nicht -- nicht gewollt
und ich -- ich -- nun wartet, da muß Euch ein
stärkerer Geist helfen, als ich bin.«

Ein Viertelstündchen verging, dann trat Kiutschitsufilutschi
ins Zimmer. Der Müller stieß
einen Schrei aus; aber der Zauberer beruhigte
ihn und sprach: »Ich komme als dein Freund!
Deine Schuld ist gesühnt; ziehe nach Hause, du
wirst wieder glücklich werden.«

Darauf legte er eine Schlange auf den Tisch;
sie verwandelte sich in eine Wurst. Er ließ eine
Maus aus dem Ärmel krabbeln; sie verwandelte
sich in ein Stück Speck.

»Das nehmt,« sagte der Zauberer; »ich glaube,
ich blieb es Euch schuldig. Und dann nehmt noch
diese drei Taler, setzt Euch auf die Eisenbahn und
fahrt heim!«

       *       *       *       *       *

Und der Müller fuhr wirklich nach Hause. Als
er seiner Mühle ansichtig wurde, überfiel ihn
heftiges Zittern aus Angst und Sorge, wie er da
alles antreffen werde.

Plötzlich sah er das Jakoble. Es ging eben mit
einer Sense aufs Feld.

»Jakoble! Jakoble!« schrie der Müller; »sag,
bist du's? Sag, wo ist der Reinhard?«

Das Jakoble erschrak, erkannte den Müller und
wollte Reißaus nehmen. Erst auf die klagenden
Zurufe des alten Mannes kam er näher.

»Jakoble, sag mir, wo ist Reinhard? Sag mir,
was ist aus meiner Trudel und meiner Mühle
geworden?«

Da duckte sich Jakoble und sagte:

»Meister, gebt Ihr mir keine Ohrfeige?«

»Nie mehr!« sagte der Müller. »Nie mehr,
liebes Jakoble.«

»So will ich Euch sagen: die beiden sind längst
verheiratet, und es geht ihnen gut.«

»Sie sind -- sind verheiratet?«

»Ja! Ihr, Meister, seid den Weg nordwärts
gegangen und habt uns nicht gefunden; aber die
Trudel ist südwärts gegangen, und da saßen wir
beide, als wir aus dem Gefängnis heraus waren,
ganz nahe bei der Mühle. Und da haben sie sich
halt geheiratet. Und zwei Kinder haben sie, und
Geld haben sie auch.«

»So, so,« nickte der Müller. »Es ist gut. Nun
wollen wir heimgehen.«

Sie gingen. Unterwegs blitzte dem Müller
durch den Kopf, da alles gut gehe, müsse er sehen,
daß er nun das Heft wieder in die Hand bekomme.
Man könne ja nicht wissen, ob das Glöcklein auf
dem Baume am Ende doch nicht noch einmal
läute.

Drei Tage später bekam Jakoble wieder die
erste Ohrfeige.

[Illustration]



Der angebundene Kirchturm.


Der Kirchturm von Waldauendorf war schlechter
Laune. Er hatte auch Ursache dazu. Was meint
man, was einem alten, ehrwürdigen Kirchturm
alles passieren kann? Angebunden hatten sie
ihn wie einen Hund! Da waren solche schnippische
Kerle aus der Stadt gekommen, hatten
eine endlos lange eiserne Schnur hinter sich hergeschleppt,
sie an Bäumen und Masten befestigt
und schließlich auch den Kirchturm daran gebunden.

Also so etwas soll sich ein alter, ehrwürdiger Herr
heutigen Tags gefallen lassen! Der Turm guckte
mit seinen großen Augen, die als Wimper eine
schöne Jalousie hatten, zornig auf die städtischen
Knirpse, die einen mächtigen Haken in seine
Seite schlugen und ein Porzellanhütchen daraufsetzten.
Nun tut ja einem Kirchturm ein eingeschlagener
Haken nicht mehr weh, als wenn andere
Leute sich mit einer Stecknadel pieken. Auch das
Porzellanhütchen hätte man sich gefallen lassen
können wie einen schmucken Westenknopf.

Aber die Schnur! Daß er angebunden wurde,
das ging gegen seine Ehre!

Der alte Herr, der als braver Kirchturm sonst
sehr christlicher Gesinnung war, hatte plötzlich einen
feindseligen Gedanken. Er lugte nach dem Waldrand
hinüber und wünschte, die Schweden möchten
kommen und die Frechlinge, die unten auf
der Leiter hämmerten und bastelten, mit ihren
Kanonen herunterschießen. Der Kirchturm kannte
die Schweden. Erst neulich waren sie dagewesen;
es konnte höchstens zwei- oder dreihundert Jahre
her sein. Da hatten sie das Dorf beschossen, und
auch dem Kirchturm steckten noch ein paar Kanonenkugeln
in den Gliedern, wie einem Bauern,
der zur Treibjagd war, die Schrotkörner.
Damals hat der Turm die Schweden als die
Feinde seiner Gemeinde gehaßt und ein halb
zorniges, halb jubelndes Glockenlied gesungen,
als sie endlich abziehen mußten. Aber jetzt
wünschte er sie sich her. Die würden schon die
bösen Buben, die ihn an die Leine legen wollten,
vertreiben. Beim ersten Schuß würden sie ausrücken.

Natürlich, wie's so ist: braucht man einmal
Schweden, sind sie nicht da. Die Männlein vollendeten
ihr Werk und zogen mit einer anderen
Schnur weiter durchs Dorf und in den Wald hinein.
Der Kirchturm war nach zwei Seiten hin
angebunden.

[Illustration]

O Schmach! Was nutzte es ihm nun, daß er
seit zehn Jahren einen sehr feinen hellgrauen
Anzug besaß; was nutzte es, daß ihm der Herr
Pfarrer neulich einen ganz neuen roten Hut versprochen;
ja, was nutzte ihm sogar sein größter
Stolz: daß er vor zwanzig Jahren eine richtig
gehende Taschenuhr bekommen hatte? Die alte
Sonnenuhr, die er einige hundert Jahre getragen,
war schließlich etwas eingestaubt gewesen, und
man hatte ihm eine Uhr mit richtigen Ziffern und
Rädern gekauft. Da hatte er in seinem Stolz und
seiner Freude den ganzen Tag darauf geschielt,
wie spät es sei. Schöne Zeit war das!

Jetzt war alles dahin: sein Schmuck, seine Ehre,
seine frohe Laune. Er war angebunden! -- -- --

Der Abend kam. Durch die Mauerluke des
Turmes ging der Wind wie schluchzendes Atmen,
und ein paar kalte Tropfen rannen über seine
großen Augen.

Was hatte er seiner Gemeinde getan, daß sie
ihm diese Schmach widerfahren ließ? Hatte er
nicht freudig sein Lied gesungen zu ihren Festen?
Hatte er nicht sein tröstendes Sprüchlein gesagt,
wenn eine Seele am Scheiden war; hatte er
nicht in wilden Sturmnächten, wie in den
Blütenstunden des Mai Wache gestanden an
ihren Gräbern; hatte er nicht als erster jedem
Heimkehrenden, der aus der Fremde kam, einen
Willkommensgruß zugewinkt? Und sein golden
Kreuzlein hatte er über Hof und Haus, Feld
und Wald gestreckt, wie einen immerwährenden
Segen. -- -- --

Ein paar Tage vergingen. Wieder war es
Abend.

Die Schulmagd kam, die Glocke zu läuten. Der
Turm tat seine Pflicht: er sang seinen Abendsegen.
Aber in seiner Stimme war ein Klang
von Trauer und Herzeleid. --

Unten knarrte das Kirchhoftürchen.

Die junge Frau Annemarie kam. Sie ging
schnell und aufgeregt. Ihre Blicke irrten über
den Kirchhof. Und sie fiel vor dem großen Kreuz
auf die Knie, das unter der Linde stand.

»Erbarm dich, Herr, erbarm dich! Laß mein
Kind nicht sterben! Laß mein Kind nicht sterben!«

Sie wiederholte schluchzend immer dieselben
Worte.

Der Kirchturm wußte Bescheid. In ein paar
Tagen mußten seine Glocken klingen über einem
kleinen Grab, und in sein Läuten würde sich
lautes Mutterweinen mischen und der Gesang:
»In der Blüte deiner Jahre ...«

Der Turm kannte das. Es war das alte Lied
seit vielen, vielen hundert Jahren. Mütter weinen
an den Gräbern am schmerzlichsten.

»Erbarm dich, Herr, laß mein Kind nicht
sterben!«

Wieder ging die Kirchhofstür. Der alte Herr
Kantor kam. Er war wohl der Annemarie nachgegangen.

»Der Arzt muß kommen!« sagte er zu ihr.

Sie blickte ihn an wie irr.

»Der Arzt? Ehe ein Bote in die Stadt kommt
und den Arzt holt, ehe der Arzt kommt und das
Kind untersucht, ehe er wieder nach der Stadt
zurück ist und von dort die Medizin schickt, ist das
Kind tot -- ist es tot!«

Da sprach der Kantor etwas, was der Turm
durchaus nicht verstand; er sagte:

»Ich werde dem Arzt telephonieren!«

Und er zog die weinende Annemarie mit sich
fort. -- -- --

Was wird er dem Arzt? Telephonieren? Was
war das? Es ist wahr, das Gehirn des Kirchturms
war schon ein bißchen morsch, und er mußte
sich Mühe geben, Neues zu begreifen. Dafür war
sein Herz gut und darum sein Gefühl unendlich
fein geblieben.

O, was war das für ein wundersamer Abend!
Der Kirchturm, der mit allen Sinnen spähend stillstand,
hörte plötzlich die Stimme seines alten Kantors.
Er schielte nach unten, nach dem Kirchhof,
nach der Dorfstraße: der Kantor war nicht zu
sehen. Seine Stimme klang etwas verschleiert,
aber sie war doch deutlich genug, daß der Turm
alles verstand. Das heißt, er verstand die Worte,
der Sinn aber erschien ihm gänzlich konfus.

Also, der Kantor, der doch im Waldauendorfe
war, sprach mit dem Arzt, der in der Stadt war;
der Kantor erklärte den Zustand von Annemaries
Kinde, und der Doktor sagte: jawohl, das sei
Diphtherie, er werde sofort kommen und das
Kind impfen, da werde es wohl wieder gesund
werden.

So verdutzt war der Kirchturm noch nie gewesen
in seinem langen Leben, und als eine
Stunde später eine Fuhre mit dem Doktor wirklich
durchs Dorf fuhr, bekam er Atembeschwerden
und Herzbeklemmung.

Ehe der Arzt zurückfuhr, begleitete ihn der
Kantor ein Stück die Dorfstraße hinunter, und der
Turm hörte, was die beiden sprachen, als sie vorbeigingen:

»Es ist doch gut, daß Sie jetzt die elektrische
Leitung haben,« sagte der Arzt; »bei dem Kinde
war keine Zeit zu verlieren.«

»Ja,« sagte der Kantor, »in meinen jungen
Jahren hätte ich es nicht für möglich gehalten, daß
man einmal einen Draht an meinen alten Kirchturm
befestigen und daß ich durch diesen Draht
über Berg und Tal sprechen können würde. Eine
neue Zeit!«

»Keine schlechte Zeit!« sagte der Arzt.

Die Männer trennten sich; der Kirchturm
schnappte nach Luft. Also die Schnur, an die er
gebunden war, war ein Draht, und durch diesen
Draht konnte man bis in die Stadt sprechen!

Der Turm dachte nach, daß ihm die Balken
seines Gehirns knackten -- aber er kriegte nicht
zusammen, wie das alles möglich sein könne.

Da faßte ihn tiefe Betrübnis. Er holte schwer
Atem und sprach zu sich selbst:

»Wenn ich schon meine Gemeinde nicht mehr
verstehe, wünschte ich, ich wäre tot. Vielleicht
kommen die Schweden und erschießen mich, oder
die Leute reißen mich weg und bauen einen
neuen und klügeren Turm!«

So stand er traurig die ganze Nacht. Am
nächsten Morgen aber hörte er aus dem Draht
heraus die Stimme des Herrn Pfarrers. Der
sprach mit einem Dachdeckermeister in der Stadt
und bestellte tatsächlich den neuen roten Hut für
den Turm.

»Wir müssen den alten Herrn schon etwas heraus
putzen,« sagte der Pfarrer, »denn er ist ja im
Nebenamt jetzt sogar Telephonbeamter geworden.«

Telephonbeamter! Da habt ihr's! Da ist man
ein großes Tier und weiß es gar nicht, da ist man
ein Beamter und hat keine blasse Ahnung von
seinem Beruf! Aber das sollte jetzt anders werden!
Telephonieren wollte der Turm, was das
Zeug hielt.

Die gute Laune war plötzlich in goldenstem
Maße wieder da. Der Turm sah nach seiner
Taschenuhr. 9 Uhr! Wenn es der Dachdecker
ebenso eilig hatte wie gestern der Doktor, konnte
die Sache mit dem roten Hut also um 10 Uhr
losgehen.

So schnell ging's nun nicht. Aber der Turm
war immerfort in großem Glücksgefühl; er wußte,
daß er nach wie vor seiner Gemeinde diente.

So mußte wohl auch auf den neuen Wegen der
alte Gott regieren. Und hoch hob der Turm sein
golden Kreuzlein über seine Gemeinde.



[Illustration]

Ein Abenteuer auf der Themse.

Von meinem Freunde erzählt, dem die Geschichte
passiert ist.


»Weißt Du, was die ~Oxford-Cambridge Boat
Race~ ist? Nichts Genaues? Also eine Ruderwettfahrt
in Achtern zwischen den Studenten der Universität
Cambridge und Studenten von Oxford.
Eine alte Sache. Schon seit 1829 im Schwange.
Die Cambridger sind die Hellblauen und die
Oxforder die Dunkelblauen. Natürlich wettet die
Hälfte von London auf Hellblau, die andere
Hälfte auf Dunkelblau. Die Damen tragen
dunkel- oder hellblaue Toiletten, Hüte, Schleifen
(natürlich die Farbe, die sie am besten kleidet);
Herren tragen hell- oder dunkelblaue Krawatten,
Kinder hell- oder dunkelblaue Fähnchen,
die Droschkenkutscher hell- oder dunkelblaue Bänder
an den Peitschen. Ein Volksfest, ein Rummel!
Ganz London auf der Themse oder wenigstens
an der Themse.

Also, ich stand damals mit einem großen Sportblatt
in Verbindung, war reiselustig und fuhr
extra von Berlin nach London, um an der ~Oxford-Cambridge
Boat Race~ teilzunehmen und meinem
Blatt Bericht zu erstatten. Ich wußte, daß der
Statt der Studenten bei Putney, zwei Stunden
oberhalb Londons, stattfand und hatte nach mancherlei
Mühe einen Platz auf dem Pressedampfer
bekommen, von dem aus das Schauspiel am besten
zu beobachten war.

In London treffe ich einige Bekannte und mache
mit ihnen eine lange Nacht. Als ich um fünf
früh ins Hotel kam, fühlte ich mich ruhebedürftig
und schlafe und schlafe und schlafe richtig bis dreiviertel
zehn Uhr.

Punkt 10 Uhr aber fuhr der Pressedampfer vom
Londoner Kai aus hinaus nach Putney. Ich
erschrak. Heraus aus dem Bett und die Unterhose
verkehrt anziehen war eins. Donnerwetter!
Donnerwetter! So ein Lumpenkerl -- ich! Extra
nach London gekommen, und nun -- wo sind
die Strümpfe? -- Wenn bloß der Kragen nicht
so blödsinnig eng -- Waschen? Verrücktheit! Ich
wasche mich andermal wieder -- Himmel, da ist
ja mein linker Schuh am rechten -- Portier!
Portier! ~Waiter! Waiter!~ Einen Wagen! Ein
~cab~! Sofort!

Ich flog die drei Treppen hinab und stieß mir
sechs Beulen, auf jeder Treppe zwei, saß im
Wagen, versprach dem Kutscher eine königliche
Belohnung. Der Kerl hatte hellblaue Peitschenschnüre,
und ich trug eine dunkelblaue Mütze. Er
ein Cambridger, ich ein Oxforder! Trotzdem fuhr
er großartig. Ich ein Oxforder, o nein, ein Ochse,
ein großer Ochse! Zu verschlafen! Kutscher, wir
müssen, müssen, müssen zurechtkommen!

Und wir kamen zurecht. Ich konnte gerade
noch den Pressedampfer abdampfen sehen. Ich
streckte die Arme nach ihm aus, ich brüllte wie
ein Stier hinter dem Schiffe her, dann setzte ich
mich auf einen Straßenstein und knirschte vor
Wut mit den Zähnen. Es war mir, als müsse
ich den bummeligen Kerl, der das verschuldet
hatte, beim Kragen kriegen und in der Themse
elend ersäufen -- mich!

Extra von Berlin gekommen in dies blödsinnige
Nest, wo die Dampfer so pünktlich abgehen,
und jetzt, wo's da draußen losgeht, kauere
ich hier wie ein trauriger Affe auf dem Straßenstein.

Müde erhob ich mich. Keine Möglichkeit, auf
anderem Wege nach Putney zu kommen. Ein
Boot? Unsinn, das kam gerade hinaus, wenn
der Start längst vorüber war. So schlenderte ich
in seltsamen Gefühlen und eigenartigen Selbstbetrachtungen
den Kai entlang.

Da sah ich dicht an der Ufermauer einen stattlicher
Dampfer liegen. Leer! Nur ein paar Bedienungsmannschaften
lungerten träge herum, und
der Kapitän spazierte auf Deck hin und her.

Ein Gedanke! Ein rettender Gedanke!

»Sir!« rufe ich dem Kapitän zu, »ich habe den
Pressedampfer verpaßt, was mir äußerst unangenehm
ist, und ich muß nach Putney, ich muß!
Wollen Sie mich, mein Herr, auf Ihrem Schiff
nach Putney fahren?«

»Aber sehr gern, mein Herr!« erwiderte er in
freundlichstem Ton; »ich habe gerade Zeit, und es
wird mir ein Vergnügen sein, Sie nach Putney
zu fahren.«

Hurra!

»Und welches ist der Preis für den Extradampfer?«

»O, mein Herr, der Preis ist Nebensache. Steigen
Sie nur ein!«

»Ja, ~my dearest~, so ungefähr möchte ich wohl ...«

»Steigen Sie nur ein, Sir, Sie werden sehr zufrieden
sein. Indes vergeht sonst unnütz die
Zeit.«

Das sah ich ein, und ich bestieg das Schiff, auf
die Gefahr hin, daß mir hinterher der Mann eine
riesige Summe abverlangte. Ich mußte doch nach
Putney! Ein Kommandowort nach dem Maschinenraum,
ein Signal, das Schiff setzte sich in Bewegung.
Und ich war sein einziger Passagier!
An einem solchen Tage, wo sonst alle Schiffe überfüllt
waren! Ein freudiger Stolz, ein Gefühl
großer Vergnügtheit ergriff mich.

Der Kapitän trat an meine Seite und sagte:

»Mein Herr, Sie werden gewiß das wundervolle
bunte Leben und Treiben auf der Themse
und an ihren Ufern, wie es gerade der heutige
Tag bringt, beobachten wollen. Wir haben hier
an Bord einen brillanten Auslugposten. Sehen
Sie, hier, wo die Bordwand unterbrochen und
durch ein schmales Geländer ersetzt ist! Stellen
Sie sich hierher! Hier sehen Sie alles.«

Ich war dem liebenswürdigen Manne aufs
äußerste dankbar, drückte ihm gerührt die Hand
und stellte mich an den bezeichneten Platz.

Eine prachtvolle Aussicht! Eben kommt eine
blumengeschmückte Gondel vorbei. Dunkelblaue
Fahnen, alle Insassen mit dunkelblauen Abzeichen.
Oxforder!

Da -- mit einem Male stutzen die Leute im
Boot, betrachten mein Schiff, betrachten mich und
-- brechen in ein schallendes Gelächter aus.

»O, Ihr lieben Oxforder! Ihr seht wohl meine
dunkelblaue Mütze, seht, daß ich von Eurer Partei
bin, ahnt, daß ich mir einen Extradampfer gechartert
habe, um noch nach Putney zu kommen,
und bringt mir diese jubelnde Ovation?! Seid
bedankt, Freunde, seid bedankt!«

Und ich schwenke vergnügt meine dunkelblaue
Mütze. Als die Leute das sehen, jubeln sie noch
viel lauter. Entzückend, diese übersprudelnde Fröhlichkeit!

Da -- ein Boot mit Hellblauen! Die gegnerische
Partei. Aber auch sie -- auch sie brechen ja
in ein jubelndes, in ein schallendes Gelächter
aus ...

Nanu!

Was haben die Kerle zu lachen?

Aha, das ist Hohn! Sie sehen, daß ein Dunkelblauer
sich verspätet hat und ein Extraschiff nehmen
mußte. Glaubt nur ja nicht, ihr dummen
Kerle, daß ich mich über euch ärgere! Im Gegenteil,
ich schwenke herausfordernd meine dunkelblaue
Mütze und wundere mich nur, daß diese
hellblauen Kunden so blödsinnig vergnügt weiter
lachen. Na ja, die Hellblauen, von denen kann
man alles erwarten.

Potz Blitz, was ist das dort drüben am Strande?
Ein Menschenauflauf. Männer, Weiber, Kinder
stürzen herbei, und alles zeigt auf mein Schiff
und auf mich, der ich an seinem sichtbarsten Punkt
stehe, und eine donnernde Lachsalve tönt vom Ufer
herüber. Die Männer fuchteln mit den Armen,
einzelne Frauen setzen sich platt auf die Erde
und scheinen sich in Lachkrämpfen zu winden,
Buben schlagen Purzelbäume vor Vergnügtheit,
und immer neue Scharen strömen, nein, stürzen
herbei und stimmen in das Gelächter ein.

Ich winke hinüber -- stürmischer Jubel! -- ich
begucke und betaste bestürzt meinen Anzug --
zwerchfellerschütternde Heiterkeit, -- ich drehe
mich verwirrt dreimal um meine Achse -- ein
brüllendes Gewiehere -- ich reiße einen kleinen
Spiegel aus meiner Tasche und betrachte mich --
die Leute wollen bersten!

»Um Himmels willen, Kapitän, was ist denn
los?«

Er sieht mich mit freundlichem, unendlich wohlwollendem
Gesichte an.

»Ein bißchen verrückt,« sagt er phlegmatisch.

»Was, ein bißchen verrückt? Total verrückt ist
diese Gesellschaft!«

Ein zweites, drittes, viertes -- zehntes Boot
fährt vorüber, und alle, alle, alle Insassen lachen,
lachen, lachen ein wahnsinniges, tollhäuslerisches
Gelächter.

Darüber werde ich völlig verwirrt. Ich drehe
mich wie ein Kreisel, ich werfe die Arme wie
Windmühlflügel, ich deute nach der Stirn, um die
Leute auf ihren Geisteszustand aufmerksam zu
machen.

Sie lachen, sie lachen Stürme!

»Kapitän, sagen Sie mir -- erklären Sie mir
um Himmels willen -- das ist ja -- das ist ja --«

»~Boat race~,« sagte er schmunzelnd.

»Aber Mann, wenn auch heute Oxford-Cambridge-Tag
ist, braucht doch dieses Volk nicht über
einen anständigen Ausländer in ein so verrücktes --«

Ein Schrei. Ein »Seelenverkäufer«, in dem
zwei Leute gesessen haben, ist gekentert. Die
Kerle klammern sich an ihr Boot, kämpfen mit
den Wellen und lachen, lachen, -- -- -- sie ersaufen
beinahe und zeigen doch auf mich und
lachen -- lachen --

Also -- irgend jemand mußte hier verrückt sein!
Und da doch wahrlich nicht ganz London plötzlich
toll geworden war, so war wahrscheinlich ich -- --

Ein Angler, der am Ufer sitzt, zieht eben einen
Fisch aus dem Strom, sieht mich, kriegt augenblicklich
Schreikrämpfe und fliegt samt Angelrute
und Fisch kopfüber ins Wasser. Mich überläuft
es siedendheiß. Ich zittere vor Aufregung.

Da -- ein Marineschiff kommt daher. Endlich
ein ernstes Fahrzeug. Ein wildes, knallartiges
Gelächter der Mannschaft samt den Offizieren ...

Also doch!! Elender Porter! Elender Brandy!
Eine einzige Nacht, und ich bin -- -- o, es ist
nicht zum Ausdenken! Vielleicht befinde ich mich
gar nicht auf einem Schiff; vielleicht bilde ich mir
das alles bloß ein! -- Aber hier stehe ich doch,
hier halte ich doch das Geländer, hier ist doch
die Themse!

»Es ist ein guter Tag heute!« sagt freundlich
der Kapitän.

»Guter Tag?«

Ich fange an, einfach radzuschlagen und die
Beine nach oben zu strecken.

Rundum dröhnt die Luft, knallt, prasselt, ächzt,
stöhnt, heult es vor Gelächter. Am Strande, auf
kleinen Booten, auf Segelschiffen, auf Dampfern,
überall, überall diese entsetzlich lachenden Menschen.
Ich drehe mich um die horizontale oder
um die vertikale Achse wie eine Spule oder wie
ein Flugrad. Mit einem Wort: ich rotiere.

Der Kapitän behält seinen menschenfreundlichen,
wohlwollenden, zufriedenen Gesichtsausdruck.
Unheimlich, grauenhaft ist meine Lage.

Da endlich sehe ich den Pressedampfer. Selbst
in meinen Kinderjahren habe ich nicht an Zauberei
geglaubt, jetzt aber bin ich felsenfest überzeugt,
daß ich mich auf einem verhexten Schiffe
befinde.

»Halt! Kapitän, halt! Ein Boot! Ich will
da hinüber! Da auf den vernünftigen Pressedampfer.
Verlangen Sie meinetwegen, was Sie
wollen, nur lassen Sie mich von diesem blödsinnigen
Schiff herunter!«

Dort -- dort sammeln sich die Hell- und Dunkelblauen
zum Start. Die ganze internationale
Pressegesellschaft sieht zu. Aber plötzlich verliert
für sie die ~boat race~ alles Interesse, alle wenden
sich meinem Schiff zu, und ein internationales
Gelächter erdröhnt, untermischt mit Jubelrufen in
aller Herren Sprachen.

Kalter Schweiß rinnt mir von der Stirn. Auch
diese -- auch diese Internationalen! Nur mühsam
fuchtele ich noch mit den Armen.

»Was bin ich Ihnen schuldig?« keuche ich.

»Nichts!« sagt der Kapitän.

»Nichts? Für einen Extradampfer -- nichts?
Ach ja -- ich -- ich -- bin ja --«

»Im Gegenteil,« fährt der Kapitän fort, »meine
Gesellschaft ist Ihnen zu großem Dank verpflichtet,
und ich bedaure nur, daß es nicht möglich ist,
Sie beständig für uns zu engagieren. Sie wären
eine Goldgrube für uns. Bitte, behalten Sie dies
zum freundlichen Andenken!«

Er gibt mir ein kleines Paket. Mir ist schon
alles eins; ich nehme das Paket.

»Also nichts?« lallte ich.

»Nichts!« sagte er. »Im Gegenteil: tausend
Dank!«

Endlich sitze ich in einem Boot, das mich nach
dem Pressedampfer bringen soll, von dem unaufhörlich
das Gelächter weiterdröhnt.

Wie ich etwas Distanz gewonnen habe, wage
ich es, einen Blick auf das verlassene Zauber- und
Gelächterschiff zu werfen.

Da sehe ich -- -- -- daß der ganze mächtige
Schiffsrumpf mit schreienden Plakaten bedeckt
ist.

Ein Reklameschiff ist es.

Und ich lese:

»Beechams Pillen! Beechams Pillen! Alle
Krankheiten kommen aus der Leber! Und die
Leber wird einzig geheilt durch Beechams Pillen!
Wer an Cholera, Verstopfung, Gehirnschwund,
Bartlosigkeit, Krätze, Triefaugen, Plattfüßen,
Buckel, roter Nase, Hühneraugen oder Altweiberrunzeln
leidet, nehme Beechams Pillen!!!«

Die Liste war noch viel länger, noch viel beleidigender.

Die Hauptsache aber:

Unter dem Auslugposten, auf dem ich gestanden
und auf dem ich in der Erregung meine wilden
Bewegungen mit den Händen und Beinen
gemacht hatte, war eine Riesenhand mit nach oben
gestrecktem Zeigefinger gemalt und daneben
stand:

»Sehet diesen Mann! Er hat an sämtlichen
Krankheiten gelitten, die an unserem Schiff verzeichnet
stehen. Er hat Beechams Pillen genommen
und ist kuriert worden. Seht seine freundlichen
und kräftigen Bewegungen!«

       *       *       *       *       *

Das kleine Paket, das mir der wohlwollende
Kapitän zum Andenken überreicht hatte, enthielt
eine Schachtel Beechams Pillen.

[Illustration]



Die Ferienkolonisten.


»Durch die Güte freigebiger Menschen kann auch
in diesem Jahre wieder eine Anzahl bedürftiger
Kinder in die Ferienkolonie geschickt werden.«

Es gab einen Tumult in der Klasse, als der
Lehrer das sagte. Doch er setzte bald einen
Dämpfer auf die Freude.

»Pst! Wir haben 400 Kinder in der Schule,
und davon dürfen wir nur sechs vorschlagen, von
denen wieder der Schularzt nur zwei auswählt.
Also, von den 400 Kindern unserer Schule können
nur zwei in die Ferienkolonie mitgenommen
werden.«

»Heißt 'n halbes Perzent,« brummte Moritz
Cohn auf der hintersten Bank. Er beschloß, bei
so schlechten Chancen auf dies Geschäft erst gar
nicht zu reflektieren.

Anders Heinrich Menzel. Er saß ganz vorn,
war der kleinste und schwächlichste von allen.
Tagelang zerbrach er sich den Kopf, ob er zu den
zwei Auserwählten gehören würde, betete inständig
zum lieben Gott um diese Gnade, verfiel
zuletzt sogar in Aberglauben, indem er Vaters
alten Würfelbecher zum Orakel machte. Einen
Wurf mit den drei Würfeln! Wenn es über
16 wären, würde es mit der Ferienkolonie glücken.
Schon hatte er den Becher in der Hand, da setzte
er die Schicksalszahl von 16 auf 14 herab.

Er warf 18!

Und richtig wurde er am nächsten Tage unter
die sechs Kandidaten eingereiht, aus denen der
Schularzt als oberste und unwiderrufliche Instanz
die zwei Glücklichen auswählen würde, die
auf vier lange Wochen das unsägliche Glück haben
sollten, in einem grünen Gebirgsdorf zu leben,
fern von den engen Straßen und dumpfen Höfen
der Großstadt.

Der kleine Trupp der sechs Buben machte sich
auf den ziemlich weiten Weg zum Schularzt.
Auch Moritz Cohn gehörte zu ihnen. Vornweg
stelzte Karl Perschke mit seinem lahmen Bein.
Wie ein Anführer zog er daher, überzeugt, daß
ihn sein sichtliches Gebrechen zum Siege führen
würde. Fritz Neumann prahlte mit den eiterigen
Mandelentzündungen, die er hinter sich hatte.

»Das ist noch gar nichts,« warf Gottlieb
Scharfenberger ein, »zweimal Diphtherie, einmal
Scharlach und einen Leistenbruch, das soll mir erst
mal einer nachmachen. Die Zahnkrämpfe gar
nicht mitgerechnet.«

Dagegen kam sich allerdings Heinrich Menzel
mit seinen lumpigen Masern und seinem Ziegenpeter
gerader ärmlich vor.

[Illustration]

»Der Max Scholz, der sollte erst gar nicht mitmachen,«
sagte einer verächtlich, »er ist bloß zweimal
übers Treppengeländer gefallen.«

»Aber einmal vom zweiten Stock herunter, und
da hat der Kopp gelitten,« verteidigte sich Scholz.

»Ach was, Kopp! Kopp ist nicht so schlimm!«

»Ich hab auch was für mich,« dachte Moritz
Cohn. »Ich bin der einzige Jude in der Schule,
und ganz können sie unsere Religion auch nicht
ausschließen. Wir müssen berücksichtigt werden!«

So zog der kleine Trupp dahin in Hoffen und
Bangen, und keiner der vielen reichen Leute, die
ihm begegneten, dachte daran, daß da sechs auszögen,
um vier Wochen grüne Waldjugend zu
suchen.

»Es gibt doch gute Leute,« meinte Scholz;
»Leute, die für so was das Geld geben. Es kostet
dreißig Mark pro Mann. Ein schweres Geld!«

»Oh,« sagte Moritz Cohn, »30 Mark for 'ne vierwöchige
Sommerfrische is immer noch 'n reeller
Preis!« ...

Sie kamen zum Arzt, wurden untersucht und
über vielerlei gefragt, und endlich fällte der
Mann mit der goldenen Brille den entscheidenden
Spruch:

»In die Ferienkolonie werden mitgenommen:
Gottlieb Scharfenberger und der Kleine da, der
Heinrich Menzel.«

Heinrich entfuhr ein kleiner Freudenschrei, und
der Arzt lächelte. Dann sagte er freundlich:

»Es tut mir ja leid, daß ich euch nicht alle sechs
schicken kann. Am liebsten schickte ich die ganze
Schule. Na, vielleicht kommt ihr anderen in
einem der nächsten Jahre dran. Jetzt könnt ihr
gehen.«

Draußen vor der Haustür sagte Moritz Cohn,
der nicht mit »ausgehoben« worden war: »Der
Mann is 'n Antisemit.«

Der Lahme aber fing in ohnmächtigem Zorn
an zu heulen.

       *       *       *       *       *

Der Mond schien in die Stube, in der Heinrich
Menzel mit seinen Geschwistern schlief. So eng
die Klause -- und doch vor dem träumenden
Kinderauge die Welt so weit. Ein Waldtal stand
vor der jungen Seele, wie es phantastische Bilder
zeigen: himmelhohe Berge, ein klarblauer See,
eine Sägemühle am silbernen Bach, im Hintergrund
eine drohende finstere Burg.

»Du«, fragte ihn sein jüngerer Bruder, »ob es
da auch Wölfe und Löwen gibt?«

»Du bist dumm,« sagte Heinrich im Tone aufgeklärter
Leute, »Wölfe und Löwen gibt es nicht,
aber Hirsche in Menge und gewiß auch Räuber
und Wilddiebe.«

»Da würd' ich mich fürchten!« sagte der Kleine.

»Oh, ich fürchte mich gar nicht!« rief Heinrich
und setzte sich im Bette auf.

Er reckte seine dünnen, schwachen Ärmchen,
wie er an die Räuber und Wilddiebe dachte, die
es möglicherweise im Gebirge gab, und beschloß,
seine kleine braune Büchse mitzunehmen, die er
von dem reichen Hauswirtssohn bekommen hatte.
Die Büchse ging zwar nicht mehr los, weil die
Feder schon zerbrochen war, als er sie bekam,
aber gut würde es sich ausnehmen, wenn er sie
auf dem Rücken trüge. Die Hasen, Füchse und
Adler würden einen Schreck bekommen und
schleunigst die Flucht ergreifen, und das würde
ein Spaß sein. Augen würde er da machen --
oh! Wer sich nicht vor der Flinte fürchtete, sollte
vor den Augen ein Gruseln bekommen!

Und dann konnte er mit dem Munde so
täuschend einen Flintenschuß nachmachen, daß der
Erfolg gewiß nicht fehlen konnte. Und fischen
wollte er! Hechte fangen und Karpfen! Eine
Schnur für die Angel besaß er schon; einen
Stecken schnitt er sich aus dem Walde, und nur
der Angelhaken fehlte. Aber der würde sich wohl
finden; im schlimmsten Falle bog man eine Stecknadel
krumm. Da würden aber die Hechte was
zu zappeln haben! Blumen pflücken, Pilze
sammeln, nach dem Hexenhause im Walde
suchen und womöglich einen Räuber fangen
helfen! -- Oh!

Wieder reckte er die dünnen Ärmchen, und in
seiner Erregung sprang er aus dem Bett, öffnete
weit das Fenster und schaute hinaus.

Die goldenen Sterne funkelten in die Kinderaugen;
hinten am Horizont stand eine Wolke,
die sah aus wie ein zerklüftetes Bergland. Die
Firnen waren weiß vom Sternenlicht, und rundum
der Himmel war wie dunkelgrünes Wiesenland.
Ob dort drüben das liebe, gesegnete Land
der Waldfreiheit war?

       *       *       *       *       *

Zwei Tage vor der Abreise in den Sommeraufenthalt
sagte der Lehrer in der Schule:

»Da also leider der kleine Heinrich Menzel an
schwerer Lungenentzündung erkrankt ist, wird
Moritz Cohn an seiner Statt in die Ferienkolonie
mitgenommen.«

Moritz Cohn bedankte sich und dachte im stillen:

»Man soll also nie eine Sache voreilig aufgeben;
's kann immer noch werden.«

Moritz war ein ganz guter Junge. Anfangs
beschloß er, Heinrich Menzel aufzusuchen; aber
dann dachte er:

»Was sollste sagen? Daß der's leid tut? Das
wird er nich glauben. Er wird bloß einen Gift
auf der haben. Wirst ihm eine Ansichtskarte schicken,
wenn se dort nich zu teuer sind.«

Im Fiebertraum war der kleine Heinrich immer
in den Bergen. Er ging auf die Jagd, fischte,
kämpfte mit Rittern und Räubern. Manchmal
lachte er zwischen dem Röcheln und Stöhnen
seiner Schmerzen selig auf.

Und einmal, als er einige Minuten unbewacht
war, sprang er aus dem Bett, öffnete das Fenster,
streckte die Arme aus und wollte hinaussteigen
und mitten durch die Luft ins grüne Land wandern.
Die Mutter erfaßte ihn noch, und es war
ein Wunder, daß kein Rückschlag der Krankheit
eintrat.

In der vierten Ferienwoche, als Heinrich schon
auf dem Wege der Genesung war, bekam er einen
Brief von Moritz Cohn:

Eulenhausen, den ...

Die Ansichtskarten sind hier schlecht und teuer.
Den Briefbogen hat der Wirt umsonst hergegeben,
und die 10 Pfennige auf die Marke kannst du mir
einmal wiedergeben, wenn du wirst Geld haben.

Lieber Heinrich, Räuber und Hechte gibt es
hier nicht. Es ist überhaupt nichts los, nichts wie
lauter Buschwerk, Kühe, Stallmägde und Heuwiesen.
Die anderen helfen auf dem Felde; ich
bin zur Erholung hier. Ein paarmal war ich
beim Kaufmann, welcher Krämer heißt. Es ist
ein jammervolles Geschäft. 3 Mark 50 Pfennig
Losung hat der Mann einmal auf den ganzen
Tag gehabt. Ich wundere mich, wo er den Kredit
hernimmt. Der Laden hat zwar eine gute Lage,
aber Eulenhausen ist überhaupt kein Geschäftsort.
Für Zucker nimmt der Mann bloß 2 Prozent,
und wieviel wiegt er ein!

Lieber Heinrich, da du so gern nach Eulenhausen
willst, so habe ich an meinen Vater geschrieben.
Wir werden's machen! Ich habe mit
dem Wirt gesprochen. 30 Mark bekommt er pro
Mann (da kommt er gut auf seine Rechnung).
Für dich wollte er auch 30 haben. Da habe ich
ihn ausgelacht: »Spaß,« habe ich gesagt, »30 Mark,
wo die Ferien vorbei sind, und es ist bloß die
lumpige Nachsaison.« 12 habe ich ihm geboten.
Er hat gelacht und hat noch hin- und hergeschmust,
und für 15 will er's machen. Der Lehrer hat
mich auch ein bißchen unterstützt. Aber mit der
Ferienkolonie ist das nun vorbei, die zahlt nicht.
Da macht's mein Vater. 15 Mark kostet es, mit
Reisespesen 18 Mark. Da hat sich der Vater mit
sechs anderen zusammengetan, von denen gibt
jeder einen Taler. Du kannst also, wenn du gesund
sein wirst, vier Wochen hierher kommen;
im September ist noch das schönste Wetter.

Es grüßt dich Dein Freund

Moritz Cohn.

Selig lächelnd lag Heinrich Menzel mit dem
Brief im Bette. Nun sollte er doch noch in sein
geliebtes Waldtal! Er sollte dann ganz allein
dort der Herr aller Berge sein ... Räuber und
Hechte gäb's nicht? Oh, Moritz hat sie bloß nicht
gesehen, hat den ganzen Tag beim Krämer gesteckt
und zugesehen, was der einnimmt.

Die große Freude trat als Wundertäterin an
Heinrichs Bett und machte ihn gesund.

»Ja,« sagte aber einmal Heinrichs Schwester
nachdenklich, »wenn es 18 Mark kostet und wenn
Moritz' Vater sich noch mit sechs anderen zusammengetan
hat, von denen jeder einen Taler
gibt, da hat er ja selber gar nichts gegeben!«

»Laß nur,« sagte Heinrich, »die Hauptsache ist:
er macht's. Die Hauptsache ist: ich kann in den
Wald!«

[Illustration]



[Illustration]

Gedeon.


Mein Onkel Eduard hatte zehn Kinder. Sein
linker Nachbar, der Krämer Franzke, hatte auch
zehn Kinder, und sein zweiter Nachbar, der Müller
Seiffert, hatte auch zehn Kinder.

Die befreundeten Familien standen natürlich
gegenseitig zu Paten. Im Winter brachten
Müller und Krämer meinem Onkel je zwei geputzte
Taler als Patengeschenk ins Haus; im
Sommer trug mein Onkel in Begleitung des
Krämers zwei Taler zum Müller, im Herbst in
Begleitung des Müllers zwei Taler zum Krämer.
So machten sich die Nachbarn gegenseitig »nobel«,
und des Bedankens und Verwunderns ob der
reichen Geschenke wollte immer gar kein Ende
werden.

Gott ließ regnen und seine Sonne leuchten
über all diese Gerechten. Die Kinder bekamen
prompt der Reihe nach Masern, Scharlach und
Diphtherie und wurden alle ebenso prompt
wieder gesund. Alle Jahre wurde ein neuer
Jungenanzug und ein neues Mädchenkleid für
die beiden Ältesten und Größten gekauft, während
sämtliche andere Garnituren um einen Jahrgang
nach unten rückten. So ist es kein Wunder, daß,
je kleiner die Kinder waren, desto unvorteilhafter
sie gekleidet erschienen und deshalb eifersüchtig
auf ihre Vorderleute Obacht gaben, ob sie ihnen
die nächstjährige Gewandung auch nicht allzu sehr
ruinierten.

Der ewig Neue, Strahlende, Moderne, Feine,
Ungeflickte aber war Gedeon, der Älteste, der
Kronprinz aus dem Hause meines Onkels. Eigentlich
hieß er nicht Gedeon sondern August, aber
er hatte sich den biblischen Heldennamen aus
eigener Machtvollkommenheit beigelegt, und es
hätte ihm den Titel niemand streitig zu machen
gewagt. Selbst Vater und Mutter und der alte
Kantor, ja sogar der Briefträger und der Gendarm
nannten ihn Gedeon.

Gedeon war unbestritten der Beherrscher sämtlicher
dreißig Kinder; der Älteste des Krämers
war ein schwächlicher Knabe, der für die Herrschaft
nicht in Betracht kam, und der Älteste vom
Müller war von Gedeon besiegt und unterworfen,
hörig gemacht worden.

Gedeon hatte eine so große Vorliebe für das
Alte Testament, daß er nicht nur sich selbst, sondern
auch jedem seiner Untertanen einen biblischen
Namen beilegte.

Bei den Knaben spielten die Namen der Brüder
Josephs und der kleinen Propheten eine
große Rolle. Schwieriger war die Benennung der
Mädchen. Eva, Rahel, Ruth, Sarah, Judith,
Mirjam, Lea, Rebekka, alles war schon vorhanden;
als daher des Müllers Jüngste, die im Kinderwagen
saß und in sanfter Unschuld an einer
Milchflasche sog, in das »Volk« aufgenommen
werden sollte, kraute sich Gedeon, der Namengeber,
verlegen hinter den Ohren und wußte keinen
alttestamentlichen Mädchennamen mehr. Schließlich
sagte er langsam: »Nun, vorläufig kann sie
heißen: die makkabäische Mutter.«

Darauf erteilte er dem Neuling mit seinem
hölzernen Schwerte den »Ritterschlag«, worauf die
makkabäische Mutter die Milchflasche weglegte und
erbärmlich zu schreien anfing.

       *       *       *       *       *

In Ferientagen kam ich öfters in des Onkels
Haus zu Besuch. Mein Vater behauptete zwar in
einem schiefen Gleichnis, ich sei das elfte oder
gar das einundreißigste Rad am Wagen, aber
die Verwandten nahmen mich immer freundlich
auf, ohne sich sonst weiter darum zu kümmern,
was ich etwa äße oder tränke oder wo ich schliefe.
Es kam vor, daß ich schon zwei oder drei Tage
da war, ehe mich der Onkel bemerkte. Er hatte
mich im Gewühl übersehen.

Als ich das erste Mal auftauchte, musterte mich
Gedeon kritisch und unterzog mich einer Prüfung.
Ich mußte über einen ziemlich hochgehaltenen
Stock springen, was ich fertig brachte, dann befahl
er mir, ohne Leiter auf eine Linde zu kriechen,
was gänzlich mißlang. Auch die Aufgabe, der
Länge nach über einen beladenen Düngerwagen
wegzuspucken, erwies sich als zu schwer für mich.
Zuletzt sollte ich dem bösen Kettenhunde den
Saufnapf mit Wasser füllen, was ich eifrig ablehnte.

»Er kann nichts, und er hat Angst! Er ist ein
Muttersöhnchen!« sagte Gedeon verächtlich und
wandte mir den Rücken. Darauf wandten mir
auch alle anderen den Rücken. Ich war ein Dummkopf;
ich war ein Feigling. Ich hatte mich gesellschaftlich
unmöglich gemacht. Nur die makkabäische
Mutter nahm sich meiner ein wenig an,
indem sie mich ihren Breilöffel ablecken lassen
wollte.

[Illustration]

Zwei Tage lang litt ich als Unzünftiger, dann beschloß
ich, durch eine Tat von außergewöhnlicher
Intelligenz meine Schneidigkeit darzutun. Einen
schlimmeren Schimpfnamen als »Muttersöhnchen«
gibt es für einen Jungen nicht. Am liebsten
hätte ich abgestritten, je eine Mutter gehabt zu
haben.

Nun hatte ich von Hause eine alte Schnupftabakdose
mitgebracht, die ließ ich beim Krämer
füllen. Im Kinderstaate ging alsbald die Mär
von Mund zu Mund: »Er schnupft!« Das hörte
auch der Autokrat Gedeon, und was ich gewollt
hatte, geschah -- er suchte mich auf. Ich probierte
gerade, auf einer starken Wagendeichsel auf einem
Beine zu stehen, und fiel auf die Erde, als ich
des Gewaltigen ansichtig wurde. Da lächelte er
wieder verächtlich und hüpfte einmal höhnisch
auf einem Beine die ganze Deichsel entlang,
setzte sich aber doch zuletzt zu mir auf die Erde.

»Was kannst du eigentlich?« fragte er kalt.

»Ich hab' in Geographie ›gut‹ und im Aufsatz
›genügend plus‹,« sagte ich beklommen.«

Ob dieser Schulweisheit machte er nur eine
maßlos verachtungsvolle Gebärde mit der Hand.
Ich sah ein, daß ich mich da wieder greulich
philisterhaft benommen hatte.

Darauf legte er mir eine Reihe von Fragen vor:
ob ich boxen, angeln, kopfstehen, radschlagen,
Sechsundsechzig spielen oder wenigstens mit den
Ohren wackeln könne.

Nein, ich konnte von alledem nichts.

Gedeon runzelte finster die Stirn. Nie war
ein Prüfungskandidat in ärgeren Nöten als ich.

Da platzte ich heraus:

»Ich kann schnupfen!«

Er sah mich etwas freundlicher an.

»Wenn man richtig schnupfen kann, darf man
nicht niesen hinterher,« sagte er.

»Nein, nein, das darf man nicht,« beeilte ich
mich beizupflichten.

»Zeig' mir die Dose!« befahl er dann. Ich
reichte ihm die Dose hin und bat ihn, eine Prise
zu nehmen. Das tat er, und darauf blickten wir
uns an. Ich sah, daß Gedeon feuerrot im Gesicht
wurde, daß seine Nase hundert Runzeln zog, die
Muskeln zuckten, sich die Lippen fest aufeinander
preßten, die Augen tränten, sich das Gesicht verzerrte,
die ganze Gestalt bebte, und dann -- nahm
ich eine Prise und platzte augenblicklich los und
nieste siebzehnmal.

Als ich wieder geradestehen und keuchend Luft
schöpfen konnte, stand Gedeon gelassen an die
Wagendeichsel gelehnt und sagte:

»Du kannst nicht schnupfen! Ich habe nicht ein
einziges Mal geniest!«

In diesem Augenblick fing ihm heftig an die
Nase zu bluten.

Noch an demselben Tage wurde ich in das Volk
aufgenommen. Ich war stolzer darauf als auf
das beste Schulzeugnis, wenn ich auch gewünscht
hätte, Gedeon hätte mir einen prächtigen und
wohlklingenden Namen beigelegt. So aber hieß
ich »Habakuk«.

       *       *       *       *       *

Gedeon war ein Held, sein Kopf war immer voll
kühner Pläne und eigener Gedanken. Gott weiß,
was in ihm steckte: ein Napoleon oder ein Räuberhauptmann,
ein grausamer Iwan oder ein Befreier
wie Washington. Jedenfalls eine unbeugsame
Herrennatur, ein Führer. Er irrte nie, er
bat nie um Entschuldigung, er war nie unschlüssig,
nie besorgt, alles Gelingen war ihm selbstverständlich,
er nahm immer das beste und gab stets
den Ausschlag. Holofernes, einer der Müllerjungen,
versuchte einmal, eine Revolution gegen
Gedeon anzuzetteln, gewissermaßen eine Art Konstitution
einzuführen, dem Volke eine Mitregierung
zu sichern. Die Folge war, daß ihn Gedeon sechs
Stunden lang in einen leeren Schweinestall sperrte,
worauf Holofernes und seine Sache der Lächerlichkeit
verfielen.

Gedeons Taten sind unzählbar.

Einmal zur Herbstzeit befahl mir Gedeon, mit
ihm beim geizigen Heinisch-Weber Pflaumen vom
Baum zu stehlen. Vor dem Garten des Webers
war der Fluß; Jenseits des Wassers stand des
Webers Pflaumenbaum, diesseits an der Landstraße
eine Linde. Wir erklommen also die Linde
und rutschten auf einem Aste weit, weit hinaus bis
über den Fluß. Ich hatte eine Todesangst vor
einem Unglück, aber eine noch viel größere vor
Gedeon. So ließ ich nichts merken und rutschte
mit. Gedeon zog einen Ast des Pflaumenbaumes
über das Wasser, pflückte die verbotene Frucht
und gab mir davon. Ich aß standhaft, immer mit
Grausen hinunter auf den Strom blickend, und
sagte dann schüchtern:

[Illustration]

»Gedeon, ich glaube, die Pflaumen zu Hause
in unserem Garten schmecken doch besser.«

Da spuckte er einen Pflaumenkern in den Strom
und sagte:

»Habakuk, du bist ein Schafskopf!«

In diesem Augenblick kam der Weber mit
einem Knüppel aus dem Hause gelaufen; ihm
folgte seine Gattin mit einem Besen. Ich riet zu
schleuniger Flucht, aber Gedeon hielt mich mit
eiserner Hand fest. Inzwischen rannten die
empörten Pflaumenbesitzer über eine Brücke,
kamen die Straße herauf, langten an der
Linde an.

»Wart', ihr Kanaillen, -- kommt nur herunter
-- kommt nur herunter! Hier bleiben wir stehen,
und wenn's bis übermorgen dauert.«

Wir waren belagert. Kein Entrinnen möglich.
Wir waren auf Gnade und Ungnade der bewaffneten
Macht da unten verfallen.

»Heinisch,« rief Gedeon mit ernsthafter Miene
hinunter, »Heinisch, ich sage Ihnen, es ist ein
Kunststück, auf einer Linde Pflaumen zu
pflücken!«

Heinisch geriet ob dieser neuen Frechheit in
neue Wut und schwor, uns beide mausetot zu
schlagen, wenn wir nur herunterkämen.

»Ich werde gleich kommen!« sagte Gedeon,
kletterte bis auf den untersten Ast und fixierte
von da die Webersleute:

»Also: wenn ich bis drei gezählt habe, springe
ich runter und spring einem von Euch gerade auf
den Schädel! Eins, zwei, dr--ei!«

Kreischend wichen die Weberleute beiseite,
Gedeon langte mit eleganter Kniebeuge auf der
Straße an und begab sich in mäßiger Eile von
dannen.

Ich aber, ich armer Habakuk, saß nun verlassen
und einsam in meiner belagerten Baum- und
Stromfeste. Meine Gedanken und Gefühle will
ich nicht schildern, sondern bloß angeben, daß ich
schon nach drei Minuten fest überzeugt war, meine
Position ließ sich nicht länger halten. So klomm
ich langsam bis auf den untersten Ast und sagte
schüchtern:

»Ach, Herr Heinisch, sind Sie nur nicht böse,
ich komm jetzt auch runter. Wenn ich bis auf
drei gezählt hab', dann komme ich. Eins, zwei,
drei!« Und dann rutschte ich langsam den Stamm
hinab.

Was soll ich sagen? Ich wurde gefangen genommen
und barbarisch behandelt. Als ich wieder
zu Gedeon kam, empfing er mich in höchster Ungnade.
Auch er bekam ja sicher auf die Anzeige
des Webers hin am nächsten Tage seine Prügel
in der Schule. Das war ein unabwendbares
Naturereignis. Was aber mir passiert war, das
hielt Gedeon für ehrenrührig.

       *       *       *       *       *

Gedeon übte über uns alle die volle Herrschaft
aus; er war nicht nur unser König, er war auch
der oberste Priester.

Seine geistliche Lieblingsbeschäftigung aber war
das Eheschließen. Er hatte ein Gesetz aufgestellt,
nach dem jede zehnjährige männliche und jede
achtjährige weibliche Person seines Reiches ein
Recht auf Verheiratung hatte. Dabei verfuhr
er oft gewalttätig. Er bestimmte die Paare;
er hatte seine eigene Frau Judith entlassen,
weil sie ihm einen Riß im Jackenärmel so schlecht
zugestopft hatte, daß die Mutter den Schaden
bemerkte, er hatte diese Judith zwangsweise an
des Krämers Nabuchodonosor verheiratet und
diesem dafür die nadelfertige Esther abgenommen.
Das Volk murrte zwar über solche Gewaltakte,
aber zu einer Empörung kam es nicht.

Nun war wieder einmal die Osterzeit genaht,
und ich hatte mich am Gründonnerstag als
Feriengast im Hause des Onkels eingefunden.
Aber noch ein zweiter Fremdling war da, ein
liebliches neunjähriges Mägdelein aus Breslau,
eine Verwandte der Müllerleute.

Dieses Mägdelein war etwas unendlich Feines.
Es hieß Hildegard und war nie schmutzig. Es
sprach hochdeutsch und hatte immer ein Taschentuch
bei sich. Es hatte Spitzen am Wochentagskleide
und sagte »bitte« und »danke!«, ohne daß
es sich schämte. Es klopfte bei fremden Leuten
sogar erst an die Tür an, ehe es eintrat, und
tat noch mehr solch unerhörte Dinge. Und sein
Vater war Postschaffner, das war noch mehr als
Briefträger. Ja, es war vorauszusehen, daß
Hildegard nach einem Jahr in die höhere Töchterschule
gehen und alle fremden Sprachen lernen
würde.

Am ersten Tage zogen sich alle Kinder von dem
fremden Mädchen zurück. Eine große Scheu ergriff
das Volk. Da stand die schöne Fremde einsam
und richtete die großen blauen Augen in
die Ferne, nach der sie Heimweh hatte.

Die makkabäische Mutter brach den Bann. In
ihrer dreijährigen Zudringlichkeit redete sie die
Feine an, und nun kamen alle anderen Mädchen
und bildeten einen Hofstaat um die Prinzessin,
und nach und nach suchten sich auch die Jungen
durch Vorführung ihrer Kunststücke und Aufzeigen
ihrer Reichtümer bei der »Neuen« in Gunst
zu setzen. Nur Salmanassar beging eine Taktlosigkeit,
indem er der Feinen als Geschenk einen
alten Taschenkamm anbot, den sie ablehnte.

Gedeon allein hielt sich abseits. Er war schwer
verwundert in diesen Tagen, daß neben ihm
etwas auftauchen könne, das derart imponiere.
Doch bald schüttelte er die Beklemmung von sich.
Er versammelte das ganze Volk im Garten und
führte alle seine Kunststücke vor, auch die Riesenwelle
und sogar den Totensprung. Und ich bemerkte,
daß er oft auf die Fremde sah, ob es ihr
auch gefiele, ob sie auch staune. Die aber saß da
mit ihrem stillen Gesichtchen, und am Schluß sagte
sie nur:

»Ich habe einmal im Zirkus gesehen, daß eine
Frau sich eine große Stange ganz frei auf die
Brust setzte und ein Mann an der Stange hochkletterte
und oben turnte. Und die Stange wurde
nicht gehalten und fiel nicht um.«

Gedeon erbleichte. Aber dann sagte er: »O,
das könnte ich auch, wenn ich nur eine Frau hätte,
die sich die Stange auf die Brust stellt.«

Das Mädchen erzählte weiter vom Zirkus:
viele abenteuerliche aufregende Dinge. Dann
sagte sie, sie sei schon einmal im Theater und einmal
sogar im Zoologischen Garten gewesen, erzählte
von Tänzerinnen und Bären, vom Aschenbrödel
und vom Kamel, von schönen Engelein
und drolligen Affen, vom Königssohn und vom
Nilpferd.

Das erstemal in seinem Leben fand Gedeon
keine Worte, stand stumm unter seinem Volk,
fühlte sich übertrumpft, gedemütigt von diesem
kleinen Mädchen. Das erstemal sah das Volk
mit einer gewissen Mißachtung auf ihn, auf seine
Kenntnisse, auf seine Künste. Minutenlang stand
er so still da, nur sein Kopf färbte sich rot. Und
plötzlich ging er auf das Mädchen zu, schüttelte es
an den Schultern und sagte: »Du -- du bist
eine dumme Gans!« Und ging davon.

Eine Stunde später rief er abermals das Volk
zusammen und sagte: »Wer noch einmal -- noch
ein einziges Mal mit der spricht, den stoß ich aus,
und der darf nie mehr mit uns sein!«

       *       *       *       *       *

So tat er die Fremde in die Acht.

Das Mädchen war einsam, aber auch Gedeon
war einsam. Mit finsterem Gesicht aß er den
Osterbraten, mit finsterem Gesicht trug er seinen
neuen Anzug, nachdem er dreimal an der Fremden
vorübergegangen war und sie kein Wort über
seine Leibeszier gesagt hatte. Friedlos wanderte
Gedeon hin und her und landete immer und
immer wieder in der Nähe des Mädchens. Selbst
in der Nacht fand er keine Ruhe. Ich sah ihn
einmal aufrecht in seinem Bette sitzen und hörte
ihn mit sich selber sprechen. »Einen richtigen
Feuerfresser hat sie gesehen? Einen Elefanten,
der Trompete bläst? Ach, Unsinn!« Und warf
sich um in sein Bett, saß aber bald wieder mit
wachen Augen träumend da. Und sprach leise
und schmerzlich zu sich: »Sie ist schöner als alle!«
Und wieder nach einer Weile hörte ich etwas --
was ich nicht für möglich gehalten hätte -- hörte
ich, daß Gedeon ingrimmig schluchzte.

Am nächsten Morgen erschien die Rebekka vom
Müller und meldete, die Fremde wolle nach
Hause. Es sei ihr bange, es gefalle ihr hier gar
nicht. Gedeon geriet in große Erregung:

»Sie wird nicht fort -- sie darf nicht fort --
das werde ich ihr austreiben!«

       *       *       *       *       *

Es war ein Wunder geschehen. Gedeon und
die Fremde waren ausgesöhnt. Sie wanderten
mit strahlenden Gesichtern durch den Garten,
und Gedeon erweckte durch hundert Kunststücke
im Herzen des Mädchens Liebe und Bewunderung.
Am Nachmittag wurde sie in das »Volk«
aufgenommen. Wir waren alle gespannt, wie
die Neue heißen würde, da doch der Vorrat an
Mädchennamen erschöpft war. So machte es
einen tiefen Eindruck auf uns, als Gedeon dem
schönen Kinde sein hölzernes Schwert auf die
Schulter legte und mit glücklicher, ja, mit triumphierender
Stimme sagte:

[Illustration]

»Ich nehme dich auf in das Volk und nenne dich:
die Königin von Saba.«

Holdselig lächelnd schaute das Mädchen zu dem
Helden auf, und alles Volk neigte sich vor ihr.

Ein wenig später nahm mich Gedeon zur Seite
und sagte:

»Ich werde die Königin von Saba heiraten!«

»Du hast doch schon die Esther!«

»Ach, die -- schaff' ich ab. Ich muß die Königin
von Saba zur Frau haben, ich muß! Und wer
was dagegen sagt, der --« Er runzelte die Stirn.
Ich aber fand es unerhört, erst eine Judith laufen
zu lassen und dann auch noch einer Esther den
Laufpaß zu geben.

»Was werden aber die andern dazu sagen?«

Er machte eine verächtliche Miene.

»Das ist egal! Die Esther wirst du heiraten
oder der Zebulon.«

Ich muß sagen, es empörte sich etwas in mir.
Diese abgelegte Esther zu übernehmen, dazu hatte
ich gar keine Lust. Doch wagte ich natürlich nicht,
heftig zu widersprechen, sondern sagte nur:

»Es wäre mir am liebsten, wenn ich vorläufig
noch ledig bleiben könnte.«

Er besann sich ein wenig und sagte dann: »Ja,
du kannst mich mit der Königin von Saba trauen,
und der Zebulon nimmt die Esther.«

Die Gattenpflichten waren ja in diesem Volke
sehr leicht. Sie bestanden darin, der Gesponsin
beim Lumpenmann einen Ring zu kaufen, sie
gegen ihre Feinde zu beschützen und beim Spiel
ihr Partner zu sein. Immerhin tat mir Zebulon
leid, denn Esther war drei Jahre älter als er und
noch dazu seine Schwester. Das kann man nicht
gerade eine vorteilhafte Partie nennen. Zebulon
weigerte sich auch, wurde aber von Gedeon durchgehauen
und war dann zur Ehe bereit.

[Illustration]

Mir fiel also das Amt zu, Gedeon und die
Königin von Saba zu trauen. Es war eine saure
Arbeit. Denn erstens waren mir die priesterlichen
Gewänder, die sonst Gedeon trug, viel zu
groß, und dann machte mir die Traurede viel
Schmerzen. Es ist für einen Anfänger nicht leicht,
gleich vor den Gewaltigen der Erde zu sprechen.
Immerhin, ich nahm mich zusammen und stand
würdevoll vor dem Altar, den Gedeon in einer
großen Bodenkammer aufgebaut hatte. Der
Hochzeitszug nahte. Die Braut trug einen
wundervollen Schleier, den die Tante aufgesteckt
hatte, Gedeon hielt effektvoll einen Zylinderhut
in der Hand, den der Onkel geborgt hatte. Die
andere Hochzeitsgesellschaft war weniger stilgerecht.
Nabuchodonosor, der Trauzeuge war, hatte sich
eine blaue Zuckerdüte auf den Kopf gesetzt, und
die makkabäische Mutter, die als Brautjungfer
fungierte, hatte sich den Gummilutscher mitgebracht.
Einige Herren der Gesellschaft führten
Säbel, Armbrust, Trommel oder Steckenpferd
mit sich, und Ruben trieb mit seinem Bruder
Lewy Allotria mit meiner Schnupftabakdose. Ganz
aus der Art aber, war es, daß Salmanassar
während der Trauung mit seinem Blaserohr nach
dem Brautpaar Scheibe schoß.

[Illustration]

Unter diesen Umständen ist es nicht leicht, eine
ergreifende Predigt zu halten. Ich tat, was ich
konnte.

»Geehrtes Brautpaar! Die Ehe stammt aus
dem Paradiese. Da war Adam Bräutigam und
Eva Braut.«

Hier blieb ich stecken. »Braut -- Braut --«
wiederholte ich einige Male mit einem fatalen
Lächeln.

»Jawohl Braut!« sagte Salmanassar im Hintergrunde.

Ich machte ein hilfloses Gesicht und eine ohnmächtige
Handbewegung. Gedeon, der Bräutigam,
zog eine wütende Miene.

»Weiter -- oder --«

Dieser Wüterich hätte sich sogar an der Geistlichkeit
vergriffen. Die Angst half mir. Allerhand
fiel mir ein, was ich in Traureden gehört hatte.

»Geehrtes Brautpaar, das ist eine feierliche
Stunde.«

»Der Salmanassar schießt mit'm Blaserohr,«
kreischte mir Sarah dazwischen.

»Schmeißt ihn raus!« rief der Bräutigam, indem
er sich umwandte. Salmanassar flog hinaus.

»Eine feierliche Stunde!« wiederholte ich. »Die
Ehe ist schwer.«

»Mit der Königin von Saba ist sie nicht schwer!«
grollte der Bräutigam.

»Nein, nein, mit der ist sie nicht schwer!« gab
ich ohne weiteres zu und fuhr fort: »Ihr sollt
alles miteinander tragen, Freude und Leid. Ihr
sollt euch eure Schwächen verzeihen, denn jeder
Mensch hat Schwächen. (Der Bräutigam schüttelte
heftig den Kopf.) Wenn ihr krank seid, sollt ihr
euch pflegen, und eure Kinder sollt ihr fromm erziehen.
Amen.«

Der Bräutigam zuckte die Achseln. Ich merkte,
er war nicht zufrieden. Die Braut aber sagte
laut: »Das hat er schön gemacht«, und da hellte
sich auch Gedeons Gesicht auf, und ich konnte erleichterten
Herzens die Zeremonie zu Ende führen,
was mir über Erwarten gut gelang.

Das Hochzeitsmahl war nicht schlecht. Die
Tante kochte Schokolade für alle, und Gedeon
gab vier Zigarren zum Besten, die er um zehn
Pfennig in der Stadt gekauft hatte. Zwei rauchte
er selbst, eine bekam ich als Stolgebühren, und
eine bekam Zebulon, der Zwangsmann der Esther,
gewissermaßen als Trostpreis.

       *       *       *       *       *

Gott weiß, was in ihm steckte, was Großes und
Seltsames aus ihm geworden wäre, oder was
Großes und Seltsames verdorben wäre in der
Enge seiner äußeren Verhältnisse. Was ist ein
Held unter Bauern, wenn es ihm bestimmt ist,
auch ein armer Bauer zu werden, wenn rings auf
eine edle Seele die Knechtschaft lauert?!

Und siehe, es wurde anders, als alle dachten.

Gedeon tat das Kühnste, was noch keiner aus
dem Volke gewagt hatte, -- er küßte seine Frau.
Und alle die jungen Männlein und Weiblein
sahen zu und lachten nicht einmal.

Auf der Wiese, die am Flusse lag, wurde das
Hochzeitsfest begangen mit Spiel und Tanz.
Gedeon hatte seiner Braut einen Schneeglöckchenstrauß
geschenkt, den trug sie an der Brust. Ein
großer, weißer Strohhut lag auf ihren blonden
Haaren und seine blauen Schleifen flatterten im
Winde.

Die Wiese war gelbgrün, die ersten Blättlein
standen an Baum und Strauch, der brausende
Fluß sang sein rollendes Frühlingslied, hoch im
Blauen war Lerchengesang.

Da streckte Gedeon seine starken Arme gen
Himmel und fing laut und mächtig an zu schreien.
Es war ein wilder, ein königlicher Schrei; Gedeon
schrie vor Kraft und Glück.

Dann funkelten seine Augen, und er sagte zu
seiner Braut:

»Paß auf, wenn ich zu den Soldaten geh, werde
ich der alleroberste General. Oder ich geh auf die
See!«

Nahm sie plötzlich und schwang sie im Kreise
herum und schrie wieder laut dabei vor Kraft
und Glück und Lebenslust.

Da löste sich dem Mädchen der Hut -- der
Wind nahm ihn -- trieb ihn in den Fluß.

»Mein Hut! Mein Hut!«

»Ihr Hut, ihr schöner Hut!«

»Sei ruhig, ich hole ihn!« -- -- --

Dreißig Kinder standen am Ufer, als Gedeon
in den Fluß sprang. Dreißig Kinder sahen freudig
erregt zu, wie er dem Hut nachschwamm. Keines
bangte um den Helden, dem alles gelang. Allen
war es ein herrliches Schauspiel.

Seht, er hat den Hut, er hebt ihn triumphierend
über das Wasser. Er schwimmt an den Rand, --
o, es hält schwer, -- die Strömung ist stark -- er
ist in Kleidern -- aber er ist der Gedeon. --

Halt, jetzt hat er den Erlenzweig! Seht, er
schleudert den Hut ans Ufer. Da liegt er auf dem
Erlenbusch.

Er hat gesiegt, er hat gewonnen, wie er immer
gewinnt. O, Königin von Saba, was sind deine
Zirkuskünstler gegen den! In lachendem Stolz
steht das ganze Volk am Ufer.

Aber jetzt -- jetzt bricht der Erlenzweig, an dem
sich Gedeon emporziehen will, und er -- er treibt
nach der Mitte des Flusses zurück --

O, laßt ihn nur, laßt ihn nur, es ist ja der
Gedeon! Paßt nur auf, paßt auf, was noch
Großes kommt!

Da fängt ein Mädchen plötzlich an zu weinen
und sagt:

»Das Wehr! Müllers Wehr ist so nahe!«

»Das Wehr! Das Wehr! Gedeon! Gedeon!«

Und plötzlich schreien und weinen dreißig Kinder.

       *       *       *       *       *

Wir konnten es lange nicht fassen, daß Gedeon
tot sein sollte. Einer von uns sagte:

»O, das läßt er sich nicht gefallen!«

Er ließ es sich aber doch gefallen, ließ sich tragen
und in den weißen Sarg legen. Und hielt
ganz still.

Es ging viel in diesem Sarg verloren. Verloren?
O, jetzt glaube ich wohl: es wurde viel
in diesem Sarg gerettet.

Verwundert, scheu, standen wir um den toten
Gedeon. Er hatte ein Gesicht, wie immer, wenn er
unzufrieden war. Er war unzufrieden mit sich
selbst, unzufrieden, daß er sich vor uns allen und
vor seiner Königin von Saba als kein besserer
Schwimmer gezeigt hatte. Wir gingen die Tage
behutsam, scheu, furchtsam wie Diener, wenn ein
strenger Herr schläft.

Erst als der Sarg geschlossen wurde und Gedeon
nicht dagegen tobte, sich nicht gegen den Deckel
stemmte, sondern sich geduldig einnageln ließ, da
fingen wir alle bitterlich an zu weinen.

Der Verlust wurde uns klar, wir erkannten,
daß unser König gestorben war, daß wir ein verwaistes,
führerloses Volk waren.

[Illustration]



Hotel Laubhaus.


Die Szene spielt in einem Laubhaufen, der nahe einer Kirchhofmauer
liegt. Durch die braunen und roten Blätter fällt
von draußen Sonnenlicht wie durch tausend bunte Fenster.
-- In dem Laubhause wohnen: _Der Käfer._ -- _Die Fliege._
-- _Die Schnecke._ -- _Die Raupe._ -- Später kommt noch
eine _Spinne_ und zuletzt der _Herbstwind_ dazu.

=Käfer= (träumerisch):

Nun wollen wir schlafen! Wie schön das rote
Licht ist! Ich habe einmal in eine Schlafstube der
Menschen gesehen, wo eine rote Ampel brannte.
Das Licht war nicht schöner als dieses.

=Fliege= (mißmutig):

Dummer Junge, sei bloß still von den Menschen
und den Lampen! Die Menschen fangen uns,
und die Lampen verbrennen uns. (Zur Schnecke):
Na, hab' ich da nicht sehr recht, Frau Nachbarin?

=Schnecke= (stolz):

Ich bin nicht Ihre Nachbarin! (Zur Raupe):
Was meinen Sie, vergeben wir uns nicht etwas,
wenn wir in demselben Lokal übernachten wie
solches ... Geschmeiß?

=Raupe= (seufzend):

Da haben Sie recht, gnädige Frau! Aber was
soll man machen? Es ist ja alles schon besetzt
sonst! Das wenig saubere Bettzeug hier benutze
ich ja bestimmt nicht. Ich puppe mich ein!

=Schnecke=:

Und ich zieh' mich in mein Privatzelt, das ich
glücklicherweise immer bei mir habe, zurück und
verschließe die Tür ... das ist ja ganz klar!

=Fliege= (heimlich):

So 'ne hochmütige, dicke Schachtel!

=Raupe=:

Den Käfer find' ich aber sehr nett. Er sieht
aus wie ein Prinz!

=Schnecke= (mit fauler Stimme):

Ich mache mir nichts aus Prinzen. Sie imponieren
mir nicht! (Gähnt.) Ach, ich bin so abgespannt!
Ich kann auf keinen Fall mehr umziehen,
und wenn ich hier noch so geniert bin.
Es ist ein rechter Jammer für eine Dame von
Stande.

=Raupe= (mit Bezug auf die Fliege):

Sehen Sie doch, gnädige Frau, diese gewöhnliche
Person sucht sich wirklich das allerschmutzigste
Blatt zum Bette aus.

=Schnecke=:

Ah, sie widert mich an! Ich kann gar nicht
sagen, wie ich in so ordinärer Umgebung leide.
Und mich fröstelt auch etwas. Das Beste ist, ich
ziehe mich zurück.

[Illustration]

=Raupe=:

Wie lange gedenken gnädige Frau zu schlafen?

=Schnecke= (schmerzlich):

Ach, nur fünf bis sechs Monate. Dann rufen
mich schon wieder meine Pflichten. Gute Nacht,
liebes Fräulein!

=Raupe= (sehr höflich):

Gute Nacht, gnädige Frau!

(Die Schnecke zieht sich zurück in ihr Zelt.)

=Käfer= (traurig):

Es ist noch goldener Sonnenschein draußen!
Aber es ist kalt! Und alle Rosen sind tot! Der
Tau auf der Wiese ist weiß und hart, und mich
friert. Ach, der Sommer ist weit!

(Die Raupe sieht immer begeistert nach dem Käfer. Draußen tönt
von fern herein Singen. Im Laubhause ist's ganz still. Da kommt
plötzlich an einem grauen Seile eine Spinne herabgeturnt.)

=Fliege= (aufkreischend):

Ein Teufel! Eine Hexe! Eine Spinne!

=Käfer= (bebend):

Eine Spinne! Das ist mein Tod! Ich bin
verloren!

=Raupe= (aufgeregt):

Besetzt! Besetzt! Es ist schon alles besetzt hier!

=Schnecke= (zur Tür heraus):

Was ist denn los? Was ist denn das für ein
Skandal?

=Fliege= (jammernd):

Lassen Sie mich ein! Lassen Sie mich in Ihr
Haus, liebste, gnädigste, herrlichste Frau Schnecke!
Eine Spinne! Eine Spinne! O weh, o weh, o
weh, o weh!

=Spinne= (mit lauter Stimme):

Ruhe, ihr feiges Gelichter! Ich freß Euch nicht!
Ich bin viel zu satt. (Unheimlich.) Ich bin leider
viel zu satt! Ich will hier bloß schlafen. Aber
wer ausreißt, den ermurkse ich ... jawohl, den
ermurkse ich!

=Schnecke= (für sich):

Ein laß ich keinen! Ich bin ohnehin beengt
genug. Seht ihr zu! (Sie verriegelt die Tür.)

Nun greift eine bedrückende Stille Platz. Man hört nur, wie
die Spinne ihre feinen Fäden zieht und ihre Knoten knüpft,
wie die Beinchen der Fliege zittern und der Käfer rascher atmet.
Allgemach beruhigen sich die Tiere, da sie die Spinne nicht
weiter beachtet. Draußen aber ist das Singen deutlicher geworden
und klingt jetzt ganz nahe vom Kirchhof her.

»Ein Kindlein ist gestorben
Zur Herbsteszeit,
Zu einem andern Frühling
Zog es weit, weit ...
Wir aber singen, wir singen
Ein Lied ihm zur Ruh'
Und decken den Sarg mit Erde
Und weißen Astern ihm zu.«

=Raupe= (in staunender Frage):

Ein Kindlein ist gestorben?

=Käfer= (schmerzlich):

Ein süßes Menschenkindlein! Ich habe mit
seinen weißen Fingern gespielt und bin einmal
über seinen goldenen Scheitel gewandert. Und
das starb vor drei Tagen, und das ist nun tot!

=Fliege= (leichthin):

Es wird schlafen wie wir, und im Frühling
wird es wieder aufwachen.

=Käfer=:

Es schläft wohl länger ... es schläft viel
länger!

Es entsteht eine lange Pause. Unterdes hat sich die Spinne
ganz eingehüllt. Im Einschlafen summt sie:

»Der Star ist schwarz, und der Spatz ist grau,
Ich bin eine kluge, fürsichtige Frau,
Ich meide die Spatzen und Stare.
Ich spinne Netze und stelle sie fein,
Da geht mir junges Jagdwild hinein
Im nächsten Jahre.«

=Fliege= (heimlich zu Raupe und Käfer):

Habt ihr's gehört? Habt ihr's gehört? Wenn
sie aufwacht, frißt sie uns zum Frühstück!

=Raupe=:

Ich bin eher munter als sie und längst davon,
wenn sie aufwacht. Ich werde Sie wecken, schöner
Prinz!

=Käfer= (nickt freundlich)

=Fliege= (bettelnd):

Aber mich auch, mich auch, schönstes, bestes
Fräulein Raupe! O bitte, bitte, werden Sie mich
auch wecken, noch zur rechten Zeit wecken? Ich
bin so langschläfrig!

=Raupe=:

Nur keine Sorge! Ich werde Sie auch wecken.

=Fliege= (erleichtert):

O, ich danke schön! O, dann ist alles gut, dann
kann ich ruhig schlafen! ... Ach, ist das schön in
meinem verfaulten Bettlein! Ich wollte, mir
träumte von einem großen Düngerhaufen und
von lauter Milch und Zucker! (Halb im Einschlafen):
Und vergessen Sie nur das Wecken nicht, Fräuleinchen!
(Fliege schläft ein.)

=Raupe= (schüchtern zum Käfer):

Kennen Sie mich nicht, Herr Prinz?

=Käfer=:

Ich kenne dich nicht, aber du bist schön!

=Raupe= (freudig):

Sie finden mich schön! Die Menschen sagen,
ich sei häßlich.

=Käfer=:

Das ist nicht wahr! Du hast ein goldenes Kleid
und grünseidene Haare ... Du bist schön!

=Raupe= (mit funkelnden Augen):

Und übers Jahr bin ich ein Falter und kann
fliegen wie Sie, mein Prinz!

=Käfer=:

Du wirst ein Falter? Einer mit Sammetflügeln
und Diamantsteinen? So ein lichter
Himmelsvogel wirst du? O, dann treffen wir
uns wieder bei den Lilien und Rosen!

=Raupe= (begeistert):

Und fliegen und trinken Honigwein und tanzen
und leuchten ohne Ende!

=Käfer=:

Ohne Ende!

=Raupe=:

Und nun schlafen Sie wohl, mein Prinz!

=Käfer=:

Wohin willst du?

=Raupe=:

Einen häßlichen Arbeitskittel muß ich jetzt anziehen,
indes ich mein Hochzeitskleid spinne. Häßlich
dürfen Sie mich nicht sehen, Herr Prinz!
Auf Wiedersehen bei den Lilien und Rosen ...
mein schöner Prinz! (Sie verkriecht sich tief in einen
Winkel des Laubhauses.)

=Käfer=:

Nun bin ich allein! Nun will ich auch schlafen!
Ich wollte, mir träumte von dem jungen
Menschenkinde, und ich wollte, es lebte und lachte.
Oder ich träumte von dem jungen Falter und den
Rosen. (Er legt sich auf ein goldenes Bettlein und schläft.)

Lange Pause. Dem feinsten Ohre nur ist ganz leises Atmen
vernehmbar. Da kommt als getreuer Hausmeister der Herbstwind.
Vorsichtig schlürft er leise durch die stillen Gänge des
Laubhauses und horcht an allen Kammertüren. Wie er sich
überzeugt hat, daß alles schläft, schleicht er zurück und schiebt
draußen an den Blättern, wie an Türen und Fensterläden,
bis das letzte Fensterlein verschlossen, die letzte Tür verriegelt ist.



Mein Roß und ich.

Erzählung aus der Zeit, da ich ein »Schlingel« war.


Ich ging nicht in die Schule -- ich _ritt_! Ich
konnte mir das leisten, denn ich hatte ein Roß,
das nicht rechnen konnte. Wenigstens kam es nie
hinter die verzwickten Schliche der indirekten
Regeldetri. Bei »zehnstündiger Arbeitszeit«
arbeiteten nach Meinung meines Rosses die bekannten
»sechs Arbeiter« an dem bekannten »Graben«
immer zehnmal so lange als bei einstündiger.

Dieses Roß hieß Reinhold Sander, war zwei
Jahre älter und zwanzigmal so stark als ich und
im übrigen der gutmütigste Schuljunge von der
Welt. Jeden Morgen erschien mein Roß in
meiner großväterlichen Wohnung, stopfte sich
schnell einen Apfel oder was etwa sonst Genießbares
auf dem Fensterbrett lag, in die Hosentaschen,
setzte mich auf seine Schultern und trabte
mit mir zur Schule, wo es mich auf meinem
Platz sänftiglich absetzte.

Dafür machte ich meinem Rößlein in der
Rechenstunde die tadellosesten »Bruchansätze«.

Eines schönen Maimorgens ritt ich nun gerade
zur Schule, stolz wie Darius zur Schlacht, als
uns ein Mann begegnete, den sowohl mein Roß
als ich nach dem ersten prüfenden Blicke als einen
»Stadtklecker« einschätzten. Als »Stadtklecker«
galt damals in meinem Feld-, Strauch- und
Wiesendorfe ohne weiteres jeder städtisch gekleidete
Mensch, der sich in seiner Gemarkung
blicken ließ.

»Nanu, nanu,« machte der Fremdling verwundert
und musterte uns, »wo geht die Reise hin?«

»In die Schule!« sagte ich und fuchtelte siegesgewiß
mit meinem breiten Lineal wie mit einem
Kriegsschwert.

»Aber Junge, warum gehst du denn nicht zu
Fuß? Kannst du denn nicht laufen?«

»Besser wie Sie!« sagte ich frech. Der Fremdling
erzürnte sich und schnauzte mein Roß an:

»Wirf doch den Bengel ab! Wirst dich doch
nicht mit ihm abrackern!«

Mein Roß schüttelte die Mähne und stieß
Dampf aus den Nüstern. Dann sagte es:

»Er läßt mich die Regeldetri-Aufgaben abschreiben,
und überhaupt geht Sie das 'n
Quark an.«

Nun raste der fremde Wandersmann und wollte
mit seinem dünnen Spazierstock meinem Roß eins
auf den sogenannten Bug geben. Das aber schlug
nach hinten aus, schlug in eine Pfütze, bespritzte
den Fremden von oben bis unten und setzte sich
in Galopp mit mir.

[Illustration]

Als wir ein Stück davon waren, sang ich mit
lieblicher, heller Stimme: »Stadtklecker! Stadtklecker!«
und mein Roß wieherte und wieherte
deutlich auf den Text »Stadtklecker! Stadtklecker!«

An diesem Tage aber hatten wir in der ersten
Stunde biblische Geschichte. Da ich zu Hause vergessen
hatte, die »Bibel« zu lernen, wollte ich auf
den Vorzug, sie vortragen zu dürfen, lieber verzichten
und bat daher gleich nach Anfang der
Stunde den Lehrer, »mal austreten« zu dürfen.
Er brummte etwas von »ewigem Gelaufe« und
ließ mich ziehen. Darauf trat ich dreiviertel
Stunden lang »aus«. Als ich vermutete, daß
die biblische Gefahr vorüber sei, näherte ich mich
wieder behutsam der Schulstubentür und hörte da
folgenden Meinungsaustausch.

»Es heißt nicht Frau Putiphar, es heißt Frau
Potiphar!«

»Herr Schulinspektor!« hörte ich unseren Lehrer
bescheiden einwenden, »bei uns in der katholischen
Bibel schreibt sich die Frau mit u.«

Mir aber wurde plötzlich an der Schulstubentüre
so beklommen zumute, daß ich meinte, jetzt müsse
ich wirklich mal austreten. Also verschwand ich
noch auf fünf Minuten nach dem Hofe, dann aber
trieb mich mein Pflichtgefühl und eine düstere
Ahnung nach dem Klassenlokal.

Heiliger Himmel, der plötzlich anwesende Kreisschulinspektor
war tatsächlich unser »Stadtklecker«.
Kaum erblickte er mich, so machte er auch schon den
Finger krumm, winkte und sagte: »Komm mal
her, du Schwede!«

»Wo warst du denn bist jetzt?« herrschte er
mich an.

Ich sagte, ich sei nur schnell mal austreten gewesen.

»Schnell mal austreten -- so! Du Range!
Und über eine halbe Stunde bin ich schon hier.
Wo warst du so lange, Schlingel -- he?!«

Ich stotterte etwas von einer unheimlichen
Bauchkrankheit, die ich hätte; er aber ergriff mich
an den Ohren und begann in höchst lästiger und
fataler Weise daran herumzuschrauben. Trotzdem
hörte ich, wie mein Roß leise und zornig
aufschnaubte, denn mein Roß liebte mich. Ich bekam
noch eine ungewisse Anzahl von Ohrfeigen
und konnte mich dann setzen.

Der Herr Schulinspektor hielt nun eine donnernde
Strafrede über die Roheit von Dorfkindern
Fremden gegenüber, was ich mit äußerer Zerknirschung
und innerer Gleichgültigkeit anhörte.

Am Schlusse sagte er: »Der kleine Bengel dort
ist zu faul, um in die Schule zu laufen; er reitet
auf diesem langen starken Labander und läßt ihn
dafür die Rechenaufgaben abschreiben.«

Ein vernichtender Blick traf unseren herzensguten
Lehrer.

»Herr Schulinspektor, der Reinhold Sander ist
einer meiner schwächsten Rechner, aber sonst ein
guter Junge.«

Das alles galt nichts.

»Sander, komm mal raus an die Wandtafel.
Nimm die Kreide und schreibe auf:

6 Arbeiter arbeiten über einem Graben von
175 ~m~ Länge, 1½ ~m~ Breite und ¾ ~m~ Tiefe
18 Tage bei täglich zehnstündiger Arbeitszeit.
Wie lange arbeiten 25 Arbeiter an einem Graben
von 300 ~m~ Länge, 1½ ~m~ Breite und ½ ~m~ Tiefe,
wenn sie täglich nur 8 Stunden tätig sind?«

O, du armes Roß! Ich sah, wie seine Mähne
sich sträubte, wie schwerer Atem durch seine
Nüstern drang und seine Läufe zitterten.

Aber der Herr Kreisschulinspektor hatte seine
Rechnung ohne den Telegraphen gemacht. Nämlich,
wenn mein Roß an die Wandtafel gerufen
wurde, galt folgende Telegraphie:

Ich setze meinen Schieferstift scharf wie zu
einem Punkt auf die Schiefertafel (heißt: Reinhold,
dieses »Glied« mußt du über den Bruchstrich
setzen).

Ich mache einen quietschend langen Strich
(heißt: das kommt unter den Bruchstrich).

Einmal Hüsteln heißt: jetzt mußt du »kürzen«.

Zweimal Hüsteln heißt: es läßt sich noch weiter
»kürzen«.

Schneuzen bedeutet: die Sache ist falsch.

Kurzes Scharren bedeutet beifälliges »alles
richtig!«

Das Wunder geschah: Reinhold Sander rechnete
die schwere Aufgabe völlig richtig. Als der
Herr Schulinspektor, der inzwischen weiter geprüft
hatte, an der Tafel das richtige Resultat sah,
war er verwundert und sagte zum Lehrer: »Aber,
der Kerl kann ja rechnen!«

»Einer meiner schwächsten Rechner, aber
sonst --«

»Schon gut, ich sehe, das Rechnen klappt!«

Und er machte für den Lehrer eine gute Note
ins Protokoll. Die Stimmung des Schulgewaltigen
schlug überhaupt sichtlich zum Besseren um
und ehe er um ½11 ging, schraubte er mein
Roß und mich nur noch einmal ganz leise und zärtlich
an den Ohren und schied dann in Gnaden.

Als um 12 Uhr die Schule aus war, bestieg ich
mein Roß und ritt als ein Sieger heimwärts. Die
kleinen Blessuren, die ich erlitten hatte, taten
meinem Triumph keinen Eintrag. Ich streichelte
mein treues Roß, und als wir ein Stück das Dorf
hinauf waren, sangen wir in der Freude unseres
Herzens gemeinsam: »Stadtklecker! Stadtklecker!«

Auf einmal -- wie wenn wir den Rübezahl gerufen
hätten und der fürchterliche Berggeist plötzlich
vor uns stünde, tauchte der Schulinspektor aus
einem Seitengäßchen auf. Wir hatten geglaubt,
der Mann sei längst nach der Stadt zurück, und
nun war er noch in der evangelischen Schule
gewesen und noch im Dorf.

Den bösen Geist sehen und vom Pferde fallen
war eins. Der Herr Schulinspektor tobte. Da
aber viele Feldarbeiter vorbeigingen und schmunzelten,
fühlte er, daß er keine günstige Rolle spiele,
wenn er sich mit uns beiden in einen Straßenkampf
einließe, und herrschte uns also an:

»Marsch nach der Schule zurück! Dort werdet
ihr dem Herrn Lehrer sagen, was ihr getan habt.
Er wird euch augenblicklich bestrafen. Ich gehe
jetzt hier ins Wirtshaus, um meine Sachen zu
holen. In einer Viertelstunde seid ihr vor dem
Gasthaus. Wehe euch, wenn ihr meinen Befehl
nicht ausführt!«

Wir gingen nach der Schule zurück. Ja, ich
muß es eingestehen, ich ging zu Fuß. Heimlich
schlichen wir nach der Schulstube. Die war ganz
leer. Aber der Lehrer bemerkte uns bald.

»Was wollt ihr denn noch?«

Da stotterte ich, ich hätte mein Lineal vergessen.
Das Lineal war das wichtigste aller meiner Schulutensilien,
denn erstens brauchte ich es als Waffe
und zweitens fürs Freihandzeichnen.

»Geht nur nach Hause!« sagte der Lehrer.

Da glaubte ich, wir sollten ihm gehorchen und
ihm weiter keinen Kummer machen, und wir
gingen. Meinem Roß war dabei nicht ganz wohl.
Aber draußen belehrte ich es über meinen Feldzugsplan,
und wir gingen also zum Gasthaus,
vor dessen Tür wir ein jämmerliches Geheul anfingen.
Ich weinte bitterlich, und mein Roß
strich sich fortwährend mit seinen Vorderhufen
den Bug.

Der Herr Schulinspektor kam erschreckt herausgestürzt.

»Na, heult nicht so! Ihr macht mir ja das ganze
Dorf rebellisch. Der Lehrer hat euch wohl etwas
zu stark gezüchtigt?«

Wir heulten noch lauter.

»Jungens, seid still! Daß er euch so stark bestrafe,
wollte ich ja nicht. Na, hört doch schon
auf mit eurem Geheule! Es sind doch Leute im
Gasthaus. Was sollen die sich denn denken?«

Mein Roß schrie förmlich.

Dem Schulinspektor war die Sache furchtbar
peinlich; denn er hatte sein Amt erst angetreten
und wollte nicht in den Ruf eines Kinderquälers
kommen.

Da schenkte er uns 10 Pfennige, sagte, wir
seien ja sonst nette Kinder, auch fleißig in der
Schule, hätten ihm Freude gemacht; da sollten
wir also in Zukunft ein höflicheres Straßenbenehmen
an den Tag legen, jetzt sofort ruhig
nach Hause gehen und uns für die 10 Pfennige
was kaufen.

       *       *       *       *       *

Die 10 Pfennige nahm das Roß in Verwaltung
und kaufte am Nachmittag drei Zigarren dafür.
Jeder rauchte eine, die dritte rauchten wir zusammen.
Wir saßen dabei auf unserem Windmühlberg,
sahen nach der Kreisstadt hinüber und
sangen aus vollen Lungen: »Stadtklecker! --
Stadtklecker!«

[Illustration]



Die Räuber aus
dem Riesengebirge


Drei ehrbare Handwerker aus dem Riesengebirge,
ein Schuster, ein Schneider und ein Hutmacher,
beschlossen eines Tages, Räuber zu
werden; denn ach, ihre Geschäfte gingen schlecht!
Machte der Schuster ein Paar Stiefel, so kam sein
Kunde nach ein oder zwei Tagen angehinkt,
schimpfte, daß ihm alle Zehen zerquetscht und die
Fersen zerrieben seien, schlug dem Meister die
Stiefel um den Kopf und verlangte sein Geld
zurück. Nähte der Schneider mit Sorgfalt und
viel Geschicklichkeit einen Anzug, so wies ihm
sein Kunde bei der Ablieferung mit rauhen Worten
nach, daß das eine Hosenbein weit wie ein Mehlsack,
das andere eng wie ein Pfeifenrohr sei, und
daß der Rock hinten zwei Buckel mache, wie das
Fell eines Trampeltiers. Maß der Hutmacher
einem ein recht fesch Hütlein an, so saß es ihm
am Ende auf dem Wirbel wie eine Hanswurstkappe
oder fiel ihm in die Stirn bis über die Spitze
des Kinnbartes herab.

So sagten eines Tages die drei Meister zueinander:
»Das Handwerk hat keinen goldenen
Boden mehr. Man kann tun, was man will, das
Publikum ist nicht zufrieden. Es gibt nichts als
Zank und Streit. Wir wollen uns also nach einer
friedfertigeren Beschäftigung umsehen.«

Darauf beschlossen sie, Räuber zu werden, und
meinten, dabei ihr gutes Auskommen zu haben.
Sie wuschen sich nun sechs Wochen lang nicht
mehr, kämmten ihr Haar nicht mehr und zogen
ihre ältesten Kleider an. Darauf nahmen sie von
ihren Freunden Abschied, sagten, sie möchten sie
nur in gutem Andenken behalten, zogen in den
Wald und wurden Räuber.

Zwei Tage und zwei Nächte saßen sie unter
dunklen Bäumen und lauerten, ob jemand des
Weges daherkommen würde. Es kam aber niemand,
und die Räuber froren und langweilten sich.
Zum Glück hatten ihnen ihre Freunde Essen und
Trinken mitgegeben, sonst hätten die armen Kerle
Not leiden müssen.

Am zweiten Tage gegen Abend meldete der
Schneider, der als Kundschafter ausgeschickt worden
war: es ziehe ein starker Mann daher. Er sei
groß wie ein Riese und habe einen Knüppel in
der Hand. Man könne nicht wissen, was er im
Schilde führe.

[Illustration]

Da versteckten sich die drei Räuber hinter die
Brombeerhecken und atmeten auf, als der starke
Kerl vorbei war. Der Hutmacher aber, welcher
der Klügste von ihnen war, sprach:

»Auf diese Weise werden wir auch keine guten
Geschäfte machen!« Und er hielt eine Rede, und
alle drei beschlossen, den nächsten Wandersmann
zu überfallen, sei es auch, wer es sei.

Wie nun der Morgen in hellgoldener Pracht
über den Bergen aufging, kam der Schuster angerannt
und sagte: ein einzelner Reiter komme
den Talweg herauf. Es sei wohl ein reicher
Ritter, denn er habe eine Feder auf dem Hut und
trage ein seidenes Wams. Er sei schon ganz
nahe. Das Schlimme sei nur, daß er ein Schwert
an der Seite trage; man könne also nicht wissen,
was er im Schilde führe.

»Schwert oder nicht Schwert,« brüllte der Hutmacher
so mutig, zornig und laut, daß die Luft
dröhnte; »wir müssen ihm am Kreuzweg auflauern
und ihm seine Habe abnehmen. Der
Schneider wirft dem Pferde eine Schlinge um
den Hals, der Schuster zieht den Ritter vom
Roß herunter, und ich packe ihn dann von
hinten!«

In diesem Augenblick wieherte ein Pferd, und
die drei Räuber rannten so schnell als möglich
nach dem nahen Kreuzweg. Als nun der Ritter
ankam, sprangen sie ihm mit einem fürchterlichen
Geschrei entgegen.

Und was nun kam, geschah alles blitzschnell.
Der Ritter entriß dem Schuster die Schlinge und
warf sie ihm selbst um den Hals, er zog den
Schneider zu sich aufs Roß hinauf und packte den
Hutmacher von hinten am Halswirbel. Darauf
stieg er gelassen vom Roß herab, nahm auch den
Schuster mit hinunter und legte alle drei Räuber
sacht, aber bestimmt auf die Erde, mit den Nasen
in den aufgeweichten Boden hinein. Dann befahl
er ihnen, nur recht still zu liegen, da sie ja nicht
wissen könnten, was er im Schilde führe,
räumte ihnen die Taschen aus, was sie da noch
an Wurst, Speck und Tabak hatten, zählte jedem
mit der flachen Klinge seines biegsamen Degens
zwanzig ansehnliche Streiche auf den Hosenboden,
stieg dann wieder zu Roß und ritt langsam davon,
indem er mit fröhlicher Stimme sang:

»Es ist so schön der Morgen
Im frohen Sonnenlicht,
Kein Kummer und keine Sorgen
Drücken mein Herze nicht!«

Als der Ritter um die nächste Waldecke verschwunden
war, hob der Hutmacher die Nase
aus dem Schlamm, nieste kräftig und sagte:

»Unser Anschlag ist fehlgegangen!«

Nun erhoben sich auch die beiden anderen,
gaben dem Hutmacher recht und waren allesamt
äußerst betroffen.

»Wir werden uns nach einem friedfertigeren
Gewerbe umsehen müssen,« klagte der Schuster.
Sie wußten aber keines, denn es waren kümmerliche
Zeitläufte.

So saßen sie am Kreuzwege und fingen schließlich
alle drei an bitterlich zu weinen.

       *       *       *       *       *

Plötzlich fuhren sie zusammen, denn es kam
ein Mann gegangen.

»Der Ritter!« schrie der Schneider und wollte
entfliehen. Doch der Fremdling war schon da.
Er führte das Roß des Ritters am Zügel und
trug seine Kleider und Waffen; aber es war der
Ritter nicht.

Der Fremde machte erstaunte Augen, als er
die drei sitzen sah, und fragte:

»Was sitzt ihr drei armen alten Frauen hier
und weinet?«

»Wir sind keine alten Frauen,« schluchzte der
Schuster, »wir sind Männer. Junge Männer!«

»I der Dauz,« rief der Fremdling erstaunt,
»junge Männer seid ihr! Wer hätte das gedacht!
Aber sagt mir, warum weinet ihr?«

»Weil es uns so schlecht geht,« heulte der
Schneider.

»Schlecht geht? Wieso? Wie kann es einem
jungen Mann schlecht gehen? Sehet mich an!
Ich bin ein Räuber. Mir geht es gut. Werdet
auch Räuber, und es wird auch euch gut gehen!«

»Wir sind ja Räuber!« sagte der Hutmacher
kleinlaut.

Da lachte der Fremde so laut, daß sich das Roß
aufbäumte und dem Schneider einen Tritt auf
die Schulter gab.

»Ach, ihr seid Räuber? O, welch ein Spaß!
Welch eine Überraschung! Warum aber habt ihr
euch alsdann den reichen Rittersmann entgehen
lassen, der vor einer Stunde hier vorbeizog?
Seht mich an; ich bin ein einzelner Mann und
habe dem Ritter alles abgenommen, was er
besaß.«

Der Schneider log, sie hätten den Ritter leider
nicht gesehen; sonst hätten sie ihn schon ordentlich
ausgeraubt, denn sie seien tapfere Leute, und von
alten Weibern sei keine Rede.

»Nun,« sagte der Fremde, »wenn ihr meine
Kollegen seid, so sollt ihr wenigstens mit mir
frühstücken.«

Er packte nun die Wurst und den Speck aus,
den der Ritter vordem den dreien abgenommen
hatte, und lud zum Mahle ein. Der Fremde aß
aber fast alles selbst, und dem Schneider, dem
Schuster und dem Hutmacher blieb nicht viel mehr
als von der Wurst die Haut und von dem Speck
die Schwarte. Die lagen ihnen schwer im Magen.

Während des Frühstücks erzählte der Fremde,
er heiße Wolfsklaue und habe in den italienischen
Abruzzen, im ungarischen Bakonywald und im
Böhmerwald seine Studien gemacht. Neulich
habe er sein Meisterstück gemacht, und nun wolle
er hier im Riesengebirge das Räubergewerbe auf
eigene Faust betreiben. Wenn es den dreien recht
sei, sollten sie in seine Dienste treten; er nehme
nicht mehr als die Hälfte der Beute für sich; die
andere Hälfte solle den dreien überlassen sein.

Da schlugen sie ein und wurden fröhlich.

       *       *       *       *       *

»Kameraden,« sagte nun Wolfsklaue, »wenn
wir rechte Räuber sein wollen, genügt es nicht,
daß wir hier am Kreuzweg sitzen und heulen
oder Wurst und Speck essen, sondern wir müssen
auf Taten ausgehen.«

O, da stimmten die drei anderen bei. Jahrelang,
sagten sie, sehnten sie sich schon danach,
mal etwas Ordentliches zu tun zu bekommen.
Taten! Das sei so etwas für sie!

»Gut,« sagte Wolfsklaue, »hört mich also an.
Weit im Gebirge drin wohnt ein Müller, der ist
so steinreich, daß er sich alle Tage mit Seife wäscht
und seine Kühe mit Apfelsinen füttert. Den
wollen wir ausrauben.«

»Den wollen wir!« stimmten die drei freudig bei.

»Ja, aber die Sache ist nicht so leicht. Der
Müller ist ein starker Kerl und hat vier Knechte;
auch sind er und seine Leute wohlbewaffnet mit
Dolchen, Pistolen und Totschlägern. Überdies
hat er zwei Bluthunde.«

»Muß es nun grade der Müller sein?« fragte
der Schneider.

»Jawohl. Denkt doch an sein vieles Geld.
Die Sache bedarf nur der nötigen Schlauheit.
Hört mich an! Ich stecke euch in Getreidesäcke und
verkaufe euch dem Müller als Korn und Gerste.
Er schafft euch in seine Mühle. In der Nacht
schlüpft ihr aus den Säcken heraus, öffnet mir
die Tür, und alles andere laßt ihr mich besorgen.
Ich habe nicht umsonst in Böhmen mein Meisterstück
gemacht.«

Auf diesen Plan gingen die drei ein, und am
nächsten Morgen schon standen der Schuster, der
Schneider und der Hutmacher als Säcke auf dem
Getreidemarkt in Hirschberg.

Es war ein warmer Tag und viel Volk beisammen.
Damit nun die Säcke nicht um die Gestalten
schlotterten, waren sie mit Heu ausgestopft.

»Ich schwitz mich tot,« sagte der Hutmacher in
seinem Sack.

»Mensch, halt dein Maul,« knirschte Wolfsklaue,
»oder du verrätst uns. Schwitze im
stillen!«

Nun kam ein Hund gegangen, schnubberte an
dem Sacke, in dem der Schneider steckte, und
fing ein wütendes Gebell an. Der Schneider erbebte;
er erkannte den Hund an der Stimme; oft
genug hatte er dem Köter früher einen Fußtritt
gegeben. Jetzt mußte er es sich gefallen lassen,
daß der Hund sich wie rasend in den Sack verbiß
und ihn umriß. Alles Volk lachte.

Eine Stunde später kam der Ratspolizist. Er
hatte im Auftrage der hohen Obrigkeit einzelne
Säcke zu öffnen und zu prüfen, ob sie auch gutes,
gesundes Korn enthielten.

»Wir sind verloren,« dachte der Schuster, als
der Polizist gerade den Sack öffnete, in dem er
steckte.

Zum Glück war der Polizist sehr kurzsichtig.
Als er nun die Nase tief in den Sack steckte und
des Schusters strohgelben Schädel sah, sagte er
befriedigt:

»Ich habe lange kein Korn von so schöner goldener
Farbe gesehen.«

Und er band den Sack wieder zu. Der reiche
Müller, der in der Nähe stand, hatte das lobende
Urteil gehört, und da die Säcke groß und prall
waren, kaufte er sie um einen guten Preis und
ließ sie auf seinen Wagen laden.

»Das war Zeit,« seufzte der Schneider; »ich habe
schon das Zittern in den Beinen!«

»Ich schwitz mich tot!« stöhnte der Hutmacher.

»Ich schwitze so,« sagte der Schuster, »daß der
Schweiß sicher schon durch den Sack dringt. Es
ist wenigstens gut, daß wir jetzt liegen!«

Nun kam der Müller, befühlte die Säcke und
sagte: »Oho, sie sind ja feucht! Wenn ich nur
kein dämpfiges Korn gekauft habe. Es scheint
bei der Ernte nicht ordentlich ausgetrocknet zu
sein. Peter, lade das andere Korn auf und laß
uns heimfahren!«

Der Knecht lud nun noch etwa zehn Säcke auf
und warf sie mit Wucht auf die drei Räuber,
welche angstvoll ihr letztes Stündlein gekommen
glaubten. Sie seufzten, stöhnten, ja schrieen zuweilen,
und es war nur gut, daß der Wagen, der
sich in Bewegung gesetzt hatte, so laut knarrte,
daß von den Angstrufen nichts zu hören war.

Der Weg von Hirschberg bis zur Mühle betrug
sechs Stunden. Es war eine so schreckliche Fahrt,
daß der Schuster bei sich meinte, fast sei es weniger
arg, ein Paar Stiefel zu machen, als ein solch
heißes und drückendes Abenteuer zu erleben.
Und die beiden anderen hatten ähnlich düstere
Gedanken.

Endlich ging auch dieser Schmerzensweg zu
Ende. Der Wagen hielt; die Säcke wurden abgeladen.
Steif standen die drei Räuber, ohne sich
zu rühren. So zerschlagen und zerschwitzt sie sich
fühlten, freuten sie sich doch, daß bis jetzt alles
glatt abgelaufen war, und hofften auf gute Beute
und auf die Zufriedenheit ihres Herrn und Meisters
Wolfsklaue.

Ach, es kam anders.

»Hm! Dieses Korn scheint wirklich ganz
dämpfig zu sein,« sagte der Müller; »sieh mal,
Peter, die Säcke sind naß, wie wenn sie aus dem
Wasser gezogen wären. Da bin ich betrogen worden.
Am besten ist es, wir schaffen das Zeug
bald weg. Schütte es augenblicklich in die große
Schrotmühle; wir machen Schweinefutter daraus!«

Wie der Schneider etwas von der Schrotmühle
und vom Schweinefutter hörte, schrie er laut auf
vor Angst, warf sich um und rollte durch den
Hof. Von den anderen beiden Säcken begann
der eine zu hüpfen, der andere um Hilfe zu
schreien. Der Peter schrie, der Müller schrie, die
anderen Knechte kamen gesprungen und schrieen,
die Bluthunde heulten, und es ward ein großer
Lärm.

Das Ende vom Liede war, daß die Säcke geöffnet
und die drei Räuber herausgezogen wurden.
Triefend von Schweiß, mit angstverzerrten Gesichtern
und schlotternden Beinen standen sie da,
und als einer der Knechte rief:

[Illustration]

»Die haben sich einschleichen wollen; das sind
Räuber!« ging ein toller Lärm an. Der Schuster,
der Schneider und der Hutmacher bekamen so
viel Prügel, wie nie drei Räuber oder sonstige
schlichte Bürger Prügel bekommen haben. Halb
totgeschlagen wurden sie endlich zum Tore hinausgeworfen.
Dort blieben sie anfangs wie betäubt
liegen; dann krochen sie, hinkten sie, schleppten sie
sich in den Wald hinein.

Dort trafen sie Wolfsklaue.

Als er hörte, was vorgefallen war, sprach er
ihnen erst sein Bedauern aus, dann hieb er sie
noch einmal durch, indem er sagte:

»Ein richtiger Räuber darf nicht zucken und
mucken, auch wenn er zu Schweinefutter gemahlen
werden soll.«

       *       *       *       *       *

Wochenlang kühlten sich die Räuber ihre brennenden
Gebeine. Sie lagerten sich ins weiche
Moos und legten sich gegenseitig Salben und
kühlende Kräuter auf. Wolfsklaue erschien nur
alle drei Tage bei ihnen, brachte ihnen einige
Stücke harten Brotes, das sie sich im Wasser des
Baches aufweichen mußten, und tat sich selbst bei
Braten und Wein lecker. Manchmal erzählte er
von seinen Taten; Schlösser hatte er ausgeraubt,
reisende Kaufleute überfallen und andere einträgliche
Geschäfte gemacht. So strotzten seine
Finger von funkelnden Ringen; er hatte in jeder
der sechs Taschen seiner rotseidenen Weste eine
Uhr stecken und eine Kette daran und trug in jeder
Hand zwei Spazierstöcke mit silbernen Knäufen.
Jedesmal kam er auf einem anderen Roß angeritten,
die immer aus Arabien stammten; die gestickten
Decken waren aus Persien, das Lederzeug
aus England, die Beschläge aus Italien.
Aus Deutschland war nichts, das wäre zu gewöhnlich
gewesen.

Während nun die drei armen Kerle ihre Brotrinden
aßen und sich von Zeit zu Zeit den abheilenden
und darum juckenden Buckel krauten,
hielt Wolfsklaue schwelgerische Mahlzeiten, funkelte
mit seinen Ringen, zog seine Uhren auf und
putzte seine goldenen Ketten mit einem Lederlappen.

Die drei armen Hascher sahen mit gierigen
Augen zu. Und eines Tages, als Wolfsklaue
wieder ganz aufdringlich geprahlt und die drei
sehr schlecht behandelt hatte, sagte der Hutmacher,
als sie wieder allein waren:

»Brüder, das halte aus, wer da wolle! Es ist
schlimmer als ein Hundeleben! Was hat uns
Wolfsklaue dagelassen? Nichts! Nicht einmal
die Knochen von seinem Wildbret. Die hat er
seiner dänischen Dogge gegeben. Es macht mir
keinen Spaß mehr, ein so armer Teufel zu sein;
ich will lieber so reich sein wie Wolfsklaue und
werde das in drei Tagen erreichen.«

Der Schneider fragte den Hutmacher freundlich,
ob er etwa Kopfschmerzen habe und am Gehirn
leide; aber der Hutmacher verneinte das und sagte,
er sei kein bißchen verrückt, sondern er habe im
Gegenteil einen großartigen Plan.

Erst nach Mitternacht, als der Mond schon
untergegangen war, und das kleine Holzfeuer, um
das die drei saßen, erlosch, gab der Hutmacher
seinen Plan kund.

»Überfallen müssen wir ihn!«

»Wen?«

Der Hutmacher zog das linke Ohr des Schneiders
und das rechte des Schusters dicht an seinen Mund
und flüsterte:

»Ihn -- Wolfsklaue!«

Da rissen die beiden ihre Ohren los und sprangen
in die Höhe. Sie schüttelten sich vor Entsetzen.

Aber als die Sonne aufging, hatte des Hutmachers
große Redekunst über alle Besorgnisse
gesiegt, und es war ausgemacht, das nächste
Mal Wolfsklaue zu überfallen, sobald er seine
Waffen abgelegt hatte und seine Dogge in den
Büschen verschwand, um nach Wildfährten zu
spüren. --

Der dritte Tag erschien; aber Wolfsklaue erschien
nicht. Da bekamen die drei Angst, er möge
am Ende von ihrem Anschlag Wind bekommen
haben.

»Man kann bei ihm nie wissen, was er im
Schilde führt!« sagte der Schneider besorgt. Die
beiden anderen schwiegen und sahen bedrückt vor
sich hin. Es war ganz still im Walde. Kein Laut
rührte sich. Nur die Magen knurrten von Zeit
zu Zeit im Dreiklang, oder ein Schluchzer oder
Seufzer kam aus einem bärtigen, verwilderten
Räubermunde.

Am vierten Tage erschien Wolfsklaue. Er trug
eine flimmernde Königskrone auf dem Kopf, ein
ganzes Bündel von Spazierstöcken mit goldenen,
silbernen und demantenen Knäufen unter dem
linken Arm, unter dem rechten hatte er ein
Szepter gequetscht, und in der Hand hielt er eine
goldene Kugel. Von seinen Schultern fiel ein
Purpurmantel, der mit Edelsteinen übersäet und
so lang war, daß er den halben Waldweg entlang
schleifte. Um den Hals trug er so viel
goldene Ketten, daß sich unter der Last sein Nacken
krümmte; seine Brust und sein Bauch waren wie
ein Spiegel, weil dort gar so viele Orden blitzten,
sein rechtes Hosenbein war aus himbeerrotem
Sammet, sein linkes aus bernsteingelber Seide,
an dem rechten Fuß hatte er einen Stiefel von
Elenleder, an dem linken einen perlengestickten
Pantoffel.

Der Schneider, der Schuster und der Hutmacher
sprangen ob des wunderbaren Anblicks in die
Höhe und fielen dann platt auf die Nasen.

»Guten Tag, meine Herren,« sagte Wolfsklaue
freundlich und lüftete die Krone; »ich freue mich,
euch so wohl zu sehen. Ihr habt euch jedenfalls
hier gut unterhalten. Ich habe inzwischen ein
kleines Geschäft erledigt. Ich hatte eine Zusammenkunft
mit dem Könige von Polen. Ihr
seht, daß ich mir einige kleine Andenken mitgebracht
habe. Es war wirklich sehr nett!«

Er winkte dem Hutmacher, ihm vom Pferde zu
helfen, gürtete sich sein Schwert ab, das er dem
Schneider übergab, nahm seine Pistole aus dem
Gürtel und gab sie dem Schuster, raffte schließlich
seinen Purpurmantel zusammen und legte sich
auf die Erde.

»Aber anstrengend ist es, meine Herren, sehr
anstrengend! Ihr glaubt gar nicht, wie müde ich
bin! Siebzehn Kammerdiener und achtundfünfzig
Soldaten habe ich erst entfernen müssen, ehe ich
mit Se. Majestät unter vier Augen reden konnte.
Gebt mir doch mal die Flasche aus der Satteltasche.
Es ist alter Malvasier drin. Und füllt eure hohlen
Hände dort am Brünnlein, und dann wollen wir
mal auf meine Gesundheit trinken.«

Es geschah alles, wie Wolfsklaue es wünschte.
Die drei armen Hascher füllten ihre Hände an
der Quelle, und dann mußten sie mit der Hand
an Wolfsklaues goldenem Becher anstoßen und
»Zur Gesundheit!« sagen.

»Ah, das schmeckt? Nicht wahr?« fragte Wolfsklaue,
als sie getrunken hatten. »Ein bißchen
schwer ist der Trank; aber wie Feuer geht er
durch die Adern. Nun, lassen wir es uns wohl
sein! Einen Sieg, wie den meinen, muß man
feiern. Ich denke, wir trinken noch ein Schöpplein!«

Wieder mußten die drei armen Hascher ihre
hohlen Hände an der Quelle füllen und mit
Wolfsklaue anstoßen.

»Wohl bekomm es!« sagte Wolfsklaue; »es geht
nichts über einen guten Trunk. Man wird so
fröhlich dabei.«

Der Hutmacher hustete sehr laut und sagte, er
habe sich verschluckt.

»Immer hübsch langsam trinken,« mahnte
Wolfsklaue; »immer alles mit Maßen! Ich
möchte wohl noch einen dritten Becher; aber ich
sehe, ihr habt schon genug, und ich bin auch müde.
Ich will ein wenig schlafen. Ihr drei möget
Wache stehen und mich wecken, wenn der Morgen
graut. So hat jeder sein Vergnügen. Gute
Nacht!«

Er schlief ein. Die Krone rutschte ihm tief in
die Stirn herab, er legte das himbeersamtne
Hosenbein über das bernsteingelbe, faltete die
Hände auf seinem dicken, ordengeschmückten Bauche
und schnarchte bald laut und tief.

Die drei anderen Räuber schauten sich an.
Der Schneider wischte sich den Mund ab; der
Schuster klagte, das kalte Wasser sei ihm in seine
hohlen Zähne gekommen; der Hutmacher sah
finster vor sich hin. Auch das Roß hatte sich gelegt,
sich mit den Zähnen die schwere persische Seidendecke
zurechtgezupft, so daß es nicht frieren konnte
und schlief auch ein. Die große dänische Dogge
verschwand im Walde, um zu wildern.

Die Nacht brach herein; der Mond verbarg sich
hinter den Wolken. Da runzelte der Hutmacher
die Stirn, blitzte die beiden anderen mit den
Augen an und sagte leise:

»Jetzt, jetzt ist's Zeit!«

Bei diesen Worten krümmte sich der Schneider
zusammen, sagte, es käme ihm in den Leib, und
verschwand im Gebüsch. Der Schuster hielt den
linken Fuß vorgesetzt, um zur Flucht bereit zu
sein, der Hutmacher aber warf sich heulend auf
Wolfsklaue, packte ihn am Halse und schrie:

»Gib alles her! Gib alles her!«

»Was -- was ist -- was ist los --«

Wolfsklaue rieb sich die Augen. Er sah den
Hutmacher über sich knien und schrie plötzlich
ganz jämmerlich:

»O weh! O weh! Ich bin überfallen! Ich habe
keine Waffen! Ich bin verloren! Wehe mir!
Wehe mir!«

Pardauz, lag auch der Schuster über ihm her
und rief dem Hutmacher zu:

»Mach Platz! Mach Platz! Ich will ihn auch
würgen!«

Und nun traute sich auch der Schneider aus dem
Gebüsch, kam vorsichtig näher und hielt den Pantoffel
in der Hand, den Wolfsklaue, weil er mit
den Beinen um sich schlug, verloren hatte.

So wurde Wolfsklaue besiegt. Stück um Stück
nahmen ihm die drei Räuber ab, zogen ihn aus
bis aufs Hemd. Dann zwangen sie ihn, an der
Quelle seine hohle Hand zu füllen, mit ihnen anzustoßen,
die nun der Reihe nach den Becher
leerten, sich hinzulegen und von jedem zehn
Stockhiebe aufzählen zu lassen. Am Schluß gaben
sie ihm aus Gnade den schäbigen, geflickten Mantel
des Schneiders um; er mußte gegen alle vier
Himmelsrichtungen hin eine Verneigung machen
und zu der Räuber Gaudium laut schreien: »Ich
bin ein großer Esel«, und dann wurde er in die
finstere Nacht hinausgejagt.

       *       *       *       *       *

»Nun wollen wir die Beute teilen,« sagte
der Hutmacher. »Ich für meinen Teil begehre
nur die Hälfte all dieser Sachen; die andere Hälfte
ist für euch beide.«

»Was?« höhnte der Schuster; »wenn drei
teilen, wird wohl ein jeder ein Drittel bekommen.«

Der Hutmacher schüttelte den Kopf.

»Seit Wolfsklaue besiegt ist,« sagte er würdig,
»bin ich euer Hauptmann.«

Die beiden anderen brachen in ein schallendes
Gelächter aus.

»Lacht nicht!« begehrte der Hutmacher auf.
»Wer hat den Gedanken gehabt, Wolfsklaue zu
überfallen? Ich! Wer hat ihn tatsächlich überfallen?
Ich!«

»Ich auch!« rief der Schuster, »und außerdem
hatte er mir sein Schwert übergeben; ich hatte
euch alle in meiner Gewalt.«

»Ja, wenn ich nicht die Pistole gehabt hätte,«
meinte der Schneider; »eine Pistole ist flinker
als ein Schwert.«

»Wenn du schießen könntest, du Tolpatsch!«
höhnte der Schuster.

»Kannst du etwa fechten, du Dämlack?« zischte
der Schneider.

Da fuhren sie sich in die Haare und prügelten
sich. Der Hutmacher setzte sich indessen die Königskrone
auf und zählte die Dukaten, die sie Wolfsklaue
abgenommen hatten. Als das die beiden
Kampfhähne sahen, ließen sie ab von einander
und fragten: »Was tust du da?«

»Ich zähle mir die Hälfte der Beute ab,« sagte
der Hutmacher in Gemütsruhe, »Daran werdet
ihr zwei Dummköpfe nichts ändern.«

Da sahen sich der Schuster und der Schneider
mit einem bedeutungsvollen Blicke an, und
plötzlich stürzten sie sich auf den Hutmacher und
überwältigten ihn. Sie drohten, ihn zu töten,
wenn er ihnen nicht gänzlich gehorsam sei. Darauf
prügelten sie ihn durch, zwangen ihn, seine hohle
Hand an der Quelle zu füllen und mit ihnen am
goldenen Becher anzustoßen, und jagten ihn dann
in die Nacht hinaus. -- --

»Jetzt wollen wir zwei die Beute teilen,«
meinte darauf der Schneider, »und es soll jeder
seine Hälfte bekommen.«

»Jawohl,« sagte der Schuster; »aber da ich
zuerst den Gedanken hatte, den Hutmacher zu
überfallen, gebührt mir die größere Hälfte. Ich
werde sie mir auswählen, und was übrig bleibt,
sollst du erhalten.«

Damit bückte er sich zu den Schätzen nieder.
Der Schneider aber griff blitzschnell nach der
Pistole und dem Degen und rief:

»Laß alles liegen oder du bist ein Kind des
Todes!«

Da erschrak der Schuster, und da der Schneider
alles Ernstes drohte, ihn zu erschießen, entfloh er
schreiend in den Wald.

So kam es, daß der Schneider, der größte Feigling
unter allen, zuletzt ganz allein in dem Besitz
der geraubten Reichtümer des Polenkönigs war.

       *       *       *       *       *

Der Hutmacher und der Schuster waren sich im
Walde begegnet und saßen sich grollend gegenüber.
Plötzlich sahen sie Wolfsklaue daherkommen.
Er ritt auf einem starken Ziegenbock
und hatte einen Stecken in der Hand. Zuerst
schien es, als ob er entfliehen wolle, aber dann
kam er näher, grüßte demütig und sagte:

»Ich hoffe, edle Herren, daß ihr mir nichts
mehr anhaben werdet. Denn sehet, ich bin ein
geschlagener Mann. All mein Hab und Gut habe
ich verloren; ich sitze jetzt auf einem Ziegenbock
und habe einen Stecken als Waffe; ich muß also,
da ich in meinem Räubergewerbe pleite geworden
bin, ganz klein wieder von vorn anfangen.«

Da erzählten ihm die beiden, der Schneider sei
eine Bestie, er habe sie beraubt und betrogen,
und sie seien nun ebenso arm wie er.

»Man hätte es dem Schneider nicht angesehen,
daß er ein so großer Held ist,« meinte Wolfsklaue
nachdenklich. »Da er nun alles Geld und alle
Waffen hat, ist es am besten, wir gehen hin und
wählen ihn zu unserem Hauptmann.«

»Ich will lieber deinen Ziegenbock zu meinem
Hauptmann wählen als den Schneider,« knirschte
der Hutmacher.

»Nun, einen Hauptmann müssen wir haben,«
lächelte Wolfsklaue, »und mein Ziegenbock wird
die Wahl nicht annehmen. Er ist ein sehr gescheites
Tier. Wählen wir also den Schuster!«

»Den Schuster?« schrie der Hutmacher. »Noch
eher wählte ich den Schneider als den Schuster.«

Da saß ihm der Schuster auch schon an der
Gurgel, und sie prügelten sich. Wolfsklaue aber
setzte sich an den Wegrand, streichelte seinen Ziegenbock
und sang mit fröhlicher Stimme:

»Im holden Waldesfrieden
Da wird der Wandrer froh,
Nichts Schönres gibt's hienieden,
Trara, trara, hallo!«

Während er noch so fröhlich sang und die beiden
anderen rauften, trat etwas Seltsames in Erscheinung.
Das Araberroß kam daher; ganz langsam
hob es die Beine wie in zierlichem Tanz und
wandte den Kopf schelmisch bald hin, bald her.
In den Zähnen aber trug es ein zappelndes
Bündel von Purpur, himbeerfarbenem Samt und
bernsteingelber Seide, auch fiel bei jedem Schritt
ein kostbarer Orden klirrend auf den Waldboden.
Neben dem Roß trabte die dänische Dogge, die
trug das Schwert im Maule.

Als Roß und Hund bei Wolfsklaue ankamen,
legten sie ihre Bürde vor ihm nieder. Da wickelte
sich aus dem zappelnden Bündel erst eine Königskrone
heraus, aus der unten nur die Stumpfnase
und der Ziegenbart des Schneiders hervorschauten;
dann kam der ganze Schneider zum Vorschein,
und eine meckernde Stimme rief um Gnade.

»Nun also!« rief Wolfsklaue und nahm das
Schwert an sich, »so sind wir ja alle wieder beieinander.

O, tut das Scheiden noch so weh,
Ich weiß, daß ich dich wiederseh.«

Er blitzte mit den Augen.

Der Schneider, der Schuster und der Hutmacher
warfen sich nun vor Wolfsklaue nieder und baten
und wimmerten um Verzeihung.

Wolfsklaue sagte gar nichts. Er band den Schuster
an den Halftergurt und den Schneider an
den Schweif seines Rosses, legte den königlichen
Schmuck wieder an, schwang sich auf das Roß und
befahl dem Hutmacher, sich auf den Ziegenbock zu
setzen, denn er verdiene eine Auszeichnung.

Dann ritt Wolfsklaue zwei Tage und zwei
Nächte lang ohne zu rasten über das ganze Riesengebirge
weg und kam mit seinen Gefährten in
das Land Böhmen.

       *       *       *       *       *

Diese Reise war für die drei, die nicht auf dem
Pferde saßen, äußerst beschwerlich. Der Schuster
mußte so rasch traben, daß ihm oft der Atem ausging,
der Hutmacher saß auf dem Ziegenbock wie
auf einem schlingernden Schiff, das in schwerem
Sturm hin- und herstößt, bald hoch, bald niedrig
geht und seinem Passagier sehr übel am Magen
mitspielt, und der arme Schneider am Pferdeschwanze
verlebte erst recht keine gute Zeit. Das
Roß nahm in keinerlei Weise Rücksicht auf ihn.
Das Schlimmste aber geschah, wenn sich dem
Hengst eine Fliege in die Flanke setzte. Dann
hob er den mächtigen Schweif und hieb ihn samt
dem Schneider nach der Fliege, daß dem armen
Kerl, der so durch die Luft sauste, Hören und
Sehen verging.

[Illustration]

Wolfsklaue aber pries die Annehmlichkeiten der
Reise und die Schönheit des Gebirges und sang
fröhliche Wald- und Wanderlieder.

Als sie nun nach Böhmen kamen, wurde endlich
Rast gehalten. Die drei armen Hascher fielen
wie tot auf das grüne Moos und schliefen drei
Tage und drei Nächte lang. Dann weckte sie
Wolfsklaue und sagte, plötzlich wieder sehr
freundlich:

»Liebe Kameraden, es tut mir leid, euch in
eurem kurzen Schlummer stören zu müssen; aber
wir müssen nun endlich ausführen, was wir uns
vorgenommen haben; wir müssen auf Taten ausgehen.«

»Herr,« meinte der Hutmacher, »ich bitte euch,
gebt mir Urlaub. Ich will mein Räuberleben
beenden. Ich kann ein wenig singen und Gitarre
spielen; da will ich sehen, wie ich mich hierzulande
durchschlagen kann.«

»Wäre noch schöner,« rief Wolfsklaue, »in
Böhmen betteln und singen zu gehen, ist das
Dümmste von der Welt; denn die Hälfte aller
Böhmaken sind selbst Bettler oder Musikanten.«

»Ich,« sagte der Schneider, »möchte mich als
Bauernknecht vermieten.«

»Und ich,« sagte der Schuster, »will wieder
Stiefel machen.«

»Mensch, willst du wieder ein Verbrecher werden?«
fuhr ihn Wolfsklaue an. »Willst du, daß
die Menschheit erlahmt und lauter Hinker durchs
Leben schreiten? Nein, nein, es wäre jammerschade
um drei so verwegene Gesellen wie ihr seid.
Ihr, die ihr sogar Wolfsklaue besiegt habt!«

Da schlugen die drei die Augen nieder. Wolfsklaue
aber machte ihnen mit gedämpfter Stimme
Mitteilung von einem großen Plan, durch dessen
Ausführung sie alle zu unerhörtem Reichtum gelangen
würden, und der außerdem sehr lustig und
unterhaltsam sei.

Weiter drin in Böhmen sei ein herrliches Schloß,
das berge so große Reichtümer, daß sich der Kaiser
aus Wien daselbst fast alles Geld borge, dessen
er bedürfe. Und das wolle etwas heißen! Sich
zum Herrn dieses Schlosses zu machen, sei nun
Wolfsklaues Ziel. Er vermöge das aber nicht
allein, sondern bedürfe dazu der Hilfe seiner drei
guten, lieben Freunde.

Die drei »guten lieben Freunde« schlugen wieder
schamhaft die Augen nieder; aber Wolfsklaue
klopfte sie vertraulich auf die Schultern und sagte
in herzlichem Tone:

»Brüder, denkt nicht mehr an die alten Tage.
Es waren Zeiten der Trübsal und der Prüfung.
Sie sind nun vorüber, und eine bessere Zeit bricht
für uns alle an. Kommt ein bißchen tiefer mit
mir in den Wald hinein und seht, was ich mich
herbeizuschaffen bemüht habe, indes ihr euch nach
der langen beschwerlichen Reise ausruhtet.«

Da gingen sie mit ihm tiefer in den Wald und
kamen in eine Räuberhöhle, von der man nichts
anderes sagen kann, als daß sie höchst luxuriös
war. Während der Fußboden mit echten und
unechten Bärenfellen belegt war, hingen an den
Wänden gerahmte und ungerahmte Bilder, die
alle große Räuber- und Heldentaten darstellten
und prachtvolle rote und grüne Farben hatten.
Flinten, Schwerter und Spieße hingen an den
Wänden, die ganz mit Edelsteinen besetzt waren,
die kleineren stammten aus dem siebenjährigen,
die größeren und wertvolleren aber aus dem
dreißigjährigen Kriege. Der Raum wurde taghell
beleuchtet von sieben Spitzbubenlaternen, die rubinrote
Scheiben hatten, und in der Mitte der Höhle
stand eine Tafel, da perlte in kristallenen Flaschen
der köstlichste Branntwein, und auf goldenen
und silbernen Tellern lagen Pökelfleisch und
Sauerkraut.

Den drei Räubern liefen vor Rührung Tränen
im Auge und das Wasser im Munde zusammen.

»Ach,« seufzte der Schuster, »ach, wenn wir
bloß nicht wieder aus einer Wasserquelle trinken
müssen!«

Diesmal aber kam's anders. Die Räuber aßen
so reichlich und tranken so viel, daß sie nach der
Mahlzeit auf den Bärenfellen einen Schlaf taten,
der fünf Tage und fünf Nächte lang war, worauf
sie sich lächelnd und gestärkt von ihrem Lager
erhoben.

»Nun,« sagte Wolfsklaue, »wollen wir unsere
große Tat vorbereiten. Das Schloß ist so wohl
bewacht, daß es nur durch äußerste Klugheit und
Tapferkeit gelingen wird, uns zu seinem Herrn
zu machen. Mein Plan ist der, daß ich euch drei
zunächst als meine geheimen Boten nach dem
Schlosse absende.«

Alle drei Räuber machten abwehrende Handbewegungen
und schüttelten heftig die Köpfe.
Wolfsklaue lächelte.

»Ich schicke euch natürlich nicht so, wie ihr hier
vor mir steht, sondern in einer geschickten Verkleidung,
so daß euch sicher niemand erkennen
wird, zumal ich euch eure Rollen gut einstudieren
werde. Du, Hutmacher, hast eine schöne Stimme
und spielst die Gitarre. Ich werde dir ein schönes
Gewand besorgen, und du wirst als Minnesänger
nach dem Schlosse ziehen. Dir, Schuster, schaut
Tapferkeit und ritterlicher Mut aus den Augen;
ich werde dich in der Kunst des Kämpfens unterweisen
und dich ausstatten wie einen Ritter aus
dem Morgenlande. Du, Schneider, bist ein pfiffiger
und gewandter Geist, du wirst als handelnder
Jude in das Schloß eindringen.«

Da versanken die drei in tiefes Nachdenken,
bis schließlich einer fragte:

»Und du -- was wirst _du_ tun?«

»Ich komme nach euch, wenn ihr den Weg für
mich geebnet habt. Alsdann erscheine ich als
Prinz von Czernagora. Der Minnesänger muß
den Rittern und Edelfrauen sehr viel von den
Tugenden und der Schönheit dieses Prinzen vorsingen;
der Ritter muß sich nach großen Heldentaten
als den geringsten unter den Mannen jenes
Prinzen bezeichnen; der Jude muß erzählen, daß
der Prinz reich genug ist, ihm alljährlich für viele
Millionen Edelsteine abzukaufen, und wenn dann
der Prinz einzieht, das heißt, wenn ich komme,
werden alle Herzen schon so in Achtung und Liebe
für mich entbrannt sein, daß es mir ein leichtes
sein wird, mich eines Tages als den Herrn und
Gebieter der Burg ausrufen zu lassen.«

»Und was wird dann aus uns?« fragte der
Hutmacher.

»Euch drei erhebe ich dann in den Adelstand
und statte euch aus mit großen Gütern.«

Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang
mußte Wolfsklaue noch reden, ehe er den dreien
ihre vielerlei Bedenken aus dem Kopf geschlagen
hatte und sie sich bereit erklärten, die ihnen zugedachten
Rollen zu übernehmen.

Dann begann der Unterricht.

Der Schuster lernte reiten und kämpfen; der
Hutmacher saß den ganzen Tag im Walde, klimperte
auf einer Gitarre und sang zärtliche oder
lobpreisende Lieder dazu; der Schneider ging mit
einem Hausiererkasten von einem Baum zum
anderen und bot ihnen mit artigen Bücklingen und
überzeugenden Handbewegungen seine Waren an.
Wolfsklaue war der Lehrmeister, gab alles an,
überwachte alles, lobte oder tadelte und sorgte
für alles, was die drei brauchten.

       *       *       *       *       *

Eines Tages sagte Wolfsklaue zu dem Schuster:

»Jetzt reite aus. Glaube mir, daß dir kein
Ritter im Morgen- und Abendland gleicht. Du
bist ganz einzig in deiner Art. Reite dahin und
verkündige den Ruhm des kommenden Prinzen
von Czernagora.«

Der Schuster trug eine blitzende Rüstung, hatte
eine Lanze in der Hand, die neun Ellen lang war,
und saß auf einem prachtvollen Roß. Sein strohgelber
Schädel war von einer schwarzen Perücke
wohltuend überdeckt, und selbst sein Auge hatte
etwas Kühnes bekommen.

So ritt er dahin. Wolfsklaue in der bescheidenen
Tracht eines Dieners zeigte ihm den Weg. Er
gab ihm noch einmal viel gute Lehren, sagte ihm,
er solle mit tapferen Rittern sich im Turnierkampf
messen und, wenn er gesiegt habe, ja nicht
vergessen, zu sagen, daß er nur der bescheidenste
aller Mannen des czernagorischen Prinzen sei.

Der Schuster sagte zu allem »Ja!« Im Innern
aber dachte er:

»Daß ich ein Esel wäre, wenn ich gesiegt habe,
mich als einen geringen Mann zu bezeichnen.
Dann werde ich mich schon in anderem Lichte
zeigen, und wer weiß, ob sie nicht mich selbst zum
Herrn der Burg ausrufen.«

So kamen sie auf eine waldige Berghalde und
sahen in der Ferne die leuchtenden Zinnen der
Burg. Sie lag im hellen Sonnenlicht; dreizehn
Türme und viele Erker schmückten sie gar herrlich;
eine starke Mauer umgürtete ihre vielen Gebäude
und Höfe, und vier Wallgräben zogen sich um sie
her, davon war der erste mit Wasser, der zweite
mit Tinte, der dritte mit Schwefelsäure, der
vierte mit glühendem Blei gefüllt, so daß es
für alle Feinde sehr mühsam war, die vier Gräben
zu durchschwimmen.

[Illustration]

Als der Schuster die Burg sah, wurde ihm übel.
Aber Wolfsklaue gab ihm aus einem Fläschchen
zu trinken, das einen ungeheuren Mut in die
Adern des Schusters ergoß, und so zog er wohlgemut
dahin, nachdem Wolfsklaue ihm glückliche
Reise gewünscht hatte und umgekehrt war.

Von den dreizehn Türmen des Schlosses
klangen die Hornsignale der Wächter, daß ein
Fremder daherziehe. Der Schuster dachte: die
blasen so niederträchtig laut, daß mir noch mein
Roß scheu werden wird. Da sah er auch schon,
wie sich auf den Söllern und Mauern der Burg
hunderte von edlen Rittern, wunderschönen Edeldamen
und allerhand Kriegsvolk ansammelte, um
nach dem nahenden Fremdling auszuschauen. Der
Schuster hob seine neun Ellen lange Lanze zum
Gruß, und der Federbusch auf seinem Helm
spielte im Winde. Er kam sich ganz herrlich vor,
und alle Angst war verschwunden.

Da begegnete ihm auf einem Kreuzweg ein
Reiter.

»Hallo,« dachte der Schuster, »das ist der rechte
Mann, einen Waffengang mit ihm zu wagen und
vor allem Volk auf der Burg meine Tapferkeit
und Geschicklichkeit zu erweisen.« Er nahm also
seinen Helm ab, machte eine Verneigung und
sagte: »Entschuldigt, edler Herr, beliebt es vielleicht,
Euch im ritterlichen Kampfe mit mir zu messen?«

Ein Gelächter erscholl von der Burg, und der
Reiter lachte auch. Da faßte den Schuster ein
wilder Zorn, er trieb sein Roß an, stürmte gegen
den Reiter, hob die Lanze und bohrte sie tief --
in die Luft neben dem Reiter. Er selbst verlor
ob des Anpralls das Gleichgewicht und purzelte
in den Straßengraben.

Nun rasselte die Zugbrücke der Burg; Ritter
und Damen eilten herbei, und die Ritter lachten
so tief und schauerlich, daß es klang, wie wenn alte
Wagen mit eisernen Rädern über spitze Steine
fahren, oder wie wenn man mit klobigen Hämmern
auf leere Fässer schlägt, und die Damen
girrten und zwitscherten wie silberne Tauben in
der Luft oder wie blaue Schwalben am Dachsims.

Das verdroß den Schuster; er arbeitete sich
aus dem Graben heraus, verlor dabei seinen Helm
und seine schwarze Perücke, stand mit seinem
strohgelben Schädel da, machte ein dummes Gesicht
und schrie:

»Ich bin der beste Ritter des Prinzen von
Czernagora.«

O, wie rollten die Wagen, wie dröhnten die
Fässer, wie girrten die Tauben, wie zwitscherten
die Schwalben!

»Mit einem Knecht, mit einem waffenlosen,
ganz gewöhnlichen Roßknecht hat er angebunden,
und ist von ihm besiegt worden! Welch ein Spott,
welch ein Spott!«

So lachte und höhnte es von allen Seiten.

Nun trat ein hoher Herr in königlichem Schmuck
aus der Menge. Es war der Burgherr. Der
sprach:

»Der Prinz von Czernagora ist mein Todfeind.
Wenn dieser Mann zu seinen Rittern gehört und
er sich von meinem Knechte hat werfen lassen, so
nehmt ihn und bringt ihn ins Verließ. Wir
werden Gericht über ihn halten.«

Schwapp -- lag der Schuster auf den Knien.
Er warf seine Lanze von sich, hob bittend beide
Hände auf und flehte:

»Seid gnädig, Herr, und glaubt ja nicht, daß
ich ein tapferer Ritter sei. Nein, ich bin nur ein
Schuster, ein Schuster aus Hirschberg, und wenn
Ihr das nicht glauben wollt, so will ich Euch
augenblicklich ein Paar Stiefel fertigen.«

»Das verhüte Gott,« sagte der Burgherr mit
Ernst. »Nehmt ihn und führt ihn ins Verließ!«

So geschah es. Und als der Tag vergangen war
und der Mond über die Waldberge wanderte,
schien er auch durch eine winzige Mauerlucke in
das bleiche Gesicht des Schusters, der in seinem
feuchten Verließe saß und um den die Ratten und
Mäuse tanzten, wie es nun einmal in den Burgverließen
traurigerweise Mode ist.

       *       *       *       *       *

Drei Tage darauf sagte Wolfsklaue zu dem
Hutmacher:

»Nun singst du über alle Maßen schön und lieblich.
Du kannst den Text, die Melodie und die Begleitung;
also bist du über alle Nachtigallen des
Waldes, die nur die Melodie können. Reite aus,
edler Sänger, und verkünde auf der Burg die
Schönheit und die Macht des Prinzen von Czernagora.«

Der Hutmacher stimmte seine Gitarre, setzte sich
auf den zahmen Schimmel, den ihm Wolfsklaue
besorgt hatte und zog gen die Burg. Als er ihrer
ansichtig wurde, stimmte er die Gitarre aufs neue
und sang ein schönes Weihnachtslied. Die Julisonne
brannte ihm dabei auf den Rücken, und
nach einiger Zeit dachte er sich: Die Leute werden
meinen Gesang nicht hören, denn die Burg ist
wohl noch gut eine Meile entfernt. Also ritt er
auf seinem zahmen Schimmel noch etwa zwei
Stunden lang vorwärts, und da er dadurch der
Burg sichtlich näher gekommen war, stimmte er
seine Gitarre und sang ein neues Lied:

»Ich bin ein Minnesänger
Und komm aus Morgenland,
Die schönsten Saitenklänger
Rühr ich mit meiner Hand.«

Trara! Trara! fingen die Wächter auf den
dreizehn Türmen an zu blasen, so laut und dröhnend,
daß die nächsten dreizehn Strophen des
Minnesängerliedes nicht einmal von dem zahmen
Schimmel gehört werden konnten. So brach der
Hutmacher schon nach der zwölften ab und fragte
sich, ob er sich als Sänger über solch schmetternden
Empfang eigentlich freuen oder ärgern solle.

Zunächst ärgerte er sich. Aber bald leuchteten
seine Augen auf. Das Burgtor öffnete sich, und an
die dreißig schöne Jungfrauen traten heraus. Sie
waren alle weißgekleidet, trugen goldene Gürtel
um die Hüften, grüne Kränze im Haar und lichtblaue
Schleier darüber. In den Händen hielten
sie Rosen und bunte Blumen.

Der Hutmacher stieg von seinem Roß und machte
dreißig Verneigungen. Darob lächelten die holden
Mädchen; dann stellten sie sich im Halbkreise auf
und begannen mit glockenhellen Stimmen zu
singen:

»Gegrüßt sei mit Blumen und Rosen,
Du Ritter im Sängerkleid,
Viel Frauenaugen sie kosen
Die Stirne dir, von Musen geweiht.
Da schläft wie in heiligen Schächten
Der edlen Gedanken Gold,
Da blüh'n wie in Wundernächten
Die Märchenblumen so hold,
Da ist das tiefe Verstehen,
Das tiefste Erbarmen zu Haus,
Da wohnt das geistige Sehen
In Weiten und Zeiten hinaus,
Da hat seine heimlichen Bronnen
Der Schönheit gewaltiger Strom,
Da hat sich der Herrgott ersonnen
Der Menschheit heiligen Dom.«

O, war das noch ein Klang? War das noch eine
Melodie? War das nicht wie ein Silberrieseln,
das vom blauen Himmel heruntertaute? Die
Mädchen standen in ihrer großen Schönheit wie
Engel im reinen Licht, als sie das sangen.

Und der Hutmacher fiel mit dem Gesicht auf die
Erde, bohrte seine Stirn tief in den Rasen und
weinte bitterlich. Als die holden Mädchen erschreckt
näher kamen, rief er:

»Ich schäme mich! Ich schäme mich! Schaut
meine Stirn nicht an!«

»Ei warum denn nicht, du fremder Sänger?«

»Ich bin kein Sänger -- ich habe euch betrügen
wollen -- ich bin nur ein Hutmacher und ein
Räuber!«

Erschreckt standen die Jungfrauen zur Seite.
Da kam der Burgherr und fragte strenge:

»Wer hat dich gesandt?«

»Der Prinz von Czernagora!« gestand der
wimmernde Mann.

»Führt ihn in das Verließ!« befahl der Burgherr.
Das geschah, und es nutzte gar nichts, daß
sich die Mädchen bemühten, für den armen Tropf
Fürsprache einzulegen.

       *       *       *       *       *

Der Schneider übte sich gerade in der Hausiererkunst,
indem er einem alten Tannenbaum durchaus
ein Paar Hosenträger aufschwatzen wollte, als
Wolfsklaue an ihn herantrat und sprach:

»Nun ist's Zeit, lieber Freund, daß du dir andere
Kundschaft aussuchst. Ziehe hin nach dem
Schloß, mache dich angenehm durch dein Benehmen
und deine Waren, und erzähle vom Reichtum
des Prinzen von Czernagora.«

»Sie werden mer derkennen,« sagte der Schneider
in seinem jüdischen Dialekt.

»Nein, se werden der nich erkennen,« beschwichtigte
ihn Wolfsklaue. »Ich sage dir, Schneider,
du bist ein Itzig, wie er sein soll.«

In der Tat sah der Schneider aus wie ein
jüdischer Händler. Wochenlang hatte er sein Gesicht
den Sonnenstrahlen aussetzen müssen und
sich nicht mehr waschen dürfen, so daß er eine
schöne dunkle Hautfarbe hatte; Wolfsklaue hatte
ihm eine Perücke mit langen schwarzen Locken
verschafft, ihn auch sonst ganz richtig ausstaffiert,
ihm sogar den leutselig verschmitzten Blick solcher
Händler einstudiert.

[Illustration]

Nun übergab ihm Wolfsklaue zwei Kästen. In
dem oberen waren allerhand billige, aber bunte
und schön anzuschauende Gebrauchsgegenstände
für das Dienstvolk; in dem unteren lagen prachtvolle
Goldgeschmeide und herrliche Edelsteine in
allen Farben und Größen für Ritter und Edelfrauen.

Der Schneider nahm Abschied und machte sich
auf den Weg. Als er allein im Walde war, öffnete
er den unteren Kasten, betrachtete die Kostbarkeiten
und dachte bei sich:

»Was nutzt es mir, wenn ich diese schönen
Dinge auf der Burg verkaufe? Der Prinz von
Czernagora wird kommen und mir den Erlös abnehmen.
Höchstens werde ich einen kleinen Profit
behalten. Besser ist es, ich wandere nach Prag,
verkaufe dort meine Waren und freue mich dessen,
was ich dafür erhalte.«

Also machte sich der Schneider nicht auf den
Weg nach der Burg, sondern marschierte auf der
Landstraße gen Prag. Als er aber einen halben
Tag gewandert war, kam ihm plötzlich Wolfsklaue
entgegen. Der Schneider erschrak des Todes.
Wolfsklaue aber lächelte und sagte:

»Schneider, du verläufst dich! Hier geht es
nach Prag. Die Burg liegt dir genau im Rücken.
Sei also so freundlich und kehre um. Ich werde
dich begleiten, bis du durch die Burgpforte hineingegangen
bist, damit du dich nicht noch einmal
verirrst.«

Der Schneider knirschte innerlich vor Wut über
diese Begegnung; äußerlich aber mußte er tun,
als freue er sich sehr, daß er vom unrechten Weg
abgebracht worden war, und mußte sich Wolfsklauens
Begleitung gefallen lassen, der mit ihm
ging, bis die Burg in Sicht war, und sich dann
unter einem Baum auf die Lauer setzte.

So wanderte der Schneider den Talweg entlang
der Burg zu. Auf einer Wiese sah er ein Mädchen
stehen. Es war eine Gänsehirtin. An die ging
er heran, lüftete seine Kappe und sagte:

»Scheens Freilein, woll'n Se vielleicht kaufen
ä Paar hochfaine Strumpfbänder?«

Das Mädchen lachte mit seinem kirschroten
Mund, daß man alle ihre schönen weißen Zähne
sah, und sagte:

»Ich habe noch nie Strümpfe gehabt; ich gehe
immer barfuß. Und ich habe noch nie einen
Pfennig Geld in der Hand gehabt.«

»Dumme Gans!« brummte der Schneider und
klappte den Kasten zu.

Da kam des Wegs eine Edeldame geritten.
Sie war prächtig aufgeputzt, trug einen Falken
auf dem Finger, und hinter ihr ritt ein Forstmann.
Als sie den Schneider sah, hielt sie ihr Roß an
und rief:

»Heda, Hebräer, was hast du Schönes in deinem
Kasten?«

Der Schneider stürzte herbei, machte eine Verneigung,
sah der Dame ins Gesicht und stotterte:

»Ich könnte Euch geben, gnädigste Frau Ferstin,
ä sehr ä gutes Mittel gegen rote Nase.«

»Pfui!« schrie die Dame und sprengte davon.
Der Forstmann aber hieb dem Schneider mit der
Reitpeitsche den Buckel ganz jämmerlich voll und
sagte:

»Ich werde dich lehren, du schmutziger Kerl,
unsere Frau Burggräfin zu beleidigen. Ich schlag
dich auf der Stelle tot!«

Der Unmensch hätte es vielleicht auch getan,
wenn nicht die Burggräfin zurückgekommen
wäre.

»Laß ihn am Leben,« rief sie, »laß ihn vorläufig
am Leben! Er soll mir erst sagen, ob er
meine Nase wirklich für rot hält.«

»Gnädigste Burggräfin,« wimmerte der Schneider,
»Eure allerdurchlauchtigste Nase ist so weiß
und stattlich wie die Schneekoppe im Winter.«

Das besänftigte die Dame.

»Ich will ihm Gnade widerfahren lassen,«
sagte sie milde, »weil er seinen Irrtum eingesehen
und ihn so poetisch widerrufen hat. Zeige er, was
er im Kasten hat.«

Da öffnete der Schneider den unteren Kasten,
und wie die Sonne hineinschien, blitzte und gleißte
es von Diamanten, Rubinen, Saphiren und
Opalen. Die Burggräfin sprang entzückt vom
Pferde.

»Das ist das Schönste, was ich gesehen habe,
das Allerherrlichste, das Allerwundervollste! Was
soll dieser Stein kosten?«

Sie griff mit zitternder Hand nach einem Diamanten,
der so groß war wie ein Gänseei.

»Gnädigste Burggräfin,« sagte der Jude; »den
Stein habe ich abgekauft dem Kaiser von Persien
selbst um die zehntausend Golddukaten. Er hatte
gehabt gerade Ausverkauf, sonst hätt' ich ja beileibe
den Stein nich gekriegt so spottbillig. Er
is unter Brüdern wert ä Königreich. Aber da
mer is mei Läben noch mehr wert als ä Königreich,
und da mer hat geschenkt die Frau Burggräfin
mei Läben, so schenk ich der Frau Burggräfin
den Stein.«

Das Gesicht der Burggräfin wurde glühend rot
wie die Sonnenscheibe. Aber dann machte sie
eine hoheitsvolle Miene und sagte:

»Braver Mann, Ihr meint's gut. Aber als
Burggräfin kann ich kein Geschenk von Euch annehmen;
ich kann Euch den Stein nur abkaufen.
Nehmt also diese fünf Gulden als Kaufpreis.«

»Auch recht,« sagte der Jude und steckte die
fünf Gulden ein.

»Und nun,« sagte die Gräfin, »kommt mit auf
die Burg. Wir wollen sehen, was Ihr sonst noch
Schönes im Kasten habt.«

Sie übergab dem Forstmann ihren Falken,
sagte, die Jagd sei für heute aus, und ritt langsam
den Burgweg hinan, während der Schneider zehn
Schritte weit hinter ihr herging. Als sie aber in
einen dunklen Torweg kamen, winkte die Gräfin
den Händler heran und raunte ihm mit hastiger
Stimme zu:

»Habt Ihr wirklich ein gutes Mittel gegen --
gegen --«

Hier blieb sie stecken.

»Gegen was?« fragte der Schneider und tat unbefangen.

»Gegen -- gegen Nasenröte!« brachte sie mühsam
heraus.

»Hier, Frau Burggräfin,« sagte der Jude wohlwollend
und drückte ihr ein Büchslein Salbe in
die Hand. »Ich verrat nix!« -- -- --

Auf der Burg wurde der Schneider von den
Damen mit aufgeregtem Gezwitscher, von den
Herren mit freundlichem Gebrumm und Gegrunz
aufgenommen. Alle wollten die prachtvollen
Steine sehen, jedes wollte wenigstens eines der
köstlichen Stücke, die der Jude um ein Spottgeld
abgab, für sich kaufen. Selbst der Burgherr kam
und erstand einen funkelnden Rubin, der so groß
wie ein Apfel war und einen prachtvollen Schmuck
für einen Degengriff abgeben mußte.

In dieser Burg lebte aber wie in allen Burgen
ein Alchimist. Dieser berühmte und gelehrte
Mann hatte versprochen, aus Kupfer Gold zu
machen und ein Lebenselixier zu brauen, das ewige
Jugend verlieh. Er hatte zwar sein Versprechen
noch niemals eingelöst, aber man konnte
nicht wissen, ob er es nicht am ersten besten
Tage tun werde. Er stand darum in hohem
Ansehen.

Der Alchimist zog sich nun in seine Hexenküche
zurück, kam nach einiger Zeit wieder und verkündete:

»Alles Geschmeide, das der Jude verkauft hat,
und alle seine Steine sind unecht und ohne Wert.«

Da schrien die Männer, da schrien die Frauen
vor Wut.

Der Schneider aber stand lächelnd da und sagte:

»Dieser Gelehrte ist ein Dummkopf. Meine
Steine und mein Gold sind echt. Und wenn ihr
mir nicht glaubt, so wartet, bis mein Herr, der
Prinz von Czernagora, kommt, der wird es euch
bezeugen.«

Kaum hatte der Jude den Namen des Prinzen
von Czernagora ausgesprochen, so wurde er auch
schon gepackt und flog ins Verließ. Die Goldgeschmeide
und die Steine aber wurden in den
Brunnen geworfen, wo sie liegen bis auf den
heutigen Tag.

Nur der Burggraf behielt seinen Rubin, und
die Burggräfin behielt das Büchslein mit der
Nasensalbe.

       *       *       *       *       *

So saßen die drei armen Hascher gefangen beieinander
und waren in großer Betrübnis.

»Wenn ich mir's recht überlege,« sagte der
Schneider, »so haben wir eigentlich in unserem
Räuberberufe Pech gehabt.«

»Ein Hundeleben ist es,« knirschte der Hutmacher,
»und wenn dieser Wolfsklaue nicht ein
großer Schelm und Betrüger ist, so will ich mich
hängen lassen.«

»Gehängt werden wir so wie so!« meinte der
Schuster schwermütig.

Da kratzten sich alle drei am Halse, als ob sie
etwas jucke.

Gegen Mitternacht begann ein Glöcklein zu
läuten. Bang und schaurig gingen seine Klänge
durch die stillen Hallen und Gänge der Burg
und drangen bis ins Verließ. Da wußten die
drei armen Hascher, daß ihr letztes Stündlein gekommen
sei.

»Brüder,« sagte der Hutmacher, »wir müssen
Abschied nehmen vom Leben. Wir wollen uns
also in Liebe miteinander versöhnen und uns alles
verzeihen, was wir einander angetan haben, damit
auch Gott uns verzeihe.«

Sie fielen einander um den Hals, und ihre
Tränen rannen heiß und schwer.

Da kamen auch schon die Schergen und schleppten
sie hinauf in den Burghof. Dort stand unter
einer großen Linde der Richtertisch. Ein Totenkopf
lag darauf und ein Schwert. Der Burgherr
saß auf dem hohen Richterstuhl, und um ihn
herum im Halbkreis saßen sieben schwarz vermummte
Männer. Der Nachtwind rauschte in
dem Gezweig des großen Baumes, und die rotbrennenden
Fackeln flackerten und warfen blutige
Lichter über den Hof und das graue Gemäuer.

Der Burgherr erhob sich und sagte:

»Diese drei Schelme haben als Verräter und
Betrüger in meine Burg eindringen wollen; sie
sind gekommen als die Abgesandten meines Todfeindes,
des Prinzen von Czernagora. Was
dünkt euch, ihr ehrenwerten Richter, daß mit
ihnen geschehen soll?«

»Sie sollen des Todes sterben!« sagten die
Richter.

Da schlug der Burgherr mit dem Richtschwert
dreimal auf den Tisch und bestätigte das Urteil:

»Sie sollen des Todes sterben!«

Darauf wurden die drei armen Hascher aus
der Burg hinausgeführt in die dunkle Nacht.
Das Glöcklein läutete, und eine Trommel schlug
die dumpfe, einförmige Todesmusik. Bis zum
Galgenberge ging es, da ragten drei Richtgerüste
gegen den Nachthimmel auf. Die drei Räuber
wurden gehängt, und der ganze Troß von der
Burg kehrte augenblicklich um.

Nun zappelten die drei armen Hascher. Der
kalte Angstschweiß rann von ihren Stirnen, und
ihre Züge verzerrten sich. Noch läutete das
Glöcklein. Ein Schwarm schwarzer Raben
flatterte zu Häupten der Gehängten, und drei
Eulen saßen am Boden, die glühten sie an mit
unheimlich funkelnden Augen.

Plötzlich brach ein Roß aus dem Gebüsch.
Wolfsklaue saß darauf. Er stieß ein höhnisches,
teuflisches Gelächter aus, blökte den dreien die
Zunge heraus und jagte davon.

Dann kam ein Zug von Männern. Der Müller
mit seinen Knechten war es, den die Räuber einmal
hatten überfallen wollen. Die Männer
lachten verächtlich und zogen vorbei.

Der Polenkönig kam geritten mit siebzehn
Kammerdienern und achtundfünfzig Soldaten,
und er trug die Krone und den Mantel und hatte
die himbeersamtne und bernsteingelbe Hose an.

Zuletzt kam ein alter Mann. Er hinkte, hatte
ein närrisch kleines Hütlein auf dem weißhaarigen
Kopf und zwei Buckel auf seinem Rücken. Er
blickte die drei Gehängten an und sagte:

»Ehe ihr sterbt, will ich euch noch einmal
danken dafür, daß ihr mich so schön ausstaffieret
habt. Sehet die Stiefel, den Rock und den Hut,
die ihr mir für gutes Geld gemacht habt!«

[Illustration]

Da hoben die drei armen Hascher in ihrer
schweren Todesnot mit der letzten Kraft bittend
die Hände zu ihm hin. Er aber sagte:

»Würdet ihr brave und geschickte Handwerker
werden, wenn ich euch von da oben herunterhelfen
würde?«

Sie nickten, und es war schrecklich anzusehen,
wie eifrig sie nickten.

Da besann sich der alte Mann noch ein wenig,
dann zog er sich ächzend die Stiefel aus, legte
umständlich den Rock ab und nahm langsam den
Hut vom Kopf. Die drei Gehängten sahen ihm
mit stieren, angsterfüllten Augen zu.

Endlich kletterte der Alte an dem Galgen hoch,
löste die drei Ärmsten und ließ sie schwer ins
Gras hinunterfallen. Dort lagen sie lange, halb
bewußtlos und schwer röchelnd. Der Alte flößte
ihnen ein wenig Wein ein, und als sie sich erholt
hatten, gebot er ihnen, mitzukommen. Mit
schwankenden Schritten und leise weinend gingen
sie hinter ihm her. Sie wanderten lange und
kamen ums Morgengrauen an einen Scheideweg.
Drei Straßen führten dort hinaus ins Land. Da
machte der Alte halt und sprach in großem Ernst:

»Ein neuer Lebensweg liegt nun vor einem
jeden von euch. Wenn ihr auf diesen drei Straßen
wandert, so wird jeder zu einem tüchtigen Handwerksmeister
kommen. Bei diesem mag er in die
Lehre treten. Er mag sich ja nimmer einbilden,
je ein Meister gewesen zu sein, sondern demütig
und treu ein Lehrling sein, der auch dann nicht
murrt, wenn es einmal mehr Püffe und harte
Worte gibt als gute Kost und faule Zeit. Drei
Jahre beträgt die Lehrzeit. Haltet ihr sie aus,
so ist euch geholfen; lauft ihr fort oder seid faul
und frech, so werdet ihr, ehe die Sonne dreimal
untergegangen ist, wieder am Galgen hängen.
Geht in Frieden!«

Da wanderten die drei ein jeder seinen Weg,
und der Alte stand da und sah ihnen nach, bis
die Sonne aufging und sein ehrwürdiges Haupt
verklärte.

       *       *       *       *       *

Drei Jahre waren vergangen. Vor der Stadt
Hirschberg lag ein kleiner Platz, darauf mündeten
drei Wege. Von Osten her kam ein Mann, der
trug sieben Paar Stiefel und Schuhe über der
Achsel; von Süden her kam einer, der hatte auf
einem Karren eine ganze Menge Kleider geladen;
von Westen kam singend einer dahergeeilt, der
führte in Beuteln und Schachteln sieben Hüte
mit sich.

Und als sie alle drei auf den kleinen Platz
kamen, blieben sie erst erschrocken stehen, fielen
sich dann um den Hals und fingen an zu lachen
und zu weinen vor lauter Freude.

»Hutmacher!« »Schneider!« »Schuster!«
»Freund!« »Bruder!« »Kamerad!« so ging es
in hellem Jubel durcheinander. --

»Nun, wie ist es euch inzwischen ergangen?«
fragte endlich einer.

Da machten sie alle betroffene Gesichter und
kratzten sich hinter den Ohren. Sie erzählten sich
weiter nichts; es dachte sich jeder schon von selbst,
wie es dem anderen ergangen war.

Aber gelernt hatten sie etwas, und die letzten
Waren, die sie gefertigt hatten, durften sie nun als
ihr Eigentum auf dem Markt von Hirschberg
verkaufen, um einen Grund zu legen für ein
neues Geschäft.

So zogen die drei fröhlich in Hirschberg ein und
schlugen ihre Verkaufsplätze dicht nebeneinander
auf. Sie waren voll der besten Hoffnung. Plötzlich
aber erbleichten sie. Der Müller, den sie einmal
hatten ausrauben wollen, kam auf sie zu und
neben ihm ging der Ratspolizist.

»Es ist aus,« sagte der Schuster.

»Ja!« hauchte der Schneider.

Helden waren sie immer noch nicht geworden.
Der Müller aber kam ganz freundlich näher,
kaufte einen Anzug, ein paar Stiefel und einen
Hut, bezahlte alles reichlich und pries laut die
Ware. Der Ratspolizist nickte und sagte: ja, die
drei seien berühmte Kaufleute aus Breslau, die
kenne er schon lange. Der gutmütige Mann war
leider inzwischen noch kurzsichtiger geworden.

Wie nun den dreien das Geld in der Tasche
klang und der Müller ruhig von dannen ging,
wurden sie wieder vergnügt, und es stand ihnen
bald ein neues Glück bevor. Der Bürgermeister
ging über den Markt, schimpfte, daß die Handwerker
nichts Rechtes mehr leisteten und man kaum
einen vernünftigen Stiefel oder Rock bekommen
könne, und stieß plötzlich auf die drei, die ihm
bescheiden ihre Waren anboten.

O, was machte da die Stadtobrigkeit für erstaunte
und glückliche Augen!

Ja, rief der Bürgermeister, das sei noch echte
Handwerkskunst. So etwas gäbe es weder zu
Augsburg, zu Venedig, zu Nürnberg oder zu
Lübeck, so etwas gäbe es nur in Hirschberg!

Und er kaufte Anzug, Stiefel und Hut und bezahlte
die Hälfte des Preises, während er die
andere schuldig blieb.

Nun zog ein Rittersmann auf edlem Roß langsam
über den Markt. Die drei Handwerker erkannten
mit Schrecken, daß es jener starke Reiter
war, den sie einmal überfallen, der ihnen aber
den Speck abgenommen und ihnen die Haut gegerbt
hatte. Der Ritter kam heran und summte
leise vor sich hin:

»Es ist so schön der Morgen
Im frohen Sonnenlicht,
Kein Kummer und keine Sorgen
Drücken mein Herze nicht!«

Da glaubten sich die drei schon sicher erkannt;
aber der Ritter machte seinen Einkauf, bezahlte
gut und ritt davon, indem er laut sagte:

»Solch treffliches Handwerk soll man sich in
der Welt suchen.«

Nun aber begann ein Sturm auf die Verkaufsstände
der drei. Jeder wollte bei ihnen einen
Anzug, ein paar Stiefel, einen Hut kaufen.

Da entstand ein Tumult auf der anderen Seite
des Marktes. Der König von Polen zog in die
Stadt ein. Er hatte siebzehn Kammerdiener und
achtundfünfzig Soldaten bei sich. Aber er sah
etwas schäbig aus. Die Krone und die Edelsteine
hatte er aus Geldnot versetzen müssen, und die
himbeersamtne und bernsteingelbe Hose war im
Laufe der Jahre ein wenig fadenscheinig geworden.
Trotzdem wurde er mit großer Ehrerbietung
bewillkommnet. Er hörte aber kaum
auf die Begrüßungsworte des Bürgermeisters
und beachtete nicht die Bücklinge des Ratsdieners,
welcher ihn für den Grafen Schaffgotsch hielt,
sondern steuerte auf den Verkaufsstand der drei
Freunde zu und wählte einen Federhut, einen
Seidenmantel und ein Paar hirschlederne Stiefel.
Er bezahlte zwar nicht, aber er stellte einen langen
Schuldschein aus.

Nun schien das Glück der drei Handwerker gemacht
zu sein. Aber noch einmal faßte sie ein
tödlicher Schrecken. Der Burgherr, der sie einmal
hatte hängen lassen, kam mit einem Troß
reisiger Knechte daher. Da duckten sich die drei
armen Hascher tief über ihre Tische, und jeder
von ihnen preßte beide Hände vor die Kehle.

Der Burgherr aber erkannte sie nicht. Er pries
ihre Ware, kaufte den ganzen Rest und sagte
zuletzt:

»Bares Geld habe ich nicht bei mir; aber ich
gebe euch diesen Rubin, der so groß ist wie ein
Apfel. Verkaufet den kostbaren Stein und teilt
euch in den Erlös.«

Dann ritt er von dannen. Die drei Handwerker
seufzten tief und erleichtert auf. Der
Schneider aber sagte leise:

»Brüder, den Stein kenne ich. Er ist leider
falsch. Aber es genügt uns, wenn uns das Leben
und die Freiheit bleibt.«

Wie erstaunten sie aber, als bald darauf ein
Frankfurter Jude zu ihnen kam, ihnen den Rubin
für einen hohen Preis abkaufte und auf des
Schneiders ehrliche Einwendung sagte: nur ein
Dummkopf könne den Rubin für unecht halten;
es sei der schönste Stein, den es je gegeben.

Glückselig saßen endlich die drei in der Herberge
und teilten friedlich miteinander den Gewinn
des Tages. Es war so viel, daß jeder von
ihnen ein Handwerksgeschäft gründen konnte, das
alle Sorge zeitlebens von ihnen nahm.

Wie sie noch so dasaßen, kam zur Tür der alte
Mann herein, der ihnen einst vom Galgen geholfen
und sie auf den neuen Weg geleitet hatte.
Er trug noch das winzige Hütlein, die schlechten
engen Stiefel und den buckligen Rock; aber er
war freundlich und sagte:

»Ich freue mich über euch. Nun folgt mir und
kommt mit.«

Da gingen sie verwundert hinter ihm her. Er
führte sie zur Stadt hinaus gegen die Berge hin
und ging plötzlich so schnell, daß sie ihm nicht zu
folgen vermochten. Aber sie sahen, daß er sich
auf einen Straßenstein setzte.

Als sie aber nun näher kamen, saß nicht der
alte Mann auf dem Straßenstein, sondern der
Burgherr. Der lächelte ihnen zu, schwang sich
auf ein Roß, das am Wegrande weidete, und
sprengte eine Strecke weit davon. Dann machte
er halt, drehte sich um und winkte ihnen mit der
Hand.

Wie nun die drei herbeieilten, saß nicht mehr
der Burgherr auf dem Roß; sondern der Ritter,
an dem sie zuerst ihre Räuberkunst probiert hatten.
Auch der Ritter sprengte schnell davon und verschwand
hinter der nahen Wegbiegung.

[Illustration]

Dort aber fanden ihn die drei nicht wieder,
sondern der Müller trat ihnen entgegen, reichte
ihnen die Hand und lachte.

Auch der Müller blieb nicht lange stehen,
sondern verschwand in einem Wäldchen, aus dem
gleich darauf auf einem prächtigen Araberrosse
Wolfsklaue hervorritt.

»Kennt ihr mich nun?« fragte er, und seine
Augen flammten schön und herrlich auf. Dann
ritt er mit Windeseile gegen die Berge hin, verschwand
im Wald und wurde wieder sichtbar, als
er langsam und in feierlicher Größe den Kamm
des Riesengebirges entlang ritt, der im roten
Schimmer der untergehenden Sonne lag.

Da erkannten ihn die drei; da wußten sie, wer
die Gestalten waren, die ihren seltsamen Lebenspfad
gekreuzt, da wußten sie, daß es der Berggeist
Rübezahl war, der gesunde Naturgeist, der alles
Schlechte vernichtet und allem Guten aufhilft.

Und so war es und so ist es noch heute und wird
es immer sein. Und darum muß auch zu allen
Zeiten vom Rübezahl erzählt werden.



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»Paul Keller ... einer der feinsinnigsten Poeten, die unser Vaterland
sein eigen nennt ...«

(Literarisches Echo, Berlin.)



Weitere Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.





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